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Herbst 89 "Die Wendezeit war für mich ein Schock" | Get the Flash Player to see this player. url=datenbank/video/Audioslideshow_Delgado.flv iurl=./resolveuid/42763a45de39acd18bbadd6d22c4fda9 width=560 height=440 loop=false play=false downloadable=false fullscreen=true displayNavigation=true displayDigits=true align=left dispPlaylist=none playlistThumbs=false var s1 = new SWFObject("/editor/plugins/flvPlayer/mediaplayer.swf","single","560","440","7"); s1.addVariable("width","560"); s1.addVariable("height","440"); s1.addVariable("autostart","false"); s1.addVariable("file","datenbank/video/Audioslideshow_Delgado.flv"); s1.addVariable("repeat","false"); s1.addVariable("image","./resolveuid/42763a45de39acd18bbadd6d22c4fda9"); s1.addVariable("showdownload","false"); s1.addVariable("link","datenbank/video/Audioslideshow_Delgado.flv"); s1.addParam("allowfullscreen","true"); s1.addVariable("showdigits","true"); s1.addVariable("shownavigation","true"); s1.addVariable("logo",""); s1.write("player475169"); | Nana Heidhues u.a. | Inés Fuentes Delgado flüchtete 1987 aus Chile in die DDR, wo ihr Vater als Korrespondent arbeitete. Zwei Jahre später schien ihr, die Vergangenheit hole sie ein | [] | Politik | 2009-11-05T05:00:00+01:00 | https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/die-wendezeit-war-fur-mich-ein-schock |
Comic Gemüse wie wir | In Mokis Comic Sumpfland greifen mehrere Geschichten ineinander, die mit scheinbar ganz verschiedenen Bildsprachen arbeiten. Archaische Märchenwälder werden technologisierten Gegenwartsentwürfen gegenübergestellt. Im Sumpfland gibt es Instant-Alraunen und Videochats, Höhlenmalerei und streikende Arbeiter, ein mysteriöser Nebel breitet sich aus. Zusammengehalten werden diese Stränge durch Mokis unverwechselbaren Zeichenstil, hier ganz in Grün. Die 1982 im Sauerland Geborene ist in verschiedenen Feldern aktiv – Malerei, Animationsfilm, Performance. Sie hat in Hamburg Kunst studiert und ist Teil des dortigen Illustratorinnenkollektivs Spring. Manche ihrer Bücher, wie das entrückte How to disappear oder das melancholische Shelter (beide Gingko Press), sind vielmehr Kunst- als Comicbände und so bestens geeignet, dieses ohnehin recht wacklig gebaute Gegensatzpaar zu dekonstruieren.Ich mutiere, also bin ichVon wenigen menschlichen Ausnahmen abgesehen, wird das Sumpfland von doppelköpfigen Riesen bewohnt, von knolligen Rhizomen, einer Menge flauschig-kauziger Tierwesen und aufmüpfiger Pflänzchen. Durch die Welten wabert ein Nebel, der aussieht, als würde er ganze Galaxien enthalten. „Irgendetwas stimmt nicht. Irgendetwas stimmt nicht mit mir“, heißt es ganz am Anfang, und man weiß nicht, wer diese Sätze sagt. Vielleicht könnte es jede der Figuren sein, vielleicht ist es das Sumpfland selbst.All das bedeutet natürlich nicht, das in Sumpfland nicht auch ganz menschliche Probleme behandelt werden. Aldi und Puffi bilden zusammen mit ihren Kindern eine Kleinfamilie mit typischen Kleinfamilien-Problemen. Aldi möchte in Ruhe seine Bücher über soziale Gerechtigkeit lesen, Puffi ist permanent aufgedreht und klebt am Smartphone. Dass Aldi in Menschen- und Puffi in Tiergestalt auftritt, dass ihr Nachwuchs überraschend in einer Kiste bei ihnen angekommen ist und es sich streng genommen nicht um Kinder, sondern um „Flocken“ handelt: geschenkt. Die Schwierigkeiten entstehen nicht aus dem, was sie sind. Sondern aus den Rollenmustern, von denen sie glauben, sie erfüllen zu müssen.Auch wenn sie mit ihrem buschigen Schweif und in ihrer Dauernervosität etwas von einem Eichhörnchen-Avatar hat, erinnert Puffis Erscheinung an das Fuchswesen aus Mokis Vorgängercomic, dem ganz ohne Text auskommenden Wandering Ghost.In der japanischen Mythologie kommen immer wieder Füchsinnen vor, die Kitsune. Sie bandeln mit Menschen an, verlieben sich – und sobald die Männer bemerken, dass sie nicht mit ihresgleichen zusammen sind (was in der Regel länger dauert, als man glauben mag), nehmen sie Reißaus und lassen die menschlichen Angebeteten mitsamt der Nachkommenschaft zurück. Die Episode um Aldi und Puffi ist nicht die einzige Japan-Reminiszenz in Sumpfland: Moki macht in ihren Comics auch leise Anspielungen auf Anime-Filme. Da taucht ganz unvermittelt die ikonische Maske auf, die das geisterhafte Ohngesicht in Hayao Miyazakis Meisterwerk Chihiros Reise ins Zauberland trägt. Wenig überraschend, dass auch die japanische Kunstszene auf Moki aufmerksam wurde. 2019 steht eine Einzelausstellung in Tokio an.Die Erkenntnis, dass die Partnerin anders ist als erhofft, blüht auch Aldi und Puffi. Anders als im Kitsune-Mythos ist in Sumpfland aber immer auch eine Metamorphose als Ausweg aus den Gegebenheiten möglich: Wandlung, Mutation, Fortpflanzung – das sind zentrale Motive des Bandes. Oft sind die Veränderungen bloße Reaktionen auf strukturelle Wachstums- und Fortschrittsgebote. Auch Puffi wird schließlich ein wenig erwachsen, und schmiegt sich ruhig wie nie an den friedliebenden Aldi. Sie hat es mit dem Koffein ruhiger angehen lassen, und Aldi hat von den Flocken neue Ohren bekommen. Sie sehen fast wie Puffis aus. Auch Harmonie kann verstören.Neben der Kleinfamilie beleuchtet Moki noch andere soziale Strukturen. In einer Produktionsstätte werden Ableger hergestellt. „Du darfst dich für unsere Gesellschaft multiplizieren! herzlichen Glückwunsch“, begrüßt ein freundlich lächelndes Tentakelwesen einen neuen Mitarbeiter. Wenn es mal nicht so gut läuft mit den Ablegern, hat der Chef eine Pille parat.Affäre mit einer LandschaftAuf den ersten Bildern wirken die pflanzlichen Arbeiter recht fröhlich, doch irgendwann sieht man ihnen die Ausbeutung an. Eines der „lieben Getüme“, ein doppelköpfiger Riese, haut schließlich einfach ab. „Das hat da draußen eh keine Überlebenschancen“, winken die Kollegen ab. Das stimmt nicht, für ihn beginnt einfach etwas anderes. Stichwort Metamorphose.An einem anderen Schauplatz formieren sich Proteste gegen die Wachstumsdoktrin, der Fabrikchef rennt vergebens mit dem Kescher hinter streikenden Arbeitern her. Ein „Super Organism Rhizomatic Think Tank“ kommt zusammen und macht sich ans Eingemachte. Jemand sagt: „Ja, wir könnten hier kritische Fragen stellen, anstatt die Kindchenschema-Everybody’s-Darling-Crew zu mimen.“ So charmant und, pardon, niedlich wurde wohl schon lang nicht mehr zum Widerstand aufgerufen.Trotzdem entsteht in den stummen und handlungsarmen Episoden die intensivste Atmosphäre. Ganz besonders in der Erzählung von Ocre, einer Menschenfrau, die sich in die Landschaft verliebt und sich ihr hingibt. Eine tief romantische und genauso erotische Liebesbeziehung – Bäume und Pflanzen verästeln sich zu zahllosen Händen, die Ocre berühren, bis hin zu einer radikalen Verschmelzung. Wie Ocre durch ihre Version des Sumpfes traumwandelt und buchstäblich darin eintaucht, ist verstörend schön. Auch hier klingen Mokis bisherige künstlerische Arbeiten an, bei denen man oft nicht genau erkennen kann, wo der Mensch endet und die Natur beginnt.Placeholder infobox-1 | Jana Volkmann | Kann man knuffig sein und trotzdem revolutionär? Moki lässt uns dran glauben | [
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] | Kultur | 2019-06-08T06:00:00+02:00 | https://www.freitag.de/autoren/janav/gemuese-wie-wir |
Beispiel Bremen Sauglatt, aalglatt, platt | Einer der bedrückendsten Tage meiner Kindheit war der erste Schultag nach den Winterferien 1984. Über Weihnachten hatte die AG Weser ihre Werfttore geschlossen. Damals war ich 12 Jahre alt, und fast die Hälfte der Väter aus meiner Klasse war arbeitslos. Dieses arme Bremen hat trotzdem Spaß gemacht. Weil es nie sexy sein wollte, sondern vom Märchen der Stadtmusikanten lebte. Als die Industrie unterging, hat es verschrobenen Kunstvisionären Spielplätze angeboten. Bremen sagte: „Hier lasset euch nieder. Hier sollt ihr frei sein. Hier könnt ihr ohne den Druck von Besucherzahlen, Umwegrentabilität und Refinanzierung eure Kunst machen!“ Kultur war der größte Stolz in der Not. Sie war kantig wie die Stadt, aufregend und roch nach Schweiß. Nur so konnte ein „Bremer Stil“ entstehen.Meine erste nackte Frau, die ich mit acht Jahren in der Kunsthalle gesehen habe, stammt von Lucas Cranach und schlief, meine zweite sah ich bei Johann Kresnik auf der Bühne. Der Dirigent Peter Schneider hat mir als 12-Jähriger den Lohengrin erklärt. 1984 stieß der Urbremer Sven Regener zur Band Neue Liebe, danach gründete er Element of Crime. Ich habe Claus Peymann, Bernhard Minetti, August Everding und Dieter Dorn gesehen. Hochkultur war in Bremen eine erstklassige Subkultur, die erst später – und anderenorts – zum Mainstream geworden ist.Im gallischen Kulturdorf wurde gern debattiert: 1980 hatte Ulrich Kienzle die Nachrichtensendung Buten un Binnen für Radio Bremen entwickelt, die mit ihren Moderatoren Michael Geyer und Jörg Wontorra bissiger war als der Monitor. Ich habe die schrägen Anfänge von Hape Kerkeling erlebt, und mein Traum war es, im Weser-Kurier zu schreiben, einer der damals wenigen national bedeutenden Regionalzeitungen. Die ganz großen Legenden waren bereits gegangen: Loriot, der bei Radio Bremen angefangen hatte, war längst Nationalkomiker, Nikolaus Harnoncourt, der beim gleichen Sender seine ersten Aufnahmen auf historischen Instrumenten hatte einspielen dürfe, setzte seine Arbeit in Wien fort, Kurt Hübner und Peter Zadek waren nach Berlin abgewandert, und auch Bürgermeister Hans Koschnik war schon von Bord gegangen. Aber der Geist der Siebziger wehte in die Achtziger hinüber.Affirmation statt ProvokationVor drei Jahren bin ich in meine alte Heimat zurückgekehrt. Ich freute mich auf die neue Begegnung mit der alten hanseatischen Kulturtante. Aber ich fand nur noch einen abgehalfterten Mythos, der damit beschäftigt war, sich selbst zu verwalten. Die neue Kunstwährung scheint nicht mehr die Provokation, sondern die Affirmation zu sein. Intendanten und Künstler werden nicht mehr engagiert, um infrage zu stellen, sondern um die Stadt mit hübschen Bildern und angenehmen Klängen zu tapezieren. Und es ist nur schwer zu verstehen, wie es zu so einer Situation kommt, die eigentlich keiner will.Es dauerte einige Zeit, bis ich begriffen habe, welches Prinzip dahintersteckt. Es gibt verschiedene Methoden, um an Kultur zu sparen: In den Nullerjahren wurde (gegen zaghaften Protest) in den neuen Bundesländern knallhart fusioniert und gestrichen. In Bremen, Trier oder Sachsen-Anhalt werden derzeit die Kultureinrichtungen lieber finanziell und personalpolitisch in die Bedeutungslosigkeit geführt, um sie am Ende ohne Bürgerprotest abschaffen zu können. Und das Prinzip Bremen ist längst ein nationales Phänomen geworden.Auch in Bremen beginnt ein Fisch am Kopf zu stinken. Am Kopf der Kulturinstitutionen steht in Bremen der Bürgermeister. Der heißt Jens Böhrnsen. Sein größter Erfolg war es, dass er zwischen Köhler und Wulff kurzweilig Bundespräsident spielen durfte. Ein Mann ohne Entscheidungswillen, einer der nicht auffällt, weil er nicht auffallen will. Ein Politbürokrat. Weil Böhrnsen zwar gern in Premieren sitzt, aber ungern Verantwortung für Kürzungen, Schließungen oder Personalentscheidungen tragen will, hat er das Amt der Kulturstaatsrätin geschaffen. Die heißt Carmen Emigholz und ist ursprünglich Rechts- und Politikwissenschaftlerin mit strammer Bremer Parteikarriere. Und so führt sie auch den Bremer Kulturklüngel: Als Netzwerk unter Freunden, in denen das lokale Mittelmaß zur Staatsräson erhoben wird. Seit 2007 betreibt sie im Namen ihres Bürgermeisters eine provinzialisierte Kulturpolitik, deren Ziel nicht die Debatte, die Kritik, das Außerordentliche ist, sondern die Verlässlichkeit. Das Doppelgespann hat Methode: Böhrnsen und Emigholz schieben die Verantwortungen hin und her.Die CDU-Opposition hat keinen fähigen Kulturpolitiker, und Carsten Werner von den mitregierenden Grünen, bettelt auf Facebook um neue Konzepte aus der Bevölkerung. Sein Anliegen ist es, die Off-Szene zu stärken. Dabei ist das Haus, das er einst leitete, die Schwankhalle, selbst personell an die Wand gefahren. Was die Grünen nicht wahrhaben wollen: Eine starke Subkultur entsteht nur im Schatten großer Kultur.Für Emigholz ist Kunst kein gesellschaftliches Korrektiv, sondern Serviceleistung. Sie sagt Dinge wie: „Wir sind gefordert, die Lebenswirklichkeit der Menschen stärker in den Blick zu nehmen“. Damit meint sie nicht die Thematisierung von Armut, gesellschaftlichen Spannungen oder gar revolutionäre Kunstveranstaltungen, sondern das „Afterwork-Angebot der Bremer Philharmoniker“. Emigholz könnte problemlos als Mitautorin des Manifests Der Kulturinfarkt durchgehen. Die Kulturstaatsrätin tut lediglich noch so, als würde sie Spielplätze zur Verfügung stellen, gibt den Schlüssel für ihre Einrichtungen aber nur aus der Hand, wenn sie sicher ist, dass die Kinder keinen Krach und keinen Unsinn machen.EndlosschleifenDas Publikum hat gelernt, dass der 80-Millionen-Kulturetat nicht mehr die Freiheit der Stadtmusikanten fördert, sondern als Investition in Marketing verstanden wird. Bremen zeigt exemplarisch, wie Kultur zu einem Teil der Tourismusindustrie verkommt. Sie ist keine Revolutionspolitik mehr, sondern Repräsentationspolitik. Sie schwitzt nicht mehr, sie trägt Schlips. Charakterköpfe wie in meiner Jugend sucht man in Bremen heute vergebens.Der personelle Abstieg begann mit dem Engagement des windigen Theaterimpresarios Hans-Joachim Frey. Der Putin-Freund und Semper-Opernball-Maestro hat der Bremer Politik mehr Kunst für weniger Geld versprochen. Seine Amtszeit endete in einem Millionenfiasko durch das Musical Marie Antoinette. Seither ist Bremen für ambitionierte Intendanten verbrannt. Inzwischen regiert der Hamburger Kulturwissenschaftler Michael Börgerding das Haus. Ein Intellektueller, der lieber Thesenpapiere entwirft, als die Bühne mit Emotionen zu füllen. Ein Debattentheater ist für ihn ein Haus, das zu Podiumsdiskussionen lädt. Besonders gern mit „Vertretern der Werbewirtschaft und kreativen Designern“. Seither debattiert Börgerding in Endlosschleifen mit den Bremer Inzest-Movern und -Shakern und hat sogar die Chuzpe, für derartiges Nichttheater Hübners altes Logo, den Theaterpfeil, zu reaktivieren. Zu einem kritischen Gespräch über den Publikumsrückgang und das Verschwinden des Theaters aus der Öffentlichkeit mit dem Freitag war er übrigens nicht bereit. Bei all dem vernachlässigt der Intendant die Kernkompetenz seines Hauses. Den Antisemiten Wagner würde er am liebsten gar nicht aufführen. Doch statt das so zu sagen und eine Debatte anzuregen, sucht er Regisseure, die Wagner kaputt machen. Das Marketing ist zur neuen Stadtmusik geworden.Die Bremer Kunsthalle wurde lange und erfolgreich vom etwas schrulligen Wulf Herzogenrath geleitet. Nach einem millionenschweren (zum großen Teil privat finanzierten) Umbau wurde dann Christoph Grunenberg zum neuen Leiter ernannt, der nun brav das Serviceprinzip von Frau Emigholz umsetzt: Spektakelshows, Kinderprogramm und Volksaufklärung. Das Museum Weserburg stand dagegen für Neue Kunst. Sein Direktor, Carsten Ahrens, ist das letzte Opfer der Bremer Kulturpolitik. Er hatte die Vision, ein neues Gebäude zu errichten. Finanziert werden sollte es unter anderem durch Bilderverkäufe, Eigenkapital, Mäzene und dadurch, dass die Stadt nicht mehr Millionen in die Sanierung des Fundaments der alten Weser-Immobilie investieren muss. Ahrens, der spektakuläre Künstler nach Bremen holte und Sammler anzog, wollte perspektivisch eine administrative Einheit mit der Kunsthalle schaffen: die Weserburg als Tate Modern, die Kunsthalle als Tate. Letztlich haben sich die lokalen Künstler, die alt eingesessenen Galeristen, das eigene Personal und die politischen Entscheidungsträger dem Direktor in den Weg gestellt. Böhrnsen und Emigholz haben gern auf den Privatstiftungscharakter der Weserburg verwiesen und ihre Hände in Unschuld gewaschen. Dass sie immer wieder Einfluss auf das Haus genommen, bei Vernissagen Reden gehalten und den Neubau hinausgeschoben haben, verschweigen sie. Es ist offen, wer Ahrens nun nachfolgt. Nationale Kunstdirektoren werden in dieser Gemengelage kaum „hier!“ schreien.Die Liste des kulturellen Abstiegs in Bremen ist lang: Unter Ilona Schmiel war die Glocke ein Konzerthaus mit Strahlkraft – heute ist sie zum Tourzirkuszelt verkommen, das Off-Theater Schwankhalle ist führungslos, das Überleben des Focke-Museums steht ebenso auf der Kippe wie das des Überseemuseums. Erfolgreich sind höchstens Privatinitiativen wie die Kammerphilharmonie Bremen oder das Musikfest Bremen – bei ihnen zeigt sich der Bürgermeister übrigens oft und gern.Stagnation und Inspirationslosigkeit betrifft auch die Bremer Medien: Der Weser-Kurier hat sich eine Radio-Bremen-Journalistin als Chefredakteurin geholt und füllt sein Feuilleton durch freie Schreiber, Lehrer und Hobbyjournalisten. Radio Bremen ist zu einem Nischensender geschrumpft: Die drei Radiosender werden von einem frustrierten Redaktionskollektiv betreut, Buten un Binnen sieht heute aus wie das RTL-Journal, 3 nach 9 plätschert vor sich hin, und der Tatort wird weitgehend vom WDR finanziert. Auch hier wurden alle Grundlagen geschaffen, dass der einstige Querdenkersender, der längst nur noch ein teures Fenster im NDR-Programm ist, perspektivisch verloren geht. Bremen steht stellvertretend für viele andere Städte, in denen die Kultur bis zur Lethargie organisiert wird. Viele Kulturschaffende reiben sich im Kampf mit der Bürokratie auf, ein Großteil des Publikums hat die Lust verloren, die Bedeutungslosigkeit wird schweigend hingenommen. Die Bremer Kulturlandschaft ist schrecklich belanglos und fürchterlich gemütlich geworden. Auf dem Gelände der AG Weser steht heute übrigens das Shoppingparadies „Waterfront“. | Axel Brüggemann | Früher stand die Stadt für kulturelle Erneuerung. Heute ist sie Provinz – warum eigentlich? | [] | Kultur | 2013-06-30T06:00:00+02:00 | https://www.freitag.de/autoren/axel-brueggemann/sauglatt-aalglatt-platt |
Jugendkultur Posing in Posemuckel | In den vergangenen Jahren gab es zahlreiche Buchveröffentlichungen über das hierzulande etwa drei Jahrzehnte währende Subkulturphänomen Punk: angefangen beim autobiografischen Roman von Rocko Schamoni über dicke Monografien bis hin zu mehr oder weniger mondänen Bildbänden über legendäre Szenelokalitäten in Hamburg oder Düsseldorf.Mehr als 50 kurze, sehr persönliche Texte sind jetzt in einem Sammelband mit dem Titel Punk Stories erschienen. Was im ersten Moment wie noch ein Buch mehr zum schon ausreichend durchgekauten Thema aussieht, entpuppt sich bei der Lektüre stellenweise als grandioses Kompendium einer heute missverstandenen Subkultur. Berühmte Autoren wie Michael Wildenhain oder Steffen Kopetzky sind ebenso dabei wie viele unbekannte, aber durch die Bank interessante Stimmen. Die Jahrgänge reichen von den späten Fünfzigern bis in die achtziger Jahre.Zahni wird mit Bier getauftIm Punk zählt die Pose, das ultimative „Nein“. Punk ist die Jugendbewegung, die am radikalsten bürgerliche Werte widerlegt. Heißt es. Nur erzählt der Sammelband Punk Stories davon eigentlich herzlich wenig. Hier geht es nämlich darum, wie sich die Subkultur in die Biografien einzelner Akteure eingeschlichen und eingeschrieben hat. Und das hat immer etwas mit dem jugendlichen Aufbruch zu neuen Ufern zu tun. Da geht es um Partys, auf denen ein Ich-Erzähler mit seinem besten Freund Zahni einen Medizinstudenten mit Bier tauft und Mike Oldfields Shadow on the Wall aus der Musikanlage reißt, um die eigene Hardcore-Punk-Kassette einzulegen.Zwei Provinz-Punks machen sich auf nach Berlin, müssen aber feststellen, dass in der coolen Wagenburg, in der sie wohnen wollen, ein Putzplan aushängt und sie sich einer Art Bewerbungsgespräch unterziehen müssen. Zwei junge, angepunkte Kerle beschließen, sich aus einer morbiden Grundstimmung heraus umzubringen, aber nicht ohne vorher noch bei der angebeteten Kleinstadtschönheit mit dem klangvollen Namen Anja Valeria Fels vorbeizuschauen. Nach dieser Überdosis Romantik bringen sie sich natürlich nicht um. So drastisch sind die Protestposen hier gar nicht und es fehlt ihnen nie an Charme und Ironie. Meist geht es auch einfach ganz banal darum, jugendliche Wünsche und Träume zu formulieren. Und Punks neigen dazu, das, was sie formulieren, recht direkt in Szene zu setzen.Viele dieser pointierten Texte drehen sich um die eigene Verortung im musikalischen Punk-Universum. Dabei kann man durchaus fragen, was Joy Division oder Cure eigentlich mit Punk zu tun haben. Aber puristisch darf man dieses Thema nicht angehen. Die meisten von Punk infizierten Jugendlichen der legendären achtziger Jahre waren weit davon entfernt, dem „perfekten“ Punk-Image zu entsprechen.Egal ob Niederbayern oder am Stadtrand von BochumWas dieser Sammelband außerdem klar macht: Punk ist vor allem auch ein Phänomen der Provinz, egal ob in Niederbayern, in einem österreichischen Bergdorf oder am Stadtrand von Bochum. Der Mythos Berlin wirkt meist aus der Ferne, manchmal ist es auch Hamburg oder sogar London. „Die Überwindung der Provinz in der Provinz“ wird das sehnsüchtige Aufbegehren in einem Text genannt. Dabei ist der Sound jeweils recht unterschiedlich. Manche Storys sind wie schnelle, harte Punknummern, etwa eine Erzählung von einer Hamburger Demo 1988, die von der Polizei platt gemacht wird.Dann ist der Tonfall wieder wie in einem Fun-Punk-Song, wenn hingebungsvoll eine Party zerlegt wird, oder auch düster auf nächtlichen Autofahrten durch irgendein provinzielles Nirgendwo. Oder es wird heftig, wenn ein Ich-Erzähler als Hippie gescholten während eines Black-Flag-Konzerts eins auf die Nase bekommt. Nicht alle Geschichten in diesem „Sampler“ sind gut. Aber auch auf einer guten Punkscheibe sind nicht alle Lieder hörbar. „Stücke, die länger als 2,5 Minuten dauerten, waren gelogen“, heißt es in einer Erzählung. Die Punk Stories sind allesamt kurz genug, um die Geschichte der Punk-Bewegung adäquat auf den Punkt und vor allem auch zum Klingen zu bringen. | Florian Schmid | Charmante Erinnerungen an die Jahre 1977ff: Der Sammelband "Punk Stories" ist ein grandioses Kompendium einer heute missverstandenen Subkultur | [] | Kultur | 2011-04-19T18:55:00+02:00 | https://www.freitag.de/autoren/florian-schmid/posing-in-posemuckel |
Aufruf Aus Sorge um den Frieden | Aus Sorge um den Frieden in der und um die Ukraine haben sich zahlreiche Bürger mit einer Erklärung an Bundesregierung, Parlament und Öffentlichkeit gewandt. "Lassen Sie nicht zu, dass der Kampf um die Ukraine zu einem Stellvertreterkrieg zwischen 'dem Westen' und Russland eskaliert!", heißt es darin. Hundert Jahre nach Beginn des 1. Weltkriegs befinde sich die Welt in einer höchst gefährlichen Lage. Dem unverantwortlichen Kampf um geostrategische Positionen und Einflusssphären müsse Einhalt geboten werden. Wirtschaftssanktionen und andere "Strafmaßnahmen" gegen Russland seien aber ein "untaugliches Mittel zur Deeskalation". Das Vorgehen in der Ukraine-Krise widerspreche zutiefst der 1997 von NATO und Russland unterzeichneten Pariser "Grundakte über Gegenseitige Zusammenarbeit und Sicherheit". Darin hatten sich beide Seiten verpflichtet, "die Spuren der früheren Konfrontation und Konkurrenz zu beseitigen", "ungelöste Gebietsstreitigkeiten, die eine Bedrohung für unser aller Frieden, Wohlstand und Stabilität darstellen" sowie andere "Meinungsverschiedenheiten" auf der Grundlage des "gegenseitigen Respekts im Rahmen politischer Konsultationen" beizulegen. Zahlreiche Maßnahmen der NATO - vom Krieg gegen Serbien 1998 bis zur hemmungslosen Osterweiterung - hätten diesen Respekt vermissen lassen. Der Westen und Russland müssten vielmehr neu darüber nachdenken, wie das Spannungsverhältnis von territorialer Unverletzlichkeit und Selbstbestimmung friedlich zu lösen sei. Die Bundesregierung müsse einen Beitrag zur Deeskalation leisten, indem ihre Politik - auch angesichts der historisch belasteten Beziehungen zu Russland - die Sicherheitsinteressen aller Staaten des "gemeinsamen Hauses Europa" berücksichtigt. Konkret heiße das, die Vereinbarungen der Pariser Grundakte einzuhalten und "rhetorisch abzurüsten", die "Strafmaßnahmen" zu beenden und auf die Einberufung einer europäischen Sicherheitskonferenz zu drängen. Zu den Erstunterzeichner/innen gehören die Schriftsteller Ingo Schulze und Irina Liebmann, der Liedermacher Konstantin Wecker, die Schauspieler Jutta Wachowiak und Rolf Becker, die Rechtswissenschaftler Andreas Fisahn und Norman Paech, der Bundesrichter a.D. Wolfgang Neskovic, die Friedens- und Sozialwissenschaftler Andreas Buro, Christoph Butterwegge und Werner Ruf, sowie die Theologen Friedrich Schorlemmer und Hans Christoph Stoodt. Der vollständige Appell kann hier gelesen und gezeichnet werden. | 100 Autoren | 100 Autoren, Künstler, Wissenschaftler, Juristen, Ärzte, Theologen, Gewerkschafter und Friedensaktivisten wenden sich mit einem Appell an Politik und Öffentlichkeit | [
"USA"
] | Politik | 2014-05-22T15:05:00+02:00 | https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/aus-sorge-um-den-frieden |
Hegelplatz 1 Invisible men | Ein paar Ergänzungen zum Wochenthema. Einige von uns Freitag-Leuten spielen einmal pro Woche Hallenfußball in Berlin-Lichtenberg. Die Mannschaft hat keinen Namen, das Geld wird vor Ort eingetrieben, ein Doodle gewährleistet den Spielbetrieb, altersmäßige oder andere Beschränkungen gibt es nicht. Wir bewegen uns somit auf der untersten Stufe des Amateurfußballs. Über unsereiner gibt es keine Zahlen, man darf aber mit Millionen rechnen. Dazu kommen die 2.292.624 Spielerinnen und Spieler, die in einem vom DFB organisierten Betrieb spielen, weitaus die meisten sind Amateure, nur etwa 1.500 Spieler verdienen mit Fußball ihr Geld. Dennoch ist die Rede allermeistens nur von den Profis, und selbst bei den Profis geht das allergrößte Interesse in die Bundesliga, und da wiederum zieht eine Causa wie der wohl geplatzte Wechsel von Leroy Sané zu den Bayern gefühlt neunzig Prozent der Aufmerksamkeit auf sich. Und auch wir sprechen nach dem Spiel an der Bar über diesen verrückten Transferzirkus oder schauen uns ein Profi-Spiel auf dem Screen an.Wenn nichts anderes kommt, darf es auch die Begegnung FC Vaduz gegen Eintracht Frankfurt in der Euroliga-Qualifikation sein, übertragen von, äh, muss grad nachschauen, gibt ja so viele Anbieter, also: Nitro TV, die wir mit vielen Bemerkungen kommentieren. Gespräche über den Amateurfußball finden nicht statt. „In der FuWo habe ich gelesen, dass sich die Nord-Weddinger mit einem Südtiroler verstärkt haben.“ „Ist ja ein Ding! Wo hat der denn gespielt? „Der Ortler? Beim SV Schludern.“ Ein solcher Dialog wäre in Berlin überall möglich, wo Fußballer zusammensitzen (denn dieser Wechsel hat stattgefunden), ist aber unvorstellbar. Zu befürchten ist, dass er noch nicht einmal bei den Spielern von Nord-Wedding groß ein Thema ist. Es interessiert nur „big business“, und das gilt sogar für ansonsten kapitalismuskritische Menschen. Es ist, als würden Hunderttausende Schriftsteller Bücher schreiben, die keiner liest, noch nicht einmal sie selbst, weil sie in ihrer Freizeit doch lieber HBO-Serien gucken.Na ja, ganz stimmt es nicht. Ich verfolge die Spiele der SG Nordring. Sie spielt in der Kreisliga B, und klar, ich gehe da auch hin, weil ihre Heimstätte um die Ecke ist. Aber ich genieße diese Spiele, bin immer wieder erstaunt, wie man auch auf diesem Niveau kühne Dribblings oder schöne Flanken bewundern kann, manchmal ist mein Sohn dabei, dann kann ich mich austauschen, sonst ist es ein stiller Genuss, aber ich bilde mir ein, dass ich nicht alleine bin. Wir sind wie Wolfgang-Petry-Fans, keiner spricht über uns, keiner schreibt über uns, aber wir sind so viele, dass wir in der Lage wären, das maßlos gewordene Megabusiness einzudämmen. Im Prinzip jedenfalls. | Michael Angele | Wir Kreisliga-Fans sind die übersehene Macht im Land | [] | Kultur | 2019-08-18T06:00:00+02:00 | https://www.freitag.de/autoren/michael-angele/invisible-men |
Hungerhaken Ganz schön dünn | Aktivisten gegen Essstörungen haben Schaufensterpuppen-Hersteller dafür kritisiert, super-dünne männliche Modelle gebaut zu haben, die labile Männer dazu verleiten könnten, sich – wie bei Frauen schon geschehen – zu Tode zu hungern. Kommenden Monat wird die britische Firma Rootstein ihre Young-and-Restless-Kollektion vorstellen, zu der eine Schaufensterpuppe mit einem Brustumfang von 35 Inch und einer Taille von 27 Inch gehört – 11 Inch weniger als der durchschnittliche britische Mann.Das Unternehmen sagt, die Puppen seien nach dem Vorbild von Teenagern entworfen worden, die nicht an Essstörungen litten, aber hervorragend geeignet dafür seien, die hautengen Skinny-Jeans und andere schmale Schnitte zu präsentieren, die durch Stars wie Russell Brand beliebt geworden sind. Der gemeinnützigen Organisation B-eat zufolge, die sich um Menschen mit Essstörungen kümmert, leiden immer mehr Männer an Anorexie und Bulemie.Männer sind genauso unsicher wie FrauenDie Puppen vermittelten ein unrealistisches Bild, sagte ein Beat-Sprecher: „Immer mehr Männer kommen mit Essstörungen zu uns, die sie entwickeln, weil sie versuchen, ein bestimmtes Körpermaß und eine bestimmte Figur zu erlangen. Männer haben heute mit den gleichen Unsicherheiten in Bezug auf ihre Körper zu kämpfen wie Frauen. Unrealistische Bilder – wie eben diese Puppen – kommen in der Modewelt und den Medien immer noch sehr häufig vor und der Druck, der durch sie erzeugt wird, kann bei jungen und verletzlichen Menschen zu einem niedrigen Selbstvertrauen führen.“Kevin Arpino, Creative Director bei Rootstein, der die Young-and-Restless-Reihe entworfen hat, wies jedoch die Vorstellung zurück, seine Puppen könnten Essstörungen Vorschub leisten. „Es handelt sich um eine Kollektion, die sich an den herrschenden Modetrends für Skinny Jeans und sehr enge Schnitte ausrichtet, wie man sie bei allen Firmen von Topman bis Gucci und in trendigeren Magazinen wie Número sehen kann. Keiner der Jungen, die wir als Modelle benutzt haben, war auch nur im entferntesten magersüchtig. Das waren ganz normale Teenager – der älteste war, glaube ich, 20. Es handelt sich um einen Trend, den man bei Rockstars und anderen Prominenten beobachten kann: Russell Brand ist da nicht ganz unschuldig. Aber ich bin mir sicher, dass auch die Zeit für muskulösere Typen wieder kommen wird.“Keine Jeans für muskulöse MännerIn der vergangenen Saison, so Arpino, seien die Maße noch größer gewesen, 38 Inch Brustumfang und 30 Inch Taille, doch die Nachfrage nach dünneren Modellen steige zunehmend. Dov Charney, Geschäftsführer der Jugendmode-Marke American Apparel, sagt, es sei zunächst äußerst schwierig gewesen, Schaufensterpuppen zu finden, denen die Kleidung seiner Marke gepasst hätten. „All die Puppen da draußen sind Muskelpakete, denen nicht einmal unsere größten Größen passen“, zitiert ihn das New York Magazine. | Helen Pidd | Nach den Magermodels jetzt die Magerpuppen: In Großbritannien gibt es Streit um dürre männliche Schaufensterpuppen. Verleiten sie junge Männer dazu, sich totzuhungern? | [] | Kultur | 2010-05-06T17:07:00+02:00 | https://www.freitag.de/autoren/the-guardian/ganz-schon-dunn |
Chronik Wagenknecht, Steinbrück & das Kondomverbot | ./resolveuid/7dcb036d26bfeebcaa4eeaf38b60d808VerhütungGefährlicher PapstKurz nach der Deutschlandreise von Benedikt XVI., an deren Rande Tausende unter anderem gegen das Kondomverbot der Katholischen Kirche protestierten, illustriert eine neue Studie, woran die päpstliche Weltabgewandheit mitschuldig ist: Die Zahl der
Jugendlichen, die ungeschützten Sex
haben, ist weltweit alarmierend hoch. In Europa nutzen mehr als 40 Prozent der Teenager keine Kondome, in Entwicklungsländern sind es bisweilen weit mehr als die Hälfte. Angesichts der gesundheitlichen und sozialen
Risiken fordert die Stiftung Weltbevölkerung dringend „bessere Aufklärung“. Die wird es indes weiter schwer haben, solange die Propagandareisen des Papstes nicht verhütet werden. TS./resolveuid/0b85d7e86ca2f34c8ed7f632ea336e87LinkeKeine PersonaldebatteDie Linke hält es wie andere Parteien auch: Wenn es Probleme gibt, wird übers Personal gestritten, was alle „nicht hilfreich“ finden – um dann die Debatte erst so richtig zu führen. Oder eine neue aufzumachen: Neben die Frage, ob das Duo Lötzsch/Ernst glückliche Hand beweist, ist nun die nach einer möglichen Kandidatur Sahra
Wagenknechts für die Spitze der
Fraktion getreten. Während ein Teil der Partei die Personalie wohl auch wegen ihrer Sprengkraft heftig bewirbt, halten andere sie für das völlig falsche Signal und drohen mit Konsequenzen. Die Abstimmung ist erst einmal verschoben worden: auf die Zeit nach dem Programmparteitag, einer anderen der vielen Baustellen der Linken. TS./resolveuid/f96b20360071e026079449e347b42f5dFriedensnobelpreisträgerinBeharrlichFür sie war Umweltschutz eine Last – die Last zu handeln. „Wir dürfen nicht müde werden, wir dürfen nicht aufgeben, wir müssen beharrlich weitermachen“, sagte Wangari Maathai, als sie 2004 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet wurde. Das Bekenntnis der Frau, die den Preis als erste Afrikanerin zugesprochen bekam, die über Jahrzehnte mit ihrer Grüngürtel-
Bewegung in Nairobi für die Pflanzung von Millionen Bäumen stritt und 2002 gegen alle Widerstände mit der National Rainbow Coalition ins kenianische Parlament einzog und stell-vertretende Umweltministerin wurde,
ist auch ihr Vermächtnis. Im Alter
von 71 Jahren ist Wangari Maathai an Krebs gestorben. TT./resolveuid/9645af4c36d8960e08a451e64cf839a5TodesstrafeZwingende ZweifelAuf den Supreme Court als letzte Instanz hoffte Troy Davis vergeblich, die Demonstranten vor dem Staatsgefängnis von Jackson marschierten umsonst. Nach 20 Jahren in der Todeszelle tötete eine staatlich verordnete Giftspritze den 42-Jährigen, der wegen Mordes an einem Polizisten 1989
verurteilt war. Amnesty International spricht von Versagen der Justiz, die EU bedauert die Hinrichtung angesichts der „ernsten und zwingenden Zweifel“ an der Schuld des Mannes. Er war
auf Grundlage von Aussagen verurteilt worden, die nach Angaben einiger Zeugen unter Druck der Polizei entstanden. Einige wurden später widerrufen. Eine Tatwaffe oder physische Beweise wurden nicht gefunden. TT./resolveuid/40430c39fca169dce9c59b6606e5a7fdSPDKeine LiebesheiratPeer Steinbrück, der Mann neben Angela Merkel in der großen Koalition, hat sich klar für Rot-Grün ausgesprochen. Die SPD wolle „nach der Zerrüttung der Liebesheirat von CDU/CSU und FDP“ nicht „den Ersatzmann“ spielen. Das Signal soll die eigene Partei besänftigen, in der viele mit Argwohn verfolgen, dass der Ex-Finanzminister Kanzlerkandidat werden könnte. Gegen Steinbrück macht die SPD-Linke inzwischen Front: Er verachte die Partei, heißt es, seine Nominierung würde die SPD „tief spalten“. Sollten die Fürsprecher Steinbrücks, die umgehend das Terrain verteidigten, trotzdem erfolgreich sein, droht der Sozialdemokratie schwarz-gelbes Schicksal: die Zerrüttung. TS(Alle Fotos: AFP/ Getty Images) | Freitag-Redaktion | Nicht alles, was diese Woche unter dem Teppich landete, gehört dorthin: 5 weitere Themen der Woche in aller Kürze analysiert | [
"Sozialdemokratische Partei Deutschlands",
"Peer Steinbrück",
"Wangari Maathai"
] | Politik | 2011-09-28T14:45:00+02:00 | https://www.freitag.de/autoren/freitag-redaktion/wagenknecht-steinbruck-das-kondomverbot |
Reizgas "Pfeffi hält die Straßen rein" | „Sozialdemokrat? Für den breit aufgestellten Staat!“, ruft einer der Gegendemonstranten und streckt vorbeigehenden Passanten ein Tablett mit grün gefüllten Schnapsgläsern aus Plastik entgegen. „Pfeffi hält die Straßen rein“, sagt er. Aber die meisten lehnen den Minzlikör ab, auch die grimmig dreinblickenden Einsatzpolizisten. Es ist ja auch erst halb neun, an diesem nasskalten Samstagmorgen. Und die Gegendemonstranten sind nur da, weil auch die Polizei da ist.Die Gewerkschaft der Polizei (GdP) wirbt vor dem Estrel Convention Center in Berlin für den Einsatz von Pfefferspray. Anlässlich des SPD-Landesparteitages, der hier an diesem Tag stattfindet, verteilen ein paar Gewerkschafter an die Deligierten Handzettel mit Informationen zu Reizgas. Denn auf dem Parteitag soll auch über einen Antrag der Berliner Jusos gesprochen werden. Dieser fordert, „den Einsatz von Pfefferspray durch die Berliner Polizei in Zukunft grundsätzlich zu verbieten“.Die GdP ist anderer Meinung. „Pfefferspray ist eine sanfte Möglichkeit Widerstand zu brechen", sagt einer der Gewerkschafter. "Die Wirkung hält nur zehn bis dreißig Minuten an. Wenn ich jemandem das Jochbein breche, hat der deutlich länger was davon.“ Bei größeren Menschenmengen müsse der Einsatz von Reizgas mehrfach angekündigt werden, so fordere es das Gesetz. "Demonstranten haben nach diesen Ansagen immer noch die Möglichkeit sich zu entfernen“, erklärt er.Es gehe darum, Konflikte nicht eskalieren zu lassen. „Früher hat man gesagt: Gut, du gehst halt ran an denjenigen, und haust ihm, lapidar gesagt, auf die Schnauze. Da ist Pfefferspray doch das geringere Übel.“ Sein bestes SchmerzgesichtAber nicht nur Handzettel, sondern auch eine kleine Theaterszene an der Straßenecke zeigt, wie nützlich Pfefferspray für den Polizeialltag sein kann. Ein betrunkener Ehemann schreit seine entsetzte Frau an. Die Vodkaflasche fliegt über die Straße, genau wie der Tisch von Ikea. Dann will er sie mit der Faust ins Gesicht schlagen. Die Frau ist schockiert, doch stürmen im gleichen Moment Polizisten durch die imaginäre Tür und stellen den gewalttätigen Ehemann.Obwohl nur mit weißen Styroporschlagstöcken, Plastikpistole und Pfefferspray ohne Pfeffer bewaffnet, sieht das Schauspiel gefährlich aus. Gerade will einer der Beamten seine Plastik-Dienstwaffe ziehen, da gelingt es seinem Kollegen mit einem schnell gezogenen Requisitenpfefferspray, das inszenierte Ehedrama zu entschärfen. Der Ehemann spielt sein bestes Schmerzgesicht, fällt auf die Knie, wird gefesselt und schließlich abgeführt.Nach jeder dieser Darstellungen versucht ein Gewerkschafter per Megafon die Forderungen der GdP zu erklären, was ihm kaum gelingt. Er wird von zwei Dutzend Gegendemonstranten übertönt. Sie rufen: „Pfeffer ins Gesicht, ob friedlich oder nicht“, und immer wenn der gespielte Ehemann vor gespieltem Pfefferschmerz das Gesicht verzieht, brüllen die Demonstranten: „Nachwürzen!“Schauspiel im SchauspielZwischen Gewerkschaftern und Gegendemonstranten steht eine Reihe aus echten Beamten der Einsatzpolizei, mit echten Schlagstöcken und echtem Pfefferspray. Beide Seiten scheinen diese Trennung zu akzeptieren und gehen ihren Anliegen nach. Nur die Pressefotografen suchen immer neue Perspektiven. Vereinzelte Ausreißer der Gegendemonstranten werden von den Beamten freundlich aber bestimmt wieder zurück zu den ihren begleitet.Ein bisschen abseits, und mit weniger Aufmerksamkeit der anwesenden Medienvertreter bedacht, steht noch eine Gruppe der Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft Ver.di, die einen Tarifvertrag für Musikschullehrer fordert. Die Pfefferspraydemonstranten haben der Gruppe offensichtlich die Show gestohlen.So geht das bunte Treiben, bis der Nieselregen wieder einsetzt und die allgemeine Lust an der Sache abkühlt. Die ersten Fotografen gehen und die Rufe der Gegendemonstranten werden leiser, einige machen sich schon auf den Heimweg.Kein Heimweg ohne AnzeigeAnscheinend in die falsche Richtung. Sechs Polizisten überwältigen einen der Gegendemonstranten, der sich offenbar zu weit von der symbolischen Trennlinie entfernt hatte. Ihm werden die Arme auf den Rücken gedreht, schon liegt er auf dem Asphalt, umringt von Polizisten. Er bewegt sich gar nicht. Die Ver.di-Gewerkschafter sprechen von einem Faustschlag ins Gesicht, sind empört und rufen, der Demonstrant habe sich nicht gewehrt. Da ist er auch schon im grünen Gruppentransporter verschwunden.Auch die kleine Gruppe von Gegendemonstranten wird von Polizisten in schwerer Montur eingekreist, während auf der anderen Straßenseite zwei weitere Gegendemonstranten in Gewahrsam genommen werden. „Wir wurden nicht vorgewarnt, dass so etwas passieren könnte", sagt einer von ihnen. "Uns wurde gesagt, wir sollten auf diesem Teil des Weges bleiben, was wir auch getan haben. Als ich gehen wollte, rannten Beamte hinter mir her und haben mich im Sicherheitsgriff zurückgebracht.“Pfefferspray – das geringere ÜbelPersonalien werden aufgenommen. Seitens der Polizei heißt es, gegen die Demonstranten werde Anzeige wegen Störung einer Veranstaltung erstattet. Die Kundgebung der Gewerkschaft war für den Zeitraum von 8:30 Uhr bis 9:15 Uhr angemeldet. Jetzt ist es 10 Uhr, die Gegendemonstranten hatten ihre Aktion vorher nicht angekündigt.Ein Einsatzpolizist sagt, dieses Ende sei von Anfang an absehbar gewesen. „Wir konnten erst so spät eingreifen, weil wir noch auf Verstärkung warten mussten.“ Die Demonstranten hätte man davon in Kenntnis setzen müssen, räumt er ein. Doch an eine solche Vorwarnung kann sich keiner der Anwesenden erinnern. Zudem erscheint vielen Gegendemonstraten die Reaktion der Polizei völlig unverhältnismäßig. „Alle sind friedlich gewesen“, sagt ein Teilnehmer, „dann wurde ohne Vorwarnung hart durchgegriffen. Keiner konnte gehen.“Einige der Gegendemonstranten haben sich inzwischen auf den Boden gesetzt. Sie warten. Die Polizisten warten auch, doch die Personalien können nur langsam aufgenommen werden. Ein Passant schüttelt den Kopf und fragt noch im Vorbeigehen: „War das denn nun nötig?“ Immerhin ist das echte Reizgas an diesem Morgen nicht mehr zum Einsatz gekommen. | David Kappenberg | Die Gewerkschaft der Polizei protestiert in Berlin für den Einsatz von Pfefferspray. Doch die Demo-Polizisten sind nicht allein auf der Straße, auch Linke sind gekommen | [
"verbote",
"pfefferspray",
"inland"
] | Politik | 2013-05-26T11:14:48.011474+02:00 | https://www.freitag.de/autoren/david-kappenberg/pfeffi-haelt-die-strassen-rein |
Warum die Drohnen-Attacke auf russische Bomber Kriegsführung für immer ändert | Während auf den Schlachtfeldern im Osten der Ukraine die Lage für Kiew mehr als schwierig ist, gelang ihrem Geheimdienst eine der erfolgreichsten Operationen seiner Geschichte. Innerhalb weniger Stunden attackierten über hundert Drohnen mehrere Bomber der strategischen Luftflotte quer durch Russland. Fast zeitgleich wurden die Bilder ins weltweite Netz gestreamt. Man sah explodierende Maschinen, die in ihren Militärbasen wie an einem Schießstand wehrlos zusammengeschossen wurden. Das Geschehen markierte einen schwarzen Tag für die russische Luftwaffe: Noch nie erlitt sie einen höheren Sofortverlust – und dies wohlgemerkt weit im Landesinneren. Ukrainische Agenten mieteten russische Truck-Fahrer, die von einem normalen Containertransport ausgingenPlanung und Ablauf der Aktion taugen zum Lehrstück für Geheimdienstarbeit im gegnerischen Hinterland. In einer über Mittelsmänner angemieteten Werkhalle in Tscheljabinsk mitten in Russland wurden Spezialcontainer vorbereitet, die von außen wie eine gewöhnliche Lkw-Fracht aussahen, im Inneren jedoch Dutzende Drohnen, dazu Funkgeräte und Aufladeapparaturen enthielten sowie über ausfahrbare Dächer verfügten. Agenten mieteten unwissende russische Truck-Fahrer an, die davon ausgingen, profane Standardcontainer zu befördern. Sie fuhren die nach außen hin unscheinbare Ladung am Tag vor den in Istanbul anberaumten Friedensverhandlungen zu ihnen übermittelten Adressen. Einmal handelt es sich um eine Tankstelle, ein anderes Mal um einen Parkplatz vor einem Restaurant. Die Adressen lagen Hunderte bis Tausende Kilometer voneinander entfernt in den Gebieten Murmansk, Irkutsk, Iwanowo, Rjasan und Amur. Nur eines hatten sie gemeinsam – sie lagen alle nur wenige Kilometer von wichtigen russischen Militärflughäfen entfernt. Auf Signal schoben sich zur Stunde X die Container-Dächer zur Seite, die Drohnen starteten im halb-automatischen Modus in die Luft, wurden im Flug von menschlichen „Operators“ zur Steuerung übernommen und schließlich in die parkenden Maschinen gelenkt. Der Vorwurf lautet, man habe sich allein auf die geografische Entfernung zum Kriegsgebiet als Schutzfaktor verlassen Der anfängliche Schockeffekt für die russische Armee war enorm. Durch Satellitenbilder wurde der Sofortverlust von rund zehn Maschinen der Typen Tu-95MS, Tu-22M und An-12 bestätigt. Zwar lag dies am Ende bei Weitem nicht so hoch wie es Wolodymyr Selenskyj in seiner „Siegesrede“ bekanntgab oder der ukrainische Generalstab mit KI-generierten Bildern suggerierte. Doch das änderte wenig daran, dass es die schmerzhafteste und folgenreichste Attacke in den Tiefen Russlands während der modernen russischen Militärgeschichte gegeben hatte. Dies schlug hohe Wellen in der gesamten Kriegsdebatte und führte zu heftigster Kritik an der gesamten Generalität. Warum die Verantwortlichen es auch im vierten Kriegsjahr nicht für nötig befunden haben, strategische Stützpunkte zu sichern, wurde zu einer notorischen Frage, verbunden mit dem Aufruf, dass jetzt Rücktritte quer durch den gesamten Führungsapparat der Luftwaffe fällig sein. Die Vorwürfe lauteten auf Inkompetenz und kriminelle Arroganz. Man habe sich allein auf die geografische Entfernung zum Kriegsgebiet als Schutzfaktor verlassen – und das, obwohl der gegnerische Geheimdienst nun schon zu einigen Operationen in Russland ausgeholt hat. Zu einer besonders bitteren und fast schon kuriosen Pointe wurden die auf den Tragflächen der strategischen Bomber ausgelegten Autoreifen. „Was soll man schon von Menschen erwarten, die als Sicherheitsmaßnahme die Flugzeuge mit Autoreifen bedecken oder Flugzeuge auf Asphalt malen, um westliche Aufklärungssatelliten zu verwirren?“, teilte eines der auflagenstärksten russischen Portale gegen die Armeeführung aus. Ein anderer postete: Die Asphaltbilder wurden eventuell nicht gut genug gemalt, um Drohnen abzuwehren. Trotz des Schocks in den ersten Stunden ist es umso bemerkenswerter, dass danach weitgehend nichts als Sofortreaktion passierte. Obwohl der Fall eines Angriffes auf strategische Bomber in der russischen Nukleardoktrin explizit als unmittelbarer Angriff auf Zweitschlagkapazitäten definiert wird und einen atomaren Vergeltungsschlag als eine der Optionen unmissverständlich benennt, blieben solch radikale Stimmen absolute Einzelfälle. Der im Westen beliebte Vergleich vom „russischen Pearl Harbour“ und dem daraufhin drohenden „ukrainischen Nagasaki“ blieb in Russland ebenfalls die absolute Ausnahme. Der Kreml bemühte sich im Vorfeld der Verhandlungen mit der Ukraine gar um ein fast schon lässiges Bild nach dem Motto „business as usual“. Der russische Chef-Unterhändler Wladimir Medinskij erklärte nur wenige Stunden nach dem Angriff, er reise „in guter Laune nach Istanbul“. Kein zerstörter Bomber werde der Ukraine „auch nur einen Meter ihres Territoriums zurückbringen“Einer der Gründe für die schon fast verdächtige Lockerheit dürfte sein, dass Moskau eine Torpedierung der Verhandlungen nicht wollte. Ein anderer, dass die Gesamtlage im Krieg durch diesen Coup unverändert bleibt. Russische Verbände rücken weiter vor. Der Geheimdienst-Coup stoppt weder die russischen Offensiven noch hilft er, erschöpfte Soldaten an vorderster Linie mit Nachschub zu versorgen oder zu verstärken. Für die Logik in der russischen Kriegsdebatte fasste es der Kanal „Fighterbomber“ treffend so zusammen: „Kilometer sind die einzige Währung dieses Krieges“. Kein einziger zerstörter Bomber werde der Ukraine „auch nur einen Meter ihres Territoriums zurückbringen“. Solange die Bodentruppen westwärts vorrücken, sei man bereit, diese und noch größere Verluste – wenn es sein müsse – hinzunehmen, so „Fighterbomber“. Der ukrainische Coup ist somit ein äußerst vielschichtiges, man könnte auch sagen ambivalentes Ereignis. Es wird einerseits in die Geschichte als „schwarzer Tag der russischen Luftwaffe“ eingehen, andererseits für die Bodenkämpfe im Ukraine-Krieg nichts ändern und den Frieden nicht näherbringen. Im Weltmaßstab zementiert der Angriff den Aufstieg der Drohnen-Waffe als Militärfaktor von strategischer Dimension. Mit 500 Dollar teuren Fluggeräten lassen sich strategische Potenziale dezimieren, so das nicht übertriebene Fazit vom 1. Juni. Gleichzeitig öffnet der Angriff die Büchse der Pandora bei der asymmetrischen Kriegsführung und bei asymmetrischen Risikoszenarien. Mit minimalem Finanzaufwand wurde ein Paradebeispiel geliefert, wie es funktioniert, wenn paramilitärische Akteure sich derartiger Methoden bedienen. Das wird noch mehr Nachahmer finden als bisher – seien es die Huthi im Jemen, muslimische Milizionäre im Nahen Osten oder Terrorzellen in Europa. Jeder unscheinbare Container – auf einem Lkw, einem Schiff oder Zug oder auf einem Parkplatz – kann Kamikaze-Drohnen an Bord haben. Man hat es mit einer neuen Bedrohungslage zu tun, die mit konventionellen Mitteln kaum abzuwehren ist und beinahe grenzenlose Varianten von asymmetrischen Angriffen auf sensible Ziele bietet. | Nikita Gerasimov | Der 1. Juni hat mit der Drohnen-Attacke auf russische strategische Bomber die Welt verändert – zumindest die von Geheimdienstoperationen und einer asymmetrischen Kriegsführung. Das gilt für den Ukraine-Krieg wie für Konflikte in Nahost | [
"Russische Luftstreitkräfte",
"Drohne",
"Russisch-Ukrainischer Krieg"
] | Politik | 2025-06-04T15:45:00+02:00 | https://www.freitag.de/autoren/nikita-gerasimov/es-brodelt-bei-russischen-kriegsbeobachtern-nach-dem-angriff-am-1-juni |
Griechenland-Krise Ein schwarzer Tag für Europa | Als letzten Sonntag die Staats- und Regierungschefs der Eurozone über die Zukunft Griechenlands berieten, und erste Details der Bedingungen, die Athen für ein drittes Hilfsprogramm erfüllen sollte, bekannt wurden, ging ein Aufschrei durch die Netzwelt. Nutzer des Kurznachrichendienstes Twitter kreierten den Hashtag #ThisIsACoup, zu Deutsch: "Das ist ein Putsch", um ihrem Unmut über die Verhandlungstaktik der Eurogruppe Ausdruck zu verleihen.Seitdem wurde das Hashtag über 400.000 Mal benutzt. Auf der ganzen Welt, das zeigen Karten mit der Verteilung der Hashtags, beobachteten die Menschen fassungslos, was in Brüssel vor sich ging: Schäuble und der Eurogruppe schien es nicht um einen nachhaltigen Kompromiss zu gehen, um eine Verhandlung auf Augenhöhe – sondern vielmehr um die totale Unterwerfung Griechenlands.Die griechische Regierung sollte gedemütigt werdenDer vierseitige Forderungskatalog, mit dem die Euro-Finanzminister die griechische Seite konfrontieren, ist nicht konzipiert, die griechische Wirtschaft wieder auf die Beine zu stellen. Stattdessen handelt es sich bei den Bedingungen, die Athen erfüllen soll, um eine wahre Vendetta der Gläubiger. Weitere Jahre der Austerität werden den Griechen als Kollektivstrafe aufgezwungen, weil sie es wagten, das neoliberale Spardiktat in Frage zu stellen. Nicht ohne Grund nannte Spiegel Online die Gläubiger-Bedingungen (die Griechenland größtenteils übernehmen musste) "Grausamkeiten".Da ist die Mehrwertsteuererhöhung, die der Haupteinnahmequelle der Hellenen – dem Tourismus – stark zusetzen wird. Da sind die Rentenkürzungen, die besonders furchtbare Auswirkungen haben werden, weil die Rente der Alten in vielen griechischen Familien das einzige verbliebene regelmäßige Einkommen ist. Des Weiteren soll der griechische Arbeitsmarkt langfristig kapitalismusfähiger gemacht werden: Schwächung der Gewerkschaften, einfachere Kündigungen. Ein Fonds soll geschaffen werden, in dem die Privatisierung griechischen Staatseigentums die Summe von 50 Milliarden Euro generieren soll. Dieser Fonds wird von den Gläubiger-Institutionen überwacht und bedeutet, wie Zeit-Chefredakteur Josef Joffe im Guardian schrieb, eine Art Besatzungsmacht.Nicht zuletzt sollen die verhassten Technokraten der Troika wieder nach Athen eingeflogen werden: die Vertreter von EU-Kommission, Internationalem Währungsfonds und Europäischer Zentralbank müssen jedem relevanten Gesetzesvorschlag zustimmen, bevor er überhaupt ins Athener Parlament darf. Nicht gewählte Beamte, die hinter verschlossenen Türen arbeiten, haben in diesem Europa Vorrang vor einem nationalen Parlament.Die Sparmaßnahmen werden die Krise in Griechenland verschärfenDiese Maßnahmen, von denen einige binnen weniger Tage durchgeführt werden sollen, werden die Talfahrt der griechischen Wirtschaft zweifellos verlängern. Das Prinzip der fiskalischen Austerität ist schon lange als kontraproduktiv widerlegt worden. Griechenland, sagen die Ökonomen, braucht einen Schuldenschnitt – selbst der IWF hat das eingesehen. Doch in Schäubles Welt ist ein Schuldenschnitt nicht vorgesehen. Für ihn und die anderen Hardliner in der Eurogruppe geht es um Moral.Der Narrativ der deutschen Politik zur Wirtschaftskrise nämlich besagt, dass die Südeuropäer über ihre Verhältnisse gelebt hätten und nun den gerechten Preis – fiskalische Austerität – bezahlen müssen. Demnach würde also Gnade mit Hellas in Form eines haircut die anderen Krisenstaaten in Versuchung führen, die Spardoktrin anzuzweifeln.An Griechenland wird auf grausame Weise ein Exempel statuiertDie harschen Konditionen für Athen sollen auch dazu dienen, das Wahlvolk in anderen von Sparprogrammen geplagten Ländern auf Linie zu halten. Spanien wählt dieses Jahr und ein Erfolg der linksalternativen Partei Podemos käme den Gläubigern äußerst ungelegen.Deswegen haben die Institutionen auch eine ganze Reihe von schmutzigen Tricks benutzt, um Syriza aus dem Amt zu jagen. In den Tagen, bevor Tsipras notgedrungen das Referendum aufrief, hatten sie Griechenland auflaufen lassen. Eiskalt waren auch die größten Zugeständnisse Athens als unzureichend abgeschmettert worden. Die Gläubiger forderten Dinge von der griechischen Regierung, die Syriza wahrscheinlich die politische Glaubwürdigkeit gekostet hätten. Die EZB weigerte sich indes, das Limit für die Notfinanzierung der griechischen Banken anzuheben und verursachte so den cash squeeze, der zur Schließung der Banken führte. IWF-Boss Lagarde erklärte, der griechischen Staat sei "im Zahlungsrückstand", direkt nachdem Athen die Rückzahlung einer Rate verpasst hatte – obwohl sie Griechenland vor diesem Schritt eine Gnadenfrist von vier Wochen hätte zugestehen können. Und nach dem lauten Nein der Griechen?Wir brauchen ein anderes EuropaBei den Verhandlungen letztes Wochenende war die griechische Delegation zu weitreichenden Zugeständnissen bereit, als Wolfgang Schäuble unerwartet mit neuen Forderungen ankam – einem Grexit auf Zeit und der Übertragung griechischen Staatsbesitzes in einen ausländischen Treuhandfonds. Obwohl der Zeit-Grexit schnell vom Tisch war und der Fonds abgemildert wurde, muss man nach dem Sinn dieser Strategie fragen. Sie wirkt wie ein Racheakt an Athen. Die Griechen waren im Büßerhemd in Brüssel erscheinen, doch statt Vergebung und Güte reagierten die Gläubiger mit dem vielseitigen Eurogruppen-Memo vom Sonntag, das einer finanzpolitischen Kriegserklärung ähnelt.Alexis Tsipras hatte keine Wahl. Um sein Land vor dem totalen Kollaps zu bewahren, unterschrieb er den faulen Deal. Die Demütigung Griechenlands sollte uns alle beschämen. Wir brauchen ein anderes Europa. Eines, das sich um die Menschen kümmert; das nicht nur den Finanzeliten nützt, das Flüchtlingen eine Chance bietet, das gerecht und solidarisch ist. Ein solches Europa aber ist am vergangenen Wochenende noch weiter in die Ferne gerückt. | David Antonio Ztr | Warum die Demütigung Griechenlands uns allen schadet | [
"Europäische Zentralbank",
"Wolfgang Schäuble",
"Alexis Tsipras",
"europa",
"Synaspismos Rizospastikis Aristeras",
"Internationaler Währungsfonds"
] | Politik | 2015-07-14T22:14:00+02:00 | https://www.freitag.de/autoren/daztr/ein-schwarzer-tag-fuer-europa |
Schwans Kandidatur Im falschen Rennen | Natürlich musste die SPD einen Kandidaten aufstellen. Das neue System aus fünf Parteien zwingt alle mehr als zuvor, bei jeder Gelegenheit die eigenen Optionen zu mehren. Und diese Gegen-Kandidatur von Gesine Schwan bringt der SPD, das zeigen bereits die ersten Tage nach der Entscheidung, Bewegungsspielräume. Dass die Gegner drohen und den Vorgang nutzen, um früher als geplant ihren Lager-Wahlkampf einzuläuten, das ist ebenso nahe liegend wie unerheblich. Politiker von Union und FDP, Leitartikler von Zeit und FAZ versuchen mit hohem Rede- und Zeilenaufwand, das politisch und moralisch Verwerfliche an dieser Tat dem Publikum begreiflich zu machen: Da werde eine ganz, ganz schlimme Links-Regierung vorbereitet.Die Vorhaltungen sind keine fünf Minuten Debatte wert, sind sie doch ohne Grund und Boden: Das Amt des Bundespräsidenten ist so unbedeutend geworden, dass von der Wahl machtpolitisch weder das eine noch das andere Signal ausgeht; das mag bei Gustav Heinemann anders gewesen sein - vor 40 Jahren. Wenn Gesine Schwan ein Markenzeichen hat, dann ihre lebenslange Beschäftigung mit den politisch verderblichen Seiten von Sozialisten und Kommunisten und ihren anti-kommunistischen Kampf. Und zudem weiß jedes Kind, dass es 2009 zu keiner rot-rot-grünen Koalition kommen wird, ist die SPD doch so derangiert, dass sie nie und nimmer das Kraftzentrum einer solchen Regierung sein könnte.Interessanter ist die Frage, ob in dieser Gegenkandidatur eine Alternative zu Horst Köhler steckt. Köhler versucht sich als Bürger-Präsident zu positionieren, der den politischen, auch den wirtschaftlichen Eliten sagt, sie hätten mal wieder über die Stränge geschlagen. Grundeinkommen, zu hohe Managergehälter, mehr Bürgerbeteiligung, Finanzmärkte als Monster - da kommen schon einige Wortmeldungen zusammen. Bei allem: Er ist Agenda-2010-Liebhaber geblieben und Marktradikaler zugleich, aber anständig soll es zugehen auf der Welt. Was böte Gesine Schwan? Als Wissenschaftlerin, die sich mit der Entlarvung freiheitsschädlicher kommunistischer Ideologien und dem Brückenschlag zwischen Ost- und Westeuropa beschäftigt, sich dabei viel Anerkennung erarbeitet hat, ist sie nicht aus dieser Zeit gefallen. Aber was würde sie, die Kanzler Schröder ebenfalls wegen seines Einsatzes für die Agenda 2010 schätzt, so viel anderes sagen als Köhler dies ohne ihre Eloquenz tut?Was beschäftigt diese Gesellschaft? Die große Mehrheit der politischen Elite - die wirtschaftliche Elite sowieso - konzentriert sich auf die Aufgabe, diese hocheffiziente, bereits auf Hochtouren laufende weltweit präsente Wirtschaftsmaschine Deutschland noch wettbewerbsfähiger zu machen. Der Mehrheit der Bürger fliegen seit Jahren die Konsequenzen dieser Politik um die Ohren, hat diese doch umstürzlerische Folgen für millionenfache Alltage. Der jüngste Armutsbericht gibt Einblicke, die vielfältigen Unsicherheiten, die Menschen bedrängen, erzählen auch davon. Diese Mehrheit meint deshalb, man müsse sich endlich in der Hauptsache mit diesen Folgen beschäftigen und nicht länger der Aufgabe, diese Maschine noch hochtouriger zu machen. Es ist also die Stunde für Auseinandersetzungen über eine neue Gesellschaftspolitik, für die ein in der Welt der Ökonomie Gefesselter und eine, die vor allem alte Gefahren der Freiheit im Blick hat, vermutlich wenig Gespür haben. Und das Thema "mehr Vertrauen schaffen", das beide mit Inbrunst intonieren, ist eben auch nur nett. Wenn Horst Köhler der falsche Kandidat ist, ist sie nicht die Richtige.So ist die Kandidatur von Schwan weniger für die Gesellschaft denn für die SPD von Bedeutung. Sie signalisiert, dass die Erneuerungsarbeit der SPD bis auf weiteres abgeschlossen ist. Allein die kleinen Korrekturen, die Kurt Beck durchsetzte, brachten die Partei aus dem Tritt und ihren Parteivorsitzenden dem Abgrund näher. Es wird - daran ändert auch das neue Steuerkonzept nichts - an einer Alternative zur CDU nicht weiter gearbeitet werden. Die Risiken sind zu groß. Der Partei fehlt die Kraft. Man wird sich weiter mit Hilfe von Lupe und Seziermesserchen auf die Suche nach Unterschieden zwischen CDU und SPD machen müssen. Wo Inhalte sich gleichen, schlägt die Stunde des Marketings.Das Produkt ist die Kandidatur Gesine Schwan - zwar nur eine Wiederholung, aber immerhin eine Option, sich mit einer wachen, intellektuellen, eloquenten Politikerin Aufmerksamkeit zu verschaffen, ohne intern weitere Verwerfungen auszulösen. Die Sozialdemokraten bedachten bei diesem Coup nur eines nicht. In ihr spiegelt sich die Fahlheit der beiden potenziellen Kanzlerkandidaten schärfer wieder, als den Beteiligten lieb sein kann.So geht mit Gesine Schwan die beste momentan verfügbare Kanzlerkandidatin der SPD in ein Rennen um das falsche Amt. Der Coup wird deshalb zur Last. | Wolfgang Storz | Schwans Kandidatur war ein Coup, der für die SPD zur Last wird | [] | Politik | 2008-05-30T00:00:00+02:00 | https://www.freitag.de/autoren/wolfgang-storz/im-falschen-rennen |
Herbst Kann ein Blog sterben? | Dieser Blog kommt aus der Zukunft. Sie ist grauenhaft.... mit diesen Worten ist der Blog archinaut: vor drei Jahren vom Stapel gelaufen.... 365 Folgen stehen jetzt in der Vergangenheit wie alles andere, was Dich je in Deinem Leben erreicht hat.Was auch immer wir schreiben, kann untergehen, bevor es einer empfänglichen Menschenseele begegnet.... was ich in das Netz entlassen habe, hat einige erreicht, worüber ich mich freue, und der Wunsch bleibt, dass es noch andere finden, eines Tages..... in einer Zukunft, die hoffentlich nicht grauenhaft ist.Denn die Zukunft ist formbar, aber sie wartet nicht auf uns. Der einzige Moment, in dem wir die Zukunft gestalten können, ist doch gerade dieser eine Moment Gegenwart: jetzt.Wer weiß, vielleicht die richtige Stelle, die Legende vom armen Drachentöter einzuflechten...?Noch nicht lange her, da bedrohte eine feuerspeiender, jungfrauen- und hartgeldfressender Drachen die Inselstadt.... wohnte versteckt in den Dünen, überfiel arme Fischer und reiche Kaufleute, und alle Insulaner hatten unter seinem unmäßigen Hunger schwer zu leiden.... Ach, wenn der Drachen doch bald sterben wollte, so hofften sie und beteten wohl auch gelegentlich zu ihren Göttern....Kam schließlich ein armer Seefahrer, der sein Schiff im Sturm verloren hatte, suchte einen Platz zum Leben und bot seine Dienste an, bis er eines Tages das gefräßige Geheimnis der Insel entdeckte.... Was gebt Ihr mir, wenn ich den Drachen für Euch töte? fragte er, aber die Insulaner konnten den Sinn seiner Rede nicht verstehen. Den Drachen hat noch niemand besiegt, beschieden sie ihm, warum also sollte es ausgerechnet Dir gelingen? Weil ich nichts zu verlieren habe, sagte der schiffbrüchige Seefahrer.Was uns der Drachen nimmt, lassen wir ihm nicht gern, sagten sie, wir sind arm und haben nicht viel, wie also könnten wir Dir freiwillig irgendetwas geben? Andere sagten sogar: Der hungrige Drache schützt unsere Küsten vor schiffbrüchigen Seefahrern, die auf unsere Jungfrauen scharf sind.... warum sollten wir was gegen den Drachen unternehmen?Der arme Seefahrer träumte natürlich von der schönen Königstochter, aber eine auskömmliche Ganztags- oder Teilzeitstelle hätte ihm auch schon geholfen, selbst über einen kleinen Garten hätte er sich gefreut, um Kartoffeln und Nudeln anzupflanzen..... (an diesem Wunsch lässt sich erkennen, dass er leider nicht besonders klug war). Aber er musste nun einsehen, dass die Insulaner ihm nicht vertrauten.So sagte er: Ich verlange nichts von Euch, bevor ich den Drachen erledigt habe..... trotzdem werde ich gehen, ihn zu töten..... und ich möchte Euch darum bitten, jeden Morgen ein Glas frisches Wasser an den trockenen Baum vor den Dünen zu stellen, solange mein Kampf mit dem Untier dauert, als Zeichen dafür, dass Ihr an mich denkt.Dann ging er in die Dünen vor dem Strand, wo der Drachen lebte.Am ersten Tag brachte ein altes Mütterlein ein Glas frisches Wasser zum trockenen Baum – als junges Mädchen war sie eine Woche in der Gewalt des Drachens gewesen, und ihre Tränen waren schon in der ersten Nacht erfroren.Am zweiten Tag brachte ein alter einbeiniger Fischer ein Glas frisches Wasser zum trockenen Baum – als junger Mann hatte er mit dem Drachen gekämpft und sein Weib, seine Kate, sein Schiff und sein Bein verloren in einer Nacht.Am dritten Tag brachten zwei Kinder ein Glas frisches Wasser zum trockenen Baum – im letzten Winter war ihr liebster Freund verhungert.Am vierten Tag aber hatten die Insulaner den schiffbrüchigen Seefahrer in den Dünen vergessen.Und als der Herbst kam, flog der Drachen über die Stadt.... ließ sich nieder mitten auf dem Marktplatz, wühlte ihn mit dem neunfach gepanzerten Drachenschweif auf, dass die Pflastersteine auf die stolzen Bürgerhäuser der ersten Reihe niederprasselten und legte zwölf glänzende Eier in den morastigen Grund...... Drachen sterben selten eines natürlichen Todes, so will es die Fabel. Jeder Drache wartet auf den, der ihn überwindet, wir wissen es spätestens, seit Jim Knopf uns die Augen öffnete.So wie dieser Blog archinaut: erst sterben kann, wenn darin keiner mehr lesen will......Hier endet der 365. Eintrag: Dieser Blog mischt Fiktion und Realität. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind zufällig und in der historischen Überlieferung nicht verbürgt. Ich bin nur der Navigator, mein Name sei NEMO: Ich schreibe um unser Leben. Bitte bleib dran.NextBackKlick zum Gästebuch | archinaut | .... wenn Drachen steigen | [] | Kultur | 2012-09-14T02:22:00+02:00 | https://www.freitag.de//autoren/archinaut/kann-ein-blog-sterben |
Jung & Naiv Folge 69: Was ist los in Ägypten? | Nachdem sich gestern im Laufe des Tages abzeichnete, dass das Militär in Ägypten gegen Präsident Mursi putscht, brauchte ich im Laufe des Abends erstmal ein wenig Einordnung. Dazu habe ich den Autor und Journalisten Sultan Sooud Al-Qassemi, der zu den bekanntesten und bestvernetzten Menschen im Nahen Osten und der Arabischen Welt gehört, spontan zu einem "Jung & Naiv"-Live-Hangout eingeladen.Ich wollte von Sultan wissen: Was ist da soeben in Kairo passiert? Was ist überhaupt ein Militärputsch? Warum freuen sich die Menschen auf den Straßen so darüber? Wer ist überhaupt dieser Mursi und diese Muslimbrüder? Ist nicht vor 2 Jahren erst ein Pharao in Ägypten gestürzt worden? Und wie geht's jetzt weiter? Und weil es ja ein Coup des Militärs war, habe ich noch meinen Peng-und-Bumm-Experten Thomas Wiegold dazugeholt. Am Ende sind's 55 erfrischende Minuten (auf Englisch) geworden. In den letzten 20 Minuten habe ich Sultan zudem eure Fragen gestellt, die im Laufe und vor der Sendung per Twitter und Facebook eintrudelten. Wie funktioniert "Jung & Naiv" via Google Hangout? Kann man mal öfter machen?Feedback? Sharing? Yes, please.www.jungundnaiv.de | Jung & Naiv | Was ist da in Kairo passiert? Und was ist überhaupt ein Militärputsch? Warum freuen sich die Menschen auf den Straßen so darüber? | [
"Mohammed Mursi"
] | Politik | 2013-07-04T13:41:00+02:00 | https://www.freitag.de/autoren/tilo-jung/episode-69-was-ist-los-in-aegypten |
Telekom-Streik Es geht um fast alles | Scheinbar alles wie gehabt: Gewerkschaftsfahnen, Transparente, Trommeln, lokal begrenzte Nadelstich-Streiks und die Hoffnung auf den erträglichen Kompromiss. Aber was durch den aktuellen Export-Hype bei den Metallern noch einmal funktioniert hat, ist nicht nur bei der Telekom längst Nostalgie. Dem "Rausch des Aufschwungs" (Die Zeit) kann angesichts der wackligen Weltkonjunktur alsbald der große Kater folgen. Ganz unabhängig vom aktuellen Export-Boom geht so in vielen Branchen der soziale Kahlschlag ungebremst weiter. Der beispiellose Versuch der Telekom, 50.000 Beschäftigte bei drastischer Lohnsenkung und Arbeitszeitverlängerung in Tochtergesellschaften auszulagern, markiert eine neue Qualität des Bruchs mit dem Nachkriegs-Sozialkompromiss.Ein Gelingen dieser Attacke hätte Signalwirkung für die Gesamtgesellschaft. Die Konzerne stehen schon in den Startlöchern, um einschlägige Maßnahmen ähnlichen Ausmaßes durchzuziehen. Nicht der situationsabhängige relative Erfolg der Metaller, sondern Outsourcing, Billiglohn und Mehrarbeit bilden die Haupttendenz. Dass ehemalige Kernbelegschaften nicht mehr ausgenommen sind, hat sich bereits bei VW oder Siemens gezeigt. Der nationalökonomische Korporatismus von Management, Politik und Gewerkschaften zersetzt sich mit wachsender Geschwindigkeit. Dazu gehört auch die forcierte Privatisierung der öffentlichen Infrastrukturen in den vergangenen 15 Jahren. Durchweg folgte eine Verschlechterung und Chaotisierung der Dienste; im nunmehr börsenorientierten Telekom-Konzern kein Wunder, angesichts von nicht weniger als 17 hektischen Umorganisationen und einer Halbierung der Belegschaft. "Euer Service taugt zwar nichts, aber ihr habt wenigstens noch einen", so die Aussage eines frustrierten Kunden.Aber es geht eben nicht mehr um den sachlichen Inhalt, sondern um die Vorgaben der Finanzblasen-Ökonomie, wie sie aus der Verwertungsschranke des produktiven Kapitals resultiert. Bei der Telekom ist es nicht zuletzt der Finanzinvestor Blackstone, der den Kurs von Konzernchef Obermann programmiert. Es rächt sich jetzt, dass auch die Gewerkschaften auf die Umwälzung der Verhältnisse nur mit national-keynesianischer Rückwärtsorientierung und ideologischer "Heuschrecken"-Rhetorik gegen das "raffende Kapital" reagiert haben, statt sich dem globalisierten Krisenkapitalismus zu stellen. Bei der Telekom wurde der galoppierende Personalabbau durch "sozialverträgliche" Kompromissstrukturen mitgetragen, einschließlich einer in Aussicht gestellten Absenkung der Einstiegslöhne. Nun sind die alten Rituale am Ende. Es geht nicht mehr um verhandelbare Details, sondern um die Existenz; sowohl für die Beschäftigten als auch für die Gewerkschaft. Ein Handicap ist der aus Vorzeiten überhängende Beamten-Status vieler Beschäftigter, die nicht streiken dürfen.Die Kampfbereitschaft ist dennoch groß. Allerdings stellt sich die Frage, ob Verdi den Mumm aufbringt, ohne Rücksicht auf den zu erwartenden Aufschrei in Medien und Politik die Kommunikationsadern tatsächlich ernsthaft lahm zu legen; mit einschneidenden Folgen für Banken, Konzerne, womöglich den G8-Gipfel. Dazu bedürfte es wohl einer mehr als bloß passiven übergreifenden Solidarisierung. Die Wirtschaftspresse glaubt daran nicht; die üblichen Experten erwarten geringe Auswirkungen. Obermann kündigt schon locker den Verkauf der strittigen Unternehmensteile an. Wenn aber die Konfrontation mit einer kaum verhüllten Kapitulation endet, drohen die Dämme weit über den Kommunikationssektor hinaus zu brechen. Die Gewerkschaften werden dann noch schneller als bisher ausbluten, weil niemand mehr an ihre Eingriffsmacht glaubt. Dieser Streik ist kein gewöhnlicher Tarifkonflikt, sondern ein Menetekel für künftige soziale Strukturen. | Robert Kurz | Verliert Verdi, wird niemand mehr an die Eingriffsmacht der Gewerkschaften glauben | [] | Politik | 2007-05-18T00:00:00+02:00 | https://www.freitag.de/autoren/robert-kurz/es-geht-um-fast-alles |
Sportplatz Praktizierte Osterweiterung | In Chemnitz fanden gerade die Europa-Wochen statt, und passend dazu machte die traditionell über Tschechien, Polen und (Ost-) Deutschland führende Friedensfahrt in der Stadt mit dem Marx-Schädel Station. Diese bekannte Rad-Etappenfahrt war vor 1989 hochoffiziell - und irgendwie auch praktisch - der Völkerfreundschaft gewidmet. Zwar äußerte sich diese Freundschaft ausgerechnet über Konkurrenz, etwa in der zwischen Respekt und Wut oszillierenden Gefühlslage der DDR-Radsportanhänger gegenüber Aavo Pikkuus oder Dshamolidin Abdushaparow, den großen sowjetischen Gegenspielern der eigenen Idole Hans-Joachim Hartnick und Olaf Ludwig. Aber Distanz, kritische Distanz zumal, fördert eben auch Verständnis. Objekte grenzüberschreitender Verehrung waren die polnischen Asse Ryszard Szurkowski und Stanislaw Szozda, denen manch Schrein in Aue, Ludwigsfelde oder Parchim errichtet wurde. Später, in den frühen neunziger Jahren, bewies das Radrennen, welche Potenziale in der Osterweiterung Europas liegen könnten. Es waren vor allem die Tschechen, mobilisiert von der einstigen Friedensfahrtlegende Pavel Dolezel, die die von Deutschen und Polen im Stich gelassene Tour retteten. 1993 und 94 zirkulierte die Rundfahrt nur auf tschechischem Boden. Seit 1995 sind die Deutschen wieder dabei. 1996 stiegen auch die Polen als Ausrichter wieder ein. Noch immer halten die Tschechen die Fäden der Organisation in ihren Händen. International aufgeteilt sind die übrigen Tätigkeitsfelder bei der Tournee. Die Deutschen, als die Partner mit dem potentiell meisten Geld, haben das Marketing übernommen. Neben dem Fahrzeugsponsor aus Niedersachsen engagieren sich vor allem ostdeutsche Betriebe. Der Werbetross, der sich vor der Fahrerkolonne über den Asphalt wälzt, umfasst mittlerweile über 30 Fahrzeuge und kann bis zu zwei Kilometer lang werden. Die Polen wiederum sind offenbar für das Fahren zuständig. Die diesjährige Friedensfahrt haben sie jedenfalls dominiert. Zwar waren sie mit offiziell schlechter eingestuften Teams am Start - zwei GS II und drei GS III-Mannschaften, während auf deutscher Seite jeweils drei GS I- und GS II-Abordnungen gemeldet waren - aber die entscheidenden Etappen gewannen Angestellte polnischer Profi-Rennställe. Erst überzeugten auf der sogenannten Königsetappe von Mlada Boleslaw nach Chemnitz über 231 Kilometer der für CCC Polsat startende Piotr Przydzial (Polen) und sein tschechischer Mannschaftskollege Ondrej Sosenka mit einer atemberaubenden Fahrt vor dem Feld. Drei Minuten hatten sie am Ende Vorsprung. Und beim Mannschaftszeitfahren sicherten sich die Kollegen von Mroz den Tageserfolg. Mroz hat die Osterweiterung auf eigene Art verstanden. Das nominell polnische Team beschäftigt zwei Polen, zwei Litauer, einen Ukrainer und einen Kirgisen. Die multinationale Truppe lag recht deutlich vor dem deutsch-spanisch-dänischen Team Coast. Telekom landete - geschwächt durch zwei Ausfälle in den Tagen davor - noch hinter weiteren Polen, Deutschen, Dänen und Holländern abgeschlagen auf Rang acht. Der überraschende Ausgang liegt - neben der aktuellen Tagesform - vor allem an der unterschiedlichen Herangehensweise der Rennställe. Für die polnischen Teams ist die Friedensfahrt - neben Weltmeisterschaften - der jährliche Höhepunkt. Die Trainingspläne sind auf die zehn Tage im Mai abgestimmt, die Motivation ist hoch. Für Telekom, Coast oder Nürnberger ist die Friedensfahrt hingegen nur Durchfahrstation. Einzig dem Team des sächsischen Hühnerzüchters Wiesenhof kann man überdurchschnittliches Engagement an der Rundfahrt unterstellen. Ausgerechnet Wiesenhof hatte auf dieser Tour aber damit zu kämpfen, dass die Stasi-Mitarbeit ihres sportlichen Leiters Michael Schiffner (ehemals auch DDR-Friedensfahrt-Kapitän) und des Marketing-Chefs von Tour und Rennstall, Jörg Sprenger, auch außerhalb der Radsportszene bekannt wurde. Zwar setzte umgehend ein großer Beschwichtigungsreigen ein, aber wie schon weiland Lothar de Maizière wusste, ist das Kapital ein scheues Reh; erst recht das gerade noch sponsorwillige. Die Verunsicherung über die Zukunft des Rennstalls dürfte sich durchaus auf die Leistung niedergeschlagen haben. Aber wie hieß es im Fahrerlager angesichts der Bedrohung der Fahrt durch die Stasi-Vorwürfe? "Es kümmert sich auch keiner darum, bei welchen Rennen in Italien die Mafia mit drinsteckt." Wovor mancher sich im Hinblick auf den Osten fürchtet, sitzt westlicherseits bereits am Tisch. | Tom Mustroph | In Chemnitz fanden gerade die Europa-Wochen statt, und passend dazu machte die traditionell über Tschechien, Polen und (Ost-) Deutschland führende ... | [] | Kultur | 2002-05-24T00:00:00+02:00 | https://www.freitag.de/autoren/tom-mustroph/praktizierte-osterweiterung |
#FridaysforFuture Die Fehlbaren | Hach ja, da stehen sie nun jeden Freitag und demonstrieren. Gegen den Klimawandel. Da stehen sie, diese unvollkommenen, unmoralischen Minderjährigen und stellen Forderungen. Wie können sie nur!? Viele von denen essen bestimmt Fleisch, werden mit dem SUV in die Schule gefahren – wenn sie nicht gerade blau machen, denn darum geht es ja eigentlich! –, und einen Abschluss in Umwelt-Rettungs-Dings streben auch nicht alle an. Sollen sie sich doch erst mal an die eigene Nase fassen und etwas an ihrem Leben verändern!So in etwa klingt ein erheblicher Teil der öffentlichen Rezeption der FridaysforFuture-Bewegung, die derzeit von sich reden macht. Entweder werden die protestierenden jungen Leute als lernfaul oder aber als inkonsequent abgestempelt, belächelt – ach, moralisch verurteilt.In der Westdeutschen Zeitung schreibt ein Lehrer etwa: "Alle [...]1 sollten sich zunächst an ihre eigene Nase fassen und bei sich selbst und in ihrem Umfeld beginnen, das Klima zu verändern. Das ist manchmal nicht so lustig wie zu streiken, aber es wäre ein ehrlicher Anfang. Erst anschließend sollten sie mitstreiken. Oder besser am Samstagnachmittag demonstrieren gehen, anstatt Fußball zu gucken oder zu Primark zu gehen. Dann würden wirklich nur die Schüler und Studenten kommen, denen das Klima wirklich am Herzen liegt. (Und ich hoffe, es kämen viele!)"Mit dieser Logik ist er keinesfalls allein. Die Kinderausgabe des Nachrichtenmagazins der Spiegel twitterte vor ein paar Tagen ein Bild von demonstrierenden Schülerinnen und Schülern, die zwischendurch schnell zu McDonalds gegangen waren und dort Burger gekauft hatten, „einzeln eingepackt und eher nicht besonders klimafreundlich produziert“.2 Und auch abseits der etablierten Medien liest man in so ziemlich allen Kommentarspalten: Die schieben doch die ganze Verantwortung auf den Staat ab! Schaut euch mal ihre Kleiderschränke an! Aber diese Kinder fliegen ja auch in den Urlaub! Die Jugend hat es verstanden Es ist zum verrückt werden. Da gehen junge Menschen für eine gute Sache auf die Straße, und die Antwort, die sie erhalten, lautet: Ihr seid nicht moralisch perfekt. Ihr habt moralisch kein Recht zu demonstrieren. Hört mit der Politik auf und ändert individuell etwas.Davon abgesehen, dass ein großer Teil der Menschen auf der Straße das längst versucht, ist diese Forderung beinahe lächerlich. Sollen nur noch moralisch einwandfreie Menschen Kritik äußern dürfen? Das wäre das Ende jeder Kritik. Auch die Vorstellung, individuell sei der Klimawandel zu stoppen, ist ein fataler Irrglaube. Als könnte der Klimawandel – oder sonst irgendein globales Problem – über individuelles Konsumverhalten gelöst werden. Und noch mehr: Als könnte irgendjemand im Globalen Norden nicht über die Verhältnisse der Menschen anderswo und zukünftiger Generationen leben. Als hätten wir nicht strukturelle Probleme, die die Zerstörung des Planeten befeuern, teilweise sogar erst ermöglichen. Gerade das haben viele der jungen Leute verstanden.Der Soziologe Stephan Lessenich verweist treffend darauf, dass die Bevölkerungen im reichen Globalen Norden die Folgen ihres Lebensstils auf andere Menschen – in anderen Teilen der Welt und in zukünftigen Generationen – abwälzen. Sie tun das, weil die Strukturen es erlauben, also weil sie es können. Gleichzeitig betont Lessenich, dass die Menschenim reichen Nordennicht anders können. Es ist unter den gegenwärtigen Bedingungen beinahe unmöglich, hierzulande ökologisch verträglich zu leben – was wiederum explizit nicht heißt, dass man es nicht versuchen sollte.Sicher tragen Individuen Verantwortung für ihr Handeln, selbstverständlich sollten sie versuchen, klima- und umweltfreundlicher zu leben. Was sie nicht sein müssen, ist unfehlbar. Was sie nicht haben, ist individuelle Schuld an der Misere. Am allerwenigsten ein Haufen junger Menschen, denen die Politik weder Wahlrecht, noch echte Strafmündigkeit zuspricht.Es geht nur gemeinsamDie Rezeption der FridaysforFuture-Proteste bringt nicht nur streckenweise Verachtung für junge Menschen ans Tageslicht. Viel mehr noch zeigt sie die Geringschätzung für politisches Handeln, das diesen Namen verdient. Das Mantra vom einzelnen Menschen, der die Welt allein verändern kann und muss, ist zutiefst unpolitisch – und es macht krank, indem es alle gesellschaftlichen Probleme auf den Schultern einzelner ablädt.Wir halten den Klimawandel, die Zerstörung dieses Planeten gemeinschaftlich – das heißt politisch – auf, oder wir werden scheitern. Änderungen des individuellen Konsumverhaltens können die Folgen des Klimawandels weniger schlimm machen, aber ihn niemals verhindern oder auch nur an einem ansatzweise annehmbaren Punkt stoppen.Die Fehlbaren von #FridaysforFuture scheinen das begriffen zu haben. Deswegen sind sie ungehorsam und für die Mächtigen unangenehm – allen billigen Versuchen der Vereinnahmung, etwa durch die Bundeskanzlerin, zum Trotz. Mögen sie standhaft bleiben, politisch wachsen – und vor allem noch viel mehr werden.1 Hier nennt er einige beispielhafte Schülerinnen und Schüler, denen er quasi Doppelmoral unterstellt. Er spricht anderen nicht ab, individuell schon zu versuchen, das Klima zu verändern. An der grundsätzlichen Forderung, bei einer Beteiligung eine möglichst weiße Weste zu haben, ändert das nichts. 2 Der Tweet von Dein SPIEGEL ist nach einiger Kritik inzwischen gelöscht, die Diskussion geht aber weiter: https://twitter.com/Dein_SPIEGEL/status/1101430263551283200 | Franz Hausmann | Klimaschutz ist in erster Linie keine individuelle Aufgabe, sondern eine kollektive. Das scheint sich noch nicht überall herumgesprochen zu haben | [
"Globale Erwärmung"
] | Politik | 2019-03-04T18:55:00+01:00 | https://www.freitag.de//autoren/franzhausmann/die-fehlbaren |
Netzgeschichten Apostel, Kunde, Freund | Manchmal kann das Internet ganz schön entlarvend sein. Auf welche Weise sich ein Musiker auf seiner Webseite präsentiert, verrät zum Beispiel viel darüber, wie er seine Fans sieht.Für Pete(r) Doherty etwa scheinen sie eine Art moralischer Instanz zu sein. Zur Veröffentlichung seines Solo-Albums Grace/Wastelands hat sich der Sänger bei Myspace angemeldet und macht dort ganz auf braver Bub. Auf myspace.com/gracewastelands blickt er einem aus einem kleinen Schwarz-Weiß-Porträt so dermaßen unschuldig und leidend entgegen, dass man ihm am liebsten sagen möchte, es sei doch alles gar nicht so schlimm. Eingerahmt ist das Foto von braunen Kästen in Papp-Optik, einen füllt ein Text, der auf 15 Absätzen versucht, den „wahren“ Doherty vorzustellen, und um Verständnis für dessen ausschweifenden Lebensstil heischt. Zum Beispiel habe er es als Kind „immer schwer gehabt Freunde zu finden“, weil er so oft umziehen musste.Nach der Veröffentlichung war das Grace/Wastelands-Album für einige Tage komplett auf der Seite anzuhören, vermutlich als Entschädigung für zugedröhnte und abgesagte Konzerte des Musikers. Die Videos auf der Seite stammen übrigens von zwei verschiedenen Dohertys: Pete und Peter. Kein Tippfehler, der Künstler hat zu seinem 30 Geburtstag entschieden, ein „r“ an seinen Vornamen anzuhängen, um reifer zu wirken. Ein unterstützenswertes Vorhaben, wobei er es ja auch mal mit ein paar nüchternen Auftritten versuchen könnte.Professioneller gestaltet sind das Myspace-Profil von Madonna und ihre Webseite madonna.com. Hier wird schnell klar, dass sie die Fans in erster Linie als Konsumenten versteht. Es gibt alles zu kaufen: Madonna-Kinderbücher und Madonna-Filme – wobei man aufpassen sollte, etwa die Hälfte der angebotenen Filme war verdienterweise für die Goldene Himbeere, den Anti-Oscar, nominiert. Zu Specials wie Madonna-Bildschirmschonern und Verlosungen von Tickets haben allerdings nur Mitglieder ihres Fanclubs Zugang, mit dem richtigen Passwort.Madonna wirbt auf der Seite außerdem für ihre Stiftung „Raising Malawi“, die Kinder in dem afrikanischen Land unterstützt, auch ohne dass sie sich von dem Star adoptieren lassen müssen. Die Adresse ihrer Homepage musste Madonna sich übrigens vor Jahren vor Gericht erstreiten. Unter madonna.com hatte zuvor ein New Yorker Geschäftsmann Pornos ins Netz gestellt. Das schädige ihr Image klagte die Sängerin – und bekam die Adresse schließlich zugesprochen.Die Alternativ-Rocker von Radiohead wiederum scheinen Fans eher als Freunde begreifen zu wollen, denen man ohne weiteres vertrauen kann. Auf radiohead.com ließ sich das komplette Album In Rainbows herunterladen – zu einem selbst bestimmten Preis und in der Hoffnung, dass die Fans schon eine annehmbare Summe zahlen würden. Bis jetzt gaben die Musiker allerdings nicht bekannt, welches Geschäft sie mit den Downloads gemacht haben. Was skeptisch macht: Beim nächsten Album wollen sie vorsichtiger verfahren. Es sollen zunächst zwei Titel im Netz angeboten werden, um zu testen, wie sich die Nutzer diesmal verhalten. | Irene Habich | Betrachten und betrachtet werden: Die Webseiten von Musikern verraten etwas über ihr Verhältnis zu den Fans und sich selbst. Ein kleiner Streifzug durchs Internet | [
"Madonna (Künstlerin)"
] | Kultur | 2009-08-06T12:25:00+02:00 | https://www.freitag.de/autoren/irene-habich/apostel-kunde-freund |
Realität als Imagination Die Geburt der Gegenwart in der Wüste | Seit Michael Ondaatjes Buch Der englische Patient und Anthony Minghellas gleich betiteltem Film ist der Name des mit diesem Patienten identifizierten Wüstenforschers Ladislaus Eduard Almásy nicht mehr zu überhören oder zu übersehen, obwohl von ihm fast nichts zu sehen ist. Unkenntlich durch Verbrennungen liegt er, wie eine Mumie bandagiert, vor der ihn pflegenden Hana aus Kanada, die ihrem Vater als Lazarettschwester in den Zweiten Weltkrieg nachzog. Der Geschichte von Liebe und Tod dieses Patienten lauschend, wähnt Hana, sie habe sie selbst an seiner Seite erlebt, während er sein Leben aushaucht. Für Hana war es das Leben eines Heiligen, obwohl sie das Gegenteil erfährt: er war ein NS-Spion. Auch bei Grond, der den Englischen Patienten in seinen Roman integriert, stirbt dieser Patient, doch Almásy war er nicht: der Wüstenforscher und Geheimagent stirbt in einem Salzburger Sanatorium 1951. Ondaatjes historisch basierte Fiktion, für die Grond "große Bewunderung" hat, steht für ihn dennoch infrage, da "er die Welt ... gar entstellt wiederzugeben schien. Sie lässt sich nicht auf eine noch so rührende Liebesgeschichte reduzieren!"Diese Welt ist die einer "aus den Fugen geratenen" europäischen Aristokratie, die mit Beginn des 20. Jahrhunderts ihr zu Bruch gehendes Jagd- und Herrenmodell, technisch aufgerüstet, in die Wüste projiziert. Almásy, 1895 auf dem bis 1918 ungarischen Schloss Bernstein im Burgenland geboren, treibt die Leidenschaft für Geschwindigkeit dorthin. 1905 fährt er Auto; 1912 hat er den Flugschein; 1918 ist er ein mit Tapferkeitsmedaillen dekorierter Flieger des Ersten Weltkriegs; 1926 geht er als Repräsentant der Steyr-Werke nach Ägypten: hier wird er Entdecker, der, beweisbar, für den NS-Nachrichtendienst in Rommels Afrikakorps, unbeweisbar für die englische, italienische und ägyptische Seite im Zweiten Weltkrieg spioniert und mit allen Seiten Waffenhandel betreibt. Doch Gronds Ziel ist keine Biographie dieses ortlosen Entdeckers, der den Ort der Libyschen Wüste im militärischen und wissenschaftlichen Interesse, selbst aber aufgrund seiner Herrschaftsgier über den leeren Raum kartographiert, aus der bei ihm und allen vor dem Zweiten Weltkrieg schwul verbandelten "Wüstenfanatikern" die Raubgier spricht: ihr Codewort ist "Kambyses".Kambyses ist der mit seinem Heer im Sand erstickte persische Herrscher, den Herodot als Möchte-Gern-Eroberer des Jupiter-Amon-Orakels bezeugt: heute Siwa. Auf dem Weg dorthin musste, doch wo?, der Schatz verborgen sein, der die paramilitärische Forschergruppe vor und nach dem Krieg auf die transnationalen, autobereiften Beine bringt, während ihre Mitglieder im Krieg, verfeindet, sich als Geheimdienstagenten ausspionieren. Es könnte ja sein, dass mitten im Krieg die je andere Seite eine untergegangene Armee gefunden hat! Dieser Wahnsinn ist es, der Grond anstelle einer Biographie interessiert: "all die skurrilen bis phantastischen Charaktere und Ereignisse als Momente der Geburt unserer Gegenwart zu fassen und die Form des Romans daraufhin zu befragen", ist sein Programm. Befragt wird der Roman von Ondaatje, den Grond in ein "intertextuelles Spiel" verwickelt, in das er Briefwechsel und Interviews mit Zeitzeugen als historische Quellen einbezieht, die bei ihm nicht, wie bei Ondaatje, im "Fluss der Fiktion" untergehen. Denn Grond unterbricht diesen "Fluss" permanent, um neue "Momente der Geburt unserer Gegenwart" hervorzutreiben. Sie stützen sein Spiel einerseits kontextuell; andererseits wird es in ein transtextuelles Informationsnetz eincodiert, das die geschlossene Narration Ondaatjes durch eine offene Erzählung ersetzt.Wie sie zwischen Archäologie und Cyberspace navigiert, dafür das Beispiel der Pyramide, die bei Grond das unübersehbare Symbol der Paar- und Machtstruktur und das übersehene Emblem der US-Dollarnote ist: "Die Spitze der Pyramide schien, vom Sockel abgetrennt, wie ein Raumschiff abzuheben." Nicolas erinnert das ihm Gezeigte, ohne dass er das zwischen Sockel und Spitze leuchtende göttliche Auge dabei vergisst. Sein Auge forscht dem Forscher Almásy nach, da er, wie dieser 1926, einen Autokonzern in Kairo zwecks Produktmanagement des Geländewagens Almásy vertritt. Eine außertourliche Tour mit Rita ist dennoch drin: sie zwängen sich in das Königsgrab der Cheops-Pyramide. Doch kaum am uteralen Ort, fällt Nicolas in Ohnmacht und damit aus, während die Geschichte seines ebenfalls im NS-Nachrichtendienst arbeitenden Vaters zur Sprache kommt. Die Verbindung von Pyramide und Raumschiff, Königsgrab und Uterus, Machtgeheimnis des Vaters und Familiengeschichte, Mythos und Marke Almásy, zeigt sowohl, wie Gronds offene Erzählung Raum und Zeit durchquert, als auch, dass sie nicht nachzuerzählen ist.Die in Rita sich wiederholende Hana geht jedoch ins Offene "der Geburt unserer Gegenwart". Darum sei nicht verschwiegen, dass sie ihrer Liebe zur Mumie des Englischen Patienten eine Absage erteilt. Für Grond kommt diese Liebe in einer Krankenschwester mit "Vaterkomplex" und "Bombenneurose" auf ihren Nenner, der auch für die den Freudschen "Mann Moses" inkarnierenden Wüstenforscher gilt. Ihre Liebe zum Nichts der Wüste ist von der nekrophilen Liebe zur Mumie des Vaters nur insofern unterschieden, als sie die Mutter meint. Mit ihr, wie immer, telefonierend, scheint es Nicolas, dass Almásy, "von der Stimme seiner Mutter verfolgt", stets weiter in die Wüste floh oder umgekehrt, sie verstieß ihn in die Wüste, weshalb er den Pseudo-Inzest mit einer "männlichen Lesbe" betreibt. Ob der Zusammenhang von Ägyptologie und Neurosenlehre für den Vater und gegen die Mutter oder umgekehrt ausgeht, ein gelber Diwan steht als Original und Imitat für sämtliche Projektionen bereit, da in der Mobilie dieser Couch der Plan für die Mobilmachung mit dem Codewort "Kambyses" vermutet wird.Der Plan ist ein Flopp und die hermaphroditische Hana geht mit der "männlichen Lesbe" des schwulen Almásy die glücklichste aller Verbindungen ein. Doch diese "queere" Absage an die Paar- und Machtstruktur ist in Gronds Kriegsgeschichte keine Liebesgeschichte, auf die sie zu reduzieren wäre, sondern nur eines der stets neuen "Momente der Geburt unserer Gegenwart", die auf dem "weißen Fleck" der Wüste niederkommt. Er ist Projektionsschirm und black box, kartographiertes Gebiet und Fluchttopos, vermintes Gelände und Unbewusstes, militärischer Stützpunkt und verwehtes Gewirr von Spuren. Ob es bei diesen in den Sand geschriebenen Visionen um eine Fiktion als Plan, oder um die Realität als Imagination, oder um die fiktionale Realität des Imaginären geht, das sich mit den Mythen der Geschichtsschreibung auflädt, um die Revolution oder die Diktatur, den Fundamentalismus oder die Restauration gegen das Offene der Moderne zu begründen: bei Grond ist es auf über dreihundert Seiten bestechend präzise, spannend kriminalistisch und passioniert erzählend als Antwort auf die Foucaultsche Frage nachzulesen, aus welchem Schlamm der Schlachten sich en détail die Moderne der Postmoderne unserer Gegenwart gebiert.Walter Grond: Almasy. Roman. Haymon-Verlag, Insbruck 2002, 317 S., 22 EUR | Gerburg Treusch-Dieter | Walter Gronds neuer Roman "Almasy" changiert zwischen Archäologie und Cyberspace | [] | Kultur | 2002-10-11T00:00:00+02:00 | https://www.freitag.de//autoren/sebastianpuschner/kevin-kuehnerts-favorit |
Fleischindustrie Tönnies enteignen: für Klima, Tier und Mensch | Zwanzig Jahre ist es her, dass SPD-Kanzler Gerhard Schröder die strukturellen Probleme in der Tierhaltung lösen wollte. Auslöser damals war ebenfalls eine Seuche: BSE, der „Rinderwahn“. „Es wird sich etwas ändern, verkündete er. Und das tat es auch: Seit Schröders Versprechen hat sich der Umsatz der deutschen Schlacht- und Fleischverarbeitungsindustrie mehr als verdoppelt. Allein Tönnies machte im vergangenen Jahr 7,3 Milliarden Euro Umsatz – ein Rekordergebnis. Während zu Zeiten Schröders Fleisch noch importiert werden musste, ist Deutschland nun fünftgrößter Fleischexporteur der Welt, bei Schweinefleisch liegt es sogar auf Platz zwei. Die deutsche Fleischindustrie ist mittlerweile entkoppelt von ihrer eigentlichen Funktion, die Bevölkerung zu versorgen: 40 Prozent des Schweinefleischs werden exportiert. Darunter leiden auch die Tiere, denen in der Fleischindustrie routinemäßig Schmerz und Leid zugefügt wird, wie der Deutsche Ethikrat erst im Juni kritisierte.Der Exportorientierung zum Opfer gefallen sind auch die Arbeitsbedingungen. Im gerade erst erschienenen Sammelband Das System Tönnies – organisierte Kriminalität und moderne Sklaverei der Initiative Jour Fixe Gewerkschaftslinke Hamburg berichten ehemalige Tönnies-Beschäftigte von unzähligen unbezahlten Überstunden und völlig überteuerten Unterbringungen. Möglich ist all dies durch ein Subunternehmersystem, über das die meist migrantischen Arbeitskräfte als Werkvertragsarbeiter*innen bei Tönnies arbeiten. Der Deutsche Gewerkschaftsbund schätzt, dass vier von fünf Beschäftigten in der Fleischindustrie bei Subunternehmen angestellt sind.Nicht zuletzt belastet das Geschäft mit der Tötung und Verarbeitung von Tieren das Klima. Ein Fünftel aller Treibhausgasemissionen geht auf die weltweite Tierhaltung zurück, die damit zu den wichtigsten Verursachern der globalen Erwärmung zählt.Auch das vor drei Jahren verabschiedete „Gesetz zur Sicherung von Arbeitnehmerrechten in der Fleischwirtschaft“ führte kaum zu Verbesserungen für die Beschäftigten. Und nun? Nach öffentlichem Druck infolge diverser Corona-Ausbrüche in Fleischfabriken hat die Bundesregierung Ende Juli einen Gesetzentwurf zum Verbot von Werkverträgen in Schlachtbetrieben beschlossen. Tönnies hat derweil 15 neue Tochterfirmen gegründet („Tönnies Productions I – XV“) – möglicherweise um dadurch zukünftigen Regelungen ausweichen zu können, wie die Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten befürchtet.Man darf sich nicht länger mit der Bekämpfung von Symptomen zufriedengeben. Auch das sagte Kanzler Schröder damals während der BSE-Krise. Und damit hat er ausnahmsweise recht, denn eine auf Profit ausgerichtete Fleischindustrie wird immer nach Möglichkeiten suchen, politische Schranken zu umgehen. Wie bloß könnte die Politik es also schaffen, Einfluss auf die Fleischproduktion zu bekommen? Welches Mittel sieht das Grundgesetz bloß für Fälle vor, in denen Konzerne wie Tönnies für das Wohl der Allgemeinheit unter demokratische Kontrolle gestellt werden müssen? Da gibt es tatsächlich ein Instrument – zurzeit wird es in Berlin im Zusammenhang mit der Wohnungsknappheit diskutiert: Enteignung!Die Rekommunalisierung der Fleischindustrie könnte sich an den kommunalen Schlachthöfen orientieren, die es noch vor Jahrzehnten überall in Westdeutschland gab. Sie fielen vor allem in den 1970er und 1980er Jahren Privatisierungen zum Opfer. In privaten Konzernen aber steht der Profit grundsätzlich über dem Allgemeininteresse. In Zeiten des Klimawandels, der Seuche und der Rückbesinnung auf das Gemeinwohl liegt die Lösung doch auf der Hand: Tönnies und Co. enteignen! | Sebastian Friedrich | Seit Jahren werden in der Branche politische Schranken umgangen. Es wird Zeit, nicht nur die Symptome zu bekämpfen | [
"Globale Erwärmung",
"Bovine spongiforme Enzephalopathie"
] | Politik | 2020-08-12T06:00:00+02:00 | https://www.freitag.de/autoren/sebastian-friedrich/toennies-enteignen-fuer-klima-tier-und-mensch |
Was läuft Die Regierwütigen | Politsatiren sind auch nicht mehr das, was sie mal waren. Vor sieben Jahren, als die Serie Veep (Deutschland: Sky Atlantic HD) in den USA erstmals auf Sendung ging, galt deren Grundidee noch als Witz: dass im Weißen Haus der USA ein Haufen Leute walten und schalten, die eigentlich zu blöd, zu eitel oder schlicht inkompetent sind – lächerlich, oder? Noch mehr wurde gelacht, wenn ein Washington-Insider durchblicken ließ, dass in Veep die wahre Situation nur leicht überzeichnet sei. Was waren das noch für Zeiten, als man überhaupt noch übertreiben musste, um Satire zu produzieren! Heute hat dieses bewährte Verfahren ausgedient. Die Wirklichkeit ist schlimmer, banaler und mit Distanz betrachtet vielleicht sogar witziger als es sich die besten Comedy-Autoren je ausdenken könnten.Im „Writer‘s Room“ von Veep, in der eine fiktive Vizepräsidentin sich so lange blamiert und immer wieder die Dinge in den Sand setzt, bis sie schließlich Präsidentin wird, hat man das rechtzeitig begriffen: die Serie ist über die Jahre immer besser geworden, gerade weil sie statt sich ums Witzigsein zu scheren auf den Faktor der Bösartigkeit gesetzt hat. Veep ist Comedy ohne gute Absichten. Soll heißen: Hier meint es niemand mit niemandem gut, weder mit den Zuschauern noch mit den Figuren. Es gibt kein Identifikationsangebot, keine positiven, sympathischen Helden und noch nicht mal faszinierende Antihelden á la House of Cards. Grundsätzlich geht immer alles schief, weshalb auch die Verschwörungen und Verbrechen nie so weit gehen wie in den „großen“, ernsten Politthrillern. Was die metaphorische Monstrosität der Politik spielenden Clowns in Veep natürlich keineswegs einschränkt.Ende März startet nun die siebte und letzte Staffel. Es ist die erste, die als direkte Reaktion auf die Trump-Ära gelesen werden kann, denn Staffel 6 wurde zwar im Frühjahr 2017 gesendet, war aber noch vor Trumps Wahl im Herbst 2016 fertig geschrieben. Danach pausierte die Produktion, weil Hauptdarstellerin Julia Louis-Dreyfus eine Krebserkrankung behandeln lassen musste.Die neuen Folgen beginnen in Iowa, dem Staat, in dem Präsidentschaftskandidaten in den USA traditionell als erstes ihre Chancen testen. Hier tummelt sich nun die in Staffel 5 aus dem Amt gewählte Selina Meyer (Louis-Dreyfus), um erneut ihr Glück bei den Wählern zu versuchen. Ihr Kampagnen-Slogan lautet „New. Selina. Now“. Aber natürlich ist erstmal alles beim Alten geblieben: Die Dinge gehen schief – statt in Cedar Rapids, wo eine Tribüne voller Anhänger wartet, landet ihr Flugzeug in einem menschenleeren Cedar Falls. Ein Bürgermeisterhund, dem sie Schokolade zusteckt, fällt prompt ins Koma. Und sobald sie durchblicken lässt, dass sie ihr angebliches „Protegé“, eine Afro-Amerikanerin, zu ihrer Vizepräsidentenkandidatin machen würde, überholt die sie in den Umfragen.Zumindest zu Beginn kann Selina auch noch über ihr altbewährtes Team verfügen, eine perfekte Mischung von karrieregeilen Speichelleckern, nützlichen Idioten und hochintelligenten Totalversagern. Da gibt es die kluge, immer überspannte Amy (Anna Chlumsky), den ihr in allem unterlegenen und doch stets erfolgreicheren Hallodri Dan (Reid Scott), den trockenen Strategieberater Kent (Gary Cole), der viel weiß, aber nicht, wie man effektiv mit Wissen umgeht, und den persönlichen Assistent Gary (Tony Hale), der seiner Arbeitgeberin in allem zu nahe tritt. Ergänzt um weitere Figuren wie den allzu duldsamen Chief-of-Staff Ben (Kevin Dunne) schwirren sie um Selina herum, als ein lebendiges Mobile, eine Art wegelagernde Wohn- und Arbeitsgemeinschaft, in der keiner wirklich seinen Job tut, aber jeder seinen Senf in prägnanter Pointenform beiträgt. „Kann ich wirklich ein anderes Land für etwas beschuldigen, was es gar nicht getan hat?“, fragt etwa Selina, und Ben beruhigt sie: „Das ist ein Eckpfeiler der amerikanischen Außenpolitik seit dem Spanisch-Amerikanischen Krieg!“Die besten Zeilen gehören in Staffel 7 erneut dem unbeschreiblichen Richard Splett (Sam Richardson), dessen einziges Talent seine stets unangebracht gute Laune ist. „Ich glaube, wir müssen dem Attentäter danken“, bemerkt Selina trocken, als eine Massenschießerei die Aufmerksamkeit von einer ihrer peinlichen Auftrittspannen ablenkt. „Ich kümmere mich darum!“, meldet sich Richard eilfertig mit Blick auf die Nachrichten auf seinem Smartphone, „Oh, der Attentäter ist tot. Dann schicke ich seiner Frau vielleicht Blumen, – oh, sie war sein erstes Opfer, so ein Mist.“ | Barbara Schweizerhof | Barbara Schweizerhof ist froh über „Veep“: irre Politclowns, denen immer alles entgleitet. Spoiler-Anteil: 22% | [
"veep",
"was läuft"
] | Kultur | 2019-04-14T06:00:00+02:00 | https://www.freitag.de/autoren/barbara-schweizerhof/die-regierwuetigen |
Tatort Wart schnell | Philosophische Frage: Hat die neue Tatort-Saison angefangen, wenn sie mit einem Tatort aus Luzern anfängt? Oder ist der Tatort aus Luzern nicht der Baum im Wald, der umfällt, wenn keiner dabei ist? Ein Übergangsstadium zwischen den Wiederholungen der Sommerpause und den neuen Folgen wie Fette Hunde aus Köln am nächsten Sonntag? Ein Film, bei dem man gar nicht merkt, ob er neu ist oder wiederholt wird, weil er sich so routiniert an seinem nicht uninteressanten Thema abarbeitet, dass es ihn auch schon gegeben haben könnte?However, Tatort ist Arbeit und die Luzerner Folge Hanglage mit Aussicht, nüchtern betrachtet, nichts anderes als eine Einstimmung auf das Mittelmaß, das auch den Großteil der neuen Kampagne ausmachen wird. Dabei geht es durchaus um was, um die Korruption von Lokalpolitik, eine – spezifisch schweizerische, aber strukturell auch überall vorstellbare – steuergeldgesteuerte Standortpolitik, die Wirtschaft und Wohlstand als Markt driven denkt, dafür aber dauernd diesem Markt in der Boxengasse eigener Möglichkeiten die Reifen aufziehen muss.Interessant wird der komplexe Entwurf eigentlich erst am Ende, wenn der fiese Anwalt Louis Kaelin (Imanuel Humm) sein Dilemma als Mover und Shaker nach bestehenden Regeln erklären darf: "Die politische Situation ist einfach völlig schizophren, oder? Einerseits unterbieten sich die Kantone mit Pauschalbesteuerung da und Steuergeschenken dort, und andererseits werfen sie einem ständig Knüppel zwischen die Beine, wenn ein Ausländer Grund und Boden kaufen will. Dabei sind’s ja gerade die, die das Geld ins Land bringen, oder? Wenn wir ehrlich sind. Oder was meinen Sie, wer zahlt Ihren Lohn? Doch wohl sicher nicht der Bergbauer.""LS" und "NS" vs. "KS"Für dieses Dilemma interessiert sich Hanglage mit Aussicht allerdings so wenig wie für die Erklärungen des diesmal höchstzwielichtigen Regierungsrats Eugen Mattmann (der große Jean-Pierre Cornu), der seine politische Einflussnahme auf die Umwidmung des Gebiets, in dem der idyllisch-marode Berghof Wissifluh steht, von "LS" und "NS" zu "KS", so darlegt, dass man sich daraus ein realistisches Bild von politischem Handeln in Zeiten der Markt driven Öffentlichkeit bauen könnte. Das ist das Elend dieses Tatort (Buch: Felix Benesch, Regie: Sabine Boss): dass er nicht in die offenen Räume vordringt, die sich durch den Entwurf auftun, sondern immer nur Zeugwart sein will, der die Leibchen fürs Gut-Böse-Trainingsspiel verteilt.Die aufregende, komplexe Geschichte, die "Hanglage mit Aussicht" erzählen hätte können, wird nicht erfasst von einer Form, die in ollen Kamellen festhängt. Die Widerstandszelle auf der Wissifluh ist dem Heimatfilm abgeschaut, bei dem sich zwischen Mistgabelstapler Old Arnold (looks like a ausgezehrter Tilo Prückner: Peter Freiburghaus) und der Tochter (Sarah Sophia Mayer) ein Generation Gap auftut, das die drohende "Modernisierung" radikal (eben mit der Mistgabel) oder pragmatisch-erschöpft (durch Verkauf) handlen will. Reto "Flücki" Flückiger (Stefan "Gubsern" Gubser) muss zickig auf Topchecker machen, der lange auf der Ersatzbank geschmort wird, damit im zweiten Teil wiederum alle froh sein können, dass er mit sich mit erfahrungsgesättigten Zweifeln doch nicht so leicht ins Bockshorn jagen lässt. Solche Zwistigkeiten lenken ab und verbrauchen Dialog, der sowieso immer klingt nach Zwischenbilanzen von Verwicklungen, die sich das Drehbuch ausgedacht hat.Eine andere, merkwürdige Form der Erzählung ist die Presenter Ermittlung, die sich der Spielfilm offenbar beim durchformatierten Fernsehen abgeschaut hat. Das rechnet nur mit einem Zuschauer, der Zusammenhänge erst dann begreifen kann, wenn sie ihm durch einen Reporter und Erzähler präsentiert werden, der seine Reportage erlebt oder das von ihm erzählte Problem am eigenen Leib: Flücki packt aus seiner Robin-Hood-Sympathie am verwaisten Berghof an (Old Arnold sitzt ja ein, weil die Politik es so will), füttert die Schweine und tauscht seine Halbschuhe (die so oft vorgezeigt werden, dass sich die Firma, die sie herstellt, nicht ärgern wird) gegen Gummistiefel ein.What a Unsinn, und da muss man nicht einmal vom Lieblingsvorwurf des Zuschauers reden ("unrealistisch!"), sondern nur drauf verweisen, wie falsch diese Parteinahme als Tool zur Gesellschaftskritik ist. Wenn Flücki am Ende Mattmann off the record die unterstützende Rettung des Berghofidylls abtrotzt, dann ist das genauso korrupt wie das Supporten der Investoren zuvor – nur zugunsten der guten Sache. Da wird Pupsie Müller aka Lil' Fritzchen über den Kopf gestreichelt – ist schon alles nicht so schlimm.Hände aus den TaschenKamera und Inszenierung laufen sonst auf Tourismuswerbung hinaus (diese Totalen ins Tal sind wirklich allerliebst) beziehungsweise auf dröges Rumgerenne: Liz Ritschard (Delia Mayer) steckt ihre Hände so unterrepräsentativ in die Taschen der Lederjacke, dass man sie entweder zu vier Wochen Praktikum bei der so wunderbar herumschlenkernden Connie "The Amtsflur is my Catwalk" Mey in Bankfurt verschicken möchte oder eben der Regie empfehlen, Liz anders in Szene zu setzen.Flücki holt derweil wieder den Womanizer raus, als den man ihm bei Klara Blum am Bodensee "dereinst" (Thomas Mann) kennengelernt hat. Reizvoll sind die zahllosen Helvetismen ("Gopfriedstutz", "das schenkt natürlich mehr ein", "mach jetzt kein Büro auf"), die einen jedoch auch nur daran erinnern, dass die vermaledeite Synchronisation der Tonspur jede Atmosphäre austreibt. Da sitzt man dann allein mit der Musik (Fabian Sturzenegger), die leider die meiste Zeit so wirkt, als wäre der Produktionspraktikant am Ende in ein Geschäft für Filmmusiken geschickt worden, in dem saisonbedingt die Regale leer waren und nur noch ein USB-Stick rumlag, auf dem "irgendwie spannend" stand.Eine Unsitte, die die Zeit kostet, die damit gespart werden soll: Essen am Computer, man muss sich dauernd die Finger lecken, damit die Tastatur nicht verfettet Ein Dilemma, in dem man nicht stecken möchte: " Wir von der Immobilienbranche haben mit so vielen Vorurteilen zu kämpfen" Der Grund, warum wir uns in Gehaltsverhandlungen immer scheinbar dämlich anstellen: "Das Schweinegeld macht einfach jeden kaputt" | Matthias Dell | Aufwärmübungen fürs Mittelmaß: Der Luzerner "Tatort: Hanglage mit Aussicht" eröffnet die neue Saison mit routinierter Form, die eine spannende Geschichte verfehlt | [
"tatort"
] | Kultur | 2012-08-26T22:06:03.229385+02:00 | https://www.freitag.de/autoren/mdell/wart-schnell |
Das unheimliche Nachleben der Documenta Fifteen | Keine Documenta ohne Skandal. Die 14. Ausgabe der Kasseler Weltkunstschau hat zum Beispiel ihr Budget überzogen; die 15. Ausgabe konnte dieses Defizit wieder einspielen. Das war möglich, weil es keine teure Satellitenausstellung gab und wenige Blockbuster-Kunstwerke. Es ging um das persönliche Zusammensein, etwas, das bei den konzeptuell anspruchsvollen Ausstellungen früherer Jahre vielleicht zu kurz kam. Eine tolle Verschränkung: Die Stadt war Gastgeberin der Kunstschau, und die Bewohner*innen der Stadt waren Gäste, und zugleich, das ergab eine Untersuchung des Documenta-Instituts, waren sie stolz auf ihre Kunstschau.Bloß was, wenn noch ein ungebetener Gast vorbeikommt? Ein riesiges Banner, das antisemitische Ikonografie enthält, mitten auf dem Friedrichsplatz vor dem Fridericianum? Ein Filmkollektiv, das die Propagandafilme von terroristischen Gruppen weitgehend unkommentiert zeigt? Antisemitische Karikaturen? Die Debatte begann schon Monate vor der Eröffnung, damals ging es noch um die Nähe einiger Kurator*innen zur Israel-Boykott-Bewegung BDS, und sie wurde während der gesamten Laufzeit fortgesetzt.Vielleicht hat diese Ausgabe der Ausstellung auch eine latente politische Dimension zutage gefördert. Ganz am Anfang, 1955, sollte die Documenta an die Moderne anknüpfen, die so jäh vom deutschen Faschismus unterbrochen wurde. Lange wurde sie als das große Demokratieprojekt der jungen Bundesrepublik gesehen, das über die Jahrzehnte zur, nun ja, Weltkunstschau geworden ist: immer globaler, eine Ausstellung, die die ganze Gegenwart abbildet. Erst spät wurde weithin bekannt, dass einer der Gründer selbst eine Nazi-Vergangenheit hatte. Vielleicht, so sagte die Antisemitismusforscherin Yael Kupferberg einmal, habe diese Documenta den Deutschen einfach den Spiegel vorgehalten, womöglich hat sie deshalb so provoziert.Die Komission wirft hinDie Skandale überdauern ihre Laufzeit wie ein unheimliches Nachleben. Vor einigen Tagen wurde bekannt, dass Ranjit Hoskoté, Mitglied der Findungskommission, eine Petition von BDS India unterzeichnet hat – zwar schon 2019, aber er hielt seine Unterstützung geheim. Kurz darauf zog sich die israelische Künstlerin, Philosophin und Psychoanalytikerin Bracha Lichtenberg Ettinger aus der Kommission zurück. Sie hatte nach dem Angriff der Terrormiliz Hamas vergeblich um die Verschiebung von Sitzungen gebeten. Wenig später löste sich das Gremium ganz auf. Eine Begründung wurde bei e-flux veröffentlicht: „Wenn Kunst den komplexen kulturellen, politischen und sozialen Realitäten der Gegenwart gerecht werden soll, braucht sie angemessene Bedingungen, die diverse Perspektiven, Wahrnehmungen und Diskurse erlauben.“ Diese Bedingungen seien in der öffentlichen Debatte in Deutschland nicht gegeben.Der implizite Vorwurf im Nachgang der Documenta Fifteen war, dass deutsche Erinnerungskultur und Solidarität mit Israel einen offenen Austausch abschnürten. Eine ganz provinzielle Haltung, so die Klage. Dabei – so sagte es Meron Mendel, der Leiter der Bildungsstätte Anne Frank am Wochenende bei einem Symposium – sei der Holocaust eben singulär für Deutsche und Jüdinnen*Juden und deshalb der Provinzialitätsvorwurf aus dem internationalen Kunstbetrieb so überheblich.Ein Kurator*innenteam für die kommende Documenta wird gerade noch nicht gesucht, und das ist sicher gut: Auf der 16. Documenta lastet eine besonders große Verantwortung. | Philipp Hindahl | Nach antisemitischen Kunstwerken auf der Documenta Fifteen kommt die Kunstausstellung nicht zur Ruhe. Deshalb ist jetzt nicht der richtige Moment, um nach Personen zu suchen, die die nächste kuratieren | [
"documenta fifteen"
] | Kultur | 2023-11-22T10:30:00+01:00 | https://www.freitag.de/autoren/philipp-hindahl/das-unheimliche-nachleben-der-documenta-fifteen-philipp-hindahl-ueber-die-grosse-verantwortung-der-documenta |
Jerusalem Wohin geht die Reise? | Eigentlich ist alles gesagt über die Ankündigung von US-Präsident Trump, Jerusalem als Hauptstadt Israels anzuerkennen und die US-Botschaft dorthin zu verlegen. Es kommt selten vor, dass ein einziger gesprochener Satz, noch dazu ein kurzer und schlichter, politisch derart aufgeladen ist und das Potential hat, eine ganze Weltregion auf Jahre in Atem halten. Die einhellige Verurteilung durch die ‚Weltgemeinschaft‘ ist nachvollziehbar, könnte sich aber als voreilig erweisen, zumal die Auswirkungen wohl erst in einigen Jahren in ihrer ganzen Tragweite erkennbar werden.Interessant ist der Zeitpunkt: Vor wenigen Tagen hat erst Moskau, dann Washington den ‚Sieg über den Islamischen Staat‘ verkündet. Russlands Präsident Putin hat daraufhin den Teilabzug seiner Truppen aus Syrien angeordnet, während der US-Verteidigungsminister bereits zuvor verkündet hatte, man werde ‚jetzt nicht einfach abziehen‘, bevor der Genfer Friedensprozess Ergebnisse zeige. Wird also angesichts des absehbaren Endes eines Großkonflikts sofort die Saat für den nächsten ausgebracht? Eine mögliche Deutung, aber keineswegs die einzig denkbare.Fünf Anmerkungen aus aktuellem Anlass.1. Dass Trumps Kurswechsel international Anlass für massive, nicht immer friedliche Proteste, Gewalt und Gegengewalt sein würde, war so sicher wie das Amen, Shalom oder Allahu Akbar im Gotteshaus. Diese Phasen der Konfrontation folgen einem lange bekannten, ritualisierten Muster und gehen auch wieder vorbei, wenn nicht beständig neues Öl ins Feuer gegossen wird. Eine ernsthafte Eskalation ist sehr unwahrscheinlich, da die Entscheidung seit über einem Jahr im Raum stand. Alle an den Machtspielen der Region beteiligten Regierungen konnten sich auf den ‚Tag X‘ vorbereiten und ihre Reaktionen koordinieren.2. Die US-Regierung macht mit der Verlautbarung deutlich, dass sie weiterhin ein relevanter Player im mittelöstlichen Machtkampf ist, dessen Interessen berücksichtigt werden müssen. Angesichts ihres tendenziellen Rückzugs und der immer wichtigeren Rolle Russlands und Chinas als externe Schutzmächte macht dieser zwar ‚nur‘ symbolische, aber nichtsdestotrotz wirkmächtige Schritt deutlich, dass Washington noch lange nicht ‚abgeschrieben‘ werden kann beim Ringen um die strategische Neuordnung der Region.3. Obwohl es nicht überraschend kam, stellt sich die Situation von einem Tag auf den anderen deutlich verändert dar – fast ließe sich von einem völlig neuen Nahost-(Krisen-)Narrativ sprechen. Im öffentlichen Diskurs werden nun der Kampf gegen den IS (und um die Nachkriegsordnung in Syrien und Irak), der Katar-Konflikt sowie die saudische Palastrevolution deutlich in den Hintergrund gedrängt. Diese gezielte Verschiebung lenkt von den eigenen Niederlagen ab und erneuert das regionale gut-böse-Schema, zumindest für die internationale (westliche) Öffentlichkeit.4. Trumps Alleingang könnte Bewegung in eine völlig festgefahrene Situation bringen und das langjährige Patt im Nahostkonflikt aufbrechen. Zwar haben alle Beteiligten dieses liebgewonnen und in Stockholm-Syndrom-Manier vor jeder Veränderung des Bewährten(?) Angst, doch eröffnet dieses Aufbrechen perspektivisch auch die Möglichkeit, neue Ansätze zur Bearbeitung des Konflikts zu erkunden. Die Feststellung, dass Jerusalem israelisch und die zwei-Staaten-Lösung eine Illusion ist, mag ebenso schmerzhaft wie völkerrechtswidrig sein – falsch ist sie nicht. Rückblickend könnte sich das ‚kurzsichtige, verantwortungslose‘ Vorpreschen Trumps dereinst sogar als Durchschlagung des Gordischen Knotens erweisen.5. Das Schlüsselereignis der letzten Monate (Jahre?) im Mittleren Osten ist die Palastrevolution/ Gegenputsch/ ‚Säuberung‘ im saudischen Königshaus durch den Kronprinzen und seine Verbündeten. Alle weiteren regionalen Geschehnisse müssen (auch) in Relation dazu betrachtet werden. Damit stellt sich die Frage, welche Seite im innersaudischen Machtkampf von der Anerkennung Jerusalems und der Verlegung der US-Botschaft profitiert: Wird Mohammed bin Salman geschwächt, weil sich das Augenmerk (wieder) auf die Außenpolitik richtet statt auf seine interne Reformagenda – oder gestärkt, weil er sich als Verteidiger der Palästinenser profilieren kann, im Schulterschluss mit vielen anderen muslimischen Staaten?Viele Fragen sind offen – der Vorhang ebenfalls, und daran wird sich auch so bald nichts ändern. | smukster | Trumps Entscheidung kam nicht überraschend, die Reaktionen genausowenig. Trotz aller Aufregung – eine Eskalation ist unwahrscheinlich | [
"aussenpolitik"
] | Politik | 2017-12-15T05:54:00+01:00 | https://www.freitag.de/autoren/smukster/wohin-geht-die-reise |
Disput über Rentenvorsorge Mit der Allianz im Bett | Die "Bild"-Zeitung veröffentlichte Anfang des Jahres ein als "Verhör" angekündigtes Interview mit Norbert Blüm, tituliert mit der Schlagzeile: "Herr Blüm, sind Sie ein Renten-Lügner?" Darin verteidigte der Sozialminister a.D. seine in den achtziger Jahren aufgestellten Modellrechnungen zur gesetzlichen Rente und bezichtigte seinerseits das Blatt des "Schwindels": "Bild" beschönige die Vorhersagen der privaten Versicherer. "Bild" erstattete Strafanzeige gegen unbekannt - "Rentenlügner" müssten bestraft werden. Das Verfahren wurde eingestellt. Eine öffentliche Diskussion verweigerte Diekmann, worauf Blüm mit folgendem Brief reagierte. 16. Mai 2006Lieber Herr Diekmann,vor Wochen habe ich Sie zu einem öffentlichen Disput über "Bild und die Rente" aufgefordert. Dass ich auf eine Antwort von einem so wichtigen Mann, wie Sie es sind, Herr Diekmann, so lange warten musste, dafür habe ich Verständnis. Vom Papst zu Bush eilend, zwischendurch auch noch dafür zu sorgen, dass Sex und Porno in Bild ausreichend untergebracht werden und nebenbei noch älteren Staatsmännern auf dem Schoß sitzen, ist selbst für einen so talentierten Chefredakteur, wie Sie es sind, viel Arbeit.Hinzu kommt noch der Zeitaufwand für eine Rentenkampagne, wie Bild sie losgetreten hat. Das ist schließlich kein Pappenstiel. Manipulation von Statistiken und Diffamierungen sind nicht mit leichter Hand zu machen. Einfache Interviews werden dann von Bild als "Verhör" angeboten, um in der Staffage der Kriminalisierung von Verteidigern des Rentensystems auch nichts auszulassen. Das alles und noch mehr muss schließlich strategisch geplant und organisiert werden. Auch die Wissenschaftler, die Sie zu Zeugen aufrufen, sind nicht nur viel Geld wert, sondern müssen auch noch betreut werden. Ihr statistisches Material wird von einem Institut geliefert, das der Deutschen Bank nahe steht. Es strotzt aus allen Bild-Zeilen ein willfähriger Lobbyismus.Die Strafanzeige gegen die so genannte "Rentenlüge" war zwar eine Farce, aber sie hat auch Zeit gekostet. Und auf die angedrohte Sammelklage warte ich heute noch. Macht nichts. Mit Klamauk kann man auch Blamagen überspielen. Und dass Sie von der Staatsanwaltschaft eine klassische Abfuhr erleiden mussten, war eben eine saftige Blamage; zumal Bild doch so viel teuren "Sachverstand" zur Begründung der Klage investiert hatte. Die Niederlage zu einem Sieg umzufunktionieren, ist ein alter Trick von Leuten, die nicht zugeben können, dass sie verloren haben.Die "hammerharte Kritik" des Staatsanwalts an der Rentenpolitik habe ich im Ablehnungsbescheid nicht gelesen. Vielleicht hat Sie der Hammer der Abweisung so hart getroffen, dass bei Ihnen offenbar einiges durcheinander geraten ist. Das kann schon passieren.Der Höhepunkt Ihrer Panikmache war allerdings ein Modell, mit dem Sie die "Schrumpf-Rente" ausrechneten. 30 Jahre sollen demnach die Preise Jahr für Jahr um zwei Prozent steigen, während die Löhne in der gleichen Zeit nur um ein Prozent erhöht werden. Wenn dies geschähe, lieber Herr Diekmann, dann wäre nicht nur die Rentenversicherung gefährdet, sondern die Bild-Zeitung wahrscheinlich bankrott. Einen solchen Absturz des Lebensstandards würde sogar noch nicht einmal die Privatversicherung, für die Sie Propaganda machen, überleben. Ihr gingen die Beitragszahler aus. Von den geschrumpften Reallöhnen könnte dann auch kein Geld für Privatvorsorge abgezweigt werden, zumal die Privatversicherung bekanntlich inflationsanfälliger ist als die Rentenversicherung. Im blinden Eifer rechnen Sie sich um Kopf und Kragen.Bei Ihrer wenige Tage später folgenden Anzeige: "So sparen Sie für Ihre Zusatzrente" lassen Sie die Geldentwertung für die Privatversicherung einfach weg. "Augen zu".So spielen kleine Kinder Blindekuh. Hauptsache, die Bild-Rechnung stimmt. Scheinbar existieren gesetzliche und private Renten in der Welt der Bild-Zeitung auf verschiedenen Sternen, zumindest in unterschiedlichen Volkswirtschaften. Die Manipulation ist zu plump, um nicht aufzufallen.Meine Aufforderung zu einem öffentlichen Disput verschieben Sie auf die Zeit, in der Sie 67 oder 70 oder 75 Jahre alt sind; ("das dann gültige Eintrittsalter"). Als Begründung geben Sie an: "Weil ich derzeit Dank Ihres Wirkens noch viel für meine private Altersversicherung arbeiten muss."Darf ich Sie fragen, wie hoch die Lücke ist, die durch mein Wirken in Ihrer Renten-anwartschaft geschlagen wurde und wie groß das Zubrot ist, mit dem Sie durch Ihre Arbeit für Bild diesen Verlust kompensieren müssen? Im übrigen habe ich doch immer bei Bild gelesen, ich hätte zu wenig reformiert und zu wenig gespart. Jetzt habe ich offenbar in Ihrem Fall zu viel eingegriffen und gespart. Zu viel oder zu wenig? Beides zu behaupten, lässt auf Verwirrung schließen.Lassen Sie, Herr Diekmann, die albernen Mätzchen beiseite. Sie haben die Hosen gestrichen voll, dass in dem von mir vorgeschlagenen Disput die Machenschaften der Bild-Zeitung offenbart werden. Das ist der Grund für Ihre Absage. Schon der Monitor-Redaktion sind Sie davongelaufen, als diese Ihnen unbequeme Fragen stellen wollte. Sie sind ein Feigling!Der langen Rede kurzer Sinn: Die Bild-Renten-Diskussion hat nur einen Zweck: Die Rentenversicherung soll madig gemacht werden, damit das Geld in den Kassen der Privatversicherung klingelt. Das ist gut für das Geschäft der Allianz, mit der Sie in der Aktion "Volksrente" zusammen in einem Bett liegen.Die Bild-Zeitung entwickelt sich leider zur Zeitung des "Großen Geldes", auch wenn sie sich scheinheilig das Aussehen gibt, Sprachrohr des "Kleinen Mannes" zu sein. Die Kluft zwischen Schein und Sein hält jedoch auf Dauer niemand aus. Das ist Ihr Problem, Herr Diekmann.Wie immer mit besonders freundlichen GrüßenIhr Norbert Blüm | Dokumentation | Brief von Norbert Blüm, Sozialminister a.D., an Kai Diekmann, Chefredakteur der "Bild"-Zeitung | [] | Politik | 2006-06-02T00:00:00+02:00 | https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/mit-der-allianz-im-bett |
Happy Bürgergeld: Endlich kein Hartzer mehr, endlich Bürgerin! | 2023 ist da: Jetzt bekomme ich endlich Bürgergeld. Ich bin jetzt also „Bürger“ und kein „Hartzer“ mehr, obwohl... der einzige Harzer, den ich kenne, ist eh nur eine Käsesorte. Und eigentlich bin ich ja Bürgerin. Und jetzt auch: Bürgergeldempfängerin.Gut, als Bürgergeldempfängerin feiere ich natürlich total, dass ich ganze 53 Euro mehr für mich zur Verfügung habe. Was für ein Luxus! Darin enthalten sind ganze 40,74 Euro für Stromkosten – eine beachtliche Steigerung von 2,76 Euro zu Hartz IV. Leider bezahlte ich für Strom schon im vergangenen Jahr 69 Euro. Von den 53 Euro mehr Bürgergeld bleiben mir also nur knapp 24,74 Euro mehr. Das gleicht nicht einmal die Inflation aus. Aber das wissen Sie ja längst alles.Angst vor Schimmel und StromkostenWie viel zahlen Sie eigentlich so monatlich für Strom? Haben Sie einen Wasserboiler? In meiner vorigen Wohnung hatte ich drei davon. Drei Elektroboiler. Einen in der Küche und zwei im Badezimmer. Das Badezimmer bestand aus einer Toilette, einer Badewanne mit Duschvorrichtung und einem Waschbecken. Es war eine Sozialwohnung in einem Plattenbau. Vom Investor vernachlässigt, sodass der Wind durch die Ritzen pfiff, das Fenster bei Sturm sich bog und der Balkon schimmelte. Ich habe fünf Jahre darin gewohnt und habe in den fünf Jahren nur dreimal in der Wanne gebadet, weil ich Angst vor den Stromkosten hatte. Ja, damals schon. Ich habe hauptsächlich Ganzkörperwäsche mit einem Waschlappen am Waschbecken gemacht. Ja, das freut den Herrn Winfried Kretschmann jetzt, oder? Auch beim Heizen hatte ich Sorge, denn das System war veraltet, es zirkulierte Luft und Rostwasser in den Heizkörpern. Es waren fünf Jahre der Angst vor Schimmel und Stromkosten. Da die Wohnung für mich und mein Baby zu klein war, musste ich umziehen. Ich habe Glück gehabt und eine herzensgute Vermieterin gefunden, die eine erwerbslose alleinerziehende Mutter und ihr Kind annahm ohne Vorurteile. Das ist nicht selbstverständlich in unserem reichen Deutschland.Diese Wohnung ist nun Geschichte, wie Hartz IV. Jetzt ist 2023, blicken wir nicht zurück, blicken wir nach vorne! Also auf die explodierenden Strompreise. Wie viel wird Entlastungspaket der Bundesregierung auffangen? Das wird sich zeigen, auch auf Ihren Konten, in unserer Gesellschaft. Für uns Armutsbetroffene ist die Katastrophe längst eingetreten. Und auf die Ankündigung der neuen Abschlagszahlungen warte ich mit Bangen. Hoffentlich ist er nicht so hoch, dass ich mich entscheiden muss: Strom bezahlen oder Lebensmittel kaufen. Hoffentlich verhindert die Strompreisbremse diese Entscheidung.Wir Armutsbetroffenen haben keine LobbyIch habe Angst an diesem 1. Januar: Angst vor der sozialen Katastrophe, die auf uns zukommt. Denn zwar haben wir uns 2022 organisiert, wir Armutsbetroffenen, aber wir haben noch immer keine Lobby, wir schicken niemanden schick essen mit den Abgeordneten, wir verschicken keine coolen #Armutsbetroffen-Jahreskalender oder Kugelschreiber, und es interessiert sich niemand groß für uns, auch 2023. Zum Glück muss ich in diesem Jahr keine neue Wohnung suchen, zum Glück ist meine 1 1/2-Zimmer-Wohnung mit Küche, Esszimmer, Schlafzimmer und Büro vereint in meinem Zimmer und Hochbett und Schreibtisch im Kinderzimmer für mich und die Maus so klein, dass sie als angemessen gilt. Denn wer eine neue Wohnung suchen muss, die das Jobcenter als angemessen anerkennt, der sucht lange.Leider ist der soziale Wohnungsbau seit Jahren vernachlässigt worden, sodass es immer weniger Sozialwohnungen gibt. Und trotzdem muss sich eine neue Wohnung suchen, wer arbeitslos wird, weil das Jobcenter spätestens nach einem Jahr nur noch die Miete für eine angemessene Größe bezahlt – und, danke CDU, die Heizkosten schon ab diesem Januar nur in angemessener Höhe. So zahlen auch 2023 viele Armutsbetroffene einen Teil ihrer Miete von ihrem Regelsatz. Was bedeutet, dass von den 4,54 Euro, die ein Kind pro Tag für Ernährung bekommt, noch weniger übrig bleibt.Wir Armutsbetroffenen tanzen am Abgrund der drohenden Stromsperre oder Wohnungslosigkeit. Aber die 53 Euro Erhöhung reichen ja aus, stimmt's? Darin wenigstens sind sich die Regierenden einig. Und wer bin ich schon, das zu beurteilen... | Janina Lütt | Seit dem 1. Januar ist Hartz IV offiziell abgeschafft und das Bürgergeld eingeführt. Unsere Autorin rechnet nach, was das für ihren Geldbeutel bedeutet. Sind es wirklich 53 Euro mehr? | [
"armutsbetroffen",
"hartz iv",
"ichbinarmutsbetroffen"
] | Politik | 2023-01-03T16:03:00+01:00 | https://www.freitag.de//autoren/janina-luett/happy-buergergeld-endlich-kein-hartzer-mehr-endlich-buergerin |
Schattenseiten Digitaler Sexismus | Die versuchte Vergewaltigung im neusten Lara Croft-Spiel und Berichte, Pädophile machten sich die Social-Gaming-Seite Habbo Hotel zu Nutze, haben zu einem Wiederaufflammen der Debatte um Technik, neue Medien und Gewalt gegen Frauen geführt. Neu ist sie derweil keineswegs.Vor einigen Jahren kam eine Version von Grand Theft Auto heraus, bei der die Spieler durch „Transaktionen“ mit Prostituierten, ihre Gesundheit wieder herstellen und ihr Geld verlieren konnten. Außerdem konnte man die Frauen überfahren oder erschießen. Als das Spiel auf den Markt kam, regte sich ebenfalls öffentliches Empörung, Boykott- und Verbotsforderungen wurden laut.Jedes Mal, wenn neue Spiele oder Technologien vorgestellt werden, die Gewalt gegen Mädchen und Frauen ermöglichen, billigen oder gutheißen, tauchen die gleichen Fragen auf, um dann auch stets wieder zu verschwinden: Welchen Einfluss haben diese Spiele auf die Nutzer, welche Gefährdung stellen sie für Kinder und die Gesamtgesellschaft dar und welche Bestimmungen sollten erlassen oder auch nicht erlassen werden, um die potentiellen Schäden so gering wie möglich zu halten?Sexuell explizite VideosÜber die Jahre wurde immer wieder versucht, einzelne Spiele zu regulieren, zu verhindern oder zu verteidigen, ohne dabei den weiter gefassten Kontext zu berücksichtigen. Hier einige Beispiele, die sich in den letzten 12 Monaten in Großbritannien ereigneten: Über Twitter wurde der Name eines Vergewaltigungsopfers verbreitet, obwohl es ein Gesetz gibt, das Vergewaltigungsopfern Anonymität gewährt.Ein Mann wurde verurteilt, weil er seine Freundin online anonym belästigt hatte, indem er unzweideutige Fotos von ihr ins Netz stellte. Eine bei Facebook eingeführte Ortungs-App ermöglichte es den Anwendern, jederzeit herauszufinden, wo sich ihre PartnerInnen gerade aufhielten.Weiterhin wurden mehrere Männer vor Gericht der sexuellen Ausbeutung für schuldig befunden, die jungen Frauen Mobiltelefone geschenkt hatten, über die sie diese ausfindig machen konnten und die Nummern dann an andere Männer weitergaben. Immer wieder werden sexuell explizite Videos von Frauen ins Internet gestellt, die dazu nie ihr Einverständnis gegeben haben.Ob es nun um Stalken in sozialen Netzwerken, Belästigung über Textnachrichten oder die Demütigung durch die Veröffentlichung von Videos geht – mit der Technologie verändern sich auch die Ausdrucksformen der Gewalt gegen Frauen. Darüber hinaus ermöglicht die Technik Leuten, die Gewalt gegen Frauen gut finden oder ausüben, zueinander zu finden, sich auszutauschen und nicht selten auch Journalisten und Journalistinnen, die sich gegen dagegen aussprechen, durch Trollen zu belästigen oder zu drohen.Bei der Geschwindigkeit, mit der sich diese Veränderungen vollziehen, ist es kaum verwunderlich, dass Eltern und diejenigen, die beruflich versuchen, Frauen gegen Gewalt und Missbrauch durch Partner, Familie, Bekannte oder Unbekannte zu schützen, in ihrem Kampf immer hinterher hängen. Tatsächlich gibt es darauf, wie die Technik Gewalt gegen Frauen ermöglicht und befördert, keine schnellen Antworten.Schneller reagierenImmerhin leistet die moderne Technik auch einen Beitrag zum Schutz von Frauen, indem sie etwa eine Fülle von Informationen über Initiativen und Organisationen bietet, die Aufklärung, Schutz und Rat für Betroffene bieten.Von Mobiltelefonen bis hin zu sozialen Netzwerken ist die Technik im Guten wie im Schlechten Teil unseres Lebens geworden und es sieht nicht danach aus, als ob sie wieder an Bedeutung verlieren würde. Sexistische Gewalt findet heute immer wieder neue Ausdrucksformen, was eine junge Frau, deren Freund ihr bei Facebook nachstellte, fragen ließ: „Er muss gar nicht in meiner Nähe sein, mich anschreien oder mit wehtun, wie kann ich ihm da entkommen?“Ohne Zweifel ist das öffentliche und professionelle Bewusstsein für die Risiken, denen Frauen und Mädchen durch die Technik ausgesetzt sind, in den vergangenen Jahren gewachsen. Wir müssen aber ebenso schnell auf Missbrauch reagieren können, wir er sich ereignet. Soweit sind wir noch nicht.Übersetzung: Zilla Hofman | Carlene Firmin | Stalking in sozialen Netzwerken, Belästigung per SMS oder die Veröffentlichung privater Fotos – mit der Technik verändern sich die Ausdrucksformen der Gewalt gegen Frauen | [
"Soziale Medien",
"Short Message Service"
] | Kultur | 2012-06-27T20:00:00+02:00 | https://www.freitag.de//autoren/the-guardian/digitaler-sexismus |
Podcast „Kinderarmut ist ein Langzeitskandal“ | Von den 13,5 Millionen Menschen unter 18 in Deutschland wachsen 2,8 Millionen in Armutslagen auf, 2,4 Millionen sind jünger als 15 Jahre alt. Was steckt hinter diesen Zahlen? Mit dieser Frage haben sich auch Carolin und Christoph Butterwegge befasst – und ein Buch darüber geschrieben. In Kinder der Ungleichheit. Wie sich die Gesellschaft ihrer Zukunft beraubt blicken sie nicht nur auf Armut, sondern auch auf Reichtum, gerade unter Kindern und Jugendlichen.Sebastian Puschner, stellvertretender Chefredakteur des Freitag spricht mit ihnen im Podcast darüber, was Kinderarmut für die Kinder und Jugendlichen, aber auch für die Gesellschaft bedeutet, wie sich Armut bekämpfen lässt, und welche Rolle die Linkspartei dabei spielen kann. | der Freitag Podcast | Im reichen Deutschland leben Millionen Kinder und Jugendliche in Armut. Über diesen Misstand spricht Sebastian Puschner mit Carolin und Christoph Butterwegge | [
"Kinderarmut in den Industrieländern",
"inland"
] | Politik | 2021-10-20T20:06:18.618249+02:00 | https://www.freitag.de/autoren/podcast/kinderarmut-ist-ein-langzeitskandal |
Mindestlohn Ausgebremste Rebellen | Bundeskanzlerin Angela Merkel hat es wieder geschafft: Die zeitweilig ins Wanken geratene Front der CDU gegen einen gesetzlichen Mindestlohn hat sie auf dem Parteitag mit einem Formelkompromiss geschlossen. Der mit einem „sozialen Mäntelchen“ umhüllte Schwarze Peter beim Stopp von Niedrig- und Armutslöhnen liegt nun wieder bei den Tarifparteien. Damit ist der zwischenzeitlich verärgerte CDU-Wirtschaftsflügel besänftigt.Zwar soll es künftig für tariffreie Bereiche Lohnuntergrenzen geben. Ausgehandelt werden sie jedoch von einer Kommission der Tarifparteien. Nach Regionen und Branchen kann differenziert werden. Die „Mindestlohn-Rebellen“ – allen voran der CDA-Vorsitzende Karl-Josef Laumann und Bundesarbeitsministerin Ursula von der Leyen – wurden zurückgepfiffen. Vergeblich hatten sie der Öffentlichkeit unermüdlich erklärt, dass sie für eine verbindliche Lohnuntergrenze wie in der Leiharbeit von rund sieben Euro im Osten und knapp acht Euro im Westen kämpfen wollten. Jetzt sind sie – auch wenn sie selbst das vehement bestreiten – zu Statisten im Mindestlohn-Marionettentheater der Kanzlerin degradiert und sollen die Einzelheiten für das weitere Verfahren aushandeln.Dabei gibt es wenig Spielräume: Der Beschluss des Parteitages ist nicht viel mehr als eine Bestätigung der bestehenden Rechtslage. Schon heute können tarifliche Mindestlöhne von Arbeitgebern und Gewerkschaften vereinbart und von der Regierung für allgemein verbindlich erklärt werden. Die praktische Durchsetzung ist jedoch ein zähes Unterfangen. Bislang sind noch nicht einmal zehn Prozent der Arbeitnehmer durch derartige tarifliche Mindestlöhne geschützt.Ein zähes UnterfangenZudem gibt es immer mehr weiße Flecken in der Tariflandschaft: Während im Westen noch etwa 70 Prozent der Arbeitnehmer durch Tarifverträge geschützt sind, trifft dies im Osten nur für etwa die Hälfte zu. Der bereits vor fünf Jahren von den DGB-Gewerkschaften ausgehandelte Mindestlohn für die Leiharbeit ist bis heute nicht für die gesamte Branche durchgesetzt. Die Folge: Etwa zwölf Prozent der Leiharbeitnehmer müssen ergänzend Hartz IV beziehen. Die weitere Möglichkeit, für tariffreie Beschäftigte durch Kommissionen aus Arbeitgebern und Gewerkschaften Mindestlöhne einzuführen, ist bisher nicht ein einziges Mal genutzt worden. Der Versuch eines Mindestlohns in den oft miserabel zahlenden Callcentern ist kläglich gescheitert. Das Schicksal der vom CDU-Parteitag jetzt erneut vorgeschlagenen Kommission der Tarifparteien für die Vereinbarung von Lohnuntergrenzen ist somit vorgezeichnet. Arbeitgeberpräsident Dieter Hundt nutzt jede Gelegenheit, seine Ablehnung von Mindestlöhnen und die Gefahr der Vernichtung von Arbeitsplätzen darzustellen. Dabei widerlegen dies Untersuchungen im In- und Ausland und verweisen umgekehrt auf die Stabilisierung der Beschäftigung durch Mindestlöhne.Dass die Kanzlerin ihre Mindestlohn-Kapriolen so ungeniert schlägt, liegt auch am vielstimmigen Chor bei den Gewerkschaften. Wie ihr Vorgänger Gerhard Schröder (SPD) versteht Merkel das Prinzip „teile und herrsche“. Sie orientiert sich an denen, die ihr am besten ins wahltaktische Konzept passen. Sowohl die Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie und Energie als auch die IG Metall haben den Vorrang der Tarifautonomie bei Mindestlöhnen immer wieder betont. Die IG BAU wiederum verhandelt mit den Bauarbeitgebern seit 1995 erfolgreich tarifliche Mindestlöhne, die regelmäßig erhöht werden. Sie muss befürchten, dass generelle Lohnuntergrenzen Druck auf ihre erheblich höheren tariflichen Mindestlöhne ausüben.Verlierer sind die Gewerkschaften mit schwach organisierten Niedriglohnsektoren – insbesondere Verdi und die Gewerkschaft Nahrung, Genuss, Gaststätten, die, unterstützt vom DGB, für einen gesetzlichen Mindestlohn nicht unter 8,50 Euro streiten. Die Leidtragenden des Mindestlohn-Theaters der CDU sind aber vor allem die vielen Menschen in den Niedriglohnsektoren. Die von der Spitze der CDU zeitweilig geweckten Erwartungen auf eine existenzsichernde faire Entlohnung sind bitter enttäuscht worden. | Ursula Engelen-Kefer | Eine bittere Enttäuschung der geweckten Erwartungen: Der CDU-Parteitag räumt das Thema Lohnuntergrenze mit einem Formelkompromiss ab - zu Lasten der Niedrigverdiener | [
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] | Politik | 2011-11-16T11:55:00+01:00 | https://www.freitag.de/autoren/ursula-engelen-kefer/ausgebremste-rebellen |
Kommentar Spätes Mordopfer | Hätten jene Studenten, die später „die 68er“ genannt wurden, auf den Tod Benno Ohnesorgs anders reagiert, wenn ihnen die Stasi-Mitarbeit und SED-Mitgliedschaft seines Mörders, des Westberliner Polizisten Karl-Heinz Kurras, bekannt gewesen wären? Man kann sich der Frage nicht ohne Sarkasmus widmen. Die Nachricht jedenfalls hat alles verändert: Jetzt zeigt die Vereinigung der Opfer des Stalinismus Kurras wegen Mordes an, damals rührte sie sich nicht, damals war Ohne-sorg kein Mordopfer. Oder wenn er eines war, dann sollten die Studenten seine Mörder gewesen sein. Sechs Tage nach dem Schuss nannte ihn der Regierende Bürgermeister Heinrich Albertz „das letzte Opfer einer Entwicklung, die von einer extremistischen Minderheit ausgelöst worden ist“. Er sprach, wie es ihm Bild in den Mund gelegt hatte: „Ihnen genügte der Krach nicht mehr. Sie müssen Blut sehen.“ Gemeint waren die Studenten.Für die Studenten wurde vor allem diese öffentliche Reaktion zum Schockerlebnis. Man vergisst es bis heute nicht. Bei der abendlichen Demonstration gegen den Schah nicht dabei gewesen, am Tag danach vom Radio in der Form, dass die Studenten schuld seien, auf den Mord aufmerksam gemacht. Man begibt sich fassungslos zum Campus der Universität. Auf dem Campus sieht man, Zweitausend sind ebenso spontan gekommen. Bei der Demonstration waren es nur einige Hundert gewesen. Von nun an treffen sich die Zweitausend über Monate Tag für Tag im Audimax, um zu beraten. Dabei ist Kurras kein Thema, denn nicht nur sein Mord ist vorgefallen, sondern man hat polizeistaatliche Aktionen erlebt. In den Tagen vor dem Schah-Besuch hatte die Polizei studentische Plakate, auf denen Menschenrechtsverletzungen in Persien angeprangert wurden, wegen „Hetzpropaganda“ entfernt. Beim Besuch selber bildete sie Spalier für Angehörige des persischen Geheimdienstes, die mit Stahlruten, Totschlägern und Holzlatten auf die demonstrierenden Studenten einschlugen.Zu glauben, dass die Demokratie schon wieder scheiterte, war damals nicht verrückt. In der Bundeswehr hatten die demokratischen Reformer einen schweren Stand gegen die Traditionalisten, denen die Verschwörer des 20. Juli 1944 als Landesverräter galten. Sie wollten wieder einen Staat im Staate bilden. In Westberlin, wo die Polizei kaserniert und militarisiert wurde, weil eine Armee offiziell nicht gebildet werden durfte, hatten sie alles unter Kontrolle. Erich Duensing, von 1951 bis Ende 1967 Kommandeur der Schupo, war im Krieg Truppenkommandeur gewesen und hatte anderen Wehrmachtsoffizieren den Weg in die Polizeiführung geebnet. Als er den Auftrag erhielt, die Demonstration gegen den Schah zu kontrollieren, bezeichnete er dies als einen „Kampfauftrag“. Die Demonstranten, die sich auf einem schmalen Streifen gegenüber der Deutschen Oper aufgestellt hatten – wo der Schah weilte –, verglich er mit einer Wurst: „Dann müssen wir in die Mitte hineinstechen, damit sie an den Enden auseinanderplatzt.“Es war nicht klug, wenn viele Studenten glaubten, der Faschismus kehre zurück. In Wahrheit setzte sich langsam aber sicher der Parlamentarismus durch. Als 1969 die SPD an die Regierung kam, erreichte ihr Verteidigungsminister Helmut Schmidt gegen viel Widerstand die Gründung zweier Bundeswehr-Hochschulen. Von da an musste jeder Berufsoffizier ein akademisches Examen als zivilen Berufsabschluss ablegen. Die Bundeswehr wurde kein Staat im Staate. Aber hatten dafür nicht auch die Studenten gekämpft? Sie wussten doch wenigstens ungefähr, in welcher Auseinandersetzung sie standen. Ganz sicher wussten sie, dass es nicht um Kurras ging. | Michael Jäger | 1967 hatten die Studenten Grund zu glauben, dass die Demokratie scheitern wird. Michael Jäger über Karl-Heinz Kurras und die Folgen | [
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] | Politik | 2009-05-28T05:00:00+02:00 | https://www.freitag.de/autoren/michael-jaeger/spates-mordopfer |
Kleingarten: „Nicht zur Erholung“ | Ein Interviewtermin am Feiertag bereite ihm keine Umstände, sagt Stefan Schwarz. Seine Familie würde es ohnehin begrüßen, wenn er, der Schriftsteller, auch mal nicht zu Hause säße. Es ist einer der ersten warmen Tage im Jahr, Schwarz schlendert gemütlich durch einige große Kleingartenkolonien im Leipziger Norden. Auch andere Gartenfreunde ruhen nicht. Einer spricht den Autor mit dem Titel seines neuen Buches an: „Ah, der Gartenversager, hallo!“ Schnell wird klar, dass der Gartenfreund das Buch noch nicht gelesen hat. Sonst hätte er Stefan Schwarz nicht im selben Atemzug seine Zucchinis angeboten. Denen widmet der 1965 in Potsdam geborene Autor und Journalist ein ganzes Kapitel: „Zehn Seiten nur Zucchini-Hass“, wie er es nennt.Schwarz’ humorvolles Büchlein handelt vom erbaulichen Scheitern und von einem Generationenkonflikt. Im Gespräch erklärt er, warum er optimistisch ist, dass auch Sudanesen sich im deutschen Kleingartenmilieu wohl fühlen können, warum Gärtner manchmal kleine Nazis sein müssen und warum die Politik bei der Wiedervereinigung zurecht Angst vor den Kleingärtnern hatte.der Freitag: Herr Schwarz, ist Leipzig nicht so eine Art Geburtsstadt des Kleingartens?Stefan Schwarz: Ja, den Namen hat er von diesem etwas bedenklichen Herrn Schreber, ein Leipziger Orthopäde.Warum Leipzig?Leipzig war das Zentrum der Lebensreform-Bewegung. Daraus sind die Kleingärten entstanden. Das waren Arbeiterkulturen. Die hatten nicht so viel Grips für einen philosophischen Überbau wie Jugendstil. Aber dass man ein paar Kartoffeln anbauen und damit auch sein Einkommen aufbessern kann, das war denen sofort ersichtlich.Wen zieht es heute in die Kleingärten?Es gibt drei Generationen in den Kleingartenkolonien mittlerweile. Da sind die Jungen, die Platz für die Kinder brauchen. Dann meine Generation, die so ein bisschen inbetween ist, die nicht alles richtig macht, aber auch nicht alles falsch. Und dann gibt es natürlich die Alten, die so alte Nummern gelernt haben, etwa dass zwischen allen Pflanzen eine Hand breit Platz sein muss.Sie schreiben, dass die Kleingärtner ein spezielles Soziotop seien. Im Buch heißt es: „Ein Kleingartenverein ist wie eine Hippiekommune aus preußischen Offizieren.“Klar, die Bäume müssen beschnitten werden. Ich bin ja ein Gartenforensiker. Man kann immer sehen, wo lange nichts passiert ist. Manchmal ist vielleicht ein Partner krank und muss gepflegt werden, und dann hat man keine Zeit mehr. Dann kann man sehen, wie der Garten seine Form verliert.Schwarz lehnt sich jetzt über einen der Zäune, um eine Kostprobe seiner Gartenforensik zu geben. Er zeigt auf eine Sparte mit spärlicher Bepflanzung.Was stimmt hier nicht?Das hier geht glaube ich nicht, laut Bundeskleingartengesetz. Die haben zwar einen Kirschbaum, aber sonst nur Rasen. Das Schöne ist aber, dass die Vereine immer mit den Zähnen fletschen, dann aber doch nur wie Haushunde sind. Die knurren und kläffen, aber ich hab noch nicht erlebt, dass mal jemand rausgeschmissen wurde. Zu DDR-Zeiten gab’s das. Da kam die Spritzkolonne. Pflanzengift gab es nicht. Da kam ein Wagen von der VEB Agrochemie mit einer Tonne hinten drauf. Und dann wurden alle Bäume gegen Ungeziefer gespritzt. Und wer da nicht mitmachte, flog aus dem Verein.Gibt es denn noch Vorschriften wie zu DDR-Zeiten, wo die Kleingärtner einen Teil ihres Ertrags abgeben mussten?Ja, die gibt es. Ich weiß es nicht genau, aber ich glaube man soll zu zwei Dritteln Obst und Gemüse anbauen. Das hat damit zu tun, dass der Kleingarten sonst ein Erholungsgrundstück wäre, und der Kleingarten ist nicht zur Erholung da. Ein Kleingarten ist, wie Schreber das plante, für die Betätigung an der frischen Luft da. Man muss sich vorstellen: Um die Jahrhundertwende stand in Leipzig quasi in jedem Hinterhof ein Schornstein. Und die Lungen waren wahrscheinlich auch schwarz. Da hat Schreber vermutlich nicht ganz zu Unrecht gesagt: Lasst uns doch hier, wo wir Platz haben, Parzellen machen, und dann sitzen die Leute nicht in ihren Kellerwohnungen. Dann können die ein bisschen Sonne und Luft tanken und stehen dem kapitalistischen Verwertungsbetrieb wieder zur Verfügung.Sind das Hyazinthen?Hyazinthen sind furchtbares Unkraut! Dann hier noch Butterblumen und Euphorbien. Das sind alles Unkräuter, die zwar schön aussehen, aber im nächsten Jahr hat man davon das Doppelte. Ich würde sagen, das hier ist von jüngeren Leuten übernommen worden. Und dann haben sie gemerkt: „Oh, scheiße, das ist doch Arbeit.“ Der Baum hier ist unbeschnitten, ich würde sagen im zweiten oder dritten Jahr. Da steht noch der Roller vom Kleinen. Das ist der Klassiker: Man freut sich über den großen Garten mit 500 Quadratmetern, für das Kind. Aber eigentlich muss man den inneren Nazi in sich erwecken. Es ist der Kampf Mensch gegen Pflanze: Du hast hier nicht zu wachsen, wenn ich das nicht will.Placeholder infobox-1Wie lang hat es gedauert, bis Sie mit ihrem Garten zufrieden waren?Ich bin noch immer nicht so weit. Ich hatte den Garten zusammen mit meiner Frau vor 18 Jahren angefangen, als sie schwanger war. Dann kriegten wir so ein partnerschaftliches Problem: Ich wollte das, sie wollte dies.Sie schreiben: „Die Ehe und der Kleingarten haben viel gemeinsam. Erstens weiß man vorher nicht, worauf man sich einlässt, zweitens werden beide umso besser, je mehr Arbeit man in sie hineinsteckt.“Das Problem sind die handwerklichen Fähigkeiten, die man nicht hat. Man denkt immer, beim Kleingarten geht’s um Beete. Es geht gar nicht um Beete. Es geht um Zäune, um Laubendächer, um verrottete Türen, die ersetzt werden müssen. Das sind Originalanfertigungen. Da kann man nicht in den Baumarkt gehen. Da muss man eine Tür bauen, mit Zargen und der ganzen Schließtechnik. Da kommt man relativ schnell und oft an seine Grenzen. Oder so ein Laubendach. Das ist alles keine Raketenwissenschaft, aber es sind doch mehrstufige Vorgänge.Schwarz deutet auf eine gemauerte Gartenlaube. Im Buch nennt er sie „ÜGL“ (Übergroße Gartenlauben). Diese zu bauen, wäre heute nicht mehr legal, da Kleingärten kein Bauland sind. Die in DDR-Zeiten gefertigten, mitunter sogar zweistöckigen Häuschen genossen aber über die Wiedervereinigung hinaus Bestandsschutz.Hier hat jemand richtig saniert. Es sind sogar neue Fenster verbaut.Das ist unglaublich. Institute wurden zurückgebaut, Fabriken wurden abgerissen, ganze Braunkohlestandorte wurden niedergemacht. Aber die mit zusammengeklauten VEB-Stein gemörtelte Übergroße Gartenlaube durfte bleiben. Weil sie eine riesige Angst vor den Kleingärtnern hatten.Hat man die vielleicht nicht einfach als irrelevant erachtet?Nein, man hat schon Respekt gehabt vor der Kraft, die in diesen Vereinen steckt. Man hat sogar den VKSK, den Verband der Kleingärtner, Siedler und Kleintierzüchter, aufgelöst und zur verfassungsfeindlichen Organisation erklärt. Das ist eine Schizophrenie. Man sagte den Gartenfreunden: Ihr könnt eure Lauben behalten, aber wir nehmen euch das Instrument, euch gesamtdeutsch zu organisieren.Damit es nicht zum Kleingärtneraufstand kam?Genau. Wenn man in Bayern Staatsbeamter werden will, wird man heute noch gefragt, ob man in der SED – klar – oder im VKSK war.Glauben Sie daran, dass es Leute gibt, die einen grünen Daumen haben?Es gibt Leute, die wirklich Pflanzen hören können. Die wie eine gute Mutter die Bedürfnisse ihres Kindes erspüren. Ich hab das mühsam lernen müssen. Ich hab meine Zwiebeln immer in ein Loch in der Erde gesetzt, bis mir dann mal eine alte Aussiedlerin riet, den Boden festzustampfen. Das ist auch das Schöne, dass man in so ein Netz der kulturellen Überlieferung von Gartentechniken eingebunden ist. Ich finde es doof, wenn man das denunziert. Wenn türkische Familien in Berlin in den öffentlichen Parks grillen, dann ist das deren Kultur. Und das hier ist eben so eine Kultur, bei der man seine Parzelle hat. Da kann man ein bisschen machen, was man will, aber eben nicht alles. Und so ist der Deutsche, glaube ich. Ordnungsverliebt und anarchisch zugleich. Und es gibt ja mittlerweile auch internationales Gartenpublikum.Darüber haben Sie ein ganzes Kapitel geschrieben. Da erzählen Sie etwa von einem zugereisten Gartenfreund, der meinte, im Juli sei noch nicht die richtige Temperatur für den Garten.Na, wenn er aus dem Sudan kommt? Da fühlt man sich bei so 40 Grad wohl. Und das erreicht Deutschland nicht immer. Aber das ist eigentlich total nett, weil die Alten mit sich kämpfen. Die wollen nicht scheiße sein, die wollen keine Nazis sein, aber die wollen ihre Kultur eben auch nicht aufgeben. Die ringen mit sich, wie sie jetzt den afrikanischen Gartenfreunden irgendwie beibringen können, dass das so wird, wie sie es sich vorgestellt hatten. Das wird nicht klappen. Aber so funktioniert ja Kultur. Es geht nicht um Verdrängung und Auslöschung, es geht ums Zusammenwachsen. Die zweite oder dritte Generation von Deutsch-Sudanesen wird ihren Kleingarten wahrscheinlich anders machen. Vielleicht werden auch die Alten lässiger, man weiß es nicht.Placeholder infobox-2 | Konstantin Nowotny | Stefan Schwarz hat einen Hass auf Zucchini und glaubt, dass man den Pflanzen zuhören kann. Ein Spaziergang | [
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] | Grünes Wissen | 2019-06-23T06:00:00+02:00 | https://www.freitag.de/autoren/konstantin-nowotny/nicht-zur-erholung |
Umwelt Dreckige Wässer | Gerd Weber ist der Chef des Wasserwerks Frankfurt an der Oder. Weber muss täglich 65.000 Menschen mit Trinkwasser versorgen und er sitzt in der Falle. Die Sulfate aus den Löchern des Kohletagebaus verschmutzen zusehends das Wasser der Spree, daher muss er immer mehr Grundwasser beimischen. Aber davon hat Weber nicht genug. Der Sulfatgehalt nähert sich dem Grenzwert an.„Wir kämpfen seit 2008 dafür, dass man erkennt, woher die Verschmutzung kommt – aus den alten und aktiven Tagebauen“, berichtet Weber. „Erst als der Spreewald rot wurde, haben wir mehr Aufmerksamkeit bekommen.“ Das Wasser der Spree ist nicht nur sulfatbelastet, es ist gerade in den zuführenden Gewässern rostrot von den Eisenrückständen.Lange dachte man, die großen Probleme der auf riesigen Flächen aufgerissenen Landschaft – von der Oberlausitzer Heide bis nach Cottbus – seien die antiquierte Energiepolitik und die Umsiedlungen. Nun stellt sich aber heraus, dass auch die Verschmutzung des Trinkwassers ein gewaltiges Problem darstellt. Das beim Kohleabbau an die Luft freigesetzte Pyrit zerfällt in seine Grundbestandteile Eisen und Schwefel. Steigt das abgepumpte Grundwasser nach Jahren wieder hoch, entstehen rostrote und sulfatversetzte Grubenwässer, die sich in Bächen und Flüssen in die Landschaft ergießen.Die Vorwürfe der Umweltschützer in Brandenburg und Sachsen gegen die Braunkohleförderer sind massiv. Das aus den aktiven Tagebauen abgepumpte Grundwasser werde weder ausreichend gefiltert noch korrekt ins Erdreich eingeleitet, sagt der brandenburgische Landesgeschäftsführer des Bund für Umwelt- und Naturschutz, Axel Kruschat. In der Nähe von Welzow führt Kruschat vor, wo der Betreiber Vattenfall das sogenannte Sümpfungswasser einleitet – und wo er die Messungen vornimmt. Ein völlig verockerter Bach, in den die Grubenwasser fließen, schlängelt sich mehrere hundert Meter durch den Wald, ehe der Messpunkt kommt. Der liegt nicht etwa am Bach, sondern in einem sauberen Teich nebenan.„Kein Sauerstoff, keine Mikroorganismen, kein Futter für die Fische“Einige Kilometer weiter steht Winfried Böhmer vom "Aktionsbündnis Klare Spree", der seit Jahren vor der Verockerung der Spree und des Spreewaldes warnt. Er zeigt einen Bach, der ökologisch tot ist. „Hier gibt es keinen Sauerstoff mehr, keine Mikroorganismen, kein Futter für die Fische“, sagt Böhmer und nimmt einen Stock, um in die dicken rostigen Lagen in dem Wasserlauf zu stoßen. Der Bach ist erst vor einiger Zeit ausgebaggert worden. Die Krise werde ausbrechen, wenn ein Hochwasser diese Ablagerungen aufschwemmt, glaubt Böhmer. „Dann wird der Spreewald mit verockertem Wasser überflutet.“Die Hinterlassenschaft des alten DDR-Braunkohleabbaus wird von einer staatlichen Agentur verwaltet. Sie heißt „Lausitzer und Mitteldeutsche Bergbau-Verwaltungsgesellschaft“ (LMBV) und ist so etwas wie die Bergbautreuhand. Über eine Milliarde Euro verwaltet die LMBV, aber für die Wasserschäden des Frankfurter Wasserwerks will sie nicht zahlen. Die Begründung dafür ist seltsam: Die Grenzwerte für Sulfat seien nicht überschritten, also dürfe die LMBV schon juristisch nicht dafür aufkommen. Auch das Bundesfinanzministerium vertritt diese Auffassung. Für Wasserwerker Weber ist das keine schöne Situation. „Ich darf den Grenzwert für Sulfat nicht überschreiten – aber vorher wollen sich der Bund und die LMBV nicht an den Kosten für Wasserschäden infolge des Bergbaus beteiligen.“ Weber kann nicht mal öffentlich über die Situation klagen. Sonst bekomme er bergeweise Briefe von besorgten Bürgern, sagt er.Weil der Wasserwerker nicht so laut sein darf, hat sich die grüne Bundestagsabgeordnete Annalena Baerbock des Themas angenommen. Sie verfolgt die Neuaushandlung des LMBV-Budgets für die Jahre nach 2017. „Wir müssen endlich die Wasserfrage mit in die Kohleschäden einbeziehen“, sagte sie. „Die Bergbauverwaltungsgesellschaft muss genau wie Vattenfall und in Zukunft der EPH-Konzern ihren Beitrag für sauberes Wasser leisten – auch finanziell.“ | Christian Füller | Der ostdeutsche Kohleabbau gefährdet Trinkwasser und Tourismus. Wer zahlt? | [
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] | Politik | 2016-08-10T06:00:00+02:00 | https://www.freitag.de/autoren/christian-fueller/dreckige-waesser |
Neun Monate Nach der Flut Was nur alle 100 Jahre passiert ... | »Hier wird sich etwas ganz Tolles entwickeln!« Es gibt wohl kaum einen pragmatischeren Naturschützer als Tobias Mehnert, aber an der Flussaue bei Falkenau vor der Stadt Flöha gerät er ins Schwärmen. Schon einige Jahre bemühte sich sein Naturschutzverband Freiberg um den Erwerb dieser zehn Hektar großen Fläche. Das Hochwasser hat nun der Einwilligung des bisherigen Eigentümers nachgeholfen, so makaber es klingt. Was einmal eine durch einen kleinen Deich geschützte Ackerfläche war, hatte die Flöha in der Nacht zum 13. August 2002 in eine Insel verwandelt. Der Fluss teilt sich nun in zwei Arme, bevor ihn die Bebauung der Stadt Flöha wieder einzwängt. Abbruchkanten markieren das neue Flussbett, ein Canyon im Kleinformat, breite Schotterflächen und umgestürzte Bäume bestimmen das Bild.Jede Fläche, auf der sich Wasser ausbreiten kann, mildert zumindest die Spitzen von Flutwellen, auch wenn man stets den gesamten Gewässerlauf betrachten muss. »Statt 20 Metern hat die Flöha nun 500 Meter zum Pendeln. Sie verteilt Energie, kann in die Breite erodieren und landet mehr auf«, beschreibt Tobias Mehnert die Wirkung »seiner« Aue. Der beim Hochwasser vielfach unterspülte Bahndamm am Prallhang der Flussbiegung wird entlastet. Und in dreißig, vierzig Jahren könnten hier ein Auwald und eine Vogelinsel zu sehen sein, träumt der Naturschützer.Stückwerk ohne WeitblickRenaturierung ist hier gleichbedeutend mit Hochwasserschutz. Beim Winterhochwasser um den Jahresbeginn hat sich das schon gezeigt. Dafür aber müssen Ausbreitungsräume frei von Nutzung erworben werden, meist von privaten Eigentümern. Genau so lautet auch die Strategie des Freiberger Naturschutzverbandes. Laut Mehnert ist der Flächenerwerb überhaupt das einzige Mittel, zumindest in ausgewählten Gebieten wirksamen Naturschutz zu betreiben. Staatlichen Stellen misstraut er aufs tiefste. »Die rechte Hand weiß nicht, was die linke tut«, adressiert er seine Kritik insbesondere an das sächsische Umweltministerium. So sieht beispielsweise das im November des Vorjahres verabschiedete Wiederaufbaugesetz eigentlich die Ausweisung von Überschwemmungsgebieten vor. Zugleich wurden dem Landwirt eben dieser Falkenauer Flöha-Aue 12.000 Euro Fördermittel zugesagt, um den früheren Nutzungszustand wieder herzustellen.Etwas weiter oberhalb in Hohenfichte kann man ein weiteres Beispiel für Stückwerk beobachten. Die reißende Flöha hatte einen Damm durchbrochen und den Weg abgekürzt. Statt auf ungefähr fünf Hektar gefährdetes Ackerland zu verzichten und den anliegenden Agrarbetrieb zu entschädigen, ist der Damm wieder geflickt worden. Naturschützer Tobias Mehnert fällt es hier leicht, sich gegen Agrarsubventionen und für den freien Markt auszusprechen. »Wenn nicht durch Subventionen ein künstlicher Nutzungszustand erhalten würde, läge vieles aus ökonomischen Gründen brach.« Er weiß allerdings auch um das Problem, dass die Mitteleuropäer »einfach kein Stück Land so wild liegen lassen können, wie es nun einmal liegen geblieben ist«.Sportplatz wird FlussaueDer Weg ins nahe Hohenfichte erfordert übrigens einen langen Umweg, denn nach wie vor sind einige Brücken unpassierbar. Auch bei Pockau führt die Bundesstraße noch über eine Behelfsbrücke. Unweit dieser Brücke ist hier am oberen Lauf der Flöha ein Beispiel kommunaler Vernunft zu entdecken. In Pockau hatte es 1999 schon einmal ein räumlich begrenztes Hochwasser gegeben, das die Sportplätze unweit des Zusammenflusses von Pockau und Flöha überflutete. Kaum hergerichtet, passierte dies im Vorjahr in noch größerem Ausmaß erneut. Verloren erhebt sich nun eine einsame Anzeigetafel über den beiden Zuschauerreihen und dem wüsten Fußballfeld. In die leeren Tore kicken höchstens noch einige Jungen aus der Nachbarschaft. Der FSV Pockau wird hier nicht mehr spielen. Bürgermeister Eberhard Nowack gibt nach zwei Fluten innerhalb von drei Jahren nicht mehr viel auf Hochwasserstatistiken. Der Sportplatz wird verlegt. Das kann allerdings bis zu zwei Millionen Euro kosten, von denen Nowack nicht weiß, inwieweit sie aus dem Fluthilfefonds beglichen werden können. Im Prinzip hat Ministerpräsident Georg Milbradt den Kommunen einen hundertprozentigen Ausgleich der Reparaturkosten zugesagt. Was nichts daran ändert, dass eine Gemeinde wie Pockau erst einmal vorfinanzieren muss, wodurch ihr Zinsverluste entstehen.Am Ortsausgang von Pockau erhält die Flöha wieder eine natürliche Breite. Doch da hat sie die engeren Ortsbereiche schon passiert. »Wir müssten das 700-jährige Alt-Pockau komplett wegreißen, wollten wir einen dauerhaften Schutz vor Hochwasser«, stellt Bürgermeister Nowack achselzuckend fest. Das geht schlichtweg nicht, und etwas höhere Mauern tun es auch nicht. Insofern ist auch der von fünf auf zehn Meter verbreiterte frei zu haltende Gewässerrandstreifen im Wiederaufbaugesetz nur eine theoretische Größe. Sinngemäß gilt das ebenso für die neu definierte sogenannte HW-100-Vorschrift, die Deichhöhen oder Durchflussmindestmengen für ein hundertjähriges Hochwasser festlegt. Bleibt also doch nur das Vertrauen auf die Statistik?Die gerät nicht nur wegen der globalen Erwärmung ins Wanken. Im Erzgebirge haben die Niederschlagsextreme zugenommen. Die Durchschnittstemperatur ist in den letzten 30 Jahren um zwei Grad angestiegen. Skiliftbetreiber spüren es besonders. »Ich halte alles für möglich«, schließt Naturschützer Mehnert Wiederholungen keinesfalls aus. Und bestätigt die Erkenntnis des Pockauer Bürgermeisters. »Vor allem in engen Kerbtälern muss man sich entscheiden, ob man weiterhin Verkehr und Besiedlung will oder nicht.« So radikal ist die Alternative, wenn man zu Ende denkt.Unbelehrbar oder unverdrossen?Die sächsische Landesregierung, die Kommunen, die für den Schutz an Gewässern erster und zweiter Ordnung zuständige Landestalsperrenverwaltung, die Deutsche Bahn, die Bürger vor allem können und wollen so konsequent nicht sein. »Einen absoluten Schutz vor einem solchen Ereignis gibt es nicht«, betont Ministerpräsident Milbradt immer wieder. Will heißen: Es wird auf die Statistik vertraut und weitgehend der Zustand vor der Flut wiederhergestellt. Ergänzende Präventivmaßnahmen haben oft nur kosmetischen Charakter. Das Tal der Müglitz, die bei Heidenau in die Elbe mündet, ist beispielhaft für ein enges Kerbtal. Zu Füßen des Schlosses Weesenstein suchte sich der entfesselte Fluss ein neues Bett quer über die Schulstraße und riss ein Dutzend Häuser weg. Doch mindestens drei der Totalgeschädigten wollen am selben Platz wieder bauen. Das Recht darauf hätten sie, denn in das Baurecht ist nur insoweit eingegriffen worden, als innerhalb von ausgewiesenen Überschwemmungsgebieten nicht mehr neu gebaut werden darf. Unbelehrbar oder unverdrossen? Versicherungen zahlen nur, wenn am Schadensort wieder gebaut oder repariert wird. Doch es geht um mehr, um Bodenständigkeit, um jene seltsame Hartnäckigkeit, mit der anderswo Vulkanberge immer wieder besiedelt werden. »Wir können der Müglitz nicht das alte Bett zurückgeben, wenn hier 300 Jahre alte Häuser stehen«, sagt Günther Büschel, dessen kleine Pension von 1702 »nur« überflutet wurde und am Rande der Wasserwüste stehenblieb. Eine kräftige Betonmauer soll nach seinen Vorstellungen den Ort schützen.Damit liegt er vom kürzlich vorgestellten ersten Hochwasserschutzkonzept des sächsischen Umweltministeriums gar nicht so weit entfernt. Das kapituliert auch weitgehend vor einem naturnahen Hochwasserschutz und setzt auf traditionelle restriktive Maßnahmen. Tatsächlich geht es im Müglitztal um Schutzmauern für Orte und um drei Rückhaltebecken an Zuflüssen. Umweltminister Steffen Flath (CDU) setzt vor allem auf Maßnahmen, die wenig kosten. Landwirte sollen erosionsmindernde Anbaumethoden einführen, sogenannte Mulchsaaten, im Erzgebirge soll verstärkt aufgeforstet werden. Gegen den zähen Widerstand der Anlieger und der Tourismuslobby ist an der Weißeritztalsperre Malter der Wasserstand immerhin um 3,5 Meter gesenkt worden, um den Hochwasserschutzraum zu vergrößern. Um Brückenquerschnitte zu erweitern, will man Talstraßen absenken oder anheben. Die Deutsche Bahn schert sich wenig darum und baut die Sachsen-Magistrale im Weißeritztal oder die Müglitztalbahn genau so wieder auf wie vor dem großen Regen. Weil der ja bekanntlich in frühestens 100 Jahren wiederkommt!Der einzige Ort, an dem eine Aufschwungsünde konsequent korrigiert wird, ist die Neuansiedlung Röderau-Süd bei Riesa. Für 50 Millionen Euro werden die 400 Einwohner wieder aus der Elbaue umgesiedelt, die zu DDR-Zeiten strikt frei gehalten worden war. Der Bahndamm und der Deich vor Alt-Röderau hatten hier einen zusätzlichen Trog entstehen lassen, in dem die Häuser bis zum ersten Stockwerk versanken. Simone Anders wusste eigentlich, worauf sie sich einließ, als sie Mitte der Neunziger hierher zog. Auch sie vertraute auf die freundliche Elbe, die nur selten einmal gedroht hatte. Eine so günstige Miete von 5,11 Euro für guten Komfort wird sie in Riesa nicht mehr finden. Denn bis zum 30. Juni muss sie umgezogen sein. Wer unbedingt bleiben will, trägt alle Risiken selbst, hat das sächsische Innenministerium verfügt. Es bleibt aber keiner mehr. Nur in Ralf Münchs Werkstatt wird noch an den Autos einiger Stammkunden gewerkelt. Wenn auch er nach Riesa gegangen sein wird, bleibt von dem schmucken Neubaugebiet nur noch ein Geisterdorf.Geld ist genug daStreng genommen müsste es viele Röderaus in Sachsen geben. Würden andere Hauseigentümer nicht nur zu 80, sondern ebenfalls zu 100 Prozent entschädigt, könnten sie leichter einen Umzug an einen hochwassersicheren Standort erwägen. Geld ist offensichtlich genug da, nicht nur von staatlicher Seite. Auch im 300 Millionen Euro dicken sächsischen Spendentopf sind noch mindestens 50 Millionen übrig, so dass der Dachverein Sachsen helfen e.V. unter Landesmutter Angelika Meeth-Milbradt jetzt 95.000 Postkarten in Flutgebiete verschickt, um für die Inanspruchnahme des Geldes zu werben! Geld war auch genug da, um an den Gebirgsflussläufen erst einmal wahllos alle Ufergehölze herauszureißen, tiefwurzelnde Erlen eingschlossen. Der Unfug ist durch aufgeschotterte Uferbefestigungen vielfach komplettiert worden. »Hochwasserbeschleunigungskanäle« nannte sie PDS-Umweltpolitikerin Andrea Roth im Landtag. Vielleicht aber regelt ganz im Sinn von Naturschützer Mehnert der Markt doch das künftige Gefährdungspotenzial. In Freital an der Weißeritz beispielsweise klagen schwäbische Hauseigentümer, dass niemand mehr ihre Wohnungen mieten will. | Michael Bartsch | In Sachsen ist von einem nachhaltigen Hochwasserschutz kaum mehr die Rede | [] | Politik | 2003-04-25T00:00:00+02:00 | https://www.freitag.de/autoren/michael-bartsch/was-nur-alle-100-jahre-passiert |
Bildungssystem Jahrgänge der Erwartungshorizonte | Unsere Kinder müssen konkurrenzfähig werden! So lautet die große Botschaft, deretwegen G8 eingeführt wurde. Im internationalen Vergleich seien die Abiturienten zu alt, die Studenten begännen damit zu spät ihr Studium, um sich gegen die internationale Konkurrenz durchsetzen zu können. Doch wollen unsere zukünftigen Arbeitgeber überhaupt erschöpfte, verbissene Konkurrenzmaschinen?Bevor die gravierenden Probleme der Bildungsungerechtigkeit in Deutschland beseitigt wurden, wurde das Abiturtempo verschärft, die Konkurrenz erhöht. Jeder konnte sich denken, wozu ein Doppeljahrgang führen würde, der an die Universitäten strömt: Die NC schossen in die Höhe, die Wartesemester mit. Die deutschen Abiturienten kommen nach regulär 12 Jahren, in denen sie gelernt haben, Erwartungshorizonten gerecht zu werden, an die Universitäten. Nachdem in den Gymnasien das Konkurrenzdenken schon etabliert ist – Schulformen untereinander, Gymnasien untereinander, Schüler untereinander – fanden sich die Schüler des G8-Doppeljahrgangs in unmittelbarer, an den NC ablesbarer Konkurrenz wieder. Ein ganzer Doppeljahrgang kämpfte um die raren Studienplätze. Und sie kämpfen noch immer. Denn die Schüler, die ein Jahr warteten, um dem Andrang auszuweichen, bewerben sich dieses Jahr. Und auch im nächsten.Nicht wenige waren gerade erst 17 geworden, als sie Abitur hatten. Im internationalen Vergleich wären sie auf keinen Fall zu alt. Aber was nützt das – wenn sie noch nicht wissen, was sie später machen wollen? Die Zeit, in der sie hätten herausfinden können, wofür sie brennen, war voll mit Klausurterminen und Abiturprüfungen. Selbst auf das Auslandsjahr müssen sie meist noch warten, weil sie unter 18 Jahren im Ausland zu wenig Möglichkeiten und Rechte haben.Mehr Zeit für Kompetenz wagen Die Überflieger oder Begeisterten, die ihre Richtung bereits gefunden haben – und die richtigen Noten oder Glück im Losverfahren hatten, oder „standortflexibel“ sind – konnten mit dem Studium beginnen. Doch in vielen Fächern geht es weiter mit der Konkurrenz. Bachelor, Master, Regelstudienzeit... im internationalen Vergleich mithalten! Den Industrie- und Forschungsstandort Deutschland stärken, für Innovationen sorgen!Doch wie können wir, die ehemaligen G8-Kinder, das schaffen? Wir, die keine Zeit für Leidenschaften, Muße, Entdeckerfreude, Begeisterung hatten, die für Innovationen genau wie für Kultur so wichtig sind? Auf einem ungerechten Bildungssystem wurde ein System des Wettbewerbs aufgebaut, und die Erwartungen der jungen Studenten an sich selbst sind groß. Grundschule, Gymnasium, Auslandsaufenthalt, Uni, Karriere; das wird erwartet. Denken wir. Ein linearer, karriere- und konkurrenzorientierter Lebenslauf. Überhaupt ist der Lebenslauf sehr wichtig für uns. Ohne Lücken, ohne Orientierungsphasen, ohne die Möglichkeit, sich zu irren. Studium abbrechen? Auf keinen Fall!Wir denken, dass unsere zukünftigen Arbeitgeber das perfekte Zeugnis, den perfekten Lebenslauf erwarten. Wo bleibt aber da die Zeit für Engagement? Wissen diese Arbeitgeber, dass ein Einser-Zeugnis nichts über Mündigkeit, Selbstständigkeit, Talent, Lernfreude sagen muss? Über Kompetenz?Letzteres ist ein wichtiges Wort. Im Lexikon heißt es:„Psychologisch betrachtet definiert man Kompetenz als 'die bei Individuen verfügbaren oder durch sie erlernbaren kognitiven Fähigkeiten und Fertigkeiten, um bestimmte Probleme zu lösen, sowie die damit verbundenen (…) Bereitschaften und Fähigkeiten, um die Problemlösungen in variablen Situationen erfolgreich und verantwortungsvoll nutzen zu können.' “Verfügbar und erlernbar ist Kompetenz, diese These würde ich wagen, bei den meisten von uns. Aber wird sie in Konkurrenz gefördert? Können wir, die Jahrgänge der Erwartungshorizonte, „Problemlösungen in variablen Situationen erfolgreich und verantwortungsvoll nutzen“? Und wie viel Wert legen unsere zukünftigen Arbeitgeber darauf, herauszufinden, ob wir kompetent sind? Lesen sie dafür nur den Lebenslauf? Und muss dieser dafür lückenlos und akademisch orientiert sein?Keine Angst vor den Arbeitgebern!„Arbeitgeber“ ist bei uns Abiturienten ein abstraktes Schlagwort, und es ist mit Erwartungen, Hoffnungen und Ängsten besetzt. Sie entscheiden einmal über unsere Zukunft. Komme ich in das Unternehmen, die Institution, den Beruf, von dem ich träume?Wir vergessen dabei, dass unsere zukünftigen Arbeitgeber mehr erwarten als formelle Perfektion, weil sie - im positiven Sinne! - gewissermaßen aus der Zeit fallen. Sie gehören einer Generation an, in der es nicht selbstverständlich war, ein Gymnasium zu besuchen und Abitur zu machen. (Nicht, dass das heute so wäre - aber Gymnasiasten wird das von allen Seiten eingeredet.) Viele von denen, die morgen unsere Lebensläufe anschauen, haben - wenn überhaupt - Abitur auf dem 2. Bildungsweg gemacht. Viele hatten vielleicht keinen perfekten Karrierestart, keinen glänzenden Lebenslauf, doch sie brennen für etwas, haben ihre Leidenschaft auf unkonventionellen Wegen zum Beruf gemacht – und sind damit erfolgreich. Es ist wichtig, zu verstehen, dass die Leute, die über unsere Zukunft entscheiden, Empathie besitzen. Dass ihnen der Wert von Begeisterung, Neugierde, Kreativität und Kompetenz bewusst ist. Denn auf diesen vier Säulen, davon bin ich überzeugt, ruht unsere Zukunft.Die Demokratie, die zukünftigen Arbeitgeber, die Wirtschaft, die Politik, das Gesundheitssystem und die Kultur brauchen kompetente Gestalter. Querdenker. Keine menschlichen Suchmaschinen. Die gibt es schon digital, und sie sind bei Weitem mächtig genug. | Helke Ellersiek | Was schafft Wissen? Die zweite Runde G8-Abiturienten strömt an die Universitäten, Konkurrenz und Leistungsdruck sitzen im Nacken. Doch es gibt Hoffnung. Eine Beruhigung | [] | Politik | 2014-10-14T21:43:00+02:00 | https://www.freitag.de/autoren/helkonie/jahrgaenge-der-erwartungshorizonte |
Rundfunkgebühren in Frankreich abgeschafft: Der Anfang vom Ende? | Bei der AfD wird in die Hände geklatscht, die österreichische FPÖ fordert, unverzüglich dem Beispiel Frankreichs zu folgen und die Partei von Marine Le Pen feiert es sowieso als ihren Erfolg: In Frankreich wird die Rundfunkgebühr abgeschafft. Statt der Zahlung von zuletzt 138 Euro jährlich pro Haushalt mit einem Fernsehgerät wird der Rundfunk künftig aus Steuereinnahmen finanziert.Doch die Regierung wird nicht müde zu unterstreichen, dass der audiovisuelle Sektor nicht in Gefahr sei, dass es sich lediglich um einen Verwaltungsakt handele. Grund dafür sei die lange beschlossene Abschaffung der Wohnsteuer, mit der zusammen die Rundfunkgebühr bislang erhoben wurde. Dadurch müsse nun eine neue Finanzierungsmethode gefunden werden. Gleichzeitig verkauft man die Maßnahme als Geschenk an einkommensschwache Haushalte, die sich in Zeiten sinkender Kaufkraft mit dem Wegfall der Gebühr auch tatsächlich entlastet sehen.Doch die Beschäftigten des öffentlich-rechtlichen Rundfunks sorgen sich, ob die bislang 3,2 Milliarden Euro Einnahmen aus der Gebühr wirklich in gleicher Höhe durch Steuerabgaben garantiert werden können. Zwar versichert die Regierung, das Budget jeweils im Voraus festzulegen und zu zahlen, um Planungssicherheit über das gesamte Jahr zu garantieren. Doch was, wenn durch sinkende Steuereinnahmen plötzlich weniger Budget im Gesamthaushalt vorhanden ist? Wie wäre es zu rechtfertigen, dass der öffentlich-rechtliche Rundfunk von Sparmaßnahmen nicht betroffen wäre, wenn in anderen Bereichen Einschnitte drohen? Wohl gar nicht. In der Branche stößt die Entscheidung daher auf große Ablehnung und schürt Ängste.Liste von Privatisierungen in Frankreich ist langWenn die Politik das Budget für France Télévision, Radio France, Arte und weitere Sendeanstalten in der Hand hat, könnte der Druck tatsächlich zunehmen. Sowohl auf die inhaltliche Gestaltung der Programme als auch auf die Strukturen innerhalb der Sender. Natürlich ist es nichts Neues, dass in einem zentralistischen Land wie Frankreich der Staat in vielen Bereichen präsent ist, auch in der Presselandschaft. Bis vor wenigen Jahren ernannte der Staatspräsident sogar die DirektorInnen von France Radio und France Télévision. Dabei beruft man sich gern auf die „exception culturelle“, auf die herausragende Stellung der französischen Kultur, die es durch staatliche Vorgaben zu schützen gilt, bestes Beispiel dafür sind die Quoten für französische Musik im Radio und französische Spielfilme im Fernsehen. Hier soll der Staat die schützende Hand über den Medien (und über der französischen Sprache) sein und sie vor ausländischer Einflussnahme schützen.Doch was, wenn die Kultur in Zukunft nicht mehr vom Staat geschützt wird, sondern seinem Wohlwollen ausgeliefert ist? Das heißt vor allem abhängig von der Hand am Geldhahn? Vermutlich könnte dann die Regierung mit dem Argument aufwarten, dass eine zumindest teilweise Privatisierung das Beste für die Angestellten und Zuschauer wäre. Und da der Rückzug des Staates aus vielen öffentlichen Bereichen sowieso Teil der Macron’schen Leitlinie ist, käme das nicht mal überraschend: angefangen von der Bahn über die Post bis zu den Pariser Flughäfen. Die Liste der Privatisierungspläne ist lang. Und gerade hochwertige Programme wie das Radioangebot von France Culture könnten wohl kaum dem Marktdruck im Privatsektor standhalten. Ebenso wären Kürzungen bei Gehältern und Kündigungen wohl nur eine Frage der Zeit.Dabei ist gerade in Zeiten des sich immer schneller drehenden Informationskarussells, in Zeiten von Fake-News, Pay-TV und der erdrückenden Konkurrenz durch soziale Medien wichtig, Kontinuität und solide Berichterstattung aufrechtzuerhalten. So riskiert Frankreich, mit dem neuen Finanzierungsmodell einen gefährlichen Weg einzuschlagen, der in anderen Ländern Nachahmer findet. Noch ist offen, ob das Regierungsversprechen eingelöst wird, dass die Unabhängigkeit des Rundfunks und seine Strukturen bestehen bleiben, oder ob nur der Anfang vom Ende des Systems eingeläutet wurde.Placeholder authorbio-1 | Romy Straßenburg | In Frankreich muss die Finanzierung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks neu organisiert werden. Schon wächst die Angst vor dem großen Ausverkauf unter Präsident Emmanuel Macron | [
"Emmanuel Macron",
"Öffentlich-rechtlicher Rundfunk"
] | Kultur | 2022-08-31T04:00:00+02:00 | https://www.freitag.de/autoren/linkerhand/rundfunkgebuehren-in-frankreich-abgeschafft-der-anfang-vom-ende |
Tourismus An unserem Platz | Dieser Typ soll ein Obdachloser sein? Der Mann Anfang 50, der da lässig an einem Altkleidercontainer lehnt? Er erzählt den Menschen, die um ihn herumstehen, dass man alte Kleidung direkt an soziale Einrichtungen geben soll, nicht in den Sammelcontainer – weil dort nicht garantiert sei, dass sie auch wirklich bei den Betroffenen ankommt.Der Mann trägt eine kurze Hose, Umhängetasche, Ray-Ban-Sonnenbrille und einen Kapuzenpulli. So stellt man sich keinen Obdachlosen vor. Und so war es doch auf dem Flyer angekündigt: „Obdachlose zeigen ihr Berlin“.Willkommen beim Sightseeing – aus der Perspektive der Menschen, die auf der Straße leben. Etwa 20 Interessierte haben sich vor einem Altkleidercontainer in Berlin-Schöneberg versammelt und hören Carsten Voss zu. Schöneberg gehört zu den bürgerlichen Bezirken der Stadt. Und ja, Voss, der Stadtführer, war hier wirklich mal obdachlos. Sechs Monate lang, er schlief auf der Straße oder wohnte bei Freunden auf der Couch und in einer Gartenlaube, erzählt er. Die Stadttour habe er sich ausgedacht. Er will an die Plätze führen, an denen er sich damals aufhielt.Ein liberaler KiezDie Tour beginnt am Nollendorfplatz. „Obdachlose nennen den Platz ,Bermuda-Viereck‘ “, klärt Voss auf, „weil er vier Eckpunkte hat: Parkbänke, Spätverkaufsstellen, den großen Bahnhof und einen Supermarkt mit Pfandflaschenautomaten, der 24 Stunden geöffnet hat.“ Sein Publikum, überwiegend Akademiker um die 30, hört ihm konzentriert zu. Auch die Presse ist da. Um nicht zu sagen: Voss wird von Mikrofonen belagert. In welchen Kiezen sich Obdachlose besonders ungern aufhalten, will ein Zuhörer wissen. Voss weiß es nicht so genau. Er war ja nur in Schöneberg auf der Straße. Und das sei ein „sehr liberaler Kiez“ – das würden die Obdachlosen spüren. Sie würden dort nicht als Aussätzige betrachtet, die Anwohner seien hilfsbereit. Obdachlose kämen gerne hierher, sagt Voss.Überhaupt weiß er viel Positives zu berichten. Berlin verfüge über ein weites soziales Netz, es gibt viele Einrichtungen wie Kältenothilfen oder Suppenküchen. Das würde viele Obdachlose aus anderen Städten anziehen. Wie viele Obdachlose es in Berlin gibt, kann nur geschätzt werden: Bis zu 4.000 sollen es laut Senat sein. Die Caritas gibt an, dass im Jahr 2010 mindestens 11.000 Menschen in Berlin ohne eigenes Dach waren, meist Männer zwischen 40 und 50 Jahren. Sie haben meist durch eine Trennung oder den Verlust der Arbeit den Boden unter den Füßen verloren.Vom Nollendorfplatz führt Voss weiter über den Winterfeldt- zum Viktoria-Luise-Platz, früher ein alternativer Kiez, heute Refugium einer wohlhabenden Mittelschicht. „Es gibt zwei Seiten am Viktoria-Luise-Platz“, sagt Voss. „Auf der sonnigen Seite sitzen die berühmten Wilmersdorfer Witwen und andere Anwohner. Auf der schattigen, nahe dem 24-Stunden-Kaiser’s, die Wohnungs- und Obdachlosen.“ Er selber habe auf der Schattenseite gesessen.Erst Workaholic, dann Burn-outNur wie kommt einer, der so eloquent reden kann und alles andere als kaputt wirkt, überhaupt dahin? Vor anderthalb Jahren erlitt Voss einen Burn-out, er war damals Workaholic, jettete um die Welt und hielt irgendwann dem Druck nicht mehr stand. Der ehemalige Manager eines großen Modeunternehmens verlor seinen Job und seine Wohnung. Nur die Verzweiflung habe ihn dazu gebracht, die Scham zu überwinden und sich schließlich an eine ihm bekannte Einrichtung zu wenden. Dort bat er um Hilfe.Soll man Obdachlose ansprechen, oder wollen sie in Ruhe gelassen werden, möchte ein junger Mann wissen. „Immer ansprechen“, antwortet Voss. Sie würden dann schon zeigen, ob sie Lust aufs Reden hätten. Es gehe darum, wahrgenommen zu werden. Ein anderer Tourgast sagt, es sei für ihn eine besondere Erfahrung, einem Ex-Obdachlosen gegenüberzustehen. Er sei von seiner Frau hierhergeschleift worden. „Schon extrem, wie schnell das gehen kann, dass man obdachlos wird“, sagt diese.Die Tour geht weiter zum legendären Bahnhof Zoo. „Hier dominieren Prostitution und Drogen, daran hat sich nichts geändert“, sagt Voss. Er führt die Teilnehmer zur Rückseite des Bahnhofsgebäudes. Wichtig für die Obdachlosen sei der Zoo wegen der Bahnhofsmission, erklärt er. Dort wolle er mit der Gruppe aber nicht hinein, die Tour soll nicht voyeuristisch werden.Nur nicht wegschauen!Man kann den Organisatoren nicht vorwerfen, hier nur zynisches Marketing zu betreiben und die neueste Tourismus-Masche auszuprobieren. Man wolle „einen Raum für Begegnungen und Austausch schaffen“, erklärt Jochen Wagner, einer der Gründer von „Stadtsichten“, dem Verein, der sich das Tour-Konzept mit Voss gemeinsam ausgedacht hat.Das Projekt sei aus dem Wunsch entstanden, endlich mal „etwas Konkretes“ zu machen – und aus persönlicher Beobachtung, sagt Jochen Wagner: „Obdachlose sieht man überall in der Stadt. Nur wirklich begegnen tut man ihnen nicht.“ Man spüre immer die Befangenheit der Leute – auch bei dieser Stadtführung gebe es Berührungsängste.Zuletzt geht es am Fünf-Sterne-Hotel Waldorf Astoria vorbei, am Breitscheidplatz endet die Führung. Für Voss ist das hier „typisch Berlin“: ein Luxushotel und eine Anlaufstelle für Obdachlose nur 50 Meter voneinander entfernt. „Die Obdachlosen sind mittendrin, und trotzdem nimmt man sie nicht wahr.“Am Ende hat Voss noch einen Appell. „Gebt ihnen die Würde wieder“, ruft er, auch wenn er selbst auch gute Erfahrungen gemacht hat. Generell würden die Leute aber immer öfter wegschauen. Man spürt, dass das einer sagt, der weiß, was es bedeuten kann, links liegen gelassen zu werden. Wegschauen sei das Schlimmste, sagt er, dann noch lieber beschimpfen. Voss hat heute wieder eine Wohnung. Und er arbeitet jetzt ehrenamtlich bei einer sozialen Einrichtung für Obdachlose. Die Stadttour, sagt er, ist seine Therapie. | Jacques Kommer | Obdachlose zeigen Gästen, wo sie normalerweise wohnen. Ist das mehr als zynisches Stadtmarketing? | [
"obdachlose"
] | Alltag | 2013-07-04T09:30:00+02:00 | https://www.freitag.de/autoren/liquid/an-unserem-platz |
Kolumne Schäm dich! | Wenn ich diesen Begriff schreibe, dann fällt zuallererst ins Auge, dass „die weibliche Scham“ zwei unterschiedliche Bedeutungen annimmt. Einerseits verweist das Substantiv von „sich schämen“ auf einen Zustand – ein Gefühl. Andererseits verweist es auf eine Körperregion: Den sogenannten „Schambereich“. Hallo? Das ist unsere VULVA! Was hat denn das mit Scham zu tun? Bei Männern heißt das Gebamsel untenrum übrigens einfach „Genitalbereich“ – während selbst in etablierten Lexika, genauso wie in der freien Online-Enzyklopädie bei Frauen von der „Scham“ die Rede ist. Denken Sie mal darüber nach.Um zu unterstreichen, welche Nervenbahnen ich mit meinen kleinen Einwürfen in dieser Kolumne gerne kitzeln würde, möchte ich ein sehr junges Beispiel aus meinem Alltag schildern. Dafür muss ich mich ganz schön zusammennehmen, denn das zentrale Thema dieser Kolumne – sich schämende Frauen – trifft mich natürlich auch. Aber was nützt es? Im Sinne des gesamtgesellschaftlichen Diskurses springe ich über meinen Schatten:Es geht um einen Scheidenpilz. Oho! Ja, ich weiß, es ist Ostern, der Papst hält Ansprachen und das ist jetzt ein bisschen viel für Sie. Außerdem kennen Sie vielleicht den komischen Spruch aus ihrer Kindheit oder Jugend: „Wenn Mädchen pupsen, kommen Schmetterlinge raus“ ? Denn Kacken, pupsen, Urinieren und – ja: Genitalpilze – das sind halt doch nicht so die Dinge, die man gerne mit diesen reinen und schönen Wesen, den Frauen, in Zusammenhang bringen will.Erröten in der ApothekeAlso ich eben so mit diesem Scheidenpilz. Arzt, Rezept, Apotheke – alles kein Ding. Da mein Arzt mir noch sogenannte Milchsäure-Zäpfchen empfohlen hatte, fragte ich auch danach bei der jungen und hübschen Apothekerin (ich weiß nicht, inwieweit die Information „jung und hübsch“ in diesem Zusammenhang relevant ist – entscheiden Sie bitte selbst; aber sie hatte ein sehr gepflegtes und irgendwie glattes Äußeres): „Haben Sie Milchsäure-Zäpfchen?“ – Erstaunter Blick. Leichtes Erröten. Nach einer kurzen Pause, in der sie offensichtlich nachdachte, wie sie es sagen soll, fragte sie: „Sie meinen, für die FRAU?!“ – damit machte sie mich ein wenig sprachlos. Ich meinte ja schließlich diese Zäpfchen, die man sich in die Vagina steckt, und nein – nicht für die Frau, sondern gegen Scheidenpilz Herrgott! Aber ich wollte die gute Frau nicht restlos im Boden versinken lassen, sagte also ja. Denn verstanden hatte ich sie ja.Können Sie mir folgen? Oder finden Sie vielleicht, ich übertreibe?Tracy Clark-Flory greift das Thema in Salon auf und betrachtet den Effekt, den es hat, wenn die Sexspielzeuge von Frauen unbeabsichtigt in die Öffentlichkeit gelangen – so klein diese auch sein mag. Da ist zum einen der Hund, der einen Dildo im Garten versteckt. Oder der Vibrator, der bei einem Notfall von Feuerwehrleuten entdeckt wird – solcherlei Geschichten sind bei Salon zu lesen. Clark-Flory hält fest: „Vibrators, like tampons, stand out among women's most-dreaded scenarios of public humiliation.” Ist das bei Männern auch so? Ich frage ganz offen. Weil mich das wirklich interessiert.Das Handtuch des BalthazarLassen Sie mich ein letztes Beispiel anführen, und dann mache ich auch wirklich Schluss: In meiner Jugend gab es einen Jungen, Balthazar. Der war unglaublich wild und seine Hormone gingen ziemlich mit ihm durch. Für meinen Geschmack kam er sich selbst ein bisschen zu geil vor – aber eine nicht unerhebliche Zahl von Mädchen schwärmte sehr für ihn, und die meisten Jungs nahmen ihn sich als Vorbild, was die Perfektion von Vulgärsprache angeht. Balthazar wusste genau, wie er die Schmetterlinge-pupsenden Mädchen zum quieken bringen konnte: er holte sein Handtuch. Ja genau: DAS Handtuch. Es war eigentlich kein Handtuch mehr – eher so ein Prügel, als hätte man ein Handtuch in Beton gebadet. Ich habe nie wieder jemanden seine Selbstbefriedigung so zelebrieren sehen, wie ihn. Während Balthazar sich damit das Maximum an Respekt verschaffte, sah die Lage bei uns Mädchen ganz anders aus. Zufällig war ich mit Balthazars damaliger Freundin eng befreundet, Franzi. Sie war wunderschön, unglaublich stylisch und so trendsicher wie keine sonst. Genauso wie die junge hübsche Apothekerin war Franzi glatt. In einem dieser intimen Gespräche zwischen 13-jährigen Mädchen kam es auf das Thema Selbstbefriedigung. Es war eine dieser „Etwa-Fragen“, und sie ging aus von Franzi: „Ihr befriedigt euch doch nicht etwa selbst?!“ – verstehen Sie: Etwa. Keine andere Antwort außer einem entrüsteten „nein! Um Gottes Willen!“ kam in Frage. Das ist so eines dieser inkludierenden Rituale gewesen. Emma, eine andere Klassenkameradin, wurde sodenn auch radikal exkludiert und zur persona non grata erklärt, als Franzi und ihre Schleppenträgerinnen das Gerücht in die Welt hauten, im Schullandheim habe Emma sich heimlich selbstbefriedigt.Ich steige jetzt einmal auf mein „feministisches Hohes Ross“ – wie Tracy Clark-Flory es am Ende ihrer Kolumne auch so wunderbar ausdrückt – und behaupte, dass all das kein Zufall sein kann! Dass die Vulva „Scham“ genannt wird; dass Labien „Schamlippen“ sind; dass ein Mittel gegen Scheidenpilz mir in der Apotheke als ein Medikament für die Frau feilgeboten wird; dass Sextoys von Frauen diesen „Busted!“-Effekt haben; dass Jungen vor 15 Jahren ihre Onanie zelebrierten, während Mädchen sich damit gegenseitig diskreditierten.Her mit allen Sinnen!Umso wichtiger sind solche Bücher wie Sex – so machen’s die Frauen von Melinda Gallagher und Emily Kramer, das Tabus auf liebe- und lustvolle Art und Weise bricht. Indem Frauen von ihren ersten Masturbationserfahrungen und -techniken erzählen, wird scheinbar "Verbotenes" normalisiert und entdramatisiert. Diese Philosophie zieht sich durch das gesamte Buch. Weg mit der Scham, her mit der Lust! Weg mit den drei Affen (nichts sehen, nichts hören, nichts sagen), her mit allen Sinnen und her mit den richtigen Worten, um dem Partner zu sagen, was einem gefällt (und was nicht)! | Katrin Rönicke | Schämen sich Frauen mehr als Männer? Eine kleine Retrospektive der weiblichen Scham | [] | Kultur | 2011-04-25T08:00:00+02:00 | https://www.freitag.de/autoren/katrin/scham-dich |