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Herbst 89 "Die Wendezeit war für mich ein Schock"
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Nana Heidhues u.a.
Inés Fuentes Delgado flüchtete 1987 aus Chile in die DDR, wo ihr Vater als Korrespondent arbeitete. Zwei Jahre später schien ihr, die Vergangenheit hole sie ein
[]
Politik
2009-11-05T05:00:00+01:00
https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/die-wendezeit-war-fur-mich-ein-schock
Comic Gemüse wie wir
In Mokis Comic Sumpfland greifen mehrere Geschichten ineinander, die mit scheinbar ganz verschiedenen Bildsprachen arbeiten. Archaische Märchenwälder werden technologisierten Gegenwartsentwürfen gegenübergestellt. Im Sumpfland gibt es Instant-Alraunen und Videochats, Höhlenmalerei und streikende Arbeiter, ein mysteriöser Nebel breitet sich aus. Zusammengehalten werden diese Stränge durch Mokis unverwechselbaren Zeichenstil, hier ganz in Grün. Die 1982 im Sauerland Geborene ist in verschiedenen Feldern aktiv – Malerei, Animationsfilm, Performance. Sie hat in Hamburg Kunst studiert und ist Teil des dortigen Illustratorinnenkollektivs Spring. Manche ihrer Bücher, wie das entrückte How to disappear oder das melancholische Shelter (beide Gingko Press), sind vielmehr Kunst- als Comicbände und so bestens geeignet, dieses ohnehin recht wacklig gebaute Gegensatzpaar zu dekonstruieren.Ich mutiere, also bin ichVon wenigen menschlichen Ausnahmen abgesehen, wird das Sumpfland von doppelköpfigen Riesen bewohnt, von knolligen Rhizomen, einer Menge flauschig-kauziger Tierwesen und aufmüpfiger Pflänzchen. Durch die Welten wabert ein Nebel, der aussieht, als würde er ganze Galaxien enthalten. „Irgendetwas stimmt nicht. Irgendetwas stimmt nicht mit mir“, heißt es ganz am Anfang, und man weiß nicht, wer diese Sätze sagt. Vielleicht könnte es jede der Figuren sein, vielleicht ist es das Sumpfland selbst.All das bedeutet natürlich nicht, das in Sumpfland nicht auch ganz menschliche Probleme behandelt werden. Aldi und Puffi bilden zusammen mit ihren Kindern eine Kleinfamilie mit typischen Kleinfamilien-Problemen. Aldi möchte in Ruhe seine Bücher über soziale Gerechtigkeit lesen, Puffi ist permanent aufgedreht und klebt am Smartphone. Dass Aldi in Menschen- und Puffi in Tiergestalt auftritt, dass ihr Nachwuchs überraschend in einer Kiste bei ihnen angekommen ist und es sich streng genommen nicht um Kinder, sondern um „Flocken“ handelt: geschenkt. Die Schwierigkeiten entstehen nicht aus dem, was sie sind. Sondern aus den Rollenmustern, von denen sie glauben, sie erfüllen zu müssen.Auch wenn sie mit ihrem buschigen Schweif und in ihrer Dauernervosität etwas von einem Eichhörnchen-Avatar hat, erinnert Puffis Erscheinung an das Fuchswesen aus Mokis Vorgängercomic, dem ganz ohne Text auskommenden Wandering Ghost.In der japanischen Mythologie kommen immer wieder Füchsinnen vor, die Kitsune. Sie bandeln mit Menschen an, verlieben sich – und sobald die Männer bemerken, dass sie nicht mit ihresgleichen zusammen sind (was in der Regel länger dauert, als man glauben mag), nehmen sie Reißaus und lassen die menschlichen Angebeteten mitsamt der Nachkommenschaft zurück. Die Episode um Aldi und Puffi ist nicht die einzige Japan-Reminiszenz in Sumpfland: Moki macht in ihren Comics auch leise Anspielungen auf Anime-Filme. Da taucht ganz unvermittelt die ikonische Maske auf, die das geisterhafte Ohngesicht in Hayao Miyazakis Meisterwerk Chihiros Reise ins Zauberland trägt. Wenig überraschend, dass auch die japanische Kunstszene auf Moki aufmerksam wurde. 2019 steht eine Einzelausstellung in Tokio an.Die Erkenntnis, dass die Partnerin anders ist als erhofft, blüht auch Aldi und Puffi. Anders als im Kitsune-Mythos ist in Sumpfland aber immer auch eine Metamorphose als Ausweg aus den Gegebenheiten möglich: Wandlung, Mutation, Fortpflanzung – das sind zentrale Motive des Bandes. Oft sind die Veränderungen bloße Reaktionen auf strukturelle Wachstums- und Fortschrittsgebote. Auch Puffi wird schließlich ein wenig erwachsen, und schmiegt sich ruhig wie nie an den friedliebenden Aldi. Sie hat es mit dem Koffein ruhiger angehen lassen, und Aldi hat von den Flocken neue Ohren bekommen. Sie sehen fast wie Puffis aus. Auch Harmonie kann verstören.Neben der Kleinfamilie beleuchtet Moki noch andere soziale Strukturen. In einer Produktionsstätte werden Ableger hergestellt. „Du darfst dich für unsere Gesellschaft multiplizieren! herzlichen Glückwunsch“, begrüßt ein freundlich lächelndes Tentakelwesen einen neuen Mitarbeiter. Wenn es mal nicht so gut läuft mit den Ablegern, hat der Chef eine Pille parat.Affäre mit einer LandschaftAuf den ersten Bildern wirken die pflanzlichen Arbeiter recht fröhlich, doch irgendwann sieht man ihnen die Ausbeutung an. Eines der „lieben Getüme“, ein doppelköpfiger Riese, haut schließlich einfach ab. „Das hat da draußen eh keine Überlebenschancen“, winken die Kollegen ab. Das stimmt nicht, für ihn beginnt einfach etwas anderes. Stichwort Metamorphose.An einem anderen Schauplatz formieren sich Proteste gegen die Wachstumsdoktrin, der Fabrikchef rennt vergebens mit dem Kescher hinter streikenden Arbeitern her. Ein „Super Organism Rhizomatic Think Tank“ kommt zusammen und macht sich ans Eingemachte. Jemand sagt: „Ja, wir könnten hier kritische Fragen stellen, anstatt die Kindchenschema-Everybody’s-Darling-Crew zu mimen.“ So charmant und, pardon, niedlich wurde wohl schon lang nicht mehr zum Widerstand aufgerufen.Trotzdem entsteht in den stummen und handlungsarmen Episoden die intensivste Atmosphäre. Ganz besonders in der Erzählung von Ocre, einer Menschenfrau, die sich in die Landschaft verliebt und sich ihr hingibt. Eine tief romantische und genauso erotische Liebesbeziehung – Bäume und Pflanzen verästeln sich zu zahllosen Händen, die Ocre berühren, bis hin zu einer radikalen Verschmelzung. Wie Ocre durch ihre Version des Sumpfes traumwandelt und buchstäblich darin eintaucht, ist verstörend schön. Auch hier klingen Mokis bisherige künstlerische Arbeiten an, bei denen man oft nicht genau erkennen kann, wo der Mensch endet und die Natur beginnt.Placeholder infobox-1
Jana Volkmann
Kann man knuffig sein und trotzdem revolutionär? Moki lässt uns dran glauben
[ "sumpfland", "comics", "moki" ]
Kultur
2019-06-08T06:00:00+02:00
https://www.freitag.de/autoren/janav/gemuese-wie-wir
Beispiel Bremen Sauglatt, aalglatt, platt
Einer der bedrückendsten Tage meiner Kindheit war der erste Schultag nach den Winterferien 1984. Über Weihnachten hatte die AG Weser ihre Werfttore geschlossen. Damals war ich 12 Jahre alt, und fast die Hälfte der Väter aus meiner Klasse war arbeitslos. Dieses arme Bremen hat trotzdem Spaß gemacht. Weil es nie sexy sein wollte, sondern vom Märchen der Stadtmusikanten lebte. Als die Industrie unterging, hat es verschrobenen Kunstvisionären Spielplätze angeboten. Bremen sagte: „Hier lasset euch nieder. Hier sollt ihr frei sein. Hier könnt ihr ohne den Druck von Besucherzahlen, Umwegrentabilität und Refinanzierung eure Kunst machen!“ Kultur war der größte Stolz in der Not. Sie war kantig wie die Stadt, aufregend und roch nach Schweiß. Nur so konnte ein „Bremer Stil“ entstehen.Meine erste nackte Frau, die ich mit acht Jahren in der Kunsthalle gesehen habe, stammt von Lucas Cranach und schlief, meine zweite sah ich bei Johann Kresnik auf der Bühne. Der Dirigent Peter Schneider hat mir als 12-Jähriger den Lohengrin erklärt. 1984 stieß der Urbremer Sven Regener zur Band Neue Liebe, danach gründete er Element of Crime. Ich habe Claus Peymann, Bernhard Minetti, August Everding und Dieter Dorn gesehen. Hochkultur war in Bremen eine erstklassige Subkultur, die erst später – und anderenorts – zum Mainstream geworden ist.Im gallischen Kulturdorf wurde gern debattiert: 1980 hatte Ulrich Kienzle die Nachrichtensendung Buten un Binnen für Radio Bremen entwickelt, die mit ihren Moderatoren Michael Geyer und Jörg Wontorra bissiger war als der Monitor. Ich habe die schrägen Anfänge von Hape Kerkeling erlebt, und mein Traum war es, im Weser-Kurier zu schreiben, einer der damals wenigen national bedeutenden Regionalzeitungen. Die ganz großen Legenden waren bereits gegangen: Loriot, der bei Radio Bremen angefangen hatte, war längst Nationalkomiker, Nikolaus Harnoncourt, der beim gleichen Sender seine ersten Aufnahmen auf historischen Instrumenten hatte einspielen dürfe, setzte seine Arbeit in Wien fort, Kurt Hübner und Peter Zadek waren nach Berlin abgewandert, und auch Bürgermeister Hans Koschnik war schon von Bord gegangen. Aber der Geist der Siebziger wehte in die Achtziger hinüber.Affirmation statt ProvokationVor drei Jahren bin ich in meine alte Heimat zurückgekehrt. Ich freute mich auf die neue Begegnung mit der alten hanseatischen Kulturtante. Aber ich fand nur noch einen abgehalfterten Mythos, der damit beschäftigt war, sich selbst zu verwalten. Die neue Kunstwährung scheint nicht mehr die Provokation, sondern die Affirmation zu sein. Intendanten und Künstler werden nicht mehr engagiert, um infrage zu stellen, sondern um die Stadt mit hübschen Bildern und angenehmen Klängen zu tapezieren. Und es ist nur schwer zu verstehen, wie es zu so einer Situation kommt, die eigentlich keiner will.Es dauerte einige Zeit, bis ich begriffen habe, welches Prinzip dahintersteckt. Es gibt verschiedene Methoden, um an Kultur zu sparen: In den Nullerjahren wurde (gegen zaghaften Protest) in den neuen Bundesländern knallhart fusioniert und gestrichen. In Bremen, Trier oder Sachsen-Anhalt werden derzeit die Kultureinrichtungen lieber finanziell und personalpolitisch in die Bedeutungslosigkeit geführt, um sie am Ende ohne Bürgerprotest abschaffen zu können. Und das Prinzip Bremen ist längst ein nationales Phänomen geworden.Auch in Bremen beginnt ein Fisch am Kopf zu stinken. Am Kopf der Kulturinstitutionen steht in Bremen der Bürgermeister. Der heißt Jens Böhrnsen. Sein größter Erfolg war es, dass er zwischen Köhler und Wulff kurzweilig Bundespräsident spielen durfte. Ein Mann ohne Entscheidungswillen, einer der nicht auffällt, weil er nicht auffallen will. Ein Politbürokrat. Weil Böhrnsen zwar gern in Premieren sitzt, aber ungern Verantwortung für Kürzungen, Schließungen oder Personalentscheidungen tragen will, hat er das Amt der Kulturstaatsrätin geschaffen. Die heißt Carmen Emigholz und ist ursprünglich Rechts- und Politikwissenschaftlerin mit strammer Bremer Parteikarriere. Und so führt sie auch den Bremer Kulturklüngel: Als Netzwerk unter Freunden, in denen das lokale Mittelmaß zur Staatsräson erhoben wird. Seit 2007 betreibt sie im Namen ihres Bürgermeisters eine provinzialisierte Kulturpolitik, deren Ziel nicht die Debatte, die Kritik, das Außerordentliche ist, sondern die Verlässlichkeit. Das Doppelgespann hat Methode: Böhrnsen und Emigholz schieben die Verantwortungen hin und her.Die CDU-Opposition hat keinen fähigen Kulturpolitiker, und Carsten Werner von den mitregierenden Grünen, bettelt auf Facebook um neue Konzepte aus der Bevölkerung. Sein Anliegen ist es, die Off-Szene zu stärken. Dabei ist das Haus, das er einst leitete, die Schwankhalle, selbst personell an die Wand gefahren. Was die Grünen nicht wahrhaben wollen: Eine starke Subkultur entsteht nur im Schatten großer Kultur.Für Emigholz ist Kunst kein gesellschaftliches Korrektiv, sondern Serviceleistung. Sie sagt Dinge wie: „Wir sind gefordert, die Lebenswirklichkeit der Menschen stärker in den Blick zu nehmen“. Damit meint sie nicht die Thematisierung von Armut, gesellschaftlichen Spannungen oder gar revolutionäre Kunstveranstaltungen, sondern das „Afterwork-Angebot der Bremer Philharmoniker“. Emigholz könnte problemlos als Mitautorin des Manifests Der Kulturinfarkt durchgehen. Die Kulturstaatsrätin tut lediglich noch so, als würde sie Spielplätze zur Verfügung stellen, gibt den Schlüssel für ihre Einrichtungen aber nur aus der Hand, wenn sie sicher ist, dass die Kinder keinen Krach und keinen Unsinn machen.EndlosschleifenDas Publikum hat gelernt, dass der 80-Millionen-Kulturetat nicht mehr die Freiheit der Stadtmusikanten fördert, sondern als Investition in Marketing verstanden wird. Bremen zeigt exemplarisch, wie Kultur zu einem Teil der Tourismusindustrie verkommt. Sie ist keine Revolutionspolitik mehr, sondern Repräsentationspolitik. Sie schwitzt nicht mehr, sie trägt Schlips. Charakterköpfe wie in meiner Jugend sucht man in Bremen heute vergebens.Der personelle Abstieg begann mit dem Engagement des windigen Theaterimpresarios Hans-Joachim Frey. Der Putin-Freund und Semper-Opernball-Maestro hat der Bremer Politik mehr Kunst für weniger Geld versprochen. Seine Amtszeit endete in einem Millionenfiasko durch das Musical Marie Antoinette. Seither ist Bremen für ambitionierte Intendanten verbrannt. Inzwischen regiert der Hamburger Kulturwissenschaftler Michael Börgerding das Haus. Ein Intellektueller, der lieber Thesenpapiere entwirft, als die Bühne mit Emotionen zu füllen. Ein Debattentheater ist für ihn ein Haus, das zu Podiumsdiskussionen lädt. Besonders gern mit „Vertretern der Werbewirtschaft und kreativen Designern“. Seither debattiert Börgerding in Endlosschleifen mit den Bremer Inzest-Movern und -Shakern und hat sogar die Chuzpe, für derartiges Nichttheater Hübners altes Logo, den Theaterpfeil, zu reaktivieren. Zu einem kritischen Gespräch über den Publikumsrückgang und das Verschwinden des Theaters aus der Öffentlichkeit mit dem Freitag war er übrigens nicht bereit. Bei all dem vernachlässigt der Intendant die Kernkompetenz seines Hauses. Den Antisemiten Wagner würde er am liebsten gar nicht aufführen. Doch statt das so zu sagen und eine Debatte anzuregen, sucht er Regisseure, die Wagner kaputt machen. Das Marketing ist zur neuen Stadtmusik geworden.Die Bremer Kunsthalle wurde lange und erfolgreich vom etwas schrulligen Wulf Herzogenrath geleitet. Nach einem millionenschweren (zum großen Teil privat finanzierten) Umbau wurde dann Christoph Grunenberg zum neuen Leiter ernannt, der nun brav das Serviceprinzip von Frau Emigholz umsetzt: Spektakelshows, Kinderprogramm und Volksaufklärung. Das Museum Weserburg stand dagegen für Neue Kunst. Sein Direktor, Carsten Ahrens, ist das letzte Opfer der Bremer Kulturpolitik. Er hatte die Vision, ein neues Gebäude zu errichten. Finanziert werden sollte es unter anderem durch Bilderverkäufe, Eigenkapital, Mäzene und dadurch, dass die Stadt nicht mehr Millionen in die Sanierung des Fundaments der alten Weser-Immobilie investieren muss. Ahrens, der spektakuläre Künstler nach Bremen holte und Sammler anzog, wollte perspektivisch eine administrative Einheit mit der Kunsthalle schaffen: die Weserburg als Tate Modern, die Kunsthalle als Tate. Letztlich haben sich die lokalen Künstler, die alt eingesessenen Galeristen, das eigene Personal und die politischen Entscheidungsträger dem Direktor in den Weg gestellt. Böhrnsen und Emigholz haben gern auf den Privatstiftungscharakter der Weserburg verwiesen und ihre Hände in Unschuld gewaschen. Dass sie immer wieder Einfluss auf das Haus genommen, bei Vernissagen Reden gehalten und den Neubau hinausgeschoben haben, verschweigen sie. Es ist offen, wer Ahrens nun nachfolgt. Nationale Kunstdirektoren werden in dieser Gemengelage kaum „hier!“ schreien.Die Liste des kulturellen Abstiegs in Bremen ist lang: Unter Ilona Schmiel war die Glocke ein Konzerthaus mit Strahlkraft – heute ist sie zum Tourzirkuszelt verkommen, das Off-Theater Schwankhalle ist führungslos, das Überleben des Focke-Museums steht ebenso auf der Kippe wie das des Überseemuseums. Erfolgreich sind höchstens Privatinitiativen wie die Kammerphilharmonie Bremen oder das Musikfest Bremen – bei ihnen zeigt sich der Bürgermeister übrigens oft und gern.Stagnation und Inspirationslosigkeit betrifft auch die Bremer Medien: Der Weser-Kurier hat sich eine Radio-Bremen-Journalistin als Chefredakteurin geholt und füllt sein Feuilleton durch freie Schreiber, Lehrer und Hobbyjournalisten. Radio Bremen ist zu einem Nischensender geschrumpft: Die drei Radiosender werden von einem frustrierten Redaktionskollektiv betreut, Buten un Binnen sieht heute aus wie das RTL-Journal, 3 nach 9 plätschert vor sich hin, und der Tatort wird weitgehend vom WDR finanziert. Auch hier wurden alle Grundlagen geschaffen, dass der einstige Querdenkersender, der längst nur noch ein teures Fenster im NDR-Programm ist, perspektivisch verloren geht. Bremen steht stellvertretend für viele andere Städte, in denen die Kultur bis zur Lethargie organisiert wird. Viele Kulturschaffende reiben sich im Kampf mit der Bürokratie auf, ein Großteil des Publikums hat die Lust verloren, die Bedeutungslosigkeit wird schweigend hingenommen. Die Bremer Kulturlandschaft ist schrecklich belanglos und fürchterlich gemütlich geworden. Auf dem Gelände der AG Weser steht heute übrigens das Shoppingparadies „Waterfront“.
Axel Brüggemann
Früher stand die Stadt für kulturelle Erneuerung. Heute ist sie Provinz – warum eigentlich?
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Kultur
2013-06-30T06:00:00+02:00
https://www.freitag.de/autoren/axel-brueggemann/sauglatt-aalglatt-platt
Jugendkultur Posing in Posemuckel
In den vergangenen Jahren gab es zahlreiche Buchveröffentlichungen über das hierzulande etwa drei Jahrzehnte währende Subkulturphänomen Punk: angefangen beim autobiografischen Roman von Rocko Schamoni über dicke Monografien bis hin zu mehr oder weniger mondänen Bildbänden über legendäre Szenelokalitäten in Hamburg oder Düsseldorf.Mehr als 50 kurze, sehr persönliche Texte sind jetzt in einem Sammelband mit dem Titel Punk Stories erschienen. Was im ersten Moment wie noch ein Buch mehr zum schon ausreichend durchgekauten Thema aussieht, entpuppt sich bei der Lektüre stellenweise als grandioses Kompendium einer heute missverstandenen Subkultur. Berühmte Autoren wie Michael Wildenhain oder Steffen Kopetzky sind ebenso dabei wie viele unbekannte, aber durch die Bank interessante Stimmen. Die Jahrgänge reichen von den späten Fünfzigern bis in die achtziger Jahre.Zahni wird mit Bier getauftIm Punk zählt die Pose, das ultimative „Nein“. Punk ist die Jugendbewegung, die am radikalsten bürgerliche Werte widerlegt. Heißt es. Nur erzählt der Sammelband Punk Stories davon eigentlich herzlich wenig. Hier geht es nämlich darum, wie sich die Subkultur in die Biografien einzelner Akteure eingeschlichen und eingeschrieben hat. Und das hat immer etwas mit dem jugendlichen Aufbruch zu neuen Ufern zu tun. Da geht es um Partys, auf denen ein Ich-Erzähler mit seinem besten Freund Zahni einen Medizinstudenten mit Bier tauft und Mike Oldfields Shadow on the Wall aus der Musikanlage reißt, um die eigene Hardcore-Punk-Kassette einzulegen.Zwei Provinz-Punks machen sich auf nach Berlin, müssen aber feststellen, dass in der coolen Wagenburg, in der sie wohnen wollen, ein Putzplan aushängt und sie sich einer Art Bewerbungsgespräch unterziehen müssen. Zwei junge, angepunkte Kerle beschließen, sich aus einer morbiden Grundstimmung heraus umzubringen, aber nicht ohne vorher noch bei der angebeteten Kleinstadtschönheit mit dem klangvollen Namen Anja Valeria Fels vorbeizuschauen. Nach dieser Überdosis Romantik bringen sie sich natürlich nicht um. So drastisch sind die Protestposen hier gar nicht und es fehlt ihnen nie an Charme und Ironie. Meist geht es auch einfach ganz banal darum, jugendliche Wünsche und Träume zu formulieren. Und Punks neigen dazu, das, was sie formulieren, recht direkt in Szene zu setzen.Viele dieser pointierten Texte drehen sich um die eigene Verortung im musikalischen Punk-Universum. Dabei kann man durchaus fragen, was Joy Division oder Cure eigentlich mit Punk zu tun haben. Aber puristisch darf man dieses Thema nicht angehen. Die meisten von Punk infizierten Jugendlichen der legendären achtziger Jahre waren weit davon entfernt, dem „perfekten“ Punk-Image zu entsprechen.Egal ob Niederbayern oder am Stadtrand von BochumWas dieser Sammelband außerdem klar macht: Punk ist vor allem auch ein Phänomen der Provinz, egal ob in Niederbayern, in einem österreichischen Bergdorf oder am Stadtrand von Bochum. Der Mythos Berlin wirkt meist aus der Ferne, manchmal ist es auch Hamburg oder sogar London. „Die Überwindung der Provinz in der Provinz“ wird das sehnsüchtige Aufbegehren in einem Text genannt. Dabei ist der Sound jeweils recht unterschiedlich. Manche Storys sind wie schnelle, harte Punknummern, etwa eine Erzählung von einer Hamburger Demo 1988, die von der Polizei platt gemacht wird.Dann ist der Tonfall wieder wie in einem Fun-Punk-Song, wenn hingebungsvoll eine Party zerlegt wird, oder auch düster auf nächtlichen Autofahrten durch irgendein provinzielles Nirgendwo. Oder es wird heftig, wenn ein Ich-Erzähler als Hippie gescholten während eines Black-Flag-Konzerts eins auf die Nase bekommt. Nicht alle Geschichten in diesem „Sampler“ sind gut. Aber auch auf einer guten Punkscheibe sind nicht alle Lieder hörbar. „Stücke, die länger als 2,5 Minuten dauerten, waren gelogen“, heißt es in einer Erzählung. Die Punk Stories sind allesamt kurz genug, um die Geschichte der Punk-Bewegung adäquat auf den Punkt und vor allem auch zum Klingen zu bringen.
Florian Schmid
Charmante Erinnerungen an die Jahre 1977ff: Der Sammelband "Punk Stories" ist ein grandioses Kompendium einer heute missverstandenen Subkultur
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Kultur
2011-04-19T18:55:00+02:00
https://www.freitag.de/autoren/florian-schmid/posing-in-posemuckel
Aufruf Aus Sorge um den Frieden
Aus Sorge um den Frieden in der und um die Ukraine haben sich zahlreiche Bürger mit einer Erklärung an Bundesregierung, Parlament und Öffentlichkeit gewandt. "Lassen Sie nicht zu, dass der Kampf um die Ukraine zu einem Stellvertreterkrieg zwischen 'dem Westen' und Russland eskaliert!", heißt es darin. Hundert Jahre nach Beginn des 1. Weltkriegs befinde sich die Welt in einer höchst gefährlichen Lage. Dem unverantwortlichen Kampf um geostrategische Positionen und Einflusssphären müsse Einhalt geboten werden. Wirtschaftssanktionen und andere "Strafmaßnahmen" gegen Russland seien aber ein "untaugliches Mittel zur Deeskalation". Das Vorgehen in der Ukraine-Krise widerspreche zutiefst der 1997 von NATO und Russland unterzeichneten Pariser "Grundakte über Gegenseitige Zusammenarbeit und Sicherheit". Darin hatten sich beide Seiten verpflichtet, "die Spuren der früheren Konfrontation und Konkurrenz zu beseitigen", "ungelöste Gebietsstreitigkeiten, die eine Bedrohung für unser aller Frieden, Wohlstand und Stabilität darstellen" sowie andere "Meinungsverschiedenheiten" auf der Grundlage des "gegenseitigen Respekts im Rahmen politischer Konsultationen" beizulegen. Zahlreiche Maßnahmen der NATO - vom Krieg gegen Serbien 1998 bis zur hemmungslosen Osterweiterung - hätten diesen Respekt vermissen lassen. Der Westen und Russland müssten vielmehr neu darüber nachdenken, wie das Spannungsverhältnis von territorialer Unverletzlichkeit und Selbstbestimmung friedlich zu lösen sei. Die Bundesregierung müsse einen Beitrag zur Deeskalation leisten, indem ihre Politik - auch angesichts der historisch belasteten Beziehungen zu Russland - die Sicherheitsinteressen aller Staaten des "gemeinsamen Hauses Europa" berücksichtigt. Konkret heiße das, die Vereinbarungen der Pariser Grundakte einzuhalten und "rhetorisch abzurüsten", die "Strafmaßnahmen" zu beenden und auf die Einberufung einer europäischen Sicherheitskonferenz zu drängen. Zu den Erstunterzeichner/innen gehören die Schriftsteller Ingo Schulze und Irina Liebmann, der Liedermacher Konstantin Wecker, die Schauspieler Jutta Wachowiak und Rolf Becker, die Rechtswissenschaftler Andreas Fisahn und Norman Paech, der Bundesrichter a.D. Wolfgang Neskovic, die Friedens- und Sozialwissenschaftler Andreas Buro, Christoph Butterwegge und Werner Ruf, sowie die Theologen Friedrich Schorlemmer und Hans Christoph Stoodt. Der vollständige Appell kann hier gelesen und gezeichnet werden.
100 Autoren
100 Autoren, Künstler, Wissenschaftler, Juristen, Ärzte, Theologen, Gewerkschafter und Friedensaktivisten wenden sich mit einem Appell an Politik und Öffentlichkeit
[ "USA" ]
Politik
2014-05-22T15:05:00+02:00
https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/aus-sorge-um-den-frieden
Hegelplatz 1 Invisible men
Ein paar Ergänzungen zum Wochenthema. Einige von uns Freitag-Leuten spielen einmal pro Woche Hallenfußball in Berlin-Lichtenberg. Die Mannschaft hat keinen Namen, das Geld wird vor Ort eingetrieben, ein Doodle gewährleistet den Spielbetrieb, altersmäßige oder andere Beschränkungen gibt es nicht. Wir bewegen uns somit auf der untersten Stufe des Amateurfußballs. Über unsereiner gibt es keine Zahlen, man darf aber mit Millionen rechnen. Dazu kommen die 2.292.624 Spielerinnen und Spieler, die in einem vom DFB organisierten Betrieb spielen, weitaus die meisten sind Amateure, nur etwa 1.500 Spieler verdienen mit Fußball ihr Geld. Dennoch ist die Rede allermeistens nur von den Profis, und selbst bei den Profis geht das allergrößte Interesse in die Bundesliga, und da wiederum zieht eine Causa wie der wohl geplatzte Wechsel von Leroy Sané zu den Bayern gefühlt neunzig Prozent der Aufmerksamkeit auf sich. Und auch wir sprechen nach dem Spiel an der Bar über diesen verrückten Transferzirkus oder schauen uns ein Profi-Spiel auf dem Screen an.Wenn nichts anderes kommt, darf es auch die Begegnung FC Vaduz gegen Eintracht Frankfurt in der Euroliga-Qualifikation sein, übertragen von, äh, muss grad nachschauen, gibt ja so viele Anbieter, also: Nitro TV, die wir mit vielen Bemerkungen kommentieren. Gespräche über den Amateurfußball finden nicht statt. „In der FuWo habe ich gelesen, dass sich die Nord-Weddinger mit einem Südtiroler verstärkt haben.“ „Ist ja ein Ding! Wo hat der denn gespielt? „Der Ortler? Beim SV Schludern.“ Ein solcher Dialog wäre in Berlin überall möglich, wo Fußballer zusammensitzen (denn dieser Wechsel hat stattgefunden), ist aber unvorstellbar. Zu befürchten ist, dass er noch nicht einmal bei den Spielern von Nord-Wedding groß ein Thema ist. Es interessiert nur „big business“, und das gilt sogar für ansonsten kapitalismuskritische Menschen. Es ist, als würden Hunderttausende Schriftsteller Bücher schreiben, die keiner liest, noch nicht einmal sie selbst, weil sie in ihrer Freizeit doch lieber HBO-Serien gucken.Na ja, ganz stimmt es nicht. Ich verfolge die Spiele der SG Nordring. Sie spielt in der Kreisliga B, und klar, ich gehe da auch hin, weil ihre Heimstätte um die Ecke ist. Aber ich genieße diese Spiele, bin immer wieder erstaunt, wie man auch auf diesem Niveau kühne Dribblings oder schöne Flanken bewundern kann, manchmal ist mein Sohn dabei, dann kann ich mich austauschen, sonst ist es ein stiller Genuss, aber ich bilde mir ein, dass ich nicht alleine bin. Wir sind wie Wolfgang-Petry-Fans, keiner spricht über uns, keiner schreibt über uns, aber wir sind so viele, dass wir in der Lage wären, das maßlos gewordene Megabusiness einzudämmen. Im Prinzip jedenfalls.
Michael Angele
Wir Kreisliga-Fans sind die übersehene Macht im Land
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Kultur
2019-08-18T06:00:00+02:00
https://www.freitag.de/autoren/michael-angele/invisible-men
Hungerhaken Ganz schön dünn
Aktivisten gegen Essstörungen haben Schaufensterpuppen-Hersteller dafür kritisiert, super-dünne männliche Modelle gebaut zu haben, die labile Männer dazu verleiten könnten, sich – wie bei Frauen schon geschehen – zu Tode zu hungern. Kommenden Monat wird die britische Firma Rootstein ihre Young-and-Restless-Kollektion vorstellen, zu der eine Schaufensterpuppe mit einem Brustumfang von 35 Inch und einer Taille von 27 Inch gehört – 11 Inch weniger als der durchschnittliche britische Mann.Das Unternehmen sagt, die Puppen seien nach dem Vorbild von Teenagern entworfen worden, die nicht an Essstörungen litten, aber hervorragend geeignet dafür seien, die hautengen Skinny-Jeans und andere schmale Schnitte zu präsentieren, die durch Stars wie Russell Brand beliebt geworden sind. Der gemeinnützigen Organisation B-eat zufolge, die sich um Menschen mit Essstörungen kümmert, leiden immer mehr Männer an Anorexie und Bulemie.Männer sind genauso unsicher wie FrauenDie Puppen vermittelten ein unrealistisches Bild, sagte ein Beat-Sprecher: „Immer mehr Männer kommen mit Essstörungen zu uns, die sie entwickeln, weil sie versuchen, ein bestimmtes Körpermaß und eine bestimmte Figur zu erlangen. Männer haben heute mit den gleichen Unsicherheiten in Bezug auf ihre Körper zu kämpfen wie Frauen. Unrealistische Bilder – wie eben diese Puppen – kommen in der Modewelt und den Medien immer noch sehr häufig vor und der Druck, der durch sie erzeugt wird, kann bei jungen und verletzlichen Menschen zu einem niedrigen Selbstvertrauen führen.“Kevin Arpino, Creative Director bei Rootstein, der die Young-and-Restless-Reihe entworfen hat, wies jedoch die Vorstellung zurück, seine Puppen könnten Essstörungen Vorschub leisten. „Es handelt sich um eine Kollektion, die sich an den herrschenden Modetrends für Skinny Jeans und sehr enge Schnitte ausrichtet, wie man sie bei allen Firmen von Topman bis Gucci und in trendigeren Magazinen wie Número sehen kann. Keiner der Jungen, die wir als Modelle benutzt haben, war auch nur im entferntesten magersüchtig. Das waren ganz normale Teenager – der älteste war, glaube ich, 20. Es handelt sich um einen Trend, den man bei Rockstars und anderen Prominenten beobachten kann: Russell Brand ist da nicht ganz unschuldig. Aber ich bin mir sicher, dass auch die Zeit für muskulösere Typen wieder kommen wird.“Keine Jeans für muskulöse MännerIn der vergangenen Saison, so Arpino, seien die Maße noch größer gewesen, 38 Inch Brustumfang und 30 Inch Taille, doch die Nachfrage nach dünneren Modellen steige zunehmend. Dov Charney, Geschäftsführer der Jugendmode-Marke American Apparel, sagt, es sei zunächst äußerst schwierig gewesen, Schaufensterpuppen zu finden, denen die Kleidung seiner Marke gepasst hätten. „All die Puppen da draußen sind Muskelpakete, denen nicht einmal unsere größten Größen passen“, zitiert ihn das New York Magazine.
Helen Pidd
Nach den Magermodels jetzt die Magerpuppen: In Großbritannien gibt es Streit um dürre männliche Schaufensterpuppen. Verleiten sie junge Männer dazu, sich totzuhungern?
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Kultur
2010-05-06T17:07:00+02:00
https://www.freitag.de/autoren/the-guardian/ganz-schon-dunn
Chronik Wagenknecht, Steinbrück & das Kondomverbot
./resolveuid/7dcb036d26bfeebcaa4eeaf38b60d808VerhütungGefährlicher PapstKurz nach der Deutschlandreise von Benedikt XVI., an deren Rande Tausende unter anderem gegen das Kondomverbot der Katholischen Kirche protestierten, illustriert eine neue Studie, woran die päpstliche Weltabgewandheit mitschuldig ist: Die Zahl der 
Jugendlichen, die ungeschützten Sex 
haben, ist weltweit alarmierend hoch. In Europa nutzen mehr als 40 Prozent der Teenager keine Kondome, in Entwicklungsländern sind es bisweilen weit mehr als die Hälfte. Angesichts der gesundheitlichen und sozialen 
Risiken fordert die Stiftung Weltbevölkerung dringend „bessere Aufklärung“. Die wird es indes weiter schwer haben, solange die Propagandareisen des Papstes nicht verhütet werden. TS./resolveuid/0b85d7e86ca2f34c8ed7f632ea336e87LinkeKeine PersonaldebatteDie Linke hält es wie andere Parteien auch: Wenn es Probleme gibt, wird übers Personal gestritten, was alle „nicht hilfreich“ finden – um dann die Debatte erst so richtig zu führen. Oder eine neue aufzumachen: Neben die Frage, ob das Duo Lötzsch/Ernst glückliche Hand beweist, ist nun die nach einer möglichen Kandidatur Sahra 
Wagenknechts für die Spitze der 
Fraktion getreten. Während ein Teil der Partei die Personalie wohl auch wegen ihrer Sprengkraft heftig bewirbt, halten andere sie für das völlig falsche Signal und drohen mit Konsequenzen. Die Abstimmung ist erst einmal verschoben worden: auf die Zeit nach dem Programmparteitag, einer anderen der vielen Baustellen der Linken. TS./resolveuid/f96b20360071e026079449e347b42f5dFriedensnobelpreisträgerinBeharrlichFür sie war Umweltschutz eine Last – die Last zu handeln. „Wir dürfen nicht müde werden, wir dürfen nicht aufgeben, wir müssen beharrlich weitermachen“, sagte Wangari Maathai, als sie 2004 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet wurde. Das Bekenntnis der Frau, die den Preis als erste Afrikanerin zugesprochen bekam, die über Jahrzehnte mit ihrer Grüngürtel-
Bewegung in Nairobi für die Pflanzung von Millionen Bäumen stritt und 2002 gegen alle Widerstände mit der National Rainbow Coalition ins kenianische Parlament einzog und stell-vertretende Umweltministerin wurde, 
ist auch ihr Vermächtnis. Im Alter 
von 71 Jahren ist Wangari Maathai an Krebs gestorben. TT./resolveuid/9645af4c36d8960e08a451e64cf839a5TodesstrafeZwingende ZweifelAuf den Supreme Court als letzte Instanz hoffte Troy Davis vergeblich, die Demonstranten vor dem Staatsgefängnis von Jackson marschierten umsonst. Nach 20 Jahren in der Todeszelle tötete eine staatlich verordnete Giftspritze den 42-Jährigen, der wegen Mordes an einem Polizisten 1989 
verurteilt war. Amnesty International spricht von Versagen der Justiz, die EU bedauert die Hinrichtung angesichts der „ernsten und zwingenden Zweifel“ an der Schuld des Mannes. Er war 
auf Grundlage von Aussagen verurteilt worden, die nach Angaben einiger Zeugen unter Druck der Polizei entstanden. Einige wurden später widerrufen. Eine Tatwaffe oder physische Beweise wurden nicht gefunden. TT./resolveuid/40430c39fca169dce9c59b6606e5a7fdSPDKeine LiebesheiratPeer Steinbrück, der Mann neben Angela Merkel in der großen Koalition, hat sich klar für Rot-Grün ausgesprochen. Die SPD wolle „nach der Zerrüttung der Liebesheirat von CDU/CSU und FDP“ nicht „den Ersatzmann“ spielen. Das Signal soll die eigene Partei besänftigen, in der viele mit Argwohn verfolgen, dass der Ex-Finanzminister Kanzlerkandidat werden könnte. Gegen Steinbrück macht die SPD-Linke inzwischen Front: Er verachte die Partei, heißt es, seine Nominierung würde die SPD „tief spalten“. Sollten die Fürsprecher Steinbrücks, die umgehend das Terrain verteidigten, trotzdem erfolgreich sein, droht der Sozialdemokratie schwarz-gelbes Schicksal: die Zerrüttung. TS(Alle Fotos: AFP/ Getty Images)
Freitag-Redaktion
Nicht alles, was diese Woche unter dem Teppich landete, gehört dorthin: 5 weitere Themen der Woche in aller Kürze analysiert
[ "Sozialdemokratische Partei Deutschlands", "Peer Steinbrück", "Wangari Maathai" ]
Politik
2011-09-28T14:45:00+02:00
https://www.freitag.de/autoren/freitag-redaktion/wagenknecht-steinbruck-das-kondomverbot
Reizgas "Pfeffi hält die Straßen rein"
„Sozialdemokrat? Für den breit aufgestellten Staat!“, ruft einer der Gegendemonstranten und streckt vorbeigehenden Passanten ein Tablett mit grün gefüllten Schnapsgläsern aus Plastik entgegen. „Pfeffi hält die Straßen rein“, sagt er. Aber die meisten lehnen den Minzlikör ab, auch die grimmig dreinblickenden Einsatzpolizisten. Es ist ja auch erst halb neun, an diesem nasskalten Samstagmorgen. Und die Gegendemonstranten sind nur da, weil auch die Polizei da ist.Die Gewerkschaft der Polizei (GdP) wirbt vor dem Estrel Convention Center in Berlin für den Einsatz von Pfefferspray. Anlässlich des SPD-Landesparteitages, der hier an diesem Tag stattfindet, verteilen ein paar Gewerkschafter an die Deligierten Handzettel mit Informationen zu Reizgas. Denn auf dem Parteitag soll auch über einen Antrag der Berliner Jusos gesprochen werden. Dieser fordert, „den Einsatz von Pfefferspray durch die Berliner Polizei in Zukunft grundsätzlich zu verbieten“.Die GdP ist anderer Meinung. „Pfefferspray ist eine sanfte Möglichkeit Widerstand zu brechen", sagt einer der Gewerkschafter. "Die Wirkung hält nur zehn bis dreißig Minuten an. Wenn ich jemandem das Jochbein breche, hat der deutlich länger was davon.“ Bei größeren Menschenmengen müsse der Einsatz von Reizgas mehrfach angekündigt werden, so fordere es das Gesetz. "Demonstranten haben nach diesen Ansagen immer noch die Möglichkeit sich zu entfernen“, erklärt er.Es gehe darum, Konflikte nicht eskalieren zu lassen. „Früher hat man gesagt: Gut, du gehst halt ran an denjenigen, und haust ihm, lapidar gesagt, auf die Schnauze. Da ist Pfefferspray doch das geringere Übel.“ Sein bestes SchmerzgesichtAber nicht nur Handzettel, sondern auch eine kleine Theaterszene an der Straßenecke zeigt, wie nützlich Pfefferspray für den Polizeialltag sein kann. Ein betrunkener Ehemann schreit seine entsetzte Frau an. Die Vodkaflasche fliegt über die Straße, genau wie der Tisch von Ikea. Dann will er sie mit der Faust ins Gesicht schlagen. Die Frau ist schockiert, doch stürmen im gleichen Moment Polizisten durch die imaginäre Tür und stellen den gewalttätigen Ehemann.Obwohl nur mit weißen Styroporschlagstöcken, Plastikpistole und Pfefferspray ohne Pfeffer bewaffnet, sieht das Schauspiel gefährlich aus. Gerade will einer der Beamten seine Plastik-Dienstwaffe ziehen, da gelingt es seinem Kollegen mit einem schnell gezogenen Requisitenpfefferspray, das inszenierte Ehedrama zu entschärfen. Der Ehemann spielt sein bestes Schmerzgesicht, fällt auf die Knie, wird gefesselt und schließlich abgeführt.Nach jeder dieser Darstellungen versucht ein Gewerkschafter per Megafon die Forderungen der GdP zu erklären, was ihm kaum gelingt. Er wird von zwei Dutzend Gegendemonstranten übertönt. Sie rufen: „Pfeffer ins Gesicht, ob friedlich oder nicht“, und immer wenn der gespielte Ehemann vor gespieltem Pfefferschmerz das Gesicht verzieht, brüllen die Demonstranten: „Nachwürzen!“Schauspiel im SchauspielZwischen Gewerkschaftern und Gegendemonstranten steht eine Reihe aus echten Beamten der Einsatzpolizei, mit echten Schlagstöcken und echtem Pfefferspray. Beide Seiten scheinen diese Trennung zu akzeptieren und gehen ihren Anliegen nach. Nur die Pressefotografen suchen immer neue Perspektiven. Vereinzelte Ausreißer der Gegendemonstranten werden von den Beamten freundlich aber bestimmt wieder zurück zu den ihren begleitet.Ein bisschen abseits, und mit weniger Aufmerksamkeit der anwesenden Medienvertreter bedacht, steht noch eine Gruppe der Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft Ver.di, die einen Tarifvertrag für Musikschullehrer fordert. Die Pfefferspraydemonstranten haben der Gruppe offensichtlich die Show gestohlen.So geht das bunte Treiben, bis der Nieselregen wieder einsetzt und die allgemeine Lust an der Sache abkühlt. Die ersten Fotografen gehen und die Rufe der Gegendemonstranten werden leiser, einige machen sich schon auf den Heimweg.Kein Heimweg ohne AnzeigeAnscheinend in die falsche Richtung. Sechs Polizisten überwältigen einen der Gegendemonstranten, der sich offenbar zu weit von der symbolischen Trennlinie entfernt hatte. Ihm werden die Arme auf den Rücken gedreht, schon liegt er auf dem Asphalt, umringt von Polizisten. Er bewegt sich gar nicht. Die Ver.di-Gewerkschafter sprechen von einem Faustschlag ins Gesicht, sind empört und rufen, der Demonstrant habe sich nicht gewehrt. Da ist er auch schon im grünen Gruppentransporter verschwunden.Auch die kleine Gruppe von Gegendemonstranten wird von Polizisten in schwerer Montur eingekreist, während auf der anderen Straßenseite zwei weitere Gegendemonstranten in Gewahrsam genommen werden. „Wir wurden nicht vorgewarnt, dass so etwas passieren könnte", sagt einer von ihnen. "Uns wurde gesagt, wir sollten auf diesem Teil des Weges bleiben, was wir auch getan haben. Als ich gehen wollte, rannten Beamte hinter mir her und haben mich im Sicherheitsgriff zurückgebracht.“Pfefferspray – das geringere ÜbelPersonalien werden aufgenommen. Seitens der Polizei heißt es, gegen die Demonstranten werde Anzeige wegen Störung einer Veranstaltung erstattet. Die Kundgebung der Gewerkschaft war für den Zeitraum von 8:30 Uhr bis 9:15 Uhr angemeldet. Jetzt ist es 10 Uhr, die Gegendemonstranten hatten ihre Aktion vorher nicht angekündigt.Ein Einsatzpolizist sagt, dieses Ende sei von Anfang an absehbar gewesen. „Wir konnten erst so spät eingreifen, weil wir noch auf Verstärkung warten mussten.“ Die Demonstranten hätte man davon in Kenntnis setzen müssen, räumt er ein. Doch an eine solche Vorwarnung kann sich keiner der Anwesenden erinnern. Zudem erscheint vielen Gegendemonstraten die Reaktion der Polizei völlig unverhältnismäßig. „Alle sind friedlich gewesen“, sagt ein Teilnehmer, „dann wurde ohne Vorwarnung hart durchgegriffen. Keiner konnte gehen.“Einige der Gegendemonstranten haben sich inzwischen auf den Boden gesetzt. Sie warten. Die Polizisten warten auch, doch die Personalien können nur langsam aufgenommen werden. Ein Passant schüttelt den Kopf und fragt noch im Vorbeigehen: „War das denn nun nötig?“ Immerhin ist das echte Reizgas an diesem Morgen nicht mehr zum Einsatz gekommen.
David Kappenberg
Die Gewerkschaft der Polizei protestiert in Berlin für den Einsatz von Pfefferspray. Doch die Demo-Polizisten sind nicht allein auf der Straße, auch Linke sind gekommen
[ "verbote", "pfefferspray", "inland" ]
Politik
2013-05-26T11:14:48.011474+02:00
https://www.freitag.de/autoren/david-kappenberg/pfeffi-haelt-die-strassen-rein
Warum die Drohnen-Attacke auf russische Bomber Kriegsführung für immer ändert
Während auf den Schlachtfeldern im Osten der Ukraine die Lage für Kiew mehr als schwierig ist, gelang ihrem Geheimdienst eine der erfolgreichsten Operationen seiner Geschichte. Innerhalb weniger Stunden attackierten über hundert Drohnen mehrere Bomber der strategischen Luftflotte quer durch Russland. Fast zeitgleich wurden die Bilder ins weltweite Netz gestreamt. Man sah explodierende Maschinen, die in ihren Militärbasen wie an einem Schießstand wehrlos zusammengeschossen wurden. Das Geschehen markierte einen schwarzen Tag für die russische Luftwaffe: Noch nie erlitt sie einen höheren Sofortverlust – und dies wohlgemerkt weit im Landesinneren. Ukrainische Agenten mieteten russische Truck-Fahrer, die von einem normalen Containertransport ausgingenPlanung und Ablauf der Aktion taugen zum Lehrstück für Geheimdienstarbeit im gegnerischen Hinterland. In einer über Mittelsmänner angemieteten Werkhalle in Tscheljabinsk mitten in Russland wurden Spezialcontainer vorbereitet, die von außen wie eine gewöhnliche Lkw-Fracht aussahen, im Inneren jedoch Dutzende Drohnen, dazu Funkgeräte und Aufladeapparaturen enthielten sowie über ausfahrbare Dächer verfügten. Agenten mieteten unwissende russische Truck-Fahrer an, die davon ausgingen, profane Standardcontainer zu befördern. Sie fuhren die nach außen hin unscheinbare Ladung am Tag vor den in Istanbul anberaumten Friedensverhandlungen zu ihnen übermittelten Adressen. Einmal handelt es sich um eine Tankstelle, ein anderes Mal um einen Parkplatz vor einem Restaurant. Die Adressen lagen Hunderte bis Tausende Kilometer voneinander entfernt in den Gebieten Murmansk, Irkutsk, Iwanowo, Rjasan und Amur. Nur eines hatten sie gemeinsam – sie lagen alle nur wenige Kilometer von wichtigen russischen Militärflughäfen entfernt. Auf Signal schoben sich zur Stunde X die Container-Dächer zur Seite, die Drohnen starteten im halb-automatischen Modus in die Luft, wurden im Flug von menschlichen „Operators“ zur Steuerung übernommen und schließlich in die parkenden Maschinen gelenkt. Der Vorwurf lautet, man habe sich allein auf die geografische Entfernung zum Kriegsgebiet als Schutzfaktor verlassen Der anfängliche Schockeffekt für die russische Armee war enorm. Durch Satellitenbilder wurde der Sofortverlust von rund zehn Maschinen der Typen Tu-95MS, Tu-22M und An-12 bestätigt. Zwar lag dies am Ende bei Weitem nicht so hoch wie es Wolodymyr Selenskyj in seiner „Siegesrede“ bekanntgab oder der ukrainische Generalstab mit KI-generierten Bildern suggerierte. Doch das änderte wenig daran, dass es die schmerzhafteste und folgenreichste Attacke in den Tiefen Russlands während der modernen russischen Militärgeschichte gegeben hatte. Dies schlug hohe Wellen in der gesamten Kriegsdebatte und führte zu heftigster Kritik an der gesamten Generalität. Warum die Verantwortlichen es auch im vierten Kriegsjahr nicht für nötig befunden haben, strategische Stützpunkte zu sichern, wurde zu einer notorischen Frage, verbunden mit dem Aufruf, dass jetzt Rücktritte quer durch den gesamten Führungsapparat der Luftwaffe fällig sein. Die Vorwürfe lauteten auf Inkompetenz und kriminelle Arroganz. Man habe sich allein auf die geografische Entfernung zum Kriegsgebiet als Schutzfaktor verlassen – und das, obwohl der gegnerische Geheimdienst nun schon zu einigen Operationen in Russland ausgeholt hat. Zu einer besonders bitteren und fast schon kuriosen Pointe wurden die auf den Tragflächen der strategischen Bomber ausgelegten Autoreifen. „Was soll man schon von Menschen erwarten, die als Sicherheitsmaßnahme die Flugzeuge mit Autoreifen bedecken oder Flugzeuge auf Asphalt malen, um westliche Aufklärungssatelliten zu verwirren?“, teilte eines der auflagenstärksten russischen Portale gegen die Armeeführung aus. Ein anderer postete: Die Asphaltbilder wurden eventuell nicht gut genug gemalt, um Drohnen abzuwehren. Trotz des Schocks in den ersten Stunden ist es umso bemerkenswerter, dass danach weitgehend nichts als Sofortreaktion passierte. Obwohl der Fall eines Angriffes auf strategische Bomber in der russischen Nukleardoktrin explizit als unmittelbarer Angriff auf Zweitschlagkapazitäten definiert wird und einen atomaren Vergeltungsschlag als eine der Optionen unmissverständlich benennt, blieben solch radikale Stimmen absolute Einzelfälle. Der im Westen beliebte Vergleich vom „russischen Pearl Harbour“ und dem daraufhin drohenden „ukrainischen Nagasaki“ blieb in Russland ebenfalls die absolute Ausnahme. Der Kreml bemühte sich im Vorfeld der Verhandlungen mit der Ukraine gar um ein fast schon lässiges Bild nach dem Motto „business as usual“. Der russische Chef-Unterhändler Wladimir Medinskij erklärte nur wenige Stunden nach dem Angriff, er reise „in guter Laune nach Istanbul“. Kein zerstörter Bomber werde der Ukraine „auch nur einen Meter ihres Territoriums zurückbringen“Einer der Gründe für die schon fast verdächtige Lockerheit dürfte sein, dass Moskau eine Torpedierung der Verhandlungen nicht wollte. Ein anderer, dass die Gesamtlage im Krieg durch diesen Coup unverändert bleibt. Russische Verbände rücken weiter vor. Der Geheimdienst-Coup stoppt weder die russischen Offensiven noch hilft er, erschöpfte Soldaten an vorderster Linie mit Nachschub zu versorgen oder zu verstärken. Für die Logik in der russischen Kriegsdebatte fasste es der Kanal „Fighterbomber“ treffend so zusammen: „Kilometer sind die einzige Währung dieses Krieges“. Kein einziger zerstörter Bomber werde der Ukraine „auch nur einen Meter ihres Territoriums zurückbringen“. Solange die Bodentruppen westwärts vorrücken, sei man bereit, diese und noch größere Verluste – wenn es sein müsse – hinzunehmen, so „Fighterbomber“. Der ukrainische Coup ist somit ein äußerst vielschichtiges, man könnte auch sagen ambivalentes Ereignis. Es wird einerseits in die Geschichte als „schwarzer Tag der russischen Luftwaffe“ eingehen, andererseits für die Bodenkämpfe im Ukraine-Krieg nichts ändern und den Frieden nicht näherbringen. Im Weltmaßstab zementiert der Angriff den Aufstieg der Drohnen-Waffe als Militärfaktor von strategischer Dimension. Mit 500 Dollar teuren Fluggeräten lassen sich strategische Potenziale dezimieren, so das nicht übertriebene Fazit vom 1. Juni. Gleichzeitig öffnet der Angriff die Büchse der Pandora bei der asymmetrischen Kriegsführung und bei asymmetrischen Risikoszenarien. Mit minimalem Finanzaufwand wurde ein Paradebeispiel geliefert, wie es funktioniert, wenn paramilitärische Akteure sich derartiger Methoden bedienen. Das wird noch mehr Nachahmer finden als bisher – seien es die Huthi im Jemen, muslimische Milizionäre im Nahen Osten oder Terrorzellen in Europa. Jeder unscheinbare Container – auf einem Lkw, einem Schiff oder Zug oder auf einem Parkplatz – kann Kamikaze-Drohnen an Bord haben. Man hat es mit einer neuen Bedrohungslage zu tun, die mit konventionellen Mitteln kaum abzuwehren ist und beinahe grenzenlose Varianten von asymmetrischen Angriffen auf sensible Ziele bietet.
Nikita Gerasimov
Der 1. Juni hat mit der Drohnen-Attacke auf russische strategische Bomber die Welt verändert – zumindest die von Geheimdienstoperationen und einer asymmetrischen Kriegsführung. Das gilt für den Ukraine-Krieg wie für Konflikte in Nahost
[ "Russische Luftstreitkräfte", "Drohne", "Russisch-Ukrainischer Krieg" ]
Politik
2025-06-04T15:45:00+02:00
https://www.freitag.de/autoren/nikita-gerasimov/es-brodelt-bei-russischen-kriegsbeobachtern-nach-dem-angriff-am-1-juni
Griechenland-Krise Ein schwarzer Tag für Europa
Als letzten Sonntag die Staats- und Regierungschefs der Eurozone über die Zukunft Griechenlands berieten, und erste Details der Bedingungen, die Athen für ein drittes Hilfsprogramm erfüllen sollte, bekannt wurden, ging ein Aufschrei durch die Netzwelt. Nutzer des Kurznachrichendienstes Twitter kreierten den Hashtag #ThisIsACoup, zu Deutsch: "Das ist ein Putsch", um ihrem Unmut über die Verhandlungstaktik der Eurogruppe Ausdruck zu verleihen.Seitdem wurde das Hashtag über 400.000 Mal benutzt. Auf der ganzen Welt, das zeigen Karten mit der Verteilung der Hashtags, beobachteten die Menschen fassungslos, was in Brüssel vor sich ging: Schäuble und der Eurogruppe schien es nicht um einen nachhaltigen Kompromiss zu gehen, um eine Verhandlung auf Augenhöhe – sondern vielmehr um die totale Unterwerfung Griechenlands.Die griechische Regierung sollte gedemütigt werdenDer vierseitige Forderungskatalog, mit dem die Euro-Finanzminister die griechische Seite konfrontieren, ist nicht konzipiert, die griechische Wirtschaft wieder auf die Beine zu stellen. Stattdessen handelt es sich bei den Bedingungen, die Athen erfüllen soll, um eine wahre Vendetta der Gläubiger. Weitere Jahre der Austerität werden den Griechen als Kollektivstrafe aufgezwungen, weil sie es wagten, das neoliberale Spardiktat in Frage zu stellen. Nicht ohne Grund nannte Spiegel Online die Gläubiger-Bedingungen (die Griechenland größtenteils übernehmen musste) "Grausamkeiten".Da ist die Mehrwertsteuererhöhung, die der Haupteinnahmequelle der Hellenen – dem Tourismus – stark zusetzen wird. Da sind die Rentenkürzungen, die besonders furchtbare Auswirkungen haben werden, weil die Rente der Alten in vielen griechischen Familien das einzige verbliebene regelmäßige Einkommen ist. Des Weiteren soll der griechische Arbeitsmarkt langfristig kapitalismusfähiger gemacht werden: Schwächung der Gewerkschaften, einfachere Kündigungen. Ein Fonds soll geschaffen werden, in dem die Privatisierung griechischen Staatseigentums die Summe von 50 Milliarden Euro generieren soll. Dieser Fonds wird von den Gläubiger-Institutionen überwacht und bedeutet, wie Zeit-Chefredakteur Josef Joffe im Guardian schrieb, eine Art Besatzungsmacht.Nicht zuletzt sollen die verhassten Technokraten der Troika wieder nach Athen eingeflogen werden: die Vertreter von EU-Kommission, Internationalem Währungsfonds und Europäischer Zentralbank müssen jedem relevanten Gesetzesvorschlag zustimmen, bevor er überhaupt ins Athener Parlament darf. Nicht gewählte Beamte, die hinter verschlossenen Türen arbeiten, haben in diesem Europa Vorrang vor einem nationalen Parlament.Die Sparmaßnahmen werden die Krise in Griechenland verschärfenDiese Maßnahmen, von denen einige binnen weniger Tage durchgeführt werden sollen, werden die Talfahrt der griechischen Wirtschaft zweifellos verlängern. Das Prinzip der fiskalischen Austerität ist schon lange als kontraproduktiv widerlegt worden. Griechenland, sagen die Ökonomen, braucht einen Schuldenschnitt – selbst der IWF hat das eingesehen. Doch in Schäubles Welt ist ein Schuldenschnitt nicht vorgesehen. Für ihn und die anderen Hardliner in der Eurogruppe geht es um Moral.Der Narrativ der deutschen Politik zur Wirtschaftskrise nämlich besagt, dass die Südeuropäer über ihre Verhältnisse gelebt hätten und nun den gerechten Preis – fiskalische Austerität – bezahlen müssen. Demnach würde also Gnade mit Hellas in Form eines haircut die anderen Krisenstaaten in Versuchung führen, die Spardoktrin anzuzweifeln.An Griechenland wird auf grausame Weise ein Exempel statuiertDie harschen Konditionen für Athen sollen auch dazu dienen, das Wahlvolk in anderen von Sparprogrammen geplagten Ländern auf Linie zu halten. Spanien wählt dieses Jahr und ein Erfolg der linksalternativen Partei Podemos käme den Gläubigern äußerst ungelegen.Deswegen haben die Institutionen auch eine ganze Reihe von schmutzigen Tricks benutzt, um Syriza aus dem Amt zu jagen. In den Tagen, bevor Tsipras notgedrungen das Referendum aufrief, hatten sie Griechenland auflaufen lassen. Eiskalt waren auch die größten Zugeständnisse Athens als unzureichend abgeschmettert worden. Die Gläubiger forderten Dinge von der griechischen Regierung, die Syriza wahrscheinlich die politische Glaubwürdigkeit gekostet hätten. Die EZB weigerte sich indes, das Limit für die Notfinanzierung der griechischen Banken anzuheben und verursachte so den cash squeeze, der zur Schließung der Banken führte. IWF-Boss Lagarde erklärte, der griechischen Staat sei "im Zahlungsrückstand", direkt nachdem Athen die Rückzahlung einer Rate verpasst hatte – obwohl sie Griechenland vor diesem Schritt eine Gnadenfrist von vier Wochen hätte zugestehen können. Und nach dem lauten Nein der Griechen?Wir brauchen ein anderes EuropaBei den Verhandlungen letztes Wochenende war die griechische Delegation zu weitreichenden Zugeständnissen bereit, als Wolfgang Schäuble unerwartet mit neuen Forderungen ankam – einem Grexit auf Zeit und der Übertragung griechischen Staatsbesitzes in einen ausländischen Treuhandfonds. Obwohl der Zeit-Grexit schnell vom Tisch war und der Fonds abgemildert wurde, muss man nach dem Sinn dieser Strategie fragen. Sie wirkt wie ein Racheakt an Athen. Die Griechen waren im Büßerhemd in Brüssel erscheinen, doch statt Vergebung und Güte reagierten die Gläubiger mit dem vielseitigen Eurogruppen-Memo vom Sonntag, das einer finanzpolitischen Kriegserklärung ähnelt.Alexis Tsipras hatte keine Wahl. Um sein Land vor dem totalen Kollaps zu bewahren, unterschrieb er den faulen Deal. Die Demütigung Griechenlands sollte uns alle beschämen. Wir brauchen ein anderes Europa. Eines, das sich um die Menschen kümmert; das nicht nur den Finanzeliten nützt, das Flüchtlingen eine Chance bietet, das gerecht und solidarisch ist. Ein solches Europa aber ist am vergangenen Wochenende noch weiter in die Ferne gerückt.
David Antonio Ztr
Warum die Demütigung Griechenlands uns allen schadet
[ "Europäische Zentralbank", "Wolfgang Schäuble", "Alexis Tsipras", "europa", "Synaspismos Rizospastikis Aristeras", "Internationaler Währungsfonds" ]
Politik
2015-07-14T22:14:00+02:00
https://www.freitag.de/autoren/daztr/ein-schwarzer-tag-fuer-europa
Schwans Kandidatur Im falschen Rennen
Natürlich musste die SPD einen Kandidaten aufstellen. Das neue System aus fünf Parteien zwingt alle mehr als zuvor, bei jeder Gelegenheit die eigenen Optionen zu mehren. Und diese Gegen-Kandidatur von Gesine Schwan bringt der SPD, das zeigen bereits die ersten Tage nach der Entscheidung, Bewegungsspielräume. Dass die Gegner drohen und den Vorgang nutzen, um früher als geplant ihren Lager-Wahlkampf einzuläuten, das ist ebenso nahe liegend wie unerheblich. Politiker von Union und FDP, Leitartikler von Zeit und FAZ versuchen mit hohem Rede- und Zeilenaufwand, das politisch und moralisch Verwerfliche an dieser Tat dem Publikum begreiflich zu machen: Da werde eine ganz, ganz schlimme Links-Regierung vorbereitet.Die Vorhaltungen sind keine fünf Minuten Debatte wert, sind sie doch ohne Grund und Boden: Das Amt des Bundespräsidenten ist so unbedeutend geworden, dass von der Wahl machtpolitisch weder das eine noch das andere Signal ausgeht; das mag bei Gustav Heinemann anders gewesen sein - vor 40 Jahren. Wenn Gesine Schwan ein Markenzeichen hat, dann ihre lebenslange Beschäftigung mit den politisch verderblichen Seiten von Sozialisten und Kommunisten und ihren anti-kommunistischen Kampf. Und zudem weiß jedes Kind, dass es 2009 zu keiner rot-rot-grünen Koalition kommen wird, ist die SPD doch so derangiert, dass sie nie und nimmer das Kraftzentrum einer solchen Regierung sein könnte.Interessanter ist die Frage, ob in dieser Gegenkandidatur eine Alternative zu Horst Köhler steckt. Köhler versucht sich als Bürger-Präsident zu positionieren, der den politischen, auch den wirtschaftlichen Eliten sagt, sie hätten mal wieder über die Stränge geschlagen. Grundeinkommen, zu hohe Managergehälter, mehr Bürgerbeteiligung, Finanzmärkte als Monster - da kommen schon einige Wortmeldungen zusammen. Bei allem: Er ist Agenda-2010-Liebhaber geblieben und Marktradikaler zugleich, aber anständig soll es zugehen auf der Welt. Was böte Gesine Schwan? Als Wissenschaftlerin, die sich mit der Entlarvung freiheitsschädlicher kommunistischer Ideologien und dem Brückenschlag zwischen Ost- und Westeuropa beschäftigt, sich dabei viel Anerkennung erarbeitet hat, ist sie nicht aus dieser Zeit gefallen. Aber was würde sie, die Kanzler Schröder ebenfalls wegen seines Einsatzes für die Agenda 2010 schätzt, so viel anderes sagen als Köhler dies ohne ihre Eloquenz tut?Was beschäftigt diese Gesellschaft? Die große Mehrheit der politischen Elite - die wirtschaftliche Elite sowieso - konzentriert sich auf die Aufgabe, diese hocheffiziente, bereits auf Hochtouren laufende weltweit präsente Wirtschaftsmaschine Deutschland noch wettbewerbsfähiger zu machen. Der Mehrheit der Bürger fliegen seit Jahren die Konsequenzen dieser Politik um die Ohren, hat diese doch umstürzlerische Folgen für millionenfache Alltage. Der jüngste Armutsbericht gibt Einblicke, die vielfältigen Unsicherheiten, die Menschen bedrängen, erzählen auch davon. Diese Mehrheit meint deshalb, man müsse sich endlich in der Hauptsache mit diesen Folgen beschäftigen und nicht länger der Aufgabe, diese Maschine noch hochtouriger zu machen. Es ist also die Stunde für Auseinandersetzungen über eine neue Gesellschaftspolitik, für die ein in der Welt der Ökonomie Gefesselter und eine, die vor allem alte Gefahren der Freiheit im Blick hat, vermutlich wenig Gespür haben. Und das Thema "mehr Vertrauen schaffen", das beide mit Inbrunst intonieren, ist eben auch nur nett. Wenn Horst Köhler der falsche Kandidat ist, ist sie nicht die Richtige.So ist die Kandidatur von Schwan weniger für die Gesellschaft denn für die SPD von Bedeutung. Sie signalisiert, dass die Erneuerungsarbeit der SPD bis auf weiteres abgeschlossen ist. Allein die kleinen Korrekturen, die Kurt Beck durchsetzte, brachten die Partei aus dem Tritt und ihren Parteivorsitzenden dem Abgrund näher. Es wird - daran ändert auch das neue Steuerkonzept nichts - an einer Alternative zur CDU nicht weiter gearbeitet werden. Die Risiken sind zu groß. Der Partei fehlt die Kraft. Man wird sich weiter mit Hilfe von Lupe und Seziermesserchen auf die Suche nach Unterschieden zwischen CDU und SPD machen müssen. Wo Inhalte sich gleichen, schlägt die Stunde des Marketings.Das Produkt ist die Kandidatur Gesine Schwan - zwar nur eine Wiederholung, aber immerhin eine Option, sich mit einer wachen, intellektuellen, eloquenten Politikerin Aufmerksamkeit zu verschaffen, ohne intern weitere Verwerfungen auszulösen. Die Sozialdemokraten bedachten bei diesem Coup nur eines nicht. In ihr spiegelt sich die Fahlheit der beiden potenziellen Kanzlerkandidaten schärfer wieder, als den Beteiligten lieb sein kann.So geht mit Gesine Schwan die beste momentan verfügbare Kanzlerkandidatin der SPD in ein Rennen um das falsche Amt. Der Coup wird deshalb zur Last.
Wolfgang Storz
Schwans Kandidatur war ein Coup, der für die SPD zur Last wird
[]
Politik
2008-05-30T00:00:00+02:00
https://www.freitag.de/autoren/wolfgang-storz/im-falschen-rennen
Herbst Kann ein Blog sterben?
Dieser Blog kommt aus der Zukunft. Sie ist grauenhaft.... mit diesen Worten ist der Blog archinaut: vor drei Jahren vom Stapel gelaufen.... 365 Folgen stehen jetzt in der Vergangenheit wie alles andere, was Dich je in Deinem Leben erreicht hat.Was auch immer wir schreiben, kann untergehen, bevor es einer empfänglichen Menschenseele begegnet.... was ich in das Netz entlassen habe, hat einige erreicht, worüber ich mich freue, und der Wunsch bleibt, dass es noch andere finden, eines Tages..... in einer Zukunft, die hoffentlich nicht grauenhaft ist.Denn die Zukunft ist formbar, aber sie wartet nicht auf uns. Der einzige Moment, in dem wir die Zukunft gestalten können, ist doch gerade dieser eine Moment Gegenwart: jetzt.Wer weiß, vielleicht die richtige Stelle, die Legende vom armen Drachentöter einzuflechten...?Noch nicht lange her, da bedrohte eine feuerspeiender, jungfrauen- und hartgeldfressender Drachen die Inselstadt.... wohnte versteckt in den Dünen, überfiel arme Fischer und reiche Kaufleute, und alle Insulaner hatten unter seinem unmäßigen Hunger schwer zu leiden.... Ach, wenn der Drachen doch bald sterben wollte, so hofften sie und beteten wohl auch gelegentlich zu ihren Göttern....Kam schließlich ein armer Seefahrer, der sein Schiff im Sturm verloren hatte, suchte einen Platz zum Leben und bot seine Dienste an, bis er eines Tages das gefräßige Geheimnis der Insel entdeckte.... Was gebt Ihr mir, wenn ich den Drachen für Euch töte? fragte er, aber die Insulaner konnten den Sinn seiner Rede nicht verstehen. Den Drachen hat noch niemand besiegt, beschieden sie ihm, warum also sollte es ausgerechnet Dir gelingen? Weil ich nichts zu verlieren habe, sagte der schiffbrüchige Seefahrer.Was uns der Drachen nimmt, lassen wir ihm nicht gern, sagten sie, wir sind arm und haben nicht viel, wie also könnten wir Dir freiwillig irgendetwas geben? Andere sagten sogar: Der hungrige Drache schützt unsere Küsten vor schiffbrüchigen Seefahrern, die auf unsere Jungfrauen scharf sind.... warum sollten wir was gegen den Drachen unternehmen?Der arme Seefahrer träumte natürlich von der schönen Königstochter, aber eine auskömmliche Ganztags- oder Teilzeitstelle hätte ihm auch schon geholfen, selbst über einen kleinen Garten hätte er sich gefreut, um Kartoffeln und Nudeln anzupflanzen..... (an diesem Wunsch lässt sich erkennen, dass er leider nicht besonders klug war). Aber er musste nun einsehen, dass die Insulaner ihm nicht vertrauten.So sagte er: Ich verlange nichts von Euch, bevor ich den Drachen erledigt habe..... trotzdem werde ich gehen, ihn zu töten..... und ich möchte Euch darum bitten, jeden Morgen ein Glas frisches Wasser an den trockenen Baum vor den Dünen zu stellen, solange mein Kampf mit dem Untier dauert, als Zeichen dafür, dass Ihr an mich denkt.Dann ging er in die Dünen vor dem Strand, wo der Drachen lebte.Am ersten Tag brachte ein altes Mütterlein ein Glas frisches Wasser zum trockenen Baum – als junges Mädchen war sie eine Woche in der Gewalt des Drachens gewesen, und ihre Tränen waren schon in der ersten Nacht erfroren.Am zweiten Tag brachte ein alter einbeiniger Fischer ein Glas frisches Wasser zum trockenen Baum – als junger Mann hatte er mit dem Drachen gekämpft und sein Weib, seine Kate, sein Schiff und sein Bein verloren in einer Nacht.Am dritten Tag brachten zwei Kinder ein Glas frisches Wasser zum trockenen Baum – im letzten Winter war ihr liebster Freund verhungert.Am vierten Tag aber hatten die Insulaner den schiffbrüchigen Seefahrer in den Dünen vergessen.Und als der Herbst kam, flog der Drachen über die Stadt.... ließ sich nieder mitten auf dem Marktplatz, wühlte ihn mit dem neunfach gepanzerten Drachenschweif auf, dass die Pflastersteine auf die stolzen Bürgerhäuser der ersten Reihe niederprasselten und legte zwölf glänzende Eier in den morastigen Grund...... Drachen sterben selten eines natürlichen Todes, so will es die Fabel. Jeder Drache wartet auf den, der ihn überwindet, wir wissen es spätestens, seit Jim Knopf uns die Augen öffnete.So wie dieser Blog archinaut: erst sterben kann, wenn darin keiner mehr lesen will......Hier endet der 365. Eintrag: Dieser Blog mischt Fiktion und Realität. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind zufällig und in der historischen Überlieferung nicht verbürgt. Ich bin nur der Navigator, mein Name sei NEMO: Ich schreibe um unser Leben. Bitte bleib dran.NextBackKlick zum Gästebuch
archinaut
.... wenn Drachen steigen
[]
Kultur
2012-09-14T02:22:00+02:00
https://www.freitag.de//autoren/archinaut/kann-ein-blog-sterben
Jung & Naiv Folge 69: Was ist los in Ägypten?
Nachdem sich gestern im Laufe des Tages abzeichnete, dass das Militär in Ägypten gegen Präsident Mursi putscht, brauchte ich im Laufe des Abends erstmal ein wenig Einordnung. Dazu habe ich den Autor und Journalisten Sultan Sooud Al-Qassemi, der zu den bekanntesten und bestvernetzten Menschen im Nahen Osten und der Arabischen Welt gehört, spontan zu einem "Jung & Naiv"-Live-Hangout eingeladen.Ich wollte von Sultan wissen: Was ist da soeben in Kairo passiert? Was ist überhaupt ein Militärputsch? Warum freuen sich die Menschen auf den Straßen so darüber? Wer ist überhaupt dieser Mursi und diese Muslimbrüder? Ist nicht vor 2 Jahren erst ein Pharao in Ägypten gestürzt worden? Und wie geht's jetzt weiter? Und weil es ja ein Coup des Militärs war, habe ich noch meinen Peng-und-Bumm-Experten Thomas Wiegold dazugeholt. Am Ende sind's 55 erfrischende Minuten (auf Englisch) geworden. In den letzten 20 Minuten habe ich Sultan zudem eure Fragen gestellt, die im Laufe und vor der Sendung per Twitter und Facebook eintrudelten. Wie funktioniert "Jung & Naiv" via Google Hangout? Kann man mal öfter machen?Feedback? Sharing? Yes, please.www.jungundnaiv.de
Jung & Naiv
Was ist da in Kairo passiert? Und was ist überhaupt ein Militärputsch? Warum freuen sich die Menschen auf den Straßen so darüber?
[ "Mohammed Mursi" ]
Politik
2013-07-04T13:41:00+02:00
https://www.freitag.de/autoren/tilo-jung/episode-69-was-ist-los-in-aegypten
Telekom-Streik Es geht um fast alles
Scheinbar alles wie gehabt: Gewerkschaftsfahnen, Transparente, Trommeln, lokal begrenzte Nadelstich-Streiks und die Hoffnung auf den erträglichen Kompromiss. Aber was durch den aktuellen Export-Hype bei den Metallern noch einmal funktioniert hat, ist nicht nur bei der Telekom längst Nostalgie. Dem "Rausch des Aufschwungs" (Die Zeit) kann angesichts der wackligen Weltkonjunktur alsbald der große Kater folgen. Ganz unabhängig vom aktuellen Export-Boom geht so in vielen Branchen der soziale Kahlschlag ungebremst weiter. Der beispiellose Versuch der Telekom, 50.000 Beschäftigte bei drastischer Lohnsenkung und Arbeitszeitverlängerung in Tochtergesellschaften auszulagern, markiert eine neue Qualität des Bruchs mit dem Nachkriegs-Sozialkompromiss.Ein Gelingen dieser Attacke hätte Signalwirkung für die Gesamtgesellschaft. Die Konzerne stehen schon in den Startlöchern, um einschlägige Maßnahmen ähnlichen Ausmaßes durchzuziehen. Nicht der situationsabhängige relative Erfolg der Metaller, sondern Outsourcing, Billiglohn und Mehrarbeit bilden die Haupttendenz. Dass ehemalige Kernbelegschaften nicht mehr ausgenommen sind, hat sich bereits bei VW oder Siemens gezeigt. Der nationalökonomische Korporatismus von Management, Politik und Gewerkschaften zersetzt sich mit wachsender Geschwindigkeit. Dazu gehört auch die forcierte Privatisierung der öffentlichen Infrastrukturen in den vergangenen 15 Jahren. Durchweg folgte eine Verschlechterung und Chaotisierung der Dienste; im nunmehr börsenorientierten Telekom-Konzern kein Wunder, angesichts von nicht weniger als 17 hektischen Umorganisationen und einer Halbierung der Belegschaft. "Euer Service taugt zwar nichts, aber ihr habt wenigstens noch einen", so die Aussage eines frustrierten Kunden.Aber es geht eben nicht mehr um den sachlichen Inhalt, sondern um die Vorgaben der Finanzblasen-Ökonomie, wie sie aus der Verwertungsschranke des produktiven Kapitals resultiert. Bei der Telekom ist es nicht zuletzt der Finanzinvestor Blackstone, der den Kurs von Konzernchef Obermann programmiert. Es rächt sich jetzt, dass auch die Gewerkschaften auf die Umwälzung der Verhältnisse nur mit national-keynesianischer Rückwärtsorientierung und ideologischer "Heuschrecken"-Rhetorik gegen das "raffende Kapital" reagiert haben, statt sich dem globalisierten Krisenkapitalismus zu stellen. Bei der Telekom wurde der galoppierende Personalabbau durch "sozialverträgliche" Kompromissstrukturen mitgetragen, einschließlich einer in Aussicht gestellten Absenkung der Einstiegslöhne. Nun sind die alten Rituale am Ende. Es geht nicht mehr um verhandelbare Details, sondern um die Existenz; sowohl für die Beschäftigten als auch für die Gewerkschaft. Ein Handicap ist der aus Vorzeiten überhängende Beamten-Status vieler Beschäftigter, die nicht streiken dürfen.Die Kampfbereitschaft ist dennoch groß. Allerdings stellt sich die Frage, ob Verdi den Mumm aufbringt, ohne Rücksicht auf den zu erwartenden Aufschrei in Medien und Politik die Kommunikationsadern tatsächlich ernsthaft lahm zu legen; mit einschneidenden Folgen für Banken, Konzerne, womöglich den G8-Gipfel. Dazu bedürfte es wohl einer mehr als bloß passiven übergreifenden Solidarisierung. Die Wirtschaftspresse glaubt daran nicht; die üblichen Experten erwarten geringe Auswirkungen. Obermann kündigt schon locker den Verkauf der strittigen Unternehmensteile an. Wenn aber die Konfrontation mit einer kaum verhüllten Kapitulation endet, drohen die Dämme weit über den Kommunikationssektor hinaus zu brechen. Die Gewerkschaften werden dann noch schneller als bisher ausbluten, weil niemand mehr an ihre Eingriffsmacht glaubt. Dieser Streik ist kein gewöhnlicher Tarifkonflikt, sondern ein Menetekel für künftige soziale Strukturen.
Robert Kurz
Verliert Verdi, wird niemand mehr an die Eingriffsmacht der Gewerkschaften glauben
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Politik
2007-05-18T00:00:00+02:00
https://www.freitag.de/autoren/robert-kurz/es-geht-um-fast-alles
Sportplatz Praktizierte Osterweiterung
In Chemnitz fanden gerade die Europa-Wochen statt, und passend dazu machte die traditionell über Tschechien, Polen und (Ost-) Deutschland führende Friedensfahrt in der Stadt mit dem Marx-Schädel Station. Diese bekannte Rad-Etappenfahrt war vor 1989 hochoffiziell - und irgendwie auch praktisch - der Völkerfreundschaft gewidmet. Zwar äußerte sich diese Freundschaft ausgerechnet über Konkurrenz, etwa in der zwischen Respekt und Wut oszillierenden Gefühlslage der DDR-Radsportanhänger gegenüber Aavo Pikkuus oder Dshamolidin Abdushaparow, den großen sowjetischen Gegenspielern der eigenen Idole Hans-Joachim Hartnick und Olaf Ludwig. Aber Distanz, kritische Distanz zumal, fördert eben auch Verständnis. Objekte grenzüberschreitender Verehrung waren die polnischen Asse Ryszard Szurkowski und Stanislaw Szozda, denen manch Schrein in Aue, Ludwigsfelde oder Parchim errichtet wurde. Später, in den frühen neunziger Jahren, bewies das Radrennen, welche Potenziale in der Osterweiterung Europas liegen könnten. Es waren vor allem die Tschechen, mobilisiert von der einstigen Friedensfahrtlegende Pavel Dolezel, die die von Deutschen und Polen im Stich gelassene Tour retteten. 1993 und 94 zirkulierte die Rundfahrt nur auf tschechischem Boden. Seit 1995 sind die Deutschen wieder dabei. 1996 stiegen auch die Polen als Ausrichter wieder ein. Noch immer halten die Tschechen die Fäden der Organisation in ihren Händen. International aufgeteilt sind die übrigen Tätigkeitsfelder bei der Tournee. Die Deutschen, als die Partner mit dem potentiell meisten Geld, haben das Marketing übernommen. Neben dem Fahrzeugsponsor aus Niedersachsen engagieren sich vor allem ostdeutsche Betriebe. Der Werbetross, der sich vor der Fahrerkolonne über den Asphalt wälzt, umfasst mittlerweile über 30 Fahrzeuge und kann bis zu zwei Kilometer lang werden. Die Polen wiederum sind offenbar für das Fahren zuständig. Die diesjährige Friedensfahrt haben sie jedenfalls dominiert. Zwar waren sie mit offiziell schlechter eingestuften Teams am Start - zwei GS II und drei GS III-Mannschaften, während auf deutscher Seite jeweils drei GS I- und GS II-Abordnungen gemeldet waren - aber die entscheidenden Etappen gewannen Angestellte polnischer Profi-Rennställe. Erst überzeugten auf der sogenannten Königsetappe von Mlada Boleslaw nach Chemnitz über 231 Kilometer der für CCC Polsat startende Piotr Przydzial (Polen) und sein tschechischer Mannschaftskollege Ondrej Sosenka mit einer atemberaubenden Fahrt vor dem Feld. Drei Minuten hatten sie am Ende Vorsprung. Und beim Mannschaftszeitfahren sicherten sich die Kollegen von Mroz den Tageserfolg. Mroz hat die Osterweiterung auf eigene Art verstanden. Das nominell polnische Team beschäftigt zwei Polen, zwei Litauer, einen Ukrainer und einen Kirgisen. Die multinationale Truppe lag recht deutlich vor dem deutsch-spanisch-dänischen Team Coast. Telekom landete - geschwächt durch zwei Ausfälle in den Tagen davor - noch hinter weiteren Polen, Deutschen, Dänen und Holländern abgeschlagen auf Rang acht. Der überraschende Ausgang liegt - neben der aktuellen Tagesform - vor allem an der unterschiedlichen Herangehensweise der Rennställe. Für die polnischen Teams ist die Friedensfahrt - neben Weltmeisterschaften - der jährliche Höhepunkt. Die Trainingspläne sind auf die zehn Tage im Mai abgestimmt, die Motivation ist hoch. Für Telekom, Coast oder Nürnberger ist die Friedensfahrt hingegen nur Durchfahrstation. Einzig dem Team des sächsischen Hühnerzüchters Wiesenhof kann man überdurchschnittliches Engagement an der Rundfahrt unterstellen. Ausgerechnet Wiesenhof hatte auf dieser Tour aber damit zu kämpfen, dass die Stasi-Mitarbeit ihres sportlichen Leiters Michael Schiffner (ehemals auch DDR-Friedensfahrt-Kapitän) und des Marketing-Chefs von Tour und Rennstall, Jörg Sprenger, auch außerhalb der Radsportszene bekannt wurde. Zwar setzte umgehend ein großer Beschwichtigungsreigen ein, aber wie schon weiland Lothar de Maizière wusste, ist das Kapital ein scheues Reh; erst recht das gerade noch sponsorwillige. Die Verunsicherung über die Zukunft des Rennstalls dürfte sich durchaus auf die Leistung niedergeschlagen haben. Aber wie hieß es im Fahrerlager angesichts der Bedrohung der Fahrt durch die Stasi-Vorwürfe? "Es kümmert sich auch keiner darum, bei welchen Rennen in Italien die Mafia mit drinsteckt." Wovor mancher sich im Hinblick auf den Osten fürchtet, sitzt westlicherseits bereits am Tisch.
Tom Mustroph
In Chemnitz fanden gerade die Europa-Wochen statt, und passend dazu machte die traditionell über Tschechien, Polen und (Ost-) Deutschland führende ...
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Kultur
2002-05-24T00:00:00+02:00
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#FridaysforFuture Die Fehlbaren
Hach ja, da stehen sie nun jeden Freitag und demonstrieren. Gegen den Klimawandel. Da stehen sie, diese unvollkommenen, unmoralischen Minderjährigen und stellen Forderungen. Wie können sie nur!? Viele von denen essen bestimmt Fleisch, werden mit dem SUV in die Schule gefahren – wenn sie nicht gerade blau machen, denn darum geht es ja eigentlich! –, und einen Abschluss in Umwelt-Rettungs-Dings streben auch nicht alle an. Sollen sie sich doch erst mal an die eigene Nase fassen und etwas an ihrem Leben verändern!So in etwa klingt ein erheblicher Teil der öffentlichen Rezeption der FridaysforFuture-Bewegung, die derzeit von sich reden macht. Entweder werden die protestierenden jungen Leute als lernfaul oder aber als inkonsequent abgestempelt, belächelt – ach, moralisch verurteilt.In der Westdeutschen Zeitung schreibt ein Lehrer etwa: "Alle [...]1 sollten sich zunächst an ihre eigene Nase fassen und bei sich selbst und in ihrem Umfeld beginnen, das Klima zu verändern. Das ist manchmal nicht so lustig wie zu streiken, aber es wäre ein ehrlicher Anfang. Erst anschließend sollten sie mitstreiken. Oder besser am Samstagnachmittag demonstrieren gehen, anstatt Fußball zu gucken oder zu Primark zu gehen. Dann würden wirklich nur die Schüler und Studenten kommen, denen das Klima wirklich am Herzen liegt. (Und ich hoffe, es kämen viele!)"Mit dieser Logik ist er keinesfalls allein. Die Kinderausgabe des Nachrichtenmagazins der Spiegel twitterte vor ein paar Tagen ein Bild von demonstrierenden Schülerinnen und Schülern, die zwischendurch schnell zu McDonalds gegangen waren und dort Burger gekauft hatten, „einzeln eingepackt und eher nicht besonders klimafreundlich produziert“.2 Und auch abseits der etablierten Medien liest man in so ziemlich allen Kommentarspalten: Die schieben doch die ganze Verantwortung auf den Staat ab! Schaut euch mal ihre Kleiderschränke an! Aber diese Kinder fliegen ja auch in den Urlaub! Die Jugend hat es verstanden Es ist zum verrückt werden. Da gehen junge Menschen für eine gute Sache auf die Straße, und die Antwort, die sie erhalten, lautet: Ihr seid nicht moralisch perfekt. Ihr habt moralisch kein Recht zu demonstrieren. Hört mit der Politik auf und ändert individuell etwas.Davon abgesehen, dass ein großer Teil der Menschen auf der Straße das längst versucht, ist diese Forderung beinahe lächerlich. Sollen nur noch moralisch einwandfreie Menschen Kritik äußern dürfen? Das wäre das Ende jeder Kritik. Auch die Vorstellung, individuell sei der Klimawandel zu stoppen, ist ein fataler Irrglaube. Als könnte der Klimawandel – oder sonst irgendein globales Problem – über individuelles Konsumverhalten gelöst werden. Und noch mehr: Als könnte irgendjemand im Globalen Norden nicht über die Verhältnisse der Menschen anderswo und zukünftiger Generationen leben. Als hätten wir nicht strukturelle Probleme, die die Zerstörung des Planeten befeuern, teilweise sogar erst ermöglichen. Gerade das haben viele der jungen Leute verstanden.Der Soziologe Stephan Lessenich verweist treffend darauf, dass die Bevölkerungen im reichen Globalen Norden die Folgen ihres Lebensstils auf andere Menschen – in anderen Teilen der Welt und in zukünftigen Generationen – abwälzen. Sie tun das, weil die Strukturen es erlauben, also weil sie es können. Gleichzeitig betont Lessenich, dass die Menschenim reichen Nordennicht anders können. Es ist unter den gegenwärtigen Bedingungen beinahe unmöglich, hierzulande ökologisch verträglich zu leben – was wiederum explizit nicht heißt, dass man es nicht versuchen sollte.Sicher tragen Individuen Verantwortung für ihr Handeln, selbstverständlich sollten sie versuchen, klima- und umweltfreundlicher zu leben. Was sie nicht sein müssen, ist unfehlbar. Was sie nicht haben, ist individuelle Schuld an der Misere. Am allerwenigsten ein Haufen junger Menschen, denen die Politik weder Wahlrecht, noch echte Strafmündigkeit zuspricht.Es geht nur gemeinsamDie Rezeption der FridaysforFuture-Proteste bringt nicht nur streckenweise Verachtung für junge Menschen ans Tageslicht. Viel mehr noch zeigt sie die Geringschätzung für politisches Handeln, das diesen Namen verdient. Das Mantra vom einzelnen Menschen, der die Welt allein verändern kann und muss, ist zutiefst unpolitisch – und es macht krank, indem es alle gesellschaftlichen Probleme auf den Schultern einzelner ablädt.Wir halten den Klimawandel, die Zerstörung dieses Planeten gemeinschaftlich – das heißt politisch – auf, oder wir werden scheitern. Änderungen des individuellen Konsumverhaltens können die Folgen des Klimawandels weniger schlimm machen, aber ihn niemals verhindern oder auch nur an einem ansatzweise annehmbaren Punkt stoppen.Die Fehlbaren von #FridaysforFuture scheinen das begriffen zu haben. Deswegen sind sie ungehorsam und für die Mächtigen unangenehm – allen billigen Versuchen der Vereinnahmung, etwa durch die Bundeskanzlerin, zum Trotz. Mögen sie standhaft bleiben, politisch wachsen – und vor allem noch viel mehr werden.1 Hier nennt er einige beispielhafte Schülerinnen und Schüler, denen er quasi Doppelmoral unterstellt. Er spricht anderen nicht ab, individuell schon zu versuchen, das Klima zu verändern. An der grundsätzlichen Forderung, bei einer Beteiligung eine möglichst weiße Weste zu haben, ändert das nichts. 2 Der Tweet von Dein SPIEGEL ist nach einiger Kritik inzwischen gelöscht, die Diskussion geht aber weiter: https://twitter.com/Dein_SPIEGEL/status/1101430263551283200
Franz Hausmann
Klimaschutz ist in erster Linie keine individuelle Aufgabe, sondern eine kollektive. Das scheint sich noch nicht überall herumgesprochen zu haben
[ "Globale Erwärmung" ]
Politik
2019-03-04T18:55:00+01:00
https://www.freitag.de//autoren/franzhausmann/die-fehlbaren
Netzgeschichten Apostel, Kunde, Freund
Manchmal kann das Internet ganz schön entlarvend sein. Auf welche Weise sich ein Musiker auf seiner Webseite präsentiert, verrät zum Beispiel viel darüber, wie er seine Fans sieht.Für Pete(r) Doherty etwa scheinen sie eine Art moralischer Instanz zu sein. Zur Veröffentlichung seines Solo-Albums ­Grace/Wastelands hat sich der Sänger bei Myspace angemeldet und macht dort ganz auf braver Bub. Auf myspace.com/gracewastelands blickt er einem aus einem kleinen Schwarz-Weiß-Porträt so dermaßen unschuldig und leidend entgegen, dass man ihm am liebsten sagen möchte, es sei doch alles gar nicht so schlimm. Eingerahmt ist das Foto von braunen Kästen in Papp-Optik, einen füllt ein Text, der auf 15 Absätzen versucht, den „wahren“ Doherty vorzustellen, und um Verständnis für dessen ausschweifenden Lebensstil heischt. Zum Beispiel habe er es als Kind „immer schwer gehabt Freunde zu finden“, weil er so oft umziehen musste.Nach der Veröffentlichung war das ­Grace/Waste­lands-Album für einige Tage komplett auf der Seite anzuhören, vermutlich als Entschädigung für zugedröhnte und abgesagte Konzerte des Musikers. Die Videos auf der Seite stammen übrigens von zwei verschiedenen Dohertys: Pete und Peter. Kein Tippfehler, der Künstler hat zu seinem 30 Geburtstag entschieden, ein „r“ an seinen Vornamen anzuhängen, um reifer zu wirken. Ein unterstützenswertes Vorhaben, wobei er es ja auch mal mit ein paar nüchternen Auftritten versuchen könnte.Professioneller gestaltet sind das Myspace-Profil von Madonna und ihre Webseite madonna.com. Hier wird schnell klar, dass sie die Fans in erster Linie als Konsumenten versteht. Es gibt alles zu kaufen: Madonna-Kinderbücher und Madonna-Filme – wobei man aufpassen sollte, etwa die Hälfte der angebotenen Filme war verdienterweise für die Goldene Himbeere, den Anti-Oscar, nominiert. Zu Specials wie Madonna-Bildschirmschonern und Verlosungen von Tickets haben allerdings nur Mitglieder ihres Fanclubs Zugang, mit dem richtigen Passwort.Madonna wirbt auf der Seite außerdem für ihre Stiftung „Raising Malawi“, die Kinder in dem afrikanischen Land unterstützt, auch ohne dass sie sich von dem Star adoptieren lassen müssen. Die Adresse ihrer Homepage musste Madonna sich übrigens vor Jahren vor Gericht erstreiten. Unter madonna.com hatte zuvor ein New Yorker Geschäftsmann Pornos ins Netz gestellt. Das schädige ihr Image klagte die Sängerin – und bekam die Adresse schließlich zugesprochen.Die Alternativ-Rocker von Radiohead wiederum scheinen Fans eher als Freunde begreifen zu wollen, denen man ohne weiteres vertrauen kann. Auf radiohead.com ließ sich das komplette Album In Rainbows herunterladen – zu einem selbst bestimmten Preis und in der Hoffnung, dass die Fans schon eine annehmbare Summe zahlen würden. Bis jetzt gaben die Musiker allerdings nicht bekannt, welches Geschäft sie mit den Downloads gemacht haben. Was skeptisch macht: Beim nächsten Album wollen sie vorsichtiger verfahren. Es sollen zunächst zwei Titel im Netz angeboten werden, um zu testen, wie sich die Nutzer diesmal verhalten.
Irene Habich
Betrachten und betrachtet werden: Die Webseiten von Musikern verraten etwas über ihr Verhältnis zu den Fans und sich selbst. Ein kleiner Streifzug durchs Internet
[ "Madonna (Künstlerin)" ]
Kultur
2009-08-06T12:25:00+02:00
https://www.freitag.de/autoren/irene-habich/apostel-kunde-freund
Realität als Imagination Die Geburt der Gegenwart in der Wüste
Seit Michael Ondaatjes Buch Der englische Patient und Anthony Minghellas gleich betiteltem Film ist der Name des mit diesem Patienten identifizierten Wüstenforschers Ladislaus Eduard Almásy nicht mehr zu überhören oder zu übersehen, obwohl von ihm fast nichts zu sehen ist. Unkenntlich durch Verbrennungen liegt er, wie eine Mumie bandagiert, vor der ihn pflegenden Hana aus Kanada, die ihrem Vater als Lazarettschwester in den Zweiten Weltkrieg nachzog. Der Geschichte von Liebe und Tod dieses Patienten lauschend, wähnt Hana, sie habe sie selbst an seiner Seite erlebt, während er sein Leben aushaucht. Für Hana war es das Leben eines Heiligen, obwohl sie das Gegenteil erfährt: er war ein NS-Spion. Auch bei Grond, der den Englischen Patienten in seinen Roman integriert, stirbt dieser Patient, doch Almásy war er nicht: der Wüstenforscher und Geheimagent stirbt in einem Salzburger Sanatorium 1951. Ondaatjes historisch basierte Fiktion, für die Grond "große Bewunderung" hat, steht für ihn dennoch infrage, da "er die Welt ... gar entstellt wiederzugeben schien. Sie lässt sich nicht auf eine noch so rührende Liebesgeschichte reduzieren!"Diese Welt ist die einer "aus den Fugen geratenen" europäischen Aristokratie, die mit Beginn des 20. Jahrhunderts ihr zu Bruch gehendes Jagd- und Herrenmodell, technisch aufgerüstet, in die Wüste projiziert. Almásy, 1895 auf dem bis 1918 ungarischen Schloss Bernstein im Burgenland geboren, treibt die Leidenschaft für Geschwindigkeit dorthin. 1905 fährt er Auto; 1912 hat er den Flugschein; 1918 ist er ein mit Tapferkeitsmedaillen dekorierter Flieger des Ersten Weltkriegs; 1926 geht er als Repräsentant der Steyr-Werke nach Ägypten: hier wird er Entdecker, der, beweisbar, für den NS-Nachrichtendienst in Rommels Afrikakorps, unbeweisbar für die englische, italienische und ägyptische Seite im Zweiten Weltkrieg spioniert und mit allen Seiten Waffenhandel betreibt. Doch Gronds Ziel ist keine Biographie dieses ortlosen Entdeckers, der den Ort der Libyschen Wüste im militärischen und wissenschaftlichen Interesse, selbst aber aufgrund seiner Herrschaftsgier über den leeren Raum kartographiert, aus der bei ihm und allen vor dem Zweiten Weltkrieg schwul verbandelten "Wüstenfanatikern" die Raubgier spricht: ihr Codewort ist "Kambyses".Kambyses ist der mit seinem Heer im Sand erstickte persische Herrscher, den Herodot als Möchte-Gern-Eroberer des Jupiter-Amon-Orakels bezeugt: heute Siwa. Auf dem Weg dorthin musste, doch wo?, der Schatz verborgen sein, der die paramilitärische Forschergruppe vor und nach dem Krieg auf die transnationalen, autobereiften Beine bringt, während ihre Mitglieder im Krieg, verfeindet, sich als Geheimdienstagenten ausspionieren. Es könnte ja sein, dass mitten im Krieg die je andere Seite eine untergegangene Armee gefunden hat! Dieser Wahnsinn ist es, der Grond anstelle einer Biographie interessiert: "all die skurrilen bis phantastischen Charaktere und Ereignisse als Momente der Geburt unserer Gegenwart zu fassen und die Form des Romans daraufhin zu befragen", ist sein Programm. Befragt wird der Roman von Ondaatje, den Grond in ein "intertextuelles Spiel" verwickelt, in das er Briefwechsel und Interviews mit Zeitzeugen als historische Quellen einbezieht, die bei ihm nicht, wie bei Ondaatje, im "Fluss der Fiktion" untergehen. Denn Grond unterbricht diesen "Fluss" permanent, um neue "Momente der Geburt unserer Gegenwart" hervorzutreiben. Sie stützen sein Spiel einerseits kontextuell; andererseits wird es in ein transtextuelles Informationsnetz eincodiert, das die geschlossene Narration Ondaatjes durch eine offene Erzählung ersetzt.Wie sie zwischen Archäologie und Cyberspace navigiert, dafür das Beispiel der Pyramide, die bei Grond das unübersehbare Symbol der Paar- und Machtstruktur und das übersehene Emblem der US-Dollarnote ist: "Die Spitze der Pyramide schien, vom Sockel abgetrennt, wie ein Raumschiff abzuheben." Nicolas erinnert das ihm Gezeigte, ohne dass er das zwischen Sockel und Spitze leuchtende göttliche Auge dabei vergisst. Sein Auge forscht dem Forscher Almásy nach, da er, wie dieser 1926, einen Autokonzern in Kairo zwecks Produktmanagement des Geländewagens Almásy vertritt. Eine außertourliche Tour mit Rita ist dennoch drin: sie zwängen sich in das Königsgrab der Cheops-Pyramide. Doch kaum am uteralen Ort, fällt Nicolas in Ohnmacht und damit aus, während die Geschichte seines ebenfalls im NS-Nachrichtendienst arbeitenden Vaters zur Sprache kommt. Die Verbindung von Pyramide und Raumschiff, Königsgrab und Uterus, Machtgeheimnis des Vaters und Familiengeschichte, Mythos und Marke Almásy, zeigt sowohl, wie Gronds offene Erzählung Raum und Zeit durchquert, als auch, dass sie nicht nachzuerzählen ist.Die in Rita sich wiederholende Hana geht jedoch ins Offene "der Geburt unserer Gegenwart". Darum sei nicht verschwiegen, dass sie ihrer Liebe zur Mumie des Englischen Patienten eine Absage erteilt. Für Grond kommt diese Liebe in einer Krankenschwester mit "Vaterkomplex" und "Bombenneurose" auf ihren Nenner, der auch für die den Freudschen "Mann Moses" inkarnierenden Wüstenforscher gilt. Ihre Liebe zum Nichts der Wüste ist von der nekrophilen Liebe zur Mumie des Vaters nur insofern unterschieden, als sie die Mutter meint. Mit ihr, wie immer, telefonierend, scheint es Nicolas, dass Almásy, "von der Stimme seiner Mutter verfolgt", stets weiter in die Wüste floh oder umgekehrt, sie verstieß ihn in die Wüste, weshalb er den Pseudo-Inzest mit einer "männlichen Lesbe" betreibt. Ob der Zusammenhang von Ägyptologie und Neurosenlehre für den Vater und gegen die Mutter oder umgekehrt ausgeht, ein gelber Diwan steht als Original und Imitat für sämtliche Projektionen bereit, da in der Mobilie dieser Couch der Plan für die Mobilmachung mit dem Codewort "Kambyses" vermutet wird.Der Plan ist ein Flopp und die hermaphroditische Hana geht mit der "männlichen Lesbe" des schwulen Almásy die glücklichste aller Verbindungen ein. Doch diese "queere" Absage an die Paar- und Machtstruktur ist in Gronds Kriegsgeschichte keine Liebesgeschichte, auf die sie zu reduzieren wäre, sondern nur eines der stets neuen "Momente der Geburt unserer Gegenwart", die auf dem "weißen Fleck" der Wüste niederkommt. Er ist Projektionsschirm und black box, kartographiertes Gebiet und Fluchttopos, vermintes Gelände und Unbewusstes, militärischer Stützpunkt und verwehtes Gewirr von Spuren. Ob es bei diesen ›in den Sand geschriebenen‹ Visionen um eine Fiktion als Plan, oder um die Realität als Imagination, oder um die fiktionale Realität des Imaginären geht, das sich mit den Mythen der Geschichtsschreibung auflädt, um die Revolution oder die Diktatur, den Fundamentalismus oder die Restauration gegen das Offene der Moderne zu begründen: bei Grond ist es auf über dreihundert Seiten bestechend präzise, spannend kriminalistisch und passioniert erzählend als Antwort auf die Foucaultsche Frage nachzulesen, aus welchem Schlamm der Schlachten sich en détail die Moderne der Postmoderne unserer Gegenwart gebiert.Walter Grond: Almasy. Roman. Haymon-Verlag, Insbruck 2002, 317 S., 22 EUR
Gerburg Treusch-Dieter
Walter Gronds neuer Roman "Almasy" changiert zwischen Archäologie und Cyberspace
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Kultur
2002-10-11T00:00:00+02:00
https://www.freitag.de//autoren/sebastianpuschner/kevin-kuehnerts-favorit
Fleischindustrie Tönnies enteignen: für Klima, Tier und Mensch
Zwanzig Jahre ist es her, dass SPD-Kanzler Gerhard Schröder die strukturellen Probleme in der Tierhaltung lösen wollte. Auslöser damals war ebenfalls eine Seuche: BSE, der „Rinderwahn“. „Es wird sich etwas ändern, verkündete er. Und das tat es auch: Seit Schröders Versprechen hat sich der Umsatz der deutschen Schlacht- und Fleischverarbeitungsindustrie mehr als verdoppelt. Allein Tönnies machte im vergangenen Jahr 7,3 Milliarden Euro Umsatz – ein Rekordergebnis. Während zu Zeiten Schröders Fleisch noch importiert werden musste, ist Deutschland nun fünftgrößter Fleischexporteur der Welt, bei Schweinefleisch liegt es sogar auf Platz zwei. Die deutsche Fleischindustrie ist mittlerweile entkoppelt von ihrer eigentlichen Funktion, die Bevölkerung zu versorgen: 40 Prozent des Schweinefleischs werden exportiert. Darunter leiden auch die Tiere, denen in der Fleischindustrie routinemäßig Schmerz und Leid zugefügt wird, wie der Deutsche Ethikrat erst im Juni kritisierte.Der Exportorientierung zum Opfer gefallen sind auch die Arbeitsbedingungen. Im gerade erst erschienenen Sammelband Das System Tönnies – organisierte Kriminalität und moderne Sklaverei der Initiative Jour Fixe Gewerkschaftslinke Hamburg berichten ehemalige Tönnies-Beschäftigte von unzähligen unbezahlten Überstunden und völlig überteuerten Unterbringungen. Möglich ist all dies durch ein Subunternehmersystem, über das die meist migrantischen Arbeitskräfte als Werkvertragsarbeiter*innen bei Tönnies arbeiten. Der Deutsche Gewerkschaftsbund schätzt, dass vier von fünf Beschäftigten in der Fleischindustrie bei Subunternehmen angestellt sind.Nicht zuletzt belastet das Geschäft mit der Tötung und Verarbeitung von Tieren das Klima. Ein Fünftel aller Treibhausgasemissionen geht auf die weltweite Tierhaltung zurück, die damit zu den wichtigsten Verursachern der globalen Erwärmung zählt.Auch das vor drei Jahren verabschiedete „Gesetz zur Sicherung von Arbeitnehmerrechten in der Fleischwirtschaft“ führte kaum zu Verbesserungen für die Beschäftigten. Und nun? Nach öffentlichem Druck infolge diverser Corona-Ausbrüche in Fleischfabriken hat die Bundesregierung Ende Juli einen Gesetzentwurf zum Verbot von Werkverträgen in Schlachtbetrieben beschlossen. Tönnies hat derweil 15 neue Tochterfirmen gegründet („Tönnies Productions I – XV“) – möglicherweise um dadurch zukünftigen Regelungen ausweichen zu können, wie die Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten befürchtet.Man darf sich nicht länger mit der Bekämpfung von Symptomen zufriedengeben. Auch das sagte Kanzler Schröder damals während der BSE-Krise. Und damit hat er ausnahmsweise recht, denn eine auf Profit ausgerichtete Fleischindustrie wird immer nach Möglichkeiten suchen, politische Schranken zu umgehen. Wie bloß könnte die Politik es also schaffen, Einfluss auf die Fleischproduktion zu bekommen? Welches Mittel sieht das Grundgesetz bloß für Fälle vor, in denen Konzerne wie Tönnies für das Wohl der Allgemeinheit unter demokratische Kontrolle gestellt werden müssen? Da gibt es tatsächlich ein Instrument – zurzeit wird es in Berlin im Zusammenhang mit der Wohnungsknappheit diskutiert: Enteignung!Die Rekommunalisierung der Fleischindustrie könnte sich an den kommunalen Schlachthöfen orientieren, die es noch vor Jahrzehnten überall in Westdeutschland gab. Sie fielen vor allem in den 1970er und 1980er Jahren Privatisierungen zum Opfer. In privaten Konzernen aber steht der Profit grundsätzlich über dem Allgemeininteresse. In Zeiten des Klimawandels, der Seuche und der Rückbesinnung auf das Gemeinwohl liegt die Lösung doch auf der Hand: Tönnies und Co. enteignen!
Sebastian Friedrich
Seit Jahren werden in der Branche politische Schranken umgangen. Es wird Zeit, nicht nur die Symptome zu bekämpfen
[ "Globale Erwärmung", "Bovine spongiforme Enzephalopathie" ]
Politik
2020-08-12T06:00:00+02:00
https://www.freitag.de/autoren/sebastian-friedrich/toennies-enteignen-fuer-klima-tier-und-mensch
Was läuft Die Regierwütigen
Politsatiren sind auch nicht mehr das, was sie mal waren. Vor sieben Jahren, als die Serie Veep (Deutschland: Sky Atlantic HD) in den USA erstmals auf Sendung ging, galt deren Grundidee noch als Witz: dass im Weißen Haus der USA ein Haufen Leute walten und schalten, die eigentlich zu blöd, zu eitel oder schlicht inkompetent sind – lächerlich, oder? Noch mehr wurde gelacht, wenn ein Washington-Insider durchblicken ließ, dass in Veep die wahre Situation nur leicht überzeichnet sei. Was waren das noch für Zeiten, als man überhaupt noch übertreiben musste, um Satire zu produzieren! Heute hat dieses bewährte Verfahren ausgedient. Die Wirklichkeit ist schlimmer, banaler und mit Distanz betrachtet vielleicht sogar witziger als es sich die besten Comedy-Autoren je ausdenken könnten.Im „Writer‘s Room“ von Veep, in der eine fiktive Vizepräsidentin sich so lange blamiert und immer wieder die Dinge in den Sand setzt, bis sie schließlich Präsidentin wird, hat man das rechtzeitig begriffen: die Serie ist über die Jahre immer besser geworden, gerade weil sie statt sich ums Witzigsein zu scheren auf den Faktor der Bösartigkeit gesetzt hat. Veep ist Comedy ohne gute Absichten. Soll heißen: Hier meint es niemand mit niemandem gut, weder mit den Zuschauern noch mit den Figuren. Es gibt kein Identifikationsangebot, keine positiven, sympathischen Helden und noch nicht mal faszinierende Antihelden á la House of Cards. Grundsätzlich geht immer alles schief, weshalb auch die Verschwörungen und Verbrechen nie so weit gehen wie in den „großen“, ernsten Politthrillern. Was die metaphorische Monstrosität der Politik spielenden Clowns in Veep natürlich keineswegs einschränkt.Ende März startet nun die siebte und letzte Staffel. Es ist die erste, die als direkte Reaktion auf die Trump-Ära gelesen werden kann, denn Staffel 6 wurde zwar im Frühjahr 2017 gesendet, war aber noch vor Trumps Wahl im Herbst 2016 fertig geschrieben. Danach pausierte die Produktion, weil Hauptdarstellerin Julia Louis-Dreyfus eine Krebserkrankung behandeln lassen musste.Die neuen Folgen beginnen in Iowa, dem Staat, in dem Präsidentschaftskandidaten in den USA traditionell als erstes ihre Chancen testen. Hier tummelt sich nun die in Staffel 5 aus dem Amt gewählte Selina Meyer (Louis-Dreyfus), um erneut ihr Glück bei den Wählern zu versuchen. Ihr Kampagnen-Slogan lautet „New. Selina. Now“. Aber natürlich ist erstmal alles beim Alten geblieben: Die Dinge gehen schief – statt in Cedar Rapids, wo eine Tribüne voller Anhänger wartet, landet ihr Flugzeug in einem menschenleeren Cedar Falls. Ein Bürgermeisterhund, dem sie Schokolade zusteckt, fällt prompt ins Koma. Und sobald sie durchblicken lässt, dass sie ihr angebliches „Protegé“, eine Afro-Amerikanerin, zu ihrer Vizepräsidentenkandidatin machen würde, überholt die sie in den Umfragen.Zumindest zu Beginn kann Selina auch noch über ihr altbewährtes Team verfügen, eine perfekte Mischung von karrieregeilen Speichelleckern, nützlichen Idioten und hochintelligenten Totalversagern. Da gibt es die kluge, immer überspannte Amy (Anna Chlumsky), den ihr in allem unterlegenen und doch stets erfolgreicheren Hallodri Dan (Reid Scott), den trockenen Strategieberater Kent (Gary Cole), der viel weiß, aber nicht, wie man effektiv mit Wissen umgeht, und den persönlichen Assistent Gary (Tony Hale), der seiner Arbeitgeberin in allem zu nahe tritt. Ergänzt um weitere Figuren wie den allzu duldsamen Chief-of-Staff Ben (Kevin Dunne) schwirren sie um Selina herum, als ein lebendiges Mobile, eine Art wegelagernde Wohn- und Arbeitsgemeinschaft, in der keiner wirklich seinen Job tut, aber jeder seinen Senf in prägnanter Pointenform beiträgt. „Kann ich wirklich ein anderes Land für etwas beschuldigen, was es gar nicht getan hat?“, fragt etwa Selina, und Ben beruhigt sie: „Das ist ein Eckpfeiler der amerikanischen Außenpolitik seit dem Spanisch-Amerikanischen Krieg!“Die besten Zeilen gehören in Staffel 7 erneut dem unbeschreiblichen Richard Splett (Sam Richardson), dessen einziges Talent seine stets unangebracht gute Laune ist. „Ich glaube, wir müssen dem Attentäter danken“, bemerkt Selina trocken, als eine Massenschießerei die Aufmerksamkeit von einer ihrer peinlichen Auftrittspannen ablenkt. „Ich kümmere mich darum!“, meldet sich Richard eilfertig mit Blick auf die Nachrichten auf seinem Smartphone, „Oh, der Attentäter ist tot. Dann schicke ich seiner Frau vielleicht Blumen, – oh, sie war sein erstes Opfer, so ein Mist.“
Barbara Schweizerhof
Barbara Schweizerhof ist froh über „Veep“: irre Politclowns, denen immer alles entgleitet. Spoiler-Anteil: 22%
[ "veep", "was läuft" ]
Kultur
2019-04-14T06:00:00+02:00
https://www.freitag.de/autoren/barbara-schweizerhof/die-regierwuetigen
Tatort Wart schnell
Philosophische Frage: Hat die neue Tatort-Saison angefangen, wenn sie mit einem Tatort aus Luzern anfängt? Oder ist der Tatort aus Luzern nicht der Baum im Wald, der umfällt, wenn keiner dabei ist? Ein Übergangsstadium zwischen den Wiederholungen der Sommerpause und den neuen Folgen wie Fette Hunde aus Köln am nächsten Sonntag? Ein Film, bei dem man gar nicht merkt, ob er neu ist oder wiederholt wird, weil er sich so routiniert an seinem nicht uninteressanten Thema abarbeitet, dass es ihn auch schon gegeben haben könnte?However, Tatort ist Arbeit und die Luzerner Folge Hanglage mit Aussicht, nüchtern betrachtet, nichts anderes als eine Einstimmung auf das Mittelmaß, das auch den Großteil der neuen Kampagne ausmachen wird. Dabei geht es durchaus um was, um die Korruption von Lokalpolitik, eine – spezifisch schweizerische, aber strukturell auch überall vorstellbare – steuergeldgesteuerte Standortpolitik, die Wirtschaft und Wohlstand als Markt driven denkt, dafür aber dauernd diesem Markt in der Boxengasse eigener Möglichkeiten die Reifen aufziehen muss.Interessant wird der komplexe Entwurf eigentlich erst am Ende, wenn der fiese Anwalt Louis Kaelin (Imanuel Humm) sein Dilemma als Mover und Shaker nach bestehenden Regeln erklären darf: "Die politische Situation ist einfach völlig schizophren, oder? Einerseits unterbieten sich die Kantone mit Pauschalbesteuerung da und Steuergeschenken dort, und andererseits werfen sie einem ständig Knüppel zwischen die Beine, wenn ein Ausländer Grund und Boden kaufen will. Dabei sind’s ja gerade die, die das Geld ins Land bringen, oder? Wenn wir ehrlich sind. Oder was meinen Sie, wer zahlt Ihren Lohn? Doch wohl sicher nicht der Bergbauer.""LS" und "NS" vs. "KS"Für dieses Dilemma interessiert sich Hanglage mit Aussicht allerdings so wenig wie für die Erklärungen des diesmal höchstzwielichtigen Regierungsrats Eugen Mattmann (der große Jean-Pierre Cornu), der seine politische Einflussnahme auf die Umwidmung des Gebiets, in dem der idyllisch-marode Berghof Wissifluh steht, von "LS" und "NS" zu "KS", so darlegt, dass man sich daraus ein realistisches Bild von politischem Handeln in Zeiten der Markt driven Öffentlichkeit bauen könnte. Das ist das Elend dieses Tatort (Buch: Felix Benesch, Regie: Sabine Boss): dass er nicht in die offenen Räume vordringt, die sich durch den Entwurf auftun, sondern immer nur Zeugwart sein will, der die Leibchen fürs Gut-Böse-Trainingsspiel verteilt.Die aufregende, komplexe Geschichte, die "Hanglage mit Aussicht" erzählen hätte können, wird nicht erfasst von einer Form, die in ollen Kamellen festhängt. Die Widerstandszelle auf der Wissifluh ist dem Heimatfilm abgeschaut, bei dem sich zwischen Mistgabelstapler Old Arnold (looks like a ausgezehrter Tilo Prückner: Peter Freiburghaus) und der Tochter (Sarah Sophia Mayer) ein Generation Gap auftut, das die drohende "Modernisierung" radikal (eben mit der Mistgabel) oder pragmatisch-erschöpft (durch Verkauf) handlen will. Reto "Flücki" Flückiger (Stefan "Gubsern" Gubser) muss zickig auf Topchecker machen, der lange auf der Ersatzbank geschmort wird, damit im zweiten Teil wiederum alle froh sein können, dass er mit sich mit erfahrungsgesättigten Zweifeln doch nicht so leicht ins Bockshorn jagen lässt. Solche Zwistigkeiten lenken ab und verbrauchen Dialog, der sowieso immer klingt nach Zwischenbilanzen von Verwicklungen, die sich das Drehbuch ausgedacht hat.Eine andere, merkwürdige Form der Erzählung ist die Presenter Ermittlung, die sich der Spielfilm offenbar beim durchformatierten Fernsehen abgeschaut hat. Das rechnet nur mit einem Zuschauer, der Zusammenhänge erst dann begreifen kann, wenn sie ihm durch einen Reporter und Erzähler präsentiert werden, der seine Reportage erlebt oder das von ihm erzählte Problem am eigenen Leib: Flücki packt aus seiner Robin-Hood-Sympathie am verwaisten Berghof an (Old Arnold sitzt ja ein, weil die Politik es so will), füttert die Schweine und tauscht seine Halbschuhe (die so oft vorgezeigt werden, dass sich die Firma, die sie herstellt, nicht ärgern wird) gegen Gummistiefel ein.What a Unsinn, und da muss man nicht einmal vom Lieblingsvorwurf des Zuschauers reden ("unrealistisch!"), sondern nur drauf verweisen, wie falsch diese Parteinahme als Tool zur Gesellschaftskritik ist. Wenn Flücki am Ende Mattmann off the record die unterstützende Rettung des Berghofidylls abtrotzt, dann ist das genauso korrupt wie das Supporten der Investoren zuvor – nur zugunsten der guten Sache. Da wird Pupsie Müller aka Lil' Fritzchen über den Kopf gestreichelt – ist schon alles nicht so schlimm.Hände aus den TaschenKamera und Inszenierung laufen sonst auf Tourismuswerbung hinaus (diese Totalen ins Tal sind wirklich allerliebst) beziehungsweise auf dröges Rumgerenne: Liz Ritschard (Delia Mayer) steckt ihre Hände so unterrepräsentativ in die Taschen der Lederjacke, dass man sie entweder zu vier Wochen Praktikum bei der so wunderbar herumschlenkernden Connie "The Amtsflur is my Catwalk" Mey in Bankfurt verschicken möchte oder eben der Regie empfehlen, Liz anders in Szene zu setzen.Flücki holt derweil wieder den Womanizer raus, als den man ihm bei Klara Blum am Bodensee "dereinst" (Thomas Mann) kennengelernt hat. Reizvoll sind die zahllosen Helvetismen ("Gopfriedstutz", "das schenkt natürlich mehr ein", "mach jetzt kein Büro auf"), die einen jedoch auch nur daran erinnern, dass die vermaledeite Synchronisation der Tonspur jede Atmosphäre austreibt. Da sitzt man dann allein mit der Musik (Fabian Sturzenegger), die leider die meiste Zeit so wirkt, als wäre der Produktionspraktikant am Ende in ein Geschäft für Filmmusiken geschickt worden, in dem saisonbedingt die Regale leer waren und nur noch ein USB-Stick rumlag, auf dem "irgendwie spannend" stand.Eine Unsitte, die die Zeit kostet, die damit gespart werden soll: Essen am Computer, man muss sich dauernd die Finger lecken, damit die Tastatur nicht verfettet Ein Dilemma, in dem man nicht stecken möchte: " Wir von der Immobilienbranche haben mit so vielen Vorurteilen zu kämpfen" Der Grund, warum wir uns in Gehaltsverhandlungen immer scheinbar dämlich anstellen: "Das Schweinegeld macht einfach jeden kaputt"
Matthias Dell
Aufwärmübungen fürs Mittelmaß: Der Luzerner "Tatort: Hanglage mit Aussicht" eröffnet die neue Saison mit routinierter Form, die eine spannende Geschichte verfehlt
[ "tatort" ]
Kultur
2012-08-26T22:06:03.229385+02:00
https://www.freitag.de/autoren/mdell/wart-schnell
Das unheimliche Nachleben der Documenta Fifteen
Keine Documenta ohne Skandal. Die 14. Ausgabe der Kasseler Weltkunstschau hat zum Beispiel ihr Budget überzogen; die 15. Ausgabe konnte dieses Defizit wieder einspielen. Das war möglich, weil es keine teure Satellitenausstellung gab und wenige Blockbuster-Kunstwerke. Es ging um das persönliche Zusammensein, etwas, das bei den konzeptuell anspruchsvollen Ausstellungen früherer Jahre vielleicht zu kurz kam. Eine tolle Verschränkung: Die Stadt war Gastgeberin der Kunstschau, und die Bewohner*innen der Stadt waren Gäste, und zugleich, das ergab eine Untersuchung des Documenta-Instituts, waren sie stolz auf ihre Kunstschau.Bloß was, wenn noch ein ungebetener Gast vorbeikommt? Ein riesiges Banner, das antisemitische Ikonografie enthält, mitten auf dem Friedrichsplatz vor dem Fridericianum? Ein Filmkollektiv, das die Propagandafilme von terroristischen Gruppen weitgehend unkommentiert zeigt? Antisemitische Karikaturen? Die Debatte begann schon Monate vor der Eröffnung, damals ging es noch um die Nähe einiger Kurator*innen zur Israel-Boykott-Bewegung BDS, und sie wurde während der gesamten Laufzeit fortgesetzt.Vielleicht hat diese Ausgabe der Ausstellung auch eine latente politische Dimension zutage gefördert. Ganz am Anfang, 1955, sollte die Documenta an die Moderne anknüpfen, die so jäh vom deutschen Faschismus unterbrochen wurde. Lange wurde sie als das große Demokratieprojekt der jungen Bundesrepublik gesehen, das über die Jahrzehnte zur, nun ja, Weltkunstschau geworden ist: immer globaler, eine Ausstellung, die die ganze Gegenwart abbildet. Erst spät wurde weithin bekannt, dass einer der Gründer selbst eine Nazi-Vergangenheit hatte. Vielleicht, so sagte die Antisemitismusforscherin Yael Kupferberg einmal, habe diese Documenta den Deutschen einfach den Spiegel vorgehalten, womöglich hat sie deshalb so provoziert.Die Komission wirft hinDie Skandale überdauern ihre Laufzeit wie ein unheimliches Nachleben. Vor einigen Tagen wurde bekannt, dass Ranjit Hoskoté, Mitglied der Findungskommission, eine Petition von BDS India unterzeichnet hat – zwar schon 2019, aber er hielt seine Unterstützung geheim. Kurz darauf zog sich die israelische Künstlerin, Philosophin und Psychoanalytikerin Bracha Lichtenberg Ettinger aus der Kommission zurück. Sie hatte nach dem Angriff der Terrormiliz Hamas vergeblich um die Verschiebung von Sitzungen gebeten. Wenig später löste sich das Gremium ganz auf. Eine Begründung wurde bei e-flux veröffentlicht: „Wenn Kunst den komplexen kulturellen, politischen und sozialen Realitäten der Gegenwart gerecht werden soll, braucht sie angemessene Bedingungen, die diverse Perspektiven, Wahrnehmungen und Diskurse erlauben.“ Diese Bedingungen seien in der öffentlichen Debatte in Deutschland nicht gegeben.Der implizite Vorwurf im Nachgang der Documenta Fifteen war, dass deutsche Erinnerungskultur und Solidarität mit Israel einen offenen Austausch abschnürten. Eine ganz provinzielle Haltung, so die Klage. Dabei – so sagte es Meron Mendel, der Leiter der Bildungsstätte Anne Frank am Wochenende bei einem Symposium – sei der Holocaust eben singulär für Deutsche und Jüdinnen*Juden und deshalb der Provinzialitätsvorwurf aus dem internationalen Kunstbetrieb so überheblich.Ein Kurator*innenteam für die kommende Documenta wird gerade noch nicht gesucht, und das ist sicher gut: Auf der 16. Documenta lastet eine besonders große Verantwortung.
Philipp Hindahl
Nach antisemitischen Kunstwerken auf der Documenta Fifteen kommt die Kunstausstellung nicht zur Ruhe. Deshalb ist jetzt nicht der richtige Moment, um nach Personen zu suchen, die die nächste kuratieren
[ "documenta fifteen" ]
Kultur
2023-11-22T10:30:00+01:00
https://www.freitag.de/autoren/philipp-hindahl/das-unheimliche-nachleben-der-documenta-fifteen-philipp-hindahl-ueber-die-grosse-verantwortung-der-documenta
Jerusalem Wohin geht die Reise?
Eigentlich ist alles gesagt über die Ankündigung von US-Präsident Trump, Jerusalem als Hauptstadt Israels anzuerkennen und die US-Botschaft dorthin zu verlegen. Es kommt selten vor, dass ein einziger gesprochener Satz, noch dazu ein kurzer und schlichter, politisch derart aufgeladen ist und das Potential hat, eine ganze Weltregion auf Jahre in Atem halten. Die einhellige Verurteilung durch die ‚Weltgemeinschaft‘ ist nachvollziehbar, könnte sich aber als voreilig erweisen, zumal die Auswirkungen wohl erst in einigen Jahren in ihrer ganzen Tragweite erkennbar werden.Interessant ist der Zeitpunkt: Vor wenigen Tagen hat erst Moskau, dann Washington den ‚Sieg über den Islamischen Staat‘ verkündet. Russlands Präsident Putin hat daraufhin den Teilabzug seiner Truppen aus Syrien angeordnet, während der US-Verteidigungsminister bereits zuvor verkündet hatte, man werde ‚jetzt nicht einfach abziehen‘, bevor der Genfer Friedensprozess Ergebnisse zeige. Wird also angesichts des absehbaren Endes eines Großkonflikts sofort die Saat für den nächsten ausgebracht? Eine mögliche Deutung, aber keineswegs die einzig denkbare.Fünf Anmerkungen aus aktuellem Anlass.1. Dass Trumps Kurswechsel international Anlass für massive, nicht immer friedliche Proteste, Gewalt und Gegengewalt sein würde, war so sicher wie das Amen, Shalom oder Allahu Akbar im Gotteshaus. Diese Phasen der Konfrontation folgen einem lange bekannten, ritualisierten Muster und gehen auch wieder vorbei, wenn nicht beständig neues Öl ins Feuer gegossen wird. Eine ernsthafte Eskalation ist sehr unwahrscheinlich, da die Entscheidung seit über einem Jahr im Raum stand. Alle an den Machtspielen der Region beteiligten Regierungen konnten sich auf den ‚Tag X‘ vorbereiten und ihre Reaktionen koordinieren.2. Die US-Regierung macht mit der Verlautbarung deutlich, dass sie weiterhin ein relevanter Player im mittelöstlichen Machtkampf ist, dessen Interessen berücksichtigt werden müssen. Angesichts ihres tendenziellen Rückzugs und der immer wichtigeren Rolle Russlands und Chinas als externe Schutzmächte macht dieser zwar ‚nur‘ symbolische, aber nichtsdestotrotz wirkmächtige Schritt deutlich, dass Washington noch lange nicht ‚abgeschrieben‘ werden kann beim Ringen um die strategische Neuordnung der Region.3. Obwohl es nicht überraschend kam, stellt sich die Situation von einem Tag auf den anderen deutlich verändert dar – fast ließe sich von einem völlig neuen Nahost-(Krisen-)Narrativ sprechen. Im öffentlichen Diskurs werden nun der Kampf gegen den IS (und um die Nachkriegsordnung in Syrien und Irak), der Katar-Konflikt sowie die saudische Palastrevolution deutlich in den Hintergrund gedrängt. Diese gezielte Verschiebung lenkt von den eigenen Niederlagen ab und erneuert das regionale gut-böse-Schema, zumindest für die internationale (westliche) Öffentlichkeit.4. Trumps Alleingang könnte Bewegung in eine völlig festgefahrene Situation bringen und das langjährige Patt im Nahostkonflikt aufbrechen. Zwar haben alle Beteiligten dieses liebgewonnen und in Stockholm-Syndrom-Manier vor jeder Veränderung des Bewährten(?) Angst, doch eröffnet dieses Aufbrechen perspektivisch auch die Möglichkeit, neue Ansätze zur Bearbeitung des Konflikts zu erkunden. Die Feststellung, dass Jerusalem israelisch und die zwei-Staaten-Lösung eine Illusion ist, mag ebenso schmerzhaft wie völkerrechtswidrig sein – falsch ist sie nicht. Rückblickend könnte sich das ‚kurzsichtige, verantwortungslose‘ Vorpreschen Trumps dereinst sogar als Durchschlagung des Gordischen Knotens erweisen.5. Das Schlüsselereignis der letzten Monate (Jahre?) im Mittleren Osten ist die Palastrevolution/ Gegenputsch/ ‚Säuberung‘ im saudischen Königshaus durch den Kronprinzen und seine Verbündeten. Alle weiteren regionalen Geschehnisse müssen (auch) in Relation dazu betrachtet werden. Damit stellt sich die Frage, welche Seite im innersaudischen Machtkampf von der Anerkennung Jerusalems und der Verlegung der US-Botschaft profitiert: Wird Mohammed bin Salman geschwächt, weil sich das Augenmerk (wieder) auf die Außenpolitik richtet statt auf seine interne Reformagenda – oder gestärkt, weil er sich als Verteidiger der Palästinenser profilieren kann, im Schulterschluss mit vielen anderen muslimischen Staaten?Viele Fragen sind offen – der Vorhang ebenfalls, und daran wird sich auch so bald nichts ändern.
smukster
Trumps Entscheidung kam nicht überraschend, die Reaktionen genausowenig. Trotz aller Aufregung – eine Eskalation ist unwahrscheinlich
[ "aussenpolitik" ]
Politik
2017-12-15T05:54:00+01:00
https://www.freitag.de/autoren/smukster/wohin-geht-die-reise
Disput über Rentenvorsorge Mit der Allianz im Bett
Die "Bild"-Zeitung veröffentlichte Anfang des Jahres ein als "Verhör" angekündigtes Interview mit Norbert Blüm, tituliert mit der Schlagzeile: "Herr Blüm, sind Sie ein Renten-Lügner?" Darin verteidigte der Sozialminister a.D. seine in den achtziger Jahren aufgestellten Modellrechnungen zur gesetzlichen Rente und bezichtigte seinerseits das Blatt des "Schwindels": "Bild" beschönige die Vorhersagen der privaten Versicherer. "Bild" erstattete Strafanzeige gegen unbekannt - "Rentenlügner" müssten bestraft werden. Das Verfahren wurde eingestellt. Eine öffentliche Diskussion verweigerte Diekmann, worauf Blüm mit folgendem Brief reagierte. 16. Mai 2006Lieber Herr Diekmann,vor Wochen habe ich Sie zu einem öffentlichen Disput über "Bild und die Rente" aufgefordert. Dass ich auf eine Antwort von einem so wichtigen Mann, wie Sie es sind, Herr Diekmann, so lange warten musste, dafür habe ich Verständnis. Vom Papst zu Bush eilend, zwischendurch auch noch dafür zu sorgen, dass Sex und Porno in Bild ausreichend untergebracht werden und nebenbei noch älteren Staatsmännern auf dem Schoß sitzen, ist selbst für einen so talentierten Chefredakteur, wie Sie es sind, viel Arbeit.Hinzu kommt noch der Zeitaufwand für eine Rentenkampagne, wie Bild sie losgetreten hat. Das ist schließlich kein Pappenstiel. Manipulation von Statistiken und Diffamierungen sind nicht mit leichter Hand zu machen. Einfache Interviews werden dann von Bild als "Verhör" angeboten, um in der Staffage der Kriminalisierung von Verteidigern des Rentensystems auch nichts auszulassen. Das alles und noch mehr muss schließlich strategisch geplant und organisiert werden. Auch die Wissenschaftler, die Sie zu Zeugen aufrufen, sind nicht nur viel Geld wert, sondern müssen auch noch betreut werden. Ihr statistisches Material wird von einem Institut geliefert, das der Deutschen Bank nahe steht. Es strotzt aus allen Bild-Zeilen ein willfähriger Lobbyismus.Die Strafanzeige gegen die so genannte "Rentenlüge" war zwar eine Farce, aber sie hat auch Zeit gekostet. Und auf die angedrohte Sammelklage warte ich heute noch. Macht nichts. Mit Klamauk kann man auch Blamagen überspielen. Und dass Sie von der Staatsanwaltschaft eine klassische Abfuhr erleiden mussten, war eben eine saftige Blamage; zumal Bild doch so viel teuren "Sachverstand" zur Begründung der Klage investiert hatte. Die Niederlage zu einem Sieg umzufunktionieren, ist ein alter Trick von Leuten, die nicht zugeben können, dass sie verloren haben.Die "hammerharte Kritik" des Staatsanwalts an der Rentenpolitik habe ich im Ablehnungsbescheid nicht gelesen. Vielleicht hat Sie der Hammer der Abweisung so hart getroffen, dass bei Ihnen offenbar einiges durcheinander geraten ist. Das kann schon passieren.Der Höhepunkt Ihrer Panikmache war allerdings ein Modell, mit dem Sie die "Schrumpf-Rente" ausrechneten. 30 Jahre sollen demnach die Preise Jahr für Jahr um zwei Prozent steigen, während die Löhne in der gleichen Zeit nur um ein Prozent erhöht werden. Wenn dies geschähe, lieber Herr Diekmann, dann wäre nicht nur die Rentenversicherung gefährdet, sondern die Bild-Zeitung wahrscheinlich bankrott. Einen solchen Absturz des Lebensstandards würde sogar noch nicht einmal die Privatversicherung, für die Sie Propaganda machen, überleben. Ihr gingen die Beitragszahler aus. Von den geschrumpften Reallöhnen könnte dann auch kein Geld für Privatvorsorge abgezweigt werden, zumal die Privatversicherung bekanntlich inflationsanfälliger ist als die Rentenversicherung. Im blinden Eifer rechnen Sie sich um Kopf und Kragen.Bei Ihrer wenige Tage später folgenden Anzeige: "So sparen Sie für Ihre Zusatzrente" lassen Sie die Geldentwertung für die Privatversicherung einfach weg. "Augen zu".So spielen kleine Kinder Blindekuh. Hauptsache, die Bild-Rechnung stimmt. Scheinbar existieren gesetzliche und private Renten in der Welt der Bild-Zeitung auf verschiedenen Sternen, zumindest in unterschiedlichen Volkswirtschaften. Die Manipulation ist zu plump, um nicht aufzufallen.Meine Aufforderung zu einem öffentlichen Disput verschieben Sie auf die Zeit, in der Sie 67 oder 70 oder 75 Jahre alt sind; ("das dann gültige Eintrittsalter"). Als Begründung geben Sie an: "Weil ich derzeit Dank Ihres Wirkens noch viel für meine private Altersversicherung arbeiten muss."Darf ich Sie fragen, wie hoch die Lücke ist, die durch mein Wirken in Ihrer Renten-anwartschaft geschlagen wurde und wie groß das Zubrot ist, mit dem Sie durch Ihre Arbeit für Bild diesen Verlust kompensieren müssen? Im übrigen habe ich doch immer bei Bild gelesen, ich hätte zu wenig reformiert und zu wenig gespart. Jetzt habe ich offenbar in Ihrem Fall zu viel eingegriffen und gespart. Zu viel oder zu wenig? Beides zu behaupten, lässt auf Verwirrung schließen.Lassen Sie, Herr Diekmann, die albernen Mätzchen beiseite. Sie haben die Hosen gestrichen voll, dass in dem von mir vorgeschlagenen Disput die Machenschaften der Bild-Zeitung offenbart werden. Das ist der Grund für Ihre Absage. Schon der Monitor-Redaktion sind Sie davongelaufen, als diese Ihnen unbequeme Fragen stellen wollte. Sie sind ein Feigling!Der langen Rede kurzer Sinn: Die Bild-Renten-Diskussion hat nur einen Zweck: Die Rentenversicherung soll madig gemacht werden, damit das Geld in den Kassen der Privatversicherung klingelt. Das ist gut für das Geschäft der Allianz, mit der Sie in der Aktion "Volksrente" zusammen in einem Bett liegen.Die Bild-Zeitung entwickelt sich leider zur Zeitung des "Großen Geldes", auch wenn sie sich scheinheilig das Aussehen gibt, Sprachrohr des "Kleinen Mannes" zu sein. Die Kluft zwischen Schein und Sein hält jedoch auf Dauer niemand aus. Das ist Ihr Problem, Herr Diekmann.Wie immer mit besonders freundlichen GrüßenIhr Norbert Blüm
Dokumentation
Brief von Norbert Blüm, Sozialminister a.D., an Kai Diekmann, Chefredakteur der "Bild"-Zeitung
[]
Politik
2006-06-02T00:00:00+02:00
https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/mit-der-allianz-im-bett
Happy Bürgergeld: Endlich kein Hartzer mehr, endlich Bürgerin!
2023 ist da: Jetzt bekomme ich endlich Bürgergeld. Ich bin jetzt also „Bürger“ und kein „Hartzer“ mehr, obwohl... der einzige Harzer, den ich kenne, ist eh nur eine Käsesorte. Und eigentlich bin ich ja Bürgerin. Und jetzt auch: Bürgergeldempfängerin.Gut, als Bürgergeldempfängerin feiere ich natürlich total, dass ich ganze 53 Euro mehr für mich zur Verfügung habe. Was für ein Luxus! Darin enthalten sind ganze 40,74 Euro für Stromkosten – eine beachtliche Steigerung von 2,76 Euro zu Hartz IV. Leider bezahlte ich für Strom schon im vergangenen Jahr 69 Euro. Von den 53 Euro mehr Bürgergeld bleiben mir also nur knapp 24,74 Euro mehr. Das gleicht nicht einmal die Inflation aus. Aber das wissen Sie ja längst alles.Angst vor Schimmel und StromkostenWie viel zahlen Sie eigentlich so monatlich für Strom? Haben Sie einen Wasserboiler? In meiner vorigen Wohnung hatte ich drei davon. Drei Elektroboiler. Einen in der Küche und zwei im Badezimmer. Das Badezimmer bestand aus einer Toilette, einer Badewanne mit Duschvorrichtung und einem Waschbecken. Es war eine Sozialwohnung in einem Plattenbau. Vom Investor vernachlässigt, sodass der Wind durch die Ritzen pfiff, das Fenster bei Sturm sich bog und der Balkon schimmelte. Ich habe fünf Jahre darin gewohnt und habe in den fünf Jahren nur dreimal in der Wanne gebadet, weil ich Angst vor den Stromkosten hatte. Ja, damals schon. Ich habe hauptsächlich Ganzkörperwäsche mit einem Waschlappen am Waschbecken gemacht. Ja, das freut den Herrn Winfried Kretschmann jetzt, oder? Auch beim Heizen hatte ich Sorge, denn das System war veraltet, es zirkulierte Luft und Rostwasser in den Heizkörpern. Es waren fünf Jahre der Angst vor Schimmel und Stromkosten. Da die Wohnung für mich und mein Baby zu klein war, musste ich umziehen. Ich habe Glück gehabt und eine herzensgute Vermieterin gefunden, die eine erwerbslose alleinerziehende Mutter und ihr Kind annahm ohne Vorurteile. Das ist nicht selbstverständlich in unserem reichen Deutschland.Diese Wohnung ist nun Geschichte, wie Hartz IV. Jetzt ist 2023, blicken wir nicht zurück, blicken wir nach vorne! Also auf die explodierenden Strompreise. Wie viel wird Entlastungspaket der Bundesregierung auffangen? Das wird sich zeigen, auch auf Ihren Konten, in unserer Gesellschaft. Für uns Armutsbetroffene ist die Katastrophe längst eingetreten. Und auf die Ankündigung der neuen Abschlagszahlungen warte ich mit Bangen. Hoffentlich ist er nicht so hoch, dass ich mich entscheiden muss: Strom bezahlen oder Lebensmittel kaufen. Hoffentlich verhindert die Strompreisbremse diese Entscheidung.Wir Armutsbetroffenen haben keine LobbyIch habe Angst an diesem 1. Januar: Angst vor der sozialen Katastrophe, die auf uns zukommt. Denn zwar haben wir uns 2022 organisiert, wir Armutsbetroffenen, aber wir haben noch immer keine Lobby, wir schicken niemanden schick essen mit den Abgeordneten, wir verschicken keine coolen #Armutsbetroffen-Jahreskalender oder Kugelschreiber, und es interessiert sich niemand groß für uns, auch 2023. Zum Glück muss ich in diesem Jahr keine neue Wohnung suchen, zum Glück ist meine 1 1/2-Zimmer-Wohnung mit Küche, Esszimmer, Schlafzimmer und Büro vereint in meinem Zimmer und Hochbett und Schreibtisch im Kinderzimmer für mich und die Maus so klein, dass sie als angemessen gilt. Denn wer eine neue Wohnung suchen muss, die das Jobcenter als angemessen anerkennt, der sucht lange.Leider ist der soziale Wohnungsbau seit Jahren vernachlässigt worden, sodass es immer weniger Sozialwohnungen gibt. Und trotzdem muss sich eine neue Wohnung suchen, wer arbeitslos wird, weil das Jobcenter spätestens nach einem Jahr nur noch die Miete für eine angemessene Größe bezahlt – und, danke CDU, die Heizkosten schon ab diesem Januar nur in angemessener Höhe. So zahlen auch 2023 viele Armutsbetroffene einen Teil ihrer Miete von ihrem Regelsatz. Was bedeutet, dass von den 4,54 Euro, die ein Kind pro Tag für Ernährung bekommt, noch weniger übrig bleibt.Wir Armutsbetroffenen tanzen am Abgrund der drohenden Stromsperre oder Wohnungslosigkeit. Aber die 53 Euro Erhöhung reichen ja aus, stimmt's? Darin wenigstens sind sich die Regierenden einig. Und wer bin ich schon, das zu beurteilen...
Janina Lütt
Seit dem 1. Januar ist Hartz IV offiziell abgeschafft und das Bürgergeld eingeführt. Unsere Autorin rechnet nach, was das für ihren Geldbeutel bedeutet. Sind es wirklich 53 Euro mehr?
[ "armutsbetroffen", "hartz iv", "ichbinarmutsbetroffen" ]
Politik
2023-01-03T16:03:00+01:00
https://www.freitag.de//autoren/janina-luett/happy-buergergeld-endlich-kein-hartzer-mehr-endlich-buergerin
Schattenseiten Digitaler Sexismus
Die versuchte Vergewaltigung im neusten Lara Croft-Spiel und Berichte, Pädophile machten sich die Social-Gaming-Seite Habbo Hotel zu Nutze, haben zu einem Wiederaufflammen der Debatte um Technik, neue Medien und Gewalt gegen Frauen geführt. Neu ist sie derweil keineswegs.Vor einigen Jahren kam eine Version von Grand Theft Auto heraus, bei der die Spieler durch „Transaktionen“ mit Prostituierten, ihre Gesundheit wieder herstellen und ihr Geld verlieren konnten. Außerdem konnte man die Frauen überfahren oder erschießen. Als das Spiel auf den Markt kam, regte sich ebenfalls öffentliches Empörung, Boykott- und Verbotsforderungen wurden laut.Jedes Mal, wenn neue Spiele oder Technologien vorgestellt werden, die Gewalt gegen Mädchen und Frauen ermöglichen, billigen oder gutheißen, tauchen die gleichen Fragen auf, um dann auch stets wieder zu verschwinden: Welchen Einfluss haben diese Spiele auf die Nutzer, welche Gefährdung stellen sie für Kinder und die Gesamtgesellschaft dar und welche Bestimmungen sollten erlassen oder auch nicht erlassen werden, um die potentiellen Schäden so gering wie möglich zu halten?Sexuell explizite VideosÜber die Jahre wurde immer wieder versucht, einzelne Spiele zu regulieren, zu verhindern oder zu verteidigen, ohne dabei den weiter gefassten Kontext zu berücksichtigen. Hier einige Beispiele, die sich in den letzten 12 Monaten in Großbritannien ereigneten: Über Twitter wurde der Name eines Vergewaltigungsopfers verbreitet, obwohl es ein Gesetz gibt, das Vergewaltigungsopfern Anonymität gewährt.Ein Mann wurde verurteilt, weil er seine Freundin online anonym belästigt hatte, indem er unzweideutige Fotos von ihr ins Netz stellte. Eine bei Facebook eingeführte Ortungs-App ermöglichte es den Anwendern, jederzeit herauszufinden, wo sich ihre PartnerInnen gerade aufhielten.Weiterhin wurden mehrere Männer vor Gericht der sexuellen Ausbeutung für schuldig befunden, die jungen Frauen Mobiltelefone geschenkt hatten, über die sie diese ausfindig machen konnten und die Nummern dann an andere Männer weitergaben. Immer wieder werden sexuell explizite Videos von Frauen ins Internet gestellt, die dazu nie ihr Einverständnis gegeben haben.Ob es nun um Stalken in sozialen Netzwerken, Belästigung über Textnachrichten oder die Demütigung durch die Veröffentlichung von Videos geht – mit der Technologie verändern sich auch die Ausdrucksformen der Gewalt gegen Frauen. Darüber hinaus ermöglicht die Technik Leuten, die Gewalt gegen Frauen gut finden oder ausüben, zueinander zu finden, sich auszutauschen und nicht selten auch Journalisten und Journalistinnen, die sich gegen dagegen aussprechen, durch Trollen zu belästigen oder zu drohen.Bei der Geschwindigkeit, mit der sich diese Veränderungen vollziehen, ist es kaum verwunderlich, dass Eltern und diejenigen, die beruflich versuchen, Frauen gegen Gewalt und Missbrauch durch Partner, Familie, Bekannte oder Unbekannte zu schützen, in ihrem Kampf immer hinterher hängen. Tatsächlich gibt es darauf, wie die Technik Gewalt gegen Frauen ermöglicht und befördert, keine schnellen Antworten.Schneller reagierenImmerhin leistet die moderne Technik auch einen Beitrag zum Schutz von Frauen, indem sie etwa eine Fülle von Informationen über Initiativen und Organisationen bietet, die Aufklärung, Schutz und Rat für Betroffene bieten.Von Mobiltelefonen bis hin zu sozialen Netzwerken ist die Technik im Guten wie im Schlechten Teil unseres Lebens geworden und es sieht nicht danach aus, als ob sie wieder an Bedeutung verlieren würde. Sexistische Gewalt findet heute immer wieder neue Ausdrucksformen, was eine junge Frau, deren Freund ihr bei Facebook nachstellte, fragen ließ: „Er muss gar nicht in meiner Nähe sein, mich anschreien oder mit wehtun, wie kann ich ihm da entkommen?“Ohne Zweifel ist das öffentliche und professionelle Bewusstsein für die Risiken, denen Frauen und Mädchen durch die Technik ausgesetzt sind, in den vergangenen Jahren gewachsen. Wir müssen aber ebenso schnell auf Missbrauch reagieren können, wir er sich ereignet. Soweit sind wir noch nicht.Übersetzung: Zilla Hofman
Carlene Firmin
Stalking in sozialen Netzwerken, Belästigung per SMS oder die Veröffentlichung privater Fotos – mit der Technik verändern sich die Ausdrucksformen der Gewalt gegen Frauen
[ "Soziale Medien", "Short Message Service" ]
Kultur
2012-06-27T20:00:00+02:00
https://www.freitag.de//autoren/the-guardian/digitaler-sexismus
Podcast „Kinderarmut ist ein Langzeitskandal“
Von den 13,5 Millionen Menschen unter 18 in Deutschland wachsen 2,8 Millionen in Armutslagen auf, 2,4 Millionen sind jünger als 15 Jahre alt. Was steckt hinter diesen Zahlen? Mit dieser Frage haben sich auch Carolin und Christoph Butterwegge befasst – und ein Buch darüber geschrieben. In Kinder der Ungleichheit. Wie sich die Gesellschaft ihrer Zukunft beraubt blicken sie nicht nur auf Armut, sondern auch auf Reichtum, gerade unter Kindern und Jugendlichen.Sebastian Puschner, stellvertretender Chefredakteur des Freitag spricht mit ihnen im Podcast darüber, was Kinderarmut für die Kinder und Jugendlichen, aber auch für die Gesellschaft bedeutet, wie sich Armut bekämpfen lässt, und welche Rolle die Linkspartei dabei spielen kann.
der Freitag Podcast
Im reichen Deutschland leben Millionen Kinder und Jugendliche in Armut. Über diesen Misstand spricht Sebastian Puschner mit Carolin und Christoph Butterwegge
[ "Kinderarmut in den Industrieländern", "inland" ]
Politik
2021-10-20T20:06:18.618249+02:00
https://www.freitag.de/autoren/podcast/kinderarmut-ist-ein-langzeitskandal
Mindestlohn Ausgebremste Rebellen
Bundeskanzlerin Angela Merkel hat es wieder geschafft: Die zeitweilig ins Wanken geratene Front der CDU gegen einen gesetzlichen Mindestlohn hat sie auf dem Parteitag mit einem Formelkompromiss geschlossen. Der mit einem „sozialen Mäntelchen“ umhüllte Schwarze Peter beim Stopp von Niedrig- und Armutslöhnen liegt nun wieder bei den Tarifparteien. Damit ist der zwischenzeitlich verärgerte CDU-Wirtschaftsflügel besänftigt.Zwar soll es künftig für tariffreie Bereiche Lohnuntergrenzen geben. Ausgehandelt werden sie jedoch von einer Kommission der Tarifparteien. Nach Regionen und Branchen kann differenziert werden. Die „Mindestlohn-Rebellen“ – allen voran der CDA-Vorsitzende Karl-Josef Laumann und Bundesarbeitsministerin Ursula von der Leyen – wurden zurückgepfiffen. Vergeblich hatten sie der Öffentlichkeit unermüdlich erklärt, dass sie für eine verbindliche Lohnuntergrenze wie in der Leiharbeit von rund sieben Euro im Osten und knapp acht Euro im Westen kämpfen wollten. Jetzt sind sie – auch wenn sie selbst das vehement bestreiten – zu Statisten im Mindestlohn-Marionettentheater der Kanzlerin degradiert und sollen die Einzelheiten für das weitere Verfahren aushandeln.Dabei gibt es wenig Spielräume: Der Beschluss des Parteitages ist nicht viel mehr als eine Bestätigung der bestehenden Rechtslage. Schon heute können tarifliche Mindestlöhne von Arbeitgebern und Gewerkschaften vereinbart und von der Regierung für allgemein verbindlich erklärt werden. Die praktische Durchsetzung ist jedoch ein zähes Unterfangen. Bislang sind noch nicht einmal zehn Prozent der Arbeitnehmer durch derartige tarifliche Mindestlöhne geschützt.Ein zähes UnterfangenZudem gibt es immer mehr weiße Flecken in der Tariflandschaft: Während im Westen noch etwa 70 Prozent der Arbeitnehmer durch Tarifverträge geschützt sind, trifft dies im Osten nur für etwa die Hälfte zu. Der bereits vor fünf Jahren von den DGB-Gewerkschaften ausgehandelte Mindestlohn für die Leiharbeit ist bis heute nicht für die gesamte Branche durchgesetzt. Die Folge: Etwa zwölf Prozent der Leiharbeitnehmer müssen ergänzend Hartz IV beziehen. Die weitere Möglichkeit, für tariffreie Beschäftigte durch Kommissionen aus Arbeitgebern und Gewerkschaften Mindestlöhne einzuführen, ist bisher nicht ein einziges Mal genutzt worden. Der Versuch eines Mindestlohns in den oft miserabel zahlenden Callcentern ist kläglich gescheitert. Das Schicksal der vom CDU-Parteitag jetzt erneut vorgeschlagenen Kommission der Tarifparteien für die Vereinbarung von Lohnuntergrenzen ist somit vorgezeichnet. Arbeitgeberpräsident Dieter Hundt nutzt jede Gelegenheit, seine Ablehnung von Mindestlöhnen und die Gefahr der Vernichtung von Arbeitsplätzen darzustellen. Dabei widerlegen dies Untersuchungen im In- und Ausland und verweisen umgekehrt auf die Stabilisierung der Beschäftigung durch Mindestlöhne.Dass die Kanzlerin ihre Mindestlohn-Kapriolen so ungeniert schlägt, liegt auch am vielstimmigen Chor bei den Gewerkschaften. Wie ihr Vorgänger Gerhard Schröder (SPD) versteht Merkel das Prinzip „teile und herrsche“. Sie orientiert sich an denen, die ihr am besten ins wahltaktische Konzept passen. Sowohl die Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie und Energie als auch die IG Metall haben den Vorrang der Tarifautonomie bei Mindestlöhnen immer wieder betont. Die IG BAU wiederum verhandelt mit den Bauarbeitgebern seit 1995 erfolgreich tarifliche Mindestlöhne, die regelmäßig erhöht werden. Sie muss befürchten, dass generelle Lohnuntergrenzen Druck auf ihre erheblich höheren tariflichen Mindestlöhne ausüben.Verlierer sind die Gewerkschaften mit schwach organisierten Niedriglohnsektoren – insbesondere Verdi und die Gewerkschaft Nahrung, Genuss, Gaststätten, die, unterstützt vom DGB, für einen gesetzlichen Mindestlohn nicht unter 8,50 Euro streiten. Die Leidtragenden des Mindestlohn-Theaters der CDU sind aber vor allem die vielen Menschen in den Niedriglohnsektoren. Die von der Spitze der CDU zeitweilig geweckten Erwartungen auf eine existenzsichernde faire Entlohnung sind bitter enttäuscht worden.
Ursula Engelen-Kefer
Eine bittere Enttäuschung der geweckten Erwartungen: Der CDU-Parteitag räumt das Thema Lohnuntergrenze mit einem Formelkompromiss ab - zu Lasten der Niedrigverdiener
[ "innenpolitik", "Angela Merkel", "Christlich Demokratische Union Deutschlands" ]
Politik
2011-11-16T11:55:00+01:00
https://www.freitag.de/autoren/ursula-engelen-kefer/ausgebremste-rebellen
Kommentar Spätes Mordopfer
Hätten jene Studenten, die später „die 68er“ genannt wurden, auf den Tod Benno Ohnesorgs ­anders reagiert, wenn ihnen die Stasi-Mitarbeit und SED-Mitgliedschaft seines Mörders, des Westberliner Polizisten Karl-Heinz Kurras, bekannt gewesen wären? Man kann sich der Frage nicht ohne Sarkasmus widmen. Die Nachricht jedenfalls hat alles verändert: Jetzt zeigt die Vereinigung der Opfer des Stalinismus Kurras wegen Mordes an, damals rührte sie sich nicht, damals war Ohne-sorg kein Mordopfer. Oder wenn er eines war, dann sollten die Studenten seine Mörder gewesen sein. Sechs Tage nach dem Schuss nannte ihn der Regierende Bürgermeister Heinrich Albertz „das letzte Opfer einer Entwicklung, die von einer extremistischen Minderheit ausgelöst worden ist“. Er sprach, wie es ihm Bild in den Mund gelegt hatte: „Ihnen genügte der Krach nicht mehr. Sie müssen Blut sehen.“ Gemeint waren die Studenten.Für die Studenten wurde vor allem diese öffentliche Reaktion zum Schock­erlebnis. Man vergisst es bis heute nicht. Bei der abendlichen Demonstra­tion gegen den Schah nicht dabei gewesen, am Tag danach vom Radio in der Form, dass die Studenten schuld seien, auf den Mord aufmerksam gemacht. Man begibt sich fassungslos zum Campus der Universität. Auf dem Campus sieht man, Zweitausend sind ebenso spontan gekommen. Bei der Demons­tration waren es nur einige Hundert gewesen. Von nun an treffen sich die Zweitausend über Monate Tag für Tag im Audimax, um zu beraten. Dabei ist Kurras kein Thema, denn nicht nur sein Mord ist vorgefallen, sondern man hat polizeistaatliche Aktionen erlebt. In den Tagen vor dem Schah-Besuch hatte die Polizei studentische Plakate, auf denen Menschenrechtsverletzungen in Persien angeprangert wurden, wegen „Hetzpropaganda“ entfernt. Beim Besuch selber bildete sie Spalier für Angehörige des persischen Geheimdienstes, die mit Stahlruten, Totschlägern und Holzlatten auf die demonstrierenden Studenten einschlugen.Zu glauben, dass die Demokratie schon wieder scheiterte, war damals nicht verrückt. In der Bundeswehr hatten die demokratischen Reformer einen schweren Stand gegen die Traditionalisten, denen die Verschwörer des 20. Juli 1944 als Landesverräter galten. Sie wollten wieder einen Staat im Staate bilden. In Westberlin, wo die Polizei kaserniert und militarisiert wurde, weil eine Armee offiziell nicht gebildet werden durfte, hatten sie alles unter Kontrolle. Erich Duensing, von 1951 bis Ende 1967 Kommandeur der Schupo, war im Krieg Truppenkommandeur gewesen und hatte anderen Wehrmachtsoffizieren den Weg in die Polizeiführung geebnet. Als er den Auftrag erhielt, die Demons­tration gegen den Schah zu kontrollieren, bezeichnete er dies als einen „Kampfauftrag“. Die Demonstranten, die sich auf einem schmalen Streifen gegenüber der Deutschen Oper aufgestellt hatten – wo der Schah weilte ­–, verglich er mit einer Wurst: „Dann müssen wir in die Mitte hineinstechen, damit sie an den Enden auseinanderplatzt.“Es war nicht klug, wenn viele Studenten glaubten, der Faschismus kehre zurück. In Wahrheit setzte sich langsam aber sicher der Parlamentarismus durch. Als 1969 die SPD an die Regierung kam, erreichte ihr Verteidigungsminister Helmut Schmidt gegen viel Widerstand die Gründung zweier Bundeswehr-Hochschulen. Von da an musste jeder Berufsoffizier ein akademisches Examen als zivilen Berufsabschluss ablegen. Die Bundeswehr wurde kein Staat im Staate. Aber hatten dafür nicht auch die Studenten gekämpft? Sie wussten doch wenigstens ungefähr, in welcher Auseinandersetzung sie standen. Ganz sicher wussten sie, dass es nicht um Kurras ging.
Michael Jäger
1967 hatten die Studenten Grund zu glauben, dass die Demokratie scheitern wird. Michael Jäger über Karl-Heinz Kurras und die Folgen
[ "Karl-Heinz Kurras" ]
Politik
2009-05-28T05:00:00+02:00
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Kleingarten: „Nicht zur Erholung“
Ein Interviewtermin am Feiertag bereite ihm keine Umstände, sagt Stefan Schwarz. Seine Familie würde es ohnehin begrüßen, wenn er, der Schriftsteller, auch mal nicht zu Hause säße. Es ist einer der ersten warmen Tage im Jahr, Schwarz schlendert gemütlich durch einige große Kleingartenkolonien im Leipziger Norden. Auch andere Gartenfreunde ruhen nicht. Einer spricht den Autor mit dem Titel seines neuen Buches an: „Ah, der Gartenversager, hallo!“ Schnell wird klar, dass der Gartenfreund das Buch noch nicht gelesen hat. Sonst hätte er Stefan Schwarz nicht im selben Atemzug seine Zucchinis angeboten. Denen widmet der 1965 in Potsdam geborene Autor und Journalist ein ganzes Kapitel: „Zehn Seiten nur Zucchini-Hass“, wie er es nennt.Schwarz’ humorvolles Büchlein handelt vom erbaulichen Scheitern und von einem Generationenkonflikt. Im Gespräch erklärt er, warum er optimistisch ist, dass auch Sudanesen sich im deutschen Kleingartenmilieu wohl fühlen können, warum Gärtner manchmal kleine Nazis sein müssen und warum die Politik bei der Wiedervereinigung zurecht Angst vor den Kleingärtnern hatte.der Freitag: Herr Schwarz, ist Leipzig nicht so eine Art Geburtsstadt des Kleingartens?Stefan Schwarz: Ja, den Namen hat er von diesem etwas bedenklichen Herrn Schreber, ein Leipziger Orthopäde.Warum Leipzig?Leipzig war das Zentrum der Lebensreform-Bewegung. Daraus sind die Kleingärten entstanden. Das waren Arbeiterkulturen. Die hatten nicht so viel Grips für einen philosophischen Überbau wie Jugendstil. Aber dass man ein paar Kartoffeln anbauen und damit auch sein Einkommen aufbessern kann, das war denen sofort ersichtlich.Wen zieht es heute in die Kleingärten?Es gibt drei Generationen in den Kleingartenkolonien mittlerweile. Da sind die Jungen, die Platz für die Kinder brauchen. Dann meine Generation, die so ein bisschen inbetween ist, die nicht alles richtig macht, aber auch nicht alles falsch. Und dann gibt es natürlich die Alten, die so alte Nummern gelernt haben, etwa dass zwischen allen Pflanzen eine Hand breit Platz sein muss.Sie schreiben, dass die Kleingärtner ein spezielles Soziotop seien. Im Buch heißt es: „Ein Kleingartenverein ist wie eine Hippiekommune aus preußischen Offizieren.“Klar, die Bäume müssen beschnitten werden. Ich bin ja ein Gartenforensiker. Man kann immer sehen, wo lange nichts passiert ist. Manchmal ist vielleicht ein Partner krank und muss gepflegt werden, und dann hat man keine Zeit mehr. Dann kann man sehen, wie der Garten seine Form verliert.Schwarz lehnt sich jetzt über einen der Zäune, um eine Kostprobe seiner Gartenforensik zu geben. Er zeigt auf eine Sparte mit spärlicher Bepflanzung.Was stimmt hier nicht?Das hier geht glaube ich nicht, laut Bundeskleingartengesetz. Die haben zwar einen Kirschbaum, aber sonst nur Rasen. Das Schöne ist aber, dass die Vereine immer mit den Zähnen fletschen, dann aber doch nur wie Haushunde sind. Die knurren und kläffen, aber ich hab noch nicht erlebt, dass mal jemand rausgeschmissen wurde. Zu DDR-Zeiten gab’s das. Da kam die Spritzkolonne. Pflanzengift gab es nicht. Da kam ein Wagen von der VEB Agrochemie mit einer Tonne hinten drauf. Und dann wurden alle Bäume gegen Ungeziefer gespritzt. Und wer da nicht mitmachte, flog aus dem Verein.Gibt es denn noch Vorschriften wie zu DDR-Zeiten, wo die Kleingärtner einen Teil ihres Ertrags abgeben mussten?Ja, die gibt es. Ich weiß es nicht genau, aber ich glaube man soll zu zwei Dritteln Obst und Gemüse anbauen. Das hat damit zu tun, dass der Kleingarten sonst ein Erholungsgrundstück wäre, und der Kleingarten ist nicht zur Erholung da. Ein Kleingarten ist, wie Schreber das plante, für die Betätigung an der frischen Luft da. Man muss sich vorstellen: Um die Jahrhundertwende stand in Leipzig quasi in jedem Hinterhof ein Schornstein. Und die Lungen waren wahrscheinlich auch schwarz. Da hat Schreber vermutlich nicht ganz zu Unrecht gesagt: Lasst uns doch hier, wo wir Platz haben, Parzellen machen, und dann sitzen die Leute nicht in ihren Kellerwohnungen. Dann können die ein bisschen Sonne und Luft tanken und stehen dem kapitalistischen Verwertungsbetrieb wieder zur Verfügung.Sind das Hyazinthen?Hyazinthen sind furchtbares Unkraut! Dann hier noch Butterblumen und Euphorbien. Das sind alles Unkräuter, die zwar schön aussehen, aber im nächsten Jahr hat man davon das Doppelte. Ich würde sagen, das hier ist von jüngeren Leuten übernommen worden. Und dann haben sie gemerkt: „Oh, scheiße, das ist doch Arbeit.“ Der Baum hier ist unbeschnitten, ich würde sagen im zweiten oder dritten Jahr. Da steht noch der Roller vom Kleinen. Das ist der Klassiker: Man freut sich über den großen Garten mit 500 Quadratmetern, für das Kind. Aber eigentlich muss man den inneren Nazi in sich erwecken. Es ist der Kampf Mensch gegen Pflanze: Du hast hier nicht zu wachsen, wenn ich das nicht will.Placeholder infobox-1Wie lang hat es gedauert, bis Sie mit ihrem Garten zufrieden waren?Ich bin noch immer nicht so weit. Ich hatte den Garten zusammen mit meiner Frau vor 18 Jahren angefangen, als sie schwanger war. Dann kriegten wir so ein partnerschaftliches Problem: Ich wollte das, sie wollte dies.Sie schreiben: „Die Ehe und der Kleingarten haben viel gemeinsam. Erstens weiß man vorher nicht, worauf man sich einlässt, zweitens werden beide umso besser, je mehr Arbeit man in sie hineinsteckt.“Das Problem sind die handwerklichen Fähigkeiten, die man nicht hat. Man denkt immer, beim Kleingarten geht’s um Beete. Es geht gar nicht um Beete. Es geht um Zäune, um Laubendächer, um verrottete Türen, die ersetzt werden müssen. Das sind Originalanfertigungen. Da kann man nicht in den Baumarkt gehen. Da muss man eine Tür bauen, mit Zargen und der ganzen Schließtechnik. Da kommt man relativ schnell und oft an seine Grenzen. Oder so ein Laubendach. Das ist alles keine Raketenwissenschaft, aber es sind doch mehrstufige Vorgänge.Schwarz deutet auf eine gemauerte Gartenlaube. Im Buch nennt er sie „ÜGL“ (Übergroße Gartenlauben). Diese zu bauen, wäre heute nicht mehr legal, da Kleingärten kein Bauland sind. Die in DDR-Zeiten gefertigten, mitunter sogar zweistöckigen Häuschen genossen aber über die Wiedervereinigung hinaus Bestandsschutz.Hier hat jemand richtig saniert. Es sind sogar neue Fenster verbaut.Das ist unglaublich. Institute wurden zurückgebaut, Fabriken wurden abgerissen, ganze Braunkohlestandorte wurden niedergemacht. Aber die mit zusammengeklauten VEB-Stein gemörtelte Übergroße Gartenlaube durfte bleiben. Weil sie eine riesige Angst vor den Kleingärtnern hatten.Hat man die vielleicht nicht einfach als irrelevant erachtet?Nein, man hat schon Respekt gehabt vor der Kraft, die in diesen Vereinen steckt. Man hat sogar den VKSK, den Verband der Kleingärtner, Siedler und Kleintierzüchter, aufgelöst und zur verfassungsfeindlichen Organisation erklärt. Das ist eine Schizophrenie. Man sagte den Gartenfreunden: Ihr könnt eure Lauben behalten, aber wir nehmen euch das Instrument, euch gesamtdeutsch zu organisieren.Damit es nicht zum Kleingärtneraufstand kam?Genau. Wenn man in Bayern Staatsbeamter werden will, wird man heute noch gefragt, ob man in der SED – klar – oder im VKSK war.Glauben Sie daran, dass es Leute gibt, die einen grünen Daumen haben?Es gibt Leute, die wirklich Pflanzen hören können. Die wie eine gute Mutter die Bedürfnisse ihres Kindes erspüren. Ich hab das mühsam lernen müssen. Ich hab meine Zwiebeln immer in ein Loch in der Erde gesetzt, bis mir dann mal eine alte Aussiedlerin riet, den Boden festzustampfen. Das ist auch das Schöne, dass man in so ein Netz der kulturellen Überlieferung von Gartentechniken eingebunden ist. Ich finde es doof, wenn man das denunziert. Wenn türkische Familien in Berlin in den öffentlichen Parks grillen, dann ist das deren Kultur. Und das hier ist eben so eine Kultur, bei der man seine Parzelle hat. Da kann man ein bisschen machen, was man will, aber eben nicht alles. Und so ist der Deutsche, glaube ich. Ordnungsverliebt und anarchisch zugleich. Und es gibt ja mittlerweile auch internationales Gartenpublikum.Darüber haben Sie ein ganzes Kapitel geschrieben. Da erzählen Sie etwa von einem zugereisten Gartenfreund, der meinte, im Juli sei noch nicht die richtige Temperatur für den Garten.Na, wenn er aus dem Sudan kommt? Da fühlt man sich bei so 40 Grad wohl. Und das erreicht Deutschland nicht immer. Aber das ist eigentlich total nett, weil die Alten mit sich kämpfen. Die wollen nicht scheiße sein, die wollen keine Nazis sein, aber die wollen ihre Kultur eben auch nicht aufgeben. Die ringen mit sich, wie sie jetzt den afrikanischen Gartenfreunden irgendwie beibringen können, dass das so wird, wie sie es sich vorgestellt hatten. Das wird nicht klappen. Aber so funktioniert ja Kultur. Es geht nicht um Verdrängung und Auslöschung, es geht ums Zusammenwachsen. Die zweite oder dritte Generation von Deutsch-Sudanesen wird ihren Kleingarten wahrscheinlich anders machen. Vielleicht werden auch die Alten lässiger, man weiß es nicht.Placeholder infobox-2
Konstantin Nowotny
Stefan Schwarz hat einen Hass auf Zucchini und glaubt, dass man den Pflanzen zuhören kann. Ein Spaziergang
[ "ddr", "stefan schwarz", "kleingarten", "pflanzen" ]
Grünes Wissen
2019-06-23T06:00:00+02:00
https://www.freitag.de/autoren/konstantin-nowotny/nicht-zur-erholung
Umwelt Dreckige Wässer
Gerd Weber ist der Chef des Wasserwerks Frankfurt an der Oder. Weber muss täglich 65.000 Menschen mit Trinkwasser versorgen und er sitzt in der Falle. Die Sulfate aus den Löchern des Kohletagebaus verschmutzen zusehends das Wasser der Spree, daher muss er immer mehr Grundwasser beimischen. Aber davon hat Weber nicht genug. Der Sulfatgehalt nähert sich dem Grenzwert an.„Wir kämpfen seit 2008 dafür, dass man erkennt, woher die Verschmutzung kommt – aus den alten und aktiven Tagebauen“, berichtet Weber. „Erst als der Spreewald rot wurde, haben wir mehr Aufmerksamkeit bekommen.“ Das Wasser der Spree ist nicht nur sulfatbelastet, es ist gerade in den zuführenden Gewässern rostrot von den Eisenrückständen.Lange dachte man, die großen Probleme der auf riesigen Flächen aufgerissenen Landschaft – von der Oberlausitzer Heide bis nach Cottbus – seien die antiquierte Energiepolitik und die Umsiedlungen. Nun stellt sich aber heraus, dass auch die Verschmutzung des Trinkwassers ein gewaltiges Problem darstellt. Das beim Kohleabbau an die Luft freigesetzte Pyrit zerfällt in seine Grundbestandteile Eisen und Schwefel. Steigt das abgepumpte Grundwasser nach Jahren wieder hoch, entstehen rostrote und sulfatversetzte Grubenwässer, die sich in Bächen und Flüssen in die Landschaft ergießen.Die Vorwürfe der Umweltschützer in Brandenburg und Sachsen gegen die Braunkohleförderer sind massiv. Das aus den aktiven Tagebauen abgepumpte Grundwasser werde weder ausreichend gefiltert noch korrekt ins Erdreich eingeleitet, sagt der brandenburgische Landesgeschäftsführer des Bund für Umwelt- und Naturschutz, Axel Kruschat. In der Nähe von Welzow führt Kruschat vor, wo der Betreiber Vattenfall das sogenannte Sümpfungswasser einleitet – und wo er die Messungen vornimmt. Ein völlig verockerter Bach, in den die Grubenwasser fließen, schlängelt sich mehrere hundert Meter durch den Wald, ehe der Messpunkt kommt. Der liegt nicht etwa am Bach, sondern in einem sauberen Teich nebenan.„Kein Sauerstoff, keine Mikroorganismen, kein Futter für die Fische“Einige Kilometer weiter steht Winfried Böhmer vom "Aktionsbündnis Klare Spree", der seit Jahren vor der Verockerung der Spree und des Spreewaldes warnt. Er zeigt einen Bach, der ökologisch tot ist. „Hier gibt es keinen Sauerstoff mehr, keine Mikroorganismen, kein Futter für die Fische“, sagt Böhmer und nimmt einen Stock, um in die dicken rostigen Lagen in dem Wasserlauf zu stoßen. Der Bach ist erst vor einiger Zeit ausgebaggert worden. Die Krise werde ausbrechen, wenn ein Hochwasser diese Ablagerungen aufschwemmt, glaubt Böhmer. „Dann wird der Spreewald mit verockertem Wasser überflutet.“Die Hinterlassenschaft des alten DDR-Braunkohleabbaus wird von einer staatlichen Agentur verwaltet. Sie heißt „Lausitzer und Mitteldeutsche Bergbau-Verwaltungsgesellschaft“ (LMBV) und ist so etwas wie die Bergbautreuhand. Über eine Milliarde Euro verwaltet die LMBV, aber für die Wasserschäden des Frankfurter Wasserwerks will sie nicht zahlen. Die Begründung dafür ist seltsam: Die Grenzwerte für Sulfat seien nicht überschritten, also dürfe die LMBV schon juristisch nicht dafür aufkommen. Auch das Bundesfinanzministerium vertritt diese Auffassung. Für Wasserwerker Weber ist das keine schöne Situation. „Ich darf den Grenzwert für Sulfat nicht überschreiten – aber vorher wollen sich der Bund und die LMBV nicht an den Kosten für Wasserschäden infolge des Bergbaus beteiligen.“ Weber kann nicht mal öffentlich über die Situation klagen. Sonst bekomme er bergeweise Briefe von besorgten Bürgern, sagt er.Weil der Wasserwerker nicht so laut sein darf, hat sich die grüne Bundestagsabgeordnete Annalena Baerbock des Themas angenommen. Sie verfolgt die Neuaushandlung des LMBV-Budgets für die Jahre nach 2017. „Wir müssen endlich die Wasserfrage mit in die Kohleschäden einbeziehen“, sagte sie. „Die Bergbauverwaltungsgesellschaft muss genau wie Vattenfall und in Zukunft der EPH-Konzern ihren Beitrag für sauberes Wasser leisten – auch finanziell.“
Christian Füller
Der ostdeutsche Kohleabbau gefährdet Trinkwasser und Tourismus. Wer zahlt?
[ "inland", "Spreewald", "Lausitzer und Mitteldeutsche Bergbau-Verwaltungsgesellschaft", "umwelt" ]
Politik
2016-08-10T06:00:00+02:00
https://www.freitag.de/autoren/christian-fueller/dreckige-waesser
Neun Monate Nach der Flut Was nur alle 100 Jahre passiert ...
»Hier wird sich etwas ganz Tolles entwickeln!« Es gibt wohl kaum einen pragmatischeren Naturschützer als Tobias Mehnert, aber an der Flussaue bei Falkenau vor der Stadt Flöha gerät er ins Schwärmen. Schon einige Jahre bemühte sich sein Naturschutzverband Freiberg um den Erwerb dieser zehn Hektar großen Fläche. Das Hochwasser hat nun der Einwilligung des bisherigen Eigentümers nachgeholfen, so makaber es klingt. Was einmal eine durch einen kleinen Deich geschützte Ackerfläche war, hatte die Flöha in der Nacht zum 13. August 2002 in eine Insel verwandelt. Der Fluss teilt sich nun in zwei Arme, bevor ihn die Bebauung der Stadt Flöha wieder einzwängt. Abbruchkanten markieren das neue Flussbett, ein Canyon im Kleinformat, breite Schotterflächen und umgestürzte Bäume bestimmen das Bild.Jede Fläche, auf der sich Wasser ausbreiten kann, mildert zumindest die Spitzen von Flutwellen, auch wenn man stets den gesamten Gewässerlauf betrachten muss. »Statt 20 Metern hat die Flöha nun 500 Meter zum Pendeln. Sie verteilt Energie, kann in die Breite erodieren und landet mehr auf«, beschreibt Tobias Mehnert die Wirkung »seiner« Aue. Der beim Hochwasser vielfach unterspülte Bahndamm am Prallhang der Flussbiegung wird entlastet. Und in dreißig, vierzig Jahren könnten hier ein Auwald und eine Vogelinsel zu sehen sein, träumt der Naturschützer.Stückwerk ohne WeitblickRenaturierung ist hier gleichbedeutend mit Hochwasserschutz. Beim Winterhochwasser um den Jahresbeginn hat sich das schon gezeigt. Dafür aber müssen Ausbreitungsräume frei von Nutzung erworben werden, meist von privaten Eigentümern. Genau so lautet auch die Strategie des Freiberger Naturschutzverbandes. Laut Mehnert ist der Flächenerwerb überhaupt das einzige Mittel, zumindest in ausgewählten Gebieten wirksamen Naturschutz zu betreiben. Staatlichen Stellen misstraut er aufs tiefste. »Die rechte Hand weiß nicht, was die linke tut«, adressiert er seine Kritik insbesondere an das sächsische Umweltministerium. So sieht beispielsweise das im November des Vorjahres verabschiedete Wiederaufbaugesetz eigentlich die Ausweisung von Überschwemmungsgebieten vor. Zugleich wurden dem Landwirt eben dieser Falkenauer Flöha-Aue 12.000 Euro Fördermittel zugesagt, um den früheren Nutzungszustand wieder herzustellen.Etwas weiter oberhalb in Hohenfichte kann man ein weiteres Beispiel für Stückwerk beobachten. Die reißende Flöha hatte einen Damm durchbrochen und den Weg abgekürzt. Statt auf ungefähr fünf Hektar gefährdetes Ackerland zu verzichten und den anliegenden Agrarbetrieb zu entschädigen, ist der Damm wieder geflickt worden. Naturschützer Tobias Mehnert fällt es hier leicht, sich gegen Agrarsubventionen und für den freien Markt auszusprechen. »Wenn nicht durch Subventionen ein künstlicher Nutzungszustand erhalten würde, läge vieles aus ökonomischen Gründen brach.« Er weiß allerdings auch um das Problem, dass die Mitteleuropäer »einfach kein Stück Land so wild liegen lassen können, wie es nun einmal liegen geblieben ist«.Sportplatz wird FlussaueDer Weg ins nahe Hohenfichte erfordert übrigens einen langen Umweg, denn nach wie vor sind einige Brücken unpassierbar. Auch bei Pockau führt die Bundesstraße noch über eine Behelfsbrücke. Unweit dieser Brücke ist hier am oberen Lauf der Flöha ein Beispiel kommunaler Vernunft zu entdecken. In Pockau hatte es 1999 schon einmal ein räumlich begrenztes Hochwasser gegeben, das die Sportplätze unweit des Zusammenflusses von Pockau und Flöha überflutete. Kaum hergerichtet, passierte dies im Vorjahr in noch größerem Ausmaß erneut. Verloren erhebt sich nun eine einsame Anzeigetafel über den beiden Zuschauerreihen und dem wüsten Fußballfeld. In die leeren Tore kicken höchstens noch einige Jungen aus der Nachbarschaft. Der FSV Pockau wird hier nicht mehr spielen. Bürgermeister Eberhard Nowack gibt nach zwei Fluten innerhalb von drei Jahren nicht mehr viel auf Hochwasserstatistiken. Der Sportplatz wird verlegt. Das kann allerdings bis zu zwei Millionen Euro kosten, von denen Nowack nicht weiß, inwieweit sie aus dem Fluthilfefonds beglichen werden können. Im Prinzip hat Ministerpräsident Georg Milbradt den Kommunen einen hundertprozentigen Ausgleich der Reparaturkosten zugesagt. Was nichts daran ändert, dass eine Gemeinde wie Pockau erst einmal vorfinanzieren muss, wodurch ihr Zinsverluste entstehen.Am Ortsausgang von Pockau erhält die Flöha wieder eine natürliche Breite. Doch da hat sie die engeren Ortsbereiche schon passiert. »Wir müssten das 700-jährige Alt-Pockau komplett wegreißen, wollten wir einen dauerhaften Schutz vor Hochwasser«, stellt Bürgermeister Nowack achselzuckend fest. Das geht schlichtweg nicht, und etwas höhere Mauern tun es auch nicht. Insofern ist auch der von fünf auf zehn Meter verbreiterte frei zu haltende Gewässerrandstreifen im Wiederaufbaugesetz nur eine theoretische Größe. Sinngemäß gilt das ebenso für die neu definierte sogenannte HW-100-Vorschrift, die Deichhöhen oder Durchflussmindestmengen für ein hundertjähriges Hochwasser festlegt. Bleibt also doch nur das Vertrauen auf die Statistik?Die gerät nicht nur wegen der globalen Erwärmung ins Wanken. Im Erzgebirge haben die Niederschlagsextreme zugenommen. Die Durchschnittstemperatur ist in den letzten 30 Jahren um zwei Grad angestiegen. Skiliftbetreiber spüren es besonders. »Ich halte alles für möglich«, schließt Naturschützer Mehnert Wiederholungen keinesfalls aus. Und bestätigt die Erkenntnis des Pockauer Bürgermeisters. »Vor allem in engen Kerbtälern muss man sich entscheiden, ob man weiterhin Verkehr und Besiedlung will oder nicht.« So radikal ist die Alternative, wenn man zu Ende denkt.Unbelehrbar oder unverdrossen?Die sächsische Landesregierung, die Kommunen, die für den Schutz an Gewässern erster und zweiter Ordnung zuständige Landestalsperrenverwaltung, die Deutsche Bahn, die Bürger vor allem können und wollen so konsequent nicht sein. »Einen absoluten Schutz vor einem solchen Ereignis gibt es nicht«, betont Ministerpräsident Milbradt immer wieder. Will heißen: Es wird auf die Statistik vertraut und weitgehend der Zustand vor der Flut wiederhergestellt. Ergänzende Präventivmaßnahmen haben oft nur kosmetischen Charakter. Das Tal der Müglitz, die bei Heidenau in die Elbe mündet, ist beispielhaft für ein enges Kerbtal. Zu Füßen des Schlosses Weesenstein suchte sich der entfesselte Fluss ein neues Bett quer über die Schulstraße und riss ein Dutzend Häuser weg. Doch mindestens drei der Totalgeschädigten wollen am selben Platz wieder bauen. Das Recht darauf hätten sie, denn in das Baurecht ist nur insoweit eingegriffen worden, als innerhalb von ausgewiesenen Überschwemmungsgebieten nicht mehr neu gebaut werden darf. Unbelehrbar oder unverdrossen? Versicherungen zahlen nur, wenn am Schadensort wieder gebaut oder repariert wird. Doch es geht um mehr, um Bodenständigkeit, um jene seltsame Hartnäckigkeit, mit der anderswo Vulkanberge immer wieder besiedelt werden. »Wir können der Müglitz nicht das alte Bett zurückgeben, wenn hier 300 Jahre alte Häuser stehen«, sagt Günther Büschel, dessen kleine Pension von 1702 »nur« überflutet wurde und am Rande der Wasserwüste stehenblieb. Eine kräftige Betonmauer soll nach seinen Vorstellungen den Ort schützen.Damit liegt er vom kürzlich vorgestellten ersten Hochwasserschutzkonzept des sächsischen Umweltministeriums gar nicht so weit entfernt. Das kapituliert auch weitgehend vor einem naturnahen Hochwasserschutz und setzt auf traditionelle restriktive Maßnahmen. Tatsächlich geht es im Müglitztal um Schutzmauern für Orte und um drei Rückhaltebecken an Zuflüssen. Umweltminister Steffen Flath (CDU) setzt vor allem auf Maßnahmen, die wenig kosten. Landwirte sollen erosionsmindernde Anbaumethoden einführen, sogenannte Mulchsaaten, im Erzgebirge soll verstärkt aufgeforstet werden. Gegen den zähen Widerstand der Anlieger und der Tourismuslobby ist an der Weißeritztalsperre Malter der Wasserstand immerhin um 3,5 Meter gesenkt worden, um den Hochwasserschutzraum zu vergrößern. Um Brückenquerschnitte zu erweitern, will man Talstraßen absenken oder anheben. Die Deutsche Bahn schert sich wenig darum und baut die Sachsen-Magistrale im Weißeritztal oder die Müglitztalbahn genau so wieder auf wie vor dem großen Regen. Weil der ja bekanntlich in frühestens 100 Jahren wiederkommt!Der einzige Ort, an dem eine Aufschwungsünde konsequent korrigiert wird, ist die Neuansiedlung Röderau-Süd bei Riesa. Für 50 Millionen Euro werden die 400 Einwohner wieder aus der Elbaue umgesiedelt, die zu DDR-Zeiten strikt frei gehalten worden war. Der Bahndamm und der Deich vor Alt-Röderau hatten hier einen zusätzlichen Trog entstehen lassen, in dem die Häuser bis zum ersten Stockwerk versanken. Simone Anders wusste eigentlich, worauf sie sich einließ, als sie Mitte der Neunziger hierher zog. Auch sie vertraute auf die freundliche Elbe, die nur selten einmal gedroht hatte. Eine so günstige Miete von 5,11 Euro für guten Komfort wird sie in Riesa nicht mehr finden. Denn bis zum 30. Juni muss sie umgezogen sein. Wer unbedingt bleiben will, trägt alle Risiken selbst, hat das sächsische Innenministerium verfügt. Es bleibt aber keiner mehr. Nur in Ralf Münchs Werkstatt wird noch an den Autos einiger Stammkunden gewerkelt. Wenn auch er nach Riesa gegangen sein wird, bleibt von dem schmucken Neubaugebiet nur noch ein Geisterdorf.Geld ist genug daStreng genommen müsste es viele Röderaus in Sachsen geben. Würden andere Hauseigentümer nicht nur zu 80, sondern ebenfalls zu 100 Prozent entschädigt, könnten sie leichter einen Umzug an einen hochwassersicheren Standort erwägen. Geld ist offensichtlich genug da, nicht nur von staatlicher Seite. Auch im 300 Millionen Euro dicken sächsischen Spendentopf sind noch mindestens 50 Millionen übrig, so dass der Dachverein Sachsen helfen e.V. unter Landesmutter Angelika Meeth-Milbradt jetzt 95.000 Postkarten in Flutgebiete verschickt, um für die Inanspruchnahme des Geldes zu werben! Geld war auch genug da, um an den Gebirgsflussläufen erst einmal wahllos alle Ufergehölze herauszureißen, tiefwurzelnde Erlen eingschlossen. Der Unfug ist durch aufgeschotterte Uferbefestigungen vielfach komplettiert worden. »Hochwasserbeschleunigungskanäle« nannte sie PDS-Umweltpolitikerin Andrea Roth im Landtag. Vielleicht aber regelt ganz im Sinn von Naturschützer Mehnert der Markt doch das künftige Gefährdungspotenzial. In Freital an der Weißeritz beispielsweise klagen schwäbische Hauseigentümer, dass niemand mehr ihre Wohnungen mieten will.
Michael Bartsch
In Sachsen ist von einem nachhaltigen Hochwasserschutz kaum mehr die Rede
[]
Politik
2003-04-25T00:00:00+02:00
https://www.freitag.de/autoren/michael-bartsch/was-nur-alle-100-jahre-passiert
Bildungssystem Jahrgänge der Erwartungshorizonte
Unsere Kinder müssen konkurrenzfähig werden! So lautet die große Botschaft, deretwegen G8 eingeführt wurde. Im internationalen Vergleich seien die Abiturienten zu alt, die Studenten begännen damit zu spät ihr Studium, um sich gegen die internationale Konkurrenz durchsetzen zu können. Doch wollen unsere zukünftigen Arbeitgeber überhaupt erschöpfte, verbissene Konkurrenzmaschinen?Bevor die gravierenden Probleme der Bildungsungerechtigkeit in Deutschland beseitigt wurden, wurde das Abiturtempo verschärft, die Konkurrenz erhöht. Jeder konnte sich denken, wozu ein Doppeljahrgang führen würde, der an die Universitäten strömt: Die NC schossen in die Höhe, die Wartesemester mit. Die deutschen Abiturienten kommen nach regulär 12 Jahren, in denen sie gelernt haben, Erwartungshorizonten gerecht zu werden, an die Universitäten. Nachdem in den Gymnasien das Konkurrenzdenken schon etabliert ist – Schulformen untereinander, Gymnasien untereinander, Schüler untereinander – fanden sich die Schüler des G8-Doppeljahrgangs in unmittelbarer, an den NC ablesbarer Konkurrenz wieder. Ein ganzer Doppeljahrgang kämpfte um die raren Studienplätze. Und sie kämpfen noch immer. Denn die Schüler, die ein Jahr warteten, um dem Andrang auszuweichen, bewerben sich dieses Jahr. Und auch im nächsten.Nicht wenige waren gerade erst 17 geworden, als sie Abitur hatten. Im internationalen Vergleich wären sie auf keinen Fall zu alt. Aber was nützt das – wenn sie noch nicht wissen, was sie später machen wollen? Die Zeit, in der sie hätten herausfinden können, wofür sie brennen, war voll mit Klausurterminen und Abiturprüfungen. Selbst auf das Auslandsjahr müssen sie meist noch warten, weil sie unter 18 Jahren im Ausland zu wenig Möglichkeiten und Rechte haben.Mehr Zeit für Kompetenz wagen Die Überflieger oder Begeisterten, die ihre Richtung bereits gefunden haben – und die richtigen Noten oder Glück im Losverfahren hatten, oder „standortflexibel“ sind – konnten mit dem Studium beginnen. Doch in vielen Fächern geht es weiter mit der Konkurrenz. Bachelor, Master, Regelstudienzeit... im internationalen Vergleich mithalten! Den Industrie- und Forschungsstandort Deutschland stärken, für Innovationen sorgen!Doch wie können wir, die ehemaligen G8-Kinder, das schaffen? Wir, die keine Zeit für Leidenschaften, Muße, Entdeckerfreude, Begeisterung hatten, die für Innovationen genau wie für Kultur so wichtig sind? Auf einem ungerechten Bildungssystem wurde ein System des Wettbewerbs aufgebaut, und die Erwartungen der jungen Studenten an sich selbst sind groß. Grundschule, Gymnasium, Auslandsaufenthalt, Uni, Karriere; das wird erwartet. Denken wir. Ein linearer, karriere- und konkurrenzorientierter Lebenslauf. Überhaupt ist der Lebenslauf sehr wichtig für uns. Ohne Lücken, ohne Orientierungsphasen, ohne die Möglichkeit, sich zu irren. Studium abbrechen? Auf keinen Fall!Wir denken, dass unsere zukünftigen Arbeitgeber das perfekte Zeugnis, den perfekten Lebenslauf erwarten. Wo bleibt aber da die Zeit für Engagement? Wissen diese Arbeitgeber, dass ein Einser-Zeugnis nichts über Mündigkeit, Selbstständigkeit, Talent, Lernfreude sagen muss? Über Kompetenz?Letzteres ist ein wichtiges Wort. Im Lexikon heißt es:„Psychologisch betrachtet definiert man Kompetenz als 'die bei Individuen verfügbaren oder durch sie erlernbaren kognitiven Fähigkeiten und Fertigkeiten, um bestimmte Probleme zu lösen, sowie die damit verbundenen (…) Bereitschaften und Fähigkeiten, um die Problemlösungen in variablen Situationen erfolgreich und verantwortungsvoll nutzen zu können.' “Verfügbar und erlernbar ist Kompetenz, diese These würde ich wagen, bei den meisten von uns. Aber wird sie in Konkurrenz gefördert? Können wir, die Jahrgänge der Erwartungshorizonte, „Problemlösungen in variablen Situationen erfolgreich und verantwortungsvoll nutzen“? Und wie viel Wert legen unsere zukünftigen Arbeitgeber darauf, herauszufinden, ob wir kompetent sind? Lesen sie dafür nur den Lebenslauf? Und muss dieser dafür lückenlos und akademisch orientiert sein?Keine Angst vor den Arbeitgebern!„Arbeitgeber“ ist bei uns Abiturienten ein abstraktes Schlagwort, und es ist mit Erwartungen, Hoffnungen und Ängsten besetzt. Sie entscheiden einmal über unsere Zukunft. Komme ich in das Unternehmen, die Institution, den Beruf, von dem ich träume?Wir vergessen dabei, dass unsere zukünftigen Arbeitgeber mehr erwarten als formelle Perfektion, weil sie - im positiven Sinne! - gewissermaßen aus der Zeit fallen. Sie gehören einer Generation an, in der es nicht selbstverständlich war, ein Gymnasium zu besuchen und Abitur zu machen. (Nicht, dass das heute so wäre - aber Gymnasiasten wird das von allen Seiten eingeredet.) Viele von denen, die morgen unsere Lebensläufe anschauen, haben - wenn überhaupt - Abitur auf dem 2. Bildungsweg gemacht. Viele hatten vielleicht keinen perfekten Karrierestart, keinen glänzenden Lebenslauf, doch sie brennen für etwas, haben ihre Leidenschaft auf unkonventionellen Wegen zum Beruf gemacht – und sind damit erfolgreich. Es ist wichtig, zu verstehen, dass die Leute, die über unsere Zukunft entscheiden, Empathie besitzen. Dass ihnen der Wert von Begeisterung, Neugierde, Kreativität und Kompetenz bewusst ist. Denn auf diesen vier Säulen, davon bin ich überzeugt, ruht unsere Zukunft.Die Demokratie, die zukünftigen Arbeitgeber, die Wirtschaft, die Politik, das Gesundheitssystem und die Kultur brauchen kompetente Gestalter. Querdenker. Keine menschlichen Suchmaschinen. Die gibt es schon digital, und sie sind bei Weitem mächtig genug.
Helke Ellersiek
Was schafft Wissen? Die zweite Runde G8-Abiturienten strömt an die Universitäten, Konkurrenz und Leistungsdruck sitzen im Nacken. Doch es gibt Hoffnung. Eine Beruhigung
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Politik
2014-10-14T21:43:00+02:00
https://www.freitag.de/autoren/helkonie/jahrgaenge-der-erwartungshorizonte
Rundfunkgebühren in Frankreich abgeschafft: Der Anfang vom Ende?
Bei der AfD wird in die Hände geklatscht, die österreichische FPÖ fordert, unverzüglich dem Beispiel Frankreichs zu folgen und die Partei von Marine Le Pen feiert es sowieso als ihren Erfolg: In Frankreich wird die Rundfunkgebühr abgeschafft. Statt der Zahlung von zuletzt 138 Euro jährlich pro Haushalt mit einem Fernsehgerät wird der Rundfunk künftig aus Steuereinnahmen finanziert.Doch die Regierung wird nicht müde zu unterstreichen, dass der audiovisuelle Sektor nicht in Gefahr sei, dass es sich lediglich um einen Verwaltungsakt handele. Grund dafür sei die lange beschlossene Abschaffung der Wohnsteuer, mit der zusammen die Rundfunkgebühr bislang erhoben wurde. Dadurch müsse nun eine neue Finanzierungsmethode gefunden werden. Gleichzeitig verkauft man die Maßnahme als Geschenk an einkommensschwache Haushalte, die sich in Zeiten sinkender Kaufkraft mit dem Wegfall der Gebühr auch tatsächlich entlastet sehen.Doch die Beschäftigten des öffentlich-rechtlichen Rundfunks sorgen sich, ob die bislang 3,2 Milliarden Euro Einnahmen aus der Gebühr wirklich in gleicher Höhe durch Steuerabgaben garantiert werden können. Zwar versichert die Regierung, das Budget jeweils im Voraus festzulegen und zu zahlen, um Planungssicherheit über das gesamte Jahr zu garantieren. Doch was, wenn durch sinkende Steuereinnahmen plötzlich weniger Budget im Gesamthaushalt vorhanden ist? Wie wäre es zu rechtfertigen, dass der öffentlich-rechtliche Rundfunk von Sparmaßnahmen nicht betroffen wäre, wenn in anderen Bereichen Einschnitte drohen? Wohl gar nicht. In der Branche stößt die Entscheidung daher auf große Ablehnung und schürt Ängste.Liste von Privatisierungen in Frankreich ist langWenn die Politik das Budget für France Télévision, Radio France, Arte und weitere Sendeanstalten in der Hand hat, könnte der Druck tatsächlich zunehmen. Sowohl auf die inhaltliche Gestaltung der Programme als auch auf die Strukturen innerhalb der Sender. Natürlich ist es nichts Neues, dass in einem zentralistischen Land wie Frankreich der Staat in vielen Bereichen präsent ist, auch in der Presselandschaft. Bis vor wenigen Jahren ernannte der Staatspräsident sogar die DirektorInnen von France Radio und France Télévision. Dabei beruft man sich gern auf die „exception culturelle“, auf die herausragende Stellung der französischen Kultur, die es durch staatliche Vorgaben zu schützen gilt, bestes Beispiel dafür sind die Quoten für französische Musik im Radio und französische Spielfilme im Fernsehen. Hier soll der Staat die schützende Hand über den Medien (und über der französischen Sprache) sein und sie vor ausländischer Einflussnahme schützen.Doch was, wenn die Kultur in Zukunft nicht mehr vom Staat geschützt wird, sondern seinem Wohlwollen ausgeliefert ist? Das heißt vor allem abhängig von der Hand am Geldhahn? Vermutlich könnte dann die Regierung mit dem Argument aufwarten, dass eine zumindest teilweise Privatisierung das Beste für die Angestellten und Zuschauer wäre. Und da der Rückzug des Staates aus vielen öffentlichen Bereichen sowieso Teil der Macron’schen Leitlinie ist, käme das nicht mal überraschend: angefangen von der Bahn über die Post bis zu den Pariser Flughäfen. Die Liste der Privatisierungspläne ist lang. Und gerade hochwertige Programme wie das Radioangebot von France Culture könnten wohl kaum dem Marktdruck im Privatsektor standhalten. Ebenso wären Kürzungen bei Gehältern und Kündigungen wohl nur eine Frage der Zeit.Dabei ist gerade in Zeiten des sich immer schneller drehenden Informationskarussells, in Zeiten von Fake-News, Pay-TV und der erdrückenden Konkurrenz durch soziale Medien wichtig, Kontinuität und solide Berichterstattung aufrechtzuerhalten. So riskiert Frankreich, mit dem neuen Finanzierungsmodell einen gefährlichen Weg einzuschlagen, der in anderen Ländern Nachahmer findet. Noch ist offen, ob das Regierungsversprechen eingelöst wird, dass die Unabhängigkeit des Rundfunks und seine Strukturen bestehen bleiben, oder ob nur der Anfang vom Ende des Systems eingeläutet wurde.Placeholder authorbio-1
Romy Straßenburg
In Frankreich muss die Finanzierung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks neu organisiert werden. Schon wächst die Angst vor dem großen Ausverkauf unter Präsident Emmanuel Macron
[ "Emmanuel Macron", "Öffentlich-rechtlicher Rundfunk" ]
Kultur
2022-08-31T04:00:00+02:00
https://www.freitag.de/autoren/linkerhand/rundfunkgebuehren-in-frankreich-abgeschafft-der-anfang-vom-ende
Tourismus An unserem Platz
Dieser Typ soll ein Obdachloser sein? Der Mann Anfang 50, der da lässig an einem Altkleidercontainer lehnt? Er erzählt den Menschen, die um ihn herumstehen, dass man alte Kleidung direkt an soziale Einrichtungen geben soll, nicht in den Sammelcontainer – weil dort nicht garantiert sei, dass sie auch wirklich bei den Betroffenen ankommt.Der Mann trägt eine kurze Hose, Umhängetasche, Ray-Ban-Sonnenbrille und einen Kapuzenpulli. So stellt man sich keinen Obdachlosen vor. Und so war es doch auf dem Flyer angekündigt: „Obdachlose zeigen ihr Berlin“.Willkommen beim Sightseeing – aus der Perspektive der Menschen, die auf der Straße leben. Etwa 20 Interessierte haben sich vor einem Altkleidercontainer in Berlin-Schöneberg versammelt und hören Carsten Voss zu. Schöneberg gehört zu den bürgerlichen Bezirken der Stadt. Und ja, Voss, der Stadtführer, war hier wirklich mal obdachlos. Sechs Monate lang, er schlief auf der Straße oder wohnte bei Freunden auf der Couch und in einer Gartenlaube, erzählt er. Die Stadttour habe er sich ausgedacht. Er will an die Plätze führen, an denen er sich damals aufhielt.Ein liberaler KiezDie Tour beginnt am Nollendorfplatz. „Obdachlose nennen den Platz ,Bermuda-Viereck‘ “, klärt Voss auf, „weil er vier Eckpunkte hat: Parkbänke, Spätverkaufsstellen, den großen Bahnhof und einen Supermarkt mit Pfandflaschenautomaten, der 24 Stunden geöffnet hat.“ Sein Publikum, überwiegend Akademiker um die 30, hört ihm konzentriert zu. Auch die Presse ist da. Um nicht zu sagen: Voss wird von Mikrofonen belagert. In welchen Kiezen sich Obdachlose besonders ungern aufhalten, will ein Zuhörer wissen. Voss weiß es nicht so genau. Er war ja nur in Schöneberg auf der Straße. Und das sei ein „sehr liberaler Kiez“ – das würden die Obdachlosen spüren. Sie würden dort nicht als Aussätzige betrachtet, die Anwohner seien hilfsbereit. Obdachlose kämen gerne hierher, sagt Voss.Überhaupt weiß er viel Positives zu berichten. Berlin verfüge über ein weites soziales Netz, es gibt viele Einrichtungen wie Kältenothilfen oder Suppenküchen. Das würde viele Obdachlose aus anderen Städten anziehen. Wie viele Obdachlose es in Berlin gibt, kann nur geschätzt werden: Bis zu 4.000 sollen es laut Senat sein. Die Caritas gibt an, dass im Jahr 2010 mindestens 11.000 Menschen in Berlin ohne eigenes Dach waren, meist Männer zwischen 40 und 50 Jahren. Sie haben meist durch eine Trennung oder den Verlust der Arbeit den Boden unter den Füßen verloren.Vom Nollendorfplatz führt Voss weiter über den Winterfeldt- zum Viktoria-Luise-Platz, früher ein alternativer Kiez, heute Refugium einer wohlhabenden Mittelschicht. „Es gibt zwei Seiten am Viktoria-Luise-Platz“, sagt Voss. „Auf der sonnigen Seite sitzen die berühmten Wilmersdorfer Witwen und andere Anwohner. Auf der schattigen, nahe dem 24-Stunden-Kaiser’s, die Wohnungs- und Obdachlosen.“ Er selber habe auf der Schattenseite gesessen.Erst Workaholic, dann Burn-outNur wie kommt einer, der so eloquent reden kann und alles andere als kaputt wirkt, überhaupt dahin? Vor anderthalb Jahren erlitt Voss einen Burn-out, er war damals Workaholic, jettete um die Welt und hielt irgendwann dem Druck nicht mehr stand. Der ehemalige Manager eines großen Modeunternehmens verlor seinen Job und seine Wohnung. Nur die Verzweiflung habe ihn dazu gebracht, die Scham zu überwinden und sich schließlich an eine ihm bekannte Einrichtung zu wenden. Dort bat er um Hilfe.Soll man Obdachlose ansprechen, oder wollen sie in Ruhe gelassen werden, möchte ein junger Mann wissen. „Immer ansprechen“, antwortet Voss. Sie würden dann schon zeigen, ob sie Lust aufs Reden hätten. Es gehe darum, wahrgenommen zu werden. Ein anderer Tourgast sagt, es sei für ihn eine besondere Erfahrung, einem Ex-Obdachlosen gegenüberzustehen. Er sei von seiner Frau hierhergeschleift worden. „Schon extrem, wie schnell das gehen kann, dass man obdachlos wird“, sagt diese.Die Tour geht weiter zum legendären Bahnhof Zoo. „Hier dominieren Prostitution und Drogen, daran hat sich nichts geändert“, sagt Voss. Er führt die Teilnehmer zur Rückseite des Bahnhofsgebäudes. Wichtig für die Obdachlosen sei der Zoo wegen der Bahnhofsmission, erklärt er. Dort wolle er mit der Gruppe aber nicht hinein, die Tour soll nicht voyeuristisch werden.Nur nicht wegschauen!Man kann den Organisatoren nicht vorwerfen, hier nur zynisches Marketing zu betreiben und die neueste Tourismus-Masche auszuprobieren. Man wolle „einen Raum für Begegnungen und Austausch schaffen“, erklärt Jochen Wagner, einer der Gründer von „Stadtsichten“, dem Verein, der sich das Tour-Konzept mit Voss gemeinsam ausgedacht hat.Das Projekt sei aus dem Wunsch entstanden, endlich mal „etwas Konkretes“ zu machen – und aus persönlicher Beobachtung, sagt Jochen Wagner: „Obdachlose sieht man überall in der Stadt. Nur wirklich begegnen tut man ihnen nicht.“ Man spüre immer die Befangenheit der Leute – auch bei dieser Stadtführung gebe es Berührungsängste.Zuletzt geht es am Fünf-Sterne-Hotel Waldorf Astoria vorbei, am Breitscheidplatz endet die Führung. Für Voss ist das hier „typisch Berlin“: ein Luxushotel und eine Anlaufstelle für Obdachlose nur 50 Meter voneinander entfernt. „Die Obdachlosen sind mittendrin, und trotzdem nimmt man sie nicht wahr.“Am Ende hat Voss noch einen Appell. „Gebt ihnen die Würde wieder“, ruft er, auch wenn er selbst auch gute Erfahrungen gemacht hat. Generell würden die Leute aber immer öfter wegschauen. Man spürt, dass das einer sagt, der weiß, was es bedeuten kann, links liegen gelassen zu werden. Wegschauen sei das Schlimmste, sagt er, dann noch lieber beschimpfen. Voss hat heute wieder eine Wohnung. Und er arbeitet jetzt ehrenamtlich bei einer sozialen Einrichtung für Obdachlose. Die Stadttour, sagt er, ist seine Therapie.
Jacques Kommer
Obdachlose zeigen Gästen, wo sie normalerweise wohnen. Ist das mehr als zynisches Stadtmarketing?
[ "obdachlose" ]
Alltag
2013-07-04T09:30:00+02:00
https://www.freitag.de/autoren/liquid/an-unserem-platz
Kolumne Schäm dich!
Wenn ich diesen Begriff schreibe, dann fällt zuallererst ins Auge, dass „die weibliche Scham“ zwei unterschiedliche Bedeutungen annimmt. Einerseits verweist das Substantiv von „sich schämen“ auf einen Zustand – ein Gefühl. Andererseits verweist es auf eine Körperregion: Den sogenannten „Schambereich“. Hallo? Das ist unsere VULVA! Was hat denn das mit Scham zu tun? Bei Männern heißt das Gebamsel untenrum übrigens einfach „Genitalbereich“ – während selbst in etablierten Lexika, genauso wie in der freien Online-Enzyklopädie bei Frauen von der „Scham“ die Rede ist. Denken Sie mal darüber nach.Um zu unterstreichen, welche Nervenbahnen ich mit meinen kleinen Einwürfen in dieser Kolumne gerne kitzeln würde, möchte ich ein sehr junges Beispiel aus meinem Alltag schildern. Dafür muss ich mich ganz schön zusammennehmen, denn das zentrale Thema dieser Kolumne – sich schämende Frauen – trifft mich natürlich auch. Aber was nützt es? Im Sinne des gesamtgesellschaftlichen Diskurses springe ich über meinen Schatten:Es geht um einen Scheidenpilz. Oho! Ja, ich weiß, es ist Ostern, der Papst hält Ansprachen und das ist jetzt ein bisschen viel für Sie. Außerdem kennen Sie vielleicht den komischen Spruch aus ihrer Kindheit oder Jugend: „Wenn Mädchen pupsen, kommen Schmetterlinge raus“ ? Denn Kacken, pupsen, Urinieren und – ja: Genitalpilze – das sind halt doch nicht so die Dinge, die man gerne mit diesen reinen und schönen Wesen, den Frauen, in Zusammenhang bringen will.Erröten in der ApothekeAlso ich eben so mit diesem Scheidenpilz. Arzt, Rezept, Apotheke – alles kein Ding. Da mein Arzt mir noch sogenannte Milchsäure-Zäpfchen empfohlen hatte, fragte ich auch danach bei der jungen und hübschen Apothekerin (ich weiß nicht, inwieweit die Information „jung und hübsch“ in diesem Zusammenhang relevant ist – entscheiden Sie bitte selbst; aber sie hatte ein sehr gepflegtes und irgendwie glattes Äußeres): „Haben Sie Milchsäure-Zäpfchen?“ – Erstaunter Blick. Leichtes Erröten. Nach einer kurzen Pause, in der sie offensichtlich nachdachte, wie sie es sagen soll, fragte sie: „Sie meinen, für die FRAU?!“ – damit machte sie mich ein wenig sprachlos. Ich meinte ja schließlich diese Zäpfchen, die man sich in die Vagina steckt, und nein – nicht für die Frau, sondern gegen Scheidenpilz Herrgott! Aber ich wollte die gute Frau nicht restlos im Boden versinken lassen, sagte also ja. Denn verstanden hatte ich sie ja.Können Sie mir folgen? Oder finden Sie vielleicht, ich übertreibe?Tracy Clark-Flory greift das Thema in Salon auf und betrachtet den Effekt, den es hat, wenn die Sexspielzeuge von Frauen unbeabsichtigt in die Öffentlichkeit gelangen – so klein diese auch sein mag. Da ist zum einen der Hund, der einen Dildo im Garten versteckt. Oder der Vibrator, der bei einem Notfall von Feuerwehrleuten entdeckt wird – solcherlei Geschichten sind bei Salon zu lesen. Clark-Flory hält fest: „Vibrators, like tampons, stand out among women's most-dreaded scenarios of public humiliation.” Ist das bei Männern auch so? Ich frage ganz offen. Weil mich das wirklich interessiert.Das Handtuch des BalthazarLassen Sie mich ein letztes Beispiel anführen, und dann mache ich auch wirklich Schluss: In meiner Jugend gab es einen Jungen, Balthazar. Der war unglaublich wild und seine Hormone gingen ziemlich mit ihm durch. Für meinen Geschmack kam er sich selbst ein bisschen zu geil vor – aber eine nicht unerhebliche Zahl von Mädchen schwärmte sehr für ihn, und die meisten Jungs nahmen ihn sich als Vorbild, was die Perfektion von Vulgärsprache angeht. Balthazar wusste genau, wie er die Schmetterlinge-pupsenden Mädchen zum quieken bringen konnte: er holte sein Handtuch. Ja genau: DAS Handtuch. Es war eigentlich kein Handtuch mehr – eher so ein Prügel, als hätte man ein Handtuch in Beton gebadet. Ich habe nie wieder jemanden seine Selbstbefriedigung so zelebrieren sehen, wie ihn. Während Balthazar sich damit das Maximum an Respekt verschaffte, sah die Lage bei uns Mädchen ganz anders aus. Zufällig war ich mit Balthazars damaliger Freundin eng befreundet, Franzi. Sie war wunderschön, unglaublich stylisch und so trendsicher wie keine sonst. Genauso wie die junge hübsche Apothekerin war Franzi glatt. In einem dieser intimen Gespräche zwischen 13-jährigen Mädchen kam es auf das Thema Selbstbefriedigung. Es war eine dieser „Etwa-Fragen“, und sie ging aus von Franzi: „Ihr befriedigt euch doch nicht etwa selbst?!“ – verstehen Sie: Etwa. Keine andere Antwort außer einem entrüsteten „nein! Um Gottes Willen!“ kam in Frage. Das ist so eines dieser inkludierenden Rituale gewesen. Emma, eine andere Klassenkameradin, wurde sodenn auch radikal exkludiert und zur persona non grata erklärt, als Franzi und ihre Schleppenträgerinnen das Gerücht in die Welt hauten, im Schullandheim habe Emma sich heimlich selbstbefriedigt.Ich steige jetzt einmal auf mein „feministisches Hohes Ross“ – wie Tracy Clark-Flory es am Ende ihrer Kolumne auch so wunderbar ausdrückt – und behaupte, dass all das kein Zufall sein kann! Dass die Vulva „Scham“ genannt wird; dass Labien „Schamlippen“ sind; dass ein Mittel gegen Scheidenpilz mir in der Apotheke als ein Medikament für die Frau feilgeboten wird; dass Sextoys von Frauen diesen „Busted!“-Effekt haben; dass Jungen vor 15 Jahren ihre Onanie zelebrierten, während Mädchen sich damit gegenseitig diskreditierten.Her mit allen Sinnen!Umso wichtiger sind solche Bücher wie Sex – so machen’s die Frauen von Melinda Gallagher und Emily Kramer, das Tabus auf liebe- und lustvolle Art und Weise bricht. Indem Frauen von ihren ersten Masturbationserfahrungen und -techniken erzählen, wird scheinbar "Verbotenes" normalisiert und entdramatisiert. Diese Philosophie zieht sich durch das gesamte Buch. Weg mit der Scham, her mit der Lust! Weg mit den drei Affen (nichts sehen, nichts hören, nichts sagen), her mit allen Sinnen und her mit den richtigen Worten, um dem Partner zu sagen, was einem gefällt (und was nicht)!
Katrin Rönicke
Schämen sich Frauen mehr als Männer? Eine kleine Retrospektive der weiblichen Scham
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Kultur
2011-04-25T08:00:00+02:00
https://www.freitag.de/autoren/katrin/scham-dich
Landtagswahlen Wer macht die AfD so stark?
Laut der Analyse des ZDF hat die AfD von allen Parteien, ob als links oder rechts eingestuft, Stimmen eingesammelt. Von der SPD kommen 17 Prozent, der CDU 15 Prozent, den Linken 12 Prozent, den Grünen 3 Prozent, der NPD 16 Prozent, der FDP 3 Prozent und den Anderen 34 Prozent. Darunter ist der größte Anteil vormalige Nichtwähler.Das Ergebnis stellt sich etwas anders da, wenn die Prozentanteile der gesamten Wählerschaft einbezogen werden, also nicht nur von den Menschen, die an der Wahl teilgenommen haben: Den größten Anteil stellen nach wie vor die Nichtwähler mit 38,4 Prozent, gefolgt von SPD mit 18,8 Prozent, AfD mit 12,8 Prozent, CDU mit 11,7 Prozent, Linke mit 8,1 Prozent, Grüne mit 3,0 Prozent, FDP und NPD mit jeweils 1,8 Prozent. Sonstige haben 3,6 Prozent von allen Wahlberechtigten erhalten.Politische Überzeugungen, die jemanden an eine Partei binden, schwinden. Sonst könnte nicht eine Partei aus dem Stand zur zweitstärksten in einem Landtag emporsteigen. Die Wählerinnen und Wähler nutzen den Wahltag, den regierenden und politisch etablierten Parteien knallhart mitzuteilen, was sie von der praktizierten Politik halten. Dieses Mal ist es vornehmlich die Flüchtlingspolitik, die den Verliererparteien von SPD, CDU, Linken und Grünen Stimmenverluste einbrachte. Die Ursache dieser Angst vor dem Fremden liegt einerseits in der anderen kulturellen-religiösen Tradition der Migranten, aber auch in der eigenen prekären Lage, in der sich immer mehr Wählerinnen und Wähler gedrängt sehen. Laut den Umfragewerten der Forschungsgruppe Wahlen (siehe ZDF) waren für die Bürgerinnen und Bürger des Landes zwei Themen die mit Abstand wichtigsten: Arbeitsplätze und Zuwanderung. Die Arbeitsplatzsituation liegt in der langfristigen Politik des sozialen Abbaus begründet. Man fühlt sich unsicher. Die Hoffnung auf eine positive soziale Entwicklung der Gesellschaft geht weiter zurück. Die aktuelle Migrationspolitik verstärkt den negativen Blick in die Zukunft.Dies spiegelt sich wider in Berufsgruppen, aus denen sich die Wählerinnen und Wähler der Parteien zusammensetzen (siehe ZDF): So wählten die SPD 28 Prozent Arbeiter und 33 Prozent Angestellte, die CDU 16 Prozent Arbeiter 19 Prozent Angestellte und die Linke 13 Prozent Arbeiter und 14 Prozent Angestellte, die AfD 27 Prozent Arbeiter und 18 Prozent Angestellte. Die Grünen und die FDP werden von diesen Berufsgruppen am wenigsten favorisiert. Die AfD ist die Partei, die nach der SPD bei den Arbeitern und Angestellten am besten angekommen ist. Demgegenüber haben die Linken in dem Arbeitermilieu ein überraschend dünnes Standbein, obwohl ihre Politikrhetorik gerade auf diese Klientel zielt.Das Schema Links-Rechts ist an immer weniger Politikfeldern festzumachen. Obwohl laut amtlichem Wahlergebnis eine rot-rote Koalition möglich wäre, favorisieren die Sozialdemokraten wieder eine Regierungsbildung mit den Christdemokraten. Sie setzen auf das Weiterso.
Achtermann
Die AfD wird als Partei der Rechten eingeschätzt. Ihre Wähler kommen jedoch aus dem gesamten politischen Spektrum
[ "Sozialdemokratische Partei Deutschlands", "Die Heimat (Partei)", "Freie Demokratische Partei", "Christlich Demokratische Union Deutschlands", "Alternative für Deutschland" ]
Politik
2016-09-05T09:40:00+02:00
https://www.freitag.de/autoren/achtermann/wer-macht-die-afd-so-stark
Einzelhandel im Marathon-Streik: Klassenkampf in der Kaufhalle
Herzerwärmend waren die vergangenen Monate – denn es wurde so viel öffentlichkeitswirksam gestreikt wie selten. Klar, es gab auch das übliche Arbeitgeber- und Wahlkampfgetöse dagegen, aber viele Beschäftigte im ÖPNV, bei der Bahn und an den Flughäfen ließen sich nicht davon abhalten, sich gemeinsam mit ihren Kollegen für mehr Lohn, bessere Arbeitsbedingungen und auch noch Klimaschutz einzusetzen. Allerdings ist dabei untergegangen, dass in anderen Branchen auch gestreikt wird, etwa im Einzelhandel: Lang anhaltend, zäh und mit weniger medialer Beachtung.Die Branche ist für Verdi schwer zu organisierenSeit elf Monaten werden wellenartig die mithin reichsten deutschen Konzerne – darunter Kaufland, Edeka und Lidl – lahmgelegt. Die Region Hannover allein bringt es auf 803 Tage Arbeitskampf im vergangenen Jahr, berichtet der dortige Verdi-Vertreter Mizgin Ciftci – in einer chronisch unterorganisierten Branche gewinnt die Gewerkschaft so neue Mitglieder; vom 1. Mai an folgt eine Lohnerhöhung „im tarifgebundenen Einzelhandel“ von zehn Prozent. Trotzdem gibt es nach, einem Jahr Arbeitskampf noch keinen rechtssicheren Tarifabschluss, von flächendeckender Organisierung ist Verdi weit entfernt.„Mehr als zwei Drittel der Beschäftigten sind Frauen und/oder migrantische Kollegen, vor allem an den Lagerstandorten“, sagt Ciftci. „Sie arbeiten in prekären Beschäftigungsverhältnissen oder Teilzeit. Viele haben auch noch andere Jobs. Wir haben erschwerte Bedingungen, was gewerkschaftliche Arbeit angeht. Wir organisieren im absolut prekären Bereich. In manchen Lagern werden fünfzig Sprachen gesprochen.“Niedriglohn und TariffluchtDer Einzelhandel ist eine der größten Niedriglohnbranchen in Deutschland – und eine der profitreichsten: 2023, so das Handelsblatt, seien die Erlöse von Rewe um 10,4 Prozent im Vergleich zum Vorjahr gestiegen. Dieter Schwarz (zur Schwarz-Gruppe gehören Lidl und Kaufland) ist laut Forbes seit diesem Jahr nur noch zweitreichster Deutscher, aber mit den Albrecht-Brüdern (Aldi) weiter in guter Gesellschaft unter den Top Ten. Amazon scheint ihnen das Vorbild in Sachen Profitsteigerung zu sein – der Konzern gesteht nach Arbeitskämpfen Lohnerhöhungen zu, verweigert aber einen Tarifvertrag.Gewerkschafter Ciftci erklärt, wie der deutsche Einzelhandel in Sachen Tarifflucht vorgeht: „Rewe und Edeka privatisieren einzelne Märkte. Die gehören dann nicht mehr zur Kette und fallen aus den Tarifverträgen. Weniger als 30 Prozent sind überhaupt noch tarifgebunden.“ Die Konzerne täten zudem alles dafür, dass die Kunden die Streiks nicht bemerken. „Aber wir machen weiter. Wir haben uns auf einen Marathon eingestellt.“Placeholder authorbio-1
Nina Scholz
Die Gewerkschaft Verdi gibt im Arbeitskampf mit Supermarkt-Ketten wie Lidl, Aldi und Rewe nicht auf. Hierbei braucht sie allerdings einen noch längeren Atem als die Lokführer:innen zuletzt
[ "lohn", "aldi", "rewe", "kaufland", "lidl" ]
Politik
2024-04-18T14:00:00+02:00
https://www.freitag.de/autoren/nina-scholz/einzelhandel-im-marathon-streik-klassenkampf-in-der-kaufhalle
Verlosung MS Dockville Festival
Wer an der Verlosung teilnehmen möchte, schreibt bis um 14 Uhr am Dienstag, den 7. August eine eMail mit dem Betreff "Hamburg" an [email protected] schreibt auch Eure Postadresse in die Mail, damit wir die Tickets bei Bedarf sofort morgen verschicken können. Der Rechtsweg ist ausgeschlossen, wir benachrichtigen nur die Gewinner.Viel Glück wünschen Jan und Maike
Community-Redaktion
Vom 10. - 12. August findet in Hamburg das MS Dockville Festival statt. Wir verlosen 3 x 2 Tickets
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Kultur
2012-08-06T16:27:00+02:00
https://www.freitag.de/autoren/community-redaktion/ms-dockville-festival
Simbabwe Neue Dollars braucht das Land
In der Standard National Bank entlang der Sam Nujoma Street von Harare blinken die Lichter der Geldautomaten vielversprechend. Auf dem Display steht: „Bitte führen Sie Ihre Karte ein.“ Wer das tut – und nur Touristen oder unverbesserliche Optimisten versuchen es –, erhält umgehend die Nachricht: „Keine Transaktionen möglich.“Ein Jahr nach dem Machtwechsel, der Ende 2017 Langzeit-Präsident Robert Mugabe aus dem Amt und seinen politischen Ziehsohn Emmerson Mnangagwa an die Regierung brachte, dümpelt die Ökonomie Simbabwes hoffnungslos dahin. Es gibt keine Einlagen, keine Rücklagen, keine Devisen. Weder die Standard National Bank noch irgendein anderes Institut geben Bares heraus. 13 Millionen Menschen bezahlen mit einer Art Monopoly-Geld, Bonds genannt, grüne Noten auf dünnem Papier. Oder man versucht es über das Zahlsystem Ecocash oder mit Bitcoin. Zwar hat sich die Kryptowährung noch nicht bei der Mehrheit der Bevölkerung durchgesetzt, doch wer in Simbabwe Coins aus dem ersten Kryptowährungsautomaten der Welt ziehen will, hat vermutlich mehr Glück als an üblichen Bankautomaten.Die Absenz von Bargeld führt zu skurrilen Situationen. Betreiber von Hotels und Pensionen, für die ein Kreditkartensystem zu teuer ist, können ihren Gästen kein Wechselgeld zurückzahlen. Vor Banken, über die das Gerücht geht, sie würden an einem bestimmten Tag geringe Summen an Dollars ausgeben, stehen vor Sonnenaufgang lange Schlangen. Touristen werden Preisnachlässe offeriert, wenn sie Souvenirs oder Kleidung in Dollar bezahlen. Benzin wird nur an jene verkauft, die Dollars bieten, Bonds-Zahler müssen weichen. Und weil Geldtransfers ins Ausland verboten sind, aber niemand mittellos reisen kann, blüht der Schwarzmarkt, wo für einen Dollar das 1,8-Fache an Bonds fällig ist.Stets delikatSeit nunmehr einem Vierteljahrhundert befindet sich Simbabwe auf Talfahrt, und die Hoffnung, dies werde nach dem Machtwechsel ein Ende haben, ist verflogen. Neue Steuern ziehen einen Anstieg der Preise für Grundnahrungsmittel wie Brot und Reis nach sich, auch Medikamente haben sich dramatisch verteuert. Im November verdoppelte sich die Inflationsrate gegenüber den Vormonaten. Im dicht besiedelten, ärmlichen Mbare, dem ältesten Viertel Harares, in dem einst die Oppositionspartei Movement for Democratic Change (MDC) groß wurde, hört man Klagen über Not und Depression. Viele Bewohner handeln mit Waren, die sie im benachbarten Botswana einkaufen, mit Linienbussen oder Kleinlastern auf den Markt von Mbare bringen, um sie an Großhändler zu verkaufen. Ohne Dollars freilich sind diese Einkäufe nicht mehr möglich. „Ob Bob oder Ed“ (gemeint sind Mugabe und der jetzige Präsident Emmerson Dambudzo Mnangagwa – A. J.), sagen sie in Mbare, „für uns bleibt es alles gleich.“Nach UN-Angaben wird 2019 eine Million Menschen, also jeder 16. Bewohner Simbabwes, auf Lebensmittelhilfen angewiesen sein. Selbst Mitglieder der Regierungspartei ZANU-PF warnen inzwischen vor dem Totalkollaps, wenn es keinen externen Beistand gibt. Dabei hatte Staatschef Mnangagwa versprochen, seine Politik werde Milliardäre hervorbringen. Nicht aus eigenen Mitteln, sondern dank Heerscharen von Investoren, die für den Tourismus, die Landwirtschaft, Banken, Immobilien, Telekommunikation, vor allem für den Bergbau Dollars, Dollars und nochmals Dollars ins Land bringen würden. Das war auch für jene Simbabwer, die keine Anhänger der ZANU-PF sind und Mnangagwa nicht trauten, ein Grund, das Ende der Herrschaft Robert Mugabes zu feiern. Für den war alles, was aus dem Westen kam, geradezu teuflisch. Er verwehrte Investoren jeden Spielraum, enteignete weiße Farmer und gab das Land seinen Günstlingen, Sanktionen der USA und der EU führten 2008 zu einer Hyperinflation, in deren Folge die landeseigene Währung entwertet und der US-Dollar de facto zum Zahlungsmittel wurde.Mit den Jahrzehnten der Misswirtschaft hat die aktuelle Misere ebenso zu tun wie mit der Tatsache, dass die neue Regierung die internen, korruptionsgeschwängerten Strukturen kaum verändert und angekündigte Reformen nicht umgesetzt hat. Tendai Biti, Mitglied der oppositionellen MDC und Ex-Finanzminister, warnt vor Investitionen, solange es keinen Paradigmenwechsel gibt. „Wir brauchen eine inklusive statt einer räuberischen Politik. Selbst wenn Simbabwe Millionen von Dollar erhält, wird das die Probleme nicht lösen, sondern nur die Position des Regimes festigen.“Eine Warnung, die etliche Kapitalgeber in den Wind schlagen. Mnangagwas Bekenntnis zu Öffnung lässt etwa Großkonzerne aus Nigeria und Angola oder mittelständische Unternehmen aus Südafrika Morgenluft wittern. Die meisten wollen in den Bergbau einsteigen und werden wohl an chinesische Geldgeber geraten, die bereits Verträge auf Dollarbasis mit der Regierung geschlossen haben. Der Mangel an Kapital, Expertise und Technik hat es bislang verhindert, dass Simbabwes Minen so ausgebeutet wurden, wie das möglich schien. Umso größer sind nun die Gewinnerwartungen bei Diamanten, Gold, Kupfer oder Chrom.Einer der Investoren ist Marius K., Unternehmer aus Johannesburg, der anonym bleiben will, damit die Konkurrenz ihm „keine Pfründe wegschnappt“. Die Vertragsverhandlungen mit der Regierung seien stets delikat, und der Zuschlag würde immer an jene gehen, die am meisten Geld böten. K. will in eine Chrommine investieren, eine Schule und ein Hospital bauen – und eine der wenigen, heiß umkämpften Lizenzen bekommen, die demnächst für den Anbau von Cannabis vergeben werden. Zu rein medizinischen Zwecken sei dieser Anbau, heißt es, viel Geld ist damit dennoch zu verdienen. K. glaubt, die Nase bei den Lizenzen vorn zu haben. Er war schon unter Mugabe „in diesem und jenem Projekt“ unternehmerisch tätig und pflegt gute Kontakte zur Regierung.Vor allem NashörnerEuropäische Investoren – lange die Ausnahme in Simbabwe – wollen besonders von Mnangagwas neuer Landvergabepolitik profitieren. Er bietet jedem Weißen, der nach Simbabwe kommt, um sich als Farmer niederzulassen oder mit einem eigenen Wildpark ins Safari-Geschäft einzusteigen, einen Pachtvertrag für 99 Jahre. Erst vor einigen Monaten hat der Geschäftsführer eines Nürnberger IT-Unternehmens im Nordwesten von Simbabwe 75.000 Hektar Land geleast, um Wildtiere anzusiedeln, vor allem Nashörner, die er von eigenen Rangern schützen lässt. Ein Österreicher baut in der Nähe von Harare erfolgreich Tabak an – solche Geschichten werden unter Simbabwes Oberschicht herumgereicht wie ein schillerndes Mantra. Es geht voran, so lautet die Botschaft.Für all jene, die ohne Tuchfühlung mit den Geldtöpfen sind, wird es indes noch lange nicht aufwärtsgehen. Die Jugend wirkt desillusioniert, sie hätte sich die Macht in den Händen von Nelson Chamisa gewünscht, Mnangagwas Herausforderer von der MDC, doch ist die Partei seit Jahren derart zerstritten, dass viele nicht mehr an einen Neuanfang glauben.Dass Mnangagwas Hoffnungen auf Investorenscharen sich kaum erfüllen dürften, liegt nicht nur an der Instabilität des Landes, auch am Ruf des Präsidenten. Der Ex-Geheimdienstchef und Ex-Verteidigungsminister hat ranghohe Soldaten, die seinen Aufstieg eskortierten, mit Regierungsposten belohnt. Armeechef Constantino Chiwenga beispielsweise, der für Mugabes Sturz verantwortlich zeichnete, wurde zum Vizepräsidenten ernannt, General Sibusiso Moyo, der Mugabe verhaftete, zum Außenminister. Was absolut nichts daran ändert, dass auf Mnangagwa selbst die Vergangenheit wie ein Schatten liegt. Er hatte in den 1980er Jahren – als Staatsminister für Sicherheit – ein Massaker im Matabeleland, einer Region im Westen, zu verantworten. Der brutale Mord an schätzungsweise 15.000 Menschen ging als gukurahundi ins kollektive Bewusstsein des Volkes der Ndebele ein. Ein Wort, das so viel bedeutet wie „Früher Regen wäscht die Spreu vom Weizen“. Eine Wiedergutmachung für die Hinterbliebenen der Opfer lehnt Mnangagwa bis heute ab. Perence Shiri, einer der an dem Verbrechen Beteiligten, wurde erst jüngst zum Agrarminister ernannt.
Andrea Jeska
Ein Jahr nach dem Sturz von Robert Mugabe geht das Bargeld aus. Die Regierung ruft nach der Hilfe des Westens
[ "ausland", "usa" ]
Politik
2018-12-17T06:00:00+01:00
https://www.freitag.de/autoren/andrea-jeska/neue-dollars-braucht-das-land
Bedürfnis und Bedarf Auf der Suche nach dem anderen Leben (4)
Anfangen mit (1)Kann man eine Lebensweise unterteilen? Ja, denn sie setzt sich aus „Lebenszyklen“ zusammen. Das Konzept der alltäglichen Lebenszyklen wurde von einer Münchener Forschergruppe entwickelt (Gerd-Günter Voß, Karin Jurcyk und Maria S. Rerrich, „Flexibilisierte Arbeitsverhältnisse und die Organisation der individuellen Lebensführung“), ich greife es in der Form auf, wie Klaus Holzkamp, der Begründer der Kritischen Psychologie, der mein Doktorvater war, es am Ende seines Lebens weitergedacht hat. Lebenszyklen sind die täglich, mehrmonatlich, jährlich oder über Jahre verstreut sich wiederholenden, dabei in Vielem oder ganz und gar sich gleich bleibenden Vorgänge unseres Alltags: Wir stehen auf, waschen uns und frühstücken; wir fahren zur Arbeit; wir verbringen unsern „Feierabend“. Das Einkaufen, das Besuchen oder Empfangen von Freunden, der Kino- oder Konzertbesuch oder die Teilnahme am „Event“ sind weitere Zyklen. Dann der Urlaub. Ich will hier keine vollständige Zyklenliste erstellen, es zu tun wäre aber sinnvoll, denn wir hätten dann ein ziemlich genaues Abbild dessen, was in einem Lebensabschnitt konkret durchlaufen wird. Holzkamp ging es darum, dass man seine Zyklen mit anderen abstimmen muss, er zum Beispiel das Frühstück mit der Ehefrau. Lebenszyklen haben daher, wie er sagt, den Charakter von Arrangements und das ganze Leben stellt sich so gesehen als „Arrangement von Arrangements“ dar. Für Ökologie hat er sich meines Wissens nicht so interessiert, wenn wir das aber tun, springt uns die ökologische Brauchbarkeit des Zyklenbegriffs ins Auge.Es sind nämlich erstens immer ganz bestimmte Warengruppen einem Zyklus zugeordnet, dem Frühstück zum Beispiel ein Tisch, Stühle oder Bank, eine bestimmte Art von Getränken und Nahrungsmitteln und vielleicht die Begleitung durch ein Informationsmedium. Hätten wir die vollständige Zyklenliste, könnten wir ihr eine ebenso vollständige Liste der typisch wiederkehrenden Warengruppen pro Zyklus hinzufügen. Zweitens läuft das Frühstück nicht nur auf den Bedarf an solchen Waren hinaus, sondern hat auch die entgegengesetzte Seite, dass es eine Funktion in einer Lebensweise erfüllt, also dem Aufgabenbewusstsein des frühstückenden Menschen, der seinem Tag entgegensieht, nahe ist, die Kommunikationsfähigkeit bewährt und auch zu den Sicherheitsstützpunkten gehört. Überhaupt geben Zyklen durch ihr pures Vorhandensein ein Stück Sicherheit. Drittens, wir sprechen von Warengruppen und die sind nicht nur der Art und Ausführung nach, sondern auch der Menge nach von ökologischer Relevanz. Eine Gesellschaft, die über ihre Lebensweise selbst bestimmen könnte, Individuum für Individuum, würde sich ja in regelmäßigen Abständen, und die Abstände wären anfangs nicht groß, nach Möglichkeiten der Reduktion des Produktumfangs fragen, soweit er den Umfang der Schadstoffemission bedingt, und würde sie, die jeweilige Reduktion, den Produzenten bindend vorschreiben; man muss dann aber angeben, wie gewöhnliche Individuen das operationalisieren können; die Antwort ist, sie können ihre Lebenszyklen befragen, denn die sind ihnen vertraut.Was kann ich, von meiner Aufgabe, Kommunikation und Sicherheit her gedacht, an den Gütern verändern, vielleicht auch einsparen, die zu dem und jenem Zyklus gehören? Zum Beispiel indem ich sie nicht so oft auswechsle? Damit keine Missverständnisse entstehen, will ich gleich hier wiederholen, was Bernd Ulrich gerade in der Zeit schrieb: Vom Einsparen kann man selbstredend nur mit denen sprechen, „die genug haben, um überhaupt verzichten zu können“. Vom Verändern aber, wozu ich unten noch etwas sage, mit allen. Zusammengenommen kämen andere Konsumgewohnheiten heraus, alle Individuen könnten das je für sich angeben, man würde es zusammenzählen und hätte Grenzen, neue Grenzen der gesellschaftlichen Nachfrage sichtbar gemacht. Es wäre eine Art Wahl, eine ökonomische Wahl um der Ökologie willen. Die Frage des Wahlverfahrens kann hier natürlich nicht nebenbei mitbehandelt werden. Jedenfalls wäre eine Gesellschaftsverfassung wünschenswert, die derart ökonomisch von den „gesellschaftlichen Individuen“ (Marx) beherrscht würde, statt dass das Kapital herrscht – es wäre keine kapitalistische Gesellschaft mehr. Schon im Kampf für ihre Herbeiführung könnte so gewählt werden, denn das Grundgesetz schreibt nicht vor, dass nur der Staat Wahlen abhalten darf. In Form der Teilnahme an Umfragen wählen wir heute schon immerzu, wir könnten das als Kampfmittel einsetzen, indem wir die Umfragen in Wahllokalen eigener Art abhielten und auch die Verkündung der Ergebnisse mehr zelebrieren, der gesellschaftliche Wille würde dann sichtbarer.Die Rolle der SchönheitGanz unabhängig von allen hier aufgeworfenen Fragen muss man auch über die Gerechtigkeit der Einkommensverteilung nachdenken. Es wäre aber nicht sinnvoll, die Reihenfolge zu erwägen, dass erst die Vermögensverhältnisse umgestaltet werden und wir dann ökologisch zu handeln beginnen. Wir werden vielmehr für beides gleichzeitig kämpfen. Hier spreche ich vom ökologischen Kampf für sich genommen und das heißt, ich muss ihn schichtspezifisch durchdenken. Da ich auch in dieser Hinsicht nur eine erste Überlegung anstellen kann, will ich mich auf die Frage beschränken, wie einerseits Schlechter- oder gar nicht Verdienende, andererseits Besserverdienende an ihren Lebenszyklen etwas verändern könnten. Dabei ist es hilfreich, dass die Zyklen als solche in beiden Schichten dieselben sind und auch die Struktur der Bedürfnisse - Aufgabe, Kommunikation, Sicherheit - die gleiche ist.Als Beispiel möge der Wohnbereich dienen, in dem man sich täglich nach der Arbeit erholt, Informations- und Unterhaltungsmedien nutzt und in dem man in größeren Abständen Gäste empfängt oder einen „Salon“ abhält. Es wird sich um mehrere Räume oder ein einziges „Wohnzimmer“ handeln. Die Güter zur Ausstattung werden naturgemäß überall ähnlich sein, weil sie die immer gleiche Funktion zu erfüllen haben, doch das Material, die ästhetische Gestaltung und als Resultante der Preis werden verschieden sein. So saß ich in meiner Jugend auf Sofagarnituren (Couchgarnituren, Polstergarnituren), die man sich auch in der unteren Schicht, zu der ich gehörte, leisten konnte, und bemerkte, dass sich bei billiger Ausführung der Stoffbezug nicht gut anfühlte, während anderswo die Sessel extrem breit waren und ganz aus schwarzem Leder zu bestehen schienen; ich sah, dass beide Ausführungen hässlich waren. Die Ähnlichkeit überwog bis dahin, dass auch auf Leder zu sitzen kein Vergnügen ist, besonders bei Hitze, die doch jährlich wiederkehrt. Das Statussignal der erheblich teureren Ausführung war lächerlich. Überhaupt war an die Stelle von Geschmack dieses Signal getreten. Andererseits sah ich im Lauf der Jahre kleine Wohnungen mit billigsten Möbeln und anderen Raumstrukturierungselementen, Plakaten etwa, deren Einrichtung ästhetisch so gelungen war, dass man sich gut und frei fühlte. Möbel können auch selbstgebastelt sein, so haben wir als Studenten Kisten übereinandergestellt, um wunderbare Bücherregale zu formen, und ich erinnere mich auch an einen wohlhabenden Mann, der seine Schränke und kleinen Tische selbst herstellte, weil das sein Hobby war, dabei auf den Schrankwänden Verzierungen, auf den Tischplatten ins Holz kopierte Gemälde der großen Meister unterbrachte - man glaubte in einem Schloss zu sein, wenn man seinen Salon betrat. Er hätte stattdessen viel Geld ausgeben können, das tat er nicht, das Ergebnis wäre mäßig gewesen. Ist es nicht so, dass an den Gütern, neben der Funktionalität, die auch bei teuerster Ausführung nicht immer gewährleistet ist, die ästhetische Seite das Wichtige ist?Beides könnte den Schlechterverdienenden genauso oder noch besser zur Verfügung stehen wie den Reicheren, ohne dass sie mehr Geld ausgeben müssten. Es hängt vom Verhalten der Künstler und Designer ab. Wer ästhetisch begabt ist, braucht sie nicht, aber nicht alle sind es, zumal Anstöße dazu gehören oder eine Ausbildung, der die Schule nicht immer genügt. Doch Designer könnten einspringen. Die meisten im Design Ausgebildeten arbeiten fürs Kapital, können gar nicht anders in dieser Gesellschaft, machen also Werbeplakaten, geben auch schlechten Waren eine ansprechende Oberfläche; doch wäre es auch möglich, dass sich welche auf die Seite der Schlechterverdienenden stellen. Jener Arzt aus Peter Weiss‘ Ästhetik des Widerstands hat Arbeitern die Kunst nahegebracht. Überhaupt war das in jeder revolutionären Tradition üblich, so wandte sich auch Luigi Nono, als Komponist serieller Musik, in Italien an Arbeiter und Arbeiterinnen. Man denke andererseits ans Bauhaus, ich meine nicht die Kaufhauskette, sondern das aus Weimar, dann Dessau. Die unter diesem Namen zusammenarbeitenden Künstler stellten Dinge her, die sich nur Reiche leisten konnten, für unser Thema sind sie aber ergiebiger als Weiss oder Nono, weil sie Gegenstände der Wohneinrichtung herstellten, mit ganz neuer Ästhetik, und das als frei arbeitende Gruppe. Die Unternehmer griffen erst später auf ihre Vorschläge zurück. Man kann sich doch auch ein Bauhaus an der Seite von Schlechterverdienenden vorstellen.Wenn wir das Thema Ökologie von der Lebensweise her angehen, statt von besonderen, vielleicht besonders schädlichen Gewohnheiten und Gütern, kommen wir auf solche Gedanken. Eine Lebensweise, die zufrieden macht, wünscht jede(r). Man wird sie eher erreichen, wenn man eine Aufgabe hat, zu der man stehen kann, und ein paar wichtigste Bedürfnisse befriedigen kann, zu denen der ästhetische Genuss gehört. Die Aufgabe, zur Wiederherstellung der ökologischen Gleichgewichte beizutragen, kann sich jede(r) stellen. Vielleicht erlaubt es der Arbeitsplatz nicht, aber dann gibt es Möglichkeiten außerhalb der Arbeitswelt, die auf diese zurückwirken. Jedenfalls wenn die Individuen nicht isoliert bleiben, sondern eine gesellschaftliche Bewegung entsteht, in der zum Beispiel auch Künstlerinnen mittun, ist es so. In ihrer ästhetischen Perspektive würde die Dummheit der Materialverschwendung deutlich hervortreten. Das wäre auch ein Angriff auf den Konsum der Besserverdienenden, die den größeren ökologischen Schaden anrichten, ein doppelter Angriff sogar. Positiv ginge es um die bessere Kunst, negativ um das weniger schädliche Leben. Nun wissen wir und haben es schon gesagt, die Reicheren wollen auch ihren Status signalisieren. Mögen sie also zeigen, dass ihre Gebrauchsgüter viel gekostet haben, aber man wird sie angreifen, wenn sie ihr Geld, um es loszuwerden, nicht in die ökologische Ausführung gesteckt haben. Es versteht sich übrigens von selbst, dass ich sie hier nicht über einen Kamm scheren will, denn ich weiß nicht, wie viele jetzt schon ein ökologisches Bewusstsein haben und danach handeln.Ein GedichtUnser Thema ist nicht erschöpft, mindestens zum typischen Lebensgebiet - Stadt oder Landkreis -, das Arbeit, Wohnen, Kaufen und Erholung ins Verhältnis setzt, wobei diese sich in Naherholung und Touristik unterteilt, wäre noch manches zu sagen. Über die Zweckmäßigkeit der Verortung, der Wege, der Mobilität, der daraus resultierenden Schönheit oder Hässlichkeit. Ich bin darauf aber nicht genügend vorbereitet und möchte hier abbrechen. Mit einem Gedicht aus Klaus Holzkamps Nachlass will ich schließen. Er war ein arbeitswütiger, auch künstlerisch interessierter Mann. Der Pianist Friedrich Gulda zählte zu seinen Freunden; wenn er mal in Berlin war, besuchte er den Psychologieprofessor und die beiden erfreuten sich an gemeinsamen Jazzsessions. Als Hochschullehrer tagsüber mit Lehre und Verwaltung beschäftigt, stand Holzkamp jeden Morgen vier Uhr dreißig auf, um einige Stunden ungestört an seinen Büchern arbeiten zu können. Das ist wieder recht hochgegriffen, kein Beispiel, das jedermann nachleben kann. Ich führe es aber an, weil Holzkamp in jenem Gedicht ganz nebenbei und doch auch ganz zentral auf den Konsum zu sprechen kommt. Das Gedicht besteht fast nur aus Konsum:„Ob ich wohl sicher sein kann, / dass ich, / wenn ich nachher wiederkomme, / diesen Stuhl noch vorfinde; / ja, ob das Haus dann noch steht, / und der Treppenflur, / um in ihn hineinzurufen? // Ob ich wohl damit rechnen kann, / dass ich, / wenn ich umgekehrt bin, / unsere Straßenecke noch wiederfinde, / und das Schild mit unserer Hausnummer, / und ihr Fenster schräg darüber? // Oder ob es besser ist, wenn ich hierbleibe, / mich nicht von der Stelle rühre, / und dies alles / unaufhörlich bewache?“Holzkamp verdiente natürlich gut. Das Haus, von dem er spricht, bewohnte er zusammen mit seiner Frau, der wissenschaftlichen Mitarbeiterin Ute Holzkamp-Osterkamp, die ebenso heftig arbeitete wie er und zwei Bücher über Motivation zur Kritischen Psychologie beisteuerte. In dem Gedicht ist aber alles auf die sehr nebensächliche Funktion reduziert, die von den Gebrauchsgütern erfüllt wird. Schild, Stuhl, Treppenflur. Muss der Treppenflur teuer ausgeführt sein, „um in ihn hineinzurufen“? Schwerlich. Die kleinen Dinge dürfen nicht fehlen, das ist alles. Mehr braucht man nicht, wenn man liebt („ihr Fenster schräg darüber“) und eine Aufgabe hat. Auf die Frage, ob er und seine Frau ein ganzes Haus brauchen, hätte Holzkamp, wie ich glaube, sich eingelassen. Viele Bücher waren unterzubringen, aber man kann sich ein von mehreren Wohnparteien bewohntes Haus vorstellen, wo ein großer gemeinsamer Bücherraum, vielleicht eine der Wohnungen, von allen genutzt wird. Die Wohnparteien würden dadurch noch nicht zum Kollektiv. Der Stuhl und das Schild geben Sicherheit, aber es wäre doch lächerlich, das Verhältnis umzukehren, so dass ich ihnen Sicherheit gebe statt sie mir. So verhält es sich aber, wenn ich mein Leben danach einrichte, im Konsumismus schwelgen zu können.Zurück zu (2) * zurück zu (3) * weiter mit (5)
Michael Jäger
„Der Treppenflur, um in ihn hineinzurufen“: Dieser Eintrag beginnt mit Klaus Holzkamp, dem Begründer der Kritischen Psychologie, und hört mit ihm auch auf
[ "Luigi Nono", "Klaus Holzkamp" ]
Wirtschaft
2020-06-05T06:59:00+02:00
https://www.freitag.de//autoren/michael-jaeger/auf-der-suche-nach-dem-anderen-leben-4
Syrien Assad vor dem "Spiegel"-Tribunal
Der Spiegel hat mit dem syrischen Präsidenten Bashar al-Assad Klartext geredet und ihm erklärt, was er tun müsste, um das Wohlwollen des Westens zurückzuerlangen. Diese politische Lektion, als Interview getarnt, veröffentlichte das angeblich investigative Nachrichtenmagazin in seiner Ausgabe vom 7. Oktober (Heft 41/2013). Es ließe sich ja die Frage stellen, ob der Spiegel eventuell auf das reingefallen ist, was die Online-Ausgabe des Magazins am 5. September unter dem Titel „Assads Lügen-Offensive“ so beschrieb: „In einer bisher noch nicht dagewesenen Propaganda-Anstrengung schickt das syrische Regime derzeit seine besten internationalen Botschafter an die Medienfront. Sie sollen Zweifel säen und die Angriffe doch noch einmal abwenden.“ Und dann muss die Redaktion auch noch melden, dass Assads Presseverantwortliche den Text des Gespräches „ohne jede Änderung freigegeben“ haben. Aber wahrscheinlich um solche Vermutungen auszuräumen, wurde gleich zu Beginn des Textes klargestellt, wie Assad zu sehen ist: Als „Feind Europas und Amerikas“, der für Massaker und vom Giftgas getötete Kinder verantwortlich ist.Die beiden Spiegel-Redakteure Klaus Brinkbäumer und Dieter Bednarz, die in Damaskus mit dem syrischen Präsidenten sprachen, klärten diesen nicht nur darüber auf, dass er zurücktreten müsste, „wären Sie ein aufrichtiger Patriot“, und dass es in Syrien „eine starke Opposition gegen Sie gibt“. Sie konnten sich auch das Lachen nicht verkneifen, als Assad ihnen sagte, „wir haben nie behauptet, keine Chemiewaffen zu haben“. Sie zeigten dem Präsidenten, den sie nicht anerkennen („Die Legitimation Ihrer Präsidentschaft bestreiten nicht nur wir.“), dass sie mehr wissen und behaupteten nicht nur trotz aller gegenteiligen Beweise, das Massaker von Hula vom Mai 2012 sei auf das Konto regimenaher Milizen gegangen. Sie stellten auch klar, dass der Giftgaseinsatz am 21. August bei Damaskus nur von der syrischen Regierungsseite zu verantworten sein kann. Denn: „Präsident Obama hat nach der Untersuchung dieses Verbrechens durch die Vereinten Nationen ‚keinen Zweifel‘, dass Ihr Regime am 21. August eingesetzt hat, wobei mehr als tausend Menschen getötet wurden.“ Zweifel kennen die Spiegel-Reporter anscheinend nicht und so argumentierten sie immer wieder in diese Richtung und beriefen sich auf die „Schlussfolgerungen der Uno-Inspekteure“ und von westlichen Nachrichtendiensten angeblich abgefangene Funksprüche von syrischen Offizieren. Assads Reaktion darauf: „Das ist eine komplette Fälschung. Ich möchte dieses Gespräch nicht auf Grundlage solcher Anschuldigungen führen.“Er setzte es aber fort und erklärte den Journalisten, die entgegen der Meldungen dazu selbst eine mögliche deutsche Vermittlerrolle zuerst ins Gespräch brachten, dass er sich über Gesandte aus Deutschland freuen würden, wenn sie kämen, „um mit uns über die wahren Verhältnisse zu sprechen“. Darauf hat Außenminister Guido Westerwelle aber keine Lust, wie er gegenüber Spiegel online am 6. September erklärte. Ich hatte mich schon über Assads Optimismus bezüglich der deutschen Rolle gewundert, ist doch die Bundesregierung längst eifrig mit dabei, die syrische Beute nach dem angestrebten Sturz Assads aufzuteilen. Dafür zeigten ihm die beiden Magazin-Vertreter gegen Ende des Gespräches noch einmal, in wessen Auftrag sie unterwegs sind und in wessen Namen sie sprechen: „Für die Weltgemeinschaft tragen Sie die Schuld an der Eskalation dieses Konflikts, dessen Ende nicht abzusehen ist. Wie leben Sie mit dieser Schuld?“ Gegen solch schwere Propagandageschütze musste Assads Verteidigung schwach aussehen: „Es geht nicht um mich. Es geht um Syrien. Die Lage in meinem Land bedrückt mich. Darum sorge ich mich, nicht um mich.“Natürlich müssen solche Journalisten, die im Auftrag der Weltgemeinschaft unterwegs sind, bei ihren medialen Tribunalen übersehen, was in der Online-Ausgabe ihres eigenen Mediums im Juli 2012 schon zu lesen war: „Wie der Westen in Syrien heimlich Krieg führt“. „Markus Kaim, Experte für Sicherheitspolitik bei der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin, sagt: ‚Man kann inzwischen von einem militärischen Engagement sprechen.‘“ Im gleichen Monat meldete Spiegel online, gestützt auf britische Medienberichte, dass die „Rebellen“ in Syrien „offenbar massive Hilfe aus dem Ausland“ erhielten und auch von früheren Mitglieder der britischen Spezialeinheit SAS ausgebildet wurden. Aber der Spiegel war nicht der Erste, der auf die westliche Einmischung in Syrien aufmerksam machte. So hatte Joachim Guilliard schon im März 2012 nachgewiesen: „Nato-Staaten sind längst militärisch in Syrien aktiv“. Wenn schon die eigenen Texte ignoriert werden, dann geschieht das natürlich auch, wenn woanders Ähnliches zu lesen ist. So scheinen Brinkbäumer und Bednarz beim Vorbereiten auf das Gespräch mit Assad ebenfalls nicht gelesen zu haben, was am 2. August in der Online-Ausgabe der FAZ stand: „Der Westen ist schuldig“. Was ist denn schon ein Rechtswissenschaftler im Vergleich zu zwei Redakteuren vom Spiegel, die sich mutig dem „Feind Europas und Amerikas“ gegenübersetzen? Dieser Rechtstheoretiker Reinhard Merkel kann wahrscheinlich aus ihrer Sicht nur Assads Lügenoffensive quasi vorab auf den Leim gegangen sein, als er schrieb: „Der Westen, wenn diese etwas voluminöse Bezeichnung gestattet ist, hat in Syrien schwere Schuld auf sich geladen - nicht, wie oft gesagt wird, weil er mit seiner Unterstützung des Widerstands gegen eine tyrannische Herrschaft zu zögerlich gewesen wäre, sondern im Gegenteil: weil er die illegitime Wandlung dieses Widerstands zu einem mörderischen Bürgerkrieg ermöglicht, gefördert, betrieben hat.“„Eine Lüge bleibt eine Lüge“, erklärte der syrische Präsident den beiden deutschen Journalisten, „wie immer Sie sie drehen und wenden.“ Die Spiegel-Redakteure ließen sich von ihm aber nicht aus ihrem Konzept bringen, auch wenn er „ruhig, leise, druckreif“ auf sie einredete, mit nach innen gedrehten Füßen und gegeneinander gepressten Knien. Auf solche Details haben sie dabei geachtet, denn auch diese sind wichtig für ein investigatives Magazin beim Aufdecken der Wahrheit. Dass im selben Spiegel-Heft 40 Seiten später ein Interview mit dem Historiker Volker Ullrich über Adolf Hitler unter der Überschrift "Er konnte sehr liebenswürdig sein" zu lesen ist, ist sicher nur publizistischer Zufall, paßt aber irgendwie.PS: Was die beiden Spiegel-Richter so alles ausließen, zeigen auch neue Berichte zum Giftgaseinsatz am 21. August, die belegen, warum Zweifel an der angeblichen Schuld Assads weiter angebracht sind. Uli Cremer schrieb am 3. Oktober in einem Beitrag auf der Website der Zeitschrift Sozialismus: "Sechs Wochen nach dem Giftgasangriff vom 21.8.2013 ist dieser alles Andere als aufgeklärt." Es sei "politisch kurzsichtig, dass sich die meisten politischen (Mainstream-)Akteure in Deutschland in Ignoranz der Faktenlage bereits mehr oder weniger auf das Assad-Regime als Täter festgelegt haben."Am 4. Oktober stellte Oksana Boyko vom Sender Russia TV fest: "Glaubwürdigkeit des UNO-Berichts über den Giftgasangriff in Ghouta durch Widersprüche bei den Proben in Frage gestellt". Das erläuterte die Journalistin näher: "Die Inspekteure waren an verschiedenen Orten im Gebiet Ghouta, wo diese schrecklichen Videos entstanden von toten Kindern und Leichen. An einem Ort blieben sie zirka 2 Stunden, an einem anderen zirka 5 Stunden.Sie sammelten Proben, Umweltproben, Stoffe, Textilien etc. Sie befragten Überlebende und nahmen von ihnen Blutproben.Das größte Problem dabei: In keiner einzigen Umweltprobe aus West-Ghouta wurde Sarin nachgewiesen, aber eigenartigerweise in allen Überlebenden!"Interessant ist auch, was Jürgen Todenhöfer im Interview mit der jungen Welt, veröffentlicht am 5. Oktober, über den laut Spiegel-Urteil "Feind Europas und Amerikas" Assad sagte: "Assad wird seine Beziehungen zum Iran und zu Rußland nicht aufgeben, aber er sieht sich nicht als einen Feind des Westens. Die USA sehen Gespenster im Mittleren Osten. Für sie sind diese Regierungen ihre Todfeinde. Ich stoße in Gesprächen mit westlichen Politikern immer wieder auf eine totale Ignoranz. Die Amerikaner haben eine Neigung, Politik sehr persönlich zu verstehen." Todenhöfer ergänzte: "Dabei will Assad mit den USA über alle relevanten Fragen verhandeln. Ich habe den Amerikanern sein Gesprächsangebot übermittelt. Bevor ich mich mit ihm traf, hatte ich die Bundesregierung und die Amerikaner informiert. ... Aber Assad hat sich während des Irakkriegs nicht als hilfreich erwiesen und wird seitdem zur 'Achse des Bösen' gezählt, die in Wirklichkeit eine Achse der Unfolgsamen ist. Jeder, der sich den Amerikanern in dieser rohstoffstrategisch wichtigen Region nicht unterwirft, wird dieser Achse zugerechnet und dämonisiert. Am Ende kann man nicht mehr mit ihnen sprechen. Dann heißt es: Schlächter, Massenmörder." Das Interview des deutschen Nachrichtenmagazins mit dem syrischen Präsidenten klingt ganz so, als würden die schreibenden Moralrichter ja nicht unfolgsam wirken wollen, wenn in Washington mitgelesen wird.
Hans Springstein
Ein deutsches Nachrichtenmagazin hat ein Interview mit dem syrischen Präsidenten geführt. Dabei kam nichts Neues, aber manch Erhellendes heraus
[ "Baschar al-Assad", "medien", "Hafiz al-Assad", "ausland", "Jürgen Todenhöfer" ]
Politik
2013-10-07T17:32:00+02:00
https://www.freitag.de/autoren/hans-springstein/assad-vor-dem-spiegel-tribunal
Nach Winnenden Waffenlobby gegen Amokopfer
Härteste Konsequenzen sind ihm schon angedroht worden, wenn er nicht aufhöre, gegen Waffenhersteller und Sportschützen vorzugehen. Aber Hardy Schober ist das inzwischen gewohnt. Fast jeden Tag erhält er E-Mails, mit denen Waffenfreunde ihn unter Druck setzen wollen. Im März vergangenen Jahres hatte Schober seine Tochter verloren. Sie war eines der Opfer des 17-jährigen Tim K., der mit einer großkalibrigen Militärpistole an einer Realschule in Winnenden ein Massaker anrichtete.Mit anderen betroffenen Eltern hat Schober das Aktionsbündnis Amoklauf Winnenden gegründet. Und er legt sich seither mit der Waffenlobby an. Am Freitag hat das Aktionsbündnis gemeinsam mit der Initiative Keine Mordwaffen als Sportwaffen über hunderttausend Unterschriften an Bundestags-Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt übergeben – endlich solle eine Verschärfung des Waffenrechts erreicht werden.Das zähe Ringen zwischen Menschen, die aus der Nähe erlebt haben, welches Grauen mit modernen Schießwerkzeugen ausgelöst werden kann, und einer ebenso aggressiven wie einflussreichen Waffenlobby geht damit in die nächste Runde.Nach dem Schulamoklauf in Erfurt, der 2002 von einem Mitglied eines Schützenvereins ausgeübt wurde, war das Waffenrecht zunächst verschärft worden. Sofort setzten jedoch Bemühungen der Lobby ein, diese Änderungen wieder rückgängig zu machen – politisch vertreten hauptsächlich durch die FDP. Aber auch der Bundespräsidentschaftskandidat der CDU bescheinigte noch 2007 den Sportschützen, sie gingen äußerst verantwortlich mit ihren Waffen um. Christian Wulff forderte gar eine Lockerung der Bestimmungen.Fehlendes PersonalNach Winnenden kam es zu einer Verschärfung der Regeln. Doch die wird als absolut untauglich betrachtet. Vorgeschriebene „verdachtsunabhängige Kontrollen“, bei denen geprüft werden soll, ob Waffen ordnungsgemäß aufbewahrt werden, sind mangels Personal schlicht nicht durchführbar. Einige Kommunen verzichten sogar von vornherein darauf.Dabei ist die Gefährlichkeit des Waffenbesitzes von Sportschützen leicht nachweisbar. Seit 1994 töteten Mitglieder von Schützenvereinen 63 Menschen. Und wozu benötigen Sportschützen großkalibrige und schnell feuernde Gewehre oder Pistolen? Mit ihnen wurde der Winnender Amokläufer Tim K. auf Treffgenauigkeit trainiert. Zielgenau brachte er später Schüler und Lehrer ums Leben – vorwiegend durch Kopfschüsse mit einer Beretta 92-Pistole. Deren Projektile haben eine Reichweite von zwei Kilometern und durchschlagen Ziegelwände, oder, wie man es etwa im Waffensachkundebuch nachlesen kann, Autotüren und Felgen.Dafür, dass Schützenverbände Schießwerkzeuge solchen Formats benutzen, gebe es keinerlei rationale Begründung, meint Schober. Um auf Zielscheiben in Sichtweite zu schießen, benötige man schließlich kein kriegstaugliches Gerät. Außerdem ist der frühere Finanzberater davon überzeugt, dass viele der Schützen neben ihren legal zugelassenen Waffen auch noch über unangemeldetes Schießgerät verfügen. Es wäre kein Wunder: Der Sprecher des Forums Waffenrecht, Joachim Streitberger, nimmt an, dass hierzulande 20 bis 40 Millionen illegale Waffen im Umlauf sind.Millionen illegale KnarrenZur Verteidigung ihrer Interessen argumentieren die Waffenfreunde: Wer dazu entschlossen sei könne mit jedem beliebigen Werkzeug Menschen töten, zum Beispiel mit einer Axt. Der mit einem Beil, Messern und selbst gebastelten Molotowcocktails ausgerüstete Schulamokläufer von Ansbach, war im vergangenen Jahr jedoch lediglich in der Lage, Personen mehr oder weniger schwer zu verletzen. An einer Germeringer Schule scheiterte vor wenigen Tagen ein versuchter Sprengstoffanschlag eines Schülers, weil der mit den Chemikalien nicht klar kam und rechtzeitig gefasst werden konnte. Beide hatten keine Schusswaffen.Die Behauptung, Schulamokläufer würden sich nötigenfalls Waffen auf den illegalen Märkten besorgen, verfängt ebenfalls nicht. „Die Analyse der Amoktaten zeigt deutlich, dass fast alle bei den Taten verwendeten Schusswaffen aus den Täterhaushalten stammen“, sagt die Gießener Kriminologin Jutta Bannenberg. In der Politik ist das aber immer noch nicht angekommen. Man werde das Waffenrecht bis Ende 2011 auf den Prüfstand stellen, heißt es im schwarz-gelben Koalitionsvertrag – um „unzumutbare Belastungen für die Waffenbesitzer“ abzumildern.
Hans-Peter Waldrich
Mehr als 100 000 Unterschriften übergeben: Betroffene fordern eine Verschärfung der Gesetze, doch die Politik ­zögert, gegen das tödliche Hobby der Schützen vorzugehen
[]
Politik
2010-06-18T12:55:00+02:00
https://www.freitag.de/autoren/hans-peter-waldrich/waffenlobby-gegen-amokopfer
Metadebatte Singulär oder nicht singulär?
Der Rostocker Althistoriker Egon Flaig hat jüngst in einem für die FAZ stark gekürzten wissenschaftlichen Aufsatz scharf mit Jürgen Habermas abgerechnet. Dieser hätte, so der Kern des Arguments, im Historikerstreit mit Ernst Nolte von 1986 die Mindeststandards wissenschaftlichen Argumentierens aus politischen Gründen beiseite gelassen. Dies komme, so Flaig, einem Bruch nicht nur mit den Prinzipien der Wissenschaft gleich, sondern mit dem philosophischen Erbe der Griechen und damit mit den Fundamenten der europäischen Zivilisation.Für den Berliner Historiker Wolfgang Wippermann, Schüler Ernst Noltes wie einer seiner größten Kritiker, ist es nur Quark mit Soße, wenn Flaig die „Vergangenheit der Deutschen als Teil der europäischen Kultur“ rekonstruieren und dabei „mindestens zur griechischen Klassik“ vorstoßen will. Dazu fällt Wippermann nur die spöttische Frage ein: „Wie bitte?“ Wippermann hält Flaigs These daher auch für „gescheitert“. Und warum? Ja, „weil ‚Schoah‘ und ‚athenische Demokratie‘ auch nichts miteinander gemein haben, und das eine nicht durch das andere erklärt oder gar entschuldet werden kann“. Nur: Hatte Flaig dieses Beispiel nicht eben genau deshalb ausgewählt – als ein bonum gegen das malum exemplum?Ein vorurteilsfreier Blick in Flaigs Text hilft aufzuklären, worum es ihm eigentlich geht: Nicht so sehr um die Kernfrage des Historikerstreits, nämlich die Singularität von Auschwitz, sondern um die Art und Weise, wie im Jahre 1986 darüber diskutiert wurde. Flaigs Text ist in erster Linie eine Meta-Analyse. Sie rekonstruiert vor allem die Diskurs-Strategie und weniger die eigentlichen Diskurs-Inhalte. Wie genau sah Habermas’ Strategie gegen Nolte aus, der behauptet hatte, dass Auschwitz vorrangig als eine Angst-Reaktion der Nazis auf die bolschewistischen Verbrechen im Gulag interpretiert werden müsste? Sie bestand aus einem einzigen Satz: „Die Nazi-Verbrechen verlieren ihre Singularität dadurch, daß sie als Antwort auf (heute fortdauernde) bolschewistische Vernichtungsdrohungen mindestens verständlich gemacht werden.“Logisch betrachtet ist Habermas’ Schlussfolgerung Unfug. Denn aus der These, dass Hitler auf Stalin reagiert, folgt mitnichten, dass Stalins Taten schlimmer gewesen sein müssen als die Hitlers. Hätte nämlich Hitler über­reagiert, ließe sich Noltes Theorie vom „kausalen Nexus“ ganz ohne Widerspruch mit dem Postulat von der „Singularität von Auschwitz“ kombinieren. Und man muss kein Spezialist sein, um zu wissen, dass genau dies Noltes Position war und bis heute ist. In einem Gespräch mit Siegfried Gerlich beteuerte Nolte so noch im Jahre 2005, er halte „nach wie vor daran fest, dass die nationalsozialistische Vernichtung am Ende ‚schlimmer‘ war, weil ein anderer Zusammenhang gegeben war: Hier wurden Menschen aufgrund ihrer biologischen oder ethnischen Qualitäten vernichtet, während sie im Idealtyp der marxistischen Revolution eigentlich nur auf ihre ursprüngliche Gleichheit – gegen die sie gleichsam verstoßen hatten, insofern sie zur herrschenden Klasse gehörten – zurückgebracht werden sollten. Im Prinzip hätte es also auch ohne Todesopfer abgehen können.“Ernsthaftes DenkenMan weiß nicht, worüber man sich mehr wundern soll, ob über den offenkundigen und unkritisierten Fehlschluss eines der wichtigsten deutschen Philosophen des 20. Jahrhunderts oder darüber, dass namhafte Historiker und Publizisten eben diesen offenbar zum Anlass nahmen, die politischen Fronten zu begradigen: Jürgen Kocka jedenfalls sprach im Zusammenhang mit den Thesen Noltes von einer „Ungeheuerlichkeit“, Heinrich August Winkler nannte ihn einen „Relativierer“, und Rudolf Augstein verstieg sich dazu, eine „neue Auschwitz-Lüge“ am deutschen Nachkriegshorizont ausmachen zu wollen. Seitdem gilt Nolte als Paria der deutschen Geschichtswissenschaft. Angesichts dieser Fakten nimmt es ein wenig wunder, wenn Wippermann seinem akademischen Lehrer attestiert, der Historikerstreit sei schließlich „zugunsten Noltes“ entschieden worden. So einsam, verfemt und weithin unbeachtet wie Nolte seit 1986 sind Sieger wohl eher selten. Doch Wippermann meint damit etwas anderes. Er schließt sich nämlich entgegen der zahlreichen und offenkundigen Befunde in den Schriften Noltes der These Habermas’ an, dass Nolte die Singularität des Massenmords an den Juden bestritten hätte. „Heute“, so Wippermann in dem von mir herausgegebenen Diskussionsband zum 25-jährigen Jubiläum des Historikerstreits, aus dem auch der kritisierte Beitrag Flaigs stammt, finde man in der Geschichtswissenschaft „keinen ernsthaften Denker mehr, der am Singularitätsdogma festhält“. Ein später, schleichender und ganz stiller Sieg Noltes über Habermas also?Ich muss gestehen: Was die „ernsthaften Denker“ der deutschen Geschichtswissenschaft denken, weiß ich nicht. Auch nicht, ob wirklich alle unter ihnen die Singularität von Auschwitz für ein Ammenmärchen halten, wie Wippermann behauptet. Doch selbst im Falle Wippermanns scheint sich der Wechsel vom nicht ernstzunehmenden zum „ernsthaften Denker“ irgendwann während der letzten zwölf Jahre abgespielt zu haben. Im Internet findet sich ein Interview mit ihm von 1999 zum Schwarzbuch des Kommunismus. Er kritisiert dort dessen Autoren unter anderem mit den Worten: „Ich bin (...) entsetzt darüber (...), daß die Thesen, die im Schwarzbuch vertreten werden, soviel Zustimmung finden. Ich hätte nicht gedacht, daß der Konsens über die Singularität von Auschwitz, den wir beim Historikerstreit noch hatten, in der Berliner Republik so schnell verlorengehen würde.“Wippermann bediente sich also noch vor zwölf Jahren selbst jener Diskurs-Strategie, die Habermas 1986 gegen Nolte oder jüngst Micha Brumlik in der taz gegen Egon Flaig in Anwendung brachte: Anstatt in der Sache zu argumentieren, wird eine „Ungeheuerlichkeit“ angeprangert, man wirft dem Beschuldigten eine Verharmlosung von Auschwitz vor oder schreibt ihm im Grunde eine intellektuelle Wiederbelebung des Nationalsozialismus zu. Dabei steht das Postulat von der „Singularität von Auschwitz“ im Zentrum. Selbst wenn wir einmal die Richtigkeit dieses Postulats unterstellen, liegt es keinesfalls fern, die offenkundige Instrumentalisierung historisch außergewöhnlichen Leids für eigene, nicht besonders edle diskurs-strategische Ziele für unangemessen zu halten.Was aber, so mag man fragen, hat dies mit den alten Griechen zu tun? Nehmen wir einen kleinen Umweg: Von manchen postmodernen Verirrungen abgesehen, erfreuen sich die Errungenschaften von Neuzeit und Moderne noch immer einer Zustimmung – eine Kultur der Aufklärung, eine Kultur also, die mit der begründungslosen Perpetuierung historisch gegebener Traditionsbestände bricht und allen Sätzen, mit denen Anspruch auf Wahrheit erhoben wird, eine intersubjektiv nachvollziehbare, allein auf Vernunftgründe gestützte Rechtfertigung abverlangt.Diskurs-strategische ZweckeFlaig sieht in dieser Aufklärungsphilosophie offenkundig nichts anderes als eine Pflanze, deren Samen vor mehr als 2.000 Jahren gesät wurde. Diese Position ist philosophiegeschichtlich und wissenschaftshistorisch gut belegt. Alfred North Witehead etwa war der Auffassung, die Geschichte der abendländischen Philosophie bestehe ohnehin nur aus „Fußnoten zu Platon“, und Wilhelm Nestle interpretierte bereits die Geschichte der antiken griechischen Philosophie als einen Wandel vom „Mythos zum Logos“. Mindestens zu Zeiten Platons hat sich also auch nach Ansicht Flaigs zum ersten Mal jene paradigmatische Transformation vollzogen, die wir meist als eine Leistung der neuen Zeit verstehen und die darin besteht, einen systematischen Unterschied zwischen dem bloßen Meinen und dem tatsächlichen Wissen festzuhalten.Dieser Unterschied ist dabei nichts anderes als die Fähigkeit zum logon didonai, zum Vermögen also, nicht bloß eine Meinung zu haben, sondern deren Richtigkeit auch anhand intersubjektiv nachvollziehbarer Gründe beweisen zu können. Dass Flaig daher mit Blick auf Habermas’ Vorgehen im Jahre 1986 von einem „Kulturbruch“ spricht und einer „weitgehenden Negierung der Errungenschaften des Griechentums“, erscheint vor diesem Hintergrund keinesfalls unplausibel. An die Stelle des „eigentümlich zwanglosen Zwangs des besseren Arguments“ (Habermas) trat bei ihm die Instrumentalisierung des Singularitätspostulats zu diskurs-strategischen Zwecken. Und in der Tat handelt es sich hierbei nicht nur um einen Bruch mit den Errungenschaften des antiken Griechentums sowie den Kriterien zeitgenössischer Wissenschaft, sondern mit den normativen Ansprüchen der Habermasschen „Theorie des kommunikativen Handelns“ selbst.
Mathias Brodkorb
Was die alten Griechen mit dem Holocaust zu tun haben oder Über die Diskurs-Strategien im „Historikerstreit“. Eine Entgegnung auf Wolfgang Wippermann
[]
Kultur
2011-08-08T08:00:00+02:00
https://www.freitag.de/autoren/mathias-brodkorb/singular-oder-nicht-singular
Werbekritik FAZ Recycling
Müllmann, nun ja, dieser Berufswunsch steht nicht ganz oben auf der Liste von Jugendlichen. Aber wie wäre es mit: nachhaltiger Abfallentsorgungswirtschafter? Das klingt doch sehr viel besser. Nach einem Beruf mit ökologischer Verantwortung und ökonomischem Bewusstsein, kurz: einer wichtigen Position in der modernen Abfallgesellschaft. Schön und gut. Nur, wo bleibt der Spaß, die Spielerei, die Twitter- und Facebook-Tauglichkeit?Die Kreativhauptstadt Berlin hat auch dieses Sparten-Image-Problem schon länger erkannt. Selbst ein Computer ist schließlich irgendwann Müll und will nicht nur in Würde, sondern auch ökologisch korrekt entsorgt werden. Selbst wenn sein Besitzer nie in die Verlegenheit käme, diese Phase der Verwertungskette mitzudenken. Das wird sich ändern!Die aktuelle Werbekampagne der Berliner Abfallbetriebe (BSR), die schon seit einiger Zeit den spielerischen Werbe-Spin für sich entdeckt haben (sprechende Mülleimer), engagiert sich jedenfalls. So kann es einem unbedarften Kreativwirtschafter in seinem Stammcafé passieren, dass vor der Frontscheibe jenes Cafés ein Müllauto der BSR Station macht und ihn auf ein Plakat auf dem Auto starren lässt: „Dahinter steckt immer ein kluger Kopf“. Zu sehen ist ein BSR-Mitarbeiter, dessen Kopf ein Computer-Tower verdeckt, während er ihn wegträgt. Hm. Da war doch was? Stimmt. Mit diesem Slogan wirbt die FAZ für die intellektuellen Köpfe hinter ihrer Zeitung. Was uns das sagen soll? Müll ist recycelbar. Slogans sind es auch.
Susanne Lang
Die Berliner Abfallbetriebe recyceln nicht nur Müll - auch Slogans, wie die aktuelle Werbekampagne zeigt
[ "werbekritik", "müllabfuhr", "gesellschaftskritik", "frankfurter allgemeine zeitung" ]
Kultur
2012-10-11T15:02:00+02:00
https://www.freitag.de/autoren/susanne-lang/werbekritik
Migration Zurück ins Kriegsgebiet!
Seit einigen Wochen plakatiert das Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat großflächig und mehrsprachig ihr Rückkehrprogramm. Unter der Annahme einer „freiwilligen Rückkehr“ wird mit Startkapital und Anreizen geworben, Menschen mit „offensichtlich unbegründetem Asylantrag“ des Staates zu verweisen. In der Broschüre, die neben Deutsch, Arabisch und Englisch in noch 13 weiteren Sprachen verbreitet wird, wird die Möglichkeit von örtlichen Beratungsangeboten angeboten, die unter dem sperrigen Kürzel REAG/GARP („Reintegration and Emmigration for Asylum-Seekers in Germany/Government Assisted Repatriation Programme“) die Ausreise bürokratisch begleiten sollen. Grotesk klingt die Erklärung, dass man eine „freiwillige Rückkehr“ auch im Falle eines laufenden Asylverfahrens beantragen könne. Dieser Antrag habe formal keinen Einfluss auf das Verfahren, dennoch wird geraten, das Asylverfahren vor der Beantragung der Rückkehr zurückzuziehen. Die dadurch kolportierte Rechtslücke scheint den freiwilligen Charakter zu konterkarieren. Generell wird das Programm als unterdrückendes Instrument genutzt, um flüchtende Menschen dazu zu bewegen, möglichst schnell das Land zu verlassen.Das sogenannte „Förderprogramm“ der REAG/GARP steht für 46 souveräne Staaten und die Palästinensische Autonomiebehörde bereit. Unterteilt werden die Staaten in verschiedene Gruppen, die verschiedene finanzielle Starthilfen zur Verfügung stellen. Neben der Übernahme von „Transportkosten“ (in dem Sinne in der Regel der Flug) wird ein individuelles Startkapital überlassen. Während die Minderheit in der Gruppe 1 – darunter Iran, Ghana und Pakistan – eine überschaubare Starthilfe von 500 EUR erhalten, muss sich die Majorität der Gruppe 2 mit 300 EUR begnügen. In letzterer Gruppe befinden sich Kriegsgebiete wie Syrien und Palästina. Obgleich IOM trotz der Auflistung des Staates explizit betont, dass eine „freiwillige Rückkehr“ nach Syrien aufgrund der „schwierigen Sicherheitslage“ nicht durchgeführt werden. Neben der Starthilfe von REAG/GARP wird unter Betrachtung mehrerer Faktoren bis zum 31. Dezember 2018 eine zusätzliche „Unterstützung“ – die StarthilfePlus – angeboten. Die Gewichtung wird anhand des Verlaufs des Asylverfahrens berücksichtigt. 1200 EUR wird denjenigen gewährt, die den laufenden Asylantrag zurückziehen, um das „Rückkehrprogramm“ zu starten. 800 EUR wird gewährt, wenn der Antrag abgelehnt wird oder der Mensch bei einem positiven Bescheid dennoch das Land verlassen möchte. Durch dieses Druckmittel wird im Umkehrschluss das verbriefte Recht auf einen Asylantrag durch Kürzung eines theoretischen Startkapitals bestraft.Menschen aus Staaten wie Mali und dem Irak fliehen vor Terror, Krieg und Unterdrückung. Würden sie das „Rückkehrprogramm“ der BAMF und IOM in Anspruch nehmen, hätten sie mindestens 1100 EUR, höchstens 1700 EUR als Startkapital zur Verfügung. De facto kauft sich die BRD damit von der moralischen Verantwortung frei und transportiert den Irrglauben, damit den Menschen irgendwie zu helfen. Die erwünschte Freiwilligkeit setzt eine grundlegende Veränderung des Ursprungslandes voraus, denn kein Mensch flieht freiwillig. Dieses usurpierte Märchen, der flüchtende Mensch wolle einzig auf Kosten Fremder hausieren, wird durch mehrere Fakten konterkariert. Die Broschüre „Fluchtmigration“ der Bundesagentur für Arbeit vom November 2018 präsentierte Statistiken der Integration in den Arbeitsmarkt von flüchtenden Menschen. Unter anderem wird die positive Anerkennungsrate von 61% auf drei Staaten verteilt: Syrien, Irak und Afghanistan. In diesen Staaten herrscht jahrelanger Bürgerkrieg (Syrien), eine destabilisierte Regierung und Sicherheitslage (Irak) und eine große Präsenz von Terrororganisationen (Afghanistan). Diese Fluchtgründe unter populistischen Vokabeln wie „Wirtschaftsmigration“ zu subsumieren ist Ausdruck eines eurozentrischen und egoistischen Weltbildes. Darüber hinaus verrät die Broschüre die vielen positiven Vermittlungen in Ausbildungs- und Arbeitsplätze.Im Jahre 2018 meldeten sich etwa 38.000 flüchtende Menschen zur Ausbildungsbewerbung beim Jobcenter, wovon mehr als 90% eine Stelle vermittelt werden konnte. Alleine diese Zahlen belegen den integrativen Willen der Flüchtenden, obwohl eine deutliche Kritik an dem Verfahren und der Ausnutzung derer nicht zu vernachlässigen ist. Asylbewerber*innen und flüchtende Menschen werden überproportional von der Wirtschaft ausgebeutet und stehen in einem orchestrierten Spannungsverhältnis zur einheimischen Arbeiterschaft. Das ist ein erwünschter Nebeneffekt des Klassenkampfes von oben, und die Früchte derer werden größtenteils von der radikalen Rechte gepflügt. Die dadurch erzwungene Paradoxie eruiert sich in den Forderungen, arbeitslose Flüchtlinge zur Arbeit zu zwingen und doch gleichzeitig den Arbeitsmarkt vor ihnen zu schützen. Dadurch soll die unterdrückte Klasse in sich gekehrt angegriffen werden, um so jeglichen Widerstand von Beginn an zu unterdrücken. Der Staat steht sich dabei selbst im Weg, da er den Charakter der Migration völlig falsch erkennt und in einen rassistischen Nationalismus verfällt, der sich der eigenen Ermächtigung zu Unrecht auf ökonomische Standpunkte bezieht.Die tief verankerte Arroganz und Unmenschlichkeit der Industriestaaten lässt sich auch im internationalen UN-Migrationspakt erblicken. Von Nationalist*innen wird er als Angriff auf die Souveränität gelesen, obgleich er in seiner Funktion absolut nicht bindend ist und im Kern nicht mehr als der Realität Rechnung trägt. Der Grund der erzwungenen Migration ist im Verhalten und der Politik der westlichen Welt zu finden. Der exportierte Krieg in die arabische Welt erzwingt logischerweise die Wanderung. Der Hauptgrund ist seit jeher der Rassismus. In den Augen der Eurozentrist*innen ist dem flüchtenden Menschen keine Alternative möglich, als sich schuldig zu machen. Die regelrechte Entstaatlichung von Syrien, Irak oder Libyen ist die Handschrift der westlichen Kriegspolitik. Anstatt sich der Entwicklung global zu stellen, wird eine Militarisierung forciert, ein Schwarz-Weiß-Schema bis ins Groteske hochgehalten und der eigentliche Mensch wie ein Fremdkörper behandelt. In dieser Konstellation kann er nur verlieren, da ihm trotz gelungener Integration keine Sicherheit gewährt ist. Die Abschiebebescheide von jungen, erfolgreichen Menschen in Schulen, Betrieben und Ausbildungsstätten häufen sich, die Bundesregierung fordert mehr und mehr Abschiebungen und fabuliert eine Festung Deutschland herbei. Der Mensch wird auf ewig flüchten, so lange es Elend, Terror und Krieg gibt. Der Bürokratismus waltet über Existenzen von Menschen, ködert sie mit finanzielle „Anreizen“ und tut alles daran, trotz der Forderungen, eine Integration tatsächlich zu verwirklichen.
Elisa Nowak
Das „Rückkehrprogramm“ des BAMF versucht, Deutschland von der eigenen Verantwortung freizukaufen und behindert eine erfolgreiche Integration
[ "Migration", "International Organization for Migration", "Bundesamt für Migration und Flüchtlinge" ]
Politik
2018-12-07T05:44:00+01:00
https://www.freitag.de//autoren/elisanowak/zurueck-ins-kriegsgebiet
Walter Müller „Als vor 100 Jahren Noske fliehen musste“
Es war sowieso schon lange still geworden um das Jubiläum der Novemberrevolution. In der ersten Jahreshälfte war der 100 Jahrestag Anlass für manche sinnvolle Ausstellung und manchen lehrreichen historischen Spaziergang. Vor allem der Chronist der linken Geschichte Bernd Langer, der am 5. Januar mit seinen Spaziergang vom Brandenburger Tor zum Rosa Luxemburg Platz die Jubiläumsveranstaltungen eröffnete (siehe: https://www.freitag.de/autoren/peter-nowak/alle-macht-den-raeten-noch-immer-aktuell) und hier ein Video von dem Spaziergang (https://zweischritte.berlin/post/189461592308/alle-macht-den-räten), muss hier erwähnt werden. Ebenso der Historiker Dietmar Lange, der mit einer Ausstellung und mehreren Spaziergängen an den Terror der Staatsgewaltgegen rebellische Arbeiter*inne im März 1919 erinnerte, der mindestens 1200 Todesopfer gefordert (https://www.freitag.de/autoren/peter-nowak/der-vergessene-terror-im-maerz-1919-in-berlin) hat. Lange hat auch aufgezeigt, dass die Konterrevolution auf Befehl von Noske und Co. die Arbeiter*innenquartiere bombardieren lies.Doch was wäre gewesen, wenndie Revolutionär*innen1918 gesiegt hätten? Eigentlich verbieten sich solche spekulativen Fragen in der Historie.Doch bereits 1930 hat ein Walter Müller diese „realpolitische Utopie“ aufgeschrieben. So lautete der Untertitel im Malik Verlag veröffentlicht Buch „Wenn wir 1918 ….“. Hinter den drei Pünktchen kann man vervollständigen, nicht den Kriegssozialdemokrat*innen auf den Leim gegangen wären, ihren Lügen nicht geglaubt hätten, mit den alten Gewalten Schluss gemacht hätten, wie in Russland 1917, könnte man ergänzen. Denn das Buch beginnt mit zahlreichen Meldungen im Telegrammstil unter dem Signet des SPD-Parteiorgans Vorwärts. Da heißt es scheinbar noch historisch korrekt am 10.November 1918 „Die Ketten sind gebrochen. Die Macht des Kaiserreichs ist zusammengebrochen wie ein Kartenhaus“. Doch schon ein Tag vorher setzt die realpolitische Utopie an. Am 9.November 1918 lautet die Meldung: „Sieg der Revolution! Noske in Kiel von roten Matrosen festgenommen“ Ebert im Flugzeug nach Holland entflohen!“Dort hätte der Sozialdemokrat von Kaisers Gnaden auch weniger Schaden angerichtet. Im Telegrammstil geht es weiter und schon am 16.November 1918 wird die Ankunft von Lenin in Berlin vermeldet. Dass macht deutlich, welch enormen Einfluss die Revolution 1917 in Russland auf die Linke in Deutschland jener Jahre hatte und wie hoch im Kurs vor allem Lenin persönlich für viele Menschen stand, die keine Kommunist*innen waren. Von dem Autor ist wenig bekannt, allerdings, dass er bis zum Schluss SPD-Mitglied und Gewerkschaftsfunktionär in Breslau gewesen sei.Kein linkes WolkenkuckusheimWer nun erwartete, dasshier eine kommunistische Idylle aufgebaut wird, sei gleich gewarnt. Das Buch ist auch insofern eine realistische Utopie, als kein linkesKuckucksheim aufgebaut wird. Denn schon bald nach dem Erfolg der Revolution erklärt die Entente Rätedeutschland und seinen Verbündeten den Krieg. Es kommt zu blutigen und verlustreichen Schlachten. Die Berichte lesen sich wie Heeresberichte. Da werden Truppen verschoben und da wird wieder mal eine Division vernichtet. Da könnte man auch von einer realen Dystrophie sprechen, wenn sich das Ganze dann sogar zu einem Weltkonflikt ausweitet und am Ende nur knapp die sozialistische Seite siegt. Da könnten sich die Reformist*innen im Nachhinein bestätigt sehen, die ja die revolutionären Veränderungen auch mit der Begründung abgelehnt hatten, dann würden die Entente-Mächte in Deutschland einmarschieren. Auch über Arbeitszwang und manch andere diktatorische Maßnahme, diehier vorgeschlagen wurde, stolpert die Leserin und der Leser heute. Doch es gibt auch schon den Vorschein der Utopie, wenn darüber geredet wurde, dass aktuell noch Arbeitszwang zum Wiederaufbau der vom Krieg zerstörten Gebiete nötig ist, bald aber dieZeit, die für die Lohnarbeit aufgebracht werden muss, immer mehr gesenkt werden kann. In dem Buch sind solche Schritte schon angekündigt. Es handelt sich also nicht um ein Verschieben auf eine ferne Zukunft. Interessanterweise spielen nationale Grenzen in dem Buch keine Rolle, es wird global gedacht. Der Autor ging wohl selbstverständlich davon aus, dass es den Sozialismus in einen Land nicht geben kann. Da gab es dann auch schon Überlegungen, wie mit den realen Unterschiede der Kontinente und Länden in Bezug auf Klima, Bodenschätze etc. umgegangen werden sollte. Da gab es schon die vernünftige Ansicht, dass es in einer kommunistischen Weltgesellschaft keine Rolle spielen darf, ob jemand in einen Land mit vielen oder mit gar keinen Bodenschätzen geboren wurde und ob es sich um eine Wüste oder um eine Kornkammer handelt. Es ist selbstverständlich, dass in denGebieten mit der am weitesten entwickelten Industrie die Güter für alle Menschen in der Welt hergestellt werden soll und die Landwirtschaft in den Kornkammern sorgt auch für die Bewohner*innen in Wüsten –oder Hochwassergebieten. Die Menschen wären also nicht mehr gezwungen für ein menschenwürdiges Leben in die Gebiete der ersten Welt zu fliehen und dort, wenn sie überhaupt ankommen und bleiben können, am untersten Rand leben müssen. Vielmehr sorgt die Technologie der ersten Welt auch für die Menschen, der Gegend, für die es dann keinen Grund mehr gibt, sie dritte Welt zu nennen. Der unbekannte AutorDer Autor war ein Sozialdemokrat und Gewerkschafter aus Breslau. Er und auch sein Buch waren total in Vergessenheit geraten, bis vor fast 20Jahren die sozialistische Historikerin DorisKachulle sich auf die Suche nach den verschwundenen Buch gemacht hat. Es gab nur einen Eintrag in der „Liste des schädlichen und unerwünschten Schrifttums“ der NS-Behörden. Dort heißt es: Mueller, Walter: „Wenn wir 1918“ Berlin Malik Verlag-Verlag 1930“ Über den vergessenen Autor des Buches schrieb Kachulle2003 in der jungen Welt einen Artikel, der am Schluss des Buches abgedruckt ist: „Von Walter Müller wissen wir nur, dass er im damaligen Breslau Gewerkschaftsfunktionär war, dass er offenbar bis zuletzt der SPD angehörte und 1933 von den Nazis ermordet wurde“. Kachulle kritisierte mit Recht, dass von den SPD-nahen Institutionen keine Mühe aufgewandt wurden, umüber ihren Parteigenossen zu forschen. Doch warum sollten wir das von einer Stiftung fordern, die den Namens jenes Friedrich Ebert trägt, den Müller schon am 9.November 1918 ins Exils schickte? Es gibt doch zum Glück auch parteiunabhängige Historiker*innen und Forschungsstellen, die sich dieser Aufgabe widmen könnten. Es stellt sich vielmehr die Frage, warum ist so gut wie nichts über den Autor bekannt, der das Buch schließlich 1930 im in linken Kreisen nicht unbekannten Malik-Verlag herausbrachte? Gab es keine Reaktionen auf das Buch, in Form von Rezensionen oder von Reaktionen der Partei, in der der Autor anscheint bis zum Schluss war, obwohl er ausweislich des Buches politisch das Gegenteil wollte? Da sollten wir uns vielleicht auch mal die Frage stellen, ob der Name nicht ein Pseudonym ist und es deshalb bisher nicht gelungen ist, den gar nicht existierenden Walter Müller aus Breslau zu finden. Die Überlegung klingt plausibel. Kann ein SPD-Mitglied, dazu noch hauptberuflicher Gewerkschaftsfunktionär, ein solches Buch unter seinen Namen verfassen, ohne massive Konsequenzen bei Beruf befürchten zu müssen? Wohl kaum. Da lag doch ein Pseudonym sehr nahe. Dem BS-Verlag-Rostock ist zu danken, dass das Buch wieder erhältlich ist. Es ist allen zu empfehlen für die das Jubiläum der Novemberrevolution kein Tourismusevent war. Leider wird der Verlag zum Jahresende Geschichte sein, wie auf der Homepage zu lesen ist. Das Buch kann allerdings auch bestellt werden.Bernd Langer in der Nachfolge von Bernd EngelmannWie es dann nicht in der realpolitischen Utopie sondern in der deutschen Realität weitergegangen ist, erzählt uns der Chronist der linken Geschichte Bernd Langer in seinen in einigen Wochen im Unrast-Verlag erscheinenden Band „Kapp-Putsch und antifaschistischer Widerstand 1920-1921“. Es ist die Fortsetzung des im letzten Jahr im gleichen Verlag erschienenen Buch „Flamme der Revolution“ über die Kämpfe der Arbeiter*innen in den Jahren 1918/19. Hier erweist sich Langer, der sich in der Göttinger Antifabewegung politisiert hat (https://www.freitag.de/autoren/peter-nowak/eine-linke-geschichte), als Nachfolger von Bernd Engelmann. Der hattein den 1970er Jahren mit seinen drei Anti-Geschichtsbüchern, die damals im Fischer-Verlag erschienen, seinen Beitrag dazu geleistet, dass junge Menschen Lust bekamen, sich mit Geschichte zu beschäftigen. Denn Engelmann verstand es, linke Geschichte so spannend zu erzählen, dass der Leser oder die Leserin den Eindruck hatte, sie oder er wäre dabei gewesen.Nun hat er mit Langer einen Nachfolger gefunden, die über die Tage und Wochen im März 1920 erzählt, als die Vorläufer der Nazis nicht durch kamen.Peter NowakMüller Walter, Wenn wir 1918…. Eine realpolitische Utopie,BS-Verlag Rostock,282 Seiten, ISBN 9783899540215https://www.mv-taschenbuch.de/shop/nach-buchtitel/w/406_wenn-wir-1918-.htmlZu den beiden Büchern des linken Chronisten Bernd Lager:Flamme der Revolution, Unrast Verlag, 440 Seiten, 24, 80 Euro, ISBN 978-3-89771-234-8https://www.unrast-verlag.de/neuerscheinungen/die-flamme-der-revolution-detailErscheint wenigen Wochen:Kapp-Putsch und antifaschistischer Widerstand 1920-1921, Unrast Verlag, 24 Euro, ISBN978-3-89771-279-9https://www.unrast-verlag.de/vorankuendigungen/kapp-putsch-und-antifaschistischer-widerstand-detail
Peter Nowak
Unter diesen Namen erschien 1930 die realpolitische Utopie einer siegreichen Novemberrevolution. Das Buch ist wieder erhältlich, der Autor unbekannt
[ "Sozialdemokratische Partei Deutschlands", "Kapp-Putsch", "Gustav Noske", "Kritik der Arbeit", "Wladimir Iljitsch Lenin", "Friedrich Ebert", "Malik-Verlag" ]
Politik
2019-12-26T02:31:00+01:00
https://www.freitag.de/autoren/peter-nowak/als-vor-100-jahren-noske-fliehen-musste
Thomas Heise dreht am 4. November 1989: Die am Rande
Den Mann im Bildvordergrund kennt jedes Kind: Gregor Gysi, ein Politiker, der die Regeln des Spiels beherrscht, die Anforderungen der massenmedialen Vermittlung erfüllt, der eloquent und originell ist in der Kritik der Macht. Gysis rhetorisches Geschick lässt sich heute durch Klicks abbilden, seine Bundestagsreden erreichen auf Youtube sechsstellige Zuschauerzahlen.Ebenfalls auf Youtube findet sich der Clip, aus dem das Standbild über diesem Text stammt: Gysis Rede bei der Demonstration vom 4. November 1989 (die im Internet komplett dokumentiert ist), Berlin, Alexanderplatz, fünf Tage vor der Maueröffnung. Gysi ist damals nur Anwalt und noch nicht Parteivorsitzender, sein Auftritt eine Urszene: die schüchterne Freude über eine gelungene Randbemerkung, die das angespannte Verhältnis zwischen dem Volk und seinem möglichen Repräsentanten auflockert, der beginnende Flirt mit dem Publikum, das wachsende Zutrauen in die Fähigkeiten als Redner.Aber es geht hier nicht um Gregor Gysi, sondern um den Mann daneben beziehungsweise dahinter. Kein Mensch kennt am 4. November 1989 Thomas Heise, dabei steht und filmt er im Zentrum der Weltaufmerksamkeit, direkt neben den Markus und Christa Wolfs, Stefan Heyms, Steffie Spiras, die an diesem Samstagvormittag auf die Bühne steigen, errichtet auf einem Lkw vor dem Haus des Reisens. Den Platz, den Heise eingenommen hat, gab es offiziell nicht, er musste eingenommen werden (legitimiert durch einen Wisch, den er sich hatte unterschreiben lassen als Teil der Gruppe, die in den Theatern die Demonstration organisierte).Drehen konnte Heise, weil er eine eigene Kamera besaß. Die hatte er einige Zeit zuvor über Heiner Müller von einer Westberliner Produktionsfirma bekommen, um Müllers Theaterarbeit zu dokumentieren. Der ursprüngliche Plan sah vor, dass ein öffentlicher-rechtlicher Sender aus Heises Material ein Feature zusammengeschnitten hätte über die Subversion in der DDR oder dissidente Bühnenkunst. Dass Heise sich dem verweigert hat, ist eine schöne Ironie der deutschen Geschichtsfilmproduktion: Die Westfernsehkamera, die mit eindeutigen Absichten in die DDR gebracht wird, ermöglicht Aufnahmen, die 20 Jahre später das Bild dementieren, das das vereinigte Westfernsehen von dieser DDR pausenlos macht. Heises Material (2009) ist der klügste und größte Film über 1989.Von der Demonstration am 4. November ist Günter Schabowskis Auftritt („mit Pfeffer und Salz“) in das fast dreistündige Panoptikum aus lauter Fragmenten eingegangen. Während Gysi spricht, ist Heise, wie man auf dem Foto sehen kann, dagegen vor allem damit beschäftigt, seinen Platz am Fahrerhaus des LKWs zu sichern; er hantiert mit dem orangefarbenen Tuch, mit dem er sich an der Holzkonstruktion der Bühne festgebunden hat. In gewisser Weise ist auch das eine Urszene – für Heise. Der filmt nämlich da, wo keiner dreht: am Rande. Bis heute, bis zu den schwerkriminellen Jugendlichen in einem Gefängnis in Mexiko City, mit denen er Brecht einstudiert hat für Städtebewohner, seinen vorletzten Film, der Ende des Monats einen kleinen Kinostart haben wird.Bei Gysis Rede am 4. November 1989 erscheint der Heise, der die Kamera beiseite gelegt hat und an dem Tuch ruckelt, wie ein Prophet der kommenden Karriere des Politikers: Den muss er nicht aufnehmen. Denn Gysi gehört zu den Überraschungen an diesem Tag, zu den Sympathieträgern, er nutzt seine Chance beim Vortanzen vorm Volk. Gysis Weg führt in das Scheinwerferlicht von Fernsehstudios und Tagesschau-Berichten, kurz: ins Abseits der Arbeit, die Thomas Heise macht.Placeholder infobox-1Placeholder authorbio-1
Matthias Dell
Wie Thomas Heise mit einer Westfernsehkamera Bilder machte, die die Bilder des Westfernsehens dementieren
[ "Deutsche Demokratische Republik", "Gregor Gysi" ]
Kultur
2014-11-19T06:00:00+01:00
https://www.freitag.de/autoren/mdell/die-am-rande
Medien Was die Presse kann
FAZ-Reporter (ich hätte nicht gedacht, dass ich diese beiden Worte einmal in einem Atemzug sagen würde - aber die Zeiten haben sich geändert und die früheren Fraktufreunde aus Frankfurt haben vor geraumer Zeit einen Kurswechsel vollzogen, der dem Blatt unendlich gut getan hat) also FAZ-Reporter Marcus Jauer hat eine gloriose Geschichte über den Palast der Republik und was aus ihm wurde geschrieben. Er verfolgt eine Spur der Stahlträger, die einst den Stolz des Osten trugen, bis sie sich in einem Gießwerk in der Türkei verlieren. Eine andere führt ihn zum VW-Werk in Leipzig und schließlich vor ein Einfamilienhaus in Niedersachsen. Das ist gerade und klar erzählt und gleichzeitig ein nüchtern nachdenkliches Stück zur Deutschen Einheit.Mit dem Bruch der Erwartung zu spielen, als seriöse, politische FAZ mit einer Reportage aufzumachen, die auf den ersten Blick keine politische Relevanz hat - auf den zweiten natürlich schon -, das zunächst verwirrende Photo eines Autos, eines Hauses, einer Katze auf der Seite Eins zu platzieren, das halte ich für modernen Zeitungsjournalismus und das zeigt, wie die Presse auch das Internet überleben wird.Die FAZ stellt ihre Artikel nicht kostenlos inst Netz. Also zum Kiosk!
Jakob Augstein
Eine großartige Reportage als Aufmacher der FAZ: Die Story über den Palast der Republik zeigt, was Presse kann - und wie sie auch in Zeiten des Internets überleben wird
[]
Kultur
2009-04-18T09:24:00+02:00
https://www.freitag.de/autoren/jaugstein/was-die-presse-kann
Israel: Acht-Parteien-Regierung hängt am seidenen Faden
Eine Regierungskoalition büßt den inneren Frieden ein. Drei Wochen nach dem Seitenwechsel der rechten Abgeordneten Idit Silman aus der Jamina-Partei von Premier Naftali Bennett verfügt sie über keine eigene Mehrheit in der Knesset mehr. Sechzig koalitionstreue stehen nun sechzig oppositionellen Parlamentariern gegenüber. Silman stärkt mit ihrem Übertritt den Rechtsblock um Ex-Regierungschef Benjamin Netanjahu, der gut ein Jahr nach seiner Abwahl Morgenluft wittert. Winkt eine Rückkehr an die Regierungsspitze? Sollten weitere Abgeordnete zu ihm überlaufen, dürfte die erste Koalition ohne den 72-Jährigen seit 2009 Geschichte sein.Alarmierender noch für die weltanschaulich diffuse, vorrangig durch die Opposition gegen Netanjahu geeinte Acht-Parteien-Koalition Bennetts und des alternierenden Ministerpräsidenten Jair Lapid: Mitten im Fastenmonat Ramadan verkündete die arabisch-israelische Regierungspartei Ra’am, ihre Mitgliedschaft in der Regierung „einzufrieren“. Mansur Abbas, der seine vierköpfige Fraktion durch viel Verhandlungsgeschick 2021 zum Königsmacher der Koalition befördert hatte, reagierte auf das gewaltsame Eindringen israelischer Sicherheitskräfte in die Al-Quds-Moschee auf dem Jerusalemer Tempelberg Mitte April. Die Möglichkeit, dass die Lage dort zum Ende des Fastenmonats an der Muslimen heiligen Stätte abermals eskaliert, ist so wenig ausgeschlossen wie ein erneuter Raketenbeschuss aus dem Gazastreifen auf israelische Städte, der zu den üblichen Gegenschlägen führt.Mansur Abbas hat mit der Entscheidung, sich temporär aus der Koalition zurückzuziehen, entsprechend vorgesorgt – der Druck seiner arabisch-israelischen Wählerschaft, auf die Gewalt israelischer Militärs in Jerusalem und dem Westjordanland zu reagieren, ist groß. Interesse an einem Ende der Regierung hat der 48-Jährige freilich nicht, im Gegenteil: Die Alternative wäre weitaus schlimmer, denn ein Comeback Netanjahus würde vermutlich die Aufnahme rechtsextremistischer Politiker in ein künftiges Regierungsbündnis mit sich bringen. Bezalel Smotrich von der Partei des Religiösen Zionismus und Itamar Ben Gvir von der Jüdischen Stärke halten sich bereit.Dass die Post-Netanjahu-Regierung zehn Monate nach ihrem Antritt ins Stolpern gerät und um ihre Mehrheit kämpft, kann nicht überraschen. Die israelische Politik der zurückliegenden Jahre war stets von unklaren Mehrheitsverhältnissen geprägt – vier Wahlen zwischen April 2019 und März 2021 sind Ausdruck labiler Zustände. Anders als Ende 2020 jedoch, da das Bündnis des heutigen Verteidigungsministers Benny Gantz mit Netanjahu an einem nicht verabschiedeten Haushalt zerbrach, bleibt dem Kabinett Bennett/Lapid Zeit bis März kommenden Jahres, um das Budget für 2023 zu verabschieden. Gesetzesprojekte unter diesen Umständen durchzubringen, dürfte allerdings schwer werden.Und selbst wenn es Bennett und Lapid gelingen sollte, die rechten und linken Flügel ihrer Regierung über den Sommer hinweg zusammenzuhalten, ist ihr Zusammengehen schon jetzt eines auf Zeit: Die Koalitionsvereinbarung sieht den Wechsel Lapids aus dem Außenministerium in das Amt des Ministerpräsidenten erst im August 2023 vor. Dass die ideologischen Sollbruchstellen zwischen Bennetts rechter Jamina-Fraktion und den sozialdemokratischen Arbeitspartei- und Meretz-Abgeordneten bis dahin nicht aufbrechen, ist wenig wahrscheinlich. Schon jetzt ist die Enttäuschung der linksliberalen Wähler über die Meretz-Minister Tamar Zandberg und Nitzan Horowitz spürbar. Besonders das völlige Ausklammern der anhaltenden israelischen Besatzung in der Westbank sorgt für Frust. Natürlich kann das Patt in der Knesset befristet eine disziplinierende Wirkung auf die acht Koalitionsparteien haben. Dass über ihnen das Damoklesschwert einer Rechtsaußen-Regierung hängt, wird seine Wirkung nicht verfehlen, die Spaltung von Gesellschaft und Politik indes nicht überbrücken.
Markus Bickel
Die arabisch-israelische Partei Ra’am friert ihre Mitgliedschaft in der Regierung ein. Benjamin Netanjahu und zwei rechtsextreme Parteien halten sich für die Ablösung des Bennett-Lapid-Bündnisses bereit
[ "Benjamin Netanjahu", "Naftali Bennett" ]
Politik
2022-04-29T04:00:00+02:00
https://www.freitag.de/autoren/markus-bickel/israel-regiert-bald-wieder-benjamin-netanjahu
A–Z Danke sagen
AAbstufung „Danke sagen“ klingt einfach, ist es aber oft nicht. Zumindest dann, wenn man gleichzeitig auch noch die Intensität des empfundenen Gefühls ausdrücken möchte. Ein einfaches „Danke“ reicht gemeinhin aus, wenn jemand einem die Tür aufhält; für die Rettung der Königstochter aus den Klauen des Drachens ist in unserem Kulturkreis dagegen das halbe Königreich und die Hand der Prinzessin üblich.Für die meisten Abstufungen dazwischen kann ein Trinkgeld in angemessener Höhe angebracht sein, muss es aber nicht. Die Wissenschaft hat daher versucht, Dankbarkeit messbar zu machen. Beispielhaft seien hier die GRAT- und die GQ6-Methode genannt. Beide beruhen auf einer komplexen Selbsteinschätzung des Dankenden. Bis zur Normierung einer der Methoden und der entsprechenden Verfügbarkeit einer Smartphone-App benutzen Sie im Zweifel aber bitte weiter die dafür vorgesehene Schokoladenmarke (➝ Phrasen). Uwe BuckesfeldBBanksy Mit dem berühmten Streetart-Künstler Banksy ist es ein wenig so wie mit einem alten Schulfreund, der einem im Lauf der Zeit peinlich geworden ist. Konnte man den politischen Schablonen-Graffitis des Briten, dessen Identität bis heute nicht zweifelsfrei geklärt ist, anfangs noch einiges abgewinnen, sind diese mittlerweile zu Sozialkritikkitsch verkommen. Mit steigendem Ruhm (➝ Mozart) haben die Werke den einst durchaus subtilen Humor eingebüßt und sind heute oft nicht mehr als bildgewordene Sinnsprüche. Dennoch muss man Banksy lassen, dass seine jüngste Aktion einigen Charme hatte. Nachdem eine Schule in Bristol, wo er angeblich herkommt, eines ihrer Gebäude nach ihm benannt hatte, bedankte er sich, indem er heimlich ein großes Wandgraffiti auf dem Spielplatz hinterließ. Schüler und Lehrer hat’s tatsächlich gefreut. Nils Markwardt EEtymologie Danken und denken haben eine etymologische Verbindung. Dank bedeutet ursprünglich so viel wie „in Gedanken halten“. Im Danken als „ich werde daran denken“ liegt also ein Versprechen. Es kann aber manchmal auch als Drohung verstanden werden. Die Sinnverknüpfung besteht ebenfalls im Englischen (➝ Banksy), wo die Nähe von „thank“ zu „think“ nicht zufällig ist. Der veraltete Name Dankwart übrigens bezeichnet einen „Hüter des Gedenkens“.Denkmäler als Stätten des Andenkens sind auch oft Ausdruck des Dankes, allerdings selten eines demütigen. Nachdem 1898 der Ex-Reichskanzler verstarb, entstanden etwa 240 Bismarck-Türme. Neben dem Dank für die „Reichseinigung“ dienten sie vor allem deutscher Selbsterhöhung. Aus der nationalchauvinistischen Architektur des 1913 eingeweihten Leipziger Völkerschlachtdenkmals lässt sich nur mit Mühe eine Dankesspur für den Frieden hineinlesen. Dass – von Erinnerungen an die Opfer des Nationalsozialismus abgesehen – kein offizielles deutsches Denkmal als Dank für die Befreier von 1945 existiert, gibt zu denken. Aber nicht zu danken. Tobias PrüwerFFlüchtlinge „Er wollte sich bedanken und etwas zurückgeben.“ Mit dieser Botschaft ging die Geschichte des syrischen Flüchtlings Alex Assali vergangenes Jahr durchs Netz. Bilder zeigten den 38-Jährigen, wie er unter einer Berliner Brücke Essen an Obdachlose ausgibt. Ihm wurde in Deutschland (➝ Gastarbeiter ) geholfen, jetzt wolle er etwas zurückgeben. Er wüsste nur zu gut, wie es sich anfühlt, alles zu verlieren. Diese Dankesbekundungen rührten die Facebook-Nutzer, die sich nun als Drahtzieher einer Pietätskette fühlten. Die Willkommenskultur schien ihre Früchte zu tragen. Ob der schönen Aktion sollte man aber nicht vergessen, dass das Asyl selbst keinen Dank fordert. Es ist ein Recht und keine Gabe. Ann EssweinGGastarbeiter Das Bild des einmillionsten Gastarbeiters, der 1964 ein Moped geschenkt bekam, ist längst ikonisch. Doch der Schein der Wertschätzung trügt. Jahrzehnte wurden Gastarbeiter als billige Arbeitskräfte gesehen, Integrationsangebote gab es kaum, oft mussten sie in maroden Baracken leben. Insofern war es an sich löblich, dass die Bundesregierung sich 2008 zu der Aktion „Deutschland sagt Danke“ durchrang. Wurde in diesem Kontext aber wieder von „Wir“ und „Sie“ gespochen, schien es, als ob Gastarbeiter nicht zu Deutschland gehörten. Es war jener unfaire Umgang mit Migranten, der sich auch im neuen Integrationsgesetz (➝ Flüchtlinge) zeigt. Andrea WierichLLyrik Auch Karl-Heinz Rummenigge wird manchmal von der Muse geküsst. Zum Beispiel 2009, als er Franz Beckenbauer ehrte – mit einem Gedicht, das die Lyrik neu erfand. Zwölf Mal kam das Wort „Danke“ vor, in nur zehn Zeilen. Die klangen dann etwa so: „Lieber Franz, ich danke dir. Ich danke dir, ich danke dir sehr, ich danke dir, das fällt uns nicht schwer.“ Sogar Hellmuth Karasek widmete sich dem Werk und spottete in Bild: „Man denke nur, wie schön sich sehr auf schwer, toll auf soll, Schatz auf Satz und wieder schwer auf sehr reimt. Das könnte den ewigen Dank-Kanon erobern.“ War „Kalle“ also direkt auf den Dichterolymp geklettert? Nein, denn er schmückte sich mit falschen Lorbeeren. Wahre Urheberin (➝ Mozart) war nämlich Anette Pfeiffer-Klärle, die ihre Gedichte im Netz verkauft. Der Ex-Stürmer hatte nur zart ergänzt. Die wahre Lyrikerin klagte und bekam 1.000 Euro vom FC Bayern München. Peanuts im Big Business. Benjamin KnödlerMMozart Die Arie Nehmt meinen Dank von 1782 komponierte W. A. Mozart zum Anlass einer Benefizveranstaltung, auf der die einst von ihm umworbene Sopranistin Aloysia Weber aufzutreten hatte. Die Arie ist gemäß Aloysias Stimmumfang recht hoch und voller Koloraturen und kann bei weniger begabten Sängerinnen schnell schrill wirken. Der Text eines Anonymus (vielleicht verbirgt sich Mozart selbst dahinter) ist voller ätzender Untertänigkeit, sodass er mit etwas ironischer Einfühlung auch als beleidigend aufgefasst werden kann: „Nehmt meinen Dank, ihr holden Gönner! So feurig, als mein Herz ihn spricht, euch laut zu sagen, können Männer, ich, nur ein Weib, vermag es nicht.“Kurz gesagt: Danke fürs Geld, ihr Arschlöcher. Bei der Uraufführung beschloss diese Arie den Abend und war an die ehrenvollsten Promis im Saal adressiert. Solche Dankeskompositionen im Sinne einer ➝ Widmung waren auch ein Mittel für Komponisten, um die Urheberschaft zu signieren. Kiri Te Kanawa oder auch Christine Schäfer sind Sängerinnen unserer Zeit, die diese Arie noch recht gern interpretieren. Sarah KhanMuttertag Ein offenbar nicht auszurottendes Missverständnis ist die Annahme, der Muttertag sei eine Erfindung der Nazis gewesen. Doch wie so vieles haben sie auch diesen fragwürdigen Feiertag nur geklaut und mit Mutterkreuzen dekoriert. Entlehnt ist der „Deutsche Muttertag“ einer US-amerikanischen Tradition (➝ Thanksgiving ), die, wie die Historikerin Karin Hausen schon vor 30 Jahren herausgefunden hat, 1923 vom Verband der Blumenhändler als Geschäftsidee aufgegriffen wurde, unterstützt von Volkspädagogen und Frauenvereinen. „Ehret die Mutter!“, lautete die Parole, mit der Kinder in Dankesschuld gebracht wurden. Der Zusatz „deutsch“ zielte zunächst auf Abgrenzung und lieferte später die nationalistisch gefärbte Vorlage. Aber schon 1932 taucht der Feiertag im deutschen Festkalender auf und blieb fester Bestandteil der Dankeskultur. Ulrike BaureithelPPhrasen „Vielen Dank für Ihr Verständnis!“ – mit freundlichen Worten versuchen Schilder, Abwesenheitsnotizen und eine Zeit lang auch die Deutsche Bahn dem Zorn vorauszueilen. Doch durch Wiederholung wird Höflichkeit auch schnell zur Plattitüde. Ist sie deshalb weniger wert? Wenn gesellschaftlicher Erwartungsdruck auf Kreativitätsgrenzen trifft, entstehen Gemeinplätze jeglichen Sujets. „Schanke dön“, „Danke, Anke“ und „Grazie, Pistazie“ scheinen zwar, zugegeben, gewöhnungsbedürftig, doch die Netiquette wird immerhin hochgehalten. Am Ende zählt vielleicht einfach die Geste selbst, die Wortwahl bleibt Formsache. Und sollte es einem doch mal gänzlich die Sprache verschlagen, kann man ja immer noch Schnaps oder Schokolade (➝ Abstufung) verschenken. Nina RathkeTThanksgiving Der US-amerikanische Erntedank hat als Verneigung vor der Urbevölkerung eine schöne Symbolik (➝ Etymologie). Die Pilgerväter mussten durch einen harten ersten Winter kommen, wobei die Hälfte starb. Ihre indigenen Nachbarn brachten ihnen den Anbau einheimischer Pflanzen bei. Von Ernte beglückt, veranstalten die Pilgrims im Herbst darauf gemeinsam mit den Stämmen ein Fest. Diese Gründungslegende ist historisch vage und verklärend, weil sie die genozidale Dimension der Kolonisierung überdeckt. Thanksgiving richteten die frommen Pilgerväter immer zuerst an Gott, später wurde auch die nationale Einheit beschworen. An die Ureinwohner dachten nur die wenigsten. Tobias PrüwerWWidmung „Ich dichte jetzt hauptsächlich Widmungen“, sagte Thomas Mann 1936 und stilisierte seine Danksagungen als eigene Werke, die heute von Literaturwissenschaftlern seziert werden (➝ Lyrik). Nicht nur Mann erkannte, dass Widmungen zu mehr dienen, als nur Danke zu sagen. Sie sind Selbstdarstellung, Kunstform und vor allem Medium für das, was man der Welt oder seinem nächsten Umfeld sagen möchte. In feiner Kursivschrift werden Vater-Kind-Bindungen geklärt, Entschuldigungen ausgesprochen und Beziehungskonstellationen definiert.Immer wieder zierte Simone de Beauvoir, Sartres härteste Kritikerin, dessen Paratexte. Für die Kritik der dialektischen Vernunft ließ er aber zwei Sonderexemplare drucken, einmal mit einer Widmung an eine andere Frau. Die Autorin Shannon Hale dankt in Austenland einem nahestehenden Mann, macht aber direkt klar: „ I think we should just be friends.“ Babe Walker dagegen widmet ihr Buch Psychos gleich sich selbst: „Dedicated to the strongest person I know: me.“ Ann EssweinZZellstoff Einkaufen ist anstrengend, vor allem für entscheidungsunfreudige Menschen wie mich. Zu viele Stunden habe ich schon ratlos vor dem Marmeladenregal verbracht. Nur Toilettenpapier kaufe ich gern, mein Lieblingspapier bedankt sich nämlich bei mir. DANKE, schreit es mir von der Packung mit den grauen Recyclingrollen entgegen, daneben strahlt ein grüner Baum, der vor lauter saftigen Blättern fast zusammenbricht. Ich bin wohl einer der Menschen, bei denen die Verkaufsstrategie (➝ Muttertag) „das gute Gewissen gibt es gratis dazu“ wunderbar funktioniert. Dafür verzichte ich sogar auf Flauschigkeit. Die fehlt beim DANKE-Papier nämlich, deshalb gab es von Stiftung Warentest nur die Note 2,5. Für ein kuscheliges Gefühl am Allerwertesten müsste ich zum Testsieger Charmin greifen, der hat eine 1,5 bekommen. Bedankt sich aber nicht. Magdalena Müssig
Redaktion
Streetart-Künstler Banksy hat vorgemacht, wie man sich anständig bedankt: Einer Schule spendierte er ein großes Graffiti. Das Lexikon der mal großen und mal kleinen Geste
[ "graffiti", "schulen", "a-z", "flüchtlinge", "widmung", "etymologie" ]
Alltag
2016-07-06T06:00:00+02:00
https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/danke-sagen
Fridays for Future Das Patriarchat kocht
Manchmal merkt man nicht, wie konditioniert man eigentlich ist, bis man jemanden trifft, der es eben nicht ist. Sicher, ich bin vielleicht recht unverblümt in meinen Texten, aber ich sage immer noch Entschuldigung, wenn mich jemand auf der Straße anrempelt. Ich lächle, wenn andere sich – nun ja – schwierig verhalten. Schließlich bin ich in einem bestimmten Alter und wurde bewusst oder unbewusst dazu erzogen, ein freundlicher Mensch zu sein.In den 1980er Jahren stand ich zögerlich vor einem Selbstverteidigungsklasse – Feministinnen machten früher viele solche Sachen – unsicher, ob ich anklopfen sollte oder nicht – nur weil ich fünf Minuten zu spät dran war. Jetzt, da ich älter geworden bin, gefalle ich mir selbst wesentlich mehr – und alle anderen wesentlich weniger. Und ich lasse mir oft von jüngeren Frauen Tipps geben.Die merkwürdigen Reaktionen einiger Männer auf Greta Thunberg, die rein gar nichts mit ihrer dringlichen und absolut notwendigen Botschaft bezüglich der Klimakrise zu tun haben, zeigen einem eindrücklich, was passiert, wenn sich eine junge Frau einfach mal weigert, sich sexualisieren zu lassen. Die alten weißen Herren kommen damit überhaupt nicht klar.Sie haben AngstThunbergs Verhalten mag man mit ihrem Asperger in Verbindung bringen, aber es ist vor allem ihr Trotz, der sie beunruhigt. Alte männliche Intellektuelle in Frankreich furzen nur so vor sich hin, weil Greta nicht „sexy“ genug ist. Es ist wirklich wahr. Der 84-jährige Philosoph Bernard Pivot, Präsident der Académie Goncourt, einer französischen Literaturgesellschaft, schwafelte von den sexy schwedischen Mädchen seiner Jugend. Greta schien für ihn nicht in diese Schablone zu passen. Michel Onfray, 60, ein weiterer Philosoph, sagte, sie habe sowohl das Alter als auch den Körper eines Cyborg. Pascal Bruckner, 70, sagte, ihr Gesicht sei „beängstigend“ und dass sie mit ihrem Autismus hausieren gehe. Und Trump? Man müsste taub sein, um zu überhören, wie er über sie spottet.Greta Thunberg ist 16 Jahre alt. Und das sind erwachsene Männer. Sie haben Angst. Das ist wunderbar. Wer hätte gedacht, dass man das Patriarchat erschüttern könnte, indem man sich einfach dagegen sperrt, ihm ein Lächeln zu schenken und sich nach seinen Vorstellungen zu kleiden – und es so herausfordert? Die einfache Weigerung, dem „Male Gaze“ – dem männlichen Blick – nachzugeben, bringt die Dinosaurier zum Ausflippen.Greta, du klärst uns über mehr als nur ein Klima auf. Dafür möchte ich dir danken.Placeholder authorbio-1
Suzanne Moore
Greta Thunbergs Weigerung, nach ihren Regeln zu spielen, treibt alte weiße Männer in den Wahnsinn. Und das ist auch gut so
[ "Greta Thunberg" ]
Kultur
2019-10-03T09:51:00+02:00
https://www.freitag.de/autoren/the-guardian/das-patriarchat-kocht
Thüringen Im Grenzschutzbunker
Es ist doch erstaunlich, dass die Väter des deutschen Grundgesetzes so vieles aus der amerikanischen Verfassung übernahmen, aber das Recht auf das Streben nach Glück, wie es die Amerikaner unter „pursuit of happiness“ verstehen, ausließen. Denn was sind Menschenwürde und Menschenrechte ohne die Möglichkeit, sein Leben selbst zu bestimmen? Oder die Hoffnung auf ein besseres Leben? Das Recht darauf ist das eine, aber was ein gutes Leben ausmacht, ist wiederum eine individuelle Entscheidung. Natürlich solange sie sich im Rahmen des Gesetzes bewegt. Das wissen eigentlich auch die Protagonisten in Anne Kuhlmeyers Roman Drift.Da ist zunächst die Rechtsmedizinerin Metha, für die erst der Tod ein gutes Leben ausmacht. Für den Lektor Albrecht bedeutet gut zu leben, nicht im Abseits zu stehen. Die Deutschrussin Rosalie will eine gute Ehe mit einem ordentlichen Mann. Bauer Jan sucht sein Glück im Kaffee, den er im thüringischen Werratal anbauen will. Und für den 13-jährigen Sydney wäre das Leben vielleicht besser, wenn er als Mädchen geboren worden wäre. Auf den ersten Blick scheinen da wenige Gemeinsamkeiten zwischen diesen fünf Fremden, die zufällig im Hinterland zusammenkommen. Doch das ändert sich drastisch, als der Fluss Werra über die Ufer tritt, ein Erdrutsch aus der Überschwemmung eine tödliche Flut und sie zu Überlebenden macht.Zusammengepfercht klammern sich Metha, Albrecht, Rosalie, Jan und Sydney in einem abgelegenen, maroden Jagdanwesen samt Grenzschutzbunker aneinander. Und was tut man, wenn die Welt um einen herum unterzugehen droht, man selbst im Bunker wie in einer Arche sitzt und auf Rettung wartet? Man erzählt sich Geschichten. Lebensrettende Geschichten, während das Wasser ringsherum immer weiter steigt und sich das eigene Schicksal unvermittelt und auf tragische Weise mit dem einer gestrandeten Flüchtlingsfamilie verbindet.Tiefenpsychologie im WerratalAnne Kuhlmeyers Drift „bietet“ vom ersten Moment an Leichen, genügend Tote auch, aber das Verbrechen findet erst spät statt. Bis dahin muss man als Krimileser bereit sein, sich auf die fantastischen Elemente in diesem genreüberschreitenden Krimi einzulassen. Man muss dem handwerklich soliden und spannenden Fabulieren der Autorin vom ersten bis zum letzten Moment vertrauen. Dann gehen die seltsamen Begebenheiten auf, die plötzlichen Ortswechsel in fremde Kulturen, ebenso wie die unterschiedlichen Erzählperspektiven, bei denen Methas Erzählen bindende, Zeit umspannende Kraft zukommt.Bei aller Lust an Spannung und Fabulierkunst, die sich schon in Anne Kuhlmeyers vorherigen Romanen und Kurzgeschichten immer wieder ins Fantastische neigte, bleibt hinter der vordergründigen Frage nach dem „guten Leben“ inhaltlich vor allem die Betrachtung der zerstörerischen Gefahr dahinter. Mit anderen Worten: Hier geht es um Schuld, Verantwortung und, ja, Moral. Das sind wesentliche Elemente eines figurenorientierten Krimis, der in die psychologische Tiefe gehen könnte. Doch statt für die tiefenpsychologische Innenschau entscheidet sich Anne Kuhlmeyer mit Drift für unterhaltsame Spannung, die sie sehr anschaulich und mit einer äußerst dichten Atmosphäre aus der „Mitte Deutschlands“ unterfüttert.Die 1961 in Coesfeld geborene, seit langem im Münsterland beheimatete Autorin erzählt also wie schon zuvor und zuletzt in Nighttrain (2015) auch in Drift wieder eine Geschichte aus ihrer alten Heimatregion. Und sie schafft mit der Rechtsmedizinerin Metha trotz aller Fantastik eine extrem glaubwürdige „Kollegin“. Kuhlmeyer kennt sich aus, sie arbeitete selbst viele Jahre als Fachärztin für Anästhesiologie. Wenn sie nicht schreibt oder als Redakteurin bei CulturMag oder als Mitglied des kriminalliterarisch-feministischen Netzwerks Herland unterwegs ist, arbeitet die Schriftstellerin seit 2009 auch als Traumatherapeutin.Placeholder infobox-1Placeholder authorbio-1
Edina Picco
In Anne Kuhlmeyers „Drift“ treibt ein Unwetter die Protagonisten zusammen
[ "literatur", "krimi", "krimi spezial" ]
Kultur
2017-04-24T06:00:00+02:00
https://www.freitag.de/autoren/edina-picco/im-grenzschutzbunker
Pride Month Im Regenbogenrausch
Erinnern wir uns an Stonewall; daran, dass die schwarze trans Frau Marsha P. Johnson aus Wut und Verzweiflung über die omnipräsente Polizeischikane gegen LGBTQs den ersten Stein auf ihre Peiniger warf, erinnern wir uns an die immerwährenden Kämpfe der Marginalisierten, endlich anerkannt zu werden. Und es scheint, als seien diese Kämpfe jetzt vorbei. Naja, vorbei nicht ganz, aber verkulturindustrialisiert worden sind sie immerhin. Und das ist ja fast wie ein Ende von Homophobie und Transfeindlichkeit. Überall feiert man die Diversität! Zumindest im Juni, dem sogenannten „Pride Month“. Microsoft veröffentlicht Videos, in denen das Unternehmen Tablet-Cover in Regenbogenfahnen präsentiert und darüber spricht, dass LGBTQ „ein ganz normales Thema“ sei. Doc Martens verkauft Stiefel und Adidas Turnschuhe im Regenbogenlook. Trump vergisst für einen Moment dass er trans Personen nicht für würdig erachtet, Zugriff auf Hormontherapie und Gesundheitsversorgung zu haben, und es vollkommen okay findet, wenn Homosexuelle aus „religiösen Gründen“ im Betrieb diskriminiert werden. Er twittert, ganz im Regenbogenrausch, darüber, wie stolz er auf diese ganzen Homos ist, die so viel zu den Errungenschaften der USA beigetragen haben.Der Kapitalismus liebt Schwule mindestens genauso wie „normale“ Menschen, erklärt uns der Pride Month. Das zeigt man am besten, in dem man auf ein x-beliebiges Produkt eine Regenbogenfahne klatscht und für den doppelten Preis verkauft. Die heteromännliche Glasdecke durchbrechen? Pustekuchen! Einmal im Jahr ein Brunch mit Dragqueens, dann fühlen sich die Homos im Betrieb mal geschätzt – und eine tolle Instagram-Story gibt das auch ab. Sogar Gillette, jahrzehntelang Frontrunner in Sachen Hypermaskulinität, tut weiter Buße und dreht nach dem Erfolg seines Clips, der solche Stereotype kritisierte, zum Pride Month ein zugegeben berührendes Video von einem Vater, der seinem transgeschlechtlichen Sohn das Rasieren beibringt. So kann man nicht nur seine Weltoffenheit zur Schau stellen, sondern sich gleich eine Zielgruppe erschließen.Das ist das Schöne am Kapitalismus: Solange sich mit deinen Anliegen Kapital generieren lässt, gibt es Unternehmen, die sie erfüllen. Außer, du hast kein Geld. Denn: Ließe sich deine Sexualität nicht vermarkten, wäre sie dem Kapitalismus und seinen Akteuren eigentlich auch egal.
Veronika Kracher
Einmal im Jahr entdecken Unternehmen ihr Herz für die LGBTQ-Gemeinde. Als Zielgruppe
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Alltag
2019-06-20T06:00:00+02:00
https://www.freitag.de/autoren/veronika-kracher/im-regenbogenrausch
Rücktritt von Deniz Yücel: Ausgerechnet jetzt ist der deutsche PEN außer Betrieb
Am 9. April 2022 schrieb ich dem damals amtierenden Präsidenten von PEN Deutschland die folgende E-Mail:Lieber Deniz Yücel,außer ständige Gegenrede zu führen und voller Bewunderung für Ihre Haltung outspoken zu sein und meiner Unterstützung für Sie darin, weiß ich nicht, was machen – außer auszutreten, wenn Sie gehen oder in dieser Art gegängelt werden zu gehen.Wenn ich etwas anderes tun kann, für das mir selbst gerade jegliche Fantasie fehlt, so inspirieren Sie mich bitte.Mit vielen, freundlichen Grüßen,Nora GomringerDieser E-Mail vorausgegangen waren Mitteilungen in den Medien, in denen fünf seiner Vorgänger im Präsidentenamt Yücels Rücktritt forderten, weil er sich für eine Flugverbotszone über der Ukraine und ein direktes Eingreifen der Nato ausgesprochen hatte und dies – nach Meinung der fünf – nicht im Namen des PEN hätte tun dürfen. Der PEN stehe für Frieden, Yücel für Krieg, mindestens aber für Unfriede im Verein, was ihnen noch schwerer zu wiegen schien. So wurde medial aufgebaut, was schon länger wie eine Wunschmelodie klang: den als unbequem beschriebenen Präsidenten aus dem Amt zu entfernen. In ellenlangen E-Mails, die ich unaufgefordert privat als Reaktion auf meinen Zuspruch für Yücel zugesandt bekam, wurden mir peinlichste Interna wie als Rechtfertigung zur Lektüre „aufgegeben“, um zu prüfen, ob das Leute seien – Yücel und Unterstützer seiner Positionen im Präsidium –, die ich ebenfalls „unterstützen wolle“.Deniz Yücel zum PEN: „Dünkelhafte Bratwursthaftigkeit und Kolonialherrengehabe“Ich verstand und verstehe zunehmend, dass Yücels klare Haltung zur Unterstützung der Ukraine der nach außen kommunizierbare Tropfen im nun überlaufenden Fass war und die Querelen eine „Befreiung“ vom „lästigen Lauten“ – so meine Analyse – überdecken sollten. Mit viel Bauchweh und Anspannung ging ich dieser Tage gedanklich mit nach Gotha in die Jahresversammlung des PEN – physisch war ich die meiste Zeit in der Bahn, unterwegs zu Auftritten in München, Frankfurt und Zürich – und las mir Kommentare von anwesenden Kolleginnen und Kollegen bei Facebook durch, die etwas von einem Apokalypse-Tagebuch hatten. Und dann: Bestätigung Yücels im Amt durch knappe Mehrheit. Und dann: Yücels Rücktritt. Übrigens hatte er dem PEN bereits am 12. April im Zeit-Interview „dünkelhafte Bratwursthaftigkeit und Kolonialherrengehabe“ als Grund für seinen Verdruss genannt. Dies hier für alle, die sich ernstlich wegen der „Bratwurstbude“ beömmeln im Pennäler-Ton von 70er-Jahre-Schlaghosen-Filmen oder reagieren wie beleidigte andere Würste. Wenn was mies läuft, muss man es so benennen dürfen.Vielen war Yücel Persona non grata. Wer ihn heute als „krawallig“ darstellt und als Formkritiker seiner Versäumnisse auftritt, ist rasch beim Hinterrücks-Denunzieren und Vermeiden inhaltlicher Auseinandersetzung. Das Vorgehen ähnelt dem Umgang mit dem ukrainischen Botschafter. Seit man die Kommentare von Andrij Melnyks Kritikern mitlesen kann, fühlt man sich in beiden Debatten an das Abstrafen undankbarer Jungs erinnert. Gerade heute, da Diktaturen auf dem Vormarsch sind, ist der Schutz der freien Rede und der Kunst wichtiger denn je. Der Mut zahlreicher Autorinnen und Autoren ist im Kampf für diese Werte beispiellos. Der PEN unterstützt sie in diesem Kampf. Nur nicht der deutsche PEN, der ist gerade außer Betrieb.Placeholder authorbio-1Placeholder infobox-1
Nora Gomringer
Der PEN unterstützt Autorinnen und Autoren weltweit im Kampf für die freie Rede. Nur nicht der deutsche PEN
[ "deniz yücel", "pen" ]
Kultur
2022-05-17T11:42:00+02:00
https://www.freitag.de/autoren/nora-gomringer/ruecktritt-von-deniz-yuecel-ausgerechnet-jetzt-ist-der-deutsche-pen-ausser-betrieb
Kulturkommentar Sich eben mal bei Wikipedia bedient
Nun hat es auch das populärwissenschaftliche Sachbuch und einen renommierten Verlag erwischt. Nachdem Plagiate zunächst in Dissertationen von Berufspolitikern entdeckt wurden und zum Ende politischer Karrieren beitrugen, steht nun ein Werk von Fachwissenschaftlern auf dem Prüfstand. Die Historiker Arne Karsten und Olaf B. Rader sollen sich für ihr Buch Große Seeschlachten aus der Online-Enzyklopädie Wikipedia bedient haben. Ohne diese Quelle anzugeben. Öffentlich gemacht wurde das durch einen Facebook-User. Der attestierte dem Sachbuch zuerst, es sei „vollständig“ aus Wikipedia-Einträgen zusammenkopiert und „nicht zu retten“. Inzwischen rudert er zurück, beharrt aber darauf, es seien „mehrere wörtliche Übernahmen aus der Wikipedia vorhanden, wie jeder sehen kann“.Beachtung verdient dieser Vorfall nicht nur wegen der Verfasser, die auf die Plagiatsvorwürfe mit der Androhung einer Unterlassungsklage reagierten. Sondern vor allem auch wegen des Verlags C.H. Beck, dessen Reputation durch solche Vorkommnisse erschüttert wird. Eben deshalb ist die von Verlagsseite angekündigte „gewissenhafte Überprüfung“ ein richtiger Schritt. Doch kommt diese Investition von Aufmerksamkeit nicht zu spät? Wo waren die Verlagsmitarbeiter während der Entwicklung des Buchprojekts? Sollte nicht ein Manuskript vor Einlieferung auf Herz und Nieren geprüft sein?Auf diese Fragen hat der Lektor des Buches souverän reagiert. Selbstverständlich gibt es Fakten-Checks und stilistische Arbeit an Aufbau und Ausdruck. Doch von einer Urheberschaft der Autoren – die ja einen entsprechenden Vertrag unterzeichnen – geht der Verlag grundsätzlich aus. Schließlich sind es wissenschaftlich ausgebildete Personen, die ihre Zukunft in die Wagschale einer solchen Publikation werfen. Wer über das entsprechende Ethos nicht verfügt, sollte es bleiben lassen.Deshalb zeigt das Buch von Arne Karsten und Olaf B. Rader, das laut Nebentitel „Wendepunkte der Weltgeschichte“ behandelt, mehr als nur einen weiteren Fall von Copy-Paste-Verfahren a la Guttenberg & Co. Es demonstriert nachhaltig die Bedeutung, die den Buchverlagen in Zeiten entgrenzten digitalen Wissens zukommen: Sie übernehmen die unverzichtbaren Funktionen des Auswählens und Verdichtens jener vielfältigen Stoffe, die wir in Buchform lesen möchten. Das schaffen sie jedoch nur, wenn das Ethos von Genauigkeit und intellektueller Redlichkeit in den beteiligten Autoren verwurzelt ist. Dazu gehört die Offenlegung der genutzten Quellen. Denn: Jeder darf Wikipedia nutzen und Aussagen in seine Texte übernehmen – Wenn er die entsprechenden Aufgaben des Nachweisens und Dankens übernimmt.
Ralf Klausnitzer
Ein Geschichtsbuch über Seeschlachten schlägt gerade hohe Wellen. Warum hat der Verlag das Abschreiben nicht bemerkt?
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Kultur
2014-05-02T08:08:10.090309+02:00
https://www.freitag.de/autoren/ralf-klausnitzer/sich-eben-mal-bei-wikipedia-bedient
Eventkritik Wer sprechen kann, der kann auch singen
An einem bewölkten Vormittag kommen etwa 100 Menschen höheren Alters auf einer Terrasse an der Spree zusammen. Sie schlürfen Café und lugen neugierig auf die andere Seite des Flusses. Von dort dröhnen die Bässe eines Clubs herüber, ein paar Punks sitzen am Ufer vor einem ehemals besetzten Haus und trinken ein Absacker-Bier. Auf der Straße sind sie sich bereits begegnet, die nach Hause Torkelnden mit blassen Gesichtern und die Frühaufsteher mit rosigen Wangen. Eines haben sie alle gemeinsam: Sie sind wegen der Musik unterwegs.Hier, auf dem Gelände des Berliner Radialsystems, findet an diesem Sonntagvormittag ein offenes Singen statt; ein Treffen des „Ich-kann-nicht-singen-Chors“. Anfang 2011 ist er entstanden, inzwischen trifft man sich monatlich. Das alte charmante Pumpwerk aus Backsteinen ist mit einer Glaskonstruktion modernisiert worden und dient seit einigen Jahren als offener künstlerischer Raum und Ort für zeitgenössischen Tanz, unter der Leitung der Choreografin Sasha Waltz, deren Company hier beheimatet ist. Nun stehen Damen in Blusen und Kleidern mit sommerlich-floralen Motiven und ein paar Herren in Trekkingsandalen in Grüppchen zusammen und plaudern.„Pflückt einen Ton“Im Innenraum begrüßt Chorleiter Michael Betzner-Brandt sie mit einer Power-Point-Präsentation. Mit einem Mikrofon in der Hand schreitet der Musikdozent der Universität der Künste (UdK) die Halle ab und erklärt, dass eigentlich jeder, der sprechen könne, auch singen kann. Der Name des Chors Ich-kann-nicht-singen sei eine Finte erklärt er, am Ende werde es toll klingen. Gelächter.In der nächsten halben Stunde werden Aufwärmübungen gemacht, alle springen, hüpfen, strecken sich, Ahs und Ohs klingen durch den Raum. „Pflückt einen Ton vom Boden und tragt ihn bis zur Decke“, fordert Betzner-Brandt auf, „Und jetzt zeigt euren Ton jemand anderem.“ Man blickt sich an und singt sich gegenseitig die Töne vor. Alle werden für einen Moment zu Kurzzeitdarstellern, die sich euphorisch durch den Raum bewegen, lachen und winken.Sie tun, was man sich sonst nur unter der Dusche traut. Als sie dann alle mit dem Rücken zueinander einen großen Kreis bilden und lange Vokale singen, klingt das eindrucksvoll – ein großer vibrierender Ton erfüllt den Raum und die Körper. Dass hier niemand nicht singen kann, merkt man spätestens jetzt. Die meisten beherrschen es sogar richtig gut. So wie Elke Peters, 69. Sie ist mit vier Freunden und Freundinnen gekommen, zum Ausprobieren und Spaß haben, wie sie sagt. So wie die meisten hier, die sich alle nicht schämen, wie ein Känguru zu hüpfen oder den Po zur Begrüßung gegen den eines Fremden zu schwingen.Gemeinschaftserlebnis der analogen Welt„Wenn mir jemand vorgeschlagen hätte, zum Chor zu gehen, hätte ich ihm gesagt : Du hast‘n Vogel!“, sagt Peter Nagel, 67. Früher hat er mal Rock‘n‘Roll gemacht. Der Name des Chors habe ihm jedoch die Angst genommen, er sei also spontan hier und habe hemmungslos mitgemacht. Das liegt sicherlich auch an der motivierenden Art Betzner-Brandts, einem geborenen Entertainer.Er hat seine Locken zu einem kurzen Pferdeschwanz gebunden, trägt Brille und Hosenträger und ist unablässig in Bewegung. Rhythmisch bewegt er sich durch den Raum und überträgt seine Leidenschaft auf alle anderen. „Wie gut es gelaufen ist, merke ich immer daran, wie erschöpft ich hinterher bin“, sagt er. Heute sei er sehr erschöpft.Mit seinem „vocal style“ gehe es dem Künstler und Musikpädagogen vor allem um den Spaß am Lernen. Es sei eine Form der musikalischen Kommunikation und eine Variante, seine Stimme zu entdecken. „Erziehung durch Musik statt zur Musik“, so nennt er das. Dieses Improvisieren kann man als Gegenbewegung sehen zu einer zunehmenden Professionalisierung von Musik und Stimme, die häufig nach sich zieht, dass Opernsänger bereits mit 40 an Burn-Outs und kaputten Stimmbändern leiden, wie zuletzt Star-Tenor Jonas Kaufmann.Bei den Amateur-Sängern geht es aber nicht nur ums Musizieren, sondern auch um entspanntes Zusammensein. Sie wollen etwas miteinander als Gruppe schaffen, ohne jeden Leistungsgedanken. „Es ist ein Gemeinschaftserlebnis der analogen Welt“, erzählt der Chorleiter. Und dann berichtet er, wie er mit seinem Chorkonzept nach Südostasien reiste – und auch dort mit Menschen „Töne pflückte“.Statt SchützenvereinAuch durch solche Erlebnisse findet ein Imagewechsel statt, Chorsingen wird wieder populär. Neue Formate, wie das Chorfest Frankfurt, das „Singen ohne Noten“ oder eben der Ich-kann-nicht-singen-Chor ersetzen traditionelle Altherren-Schützenvereinschöre. Chorgründungen nähmen zu, heißt es beim Deutschen Chorverband. Erstmalig seit dem ersten Weltkrieg gebe es seit wenigen Jahren eine positive Mitgliederentwicklung, vor allem durch Gründungen von Jazz- und Popchören, maßgeblich an Schulen.Auch im Radialsystem ist man begeistert. Auf der Beamerleinwand wird gegen Ende des Vormittags eine Partitur abgespielt, die aus Buchstaben und kryptischen Zeichnungen besteht: Bögen, Strichen, Punkten. Sie schieben sich langsam über die Leinwand, und jeder kann selbst entscheiden, welche Töne und Rhythmen er daraus formt. Die Massenimprovisation ist ein schräges Stimmgewirr. Manche verwirrt sie. „Ich versteh‘ gar nichts mehr“, sagt eine junge Frau. Andere grooven selbstsicher mit. Hier spürt man dann doch die Kluft zwischen denjenigen mit musikalischer Erfahrung und den Anfängern. Irgendwie haspelt sich jeder durch die Melodien und Rhythmen. Yeah, ruft Betzner-Brandt ermutigend ins Mikro. Am Ende gibt es noch eine kleine Vorführung des UdK-Chores „Vocal Groove Generation“ mit Musikstudierenden. Und weil es ja auch um Spaß geht, singen schließlich alle: „Let Me Entertain You“, frei nach Robbie Williams.
Juliane Löffler
Warum werden jährlich hunderte Chöre gegründet? Ein Besuch beim „Ich-kann-nicht-singen“- Chor in Berlin
[ "singen", "eventkritik", "radialsystem", "chor" ]
Kultur
2012-07-03T12:37:00+02:00
https://www.freitag.de/autoren/juloeffl/wer-sprechen-kann-der-kann-auch-singen
Ausstellung Jesus, liebe mich!
Inmitten ihrer neuen Ausstellung, deren faszinierendstes Exponat in einer aus 150 Zeichnungen bestehenden Animation einer masturbierenden Frau besteht, erklärt Tracey Emin, dass Sex heute, kurz vor ihrem 50. Geburtstag, immer weniger Macht über sie habe. „Es ging immer nur um Sex, nicht um Geld,“ erinnert die britische Künstlerin sich. „Sex hielt mich im Bett und brachte mich morgens dazu aufzustehen. Das lässt jetzt aber rapide nach. Ich bin nicht mehr so verrückt nach Sex – Ideen interessieren mich mehr.“Während sie diese Worte spricht, fällt das Licht einer Neon-Installation auf sie, die sich im Raum nebenan befindet. In grell leuchtenden Buchstaben prankt dort der Satz: „Oh Christ I just wanted you to fuck me and then I became greedy and wanted you to love me.“ („Oh mein Gott, zuerst wollte ich nur, dass du mit mir schläfst, aber dann konnte ich nicht genug kriegen und wollte, dass du mich liebst.“) Ihre neueste Ausstellung in der White Cube Gallery im Londoner Stadtteil Mayfair ist seit vier Jahren ihre erste in der britischen Hauptstadt. Die Preise der einzelnen Exponate reichen von 5.000 Pfund für eine schlichte Zeichnung bis hin zu den für jede der fünf Kopien der Masturbations-Animation veranschlagten 22.500 Pfund.Emins Markenzeichen: Bestickte DeckenDer Ausstellungsleiter der Galerie Tim Marlow meint: „Ich bin kein Ökonom, ich weiß nicht, ob wir uns nun in einer V- oder W-förmigen Rezession befinden, aber ich bin erstaunt darüber, wie widerstandsfähig die Galerieverkäufe sich erwiesen haben. Diese Stücke werden sich alle verkaufen. Die Leute kommen vielleicht auf der Suche nach einem Schnäppchen hierher – das werden sie aber nicht kriegen.“Zu den zuvor niemals ausgestellten Werken zählen die Seiten eines 18 Jahre alten Tagebuches der Künstlerin, sowie die neuen Neon-Arbeiten und die mit Stickereien und Applikationen versehenen Decken, die Emins Markenzeichen sind. Viele der Werke sind autobiographisch, die Frau mit den eifrigen Händen und den beneidenswerten Beinen aus der Animation ist es allerdings nicht. „Ich wünschte, das wäre ich“, meint Emin dazu. Die Figur ist von einer Sammlung alter Pornohefte inspiriert, die Emin beim Kauf „ein paar komische Blicke einbrachten.“Eines der berühmtesten Werke Emins, ein besticktes Zelt mit dem Titel Everyone I Have Ever Slept With 1963 – 1995 wurde vor fünf Jahren bei einem Brand in einem Kunstlager zerstört. Beim diesjährigen Hay-Festival, einem Festival für Literatur und Kunst, das jährlich in der walisischen Stadt Hay-on-Wye stattfindet, gaben ihre Künstler-Kollegen Jake und Dinos Chapman bekannt, eine Rekonstruktion des Zeltes angefertigt zu haben. Wirklich erfreut darüber ist die Erschafferin des Originals nicht: „Es wird nicht mein Zelt sein, sondern ganz und gar ihre Vision davon. Sie ärgern mich immer. Je öfter ich sage, dass ich damit nicht glücklich bin, desto mehr machen die Mistkerle es.“Die britische Künstlerin hat in jüngster Zeit im vorübergehenden Exil gearbeitet, da sie ihr Studio an den Künstler Stephen Cornell verliehen hatte. „Als die Zeit gekommen war, an dem es an mich zurückgehen sollte, war er gerade in voller Fahrt und überall war Farbe. Also sagte ich: ‚Mach dir keine Gedanken, ich arbeite sowieso an einer Animation.’ Eigentlich war das nur eine Ausrede, aber dann entschloss ich mich es wirklich zu machen. Ich wusste nicht, ob das mit der Animation funktionieren würde. Als dann aber alles zusammenkam, als wir die Zeichnungen in den Computer einscannten, war das wie Zauberei. Es hat mich total gepackt.“
Maev Kennedy, The Guardian
Es ging ihr nie um Geld, immer nur um Sex. Zum ersten Mal seit vier Jahren stellt die britische Künstlerin Tracey Emin wieder in London aus
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Kultur
2009-05-29T09:00:00+02:00
https://www.freitag.de/autoren/the-guardian/jesus-liebe-mich
Fußball Leicht spricht es sich über das Outing
Auch wenn Sie sich nicht für Fußball interessieren, bitte kurz herhören. Da ist Max Kruse. Kruse spielt bei Union Berlin, nach langer Verletzung saß er am Samstag gegen Freiburg wieder auf der Bank. Ein Spieler, von dem die Kommentatoren sagen, dass seine Siegermentalität der Mannschaft schon hilft, wenn er nur am Spielrand sitzt, ein Spieler, der über Prostituierte gerappt hat und Boliden fährt, ein Spieler also mit einer brachialen, an hohe Testosteronwerte gebundenen Männlichkeit, und dieser Spieler ist nun der Kopf einer Kampagne gegen Homophobie im Fußball. Max Kruse ziert das Cover der neuen Ausgabe von 11 Freunde, dem Magazin für Fußballkultur. In der Hand hält Kruse ein Plakat: „Ihr könnt auf uns zählen!“ Über 800 Spieler und Spielerinnen haben einen Aufruf unterschrieben, der Homosexuellen ihre Unterstützung versichert – falls sie sich outen wollen. Es geht darum, das Klima für ein Outing zu bereiten, und zwar in der fußballaffinen, archaischen Sprache von Instinkt und Clan: Wir schützen dich, wenn du uns brauchst. Das erinnert etwas an die Kampagne „Mach meinen Kumpel nicht an!“ und ist natürlich okay.Ein solches Pathos dürfte einem Philipp Lahm trotzdem eher fremd sein. Man kann Lahm als das Gegenstück zu Kruse bezeichnen. Auch Lahm war Nationalspieler, blieb aber skandalfrei und gilt als berechnend. Eine Karriere beim FC Bayern, wo er fast sein Leben lang spielte, oder sogar in der CSU wurde ihm vorausgesagt. Dieser Philipp Lahm mag ein Streber sein, aber er hat auf Homophobie im Fußball hingewiesen, als das noch nicht en vogue war, und diesen Hinweis stets mit dem zu hohen Druck für ein Outing versehen.Nun hat er ein Buch geschrieben, aus dem die Bild-Zeitung eine Passage vorabgedruckt hat, die seine Position wiederholt. „Gegenwärtig schienen mir die Chancen gering, so einen Versuch in der Bundesliga mit Erfolg zu wagen und nur halbwegs unbeschadet davonzukommen.“ Auch wegen der Zuschauer, vor allem bei Auswärtsspielen.Nun scheint er aber vom Zeitgeist überholt zu werden. Das weltbekannte Magazin für Minderheitenschutz und Diversität, der Focus, wirft ihm vor, eine Chance verpasst zu haben. Auch die SZ fordert Ermunterung statt Ermahnung. Bei so viel Easy Going darf man schon mal erinnern: Der einzige deutsche Profifußballer, der sich geoutet hat, ist und bleibt Thomas Hitzlsperger, und auch er erst nach seinem Karriereende 2014. Heute ist Hitzlsperger Sportvorstand beim VfB Stuttgart und in einen Machtkampf im Verein verstrickt. Man weiß nicht so recht, wer in diesem Kampf gut und wer böse ist. Die Fans, deren Liebling er lange war, rücken von Hitzlsperger jedenfalls ab, sie sehen in ihm keinen Teamplayer mehr. Seine sexuelle Orientierung spielt dabei keine Rolle, wenn ich einem Kenner des VfB Glauben schenken darf. So soll es sein, nämlich: egal. Aber es ist ein weiter Weg dahin.
Michael Angele
Eine Kampagne soll Spieler zum sexuellen Bekenntnis motivieren. So einfach ist es aber nicht
[ "VfB Stuttgart", "Thomas Hitzlsperger", "Philipp Lahm", "Homophobie im Fußball", "Max Kruse (Fußballspieler)" ]
Politik
2021-02-25T06:00:00+01:00
https://www.freitag.de/autoren/michael-angele/leicht-spricht-es-sich-ueber-das-outing-im-fussball
Iranisch essen in Köln-Südstadt: So viel Leid, so viel Geschmack
Eine kulinarische Heimat ist eine vielschichtige Sache. Sie kann ein Ort sein, an dem uns Speisen und Getränke ein Gefühl von zuhause vermitteln – ein Lieblingsrestaurant etwa oder die Küche der Großeltern. Für Menschen aber, die ihren Wohn- und Aufenthaltsort nicht freiwillig, sondern auf Grund von Krieg und Gewalt, Armut und Perspektivlosigkeit verlassen müssen, ist die kulinarische Heimat viel mehr als das: Sie ist die Summe von sensorischen und sozialen Erfahrungen des bisherigen Lebens, zu dem im Exil kein oder nur noch erschwerter Zugang besteht.In der vergangenen Woche aß ich in einem persischen Restaurant zu Mittag. Eine Handvoll dieser Lokale sucht die Gemeinschaft und befindet sich nah beieinander, mitten in der Stadt. Während draußen große Aufkleber mit den Hashtags #women #life #freedom auf die aktuelle Situation in Iran verweisen, herrscht drinnen eine eher verklärende Sicht auf die Vergangenheit vor der sogenannten Islamischen Revolution, nebst sepiagefärbten Stadtansichten und einem großen Porträtfoto von Mohammad Reza Pahlavi, dem letzten Schah.Im Restaurant war ich hörbar der einzige Gast, der kein Farsi konnte, ansonsten saßen hier – nach Sprache und Gewandtheit im Umgang mit persischen Gepflogenheiten zu urteilen – mehrheitlich iranischstämmige ältere Damen und Herren, vor sich das Tagesgericht Zereschk Polo.Die persische (Exil-)Küche ist nun ein anschauliches Beispiel für die Bedeutung der kulinarischen Heimat. Wie in Marcel Prousts Roman Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, in dem vor dem inneren Auge des Protagonisten die Blumen im Garten, die Seerosen im Fluss, die Häuser, die Kirche und schließlich die gesamte Umgebung aus einer Tasse Tee emporsteigen, geht es auch bei Huhn mit Safranreis und Berberitzen nicht nur um den Geschmack, sondern eben auch um die Vergegenwärtigung der eigenen Vergangenheit auf dem Teller.Erinnerung und FladenbrotDenn wie bei Proust ist auch in Iran der eingezäunte Garten die Kernzelle der vom Menschen geformten Landschaft. Im Mitteliranischen wird sie Pardez genannt, ein Ort des Überflusses, der als „Paradies“ auch in unserer Alltagssprache zu finden ist. Dieser Topos spiegelt sich nicht nur in der persischen Poesie, den Miniaturen oder der Teppichkunst, sondern auch im Essen, in den Zutaten, in Farben, Aromen und Konsistenzen. Etwa in den langen Reiskörnern, die so leicht sind, dass man sie fast wegpusten kann, in den erdigen Aromen von Safran und getrockneten schwarzen Limetten, den herben Akzenten von Walnuss und Granatapfel oder den floralen Noten des Rosenwassers. Vor allem aber in den frischen Kräutern – glatter Petersilie und Minze, aber auch Dill, Koriander und Bockshornklee – die es vor, zum und im Essen gibt.Ein Sangak genanntes Fladenbrot war früher einmal das Grundnahrungsmittel persischer Soldaten fernab der Heimat. Noch heute wird es traditionell auf einem Bett aus Flusskieseln gebacken, das ihm eine eigenwillig zerklüftete Oberfläche verleiht. Jeder der Soldaten soll damals eine Handvoll Steine in der Tasche gehabt haben, die unterwegs zusammengelegt, zum Grund des mobilen Backofens wurden.Für die Gäste beim Mittagessen schien mir das Paradies verloren. Ihr Alter ließ darauf schließen, dass sie den Iran vermutlich in den ersten Jahrzehnten nach der Revolution von 1979 verlassen haben mussten. Die Berberitzen auf dem Reis waren vielleicht der Kieselstein in ihrer Tasche und beim Mittagessen lag der imaginäre Garten daher nicht irgendwo zwischen Kaspischen Meer und Persischem Golf, sondern kurzfristig mitten in der Kölner Neustadt-Süd.
Johannes Arens
Wo Wehmut herrscht und der Teller spricht: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit – in einem iranischen Exilrestaurant
[ "Berberitzen", "Persische Sprache", "Mohammad Reza Pahlavi", "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit" ]
Debatte
2023-04-28T04:00:00+02:00
https://www.freitag.de/autoren/johannes-arens/kulinarische-opposition-iranisch-essen-in-koeln-suedstadt
Schweiz Der Sünde ins Maul schauen
Es gibt Länder mit Problemen und solche mit Luxusproblemen. Zu letzteren gehört die Schweiz. Dort gibt es beachtliche 540.000 Zweit- oder Ferienwohnungen mit zusammen rund einer Million Betten. Nur ein Zehntel davon wird professionell vermietet – 90 Prozent hingegen nutzen nur die Besitzer, sie stehen bis zu 330 Tagen pro Jahr leer. Man spricht von 900.000 „kalten Betten“, darunter eine unbekannte Zahl „eingefrorener Betten“ in Ferienwohnungen, die über Jahre gar nicht benutzt werden. Insgesamt ist der Zweitwohnungsbestand seit 1990 um mehr als 50 Prozent gewachsen.Daran stoßen sich nicht nur Natur- und Landschaftsschützer, die über zersiedelte Ferienregionen klagen. Betroffen davon sind besonders die Kantone Graubünden, Wallis und Tessin, wo es zahlreiche Gemeinden mit einem Ferienwohnungsanteil von 65 bis 85 Prozent gibt. Während viele dieser Appartements nur sporadisch belegt werden, finden einheimische Bürger keine bezahlbaren Wohnungen mehr. Alle Versuche, den Ferienwohnungsbau zu bremsen, scheiterten an den Interessen von Landbesitzern, Banken, Bauunternehmern und Immobilienspekulanten. Der Unmut in der Bevölkerung über diese Zustände machte sich am 11. März in einer Volksabstimmung Luft, bei der die Initiative Schluss mit uferlosem Bau von Zweitwohnungen mit 50,6 Prozent eine knappe, aber eben ausreichende Mehrheit fand. Das geschah gegen den Willen von Regierung, Parlament und allen Parteien außer den Grünen, den Sozialdemokraten und der kleinen evangelischen Volkspartei. Doch lässt sich das Votum nicht ignorieren, sodass nun Artikel 75 der Bundesverfassung durch einen Absatz ergänzt wird, der den „Anteil von Zweitwohnungen am Gesamtbestand der Wohneinheiten einer Gemeinde auf höchstens 20 Prozent beschränkt“. Wie die neue Verfassungsnorm erfüllt wird, soll ein noch ausstehendes Gesetz regeln. Nur gleicht dies der Quadratur des Kreises: Wie soll die Nutzung einer Wohnung überwacht werden ohne Verletzung der Privatsphäre? Und wie kann das Privateigentum aufrechterhalten und zugleich die Vermietung einer Eigentumswohnung gesetzlich geregelt werden? Wie kann man verhindern, dass die Wohnungs- und Mietpreise stark steigen, falls man das Wohnungsangebot per Gesetz verknappt?Aus der Portokasse Sicher muss zunächst einmal der Gesetzgeber definieren, was „Zweitwohnung“ überhaupt bedeutet, denn jedes eingeschränkte Verfügungsrecht über Privateigentum muss gerichtlicher Überprüfung standhalten. Die Lobbyisten aus der Tourismusbranche, aus dem Baugewerbe und dem Immobilienhandel sind bereits heftig dabei, die Gesetzgebung zu beeinflussen. Auf jeden Fall vermeiden möchte man eine österreichische Lösung. Dort bestehen für den Zweitwohnungsbau gesetzliche Bestimmungen – vorerst freilich nur auf dem Papier, denn in der Praxis werden sie massenweise unterlaufen. Auch die Besteuerung von Zweitwohnungen – in Lech am Arlberg sind 7,84 Euro pro Quadratmeter und Jahr vorgesehen – erweist sich als wirkungslos, weil die Betroffenen so niedrige Beträge offenbar nicht stören. Die massive staatliche Förderung für den Hotelneubau konnte dem Boom beim Zweitwohnungsbau ebenfalls nichts anhaben.Starkes Kopfzerbrechen bereitet den Schweizer Juristen die mit der Initiative in den Rang einer Verfassungsnorm gehobene „Übergangsbestimmung“. Sie lautet: „Baubewilligungen für Zweitwohnungen, die zwischen dem 1. Januar des auf die Annahme des Artikel 75 folgenden Jahres und dem Inkrafttreten der Ausführungsbestimmungen erteilt werden, sind nichtig.“ Im Klartext: Sofortiger Baustopp für Zweitwohnungen. Die Formulierung lässt keinen Spielraum. So warnt denn auch die Berner Regierung alle Gemeindebehörden, die für die Genehmigung zuständig sind, jetzt noch rasch Baubewilligungen auf Vorrat zu erteilen. Gerichte, die den angenommenen Verfassungsartikel anwenden, könnten sie spielend annullieren.An Lösungsvorschlägen von zweifelhaftem Charme mangelt es nicht. Der exzen­trische Präsident des FC Sion und Bauunternehmer Christian Constantin zum Beispiel plädiert für den Austritt des Kantons Wallis aus der Eidgenossenschaft. Ziel wäre dann ein autonomer Freistaat.
Rudolf Walther
Eine Volksabstimmung stoppte den ausufernden Zweitwohnungsbau in einigen Kantonen. Nun muss sich der Bundesrat zu einem Sakrileg aufraffen und ins ­Privateigentum eingreifen
[ "Kanton Wallis", "aussenpolitik" ]
Politik
2012-04-04T14:19:00+02:00
https://www.freitag.de/autoren/rudolf-walther/der-sunde-ins-maul-schauen
„Himmelstriche“ von Bernhard Malkmus, oder: Die Liturgie des Goldregenpfeifers
Wer heute die Idylle sucht, findet sie vereinzelt im Nordosten Englands, zwischen den Küstenklippen und dem „Dreiflüsseland“, wo sich der River Tyne, River Wear und River Tees ihren Weg durch das satte Grün bahnen. Dabei hat auch diese Gegend einen Teil ihrer früheren Unschuld eingebüßt. Denn tief im hohen Gras trifft man auf verendete Basstölpel. Viele von diesen an der Vogelgrippe krepierten Wesen hat Bernhard Malkmus gesehen und dokumentiert. Entstanden ist daraus nicht nur ein sehr persönliches, oftmals melancholisches Tagebuch, sondern gleichsam das Porträt einer sich drastisch verändernden Landschaft.Die Brandseeschwalbe mit ihrem eleganten FlugDass deren rasanter Wandel insbesondere auf einer expansiven Wirtschaft gründet, macht der Autor in seinem erzählenden Sachbuch Himmelsstriche. Vom Leben der Vögel und Überleben der Menschen deutlich, indem er uns über diverse Umweltsünden vor Ort aufklärt. Neben Chemieabfällen von Werften in Gewässern macht sich ebenso die Zunahme des Schiffsverkehrs seit dem 19. Jahrhundert negativ bemerkbar. Aus Wasserströmen wurden Warenströme, mit all den bekannten und häufig irreversiblen Folgen für die Natur.Es handelt sich nur um zwei von vielen Beispielen für die „Allgegenwart der Todesschicht, die im Zuge der Industrialisierung des Lebens um den gesamten Planeten gelegt worden ist“ – eine Pathologie, die einerseits aus sichtbaren und nachweisbaren Eingriffen der menschlichen Zivilisation resultiert, andererseits tief in der Kultur angelegt ist. Darüber geben etwa die Lektüren des 1973 in Aschaffenburg geborenen und in Oxford lehrenden Germanisten Aufschluss.Angelesenes verarbeitet Malkmus direkt in seinem philosophisch-leichtfüßigen Gedankenstrom. Darunter sind die Aufzeichnungen des Ornithologen Bengt Berg, dessen Werk Mein Freund, der Regenpfeifer von 1917 mehrfach den titelgebenden Vogel vermenschlicht, ihn gar „zum Seelenführer“ stilisiert. Obwohl derlei Zuschreibungen sich gegen die traditionelle Entwertung des Tiers wenden, lässt sich die Herrschaftslogik unserer Spezies aus Sicht des Autors nicht leugnen. Wir sind es, die den Mornellregenpfeifer zur Projektion missbrauchen und eben dadurch doch über ihn verfügen.Gewiss erweisen sich solche Exkurse zu den Auswirkungen unseres Wirkens auf Klima und Artenvielfalt keineswegs als neu. Spätestens seit der mittlerweile ein Jahrzehnt umfassenden Auseinandersetzung der Literatur mit dem Anthropozän liegt ein wichtiger Akzent der Sachbuchsparte auf unserem ökologischen Fußabdruck. Ungewöhnlich und bereichernd mutet indes an, dass die Sensibilisierung für das Thema in Himmelsstriche sicherlich der Vermittlung von Faktenwissen bedarf.Aber sie braucht noch Weiteres, nämlich die reichhaltige Beschreibung der Landschaft und ihrer tierischen Bewohner. Erst sie rüttelt auf. Sei es die Brandseeschwalbe mit ihrem eleganten Flug und der feinen Jagdpräzision beim Fischen oder die Schwarmbildung des Goldregenpfeifers, erinnernd an eine „eingeschworene Religionsgemeinschaft, die einer arkanen Liturgie folgt“ – gerade in diesen literarischen, zum Staunen anregenden Skizzen jener einzigartigen Fauna kommt die Botschaft auf expressive Weise zum Tragen.Schöpfung ist nicht abstraktZugleich zeugen jene Passagen von der ebenso in diesem Essay verhandelten Sprachsuche. Wie fassen wir, was uns unzugänglich und fremd ist? Wie überwinden wir den gewachsenen Spalt zwischen der Umwelt und den Tieren? Für Malkmus steht fest: „In Worten werden die Wesen gegenwärtig, mit denen zusammen wir leben. Wenn wir die Worte nicht haben, werden diese Wesen für uns zu bloßen Schemen, deren Weggang wir nicht einmal bemerken.“ Abseits aller stimmigen ethischen Theorien legt dieses Buch dar, dass Pflicht und Moral auch einer emotionalen Ansprache bedürfen. Schöpfung ist nicht abstrakt, wir sind mittendrin – und längst nicht mehr ihre Krone.Himmelsstriche. Vom Leben der Vögel und Überleben der MenschenBernhard Malkmus Matthes & Seitz 2025, 228 S., 28 €
Björn Hayer
Der große Naturbeobachter Bernhard Malkmus notiert in seinem jüngsten Buch das Aussterben der Arten in Nordengland. „Himmelsstriche“ ist ein melancholisches, persönliches Porträt einer sich drastisch verändernden Landschaft
[ "Sachbuch", "Literatur", "Bernhard Malkmus" ]
Kultur
2025-03-27T14:00:00+01:00
https://www.freitag.de/autoren/bjoern-hayer/die-liturgie-des-goldregenpfeifers
Status quo Fünf Dinge, die anders besser wären
1Lustvoll haben Bild („Von Gurken bis Quark: Die Deutschen müssen beim Einkauf tiefer in die Tasche greifen!“) oder FAS („Höchste Zeit, sich zu wehren“) zuletzt eine der Lieblingsängste der Deutschen bedient – die vor Inflation. Tatsächlich war die Teuerungsrate im Dezember 2016 auf dem Jahreshöchststand: 1,7 Prozent. Die allseits ersehnte Preisstabilität gilt nach Definiton der Europäischen Zentralbank aber erst bei einem Wert von 1,9 Prozent. Mit ihrer lustvollen Hysterie beweisen die zitierten Medien außerdem, wie wenig sie imstande und willens sind, Deutschland als Teil Europas zu begreifen: EU-weit betrug die Inflationsrate zuletzt 1,2 Prozent, im Euroraum 1,1 Prozent. Um sie wie nötig zu erhöhen, müssten die Regierungen endlich die Fiskalpolitik betreiben, für deren Fehlen bisher die ultralockere Geldpolitik der EZB einspringen muss. Kommende Woche geben Statistisches Bundesamt und Eurostat ihre Schätzungen für die Januar-Inflation bekannt.2Eine weitere Woche später, am 9. Februar, entscheidet das Bundesverwaltungsgericht über die Klage von Umweltverbänden gegen die nächste, die insgesamt neunte Elbvertiefung. Zwar verbietet eine EU-Richtlinie die Verschlechterung des Zustands der Gewässer, zwar wird die Artenvielfalt unter weiteren Ausbaggerungen absehbar leiden, zwar sind die Pläne von Bund und Ländern für Ausgleichsmaßnahmen grotesk vage, aber: Die maritime Wirtschaft braucht Wachstum! Tiefere Fahrrinnen! Für immer größere Frachtschiffe, die immer weniger ausgelastet sind! Die Reedereien leiden einfach zu sehr an ihren gewaltigen Überkapazitäten.3Derweil fürchten Gewerkschafter in ganz Europa, dass eine in dieser Woche vom Europäischen Gerichtshof verhandelte Klage die Mitbestimmung schwächen könnte. Einen Kleinaktionär des Reisekonzerns TUI stört die deutsche Beteiligung von Arbeitnehmern in Aufsichtsräten. Seine – man muss sagen, perfide – Argumentation: Wenn ein deutscher, im Aufsichtsrat vertretener Arbeitnehmer zu einer Auslandstochter seines Unternehmens wechseln würde, so verlöre er sein Mandat; das verstoße in der Folge gegen den Grundsatz der Arbeitnehmerfreizügigkeit. Ein Urteil ist noch nicht gefallen.4Aufhorchen lässt auch fol,arbeitgebernahen Instituts der deutschen Wirtschaft: Für weitere Regulierungen des Immobilienmarktes gäbe es keinen Anlass, zeigten doch jüngste Zahlen zum Erwerb von Wohneigentum in Deutschland, dass die Käufer „finanziell grundsolide“ seien. „Die meisten davon gingen einer qualifizierten Tätigkeit nach oder hatten eine leitende Position inne und verfügten somit über höhere Einkommen“, schreibt das IW, Ängste vor einer Immobilieblase seien unbegründet. Zur Erinnerung: In Deutschland leben drei Viertel der Bezieher hoher Einkommen in ihren eigenen vier Wänden, wogegen neun von zehn Bezieher geringer Einkommen zur Miete wohnen. Die ärmsten 20 Prozent haben mehr Schulden als Vermögenswerte. Aber wer denkt schon an Niedriglöhner und Überschuldete, wenn es um die Regulierung des Immobilienmarktes hierzulande geht? Das IW sicher nicht.5Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung schon. Dessen Forscher haben nun festgestellt: Die Steuerreformen zwischen 1998 und 2015 bedeuteten für das ärmste Zehntel eine Mehrbelastung von 5,4 Prozent ihres Bruttoeinkommens. Das reichste Zehntel wurde dagegen um 2,3 Prozent entlastet, das reichste Hundertstel um 4,8 Prozent.
Sebastian Puschner
Die Angst vor Inflation, das Urteil über die Elbvertiefung, eine Klage gegen Arbeitnehmerrechte, der ausreichend regulierte Immobilienmarkt und die Last der Steuern
[ "Elbvertiefung", "Europäische Zentralbank" ]
Wirtschaft
2017-02-08T06:00:00+01:00
https://www.freitag.de/autoren/sebastianpuschner/fuenf-dinge-die-anders-besser-waeren-19
Wendezeit FKK forever
Es war nicht alles schlecht in Westdeutschland. Aber man fragt sich doch, wofür Konrad Adenauer sich nach den Nazi-Jahren all um die Westanbindung und damit einen Weltanschluss bemüht hat, wenn selbst unter Helmut Kohl noch Menschen zweisprachige (sic!) Schulen in Bonn besuchen konnten, deren Vorstellungen von lebensweltlicher Pluralität über einen Dorfanger von Piefigkeit nie hinausgekommen sind. Und das obwohl diese Menschen zur Horizonterweiterung tapfer Denver-Clan und Schwarzwaldklinik geschaut haben. Susanne Frömel jedenfalls gesteht im aktuellen Magazin der Süddeutschen Zeitung: "Ich war 20 Jahre alt und blöde, wie nur Zwanzigjährige sein können."Zum Glück, möchte man meinen, sind diese Zeiten vorbei. Aber leider sind sie das nicht, auch wenn die dieswöchige Themenausgabe besagten SZ-Magazins eine äußerst rührende Mission hat: Gerechtigkeit für diese Ostdeutschen! Im Aufmacher enthüllen Christoph Cadenbach und Bastian Obermayer: "Zwanzig Jahre nach der Wiedervereinigung hat Deutschland ein Diskriminierungsproblem." Dass Cadenbach und Obermayer wissen, wovon sie reden, zeigt nicht nur der selbstkritische Hinweis: "Auch das SZ-Magazin macht da keine Ausnahme, weder in der Textredaktion noch in Grafik oder Bildredaktion sind Ostdeutsche zu finden."Es zeigt sich vor allem daran, dass das ossilose SZ-Magazin sich "zwanzig nach der Wiedervereinigung" noch immer über diese Ostdeutschen beugt wie Ernst Jünger sich weiland über seine Käfer. Vielleicht ist es in München einfach auch noch nicht möglich, diese Ostdeutschen nicht nur als Ostdeutschen zu begreifen: Manuela Schwesig, SPD-Sozialministerin in einem dieser fünf neuen Länder, muss in der beliebten Fotoreihe "Sagen Sie jetzt nichts" Gesichter zu lauter Fragen ziehen wie "Stimmt es, dass Ostdeutsche freizügiger flirten und mit Sex umgehen?". Da freut man sich naturgemäß auf das bald ins Haus stehendeThemenheft "Westdeutsche", in dem Baden-Württembergs FDP-Justizminister Ulrich Goll dann gefragt wird: "Stimmt es, dass westdeutsche Porschefahrer nur deshalb Porsche fahren, weil sie kleine Penisse haben?"Quentin Tarantino!SZ-MagazinareaEntweder so schick verlottert aussehen
Matthias Dell
Was Sie schon alles über diese Ostdeutschen wussten und wie krass schwer es ist, als Westdeutscher das überhaupt erstmal zu checken: Das SZ-Magazin verrät Ihnen alles
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Kultur
2010-07-30T16:20:00+02:00
https://www.freitag.de/autoren/mdell/fkk-forever
Phantomschmerz Wiedergänger und andere Gefahren
Das sind keine Geschichten, die man nacherzählen könnte. Zwar haben auch sie einen Anfang und ein Ende, aber sie folgen keiner Story, keinem Faden, sie belegen Haltungen, ordnen Geschichten um Geschehenes, greifen auf oft nicht eindeutig erkennbare Wirklichkeit zu, um sie - bruchstückhaft - einem Ereignis zuzuordnen. Wann und wo gäbe es im wirklichen Leben schon das absolut Eindeutige? Das meiste kommt in vielfältigen Schattierungen daher, ist verzweigt, reicht bis in die Träume, ist ebenso wirklich wie unwirklich, so "murmelnd, stotternd", sich wiederholend, widersprechend - wie Hans Magnus Enzensberger in einer Kommentierung schreibt -, es entzieht sich einfacher Interpretation.Thomas Harlan, Jahrgang 1929, Sohn des Regisseurs Veit Harlan, der die Propagandafilme der Nazis Jud Süß und Kolberg drehte, steckte als junger Mann die Kinos an, in denen die Filme seines Vaters laufen sollten. Und liebte ihn, wie ein Sohn seinen Vater vielleicht lieben sollte, kraftvoll, aber nicht bewundernd. Denn Zuneigung hätte leicht zu Schuld werden können, wie er in einem Interviewfilm sagt. Ihm war der assoziative Zugang zur Geschichte, in die er eingebunden war, die einzige Möglichkeit der Auseinandersetzung. Nur so konnte er sich ihrer versichern, sie sezieren, den Anteil an Schuld annehmen und zum Ausgangspunkt für eine Erzählkunst machen, in der die einzige Konstante die absolute Hinwendung zur Menschlichkeit ist. Über Zeiten, Ereignisse, Regime hinweg.Harlans Romane Rosa und Heldenfriedhof wurden von der Kritik in die Nähe von Claude Simon oder Peter Weiss´ Ästhetik des Widerstands gerückt, dem Autor "exorbitante Wortmächtigkeit" bescheinigt und der "Zorn der Besessenheit" in der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und seiner Geschichte, der "jegliche Einfühlung, die uns auch den Massenmörder nur als Menschen zeigen will, verweigert". Tatsache ist: Harlan ist unversöhnlich, aber niemals einschichtig. Die dunklen Seiten im Menschen lassen sich gerne hell umranken. Für jedes Übel, das wir verursachen, haben wir "gute Gründe". Er lässt nichts davon gelten.Sein neuestes Buch Die Stadt Ys saugt die Tragödien der jüngeren Geschichte in sich ein, dekliniert sie durch, verschränkt sie, findet in ihnen Bestandteile all der Tragödien, die die Menschen in den letzten hundert Jahren anrichteten.- "Wann die Stadt Ys versank, weiß Gott ... Seitdem treffen sich in ihr die Geschichten, die nie erzählt worden waren, alljährlich mit den Geschichten, die erzählt worden waren, und werden erzählt, oder, weil es sie nicht mehr gibt, erfunden", heißt es in einem, dem Buch von Harlan vorangestellten Zitat aus Victor Chlebnikows Reise durch das Kaliningrader Land.Harlan füllt Die Stadt Ys mit Schicksalen, die in eigenen Erzählungen daherkommen. In ihnen ist die Frage nach wahr oder erfunden so relevant wie die nach dem Huhn und dem Ei. Jede von ihnen seziert den verborgenen stinkenden Schlamm, den Menschen hinterlassen, wenn sie ihresgleichen quälen, verspotten, demütigen, verfolgen, verbergen, ausrotten ebenso wie die Größe, die Drangsalierte in den vielfältigen Formen ihres Duldens, Leidens, Widerstands gewinnen; die fast schon entmutigende Unfähigkeit, aus der Geschichte zu lernen, und daneben, bewundernd, die unendliche Kraft, die Dagegenstemmen immer und immer wieder braucht. In Die Stadt Ys verlässt Harlan festgelegte Zeiten und Räume: Naziverbrechen, stalinistischer Terror, der Völkermord an den Armeniern zu Beginn, die kriegerischen Auseinandersetzungen Anfang der neunziger Jahre um Berg Karabach, der Terror in Tschetschenien am Ende des Jahrhunderts, sie fließen ineinander und auf dem Grund von Ys zusammen, jener versunkenen Stadt, die immer wieder auftaucht, irgendwo, nicht dort, wo sie erwartet wird, irgendwann. Es gibt keinen Ort, keine berechenbaren Intervalle. Im Namen beliebiger Ideologien entfalten Menschen ein Instrumentarium zur Vernichtung von scheinbaren oder wirklichen Feinden, von dem, was sie schufen, dachten, einmal gewesen sind.In den übernommenen, kaum veränderten Uniformen der eben noch herrschenden Macht, der beide dienten, treffen sie jetzt aufeinander: "Ein gelähmter Haufen, spindeldürr, verwegen trotz, wegen, ja, wegen was. Sie fressen dem Feldimam das Paradies aus der Hand. Auch sie - Ausländer! Inguschen! Tschetschenen! Ägypter! Grausame!". "In Stepanakaert zur Kur verschluckt sich die Generalität an Bergluft. Die Toten stinken woanders", heißt es in Iyob oder Die Geschichte vom armen Genossen Anatol Joganowitsch Kuntse, einer der Geschichten, die in Ys zusammengeführt werden. Der Schlagabtausch zwischen Ebennochbrüdern erstickt an Sinnlosigkeit, aber wie lange? "Etwas siegt immer über Nichts." Ys verschlingt alles, kotzt es irgendwann wieder aus. Das Morden beginnt von vorn.Thomas Harlan fügt Absurdes, Kluges, Irres ineinander, seine Welt besteht aus Geisterstädten, Wiedergängern, vergeblichen Hoffnungen, Gleichnissen und der Ewigkeit. Seine Prosa hat nichts Belehrendes. Er versteht sich weder als Erzieher, noch als Denklehrer, eher als Chronist all dessen, was Heldensagen auslassen, was Jahrbücher vergessen möchten, was niemand mehr freiwillig erinnert, außer denen, die davon betroffen sind. Das Ausleben mahnenden Phantomschmerzes könnte ein Motiv für diese Erzählform sein, jenes ewigen Schmerzes, der von dem ausgeht, was die Menschheit an Verbrechen in ihrer Geschichte angehäuft hat, was längst eliminiert, abgetrennt, vergessen wäre, wenn es nicht Wünschelrutengänger wie Harlan gäbe, der es erfühlen, aufspüren und ausbreiten würde. In seinen Episoden verbergen sich die ewigen Abgründe, die wir leugnen und in denen wir doch immer wieder suchen, wenn wir uns scheinbarer Übel entledigen wollen. Wie in Das ewige Leben des YKM. Hinter der inszenierten Wirklichkeit als neuem Filmgenre entsteht die Geschichte einer Rettung, die einer Verurteilung gleichkommt. "Otar Abashvili erfand den Mord an seinem Retter und ermordete seinen Retter und fand dabei seinen Tod. Er erfand den Spielfilm Das ewige Leben des Y.K.M. und gab Yaakow Karlowitsch Morgenstern damit sein Leben zurück."Die Kopien des Seins schieben sich über das wirkliche Geschehen. Und das ist gar nicht verrückt. Jederzeit machbar. Glauben wir nicht alles, was uns halbwegs vernünftig begründet und lange genug vorerzählt wird? Vernunft aber ist kein Ordnungsprinzip in Krisenzeiten. Das hoffen wir nur. Wie lange ist es her, dass ganze Landstriche von den Atlanten verschwunden waren - nirgends katalogisiert. Wie lange ist es her, dass man uns scheinbar unwiderlegbare Beweise auf Satellitenbildern servierte, die es so nicht gegeben hatte, ein Phantomland mit Phantombeweisen taugte für den gegenwärtigen, ganz realen Krieg im Irak. Und am besten: Es fiel zwar auf, konnte aber nicht verhindert werden.In Thomas Harlans Geschichte Schwanensee fehlt auf den russischen Landkarten die Stadt Wotkinsk, der Geburtsort von Tschaikowski, eine Perle der Baukunst, ein Juwel. Eigentlich ist die Stadt ja zweimal da. Oder auch gar nicht. Kopiert, fünfzig Kilometer entfernt vom ursprünglichen Standort. Unter dem eigentlichen Ort waren die Rüstungsfabriken des Landes verschwunden, nebst zugehörigen Arbeitern und allen Torturen, die möglich werden, wenn niemand kontrolliert. Nachgebauter Schwanensee - Sinnbild von Schönheit, Vollendung, Begehren, Trauer. Wotkinsk, schöner Schein neben tödlichen Abgründen, ist in Die Stadt Ys überall. Nur überhebliche Selbstgerechtigkeit kann das von sich weisen. Menschen leben in den ewigen Abgründen, den alten Phantasien, der gleichen Wut, dem Wahnsinn, den Depressionen und immer wiederkehrenden Träumen.Harlans Literatur ähnelt einem Labyrinth. Wer seinen Texten auf die Spur kommen will, irrt darin herum. Entdeckt Vieles. Niemals alles. Eine Annäherung an das verborgene Innere - stückweise. Spass macht diese Lektüre nicht, sie ist spannend und eine notwendige Korrektur unserer Leichtigkeit. Sie bewegt sich am Rande ewigen Absturzes.Thomas Harlan Die Stadt Ys und andere Geschichten vom ewigen Leben. Eichborn, Berlin, Berlin/Frankfurt am Main 2007, 275 Seiten, 19,90 EUR
Regina General
Die Geschichten in Thomas Harlans "Die Stadt Ys und andere Geschichten vom ewigen Leben" ähneln einem Labyrinth
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Kultur
2007-10-12T00:00:00+02:00
https://www.freitag.de/autoren/regina-general/wiederganger-und-andere-gefahren
Staatsfinanzen Robert Habecks Geldspeicher
Wie einfach der Staat gigantische Beträge durch neue Schulden mobilisieren kann, zeigte die Corona-Krise. Auch die Schuldenbremse, die für diese und weitere Hilfen in Deutschland ausgesetzt wurde, wird nicht mehr nur von links kritisiert. Kanzleramtsminister Helge Braun warf Anfang des Jahres die These in den Raum, dass diese Bremse in den kommenden Jahren „auch bei ansonsten strenger Ausgabendisziplin nicht einzuhalten“ sei. Und das arbeitgebernahe Institut der Deutschen Wirtschaft in Köln meinte, dass zum Schließen der „Investitionslücke angesichts der aktuellen Negativzinsen auch schuldenfinanzierte Investitionen ein probater Weg“ seien. Für nachhaltige Sachinvestitionen ist das unbestritten. Wenn allerdings etwa zusätzlich Lehrer oder Pflegekräfte gebraucht werden, für die Löhne zu zahlen sind, dann sind das ebenso wenig Investitionen wie mit Schulden finanzierte Steuersenkungen für Spitzenverdiener und Konzerne.Das ändert nichts daran, dass Schulden zu Nullzinsen aus unterschiedlichen politischen Motiven extrem „in“ sind. Als die Linke eine Vermögensabgabe für Reiche zur Rückzahlung der Corona-Kosten forderte, bekam sie von Grünen-Chef Robert Habeck und DGB-Chef Hoffmann via FAZ zu hören, dass damit ja so getan würde, als sei Kreditaufnahme ein Problem – frei nach dem Motto: Wozu sich mit den Superreichen anlegen, wenn der Staat sich Geld umsonst leihen kann?Klingt gut, aber plausibel?Aber warum wird überhaupt angenommen, dass das Schuldenmachen für einen Staat kein Problem sei? Erst einmal erschrecken ja die nackten Zahlen: In den USA, aber auch im Durchschnitt der OECD-Länder, liegt die Staatsverschuldung auf einem historischen Rekordniveau. Die durchschnittliche Verschuldung lag 1946, direkt nach dem Zweiten Weltkrieg, bei 94 Prozent des Bruttoinlandsproduktes und sank bis Mitte der 70er Jahre auf 25 Prozent. In den nächsten Jahrzehnten stieg sie trendartig an und erreichte 2020 im Durchschnitt wieder 95 Prozent.Tatsächlich ist eine hohe Verschuldung dann unproblematisch, wenn der Zinssatz auf die Staatsschuld niedriger ist als die Wachstumsrate der Wirtschaft auf der Basis des Bruttoinlandsproduktes (BIP). Denn dann wachsen die Schulden langsamer als das BIP, und deshalb sinkt die Schuldenquote. Aktuell ist das der Fall. Wäre es umgekehrt, würde sich das Schuldenrekordniveau sehr unangenehm bemerkbar machen. Aber bleibt das auch so? Habeck und Hoffmann behaupten schlicht und einfach, dass es „extrem niedrige oder gar negative Zinsen (...) auf absehbare Zeit“ geben werde. Klingt gut, aber ist das plausibel?Für Olivier Blanchard schon. Der ehemalige Chefvolkswirt des Internationalen Währungsfonds argumentiert, dass in vielen Ländern das Wachstum in der Vergangenheit höher als der Zinssatz gewesen sei und deshalb auch in der Zukunft mit hoher Wahrscheinlichkeit davon ausgegangen werden könne. Die Vergangenheit einfach so auf die Zukunft zu projizieren, ist an sich nicht eben überzeugend. Aber war es überhaupt jemals so, wie Blanchard behauptet? Für die letzten Jahre stimmt es. Zwischen 1980 und 2015 lagen die Zinsen für Staatsschuldentitel jedoch um durchschnittlich rund 1,5 Prozentpunkte höher als das Wachstum der Wirtschaft. Das zeigt eine Untersuchung, die im Quarterly Journal of Economics veröffentlicht wurde, für 16 OECD-Länder. Auf der empirischen Grundlage der vergangenen 40 Jahre kann nicht abgeleitet werden, dass höhere Zinsen auf „absehbare Zeit“ nicht möglich sind.Lässt sich die Annahme anderweitig rechtfertigen? Man könnte die Theorie der „Säkularen Stagnation“ dazu anführen. Sie stammt aus den 1930er Jahren und wurde vom Finanzminister der Clinton-Regierung, Lawrence H. Summers, nach der weltweiten Banken- und Finanzkrise wieder in die ökonomische Debatte eingebracht. Demnach gibt es strukturelle Gründe für ein stetig sinkendes Zinsniveau. Etwa würde das sinkende Bevölkerungswachstum die Investitionsnachfrage bremsen.Dadurch würde die Nachfrage nach Kapital und so auch der Zins als Preis für Kapital sinken. Außerdem würde sich durch die zunehmende Ungleichheit die Sparneigung und damit das Angebot an Kapital erhöhen, was ebenfalls den Zinssatz drücken würde. Man sieht leicht, dass linke Kräfte vorsichtig sein sollten, diese Thesen für den Bestand von Nullzinsen heranzuziehen. Denn die genannten Gründe würden von einer anti-neoliberalen Politik beseitigt werden, die die Investitionen durch Ausgabenprogramme in die Höhe treiben würde. Zum anderen ist auch die Verringerung der Ungleichheit ein Kernanliegen linker Politik.Kurz: Weder die Empirie der vergangenen 40 Jahre noch die Theorie der „Säkularen Stagnation“ lassen widerspruchslos erkennen, womit die Annahme gerechtfertigt werden kann, dass Niedrigzinsen bleiben werden. Oder steckt hinter der vollmundigen Gewissheit von Habeck, Hoffmann und Co. am Ende nur ihr fester Glaube, dass die Notenbanken Null- und Negativzinsen schon garantieren werden?Das wäre eine gefährliche Illusion, denn offiziell haben die Zentralbanken primär die Aufgabe, die Stabilität des Preisniveaus zu gewährleisten, was bisher mit einer maximalen Zunahme der Verbraucherpreise von zwei Prozent pro Jahr definiert war. Zwar haben sowohl die US-Notenbank als auch die Europäische Zentralbank gerade ihre Regeln so geändert, dass sie nun zeitweise auch höhere Preissteigerungsraten zulassen können, aber das ändert nichts daran, dass ihnen nur ein Instrument dazu zur Verfügung steht: Sie können entweder eine expansive oder eine restriktive Geldpolitik betreiben. In den vergangenen Jahren war das kein Problem, weil die Verbraucherpreise deutlich unter dem Limit von zwei Prozent wuchsen. So konnten die Zentralbanken eine expansive Geldpolitik betreiben, die sowohl im Einklang mit ihrer offiziellen Aufgabe zur Wahrung der Preisniveaustabilität war, als auch zu Null- und Negativzinsen führte.Druck auf die LöhneWenn aber die Verbraucherpreise längere Zeit deutlich über zwei Prozent pro Jahr steigen würden, müssten die Zentralbanken eine restriktive Geldpolitik betreiben, die dann zu steigenden Zinsen führt – und so zu einem massiven Problem für die Rekordverschuldung wird. Inzwischen ist das keine abstrakte Gefahr mehr. Die Inflationsrate stieg in den USA im Juni gegenüber dem Vorjahresmonat auf ein 13-Jahres-Hoch von 5,4 Prozent und in Deutschland im Juli auf ein 25-Jahres-Hoch von 3,8 Prozent.Die Ursachen sind vielfältig. Sie reichen von einer enormen Erhöhung der zur Verfügung stehenden Einkommen durch die Corona-Hilfen-Transfers an die Haushalte, insbesondere in den USA, bis hin zu deutlich gestiegenen Energie- und Rohstoffpreisen. Auch in den vergangenen Monaten stiegen so die Erzeugerpreise in den USA anhaltend schneller als die Verbraucherpreise, und das zeigt für die nächste Zeit weiteren Preisdruck an. Ob aus dieser Entwicklung ein mehrjähriger Inflationsprozess mit anhaltenden Raten über zwei Prozent entsteht, ist eine offene Frage. Dazu müssten die Preissteigerungen höhere Lohnabschlüsse befeuern und so einen wechselseitigen Prozess in Gang setzen.Unabhängig von den Corona-Effekten gab es in den vergangenen Jahrzehnten durch die Globalisierung einen weltweiten Druck auf die Löhne, vor allem über die Integration der hohen Anzahl chinesischer Arbeiter in den Weltmarkt. Diesen Prozess halten Ökonomen wie Charles Goodhart oder Manoj Pradhan für ausgereizt. Er könnte sich durch die schrumpfende Bevölkerung in China sogar in sein Gegenteil verkehren. Dieser Effekt würde durch einen echten Politikwechsel hierzulande mit höheren Mindestlöhnen, der Beseitigung prekärer Beschäftigungsverhältnisse und rechtlichen Besserstellung der Gewerkschaften verstärkt werden.Wie auch immer: Wenn ein verfestigter Inflationsprozess entsteht, müssten die Zentralbanken ihm irgendwann mit Zinsschritten begegnen, und damit könnte eine langjährige Phase eingeleitet werden, in der die Zinsen auf die Staatsschuld höher sind als das Wachstum der Wirtschaft. So war es in den 1980er Jahren in der Folge hoher Inflationsraten. Damals kam eine langjährige sozialdemokratische Reformpolitik durch eine mangelhafte Einschätzung des Inflationsprozesses an ihr Ende. Auch jetzt wäre es fahrlässig, dieses Risiko zu unterschätzen. Nicht zuletzt, weil sie die niedrigen Einkommen am härtesten trifft. Die höchsten Reallohneinbußen hatten im vergangenen Jahr insbesondere angelernte und ungelernte Arbeiter zu verschmerzen, im Gegensatz zu den leitenden Angestellten und Fachkräften. Insbesondere Arbeitnehmer im Niedriglohnsektor ohne Tarifvertrag und mit niedrigem gewerkschaftlichen Organisationsgrad werden die Verlierer von anhaltend höheren Inflationsraten sein. In Rechnung gestellt werden müssen außerdem die Kollateralschäden der anhaltenden Nullzinspolitik für die soziale Spaltung der Gesellschaft. Denn die Aktien- und Immobilienpreise werden in die Höhe getrieben. Und davon profitieren insbesondere die Reichen, während die untere Hälfte der Gesellschaft durch Mieterhöhungen frei verfügbares Einkommen verliert.Fazit: Es kann keine Gewissheit geben, dass auch in den nächsten Jahren der Zinssatz auf die Staatsschulden unter der Wachstumsrate liegen wird. Einen Politikwechsel zum Nulltarif wird es deshalb auch nicht zu gegenwärtigen Nullzinsen geben. Auf der Sollseite stehen die Kollateralschäden und das erhöhte Risiko bei steigenden Zinsen.Um noch einmal auf die Reichensteuer zu kommen: Es wäre unverantwortlich, auf sie und eine daraus resultierende gerechtere Verteilung von Vermögen und Einkommen zu verzichten und zur Finanzierung sozialer und klimapolitischer Ausgabenprogramme allein auf Neuverschuldung zu setzen. Es bleibt also eine Illusion, gesellschaftlichen Interessengegensätzen durch eine alleinige Finanzierung auf Pump aus dem Weg gehen zu können.Placeholder authorbio-1
Alexander Troll
Die Zinsen werden nicht ewig so niedrig bleiben – genau deswegen wäre eine Vermögenssteuer besser als neue Schulden
[ "haushalt", "zinsen", "vermögenssteuer" ]
Debatte
2021-08-25T06:00:00+02:00
https://www.freitag.de/autoren/alexander-troll/robert-habecks-geldspeicher
Geoarchäologie Das tiefste Loch der Welt
Die Landschaft ist schwarz-weiß. Alles ist weiß bis auf die Strommasten und die Steine, von denen der Wind den Schnee gefegt hat. Die Polarnacht ist zu Ende. Die Sonne taucht in kurzen Momenten alles in Gelb-Orange, und der Himmel strahlt in Blau. Olga und ich fahren durch eine Schneesteppe. Im Freien muss man die Augen zukneifen, weil der Schnee ins Gesicht schlägt. Eisig kalt ist es, weit und breit nur Schnee und Berge. Und da steht sie plötzlich, die Bohranlage, wie eine Oase. Ein gelber Lichtstrahl durchflutet den Bohrturm, der aussieht wie eine Hand, die dem Himmel den rostbraunen Sowjetstern auf seiner Spitze reicht. Oder wie ein Leuchtturm im Schneemeer.Wo sich früher alles gedreht und bewegt hat, attackiert jetzt der Schneesturm den Koloss. Manchmal glauben wir, gewaltige Seufzer aus der Tiefe zu hören. Schneewehen inner- und außerhalb des Gebäudes.Das Wrack im SchneesturmUnser Gastgeber, der sich „Onkel Dima“ nennen lässt, teilt Helme aus und ermahnt uns zur Vorsicht. Sein Kollege Mischa erzählt unterdessen von der guten alten Zeit, als es hier warm und sauber war und man sich in Anzug und Ausgehschuhen bewegte. Jetzt ist alles verfallen, das Weltwunder ein Wrack. Nicht einmal alle Türen lassen sich öffnen, weil das Polarwetter sie mit Schneewehen verbarrikadiert hat. In den Wohnzimmern stehen Fernsehgeräte und Radios, es gibt Decken auf den Betten, auf den Tischen liegen Bücher, Konservendosen, auf Ständern hängen Kleidungsstücke, an den Wänden Fotos und Plakate. Alles ist schmutzig und vermodert, aber eine gewisse Ordnung bleibt erkennbar, als ob die Menschen hofften, eines Tages zurückzukehren an ihre Arbeitsplätze und sich weiter in das Erdinnere zu bohren. Es mutet apokalyptisch an, als ob alle Lebewesen sich verkrochen hätten. Schade, dass wir die Station nicht in ihrer Glanzzeit besucht haben.Dann sehen wir zu unseren Füßen endlich das schwarze Bohrloch, wie eine Pupille mit weißem Schnee umsäumt. Man zeigt uns Maschinen, die Stromversorgungsstation und das Steuerpult. Entgegen aller Sicherheitsvorschriften dürfen wir auf die oberste Plattform.Onkel Mischa erlaubt uns, als Souvenirs Arbeiterkleidung mit sowjetischen Aufnähern, Plakate und Gesteinsproben mitzunehmen. Nach unserem Besuch blieb die Station unbewacht zurück.Bis hinab zur HölleDer Ort unserer Reise heißt Sapoljarny, das bedeutet „hinter dem Polarkreis“. Die Siedlung liegt 158 Kilometer nördlich von Murmansk, unweit der norwegischen Grenze. Das tiefste Bohrloch der Welt befindet sich etwa zehn Kilometer südwestlich der Bergarbeiterstadt an dem „See unter den Wolfsbergen“, wie die Samen ihn nennen. Der Ort liegt auf dem Baltischen Schild, das für seine Kupfer- und Nickelvorkommen bekannt und für Geologen besonders interessant ist. Die dortigen Gesteinsformationen sind drei Milliarden Jahre alt, die Erde selber ist nur ungefähr 1,5 Milliarden Jahre älter.Die Tiefe von 12.262 Metern wurde in den 90er Jahren erreicht. Seitdem hält das Bohr­loch SG-3 den Weltrekord. Die Bohrung „Berta Rogers“ in den USA mit ihren 9.583 Metern wurde 1979 übertroffen. Als die Bohrer die 11.500-Meter-Marke erreichten — 500 Meter unterhalb des tiefsten Punkts der Erde im pazifischen Marianengraben — fingen heruntergelassene Mikrofone seltsame Geräusche auf — ferne Echos seismischer Aktivität aus dem Erdmantel. Aber manche meinten damals, die Forscher hätten bis zur Hölle durchgebohrt. 1997 erfolgte der Eintrag ins Guinness-Buch der Rekorde.SG-3 ist eine der wenigen Bohrungen, die nicht zur Suche oder Förderung von Bodenschätzen, sondern zu ausschließlich wissenschaftlichen Zwecken geplant wurde. Sie sollte über das älteste Gestein unseres Planeten Aufschluss geben und die im Erd­inneren ablaufenden Prozesse aufklären.1967 begann man mit den Vorbereitungen. Am 24. Mai 1970 nahm die Bohrmaschine „Uralmasch-4E“, die ursprünglich für Erdöl- und Erdgasbohrungen konstruiert war, ihren Betrieb auf. Sechs Jahre später wurde sie durch die „Uralmasch-15000“ ersetzt, die für eine Bohrtiefe von bis zu 15 Kilometern konzipiert war.Das Bohrloch hat einen Durchmesser von 21,4 Zentimetern, das Bohrgestänge wiegt fast 200 Tonnen. Das Hauptgebäude am Bohrloch ist so hoch wie ein zwanzigstöckiges Haus, 363 Stufen führen zur obersten Plattform.Nur in einer laienhaften Vorstellung verläuft eine Bohrung auf einer geraden, senkrechten Linie von der Oberfläche zum Mittelpunkt der Erde. Besonders bei extrem tiefen Bohrungen durch Schichten unterschiedlicher Härte sucht sich der Bohrkopf mit erheblichen Abweichungen von der Geraden seinen Weg durch weniger hartes Gestein.Entdeckungen und GeschenkeUnerwartet wurde an einer Stelle, wo Granit in Basalt übergehen sollte, archaischer Gneis gefunden. In zehn Kilometer Tiefe, in 2,5 Milliarden Jahre altem Gestein, entdeckte man 14 Arten von Elementarfossilien – versteinerte Reste altertümlicher Or­ga­nismen. Diese Funde bedeuten, dass es nicht, wie man zuvor glaubte, erst seit 1,5 Milliarden Jahren Leben auf unserem Planeten gibt.In einer Tiefe, wo es kein Ablagerungsgestein mehr gibt, wurde Methan entdeckt, was bedeutet, dass die landläufige Theorie, Kohlenwasserstoffe könnten sich nur aus biologischen Prozessen bilden, wohl in Zweifel gezogen werden muss. Auch Theorien über die Erdstruktur entpuppten sich dank der Beobachtungen am Bohrloch als unhaltbar.Praktischen Nutzen hatte die Forschung auch. In etwa 1,8 Kilometern Tiefe entdeckte man industriell nutzbare Kupfer- und Nickelvorkommen. Die Temperatur zehn Kilometer unter der Erdoberfläche beträgt mit 210 Grad viel mehr als erwartet. Auch die Vorstellungen über die Wärme im Erdinneren und ihre Verteilung in den Basaltschichten muss­ten revidiert werden. Die Hälfte der Wärme hat ihren Ursprung in der natürlichen Radioaktivität des Gesteins, was für die zukünftige Projekte, die Erdwärme technisch nutzbar zu machen, eine entscheidende Erkenntnis ist.Die Datenbank der Station enthält zahlreiche Videoaufnahmen und über 45.000 Gesteinsproben. Es wird über 100 Jahre dauern, sie gründlich zu untersuchen. Die wissenschaftliche Bedeutung der Bohrungen wird zu Recht mit Weltraumexpeditionen verglichen, denn die zutage geförderten Proben sind nicht weniger interessant als Bodenproben vom Mond. Im Forschungszentrum wurde bei der Untersuchung von Mondgestein, das von sowjetischen Raumsonden mitgebracht wurde, eine fast vollkommene Übereinstimmung mit einer 3 Kilometer tief gelegenen Gesteinsschicht aus der Kola-Bohrung festgestellt.1992 wurde die Bohrung schließlich eingestellt wegen technischer Pannen und fehlender Mittel. Pannen hatte es allerdings auch schon früher gegeben. Nur hat man damals Pannen noch zum Anlass genommen, verbesserte Ausrüstung und Technologien zu entwickeln.Nach der Einstellung der Bohrung wurde die Basis SG-3 zum „Tiefenlaboratorium Kola“ umgewidmet mit der neuen Aufgabe, seismische und erdmagnetische Messungen vorzunehmen und auch Methoden für die Erdbebenprognose zu entwickeln. Anhand untypischer Geräusche, die von den unterirdischen Mikrofonen registriert wurden, gelang es zum Beispiel, ein Erdbeben in Kaliningrad vorherzusagen.Doch heute interessieren weder die Forschung noch die Erdbebenvorhersage. Über das Schicksal von SG-3 wurde entschieden. Die Bohrung habe ihren Zweck erfüllt, sagt die Regierung. Alle Arbeiten der vergangenen Jahre brachten der Rohstoffförderung des Landes keinen Zuwachs. Man will kein Geld mehr für wissenschaftliche Grundlagenforschung ausgeben.Auch die Umwandlung von SG-3 in eine Aktiengesellschaft änderte nichts an der Lage. Die Gebäude sind verfallen, das Metall ver­rostet. Für die Auflösung der Station gab Moskau ein Jahr Zeit. Die Liquidation des Objekts, der Abbruch der Gebäude, die Versorgung des Bohrlochs und die Rekultivierung des Geländes würde gewaltige Mittel erfordern. Leichter ist es, abzuwarten bis die Aktiengesellschaft Pleite ist und sich die Anlage durch natürlichen Verfall liquidiert.Drei Milliarden Rubel im Jahr hatte der Betrieb von SG-3 gekostet. Nach russischen Maßstäben nicht viel Geld, um Russlands Stolz und eine Anlage, die das Wissen der Menschheit bereichert, zu erhalten. Delegationen der UNESCO nannten sie unentbehrlich. Neben dem Wissenschaftszentrum könnte ein Museum entstehen.Milliarden werden in Erdbebebenprojekte investiert, man jagt Satelliten ins All. Doch SG-3 hält nur noch Enthusiasmus und der Glaube aufrecht. Das Schicksal von SG-3 betrachten die letzten Mohikaner von Sapoljarny als ihre eigene Tragödie. Es sind nur noch ein Dutzend Menschen dort, wo früher Hunderte arbeiteten.Die letzte ReiseEin Jahr später unternehmen wir nochmals eine Reise zu SG-3. Sapoljarny kann man inzwischen ohne Erlaubnis betreten. Das Büro des Forschungszentrums Kola existiert nicht mehr. Fünf Stunden irren wir auf der Straße umher, bis wir schließlich jemanden finden, der uns sagen kann, wo Onkel Mischa jetzt steckt.Das Treffen mit Onkel Mischa, Dima und einigen ihrer Kollegen verläuft so herzlich wie früher. Wir werden in eine warmen Wohnstube zum Essen eingeladen und bis spät in die Nacht bekommen wir aufgeregt vorgetragene Geschichten erzählt: „Mit dicken Metallseilen wurde der Turm an dem Kettenfahrzeug und zwei großen Lastwagen befestigt. Die Fahrzeuge konnten nicht einen Schritt vorfahren, so stabil war der Turm. Einem LKW wurde die Achse fast weggerissen, aber der Turm blieb stehen. Wir waren ohnmächtig gegen das Weltwunder, als ob jemand gegen uns kämpfte. Der Abrissplan hat nicht funktioniert. Aber Befehl ist Befehl. Und nach viel Mühe fiel circa ein Viertel von dem Turm mit großem Lärm runter, der Stern brach ab, fiel und bohrte sich so tief in die Erde, dass wir ihn nicht rausholen konnten. Der Rest blieb unerschütterlich stehen. Nichts mehr zu machen.“Am nächsten Tag will Aleksei, der SG-3-Direktor, uns zunächst gar nicht auf das Betriebsgelände lassen, weil er meint, in diesem Zustand sollte der Turm nicht fotografiert werden. Aber Dima kann ihn überreden. Die gleiche Prozedur wie im letzten Winter: Pelzmantel, Wodka, Kettenfahrzeug – und plötzlich ein heftiger Schneesturm. „Schönes Wetter habt ihr wieder mitgebracht, aber versprochen ist versprochen. Schnell hin, solange man den Weg erkennt“, brummt Onkel Dima.Durch dicken, weißen Schneenebel enthüllt sich langsam der Turm – ein Krüppel, in eine Schneedecke gehüllt. Abgebrochene Stangen, wie Hände gen Himmel gestreckt. Die Gedächtniskirche in Berlin kam mir in Erinnerung. Ein trauriger Anblick. Wir wechseln kein Wort, bis wir direkt vor der Ruine stehen.Der Zugang zur ehemaligen Kantine und dem Betriebsgebäude liegt unter Schneebergen verschüttet. Onkel Dima entdeckt schließlich ein Loch, und wir rutschen fünf Meter nach unten ins Dunkle. Er zeigt uns das diamantene Zimmer, das immer noch Radioaktivität ausstrahlt. In den Büros schauen uns von den Tischen und aus den Schubladen Gesichter von Mitarbeiterausweisen an. Essensmarken für die Kantine liegen mit anderen Dokumenten unter einer Schmutzschicht. Im Konferenzraum liegt ein rotbrauner Teppich und an der abgebröckelten Wand lehnt eine zerbrochene Karte der Sowjetunion aus lackiertem Holz. Eine traurige Allegorie. Durch ein zerbrochenes Fenster können wir ins Freie springen. Als der Sturm nachlässt, fahren wir schweren Herzens zurück.Um zwei Uhr nachts fährt der letzte Bus nach Murmansk. Fünf Minuten vor zwei fängt es plötzlich an zu regnen, im tiefsten Winter. Erschrocken beobachten wir, wie die Tropfen sich wie Tränen in den Schnee bohrten. Erwartungsgemäß bleibt der Bus bald irgendwo auf einem Gebirgspass liegen.Als ob schon wieder die Kräfte aus dem Jenseits ihr Spiel treiben.
Alexandre Sladkevich
Ein Turm wie ein Krüppel und ein radioaktives Diamantenzimmer. Spurensuche auf der Kola-Halbinsel in den Ruinen der größten geologischen Forschungsstation SG-3
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Kultur
2009-04-28T11:00:00+02:00
https://www.freitag.de/autoren/alexandre-sladkevich/das-tiefste-loch-der-welt
Balkanisches Wirtshaus Toter ohne Leiche
Wer Jugoslawien nicht betrauert, hat kein Herz, wer es wieder herstellen will, hat keinen Verstand. Mit diesem Spruch beginnt eine neue Generation, sich mit den Ergebnissen der Kriege zu arrangieren. Rada Ivekovic, eine herausragende Vertreterin der Generation des zweiten, zerstörten Jugoslawien, mangelt es weder an Herz noch an Verstand. So ist ihre Autopsie des Balkan eine präzise, aber auch sehr traurige Veranstaltung geworden. An und in der sezierten Leiche findet die Pathologin des verendeten Jugoslawien historische Verletzungen, angeborene Missbildungen, die Folgen von Fremdeinwirkungen wie von ungesunder Lebensweise, eine Fülle von Traumata, die sich teils gegenseitig bedingen, teils auch nicht. Wer auf eine kriminologische Untersuchung hofft, kommt nicht auf seine Kosten. Der Patient ist eines Bilanztodes gestorben, und die Pathologin ist nicht auf der Suche nach dem Mörder. Ivekovic geht es vielmehr um den Toten. Sie bleibt immer hart am Objekt und opfert es nicht monoman einem Gedanken. So ist ihr Werk unsystematisch geblieben - sehr im Unterschied zu den vielen Auseinandersetzungen von westlicher Seite, deren Autoren in Jugoslawien alle nur irgend etwas Abstraktes bewiesen sehen wollen.Die Philosophin und Orientalistin Rada Ivekovic, geboren 1945 in Zagreb, hat ihr Land 1992 verlassen, eben um dort bleiben zu können. Im Jahr ihres Fortgangs widmete ihr und einigen anderen prominenten "Hexen" die nationale Wochenzeitung Globus, damals Flaggschiff und Zerstörer des Tudjman-Regimes, einem dem Geist jener Jahre entsprechenden, abscheulichen Nachruf. Globus nahm sie, zusammen etwa mit Slavenka Drakulic und Dubravka Ugresic, in eine Tabelle auf, mit der kompromittierende Details aus ihren Biographien verraten oder einfach erfunden wurden: Serbische Verwandte, Ehepartner oder Lebensgefährten, Größe der Wohnung, berufliche Stellung im "Serbokommunismus", Verrat am neuen Vaterland durch Abwesenheit, als sich die Daheimgebliebenen gerade im Opfermythos suhlten. Rada Ivekovic war das Ärgste, was man damals in Kroatien sein konnte: eine "Jugo-Nostalgikerin".Mit ihrer "Autopsie" hat Ivekovic den Vorwurf von damals weder abgewiesen noch einfach positiv gewendet. Jugoslawien ist für sie "ein Toter, dessen Leiche fehlt und den man nicht betrauern kann". Sie denkt Jugoslawien noch als ein Ganzes; in diesem Ganzen, nicht in den Spaltprodukten, sucht sie die Erklärung für die Katastrophe der neunziger Jahre. "Jugoslawien hat sich nicht selbst auf die Probe gestellt", konstatiert sie; es hätte sich von seinen Subjekten immer wieder neu erfinden lassen müssen. Wie das aber hätte gehen können in einem so armen, von so vielen ererbten Problemen geschüttelten und von Versuchungen heimgesuchten Land, einem doch diktatorisch regierten Staat, macht sie nicht wirklich plausibel - wie Ivekovic überhaupt nie die konkreten Fehlentscheidungen benennt, die das Projekt schließlich scheitern ließen. "Brüderlichkeit und Einheit" konnten ohne Freiheit nicht ans Ziel kommen, erkennt sie. Wo lag der Fehler von Anfang an? Hätte Jugoslawien als parlamentarische Demokratie überlebt, oder mit den Ideen von Milovan Djilas? War dann mit Titos Nationalitätenpolitik der Weg in den Untergang nicht schon beschritten? Solche Erörterungen sucht man bei Ivekovic vergebens. Aber sie will Jugoslawien ja auch nicht neu erfinden. Die Zukunft liegt auch Ivekovic in Europa, dessen "Unbewusstes" der Balkan war und das sich auch heute nicht kennt. Der Gestus der Aus- und Abgrenzung, für Europa seit jeher konstitutiv, habe hier, in der Peripherie, seine verheerende Wirkung entfaltet. Eine Art von Ausgrenzung und Verdinglichung ist es auch, das wird bei der Lektüre klar, wenn westliche Analytiker mit den "pro-westlichen" oder "abendländischen" Kroaten, den "sozialistischen" oder "antiimperialistischen" Serben, den "liberalen" oder "multikulturellen" Bosniern Partei zu gehen meinen. Wie Rada Ivekovic von Jugoslawien müssen wir Westler von Europa erst sprechen lernen.Ihr "psychopolitischer Essay" ist nicht eben einfach zu lesen. Die Autorin spricht von "ihrem" Jugoslawien, und zu ihr gehören die Gedanken über Feminismus und balkanisches Patriarchat ebenso wie ihre Kenntnisse über indische Kultur und buddhistische Religion, die Kindheitserinnerungen an Urlaube an der Adria und frühe Versuche, den allgegenwärtigen roten Stern in der Landesflagge abzuzeichnen. Das alles fordert dem Leser mal an Landeskenntnis, mal an universeller Bildung einiges ab. Zu den interessantesten Kapiteln für den neugierigen Ausländer gehört das über die "balkanska krcma", das balkanische Wirtshaus, jenen halböffentlichen Raum, in dem das Klima von Rauchschwaden vergiftet ist, wo jeder Außenseiter zum Feind und jeder edle Gedanke zu Schanden wird. Brillant ist ihre Betrachtung zu den Schwesterstädten Belgrad und Zagreb, den "siamesischen Zwillingen", deren Trennung das Blut erst fließen lässt. Dass ein kleiner österreichischer Verlag es gewagt hat, ein so kluges und intimes Werk zur notorischen Projektionsfläche Jugoslawien sensibel und kundig übersetzen zu lassen, kann nicht genug gepriesen werden.Rada Ivekovic: Autopsie des Balkans. Ein psychopolitischer Essay. Aus dem Französischen von Ilona Seidel. Literaturverlag Droschl, Graz 2001. 210 S., 31,- DM
Norbert Mappes-Niediek
Rada Ivekovics Essayband "Autopsie des Balkans" will nichts systematisch beweisen
[]
Kultur
2001-10-12T00:00:00+02:00
https://www.freitag.de/autoren/norbert-mappes-niediek/toter-ohne-leiche
Literatur Nouvelle Vague auf Sizilianisch
„Jeder von uns muss, um frei zu sein, um seiner Würde treu zu bleiben, ein Häretiker sein“, schrieb der sizilianische Romancier Leonardo Sciascia. Vor ziemlich genau hundert Jahren geboren, im Brotberuf ein mäßig begabter Volksschullehrer, hat er den italienischen Kriminalroman, den Giallo, auf eine neue Stufe gehoben. Sei es in Tag der Eule (1961), das 1968 von Damiano Damiani mit Franco Nero und Claudia Cardinale verfilmt wurde, in Todo modo (1970) oder im dokumentarischen Probelauf der Affäre Moro (1978) – der Kriminalfall führt stets in jenes Zwielicht, in dem sich die intime Seite der Kultur zeigt. Dort hineinzublicken kann mitunter erschrecken, für die Protagonisten verbindet sich die Lösung des Falles deshalb häufig mit politischer und Selbsterkenntnis.Leonardo Sciascia blieb stets ein auf Sizilien bezogener Schriftsteller, wenngleich er die Gesamtausgabe seiner Werke einem Franzosen anvertraute. Überhaupt zeichnet sein Werk Züge des französischen Moralismus, des strengen Durchdenkens von Verhaltensweisen, aus. Er begann mit Erzählungen über seinen Geburtsort Racalmuto im trockenen Inneren der Insel, weitab von jedem Strand und geprägt von Schwefelminen. Il mare colore di vino (Das weinfarbene Meer) gehört zu den Erzählsammlungen, die auf der Mittelmeerinsel beinahe jeder kennt. Sie erzählt die Transformation des Landes von der Feudal- bis zur Nachkriegsgesellschaft.Die Mafia unterschreibt nichtSciascias vom Bewusstsein jahrtausendealter Fremdherrschaft grundierte Sicht auf seine Heimat prägte auch seine Gialli. In Tag der Eule, Sciascias erstem Mafiaroman, steht ein norditalienischer Kommissar erst verstört, dann zunehmend fatalistisch vor der Verstocktheit der Insulaner. Es braucht eine Weile, bis er die anonym eingehenden Denunziationen versteht, denn: „Sie schreiben, aber sie unterschreiben nicht.“ Wer aber für seine Worte nicht einsteht, taugt nicht zum Zeugen. Vielmehr beteiligt er sich an einer Welt des Gerüchts, die nur mehr die Schwundstufe einer auf Patron-Klient-Beziehungen gründenden Gesellschaft bezeichnet. Und diese Ordnung ist im Fall Siziliens der letzte Halt einer postkolonialen Situation: nach den Aragonesen, nach den Savoyern, nach den Faschisten und nach den von den Amerikanern eingesetzten Mafiosi, worauf soll man sich da noch verlassen?Der Kommissar entdeckt, wie das organisierte Verbrechen vor Ort mit der großen Politik im Bunde steht, wie die Regierung in Rom, die Geschäftsleute des Nordens und die mit ihrer mediterranen Identität Folklore betreibenden Mafiosi zusammenwirken. Besiegen kann der Kommissar sie nicht, bezeugen, das schon. Tag der Eule ist also auch noch ein existenzialistischer Roman – Nouvelle Vague auf Sizilianisch.Carlo Ginzburg, einer der Väter der Mikrohistorie, hat zur selben Zeit, als Sciascia auf der Rückseite der Wirklichkeit seine Romane verfasste, die Kulturwissenschaften als „Indizienwissenschaften“ charakterisiert. Solches Indizienwissen hat Sciascia (der auch als Politiker im Stadtrat von Palermo und im Europaparlament saß) zeitlebens gesammelt, auch indem er historische Fälle noch einmal aufrollte, in denen sich das Allgemeine exemplarisch bricht. Seine Erfindungen gleichen oft dem experimentellen Aufteilen eines Rätsels auf verschiedene Rollen. „Inchieste“, Ermittlungen, bei denen die Frage nach der gerechten Macht, aber auch nach der Möglichkeit der Literatur im Mittelpunkt steht: Wie kann man wahr schreiben, wenn an der Schrift immer schon das Blut der Inquisitoren haftet?Seit ein paar Jahren legt der Wagenbach-Verlag eine Reihe von Sciascias Kriminalromanen neu auf, während zuletzt, mit einem sehr lesenswerten biografischen Nachwort von Maike Albath, Ein Sizilianer von festen Prinzipien bei Edition Converso erstmals auf Deutsch erschienen ist. Darin geht es um einen häretischen Mönch, der die göttliche Gerechtigkeit herausfordert, indem er seinen Inquisitor umbringt. Dass man es im Leben hartnäckig mit den größten Mächten aufnehmen sollte, war Sciascias nicht geringstes Anliegen.Placeholder authorbio-1Placeholder infobox-1
Ulrich van Loyen
Leonardo Sciascia hob den italienischen Kriminalroman auf eine neue Stufe. Vor hundert Jahren wurde er bei Agrigent geboren
[ "Giallo", "Sizilianische Sprache", "literatur", "Leonardo Sciascia" ]
Kultur
2021-04-26T06:00:00+02:00
https://www.freitag.de/autoren/ulrich-van-loyen/nouvelle-vague-auf-sizilianisch
Drohneneinsatz Flugrouten
Erstmals haben Amnesty International (AI) und Human Rights Watch gemeinsam einen Report über Kriegsverbrechen der USA veröffentlicht, die mutmaßlich bei Drohnenangriffen in Pakistan und im Jemen verübt wurden. Das Papier wirft Fragen auf, denen sich nicht nur die Obama-Regierung stellen muss, sondern auch ein Verbündeter wie Großbritannien, der diese Operationen stillschweigend billigt. Antworten sind also geboten. Immerhin gelten Raketen aus unbemannten Flugzeugen inzwischen als Obamas „Waffe der Wahl“ im globalen Anti-Terror-Krieg. Wer dem juristisch nachgeht, stößt auf mehrere, durch AI gut dokumentierte Fälle, bei denen die USA durch Zeugenaussagen der widerrechtlichen Tötung bezichtigt werden. Die Anzahl dieser Vorfälle sowohl im Jemen als auch in Pakistan lässt darauf schließen, dass es sich um keine „Einzelfälle“ handelt, sondern Elemente einer extrem rechtswidrigen Politik.Würden sich die USA zu Beteiligten eines bewaffneten Konflikts erklären, der in beiden Ländern zwischen den dortigen Regierungen und Terroristen – zumeist Al-Qaida-Verbände oder Al-Qaida-Verbündete – stattfindet, würde ihr Vorgehen dem internationalen Völkerrecht oder Kriegsrecht unterliegen. Human Rights Watch weist allerdings darauf hin, dass die Amerikaner erklären, weder im Jemen noch in Pakistan Kriegspartei zu sein. Vielmehr unternehme man Ad-hoc-Operationen zum Schutz von US-Interessen. Und selbst wenn sich die USA zur Kriegspartei erklären sollten: Das Kriegsrecht erlaubt nur Angriffe auf feindliche Kämpfer oder andere militärische Ziele – nicht aber auf solche, die erkennbar nichtmilitärischer Natur sind.Mehrfach gebrochenÜber sechs US-Drohnenangriffe im Jemen heißt es bei Human Rights Watch: „Zwei davon verstießen klar gegen internationales Recht. Es wurden nur Zivilisten getroffen. In anderen Fällen könnte ein Bruch des Kriegsrechts vorliegen, weil es sich bei den Zielpersonen nicht um rechtmäßige militärische Ziele handelte oder ein Angriff unangemessene Schäden verursachte. Hierzu sind weitere Untersuchungen nötig.Wenn sich die USA weder im Jemen noch in Pakistan „im Krieg“ befinden, sind die Menschenrechte das Kriterium, um ihr Handeln zu beurteilen. Und dieser Maßstab besagt, tödliche Gewalt darf es nur geben, wenn eine „unmittelbare Bedrohung“ für Menschenleben besteht. Doch war eine solche Bedrohung – so Amnesty International – bei keinem der US-Angriffe gegeben. Im Mai hatte Präsident Obama zudem Einsatzkriterien formuliert, nach denen ein Ziel nur dann legitim sei, wenn davon eine unmittelbare Bedrohung für die USA ausgehe. Auch müsse klar sein, dass die Festnahme eines Terror-Verdächtigen ausgeschlossen sei, der also nur aus der Luft beschossen werden könne. Die untersuchten Fälle lassen darauf schließen, dass diese „Regeln“ mehrfach und bewusst gebrochen wurden.Offiziell heißt es in Washington, durch Drohnenangriffe würden Personen eliminiert, die Angriffe auf die USA geplant hätten. Doch bei Operationen im jemenitischen al-Majalah (2009) oder in Sarar (2012), auch im pakistanischen Waziristan, bei denen Dutzende Zivilisten starben, gab es dafür keinen schlüssigen Beweis. Dazu Human Rights Watch: „Sollten die USA im Jemen weiter gezielt töten, ohne Verantwortung für zivile Opfer zu übernehmen, werden viele Jemeniten den Werbern von Al-Qaida auf der Arabischen Halbinsel (AQAP) Gehör schenken, die ihnen sagen: Dieser Krieg richtet sich gegen alle Muslime.“
Simon Tisdall
Nichtregierungsorganisationen ächten US-Operationen im Jemen und in Pakistan als Kriegsverbrechen und fordern ein juristische Aufarbeitung
[ "ausland", "Human Rights Watch", "Al-Qaida auf der Arabischen Halbinsel", "Vereinigte Staaten (USA)" ]
Politik
2013-11-04T09:40:00+01:00
https://www.freitag.de//autoren/der-freitag/flugrouten
Zurückbleiben Der Elvis braucht sein Obst
Zeig mir, wie du wohnst und ich sage dir, wer du bist. Schaut man sich bei mir um, sieht man hauchzarte Geschirrtücher aus Japan, Tablettendöschen aus Indien, Holzlöffel mit Zebramuster aus Südafrika, eine Schneekugel mit Maradona und der Hand Gottes, leuchtend bunte Lederelefanten aus Thailand und eine große Auswahl an Schwarz- und Grünteesorten.Was sagt das über mich? Ich mag keinen Tee und Backpackerin war ich nur ein einziges Mal, seitdem ist klar, ich leide nicht an Fernweh und habe Flugangst. Hätte ich ein Ferienhaus in der Provence, würde ich da hinfahren, und zwar jedes Jahr. Mein Umfeld reagiert auf meine Vorstellung vom perfekten Urlaub ungefähr wie auf ein Bekenntnis zu All-Inclusive auf Malle. Was sich in meiner Wohnung stapelt, sind die Dankeschön-Geschenke von Freunden oder Freunden von Freunden. Irgendjemand muss sich ja kümmern, während die anderen sich über die Welt verstreuen.Mittlerweile bin ich Profi, Tiere in Glaskästen sind ein Ausschlusskriterium. Wer einmal ein Wohnzimmer betreten hat, in dem lauter mehr oder weniger verendete Fische auf dem Boden gestrandet sind, weiß warum. Inzwischen habe ich eine Checkliste parat, wenn es um die Betreuung von Haustieren geht. Vom Alter, über Vorerkrankungen, Medikamente, Allergien, Hitzeempfindlichkeit bis zum Lieblingsspielzeug ist alles dabei. Sobald man die Ferienpflege für ein Tier zusagt, weiß man, dass man sich auch um die Menschen kümmern muss.Mails, die daran erinnern, dass Hamster Elvis zwischendurch frisches Obst und Gemüse braucht, beantworten sich leicht. Heikel wird es, wenn das Fell plötzlich nicht mehr glänzt und der Blick trübe wird. Schlägt man Alarm und bringt damit die Urlauber um die wohlverdiente Erholung?Die Bindehautentzündung des Zwergkaninchens kann man erst einmal verschweigen, auch wenn es zubeißt, während man ungeschickt mit Augentropfen hantiert. Aber was ist, wenn die chronische Niereninsuffizienz des Katers plötzlich zum Ernstfall wird? Klar, man gibt Bescheid, aber erwähnt man den besorgten Blick der Tierärztin oder schlägt man besser zuversichtliche Töne an? Mit den Gedankentiraden, die einen in solchen Momenten beschäftigen, könnte man locker die Sitzung zum Thema Dilemma im Ethikseminar bestreiten. Der Kater der Freundin hat ihre Rückkehr noch erlebt, aber seitdem gibt es die Checkliste. Das Leeren von Briefkästen ist auch nicht so banal, wie es klingt. Zum Beispiel, wenn man sich darum kümmern muss, dass im Mietstreit mit der Hausverwaltung Fristen eingehalten werden müssen, trotz der anderen Zeitzone, in der sich die Freunde gerade aufhalten. Oder wenn eine aufgelöste Freundin anruft, der das Portemonnaie geklaut wurde. Da wartet man zusammen auf das Eintreffen der neuen Kreditkarte und den PIN-Code, damit ihre Reise weitergehen kann. Pflanzengießen ist da noch die leichteste Übung – theoretisch. Betreut man in einem Hitzesommer bei 40 Grad fünf Wohnungen, weiß man, was man getan hat. Schlimm war das Hochbeet auf dem Tempelhofer Feld, die Freunde hatten vom Urban Gardening geschwärmt, vor den Laufwegen mit der Gießkanne und dem Beetnachbarn, einem notorischen Besserwisser hat mich keiner gewarnt. Darüber habe ich mich dann tatsächlich auch mal beschwert. Über meinen Mangel an „Erlebnisorientierung“ spotten die Freunde seitdem kaum noch, stattdessen lobt man meine Ökobilanz. Vor allem jetzt, wo die Reisezeit beginnt.Placeholder link-1
Martina Mescher
Blumen wollen gegossen, Hamster gefüttert, Briefkästen geleert werden. Eine muss es ja machen ...
[ "einhüten", "aufpassen", "blumen gießen" ]
Alltag
2018-06-24T06:00:00+02:00
https://www.freitag.de/autoren/martina-mescher/der-elvis-braucht-sein-obst
Rente Eine echte Lachnummer
Groß waren die Hoffnungen, umso größer ist nun die Enttäuschung: Aus der großen Rentenreform der Andrea Nahles ist nichts geworden, es bleibt wieder einmal bei einer sozialpolitischen Flickschusterei. Insbesondere für die Gruppen, die besonders verletzlich sind, hat die Sozialministerin wenig durchsetzen können. Die Erwerbsminderungsrenten werden durchschnittlich um 50 Euro erhöht, ohne die Abschläge aufgrund des früheren Renteneintritts zu kassieren. Was aus der Solidarrente für Geringverdiener wird – zehn Prozent über der Grundsicherung nach 35 Beitragsjahren –, werden die nächsten Wochen bringen, denn die Union sperrt sich noch. Für die kleinen Selbstständigen wird es wohl auch weiterhin keine Versicherungspflicht geben.Eine echte Lachnummer hat Nahles allerdings bei der Ost-West-Angleichung hingelegt. 35 Jahre nach der Einheit, 2025 nämlich, dürfen die Ostrentner damit rechnen, auf das gleiche Niveau gehoben zu werden wie die Rentner im Westen. Ein Grund ist sicherlich, dass die derzeit noch geltende Höherbewertung der Ostlöhne dann wegfiele. Der wichtigere aber liegt in der schlichten Hoffnung, dass es bis dahin gar nichts mehr anzugleichen gibt. Dass die Ministerin vor laufender Kamera aber nicht zu sagen weiß, ob das Ganze nun aus der Versichertenkasse oder aus Steuermitteln bezahlt werden soll, ist mehr als handwerkliches Ungeschick. Sie werde das mit dem Finanzministerkollegen Schäuble klären, sagte sie, als sei das nicht Gegenstand der Verhandlungen gewesen.Abgespeckt wurde auch das Kernstück der Reform, die Balance von künftigem Rentenniveau und Beitragssätzen, die berühmten doppelten Haltelinien, von denen Nahles immer gesprochen hat. Und das ist tatsächlich die Quadratur des Kreises: Sollen die Jungen bei der Stange gehalten werden, müssen sie die Aussicht haben auf eine Altersauskommen, das diesen Namen verdient, ohne andererseits heute unzumutbar geschröpft zu werden. Das wird nur mit Geld aus der Steuerkasse gehen.Auf 46 Prozent will Nahles das Rentenniveau bis 2045 festklopfen, die Beiträge dürfen nicht über 25 Prozent steigen. Ob sich der „Kollege Schäuble“ am Ende wirklich darauf einlässt, die dafür notwendigen Milliarden lockerzumachen, steht dahin.
Ulrike Baureithel
Aus der großen Rentenreform von Andrea Nahles ist nichts geworden. Es bleibt wieder einmal bei einer sozialpolitischen Flickschusterei
[ "Andrea Nahles", "inland" ]
Politik
2016-12-01T06:00:00+01:00
https://www.freitag.de/autoren/ulrike-baureithel/eine-echte-lachnummer
Cola-Steuer Auf Linie gebracht
Gourmets? Bon vivants?Wie wild rennen die Franzosen in Paris, Marseille oder Bordeaux zu McDonald' s, oder der französischen Fast-Food-Kette Quicks. Und da trinken sie nicht den die Gesundheit fördernden Vin rouge, sondern süße, mit Zuckerzusätzen unterwanderte, dick machende Cola.Weil wir gar nicht mehr selbst kontrollieren können, was und wie exzessiv wir rauchen, essen, oder trinken, sagt nun der Etat: C'est moi, der euch schützt, ihr lieben Citoyens. Damit diese weniger Schaden nehmen, hat die französische Regierung eine so genannte "Soda tax" beschlossen, eine Steuer auf Softdrinks wie Fanta, Cola oder Pepsi, aber auch Milchshakes und Orangina made in France. Der Preis einer 1,5-Liter-Flasche soll um durchschnittlich 11 Cent steigen.Man wolle damit gegen "Fettleibigkeit" vorgehen, so die offizielle Version. Sind aus den Size Zero - Franzosen lauter Moppel-Ichs geworden? Nur noch Depardieus statt Coco Chanels?Nicht selbstgefällig"Wir Franzosen mögen die am wenigsten Übergewichtigen in Europa sein ... aber wir sind nicht selbstgefällig. Und Fettleibigkeit wächst in Frankreich so schnell wie in anderen EU-Ländern. Wir müssen Aktionen starten, bevor es ein ernstes Problem wird", heißt es aus dem französischen Gesundheitsministerium.Der eigentliche Grund der am vergangenen Mittwoch in der Nationalversammlung beschlossenen Steuer aber ist: Sparen. Der Staatskasse sollen damit nun jährlich 280 Millionen Euro beschert werden.Die Opposition klagte gegen das aus ihrer Sicht scheinheilige Vorhaben, bei dem es weniger um das Wohl des Menschen gehe als um Sarkozys Haushalt. Die Euro-Krise. Die Schulden.Solch eine "Fat tax" ist nicht neu in Europa, es gibt sie bereits in Dänemark, auch Ungarn hat im Juli 2011 eine Fast-Food-Steuer eingeführt.Fragt sich nur, ob man sein Volk mit einer Steuer erziehen kann, oder ob nicht eher konkrete Maßnahmen an Schulen und allgemeine Aufklärung dabei helfen, den Bürger auf Linie zu bringen.Coca-Cola hält die Steuer naturgemäß für "unfair" und drohte kurz mal mit Investitionsstopp in der Grande Nation. Ist schon wieder vergessen. Doch die Händler sind verärgert. Die höhere Steuer zwinge sie, ab Januar die Preise der Softdrinks um 20 Cent zu erhöhen.In den USA, der Heimat von Coca-Cola, gab es Proteste, als 2010 in New York eine solche Steuer eingeführt wurde. Auf "Stop-Soda-Tax" wurde ein Video gestellt, in dem ein Händler sich beschwert:Obelix- Bäuche hin oder her: It's the economy, stupid. Die französische Finanz kann nur gesunden, wenn der Bürger weiter Cola in sich hinein schüttet. Mittags auf Pastis umsteigen ist zumindest keine Alternative: Nun sollen auch hochprozentiger Alkohol und Zigaretten härter besteuert werden.
Maxi Leinkauf
In Frankreich werden Softdrinks teurer. Ab dem 1. Januar tritt eine Cola-Steuer in Kraft, mit der gegen Fettleibigkeit vorgegangen werden soll: Der Staat braucht Geld
[ "Erfrischungsgetränk" ]
Kultur
2011-12-30T12:20:00+01:00
https://www.freitag.de/autoren/maxi-leinkauf/auf-linie-gebracht
Ohne Dank und Abfindung Stuttgarter Leichenlogik
Schwarz, weiß und grau - das ist noch nicht die Lackpalette für die Autos des Konzerns, wohl aber der Alltag für die Forscher und Tüftler bei Mercedes-Benz. Denn - so eine interne Anweisung - für Entwürfe braucht man keinen Ausdruck in Farbe. Man will Kosten senken. Auch die Mitarbeiter in gut dotierter Stellung sollen spüren, was das heißt.Aber warum werden dann eines Tages auch noch die Firmenhandys der kreativen Köpfe eingesammelt? Kann sich die Weltmarke nicht leisten, was für Kinder selbstverständlich ist? Oder geht´s um die Abwehr von Industriespionage? Zerkratzte Fotolinsen sind die Antwort. Mit den zurück gereichten Mobiltelefonen lassen sich Blaupausen nicht mehr ablichten. Nicht die Angst vor BMW oder CIA, sondern vor dem Ideenklau des eigenen Personals ist der Grund für die Kommandoaktion. Solche Geschichten gehören zum Erbe von Jürgen Schrempp.Der Mann, der von ganz unten kam, sich zunächst als Verkäufer, dann als Statthalter in Südafrika hoch diente und schließlich während seiner zehnjährigen Regentschaft eine Welt AG basteln wollte, ist an imperialer Überdehnung in Tateinheit mit Selbstherrlichkeit und Repression gescheitert. Weil er gern vom shareholder value sprach, aber eben diesen mit Engagements bei Chrysler, Hyundai, Mitsubishi und Smart so sehr vernichtete, dass selbst die Perle Mercedes nicht mehr glänzt, hätte er eigentlich schon längst gehen müssen.Dass sich der Choleriker trotzdem immer wieder halten konnte, verdankte er einem merkwürdigen Zusammenspiel von Deutscher Bank und IG Metall. Fern jener Rationalität, die sie sonst so gern für sich in Anspruch nehmen, ließen die Herren des Geldes Patronage vor Profit ergehen - und ihren Emissär Hilmar Kopper, den Chef des Aufsichtsrats und Schrempp-Intimus, schalten und walten. Blamiert sind aber auch die Betriebsräte und Arbeitnehmervertreter, die sich den Eskapaden des bedrängten Vorstandsvorsitzenden nicht widersetzten, weil sie von ihm Zugeständnisse für die Kernbelegschaften bekamen. Beide, Banker und Metaller, handelten nicht strategisch im Sinne einer langfristigen Unternehmensentwicklung, sondern kurzsichtig, borniert und dünkelhaft.In solchen Fällen hilft am Ende nur noch der große Eklat, der das sorgsam gepflegte Abhängigkeitsgerüst zum Einsturz bringt. Wer ihn auslöste, wer es wagte, das Duo Schrempp-Kopper im Aufsichtsrat offen anzugreifen und davonzujagen, bleibt zwar verborgen, aber aus der unehrenhaften Entlassung von Schrempp - ohne Dankeswort und Abfindung - darf man wohl schließen, dass ihn am Ende die "Leichenlogik", die er jahrelang so virtuos beherrschte, selber traf. Vermutlich haben die Vorstandskollegen die Fehlentscheidungen und die dunklen Seiten seines Führungsstils so umfassend dokumentiert, dass die Beweislast erdrückend wurde. Hätte Schrempp sich gewehrt, wäre wohl noch manche Leiche in seinem Keller ans Tageslicht gekommen. So wird er nun Rentner, und die kompromittierenden Geschichten, die wir gern gelesen hätten, werden ad acta gelegt.Was folgt aus dem Skandal beim verblichenen Stern der deutschen Industrie? Schluss mit dem Kumpel-System wechselseitiger Vorteilsnahme! Schleift die letzten Reste des nicht mehr zeitgemäßen Rheinischen Kapitalismus! Rationale Unternehmensführung statt dubioser Mitbestimmung! Mehr Macht für die Investoren, damit sie sich gegen unfähige Manager wehren können! Die Wirtschaftspresse reagiert in gewohnter Einigkeit, aber auch ohne Sinn und Verstand. Was eine noch einseitigere Orientierung an den Bedürfnissen der Kapitalmärkte bedeuten würde, zeigen Unternehmen wie General Motors, die - von Quartalsberichten besessen - neue Antriebstechnologien verschlafen und denen es noch schlechter geht als DaimlerChrysler. Wenn es ein Gegenbeispiel gibt, dann Toyota. Vertrauen in die Kompetenz der Belegschaften, Investitionen mit langem Atem, Verzicht auf risikoreiche Firmenübernahmen - Toyota hat sich den Trends der neunziger Jahre verweigert, mit der Entwicklung von Motorenkonzepten für die postfossile Ära begonnen und ist eben deshalb zum wertvollsten Autokonzern der Welt geworden.
Hans Thie
Über den lehrreichen Abgang des Jürgen Schrempp
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Politik
2005-08-05T00:00:00+02:00
https://www.freitag.de/autoren/hans-thie/stuttgarter-leichenlogik
Balkan Altkader, EU-Politik
Wenn Vielvölkerstaaten wie zum Beispiel Jugoslawien zerfallen, dann bleiben nach Krieg, Völkerrechtsbruch, Tod und Gewalt Menschen zurück, die in ihrer bisherigen Heimat zu Fremden geworden sind oder die in eine Region zurückkehren, die einst ihr Zuhause war, wo sie nun mit Feindseligkeit empfangen werden, weil Mehrheiten sich geändert haben. Der Krieg um den Kosovo ist Hintergrund des Romans Pfingstrosenrot. Nach dem gut aufgenommenen Debüt Kornblumenblau, der sich mit dem Mord an zwei Mitgliedern einer serbischen Eliteeinheit beschäftigte, hat das deutsch-serbische Autorenpaar Christian Schünemann und Jelena Volic erneut einen realen Kriminalfall aufgegriffen. Obwohl sich die Tat, welche die Kriminologin Milena Lukin aufklären soll, viele Kilometer entfernt im unabhängig gewordenen Kosovo abgespielt hat, ist Belgrad – einst Hauptstadt Jugoslawiens und heute Serbiens – der wesentliche Handlungsort.Rein familiäres Interesse bewegt Milena zu Beginn, sich mit dem Mord an einem alten serbischen Ehepaar, das den EU-finanzierten Rückkehrboni eines serbischen Kosovo-Büros glaubte, zu befassen. Der Mord wird sofort den Albanern zugerechnet, aber ist das die Wahrheit? Milena Lukin – selbst in einem prekären Arbeitsverhältnis mit ständiger Furcht vor Fristüberschreitungen bei Finanzierungs- und Stellenanträgen – erörtert in Gesprächen und detaillierten Diskursen immer wieder die Hintergründe der Probleme von Geschichte und Gegenwart in Serbien und im Kosovo, dessen Nationalfarbe „Pfingstrosenrot“ sich vom vielen vergossenen Blut herleitet. Sie arbeitet an einer Habilitationsschrift über die Verbrechen auf dem Balkan der neunziger Jahre. Ihr Freund, der Rechtsanwalt Siniša Stojković, der einst die Untaten eines Diktatorsöhnchens (wer mag das wohl sein?) enthüllte und dafür seine gesicherte Beamtenstelle verlor, ist ihr dabei Partner, auch bei der Aufklärung des Verbrechens.Es geht wie so oft um Gier und Macht. Liebe kommt auch vor, aber mehr in den Varianten, die Diskriminierung und Ausgrenzung mit sich bringen oder als Karrieresupport. Es geht um Altkader, die beizeiten die Seiten wechselten und sich nun als Erneuerer des Landes aufspielen und dabei reich werden. Neue unbescholtene Beamte werden abgehängt oder gucken weg. Es geht um die EU-Politik mit ihren Förderungsinstrumenten, die zur Korruption verführen. Die nationalistische Karte ist Trumpf. Konflikte werden geschürt, weil es immer einige gibt, denen das nützt. Das alles liest sich spannend und kurzweilig, obwohl der rein kriminalistische Teil dabei gar nicht das spannende Element ist, sondern das Belgrader Lokalkolorit oder das des Kosovo, in das der Leser eintaucht.Der Krimi verwebt gekonnt die privaten Probleme und Konflikte der Heldin. Da ist die fürsorgliche (Groß-)Mutter, die mit ihrem hervorragenden Essen aus den Schätzen der serbischen Kochkunst den ganzen Laden zusammenhält und in deren Wohnküche einfach Frieden herrscht. Da sind der Ex Philip, der in Hamburg lebt, und der geliebte gemeinsame Sohn Adam. Zum festen Personal gehört auch in diesem zweiten Roman ein Verehrer, nämlich der deutsche Botschafter in Serbien, Alexander Kronburg. Und es gibt Tanja – eine gute und oft hilfreiche Freundin mit lukrativem Schönheitschirurgen-Job.Das Leben in der weißen Stadt an der Save, die Stimmung zwischen Aufbruch und Resignation, wird in Pfingstrosenrot lebendig und gegenwärtig. Es menschelt angenehm, es ist sehr viel Alltag in diesem Krimi und auch darum liest man ihn – neben den immer wieder lehrreichen politischen Hintergründen und bei wohltemperierter Spannung – mit Gewinn.Placeholder infobox-1Placeholder authorbio-1
Magdalene Geisler
„Pfingstrosenrot“ ist der zweite Roman des Autorenduos Schünemann & Volic
[ "literatur" ]
Kultur
2016-04-26T06:00:00+02:00
https://www.freitag.de/autoren/magda/altkader-eu-politik
Gesellschaft „Ein Grundeinkommen schafft Augenhöhe“
Herr Bohmeyer, was ist Mein Grundeinkommen überhaupt?Mein Grundeinkommen ist ein gemeinnütziger Verein; uns geht es darum herauszufinden, wie eine Gesellschaft mit einem bedingungslosem Einkommen aussehen könnte. Einfach mal ganz praktisch, ohne irgendjemanden davon überzeugen zu wollen.Wie sieht das denn in der Praxis aus?Nun, das sieht so aus, dass wir regelmäßig zwölfmonatige Grundeinkommen verlosen. Es wird viel über Grundeinkommen gesprochen, aber wir denken, dass es wichtig ist, auch einfach mal praktische Erfahrungen damit zu sammeln. Wir organisieren den Leuten für ein Jahr das Grundeinkommen und wollen dann von ihren Erfahrungen damit erzählen.Und wo kommt dieses Geld her?Das Geld kommt über Crowdfunding zusammen. Immer wenn wir genug Geld zusammen haben, verlosen wir neue Grundeinkommen. Wie ist es überhaupt zu dieser Idee gekommen?Angefangen hat das vor knapp zwei Jahren. Seitdem beziehe ich selbst eine Art bedingungsloses Grundeinkommen: Ich war 2006 Mitgründer einer Internetfirma, bin dann Ende 2013 aus meiner Geschäftsführungsposition ausgestiegen und erhalte seitdem einen monatlichen Geldbetrag von knapp 1.000 EURO - das hat mein Leben radikal verändert. Und ich glaube, dass es auch bei anderen zu solchen krassen Veränderungen kommen kann.Wie hat sich das gezeigt? Diese Veränderung?In allem. In meinem Leben, in meiner Persönlichkeit. Ich war selbst überrascht, was das für einen Impact hatte: Ich wurde kreativer, mutiger, ein besserer Vater, habe gesünder gelebt, hatte das erste Mal Zeit, um einfach über das Leben nachzudenken. Es geht also vor allem um dieses… persönliche Aha-Erlebnis?Ja, ganz genau. Mir wurde überhaupt erst bewusst, welche Wirkungen die Entkopplung von Einkommen und Arbeit hat, als ich es ausprobieren konnte.Aber geht es Ihnen auch ein Stück weit um gesellschaftlichen Wandel? Es gibt ja schließlich einige Menschen, die sich für bedingungslose Grundeinkommen aussprechen.Naja, ja, also… gute Frage (lacht). Also, wir, die wir bei Mein Grundeinkommen aktiv sind, sind schon begeistert von der Idee eines bedingungslosen Grundeinkommens. Wir wollen aber niemanden überzeugen: Uns fasziniert die Idee einfach. Aber es stimmt schon: Gesellschaftlicher Wandel ist ja eigentlich nichts anderes als die Summe vieler, kleiner Aha-Erlebnisse. Wir wollen einfach sehen, was tatsächlich mit den Menschen passiert: Gehen sie tatsächlich nicht mehr arbeiten? Oder trauen sie sich vielleicht sogar neue Sachen, die sie sonst vielleicht gar nicht ausprobiert hätten?Das ist ja tatsächlich einer der großen Kritikpunkte: Bedingungsloses Grundeinkommen würde den Menschen den Tatendrang nehmen. Wie haben die Gewinner bisher reagiert?Unsere Erfahrungen können das bisher nicht bestätigen: Bei uns hat eigentlich nur einer der Gewinner seinen bisherigen Job im Callcenter aufgegeben, aber nur deshalb, weil Er ohnehin sehr unzufrieden damit war. Stattdessen macht er jetzt das, was er eigentlich machen wollte, nämlich Pädagogik studieren. Aber es gab auch kurzfristige Bedürfnisbefriedigung in der Form, dass Geld zu verfeinern - und das ist auch ok, da gibt es kein verkehrt oder richtig. Und was berichten die Gewinner sonst?Viele erzählen uns, dass sie viel gesünder leben und besser schlafen. Alle engagieren sich gesellschaftlich oder Spenden mehr als vorher, geben also an die Gemeinschaft zurück. Fühlten sich die Gewinner vielleicht dazu verpflichtet, der Gesellschaft etwas zurückzugeben? Ob sie sich dazu verpflichtet fühlen, kann ich nicht sagen, aber die meisten, von denen wir hörten, taten es. Die meisten Menschen sind bereit für ihre Gesellschaft was zu tun, weil sie Sinn darin sehen. Das ist ohnehin ein verbreiteter IrrtumWas?Nun, etwa 40 % der Arbeit ist Erwerbsarbeit, ca. 60 % sind ehrenamtliche, unbezahlte Tätigkeit. Unsere aktuelle, neoliberale Gesellschaft baut auf unmenschlichen Vorstellungen auf. Das sieht man schon an der Frage: „Wenn alle Grundeinkommen bekommen, wer soll dann die Toiletten putzen?“ An dieser Frage zeigt sich das Falsche an diesem System: Es baut auf der Vorstellung auf, dass Leute diese Art von Arbeit für Dumpingpreise übernehmen müssen, weil sie keine andere Wahl haben und ja überleben müssen. Wenn man ehrlich ist, klingt das nach Sklaverei. Meinen Sie, dass ein bedingungsloses Grundeinkommen zu einer demokratischeren Gesellschaft führen könnte?Auf jeden Fall, das meint ja auch Katja Kipping, wenn sie von dem Grundeinkommen als eine „Demokratiepauschale“ spricht. Man kann dann sicher sein, dass Leute wirkliche etwas freiwillig machen. Und freiwillig meint in der Regel aus Überzeugung. Es herrscht ja gar keine materielle Freiheit, wie es uns der Neoliberalismus glauben lassen will. Jeder muss sich zu Markte tragen, ob er will oder nicht. Klassisches hierarchisches Angstdenken in der Gesellschaft: „Füg dich oder du sitzt auf der Straße“Aber bedarf Arbeitsteilung nicht auch ein bisschen Hierarchie? Vielleicht, aber das heißt ja nicht, dass man die Leute ihrer Freiheit berauben kann. An dem Punkt setzt auch unser aktuelles Projekt „Mein bedingungsloses Praktikum“ an.Worum geht es dabei?Wir haben jetzt seit einiger Zeit eine Praktikantin bei Mein Grundeinkommen in einem bedingungslosen Praktikum. Anders gesagt: Sie bekommt Geld, aber ob sie dafür arbeitet, ist komplett ihr überlassen. Und das funktioniert?Ja, und zwar sehr gut. Am Anfang war es sicher etwas ungewohnt für sie: Unsere Arbeitswelt verlangt ja kaum Selbstverantwortung von den Angestellten. Man kriegt Aufgaben und die erledigt man. Aber sie hat sich schnell eingearbeitet und ist auch viel selbstbewusster und integrierter als normale Praktikanten, denke ich. Wie hat sich Bedingungslosigkeit auf die Hierarchie ausgewirkt?Naja, wir wollen bei Mein Grundeinkommen ja kein hierarchisches Denken fördern, aber gut: Als Gründer wird man schon in so einer Art „Führungsposition“ wahrgenommen. Und da gab es ordentlich Kritik.Seitens der Praktikantin?Ja. Sehr viel Kritik, aber vor allem auch sehr gute Kritik. Anregungen, die ich in einem normalen Arbeitsverhältnis so nicht gehört hätte. Und ich finde das großartig: Sie kann sagen, was sie stört, ohne Angst haben zu müssen. Zum Beispiel gab es ein Mal sehr viel Stress im Büro und da sagte sie, dass sie am nächsten Tag nicht käme. In einem „normalen“ Unternehmen hätte man da als Chef gedroht oder ein Attest verlangt. Aber wir haben uns dann hingesetzt und das Ganze am runden Tisch aufgeklärt, so dass alle Seiten glücklich waren. Und da zeigt es sich auch: Ein Grundeinkommen schafft demokratische Augenhöhe.Vielen Dank für das Gespräch!
Jan Rebuschat
Der Verein "Mein Grundeinkommen" sammelt per Crowdfunding Geld für ein Bedingungsloses Grundeinkommen. Ein Gespräch mit dem Gründer Michael Bohmeyer.
[ "arbeit", "finanzen", "geld", "Mein Grundeinkommen", "europa" ]
Politik
2015-11-28T15:47:00+01:00
https://www.freitag.de//autoren/janrebuschat/ein-grundeinkommen-schafft-augenhoehe
Feldlerche Seltsame Andacht
Klänge hat das Tempelhofer Feld schon viele geschluckt – die Aufmärsche der preußischen Armee, das Gebrüll der Fußballhelden von BFC Germania 1888, später die röhrenden Getriebe der Rosinenbomber. Das „Große Feld“ zeichnet die Lautschriften seiner Paradigmenwechsel ebenso wie die groben Betonnarben überm Grün. Vor fast genau fünf Jahren avancierte es zum Symbol der Freiheit. Durchgesetzt hatten das hunderttausende lautstarke Berliner, die sich gegen seine Bebauung wehrten. Seitdem erfüllt es vielerlei Bestimmungen – Grill-Areal, Drachensteiger-Wettstrecke, Joggingbahn, Eventmeile. Wer oder was auch immer hier spielt und tönt – Berlins große Brache erträgt es mit Gleichmut und Grandezza.Schon Monate vor Christi Himmelfahrt hat das Rundfunksinfonieorchester (rsb) gemeinsam mit seinem derzeitigen „Artist in Focus“, dem Cellisten Johannes Moser für ein großes Mitmachkonzert geworben: „Stell dir vor, Celloklänge fliegen übers Tempelhofer Feld – und du bist mit dabei… Ich freu’ mich auf dich“, säuselt Mosers Stimme aus dem Off, während eine Fotodrohne die Weite des Feldes und die Somewhere over the rainbow-Griffe des Virtuosen einfängt – stimmungsvoll, aber auch ein bisschen wie Nescafé-Werbung. Mit dem Trailer will das rsb nicht nur neues Publikum an Land ziehen, sondern auch einem bedrohten Vogel helfen. Es trägt damit seinem Kooperationspartner der Saison, dem Naturschutzbund Nabu Rechnung. Der kürte die Feldlerche zum Vogel des Jahres 2019 – ein hübscher Bodenbrüter, den man früher gerne mit viel Butter verspeiste oder als zahmen Sänger im Käfig hielt. Heute ist der lehmbraune Bursche mit dem kleinen Feder-Iro von der konventionellen Landwirtschaft bedroht – sein Bestand drastisch zurückgegangen. Auf dem Tempelhofer Feld leben derzeit fast 40 Prozent der Berliner Population.Kluges Marketing ist das, klassische Musik, Event, Natur- und Tierschutz in einem Celloschwarm zu verzahnen. Johannes Moser hat damit kein Problem. „Das passt doch wunderbar zusammen. Vor allem hier auf dieser offenen Fläche, auf der nichts vorgefertigt ist und die Platz für alles und jeden bietet.“Sonnenmilch wird verteiltIm Interview vorab erzählt Moser, was ihn neben seiner solistischen Karriere vor allem umtreibt: Wie man die klassische Musik aus ihrem Elfenbeinturm befreit, ihr den Nimbus des Elitären abstreift. Schon als Student hat er sich bei der Yehudi Menuhin Stiftung „live music now“ engagiert, in Altenheimen und Gefängnissen konzertiert. Die Erlebnisse dort haben ihn menschlich, aber auch künstlerisch mehr bereichert als so mancher hochdotierte Wettbewerb, sagt er. Und deswegen nutzt Moser die Zeit außerhalb des Konzertsaals, um mit Menschen ins Gespräch zu kommen, die nicht zum üblichen 20-Uhr Publikum zählen. In Berlin hat er die Tage vor dem Celloschwarm in einer Bahnhofsmission, für Menschen mit geistiger Behinderung, vor Straffälligen und Obdachlosen gespielt. Die Air von Bach, Pablo Casals Song of the Birds, aber auch Walter Jurmanns Nonsens-Hymne Mein Gorilla hat ’ne Villa im Zoo. Im engen Ladenlokal der Wohnungslosenhilfe in der Brunnenstraße wird aus voller Kehle mitgesungen. Ein beeindruckend tätowierter und gepiercter Herr mit weißem Haar wischt sich ein paar Tränen aus den Augen – vor Lachen. Moser trifft den richtigen Ton. Elegant und tiefgründig mit Lutoslawski, Dutilleux oder Bach, aber auch voller Spielwitz mit Ufa-Schlagern und Songs. Und auch nicht nur auf seinem Cello. Er ist ein Kommunikationstalent für und über die Musik hinaus. Eines seiner Lieblingsworte lautet „ergebnisoffen“.Dass ihn sein good will vielleicht nicht zu den originellsten Werbeideen verführt – geschenkt. Sein Erfolg lässt die Kritiker verstummen. Das leicht verkitschte Video jedenfalls hat 160 Cellistinnen und Cellisten zum ehemaligen Flughafengelände gelockt. Mit ihren großen Instrumentenkoffern auf den Rücken wirken sie zwischen Fahrradfahrern, Skatern und bunten Drachen wie Schildkröten, die sich ihren Lebensraum zurückerobern. Moser gibt jedem persönlich die Hand. rsb-Helferinnen verteilen Klappstühle.Eine graugelockte Dame hilft ihrer Enkelin, die Noten mit Wäscheklammern zu befestigen, ein korpulenter Mann mit noch korpulenterem altmodischem Cello-Koffer hängt hechelnd über seinem Instrument. Übers Feld weht eine kräftige Brise und treibt die Wattewölkchen zu immer neuen Formationen. Ein Skater mit Dreadlock-Turban und kanariengelben Kopfhörern umkreist den Schwarm in Achten. Moser dirigiert übers Mikrofon eine kurze Probe, verteilt Sonnenmilch und freut sich, wie „phantastisch“ der Schwarm schon im Anspiel klingt. Gemeinsam mit den Cellisten und Cellistinnen des rsb hatte er Tutorials mit vereinfachten Stimmen ins Netz gestellt, die offensichtlich alle fleißig studiert haben.Dann schwingt sich leicht verschoben Bachs Air übers Feld, entfaltet ihre sehnsüchtige Melodie, während sich die Mittelstimmen immer stärker verdichten und ineinander verflechten. Ein Junge, der weit vorn mit seinem Bogen und den Kontrapunkt-Wendungen kämpft, wischt sich tapfer den Schweiß von der Stirn.Eine seltsame Andacht beherrscht das Feld. „Geiler Sound“, murmelt jemand. Der Dreadlock-Skater hat scharf neben mir gebremst, die Kopfhörer runtergerissen und nickt jetzt anerkennend. Für ein paar Takte hält er inne, dann fährt er seine Runden weiter um den Schwarm. Nach Bach kommt der Vorsitzende des Nabu in Berlin zu Wort, zieht ein paar skurrile Vergleiche zwischen Feldlerche und Mensch (genauer gesagt Frauen – ebenso wie diesen ginge es den Lerchen um Immobilien-besitzende und körperlich potente Männchen). Das Wichtigste aber: Er stellt die Feldlerchen (Männchen wie Weibchen) als besonders improvisationsbegabte SängerInnen vor – die Männchen zirpten laut und ausdauernd in der Luft, die Weibchen am liebsten im Feld, und etwas leiser. Die Cellisten haben sich direkt vor deren Flugwand postiert, wo das Gras bereits hüfthoch steht und auf keinen Fall niedergetrampelt werden darf.Plötzlich singt sie wirklich, die Lerche. Ganz hoch oben im Diskant, zunächst zart, dann immer bestimmter. Nicht eine, nein, ein ganzer Schwarm stimmt nun mit ein, tirilliert und zirpt, schleudert unbekümmert seine mikrotonalen Kaskaden den kratzenden Cello-Bögen entgegen und mischt den satten Sound von Somewhere Over the Rainbow mit rhythmischen Verschiebungen und erfrischenden Dissonanzen auf. Für einen kurzen Moment vergesse ich alle gezückten Iphones um mich herum und habe die perfekt austarierten Lautsprecherboxen des rsb ausgeblendet. Der Lerchenschwarm zeigt mit seinem beeindruckenden Solo, was wir mit diesem Vogel vermissen würden.Placeholder authorbio-1
Antonia Munding
Mit dem eigenen Cello kommen die Leute an, um auf dem Tempelhofer Feld für den Vogel des Jahres 2019 aufzuspielen
[ "feldlerche", "cello", "tempelhofer feld" ]
Kultur
2019-06-26T06:00:00+02:00
https://www.freitag.de/autoren/antonia-munding/seltsame-andacht
Ukraine/Russland Putin sagt ab
Wer wen wozu auf der Krim attackiert hat, ob der russische oder eher der ukrainische Geheimdienst Legenden verbreitet, lässt sich nicht klären. Woran man sich halten kann, ist die Aussage von Wladimir Putin, wonach weiteres Verhandeln im Normandie-Format zwischen der Ukraine, Russland, Deutschland und Frankreich keinen Sinn mehr ergibt. Da jenes Forum bisher als diplomatischer Überbau des Minsk-II-Vertrages gilt, wird dem russischen Präsidenten nachgesagt, er wolle aus dem Minsker Prozess aussteigen. Was nachvollziehbar wäre, nachdem die Kiewer Regierung nie wirklich eingestiegen ist.Es könnte in Berlin oder Paris manchem Kurzzeitgedächtnis entfallen sein: Als am 12. Februar 2015 in der weißrussischen Hauptstadt das Abkommen ausgehandelt war, lautete dessen Kernaussage, dass die prorussischen Volksrepubliken im Donbass formal Teil der Ukraine bleiben, doch auf weitgehende Autonomie rechnen dürfen. Die sollte sowohl in einer reformierten Verfassung wie einzelnen Gesetzen verankert sein. Was lässt sich nach anderthalb Jahren vorweisen? Bis auf eine brüchige Waffenruhe so gut wie nichts. Das in Kapitel drei von Minsk II vereinbarte „Gesetz über den besonderen Status des Donbass“ wird vom Parlament in Kiew blockiert. Das unter Kapitel sechs erwähnte Dekret über eine Amnestie für Teilnehmer „an Kriegshandlungen in einzelnen Bezirken der Regionen Donezk und Luhansk“ lässt ebenso auf sich warten, wie das für in Kapitel acht angemahnte „Maßnahmen zur Verbesserung der humanitären Lage im Donbass“ zutrifft. Stattdessen hat die Regierung Poroschenko sämtliche Sozialtransfers in die Region der Abtrünnigen gekappt. Wer als Pensionär innerhalb des Donbass lebt, muss sich seine Rente außerhalb des Donbass abholen. Oder darauf verzichten und auf Alimentierung durch Hilfe aus Russland oder durch den ukrainischen Oligarchen Rinat Achmetow hoffen.Normandie und Minsk II – oder gar nichtsDie Kiewer Versäumnisse werden von der deutschen Normandie-Diplomatie zwar eingeräumt, aber geduldet. Zu mehr scheint man weder willens noch fähig zu sein. Nach Gründen für diese Konzilianz muss nicht groß geforscht werden. Die ukrainische Seite bleibt um ihrer selbst willen auf ein konfrontativen Verhältnis zu Moskau bedacht. Nur dann lassen sich die Schutzmächte EU und USA in permanente Bringschuld versetzen. In ökonomischer Hinsicht wird die eingelöst, indem durch Kredite ein Kollaps des hochverschuldeten Staates vermieden wird. Die Kiewer Gegenleistung müsste in einem konstruktiven Umgang mit Minsk II bestehen, was durch die Normandie-Partner Deutschland und Frankreich nur um den Preis eines Loyalitätskonflikts mit den Kräften in der Ukraine zu erzwingen wäre, die man an der Staatsspitze halten will.Ehe man sich in solcher Stagnation allzu sehr einrichtet, hat Wladimir Putin die Alternative ins Spiel gebracht, Normandie und Minsk II – oder gar nichts. Schließlich beschädigen Deutschland und Frankreich ihre eigene Minsk-Diplomatie, wird es Kiew weiter gestattet, deren Ertrag zu missachten. Im Übrigen dürfte es Russland auf Dauer zu teuer sein, den Donbass allein zu unterhalten. Auch das leuchtet ein, solange die Ukraine diese Region weiter beansprucht, aber wie feindliches Ausland behandelt, das ökonomisch ausgehungert wird. Der Ausweg kann nur Minsk II heißen. Mit diesem Vertrag wurde eine Realpolitik betrieben, mit der Kräfteverhältnisse anerkannt wie Risiken erwogen wurden, falls das unterbleibt.
Lutz Herden
Die Diplomatie in der erneut aufgeflammten Ukraine-Krise ist einmal mehr zum Erliegen gekommen. Der Ausweg kann nur Minsk II heißen
[ "Minsk II", "Wladimir Wladimirowitsch Putin", "ausland" ]
Politik
2016-08-22T11:45:00+02:00
https://www.freitag.de//autoren/lutz-herden/die-quadratur-des-kreises
Corona Wir werden panisch, außer beim Planeten
Wir blicken in diesen Zeiten einer globalen Katastrophe entgegen, Millionen von Menschenleben sind in Gefahr, unser Wirtschaftssystem droht einzuknicken, nichts wird mehr sein, wie es war. Es gilt nun keine Zeit zu verlieren, will man die schlimmsten Auswirkungen noch abwenden.Und tatsächlich, auf die deutsche Politik ist Verlass: Es sei nun nötig, Verantwortung im Kampf gegen die Bedrohung zu übernehmen, ruft Bundeskanzlerin Angela Merkel unerschrocken aus. „Unsere Solidarität, unsere Vernunft und unser Herz füreinander sind auf eine Probe gestellt, von der ich mir wünsche, dass wir sie auch bestehen“, lässt sie ihr Volk wissen – „es ist nicht vergeblich, es ist nicht umsonst!“ Man müsse nun unbedingt auf die Empfehlungen der Wissenschaft hören, direkte Handlungsanweisungen werden an alle Bürgerinnen und Bürger ausgegeben, Großveranstaltungen abgesagt, Reisen gecancelt, die Wahl eines neuen CDU-Parteichefs wird auf unbestimmte Zeit verschoben. Die Notstandsmaschinerie läuft an. Die Kleinstadt Neustadt an der Dosse schreitet kühn voran und fährt sich selbst runter, Bundesländer schließen Kindergärten und Schulen, die Fluggesellschaften Lufthansa, Austrian, Swiss, Eurowings und Brussels wollen ihre Kapazitäten um die Hälfte reduzieren, niemand fliegt mehr in die USA.Stillhalten jetzt. „Wir müssen unseren Alltag ändern“, ordnet Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier an. „Nicht allmählich, sondern jetzt.“ Merkel ist bereit, dafür die schwarze Null im Bundeshaushalt zu reißen; Geld spielt jetzt keine Rolle.„I want you to panic“, hatte ein kleines schwedisches Mädchen uns aufgefordert – und ja, wir verfallen in Panik! Wir stellen uns auf den Ausnahmezustand ein, wir kaufen die Supermärkte leer und verfolgen atemlos die Newsticker mit immer neuen Todeszahlen. Die junge Generation hat es endlich geschafft, uns wachzurütteln, wir sind jetzt bereit, alles zu geben, was es braucht, um ihre Zukunft zu retten!Was? Hier geht es gar nicht um den Klimawandel, um die größte Herausforderung unserer Zeit, wie der Generalsekretär der Vereinten Nationen, António Guterres, ihn nennt?Ach so, schade. Aber war denn die Bekämpfung des Klimawandels nicht auch irgendwie dringend? Könnte man sich da nicht genauso ins Zeug legen wie jetzt bei Corona? Energie- und Mobilitätswende im Eilverfahren zur Rettung von Menschenleben?Ach, jetzt geht erst mal Datteln 4, ein neues Steinkohlekraftwerk, ans Netz. Muss alles wirtschaftlich verträglich sein, verstehe. Die schwarze Null, ja klar, da ist sie wichtig.
Svenja Beller
Die Krise zeigt, wie handlungsfähig Politik und Gesellschaft sein können, wenn sie wirklich wollen. Warum klappt das nicht beim Klima?
[ "Angela Merkel", "Globale Erwärmung" ]
Politik
2020-03-22T06:00:00+01:00
https://www.freitag.de/autoren/svenja-beller/wir-werden-panisch-ausser-beim-planeten
Mietendeckel Her damit!
Ein für alle Mal: Es stimmt, weder der Mietendeckel noch eine Enteignung bauen die dringend benötigten Wohnungen, ob in Berlin oder in anderen deutschen Städten. Das ist auch gar nicht der Zweck der beiden Maßnahmen, die in der Hauptstadt zum einen die rot-rot-grüne Regierung plant und zum anderen eine Initiative per Volksbegehren verlangt. Es geht erst einmal nur darum, Menschen davor zu schützen, dass eine Erhöhung der Miete oder allgemein die private Eigentümerschaft ihrer Mietwohnung sie zum Auszug zwingt und somit meist aus der Stadt verdrängt. Das ist schon jede Menge. Es steht zu hoffen, dass insbesondere der Senat in Berlin bemerkt, was für ein wahnsinnig wichtiges, weil scharfes Schwert er sich da in die Hände gelegt hat. Die Bedeutung des Mietdendeckels reicht weit über die Wohnungskrise hinaus.Von 2020 an sollen in Berlin Mieterhöhungen für fünf Jahre ausgeschlossen sein und eine vom Jahr des Erstbezugs und von der Ausstattung abhängige Obergrenze gelten – erste Entwürfe veranschlagen diese zwischen 3,42 und 7,97 Euro pro Quadratmeter. Auch modernisierungsbedingte Mehrkosten will die öffentliche Hand regulieren und deckeln. Das käme einem Epochenbruch gleich: Endlich wagte eine Regierung das, was Regierenden hierzulande im Allgemeinen kaum jemand mehr zutraut: die heilige Kuh des Marktes zu schlachten, statt immer nur folgenlos dessen Einhegung zu versprechen.Das Eigentumsrecht zu beschneiden, um dem Recht auf angemessenen Wohnraum wieder Geltung zu verschaffen. Nichts zu geben auf die Untergangsgesänge all jener, die sich seit Jahren als Eigentümer am Profit aus dem Wahnsinn laben. Weil jetzt erst einmal nur das zählt: denen, für die es um die nackte Existenz geht, eine Atempause zu verschaffen.Das wäre Politik statt Postdemokratie und ein Vorbild für viele andere Kommunen, für viele andere Bereiche. Und dies verlangt von allen Befürwortern natürlich nicht nur große Worte, sondern auch sich argumentativ und juristisch zu wappnen für die anstehenden Kämpfe. Not tun auch Kompensationen für Kleinstvermieter, Genossenschaften und andere alternative Eigentumsformen – was einen starken Staat voraussetzt, der, statt zu sparen, investiert – nicht zuletzt in den Bau neuer bezahlbarer Wohnungen in öffentlichem Eigentum.
Sebastian Puschner
Endlich wagt jemand, die heilige Kuh des Marktes zu schlachten, statt immer nur folgenlos dessen Einhegung zu versprechen
[ "inland", "deutsche wohnen enteignen", "mietkrise", "die linke", "wohnen" ]
Politik
2019-08-29T06:00:00+02:00
https://www.freitag.de/autoren/sebastianpuschner/her-damit
Dresdener Abend Schauburg
Der Frühling lockt. Ich durchschlendere die Dresdner Neustadt. Einst grau und steinern, heute scheinen die Trottoirs zu blühen. Das Elbtal grünt. Ein Kleinkind liegt auf einer Decke im Gras, Sonne scheint. Es hält die Arme ausgestreckt, sieht durch seine Finger, durch das Laub der Bäume zum Himmel. Wind spielt mit den Blättern, Sonnenflecken tanzen über den Boden. Das Kind spreizt die Finger, schließt sie wieder, lacht.An meinem zehnten Geburtstag, zwischen Blinde-Kuh-Spiel und Würstchenwettessen, tauchte plötzlich der Ex-Mann meiner Mutter auf. Ich kannte ihn nicht, aber da er Geschenke brachte, war er willkommen. Meine Mutter geriet verständlicherweise etwas aus dem Konzept. Seitdem waren sie wieder zusammen, er und sie. Er lebte in Dresden. Samstags nach der Schule fuhren wir hin, mit dem Bummel- oder D-Zug, am Sonntagabend zurück; wir verbrachten die Ferien dort, Weihnachten und den Jahreswechsel. Es waren 100 Kilometer, und ich glaube, ich habe in den drei, vier Jahren, die die Beziehung dauerte, mein Lebenspensum an Bahnfahrten erfüllt.Die Wohnung lag in einer stillen, mit Platanen bestandenen Straße der Neustadt. Sie war groß, dennoch gab es keinen Platz. Alles war vollgestellt, Staub lag auf den Möbeln. Eine alte Briefmarkensammlung, ein Grammophon, Bücher, eine Pfauenfeder. Ich war als Entdecker in eine unerforschte Höhle geraten und zerrte immer neue Schätze hervor. Ich kramte und stöberte und niemand hinderte mich. Natürlich wurde es mir bald zu eng, ich wollte nach draußen. Ich wurde ermahnt: nicht so weit! Und rannte los.Einmal, und diese Erinnerung liegt so tief, dass sie einem Traum gleicht, kam ich auf meinen einsamen Streifzügen über den Bahnhof Neustadt zu einem Raum, der versteckt am hinteren Ausgang lag und sonst wohl verschlossen war, ich hatte ihn nie bemerkt. Der Raum war mannshoch geteert, darin lagerten russische Soldaten, der Geruch ihrer Uniformen drang bis nach draußen. Sie warteten, dunkel und dumpf, auf ihren Transport. Nach Hause?Dann gab es das Kino Schauburg. Meine Favoriten waren die Olsenbande und Louis de Funès. Ich sah sie alle. Mehrfach.Bereits auf dem Weg dahin, das Eintrittsgeld fest in der Faust, vorbei an einem Kohle- oder Kokshaufen vor dem Kino, der nie kleiner wurde, hüpfte mein Herz. Dann empfing mich der Saal, der Dreiklang des Gongs. Es wurde dunkler, dunkler ... In den Kindervorstellungen wurde jedesmal heftig geschrieen, wenn das Licht ausging. Angst und Lust mischten sich zu einer Spannung, die uns nur das Kino verhieß. Im Dunkeln, Kinder, wird´s was geben: Abenteuer.Einmal spielten sie Das große Restaurant. Es kommt darin eine Hitler-Parodie vor. Während de Funès auf seine Angestellten einbrüllt, fällt ein Schatten, der ihm einen Scheitel auf die Glatze und ein Bärtchen ins Gesicht spielt. Alle älteren Erwachsenen, die mit mir im Kino saßen, lachten. Ich verstand nicht warum. Ich nehme diese Erinnerung noch heute als Beweis: Wir Schüler kannten kein Hitler-Bild.Ein andermal spielten sie Die Olsenbande stellt die Weichen. Ich liebte diesen Film, sah ihn bestimmt zum dritten Mal. Ich saß auf dem Rang, kaum Leute sonst, in meiner Nähe ein älterer Mann. Irgendwann saß er plötzlich neben mir und streichelte mein Knie, aber gar nicht zärtlich, sondern roh und unsensibel, und fragte mich leise, ob das schön sei. Nein, das war nicht schön. Trotzdem wusste ich nicht, was ich antworten, was ich machen sollte. Nach einem Zögern, das ihn ermutigte, wusste ich nichts anderes als aufzustehen und hinauszugehen. Aber ich wollte den Film sehen! Also ging ich erstmal auf die Toilette, um zu überlegen, was zu machen sei. Als ich dort war, fiel mir ein, dass das vielleicht nicht der beste Ort war, ihm zu entkommen. Ich ging dann einfach zurück auf den Rang, setzte mich in eine andere Reihe, sah den Mann nicht mehr, mein zitterndes Knie beruhigte sich, und ich folgte weiter den Weichenstellereien der Olsenbande. War es nicht toll, dass der Kanzler der BRD, Helmut Schmidt, immer die Zigarre im Mund, neben seinen Regierungsgeschäften noch die Zeit fand, als Chef eines dänischen Gaunertrios raffinierte Pläne auszuhecken?Lichtspiele. Jahre später, das Kind, das wir unterm Baum sahen, sitzt im Kino, und wieder hält es die Hand vor die Augen: um nicht sehen zu müssen, wie das Monster die Jungfrau frisst. Und dann spreizt es heimlich die Finger, um es doch zu sehen.Wieder später, jetzt ein junger Mann, wird er dafür zu cool sein. Neben ihm sitzt eine Jungfrau. Der Junge will sie, fast wie das Monster, mit Haut und Haar. Trotzdem bringt er sie nach dem Kino brav bis zur Haustür, und es gelingt ihm fürs Erste auch nur ein ungeschickter, schneller Kuss.
Karsten Laske
Der Frühling lockt. Ich durchschlendere die Dresdner Neustadt. Einst grau und steinern, heute scheinen die Trottoirs zu blühen. Das Elbtal grünt. Ein ...
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Kultur
2004-05-14T00:00:00+02:00
https://www.freitag.de/autoren/karsten-laske/schauburg
Sachbücher Glauben Gespenster eigentlich an Gespenster?
Im Durchschnitt soll der Mensch bis zu viertausend Gedanken pro Tag haben, die Träume nachts nicht gerechnet. Darunter negative, befremdliche, beschämende Gedanken. Nicht wenige davon seien also geistiger Ballast, meint, in britischem Understatement, der bekannte Wissenschaftsjournalist David Adam. Ausgehend vom eigenen Zwang, sich wahnhaft vor AIDS schützen zu wollen, gestärkt durch eine Therapie, entwickelt er höchst lebendig und mit Ironie und Selbstironie, wie es ist, wenn man in die Welt der Zwänge verstrickt ist – Putz- und Waschzwang, Sammelwut und Messietum, sexuelle Obsessionen.Obsessive Gedanken und Handlungen, circa zwei bis drei Prozent der Bevölkerung leiden darunter in krankhaftem Maße ... Von außen gesehen, mag das recht lustig sein, Graf Zahl in der Sesamstraße, der zwanghaft zählende Vampir, oder Adrian Monk, der Privatdetektiv, der zwanghaft Symmetrie zu erzeugen versucht. Anders sieht es für die Betroffenen und die aus, die mit ihnen zu leben versuchen. Adam verbreitet bei aller Heiterkeit nicht allzu großen Optimismus, was die Aussichten angeht, das loszuwerden. Der „Affe in meinem Rücken“ bleibt als Begleiter auch nach erfolgreicher Therapie. Denn die „unerwünschten Gedanken“ sind ja letztlich auf vertrackte Weise für den, der sie hat, auch erwünscht. Im Teufelskreis von Kontrollsucht und Kontrollverlust.Magisches Denken gehört zur Grauzone des Zwanghaften. Aber wie zwanghaft ist es, wenn wir nicht glauben können, dass Unwahrscheinliches nur Zufall sein kann? Der Mensch als zum Sinn gezwungenes Wesen hält schlecht aus, dass zwei zufällig gleichzeitige Ereignisse nicht miteinander in Verbindung stehen sollen. Insoweit ist das ein psychisches Phänomen, das von Quacksalbern jeglicher Provenienz gern ausgenutzt wird. David J. Hand ist emeritierter Statistik-Professor und arbeitet nun für einen Hedgefonds. Sein ungemein gut lesbares Buch entwickelt an vielen geduldigen Beispielen, dass für Mathematiker der Zufall gar nicht so zufällig ist, dass das Unwahrscheinliche mehr als nur wahrscheinlich ist.Er beginnt mit Borels Gesetz, nach dem hinreichend unwahrscheinliche Ereignisse unmöglich sind, um dann zu Ausnahmen zu kommen, die wiederum mathematisch erklärt werden können. Unwahrscheinlichkeitsprinzip nennt er das und geht auf dessen Elemente ein. Das sind, abgesehen von der psychologischen Komponente: das Gesetz der Unvermeidlichkeit. Es ist unvermeidlich, dass beim Würfeln irgendwann eine Sechs oben liegt. Dann das Gesetz der großen Zahlen. Was geschehen kann, wird auch geschehen, wenn es oft genug unternommen wird: Wer sich ständig im Freien aufhält, hat die Chance, mehrfach vom Blitz getroffen zu werden.Schließlich das Gesetz der Selektion, das zur psychischen Disposition hinführt, nämlich zur Neigung, erwünschte oder anschließbare Informationen zu verwenden und andere auszuschließen. Wir konzentrieren uns auf das Erwartete und blenden das Unerwünschte aus. Hand scheut sich dabei nicht vor exemplarischen Wahrscheinlichkeitsrechnungen und Tabellen, doch es ist unwahrscheinlich, dass ein Nichtmathematiker ihnen nicht folgen kann.Es ist eher unwahrscheinlich, dass Gespenster an Gespenster glauben. Jacques Derrida aber schon, denn er meinte, dass das Phantom des Kommunismus auch weiterhin geistern wird. Das lässt sich naturgemäß auch von anderen Gespenstern behaupten. Und so gibt es nun schon eine schön wissenschaftlich klingende Hauntologie. Die handfesten Gespenster und Dämonen, die durch die Menschheitsgeschichte geistern, kehren ja auch als Medien der Medien immer und immer wieder. Da ist es recht nützlich, eine Inventur zu machen und die so schwer Fassbaren in eine ordentliche Systematik einzusperren. Also die Dämonen der Alten wie die Götter, Kobolde und Geldmännlein, Kornmuhmen und Butzemänner, Wasser- und Feuergeister, Frau Holle und Klabautermann, dämonische Liebhaber und wilde Jäger, Poltergeister und Schatzhauser, nicht zuletzt Zwerge, Feen und Aliens ... Sie werden von Christa Agnes Tuczay fein ordentlich durchsortiert und etikettiert. Nur der Geisterfahrer fehlt, aber das ist vielleicht auch gut so.Und nun noch ein Gespensterschmankerl, ebenso an Geistern reich wie geistreich. Gespenster sind nicht gerade das, woran man die üblichen Kriterien exakt-empirischer Wissenschaft anlegen kann, schon weil sie, so Roger Clarke, meist nur ein einziges Mal gesehen werden. Was aber Clarke nicht anfocht, sich ihnen forschend zu widmen. Seit seiner Kindheit, erzählt er, sei er ihnen auf der Spur. Aber zu seinem Leidwesen habe er bisher lediglich mal in einem fremden Haus unerklärliche Geräusche gehört. Er hat jedoch eine einfache, einfach umwerfende Formel: „Grundsätzlich gilt, dass es Geister gibt, weil Menschen ständig berichten, dass sie Geister sehen.“ Als „Felder emotionaler Energie“ sind sie unabweisbar. Und so erzählt er frohgemut Gespenstergeschichten und Geschichten von Leuten, die Geister sahen, nicht ohne erst einmal in gut wissenschaftlicher Manier eine Taxonomie zu erstellen. Es folgt die Geschichte der Gespensterjagd und der prominentesten Jagdgenossen. Und nun die exemplarische Geschichte von solchen, die vom Friedhof kommen, bis hin zu steinewerfenden Poltergeistern und verhexten U-Booten.England hat weltweit die größte Geisterdichte pro Quadratmeter, ein Umstand, den seit geraumer Zeit die Immobilienindustrie nutzt, indem sie Most Haunted Houses anpreist. Die Gespenstergeschichte ist „Englands großes Geschenk an die Welt“, aber sie ist eigentlich ein Import aus Deutschland. Im frühen 19. Jahrhundert rotteten sich im englischen Plebs nicht selten Geistermobs zusammen, zum Leidwesen der Ordnungshüter. Und dann erst das Tischerücken!Eine große Erleichterung bei der Produktion mehr denn Reproduktion von Geistern war natürlich die Fotografie. Röntgenge-räte nicht zu vergessen. Es gibt allerlei Erklärungsversuche für alles, was nicht so einfach nach- oder von der Hand zu weisen ist, am Ende aber steht die Botschaft Houdinis aus dem Jenseits: „Glaube.“ Im Diesseits, und das zweifelsfrei, ist dies eine wundervolle, hinreißende Lektüre! Und feinst ausgestattet ohnehin.Placeholder infobox-1
Erhard Schütz
Seltsame Zufälle, Wunder und Geisterfahrer. Prof. Dr. Schütz meint: Muss man ernst nehmen
[ "sachbücher", "bücherherbst15", "geister" ]
Kultur
2015-10-16T06:00:00+02:00
https://www.freitag.de/autoren/erhard-schuetz/glauben-gespenster-eigentlich-an-gespenster
Corona-Pandemie vor fünf Jahren: Eine Aufarbeitung ist nötig
Fünf Jahre sind in historischen Dimensionen ein Wimpernschlag. Gemessen am Zivilisationsbruch Auschwitz, dessen Augenzeugen uns gerade verloren gehen, und anderen weltgeschichtlichen Großereignissen ist der Erfahrungsraum der Pandemie objektiv noch ganz gegenwärtig. Subjektiv ist sie jedoch offenbar in so weite Ferne gerückt, dass der Jahrestag ihres Ausbruchs medial ziemlich rabiat in Erinnerung gerufen werden musste.Die Erinnerungsverweigerung geht anders als beim großen Schweigen nach 1945 nicht auf Schuldabwehr zurück – obwohl es darüber auch einiges zu sagen gäbe –, sondern eher auf Angst. Denn auch wenn bis heute noch immer nicht geklärt ist, welchen Ursprungs SARS-CoV-2 war und selbst Forscher wie der Virologe Christian Drosten inzwischen skeptischer in Bezug auf seine natürliche Herkunft sind, dürfte klar geworden sein, dass Zoonosen, also Erreger, die vom Tier auf den Menschen überspringen, eine unkalkulierbare Infektionsquelle sind. Dass die vom Menschen herausgeforderte Natur auf diesen zurückschlägt, ist hier deutlicher spürbar als bei der Klimakrise.Die Erinnerungsverweigerung dürfte aber auch damit zu tun haben, dass die Pandemie Gesellschaften in einen sozialen Dauerstress geworfen hat mit Abwägungen und Entscheidungen, denen die Verlierer schon eingeschrieben waren. Die Alten gegen die Jungen, die Gesunden gegen die Infizierten, die Geimpften gegen die Impfverweigerer, Polarisierungen, die fortwirken und verhindern, dass das, was passiert ist, aufgearbeitet wird. Die Last dieses Versäumnisses tragen heute die ins Abseits gedrängten Long Covid-Patient:innen.Dass SARS-CoV-2 nicht das letzte uns heimsuchende Virus bleiben wird, ist in der Wissenschaft ebenso Konsens wie die Vermutung, dass sich auch Infektionsgeschichten nicht einfach wiederholen, egal ob es sich um den angepassten Vogelgrippevirus, Mpox oder einen der anderen 30 verdächtigen Erreger handelt. Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) sieht uns gut gerüstet, was alleine angesichts des absehbaren Krankenhaussterbens bezweifelt werden darf. Experten fordern viel mehr globale Präventionsanstrengungen. Der von Donald Trump beschlossene Austritt der USA aus der WHO ist dafür kein gutes Omen.
Ulrike Baureithel
Die Corona-Pandemie ist nun fünf Jahre her. Schließungen, Einschränkungen und Ausgangssperren waren alltäglich. Doch eine Aufarbeitung der freiheitseinschränkenden Maßnahmen hat es nie gegeben. Ein Fehler, findet unsere Autorin
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Politik
2025-01-29T14:00:00+01:00
https://www.freitag.de/autoren/ulrike-baureithel/massnahmen-in-der-pandemie-eine-aufarbeitung-ist-noetig
Mitgehört Mach's auf Chinesisch
Szene 1Ort: In einer Rossmann-FilialeAnwesend: Sie, erMitgehörtEin Mann und eine Frau stehen vor dem Regal mit einer großen Auswahl von Seifen.Sie, zögernd: "Meinst du, es ist ok, wenn ich No Name kaufe?Er, gelangweilt: "Für mich ja."Szene 2Ort: Bei einem Optiker in Berlin-MitteAnwesend: Die Verkäuferin, ein chinesischer KundeMitgehörtDie Verkäuferin: "Yes, I know – you could have it cheaper, but these are handmade, you know?"Der chinesische Kunde grinst ungläubig.Die Verkäuferin, geduldig: "Look, this frames are made by hand, this is a special quality."Der Kunde, lachend: "Yes, yes – but you know, if you come to China, you can do this by machines. Much cheaper!"Die Verkäuferin, kühl: "Yes, but this is better quality – it's worth."Der Kunde, skeptisch: "I don't know."Die Verkäuferin: "Our studio is 5 minutes to go from here, I can show you, where they are made."Der Kunde wippt auf seinen Füßen hin und her.Die Verkäuferin: "But of course you are the king as our customer. If you want to order the frame in China or Japan, we do so."Szene 3Ort: In einem CaféAnwesend: Barista, BesucherMitgehörtDer Besucher: "Entschuldigen Sie bitte – haben Sie vielleicht eine Mikrowelle?"Die Barista, kühl-freundlich: "Einen Ofen haben wir."
Gina Bucher
In Café, Bus oder Bahn: Das Leben hat die besten Dialoge zu bieten. Immer montags gibt es im Alltag die Ausbeute der vergangenen Woche. Heute: Kundengespräche
[ "mitgehört", "alltagsdialoge" ]
Kultur
2012-11-12T14:14:48.607737+01:00
https://www.freitag.de//autoren/gina-bucher/machs-auf-chinesisch
Vision All das Erkämpfte
Was viele nicht wissen: „Das gute Leben“ ist in Wahrheit eine Maßeinheit, mit der Linke den Abstand zum noch nicht Erreichten angeben. Nur wenige dürfen die geheimen Instrumente benutzen, mit denen man die jeweiligen Werte ermitteln kann. Es kommen dabei immer ziemlich große Zahlen heraus.Denn Linke sind nie zufrieden. „Das gute Leben“ bleibt stets Vision. Auch wird alles schlimmer. Klimakrise, Weltunordnung, Kaputtalismus – „uns aus dem Elend zu erlösen“, hatte Eugène Pottier 1871 die Marschrichtung ausgegeben. Das ist jetzt fast 150 Jahre her. Und die Linken müssen immer noch laufen, laufen, laufen. Man bekommt davon Plattfüße und schlechte Laune. Oft merkt man das den Linken an.Gegen die Bestimmung, jene Bewegung sein zu dürfen, die „alle Verhältnisse umzuwerfen“ beauftragt ist, „in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist“, soll hier keineswegs polemisiert werden. Irgendwer muss es ja machen und richtig ist es zudem. Dennoch könnte es eine Überlegung wert sein, über zwei mit der Maßeinheit „gutes Leben“ verbundene Fragen nachzudenken: den Immerschlimmerismus und das Problem der gelösten Probleme.Letzteres ist auch als „Gesetz der zunehmenden Penetranz der negativen Reste“ bekannt. Der Philosoph Odo Marquard hat es formuliert, in der Psychologie ist es gut erforscht. Gerade gab es wieder eine Studie dazu: Wenn Probleme gelöst werden, bringt uns eine Eigenart der Wahrnehmung dazu, weniger den erreichten Stand der Lösung zu sehen, sondern noch mehr Umstände als problematisch zu erachten. Psychotherapeuten sprechen von Bahnung: Selbst wenn das Problem schon ganz oder teilweise geknackt wurde, die Wahrnehmung vom Problem bleibt dominant.Nein, nein, nein, das ist kein Plädoyer für das Schönreden von Zuständen, die man für kritikwürdig halten sollte, solange der Abstand zum noch nicht Erreichten größer als null ist. Aber es kann nicht schaden, sich der Limitierungen bewusst zu sein, die das Wahrnehmen von Verbesserungen erschweren.Klar, nicht in jedem Fall liegt das Problem mit dem Erreichten darin, dass „nur keine Sau darüber spricht“ (Andrea Nahles). Es gibt auch Fälle von Politik, bei denen es schwerfällt zu erkennen, wie sie den Abstand zum noch nicht Erreichten überhaupt verkleinern könnte. Aber zurück zu den Linken. Wenn die darauf hinweisen, dass dieses und jenes schlimmer geworden ist, die Armutsgefährdung etwa, haben sie einerseits nicht unrecht, machen andererseits aber einen Fehler, sofern sie sich beim Reden darauf beschränken. Warum?Wer per Kritik die Verhältnisse ändern möchte, sollte sich klarmachen, dass eine Voraussetzung erfolgreichen Handelns die ist, dass die Leute die Verhältnisse überhaupt als veränderbare begreifen. Wer aber nur die Erfahrung nährt, dass alles immer schlechter werde, befeuert Angst – und die wird in der Regel eher von rechts bewirtschaftet.Nun wäre es freilich auch keine gute Idee, sich darauf zu verlegen, nur die historischen Erfolge anzusprechen. Aber es mag nicht schaden, sich und anderen hin und wieder vor Augen zu führen, dass es den meisten heute dann doch ein bisschen besser geht als zu Pottiers Zeiten. Es ist vielleicht noch nicht „das gute Leben“, das es für Linke immer nur als Ziel, als Zukunft gibt. Aber mal ehrlich: Wer hat denn das schon Erreichte erkämpft? Genau. Redet mehr darüber.Placeholder authorbio-1
Tom Strohschneider
Viele Linke messen die Realität stets an ihrer Utopie. Das kann ja nur schiefgehen
[ "inland" ]
Politik
2018-12-20T06:00:00+01:00
https://www.freitag.de/autoren/tomstrohschneider/all-das-erkaempfte
Roman In your face, Autoritäten!
Schwer zu sagen, was Jo das Leben schwerer macht: die ungewollte Schwangerschaft, ihre Existenz in einer Bruchbude im Schlachtviertel Salfords, wo es nach blutigen Tierresten stinkt, oder ihre aggressive, pöbelnde Mutter Helen, die immer dann auftaucht, wenn Jos Verhältnisse sich ein wenig ordnen. Ja, Helen ist wohl das Grundproblem: Selbst jung Mutter geworden, klammert sie sich mit einer Mischung aus Abscheu und emotionaler Abhängigkeit an ihre Tochter.Helen und Jo sind zwei typische Antiheldinnen aus dem literarischen Kosmos Shelagh Delaneys. A Taste of Honey, das Theaterstück, in dem Jo ihrem verhängnisvollen Schicksal nicht entkommen kann, ist Titelgeber für den Band, der Delaneys Erzählungen und Stücke in der deutschen Übersetzung durch Tobias Schwartz nun hoffentlich hierzulande einem größeren Publikum zugänglich macht. Denn Delaney, deren Texte im englischsprachigen Raum gerade auch für Pop-Poeten wie den Mancunian Morrissey enorm einflussreich waren, ist im deutschsprachigen Raum noch immer ein Geheimtipp. Grund genug für Aviva-Verlagschefin Britta Jürgs – eine Schatzgräberin auf dem Feld der unterschätzten, gar vergessenen Autorinnen –, ihr nun einen Band zu widmen.Wie Jo wird Delaney in Salford, einem Vorort Manchesters, geboren. Wie ihre Heldin gehört sie der englischen Arbeiterklasse an, bricht die Schule jung ab. Delaney beginnt die Arbeit an A Taste of Honey mit gerade einmal 17 Jahren; sie ist 19, als die Uraufführung ihres Stückes stattfindet. Die Kritik ist harsch: Das konfuse Stück sei einer 19-Jährigen vielleicht zu verzeihen – aber warum lasse man Schund wie diesen überhaupt am Theater zu? Delaneys Stück ist unkonventionell, arbeitet es doch nicht nur mit Textmontagen, die sich unter anderem aus (Folk-)Songs speisen – „Black boy, black boy, don’t lie to me / Where did you stay last night?“ Es bricht auch mit Bühnenkonventionen, indem es kurzerhand die vierte Wand durchbricht. Und die Themen! Soziale Kälte, junge Mutterschaft, Rassismus und Homosexuellenfeindlichkeit – bei Delaney kommt alles auf den Tisch, harter Tobak für die englische Mittelschicht der 1950er. Bisschen wie bei Hauptmann oder Ibsen, doch fehlt Delaney der sozialreformerische Impetus. Ihre Heldinnen und Helden streben nicht nach sozialem Aufstieg, das Mitleid der anderen können sie ohnehin nicht gebrauchen. Auch nicht das des Zuschauers, der sich an seinem Mitgefühl für das inszenierte Elend theoretisch delektieren könnte.Delaneys Charaktere – immer wieder Arbeiterklassemädchen, die in Gesundheits- und Besserungsanstalten nicht etwa zu besseren Bürgerinnen erzogen, sondern durch wechselnde Autoritäten bloßgestellt und erniedrigt werden – verfügen über diese wunderbare, typisch nordenglische Mischung aus „stiff upper lip“ und einer gehörigen Portion trockenem Humor. Sie missachten die Autoritäten, besonders die kirchlichen, nicht wütend, sondern zynisch.Wäre Delaney ein Mann, so würde sie ganz selbstverständlich den „angry young men“ zugerechnet. Jenen zornigen jungen Männern der Arbeiterklasse, die in den 50er Jahren die Welt der Literatur und Kultur schlagartig umkrempelten, Männern wie Harold Pinter oder Alan Sillitoe also. Sein Vorwort betitelt Übersetzer Tobias Schwartz dann auch nicht unpassend mit „Shakespeares Schwester“. In der feministischen Literatur, bei Virginia Woolf ebenso wie bei Germaine Greer, sind Shakespeares imaginierte Schwester oder Ehefrau Chiffre für den Status des literarischen Genies, der einer Autorin niemals zugestanden würde. Wenn sie denn überhaupt Zeit und Raum findet, an ihren Texten zu arbeiten. Das tat Delaney. Nun muss ihre stilbildende Experimentierfreudigkeit nur noch ihrer Bedeutung entsprechend gewürdigt werden.Placeholder infobox-1
Marlen Hobrack
Shelagh Delaney war nicht nur für Morrissey wichtig. Jetzt kommt sie auf Deutsch
[ "William Shakespeare", "Shelagh Delaney", "literatur" ]
Kultur
2019-10-10T06:00:00+02:00
https://www.freitag.de/autoren/marlen-hobrack/in-your-face-autoritaeten
Uganda An der Seite des Monsters
Es war im August 1994, als die Rebellen unseren Hof überfielen.“ Evelyn Amony starrt vor sich in die sanft geschwungene Ebene trockenen Buschlands, das bis zum Horizont reicht. Ihre schwarzen Augen suchen keinen Kontakt. Die Arme hält sie verschränkt vor ihrem kräftigen Leib. Sie atmet tief, versucht sich zusammenzureißen, damit die Erinnerung nicht zu schwer wird. Doch dann kann sie die Tränen nicht mehr zurückhalten.Amony steht inmitten des Buschlands von Kalalo, ein paar hundert Meter entfernt von der Hauptstraße nach Atiak im äußersten Norden Ugandas. Die Grenze zum Südsudan ist keine 40 Kilometer entfernt. Bis 2006 wütete in dieser Region einer der brutalsten Rebellenkriege in der Geschichte Afrikas. Fast zwei Jahrzehnte lang kämpften die Schwadronen der christlich-fundamentalistischen Lord’s Resistance Army (LRA) gegen die ugandischen Streitkräfte und wollten eine unabhängige Provinz. Es wurden Dörfer geplündert und niedergebrannt. LRA-Kombattanten rissen Kinder nachts aus dem Schlaf, um sie für ihre Armee zu rekrutieren und in einer Weise zu drillen, dass sie dazu bereit waren, notfalls Eltern und Geschwister zu töten. Aus den Mädchen machten sie Handlanger, die später den Rebellen vor allem als „Ehefrauen“ dienten. Evelyn Amony war elf Jahre alt, als sie entführt wurde.Die kleine Rundhüttensiedlung, in der sie einst aufwuchs, wurde während der 1990er Jahre im Bürgerkrieg zerstört. Nur zwei Mangobäume auf der Anhöhe erinnern heute noch an Evelyns Zuhause. „Ich kam von der Schule“, beginnt sie leise zu erzählen und deutet in Richtung Hauptstraße. „Sie warteten auf dem Hof.“ Ihre rechte Daumenkuppe malträtiert die Innenfläche ihrer linken Hand. „Sie waren geschickt worden, um uns Kinder für den Buschkrieg zu rauben. Meine Mutter war zum Wasserholen, also bin ich nebenan ins Haus meiner Großmutter gerannt. Die Rebellen stürmten von Hütte zu Hütte, traten Großmutters Tür ein. Sie rissen mich von ihr weg und brüllten, sie würden mich töten, wenn sie mich nicht gehen ließe. Sie stießen mich in den Innenhof zu einer Freundin und einem Cousin, die sie bereits als neue Rekruten ausgesucht hatten. Dann warfen sie uns Berge von Diebesgut zu, das sie in der Siedlung zusammengeraubt hatten, und stießen uns Kinder damit vorwärts in den Busch.“Heute ist Evelyn Amony 34 Jahre alt und eine stille Frau. Sie spricht bedächtig, leise, lächelt dabei viel. Was ihr widerfuhr, war das Schlimmste, was einem Kind zustoßen konnte. Sie teilt das Schicksal mit Zehntausenden Kindern in Norduganda, die einst ihren Familien entrissen wurden, um der LRA und ihrem selbst ernannten Propheten und Anführer Joseph Kony zu dienen. Amony verbrachte elf Jahre in ihren Reihen. Wie die anderen Buschkinder schleppte sie barfuß und mit blutenden Füßen tagelang Lasten durch den Busch bis in den Südsudan, wo sich Kony mit seinem Anhang eine Zeitlang vor der ugandischen Armee versteckte. „Wenn du nach tagelangem Marschieren gestolpert bist, haben sie dir in den Kopf geschossen. Wenn du nach Hause wolltest, haben sie dir in den Kopf geschossen – auch wenn sie spürten, dass du Angst hattest.“ Sie höre manchmal noch die Schreie der Kinder, die zu Tode geprügelt wurden, nachdem sie vor Erschöpfung zusammenbrachen. Sie habe damals eine Entscheidung getroffen. „Gehorche, sonst wirst du getötet.“ Sie hat sich ihrem Schicksal gefügt und dabei oft den schnellen Tod gewünscht.Da war er. Ein fröhlicher TypEvelyn Amony sollte dem Buschkrieg näher kommen als jede der anderen Frauen. Sie begegnete dem „Schlächter von Uganda“, wie Joseph Kony genannt wurde, zum ersten Mal mit 13 in einem der Buschcamps der LRA. „Er wirkte nicht, wie ich ihn mir nach den Erzählungen der anderen vorgestellt hatte. Kein kleiner, dicklicher Mann mit brutaler Visage, kein Monster, das ohne Gewissen tötet. Kony war groß, ein fröhlicher Typ, der andauernd scherzte und schallend darüber lachte.“ Der Warlord fand Gefallen an dem stillen Mädchen. Mit 13 machte er Amony zur liebsten seiner 27 Geliebten.Seine Brutalität sollte sie schnell kennenlernen. Anfangs habe er sie nur bedrängt. Um ihm zu entkommen, versteckte sie sich nachts. „Dann ist er irgendwann zu mir gekommen und hat die Tür hinter sich geschlossen“, sagt sie. Evelyn wurde beim ersten Mal schwanger. Mit 14 gebar sie die erste Tochter des Tyrannen. Zwei weitere Mädchen sollten folgen. Kony gab ihrer Erstgeborenen den Namen Bakita – „Schicksal“.Im Hof eines kleinen Anwesens nahe Gulu, etwa 50 Kilometer südlich von Atiak, tobt eine Handvoll Kinder durch den Garten. Evelyn wohnt dort heute mit ihrem neuen Ehemann Issa Mubarak und den Kindern. Kim ist die Jüngste und ihre gemeinsame Tochter, Rebecca ein Nachkriegskind, das von einem anderen Mann stammt. Bakita (20) und Grace (12) sind Kony-Töchter. Die dritte Kony-Tochter Winnie ist bei einem der Luftangriffe der Armee im Busch verloren gegangen. Noch heute breche es ihr das Herz, wenn sie daran denke, gesteht Amony. Sie hat ihre Erinnerungen an die Zeit als Konys Ehefrau niederschreiben lassen. Das Buch I Am Evelyn Amony wurde 2015 international veröffentlicht. Darin wird die tägliche Angst ums nackte Überleben beschrieben und ein Bild Konys gezeichnet, der sich derzeit vermutlich mit dem Rest seiner versprengten Truppen irgendwo im zentralafrikanischen Dschungel oder im Südsudan versteckt hält. Kony gilt inzwischen als der meistgesuchte Warlord weltweit und wurde vom Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag des Massenmords angeklagt.Wie empfindet sie es heute, die Kinder dieses Mannes aufzuziehen? „Meine Kinder können nichts dafür“, sagt sie entschieden, während sie sich aus dem Bastkörbchen zu ihren Füßen Perlen greift, die zu einer Kette aufgefädelt werden. Besonders mit Bakita verbinde sie eine nahezu komplizenhafte Beziehung. „Meine Älteste kennt ihren Vater. Sie hat den Krieg bewusst erlebt und geholfen, ihre jüngere Schwester Grace durchzubringen.“ Ihr jetziger Mann Issa bringe Verständnis für sie auf, weil auch er einst von der LRA entführt und gezwungen wurde, als Kindersoldat für die Rebellen zu kämpfen. „Issa hat die Kinder angenommen“, sagt Amony. Sie habe damit großes Glück, denn die meisten Frauen, die mit Kindern der Rebellen aus dem Busch heimkehrten, blieben später allein, weil die vom Krieg traumatisierten Männer keine Rebellenkinder großziehen wollten, wie das ihre Freundin Vicky erfahren musste.Victoria Nyanjura war eines von 139 Mädchen, die Konys Schergen im Oktober 1996 bei einem Überfall auf die St.-Mary’s-Mädchenschule in Aboke kidnappten. Der Fall ging als „Aboke-Entführung“ in die Geschichte ein. Einige der Mädchen kamen noch am selben Tag frei, die meisten anderen nahmen die Rebellen mit. Vicky wurde einem LRA-Kommandanten zur Ehefrau gegeben. Sie ist eine von 25 dieser „Aboke-Girls“, die den Busch überlebten, und kehrte mit zwei Kindern nach Gulu zurück.„Ich habe nie töten müssen“Vicky und Evelyn setzen sich heute für betroffene Frauen ein. Vicky als Sozialarbeiterin, Evelyn leitet ein Netzwerk zur Wiedereingliederung für Frauen aus dem Busch. „Ich hatte Privilegien, die mitgefangenen Frauen verwehrt blieben“, begründet sie ihr Engagement. „Wir fertigen Schmuck und verkaufen ihn mit anderen Handarbeiten bis in die Hauptstadt Kampala. Jede der Frauen soll lernen, eigenes Geld zu verdienen, um sich und ihre Kinder zu versorgen.“ Aber das sei nur ein wirtschaftlicher Nebeneffekt. Beschäftigung verschaffe diesen Frauen Anerkennung und Würde, Gefühle, die ihnen im Busch genommen wurden.Alle Frauen im Netzwerk sind mit Kindern aus dem Busch zurückgekehrt, von der eigenen Familie abgelehnt und von den Dorfbewohnern oft als „Rebellenhuren“ oder „Mörderinnen“ beschimpft. Doch wenn Unterstützung fehlt, fangen die Probleme erst richtig an. „Viele Frauen sind gebrochen und verroht zurückgekehrt. Sie projizieren die Wut über den Kindsvater nun auf ihre Kinder. Viele quälen Schuldgefühle“, sagt Amony. Nichts sei schlimmer, als sie damit allein zu lassen.Noch heute stehen die Menschen in den ehemaligen Kriegsgebieten reihenweise unter Schock. Jede Familie im Distrikt Gulu ist vom Krieg gezeichnet. Fast alle haben Mütter, Väter, Brüder oder Schwestern durch die Rebellen verloren, viele mussten jahrzehntelang in den Flüchtlingscamps der Regierung hausen.Zwar haben Hilfsorganisationen die Opfer nach Kriegsende psychisch betreut, doch ist die Akut-Hilfe lange vorbei. Die ugandische Regierung unter Präsident Museveni müsste längst Verantwortung übernehmen in Sachen Aufarbeitung, zeigt aber wenig Interesse am Norden. Wann ist man Opfer, wann wird man zum Täter? Bis heute muss sich Evelyn Amony noch oft damit auseinandersetzen. Nicht zuletzt in ihrer eigenen Familie.„Die Verwandten setzen meinen Mann Issa unter Druck. Ich sei immer noch Konys Ehefrau.“ So zumindest sehe es der Warlord selbst. Was wenn er eines Tages zurückkehrt? Was, wenn er von ihrem Buch erfährt? Eine Sorge, die Evelyn durchaus teilt.Derzeit verhandelt der Haager Strafgerichtshof einen derartigen Fall, den des Dominic Ongwen. Der ehemalige LRA-Kommandant und Vertraute Konys muss sich als Erster aus der Führungsriege der LRA vor diesem Tribunal verantworten. Ongwen ist in 70 Fällen wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit angeklagt – wegen Folter, Verstümmelung, Vergewaltigung und Zwangsprostitution. Ongwen, 43 Jahre alt, verteidigt sich damit, dass er als Kind ebenfalls von der LRA entführt und zum Kindersoldaten gedrillt wurde. Allerdings hat er als Erwachsener ohne jeden Skrupel Menschen gequält und ermordet.Fühlt sich Evelyn Amony als einstige Geliebte Konys schuldig? „Nein“, sagt sie entschieden. „Ich habe nie einen Menschen töten müssen. Ich fühle mich meiner Jugend beraubt und der Chancen, die ich heute hätte, wäre ich nicht entführt worden.“ Was ständig beschäftigt, das ist die Gewissheit, dass sie ihr Leben lang mit Kony verbunden bleibt. Ihr Buch I Am Evelyn Amony sei für die Töchter geschrieben worden. „Sie sollen wissen, was ich als Kind erlebt habe, wer ihr Vater ist und was er getan hat.“ Bakita hat das Buch angefangen und immer wieder weggelegt. Eine Zeitlang ging sie in Gulu zur Schule. Jetzt ist sie auf einem Internat in der Hauptstadt Kampala. „Es ist besser, wenn sie anonym bleibt“, sagt ihre Mutter. Ihre Schwester Grace wisse bis heute nicht, dass Kony ihr Vater sei. „Ich werde es ihr erzählen. Auch Grace soll das Buch lesen. Irgendwann ...“Placeholder authorbio-1
Kirsten Milhahn
Im Alter von elf Jahren wird Evelyn Amony von Rebellen entführt. Als sie 13 ist, macht Warlord Joseph Kony sie zu seiner Geliebten
[ "entführt", "kriege", "joseph kony", "warlord", "evelyn amony", "ausland", "rebellen" ]
Politik
2018-05-08T06:00:00+02:00
https://www.freitag.de/autoren/kirsten-milhahn/an-der-seite-des-monsters
Literatur Die Lüge als Chance
Sein Debütroman, Das Ende von Eddy, war ein internationaler Bestseller. Erst 20 Jahre alt war der Soziologiestudent, als er zum Shootingstar der französischen Literaturszene avancierte. Hier erzählte uns Édouard Louis von einer bedrückenden Kindheit und Jugend auf dem nordfranzösischen Land, von Frustrationen, alltäglichem Rassismus und Sexismus der Dorfbewohner und von der Gewalt, der ein junger Homosexueller in dieser Umgebung ausgesetzt ist. Eddys Geschichte, sie liest sich wie die literarische Ausarbeitung zur autobiografischen Analyse Rückkehr nach Reims von Didier Eribon, deren Attraktivität für viele genau darin liegt, dass hier jemand in ein Milieu zurückkehrt, dem er als Jugendlicher unbedingt entkommen wollte.Édouard, Ich-Erzähler aus Im Herzen der Gewalt, hat das geschafft – zumindest oberflächlich. Er studiert in Paris, hat Freunde, wird akzeptiert. Doch dann kommt die Nacht nach dem Weihnachtsessen, in der er auf der Straße von einem jungen Mann angesprochen wird. Édouard nimmt ihn spontan mit nach Hause. Von dieser Nacht, die mit einem Flirt beginnt und in Gewalt endet, zu erzählen, das ist Krux und Thema des Buches. Wie erzählen, was eigentlich unerzählbar bleibt? Das beginnt mit dem Morgen danach, mit Ekel und Waschzwang, doch auch nach Beschreibung aller Reinigungsmittel fehlen die Worte. Und so werden sie ab jetzt in den Mund der Schwester gelegt, die die Geschichte jener Nacht ihrem Ehemann berichtet, einem Lastwagenfahrer, der im ganzen Buch gerade einen Satz spricht. Clara, Édouards Schwester, ist in der nordfranzösischen Picardie geblieben, in jenem Provinznest, aus dem „Eddy“ entflohen war. Jetzt kehrt er zurück und besucht sie. Clara spricht, wie ihr der Schnabel gewachsen ist – eine ganz andere Sprache, als Édouard sie in Paris kennengelernt hat. Ihr Redefluss, durchmischt mit Anekdoten, teilt freilich nicht mit, was geschehen ist – wie könnte sie das auch wissen? –, sondern eigene Meinungen dazu und zum Verhalten des Bruders. Der steht hinter der Tür und lauscht. In Gedanken beginnt er, sich in ihre Erzählung einzumischen. Denn es geht um seine Geschichte, darum was in jener Nacht passiert ist, wie und ob man es jemals so erzählen kann, wie es war. Was sagt man Polizeibeamten, Ärzten, besten Freunden? Wie erzählt man von der eigenen Angst, wenn man sich im Augenblick jener Angst fern der Sprache befand und der Ausspruch „Ich hatte Angst“ dagegen „immer machtlos bleiben“ wird?Je mehr die Sprache zurückkehrt, desto mehr geht es auch um die Möglichkeit der Lüge, darum, so sagt Hannah Arendt im Buch, „die Welt zu verändern und in ihr etwas Neues anzufangen“. Die Lüge als Chance zur Heilung, vielleicht die einzige. Indem Édouard das erkennt, findet er zurück zur Sprache, lässt die Schwester verstummen, bringt die Erzählung zu Ende: Die Vergewaltigung, Gänge ins Krankenhaus und zu diversen Polizeirevieren, das alles erzählt die Stimme Édouards auf den letzten Seiten, distanziert, einen Punkt hinter das Geschehene setzend. Das Buch endet mit einem langen Zitat von Imre Kertész, wo es heißt: „Es zeigt sich, dass ich nicht schreibe, um Freude zu finden, sondern dass ich, im Gegenteil, mit meinem Schreiben den Schmerz suche, den größtmöglichen, beinahe schon unerträglichen Schmerz, ja, das ist wahrscheinlich der Grund, denn der Schmerz ist die Wahrheit, auf die Frage jedoch, was Wahrheit ist, schrieb ich, gibt es eine einfache Antwort: Wahrheit ist das, was mich verzehrt.“Placeholder infobox-1
Christina Borkenhagen
In seiner Ich-Erzählung sucht das französische Wunderkind Édouard Louis eine Heilung vom Sprachverlust
[ "literatur" ]
Kultur
2017-08-30T06:00:00+02:00
https://www.freitag.de/autoren/christina-borkenhagen/die-luege-als-chance
Vernetzung Unser Planet
Die soziale Kommunikation ist visuell geworden. In Netzwerken wie Facebook oder Twitter wird nicht allein durch Texte interagiert, sondern auch über Bilder. Eine Milliarde Dollar war Facebook vor zwei Jahren die Fotoplattform Instagram wert, die seinerzeit zwölf Mitarbeiter und kein Geschäftsmodell hatte.Und es dauerte nicht lange, bis die Bilder in Bewegung gerieten. Bei Twitter gibt es Vine, einen Service für sechssekündige Clips in Dauerschleife; Facebook hat via Instagram auf zehn Sekunden erhöht, als es der eigenen Bilderplattform eine Videofunktion schenkte.Die Faszination der kurzen Filme besteht darin, dass sie einen – wenn auch zumeist gestellten – Einblick in die Leben von etlichen Millionen Menschen geben. In Stand- oder Bewegtbild trifft Extrovertiertheit auf Voyeurismus. Dieses Wechselspiel bleibt allerdings auf die Freundeskreise der einzelnen Nutzer beschränkt.Was möglich ist, wenn man die Potenziale der weltweiten Einzelbilderproduktion erkennt, zeigen Portale wie VineRoulette, Gramfeed und, vor allem, Vinepeek – eine unscheinbar anmutende Webseite (vpeeker.com), auf der öffentlich einsehbare Vine-Clips ununterbrochen aneinandergereiht werden. Alle sechs Sekunden ein neues Video, ein anderer Einblick. Vinepeek folgt der Chronologie des Uploads; zu sehen ist, was kürzlich auf die Plattform geladen wurde.So erhält man eine Art Livestream aus dem Privatleben fremder Menschen, der keine Zeitzonen und Länder kennt. Man springt von einem verträumten Jazzgitarristen in Tokio über den Alltag britischer Schüler mit Zahnspangen hin zu kiffenden Möchtegernrappern in Orlando, um mit Fernfahrern in der Türkei die Landschaft zu genießen. Und obwohl man dabei viel Ausschuss – und ab und zu den Anblick enormer Geschlechtsorgane – in Kauf nehmen muss, fällt es schwer, wieder wegzuschauen. Vinepeek fesselt.Man könnte es sich einfach machen und zur Erklärung Voyeurismus rufen, aber den Reiz von Vinepeek macht mehr aus. Auf der einen Seite sind Einrichtungen wie diese codegewordene Zuspitzungen der Serendipität, also Glücksfundmaschinen. Wir treffen auf etwas, was wir nicht gesucht haben – und es gibt nicht viel, was einen solchen Sog ausüben kann. Jeder, der sich einmal in Google verloren hat und Stunden später mit einem Mehr an Verständnis wieder aufgetaucht ist, kann das nachempfinden.Auf der anderen Seite – und das ist vermutlich der größere Thrill – verbewegbildlicht VinePeek den Grad der Vernetzung, den die Menschheit mittlerweile erreicht hat. Der Bilderlauf beschert das betörende Gefühl, am Leben völlig fremder Menschen, die Tausende Kilometer von uns entfernt sind, teilhaben zu können. Scheinbar bekannte Dinge wie Zeitzonen oder kulturelle Unterschiede werden greif- und verstehbar. Vinepeek macht anschaulich, was es heißt, Teil dieses Planeten zu sein.Vinepeek richtet also unsere Schaulust auf die Vorstellbarkeit der Weltgröße. Der Quell eines endlosen Bilderflusses funktioniert als 24-Zeitzonen-24/7-Big Brother für jedermann, ist Symptom und Anschauungsbeispiel einer sich vernetzenden Welt zugleich. Ihr dabei zuzuschauen ist ein fundamentales Vergnügen.
Jan Jasper Kosok
Wie die unscheinbare Seite Vpeeker.com einen endlosen globalen Dokumentarfilm produziert
[ "X (Soziales Netzwerk)" ]
Kultur
2014-08-06T06:00:00+02:00
https://www.freitag.de/autoren/jan-jasper-kosok/unser-planet
Eventkritik Wo bleibt meine Bestellung?
Wer zu langsam ist, fliegt raus. So wie der Hotelpage, dessen Koffer am Ende zerbeult ist, weil er auf halber Strecke umgeknickt und mit dem Koffer auf der Schulter gestürzt ist.„Berlin sucht den schnellsten Kellner“, so steht es auf der Einladung zu dem Kellnerderby 2013, das am Neuen Kranzler Eck, einer Shopping-Mall, ausgetragen wird. Ein Ort, der wenig ans Flair eines Kaffeehauses, an Kaffee und Kuchen erinnert. Dafür ist heute am Kurfürstendamm in Berlin verkaufsoffener Sonntag. Und um den Konsumenten bei Laune zu halten, gibt es an diesem Tag auch ein Spektakel.Etwa 100 Hotelpagen, „Servierfräulein“ und Barkeeper sind von ihren Hotels oder Restaurants geschickt worden, um sich den verschiedenen Disziplinen zu stellen und nebenbei Werbung in eigener Sache zu machen: Sie sollen ein Tablett mit Bier- oder Latte-Macchiato-Gläsern, einen Zehn-Kilo-Koffer oder vollen Bierkasten auf einer 400-Meter-Strecke von A nach B transportieren. Statt Charme oder Ästhetik geht es ums Tempo. Für den ersten Platz gibt es 500 Euro. War Kaffeehauskultur nicht mal langsam?Wie MarathonläuferEs ist ziemlich heiß an diesem Sonntag.Trotzdem sind mehrere hundert Zuschauer gekommen, die meisten Leute ab 40, manche mit ihren Kindern oder Rentner.Heinz Horrmann sitzt beim Kellnerderby in der Jury. Er ist „Deutschlands bekanntester Hoteltester“, bekannt aus TV-Formaten wie Die Kocharena (Vox) und Der Hotelinspektor (RTL). Beim Kellnern komme es auf die Fitness an, sagt er – selbst mehr der gemütliche Typ. „Kellner sind richtige Marathonläufer.“ Bestimmte Kriterien bei der Bewertung der Leistung der Kellner habe er jedoch nicht. „Es muss Spaß machen“, sagt Horrmann nur. Sonst wäre er selbst nicht da, wo er jetzt ist. Er habe schon „mit den größten Köchen der Welt gekocht“, erzählt Horrmann stolz. Dann muss er los – die Geschwindigkeit, die hier vorgegeben wird, ist auch seine.Dancefloor dröhnt aus den Boxen, die an der Laufstrecke aufgebaut sind. Vom „nostalgischen Kaffeehausflair“, mit dem das Café Kranzler auf der Homepage wirbt, spürt man hier rein gar nichts.Warum eigentlich dieser Wettbewerb? Geht es im Gastgewerbe heute schneller zu als früher? Man müsse das „differenziert“ sehen, sagt Horrmann, als wir uns weiter unterhalten, es hänge von der Tageszeit ab. Beim Business-Lunch sei man naturgemäß schneller fertig als bei einem Abendessen, bei dem der Gast den Tag in Ruhe ausklingen lassen wolle. Nur eines gelte für Tag und Nacht: Je tüchtiger der Kellner, desto entspannter der Kunde.Ratnachai Tomusch sieht das anders. In seiner Branche habe sich „auf jeden Fall“ etwas verändert. „Früher war es Powerwalking, heute Sprint“, sagt er. Der 23-Jährige muss gleich beim Kellnerderby mitlaufen. Normalerweise arbeitet er bei einem „Projektbüro für gehobene Gastronomie“. Man kann ihn mieten, als flexible Aushilfe auf Messen, in Hotels oder Restaurants.„Immer lächeln“, sagt er, das sei das Wichtigste. Er stammt aus Thailand, da sei es einem sowieso angeboren. Hat Tomusch ein Rezept für stilvolles Kellnern? „Rücken gerade halten und lächeln“, wiederholt er. Wenn ihm alles zu stressig werden sollte, „suche ich mir einen anderen Job.“ Für ihn ist Kellnern kein Sport.Zeit ist rar gewordenAndererseits werden wir im Restaurant ungeduldig, wenn mal fünf Minuten kein Kellner gekommen ist oder am Empfang des Hotels zu lange telefoniert wird. Zeit ist rar geworden. Dabei haben die Menschen Sehnsucht nach Entschleunigung, und die suchen sie auch in Restaurants. Man kann sich dort stundenlang aufhalten, wenn man möchte. So wie auch im Café. Der Schriftsteller Thomas Bernhard las dort stundenlang Zeitung und sah das als Teil seiner Arbeit.Am Kurfürstendamm rennen jetzt zehn junge „Servierfräulein“ in schwarz-weißen Kostümen mit Startnummern los, einer schwappt der Kaffee über, sie dreht um.Kellnerin Nummer 107 gewinnt.Sie ist 21 Jahre alt und heißt Anh Susann Pham Thi. Später findet die Siegerehrung auf der Bühne statt. Der Moderator fragt eine der Gewinnerinnen: „Kannst du schon wieder sprechen?“ – „Geht so“, sagt sie, „du musst auch keine komplizierten Fragen beantworten.“Ursprünglich stammt das Kellnerderby aus der Nachkriegszeit. Das Hotel- und Gaststättengewerbe lag damals nach 1945 am Boden, die Menschen wollten ihrem Alltag entfliehen. Die Alliierten richteten eine Polizeistunde ein. Weil die Sperrstunde im Ostsektor eine Stunde später begann als im Westen, ging, wer feiern wollte, in den Ostteil. Später wurde die Sperrstunde komplett abgeschafft. Ein sehr umtriebiger Gastronom, Emil Remde, rief schließlich mithilfe einer Concierge-Vereinigung den Kellnerlauf ins Leben.Das Prinzip SelektionEin bisschen gelangweilt steht ein älteres Ehepaar am Absperr-Eisengitter, ungefähr hundert Meter abseits der Bühne. Es ist eine lange Strecke, die beiden Rentner haben sich Klappstühle besorgt.Sie wundern sich über die endlosen Pausen zwischen den einzelnen Wettläufen in den verschiedenen Wettkampfarten. „Schlechte Show“, sagen sie, es gebe zwischendurch kaum Ablenkung. Sogar die Technik würde nicht richtig funktionieren – er könne den Moderator fast nicht verstehen, sagt der Mann, der einen Strohhut trägt, immerhin ist Sommer. Gehen die beiden gerne mal ins Restaurant? „Nein, schon lange nicht mehr“, sagen sie beide, das Essen sei dort vergiftet. Sie würden nur noch im eigenen Garten anbauen.Am Ende der Show wird schließlich der Hotelpage mit dem zerbeulten Koffer als Sieger gefeiert – der „Sieger der Herzen“. Doch in der täglichen Arbeitswelt gibt es den nicht, sondern das Prinzip Selektion. Wer nicht genug Leistung bringt, ist raus – da hilft auch kein Lächeln mehr.Wer Glück hat, bekommt in der harten Gastronomiebranche im besten Fall eines: Trinkgeld.
Jacques Kommer
Beim Kellnerderby 2013 sollten Serviererinnen, Hotelpagen und Barkeeper vor allem schnell sein
[ "eventkritik", "kaffeehaus" ]
Alltag
2013-08-22T06:00:00+02:00
https://www.freitag.de/autoren/liquid/wo-bleibt-meine-bestellung
Debatte Abzug aus Afghanistan: Replik auf den Perlentaucher
Der Freitag hat einen Aufruf zum Abzug der deutschen Truppen aus Afghanistan veröffentlicht. Die Unterzeichner des Aufrufs im Freitag, darunter die Schriftsteller Walser und Jelinek und die Fernsehleute Willemsen und Roche, glauben, dass es sich in Afghanistan um einen Konflikt handelt, der nicht mit Waffengewalt zu lösen ist. Diese Überzeugung fasst sich im Satz des Aufrufs zusammen: "Der Gegner ist keine Armee sondern eine Kultur". Thierry Chervel hat diesen Satz zum Anlass genommen, im Perlentaucher einen kurzen Text zu schreiben, der nicht unkommentiert bleiben soll. Chervel setzt den Freitag, die Unterzeichner des Aufrufs und die gesamte Linke gleich. Das ist als polemische Überhöhung ganz lustig, also nicht wirklich schlimm. Nicht so lustig ist sein Satz, dass die Linke an den "verlorenen Gewissheiten der Rechten festhält: Kultur, Tradition, Sitte, Kopftuch, Religion, Unterwerfung. Die Rechte war dabei ehrlicher, weil sie diese Werte und die daraus resultierenden Zwänge auch fürs eigene Milieu einforderte. Die Linke aber hat für die ,anderen Kulturen’ ein anderes Programm als für die eigene. Sie ist also nicht nur reaktionär, sondern rassistisch." Das geht über die Grenze der Polemik hinaus. Aber schlimmer als das: Es ist eine Dummheit.Wenn man über den Krieg nachdenkt, jeden Krieg, lohnt es sich, die realpolitische Perspektive von der moralischen zu unterscheiden. Wenn der Krieg in Afghanistan gewonnen würde, wäre es leichter, ihn auch moralisch zu rechtfertigen. Er wird aber nicht gewonnen. Die Erfahrungen der vergangenen Jahre zeigen im Gegenteil, dass die Lage des Westens in diesem Land immer prekärer wird. Wie reagiert der Westen darauf? Er kann mehr Waffen einsetzen und mehr Soldaten. Das ist die Strategie, für die die USA sich offenbar entschieden haben. Menschen, die an die Macht des Fortschritts, der Technik, der Moderne, der Waffen, des Geldes glauben, mögen das für eine erfolgversprechende Methode halten. Mehr, mehr, mehr. Bombt die Feinde aus den Tälern und Bergen! In Vietnam beschlossen die Amerikaner die Bäume zu entlauben, um den Gegner aufzuspüren. In Afghanistan sprengen sie die Berge. Wir erinnern uns an die Daisy Cutter Bombe, mit der die Al-Kaida-Festung Tora Bora zu Splittern zerlegt wurde.Osama Bin Laden entkam dennoch. Und das war vermutlich kein Zufall, kein lässliches Versagen einer ansonsten klugen Strategie. Es war ein Symbol. Konflikte, die kulturelle Wurzeln haben, sind mit Waffengewalt nicht zu lösen. Für jeden getöteten Taliban kommen zwei neue. Ist das ein Gedanke, der sich nur den von Thierry Chervel geschmähten Linken aufdrängt? Während wir streiten, breiten sich die Taliban in Afghanistan weiter aus und dringen in Gebiete vor, aus denen man sie längst vertrieben glaubte. Die Vernunft würde jetzt nach anderen Antworten verlangen, selbst wenn die Moral es nicht schon längst täte.Es sind keine leichten Antworten. Und keine schnellen. Und sie kommen nicht ohne einen Preis. Der Preis liegt in der Demut des Westens und in der Ehrlichkeit. Wir wollen da nicht zu tief in die Kiste greifen und uns keinen Spaß aus der Aneinandereihung von altbekannten -ismen machen. Aber dennoch: Der Universalismus der Menschenrechte droht unter den Bedingungen des globalen Kapitalismus leicht zum Kultur-Imperalismus zu werden. Das zu leugnen hat mit Aufklärung nichts zu tun. Das ist, wie Bloch sagen würde, Aufkläricht. Wenn man sich die Früchte westlicher Arbeit in Afghanistan ansieht, dann kommt in der alten Gegenüberstellung Herder gegen Voltaire, Kultur gegen Universalismus, der einst als deutschtümelnder Prä-Nationalist missverstandene Weimarer inzwischen ziemlich gut weg.
Jakob Augstein
"Reaktionär und rassistisch" - diese Worte fallen Thierry Chervel vom Perlentaucher zum Aufruf des Freitag zum Abzug aus Afghanistan ein. Jakob Augstein erwidert
[ "Reaktion (Politik)" ]
Politik
2009-09-15T11:50:00+02:00
https://www.freitag.de/autoren/jaugstein/abzug-aus-afghanistan-replik-auf-den-perlentaucher
Boston-Attentat Warum auch seriöse Medien falsch informieren
Die Radiomoderatorin Kerri Miller aus Minnesota twitterte am Montag, sie habe 1995 über den Bombenanschlag in Oklahoma berichtet. Erst, schrieb sie, habe es sich dabei um eine Gasexplosion gehandelt, dann um einen Anschlag ausländischer Terroristen. „Sie wissen, wie die Geschichte ausging“ – der Attentäter war US-Bürger.Es gab eine Reihe von Journalisten, die solche sachten Warnungen verbreiteten, nachdem in Boston während des Marathons Bomben explodiert waren; als Twitter heiß lief, um binnen 13 Stunden knapp zehn Millionen Tweets mit den Hashtags #boston und #bostonmarathon auszuspucken. „Das meiste, was Sie jetzt hören, wird sich als falsch herausstellen“, twitterte etwa ein Korrespondent von The Atlantic. Denn so schnell sich auch Informationen zusammentragen und Notrufnummern verbreiten lassen, so groß sind die Defizite jedes sozialen Netzdienstes: So unmittelbar wie gute werden auch schlechte Quellen gleichwertig in den Nachrichtenstrom eingespeist.Man konnte daher bei allen live berichtenden Medien ein Spekulationsspektakel beobachten. Der Boston Globe korrigierte die Zahl der Verletzten am Montag in 24 Minuten von 46 auf 100 auf mindestens 90 auf 64, um am Ende des Tages bei etwa 130 zu landen. Und man kann den Globe guten Gewissens zu den wichtigen journalistischen Quellen zählen.Warum das Rechercherohmaterial fortwährend veröffentlicht wird, liegt auf der Hand: weil es veröffentlicht werden kann, weil es gelesen wird und weil das Update-Dauerfeuer ökonomisch sinnvoll scheint. Nicht jede richtige, sondern jede Information bringt kurzfristig mehr Follower und Reichweite. Nicht nur die Vorzüge, auch die Mängel der sozialen Netzwerke – die Fehlschlüsse, der unsortierte Informationsmüll – werden zur Grundlage des Geschäfts. Twitter zeigt, wie News entstehen. Aber Twitter ökonomisiert den Newsprozess auch weiter. „Wir hatten eine Information zuerst, und morgen haben wir dann andere“ ist wichtiger als „Wir haben Informationen, die auch morgen noch stimmen“.Andererseits ließ sich am Fall der Boston-Berichterstattung beobachten, dass es „die Medien“ nicht gibt. Womöglich hat sich seit dem Amoklauf in Newtown im Dezember etwas verändert: Damals stand der Bruder des Täters bereits weltweit als Täter fest, bevor man merkte, dass man da den Falschen mit Namen und Foto gezeigt hatte. Eine kollektive Fehlleistung, die auf der Wahl der falschen Form basierte: Wer einen Liveticker im Programm hat, muss ihn auch füllen, und dann schreibt man notfalls, was alle schreiben. Wenn man von Newtown eines lernen konnte, dann, dass Echtzeitberichterstattung über abgeschlossene Ereignisse und ihre Vorgeschichte – Bombenanschläge gehören dazu – journalistisch bestenfalls der Verteilung von Junkfood entspricht.Im Bostoner Fall nun gab es neben jenen Medien, die in Echtzeit berichteten, auch Onlinemedien, die sich zurückhielten, obwohl sie damit Reichweite verschenkt haben dürften. Es lässt sich erahnen, dass sich die Medienlandschaft nach und nach so aufsplittet, wie es die Verteidiger der gedruckten Zeitung seit Jahren prophezeien: Es gibt abwägende, einordnende und es gibt emotionsheischende Medien. Nur sind sie eben nicht in Print und Online zu trennen. Sondern in Vorsicht und Vollgas.
Klaus Raab
Jede Information bringt mehr Follower und Reichweite. Ökonomisch mag das Update-Dauerfeuer sinnvoll erscheinen, journalistisch entspricht es der Verteilung von Junkfood
[ "medien", "X (Soziales Netzwerk)" ]
Kultur
2013-04-17T11:54:00+02:00
https://www.freitag.de/autoren/klaus-raab/warum-auch-serioese-medien-falsch-informieren
Kolumne Crime Watch Nr. 93
Detektivgeschichte von Imre Kertész ist keine Detektivgeschichte, sondern eine schlanke Parabel. Antonio Rojaz Martens, die Hauptfigur, war zwar einmal Polizist, dann aber Scherge einer nicht näher spezifizierten lateinamerikanischen Diktatur. Im "Corps", so nennt sich der Geheimdienst des Regimes, wendet er zwar formal Polizeimethoden an, ist aber zuständig für Geständnisse, deren Art des Zustandekommens niemanden interessiert. Mit anderen Worten: Martens ist Folterknecht. Als solcher natürlich auch ein Mensch, mit Gedanken und Gefühlen. Gerade hat das Regime gewechselt; Martens sitzt selbst in der Zelle und erwartet ein Schicksal, das er nur zu gut kennt. Er wird vermutlich erschossen werden. Seine Lebensbeichte, oder was er dafür hält, hat er niedergeschrieben. Diese Manuskript-Fiktion macht den Hauptteil von Kertész` schon 1976 entstandenem Text aus. Das Skandalon dabei ist die "Salinas-Akte". Enrique Salinas ist der Sohn des reichen Kaufhausbesitzers Federigo Salinas. Als junger Mensch und Bruder Leichtfuss, als empörbarer Idealist und anständiger Kerl will Enrique unbedingt gegen die Diktatur rebellieren. Sein Vater mag zwar das Regime nicht, gehört aber ansonsten zu dessen Profiteuren. Um seinen Sohn vor unbedachten Handlungen zu schützen, inszeniert er eine Schein-Widerstandsgruppe, die überhaupt nichts tut, außer Enrique subversive Aktionen vorzugaukeln. Zum materiellen Profit gesellt sich für Salinas sen. ein moralischer, weil er in den Augen seines Sohnes als anständiger Mensch da stehen möchte.Natürlich helfen solche Manöver niemandem. Durch einen Zufall platzt das Spiel. Opposition oder Scheinopposition ist egal, Vater und Sohn enden vor dem Peloton. Und Menschen wie Martens sorgen dafür, dass substantielle Kriterien wie Recht und Unrecht, Schuld und Unschuld formal irrelevant sind, wenn nur die politische Vorgabe dominiert. Und die hat in allen totalitären Regimen Priorität.Deswegen siedelt das Buch von Kertész eher nächst Kafkas Prozeß, denn an irgendwelchen Diktatorenromanen aus Südamerika oder Polit-Thrillern. Die ungarischen Leserinnen und Leser haben 1977 die message genau verstanden und sich höchstens gewundert, dass oder wie das Buch den Zensur-Apparat passieren konnte. Als Anatomie totalitärer Strukturen und deren Auswirkung auf Individuen ist der knappe Text brillant. Der Erzählgestus und die Tonlage sind unhysterisch, konzentriert, fast kalt und analytisch präzise. Als literarischer Beitrag zum Wesen von Diktatur, als warnender, mit Typisierungen arbeitender erzählerischer "Essay" über die beliebige Funktionalisierbarkeit von Werten und Überzeugungen absolut überzeugend und als Parabel mit der nötigen Zeitlosigkeit ausgestattet, die ein andauerndes Aktualisieren möglich und nötig macht. Deswegen ist es auch gut, dass das Büchlein jetzt erstmals auf Deutsch erschienen ist.Gleichzeitig ist Detektivgeschichte aber auch ein sehr kontextuell gebundenes Buch. So konnte, ja musste man damals, 1977, in diesem totalitären Regime über die Funktion totalitärer Regimes wohl schreiben, um überhaupt darüber schreiben zu können. Das fiktive Südamerika war Ungarn beziehungsweise die Staaten des Warschauer Pakts. Mit der Veränderung des politischen Kontexts geht der subversive Aspekt der Erzählung verloren, es bleibt das allgemein Gültige, eben das Psychogramm eines Folterknechts und Schergen.Eine wirkliche Detektivgeschichte, wie immer wir die uns vorstellen mögen, würde anders verfahren: Sie könnte eine ähnliche Handlung im Hier und Jetzt ansiedeln, und das Hier und Jetzt genau benennen, das heißt ihre Kontexte in den Text hineinziehen. Sie könnte mittels ihres narrativen drives die Allgemeingültigkeit ihres Sinns in action auflösen, sie könnte durch gar unterhaltendes Erzählen etwas "zeigen". Sie könnte dies allerdings nur in einer demokratischen Gesellschaft tun.Insofern ist Imre Kertész` Detektivgeschichte gerade weil sie keine "wirkliche" Detektivgeschichte ist, ein Beleg ex negativo für die demokratische Basis von Kriminalliteratur. Dass Kertész auch diese subversive Ironie sehr absichtsvoll in den Titel seines Buches gepackt hat, macht es umso erfreulicher.DetektivgeschichteDetektívtörténet
Thomas Wörtche
Kriminalromane
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Kultur
2005-01-28T00:00:00+01:00
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Frankreich Dieses eine Wort
Cécile Brossard, die schmale Blonde, arbeitet als Serviererin in der Maxim’s-Filiale am Pariser Flughafen Charles de Gaulle. Manchmal begleitet sie wohlhabende galante Herren zum Dîner. An einem dieser Abende, im Jahr 2001, begegnet ihr Edouard Stern. Ein charismatischer Typ, fast zwei Meter groß, mit bernsteinfarbenen Augen, kultiviert, charmant, verführerisch. Ein Prinz der Hochfinanz und erfolgsverwöhnter Banker, Teil der französischen Geld- und Bildungselite. Zunächst Chef der familieneigenen Banque Stern, dann ab 1997 Direktor der Investmentbank Lazard. Nicolas Sarkozy zählt als Bürgermeister von Neuilly-sur-Seine, später als Minister, zum engeren Freundeskreis.Der „Mozart der Finanzwelt“ begehrt Cécile Brossart – sie wird seine Domina, Mätresse, Geliebte. Die ersten Monate verlaufen harmonisch. Sie hört mit dem Kellnern auf und avanciert zum Luxus-Callgirl. Stern umgarnt sie, spendiert ihr Kleider, bringt ihr bei, wie man Großwild jagt, in Sibirien, Kenia oder Tansania. Er spielt gern mit Waffen, am liebsten beim Russisch-Roulette. Wenn sie einmal ein Rendezvous verweigert, ist Stern tief betroffen und weint. Er braucht sie sexuell – sie träumt von Heirat. Stern führt kein Doppelleben, Cécile Brossart wird nicht versteckt, sondern bei Abendessen und auf Geschäftsreisen präsentiert. Aber das reicht ihr nicht.Am 28. Februar 2005 wird der Elite-Banker in seinem Genfer Appartement von der Putzfrau gefunden und ist an einen Stuhl gefesselt, sein lebloser Körper steckt in einem rosafarbenen Latex-Anzug. Vier Kugeln aus einer neun Millimeter Smith Wesson haben sein Leben während eines sadomasochistischen Spiels beendet, so scheint es.Eine berechnende Frau Wenig später gesteht Cécile Brossard die Tat und wird für schuldig erklärt. Es folgt – vier Jahre später – ein spektakulärer Prozess, in dem darüber befunden wird, ob sie ein „Verbrechen aus Leidenschaft“ begangen hat. Schon bevor die Verhandlung beginnt, wird Brossart öffentlicher Anklage und vernichtendem Urteil unterworfen. Sie habe reich werden wollen, sehr reich. Eine berechnende Frau aus der Vorstadt, so verlockend wie abgebrüht.Die „Affäre Stern“ nimmt nun richtig Fahrt auf. Alle Rituale und Praktiken einer Liaison dangereuse werden detailliert und genüsslich ausgebreitet. Sterns Familie – seine geschiedene Frau und die drei Kinder – will davon nichts wissen, aber sie muss hören, dass es sich bei Edouard Stern um einen Mann handelte, der einem Raubtier ähnelte und als Liebhaber der Großwildjagd die Beute lieber langsam verrecken sah, als ihr den Gnadenschuss zu geben. Sterns düstere Seite überraschte angeblich eine ganze Branche und die besten Freunde.Dass für Stern die sexuelle Unterwerfung einer gut honorierten Mätresse auch eine gesellschaftliche ist, lässt er Cécile mehr als einmal spüren. Sie ist 36, als sich beide kennenlernen, und braucht immer mehr Tabletten, um die seelische Balance zu halten, aber sie kommt nicht los von ihm. Schließlich verlangt sie einen Liebesbeweis und träumt davon, der Bankier würde sie heiraten. Stern geht soweit, dies seiner Gespielin schriftlich zu versichern, auch er ist ihr verfallen. Dass Cécile eine Million Euro auf ein Konto überwiesen werden, gilt ebenfalls als abgemacht. Doch verzögert Stern die Transaktion. „Die schönste Art, dieses Geld auszugeben, wäre es, dir alles zurückzuschicken – als Beweis meiner Liebe“, bestürmt sie ihn.Irgendwann fließt das Geld, doch der Liebesbeweis wird verwehrt. Cécile möchte behalten, was sie erworben hat. Wenige Tage später lässt Stern das Konto sperren. Als sie davon erfährt, führt der Weg ins Genfer Penthouse, sie will ihren Liebhaber zur Rede stellen. „Eine Million ist sehr viel Geld für eine Hure“, fällt der über sie her, schon mit dem Latex-Anzug bekleidet. Dieses eine Wort – Hure! Da sei etwas in ihrem Kopf explodiert, beteuert Cécile im Polizeiverhör. Ihr sei bewusst geworden, „dass er mich niemals heiraten würde“, wird sie vor Gericht erzählen. Sie habe wie ein Automat gehandelt. Vier Schüsse. Wie auf eine Plastikpuppe.Welch ein Stoff. Der Schriftsteller Régis Jauffret lässt ihn sich nicht entgehen und schreibt den Roman Sévère (auf deutsch: Streng), der 2010 erscheint und in Frankreich für Aufsehen und Aufregung sorgt. Jauffret saß während der sieben Prozesstage im Juni 2009 als Reporter für das Wochenblatt Nouvel Observateur im Gerichtssaal. Der Fall habe ihn von Anfang an gefesselt, lässt er keinen Zweifel. Jauffret schildert das Geschehen aus der Ich-Perspektive einer Frau, die er immer wieder „Sex-Sekretärin“ nennt, und deren innere Welt er ergründen möchte. Es gehe ihm um eine Fiktion, schreibt er im Vorwort, seine Personen seien „Puppen aus Wörtern, Abständen und Kommata“. Was nicht verhindert, dass ihm der Roman einen Eklat beschert. Die Familie klagt gegen das Buch und will es für immer verboten wissen – die „Affäre Stern“ wird vorübergehend zur „Affäre Jauffret“.Das wiederum ruft viele Schriftsteller und Intellektuelle auf den Plan: Bernard-Henri Lévy, Michel Houellebecq und Jonathan Littell verfassen zusammen mit anderen eine Petition, in der es heißt: „Seit dem Mord sind viele vorgeblich dokumentarische, für das Opfer häufig beleidigende Artikel und Bücher erschienen, die nie eine Klage nach sich zogen. Das zweifelhafte Privileg eines solchen Angriffs und des Rufs nach einem Verbot blieb seltsamerweise einem fiktiven Werk vorbehalten. Mit dieser Forderung macht man das Verbrechen nicht ungeschehen, sondern begeht ein weiteres – am Geist.“ Klingt das übertrieben? Oder wirft es einfach die alte Frage auf: Was darf Literatur? Realität unverschlüsselt abbilden?Jauffret sagt, er sei lediglich „inspiriert“ worden von einer solchen Affäre, doch die Grenzen sind fließend, wie man das 2003 auch in Deutschland beobachten konnte. Seinerzeit ist Maxim Billers Roman Esra gerichtlich verboten worden. Billers ehemalige Freundin und deren türkische Mutter hatten geklagt, sie seien durch zahlreiche biografische Übereinstimmungen „für weite Kreise“ erkennbar, nicht nur bei Freunden, auch im Beruf und in der türkischen Community. Es handle sich quasi um eine Biografie. Unterstützer wie Joachim Lottmann stiegen für Maxim Biller in den Ring und taten es mit einem Schwur auf die Freiheit der Kunst.Wegen guter FührungDie Verstrickung von Vita und Schicksal galt großen französischen Romanciers immer schon als begehrter Stoff, ob Henri Barbusse, Louis Guilloux oder Michel Tournier. Georges Simenon war mit seinen Kriminalromanen ein Meister darin, den Wendepunkt eines Lebens zu erfassen, der aus einem ehrbaren Bürger einen Getriebenen macht – einen Täter, der zugleich Opfer ist. „Mein Richter, ein einziger Mensch soll mich verstehen, und ich möchte, dass Sie dieser Mensch sind“, beginnt der Maigret-Autor seinen Roman Brief an meinen Richter und fährt fort: „Sie waren mein Richter, und es hätte so ausgesehen, als ob ich versuchte, mich zu rechtfertigen. Darum geht es jetzt nicht, das wissen Sie, oder?“ Georges Simenon sucht nicht nach Schuld und Schuldigen schlechthin, sondern nach einer Verwundung der menschlichen Seele, die unheilbar sein kann.So wird auch Cécile Brossard während des Prozesses von ihren Verteidigern als verletzbare und verletzte Frau beschrieben, gezeichnet und traumatisiert, weil sie als Kind vergewaltigt und Jahrzehnte später von einem Mann wie Édouard Stern psychisch und physisch erniedrigt wurde. Für die Stern-Anwälte hingegen ist sie nichts weiter als ein eiskaltes Callgirl, das Strafe verdient. Und so hört Cécile Brossard am 18. Juni 2009 von ihren Richtern, dass sie für acht Jahre und zwei Monate ins Gefängnis muss. Doch sie kommt schon im November 2010 wegen guter Führung frei.Ihre Beziehung zu einem der reichsten Männer Frankreichs wird seither in immer neuen Versionen erzählt. Inzwischen steht fest, der Roman Sévère liefert die Vorlage für einen Spielfilm, der bald abgedreht sein soll – mit Laetitia Casta in der Hauptrolle.
Maxi Leinkauf
Der Starbanker Edouard Stern wird 2005 von seiner Mätresse erschossen. Sie wollte den ultimativen Liebesbeweis im Wert von einer Million Euro – er nannte sie Hure
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Politik
2011-05-29T10:00:00+02:00
https://www.freitag.de/autoren/maxi-leinkauf/dieses-eine-wort
USA Am Fluss mit den dreiäugigen Fischen
Der Columbia River ist ein großer Fluss im Nordwesten der USA mit mächtigen Stauwehren wie dem Bonneville-Damm zur Stromgewinnung. Errichtet wurden die Anlagen dank des „New Deal“ während der 30er Jahre und blieben immer staatliches Eigentum. 50 Kilometer vor der Grenze zum US-Staat Oregon ging es am Ufer des Columbia River bis vor Jahrzehnten noch um eine völlig andere Art von Energie: Hier in Hanford stand der erste Atomreaktor der Welt, in dem das Plutonium für die Atombombe hergestellt wurde, die am 9. August 1945 die japanische Stadt Nagasaki traf. Neben diesem „B Reactor“ gab es weitere Meiler, die bis in die 80er Jahre das US-Kernwaffen-Arsenal mit Plutonium versorgt haben. Inzwischen findet auf dem riesigen Gelände die weltweit größte Umwelt-Entgiftungsaktion statt.Wir sind etwa 20 Leute, die am frühen Morgen in den Bus steigen, um von der Kleinstadt Richland in das gut 40 Kilometer entfernte Hanford zu fahren. Angeboten wird die Tour durch das US-Energieministerium, freilich sind die Plätze begrenzt, und für Ausländer ist nur der einstige „B Reaktor“ zugänglich.Bei Hanford hat man es mit einem 1.500 Quadratkilometer großen Wüsten- und Steppengelände im Südosten des Staates Washington zu tun. Ab dem Jahr 1947 wurde hier in neun Reaktoren Plutonium produziert. Die Reaktoren standen ausnahmslos in der sogenannten „100 Area“ und wurden wegen des Kühlwasserbedarfs direkt ans Ufer des Columbia River gebaut. 1959 begann man, „N Reactor“ zu errichten – es sollte die letzte Anlage sein, sie blieb bis 1987 in Betrieb.Leibwächter für „Mr.Farmer“Unser Bus hat mittlerweile eine Sperre passiert, es geht hinein ins Gelände der „100 Area“. Eine menschenleere Gegend, der Wind streift über Gestrüpp und Gras. Das „Manhattan-Projekt“, wie das Nuklearwaffenprogramm der USA im Zweiten Weltkrieg genannt wurde, unterlag strengster Geheimhaltung. So wurden die beiden seinerzeit auf dem Gelände liegenden Ortschaften White Bluffs und Hanford evakuiert. Konkret hieß das, im Frühjahr 1943 mussten die Bewohner innerhalb von 30 Tagen gegen eine kleine Entschädigung ihre Häuser und Farmen verlassen und aufgeben.Auf einer Piste fährt der Besucher unausgesetzt geradeaus, bis irgendwann am Horizont ein großes, umzäuntes Gebäude auftaucht: Der „B Reaktor“ ist erreicht. Ein Tor wird geöffnet, und man betritt das Betriebsgelände. Linker Hand führt die Tour vorbei an zwei vor sich hin rostenden Diesellokomotiven, dann durch ein paar Gänge und schließlich direkt ins Herzstück der Anlage – das Gewölbe, in dem einst die Brennelemente in den Reaktor eingeführt wurden. Von Neonlicht erhellt, wird der Raum durch einen elf Meter breiten und elf Meter hohen Grafit-Block ausgefüllt, in dem sich 2.004 horizontale Prozess-Schächte oder Röhren mit einem Durchmesser von circa vier Zentimetern befinden. In diese Röhren wurde das Uran geschoben. Der laufende Reaktor musste mit Unmengen von Wasser gekühlt werden. Dazu wurden dem Columbia River rund 300.000 Liter entnommen – und zwar pro Minute. Mit neun horizontalen Kontrollstäben aus Bor ließ sich die atomare Reaktion steuern. 29 Sicherheitsstäbe konnten von der Decke aus in den Grafit-Block gesenkt werden, um den Reaktor bei Bedarf schnell abschalten zu können. Der war zudem mit einem 25 Zentimeter dicken gusseisernen Hitzeschild umgeben, der wiederum von einer anderthalb Meter dicken Schicht aus Stahl und Holz ummantelt war, um die Arbeiter vor radioaktiver Strahlung zu schützen. Es war im September 1944, als an diesem Ort die erste atomare Kettenreaktion gelang.Was noch heute verblüfft, ist der damalige Stand der Technik. So wurde dieser Reaktor innerhalb kürzester Zeit aus dem Boden gestampft. Noch vorhandene Relais, Röhren und elektrische Steckverbindungen im Kontrollraum stehen für die Standards der 40er Jahre und ein Unternehmen der Superlative.Nachdem 1943 die letzten Landwirte das Gelände verlassen hatten, wurde eine Bau-Armee von 50.000 Mann angeheuert. Die Arbeiter wussten zwar, dass man sie für ein kriegswichtiges Unternehmen brauchte, hatten aber keine Ahnung vom wirklichen Zweck des Objektes. 40.000 wurden in Baracken einquartiert, der Rest in Wohnwagen. Die Verpflegung galt als logistische Herausforderung: Jeden Tag wurden 2.500 Kilo Würstchen für das Frühstück gebraten, 100 Kilo Butter verarbeitet und 15 Tonnen Kartoffeln geschält. Das Personal verpaffte pro Tag 16.000 Päckchen Zigaretten und trank in der Woche 55.000 Liter Bier.So wurde in nur elf Monaten unter der Verantwortung des Physikers Enrico Fermi von der Universität Chicago der „B Reaktor“ hochgezogen. Aus Sicherheitsgründen trug der gebürtige Italiener, der 1938 in die USA eingewandert war, in Hanford den Namen „Mr. Farmer“ und sah sich stets von Leibwächtern begleitet. Der „B Reaktor“ war bis Februar 1968 in Betrieb.Jahrzehnte später allerdings sollte sich zeigen, welche katastrophalen ökologischen Kollateralschäden die Plutonium-Produktion in Hanford verursachte. Über einen langen Zeitraum hinweg war aus Geheimhaltungsgründen keine zivile Kontrolle möglich. Mit hochradioaktivem Abfall wurde umgegangen, als würde es sich um profanen Hausmüll handeln: Man vergrub ihn in der Erde, kippte ihn in Abwässer-Gräben, ließ ihn ins Grundwasser sickern oder pumpte ihn in die nahen Sümpfe. Als am 1. Mai 1987 Hanford für Kontrollen durch Staats- und Bundesbehörden geöffnet wurde, kam ein gigantischer Umweltskandal ans Tageslicht, wie man das schon geahnt hatte. In der Umgebung wurden dreiäugige Fische gefangen oder Kälber mit Missbildungen geboren. Radioaktive Wolken aus den Kaminen wehte es bis nach Oregon und Montana. Offizielle Stellen wiegelten ab. Warum sich empören? Mit dem Plutonium aus Hanford wurde schließlich im Kalten Krieg die westliche Freiheit verteidigt.Vom Gelände des „B Reaktor“ aus sind durch einen Zaun in der Ferne andere Gebäude der ehemaligen Plutonium-Fabriken zu sehen. Heute arbeiten dort Tausende mit Schutzkleidung und Atemmasken am größten Entkontaminierungsprojekt der Welt. Mehr als 1.900 verseuchte Stellen wurden auf dem Gelände identifiziert, von Verschmutzung des Bodens bis zu gewaltigen, in der Erde vergrabenen Müllhalden. Ganze Gebäude sind radioaktiv verseucht, darunter die neun Reaktoren und die chemischen Fabriken „200 East“ und „200 West“, in denen das Plutonium von den Brennstäben geschieden wurde. Schätzungen gehen davon aus, dass zwei Billionen Liter verseuchter Flüssigkeit ins Erdreich gelangt sind.In Glas einschmelzenAllein 100.000 ausgebrannte Brennstäbe lagern in Wasserbecken. Eines der größten Probleme stellen die im Boden vergrabenen Metalltanks dar, in denen 240 Millionen Liter hochverseuchten Schlamms gelagert wurden. Die Behälter haben mittlerweile zu rosten begonnen, sodass mutmaßlich Millionen Liter hochradioaktiven Mülls ins Erdreich eingedrungen sind. Diese Altlast zu beseitigen gilt als größte und teuerste Herausforderung bei der Sanierung von Hanford. Es ist vorgesehen, diesen Müll in Glas einzuschmelzen und in rostfreien Stahlbehältern zu lagern, sodass keine kontaminierten Substanzen mehr versickern können. Der weniger radioaktive Teil des Reaktormülls soll in Hanford vergraben werden. Den am meisten strahlenden Teil will man in eine atomare Endlagerstätte verbringen, die es in den USA bisher aber genauso wenig gibt wie in Deutschland. Neun Millionen Liter wurden bisher in neue, doppelwandige Tanks umgefüllt und zwei Drittel der Anlage fertiggestellt, die diesen Müll in Glas einschließen soll.Eine Sanierung für das Hanford-Gelände ließ lange auf sich warten. Es gab diverse Pläne, doch erst 2001 wurde das Vorhaben wirklich in Angriff genommen, verbunden mit der Gewissheit, die technischen Herausforderungen würden so gewaltig sein wie die Kosten. Erste Schätzungen sprachen von hundert Milliarden Dollar, allein 2013 wurden 2,9 Milliarden gebraucht, und ein Ende ist nicht absehbar. Ursprünglich wollte man 2047 fertig sein, dann jedoch verlängerte das US-Energieministerium die Frist – es werde wohl bis 2052 dauern.Placeholder authorbio-1
Rudolf Stumberger
Die Plutoniumfabrik in Hanford war einst für die Kernwaffenproduktion unverzichtbar. Heute läuft dort die weltweit größte Entgiftungsaktion
[ "ausland", "brennstäbe", "usa", "washington", "radioaktivität", "umwelt" ]
Politik
2015-01-28T06:00:00+01:00
https://www.freitag.de/autoren/rudolf-stumberger/am-fluss-mit-den-dreiaeugigen-fischen
SPD Von Kassel nach Dresden
14 Thesen Eigentlich waren zum Basis-Ratschlag am vergangenen Wochenende nicht einmal 100 SPD-Mitglieder erwartet worden – es kamen dann gut 300 nach Kassel. Man habe „ebenso engagiert wie leidenschaftlich für einen radikalen Kurswechsel“ gestritten, hieß es später bei der Arbeitsgemeinschaft der Sozialdemokraten in der SPD. Auch wenn das von Parteilinken organisierte Treffen ausdrücklich nicht als Flügel-Veranstaltung geplant war, ließen bereits die 14 Thesen zu Lage und Zukunft der SPD keinen Zweifel über den politischen Standort des Ratschlags. Harsche Kritik am Regierungskurs der Sozialdemokraten seit 1998 findet sich darin ebenso wie die Aufforderung zu einem „Aufbruch in die soziale Moderne“.Unter dieser Überschrift hatte vor knapp zwei Jahren bereits Andrea Ypsilanti ein neues „sozialdemokratisches Projekt“ in die Diskussion gebracht. Die Parallelen sind keineswegs zufällig: „Fast alle linken Sozialdemokraten identifizieren sich mit dem hessischen Versuch, einen programmatischen Neuanfang zu starten“, sagt der frühere Kasseler Bundestagsabgeordnete und SPD-Linke Horst Peter. Mit der „Sozialen Moderne“ soll ein neues gesellschaftliches Leitbild entwickelt werden, das von der traditionellen industriellen Wachstumslogik ebenso Abschied nimmt wie von der damit verknüpften, rein monetären Umverteilungspolitik. Zudem sollen unter anderem die Traditionen demokratischer Selbstverwaltung wiederbelebt und neue, zeitgemäße Formen gesellschaftlicher Solidarität gefunden werden.Dresdner Anträge Im mehr als 240 Seiten starken Antragsbuch zum SPD-Parteitag in Dresden taucht der Begriff „Soziale Moderne“ nicht auf. Vorerst dominiert die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit: In zahlreichen Beschlussvorlagen fordern Parteigliederungen eine Abkehr von den als besonders verheerend eingeschätzten Reformen Hartz IV und Rente mit 67. Der Leitantrag des SPD-Vorstands ist an einigen Stellen noch einmal verschärft worden. Dies auch, wie es hieß, um allzu scharfe Kontroversen um den Kurs der SPD in Dresden zu vermeiden. Die nun zur Abstimmung gestellte Fassung des Leitantrags zieht eine selbstkritischere Bilanz der sozialdemokratischen Regierungszeit seit 1998 – vor allem was die Folgen der Reformpolitik in der Arbeitnehmerschaft und unter Erwerbslosen angeht. Nach einer häufiger geäußerten Meinung brauche die Partei für die Neuausrichtung ohnehin noch deutlich mehr Zeit. Der Leitantrag schlägt vor, Anfang 2010 auf einer Konferenz aller SPD-Unterbezirke die Analyse des Wahldebakels fortzusetzen und dann „einen gemeinsamen Prozess der Modernisierung der SPD“ zu beginnen. Politische Schlussfolgerung „werden auf einem Parteitag zu beraten sein“, heißt es weiter. Den Zeithorizont für die Erneuerung hatte Gabriel schon vor ein paar Wochen in einer Email an einige Mitglieder umrissen: „Die Früchte unserer Arbeit – wenn sie denn gelingt – wird wohl eher die nach uns kommende Generation von Sozialdemokraten ernten.“
Redaktion
Wie sich die Sozialdemokraten an einen Neuanfang herantasten
[ "Sozialdemokratische Partei Deutschlands", "innenpolitik" ]
Politik
2009-11-12T15:03:00+01:00
https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/von-kassel-nach-dresden
Medientagebuch Nicht nur die Liebe zählt
Es wäre schade, aber nicht zu ändern", hat die Berliner Zeitung in diesen Tagen entschieden angesichts des selbst erdachten Gedankenspiels, Harald Schmidt käme aus seiner in dieser Woche angetretenen Sommerpause nicht zurück. Solche Überlegungen hätte vor zwei Jahren kein Mensch angestellt, und auch wenn Harald Schmidt aus der Sommerpause zurückkehren wird und die Berliner Zeitung das grundsätzlich gut findet, zeigt sich daran vor allem eines: Das Verhältnis zwischen dem Feuilleton und seinem einstigen Geliebten Harald Schmidt ist stark abgekühlt. Die große Liebe ist dahin.Sie ging zu Ende im Dezember 2003, als Schmidt ohne Angabe von Gründen aus der intakten Beziehung ausstieg und das Feuilleton verließ. Genau ein Jahr später ist er zurückgekehrt, und natürlich haben sich die beiden seitdem gesehen, ihre Beziehung aber wirkt wie der zweite Versuch des alten Liebesglücks. Das Feuilleton liebt nicht mehr bedingungslos ("Gott"), sondern reflektiert: Es gibt einfach niemanden, mit dem es Harald Schmidt betrügen könnte.Das konnte man an einem Zehn-Punkte-Plan sehen, den die taz entworfen hatte, weil es mit Schmidt so nicht weitergehen könne. Der Plan entpuppte sich schnell als eine sehr Schmidt´sche Form der Medienkritik, bei der "Verbesserungsvorschläge" an gescheiterte oder schlechte Sendungen parodiert wurden. Die Empfehlung ("9. Die Quote"), ein Live-Kochen mit ein paar Fernsehköchen zu veranstalten und deren Rezepte anschließend im Spiegel abdrucken zu lassen, machte jedenfalls vielmehr Johannes B. Kerner lächerlich, der bei sich freitags kochen lässt, als dass sich überhaupt ein Kritikpunkt an Schmidt erkennen ließe. Die Quote ist nicht das Problem.Den großen Liebeskummer, in den das Feuilleton stürzte, als Harald Schmidt aus seinem Leben verschwand, kann man so noch immer spüren, auch wenn die Trennung schon eine Weile her ist und beide, das Feuilleton und Schmidt, alt genug sein sollten, um sich gegenseitige Enttäuschung nicht in aller Öffentlichkeit vorzuwerfen. Der Schmerz des Verlassenen, den das Feuilleton noch manchmal heimsucht, äußert sich aber nicht nur in kleinen Sticheleien, die man sich dem Partner gegenüber rauszunehmen wagt, sondern auch in bemühter Uninteressiertheit und manch überhitztem Vorwurf. So schrieb die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung nach fünf Monaten Harald Schmidt in der ARD: "Seine Bedeutung geht gegen null."Das ist in zweifacher Hinsicht unsinnig. Zum einen klingt diese Behauptung einer Tatsache so, als läge es an Schmidt selbst, bedeutend zu sein, und nicht etwa am, sagen wir, Feuilleton, Bedeutung zuzuweisen. Folglich ging es im Bewusstsein seiner Macht, ein wenig bockig und ein wenig schmollend, mit seinen Liebeserklärungen an den Geliebten sparsam um. Das ist vermutlich genauso übertrieben wie der Übermut in glücklicheren Tagen, als kein Artikel im Feuilleton ohne Verweis auf Harald Schmidt beginnen konnte.Zum anderen ist der Vorwurf der Bedeutungslosigkeit falsch. Die unerquickliche "Unterschichten"-Debatte im Frühjahr verdankte sich einzig und allein dem Umstand, dass das Feuilleton nach wie vor Schmidt schaut (während Schmidt umgekehrt nach wie vor das Feuilleton liest). Da sagt Schmidt dann "Unterschichtenfernsehen" zu Sat1, so wie er früher "Kuschelsender" gesagt hat: aus kritischer Koketterie und Freude an besonderen Vokabeln, aber weil das Feuilleton Schmidt Ernst nimmt, also: für bedeutsam hält, fährt ein FAS-Feuilletonist am nächsten Tag nach Berlin-Neukölln, um Jagd auf eine scheinbar Unsichtbare zu machen: die Unterschicht in der Spielhölle. So sieht das also aus. Dass da ein Missverständnis wucherte - in dessen Folge sogar die Werbekunden als Fernsehkritiker verdächtigt wurden, die bei der Ausstrahlung ihrer Spots nicht länger auf Quote, sondern auf Qualität Wert achten würden -, legt die Tatsache nahe, dass Schmidt das bei Paul Nolte ("Generation Reform") aufgeschnappte Wort nicht mehr verwendete, seit es sich als Ventil für bürgerliche Angstlüste im Feuilleton verselbstständigt hatte.Neben den Schwierigkeiten in einer interessanten Beziehung lehrt die Rückkehr von Harald Schmidt nach einem Jahr Auszeit noch zwei Dinge über das Fernsehen. Denn, erstens, ist nicht Schmidt schlechter geworden, sondern lediglich sein Sendeplatz. Ein Kurzauftritt in steter Unregelmäßigkeit ist eine Verlegenheitslösung, aber kein Format in dem Sinne, wie die Tagesschau, die unser Leben strukturiert. Weil das Fernsehen um so vieles banaler ist als das Kino, besteht sein einziges Versprechen auf Größe in reibungsloser Unendlichkeit. Immer, also täglich da zu sein, ist die Voraussetzung für das, was Harald Schmidt am besten kann: eine Revision der Bilder, die vom Tage übrig bleiben. Zwei Tage auf Schmidts (großartige) Kommentare zu Joschka Fischers Auftritt vor dem Untersuchungsausschuss zu warten, widerspricht dem medialen Zeitgefühl des Zuschauers ebenso wie eine derart komprimierte Sendung, in der neben Fischer auch noch Neuseeland und eine verheerende Maischberger-Diskussion Platz haben müssen. Eine halbe Stunde ist überdies zu wenig Zeit, um hinein zappen zu können, weil man den Großteil der Sendung immer schon verpasst hat. So sehnt man sich nach den Werbepausen und der Regelmäßigkeit von einst, die der Vorfreude ein Ziel und den gelungenen Scherzen Raum gegeben haben.Das wird es in der ARD aber nicht geben, und so wird die Sendung Harald Schmidt immer merkwürdig amputiert erscheinen. Wenn die ARD-Chefs die Aussage, Schmidt sei Grundversorgung, wirklich Ernst meinten, müssten sie die Talk-Tage mit dem entbehrlichen Beckmann und der fehl besetzten Sandra Maischberger freimachen für Schmidt, der in der täglichen Routine brilliert und nicht in der Seltenheit des Ereignisfernsehens (siehe vierstündige Rheinschifffahrt).Aber eine ARD, die glaubt, das Glück einer Nachrichtensendung wie die Tagesthemen hänge an fünfzehn Minuten, redet nur von Grundversorgung. Und so zeigt uns, zweitens, Schmidts Rückkehr zu seinem Muttersender, dass es ein Gut und Böse, Oben und Unten, Monitor vs. Tutti-Frutti in der deutschen Fernsehlandschaft nicht mehr gibt. Vor fünfzehn Jahren hätte man Harald Schmidt bei einem Privatsender als Verrat empfunden. Heute ist es dagegen schade, dass er bei der ARD ist. Aber wohl nicht zu ändern.
Matthias Dell
Harald Schmidt macht bei der ARD, was er immer gemacht hat - am falschen Platz
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Kultur
2005-07-01T00:00:00+02:00
https://www.freitag.de/autoren/mdell/nicht-nur-die-liebe-zahlt
Kino Zwischen Ankunft und Abflug
Jeanne Balibar. Mit diesem Namen, mit dieser Schauspielerin hängt alles zusammen in Pia Marais’ Film Im Alter von Ellen. Das Sujet: die Verpflanzung einer Ikone des französischen Kinos, die zum ersten Mal kurz in Arnaud Desplechins La sentinelle (1992) auftauchte, später prominent bei Jean-Claude Biette, Olivier Assayas und in Va savoir (2001), einem der schönsten Filme von Jacques Rivette: Balibar, von Pirandello-Texten umstellt, über Pariser Bürgerhausdächer vor Heidegger lesenden Männern davonschwebend. Eine Frau, die immer eine Leiter ins Freie findet.Jetzt aber ist sie Ellen, eine nicht mehr ganz junge französische Stewardess, die in einem grauen Deutschland lebt und sich selbst eine neue Richtung geben will und muss. Ihr freudloser Lebensgefährte, der plötzlich ein Kind mit einer anderen Frau bekommt, und eine nie ausformulierte ärztliche Diagnose sind hier die Impulsgeber. Fluchtwege einer Flugbegleiterin, oder eben: Ich bin ein Star – Holt mich hier raus!Denn man sieht vor allem: Jeanne Balibar; in einem Film, der es sich offenbar zum Ziel gesetzt hat, einen Star der besten Ecken des französischen Kinos mit möglichst vielen deutschen Schauspielern und Schauspielerinnen in Kontakt zu bringen. Als ginge es darum, die Balibar’sche Leichtigkeit, dieses immer leicht ironisch-verstehende, aber nie offensiv gegen die Figur gerichtete Aus-der-Rolle-hinaus-Blinzeln mit den schlichteren Manierismen der anderen zu konfrontieren. Ein Experimentalfilm für Schauspielschüler, Die Spielwütigen als Spielfilm.Fast schon seriell mutet der kollegiale Auflauf um und neben Balibar an; eine Reihe, die allerdings von einem echten Wiener eröffnet wird: Georg Friedrich, der in zurückgenommener Ulrich-Seidl-haftigkeit einen Florian spielt, der allen Ernstes nichts Besseres zu tun hat, als Jeanne Balibar zu verlassen. Es treten auf in rascher Folge: Alexander Scheer (als Steward), Eva Löbau (die Balibar immerhin ihren badischen Dialekt aus Der Wald vor lauter Bäumen erspart, nicht aber eine biedere Cabin-Crew-Orgie) und vor allem Julia Hummer als militante Tieraktivistin mit abgeklärtem Antifasprech und einer Perücke, deren Wischmoblook unwillkürlich Cameron Diaz’ Frisur in Being John Malkovich wieder in Erinnerung bringt.Diffuses BegehrenReichlich Zeit für zugegebenermaßen beliebige Assoziationen bleibt einem, weil Im Alter von Ellen an recht vorhersehbaren ästhetischen Formen der Entmischung interessiert ist, jedenfalls eher, als an einer runden Story, psychologisch transparenten Figuren oder einem konventionellen Erzählfluss. Einige Male gerät der Film sehr schön ins Stocken: im empathischen Blickwechsel mit einem Gepard, bei einem nächtlichen Gang über eine Landstraße voller befreiter Labormäuse, die mit ihrer Freiheit nichts anzufangen wissen.Neben der Frage, ob sich Ilse Aigner von Hummers dahergeschnodderten Argumenten beeindruckt zeigen würde, kommt einem noch Isabelle Huppert in Benoît Jacqouts Villa Amalia (lief vor einigen Wochen sehr kurz in den deutschen Kinos) in den Sinn: Auch dort eine Frau, die abrupt stehenbleibt und in die entgegengesetzte Richtung zu laufen beginnt. Huppert spielt diese überbeherrschte Pianistin als solide Variation auf viele andere Huppert-Frauen, aber eben auch im Bewusstsein einer Trademark-Pflege. Jeanne Balibar erlaubt sich hingegen eine offenere, unreinere Filmografie, lässt sich also auch einmal auf ein Projekt ein, in dem sich ein eher diffuses Begehren auf sie richtet.
Simon Rothöhler
In einem gewissen Sinne der Film der Stunde, weil radikale Ernährungskritiker zu Wort kommen: Die Attraktion Pia Marais' „Im Alter von Ellen“ ist aber Jeanne Balibar
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Kultur
2011-01-19T12:35:00+01:00
https://www.freitag.de/autoren/siroth/zwischen-ankunft-und-abflug
Klassik Autonomie alter Meister
Autonomie und Gnade, Ivan Nagels roter Faden im gleichnamigen Mozartbüchlein von 1988, hat, obschon der adornitisch gedrängte Stil sich heute recht anstrengend liest, viel für sich. Mozarts späte Opern, so Nagel, handelten davon, wie der feudale Souverän im 18.Jahrhundert mit seiner Einzigkeit – in La Clemenza di Tito singt er gegen die Gesetze der Opera Seria sogar in Ensembles mit – auch die Gnadenfähigkeit verlor, die ihn mit an Autonomie gewinnenden Untergebenen verbunden hatte.Schaut man sich die Feudalherren im Neoliberalismus an, wirkt das Maß an Autonomie, das sich deren Untertanen seit der französischen Revolution erkämpft haben, im Moment arg geschröpft. In der Kunst dagegen scheint die Entwicklung zu mehr Autonomie des kreativen Subjekts ungebrochen.Die Väter von Claudio Monteverdi (1567-1643) und Georg Friedrich Händel (1685-1759) waren beide Wundärzte. Gehörten die Händels damit zu den hallensischen Honoratioren, musste sich Baldassare Monteverdi erst mühlselig emporarbeiten im Ansehen: vom zwischen Fischfrauen und Gemüsehändlern operierenden Quacksalber auf dem Markt von Mantua zum Medico in einem anderen Stadtteil, dem die Achtung der bürgerlichen Gesellschaft gehörte. Anders als Vater Händel war Monteverdi die Musikbegabung seines Sohnes recht.Hätten die verschwenderisch reichen Herzöge von Mantua ihrem Maestro della musica gezahlt, was ihm zustand, Monteverdi wäre 1613 nie im Leben ins – stadtrepublikanische – Venedig gegangen, um dort die Leitung der weltberühmten Kirchenmusik an San Marco zu übernehmen. Mit Werken wie der Marienvesper hatte er, künstlerisch so autonom wie kaum ein Musiker zuvor und populär wie kein Avantgardist nach ihm, eine Weg weisende Synthese von alter und neuer Musik, Kirchenstil und monodisch angerichteter Weltlichkeit im Gepäck. Sie war wesensgleich mit Monteverdi-Opern wie dem Orfeo oder seinen ob ihrer Neuartigkeit von der musikalischen Scholastik angegifteten Madrigalbüchern. Sigiswald Kuijken gelingt in seiner Neuaufnahme der Eindruck von Unverbrauchtheit; die Musik erscheint bei aller Ordnung und Seelentiefe, virtuos, optimistisch, kraftvoll und farbenfroh bis auf den Tag.Auch da die Analogie zu Händel. Wie kaum ein anderer genoss der die Zuneigung feudaler Herrscher, keiner hat sich ähnlich radikal in die gnadenlose Autonomie des Kapitalismus gestürzt (nach dem Bankrott seines ersten Opernunternehmens 1737 erlitt er einen Schlaganfall). Sein Umgang mit Tradition und Erfindung war frei von Konvention und Mode. Als der Londoner Opernmarkt zusammenbrach, schuf Händel mit Oratorien wie dem Messias eine Alternative, in der Gnadenhimmel und Menschenwelt, Kirche und Theater innovativ zusammenfanden.Händel wusste, was Primadonnen für den Umsatz bedeuteten, ihr Mehrwert war bei ihm auch ästhetisch enorm. Von Christine Schäfers sich alle Gestalten der Seele machtvoll-geschmeidig anverwandelndem Sopran wäre er überwältigt gewesen. Joyce Didonato und vor allen Anne-Sophie von Otter zeigen, dass Mezzosoprane nicht wie Cecilia Bartoli singen müssen, um tief zu beeindrucken.
Stefan Siegert
Wolfgang Amadeus Mozart, Claudio Monteverdi, Georg Friedrich Händel: Alle drei schufen sich Vorteile durch Eigensinn. Der Lauschangriff von Stefan Siegert
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Kultur
2009-05-20T17:05:00+02:00
https://www.freitag.de/autoren/stefan-siegert/autonomie-alter-meister