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2025-07-23 00:00:00
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Urteil des Gerichtshofs (Erste Kammer) vom 4. Mai 2023.#T.A.C. gegen Agenția Națională de Integritate (ANI).#Vorabentscheidungsersuchen der Curtea de Apel Timişoara.#Vorlage zur Vorabentscheidung – Entscheidung 2006/928/EG – Verfahren für die Zusammenarbeit und die Überprüfung der Fortschritte Rumäniens bei der Erfüllung bestimmter Vorgaben in den Bereichen Justizreform und Korruptionsbekämpfung – Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Art. 15 Abs. 1 – Art. 47 – Art. 49 Abs. 3 – Öffentliches Wahlamt – Interessenkonflikt – Nationale Regelung, die ein Verbot der Bekleidung öffentlicher Wahlämter für eine vorbestimmte Dauer vorsieht – Sanktion, die zur Beendigung des Mandats hinzutritt – Grundsatz der Verhältnismäßigkeit.#Rechtssache C-40/21.
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62021CJ0040
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ECLI:EU:C:2023:367
| 2023-05-04T00:00:00 |
Emiliou, Gerichtshof
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Sammlung der Rechtsprechung – allgemein
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62021CJ0040
URTEIL DES GERICHTSHOFS (Erste Kammer)
4. Mai 2023 (*1)
„Vorlage zur Vorabentscheidung – Entscheidung 2006/928/EG – Verfahren für die Zusammenarbeit und die Überprüfung der Fortschritte Rumäniens bei der Erfüllung bestimmter Vorgaben in den Bereichen Justizreform und Korruptionsbekämpfung – Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Art. 15 Abs. 1 – Art. 47 – Art. 49 Abs. 3 – Öffentliches Wahlamt – Interessenkonflikt – Nationale Regelung, die ein Verbot der Bekleidung öffentlicher Wahlämter für eine vorbestimmte Dauer vorsieht – Sanktion, die zur Beendigung des Mandats hinzutritt – Grundsatz der Verhältnismäßigkeit“
In der Rechtssache C‑40/21
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Curtea de Apel Timişoara (Berufungsgericht Timişoara, Rumänien) mit Entscheidung vom 12. November 2020, beim Gerichtshof eingegangen am 26. Januar 2021, in dem Verfahren
T. A. C.
gegen
Agenția Națională de Integritate (ANI)
erlässt
DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten A. Arabadjiev, der Richter P. G. Xuereb, T. von Danwitz (Berichterstatter) und A. Kumin sowie der Richterin I. Ziemele,
Generalanwalt: N. Emiliou,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
–
von T. A. C., vertreten durch T. Chiuariu, Avocat,
–
der Agenția Națională de Integritate (ANI), vertreten durch D. Chiurtu, O. Iacob und F.‑I. Moise als Bevollmächtigte,
–
der rumänischen Regierung, vertreten durch E. Gane und L. Liţu als Bevollmächtigte,
–
der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna als Bevollmächtigten,
–
der Europäischen Kommission, vertreten durch L. Nicolae, P. J. O. Van Nuffel und M. Wasmeier als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 10. November 2022
folgendes
Urteil
1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Entscheidung 2006/928/EG der Kommission vom 13. Dezember 2006 zur Einrichtung eines Verfahrens für die Zusammenarbeit und die Überprüfung der Fortschritte Rumäniens bei der Erfüllung bestimmter Vorgaben in den Bereichen Justizreform und Korruptionsbekämpfung (ABl. 2006, L 354, S. 56) sowie von Art. 15 Abs. 1, Art. 47 und Art. 49 Abs. 3 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta).
2 Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen T. A. C. und der Agenția Națională de Integritate (ANI) (Nationale Integritätsbehörde, Rumänien) wegen eines Berichts dieser Behörde, in dem festgestellt wird, dass T. A. C während seiner Amtszeit als Bürgermeister gegen die Vorschriften über Interessenkonflikte im Bereich der Verwaltung verstoßen habe.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
3 Die Entscheidung 2006/928 wurde im Zusammenhang mit dem für den 1. Januar 2007 vorgesehenen Beitritt Rumäniens zur Europäischen Union u. a. auf der Grundlage der Art. 37 und 38 der am 1. Januar 2007 in Kraft getretenen Akte über die Bedingungen des Beitritts der Republik Bulgarien und Rumäniens und die Anpassungen der Verträge, auf denen die Europäische Union beruht (ABl. 2005, L 157, S. 203, im Folgenden: Beitrittsakte) erlassen. Die Erwägungsgründe 1 bis 6 und 9 dieser Entscheidung lauten:
„(1)
Die Europäische Union gründet auf dem Rechtsstaatsprinzip, das allen Mitgliedstaaten gemeinsam ist.
(2) Der Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts und der Binnenmarkt, die mit dem Vertrag über die Europäische Union bzw. dem Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft geschaffen wurden, beruhen auf dem gegenseitigen Vertrauen, dass die Verwaltungs- und Gerichtsentscheidungen und die Verwaltungs- und Gerichtspraxis aller Mitgliedstaaten in jeder Hinsicht mit dem Rechtsstaatsprinzip im Einklang stehen.
(3) Dies bedeutet, dass alle Mitgliedstaaten über ein unparteiisches, unabhängiges und effizientes Justiz- und Verwaltungssystem verfügen müssen, das ausreichend dafür ausgestattet ist, unter anderem Korruption zu bekämpfen.
(4) Am 1. Januar 2007 tritt Rumänien der Europäischen Union bei. Die [Europäische] Kommission nimmt zur Kenntnis, dass Rumänien erhebliche Anstrengungen unternimmt, um die Vorbereitungen auf die Mitgliedschaft zum Abschluss zu bringen, hat jedoch in ihrem Bericht vom 26. September 2006 noch unerledigte Fragen insbesondere im Zusammenhang mit Rechenschaftspflicht und Effizienz der Justiz und der Vollzugsbehörden ermittelt, bei denen es weiterer Fortschritte bedarf, um zu gewährleisten, dass sie die Maßnahmen zur Verwirklichung des Binnenmarkts und des Raumes der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts umsetzen und anwenden können.
(5) Nach Artikel 37 der Beitrittsakte kann die Kommission geeignete Maßnahmen erlassen, wenn die unmittelbare Gefahr besteht, dass Rumänien die eingegangenen Verpflichtungen nicht erfüllt und dadurch eine Beeinträchtigung des Funktionierens des Binnenmarkts hervorruft. Nach Artikel 38 der Beitrittsakte kann die Kommission geeignete Maßnahmen erlassen, wenn die unmittelbare Gefahr besteht, dass in Rumänien ernste Mängel bei der Umsetzung, der Durchführung oder der Anwendung von Rechtsakten auftreten, die auf der Grundlage des Titels VI des EU-Vertrags oder des Titels IV des EG-Vertrags erlassen wurden.
(6) Die noch unerledigten Fragen im Zusammenhang mit Rechenschaftspflicht und Effizienz der Justiz und der Vollzugsbehörden erfordern die Einrichtung eines Verfahrens für die Zusammenarbeit und die Überprüfung der Fortschritte Rumäniens bei der Erfüllung bestimmter Vorgaben in den Bereichen Justizreform und Bekämpfung der Korruption.
…
(9) Diese Entscheidung ist zu ändern, wenn die Bewertung durch die Kommission ergibt, dass die Vorgaben angepasst werden müssen. Diese Entscheidung ist aufzuheben, wenn alle Vorgaben zufriedenstellend erfüllt sind[.]“
4 Art. 1 der Entscheidung 2006/928 sieht vor:
„Bis zum 31. März jedes Jahres und zum ersten Mal bis zum 31. März 2007 erstattet Rumänien der Kommission Bericht über die Fortschritte bei der Erfüllung der im Anhang aufgeführten Vorgaben.
Die Kommission kann jederzeit mit verschiedenen Maßnahmen technische Hilfe leisten oder Informationen zu den Vorgaben sammeln und austauschen. Ferner kann die Kommission zu diesem Zweck jederzeit Fachleute nach Rumänien entsenden. Die rumänischen Behörden leisten in diesem Zusammenhang die erforderliche Unterstützung.“
5 Art. 2 dieser Entscheidung bestimmt:
„Die Kommission übermittelt dem Europäischen Parlament und dem Rat ihre Stellungnahme und ihre Feststellungen zum Bericht Rumäniens zum ersten Mal im Juni 2007.
Danach erstattet die Kommission nach Bedarf, mindestens jedoch alle sechs Monate erneut Bericht.“
6 Art. 4 der Entscheidung lautet:
„Diese Entscheidung ist an alle Mitgliedstaaten gerichtet.“
7 Der Anhang der Entscheidung hat folgenden Wortlaut:
„Vorgaben für Rumänien nach Artikel 1:
1. Gewährleistung transparenterer und leistungsfähigerer Gerichtsverfahren durch Stärkung der Kapazitäten und Rechenschaftspflicht des Obersten Richterrats, Berichterstattung und Kontrolle der Auswirkungen neuer Zivil- und Strafprozessordnungen,
2. Einrichtung einer Behörde für Integrität mit folgenden Zuständigkeiten: Überprüfung von Vermögensverhältnissen, Unvereinbarkeiten und möglichen Interessenskonflikten und Verabschiedung verbindlicher Beschlüsse als Grundlage für abschreckende Sanktionen,
3. Konsolidierung bereits erreichter Fortschritte bei der Durchführung fachmännischer und unparteiischer Untersuchungen bei Korruptionsverdacht auf höchster Ebene,
4. Ergreifung weiterer Maßnahmen zur Prävention und Bekämpfung von Korruption, insbesondere in den Kommunalverwaltungen.“
Rumänisches Recht
8 Art. 25 der Legea nr. 176/2010 privind integritatea în exercitarea funcțiilor și demnităților publice, pentru modificarea și completarea legii nr. 144/2007 privind înființarea, organizarea și funcționarea Agenției Naționale de Integritate, precum și pentru modificarea și completarea altor acte normative (Gesetz Nr. 176/2010 über die Integrität bei der Wahrnehmung öffentlicher Ämter und Würden, zur Änderung und Ergänzung des Gesetzes Nr. 144/2007 über die Errichtung, Organisation und Arbeitsweise der Nationalen Integritätsbehörde sowie zur Änderung und Ergänzung weiterer Rechtsakte) vom 1. September 2010 (Monitorul Oficial al României, Teil I, Nr. 621 vom 2. September 2010) bestimmt:
„(1) Die Handlung einer Person, bezüglich deren festgestellt wurde, dass sie unter Verstoß gegen die gesetzlichen Verpflichtungen betreffend den Interessenkonflikt oder die Unvereinbarkeit einen Verwaltungsakt erlassen, ein Rechtgeschäft abgeschlossen, eine Entscheidung erlassen oder am Erlass einer Entscheidung mitgewirkt hat, stellt ein Disziplinarvergehen dar und wird nach den für die betreffende Würde, das betreffende Amt oder die betreffende Tätigkeit geltenden Vorschriften geahndet, sofern die Bestimmungen dieses Gesetzes nichts anderes bestimmen und die Handlung nicht die Tatbestandsmerkmale einer Straftat erfüllt.
(2) Einer Person, die gemäß den Bestimmungen von Abs. 1 aus dem Amt entlassen oder ihres Amtes enthoben worden ist oder bei der ein Interessenkonflikt oder eine Unvereinbarkeit festgestellt worden ist, ist für einen Zeitraum von drei Jahren ab dem Tag der Entlassung oder der Entfernung aus dem betreffenden öffentlichen Amt oder der betreffenden öffentlichen Würde oder der Beendigung des Mandats das Recht verwehrt, ein öffentliches Amt oder eine öffentliche Würde, die den Bestimmungen dieses Gesetzes unterliegen, zu bekleiden, mit Ausnahme von Wahlämtern. Hat die Person ein wählbares Amt bekleidet, darf sie dasselbe Amt für einen Zeitraum von drei Jahren nach der Beendigung des Mandats nicht mehr ausüben. Bekleidet die Person zum Zeitpunkt der Feststellung der Unvereinbarkeit oder des Interessenkonflikts kein öffentliches Amt oder keine öffentliche Würde mehr, so gilt die dreijährige Sperre kraft Gesetzes ab dem Tag, an dem der Beurteilungsbericht endgültig wird oder das Urteil, mit dem das Vorliegen eines Interessenkonflikts oder eine Unvereinbarkeit bestätigt wird, endgültig und unwiderrufbar wird.
…“
9 Art. 66 Abs. 1 der Legea nr. 286/2009 privind Codul penal (Gesetz Nr. 286/2009 betreffend das Strafgesetzbuch) vom 17. Juli 2009 (Monitorul Oficial al României, Teil I, Nr. 510 vom 24. Juli 2009) in seiner für das Ausgangsverfahren maßgeblichen Fassung (im Folgenden: Strafgesetzbuch) lautet:
„Die ergänzende Strafe des Verbots der Ausübung bestimmter Rechte besteht in dem Verbot, während eines Zeitraums von einem bis zu fünf Jahren eines oder mehrere der folgenden Rechte auszuüben:
a)
das passive Wahlrecht innerhalb von Behörden oder in Bezug auf sonstige öffentliche Ämter;
b)
das Recht, Aufgaben wahrzunehmen, die mit hoheitlichen Befugnissen verbunden sind.“
10 Art. 301 („Interessenkonflikt“) des Strafgesetzbuchs bestimmt in Abs. 1:
„Ein Amtsträger, der in Ausübung seines Amtes eine Handlung vornimmt oder am Erlass einer Entscheidung mitwirkt, durch die er für sich, seinen Ehegatten, einen Verwandten oder einen Verschwägerten bis einschließlich zweiten Grades unmittelbar oder mittelbar einen Vermögensvorteil erlangt, … wird mit Freiheitsstrafe von einem bis zu fünf Jahren und mit der ergänzenden Strafe des Verbots der Ausübung des Rechts, ein öffentliches Amt zu bekleiden, bestraft.“
Ausgangsverfahren und Vorlagefragen
11 Am 22. Juni 2016 wurde der Kläger des Ausgangsverfahrens für den Zeitraum 2016‑2020 zum Bürgermeister der Gemeinde MN (Rumänien) gewählt.
12 In einem Beurteilungsbericht vom 25. November 2019 stellte die ANI fest, dass er die Vorschriften über Interessenkonflikte im Bereich der Verwaltung nicht eingehalten habe. Während seiner Amtszeit habe er nämlich mittels eines Nutzungsüberlassungsvertrags einem Verein, in dem seine Ehefrau Gründungsmitglied und stellvertretende Vorsitzende sei, das Recht eingeräumt, bestimmte der Gemeinde gehörende Räumlichkeiten für einen Zeitraum von fünf Jahren unentgeltlich für kulturelle Aktivitäten zu nutzen.
13 Sollte dieser Bericht, der als Feststellung eines Interessenkonflikts seitens des Klägers des Ausgangsverfahrens gilt, bestandskräftig werden – etwa mangels Anfechtung –, würde sein Mandat kraft Gesetzes enden, und ihm würde nach nationalem Recht außerdem für die Dauer von drei Jahren verboten, ein öffentliches Wahlamt zu bekleiden.
14 Mit Klageschrift vom 19. Dezember 2019 erhob der Kläger des Ausgangsverfahrens beim Tribunalul București (Regionalgericht Bukarest, Rumänien) Klage auf Nichtigerklärung dieses Berichts und machte u. a. geltend, dass das Unionsrecht einer nationalen Regelung entgegenstehe, wonach gegen eine Person, die den Feststellungen zufolge in einem Interessenkonflikt gehandelt habe, eine Sanktion wie das Verbot, für die Dauer von drei Jahren ein öffentliches Wahlamt zu bekleiden, automatisch verhängt werde, ohne dass dabei nach der Schwere des begangenen Verstoßes abgewogen werden könne.
15 Das Regionalgericht Bukarest verneinte seine Zuständigkeit für diese Klage und verwies die Sache an das vorlegende Gericht, die Curtea de Apel Timișoara (Berufungsgericht Timișoara, Rumänien).
16 Das vorlegende Gericht führt zunächst aus, dass das Ausgangsverfahren in den Anwendungsbereich des Unionsrechts falle, da das Gesetz Nr. 176/2010 die zweite im Anhang der Entscheidung 2006/928 genannte Vorgabe umsetze. Auch die Gründung der ANI sei erfolgt, um diese Vorgabe zu erfüllen.
17 Sodann weist das vorlegende Gericht darauf hin, dass nach Art. 25 dieses Gesetzes, wenn in Bezug auf eine Person, die ein öffentliches Wahlamt bekleide, ein Interessenkonflikt bestandskräftig festgestellt werde, das Mandat dieser Person kraft Gesetzes ende. Außerdem greife dann automatisch das in Abs. 2 dieses Artikels vorgesehene zusätzliche Verbot der Bekleidung dieses Amtes für die Dauer von drei Jahren, ohne dass dieses Verbot auf seine Erforderlichkeit geprüft oder nach Maßgabe der Schwere des Verstoßes differenziert angewandt werde. Nach der Rechtsprechung der Curtea Constituțională (Verfassungsgerichtshof, Rumänien) betreffe dieses Verbot alle in Art. 1 des Gesetzes Nr. 176/2010 genannten öffentlichen Wahlämter, ungeachtet des in dieser Bestimmung verwendeten Ausdrucks „dasselbe Amt“. Im Übrigen könne weder die Beendigung des Mandats noch das Verbot der Bekleidung öffentlicher Wahlämter gerichtlich angefochten werden, da das mit der Rechtmäßigkeit eines Beurteilungsberichts der ANI befasste Gericht nur prüfen könne, ob die dem Betroffenen vorgeworfenen Handlungen einen Interessenkonflikt begründeten, und sich nicht zu den daraus folgenden Sanktionen äußern könne.
18 Das vorlegende Gericht führt weiter aus, dass im vorliegenden Fall zwar keine Straftat des Klägers des Ausgangsverfahrens festgestellt worden sei, Art. 301 Abs. 1 des Strafgesetzbuchs aber einen Straftatbestand des Interessenkonflikts vorsehe, der ebenfalls mit der ergänzenden Strafe des Verbots der Bekleidung eines öffentlichen Amtes nach Art. 66 Abs. 1 des Strafgesetzbuchs geahndet werden könne. Daher sei zu klären, ob das in Art. 25 Abs. 2 des Gesetzes Nr. 176/2010 vorgesehene Verbot der Bekleidung öffentlicher Wahlämter ebenso wie diese ergänzende Strafe nach Maßgabe des in Art. 49 der Charta niedergelegten Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit von Strafen zu beurteilen sei und, wenn ja, ob dieser Grundsatz einer solchen Sanktion entgegenstehe.
19 Schließlich sei zu prüfen, ob Art. 15 Abs. 1 und Art. 47 der Charta einer nationalen Bestimmung entgegenstünden, nach der diese Sanktion für die vorbestimmte Dauer von drei Jahren automatisch verhängt werde, ohne dass es dem Gericht gestattet wäre, sich in Ansehung der konkreten Umstände des Einzelfalls mit ihrer Erforderlichkeit oder ihrem Ausmaß zu befassen.
20 Unter diesen Umständen hat die Curtea de Apel Timişoara (Berufungsgericht Timişoara) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
1. Ist der in Art. 49 der Charta verankerte Grundsatz der Verhältnismäßigkeit von Strafen dahin auszulegen, dass er auch auf andere als die nach nationalem Recht formal als Straftaten definierten Handlungen Anwendung findet, die aber angesichts der von der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte entwickelten Kriterien, insbesondere dem der Schwere der Sanktion, als „strafrechtliche Anklage“ im Sinne von Art. 6 der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (im Folgenden: EMRK) angesehen werden können, wie dies im Ausgangsverfahren bei der Beurteilung von Interessenkonflikten der Fall ist, die zur Anwendung der ergänzenden Sanktion des Verbots der Bekleidung öffentlicher Wahlämter für die Dauer von drei Jahren führen kann?
2. Falls Frage 1 bejaht wird: Ist der in Art. 49 der Charta verankerte Grundsatz der Verhältnismäßigkeit von Strafen dahin auszulegen, dass er einer Durchführungsbestimmung des nationalen Rechts entgegensteht, mit der im Fall der Feststellung eines Interessenkonflikts einer Person, die ein öffentliches Wahlamt bekleidet, automatisch kraft Gesetzes die ergänzende Sanktion des Verbots der Bekleidung öffentlicher Wahlämter für den vorbestimmten Zeitraum von drei Jahren zur Anwendung gelangt, ohne dass die Möglichkeit bestünde, eine Sanktion festzulegen, die zu dem begangenen Verstoß in einem angemessenen Verhältnis steht?
3. Sind das durch Art. 15 Abs. 1 der Charta garantierte Recht zu arbeiten sowie das durch Art. 47 der Charta garantierte Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf und ein unparteiisches Gericht dahin auszulegen, dass sie einer Durchführungsbestimmung des nationalen Rechts entgegenstehen, mit der im Fall der Feststellung eines Interessenkonflikts einer Person, die ein öffentliches Wahlamt bekleidet, automatisch kraft Gesetzes die ergänzende Sanktion des Verbots der Bekleidung öffentlicher Wahlämter für den fest vorbestimmten Zeitraum von drei Jahren zur Anwendung gelangt, ohne dass die Möglichkeit bestünde, eine Sanktion festzulegen, die zu dem begangenen Verstoß in einem angemessenen Verhältnis steht?
Zu den Vorlagefragen
Zur Zulässigkeit
21 Die ANI und die rumänische Regierung halten die Vorlagefragen für unzulässig. Sie machen zum einen geltend, die Charta sei auf den Ausgangsrechtsstreit nicht anwendbar, da keine Durchführung des Unionsrechts im Sinne von Art. 51 Abs. 1 der Charta vorliege. Zum anderen tragen sie vor, die vorgelegten Fragen seien unerheblich und das aufgeworfene Problem sei rein hypothetisch, da es im Ausgangsrechtsstreit nur um die Nichtigerklärung eines Beurteilungsberichts gehe, in dem ein Interessenkonflikt des Klägers des Ausgangsverfahrens festgestellt worden sei, und nicht um die Frage der Sanktionen.
22 Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass der Anwendungsbereich der Charta, was das Handeln der Mitgliedstaaten betrifft, in ihrem Art. 51 Abs. 1 definiert ist, wonach die Charta für die Mitgliedstaaten bei der Durchführung des Rechts der Union gilt. Diese Bestimmung bestätigt die ständige Rechtsprechung des Gerichtshofs, nach der die in der Unionsrechtsordnung garantierten Grundrechte in allen unionsrechtlich geregelten Fallgestaltungen, aber nicht außerhalb derselben Anwendung finden (Urteil vom 19. November 2019, A. K. u. a. [Unabhängigkeit der Disziplinarkammer des Obersten Gerichts], C‑585/18, C‑624/18 und C‑625/18, EU:C:2019:982, Rn. 78 und die dort angeführte Rechtsprechung).
23 Im vorliegenden Fall geht aus den Angaben des vorlegenden Gerichts sowie aus der Begründung des Gesetzes Nr. 176/2010 hervor, dass mit diesem Gesetz die zweite im Anhang der Entscheidung 2006/928 genannte Vorgabe umgesetzt wird, nämlich die Einrichtung einer Behörde für Integrität mit folgenden Zuständigkeiten: Überprüfung von Vermögensverhältnissen, Unvereinbarkeiten und möglichen Interessenskonflikten und Verabschiedung verbindlicher Beschlüsse als Grundlage für abschreckende Sanktionen.
24 Wie der Gerichtshof bereits festgestellt hat, sind die im Anhang dieser Entscheidung aufgeführten Vorgaben für Rumänien insofern verbindlich, als dieser Mitgliedstaat der besonderen Verpflichtung unterliegt, sie zu erreichen und die zu ihrer Erreichung geeigneten Maßnahmen zu ergreifen. Ebenso ist dieser Mitgliedstaat verpflichtet, von der Durchführung aller Maßnahmen abzusehen, die die Erreichung dieser Vorgaben gefährden könnten (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 18. Mai 2021, Asociația Forumul Judecătorilor din România u. a., C‑83/19, C‑127/19, C‑195/19, C‑291/19, C‑355/19 und C‑397/19, EU:C:2021:393, Rn. 172).
25 Ferner verpflichtet diese Entscheidung Rumänien dazu, Korruption, insbesondere Korruption auf höchster Ebene, wirksam und unabhängig von einer etwaigen Beeinträchtigung der finanziellen Interessen der Union zu bekämpfen sowie die Anwendung wirksamer und abschreckender Sanktionen im Fall von Korruptionsdelikten im Allgemeinen vorzusehen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 21. Dezember 2021, Euro Box Promotion u. a., C‑357/19, C‑379/19, C‑547/19, C‑811/19 und C‑840/19, EU:C:2021:1034, Rn. 189 und 190 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).
26 In diesem Zusammenhang hat der Gerichtshof auch klargestellt, dass Rumänien die anwendbaren Sanktionen, bei denen es sich um verwaltungsrechtliche oder strafrechtliche Sanktionen oder um eine Kombination aus beiden handeln kann, frei wählen kann, wobei diese Befugnis durch die Grundsätze der Verhältnismäßigkeit, der Äquivalenz und der Effektivität beschränkt wird (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 21. Dezember 2021, Euro Box Promotion u. a., C‑357/19, C‑379/19, C‑547/19, C‑811/19 und C‑840/19, EU:C:2021:1034, Rn. 191 und 192 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).
27 Aus diesen Erwägungen folgt, wie der Generalanwalt in Nr. 21 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, dass das Gesetz Nr. 176/2010, insbesondere sein Art. 25, eine Maßnahme zur Durchführung des Rechts der Union im Sinne von Art. 51 Abs. 1 der Charta darstellt, so dass die Charta im Rahmen des Ausgangsverfahrens anwendbar ist.
28 Was den Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits betrifft, so spricht nach ständiger Rechtsprechung eine Vermutung für die Entscheidungserheblichkeit der Vorlagefragen des nationalen Gerichts, die es zur Auslegung des Unionsrechts in dem rechtlichen und sachlichen Rahmen stellt, den es in eigener Verantwortung festgelegt und dessen Richtigkeit der Gerichtshof nicht zu prüfen hat. Der Gerichtshof darf die Entscheidung über ein Ersuchen eines nationalen Gerichts nur dann verweigern, wenn die erbetene Auslegung des Unionsrechts offensichtlich in keinem Zusammenhang mit den Gegebenheiten oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits steht, wenn das Problem hypothetischer Natur ist oder er nicht über die tatsächlichen oder rechtlichen Angaben verfügt, die für eine zweckdienliche Beantwortung der ihm vorgelegten Fragen erforderlich sind (Urteil vom 13. November 2018, Levola Hengelo, C‑310/17, EU:C:2018:899, Rn. 28 und die dort angeführte Rechtsprechung).
29 Im vorliegenden Fall hat das vorlegende Gericht im Vorabentscheidungsersuchen ausgeführt, dass dem Kläger des Ausgangsverfahrens, wenn die Rechtmäßigkeit des in Rn. 12 des vorliegenden Urteils erwähnten Beurteilungsberichts durch Abweisung der bei diesem Gericht anhängigen Klage bestätigt werden sollte, die Bekleidung öffentlicher Wahlämter für die Dauer von drei Jahren gemäß Art. 25 Abs. 2 des Gesetzes Nr. 176/2010 automatisch verboten würde, ohne dass er dieses Verbot im Rahmen eines weiteren Gerichtsverfahrens anfechten könnte.
30 Es ist daher nicht offensichtlich, dass die Auslegung der Bestimmungen der Charta in keinem Zusammenhang mit den Gegebenheiten oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits steht oder dass das Problem hypothetischer Natur ist.
31 Folglich sind die Vorlagefragen zulässig.
Zur Beantwortung der Vorlagefragen
Zur ersten Frage
32 Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 49 Abs. 3 der Charta dahin auszulegen ist, dass er auf eine nationale Regelung anwendbar ist, die am Ende eines Verwaltungsverfahrens eine Maßnahme vorsieht, mit der für die vorbestimmte Dauer von drei Jahren ein Verbot der Bekleidung öffentlicher Wahlämter gegen eine Person verhängt wird, bei der ein Interessenkonflikt in der Ausübung eines solchen Amtes festgestellt wurde.
33 Art. 49 Abs. 3 der Charta, wonach das Strafmaß zur Straftat nicht unverhältnismäßig sein darf, betrifft Sanktionen strafrechtlicher Natur. Daher ist zu prüfen, ob ein Verbot wie das oben beschriebene strafrechtlichen Charakter hat (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. Oktober 2021, ECOTEX BULGARIA, C‑544/19, EU:C:2021:803, Rn. 90).
34 Nach der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs zur Auslegung von Art. 50 der Charta, die auf deren Art. 49 Abs. 3 übertragen wurde, sind für die Beurteilung des strafrechtlichen Charakters einer Sanktion drei Kriterien maßgebend: erstens die rechtliche Einordnung der Zuwiderhandlung im innerstaatlichen Recht, zweitens die Art der Zuwiderhandlung und drittens der Schweregrad der dem Betroffenen drohenden Sanktion (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 6. Oktober 2021, ECOTEX BULGARIA, C‑544/19, EU:C:2021:803, Rn. 91, sowie vom 22. März 2022, bpost, C‑117/20, EU:C:2022:202, Rn. 25 und die dort angeführte Rechtsprechung).
35 Auch bei Zuwiderhandlungen, die im innerstaatlichen Recht nicht als „strafrechtlich“ eingestuft werden, kann sich ein solcher Charakter gleichwohl aus der Art der Zuwiderhandlung und dem Schweregrad der dem Betroffenen drohenden Sanktion ergeben (Urteil vom 22. Juni 2021, Latvijas Republikas Saeima [Strafpunkte], C‑439/19, EU:C:2021:504, Rn. 88 und die dort angeführte Rechtsprechung).
36 Zwar ist es Sache des vorlegenden Gerichts, anhand der genannten Kriterien zu beurteilen, ob die im Ausgangsverfahren fragliche Maßnahme im Sinne von Art. 49 Abs. 3 der Charta strafrechtlicher Natur ist, doch kann der Gerichtshof in seiner Vorabentscheidung Klarstellungen vornehmen, um diesem Gericht eine Richtschnur für seine Auslegung zu geben (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. Oktober 2021, ECOTEX BULGARIA, C‑544/19, EU:C:2021:803, Rn. 92 und die dort angeführte Rechtsprechung).
37 Was das erste Kriterium anbelangt, das die Einordnung der Zuwiderhandlung im innerstaatlichen Recht betrifft, ergibt sich sowohl aus dem Wortlaut von Art. 25 Abs. 1 des Gesetzes Nr. 176/2010, in dem von einem „Disziplinarvergehen“ die Rede ist, als auch aus der im Vorabentscheidungsersuchen angeführten nationalen Rechtsprechung, insbesondere derjenigen der Curtea Constituțională (Verfassungsgerichtshof), dass nach rumänischem Recht weder die kraft Gesetzes eintretende Beendigung des Mandats im Fall der Feststellung eines Interessenkonflikts noch das diese Beendigung ergänzende Verbot der Bekleidung öffentlicher Wahlämter als strafrechtliche Sanktionen angesehen werden. Außerdem geht aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten hervor, dass diese Maßnahmen auf der Grundlage eines Verwaltungsverfahrens ergehen. Zwar kennt das rumänische Recht auch den Straftatbestand des Interessenkonflikts, doch werden die insoweit drohenden Sanktionen, wie der Generalanwalt in Nr. 31 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, in einem gesonderten und eigenständigen Verfahren verhängt.
38 Das zweite Kriterium, das sich auf die Art der Zuwiderhandlung bezieht, erfordert die Prüfung, ob mit der fraglichen Maßnahme u. a. eine repressive Zielsetzung verfolgt wird, was für eine Sanktion strafrechtlicher Natur im Sinne von Art. 49 der Charta typisch ist (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 22. Juni 2021, Latvijas Republikas Saeima [Strafpunkte], C‑439/19, EU:C:2021:504, Rn. 89, sowie vom 6. Oktober 2021, ECOTEX BULGARIA, C‑544/19, EU:C:2021:803, Rn. 94 und die dort angeführte Rechtsprechung).
39 Im vorliegenden Fall geht aus dem Vorabentscheidungsersuchen und den Erklärungen der Verfahrensbeteiligten vor dem Gerichtshof hervor, dass das Gesetz Nr. 176/2010 Integrität und Transparenz bei der Wahrnehmung öffentlicher Aufgaben und Pflichten gewährleisten und institutioneller Korruption vorbeugen soll und dass das Verbot der Bekleidung öffentlicher Wahlämter, wie es im Ausgangsverfahren ausgesprochen werden könnte, zu einem größeren Komplex von Maßnahmen gehört, die allesamt ergänzend dieses Ziel verfolgen, so dass dieses Verbot zur Erfüllung der in der Entscheidung 2006/928 genannten Vorgaben beiträgt. Somit besteht der Zweck dieses Verbots, ebenso wie der Zweck der kraft Gesetzes eintretenden Beendigung des Mandats, darin, das ordnungsgemäße Funktionieren und die Transparenz des Staates zu wahren, indem Interessenkonflikte dauerhaft beendet werden.
40 Insoweit hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Bezug auf ein – einem entsprechenden Zweck dienendes und auf die freie Entscheidung der Wahlorgane abzielendes – Verbot, für Wahlen zu kandidieren und Wahlämter zu bekleiden, entschieden, dass dieses Verbot keinen Strafcharakter habe, selbst wenn es im Anschluss an eine strafrechtliche Verurteilung wegen Korruptionsdelikten ausgesprochen werde (vgl. in diesem Sinne EGMR, 18. Mai 2021, Galan/Italien, CE:ECHR:2021:0518DEC006377216, §§ 85 und 97, sowie EGMR, 17. Juni 2021, Miniscalco/Italien, CE:ECHR:2021:0617JUD005509313, §§ 64 und 73).
41 In Anbetracht der oben genannten Gesichtspunkte und nach Maßgabe der in der vorstehenden Randnummer angeführten Rechtsprechung liegt der Schluss nahe, dass eine Maßnahme wie die im Ausgangsverfahren im Raum stehende, mit der die Bekleidung öffentlicher Wahlämter für die Dauer von drei Jahren verboten wird, ein hauptsächlich präventives und nicht repressives Ziel verfolgt.
42 Zum dritten Kriterium betreffend den Schweregrad der Sanktion ist darauf hinzuweisen, dass eine solche Maßnahme, wie der Generalanwalt in Nr. 33 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, nicht darin besteht, eine Freiheits- oder Geldstrafe zu verhängen, sondern darin, die künftige Ausübung bestimmter Tätigkeiten, nämlich öffentlicher Wahlämter, zu verbieten, wobei diese Maßnahme auf eine begrenzte Gruppe von Personen mit einem besonderen Status abzielt. Das Verbot ist zudem befristet und betrifft nicht das aktive Wahlrecht.
43 Ergänzend ist darauf hinzuweisen, dass in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte Sanktionen, die der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Maßnahme ähneln, im Allgemeinen nicht als hinreichend schwer angesehen werden, um strafrechtlichen Charakter anzunehmen, zumal wenn das aktive Wahlrecht unberührt bleibt (vgl. in diesem Sinne Europäische Kommission für Menschenrechte, 13. Januar 1997, Tapie/Frankreich, CE:ECHR:1997:0113DEC003225896, S. 5, sowie EGMR, 18. Mai 2021, Galan/Italien, CE:ECHR:2021:0518DEC006377216, §§ 96 und 97).
44 Aus diesen Erwägungen ergibt sich, dass keines der drei in Rn. 34 des vorliegenden Urteils genannten Kriterien erfüllt zu sein scheint und dass folglich das in der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden nationalen Regelung vorgesehene Verbot der Bekleidung öffentlicher Wahlämter nicht strafrechtlicher Natur zu sein scheint, was das vorlegende Gericht jedoch zu überprüfen haben wird.
45 Sollte diese Maßnahme nicht strafrechtlicher Natur sein, könnte sie nicht anhand von Art. 49 Abs. 3 der Charta beurteilt werden.
46 Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 49 Abs. 3 der Charta dahin auszulegen ist, dass er auf eine nationale Regelung, die am Ende eines Verwaltungsverfahrens eine Maßnahme vorsieht, mit der für die vorbestimmte Dauer von drei Jahren ein Verbot der Bekleidung öffentlicher Wahlämter gegen eine Person verhängt wird, bei der ein Interessenkonflikt in der Ausübung eines solchen Amtes festgestellt wurde, nicht anwendbar ist, sofern diese Maßnahme nicht strafrechtlicher Natur ist.
Zur zweiten Frage
47 Zunächst ist dem Vorabentscheidungsersuchen zu entnehmen, dass die zweite Frage für den Fall gestellt wird, dass das in Art. 25 Abs. 2 des Gesetzes Nr. 176/2010 vorgesehene Verbot der Bekleidung öffentlicher Wahlämter strafrechtlicher Natur ist. Wie sich aus den Erwägungen in den Rn. 32 bis 46 des vorliegenden Urteils ergibt, scheint dies aber – vorbehaltlich der vom vorlegenden Gericht vorzunehmenden Überprüfungen – nicht der Fall zu sein, so dass Art. 49 Abs. 3 der Charta wohl keine Anwendung findet.
48 Da mit der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden nationalen Regelung, wie in Rn. 27 des vorliegenden Urteils festgestellt, Unionsrecht durchgeführt wird, muss sie jedoch ungeachtet dessen mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit als allgemeinem Grundsatz des Unionsrechts im Einklang stehen.
49 Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gehört nämlich nach ständiger Rechtsprechung zu den allgemeinen Grundsätzen des Unionsrechts, mit denen eine nationale Regelung, die in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fällt oder dieses durchführt, vereinbar sein muss, auch wenn die Rechtsvorschriften der Union im Bereich der anwendbaren Sanktionen nicht harmonisiert sind (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 11. April 2019, Repsol Butano und DISA Gas, C‑473/17 und C‑546/17, EU:C:2019:308, Rn. 39 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie vom 8. März 2022, Bezirkshauptmannschaft Hartberg-Fürstenfeld [Unmittelbare Wirkung], C‑205/20, EU:C:2022:168, Rn. 31 und die dort angeführte Rechtsprechung).
50 Nach ständiger Rechtsprechung muss eine Maßnahme, um den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu wahren, geeignet sein, die Erreichung des verfolgten legitimen Ziels in kohärenter und systematischer Weise zu gewährleisten, und darf nicht über das hinausgehen, was zur Erreichung dieses Ziels geeignet und erforderlich ist, wobei die durch sie verursachten Nachteile nicht außer Verhältnis zu den angestrebten Zielen stehen dürfen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 25. Januar 2018, F, C‑473/16, EU:C:2018:36, Rn. 56, sowie vom 7. September 2022, Cilevičs u. a., C‑391/20, EU:C:2022:638, Rn. 65 und die dort angeführte Rechtsprechung).
51 Administrative oder repressive Maßnahmen, die nach nationalen Rechtsvorschriften gestattet sind, dürfen nicht die Grenzen dessen überschreiten, was zur Erreichung der mit diesen Rechtsvorschriften zulässigerweise verfolgten Ziele geeignet und erforderlich ist (Urteil vom 24. Februar 2022, Agenzia delle dogane e dei monopoli und Ministero dell’Economia e delle Finanze, C‑452/20, EU:C:2022:111, Rn. 37 und die dort angeführte Rechtsprechung). Insbesondere muss die Härte der verhängten Sanktion der Schwere des mit ihr geahndeten Verstoßes entsprechen (Urteil vom 12. September 2019, Maksimovic u. a., C‑64/18, C‑140/18, C‑146/18 und C‑148/18, EU:C:2019:723, Rn. 39 und die dort angeführte Rechtsprechung).
52 Unter diesen Umständen ist, um dem vorlegenden Gericht eine sachdienliche Antwort zu geben, die zweite Frage dahin gehend umzuformulieren, dass mit ihr im Wesentlichen geklärt werden soll, ob der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit einer nationalen Regelung entgegensteht, die eine Maßnahme vorsieht, mit der für die vorbestimmte Dauer von drei Jahren ein Verbot der Bekleidung öffentlicher Wahlämter gegen eine Person verhängt wird, bei der ein Interessenkonflikt in der Ausübung eines solchen Amtes festgestellt wurde.
53 Im vorliegenden Fall ist zunächst daran zu erinnern, dass das Gesetz Nr. 176/2010, dessen Art. 25 Abs. 2 das Verbot der Bekleidung öffentlicher Wahlämter für die Dauer von drei Jahren vorsieht, darauf abzielt, Integrität und Transparenz bei der Wahrnehmung öffentlicher Aufgaben und Pflichten zu gewährleisten und institutioneller Korruption vorzubeugen. Die Zwecke dieses Gesetzes, die zur Erfüllung der im Anhang der Entscheidung 2006/928 aufgeführten Vorgaben beitragen, stellen somit ein von der Union anerkanntes legitimes Ziel dar.
54 Es ist zwar Sache des vorlegenden Gerichts, das allein für die Auslegung und Anwendung des nationalen Rechts zuständig ist, in dem Fall, dass es die Rechtmäßigkeit des im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Beurteilungsberichts bestätigen sollte, abschließend zu beurteilen, ob die fragliche Sanktion in Bezug auf den in diesem Bericht festgestellten Interessenkonflikt zur Erreichung dieses legitimen Ziels geeignet und erforderlich sowie im Hinblick darauf angemessen ist. Gleichwohl kann der Gerichtshof Klarstellungen vornehmen, um dem vorlegenden Gericht eine Richtschnur für diese Beurteilung zu geben (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 24. Februar 2022, Agenzia delle dogane e dei monopoli und Ministero dell’Economia e delle Finanze, C‑452/20, EU:C:2022:111, Rn. 40 und die dort angeführte Rechtsprechung).
55 Was die Frage betrifft, ob die in Rede stehende Sanktion geeignet ist, die Erreichung der verfolgten legitimen Ziele in kohärenter und systematischer Weise zu gewährleisten, ist darauf hinzuweisen, dass sie zum Tragen kommt, nachdem die ANI bestandskräftig festgestellt hat, dass ein rechtswidriger Interessenkonflikt vorliegt, der einer Person, die ein öffentliches Wahlamt bekleidet – z. B. ein Amt als Bürgermeister, wie der Kläger des Ausgangsverfahrens –, während der Ausübung ihres Amtes zuzurechnen ist, wobei diese Sanktion zu der kraft Gesetzes eintretenden Beendigung des Mandats dieser Person hinzutritt.
56 Die automatische Verhängung dieser Sanktionen ermöglicht es, den festgestellten Interessenkonflikt dauerhaft zu beenden und auf diesem Wege das Funktionieren des Staates und der betreffenden Wahlorgane zu wahren. Außerdem erscheint der Umstand, dass sowohl die kraft Gesetzes eintretende Beendigung des Mandats als auch ein automatisches Verbot der Bekleidung öffentlicher Wahlämter für eine im Voraus bestimmte, hinreichend lange Dauer vorgesehen sind, geeignet, Inhaber eines Wahlamtes davon abzuhalten, sich auf einen Interessenkonflikt einzulassen, und sie dazu anzuhalten, ihren Verpflichtungen in diesem Bereich nachzukommen.
57 Daraus folgt, dass das in der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden nationalen Regelung vorgesehene Verbot der Bekleidung öffentlicher Wahlämter für die Dauer von drei Jahren geeignet erscheint, das mit dieser Regelung verfolgte legitime Ziel zu erreichen.
58 Was die Erforderlichkeit dieser Sanktion betrifft, geht aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten hervor, dass der rumänische Gesetzgeber dieses Verbot vorgesehen und seine Dauer auf drei Jahre festgesetzt hat, weil er davon ausging, dass ein Interessenkonflikt von Natur aus gravierende Folgen für das Funktionieren des Staates und für die Gesellschaft habe. Dementsprechend wird dieses Verbot als Folge einer Verfehlung verhängt, die vom Inhaber eines öffentlichen Wahlamtes – wie hier vom Kläger des Ausgangsverfahrens – begangen wurde und fraglos schwerwiegend ist.
59 Der rumänische Gesetzgeber hat in Art. 301 Abs. 1 des Strafgesetzbuchs auch den Straftatbestand des Interessenkonflikts vorgesehen, der mit einer Freiheitsstrafe und einer ergänzenden Strafe des Verbots der Bekleidung von Wahlämtern für eine variable Dauer von einem bis zu fünf Jahren bedroht ist.
60 Zu ergänzen ist, dass das Ausmaß der Interessenkonflikte und der Grad der Korruption im nationalen öffentlichen Sektor bei der Frage zu berücksichtigen sind, ob eine nationale Regelung wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende die Grenzen dessen überschreitet, was zur Erreichung des Ziels, Integrität und Transparenz bei der Wahrnehmung öffentlicher Aufgaben und Pflichten zu gewährleisten sowie institutioneller Korruption vorzubeugen, erforderlich ist. Insoweit ist daran zu erinnern, dass mit dem Gesetz Nr. 176/2010 die zweite im Anhang der Entscheidung 2006/928 aufgeführte Vorgabe umgesetzt wird, die für Rumänien verbindlich ist und darauf abzielt, dass verbindliche Beschlüsse der ANI zu abschreckenden Sanktionen führen können. Die Entscheidung 2006/928 verpflichtet Rumänien auch, Korruption wirksam zu bekämpfen.
61 In Anbetracht der präventiven Komponente der fraglichen Maßnahme, die u. a. darauf abzielt, Inhaber öffentlicher Ämter von jeder Beeinträchtigung der Integrität ihres Amtes abzuhalten, ist die Festlegung einer vorbestimmten Dauer für diese Maßnahme in einem solchen nationalen Kontext erforderlich, um ihre Wirksamkeit zu gewährleisten.
62 Außerdem ist das in Art. 25 Abs. 2 des Gesetzes Nr. 176/2010 vorgesehene Verbot der Bekleidung öffentlicher Wahlämter zeitlich begrenzt und gilt nur für bestimmte Kategorien von Personen, die besondere Aufgaben wahrnehmen. Insbesondere ist zu beachten, dass eine Person, die ein Wahlamt als Bürgermeister bekleidet, wie hier der Kläger des Ausgangsverfahrens, große Verantwortung trägt, mit erheblichen Befugnissen ausgestattet ist und die Aufgabe hat, ihre Mitbürger zu vertreten.
63 Das Verbot bezieht sich im Übrigen nur auf begrenzte Tätigkeiten, nämlich öffentliche Wahlämter, und hindert nicht an der Ausübung anderer beruflicher Tätigkeiten, etwa im privaten Sektor.
64 Daraus folgt, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehende nationale Regelung in Anbetracht des Kontexts, in den sie sich einfügt, nicht über die Grenzen dessen hinausgeht, was zur Erreichung des mit ihr verfolgten legitimen Ziels erforderlich ist, soweit sie eine Sanktion der Unwählbarkeit für die vorbestimmte Dauer von drei Jahren vorsieht.
65 Was die Angemessenheit der fraglichen Maßnahme und insbesondere das Verhältnis ihrer Härte zur Schwere des Verstoßes betrifft, ist auf die Bedeutung, die der Bekämpfung der Korruption im öffentlichen Sektor in einigen Mitgliedstaaten zukommt, und auf die – auch durch die Entscheidung 2006/928 angeordnete – Priorität hinzuweisen, die der rumänische Gesetzgeber diesem Ziel eingeräumt hat, bei dem es sich, wie in der Begründung des Gesetzes Nr. 176/2010 angegeben, um ein echtes Anliegen der rumänischen Gesellschaft handelt.
66 In Anbetracht dessen, wie schwer das öffentliche Interesse durch Korruption und selbst noch so geringfügige Interessenkonflikte seitens der gewählten Vertreter in einem von hoher Korruptionsgefahr geprägten nationalen Kontext beeinträchtigt wird, erscheint daher das in dieser nationalen Regelung vorgesehene Verbot der Bekleidung öffentlicher Wahlämter für eine vorbestimmte Dauer von drei Jahren grundsätzlich nicht außer Verhältnis zu dem Verstoß, der damit geahndet werden soll.
67 Da allerdings, wie die Rechtsprechung der Înalta Curte de Casație şi Justiție (Oberster Kassations- und Gerichtshof, Rumänien) offenbar bestätigt, die Dauer dieses Verbots in keinem Fall angepasst werden kann, ist nicht auszuschließen, dass sich diese Sanktion in bestimmten Ausnahmefällen als im Hinblick auf den mit ihr geahndeten Verstoß unverhältnismäßig erweisen kann.
68 Dies könnte nämlich dann der Fall sein, wenn das festgestellte rechtswidrige Verhalten in Ansehung des verfolgten Ziels ausnahmsweise keinen schwer ins Gewicht fallenden Aspekt aufweist, während sich die Auswirkungen der Sanktion auf die persönliche, berufliche und wirtschaftliche Situation der betroffenen Person als besonders schwerwiegend erweisen.
69 Somit ist es im vorliegenden Fall, falls die Rechtmäßigkeit des im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Beurteilungsberichts bestätigt wird, Aufgabe des vorlegenden Gerichts, unter Würdigung aller maßgeblichen Umstände zu prüfen, ob die Härte der dem Kläger des Ausgangsverfahrens nach Art. 25 Abs. 2 des Gesetzes Nr. 176/2010 drohenden Sanktion unter Berücksichtigung des mit diesem Gesetz verfolgten Ziels in einem angemessenen Verhältnis zur Schwere des in diesem Bericht festgestellten Interessenkonflikts steht.
70 Sollte dies nicht der Fall sein, müsste das vorlegende Gericht diese Regelung, soweit möglich, dahin auslegen, dass sie es erlaubt, eine verhältnismäßige, aber dennoch – im Einklang mit der Entscheidung 2006/928 – wirksame und abschreckende Sanktion zu verhängen.
71 Es ist nämlich darauf hinzuweisen, dass die nationalen Gerichte das nationale Recht so weit wie möglich unionsrechtskonform auszulegen haben und dass, auch wenn die Verpflichtung zur unionsrechtskonformen Auslegung nicht als Grundlage für eine Auslegung contra legem des nationalen Rechts dienen darf, die nationalen Gerichte, einschließlich der letztinstanzlichen Gerichte, gegebenenfalls eine gefestigte Rechtsprechung abändern müssen, wenn sie auf einer Auslegung des nationalen Rechts beruht, die mit dem Unionsrecht unvereinbar ist (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 8. Mai 2019, Związek Gmin Zagłębia Miedziowego, C‑566/17, EU:C:2019:390, Rn. 48 und 49, sowie vom 4. März 2020, Telecom Italia, C‑34/19, EU:C:2020:148, Rn. 60 und die dort angeführte Rechtsprechung).
72 Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung, die eine Maßnahme vorsieht, mit der für die vorbestimmte Dauer von drei Jahren ein Verbot der Bekleidung öffentlicher Wahlämter gegen eine Person verhängt wird, bei der ein Interessenkonflikt in der Ausübung eines solchen Amtes festgestellt wurde, nicht entgegensteht, sofern die Anwendung dieser Regelung in Anbetracht aller maßgeblichen Umstände dazu führt, dass eine Sanktion verhängt wird, die unter Berücksichtigung des Ziels, Integrität und Transparenz bei der Wahrnehmung öffentlicher Aufgaben und Pflichten zu gewährleisten sowie institutioneller Korruption vorzubeugen, in einem angemessenen Verhältnis zur Schwere des mit ihr geahndeten Verstoßes steht. Dies ist nicht der Fall, wenn das festgestellte rechtswidrige Verhalten in Ansehung dieses Ziels ausnahmsweise keinen schwer ins Gewicht fallenden Aspekt aufweist, während sich die Auswirkungen der fraglichen Maßnahme auf die persönliche, berufliche und wirtschaftliche Situation der betroffenen Person als besonders schwerwiegend erweisen.
Zur dritten Frage
73 Mit seiner dritten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 15 Abs. 1 und Art. 47 der Charta dahin auszulegen sind, dass sie einer nationalen Regelung entgegenstehen, die eine Maßnahme vorsieht, mit der für die vorbestimmte Dauer von drei Jahren ein Verbot der Bekleidung öffentlicher Wahlämter gegen eine Person verhängt wird, bei der ein Interessenkonflikt in der Ausübung eines solchen Amtes festgestellt wurde.
74 In Art. 15 Abs. 1 der Charta ist das Recht verankert, zu arbeiten und einen frei gewählten oder angenommenen Beruf auszuüben. Außerdem gehört die freie Berufsausübung zu den allgemeinen Grundsätzen des Unionsrechts (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 29. März 2012, Interseroh Scrap and Metals Trading, C‑1/11, EU:C:2012:194, Rn. 43 und die dort angeführte Rechtsprechung).
75 Die ANI und die rumänische Regierung sind der Ansicht, dass das Recht, öffentliche Wahlämter zu bekleiden, nicht in den Anwendungsbereich von Art. 15 Abs. 1 der Charta falle, da das passive Wahlrecht zu den politischen Rechten gehöre, was durch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte bestätigt werde. Die Kommission trägt ebenfalls vor, dass das im Ausgangsverfahren in Rede stehende Verbot der Bekleidung öffentlicher Wahlämter wohl nicht in den Anwendungsbereich dieser Bestimmung falle, da das Wahlverfahren nicht bedeute, dass eine bestimmte Person das Recht hätte, ein solches Amt zu bekleiden.
76 Insoweit ist festzustellen, dass der Wortlaut von Art. 15 Abs. 1 der Charta zwar weit gefasst ist, wie die Verwendung der Worte „jede Person“, „arbeiten“ und „Beruf“ belegt.
77 Außerdem ist gemäß den Erläuterungen zur Charta der Grundrechte (ABl. 2007, C 303, S. 17) die in dieser Bestimmung festgeschriebene Berufsfreiheit in der Rechtsprechung des Gerichtshofs anerkannt, die sich u. a. aus den Urteilen vom 14. Mai 1974, Nold/Kommission (4/73, EU:C:1974:51, Rn. 12 bis 14), vom 13. Dezember 1979, Hauer (44/79, EU:C:1979:290, S. 3727), und vom 8. Oktober 1986, Keller (234/85, EU:C:1986:377, Rn. 8), ergibt. Art. 15 Abs. 1 der Charta lehnt sich ferner an Art. 1 Abs. 2 der am 18. Oktober 1961 in Turin unterzeichneten und am 3. Mai 1996 in Straßburg revidierten Europäischen Sozialcharta an, der einen wirksamen Schutz des Rechts des Arbeitnehmers verlangt, seinen Lebensunterhalt durch eine frei übernommene Tätigkeit zu verdienen, sowie an Nr. 4 der auf der Tagung des Europäischen Rates am 9. Dezember 1989 in Straßburg angenommenen Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte der Arbeitnehmer, die besagt, dass jeder nach den für den jeweiligen Beruf geltenden Vorschriften das Recht auf freie Wahl und Ausübung eines Berufes hat. Somit hat Art. 15 Abs. 1 der Charta, wie der Generalanwalt in Nr. 85 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, sowohl in persönlicher als auch in sachlicher Hinsicht einen weiten Anwendungsbereich.
78 Gleichwohl schließt dieser Anwendungsbereich, so weit er auch sein mag, nicht das Recht ein, ein nach einem demokratischen Wahlprozess erworbenes Wahlmandat wie ein Amt als Bürgermeister für eine bestimmte Dauer auszuüben.
79 Diese Auslegung wird dadurch bestätigt, dass Art. 15 der Charta zu deren Titel II („Freiheiten“) gehört, während spezifische Vorschriften über das passive Wahlrecht bei Wahlen, nämlich die Art. 39 und 40 der Charta, die das aktive und passive Wahlrecht bei den Wahlen zum Europäischen Parlament bzw. bei den Kommunalwahlen betreffen, in einem anderen Titel stehen, nämlich Titel V („Bürgerrechte“).
80 Für eine solche Auslegung spricht auch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, da dieser entschieden hat, dass das Recht auf Ausübung eines nach einem Wahlprozess erworbenen Wahlmandats ein politisches Recht und die entsprechende Vergütung lediglich eine Folge davon sei (vgl. in diesem Sinne EGMR, 8. November 2016, Savisaar/Estland, CE:ECHR:2016:1108DEC000836516, §§ 26 und 27).
81 Daraus folgt, dass das Recht, ein öffentliches Wahlamt, etwa ein Amt als Bürgermeister, zu bekleiden, nicht in den Anwendungsbereich von Art. 15 Abs. 1 der Charta fällt, so dass sich der Kläger des Ausgangsverfahrens im vorliegenden Fall nicht mit Erfolg auf diese Vorschrift berufen kann.
82 Wie sich aus Art. 53 der Charta ergibt, lässt diese Auslegung jedoch die Möglichkeit der Mitgliedstaaten unberührt, einen in ihren nationalen Verfassungen anerkannten höheren Schutzstandard für das Recht auf Arbeit und freie Berufsausübung anzuwenden, sofern das Schutzniveau der Charta, wie sie vom Gerichtshof ausgelegt wird, dadurch nicht beeinträchtigt wird.
83 Was Art. 47 der Charta anbelangt, so sieht dieser in Abs. 1 vor, dass jede Person, deren durch das Recht der Union garantierte Rechte oder Freiheiten verletzt worden sind, das Recht hat, nach Maßgabe der in diesem Artikel vorgesehenen Bedingungen bei einem Gericht einen wirksamen Rechtsbehelf einzulegen. Art. 47 Abs. 2 der Charta bestimmt, dass jede Person ein Recht darauf hat, dass ihre Sache von einem unabhängigen, unparteiischen und zuvor durch Gesetz errichteten Gericht in einem fairen Verfahren, öffentlich und innerhalb angemessener Frist verhandelt wird.
84 Die Anerkennung des in Art. 47 der Charta niedergelegten Rechts auf einen wirksamen Rechtsbehelf in einem bestimmten Einzelfall setzt voraus, dass sich die Person, die es geltend macht, auf durch das Unionsrecht garantierte Rechte oder Freiheiten beruft oder dass diese Person von einem Verfahren betroffen ist, das eine Durchführung des Unionsrechts im Sinne von Art. 51 Abs. 1 der Charta darstellt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 22. Februar 2022, RS [Wirkung der Urteile eines Verfassungsgerichts], C‑430/21, EU:C:2022:99, Rn. 34 und die dort angeführte Rechtsprechung).
85 Dies ist hier der Fall, da das dem Kläger des Ausgangsverfahrens für den Fall, dass die Rechtmäßigkeit des Beurteilungsberichts der ANI bestätigt wird, drohende, für die vorbestimmte Dauer von drei Jahren geltende Verbot der Bekleidung öffentlicher Wahlämter im Gesetz Nr. 176/2010 vorgesehen ist, mit dem, wie sich aus Rn. 27 des vorliegenden Urteils ergibt, Unionsrecht durchgeführt wird. Art. 47 der Charta ist daher auf das Ausgangsverfahren anwendbar.
86 Was den Inhalt dieser Bestimmung betrifft, so umfasst der darin verankerte Grundsatz des effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes mehrere Elemente, zu denen u. a. der Grundsatz der Waffengleichheit und das Recht auf Zugang zu den Gerichten gehören (Urteil vom 30. Juni 2016, Toma und Biroul Executorului Judecătoresc Horațiu-Vasile Cruduleci, C‑205/15, EU:C:2016:499, Rn. 42 und die dort angeführte Rechtsprechung).
87 Das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf im Sinne von Art. 47 der Charta impliziert u. a., dass der Inhaber dieses Rechts Zugang zu einem Gericht erhalten kann, das über die Befugnis verfügt, die Achtung der ihm durch das Unionsrecht garantierten Rechte sicherzustellen und zu diesem Zweck alle für die bei ihm anhängige Streitigkeit relevanten Tatsachen- und Rechtsfragen zu prüfen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. Oktober 2020, Luxemburgischer Staat [Rechtsbehelf gegen ein Auskunftsersuchen in Steuersachen], C‑245/19 und C‑246/19, EU:C:2020:795, Rn. 66 und die dort angeführte Rechtsprechung).
88 Im vorliegenden Fall setzt das in Art. 47 der Charta verankerte Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf, wie der Generalanwalt in Nr. 100 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, voraus, dass das vorlegende Gericht die Rechtmäßigkeit des den Kläger des Ausgangsverfahrens belastenden Beurteilungsberichts der ANI überprüfen und gegebenenfalls diesen Bericht sowie die auf seiner Grundlage verhängten Sanktionen für nichtig erklären kann.
89 Aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten geht aber hervor, dass Beurteilungsberichte der ANI jeweils die Beschreibung des Sachverhalts, den Standpunkt der betroffenen Person und die Würdigung der den festgestellten Interessenkonflikt begründenden Umstände enthalten. Außerdem ist das vorlegende Gericht im Rahmen der Kontrolle, die es in Bezug auf den im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Beurteilungsbericht vorzunehmen hat, zur Prüfung aller maßgeblichen Rechts- und Tatsachenfragen befugt, so dass es am Ende dieser Kontrolle das Vorliegen eines Interessenkonflikts bejahen oder verneinen kann. Sollte das vorlegende Gericht zu dem Ergebnis gelangen, dass der Beurteilungsbericht rechtswidrig ist, wäre es zudem befugt, ihn für nichtig zu erklären und infolgedessen die auf seiner Grundlage ergangenen Maßnahmen (Beendigung des Mandats und Verbot der Bekleidung öffentlicher Wahlämter) für ungültig zu erklären.
90 Darüber hinaus ist es, wie sich aus den Rn. 69 und 72 des vorliegenden Urteils ergibt, Aufgabe des vorlegenden Gerichts, zu prüfen, ob im vorliegenden Fall das aus dem Unionsrecht folgende Erfordernis der Verhängung einer verhältnismäßigen Sanktion erfüllt ist.
91 Im Übrigen enthalten die dem Gerichtshof vorliegenden Akten, wie auch der Generalanwalt in Nr. 102 seiner Schlussanträge festgestellt hat, keinen Anhaltspunkt, der Zweifel an der Wirksamkeit der im rumänischen Recht vorgesehenen Rechtsbehelfe oder an der Vereinbarkeit der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden nationalen Regelung mit Art. 47 der Charta aufkommen lassen könnte.
92 Nach alledem ist auf die Vorlagefrage wie folgt zu antworten:
–
Art. 15 Abs. 1 der Charta ist dahin auszulegen, dass das Recht auf Ausübung eines nach einem demokratischen Wahlprozess erlangten Wahlmandats, wie z. B. eines Amtes als Bürgermeister, nicht unter diese Bestimmung fällt;
–
Art. 47 der Charta ist dahin auszulegen, dass er einer nationalen Regelung, die eine Maßnahme vorsieht, mit der für die vorbestimmte Dauer von drei Jahren ein Verbot der Bekleidung öffentlicher Wahlämter gegen eine Person verhängt wird, bei der ein Interessenkonflikt in der Ausübung eines solchen Amtes festgestellt wurde, nicht entgegensteht, sofern die betroffene Person tatsächlich die Möglichkeit hat, die Rechtswidrigkeit des Berichts, in dem diese Feststellung getroffen wurde, und der auf seiner Grundlage verhängten Sanktion geltend zu machen und dabei auch die Verhältnismäßigkeit der Sanktion in Frage zu stellen.
Kosten
93 Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Erste Kammer) für Recht erkannt:
1. Art. 49 Abs. 3 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union ist dahin auszulegen, dass er auf eine nationale Regelung, die am Ende eines Verwaltungsverfahrens eine Maßnahme vorsieht, mit der für die vorbestimmte Dauer von drei Jahren ein Verbot der Bekleidung öffentlicher Wahlämter gegen eine Person verhängt wird, bei der ein Interessenkonflikt in der Ausübung eines solchen Amtes festgestellt wurde, nicht anwendbar ist, sofern diese Maßnahme nicht strafrechtlicher Natur ist.
2. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ist dahin auszulegen, dass er einer nationalen Regelung, die eine Maßnahme vorsieht, mit der für die vorbestimmte Dauer von drei Jahren ein Verbot der Bekleidung öffentlicher Wahlämter gegen eine Person verhängt wird, bei der ein Interessenkonflikt in der Ausübung eines solchen Amtes festgestellt wurde, nicht entgegensteht, sofern die Anwendung dieser Regelung in Anbetracht aller maßgeblichen Umstände dazu führt, dass eine Sanktion verhängt wird, die unter Berücksichtigung des Ziels, Integrität und Transparenz bei der Wahrnehmung öffentlicher Aufgaben und Pflichten zu gewährleisten sowie institutioneller Korruption vorzubeugen, in einem angemessenen Verhältnis zur Schwere des mit ihr geahndeten Verstoßes steht. Dies ist nicht der Fall, wenn das festgestellte rechtswidrige Verhalten in Ansehung dieses Ziels ausnahmsweise keinen schwer ins Gewicht fallenden Aspekt aufweist, während sich die Auswirkungen der fraglichen Maßnahme auf die persönliche, berufliche und wirtschaftliche Situation der betroffenen Person als besonders schwerwiegend erweisen.
3. Art. 15 Abs. 1 der Charta der Grundrechte ist dahin auszulegen, dass das Recht auf Ausübung eines nach einem demokratischen Wahlprozess erlangten Wahlmandats, wie z. B. eines Amtes als Bürgermeister, nicht unter diese Bestimmung fällt.
4. Art. 47 der Charta der Grundrechte ist dahin auszulegen, dass er einer nationalen Regelung, die eine Maßnahme vorsieht, mit der für die vorbestimmte Dauer von drei Jahren ein Verbot der Bekleidung öffentlicher Wahlämter gegen eine Person verhängt wird, bei der ein Interessenkonflikt in der Ausübung eines solchen Amtes festgestellt wurde, nicht entgegensteht, sofern die betroffene Person tatsächlich die Möglichkeit hat, die Rechtswidrigkeit des Berichts, in dem diese Feststellung getroffen wurde, und der auf seiner Grundlage verhängten Sanktion geltend zu machen und dabei auch die Verhältnismäßigkeit der Sanktion in Frage zu stellen.
Unterschriften
(*1) Verfahrenssprache: Rumänisch.
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Urteil des Gerichtshofs (Große Kammer) vom 14. Dezember 2021.#V.М.А. gegen Stolichna obshtina, rayon „Pancharevo“.#Vorabentscheidungsersuchen des Administrativen sad Sofia-grad.#Vorlage zur Vorabentscheidung – Unionsbürgerschaft – Art. 20 und 21 AEUV – Recht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten – Im Aufnahmemitgliedstaat seiner Eltern geborenes Kind – Von diesem Mitgliedstaat ausgestellte Geburtsurkunde, in der zwei Mütter für dieses Kind genannt werden – Weigerung des Herkunftsmitgliedstaats einer dieser beiden Mütter, eine Geburtsurkunde des Kindes auszustellen, wenn keine Informationen über die Identität seiner leiblichen Mutter vorliegen – Besitz einer solchen Urkunde als Voraussetzung für die Ausstellung eines Personalausweises oder Reisepasses – Nationale Regelung dieses Herkunftsmitgliedstaats, die keine Elternschaft von Personen desselben Geschlechts zulässt.#Rechtssache C-490/20.
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62020CJ0490
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ECLI:EU:C:2021:1008
| 2021-12-14T00:00:00 |
Gerichtshof, Kokott
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62020CJ0490
URTEIL DES GERICHTSHOFS (Große Kammer)
14. Dezember 2021 (*1)
„Vorlage zur Vorabentscheidung – Unionsbürgerschaft – Art. 20 und 21 AEUV – Recht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten – Im Aufnahmemitgliedstaat seiner Eltern geborenes Kind – Von diesem Mitgliedstaat ausgestellte Geburtsurkunde, in der zwei Mütter für dieses Kind genannt werden – Weigerung des Herkunftsmitgliedstaats einer dieser beiden Mütter, eine Geburtsurkunde des Kindes auszustellen, wenn keine Informationen über die Identität seiner leiblichen Mutter vorliegen – Besitz einer solchen Urkunde als Voraussetzung für die Ausstellung eines Personalausweises oder Reisepasses – Nationale Regelung dieses Herkunftsmitgliedstaats, die keine Elternschaft von Personen desselben Geschlechts zulässt“
In der Rechtssache C‑490/20
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Administrativen sad Sofia-grad (Verwaltungsgericht der Stadt Sofia, Bulgarien) mit Entscheidung vom 2. Oktober 2020, beim Gerichtshof eingegangen am selben Tag, in dem Verfahren
V.M.A.
gegen
Stolichna obshtina, rayon „Pancharevo“,
erlässt
DER GERICHTSHOF (Große Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten K. Lenaerts, des Vizepräsidenten L. Bay Larsen, des Kammerpräsidenten A. Arabadjiev, der Kammerpräsidentin K. Jürimäe, der Kammerpräsidenten C. Lycourgos, E. Regan und N. Jääskinen, der Kammerpräsidentin I. Ziemele, des Kammerpräsidenten J. Passer sowie der Richter M. Ilešič (Berichterstatter), J.‑C. Bonichot, T. von Danwitz und N. Wahl,
Generalanwältin: J. Kokott,
Kanzler: M. Aleksejev, Referatsleiter,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 9. Februar 2021,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
–
von V.М.А., vertreten durch D. I. Lyubenova, advokat,
–
der bulgarischen Regierung, vertreten durch T. Mitova und L. Zaharieva als Bevollmächtigte,
–
der deutschen Regierung, zunächst vertreten durch J. Möller und S. Heimerl, dann durch J. Möller als Bevollmächtigte,
–
der spanischen Regierung, zunächst vertreten durch S. Centeno Huerta und M. J. Ruiz Sánchez, dann durch M. J. Ruiz Sánchez als Bevollmächtigte,
–
der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von W. Ferrante, avvocato dello Stato,
–
der ungarischen Regierung, vertreten durch M. Z. Fehér und Z. Biró‑Tóth als Bevollmächtigte,
–
der niederländischen Regierung, vertreten durch C. S. Schillemans als Bevollmächtigte,
–
der polnischen Regierung, vertreten durch E. Borawska-Kędzierska, A. Siwek-Ślusarek und B. Majczyna als Bevollmächtigte,
–
der slowakischen Regierung, vertreten durch B. Ricziová als Bevollmächtigte,
–
der Europäischen Kommission, zunächst vertreten durch E. Montaguti, I. Zaloguin und M. Wilderspin, dann durch E. Montaguti und I. Zaloguin als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge der Generalanwältin in der Sitzung vom 15. April 2021
folgendes
Urteil
1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 4 Abs. 2 EUV, der Art. 20 und 21 AEUV sowie der Art. 7, 9, 24 und 45 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta).
2 Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen V.M.A. und der Stolichna obshtina, rayon „Pancharevo“ (Gemeinde Sofia, Stadtbezirk Pancharevo, Bulgarien) (im Folgenden: Gemeinde Sofia) wegen deren Weigerung, für die Tochter von V.M.A. und ihrer Ehefrau eine Geburtsurkunde auszustellen.
Rechtlicher Rahmen
Internationales Recht
3 Art. 2 des am 20. November 1989 von der Generalversammlung der Vereinten Nationen angenommenen Übereinkommens über die Rechte des Kindes (United Nations Treaties Series, Bd. 1577, S. 3) bestimmt:
„(1) Die Vertragsstaaten achten die in diesem Übereinkommen festgelegten Rechte und gewährleisten sie jedem ihrer Hoheitsgewalt unterstehenden Kind ohne jede Diskriminierung unabhängig von der Rasse, der Hautfarbe, dem Geschlecht, der Sprache, der Religion, der politischen oder sonstigen Anschauung, der nationalen, ethnischen oder sozialen Herkunft, des Vermögens, einer Behinderung, der Geburt oder des sonstigen Status des Kindes, seiner Eltern oder seines Vormunds.
(2) Die Vertragsstaaten treffen alle geeigneten Maßnahmen, um sicherzustellen, dass das Kind vor allen Formen der Diskriminierung oder Bestrafung wegen des Status, der Tätigkeiten, der Meinungsäußerungen oder der Weltanschauung seiner Eltern, seines Vormunds oder seiner Familienangehörigen geschützt wird.“
4 Art. 7 dieses Übereinkommens lautet:
„(1) Das Kind ist unverzüglich nach seiner Geburt in ein Register einzutragen und hat das Recht auf einen Namen von Geburt an, das Recht, eine Staatsangehörigkeit zu erwerben, und soweit möglich das Recht, seine Eltern zu kennen und von ihnen betreut zu werden.
(2) Die Vertragsstaaten stellen die Verwirklichung dieser Rechte im Einklang mit ihrem innerstaatlichen Recht und mit ihren Verpflichtungen aufgrund der einschlägigen internationalen Übereinkünfte in diesem Bereich sicher, insbesondere für den Fall, dass das Kind sonst staatenlos wäre.“
Unionsrecht
EU-Vertrag
5 Art. 4 Abs. 2 EUV bestimmt:
„Die Union achtet die Gleichheit der Mitgliedstaaten vor den Verträgen und ihre jeweilige nationale Identität, die in ihren grundlegenden politischen und verfassungsmäßigen Strukturen einschließlich der regionalen und lokalen Selbstverwaltung zum Ausdruck kommt. Sie achtet die grundlegenden Funktionen des Staates, insbesondere die Wahrung der territorialen Unversehrtheit, die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und den Schutz der nationalen Sicherheit. Insbesondere die nationale Sicherheit fällt weiterhin in die alleinige Verantwortung der einzelnen Mitgliedstaaten.“
AEU-Vertrag
6 In Art. 20 AEUV heißt es:
„(1) Es wird eine Unionsbürgerschaft eingeführt. Unionsbürger ist, wer die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzt. Die Unionsbürgerschaft tritt zur nationalen Staatsbürgerschaft hinzu, ersetzt diese aber nicht.
(2) Die Unionsbürgerinnen und Unionsbürger haben die in den Verträgen vorgesehenen Rechte und Pflichten. Sie haben unter anderem
a)
das Recht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten;
…
Diese Rechte werden unter den Bedingungen und innerhalb der Grenzen ausgeübt, die in den Verträgen und durch die in Anwendung der Verträge erlassenen Maßnahmen festgelegt sind.“
7 Art. 21 Abs. 1 AEUV lautet:
„Jeder Unionsbürger hat das Recht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten vorbehaltlich der in den Verträgen und in den Durchführungsvorschriften vorgesehenen Beschränkungen und Bedingungen frei zu bewegen und aufzuhalten.“
Charta
8 Art. 7 („Achtung des Privat- und Familienlebens“) der Charta bestimmt:
„Jede Person hat das Recht auf Achtung ihres Privat- und Familienlebens, ihrer Wohnung sowie ihrer Kommunikation.“
9 Art. 9 („Recht, eine Ehe einzugehen und eine Familie zu gründen“) der Charta sieht vor:
„Das Recht, eine Ehe einzugehen, und das Recht, eine Familie zu gründen, werden nach den einzelstaatlichen Gesetzen gewährleistet, welche die Ausübung dieser Rechte regeln.“
10 Art. 24 („Rechte des Kindes“) der Charta hat folgenden Wortlaut:
„(1) Kinder haben Anspruch auf den Schutz und die Fürsorge, die für ihr Wohlergehen notwendig sind. Sie können ihre Meinung frei äußern. Ihre Meinung wird in den Angelegenheiten, die sie betreffen, in einer ihrem Alter und ihrem Reifegrad entsprechenden Weise berücksichtigt.
(2) Bei allen Kinder betreffenden Maßnahmen öffentlicher Stellen oder privater Einrichtungen muss das Wohl des Kindes eine vorrangige Erwägung sein.
(3) Jedes Kind hat Anspruch auf regelmäßige persönliche Beziehungen und direkte Kontakte zu beiden Elternteilen, es sei denn, dies steht seinem Wohl entgegen.“
11 Art. 45 („Freizügigkeit und Aufenthaltsfreiheit“) der Charta lautet:
„(1) Die Unionsbürgerinnen und Unionsbürger haben das Recht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten.
(2) Staatsangehörigen von Drittländern, die sich rechtmäßig im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats aufhalten, kann nach Maßgabe der Verträge Freizügigkeit und Aufenthaltsfreiheit gewährt werden.“
Richtlinie 2004/38/EG
12 Die Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 und zur Aufhebung der Richtlinien 64/221/EWG, 68/360/EWG, 72/194/EWG, 73/148/EWG, 75/34/EWG, 75/35/EWG, 90/364/EWG, 90/365/EWG und 93/96/EWG (ABl. 2004, L 158, S. 77, Berichtigung ABl. 2004, L 229, S. 35) bestimmt in ihrem Art. 2 („Begriffsbestimmungen“):
„Im Sinne dieser Richtlinie bezeichnet der Ausdruck
1. ‚Unionsbürger‘ jede Person, die die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzt;
2. ‚Familienangehöriger‘
a)
den Ehegatten;
b)
den Lebenspartner, mit dem der Unionsbürger auf der Grundlage der Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats eine eingetragene Partnerschaft eingegangen ist, sofern nach den Rechtsvorschriften des Aufnahmemitgliedstaats die eingetragene Partnerschaft der Ehe gleichgestellt ist und die in den einschlägigen Rechtsvorschriften des Aufnahmemitgliedstaats vorgesehenen Bedingungen erfüllt sind;
c)
die Verwandten in gerader absteigender Linie des Unionsbürgers und des Ehegatten oder des Lebenspartners im Sinne von Buchstabe b), die das 21. Lebensjahr noch nicht vollendet haben oder denen von diesen Unterhalt gewährt wird;
d)
die Verwandten in gerader aufsteigender Linie des Unionsbürgers und des Ehegatten oder des Lebenspartners im Sinne von Buchstabe b), denen von diesen Unterhalt gewährt wird;
3. ‚Aufnahmemitgliedstaat‘ den Mitgliedstaat, in den sich der Unionsbürger begibt, um dort sein Recht auf Freizügigkeit oder Aufenthalt auszuüben.“
13 Art. 4 („Recht auf Ausreise“) dieser Richtlinie bestimmt:
„(1) Unbeschadet der für die Kontrollen von Reisedokumenten an den nationalen Grenzen geltenden Vorschriften haben alle Unionsbürger, die einen gültigen Personalausweis oder Reisepass mit sich führen, und ihre Familienangehörigen, die nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzen und die einen gültigen Reisepass mit sich führen, das Recht, das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats zu verlassen und sich in einen anderen Mitgliedstaat zu begeben.
…
(3) Die Mitgliedstaaten stellen ihren Staatsangehörigen gemäß ihren Rechtsvorschriften einen Personalausweis oder einen Reisepass aus, der ihre Staatsangehörigkeit angibt, und verlängern diese Dokumente.
(4) Der Reisepass muss zumindest für alle Mitgliedstaaten und die unmittelbar zwischen den Mitgliedstaaten liegenden Durchreiseländer gelten. Sehen die Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats keinen Personalausweis vor, so ist der Reisepass mit einer Gültigkeit von mindestens fünf Jahren auszustellen oder zu verlängern.“
14 In Art. 5 („Recht auf Einreise“) dieser Richtlinie heißt es:
„(1) Unbeschadet der für die Kontrollen von Reisedokumenten an den nationalen Grenzen geltenden Vorschriften gestatten die Mitgliedstaaten Unionsbürgern, die einen gültigen Personalausweis oder Reisepass mit sich führen, und ihren Familienangehörigen, die nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzen und die einen gültigen Reisepass mit sich führen, die Einreise.
…
(4) Verfügt ein Unionsbürger oder ein Familienangehöriger, der nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzt, nicht über die erforderlichen Reisedokumente oder gegebenenfalls die erforderlichen Visa, so gewährt der betreffende Mitgliedstaat dieser Person jede angemessene Möglichkeit, sich die erforderlichen Dokumente in einer angemessenen Frist zu beschaffen oder übermitteln zu lassen oder sich mit anderen Mitteln bestätigen zu lassen oder nachzuweisen, dass sie das Recht auf Freizügigkeit und Aufenthalt genießt, bevor er eine Zurückweisung verfügt.
…“
Bulgarisches Recht
15 Art. 25 Abs. 1 der Konstitutsia na Republika Bulgaria (Verfassung der Republik Bulgarien) (im Folgenden: bulgarische Verfassung) lautet:
„Bulgarischer Staatsangehöriger ist jeder, der wenigstens einen Elternteil mit bulgarischer Staatsangehörigkeit hat oder der im bulgarischen Hoheitsgebiet geboren ist, wenn er nicht durch Abstammung eine andere Staatsangehörigkeit erwirbt. Die bulgarische Staatsangehörigkeit kann auch durch Einbürgerung erworben werden.“
16 Nach Art. 8 des Zakon za balgarskoto grazhdanstvo (Gesetz über die bulgarische Staatsangehörigkeit) vom 5. November 1998 (DV Nr. 136 vom 18. November 1998, S. 1) (im Folgenden: Staatsangehörigkeitsgesetz) „[besitzt j]ede Person, bei der wenigstens einer der Elternteile bulgarischer Staatsangehörigkeit ist, … die bulgarische Staatsangehörigkeit kraft Abstammung.“
17 Der Semeen kodeks (Familiengesetzbuch) vom 12. Juni 2009 (DV Nr. 47 vom 23. Juni 2009, S. 19) sieht in Art. 60 („Abstammung im Verhältnis zur Mutter“) vor:
„(1) Die Abstammung im Verhältnis zur Mutter wird durch die Geburt bestimmt.
(2) Mutter eines Kindes ist die Frau, die es geboren hat, einschließlich des Falles der künstlichen Fortpflanzung.
…“
Ausgangsverfahren und Vorlagefragen
18 V.M.A. ist bulgarische Staatsangehörige, K.D.K. ist Staatsangehörige des Vereinigten Königreichs. K.D.K. wurde in Gibraltar geboren, wo die beiden Frauen 2018 die Ehe miteinander geschlossen haben. Sie wohnen seit 2015 in Spanien.
19 Im Dezember 2019 bekamen V.M.A. und K.D.K. eine Tochter, S.D.K.A., die in Spanien geboren wurde und mit ihren beiden Eltern dort wohnt. In der von den spanischen Behörden ausgestellten Geburtsurkunde dieser Tochter wird V.M.A. als deren „Mutter A“ und K.D.K. als deren „Mutter“ angegeben.
20 Am 29. Januar 2020 beantragte V.M.A. bei der Gemeinde Sofia die Ausstellung einer Geburtsurkunde für S.D.K.A., die u. a. für die Ausstellung eines bulgarischen Identitätsdokuments erforderlich ist. Zur Stützung ihres Antrags legte V.M.А. eine amtlich beglaubigte bulgarische Übersetzung des die Geburtsurkunde von S.D.K.A. betreffenden Auszugs aus dem Personenstandsregister von Barcelona (Spanien) vor.
21 Mit Schreiben vom 7. Februar 2020 gab die Gemeinde Sofia V.M.A. auf, binnen sieben Tagen Nachweise für die Abstammung von S.D.K.A. in Bezug auf ihre leibliche Mutter vorzulegen. Das Muster der Geburtsurkunde unter den auf nationaler Ebene geltenden Mustern von Personenstandsurkunden sehe nur ein Feld für die „Mutter“ und ein weiteres Feld für den „Vater“ vor, wobei in jedem dieser Felder nur ein einziger Name aufgeführt werden könne.
22 Am 18. Februar 2020 antwortete V.M.A. der Gemeinde Sofia, dass sie nach geltendem bulgarischen Recht nicht verpflichtet sei, die geforderte Information zu erteilen.
23 Mit Entscheidung vom 5. März 2020 lehnte die Gemeinde Sofia daraufhin den auf Ausstellung einer Geburtsurkunde für S.D.K.A. gerichteten Antrag von V.M.A. ab. Sie begründete dies damit, dass Informationen über die Identität der leiblichen Mutter des Kindes fehlten und dass die Angabe zweier Elternteile weiblichen Geschlechts in einer Geburtsurkunde der öffentlichen Ordnung der Republik Bulgarien zuwiderlaufe, nach der die Ehe zwischen zwei Personen gleichen Geschlechts nicht zulässig sei.
24 V.M.A. erhob gegen diese ablehnende Entscheidung Klage beim Administrativen sad Sofia-grad (Verwaltungsgericht der Stadt Sofia, Bulgarien), dem vorlegenden Gericht.
25 Dieses Gericht führt aus, dass S.D.K.A. gemäß Art. 25 Abs. 1 der bulgarischen Verfassung und Art. 8 des Staatsangehörigkeitsgesetzes die bulgarische Staatsangehörigkeit besitze, auch wenn bisher von den bulgarischen Behörden keine Geburtsurkunde für sie ausgestellt worden sei. Die Weigerung dieser Behörden, S.D.K.A. eine solche Urkunde auszustellen, bedeute nämlich nicht, dass ihr die bulgarische Staatsangehörigkeit verweigert werde.
26 Das vorlegende Gericht hat hingegen Zweifel, ob die Weigerung der bulgarischen Behörden, die Geburt eines bulgarischen Staatsangehörigen in ein Register einzutragen, die in einem anderen Mitgliedstaat stattgefunden habe und mit einer von den zuständigen Behörden dieses Mitgliedstaats ausgestellten Geburtsurkunde, in der zwei Mütter angegeben seien, bescheinigt worden sei, die diesem Staatsangehörigen in den Art. 20 und 21 AEUV sowie den Art. 7, 24 und 45 der Charta verliehenen Rechte beeinträchtige. Die Weigerung der bulgarischen Behörden, eine Geburtsurkunde auszustellen, könne – auch wenn sie keine rechtlichen Auswirkungen auf die bulgarische Staatsangehörigkeit des Kindes und in der Folge auf seine Unionsbürgerschaft habe – die Ausstellung eines bulgarischen Identitätsdokuments schwieriger machen und damit dem Kind die Ausübung des Rechts auf Freizügigkeit und mithin die volle Inanspruchnahme seiner Rechte als Unionsbürger erschweren.
27 Zudem fragt sich das vorlegende Gericht, ob in Anbetracht dessen, dass die andere Mutter von S.D.K.A., K.D.K., Staatsangehörige des Vereinigten Königreichs sei, die sich aus dem Abkommen über den Austritt des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland aus der Europäischen Union und der Europäischen Atomgemeinschaft (ABl. 2020, L 29, S. 7, im Folgenden: Austrittsabkommen) ergebenden Rechtsfolgen und namentlich der Umstand, dass das Kind nicht mehr den durch die Staatsangehörigkeit von K.D.K. vermittelten Unionsbürgerstatus in Anspruch nehmen könne, für die Beurteilung dieser Frage erheblich sei.
28 Darüber hinaus stellt sich der Administrativen sad Sofia-grad (Verwaltungsgericht der Stadt Sofia) die Frage, ob eine etwaige Verpflichtung der bulgarischen Behörden, bei der Ausstellung einer Geburtsurkunde zwei Mütter als Eltern des Kindes in diese Urkunde einzutragen, möglicherweise die öffentliche Ordnung und die nationale Identität der Republik Bulgarien beeinträchtigen würde, da dieser Mitgliedstaat die Möglichkeit, in eine Geburtsurkunde zwei Elternteile gleichen Geschlechts für dieses Kind einzutragen, nicht vorgesehen habe. Den Bestimmungen über die Abstammung des Kindes komme in der bulgarischen Verfassungstradition sowie in der bulgarischen Familien- und Erbrechtslehre sowohl rein rechtlich gesehen als auch unter Wertegesichtspunkten beim gegenwärtigen Entwicklungsstand der bulgarischen Gesellschaft grundlegende Bedeutung zu.
29 Daher hält es der Administrativen sad Sofia-grad (Verwaltungsgericht der Stadt Sofia) für erforderlich, einen Ausgleich zu finden zwischen der verfassungsrechtlichen und nationalen Identität der Republik Bulgarien einerseits und den Interessen des Kindes, insbesondere seinem Recht auf Privatleben und seinem Recht auf Freizügigkeit, andererseits.
30 Das vorlegende Gericht fragt sich, ob im vorliegenden Fall ein solcher Ausgleich durch die Anwendung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit hergestellt werden könnte, und insbesondere, ob es einen geeigneten Ausgleich zwischen diesen verschiedenen legitimen Interessen darstellen würde, wenn der Name einer der beiden Mütter, die in der von den spanischen Behörden ausgestellten Geburtsurkunde genannt werden, unter der Rubrik „Mutter“ angegeben würde, wobei dies entweder die leibliche Mutter des Kindes oder diejenige sein könne, die auf andere Weise, z. B. durch Adoption, Mutter geworden sei, und die Rubrik „Vater“ nicht ausgefüllt würde. Zwar könnte diese Lösung wegen eventueller Unterschiede zwischen der von den bulgarischen Behörden und der von den spanischen Behörden ausgestellten Geburtsurkunde auch zu gewissen Schwierigkeiten führen, doch ermöglichte sie so die Ausstellung einer Geburtsurkunde durch die bulgarischen Behörden; etwaige Hindernisse für die Freizügigkeit des Kindes würden dadurch beseitigt oder zumindest vermindert. Gleichwohl sei fraglich, ob diese Lösung mit dem in Art. 7 der Charta verankerten Recht des Kindes auf Privat- und Familienleben vereinbar wäre.
31 Für den Fall schließlich, dass der Gerichtshof zu dem Ergebnis gelangen sollte, dass das Unionsrecht die Eintragung der beiden Mütter des Kindes in die von den bulgarischen Behörden ausgestellte Geburtsurkunde verlangt, möchte das vorlegende Gericht wissen, wie diese Anforderung umzusetzen wäre, da das Gericht das in den auf nationaler Ebene geltenden Mustern für Personenstandsurkunden enthaltene Muster für eine Geburtsurkunde nicht durch ein anderes ersetzen könne.
32 Unter diesen Umständen hat der Administrativen sad Sofia-grad (Verwaltungsgericht der Stadt Sofia) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
1. Sind die Art. 20 und 21 AEUV sowie die Art. 7, 24 und 45 der Charta dahin auszulegen, dass sie den bulgarischen Verwaltungsbehörden, bei denen ein Antrag auf Bescheinigung der in einem anderen Mitgliedstaat der Union erfolgten Geburt eines Kindes mit bulgarischer Staatsangehörigkeit gestellt wurde, die mit einer spanischen Geburtsurkunde, in der zwei Personen weiblichen Geschlechts als Mütter eingetragen sind, ohne nähere Angaben, ob eine und wenn ja, welche von ihnen die leibliche Mutter des Kindes sei, bescheinigt worden war, nicht gestatten, die Ausfertigung einer bulgarischen Geburtsurkunde mit der Begründung abzulehnen, dass die Klägerin sich weigere anzugeben, welche die leibliche Mutter des Kindes sei?
2. Sind Art. 4 Abs. 2 EUV und Art. 9 der Charta dahin auszulegen, dass die Wahrung der nationalen Identität und der Verfassungsidentität der Mitgliedstaaten der Union bedeutet, dass Letztere in Bezug auf die Vorschriften für die Feststellung der Abstammung über ein weites Ermessen verfügen? Im Einzelnen:
Ist Art. 4 Abs. 2 EUV dahin auszulegen, dass er es den Mitgliedstaaten gestattet, Informationen über die biologische Abstammung des Kindes zu verlangen?
Ist Art. 4 Abs. 2 EUV in Verbindung mit Art. 7 und Art. 24 Abs. 2 der Charta dahin auszulegen, dass es unabdingbar ist, die nationale Identität und die Verfassungsidentität eines Mitgliedstaats einerseits und das Wohl des Kindes andererseits im Bestreben eines Interessenausgleichs gegeneinander abzuwägen, wobei zu berücksichtigen ist, dass derzeit weder in Bezug auf die Werte noch in rechtlicher Hinsicht ein Konsens über die Möglichkeit besteht, als Eltern in einer Geburtsurkunde Personen gleichen Geschlechts, ohne nähere Angaben, ob und wenn ja, wer von ihnen leiblicher Elternteil des Kindes ist, eintragen zu lassen? Falls diese Frage zu bejahen ist, wie könnte dieser Interessenausgleich konkret erzielt werden?
3. Sind die Rechtsfolgen des Austrittsabkommens insoweit von Bedeutung für die Beantwortung der ersten Frage, als die eine Mutter, die in der in einem anderen Mitgliedstaat ausgestellten Geburtsurkunde angegeben ist, Staatsangehörige des Vereinigten Königreichs, die andere Mutter Staatsangehörige eines Mitgliedstaats der Union ist, wenn man insbesondere berücksichtigt, dass die Weigerung der Ausfertigung einer bulgarischen Geburtsurkunde des Kindes ein Hindernis für die Ausstellung eines Identitätsnachweises des Kindes durch einen Mitgliedstaat der Union darstellt und dadurch gegebenenfalls die uneingeschränkte Ausübung seiner Rechte als Unionsbürger erschwert?
4. Falls die erste Frage bejaht wird: Verpflichtet das Unionsrecht, insbesondere der Effektivitätsgrundsatz, die zuständigen nationalen Behörden, von dem Muster für die Abfassung einer Geburtsurkunde, das Bestandteil der auf nationaler Ebene geltenden Muster für Personenstandsurkunden ist, abzuweichen?
Verfahren vor dem Gerichtshof
33 In seinem Vorabentscheidungsersuchen beantragt das vorlegende Gericht die Behandlung der Rechtssache im beschleunigten Verfahren nach Art. 105 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs. Es führt insbesondere aus, dass die Weigerung der bulgarischen Behörden, für S.D.K.A., die bulgarische Staatsangehörige sei, eine Geburtsurkunde auszustellen, diesem Kind die Erlangung eines bulgarischen Identitätsdokuments und damit die Ausübung seines in Art. 21 AEUV gewährleisteten Rechts, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, ernsthaft erschweren könnte.
34 Nach Art. 105 Abs. 1 der Verfahrensordnung kann der Präsident des Gerichtshofs auf Antrag des vorlegenden Gerichts oder ausnahmsweise von Amts wegen, nach Anhörung des Berichterstatters und des Generalanwalts, entscheiden, eine Vorlage zur Vorabentscheidung einem beschleunigten Verfahren zu unterwerfen, wenn die Art der Rechtssache ihre rasche Erledigung erfordert.
35 Im vorliegenden Fall hat der Präsident des Gerichtshofs am 19. Oktober 2020 nach Anhörung des Berichterstatters und der Generalanwältin beschlossen, dem in Rn. 33 des vorliegenden Urteils genannten Antrag auf Durchführung eines beschleunigten Verfahrens stattzugeben. Diese Entscheidung wurde damit begründet, dass S.D.K.A., ein Kleinkind, derzeit keinen Reisepass habe, obwohl sie in einem Mitgliedstaat wohne, dessen Staatsangehörigkeit sie nicht besitze. Da mit den Vorlagefragen geklärt werden soll, ob die bulgarischen Behörden verpflichtet sind, für dieses Kind eine Geburtsurkunde auszustellen, und aus dem Vorabentscheidungsersuchen hervorgeht, dass eine solche Urkunde nach nationalem Recht erforderlich ist, um einen bulgarischen Reisepass erhalten zu können, kann eine rasch erfolgende Antwort des Gerichtshofs dazu beitragen, dass das Kind schneller über einen Reisepass verfügt (vgl. in diesem Sinne Beschluss des Präsidenten des Gerichtshofs vom 3. Juli 2015, Gogova, C‑215/15, nicht veröffentlicht, EU:C:2015:466, Rn. 12 bis 14).
Zu den Vorlagefragen
36 Mit seinen Fragen, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob ein Mitgliedstaat nach dem Unionsrecht verpflichtet ist, im Hinblick auf die Erlangung eines Identitätsdokuments gemäß seinen Rechtsvorschriften eine Geburtsurkunde für ein Kind auszustellen, das Staatsangehöriger dieses Mitgliedstaats ist und dessen Geburt in einem anderen Mitgliedstaat durch eine von den Behörden dieses anderen Mitgliedstaats nach dessen nationalem Recht ausgestellte Geburtsurkunde bescheinigt wird, in der eine Staatsangehörige des erstgenannten Mitgliedstaats und ihre Ehefrau als Mütter dieses Kindes bezeichnet werden, ohne die konkrete Angabe, welche der beiden Frauen das Kind geboren hat. Für den Fall, dass dies zu bejahen ist, stellt sich das vorlegende Gericht die Frage, ob es nach dem Unionsrecht erforderlich ist, dass diese Urkunde wie diejenige Urkunde, die von den Behörden des Mitgliedstaats ausgestellt worden ist, in dem das Kind geboren wurde, die Namen dieser beiden Frauen als Mütter nennt.
37 Das vorlegende Gericht möchte ferner wissen, ob sich der Umstand, dass die andere Mutter des Kindes Staatsangehörige des Vereinigten Königreichs ist, das jetzt nicht mehr zu den Mitgliedstaaten zählt, in irgendeiner Weise auf die Beantwortung dieser Frage auswirkt.
38 Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass die Festlegung der Voraussetzungen für den Erwerb und den Verlust der Staatsangehörigkeit nach dem Völkerrecht in die Zuständigkeit der einzelnen Mitgliedstaaten fällt und die betreffenden nationalen Vorschriften in Situationen, die unter das Unionsrecht fallen, dieses Recht beachten müssen (Urteile vom 2. März 2010, Rottmann, C‑135/08, EU:C:2010:104, Rn. 39 und 41, sowie vom 12. März 2019, Tjebbes u. a., C‑221/17, EU:C:2019:189, Rn. 30).
39 Nach den Feststellungen des vorlegenden Gerichts, das insoweit allein zuständig ist, besitzt S.D.K.A. gemäß Art. 25 Abs. 1 der bulgarischen Verfassung kraft Geburt die bulgarische Staatsangehörigkeit.
40 Nach Art. 20 Abs. 1 AEUV ist Unionsbürger, wer die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzt. Folglich hat S.D.K.A. als bulgarische Staatsangehörige nach dieser Bestimmung den Status eines Unionsbürgers.
41 Insoweit hat der Gerichtshof wiederholt ausgeführt, dass der Status eines Unionsbürgers dazu bestimmt ist, der grundlegende Status der Angehörigen der Mitgliedstaaten zu sein (Urteile vom 20. September 2001, Grzelczyk, C‑184/99, EU:C:2001:458, Rn. 31, und vom 15. Juli 2021, A [Öffentliche Gesundheitsversorgung], C‑535/19, EU:C:2021:595, Rn. 41).
42 Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs kann sich ein Staatsangehöriger eines Mitgliedstaats, der in seiner Eigenschaft als Unionsbürger von seinem Recht, sich in einem anderen Mitgliedstaat als seinem Herkunftsmitgliedstaat frei zu bewegen und aufzuhalten, Gebrauch gemacht hat, auf die mit dieser Eigenschaft verbundenen Rechte, insbesondere die in Art. 21 Abs. 1 AEUV vorgesehenen, berufen, und zwar gegebenenfalls auch gegenüber seinem Herkunftsmitgliedstaat (Urteil vom 5. Juni 2018, Coman u. a., C‑673/16, EU:C:2018:385, Rn. 31 und die dort angeführte Rechtsprechung). Auf diese Bestimmung und die zu ihrer Durchführung erlassenen Vorschriften können sich auch die Unionsbürger berufen, die im Aufnahmemitgliedstaat ihrer Eltern geboren wurden und nie von ihrem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch gemacht haben (Urteil vom 2. Oktober 2019, Bajratari, C‑93/18, EU:C:2019:809, Rn. 26 und die dort angeführte Rechtsprechung).
43 Nach Art. 21 Abs. 1 AEUV hat jeder Unionsbürger das Recht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten vorbehaltlich der in den Verträgen und in den Durchführungsvorschriften vorgesehenen Beschränkungen und Bedingungen frei zu bewegen und aufzuhalten. Um ihren Staatsangehörigen die Ausübung dieses Rechts zu ermöglichen, sind die Mitgliedstaaten nach Art. 4 Abs. 3 der Richtlinie 2004/38 verpflichtet, ihren Staatsangehörigen gemäß ihren Rechtsvorschriften einen Personalausweis oder einen Reisepass auszustellen, der ihre Staatsangehörigkeit angibt.
44 Da S.D.K.A. bulgarische Staatsangehörige ist, sind die bulgarischen Behörden mithin verpflichtet, ihr einen Personalausweis oder Reisepass auszustellen, der ihre Staatsangehörigkeit und ihren Nachnamen angibt, wie er sich aus der von den spanischen Behörden ausgestellten Geburtsurkunde ergibt. Denn der Gerichtshof hat bereits festgestellt, dass Art. 21 AEUV dem entgegensteht, dass die Behörden eines Mitgliedstaats es unter Anwendung ihres nationalen Rechts ablehnen, den Nachnamen eines Kindes anzuerkennen, der in einem anderen Mitgliedstaat bestimmt und eingetragen wurde, in dem dieses Kind geboren wurde und seitdem wohnt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 14. Oktober 2008, Grunkin und Paul, C‑353/06, EU:C:2008:559, Rn. 39).
45 Ferner ist darauf hinzuweisen, dass Art. 4 Abs. 3 der Richtlinie 2004/38 die bulgarischen Behörden verpflichtet, für S.D.K.A. einen Personalausweis oder Reisepass unabhängig davon auszustellen, ob für dieses Kind eine neue Geburtsurkunde erstellt wird. Soweit das bulgarische Recht die Ausstellung einer bulgarischen Geburtsurkunde vor Ausstellung eines bulgarischen Personalausweises oder Reisepasses verlangt, kann sich dieser Mitgliedstaat somit nicht auf sein nationales Recht berufen, um die Ausstellung eines solchen Personalausweises oder Reisepasses für S.D.K.A. zu verweigern.
46 Ein solches Dokument – für sich allein oder in Verbindung mit anderen Dokumenten, gegebenenfalls einem vom Aufnahmemitgliedstaat des Kindes ausgestellten Dokument – muss es einem Kind, das sich in einer Situation wie der von S.D.K.A. befindet, ermöglichen, sein in Art. 21 Abs. 1 AEUV gewährleistetes Recht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, mit jeder seiner beiden Mütter auszuüben, deren Status als Elternteil dieses Kindes während eines Aufenthalts im Einklang mit der Richtlinie 2004/38 durch ihren Aufnahmemitgliedstaat festgestellt wurde.
47 Es ist darauf hinzuweisen, dass zu den Rechten, die den Staatsangehörigen von Mitgliedstaaten in Art. 21 Abs. 1 AEUV gewährleistet werden, ihr Recht gehört, sowohl im Aufnahmemitgliedstaat als auch, wenn sie dorthin zurückkehren, in dem Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzen, ein normales Familienleben zu führen, indem sie dort mit ihren Familienangehörigen zusammenleben (Urteil vom 5. Juni 2018, Coman u. a., C‑673/16, EU:C:2018:385, Rn. 32 und die dort angeführte Rechtsprechung).
48 Unstreitig haben im Ausgangsverfahren die spanischen Behörden ein biologisches oder rechtliches Abstammungsverhältnis zwischen S.D.K.A. und ihren beiden Elternteilen, V.M.A. und K.D.K., rechtmäßig festgestellt und dies in der für deren Kind ausgestellten Geburtsurkunde bescheinigt. V.M.A. und K.D.K. muss daher in Anwendung von Art. 21 AEUV und der Richtlinie 2004/38 als Eltern eines minderjährigen Unionsbürgers, für den sie tatsächlich sorgen, von allen Mitgliedstaaten das Recht zuerkannt werden, sich bei diesem aufzuhalten, wenn er sein Recht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, ausübt (vgl. entsprechend Urteil vom 13. September 2016, Rendón Marín, C‑165/14, EU:C:2016:675, Rn. 50 bis 52 und die dort angeführte Rechtsprechung).
49 Daher sind die bulgarischen Behörden wie die Behörden jedes anderen Mitgliedstaats verpflichtet, dieses Abstammungsverhältnis anzuerkennen, um es S.D.K.A., da diese nach den Angaben des vorlegenden Gerichts die bulgarische Staatsbürgerschaft besitzt, zu ermöglichen, ihr in Art. 21 Abs. 1 AEUV gewährleistetes Recht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, ungehindert mit jedem ihrer beiden Elternteile auszuüben.
50 Damit S.D.K.A. ihr Recht, sich mit jedem ihrer beiden Elternteile im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, tatsächlich ausüben kann, ist es darüber hinaus erforderlich, dass V.M.A. und K.D.K. über ein Dokument verfügen können, in dem sie als zur Reise mit diesem Kind berechtigte Personen aufgeführt sind. Im vorliegenden Fall sind die Behörden des Aufnahmemitgliedstaats am besten in der Lage, ein solches Dokument auszustellen, das aus der Geburtsurkunde bestehen kann. Die übrigen Mitgliedstaaten sind zur Anerkennung dieses Dokuments verpflichtet.
51 Zwar sieht Art. 9 der Charta, wie das vorlegende Gericht ausgeführt hat, vor, dass das Recht, eine Ehe einzugehen, und das Recht, eine Familie zu gründen, nach den einzelstaatlichen Gesetzen gewährleistet werden, welche die Ausübung dieser Rechte regeln.
52 Beim derzeitigen Stand des Unionsrechts fällt das Personenstandsrecht, zu dem die Regelungen über die Ehe und die Abstammung gehören, in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten, und das Unionsrecht lässt diese Zuständigkeit unberührt. Den Mitgliedstaaten steht es daher frei, in ihrem nationalen Recht für Personen gleichen Geschlechts die Ehe und die Elternschaft vorzusehen oder nicht vorzusehen. Bei der Ausübung dieser Zuständigkeit müssen die Mitgliedstaaten jedoch das Unionsrecht und insbesondere die Bestimmungen des AEU-Vertrags über die jedem Unionsbürger zuerkannte Freiheit, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten zu bewegen und aufzuhalten, beachten und hierzu den in einem anderen Mitgliedstaat nach dessen Recht festgestellten Personenstand anerkennen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 5. Juni 2018, Coman u. a., C‑673/16, EU:C:2018:385, Rn. 36 bis 38 und die dort angeführte Rechtsprechung).
53 In diesem Zusammenhang möchte das vorlegende Gericht vom Gerichtshof wissen, ob Art. 4 Abs. 2 EUV die Weigerung der bulgarischen Behörden rechtfertigen könnte, eine Geburtsurkunde für S.D.K.A. und mithin einen Personalausweis oder Reisepass für dieses Kind auszustellen. Das vorlegende Gericht führt u. a. aus, dass eine etwaige Verpflichtung der Behörden, eine Geburtsurkunde auszustellen, in der als Eltern dieses Kindes zwei Personen weiblichen Geschlechts genannt würden, die öffentliche Ordnung und die nationale Identität der Republik Bulgarien beeinträchtigen könnte, da die bulgarische Verfassung und das bulgarische Familienrecht die Elternschaft zweier Personen gleichen Geschlechts nicht vorsähen.
54 Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass die Union nach Art. 4 Abs. 2 EUV die jeweilige nationale Identität ihrer Mitgliedstaaten achtet, die in ihren grundlegenden politischen und verfassungsmäßigen Strukturen zum Ausdruck kommt.
55 Des Weiteren hat der Gerichtshof wiederholt entschieden, dass der Begriff der „öffentlichen Ordnung“, wenn er eine Ausnahme von einer Grundfreiheit rechtfertigen soll, eng zu verstehen ist, so dass seine Tragweite nicht von jedem Mitgliedstaat einseitig ohne Nachprüfung durch die Unionsorgane bestimmt werden darf. Folglich ist eine Berufung auf die öffentliche Ordnung nur möglich, wenn eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung vorliegt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt (Urteil vom 5. Juni 2018, Coman u. a., C‑673/16, EU:C:2018:385, Rn. 44 und die dort angeführte Rechtsprechung).
56 Wie die Generalanwältin in den Nrn. 150 und 151 ihrer Schlussanträge im Wesentlichen ausgeführt hat, widerspricht die Pflicht eines Mitgliedstaats, einem Kind mit der Staatsangehörigkeit dieses Mitgliedstaats, das in einem anderen Mitgliedstaat geboren wurde und dessen von den Behörden dieses anderen Mitgliedstaats ausgestellte Geburtsurkunde zwei Personen desselben Geschlechts als seine Eltern ausweist, einen Personalausweis oder einen Reisepass auszustellen und das Abstammungsverhältnis zwischen diesem Kind und jeder dieser beiden Personen im Rahmen der Ausübung seiner Rechte aus Art. 21 AEUV und den damit zusammenhängenden Sekundärrechtsakten anzuerkennen, weder der nationalen Identität noch der öffentlichen Ordnung dieses Mitgliedstaats.
57 Diese Pflicht bedeutet nämlich nicht, dass der Mitgliedstaat, dessen Staatsangehöriger das Kind ist, in seinem nationalen Recht die Elternschaft von Personen gleichen Geschlechts vorsehen müsste oder das Abstammungsverhältnis zwischen dem Kind und den Personen, die in der von den Behörden des Aufnahmemitgliedstaats ausgestellten Geburtsurkunde als seine Eltern genannt sind, zu anderen Zwecken als der Ausübung der diesem Kind aus dem Unionsrecht erwachsenden Rechte anerkennen müsste (vgl. entsprechend Urteil vom 5. Juni 2018, Coman u. a., C‑673/16, EU:C:2018:385, Rn. 45 und 46).
58 Zu ergänzen ist, dass eine nationale Maßnahme, die geeignet ist, die Ausübung der Personenfreizügigkeit zu beschränken, nur dann gerechtfertigt sein kann, wenn sie mit den durch die Charta verbürgten Grundrechten vereinbar ist, deren Beachtung der Gerichtshof sichert (Urteil vom 5. Juni 2018, Coman u. a., C‑673/16, EU:C:2018:385, Rn. 47).
59 In der Situation, die Gegenstand des Ausgangsverfahrens ist, sind das in Art. 7 der Charta gewährleistete Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens sowie die in Art. 24 der Charta gewährleisteten Rechte des Kindes, insbesondere das Recht auf Berücksichtigung seines Wohls als eine vorrangige Erwägung bei allen Kinder betreffenden Maßnahmen sowie der Anspruch auf regelmäßige persönliche Beziehungen und direkte Kontakte zu beiden Elternteilen, von grundlegender Bedeutung.
60 Insoweit geht aus den Erläuterungen zur Charta der Grundrechte (ABl. 2007, C 303, S. 17) hervor, dass nach Art. 52 Abs. 3 der Charta die in deren Art. 7 verbürgten Rechte die gleiche Bedeutung und Tragweite haben wie die Rechte aus Art. 8 der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten.
61 Aus der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte geht hervor, dass es sich bei der Frage, ob ein „Familienleben“ besteht, um die tatsächliche Frage handelt, ob enge persönliche Bindungen wirklich und tatsächlich vorhanden sind, und dass das Zusammenleben eines Elternteils mit seinem Kind ein wesentliches Element des Familienlebens ist (EGMR, 12. Juli 2001, K. und T./Finnland, CE:ECHR:2001:0712JUD002570294, §§ 150 und 151). Außerdem ergibt sich, wie der Gerichtshof bereits festgestellt hat, aus dieser Rechtsprechung, dass die von einem homosexuellen Paar geführte Beziehung genauso unter die Begriffe „Privatleben“ und „Familienleben“ fallen kann wie die Beziehung eines sich in derselben Situation befindlichen verschiedengeschlechtlichen Paares (Urteil vom 5. Juni 2018, Coman u. a., C‑673/16, EU:C:2018:385, Rn. 50 und die dort angeführte Rechtsprechung).
62 Daher steht, wie die Generalanwältin in Nr. 153 ihrer Schlussanträge ausgeführt hat, die Beziehung zwischen dem Kind und jeder der beiden Personen, mit denen es ein tatsächliches Familienleben im Aufnahmemitgliedstaat führt und die in der von dessen Behörden ausgestellten Geburtsurkunde als seine Eltern genannt sind, unter dem Schutz von Art. 7 der Charta.
63 Außerdem ist, wie in Rn. 59 des vorliegenden Urteils ausgeführt worden ist, das in Art. 7 der Charta verankerte Recht auf Achtung des Familienlebens in Verbindung mit der Pflicht zu verstehen, das in Art. 24 Abs. 2 der Charta anerkannte Wohl des Kindes zu berücksichtigen. Da Art. 24 der Charta ausweislich der Erläuterungen zur Charta der Grundrechte die wichtigsten Rechte des Kindes, die in dem von allen Mitgliedstaaten ratifizierten Übereinkommen über die Rechte des Kindes verankert sind, in das Unionsrecht integriert, ist bei der Auslegung dieses Artikels den Bestimmungen dieses Übereinkommens gebührend Rechnung zu tragen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 14. Februar 2008, Dynamic Medien, C‑244/06, EU:C:2008:85, Rn. 39, und vom 11. März 2021, État belge [Rückkehr des Elternteils eines Minderjährigen], C‑112/20, EU:C:2021:197, Rn. 37).
64 Insbesondere stellt Art. 2 dieses Übereinkommens für das Kind den Grundsatz der Nichtdiskriminierung auf, der verlangt, dass dem Kind die in diesem Übereinkommen genannten Rechte, zu denen das in Art. 7 des Übereinkommens verbürgte Recht gehört, nach seiner Geburt in ein Register eingetragen zu werden, einen Namen zu haben und eine Staatsangehörigkeit zu erwerben, gewährleistet werden, ohne dass es insoweit, auch nicht wegen der sexuellen Orientierung seiner Eltern, Diskriminierung erfährt.
65 Unter diesen Umständen verstieße es gegen die dem Kind in den Art. 7 und 24 der Charta gewährleisteten Grundrechte, ihm die Beziehung zu einem seiner Elternteile im Rahmen der Ausübung seines Rechts, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, vorzuenthalten oder ihm die Ausübung dieses Rechts faktisch unmöglich zu machen oder übermäßig zu erschweren, weil seine Eltern gleichen Geschlechts sind.
66 Schließlich ist der Umstand, dass einer der Elternteile des Kindes eine Staatsangehörige des Vereinigten Königreichs ist, das jetzt nicht mehr zu den Mitgliedstaaten zählt, insoweit ohne Bedeutung.
67 Im Übrigen ist für den Fall, dass S.D.K.A. nach einer Überprüfung nicht die bulgarische Staatsangehörigkeit besitzen sollte, darauf hinzuweisen, dass K.D.K. und S.D.K.A. unabhängig von ihrer Staatsangehörigkeit und unabhängig davon, ob sie selbst Unionsbürger sind, von allen Mitgliedstaaten als Ehegatte bzw. Verwandte in gerader absteigender Linie im Sinne von Art. 2 Nr. 2 Buchst. a und c der Richtlinie 2004/38 und folglich als Familienangehörige von V.M.A. anzusehen sind (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 5. Juni 2018, Coman u. a., C‑673/16, EU:C:2018:385, Rn. 36 und 51).
68 Ein minderjähriges Kind, dessen Unionsbürgerschaft nicht festgestellt ist und dessen von den zuständigen Behörden eines Mitgliedstaats ausgestellte Geburtsurkunde als seine Eltern zwei Personen gleichen Geschlechts angibt, von denen eine Unionsbürgerin ist, ist nämlich für die Ausübung der in Art. 21 Abs. 1 AEUV und den damit zusammenhängenden Sekundärrechtsakten verliehenen Rechte von allen Mitgliedstaaten als Verwandter in gerader absteigender Linie dieser Unionsbürgerin im Sinne der Richtlinie 2004/38 anzusehen.
69 Nach alledem ist auf die Vorlagefragen zu antworten, dass Art. 4 Abs. 2 EUV, die Art. 20 und 21 AEUV sowie die Art. 7, 24 und 45 der Charta in Verbindung mit Art. 4 Abs. 3 der Richtlinie 2004/38 dahin auszulegen sind, dass im Fall eines minderjährigen Kindes, das Unionsbürger ist und dessen von den zuständigen Behörden des Aufnahmemitgliedstaats ausgestellte Geburtsurkunde zwei Personen gleichen Geschlechts als seine Eltern bezeichnet, der Mitgliedstaat, dessen Staatsangehöriger dieses Kind ist, zum einen verpflichtet ist, ihm einen Personalausweis oder Reisepass auszustellen, ohne die vorherige Ausstellung einer Geburtsurkunde durch seine nationalen Behörden zu verlangen, sowie zum anderen ebenso wie jeder andere Mitgliedstaat das aus dem Aufnahmemitgliedstaat stammende Dokument anzuerkennen hat, das es diesem Kind ermöglicht, mit jeder dieser beiden Personen sein Recht auszuüben, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten.
Kosten
70 Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Große Kammer) für Recht erkannt:
Art. 4 Abs. 2 EUV, die Art. 20 und 21 AEUV sowie die Art. 7, 24 und 45 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union in Verbindung mit Art. 4 Abs. 3 der Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 und zur Aufhebung der Richtlinien 64/221/EWG, 68/360/EWG, 72/194/EWG, 73/148/EWG, 75/34/EWG, 75/35/EWG, 90/364/EWG, 90/365/EWG und 93/96/EWG sind dahin auszulegen, dass im Fall eines minderjährigen Kindes, das Unionsbürger ist und dessen von den zuständigen Behörden des Aufnahmemitgliedstaats ausgestellte Geburtsurkunde zwei Personen gleichen Geschlechts als seine Eltern bezeichnet, der Mitgliedstaat, dessen Staatsangehöriger dieses Kind ist, zum einen verpflichtet ist, ihm einen Personalausweis oder Reisepass auszustellen, ohne die vorherige Ausstellung einer Geburtsurkunde durch seine nationalen Behörden zu verlangen, sowie zum anderen ebenso wie jeder andere Mitgliedstaat das aus dem Aufnahmemitgliedstaat stammende Dokument anzuerkennen hat, das es diesem Kind ermöglicht, mit jeder dieser beiden Personen sein Recht auszuüben, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten.
Unterschriften
(*1) Verfahrenssprache: Bulgarisch.
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Urteil des Gerichtshofs (Große Kammer) vom 6. Oktober 2021.#Verfahren auf Betreiben von W.Ż.#Vorabentscheidungsersuchen des Sąd Najwyższy.#Vorlage zur Vorabentscheidung – Rechtsstaatlichkeit – Wirksamer Rechtsschutz in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen – Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV – Grundsätze der Unabsetzbarkeit der Richter und der richterlichen Unabhängigkeit – Nicht einvernehmliche Versetzung eines Richters eines ordentlichen Gerichts – Rechtsbehelf – Unzulässigkeitsbeschluss eines Richters des Sąd Najwyższy (Izba Kontroli Nadzwyczajnej i Spraw Publicznych) (Oberstes Gericht [Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten], Polen) – Richter, der auf der Grundlage einer Entschließung des Landesjustizrats vom Präsidenten der Republik Polen trotz einer Gerichtsentscheidung ernannt wurde, mit der die Aussetzung der Vollziehung dieser Entschließung in Erwartung eines Vorabentscheidungsurteils des Gerichtshofs angeordnet worden war – Richter, der kein unabhängiges, unparteiisches und zuvor durch Gesetz errichtetes Gericht ist – Vorrang des Unionsrechts – Möglichkeit, einen solchen Unzulässigkeitsbeschluss als nicht existent anzusehen.#Rechtssache C-487/19.
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62019CJ0487
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ECLI:EU:C:2021:798
| 2021-10-06T00:00:00 |
Gerichtshof, Tanchev
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Sammlung der Rechtsprechung – allgemein
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62019CJ0487
URTEIL DES GERICHTSHOFS (Große Kammer)
6. Oktober 2021 (*1)
„Vorlage zur Vorabentscheidung – Rechtsstaatlichkeit – Wirksamer Rechtsschutz in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen – Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV – Grundsätze der Unabsetzbarkeit der Richter und der richterlichen Unabhängigkeit – Nicht einvernehmliche Versetzung eines Richters eines ordentlichen Gerichts – Rechtsbehelf – Unzulässigkeitsbeschluss eines Richters des Sąd Najwyższy (Izba Kontroli Nadzwyczajnej i Spraw Publicznych) (Oberstes Gericht [Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten], Polen) – Richter, der auf der Grundlage einer Entschließung des Landesjustizrats vom Präsidenten der Republik Polen trotz einer Gerichtsentscheidung ernannt wurde, mit der die Aussetzung der Vollziehung dieser Entschließung in Erwartung eines Vorabentscheidungsurteils des Gerichtshofs angeordnet worden war – Richter, der kein unabhängiges, unparteiisches und zuvor durch Gesetz errichtetes Gericht ist – Vorrang des Unionsrechts – Möglichkeit, einen solchen Unzulässigkeitsbeschluss als nicht existent anzusehen“
In der Rechtssache C‑487/19
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Sąd Najwyższy (Izba Cywilna) (Oberstes Gericht [Zivilkammer], Polen) mit Entscheidung vom 21. Mai 2019, beim Gerichtshof eingegangen am 26. Juni 2019, in dem Verfahren
W.Ż.,
Beteiligte:
Prokurator Generalny zastępowany przez Prokuraturę Krajową, vormals Prokurator Prokuratury Krajowej Bożena Górecka,
Rzecznik Praw Obywatelskich,
erlässt
DER GERICHTSHOF (Große Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten K. Lenaerts, der Vizepräsidentin R. Silva de Lapuerta, der Kammerpräsidentin A. Prechal (Berichterstatterin), der Kammerpräsidenten M. Vilaras, E. Regan, M. Ilešič, L. Bay Larsen, A. Kumin und N. Wahl, der Richter D. Šváby, S. Rodin und F. Biltgen, der Richterin K. Jürimäe sowie der Richter C. Lycourgos und N. Jääskinen,
Generalanwalt: E. Tanchev,
Kanzler: M. Aleksejev, Referatsleiter,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 22. September 2020,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
–
von W.Ż., vertreten durch S. Gregorczyk-Abram und M. Wawrykiewicz, adwokaci,
–
des Prokurator Generalny zastępowany przez Prokuraturę Krajową, vertreten durch R. Hernand, A. Reczka, S. Bańko, B. Górecka und M. Słowińska,
–
des Rzecznik Praw Obywatelskich, vertreten durch P. Filipek und M. Taborowski,
–
der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna, S. Żyrek und A. Dalkowska als Bevollmächtigte,
–
der Europäischen Kommission, vertreten durch K. Herrmann, P. Van Nuffel und H. Krämer, dann durch K. Herrmann und P. Van Nuffel als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 15. April 2021
folgendes
Urteil
1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 2, Art. 6 Abs. 1 und 3 sowie Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV sowie von Art. 267 AEUV und Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta).
2 Es ergeht im Rahmen eines Verfahrens auf Betreiben des Richters W.Ż. wegen einer Entschließung, mit der die Krajowa Rada Sądownictwa (Landesjustizrat, Polen, im Folgenden: KRS) den Widerspruch von W.Ż. gegen eine Entscheidung des Präsidenten des Sąd Okręgowy w K. (Regionalgericht K., Polen), mit der die Versetzung von W.Ż. von einer Abteilung in eine andere Abteilung dieses Gerichts angeordnet worden war, für erledigt erklärt hat (im Folgenden: streitige Entschließung). Gegen die streitige Entschließung legte W.Ż. einen Rechtsbehelf beim Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht, Polen) ein und beantragte außerdem die Ablehnung aller Richter der für die Prüfung eines solchen Rechtsbehelfs zuständigen Izba Kontroli Nadzwyczajnej i Spraw Publicznych (Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten, Polen).
Polnisches Recht
Verfassung
3 Art. 7 der Verfassung lautet:
„Die Organe der öffentlichen Gewalt handeln auf der Grundlage und in den Grenzen des Rechts.“
4 Art. 10 der Verfassung bestimmt:
„1. Die Ordnung der Republik Polen stützt sich auf die Trennung und das Gleichgewicht der gesetzgebenden, der vollziehenden und der rechtsprechenden Gewalt.
2. Die gesetzgebende Gewalt üben Sejm und Senat, die vollziehende Gewalt der Präsident der Republik Polen und der Ministerrat, die rechtsprechende Gewalt Gerichte und Gerichtshöfe aus.“
5 Art. 45 Abs. 1 der Verfassung sieht vor:
„Jedermann hat das Recht auf gerechte und öffentliche Verhandlung der Sache ohne unbegründete Verzögerung vor dem zuständigen, unabhängigen, unparteiischen Gericht.“
6 Art. 60 der Verfassung lautet:
„Polnische Staatsangehörige, die die vollen bürgerlichen Rechte genießen, haben das Recht auf gleichen Zugang zum öffentlichen Dienst.“
7 Art. 77 Abs. 2 der Verfassung bestimmt:
„Das Gesetz darf es niemandem unmöglich machen, verletzte Freiheiten oder Rechte auf dem Gerichtsweg geltend zu machen.“
8 Art. 179 der Verfassung sieht vor:
„Die Richter werden vom Präsidenten der Republik Polen auf Vorschlag [der KRS] auf unbestimmte Zeit berufen.“
9 In Art. 184 der Verfassung heißt es:
„In dem durch Gesetz bestimmten Umfang kontrollieren [der Naczelny Sąd Administracyjny (Oberstes Verwaltungsgericht, Polen)] und die anderen Verwaltungsgerichte die Tätigkeit der öffentlichen Verwaltung. …“
Neues Gesetz über das Oberste Gericht
10 Am 20. Dezember 2017 unterzeichnete der Präsident der Republik die Ustawa o Sądzie Najwyższym (Gesetz über das Oberste Gericht) vom 8. Dezember 2017 (Dz. U. 2018, Pos. 5, im Folgenden: neues Gesetz über das Oberste Gericht), die am 3. April 2018 in Kraft trat.
11 Mit dem neuen Gesetz über das Oberste Gericht wurde u. a. die Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten innerhalb des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) eingerichtet.
12 Art. 26 des neuen Gesetzes über das Oberste Gericht bestimmt:
„Die [Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten] ist zuständig für außerordentliche Rechtsbehelfe, Wahlstreitigkeiten und Anfechtungen der Gültigkeit eines nationalen Referendums oder eines Verfassungsreferendums, für die Feststellung der Gültigkeit von Wahlen und Referenden und andere öffentlich-rechtliche Fälle, einschließlich Streitigkeiten über den Schutz des Wettbewerbs, die Regulierung der Energie- und Telekommunikationswirtschaft und des Eisenbahnverkehrs sowie von Rechtsbehelfen gegen Entscheidungen des Przewodniczy Krajowej Rady Radiofonii i Telewizji [Vorsitzender des Nationalen Rundfunkrats, Polen] oder Anfechtungen der überlangen Verfahrensdauer bei ordentlichen und militärischen Gerichten sowie vor dem [Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht)].“
13 Nach Art. 29 des neuen Gesetzes über das Oberste Gericht werden die Richter des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) vom Präsidenten der Republik auf Vorschlag der KRS ernannt.
Gesetz über die KRS
14 Die KRS unterliegt der Ustawa o Krajowej Radzie Sądownictwa (Gesetz über den Landesjustizrat) vom 12. Mai 2011 (Dz. U. 2011, Nr. 126, Pos. 714) in der u. a. durch die Ustawa o zmianie ustawy o Krajowej Radzie Sądownictwa oraz niektórych innych ustaw (Gesetz zur Änderung des Gesetzes über den Landesjustizrat und bestimmter anderer Gesetze) vom 8. Dezember 2017 (Dz. U. 2018, Pos. 3) und der Ustawa o zmianie ustawy – Prawo o ustroju sądów powszechnych oraz niektórych innych ustaw (Gesetz zur Änderung des Gesetzes über den Aufbau der ordentlichen Gerichtsbarkeit und einiger anderer Gesetze) vom 20. Juli 2018 (Dz. U. 2018, Pos. 1443) geänderten Fassung (im Folgenden: KRS-Gesetz).
15 Art. 37 Abs. 1 des KRS-Gesetzes bestimmt:
„Hat sich mehr als ein Kandidat um eine Stelle als Richter beworben, prüft und bewertet [die KRS] alle eingereichten Bewerbungen gemeinsam. In diesem Fall verabschiedet [die KRS] eine Entschließung, die ihre Entscheidungen über die Einreichung eines Vorschlags zur Ernennung auf eine Richterstelle für alle Kandidaten enthält.“
16 Art. 43 dieses Gesetzes lautet:
„1. Eine Entschließung [der KRS] wird bestandskräftig, wenn sie nicht angefochten werden kann.
2. Wird die in Art. 37 Abs. 1 genannte Entschließung nicht von allen Verfahrensteilnehmern angefochten, so wird sie vorbehaltlich von Art. 44 Abs. 1b für den Teil bestandskräftig, der die Entscheidung enthält, die Teilnehmer, die keinen Rechtsbehelf eingelegt haben, nicht zur Ernennung zum Richter vorzuschlagen.“
17 Art. 44 des KRS-Gesetzes sah vor:
„1. Ein Teilnehmer an dem Verfahren kann gegen die Entschließung [der KRS] einen Rechtsbehelf beim [Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht)] mit der Begründung einlegen, dass diese rechtswidrig sei, soweit nicht besondere Bestimmungen etwas anderes vorsehen. …
1a. In Individualverfahren, die eine Ernennung zum Richter am [Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht)] betreffen, kann ein Rechtsbehelf beim [Naczelny Sąd Administracyjny (Oberstes Verwaltungsgericht)] eingelegt werden. In diesen Fällen kann kein Rechtsbehelf beim [Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht)] eingelegt werden. Der Rechtsbehelf zum [Naczelny Sąd Administracyjny (Oberstes Verwaltungsgericht)] kann nicht damit begründet werden, dass nicht zutreffend beurteilt worden sei, ob die Kandidaten die Kriterien erfüllen, die bei der Entscheidung über die Einreichung des Vorschlags für die Ernennung zum Richter am [Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht)] berücksichtigt werden.
1b. Haben in Individualverfahren, die eine Ernennung zum Richter am [Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht)] betreffen, nicht alle Teilnehmer an dem Verfahren die in Art. 37 Abs. 1 genannte Entschließung angefochten, wird diese Entschließung für die Teilnehmer, die keinen Rechtsbehelf eingelegt haben, in dem Teil bestandskräftig, in dem die Entscheidung über die Einreichung eines Vorschlags für die Ernennung zum Richter am [Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht)] bzw. die Entscheidung, keinen Vorschlag für die Ernennung zum Richter an diesem Gericht einzureichen, enthalten ist.
…
3. Die Bestimmungen [der Zivilprozessordnung] …, die sich auf die Kassationsbeschwerde beziehen, sind auf Verfahren vor dem [Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht)] und dem [Naczelny Sąd Administracyjny (Oberstes Verwaltungsgericht)] anwendbar. Art. 871 [der Zivilprozessordnung] findet keine Anwendung.
4. In Individualverfahren, die eine Ernennung zum Richter am [Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht)] betreffen, kommt die Aufhebung der Entschließung [der KRS], den Vorschlag für eine Ernennung zum Richter am [Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht)] nicht einzureichen, durch den [Naczelny Sąd Administracyjny (Oberstes Verwaltungsgericht)] der Zulassung der Bewerbung des Verfahrensteilnehmers, der den Rechtsbehelf eingelegt hat, um eine freie Richterstelle am [Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht)] gleich, und zwar für die Stelle, für die das Verfahren vor [der KRS] zum Zeitpunkt der Verkündung des Urteils des [Naczelny Sąd Administracyjny (Oberstes Verwaltungsgericht)] noch nicht abgeschlossen ist, oder mangels eines solchen Verfahrens, für die nächste freie Richterstelle am [Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht)], die ausgeschrieben wird.“
18 Abs. 1a von Art. 44 des KRS-Gesetzes wurde durch das Gesetz vom 8. Dezember 2017 zur Änderung des Gesetzes über den Landesjustizrat und einiger anderer Gesetze, das am 17. Januar 2018 in Kraft trat, und die Abs. 1b und 4 wurden durch das Gesetz vom 20. Juli 2018 zur Änderung des Gesetzes über den Aufbau der ordentlichen Gerichtsbarkeit und einiger anderer Gesetze, das am 27. Juli 2018 in Kraft trat, in diesen Artikel aufgenommen. Vor der Einführung dieser Änderungen wurden die in Abs. 1a genannten Rechtsbehelfe gemäß Art. 44 Abs. 1 des KRS-Gesetzes beim Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) eingelegt.
19 Mit Urteil vom 25. März 2019 erklärte das Trybunał Konstytucyjny (Verfassungsgerichtshof, Polen) Art. 44 Abs. 1a des KRS-Gesetzes für unvereinbar mit Art. 184 der Verfassung. Zur Begründung führte es im Wesentlichen aus, dass die dem Naczelny Sąd Administracyjny (Oberstes Verwaltungsgericht) durch Abs. 1a übertragene Zuständigkeit weder durch die Art der betroffenen Fälle noch durch die organisatorischen Merkmale dieses Gerichts oder durch das von ihm angewandte Verfahren gerechtfertigt sei. Außerdem habe die Feststellung der Verfassungswidrigkeit „zwangsläufig die Einstellung aller auf der Grundlage der aufgehobenen Bestimmung geführten Gerichtsverfahren zur Folge“.
20 In der Folge wurde Art. 44 des KRS-Gesetzes durch die Ustawa o zmianie ustawy o Krajowej Radzie Sądownictwa oraz ustawy – Prawo o ustroju sądów administracyjnych (Gesetz zur Änderung des [KRS-Gesetzes] und des Gesetzes über die Organisation der Verwaltungsgerichte) vom 26. April 2019 (Dz. U. 2019, Pos. 914) (im Folgenden: Gesetz vom 26. April 2019) geändert, das am 23. Mai 2019 in Kraft trat. Art. 44 Abs. 1 lautet seitdem:
„Ein Teilnehmer an dem Verfahren kann gegen die Entschließung [der KRS] einen Rechtsbehelf beim [Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht)] mit der Begründung einlegen, dass diese rechtswidrig sei, soweit nicht besondere Bestimmungen etwas anderes vorsehen. In Individualverfahren, die die Ernennung zum Richter am [Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht)] betreffen, kann kein Rechtsbehelf eingelegt werden.“
21 Darüber hinaus sieht Art. 3 des Gesetzes vom 26. April 2019 vor, dass „Verfahren über Rechtsbehelfe gegen die Entschließungen [der KRS] in Individualverfahren, die die Ernennung zum Richter [am Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht)] betreffen, die vor dem Inkrafttreten dieses Gesetzes eingeleitet und nicht entschieden wurden, … von Rechts wegen eingestellt [werden]“.
Gesetz über den Aufbau der ordentlichen Gerichtsbarkeit
22 Die Ustawa – Prawo o ustroju sądów powszechnych (Gesetz über den Aufbau der ordentlichen Gerichtsbarkeit) vom 27. Juli 2001 in geänderter Fassung (Dz. U. 2019, Pos. 52) bestimmt in Art. 22a:
„…
§ 4b. Die Versetzung eines Richters in eine andere Abteilung ist nicht von seiner Zustimmung abhängig, wenn
1) die Versetzung in eine Abteilung erfolgt, die sich mit Sachen aus dem gleichen Bereich befasst;
…
§ 4c. § 4b Nr. 1 … findet keine Anwendung auf einen Richter, der innerhalb von drei Jahren ohne seine Zustimmung in eine andere Abteilung versetzt worden ist. …
§ 5. Ein Richter oder Richteranwärter, dessen Aufgaben- und infolgedessen Zuständigkeitsbereich geändert wurde, insbesondere durch Versetzung in eine andere Abteilung des betreffenden Gerichts, kann innerhalb von sieben Tagen ab Zuweisung des neuen Aufgabenbereichs Widerspruch bei der [KRS] einlegen. Der Widerspruch ist nicht statthaft, wenn
1) er in eine Abteilung versetzt wurde, die sich mit Sachen aus dem gleichen Bereich befasst;
…“
Zivilprozessordnung
23 In Art. 49 der Ustawa – Kodeks postępowania cywilnego (Gesetz über die Zivilprozessordnung) vom 17. November 1964 in geänderter Fassung (Dz. U. 2018, Pos. 1360) (im Folgenden: Zivilprozessordnung) heißt es:
„… das Gericht [schließt] einen Richter auf dessen Antrag oder auf Antrag einer Partei aus, wenn ein Umstand vorliegt, der begründete Zweifel an seiner Unparteilichkeit in einer bestimmten Rechtssache aufkommen lassen kann.“
24 Art. 50 § 3 der Zivilprozessordnung bestimmt:
„Bis zur Entscheidung über den Antrag auf Ablehnung eines Richters
1)
kann der vom Antrag betroffene Richter weitere Maßnahmen ergreifen;
2)
darf keine Entscheidung oder Maßnahme erlassen werden, die das Verfahren beendet.“
25 Art. 365 § 1 der Zivilprozessordnung sieht vor:
„Eine rechtskräftige Entscheidung bindet nicht nur die Parteien und das Gericht, das sie erlassen hat, sondern auch andere Gerichte, andere staatliche Stellen und Verwaltungsorgane sowie in den gesetzlich vorgesehenen Fällen andere Personen.“
26 In Art. 388 § 1 der Zivilprozessordnung heißt es:
„Im Falle einer Kassationsbeschwerde kann das zweitinstanzliche Gericht, wenn einer Partei durch die Vollstreckung einer Entscheidung ein nicht wiedergutzumachender Schaden entstehen kann, die Vollstreckung der angefochtenen Entscheidung bis zum Abschluss des Kassationsverfahrens aussetzen … Die Entscheidung kann unter Ausschluss der Öffentlichkeit getroffen werden. …“
27 Art. 391 § 1 der Zivilprozessordnung bestimmt:
„Fehlen spezielle Bestimmungen für das Verfahren vor dem zweitinstanzlichen Gericht, gelten für dieses Verfahren die Bestimmungen für das Verfahren vor dem erstinstanzlichen Gericht entsprechend. …“
28 Art. 39821 der Zivilprozessordnung sieht vor:
„Fehlen spezielle Bestimmungen für das Verfahren vor dem [Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht)], gelten für dieses Verfahren die Bestimmungen über Rechtsmittel entsprechend, …“
Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefrage
29 W.Ż. ist Richter am Sąd Okręgowy w K. (Regionalgericht K.). Mit Entscheidung vom 27. August 2018 entschied der Präsident dieses Gerichts nach Art. 22a § 4b Nr. 1 des Gesetzes über den Aufbau der ordentlichen Gerichtsbarkeit, W.Ż. von der Abteilung dieses Gerichts, in der er bis dahin tätig war, in eine andere Abteilung dieses Gerichts zu versetzen.
30 W.Ż. legte gegen diese Entscheidung gemäß Art. 22a § 5 dieses Gesetzes Widerspruch bei der KRS ein. Mit der streitigen Entschließung stellte die KRS das Verfahren über diesen Widerspruch ein.
31 Am 14. November 2018 legte W.Ż. gegen die streitige Entschließung einen Rechtsbehelf beim Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) ein. Für die Entscheidung über einen solchen Rechtsbehelf ist innerhalb dieses Gerichts die Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten zuständig. In diesem Zusammenhang stellte W.Ż. jedoch auch einen Antrag auf Ablehnung aller Richter der Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten, da diese wegen der Umstände ihrer Ernennung nicht die erforderliche Gewähr für Unabhängigkeit und Unparteilichkeit böten. Für die Prüfung dieses Antrags ist der Sąd Najwyższy (Izba Cywilna) (Oberstes Gericht [Zivilkammer]) in der Besetzung mit drei Richtern zuständig.
32 Zu diesen Umständen der Ernennung führt das vorlegende Gericht, der Sąd Najwyższy (Izba Cywilna) (Oberstes Gericht [Zivilkammer]), der in erweiterter Besetzung mit sieben Richtern entscheidet, aus, dass die Entschließung Nr. 331/2018 der KRS vom 28. August 2018, mit der dem Präsidenten der Republik vorgeschlagen worden sei, die betreffenden Personen auf Richterstellen der Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten zu ernennen, von in dieser Entschließung nicht zur Ernennung vorgeschlagenen Bewerbern beim Naczelny Sąd Administracyjny (Oberstes Verwaltungsgericht, Polen) gemäß Art. 44 Abs. 1a des KRS-Gesetzes angefochten worden sei.
33 Mit rechtskräftigem Beschluss vom 27. September 2018 ordnete der Naczelny Sąd Administracyjny (Oberstes Verwaltungsgericht) nach Art. 388 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 39821 der Zivilprozessordnung und Art. 44 Abs. 3 des KRS-Gesetzes die Aussetzung der Vollziehung der Entschließung Nr. 331/2018 an.
34 Ungeachtet der eingelegten Rechtsbehelfe und dieses Beschlusses ernannte der Präsident der Republik am 10. Oktober 2018 einige der von der KRS in der Entschließung Nr. 331/2018 vorgeschlagenen Bewerber zu Richtern der Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten.
35 In der Folge setzte der Naczelny Sąd Administracyjny (Oberstes Verwaltungsgericht) mit Entscheidungen vom 22. November 2018 das Verfahren über die bei ihm anhängigen Rechtsbehelfe bis zur Entscheidung des Gerichtshofs über die Fragen aus, die er diesem mit Entscheidung vom 21. November 2018 in der Rechtssache zur Vorabentscheidung vorgelegt hatte, in der das Urteil vom 2. März 2021, A.B. u. a. (Ernennung von Richtern am Obersten Gericht – Rechtsbehelf) (C‑824/18, im Folgenden: Urteil A.B. u. a., EU:C:2021:153), ergangen ist und in der es um eine weitere Entschließung der KRS ging, mit der dem Präsidenten der Republik einige Personen zur Ernennung auf Richterstellen in der Zivil- und in der Strafkammer des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) vorgeschlagen worden waren. Mit diesen Fragen wollte der Naczelny Sąd Administracyjny (Oberstes Verwaltungsgericht) wissen, ob das Unionsrecht Vorschriften wie Art. 44 Abs. 1a bis 4 des KRS-Gesetzes entgegensteht.
36 Am 20. Februar 2019 ernannte der Präsident der Republik eine Person, die von der KRS ebenfalls in ihrer Entschließung Nr. 331/2018 vorgeschlagen worden war, zum Richter in der Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten (im Folgenden: betreffender Richter).
37 Am 8. März 2019 erließ der betreffende Richter, der als Einzelrichter entschied, ohne über die Akte zu verfügen, die sich noch im Besitz des Sąd Najwyższy (Izba Cywilna) (Oberstes Gericht [Zivilkammer]) in der Besetzung mit drei Richtern befand, und ohne W.Ż. angehört zu haben, einen Beschluss, mit dem der Rechtsbehelf von W.Ż. gegen die streitige Entschließung als unzulässig zurückgewiesen wurde (im Folgenden: streitiger Beschluss).
38 Mit Entscheidung vom 20. März 2019 entschied der Sąd Najwyższy (Izba Cywilna) (Oberstes Gericht [Zivilkammer]) in der Besetzung mit drei Richtern, dass der streitige Beschluss unter Verstoß gegen Art. 50 § 3 Nr. 2 der Zivilprozessordnung erlassen worden sei. Diese Bestimmung stehe einer verfahrensbeendenden Entscheidung entgegen, solange über einen von einem anderen Richter gestellten Antrag auf Ablehnung eines Richters nicht entschieden worden sei. Dieser Beschluss verletze zudem die Verteidigungsrechte von W.Ż. im Sinne von Art. 45 Abs. 1 der Verfassung, Art. 6 Abs. 1 der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (im Folgenden: EMRK) und Art. 47 der Charta, da er von einem Spruchkörper erlassen worden sei, der nicht über die Akte verfügt habe, und ohne dass W.Ż. die Möglichkeit gehabt habe, Kenntnis vom Standpunkt der Staatsanwaltschaft zu nehmen.
39 In dieser Entscheidung prüfte dieses Gericht auch die Frage, ob der betreffende Richter tatsächlich als Richter anzusehen sei; andernfalls sei der streitige Beschluss rechtlich nicht existent. Eine solche Frage sei für den Ausgang des bei ihm anhängigen Ablehnungsverfahrens insofern von Bedeutung, als im Fall der erwiesenen Existenz des streitigen Beschlusses das Verfahren durch eine Erledigungsentscheidung wegen Gegenstandslosigkeit beendet werden müsse, während im Fall der Inexistenz dieses Beschlusses über den Ablehnungsantrag von W.Ż zu entscheiden sei. Unter diesen Umständen hat der Sąd Najwyższy (Izba Cywilna) (Oberstes Gericht [Zivilkammer]) in der Besetzung mit drei Richtern beschlossen, dem vorlegenden Gericht folgende Fragen vorzulegen:
„1.
Ist ein Beschluss über die Zurückweisung eines beim Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) eingelegten Rechtsbehelfs gegen eine Entschließung der KRS, der von einem Gericht erlassen wurde, das als Einzelrichter besetzt ist, der zum Richter am Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) ernannt wurde, obwohl zuvor beim Naczelny Sąd Administracyjny (Oberstes Verwaltungsgericht) ein Rechtsbehelf gegen die Entschließung der KRS mit dem Vorschlag zur Ernennung dieser Person zum Richter am Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) eingelegt worden war und das Verfahren vor dem Obersten Verwaltungsgericht im Zeitpunkt der Übergabe der Ernennungsurkunde noch anhängig war, rechtlich existent und beendet er das durch die Einlegung des fraglichen Rechtsbehelfs eingeleitete Verfahren?
2. Ist es für die Beantwortung der in Nr. 1 gestellten Frage von Bedeutung, dass der Naczelny Sąd Administracyjny (Oberstes Verwaltungsgericht) vor der Übergabe der Ernennungsurkunde für das Amt eines Richters am Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) die Vollziehung der Entschließung der KRS gemäß Art. 388 § 1 in Verbindung mit Art. 39821 der Zivilprozessordnung und Art. 44 Abs. 3 des KRS-Gesetzes ausgesetzt hat?“
40 Nach Ansicht des vorlegenden Gerichts hängt die Antwort auf diese Fragen insbesondere davon ab, ob ein unter solchen Umständen ernannter Richter ein unabhängiges, unparteiisches und durch Gesetz errichtetes Gericht im Sinne von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV, Art. 267 AEUV, Art. 47 Abs. 2 der Charta und Art. 6 Abs. 1 EMRK sei.
41 Die Mitgliedstaaten seien nämlich nach Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV verpflichtet, dafür zu sorgen, dass ihre nationalen Gerichte, die in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen zu entscheiden hätten, diese Anforderungen erfüllten, was insbesondere voraussetze, dass die Richter ordnungsgemäß ernannt würden.
42 Die Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten habe u. a. Rechtssachen in Bereichen zu entscheiden, die unter das Unionsrecht fielen, wie z. B. solche betreffend den Schutz des Wettbewerbs und die Regulierung der Energiewirtschaft. Außerdem sei der streitige Beschluss in einer Rechtssache ergangen, in der es um die Stellung und den Schutz der Unabhängigkeit eines Richters eines nationalen Gerichts gegangen sei, das seinerseits in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen zu entscheiden habe, so dass in jedem Abschnitt des Ausgangsverfahrens die in Art. 47 Abs. 2 der Charta genannten Anforderungen erfüllt sein müssten.
43 Hinzu komme, dass der betreffende Richter unter eklatanter und vorsätzlicher Verletzung grundlegender Vorschriften des polnischen Rechts über das Verfahren zur Ernennung von Richtern ernannt worden sei.
44 Erstens sei nämlich diese Ernennung erfolgt, obwohl der Naczelny Sąd Administracyjny (Oberstes Verwaltungsgericht) mit einem Rechtsbehelf gegen die Entschließung Nr. 331/2018 befasst gewesen sei, mit der die Ernennung des Betroffenen vorgeschlagen worden sei. Aus Art. 179 der Verfassung ergebe sich jedoch, dass ein solcher Vorschlag konstitutive Bedeutung habe, so dass, solange die rechtliche Existenz der Entschließung aufgrund dieses Rechtsbehelfs ungewiss bleibe, jeder Ernennung die Rechtsgrundlage fehle, denn ein solcher Rechtsbehelf solle den Teilnehmern am Ernennungsverfahren den Schutz ihrer Rechte auf gleichen Zugang zum öffentlichen Dienst und zu einem Gericht gemäß Art. 45 Abs. 1, Art. 60 und Art. 77 Abs. 2 der Verfassung gewährleisten.
45 Art. 44 Abs. 1b und 4 des KRS-Gesetzes stehe diesen Erwägungen nicht entgegen. Wie in Rn. 35 des vorliegenden Urteils ausgeführt, habe der Naczelny Sąd Administracyjny (Oberstes Verwaltungsgericht) den Gerichtshof nämlich mit einem Vorabentscheidungsersuchen in der Rechtssache, in der das Urteil A.B. u. a. ergangen sei, befasst, weil es Zweifel an der Vereinbarkeit der genannten nationalen Bestimmungen mit dem Unionsrecht gehabt habe. Der Naczelny Sąd Administracyjny (Oberstes Verwaltungsgericht) habe unter Zugrundelegung der Hinweise, die ihm der Gerichtshof in dieser Rechtssache gegeben habe, über diese Vereinbarkeit zu befinden bzw. eine unionsrechtskonforme Auslegung der nationalen Bestimmungen sicherzustellen.
46 Zweitens habe der Präsident der Republik dadurch, dass er die streitige Ernennung trotz der rechtskräftigen Entscheidung vorgenommen habe, mit der der Naczelny Sąd Administracyjny (Oberstes Verwaltungsgericht) die Aussetzung der Vollziehung der Entschließung Nr. 331/2018 angeordnet habe, gegen Art. 365 § 1 in Verbindung mit Art. 391 § 1 und Art. 39821 der Zivilprozessordnung sowie Art. 44 Abs. 3 des KRS-Gesetzes verstoßen. Außerdem verstoße die streitige Ernennung auch gegen die Art. 7 und 10 der Verfassung, da der Präsident der Republik die dem Naczelny Sąd Administracyjny (Oberstes Verwaltungsgericht) übertragene Rechtsprechungsbefugnis nicht beachtet habe.
47 Im Übrigen füge sich diese nicht ordnungsgemäße Ernennung in einen allgemeineren Kontext ein, in dem sich die Maßnahmen gehäuft hätten, mit denen eine wirksame gerichtliche Kontrolle der Entschließungen der KRS, mit denen Ernennungen zu Richtern am Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) vorgeschlagen würden, verhindert werden solle.
48 Dies gelte erstens für den Erlass von Art. 44 Abs. 1b und 4 des KRS-Gesetzes, dessen Vereinbarkeit mit dem Unionsrecht, wie bereits ausgeführt, Gegenstand der dem Gerichtshof in der Rechtssache, in der das Urteil A.B. u. a. ergangen sei, vorgelegten Fragen sei, zweitens für die Erhebung von Klagen durch die KRS und eine Gruppe von Senatoren beim Trybunał Konstytucyjny (Verfassungsgericht), das daraufhin in einem Urteil vom 25. März 2019 erklärt habe, dass Art. 44 Abs. 1a des KRS-Gesetzes verfassungswidrig sei und daher alle beim Naczelny Sąd Administracyjny (Oberstes Verwaltungsgericht) anhängigen Rechtsbehelfe gegen solche Entschließungen einzustellen seien, und drittens für die Verabschiedung des Gesetzes vom 26. April 2019, mit dem angeordnet worden sei, dass diese Rechtsbehelfe erledigt seien und jeder Rechtsbehelf dieser Art in Zukunft ausgeschlossen sei.
49 Hinzu kämen weitere Mängel bei der Ernennung des betreffenden Richters, zu denen der Umstand gehöre, dass die 15 Mitglieder der heutigen KRS, die Richter seien, vom Sejm (Erste Kammer des Parlaments) und nicht mehr, wie zuvor, von ihren Kollegen ausgewählt worden seien, sowie der Umstand, dass die Ernennung dieser Mitglieder der KRS unter Verkürzung der verfassungsmäßig garantierten Amtszeit der Mitglieder der vorherigen KRS erfolgt sei. Diese Aspekte seien ihrerseits Gegenstand der Fragen, die dem Gerichtshof im Rahmen der verbundenen Rechtssachen zur Vorabentscheidung vorgelegt worden seien, in denen das Urteil vom 19. November 2019, A. K. u. a. (Unabhängigkeit der Disziplinarkammer des Obersten Gerichts) (C‑585/18, C‑624/18 und C‑625/18, EU:C:2019:982) ergangen sei.
50 In Anbetracht aller dieser Umstände, unter denen die Ernennung des betreffenden Richters erfolgt sei, biete dieser nicht die erforderliche Gewähr für Unabhängigkeit und Unparteilichkeit. Diese Umstände seien nämlich geeignet, bei den Rechtsunterworfenen hieran Zweifel hervorzurufen sowie den Richter einem Druck von außen auszusetzen, der von den Behörden ausgehe, die ihn ernannt und anschließend dafür gesorgt hätten, dass seine Ernennung nicht mehr gerichtlich angefochten werden könne. Diese Umstände begründeten außerdem eine Gefahr der Parteilichkeit im Ausgangsverfahren, wie der Erlass des streitigen Beschlusses durch den betreffenden Richter zeige.
51 Vor diesem Hintergrund hat der Sąd Najwyższy (Izba Cywilna) (Oberstes Gericht [Zivilkammer]) in erweiterter Besetzung mit sieben Richtern beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:
Sind Art. 2, Art. 6 Abs. 1 und 3 sowie Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV in Verbindung mit Art. 47 der Charta und Art. 267 AEUV dahin auszulegen, dass es sich bei einem Gericht, das als Einzelrichter besetzt ist, der unter eklatanter Verletzung der Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats über die Ernennung von Richtern in das Richteramt berufen wurde – insbesondere weil diese Person in das Richteramt berufen wurde, obwohl zuvor gegen die Entschließung einer nationalen Einrichtung ([KRS]), die den Vorschlag enthielt, diese Person zum Richter zu ernennen, ein Rechtsbehelf bei dem zuständigen nationalen Gericht (dem Naczelny Sąd Administracyjny [Oberstes Verwaltungsgericht]) eingelegt worden war, die Vollziehung dieser Entschließung dem nationalen Recht gemäß ausgesetzt wurde und das Verfahren vor dem zuständigen nationalen Gericht, dem Naczelny Sąd Administracyjny (Oberstes Verwaltungsgericht), vor der Übergabe der Ernennungsurkunde noch nicht beendet war –, nicht um ein unabhängiges, unparteiisches und zuvor durch Gesetz errichtetes Gericht im Sinne des Unionsrechts handelt?
Verfahren vor dem Gerichtshof
Zum Antrag auf Anwendung des beschleunigten Verfahrens
52 Das vorlegende Gericht hat beantragt, das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen dem beschleunigten Verfahren nach Art. 105 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs zu unterwerfen. Zur Begründung seines Antrags hat es ausgeführt, dass ein solches Verfahren dadurch gerechtfertigt sei, dass die Antwort auf die dem Gerichtshof zur Vorabentscheidung vorgelegte Frage über das vorliegende Ausgangsverfahren hinaus Auswirkungen auf die richterliche Tätigkeit einer Reihe anderer Richter haben könne, die jüngst den verschiedenen Kammern des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) zugewiesen worden seien und deren Ernennung unter Umständen erfolgt sei, die denen der Ernennung des betreffenden Richters ganz oder teilweise entsprächen.
53 Art. 105 Abs. 1 der Verfahrensordnung sieht vor, dass der Präsident des Gerichtshofs auf Antrag des vorlegenden Gerichts oder ausnahmsweise von Amts wegen, nach Anhörung des Berichterstatters und des Generalanwalts, entscheiden kann, eine Vorlage zur Vorabentscheidung einem beschleunigten Verfahren zu unterwerfen, wenn die Art der Rechtssache ihre rasche Erledigung erfordert.
54 Ein solches beschleunigtes Verfahren ist ein Verfahrensinstrument, mit dem auf eine außerordentliche Dringlichkeitssituation reagiert werden soll. Ferner geht aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs hervor, dass das beschleunigte Verfahren keine Anwendung finden kann, wenn die Sensibilität und die Komplexität der durch einen Fall aufgeworfenen rechtlichen Fragen kaum mit der Anwendung des beschleunigten Verfahrens zu vereinbaren sind, insbesondere, wenn es nicht angebracht erscheint, das schriftliche Verfahren vor dem Gerichtshof zu verkürzen (Urteil vom 18. Mai 2021, Asociația Forumul Judecătorilor din România u. a., C‑83/19, C‑127/19, C‑195/19, C‑291/19, C‑355/19 und C‑397/19, EU:C:2021:393, Rn. 103 und die dort angeführte Rechtsprechung).
55 Im vorliegenden Fall hat der Präsident des Gerichtshofs am 20. August 2019 nach Anhörung des Berichterstatters und des Generalanwalts entschieden, dem in Rn. 52 des vorliegenden Urteils genannten Antrag nicht stattzugeben.
56 Aus der Vorlageentscheidung geht nämlich hervor, dass der Ausgangsrechtsstreit im Wesentlichen einen Widerspruch betrifft, mit dem ein Richter die Entscheidung anficht, durch die er von einer Abteilung des Gerichts, in der er bis dahin tätig war, in eine andere Abteilung dieses Gerichts versetzt wurde, wobei dieser Widerspruch im Zusammenhang mit einem Antrag auf Ablehnung der Richter steht, die in der Sache zu entscheiden haben. Ein Rechtsstreit dieser Art kann als solcher aber keine außerordentliche Dringlichkeitssituation herbeiführen.
57 Überdies bezieht sich die Vorlagefrage zwar tatsächlich auf grundlegende Bestimmungen des Unionsrechts, doch ist sie komplex und äußerst sensibel und gehört selbst zu einem relativ komplizierten nationalen verfahrensrechtlichen und rechtlichen Kontext, so dass sie sich nicht für ein Verfahren eignet, das von den üblichen Verfahrensvorschriften abweicht. Im Übrigen war auch zu berücksichtigen, dass, wie sich aus den Rn. 45, 48 und 49 des vorliegenden Urteils ergibt, einige der Fragen des vorlegenden Gerichts, auf denen die Vorlagefrage beruht, bereits Gegenstand anderer Vorlagen zur Vorabentscheidung waren, die sich in einem vergleichsweise fortgeschrittenen Stadium der Bearbeitung befanden.
Zum mündlichen Verfahren und zum Antrag auf Wiedereröffnung des Verfahrens
58 Im Anschluss an das schriftliche Verfahren sind die Beteiligten, u. a. die polnische Regierung, in einer mündlichen Verhandlung angehört worden, die am 22. September 2020 stattgefunden hat. Der Generalanwalt hat seine Schlussanträge am 15. April 2021 gestellt; das mündliche Verfahren ist folglich an diesem Tag abgeschlossen worden.
59 Mit am 7. Mai 2021 bei der Kanzlei des Gerichtshofs eingegangenem Schriftsatz hat die polnische Regierung die Wiedereröffnung des mündlichen Verfahrens beantragt.
60 Zur Begründung dieses Antrags machte die polnische Regierung geltend, dass zwischen den Schlussanträgen des Generalanwalts in der vorliegenden Rechtssache auf der einen Seite und den Schlussanträgen von Generalanwalt Hogan in der Rechtssache Repubblika (C‑896/19, EU:C:2020:1055) und dem Urteil vom 20. April 2021, Repubblika (C‑896/19, EU:C:2021:311), auf der anderen Seite hinsichtlich der Beurteilung des Verfahrens zur Ernennung nationaler Richter in den verschiedenen Mitgliedstaaten im Licht des Unionsrechts Unterschiede in der Ausrichtung bestünden.
61 Eine Wiedereröffnung des mündlichen Verfahrens sei im vorliegenden Fall deshalb gerechtfertigt, weil der Generalanwalt in seinen Schlussanträgen, mit denen sie nicht einverstanden sei, ihre Argumente nicht hinreichend berücksichtigt habe, so dass es diesen Schlussanträgen an Objektivität fehle.
62 Zu diesem Vorbringen ist zum einen darauf hinzuweisen, dass die Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union und die Verfahrensordnung des Gerichtshofs keine Möglichkeit für die in Art. 23 der Satzung bezeichneten Beteiligten vorsehen, eine Stellungnahme zu den Schlussanträgen des Generalanwalts einzureichen (Urteil vom 6. März 2018, Achmea, C‑284/16, EU:C:2018:158, Rn. 26 und die dort angeführte Rechtsprechung).
63 Zum anderen stellt der Generalanwalt nach Art. 252 Abs. 2 AEUV öffentlich in völliger Unparteilichkeit und Unabhängigkeit begründete Schlussanträge zu den Rechtssachen, in denen nach der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union seine Mitwirkung erforderlich ist. Der Gerichtshof ist weder an diese Schlussanträge noch an ihre Begründung durch den Generalanwalt gebunden. Dass ein Beteiligter nicht mit den Schlussanträgen des Generalanwalts einverstanden ist, kann folglich unabhängig von den darin untersuchten Fragen für sich genommen kein Grund sein, der die Wiedereröffnung des mündlichen Verfahrens rechtfertigt (Urteil vom 6. März 2018, Achmea, C‑284/16, EU:C:2018:158, Rn. 27 und die dort angeführte Rechtsprechung).
64 Zum Vorbringen der polnischen Regierung, die Schlussanträge des Generalanwalts seien nicht objektiv, genügt der Hinweis, dass der Umstand, dass die polnische Regierung meint, ihre Argumente im vorliegenden Vorabentscheidungsverfahren seien in diesen Schlussanträgen nicht hinreichend berücksichtigt worden, jedenfalls nicht geeignet ist, einen solchen Mangel an Objektivität darzutun.
65 Der Gerichtshof kann gemäß Art. 83 seiner Verfahrensordnung jederzeit nach Anhörung des Generalanwalts die Wiedereröffnung des mündlichen Verfahrens beschließen, insbesondere, wenn er sich für unzureichend unterrichtet hält oder wenn eine Partei nach Abschluss des mündlichen Verfahrens eine neue Tatsache unterbreitet hat, die von entscheidender Bedeutung für die Entscheidung des Gerichtshofs ist.
66 Im vorliegenden Fall ist der Gerichtshof jedoch nach Anhörung des Generalanwalts der Auffassung, dass er nach dem schriftlichen Verfahren und der vor ihm abgehaltenen mündlichen Verhandlung über alle für die Entscheidung über das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen erforderlichen Informationen verfügt. Der Antrag der polnischen Regierung auf Wiedereröffnung des mündlichen Verfahrens lässt zudem keine neue Tatsache erkennen, die geeignet wäre, die vom Gerichtshof zu erlassende Entscheidung zu beeinflussen.
67 Aus diesen Gründen ist das mündliche Verfahren nicht wiederzueröffnen.
Zur Vorlagefrage
68 Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs ist es im Rahmen des durch Art. 267 AEUV eingeführten Verfahrens der Zusammenarbeit zwischen den nationalen Gerichten und dem Gerichtshof Aufgabe des Gerichtshofs, dem nationalen Gericht eine für die Entscheidung des bei diesem anhängigen Rechtsstreits sachdienliche Antwort zu geben. Hierzu hat er die ihm vorgelegten Fragen gegebenenfalls umzuformulieren (Urteil vom 15. Juli 2021, Ministrstvo za obrambo, C‑742/19, EU:C:2021:597, Rn. 31 und die dort angeführte Rechtsprechung).
69 Im vorliegenden Fall geht aus der Entscheidung des vorlegenden Gerichts hervor, dass es die in Rn. 39 des vorliegenden Urteils wiedergegebenen Fragen zu beantworten hat, die ihm der Sąd Najwyższy (Izba Cywilna) (Oberstes Gericht [Zivilkammer]) in der Besetzung mit drei Richtern vorgelegt hat. Mit diesen Fragen möchte das vorlegende Gericht wissen, ob es den streitigen Beschluss außer Acht lassen und infolgedessen die Prüfung des Ablehnungsantrags, mit dem es im Ausgangsverfahren befasst ist, fortsetzen darf, oder ob es diesen Antrag für erledigt zu erklären hat, weil der Ausgangsrechtsstreit durch den streitigen Beschluss beendet wurde, indem mit ihm der von W.Ż. beim Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) gegen die streitige Entschließung eingelegte Rechtsbehelf für unzulässig erklärt wurde.
70 Außerdem ist darauf hinzuweisen, dass die KRS mit der streitigen Entschließung die Erledigung eines Widerspruchs festgestellt hat, den W.Ż. gegen die Entscheidung eingelegt hatte, durch die der Präsident des Sąd Okręgowy w K. (Regionalgericht K.), des Gerichts, dem W.Ż. als Richter zugewiesen ist, diesen ohne seine Zustimmung aus der Abteilung dieses Gerichts, in der er bis dahin tätig war, in eine andere Abteilung dieses Gerichts versetzt hatte.
71 Unter diesen Umständen ist davon auszugehen, dass das vorlegende Gericht mit seiner Frage wissen möchte, ob Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV und der Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts dahin auszulegen sind, dass ein nationales Gericht, das mit einem Ablehnungsantrag im Zusammenhang mit einem Widerspruch eines Richters gegen eine Entscheidung befasst ist, mit der dieser ohne seine Zustimmung von einer Abteilung des Gerichts, dem er zugewiesen ist, in eine andere Abteilung dieses Gerichts versetzt wurde, einen Beschluss, mit dem ein in Einzelrichterbesetzung entscheidender Spruchkörper diesen Widerspruch letztinstanzlich zurückgewiesen hat, als nicht existent anzusehen hat, weil in Anbetracht der Umstände, unter denen der Einzelrichter dieses Spruchkörpers ernannt worden ist, dieser Spruchkörper kein unabhängiges, unparteiisches und zuvor durch Gesetz errichtetes Gericht im Sinne von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV ist.
72 Hinsichtlich dieser Umstände weist das vorlegende Gericht in seiner Frage insbesondere darauf hin, dass zum Zeitpunkt der Ernennung des betreffenden Richters die Entschließung der KRS, mit der dieser zur Ernennung vorgeschlagen worden sei, Gegenstand eines gerichtlichen Rechtsbehelfs gewesen sei und dass der mit diesem Rechtsbehelf befasste Naczelny Sąd Administracyjny (Oberstes Verwaltungsgericht) die Aussetzung der Vollziehung dieser Entschließung angeordnet habe.
73 Wie sich aus den Rn. 45, 48 und 49 des vorliegenden Urteils ergibt, äußert das vorlegende Gericht in der Begründung der Vorlageentscheidung zudem Zweifel, die es in diesem Zusammenhang zum einen hinsichtlich der sukzessiven Änderungen der nationalen Vorschriften für solche gerichtlichen Rechtsbehelfe und der Zuständigkeit des Naczelny Sąd Administracyjny (Oberstes Verwaltungsgericht) für die Entscheidung über diese und zum anderen hinsichtlich der offensichtlich fehlenden Unabhängigkeit der KRS hegt. Es weist auch darauf hin, dass diese beiden Problembereiche bereits Gegenstand von Vorabentscheidungsersuchen an den Gerichtshof waren, und zwar in der Rechtssache A.B. u. a. und in den verbundenen Rechtssachen, in denen das Urteil vom 19. November 2019, A. K. u. a. (Unabhängigkeit der Disziplinarkammer des Obersten Gerichts) (C‑585/18, C‑624/18 und C‑625/18, EU:C:2019:982), ergangen ist.
Zur Zuständigkeit des Gerichtshofs
74 Nach Ansicht des Prokurator Generalny (Generalstaatsanwalt, Polen) fallen die für die Ernennung von Richtern geltenden Verfahrensmodalitäten und die Voraussetzungen für die Gültigkeit solcher Ernennungen in die ausschließliche Zuständigkeit der Mitgliedstaaten und nicht in den Anwendungsbereich des Unionsrechts. Daher gehörten diese Fragen nicht zur Zuständigkeit des Gerichtshofs.
75 Zu diesem Vorbringen ist darauf hinzuweisen, dass nach ständiger Rechtsprechung zwar die Organisation der Justiz in den Mitgliedstaaten in deren Zuständigkeit fällt, die Mitgliedstaaten bei der Ausübung dieser Zuständigkeit jedoch die Verpflichtungen einzuhalten haben, die sich für sie aus dem Unionsrecht ergeben, und dass dies insbesondere dann der Fall sein kann, wenn es sich um nationale Vorschriften zum Erlass von Entscheidungen über die Ernennung von Richtern und gegebenenfalls um Vorschriften über die im Zusammenhang mit solchen Ernennungsverfahren anwendbare gerichtliche Kontrolle handelt (vgl. in diesem Sinne Urteile A.B. u. a., Rn. 68 und die dort angeführte Rechtsprechung, und vom 20. April 2021, Repubblika, C‑896/19, EU:C:2021:311, Rn. 48).
76 Zudem bezieht sich das Vorbringen des Generalstaatsanwalts in Wirklichkeit auf die Tragweite und damit auf die Auslegung der Bestimmungen des Primärrechts, die in der Vorlagefrage genannt werden; diese Auslegung fällt offenkundig in die Zuständigkeit des Gerichtshofs nach Art. 267 AEUV (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 18. Mai 2021, Asociația Forumul Judecătorilor din România u. a., C‑83/19, C‑127/19, C‑195/19, C‑291/19, C‑355/19 und C‑397/19, EU:C:2021:393, Rn. 111 und die dort angeführte Rechtsprechung).
77 Die polnische Regierung macht ihrerseits geltend, dass die Vorlagefrage nicht auf eine Auslegung des Unionsrechts abziele, sondern lediglich die Auffassung des vorlegenden Gerichts bestätigen solle, dass der betreffende Richter weder unabhängig und unparteiisch noch rechtmäßig ernannt sei, was sowohl eine Auslegung der nationalen Rechtsvorschriften über das Verfahren zur Ernennung von Richtern als auch eine Würdigung des Sachverhalts anhand dieser Vorschriften sowie die Prüfung der Frage voraussetze, ob ein solcher Verstoß gegen das nationale Recht zu einem Verstoß gegen das Unionsrecht geführt habe. Solche Fragen fielen jedoch nicht in die Zuständigkeit des Gerichtshofs, wenn er über eine Vorlage zur Vorabentscheidung entscheide.
78 Zu diesem Vorbringen ist aber zum einen darauf hinzuweisen, dass zwar in einem Verfahren nach Art. 267 AEUV, das auf einer klaren Aufgabentrennung zwischen den nationalen Gerichten und dem Gerichtshof beruht, allein das nationale Gericht für die Feststellung und Beurteilung des Sachverhalts des Ausgangsrechtsstreits sowie die Auslegung und Anwendung des nationalen Rechts zuständig ist (vgl. u. a. Urteil vom 26. April 2017, Farkas, C‑564/15, EU:C:2017:302, Rn. 37 und die dort angeführte Rechtsprechung), doch ist es Sache des Gerichtshofs, dem nationalen Gericht, das ihn um Vorabentscheidung ersucht hat, unter Berücksichtigung der Angaben in der Vorlageentscheidung zu dem auf den Rechtsstreit anwendbaren nationalen Recht und zu dem ihn kennzeichnenden Sachverhalt die Hinweise zur Auslegung des Unionsrechts zu geben, die sich als erforderlich für die Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits erweisen können.
79 Zum anderen ist der Gerichtshof, auch wenn es nicht seine Sache ist, im Rahmen des Vorabentscheidungsverfahrens die Vereinbarkeit nationalen Rechts mit dem Unionsrecht zu beurteilen, gleichwohl befugt, dem vorlegenden Gericht alle Hinweise zur Auslegung des Unionsrechts zu geben, die es diesem ermöglichen, für die Entscheidung der bei ihm anhängigen Rechtssache über die Frage der Vereinbarkeit zu befinden (Urteil vom 20. April 2021, Repubblika, C‑896/19, EU:C:2021:311, Rn. 30 und die dort angeführte Rechtsprechung).
80 Nach alledem ist der Gerichtshof für die Entscheidung über das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen zuständig.
Zur Zulässigkeit
81 Die polnische Regierung und der Generalstaatsanwalt halten das Vorabentscheidungsersuchen aus verschiedenen Gründen für unzulässig.
82 Als Erstes trägt der Generalstaatsanwalt vor, dass der Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht), wenn er über einen Rechtsbehelf gegen eine Entschließung der KRS wie den des Ausgangsverfahrens entscheide, nicht als Gericht tätig werde, das einen Rechtsstreit entscheide, sondern als „Rechtsschutzorgan“, das in einem Verfahren zu einer „abstrakten“ Entschließung tätig werde.
83 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass die Bedingungen, unter denen der Gerichtshof die ihm in Vorentscheidungssachen zufallende Aufgabe erfüllt, nicht von der Art und dem Ziel der vor den innerstaatlichen Gerichten anhängigen Verfahren abhängen. Art. 267 AEUV bezieht sich auf das vom nationalen Gericht zu erlassende Urteil, ohne dass besondere Regelungen je nach Art dieses Urteils vorgesehen wären (Urteil vom 16. Dezember 1981, Foglia, 244/80, EU:C:1981:302, Rn. 33).
84 Nach ständiger Rechtsprechung können die nationalen Gerichte den Gerichtshof anrufen, wenn bei ihnen ein Rechtsstreit anhängig ist und sie im Rahmen eines Verfahrens zu entscheiden haben, das auf eine Entscheidung mit Rechtsprechungscharakter abzielt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 31. Januar 2013, Belov, C‑394/11, EU:C:2013:48, Rn. 39).
85 Das ist hier aber eindeutig der Fall.
86 Wie nämlich aus der Vorlageentscheidung hervorgeht, hat der Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) im Ausgangsverfahren über einen Rechtsbehelf zu entscheiden, mit dem W.Ż. eine Entschließung der KRS anficht, mit der die KRS die Erledigung seines bei ihr eingelegten Widerspruchs gegen eine Entscheidung festgestellt hat, durch die er ohne seine Zustimmung von einer Abteilung des Gerichts, dem er als Richter zugewiesen ist, in eine andere Abteilung dieses Gerichts versetzt wurde.
87 Als Zweites macht die polnische Regierung geltend, dass die Bestimmungen des Unionsrechts, um deren Auslegung im vorliegenden Fall ersucht werde, auf den Ausgangsrechtsstreit nicht anwendbar seien. Sie könnten einem Mitgliedstaat insbesondere keine Verpflichtungen für den Fall auferlegen, dass er die für Richter geltenden Bedingungen für die Versetzung oder das Verfahren für deren Ernennung festlege, und den Präsidenten der Republik auch nicht verpflichten, die Übergabe der Ernennungsurkunden für Richter aufzuschieben, bis der Naczelny Sąd Administracyjny (Oberstes Verwaltungsgericht) über einen Rechtsbehelf gegen eine Entschließung der KRS entschieden habe. Alle diese Fragen fielen nämlich gemäß Art. 5 EUV in Verbindung mit den Art. 3 und 4 AEUV in die alleinige Zuständigkeit der Mitgliedstaaten.
88 Außerdem sei das vorlegende Gericht nach nationalem Recht nicht zum Erlass einer Entscheidung befugt, die de facto einem Entzug des Mandats des betreffenden Richters gleichkomme, und jede Begründung einer solchen Zuständigkeit auf der Grundlage des Unionsrechts oder eines Urteils des Gerichtshofs missachte unter Verstoß gegen Art. 4 Abs. 2 EUV bestimmte grundlegende innerstaatliche Verfassungsprinzipien sowie die Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit, der Unabsetzbarkeit der Richter und der Rechtssicherheit.
89 Insoweit ist zum einen in Rn. 75 des vorliegenden Urteils bereits darauf hingewiesen worden, dass die Mitgliedstaaten bei Ausübung ihrer Zuständigkeit, insbesondere der Zuständigkeit für den Erlass nationaler Vorschriften über das Verfahren zur Ernennung von Richtern und über die gerichtliche Kontrolle dieses Verfahrens, die Verpflichtungen zu beachten haben, die sich für sie aus dem Unionsrecht ergeben.
90 Zum anderen ist festzustellen, dass dieses Vorbringen der polnischen Regierung im Wesentlichen die Tragweite und damit die Auslegung der Bestimmungen des Unionsrechts, auf die sich die Vorlagefrage bezieht, sowie die Wirkungen betrifft, die sich aus diesen Bestimmungen insbesondere im Hinblick auf den Vorrang des Unionsrechts ergeben können. Solche Argumente, die die inhaltliche Prüfung der vorgelegten Frage betreffen, können daher ihrem Wesen nach nicht zu einer Unzulässigkeit dieser Frage führen (vgl. in diesem Sinne Urteil A.B. u. a., Rn. 80).
91 Als Drittes halten die polnische Regierung und der Generalstaatsanwalt eine Antwort des Gerichtshofs auf die Vorlagefrage im Ausgangsrechtsstreit nicht für erforderlich.
92 Da erstens der Rechtsbehelf von W.Ż. gegen die streitige Entschließung mit dem streitigen Beschluss zurückgewiesen worden sei, gebe es im Ausgangsverfahren keinen Rechtsstreit mehr, der zu entscheiden sei, so dass der beim Sąd Najwyższy (Izba Cywilna) (Oberstes Gericht [Zivilkammer]) in der Besetzung mit drei Richtern anhängige Ablehnungsantrag nunmehr gegenstandslos sei.
93 Zu diesem Vorbringen ist jedoch darauf hinzuweisen, dass, wie das vorlegende Gericht ausgeführt hat, eine Antwort des Gerichtshofs auf die Vorlagefrage erforderlich ist, um diesem nationalen Gericht die Beantwortung der Fragen zu ermöglichen, die ihm vom Sąd Najwyższy (Izba Cywilna) (Oberstes Gericht [Zivilkammer]) in der Besetzung mit drei Richtern gestellt worden sind und mit denen gerade geklärt werden soll, ob dieses letztgenannte Gericht den streitigen Beschluss als nicht existent anzusehen hat und deshalb noch über den bei ihm gestellten Ablehnungsantrag entscheiden muss.
94 Somit ist im vorliegenden Fall eine Antwort des Gerichtshofs erforderlich, um es dem vorlegenden Gericht und anschließend dem Sąd Najwyższy (Izba Cywilna) (Oberstes Gericht [Zivilkammer]) in der Besetzung mit drei Richtern zu ermöglichen, über Vorfragen zu entscheiden, bevor das letztgenannte Gericht im Ausgangsverfahren gegebenenfalls in der Sache entscheiden kann (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 26. März 2020, Miasto Łowicz und Prokurator Generalny, C‑558/18 und C‑563/18, EU:C:2020:234, Rn. 51 und die dort angeführte Rechtsprechung). Unter diesen Umständen ist der Einwand der polnischen Regierung und des Generalstaatsanwalts zurückzuweisen.
95 Der Generalstaatsanwalt trägt zweitens vor, dass der im Ausgangsverfahren anhängige Ablehnungsantrag nach der nationalen Rechtsprechung für unzulässig hätte erklärt werden müssen, da er sich an Richter gerichtet habe, denen die Entscheidung über die betreffende Sache noch nicht zugewiesen gewesen sei.
96 Insoweit genügt jedoch der Hinweis, dass es nach ständiger Rechtsprechung weder Sache des Gerichtshofs ist, im Rahmen des Vorabentscheidungsverfahrens nach Art. 267 AEUV zu prüfen, ob die Vorlageentscheidung den nationalen Vorschriften über die Gerichtsorganisation und das gerichtliche Verfahren entspricht (Urteil vom 16. Juni 2015, Gauweiler u. a., C‑62/14, EU:C:2015:400, Rn. 26 und die dort angeführte Rechtsprechung), noch hat er insbesondere zu prüfen, ob ein bei einem vorlegenden Gericht anhängiger Antrag nach diesen Vorschriften zulässig ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 7. Dezember 2000, Schnorbus, C‑79/99, EU:C:2000:676, Rn. 21 und 22).
97 Drittens stützt sich die Vorlagefrage nach Ansicht des Generalstaatsanwalts auf die Behauptung, dass die Vorschriften über das nationale Verfahren zur Ernennung von Richtern im vorliegenden Fall missachtet worden seien, allerdings seien solche Verstöße gegen nationales Recht nicht erwiesen.
98 In Rn. 78 des vorliegenden Urteils ist insoweit jedoch bereits darauf hingewiesen worden, dass es im Rahmen des Verfahrens nach Art. 267 AEUV nicht Sache des Gerichtshofs ist, über die Auslegung und Anwendung des nationalen Rechts zu entscheiden oder den Sachverhalt zu würdigen.
99 Als Viertes und Letztes trägt der Generalstaatsanwalt vor, dass die Begründung des Vorabentscheidungsersuchens nicht den Anforderungen von Art. 94 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs entspreche. Die Darstellung der Bestimmungen des anwendbaren nationalen Rechts in dieser Entscheidung sei nämlich selektiv und belege nicht die behaupteten Verstöße gegen das nationale Verfahren zur Ernennung von Richtern. Auch lege das vorlegende Gericht die Gründe nicht dar, die für die Wahl der auszulegenden Bestimmungen des Unionsrechts maßgebend gewesen seien und den erforderlichen Zusammenhang zwischen diesen Bestimmungen und der auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren nationalen Regelung herstellen könnten.
100 Zu diesem Vorbringen ist jedoch festzustellen, dass sich aus den Ausführungen in den Rn. 3 bis 28 und 40 bis 50 des vorliegenden Urteils ergibt, dass das Vorabentscheidungsersuchen alle erforderlichen Angaben enthält, insbesondere solche zum Inhalt der möglicherweise auf den vorliegenden Fall anwendbaren nationalen Bestimmungen, zu den Gründen, die das vorlegende Gericht veranlasst haben, dem Gerichtshof Fragen nach der Auslegung von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV vorzulegen, und zu den Verbindungen, die das vorlegende Gericht zwischen dieser Bestimmung und den genannten nationalen Vorschriften herstellt, so dass der Gerichtshof in der Lage ist, über die ihm vorgelegte Frage zu entscheiden.
101 Nach alledem ist das Vorabentscheidungsersuchen zulässig.
Zur Beantwortung der Vorlagefrage
102 Nach Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV ist es Sache der Mitgliedstaaten, ein System von Rechtsbehelfen und Verfahren vorzusehen, das den Einzelnen die Wahrung ihres Rechts auf wirksamen Rechtsschutz in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen gewährleistet. Der Grundsatz des wirksamen gerichtlichen Schutzes der dem Einzelnen aus dem Unionsrecht erwachsenden Rechte, von dem in Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV die Rede ist, ist ein allgemeiner Grundsatz des Unionsrechts, der sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten ergibt; er ist in den Art. 6 und 13 EMRK und nun auch in Art. 47 der Charta verankert (Urteil vom 18. Mai 2021, Asociația Forumul Judecătorilor din România u. a., C‑83/19, C‑127/19, C‑195/19, C‑291/19, C‑355/19 und C‑397/19, EU:C:2021:393, Rn. 190 und die dort angeführte Rechtsprechung). Art. 47 der Charta ist daher bei der Auslegung von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV gebührend zu berücksichtigen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 20. April 2021, Repubblika, C‑896/19, EU:C:2021:311, Rn. 45 und die dort angeführte Rechtsprechung).
103 Hinsichtlich des sachlichen Anwendungsbereichs von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV ist darauf hinzuweisen, dass diese Bestimmung in den „vom Unionsrecht erfassten Bereichen“ Anwendung findet, ohne dass es insoweit darauf ankäme, in welchem Kontext die Mitgliedstaaten Unionsrecht im Sinne von Art. 51 Abs. 1 der Charta durchführen (Urteile vom 24. Juni 2019, Kommission/Polen [Unabhängigkeit des Obersten Gerichts], C‑619/18, EU:C:2019:531, Rn. 50 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie vom 18. Mai 2021, Asociația Forumul Judecătorilor din România u. a., C‑83/19, C‑127/19, C‑195/19, C‑291/19, C‑355/19 und C‑397/19, EU:C:2021:393, Rn. 192 und die dort angeführte Rechtsprechung).
104 Somit hat jeder Mitgliedstaat gemäß Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV u. a. dafür zu sorgen, dass Einrichtungen, die als „Gerichte“ im Sinne des Unionsrechts Bestandteil seines Rechtsbehelfssystems in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen sind und daher möglicherweise in dieser Eigenschaft über die Anwendung oder Auslegung des Unionsrechts entscheiden, den Anforderungen an einen wirksamen Rechtsschutz gerecht werden (Urteil A.B. u. a., Rn. 112 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).
105 Was das Ausgangsverfahren betrifft, ist zunächst noch einmal darauf hinzuweisen, dass sich der von W.Ż. beim Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) eingelegte Rechtsbehelf gegen eine Entschließung der KRS richtet, mit der die KRS die Erledigung eines Widerspruchs festgestellt hat, den W.Ż. bei dieser Einrichtung gegen eine Entscheidung des Präsidenten des Sąd Okręgowy w K. (Regionalgericht K.) eingelegt hatte, durch die W.Ż. von der Abteilung dieses Gerichts, in der er bis dahin tätig war, in eine andere Abteilung dieses Gerichts versetzt worden war.
106 Insoweit steht außer Frage, dass ein polnisches Gericht der ordentlichen Gerichtsbarkeit wie ein Sąd Okręgowy (Regionalgericht) zur Entscheidung über Fragen im Zusammenhang mit der Anwendung oder Auslegung des Unionsrechts berufen sein kann und daher als „Gericht“ im Sinne des Unionsrechts Bestandteil des polnischen Rechtsbehelfssystems in den „vom Unionsrecht erfassten Bereichen“ im Sinne von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV ist (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 5. November 2019, Kommission/Polen [Unabhängigkeit der ordentlichen Gerichte], C‑192/18, EU:C:2019:924, Rn. 104, und vom 15. Juli 2021, Kommission/Polen [Disziplinarordnung für Richter], C‑791/19, EU:C:2021:596, Rn. 55).
107 Um zu gewährleisten, dass ein solches Gericht in der Lage ist, den nach Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV erforderlichen wirksamen Rechtsschutz sicherzustellen, ist es von grundlegender Bedeutung, dass seine Unabhängigkeit gewahrt ist, wie Art. 47 Abs. 2 der Charta bestätigt, wonach zu den Anforderungen im Zusammenhang mit dem Grundrecht auf einen wirksamen Rechtsbehelf u. a. der Zugang zu einem „unabhängigen“ Gericht gehört (Urteile vom 18. Mai 2021, Asociația Forumul Judecătorilor din România u. a., C‑83/19, C‑127/19, C‑195/19, C‑291/19, C‑355/19 und C‑397/19, EU:C:2021:393, Rn. 194 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie vom 15. Juli 2021, Kommission/Polen [Disziplinarordnung für Richter], C‑791/19, EU:C:2021:596, Rn. 57).
108 Das Erfordernis der Unabhängigkeit der Gerichte, das dem Auftrag des Richters inhärent ist, gehört zum Wesensgehalt des Rechts auf wirksamen Rechtsschutz und des Grundrechts auf ein faires Verfahren, dem als Garant für den Schutz sämtlicher dem Einzelnen aus dem Unionsrecht erwachsender Rechte und für die Wahrung der in Art. 2 EUV genannten Werte, die den Mitgliedstaaten gemeinsam sind, u. a. des Wertes der Rechtsstaatlichkeit, grundlegende Bedeutung zukommt (Urteile vom 20. April 2021, Repubblika, C‑896/19, EU:C:2021:311‚ Rn. 51 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie vom 15. Juli 2021, Kommission/Polen [Disziplinarordnung für Richter], C‑791/19, EU:C:2021:596, Rn. 58).
109 Nach ständiger Rechtsprechung setzen die nach dem Unionsrecht erforderlichen Garantien der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit voraus, dass es Regeln insbesondere für die Zusammensetzung der Einrichtung, die Ernennung, die Amtsdauer und die Gründe für Enthaltung, Ablehnung und Abberufung ihrer Mitglieder gibt, die es ermöglichen, bei den Rechtsunterworfenen jeden berechtigten Zweifel an der Unempfänglichkeit dieser Einrichtung für äußere Faktoren und an ihrer Neutralität in Bezug auf die widerstreitenden Interessen auszuräumen (Urteil vom 20. April 2021, Repubblika, C‑896/19, EU:C:2021:311‚ Rn. 53 und die dort angeführte Rechtsprechung).
110 Dafür sind die Richter vor Interventionen oder Druck von außen, die ihre Unabhängigkeit gefährden könnten, zu schützen. Die für den Status der Richter und die Ausübung ihres Richteramts geltenden Vorschriften müssen es insbesondere ermöglichen, nicht nur jede Form der unmittelbaren Einflussnahme in Form von Weisungen, sondern auch die Formen der mittelbaren Einflussnahme, die zur Steuerung der Entscheidungen der betreffenden Richter geeignet sein könnten, auszuschließen, und damit auszuschließen, dass diese Richter den Eindruck vermitteln, nicht unabhängig und unparteiisch zu sein, wodurch das Vertrauen beeinträchtigt werden könnte, das die Justiz in einer demokratischen Gesellschaft und in einem Rechtsstaat bei den Rechtsunterworfenen schaffen muss (Urteil vom 18. Mai 2021, Asociația Forumul Judecătorilor din România u. a., C‑83/19, C‑127/19, C‑195/19, C‑291/19, C‑355/19 und C‑397/19, EU:C:2021:393, Rn. 197 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).
111 Die unerlässliche Freiheit der Richter von jeglichen Interventionen oder jeglichem Druck von außen erfordert somit insbesondere bestimmte Garantien, die geeignet sind, die mit der Aufgabe des Richtens Betrauten in ihrer Person zu schützen, wie z. B. die Unabsetzbarkeit (Urteil vom 5. November 2019, Kommission/Polen [Unabhängigkeit der ordentlichen Gerichte], C‑192/18, EU:C:2019:924, Rn. 112 und die dort angeführte Rechtsprechung).
112 In Anbetracht der grundlegenden Bedeutung des Grundsatzes der Unabsetzbarkeit ist eine Ausnahme von diesem Grundsatz nur dann statthaft, wenn sie durch ein legitimes Ziel gerechtfertigt und im Hinblick auf dieses Ziel verhältnismäßig ist und sofern sie nicht geeignet ist, bei den Rechtsunterworfenen berechtigte Zweifel an der Unempfänglichkeit der betreffenden Gerichte für äußere Faktoren und an ihrer Neutralität in Bezug auf die widerstreitenden Interessen aufkommen zu lassen. So ist allgemein anerkannt, dass Richter abberufen werden können, wenn sie wegen Dienstunfähigkeit oder einer schweren Verfehlung nicht zur Fortführung ihres Amtes geeignet sind, wobei angemessene Verfahren einzuhalten sind (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 5. November 2019, Kommission/Polen [Unabhängigkeit der ordentlichen Gerichte], C‑192/18, EU:C:2019:924, Rn. 113 und 115 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).
113 Insoweit verlangt nach ständiger Rechtsprechung das Erfordernis der richterlichen Unabhängigkeit aus Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV, dass die Disziplinarregelung für Richter die erforderlichen Garantien aufweist, damit jegliche Gefahr verhindert wird, dass eine solche Regelung als System zur politischen Kontrolle des Inhalts justizieller Entscheidungen eingesetzt wird. Regeln, die insbesondere festlegen, welche Verhaltensweisen Disziplinarvergehen begründen und welche Sanktionen konkret anwendbar sind, die die Einschaltung einer unabhängigen Instanz gemäß einem Verfahren vorsehen, das die in den Art. 47 und 48 der Charta niedergelegten Rechte, namentlich die Verteidigungsrechte, in vollem Umfang sicherstellt, und die die Möglichkeit festschreiben, die Entscheidungen der Disziplinarorgane vor Gericht anzufechten, bilden eine Reihe von Garantien, die wesentlich sind, um die Unabhängigkeit der Justiz zu wahren (Urteile vom 18. Mai 2021, Asociația Forumul Judecătorilor din România u. a., C‑83/19, C‑127/19, C‑195/19, C‑291/19, C‑355/19 und C‑397/19, EU:C:2021:393, Rn. 198 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie vom 15. Juli 2021, Kommission/Polen [Disziplinarordnung für Richter], C‑791/19, EU:C:2021:596, Rn. 61).
114 Auch nicht einvernehmliche Versetzungen eines Richters an ein anderes Gericht oder, wie dies im Ausgangsverfahren der Fall war, die nicht einvernehmliche Versetzung eines Richters zwischen zwei Abteilungen desselben Gerichts können potenziell die Grundsätze der Unabsetzbarkeit und der richterlichen Unabhängigkeit verletzen.
115 Solche Versetzungen können nämlich ein Mittel zur Kontrolle des Inhalts gerichtlicher Entscheidungen sein, da sie nicht nur den Umfang der Befugnisse der betreffenden Richter und die Bearbeitung der ihnen zugewiesenen Fälle beeinflussen können, sondern auch erhebliche Auswirkungen auf ihr Leben und ihre Laufbahn und damit entsprechende Wirkungen wie eine Disziplinarstrafe haben können.
116 So hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte nach Prüfung verschiedener internationaler Rechtsinstrumente, die sich mit der Frage der Versetzung in der Justiz befassen, festgestellt, dass diese Instrumente in der Regel bestätigen, dass es ein Recht von Mitgliedern der Judikative auf Schutz vor willkürlicher Versetzung als logische Folge der richterlichen Unabhängigkeit gibt. Er hat insoweit insbesondere die Bedeutung hervorgehoben, die Verfahrensgarantien und die Möglichkeit der gerichtlichen Überprüfung von Entscheidungen im Zusammenhang mit der Laufbahn von Richtern, einschließlich ihres Status, vor allem von sie betreffenden Entscheidungen über nicht einvernehmliche Versetzungen haben, um zu gewährleisten, dass die Unabhängigkeit der Richter nicht durch unzulässige äußere Einflüsse beeinträchtigt wird (vgl. in diesem Sinne EGMR, 9. März 2021, Bilgen/Türkei, CE:ECHR:2021:0309JUD000157107, § 63 und 96).
117 Nach alledem ist festzustellen, dass das Erfordernis der richterlichen Unabhängigkeit, das sich aus Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV in Verbindung mit Art. 47 der Charta ergibt, verlangt, dass die für nicht einvernehmliche Versetzungen von Richtern geltende Regelung ebenso wie Disziplinarvorschriften insbesondere die erforderlichen Garantien aufweist, damit jegliche Gefahr verhindert wird, dass diese Unabhängigkeit durch unmittelbare oder mittelbare Einflussnahmen von außen beeinträchtigt wird. Daraus folgt, dass die in Rn. 113 des vorliegenden Urteils hinsichtlich der Disziplinarordnung für Richter angeführten Vorschriften und Grundsätze entsprechend auch für eine solche Versetzungsregelung gelten müssen.
118 Deshalb ist es wesentlich, dass solche Maßnahmen einer nicht einvernehmlichen Versetzung, selbst wenn sie – wie im Kontext des Ausgangsverfahrens – vom Präsidenten des Gerichts, dem der von ihnen betroffene Richter angehört, außerhalb des Rahmens der Disziplinarordnung für Richter getroffen werden, nur aus berechtigten Gründen beschlossen werden dürfen, die insbesondere in der Verteilung der verfügbaren Ressourcen, um eine ordnungsgemäße Rechtspflege gewährleisten zu können, liegen, und dass solche Entscheidungen vor den Gerichten nach einem Verfahren angefochten werden können, das die in den Art. 47 und 48 der Charta verankerten Rechte, insbesondere die Verteidigungsrechte, in vollem Umfang gewährleistet.
119 Zum Hintergrund des Ausgangsverfahrens hat der Rzecznik Praw Obywatelskich (Bürgerbeauftragte, Polen) vor dem Gerichtshof u. a. erstens ausgeführt, dass die von W.Ż. angefochtene Versetzungsentscheidung dessen Ansicht nach eine ungerechtfertigte Zurückstufung darstelle, da W.Ż. von einer im zweiten Rechtszug entscheidenden Zivilkammer des Regionalgerichts in eine im ersten Rechtszug entscheidende Zivilkammer dieses Gerichts versetzt worden sei. Zweitens sei W.Ż. Mitglied und Sprecher der vorherigen KRS und dafür bekannt gewesen, dass er die jüngsten Reformen der polnischen Justiz öffentlich kritisiert habe. Drittens sei der Gerichtspräsident, der die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Versetzung beschlossen habe, vom Justizminister gemäß Art. 24 Abs. 1 des Gesetzes über den Aufbau der ordentlichen Gerichtsbarkeit nach freiem Ermessen ernannt worden und habe den früheren Präsidenten dieses Gerichts abgelöst, dessen Amtszeit jedoch noch nicht beendet gewesen sei. Unter Hinweis darauf, dass der Widerspruch von W.Ż. gegen die Versetzungsentscheidung durch die streitige Entschließung für erledigt erklärt worden sei, hat der Bürgerbeauftragte in diesem Zusammenhang außerdem geltend gemacht – und damit die vom vorlegenden Gericht dazu geäußerten Zweifel aufgegriffen –, dass die neue KRS, die diese Entschließung erlassen habe, keine unabhängige Einrichtung sei.
120 Zwar fällt es nicht in die Zuständigkeit des Gerichtshofs, wenn er – wie im vorliegenden Fall – um Vorabentscheidung ersucht wird, zu prüfen, inwieweit solche Umstände oder einige von ihnen tatsächlich vorliegen, doch ist es, um die Möglichkeit eines wirksamen gerichtlichen Rechtsbehelfs gegen eine Entscheidung über eine nicht einvernehmliche Versetzung wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende zu gewährleisten, in jedem Fall erforderlich, dass ein unabhängiges, unparteiisches und durch Gesetz errichtetes Gericht nach einem Verfahren, das die in den Art. 47 und 48 der Charta verankerten Rechte in vollem Umfang gewährleistet, die Begründetheit dieser Entscheidung und der Entscheidung einer Einrichtung wie der KRS, den Widerspruch gegen die Versetzungsentscheidung für erledigt zu erklären, überprüfen kann.
121 In der vorliegenden Rechtssache möchte das vorlegende Gericht, wie sich aus Rn. 71 des vorliegenden Urteils ergibt, klären, ob das Unionsrecht im Kontext des Ausgangsverfahrens verlangt, dass der streitige Beschluss, mit dem der betreffende Richter den von W.Ż. gegen die streitige Entschließung eingelegten Rechtsbehelf zurückgewiesen hat, in Anbetracht der Umstände, unter denen die Ernennung dieses Richters erfolgt ist, als nicht existent anzusehen ist. Im Einzelnen geht es bei dieser Frage ihrem Wortlaut nach darum, ob der betreffende Richter unter Berücksichtigung dieser Umstände als „unabhängiges, unparteiisches und zuvor durch Gesetz errichtetes Gericht im Sinne des Unionsrechts“ angesehen werden kann.
122 Zu diesen Begriffen geht aus Art. 47 Abs. 2 Satz 1 der Charta, der, wie bereits in Rn. 102 des vorliegenden Urteils ausgeführt, im Wesentlichen den allgemeinen unionsrechtlichen Grundsatz des effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes widerspiegelt, auf den sich auch Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV bezieht, hervor, dass jede Person ein Recht darauf hat, dass ihre Sache von einem unabhängigen, unparteiischen und zuvor durch Gesetz errichteten Gericht in einem fairen Verfahren, öffentlich und innerhalb angemessener Frist verhandelt wird.
123 Da ferner die in der Charta enthaltenen Rechte den durch die EMRK garantierten Rechten entsprechen, soll mit Art. 52 Abs. 3 der Charta die notwendige Kohärenz zwischen den in der Charta enthaltenen Rechten und den durch die EMRK gewährleisteten entsprechenden Rechten geschaffen werden, ohne dass dadurch die Eigenständigkeit des Unionsrechts berührt wird. Nach den Erläuterungen zur Charta der Grundrechte (ABl. 2007, C 303, S. 17) entspricht Art. 47 Abs. 2 der Charta Art. 6 Abs. 1 EMRK. Der Gerichtshof muss daher darauf achten, dass seine Auslegung von Art. 47 Abs. 2 der Charta ein Schutzniveau gewährleistet, das das in Art. 6 Abs. 1 EMRK in seiner Auslegung durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte garantierte Schutzniveau nicht verletzt (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 29. Juli 2019, Gambino und Hyka, C‑38/18, EU:C:2019:628, Rn. 39 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie vom 26. März 2020, Überprüfung Simpson/Rat und HG/Kommission, C‑542/18 RX‑II und C‑543/18 RX‑II, EU:C:2020:232, Rn. 72).
124 Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat insoweit u. a. festgestellt, dass das in Art. 6 Abs. 1 EMRK garantierte Recht auf ein „auf Gesetz beruhendes Gericht“ zwar ein eigenständiges Recht ist, aber dennoch sehr eng mit den Garantien der „Unabhängigkeit“ und „Unparteilichkeit“ im Sinne dieser Bestimmung verbunden ist. So hat er insbesondere entschieden, dass mit den institutionellen Erfordernissen aus Art. 6 Abs. 1 EMRK zwar jeweils ein konkretes Ziel verfolgt wird, das sie zu besonderen Garantien für ein faires Verfahren macht, ihnen aber gemeinsam ist, dass sie auf die Wahrung der grundlegenden Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit und der Gewaltenteilung abzielen; jedem dieser Erfordernisse liegt die Notwendigkeit zugrunde, das Vertrauen, das die Justiz beim Einzelnen wecken muss, und die Unabhängigkeit der Justiz gegenüber den anderen Staatsgewalten zu wahren (EGMR, 1. Dezember 2020, Ástráðsson/Island, CE:ECHR:2020:1201JUD002637418, § 231 und 233).
125 Hinsichtlich des Verfahrens zur Ernennung von Richtern hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte im Einzelnen zudem festgestellt, dass es in Anbetracht seiner grundlegenden Bedeutung für das ordnungsgemäße Funktionieren und die Legitimität der Justiz in einem demokratischen Rechtsstaat zwangsläufig eng mit dem Begriff des auf Gesetz beruhenden Gerichts im Sinne von Art. 6 Abs. 1 EMRK verbunden ist, und dass die Unabhängigkeit eines Gerichts im Sinne dieser Bestimmung u. a. an der Art und Weise der Ernennung seiner Mitglieder gemessen wird (EGMR, 1. Dezember 2020, Ástráðsson/Island, CE:ECHR:2020:1201JUD002637418, § 227 und 232).
126 Wie der Gerichtshof seinerseits entschieden hat, bilden die Garantien für den Zugang zu einem unabhängigen, unparteiischen und zuvor durch Gesetz errichteten Gericht, insbesondere diejenigen, die für den Begriff und die Zusammensetzung des Gerichts bestimmend sind, den Grundpfeiler des Rechts auf ein faires Verfahren. Die Überprüfung, ob eine Einrichtung in Anbetracht ihrer Zusammensetzung ein solches Gericht ist, wenn insoweit ein ernsthafter Zweifel besteht, ist im Hinblick auf das Vertrauen erforderlich, das die Gerichte einer demokratischen Gesellschaft bei den Rechtssuchenden wecken müssen (vgl. Urteil vom 26. März 2020, Überprüfung Simpson/Rat und HG/Kommission, C‑542/18 RX‑II und C‑543/18 RX‑II, EU:C:2020:232, Rn. 57 und die dort angeführte Rechtsprechung).
127 Nach dem für einen Rechtsstaat kennzeichnenden Grundsatz der Gewaltenteilung ist die Unabhängigkeit der Gerichte insbesondere gegenüber der Legislative und der Exekutive zu gewährleisten (Urteil vom 20. April 2021, Repubblika, C‑896/19, EU:C:2021:311, Rn. 54 und die dort angeführte Rechtsprechung).
128 Wie in den Rn. 109 und 110 des vorliegenden Urteils ausgeführt, verlangen die Erfordernisse der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit, dass es Regeln insbesondere für die Zusammensetzung der Einrichtung und die Ernennung ihrer Mitglieder gibt, die es ermöglichen, bei den Rechtsunterworfenen jeden berechtigten Zweifel an der Unempfänglichkeit dieser Einrichtung für äußere Faktoren und an ihrer Neutralität in Bezug auf die widerstreitenden Interessen auszuräumen.
129 Ferner hat der Gerichtshof in Rn. 73 des Urteils vom 26. März 2020, Überprüfung Simpson/Rat und HG/Kommission (C‑542/18 RX‑II und C‑543/18 RX‑II, EU:C:2020:232), unter Verweis auf die ständige Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte festgestellt, dass die Einfügung des Ausdrucks „auf Gesetz beruhend“ in Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK verhindern soll, dass die Organisation des Justizsystems in das Ermessen der Exekutive gestellt wird, und dafür sorgen soll, dass dieser Bereich durch ein Gesetz geregelt wird, das von der Legislative im Einklang mit den Vorschriften über die Ausübung ihrer Zuständigkeit erlassen wurde. Dieser Ausdruck spiegelt insbesondere das Rechtsstaatsprinzip wider und umfasst nicht nur die Rechtsgrundlage für die Existenz des Gerichts, sondern auch die Zusammensetzung des Spruchkörpers in jeder Rechtssache sowie alle weiteren Vorschriften des innerstaatlichen Rechts, deren Nichtbeachtung die Teilnahme eines oder mehrerer Richter an der Verhandlung über die Rechtssache vorschriftswidrig macht, was insbesondere Vorschriften über die Unabhängigkeit und die Unparteilichkeit der Mitglieder des betreffenden Gerichts einschließt.
130 Zum Unionsrecht hat der Gerichtshof daher in Anlehnung an die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte entschieden, dass eine bei der Ernennung von Richtern im betroffenen Justizsystem begangene Vorschriftswidrigkeit insbesondere dann einen Verstoß gegen das Erfordernis, dass ein Gericht durch Gesetz errichtet sein muss, darstellt, wenn die Art und Schwere der Vorschriftswidrigkeit dergestalt ist, dass sie die tatsächliche Gefahr begründet, dass andere Teile der Staatsgewalt – insbesondere die Exekutive – ein ihnen nicht zustehendes Ermessen ausüben können, wodurch die Integrität des Ergebnisses des Ernennungsverfahrens beeinträchtigt und so beim Einzelnen berechtigte Zweifel an der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit des oder der betreffenden Richter geweckt werden, was der Fall ist, wenn es um Grundregeln geht, die Bestandteil der Errichtung und der Funktionsfähigkeit dieses Justizsystems sind (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 26. März 2020, Überprüfung Simpson/Rat und HG/Kommission, C‑542/18 RX‑II und C‑543/18 RX‑II, EU:C:2020:232, Rn. 75).
131 Letztlich wird es Sache des vorlegenden Gerichts sein, unter Berücksichtigung aller in den Rn. 126 bis 130 des vorliegenden Urteils genannten Grundsätze und nach Vornahme der hierfür erforderlichen Beurteilungen über die Frage zu entscheiden, ob die Gesamtheit der Umstände, unter denen die Ernennung des betreffenden Richters erfolgt ist, insbesondere etwaige Unregelmäßigkeiten im Verfahren zu seiner Ernennung, den Schluss zulassen, dass der Spruchkörper, in dem dieser Richter als Einzelrichter den streitigen Beschluss erlassen hat, nicht als „unabhängiges, unparteiisches und zuvor durch Gesetz errichtetes Gericht“ im Sinne des Unionsrechts gehandelt hat.
132 Wie im Wesentlichen in Rn. 78 des vorliegenden Urteils ausgeführt, verleiht Art. 267 AEUV dem Gerichtshof nämlich nicht die Befugnis, die Normen des Unionsrechts auf einen Einzelfall anzuwenden, sondern nur die, sich zur Auslegung der Verträge und der Rechtsakte der Unionsorgane zu äußern.
133 Nach ständiger Rechtsprechung kann der Gerichtshof aber das Unionsrecht im Rahmen der durch Art. 267 AEUV begründeten Zusammenarbeit zwischen den Gerichten unter Berücksichtigung der Akten auslegen, soweit dies dem innerstaatlichen Gericht bei der Beurteilung der Wirkungen einer unionsrechtlichen Bestimmung dienlich sein könnte (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 18. Mai 2021, Forumul Judecătorilor din România u. a., C‑83/19, C‑127/19, C‑195/19, C‑291/19, C‑355/19 und C‑397/19, EU:C:2021:393, Rn. 201 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).
134 Im vorliegenden Fall ergeben sich die Zweifel des vorlegenden Gerichts daran, dass der betreffende Richter ein „unabhängiges, unparteiisches und zuvor durch Gesetz errichtetes Gericht“ war, als er den streitigen Beschluss erließ, erstens aus dem Umstand, dass die Ernennung dieses Richters erfolgte, obwohl die Entschließung Nr. 331/2018 der KRS, mit der er zur Ernennung vorgeschlagen wurde, Gegenstand eines beim Naczelny Sąd Administracyjny (Oberstes Verwaltungsgericht) anhängigen Rechtsbehelfs war, was nach Ansicht des vorlegenden Gerichts zur Folge hat, dass die Ernennung unter Verstoß gegen das anwendbare nationale Recht erfolgt ist.
135 Sowohl die polnische Regierung als auch der Generalstaatsanwalt und die Europäische Kommission haben jedoch insoweit vorgetragen, dass die zum Zeitpunkt der Einlegung des genannten Rechtsbehelfs geltenden nationalen Vorschriften, insbesondere Art. 44 Abs. 1b und 4 des KRS-Gesetzes, ihrem Wortlaut nach nicht darauf schließen ließen, dass ein solcher Rechtsbehelf letztlich dazu führen könnte, dass der Vorschlag für die Ernennung des von der KRS ausgewählten Bewerbers in Frage gestellt würde, und folglich auch nicht zu einem Hindernis für dessen Ernennung.
136 Im Übrigen geht aus der Vorlageentscheidung in der vorliegenden Rechtssache hervor, dass die Beurteilung durch das vorlegende Gericht, dass die Ernennung des betreffenden Richters unter Verstoß gegen die nationalen Bestimmungen über die Ernennung von Richtern erfolgt sei, nicht darauf beruht, dass Art. 44 Abs. 1b und 4 des KRS-Gesetzes im vorliegenden Fall missachtet wurde, sondern vielmehr darauf, dass diese nationale Bestimmung nach Ansicht des vorlegenden Gerichts selbst gegen einige Bestimmungen der Verfassung und des Unionsrechts verstößt.
137 Sollte das vorlegende Gericht unter diesen Umständen letztlich der Auffassung sein, dass der bloße Umstand, dass ein Rechtsbehelf wie der in Rn. 134 des vorliegenden Urteils genannte beim Naczelny Sąd Administracyjny (Oberstes Verwaltungsgericht) anhängig war, nach dem zum Zeitpunkt der Ernennung des betreffenden Richters geltenden nationalen Recht den Präsidenten der Republik nicht klar an dieser Ernennung hindern konnte, kann nicht davon ausgegangen werden, dass die Ernennung unter eindeutigem Verstoß gegen die für die Ernennung von Richtern geltenden Grundregeln im Sinne der in Rn. 130 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung erfolgt ist.
138 Das vorlegende Gericht hat aber auch zweitens zum einen darauf hingewiesen, dass die Ernennung des betreffenden Richters unter Verstoß gegen die rechtskräftige Entscheidung des Naczelny Sąd Administracyjny (Oberstes Verwaltungsgericht) erfolgt sei, mit der im Wege des vorläufigen Rechtsschutzes eine Aussetzung der Vollziehung der Entschließung Nr. 331/2018 angeordnet worden sei, obwohl die Aussetzung nach Ansicht des vorlegenden Gerichts ein Verbot für den Präsidenten der Republik begründet hat, die Ernennung vorzunehmen.
139 Dazu hat das vorlegende Gericht, wie sich aus Rn. 46 des vorliegenden Urteils ergibt, ausgeführt, dass die Ernennung aus dem genannten Grund unter Verstoß gegen Art. 365 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 391 Abs. 1 und Art. 39821 der Zivilprozessordnung sowie Art. 44 Abs. 3 des KRS-Gesetzes erfolgt sei, die die Befugnis verliehen, solche Maßnahmen im vorläufigen Rechtsschutz zu ergreifen, und unter Verstoß gegen die Art. 7 und 10 der Verfassung über die Trennung und das Gleichgewicht zwischen Exekutive und Judikative und über die Grenzen ihres Handelns.
140 Zum anderen hat das vorlegende Gericht hervorgehoben, dass der Naczelny Sąd Administracyjny (Oberstes Verwaltungsgericht) zum Zeitpunkt der Ernennung des betreffenden Richters zudem die Entscheidung über den gegen die Entschließung Nr. 331/2018 gerichteten Rechtsbehelf ausgesetzt habe, und zwar in Erwartung des Urteils des Gerichtshofs auf die Vorlage zur Vorabentscheidung dieses nationalen Gerichts in der Rechtssache, in der das Urteil A.B. u. a. ergangen sei. Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass der Naczelny Sąd Administracyjny (Oberstes Verwaltungsgericht) mit dieser Vorlage zur Vorabentscheidung den Gerichtshof gerade um Klärung der Frage ersucht hat, ob Art. 44 Abs. 1b und 4 des KRS-Gesetzes mit dem Unionsrecht und dem unionsrechtlich garantierten Recht auf einen wirksamen gerichtlichen Rechtsbehelf vereinbar ist.
141 Aus dem Vorstehenden folgt zum Ersten, dass bei der Ernennung des betreffenden Richters nicht außer Acht gelassen werden durfte, dass die Wirkungen der Entschließung Nr. 331/2018, mit der seine Ernennung vorgeschlagen wurde, durch eine rechtskräftige gerichtliche Entscheidung des Naczelny Sąd Administracyjny (Oberstes Verwaltungsgericht) ausgesetzt worden waren. Zum Zweiten war offensichtlich, dass die Aussetzung so lange andauern würde, bis der Gerichtshof über die Frage entschieden hätte, die ihm dieses nationale Gericht mit Entscheidung vom 22. November 2018 in der Rechtssache, in der das Urteil A.B. u. a. ergangen ist, zur Vorabentscheidung vorgelegt hatte, und dass mit dieser Frage gerade geklärt werden sollte, ob das Unionsrecht Bestimmungen wie Art. 44 Abs. 1b und 4 des KRS-Gesetzes entgegensteht. Unter diesen Umständen war es zum Dritten ebenfalls klar, dass der Naczelny Sąd Administracyjny (Oberstes Verwaltungsgericht) nach dem Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts durch die in jener Rechtssache erwartete Antwort des Gerichtshofs verpflichtet sein könnte, diese nationalen Bestimmungen unangewendet zu lassen und gegebenenfalls die Entschließung der KRS in ihrer Gesamtheit aufzuheben.
142 Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs erfordert die volle Wirksamkeit des Unionsrechts, dass ein mit einem nach Unionsrecht zu beurteilenden Rechtsstreit befasstes Gericht einstweilige Anordnungen erlassen kann, um die volle Wirksamkeit der späteren Gerichtsentscheidung sicherzustellen. Die praktische Wirksamkeit des mit Art. 267 AEUV geschaffenen Systems würde nämlich beeinträchtigt, wenn ein nationales Gericht, das das Verfahren bis zur Beantwortung seiner Vorlagefrage durch den Gerichtshof aussetzt, nicht so lange einstweiligen Rechtsschutz gewähren könnte, bis es auf der Grundlage der Antwort des Gerichtshofs seine eigene Entscheidung erlässt (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 19. Juni 1990, Factortame u. a., C‑213/89, EU:C:1990:257, Rn. 21 und 22, sowie vom 9. November 1995, Atlanta Fruchthandelsgesellschaft u. a. [I], C‑465/93, EU:C:1995:369, Rn. 23 sowie die dort angeführte Rechtsprechung). Die Wirksamkeit dieses Systems würde auch dann beeinträchtigt, wenn die Verbindlichkeit dieser einstweiligen Anordnungen insbesondere von einer Behörde des Mitgliedstaats, in dem diese Anordnungen ergangen sind, missachtet werden könnte.
143 Somit hat die Ernennung des betreffenden Richters unter Verstoß gegen die Verbindlichkeit des rechtskräftigen Beschlusses des Naczelny Sąd Administracyjny (Oberstes Verwaltungsgericht) vom 27. September 2018 und ohne das Urteil des Gerichtshofs in der Rechtssache, in der das Urteil A.B. u. a. ergangen ist, abzuwarten, die Wirksamkeit des durch Art. 267 AEUV geschaffenen Systems beeinträchtigt. Im Übrigen hat der Gerichtshof im Tenor seines Urteils A.B. u. a. unter Berufung auf die in den Rn. 156 bis 165 des Urteils dargelegten Erwägungen entschieden, dass Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV dahin auszulegen ist, dass er Bestimmungen entgegensteht, mit denen die geltende nationale Rechtslage geändert wird und nach denen
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zum einen die Entscheidung einer Einrichtung wie der KRS, die Bewerbung eines Kandidaten für eine Richterstelle an einem Gericht wie dem Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) nicht zu berücksichtigen, sondern dem Präsidenten der Republik die Bewerbung anderer Kandidaten vorzulegen, auch dann in dem Teil bestandskräftig wird, mit dem die anderen Kandidaten vorgeschlagen werden, wenn der abgelehnte Kandidat einen Rechtsbehelf gegen die Entscheidung einlegt, so dass dieser Rechtsbehelf der Ernennung der anderen Kandidaten durch den Präsidenten der Republik nicht entgegensteht und die etwaige Aufhebung der Entscheidung in dem Teil, mit dem der Rechtsbehelfsführer nicht zur Ernennung vorgeschlagen wird, nicht zu einer neuen Beurteilung der Lage des Rechtsbehelfsführers im Hinblick auf eine etwaige Besetzung der betreffenden Stelle führen kann, und
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zum anderen ein solcher Rechtsbehelf nicht damit begründet werden kann, dass nicht zutreffend beurteilt worden sei, ob die Kandidaten die Kriterien erfüllen, die bei der Entscheidung über die Einreichung des Ernennungsvorschlags berücksichtigt werden,
wenn sich herausstellt, dass diese Bestimmungen geeignet sind, bei den Rechtsunterworfenen berechtigte Zweifel an der Unempfänglichkeit der auf der Grundlage der Entschließungen der KRS vom Präsidenten der Republik ernannten Richter für äußere Faktoren, insbesondere für unmittelbare oder mittelbare Einflussnahmen durch die Legislative und die Exekutive, und an ihrer Neutralität in Bezug auf die widerstreitenden Interessen aufkommen zu lassen, und dass die Bestimmungen daher dazu führen können, dass diese Richter nicht den Eindruck vermitteln, unabhängig und unparteiisch zu sein, wodurch das Vertrauen beeinträchtigt werden kann, das die Justiz in einer demokratischen Gesellschaft und in einem Rechtsstaat bei den Rechtsunterworfenen schaffen muss.
144 Im Urteil A.B. u. a. hat der Gerichtshof außerdem entschieden, dass im Fall eines erwiesenen Verstoßes gegen Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV der Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts dahin auszulegen ist, dass er das vorlegende Gericht verpflichtet, diese Bestimmungen zugunsten der Anwendung der zuvor geltenden nationalen Bestimmungen unangewendet zu lassen und die in diesen letztgenannten Bestimmungen vorgesehene gerichtliche Kontrolle selbst auszuüben.
145 Drittens hat das vorlegende Gericht, wie aus Rn. 49 des vorliegenden Urteils hervorgeht, in Bezug auf die Umstände, unter denen der betreffende Richter auf der Grundlage der Entschließung Nr. 331/2018 ernannt wurde, auch Zweifel an der Unabhängigkeit der KRS geäußert, die diesen zur Ernennung vorgeschlagen hatte.
146 Diese Zweifel ergaben sich zum einen daraus, dass die in Art. 187 Abs. 3 der Verfassung vorgesehene Amtszeit von vier Jahren für einige vorherige Mitglieder der KRS verkürzt wurde, zum anderen daraus, dass infolge der jüngsten Änderungen des KRS-Gesetzes die fünfzehn Mitglieder der KRS aus der Richterschaft, die zuvor von ihren Kollegen gewählt worden waren, im Fall der neuen KRS von einem Teil der polnischen Legislative ausgewählt wurden, so dass 23 der 25 Mitglieder der KRS in der neuen Zusammensetzung von der polnischen Exekutive und Legislative ausgewählt wurden oder diesen angehören.
147 Insoweit hat der Gerichtshof in mehreren kürzlich ergangenen Urteilen bereits klargestellt, dass der bloße Umstand, dass die betreffenden Richter des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) vom Präsidenten der Republik ernannt werden, keine Abhängigkeit dieser Richter von ihm schaffen oder Zweifel an ihrer Unparteilichkeit aufkommen lassen kann, wenn sie nach ihrer Ernennung keinem Druck ausgesetzt sind und bei der Ausübung ihres Amtes keinen Weisungen unterliegen (Urteile vom 19. November 2019, A. K. u. a. [Unabhängigkeit der Disziplinarkammer des Obersten Gerichts], C‑585/18, C‑624/18 und C‑625/18, EU:C:2019:982, Rn. 133, A.B. u. a., Rn. 122, sowie vom 15. Juli 2021, Kommission/Polen [Disziplinarordnung für Richter], C‑791/19, EU:C:2021:596, Rn. 97).
148 In diesen Urteilen hat der Gerichtshof jedoch auch darauf hingewiesen, dass sicherzustellen ist, dass die materiellen Voraussetzungen und die Verfahrensmodalitäten für den Erlass der Ernennungsentscheidungen so beschaffen sind, dass sie bei den Rechtsunterworfenen, sind die betreffenden Richter erst einmal ernannt, keine berechtigten Zweifel an deren Unempfänglichkeit für äußere Faktoren und an ihrer Neutralität in Bezug auf die widerstreitenden Interessen aufkommen lassen, und dass dafür die genannten Voraussetzungen und Modalitäten u. a. so ausgestaltet sein müssen, dass sie den in den Rn. 109 und 110 des vorliegenden Urteils genannten Erfordernissen genügen (Urteile vom 19. November 2019, A. K. u. a. [Unabhängigkeit der Disziplinarkammer des Obersten Gerichts], C‑585/18, C‑624/18 und C‑625/18, EU:C:2019:982, Rn. 134, A.B. u. a., Rn. 123, sowie vom 15. Juli 2021, Kommission/Polen [Disziplinarordnung für Richter], C‑791/19, EU:C:2021:596, Rn. 98 und die dort angeführte Rechtsprechung).
149 Nach einem Hinweis darauf, dass die Richter des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) gemäß Art. 179 der Verfassung vom Präsidenten der Republik auf Vorschlag der KRS ernannt werden, die gemäß Art. 186 der Verfassung die Aufgabe hat, über die Unabhängigkeit der Gerichte und der Richter zu wachen, hat der Gerichtshof festgestellt, dass die Einschaltung einer solchen Einrichtung im Verfahren zur Ernennung von Richtern grundsätzlich zur Objektivierung dieses Verfahrens beitragen kann, indem es den Handlungsspielraum des Präsidenten der Republik bei der Ausübung der ihm übertragenen Befugnisse einschränkt; er hat jedoch zugleich klargestellt, dass dies u. a. nur insoweit gilt, als diese Einrichtung selbst von der Legislative und der Exekutive sowie dem Organ, dem es einen solchen Ernennungsvorschlag übermitteln soll, hinreichend unabhängig ist (Urteile vom 19. November 2019, A. K. u. a. [Unabhängigkeit der Disziplinarkammer des Obersten Gerichts], C‑585/18, C‑624/18 und C‑625/18, EU:C:2019:982, Rn. 136 bis 138, A.B. u. a., Rn. 124 und 125, sowie vom 15. Juli 2021, Kommission/Polen [Disziplinarordnung für Richter], C‑791/19, EU:C:2021:596, Rn. 99 und 100 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).
150 Der Gerichtshof hat unlängst entschieden, dass die beiden in Rn. 146 des vorliegenden Urteils erwähnten, vom vorlegenden Gericht genannten Umstände in Verbindung mit der Tatsache, dass sie in einem Kontext auftraten, in dem erwartet wurde, dass in Kürze zahlreiche Stellen beim Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) zu besetzen sein würden, berechtigte Zweifel an der Unabhängigkeit der KRS und ihrer Rolle in dem Ernennungsverfahren aufkommen lassen konnten, das zu Ernennungen zu Richtern am Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) führen sollte (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 15. Juli 2021, Kommission/Polen [Disziplinarordnung für Richter], C‑791/19, EU:C:2021:596, Rn. 104 bis 108).
151 Viertens ist in Bezug auf die besonderen Umstände, unter denen der betreffende Richter vom Präsidenten der Republik zum Richter der Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten ernannt wurde und anschließend den streitigen Beschluss erlassen hat, festzustellen, dass der Vorlageentscheidung als Erstes zu entnehmen ist, dass die Ernennung erfolgte und der Beschluss erlassen wurde, obwohl dem Sąd Najwyższy (Izba Cywilna) (Oberstes Gericht [Zivilkammer]) im Kontext des Ausgangsverfahrens ein Antrag auf Ablehnung aller damals in der Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten tätigen Richter vorlag. Als Zweites geht aus der Vorlageentscheidung auch hervor, dass sich die Begründung des Ablehnungsantrags u. a. auf die Umstände bezog, unter denen die Ernennung der Richter dieser Kammer erfolgt war, d. h. auf Umstände, die in vielerlei Hinsicht den Umständen der Ernennung des betroffenen Richters selbst ähnelten.
152 Zusammen betrachtet können die in den Rn. 138 bis 151 des vorliegenden Urteils genannten Umstände vorbehaltlich der insoweit vom vorlegenden Gericht vorzunehmenden abschließenden Würdigung zum einen den Schluss zulassen, dass die Ernennung des betreffenden Richters unter offensichtlicher Missachtung der Grundregeln des Verfahrens für die Ernennung von Richtern am Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) erfolgt ist, die Bestandteil der Errichtung und der Funktionsfähigkeit des betroffenen Justizsystems im Sinne der in Rn. 130 des vorliegenden Urteils genannten Rechtsprechung sind.
153 Unter demselben Vorbehalt kann das vorlegende Gericht zum anderen aus all diesen Umständen auch den Schluss ziehen, dass die Bedingungen, unter denen die Ernennung des betreffenden Richters erfolgt ist, die Integrität des Ergebnisses des im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Ernennungsverfahrens beeinträchtigt haben, indem sie nicht nur dazu beigetragen haben, bei den Rechtsunterworfenen berechtigte Zweifel an der Unempfänglichkeit dieses Richters für äußere Faktoren und an seiner Neutralität in Bezug auf die widerstreitenden Interessen aufkommen zu lassen, sondern auch dazu, dass dieser Richter nicht den Eindruck vermittelt, unabhängig und unparteiisch zu sein, wodurch das Vertrauen beeinträchtigt werden könnte, das die Justiz in einer demokratischen Gesellschaft und in einem Rechtsstaat bei den Rechtsunterworfenen schaffen muss.
154 Kommt das vorlegende Gericht zu solchen Ergebnissen, wird davon auszugehen sein, dass die Umstände, unter denen die Ernennung des betreffenden Richters erfolgt ist, im vorliegenden Fall der Erfüllung des Erfordernisses aus Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV entgegenstehen können, wonach es sich bei einem Spruchkörper, wenn er wie derjenige, in dem im vorliegenden Fall der betreffende Richter als Einzelrichter entschieden hat, über eine nicht einvernehmliche Versetzung eines Richters zu entscheiden hat, der wie W.Ż. mit der Auslegung und Anwendung des Unionsrechts befasst werden kann, um ein unabhängiges, unparteiisches und zuvor durch Gesetz errichtetes Gericht im Sinne dieser Bestimmung handeln muss.
155 In diesem Fall wird es auch noch Sache des vorlegenden Gerichts sein, in seinen Antworten auf die ihm vom Sąd Najwyższy (Izba Cywilna) (Oberstes Gericht [Zivilkammer]) in der Besetzung mit drei Richtern gestellten Fragen klarzustellen, dass das letztgenannte Gericht den streitigen Beschluss nach dem Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts als nicht existent anzusehen hat, ohne dass eine Bestimmung des nationalen Rechts dem entgegenstehen könnte.
156 Nach ständiger Rechtsprechung besagt nämlich der Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts, dass das Unionsrecht dem Recht der Mitgliedstaaten vorgeht. Dieser Grundsatz verpflichtet daher alle mitgliedstaatlichen Stellen, den verschiedenen unionsrechtlichen Vorschriften volle Wirksamkeit zu verschaffen, wobei das Recht der Mitgliedstaaten die diesen Vorschriften zuerkannte Wirkung in ihrem Hoheitsgebiet nicht beeinträchtigen darf (Urteil vom 18. Mai 2021, Asociația Forumul Judecătorilor din România u. a., C‑83/19, C‑127/19, C‑195/19, C‑291/19, C‑355/19 und C‑397/19, EU:C:2021:393, Rn. 244 und die dort angeführte Rechtsprechung).
157 Somit kann nach dem Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts die Einheit und die Wirksamkeit des Unionsrechts nicht dadurch beeinträchtigt werden, dass sich ein Mitgliedstaat auf Bestimmungen des nationalen Rechts beruft, auch wenn sie Verfassungsrang haben. Nach ständiger Rechtsprechung sind die Wirkungen des Grundsatzes des Vorrangs des Unionsrechts für alle Einrichtungen eines Mitgliedstaats verbindlich, ohne dass dem insbesondere die innerstaatlichen Bestimmungen, auch wenn sie Verfassungsrang haben, entgegenstehen könnten (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 18. Mai 2021, Asociația Forumul Judecătorilor din România u. a., C‑83/19, C‑127/19, C‑195/19, C‑291/19, C‑355/19 und C‑397/19, EU:C:2021:393, Rn. 245 und die dort angeführte Rechtsprechung).
158 Insbesondere ist jedes im Rahmen seiner Zuständigkeit angerufene nationale Gericht als Organ eines Mitgliedstaats verpflichtet, jede nationale Bestimmung, die einer Bestimmung des Unionsrechts, die in dem bei ihm anhängigen Rechtsstreit unmittelbare Wirkung hat, entgegensteht, unangewendet zu lassen (Urteil vom 18. Mai 2021, Asociația Forumul Judecătorilor din România u. a., C‑83/19, C‑127/19, C‑195/19, C‑291/19, C‑355/19 und C‑397/19, EU:C:2021:393, Rn. 248 und die dort angeführte Rechtsprechung).
159 Somit wird der Sąd Najwyższy (Izba Cywilna) (Oberstes Gericht [Zivilkammer]) in der Besetzung mit drei Richtern in Anbetracht dessen, dass Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV den Mitgliedstaaten eine klare und präzise Ergebnispflicht auferlegt, die in Bezug auf die Unabhängigkeit, die die zur Auslegung und Anwendung des Unionsrechts berufenen Gerichte aufweisen müssen, unbedingt ist, verpflichtet sein, im Rahmen seiner Zuständigkeiten die volle Wirksamkeit dieser Bestimmung zu gewährleisten (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 18. Mai 2021, Asociația Forumul Judecătorilor din România u. a., C‑83/19, C‑127/19, C‑195/19, C‑291/19, C‑355/19 und C‑397/19, EU:C:2021:393, Rn. 250 und die dort angeführte Rechtsprechung), was im vorliegenden Fall – vorbehaltlich der vom vorlegenden Gericht noch vorzunehmenden Beurteilung – unter Berücksichtigung der Ausführungen in Rn. 39 des vorliegenden Urteils erfordern wird, dass der streitige Beschluss als nicht existent angesehen wird.
160 Insoweit ist noch darauf hinzuweisen, dass, wenn das vorlegende Gericht zu der Auffassung gelangt, dass ein solcher Beschluss von einem Spruchkörper erlassen wurde, der kein unabhängiges, unparteiisches und durch Gesetz errichtetes Gericht im Sinne des Unionsrechts ist, im vorliegenden Fall keine Erwägung, die auf dem Grundsatz der Rechtssicherheit beruht oder mit einer behaupteten Rechtskraft zusammenhängt, mit Erfolg geltend gemacht werden kann, um ein Gericht wie den Sąd Najwyższy (Izba Cywilna) (Oberstes Gericht [Zivilkammer]) in der Besetzung mit drei Richtern daran zu hindern, einen solchen Beschluss als nicht existent anzusehen.
161 Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV und der Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts dahin auszulegen sind, dass ein nationales Gericht, das mit einem Ablehnungsantrag im Zusammenhang mit einem Rechtsbehelf befasst ist, mit dem ein Richter, der in einem Gericht tätig ist, das Unionsrecht auslegen und anwenden kann, eine Entscheidung anficht, durch die er ohne seine Zustimmung versetzt wurde, einen Beschluss als nicht existent anzusehen hat, mit dem ein letztinstanzlich und in Einzelrichterbesetzung entscheidender Spruchkörper diesen Rechtsbehelf zurückgewiesen hat, wenn eine solche Folge in Anbetracht der in Rede stehenden Verfahrenslage unerlässlich ist, um den Vorrang des Unionsrechts zu gewährleisten, und wenn sich aus der Gesamtheit der Bedingungen und Umstände, unter denen das Verfahren zur Ernennung dieses Einzelrichters stattgefunden hat, ergibt, dass die Ernennung unter offensichtlicher Verletzung der Grundregeln erfolgt ist, die Bestandteil der Errichtung und der Funktionsfähigkeit des betroffenen Justizsystems sind, und dass die Integrität des Ergebnisses dieses Ernennungsverfahrens dadurch gefährdet ist, dass bei den Rechtsunterworfenen berechtigte Zweifel an der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit des betreffenden Richters geweckt werden, so dass der genannte Beschluss nicht als von einem unabhängigen, unparteiischen und zuvor durch Gesetz errichteten Gericht im Sinne von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV erlassen angesehen werden kann.
Kosten
162 Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Große Kammer) für Recht erkannt:
Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV und der Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts sind dahin auszulegen, dass ein nationales Gericht, das mit einem Ablehnungsantrag im Zusammenhang mit einem Rechtsbehelf befasst ist, mit dem ein Richter, der in einem Gericht tätig ist, das Unionsrecht auslegen und anwenden kann, eine Entscheidung anficht, durch die er ohne seine Zustimmung versetzt wurde, einen Beschluss als nicht existent anzusehen hat, mit dem ein letztinstanzlich und in Einzelrichterbesetzung entscheidender Spruchkörper diesen Rechtsbehelf zurückgewiesen hat, wenn eine solche Folge in Anbetracht der in Rede stehenden Verfahrenslage unerlässlich ist, um den Vorrang des Unionsrechts zu gewährleisten, und wenn sich aus der Gesamtheit der Bedingungen und Umstände, unter denen das Verfahren zur Ernennung dieses Einzelrichters stattgefunden hat, ergibt, dass die Ernennung unter offensichtlicher Verletzung der Grundregeln erfolgt ist, die Bestandteil der Errichtung und der Funktionsfähigkeit des betroffenen Justizsystems sind, und dass die Integrität des Ergebnisses dieses Ernennungsverfahrens dadurch gefährdet ist, dass bei den Rechtsunterworfenen berechtigte Zweifel an der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit des betreffenden Richters geweckt werden, so dass der genannte Beschluss nicht als von einem unabhängigen, unparteiischen und zuvor durch Gesetz errichteten Gericht im Sinne von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV erlassen angesehen werden kann.
Unterschriften
(*1) Verfahrenssprache: Polnisch.
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Urteil des Gerichtshofs (Große Kammer) vom 20. März 2018.#Garlsson Real Estate SA u. a. gegen Commissione Nazionale per le Società e la Borsa (Consob).#Vorabentscheidungsersuchen der Corte suprema di cassazione.#Vorlage zur Vorabentscheidung – Richtlinie 2003/6/EG – Marktmanipulation – Sanktionen – Nationale Rechtsvorschriften, die für dieselbe Tat eine verwaltungsrechtliche und eine strafrechtliche Sanktion vorsehen – Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Art. 50 – Grundsatz ne bis in idem – Strafrechtliche Natur der Verwaltungssanktion – Vorliegen derselben Straftat – Art. 52 Abs. 1 – Einschränkungen des Grundsatzes ne bis in idem – Voraussetzungen.#Rechtssache C-537/16.
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62016CJ0537
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ECLI:EU:C:2018:193
| 2018-03-20T00:00:00 |
Gerichtshof, Campos Sánchez-Bordona
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Sammlung der Rechtsprechung – allgemein – Abschnitt „Informationen über nicht veröffentlichte Entscheidungen“
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62016CJ0537
URTEIL DES GERICHTSHOFS (Große Kammer)
20. März 2018 (*1)
„Vorlage zur Vorabentscheidung – Richtlinie 2003/6/EG – Marktmanipulation – Sanktionen – Nationale Rechtsvorschriften, die für dieselbe Tat eine verwaltungsrechtliche und eine strafrechtliche Sanktion vorsehen – Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Art. 50 – Grundsatz ne bis in idem – Strafrechtliche Natur der Verwaltungssanktion – Vorliegen derselben Straftat – Art. 52 Abs. 1 – Einschränkungen des Grundsatzes ne bis in idem – Voraussetzungen“
In der Rechtssache C‑537/16
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Corte suprema di cassazione (Oberster Kassationsgerichtshof, Italien) mit Entscheidung vom 20. September 2016, beim Gerichtshof eingegangen am 24. Oktober 2016, in dem Verfahren
Garlsson Real Estate SA, in Liquidation,
Stefano Ricucci,
Magiste International SA
gegen
Commissione Nazionale per le Società e la Borsa (Consob)
erlässt
DER GERICHTSHOF (Große Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten K. Lenaerts, des Vizepräsidenten A. Tizzano, der Kammerpräsidentin R. Silva de Lapuerta, der Kammerpräsidenten M. Ilešič, T. von Danwitz (Berichterstatter), A. Rosas und E. Levits, der Richter E. Juhász, J.‑C. Bonichot, A. Arabadjiev, S. Rodin und F. Biltgen, der Richterin K. Jürimäe sowie der Richter C. Lycourgos und E. Regan,
Generalanwalt: M. Campos Sánchez-Bordona,
Kanzler: R. Schiano, Verwaltungsrat,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 30. Mai 2017,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
–
der Garlsson Real Estate SA, in Liquidation, von Herrn Ricucci und der Magiste International SA, vertreten durch M. Canfora, avvocato,
–
der Commissione Nazionale per le Società e la Borsa (Consob), vertreten durch A. Valente, S. Providenti und P. Palmisano, avvocati,
–
der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von G. Galluzzo und P. Gentili, avvocati dello Stato,
–
der deutschen Regierung, vertreten durch T. Henze und D. Klebs als Bevollmächtigte,
–
der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna als Bevollmächtigten,
–
der Europäischen Kommission, vertreten durch V. Di Bucci, R. Troosters und T. Scharf als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 12. September 2017
folgendes
Urteil
1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 50 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) im Licht von Art. 4 des Protokolls Nr. 7 zu der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (im Folgenden: EMRK).
2 Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Garlsson Real Estate SA, in Liquidation, Herrn Stefano Ricucci und der Magiste International SA auf der einen Seite und der Commissione Nazionale per le Società e la Borsa (Nationale Unternehmens- und Börsenaufsichtsbehörde, Italien) (im Folgenden: Consob) auf der anderen Seite über die Rechtmäßigkeit einer Geldbuße als Verwaltungssanktion, mit der sie wegen Verstößen gegen die Rechtsvorschriften über Marktmanipulation belegt wurden.
Rechtlicher Rahmen
EMRK
3 Art. 4 („Recht, wegen derselben Strafsache nicht zweimal vor Gericht gestellt oder bestraft zu werden“) des Protokolls Nr. 7 zur EMRK bestimmt:
„(1) Niemand darf wegen einer Straftat, wegen der er bereits nach dem Gesetz und dem Strafverfahrensrecht eines Staates rechtskräftig verurteilt oder freigesprochen worden ist, in einem Strafverfahren desselben Staates erneut verfolgt oder bestraft werden.
(2) Absatz 1 schließt die Wiederaufnahme des Verfahrens nach dem Gesetz und dem Strafverfahrensrecht des betreffenden Staates nicht aus, falls neue oder neu bekannt gewordene Tatsachen vorliegen oder das vorausgegangene Verfahren schwere, den Ausgang des Verfahrens berührende Mängel aufweist.
(3) Von diesem Artikel darf nicht nach Artikel 15 der Konvention abgewichen werden.“
Unionsrecht
4 Nach Art. 5 der Richtlinie 2003/6/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 28. Januar 2003 über Insider-Geschäfte und Marktmanipulation (Marktmissbrauch) (ABl. 2003, L 96, S. 16) untersagen die Mitgliedstaaten jedermann, Marktmanipulation zu betreiben. In Art. 1 Nr. 2 dieser Richtlinie wird bestimmt, welche Verhaltensweisen eine Marktmanipulation darstellen.
5 Art. 14 Abs. 1 der Richtlinie lautet:
„Unbeschadet des Rechts der Mitgliedstaaten, strafrechtliche Sanktionen zu verhängen, sorgen die Mitgliedstaaten entsprechend ihrem jeweiligen innerstaatlichen Recht dafür, dass bei Verstößen gegen die gemäß dieser Richtlinie erlassenen Vorschriften gegen die verantwortlichen Personen geeignete Verwaltungsmaßnahmen ergriffen oder im Verwaltungsverfahren zu erlassende Sanktionen verhängt werden können. Die Mitgliedstaaten sorgen dafür, dass diese Maßnahmen wirksam, verhältnismäßig und abschreckend sind.“
Italienisches Recht
6 Art. 185 („Marktmanipulation“) des Decreto Legislativo n. 58 – Testo unico delle disposizioni in materia di intermediazione finanziaria, ai sensi degli articoli 8 e 21 della legge 6 febbraio 1996, n. 52 (Gesetzesdekret Nr. 58 – Einheitstext der Bestimmungen über die Finanzvermittlung gemäß den Art. 8 und 21 des Gesetzes Nr. 52 vom 6. Februar 1996), vom 24. Februar 1998 (Supplemento ordinario zur GURI Nr. 71 vom 26. März 1998) in der durch die Legge n. 62 – Disposizioni per l’adempimento di obblighi derivanti dall’appartenenza dell’Italia alle Comunità europee. Legge comunitaria 2004 (Gesetz Nr. 62 – Vorschriften zur Erfüllung der sich aus der Zugehörigkeit Italiens zu den Europäischen Gemeinschaften ergebenden Verpflichtungen. Gemeinschaftsgesetz 2004) vom 18. April 2005 (Supplemento ordinario zur GURI Nr. 76 vom 27. April 2005) geänderten Fassung (im Folgenden: TUF) bestimmt:
„(1) Mit Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu sechs Jahren und mit Geldstrafe von zwanzigtausend Euro bis fünf Millionen Euro wird bestraft, wer unrichtige Informationen verbreitet, Geschäfte vortäuscht oder andere Täuschungshandlungen vornimmt, die konkret geeignet sind, den Preis von Finanzinstrumenten erheblich zu verändern.
(2) Das Gericht kann die Geldstrafe bis zum Dreifachen dieses Betrags oder bis zum Zehnfachen des Ertrags oder des Gewinns aus der Straftat, je nachdem, welcher Betrag höher ist, erhöhen, wenn sie unter Berücksichtigung der Schwere der Rechtsgutsverletzung, persönlicher Eigenschaften des Täters oder der Höhe des Ertrags oder des Gewinns aus der Straftat trotz Verhängung des Höchstbetrags nicht angemessen erscheint.“
7 Art. 187ter („Marktmanipulation“) TUF sieht vor:
„(1) Unbeschadet strafrechtlicher Sanktionen, wenn die Tat eine Straftat ist, wird als Verwaltungssanktion mit einer Geldbuße in Höhe von zwanzigtausend Euro bis fünf Millionen Euro belegt, wer über die Medien einschließlich des Internets oder auf anderem Wege falsche oder irreführende Informationen, Gerüchte oder Nachrichten verbreitet, die falsche oder irreführende Signale in Bezug auf Finanzinstrumente geben oder geben könnten.
…
(3) Unbeschadet strafrechtlicher Sanktionen, wenn die Tat eine Straftat ist, wird die in Abs. 1 genannte Geldbuße als Verwaltungssanktion auf jeden angewandt, der
…
c)
Geschäfte oder Kauf- bzw. Verkaufsaufträge unter Vorspiegelung falscher Tatsachen oder unter Verwendung sonstiger Kunstgriffe oder Formen der Täuschung vornimmt.
…
(5) Die in den vorstehenden Absätzen vorgesehenen Geldbußen als Verwaltungssanktionen werden bis zum Dreifachen dieses Betrags oder bis zum Zehnfachen des Ertrags oder des Gewinns aus der Zuwiderhandlung, je nachdem, welcher Betrag höher ist, erhöht, wenn sie unter Berücksichtigung der Schwere der Rechtsgutsverletzung, persönlicher Eigenschaften des Täters oder der Höhe des Ertrags oder des Gewinns aus den Auswirkungen der Zuwiderhandlung auf den Markt trotz Verhängung des Höchstbetrags nicht angemessen erscheinen.
…“
8 In Art. 187decies („Verhältnis zu den Gerichten“) TUF heißt es:
„(1) Erfährt die Staatsanwaltschaft von einer der in Kapitel II aufgeführten Straftaten, unterrichtet sie unverzüglich den Präsidenten der [Consob].
(2) Der Präsident der [Consob] übermittelt der Staatsanwaltschaft durch einen mit Gründen versehenen Bericht die bei der Ausübung der Kontrolltätigkeit erstellte Dokumentation, sofern der Verdacht einer Straftat besteht. Die Übersendung der Akten an die Staatsanwaltschaft erfolgt spätestens, nachdem die in den Bestimmungen des Kapitels III dieses Titels aufgeführten Straftaten festgestellt wurden.
(3) Die [Consob] und die Justizbehörde arbeiten u. a. durch den Austausch von Informationen zur Erleichterung der Feststellung von Verstößen nach diesem Titel auch dann zusammen, wenn diese Verstöße keine Straftat darstellen. …“
9 Art. 187duodecies („Verhältnis von Strafverfahren zu Verwaltungs- und Widerspruchsverfahren“) TUF bestimmt in Abs. 1:
„Das Verwaltungskontrollverfahren und das Widerspruchsverfahren … können während des laufenden Strafverfahrens wegen derselben Tat oder einer Tat, deren Feststellung für den Verfahrensausgang maßgebend ist, nicht ausgesetzt werden.“
10 Art. 187terdecies („Vollstreckung von Geldstrafen und Geldbußen im Strafverfahren“) TUF lautet:
„Wurde gegen den Täter oder die juristische Person wegen derselben Tat als Verwaltungssanktion eine Geldbuße … verhängt, wird die Erhebung der Geldstrafe und der Geldbuße, die wegen der Straftat verhängt werden, auf den Teil beschränkt, der den von der Verwaltungsbehörde eingezogenen Betrag übersteigt.“
Ausgangsverfahren und Vorlagefragen
11 Mit Entscheidung vom 9. September 2007 verhängte die Consob als Verwaltungssanktion eine Geldbuße in Höhe von 10,2 Mio. Euro gegen Herrn Ricucci, Magiste International und Garlsson Real Estate als Gesamtschuldner.
12 Nach den Angaben in dieser Entscheidung nahm Herr Ricucci in dem im Ausgangsverfahren maßgeblichen Zeitraum Manipulationen vor, um die Aufmerksamkeit auf die Wertpapiere der RCS Mediagroup SpA zu lenken und damit den Kurs dieser Wertpapiere aus Eigennutz zu stützen. Nach Ansicht der Consob führten diese Handlungen zu einer anormalen Entwicklung der genannten Wertpapiere und stellten daher eine Marktmanipulation im Sinne von Art. 187ter Abs. 3 Buchst. c TUF dar.
13 Herr Ricucci, Magiste International und Garlsson Real Estate gingen gegen die im Ausgangsverfahren als Verwaltungssanktion verhängte Geldbuße bei der Corte d’appello di Roma (Berufungsgericht von Rom, Italien) vor. Mit Urteil vom 2. Januar 2009 gab dieses Gericht der Klage teilweise statt und setzte die Geldbuße auf 5 Mio. Euro herab. Dagegen haben alle Parteien des Ausgangsverfahrens Kassationsbeschwerde zur Corte suprema di cassazione (Oberster Kassationsgerichtshof, Italien) eingelegt.
14 Wegen der in Rn. 12 des vorliegenden Urteils beschriebenen Handlungen wurde Herr Ricucci auch strafrechtlich verfolgt und letztlich durch ein Urteil des Tribunale di Roma (Gericht von Rom, Italien) vom 10. Dezember 2008 im Wege der Verfahrensabsprache nach Art. 185 TUF zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren und sechs Monaten verurteilt. Die Strafe wurde später auf drei Jahre ermäßigt und nachfolgend im Wege der Begnadigung erlassen. Das Urteil ist rechtskräftig.
15 In diesem Zusammenhang weist das vorlegende Gericht darauf hin, dass der Grundsatz ne bis in idem in der italienischen Rechtsordnung keine Anwendung auf das Verhältnis zwischen strafrechtlichen Sanktionen und Verwaltungssanktionen finde.
16 Es bestünden jedoch Zweifel, ob das Verfahren zur Verhängung der Geldbuße als Verwaltungssanktion, um das es im Ausgangsverfahren gehe, nach dem Urteil des Tribunale di Roma (Gericht von Rom) vom 10. Dezember 2008 noch mit Art. 50 der Charta, wie er im Licht von Art. 4 des Protokolls Nr. 7 zur EMRK ausgelegt werde, vereinbar sei.
17 Auch wenn dieses Urteil in der italienischen Rechtsordnung einer strafrechtlichen Verurteilung gleichstehe, sei die im Ausgangsverfahren nach Art. 187ter TUF als Verwaltungssanktion verhängte Geldbuße nämlich im Sinne von Art. 4 des Protokolls Nr. 7 zur EMRK in seiner Auslegung durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte im Urteil vom 4. März 2014, Grande Stevens u. a./Italien (CE:ECHR:2014:0304JUD001864010), strafrechtlicher Natur. Im Rahmen dieses Verwaltungsverfahrens seien Herrn Ricucci dieselben Handlungen vorgeworfen worden wie die, die der strafrechtlichen Sanktion gegen ihn zugrunde lägen.
18 In der Überzeugung, dass die Anwendung von Art. 187ter TUF im Ausgangsverfahren Fragen nach der Verfassungsmäßigkeit dieser Bestimmung aufwirft, rief das vorlegende Gericht die Corte costituzionale (Verfassungsgerichtshof, Italien) an.
19 Mit Urteil vom 12. Mai 2016 erklärte die Corte costituzionale (Verfassungsgerichtshof) die Frage nach der Verfassungsmäßigkeit für unzulässig und gab zur Begründung an, das vorlegende Gericht habe nicht zuvor geklärt, in welchem Verhältnis der Grundsatz ne bis in idem, wie er in Art. 4 des Protokolls Nr. 7 zur EMRK in seiner Auslegung durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte verankert sei, und dieser Grundsatz, wie er im Kontext des Marktmissbrauchs im Unionsrecht angewandt werde, zueinander stünden. Außerdem stelle sich die Frage, ob der unionsrechtlich verbürgte Grundsatz ne bis in idem auf das innerstaatliche Recht eines Mitgliedstaats unmittelbar anwendbar sei.
20 Unter diesen Umständen hat die Corte suprema di cassazione (Oberster Kassationsgerichtshof) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
1. Steht Art. 50 der Charta, wie er im Licht von Art. 4 des Protokolls Nr. 7 zur EMRK, der einschlägigen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte und des nationalen Rechts auszulegen ist, der Möglichkeit entgegen, ein Verwaltungsverfahren wegen einer Tat (rechtswidrige Marktmanipulation) durchzuführen, für die der Betroffene rechtskräftig strafrechtlich verurteilt wurde?
2. Kann der nationale Richter die Grundsätze des Unionsrechts, die mit dem Grundsatz ne bis in idem nach Art. 50 der Charta, wie er im Licht von Art. 4 des Protokolls Nr. 7 zur EMRK, der einschlägigen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte und des nationalen Rechts auszulegen ist, im Zusammenhang stehen, unmittelbar anwenden?
Zu den Vorlagefragen
Zur ersten Frage
21 Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 50 der Charta im Licht von Art. 4 des Protokolls Nr. 7 zur EMRK dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung entgegensteht, nach der es zulässig ist, gegen eine Person ein Verfahren zur Verhängung einer Geldbuße als Verwaltungssanktion wegen rechtswidriger Marktmanipulationen fortzusetzen, wegen denen sie bereits rechtskräftig strafrechtlich verurteilt wurde.
22 Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass die Mitgliedstaaten nach Art. 14 Abs. 1 der Richtlinie 2003/6 in Verbindung mit deren Art. 5 unbeschadet ihres Rechts, strafrechtliche Sanktionen zu verhängen, gegen die für eine Marktmanipulation verantwortlichen Personen wirksame, verhältnismäßige und abschreckende Verwaltungsmaßnahmen ergreifen oder im Verwaltungsverfahren zu erlassende Sanktionen verhängen.
23 Nach den Angaben in der Vorlageentscheidung wurde Art. 187ter TUF zur Umsetzung dieser Bestimmungen der Richtlinie 2003/6 in das italienische Recht erlassen. Das Verwaltungsverfahren, um das es im Ausgangsverfahren geht, und die gegen Herrn Ricucci nach Art. 187ter TUF als Verwaltungssanktion verhängte Geldbuße stellen eine Durchführung des Rechts der Union im Sinne von Art. 51 Abs. 1 der Charta dar. Daher müssen sie insbesondere das in Art. 50 der Charta verbürgte Grundrecht wahren, wegen derselben Straftat nicht zweimal strafrechtlich verfolgt oder bestraft zu werden.
24 Zudem sind die durch die EMRK anerkannten Grundrechte zwar, wie Art. 6 Abs. 3 EUV bestätigt, als allgemeine Grundsätze Teil des Unionsrechts, und nach Art. 52 Abs. 3 der Charta haben die in ihr enthaltenen Rechte, die den durch die EMRK garantierten Rechten entsprechen, die gleiche Bedeutung und Tragweite, wie sie ihnen in der EMRK verliehen werden. Jedoch stellt die EMRK, solange die Europäische Union ihr nicht beigetreten ist, kein Rechtsinstrument dar, das formell in die Unionsrechtsordnung übernommen wurde (Urteile vom 26. Februar 2013, Åkerberg Fransson, C‑617/10, EU:C:2013:105, Rn. 44, sowie vom 15. Februar 2016, N., C‑601/15 PPU, EU:C:2016:84, Rn. 45 und die dort angeführte Rechtsprechung).
25 Nach den Erläuterungen zu Art. 52 der Charta soll mit dessen Abs. 3 die notwendige Kohärenz zwischen der Charta und der EMRK geschaffen werden, „ohne dass dadurch die Eigenständigkeit des Unionsrechts und des Gerichtshofs der Europäischen Union berührt wird“ (Urteile vom 15. Februar 2016, N., C‑601/15 PPU, EU:C:2016:84, Rn. 47, und vom 14. September 2017, K., C‑18/16, EU:C:2017:680, Rn. 50 und die dort angeführte Rechtsprechung).
26 Daher ist die Prüfung der Vorlagefrage anhand der durch die Charta verbürgten Grundrechte und insbesondere ihres Art. 50 vorzunehmen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 5. April 2017, Orsi und Baldetti, C‑217/15 und C‑350/15, EU:C:2017:264, Rn. 15 und die dort angeführte Rechtsprechung).
27 Art. 50 der Charta lautet: „Niemand darf wegen einer Straftat, derentwegen er bereits in der Union nach dem Gesetz rechtskräftig verurteilt oder freigesprochen worden ist, in einem Strafverfahren erneut verfolgt oder bestraft werden.“ Der Grundsatz ne bis in idem verbietet somit eine Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen, die strafrechtlicher Natur im Sinne dieses Artikels sind, gegenüber derselben Person wegen derselben Tat (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 26. Februar 2013, Åkerberg Fransson, C‑617/10, EU:C:2013:105, Rn. 34).
Zur strafrechtlichen Natur der Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen
28 Für die Beurteilung der strafrechtlichen Natur von Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen wie den im Ausgangsverfahren fraglichen sind nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs drei Kriterien maßgebend: erstens die rechtliche Einordnung der Zuwiderhandlung im innerstaatlichen Recht, zweitens die Art der Zuwiderhandlung und drittens der Schweregrad der dem Betroffenen drohenden Sanktion (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 5. Juni 2012, Bonda, C‑489/10, EU:C:2012:319, Rn. 37, und vom 26. Februar 2013, Åkerberg Fransson, C‑617/10, EU:C:2013:105, Rn. 35).
29 Zwar ist es Sache des vorlegenden Gerichts, anhand der genannten Kriterien zu beurteilen, ob die im Ausgangsverfahren fraglichen straf- und verwaltungsrechtlichen Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen im Sinne von Art. 50 der Charta strafrechtlicher Natur sind, doch kann der Gerichtshof in seiner Vorabentscheidung Klarstellungen vornehmen, um dem nationalen Gericht eine Richtschnur für seine Auslegung zu geben (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 5. Juni 2014, Mahdi, C‑146/14 PPU, EU:C:2014:1320, Rn. 79 und die dort angeführte Rechtsprechung).
30 Im vorliegenden Fall ist zunächst festzustellen, dass die Verfolgung von Herrn Ricucci in einem Strafverfahren und die gegen ihn verhängte Freiheitsstrafe, die in Rn. 14 des vorliegenden Urteils erwähnt worden sind, anhand der in Rn. 28 des vorliegenden Urteils angeführten Kriterien zweifelsfrei als strafrechtlich einzustufen sind. Hingegen stellt sich die Frage, ob die Geldbuße als Verwaltungssanktion und das Verwaltungsverfahren, die im Ausgangsverfahren in Rede stehen, strafrechtlicher Natur im Sinne von Art. 50 der Charta sind.
31 Hinsichtlich des ersten in Rn. 28 des vorliegenden Urteils angeführten Kriteriums ergibt sich insoweit aus der dem Gerichtshof vorliegenden Akte, dass das Verfahren, das zur Verhängung der Verwaltungssanktion führte, im nationalen Recht als Verwaltungsverfahren eingestuft wird.
32 Die Anwendung von Art. 50 der Charta beschränkt sich jedoch nicht allein auf Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen, die im nationalen Recht als „strafrechtlich“ eingestuft werden, sondern erstreckt sich – unabhängig von einer solchen innerstaatlichen Einordnung – auf Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen, die nach den beiden anderen in Rn. 28 angeführten Kriterien strafrechtlicher Natur sind.
33 In Bezug auf das zweite Kriterium, das sich auf die Art der Zuwiderhandlung bezieht, ist zu prüfen, ob die fragliche Sanktion insbesondere eine repressive Zielsetzung verfolgt (vgl. Urteil vom 5. Juni 2012, Bonda, C‑489/10, EU:C:2012:319, Rn. 39). Dem ist zu entnehmen, dass eine Sanktion mit repressiver Zielsetzung strafrechtlicher Natur im Sinne von Art. 50 der Charta ist und dass der bloße Umstand, dass sie auch eine präventive Zielsetzung verfolgt, ihr nicht ihre Einstufung als strafrechtliche Sanktion nehmen kann. Wie der Generalanwalt in Nr. 64 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, liegt es nämlich in der Natur strafrechtlicher Sanktionen, dass sie sowohl auf die Repression als auch auf die Prävention rechtswidriger Verhaltensweisen abzielen. Dagegen ist eine Maßnahme, die nur den durch die Straftat entstandenen Schaden ersetzen soll, nicht strafrechtlicher Natur.
34 Im vorliegenden Fall sieht Art. 187ter TUF vor, dass als Verwaltungssanktion mit einer Geldbuße in Höhe von 20000 bis 5 Mio. Euro belegt wird, wer Marktmanipulation betrieben hat, wobei diese Sanktion nach Abs. 5 dieses Artikels unter bestimmten Umständen bis zum Dreifachen dieses Betrags oder bis zum Zehnfachen des Ertrags oder des Gewinns aus der Zuwiderhandlung, je nachdem, welcher Betrag höher ist, erhöht werden kann. Die italienische Regierung hat zudem in ihren beim Gerichtshof eingereichten Erklärungen darauf hingewiesen, dass die Anwendung dieser Sanktion immer mit der Einziehung des Ertrags oder des Gewinns aus der Straftat und der bei ihrer Begehung verwendeten Gegenstände verbunden sei. Somit ist davon auszugehen, dass diese Sanktion nicht nur den durch die Straftat entstandenen Schaden ersetzen soll, sondern auch eine repressive Zielsetzung verfolgt, was im Übrigen auch der Einschätzung des vorlegenden Gerichts entspricht, so dass sie strafrechtlicher Natur ist.
35 Zum dritten Kriterium ist darauf hinzuweisen, dass eine als Verwaltungssanktion verhängte Geldbuße, die einen Betrag bis zum Zehnfachen des Ertrags oder des Gewinns aus der Zuwiderhandlung erreichen kann, einen hohen Schweregrad aufweist, der geeignet ist, die Einschätzung zu stützen, dass die Sanktion strafrechtlicher Natur im Sinne von Art. 50 der Charta ist. Dies zu prüfen ist jedoch Sache des vorlegenden Gerichts.
Zum Vorliegen derselben Straftat
36 Schon aus dem Wortlaut von Art. 50 der Charta geht hervor, dass er es verbietet, dieselbe Person mehr als einmal wegen derselben Straftat in einem Strafverfahren zu verfolgen oder zu bestrafen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 5. April 2017, Orsi und Baldetti, C‑217/15 und C‑350/15, EU:C:2017:264, Rn. 18). Wie das vorlegende Gericht in seiner Vorlageentscheidung ausführt, richten sich die verschiedenen Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen strafrechtlicher Natur, um die es im Ausgangsverfahren geht, gegen dieselbe Person, nämlich gegen Herrn Ricucci.
37 Für die Beurteilung, ob es sich um dieselbe Straftat handelt, ist nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs das Kriterium der Identität der materiellen Tat maßgebend, verstanden als das Vorliegen einer Gesamtheit konkreter, unlösbar miteinander verbundener Umstände, die zum Freispruch oder zur rechtskräftigen Verurteilung des Betroffenen geführt haben (vgl. entsprechend Urteile vom 18. Juli 2007, Kraaijenbrink, C‑367/05, EU:C:2007:444, Rn. 26 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie vom 16. November 2010, Mantello, C‑261/09, EU:C:2010:683, Rn. 39 und 40). Art. 50 der Charta verbietet somit, wegen derselben Tat am Ende verschiedener zu diesem Zweck durchgeführter Verfahren mehrere Sanktionen strafrechtlicher Natur zu verhängen.
38 Ferner sind die rechtliche Einordnung der Tat nach nationalem Recht und das geschützte rechtliche Interesse für die Feststellung, ob dieselbe Straftat vorliegt, nicht erheblich, da die Reichweite des in Art. 50 der Charta gewährten Schutzes nicht von einem Mitgliedstaat zum anderen unterschiedlich sein kann.
39 Im vorliegenden Fall weist das vorlegende Gericht darauf hin, dass Herrn Ricucci sowohl in dem Strafverfahren, das zu seiner rechtskräftigen strafrechtlichen Verurteilung geführt hat, als auch im Verfahren strafrechtlicher Natur zur Verhängung einer Geldbuße als Verwaltungssanktion, um das es im Ausgangsverfahren geht, dieselben Manipulationen vorgeworfen wurden, mit denen die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf die Wertpapiere von RCS MediaGroup gelenkt werden sollte.
40 Die Consob führt zwar in ihren schriftlichen Erklärungen aus, dass die Verhängung einer strafrechtlichen Sanktion am Ende eines Strafverfahrens wie des im Ausgangsverfahren fraglichen – im Gegensatz zu der in Rede stehenden Geldbuße als Verwaltungssanktion strafrechtlicher Natur – ein subjektives Element verlange. Jedoch kann der Umstand, dass die Verhängung dieser strafrechtlichen Sanktion von einem im Vergleich zur Geldbuße als Verwaltungssanktion strafrechtlicher Natur zusätzlichen Tatbestandsmerkmal abhängt, für sich allein die Identität der betreffenden materiellen Tat nicht in Frage stellen. Vorbehaltlich einer Überprüfung durch das vorlegende Gericht scheinen daher die Geldbuße als Verwaltungssanktion strafrechtlicher Natur und das Strafverfahren, um die es im Ausgangsverfahren geht, dieselbe Straftat zu betreffen.
41 Somit ist davon auszugehen, dass es nach der im Ausgangsverfahren fraglichen nationalen Regelung zulässig ist, gegen eine Person wie Herrn Ricucci wegen rechtswidriger Marktmanipulation, wegen der sie bereits rechtskräftig strafrechtlich verurteilt wurde, ein Verfahren zur Verhängung einer Geldbuße als Verwaltungssanktion strafrechtlicher Natur im Sinne von Art. 50 der Charta fortzusetzen. Eine solche Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen stellt aber eine Einschränkung des in diesem Artikel verbürgten Rechts dar.
Zur Rechtfertigung der Einschränkung des in Art. 50 der Charta verbürgten Rechts
42 Der Gerichtshof hat in seinem Urteil vom 27. Mai 2014, Spasic (C‑129/14 PPU, EU:C:2014:586, Rn. 55 und 56), entschieden, dass eine Einschränkung des in Art. 50 der Charta verbürgten Grundsatzes ne bis in idem nach Art. 52 Abs. 1 der Charta gerechtfertigt werden kann.
43 Gemäß Art. 52 Abs. 1 Satz 1 der Charta muss jede Einschränkung der Ausübung der in der Charta anerkannten Rechte und Freiheiten gesetzlich vorgesehen sein und den Wesensgehalt dieser Rechte und Freiheiten achten. Nach Art. 52 Abs. 1 Satz 2 dürfen Einschränkungen dieser Rechte und Freiheiten unter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit nur vorgenommen werden, wenn sie erforderlich sind und den von der Union anerkannten dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen oder den Erfordernissen des Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer tatsächlich entsprechen.
44 Im vorliegenden Fall ist unstreitig, dass die Möglichkeit, strafrechtliche Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen mit verwaltungsrechtlichen Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen strafrechtlicher Natur zu kumulieren, gesetzlich vorgesehen ist.
45 Zudem wahrt eine nationale Regelung wie die im Ausgangsverfahren fragliche den Wesensgehalt von Art. 50 der Charta. Sie lässt eine solche Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen nämlich nur unter abschließend festgelegten Voraussetzungen zu und stellt damit sicher, dass das in Art. 50 verbürgte Recht als solches nicht in Frage gestellt wird.
46 Hinsichtlich der Frage, ob die Einschränkung des Grundsatzes ne bis in idem, die sich aus einer nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren fraglichen ergibt, einer dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzung entspricht, ist der dem Gerichtshof vorliegenden Akte zu entnehmen, dass mit dieser Regelung die Integrität der Finanzmärkte der Union und das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Finanzinstrumente geschützt werden soll. In Anbetracht der Bedeutung, die die Rechtsprechung des Gerichtshofs der Bekämpfung von Verstößen gegen das Verbot der Marktmanipulation zur Erreichung dieses Ziels beimisst (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 23. Dezember 2009, Spector Photo Group und Van Raemdonck, C‑45/08, EU:C:2009:806, Rn. 37 und 42), kann eine Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen strafrechtlicher Natur gerechtfertigt sein, wenn zur Erreichung eines solchen Ziels mit diesen Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen komplementäre Zwecke verfolgt werden, die gegebenenfalls verschiedene Aspekte desselben rechtswidrigen Verhaltens betreffen, was zu prüfen Sache des vorlegenden Gerichts ist.
47 Insoweit erscheint es bei Zuwiderhandlungen im Zusammenhang mit Marktmanipulationen legitim, dass ein Mitgliedstaat zum einen mit der Verhängung von gegebenenfalls pauschal festgesetzten Verwaltungssanktionen von jedem vorsätzlichen oder nicht vorsätzlichen Verstoß gegen das Verbot der Marktmanipulation abschrecken und ihn ahnden will, und zum anderen von schweren Verstößen gegen dieses Verbot, die für die Gesellschaft besonders schädlich sind und die Verhängung schwererer strafrechtlicher Sanktionen rechtfertigen, abschrecken und sie ahnden will.
48 Zur Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit ist festzustellen, dass nach diesem Grundsatz die in einer nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren fraglichen vorgesehene Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen nicht die Grenzen dessen überschreiten darf, was zur Erreichung der mit dieser Regelung zulässigerweise verfolgten Ziele geeignet und erforderlich ist; stehen mehrere geeignete Maßnahmen zur Auswahl, ist die am wenigsten belastende zu wählen, und die durch sie bedingten Nachteile müssen in angemessenem Verhältnis zu den angestrebten Zielen stehen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 25. Februar 2010, Müller Fleisch, C‑562/08, EU:C:2010:93, Rn. 43, vom 9. März 2010, ERG u. a., C‑379/08 und C‑380/08, EU:C:2010:127, Rn. 86, sowie vom 19. Oktober 2016, EL-EM-2001, C‑501/14, EU:C:2016:777, Rn. 37 und 39 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).
49 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass die Mitgliedstaaten nach Art. 14 Abs. 1 der Richtlinie 2003/6 in Verbindung mit ihrem Art. 5 frei wählen können, mit welchen Sanktionen sie Personen belegen, die für Marktmanipulationen verantwortlich sind (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 23. Dezember 2009, Spector Photo Group und Van Raemdonck, C‑45/08, EU:C:2009:806, Rn. 71 und 72). In Ermangelung einer Harmonisierung des Unionsrechts auf diesem Gebiet dürfen die Mitgliedstaaten daher sowohl eine Regelung vorsehen, in der Verstöße gegen das Verbot der Marktmanipulation nur einmal Gegenstand von Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen sein können, als auch eine Regelung, die eine Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen zulässt. Der bloße Umstand, dass sich der betreffende Mitgliedstaat für die Möglichkeit einer solchen Kumulierung entschieden hat, kann mithin die Verhältnismäßigkeit einer nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren fraglichen nicht in Zweifel ziehen, da dem Mitgliedstaat sonst diese Wahlfreiheit genommen würde.
50 Dies vorausgeschickt, ist festzustellen, dass eine nationale Regelung wie die im Ausgangsverfahren fragliche, die eine solche Kumulierungsmöglichkeit vorsieht, zur Erreichung des in Rn. 46 des vorliegenden Urteils genannten Ziels geeignet ist.
51 Zur zwingenden Erforderlichkeit einer nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren fraglichen ist zunächst darauf hinzuweisen, dass sie klare und präzise Regeln aufstellen muss, die es den Bürgern ermöglichen, vorherzusehen, bei welchen Handlungen und Unterlassungen eine solche Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen in Frage kommt.
52 Wie sich aus der dem Gerichtshof vorliegenden Akte ergibt, sieht im vorliegenden Fall die im Ausgangsverfahren fragliche nationale Regelung, insbesondere Art. 187ter TUF, vor, unter welchen Voraussetzungen die Verbreitung falscher Informationen und die Vortäuschung von Geschäften mit einer Geldbuße als Verwaltungssanktion strafrechtlicher Natur geahndet werden können, wenn diese Handlungen falsche oder irreführende Signale in Bezug auf Finanzinstrumente geben können. Nach Art. 187ter TUF können unter den in Art. 185 TUF genannten Voraussetzungen auch eine Freiheitsstrafe und eine Geldstrafe wegen solcher Handlungen verhängt werden, wenn diese konkret geeignet sind, den Preis von Finanzinstrumenten erheblich zu verändern.
53 Vorbehaltlich der Überprüfung durch das vorlegende Gericht ist somit davon auszugehen, dass die im Ausgangsverfahren fragliche nationale Regelung klar und präzise vorsieht, unter welchen Umständen bei Marktmanipulationen eine Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen strafrechtlicher Natur in Frage kommt.
54 Sodann muss eine nationale Regelung wie die im Ausgangsverfahren fragliche sicherstellen, dass die Belastungen, die sich aus einer solchen Kumulierung für die Betroffenen ergeben, auf das zur Erreichung des in Rn. 46 des vorliegenden Urteils genannten Ziels zwingend Erforderliche beschränkt bleiben.
55 Was zum einen die Kumulierung von Verfahren strafrechtlicher Natur betrifft, die, wie aus der Akte hervorgeht, unabhängig voneinander durchgeführt werden, folgt aus der in der vorstehenden Randnummer genannten Anforderung, dass es Regeln zur Gewährleistung einer Koordinierung geben muss, um die mit einer solchen Kumulierung verbundene zusätzliche Belastung für die Betroffenen auf das zwingend Erforderliche zu beschränken.
56 Zum anderen muss die Kumulierung von Sanktionen strafrechtlicher Natur von Regeln begleitet sein, mit denen sichergestellt werden kann, dass die Schwere aller verhängten Sanktionen der Schwere der betreffenden Straftat entspricht, wobei sich eine solche Anforderung nicht nur aus Art. 52 Abs. 1 der Charta ergibt, sondern auch aus dem in Art. 49 Abs. 3 der Charta verankerten Grundsatz der Verhältnismäßigkeit von Strafen. Diese Regeln müssen die zuständigen Behörden dazu verpflichten, im Fall der Verhängung einer zweiten Sanktion dafür zu sorgen, dass die Schärfe aller verhängten Sanktionen nicht die Schwere der festgestellten Straftat überschreitet.
57 Im vorliegenden Fall kann zwar die in Art. 187decies TUF vorgesehene Verpflichtung zur Zusammenarbeit und Koordinierung zwischen der Staatsanwaltschaft und der Consob die Belastung verringern, die sich für den Betroffenen aus der Kumulierung eines Verfahrens zur Verhängung einer Geldbuße als Verwaltungssanktion strafrechtlicher Art und eines Strafverfahrens wegen rechtswidriger Marktmanipulation ergibt. Doch geht in den Fällen, in denen ein Strafverfahren mit einer strafrechtlichen Verurteilung nach Art. 185 TUF geendet hat, die Fortsetzung des Verfahrens zur Verhängung einer Geldbuße als Verwaltungssanktion strafrechtlicher Natur über das hinaus, was zur Erreichung des in Rn. 46 des vorliegenden Urteils genannten Ziels zwingend erforderlich ist, sofern die strafrechtliche Verurteilung geeignet ist, die begangene Straftat wirksam, verhältnismäßig und abschreckend zu ahnden.
58 Insoweit ist den in Rn. 52 des vorliegenden Urteils zusammengefassten Angaben in der dem Gerichtshof vorliegenden Akte zu entnehmen, dass die für eine strafrechtliche Verurteilung nach Art. 185 TUF in Betracht kommenden Marktmanipulationen eine gewisse Schwere aufweisen müssen und dass als Strafen gemäß dieser Bestimmung Freiheitsstrafen und Geldstrafen in Betracht kommen, wobei die Spanne Letzterer derjenigen entspricht, die für die in Art. 187ter TUF geregelte Geldbuße als Verwaltungssanktion strafrechtlicher Natur vorgesehen ist.
59 Somit ist davon auszugehen, dass die Fortsetzung eines Verfahrens zur Verhängung einer Geldbuße als Verwaltungssanktion strafrechtlicher Natur nach Art. 187ter TUF über das hinausginge, was zur Erreichung des in Rn. 46 des vorliegenden Urteils angeführten Ziels zwingend erforderlich ist, sofern die rechtskräftige strafrechtliche Verurteilung unter Berücksichtigung des der Gesellschaft durch die begangene Straftat zugefügten Schadens geeignet wäre, diese Straftat wirksam, verhältnismäßig und abschreckend zu ahnden. Dies zu prüfen ist Sache des vorlegenden Gerichts.
60 In Bezug auf die Kumulierung von Sanktionen, die nach der im Ausgangsverfahren fraglichen Regelung zulässig ist, ist hinzuzufügen, dass diese Regelung in Art. 187terdecies TUF nur vorzusehen scheint, dass sich, wenn wegen derselben Tat eine Geldstrafe und eine Geldbuße als Verwaltungssanktion strafrechtlicher Natur verhängt wurden, die Erhebung der Geldstrafe auf den Teil beschränkt, der den Betrag der Geldbuße übersteigt. Da Art. 187terdecies TUF nur die Kumulierung von Geldstrafen und Geldbußen und nicht die Kumulierung einer Geldbuße als Verwaltungssanktion strafrechtlicher Natur mit einer Freiheitsstrafe zu betreffen scheint, ist davon auszugehen, dass er keine Gewähr dafür bietet, dass die Schwere aller verhängten Sanktionen auf das beschränkt bleibt, was aufgrund der Schwere der betreffenden Straftat zwingend erforderlich ist.
61 Somit ist davon auszugehen, dass eine nationale Regelung wie die im Ausgangsverfahren fragliche, wonach die Fortführung eines Verfahrens zur Verhängung einer Geldbuße als Verwaltungssanktion strafrechtlicher Natur nach einer rechtskräftigen strafrechtlichen Verurteilung unter den in der vorstehenden Randnummer angeführten Voraussetzungen zulässig ist, über das hinausgeht, was zur Erreichung des in Rn. 46 des vorliegenden Urteils angeführten Ziels zwingend erforderlich ist. Dies zu prüfen ist jedoch Sache des vorlegenden Gerichts.
62 Dieses Ergebnis wird nicht durch den Umstand in Frage gestellt, dass die in Anwendung von Art. 185 TUF verhängte rechtskräftige Strafe gegebenenfalls zu einem späteren Zeitpunkt im Wege einer Begnadigung erlassen werden kann, wie dies im Ausgangsverfahren wohl der Fall war. Aus Art. 50 der Charta ergibt sich nämlich, dass der durch den Grundsatz ne bis in idem gewährte Schutz Personen zugutekommen muss, die bereits freigesprochen oder durch ein rechtskräftiges Strafurteil verurteilt wurden, und damit auch denjenigen, die durch ein solches Urteil mit einer später im Wege einer Begnadigung erlassenen strafrechtlichen Sanktion belegt wurden. Daher ist ein solcher Umstand für die Beurteilung der zwingenden Erforderlichkeit einer nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren fraglichen unerheblich.
63 Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 50 der Charta dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung entgegensteht, nach der es zulässig ist, gegen eine Person ein Verfahren zur Verhängung einer Geldbuße als Verwaltungssanktion strafrechtlicher Natur wegen rechtswidriger Marktmanipulationen fortzusetzen, wegen denen sie bereits rechtskräftig strafrechtlich verurteilt wurde, sofern diese Verurteilung unter Berücksichtigung des der Gesellschaft durch die begangene Straftat zugefügten Schadens geeignet ist, die Straftat wirksam, verhältnismäßig und abschreckend zu ahnden.
Zur zweiten Frage
64 Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob der in Art. 50 der Charta verbürgte Grundsatz ne bis in idem dem Einzelnen ein Recht verleiht, das im Rahmen eines Rechtsstreits wie dem des Ausgangsverfahrens unmittelbar anwendbar ist.
65 Nach ständiger Rechtsprechung lassen die Bestimmungen des Primärrechts, die klare und unbedingte Verpflichtungen aufstellen, deren Anwendung kein weiteres Eingreifen der Unionsbehörden oder der nationalen Behörden erfordert, unmittelbar in der Person der Bürger Rechte entstehen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 1. Juli 1969, Brachfeld und Chougol Diamond, 2/69 und 3/69, EU:C:1969:30, Rn. 22 und 23, sowie vom 20. September 2001, Banks, C‑390/98, EU:C:2001:456, Rn. 91).
66 Das Recht, das Art. 50 der Charta dem Einzelnen verleiht, ist aber schon nach dessen Wortlaut durch nichts bedingt und daher im Rahmen eines Rechtsstreits wie dem des Ausgangsverfahrens unmittelbar anwendbar.
67 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof die unmittelbare Wirkung von Art. 50 der Charta bereits anerkannt hat, indem er in Rn. 45 des Urteils vom 26. Februar 2013, Åkerberg Fransson (C‑617/10, EU:C:2013:105), festgestellt hat, dass das nationale Gericht, das im Rahmen seiner Zuständigkeit die Bestimmungen des Unionsrechts anzuwenden hat, bei der Prüfung der Vereinbarkeit von Bestimmungen des innerstaatlichen Rechts mit den durch die Charta verbürgten Rechten gehalten ist, für die volle Wirksamkeit dieser Normen Sorge zu tragen, indem es erforderlichenfalls jede – auch spätere – entgegenstehende Bestimmung des nationalen Rechts aus eigener Entscheidungsbefugnis unangewandt lässt, ohne dass es die vorherige Beseitigung dieser Bestimmung auf gesetzgeberischem Wege oder durch irgendein anderes verfassungsrechtliches Verfahren beantragen oder abwarten müsste.
68 Folglich ist auf die zweite Frage zu antworten, dass der in Art. 50 der Charta verbürgte Grundsatz ne bis in idem dem Einzelnen ein Recht verleiht, das im Rahmen eines Rechtsstreits wie dem des Ausgangsverfahrens unmittelbar anwendbar ist.
Kosten
69 Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Große Kammer) für Recht erkannt:
1. Art. 50 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union ist dahin auszulegen, dass er einer nationalen Regelung entgegensteht, nach der es zulässig ist, gegen eine Person ein Verfahren zur Verhängung einer Geldbuße als Verwaltungssanktion strafrechtlicher Natur wegen rechtswidriger Marktmanipulationen fortzusetzen, wegen denen sie bereits rechtskräftig strafrechtlich verurteilt wurde, sofern diese Verurteilung unter Berücksichtigung des der Gesellschaft durch die begangene Straftat zugefügten Schadens geeignet ist, die Straftat wirksam, verhältnismäßig und abschreckend zu ahnden.
2. Der in Art. 50 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union verbürgte Grundsatz ne bis in idem verleiht dem Einzelnen ein Recht, das im Rahmen eines Rechtsstreits wie dem des Ausgangsverfahrens unmittelbar anwendbar ist.
Unterschriften
(*1) Verfahrenssprache: Italienisch.
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Beschluss des Gerichtshofs (Erste Kammer) vom 6. September 2017.#Peter Schotthöfer & Florian Steiner GbR gegen Eugen Adelsmayr.#Vorabentscheidungsersuchen des Bezirksgerichts Linz.#Vorlage zur Vorabentscheidung – Art. 99 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs – Auslieferung eines Angehörigen eines Mitgliedstaats der Europäischen Union an einen Drittstaat, wo für ihn das Risiko der Todesstrafe besteht – Unionsbürgerschaft – Art. 18 und 21 AEUV – Art. 19 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Schutz vor Auslieferung.#Rechtssache C-473/15.
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62015CO0473
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ECLI:EU:C:2017:633
| 2017-09-06T00:00:00 |
Bot, Gerichtshof
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62015CO0473
BESCHLUSS DES GERICHTSHOFS (Erste Kammer)
6. September 2017 (*1)
„Vorlage zur Vorabentscheidung – Art. 99 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs – Auslieferung eines Angehörigen eines Mitgliedstaats der Europäischen Union an einen Drittstaat, wo für ihn das Risiko der Todesstrafe besteht – Unionsbürgerschaft – Art. 18 und 21 AEUV – Art. 19 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Schutz vor Auslieferung“
In der Rechtssache C‑473/15
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Bezirksgericht Linz (Österreich) mit Entscheidung vom 24. Juli 2015, beim Gerichtshof eingegangen am 7. September 2015, in dem Verfahren
Peter Schotthöfer & Florian Steiner GbR
gegen
Eugen Adelsmayr
erlässt
DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)
unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin R. Silva de Lapuerta sowie der Richter E. Regan, J.‑C. Bonichot, A. Arabadjiev und C. G. Fernlund (Berichterstatter),
Generalanwalt: Y. Bot,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
–
der Peter Schotthöfer & Florian Steiner GbR, vertreten durch die Rechtsanwälte A. Hawel, E. Eypeltauer, A. Gigleitner und N. Fischer,
–
der österreichischen Regierung, vertreten durch C. Pesendorfer als Bevollmächtigte,
–
der tschechischen Regierung, vertreten durch J. Vláčil und M. Smolek als Bevollmächtigte,
–
von Irland, vertreten durch E. Creedon, L. Williams, D. Kelly und A. Joyce als Bevollmächtigte im Beistand von M. Gray, Barrister,
–
der ungarischen Regierung, vertreten durch M. M. Tátrai und M. Z. Fehér als Bevollmächtigte,
–
der Europäischen Kommission, vertreten durch R. Troosters und S. Grünheid als Bevollmächtigte,
aufgrund der nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Entscheidung, gemäß Art. 99 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs durch mit Gründen versehenen Beschluss zu entscheiden,
folgenden
Beschluss
1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 18 AEUV sowie von Art. 6, Art. 19 Abs. 2, Art. 47 und Art. 50 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta).
2 Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Peter Schotthöfer & Florian Steiner GbR und Herrn Eugen Adelsmayr betreffend eine Entschädigung, die gezahlt werden soll, weil ein Vertrag wegen der Befürchtung, ausgeliefert zu werden, aufgelöst worden ist.
Ausgangsverfahren und Vorlagefragen
3 Peter Schotthöfer & Florian Steiner, eine in München (Deutschland) niedergelassene Anwaltskanzlei, lud Herrn Adelsmayr, einen in Österreich wohnhaften österreichischen Arzt, ein, im Januar 2015 vor ihren Mandanten einen Vortrag über die Arbeitsbedingungen und die Rechtsverfolgung in den Vereinigten Arabischen Emiraten zu halten, wo er ab dem Jahr 2004 mehrere Jahre lang als Anästhesist und Intensivmediziner gearbeitet hatte.
4 Im Februar 2009 verstarb ein von Herrn Adelsmayr in den Vereinigten Arabischen Emiraten behandelter, schwer kranker Patient, der mehrere Herzstillstände erlitten hatte, nach einer Operation an einem weiteren Herzstillstand. Herrn Adelsmayr wurde dieser Todesfall vorgeworfen.
5 Nach einer Beschwerde eines Arztes des Krankenhauses, in dem Herr Adelsmayr tätig war, wurde von ebendiesem Arzt eine Untersuchung geleitet. Im Endbericht war von Mord und Totschlag die Rede.
6 2011 begann ein Prozess in Dubai (Vereinigte Arabische Emirate), in dem die Staatsanwaltschaft die Todesstrafe für Herrn Adelsmayr forderte. Im Jahr 2012 reiste dieser jedoch aus den Vereinigten Arabischen Emiraten aus. In seiner Abwesenheit wurde er in einem Provisorialverfahren zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt. Das ursprüngliche Verfahren kann jederzeit wieder aufgenommen werden und zu einer Verurteilung des Betroffenen zur Todesstrafe führen.
7 In Österreich wurde ebenfalls ein Strafverfahren gegen Herrn Adelsmayr eingeleitet, das die Anklage gegen ihn in den Vereinigten Arabischen Emiraten betraf. Dieses Verfahren wurde aber am 5. Mai 2014 von der österreichischen Staatsanwaltschaft eingestellt, und es wurde ausgeführt, dass „der Beklagte glaubhaft den Eindruck vermitteln konnte, dass es sich bei dem in Dubai angestrengten Verfahren mutmaßlich um eine Hetzkampagne gegen ihn gehandelt habe“.
8 Herr Adelsmayr erhielt von den österreichischen Behörden die Empfehlung, einzelne Staaten anzuschreiben, um zu überprüfen, ob er in ihr Hoheitsgebiet einreisen könne, ohne Gefahr zu laufen, an die Behörden der Vereinigten Arabischen Emirate übergeben zu werden.
9 Im Oktober 2014 erhielt Herr Adelsmayr das Angebot von Peter Schotthöfer & Florian Steiner betreffend den in Rn. 3 des vorliegenden Beschlusses angeführten Vortrag. Dieses Angebot hat zur Unterzeichnung eines Vertrags geführt.
10 Punkt 5.1 dieses Vertrags über die Zahlung einer Entschädigung im Fall der Auflösung des Vertrags lautet:
„Der Vortragende verpflichtet sich, im Falle der Absage des gegenständlichen Vortrages aus vom Vortragenden schuldhaft zu vertretenden Gründen bis spätestens 1 Monat vor dem Vortragstermin einen pauschalen Aufwandersatz in Höhe von EUR 150,00 an die Veranstalter zu leisten.“
11 Ende November 2014 kamen Herrn Adelsmayr in Folge von Irritationen zwischen der Republik Österreich und dem Königreich Saudi Arabien Bedenken bei der Vorstellung, sich nach Deutschland zu begeben, um dort diesen Vortrag zu halten. Er beantragte bei den deutschen Behörden, die Verfügung eines „freien Geleits“ zu erteilen, und erläuterte, dass eine Antwort dringlich sei, da die Absage des Vortrags nach dem 15. Dezember 2014 nicht mehr möglich sei.
12 Da Herr Adelsmayr am 12. Dezember 2014 noch keine Antwort der deutschen Behörden erhalten hatte, sagte er den Vortrag bei Peter Schotthöfer & Florian Steiner schriftlich ab.
13 Unter Berufung auf Punkt 5.1 des mit Herrn Adelsmayr geschlossenen Vertrags richtete Peter Schotthöfer & Florian Steiner an diesen eine Zahlungsaufforderung zur Bezahlung von 150 Euro, der am 3. Februar 2015 eine Mahnklage folgte.
14 Das vorlegende Gericht weist darauf hin, dass zum Zeitpunkt der Anrufung des Gerichtshofs kein internationaler Haftbefehl gegen Herrn Adelsmayr ausgestellt worden sei. Das vorlegende Gericht fragt sich, ob die Absage des Vortrags aus vom Betroffenen schuldhaft zu vertretenden Gründen erfolgte oder ob dessen Bedenken, in Deutschland einzureisen, begründet sind.
15 Unter diesen Umständen hat das Bezirksgericht Linz (Österreich) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
1. Ist der in Art. 18 AEUV verankerte Grundsatz der Nichtdiskriminierung dahin gehend auszulegen, dass für den Fall, dass ein Mitgliedstaat in seiner Rechtsordnung eine Bestimmung wie Art. 16 Abs. 2 Deutsches Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland verankert hat, welche ein Verbot der Auslieferung eigener Staatsangehöriger an Drittstaaten vorsieht, dies auch auf Staatsangehörige anderer Mitgliedstaaten anzuwenden ist, die sich im betreffenden Mitgliedstaat aufhalten?
2. Sind Art. 19 Abs. 2 sowie Art. 47 der Charta dahin gehend auszulegen, dass ein Mitgliedstaat der Europäischen Union ein Auslieferungsersuchen eines Drittstaates betreffend einen auf dem Territorium des betreffenden Mitgliedstaats aufhältigen Unionsbürger abzulehnen hat, sofern das dem Auslieferungsersuchen zugrunde liegende Strafverfahren mitsamt Abwesenheitsurteil im Drittstaat nicht mit dem völkerrechtlichen Mindeststandard und den unabdingbaren Grundsätzen der öffentlichen Ordnung der Union („ordre public“) sowie dem Grundsatz eines fairen Verfahrens vereinbar war?
3. Ist schließlich der in Art. 50 der Charta bzw. durch die Rechtsprechung des Gerichtshofs geschützte Grundsatz des „ne bis in idem“ dahin gehend auszulegen, dass für den Fall einer Erstverurteilung in einem Drittstaat und einer nachfolgenden Verfahrenseinstellung mangels tatsächlichen Grundes zur weiteren Verfolgung in einem Mitgliedstaat der Europäischen Union ein Hemmnis für die weitere Verfolgung durch den Drittstaat erwächst?
4. Ist für den Fall der Bejahung einer der drei Fragen 1. bis 3. insbesondere Art. 6 („Recht auf Freiheit“) der Charta dahin gehend auszulegen, dass ein Unionsbürger im Falle eines Auslieferungsersuchens eines Drittstaates auch nicht in Auslieferungshaft genommen werden darf?
Zu den Vorlagefragen
16 Nach Art. 99 seiner Verfahrensordnung kann der Gerichtshof, wenn eine zur Vorabentscheidung vorgelegte Frage mit einer Frage übereinstimmt, über die er bereits entschieden hat, wenn die Antwort auf eine solche Frage klar aus der Rechtsprechung abgeleitet werden kann oder wenn die Beantwortung der zur Vorabentscheidung vorgelegten Frage keinen Raum für vernünftige Zweifel lässt, auf Vorschlag des Berichterstatters und nach Anhörung des Generalanwalts jederzeit die Entscheidung treffen, durch mit Gründen versehenen Beschluss zu entscheiden.
17 Diese Bestimmung ist in der vorliegenden Rechtssache anzuwenden.
18 Mit seiner zweiten Frage, die zuerst zu prüfen ist, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 19 Abs. 2 und Art. 47 der Charta dahin auszulegen sind, dass das Auslieferungsersuchen eines Drittstaats betreffend einen Unionsbürger, der von seiner Freizügigkeit Gebrauch macht und seinen Ursprungsmitgliedstaat verlässt, um sich in einem anderen Mitgliedstaat aufzuhalten, von diesem Mitgliedstaat abzulehnen ist, wenn für diesen Bürger im Fall der Auslieferung das ernsthafte Risiko der Todesstrafe besteht.
19 Was die Anwendbarkeit der Charta auf eine Rechtssache wie die des Ausgangsverfahrens betrifft, ist darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof bereits entschieden hat, dass die Entscheidung eines Mitgliedstaats, einen Unionsbürger in einer Situation auszuliefern, in der dieser von seinem Recht auf Freizügigkeit in der Union Gebrauch gemacht hat, indem er sich vom Mitgliedstaat seiner Staatsangehörigkeit in einen anderen Mitgliedstaat begeben hat, in den Anwendungsbereich der Art. 18 und 21 AEUV und somit des Unionsrechts im Sinne von Art. 51 Abs. 1 der Charta fällt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. September 2016, Petruhhin, C‑182/15, EU:C:2016:630, Rn. 31 und 52).
20 Der Gerichtshof hat daraus abgeleitet, dass die Bestimmungen der Charta und insbesondere ihres Art. 19 auf eine solche Entscheidung Anwendung finden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. September 2016, Petruhhin, C‑182/15, EU:C:2016:630, Rn. 53).
21 Diese Erwägungen gelten auch in der vorliegenden Rechtssache, die die Möglichkeit eines österreichischen Staatsangehörigen betrifft, sich in einen anderen Mitgliedstaat als denjenigen seiner Staatsangehörigkeit zu begeben, im vorliegenden Fall die Bundesrepublik Deutschland, um dort einen Vortrag zu halten, und somit von seiner Freizügigkeit Gebrauch zu machen, ohne Gefahr zu laufen, ausgeliefert zu werden.
22 Was die Auslegung von Art. 19 Abs. 2 der Charta angeht, ist darauf hinzuweisen, dass nach dieser Bestimmung niemand in einen Staat abgeschoben oder ausgewiesen oder an einen Staat ausgeliefert werden darf, in dem für sie oder ihn das ernsthafte Risiko der Todesstrafe, der Folter oder einer anderen unmenschlichen oder erniedrigenden Strafe oder Behandlung besteht.
23 Der Gerichtshof hat festgestellt, dass ein Mitgliedstaat, der mit einem Antrag eines Drittstaats auf Auslieferung eines Staatsangehörigen eines anderen Mitgliedstaats befasst ist, prüfen muss, dass die Auslieferung die in Art. 19 der Charta verbürgten Rechte nicht beeinträchtigen wird (Urteil vom 6. September 2016, Petruhhin, C‑182/15, EU:C:2016:630, Rn. 60).
24 Sofern die zuständige Behörde des ersuchten Mitgliedstaats über Anhaltspunkte dafür verfügt, dass eine echte Gefahr unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung von Personen im ersuchenden Drittstaat besteht, ist sie bei der Entscheidung über die Auslieferung einer Person in den Drittstaat verpflichtet, das Vorliegen dieser Gefahr zu würdigen, indem sie sich auf objektive, zuverlässige, genaue und gebührend aktualisierte Angaben stützt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. September 2016, Petruhhin, C‑182/15, EU:C:2016:630, Rn. 58 und 59).
25 Im vorliegenden Fall führt das vorlegende Gericht aus, dass die Staatsanwaltschaft für Herrn Adelsmayr in seinem Prozess in den Vereinigten Arabischen Emiraten die Todesstrafe gefordert hat. Zudem weist das vorlegende Gericht darauf hin, dass der Betroffene bloß in einem Provisorialverfahren in Abwesenheit zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt worden ist und im Fall einer Wiederaufnahme des Strafverfahrens nach seiner Auslieferung die Todesstrafe ausgesprochen werden kann.
26 Folglich besteht für Herrn Adelsmayr im Fall der Auslieferung das „ernsthafte Risiko“ der Todesstrafe im Sinne von Art. 19 Abs. 2 der Charta.
27 Auf die zweite Frage ist daher, soweit sie Art. 19 Abs. 2 der Charta betrifft, zu antworten, dass diese Bestimmung dahin auszulegen ist, dass das Auslieferungsersuchen eines Drittstaats betreffend einen Unionsbürger, der von seiner Freizügigkeit Gebrauch macht und seinen Ursprungsmitgliedstaat verlässt, um sich in einem anderen Mitgliedstaat aufzuhalten, von diesem Mitgliedstaat abzulehnen ist, wenn für diesen Bürger im Fall der Auslieferung das ernsthafte Risiko der Todesstrafe besteht.
28 Angesichts der Antwort auf diesen Teil der zweiten Frage braucht diese Frage, soweit sie Art. 47 der Charta betrifft, ebensowenig wie die erste, die dritte und die vierte Frage geprüft zu werden.
Kosten
29 Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Erste Kammer), für Recht erkannt:
Art. 19 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union ist dahin auszulegen, dass das Auslieferungsersuchen eines Drittstaats betreffend einen Unionsbürger, der von seiner Freizügigkeit Gebrauch macht und seinen Ursprungsmitgliedstaat verlässt, um sich in einem anderen Mitgliedstaat aufzuhalten, von diesem Mitgliedstaat abzulehnen ist, wenn für diesen Bürger im Fall der Auslieferung das ernsthafte Risiko der Todesstrafe besteht.
Luxemburg, den 6. September 2017
Der Kanzler
A. Calot Escobar
Die Präsidentin der Ersten Kammer
R. Silva de Lapuerta
(*1) Verfahrenssprache: Deutsch.
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Urteil des Gerichtshofs (Zweite Kammer) vom 29. Juli 2024.#Belgian Association of Tax Lawyers u. a. gegen Premier ministre/ Eerste Minister.#Vorabentscheidungsersuchen der Cour constitutionnelle (Belgien).#Vorlage zur Vorabentscheidung – Zusammenarbeit der Verwaltungsbehörden im Bereich der Besteuerung – Verpflichtender automatischer Informationsaustausch über meldepflichtige grenzüberschreitende Gestaltungen – Richtlinie 2011/16/EU in der durch die Richtlinie (EU) 2018/822 geänderten Fassung – Art. 8ab Abs. 1 – Meldepflicht – Art. 8ab Abs. 5 – Subsidiäre Unterrichtungspflicht – Berufsgeheimnis – Gültigkeit – Art. 7, 20 und 21 sowie Art. 49 Abs. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Recht auf Achtung des Privatlebens – Grundsätze der Gleichbehandlung und der Nichtdiskriminierung – Grundsatz der Gesetzmäßigkeit in Strafsachen – Grundsatz der Rechtssicherheit.#Rechtssache C-623/22.
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62022CJ0623
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ECLI:EU:C:2024:639
| 2024-07-29T00:00:00 |
Emiliou, Gerichtshof
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Sammlung der Rechtsprechung – allgemein – Abschnitt „Informationen über nicht veröffentlichte Entscheidungen“
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62022CJ0623
URTEIL DES GERICHTSHOFS (Zweite Kammer)
29. Juli 2024 (*1)
„Vorlage zur Vorabentscheidung – Zusammenarbeit der Verwaltungsbehörden im Bereich der Besteuerung – Verpflichtender automatischer Informationsaustausch über meldepflichtige grenzüberschreitende Gestaltungen – Richtlinie 2011/16/EU in der durch die Richtlinie (EU) 2018/822 geänderten Fassung – Art. 8ab Abs. 1 – Meldepflicht – Art. 8ab Abs. 5 – Subsidiäre Unterrichtungspflicht – Berufsgeheimnis – Gültigkeit – Art. 7, 20 und 21 sowie Art. 49 Abs. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Recht auf Achtung des Privatlebens – Grundsätze der Gleichbehandlung und der Nichtdiskriminierung – Grundsatz der Gesetzmäßigkeit in Strafsachen – Grundsatz der Rechtssicherheit“
In der Rechtssache C‑623/22
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Cour constitutionnelle (Verfassungsgerichtshof, Belgien) mit Entscheid vom 15. September 2022, beim Gerichtshof eingegangen am 29. September 2022, in dem Verfahren
Belgian Association of Tax Lawyers,
SR,
FK,
Ordre des barreaux francophones et germanophone,
Orde van Vlaamse Balies,
CQ,
Instituut van de Accountants en de Belastingconsulenten,
VH,
ZS,
NI,
EX
gegen
Premier ministre/Eerste Minister,
Beteiligte:
Conseil des barreaux européens AISBL,
Conseil national des barreaux de France,
erlässt
DER GERICHTSHOF (Zweite Kammer)
unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin A. Prechal, der Richter F. Biltgen, N. Wahl und J. Passer (Berichterstatter) sowie der Richterin M. L. Arastey Sahún,
Generalanwalt: N. Emiliou,
Kanzler: N. Mundhenke, Verwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 30. November 2023,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
–
der Belgian Association of Tax Lawyers sowie von SR und FK, vertreten durch P. Malherbe, Avocat, und P. Verhaeghe, Advocaat,
–
des Ordre des barreaux francophones et germanophone, vertreten durch J. Noël und S. Scarnà, Avocats,
–
des Orde van Vlaamse Balies und von CQ, vertreten durch P. Wouters, Advocaat,
–
des Instituut van de Accountants en de Belastingconsulenten sowie von VH, ZS, NI und EX, vertreten durch F. Judo, Advocaat,
–
des Conseil national des barreaux de France, vertreten durch J.‑P. Hordies und J. Tacquet, Avocats,
–
der belgischen Regierung, vertreten durch S. Baeyens, P. Cottin und C. Pochet als Bevollmächtigte im Beistand von S. Hamerijck, Sachverständige,
–
der tschechischen Regierung, vertreten durch J. Očková, M. Smolek und J. Vláčil als Bevollmächtigte,
–
der spanischen Regierung, vertreten durch A. Ballesteros Panizo und I. Herranz Elizalde als Bevollmächtigte,
–
der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna und A. Kramarczyk-Szaładzińska als Bevollmächtigte,
–
des Rates der Europäischen Union, vertreten durch I. Gurov, K. Pavlaki und K. Pleśniak als Bevollmächtigte,
–
der Europäischen Kommission, vertreten durch A. Ferrand, W. Roels und P. J. O. Van Nuffel als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 29. Februar 2024
folgendes
Urteil
1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Beurteilung der Gültigkeit von Art. 8ab Abs. 1, 5, 6 und 7 der Richtlinie 2011/16/EU des Rates vom 15. Februar 2011 über die Zusammenarbeit der Verwaltungsbehörden im Bereich der Besteuerung und zur Aufhebung der Richtlinie 77/799/EWG (ABl. 2011, L 64, S. 1) in der durch die Richtlinie (EU) 2018/822 des Rates vom 25. Mai 2018 (ABl. 2018, L 139, S. 1) geänderten Fassung im Licht der Grundrechte, insbesondere der Art. 7, 20, 21 und Art. 49 Abs. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta), sowie des allgemeinen Grundsatzes der Rechtssicherheit.
2 Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen mehrerer Rechtsstreitigkeiten zwischen u. a. der faktischen Vereinigung Belgian Association of Tax Lawyers und anderer Personen (im Folgenden: BATL), dem Ordre des barreaux francophones et germanophone (Kammer der französischsprachigen und deutschsprachigen Rechtsanwaltschaften, im Folgenden: OBFG), dem Orde van Vlaamse Balies (Kammer der flämischen Rechtsanwaltschaften) und anderer Personen (im Folgenden: OVB) sowie dem Instituut van de Accountants en de Belastingconsulenten (Institut der Buchprüfer und Steuerberater) und anderer Personen (im Folgenden: ITAA) einerseits und dem Premier ministre/Eerste Minister (Premierminister, Belgien) andererseits über die Gültigkeit einiger Bestimmungen des Gesetzes vom 20. Dezember 2019 zur Umsetzung der Richtlinie [2018/822] (Moniteur belge vom 30. Dezember 2019, S. 119025).
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Richtlinie 98/5/EG
3 Art. 1 Abs. 2 der Richtlinie 98/5/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Februar 1998 zur Erleichterung der ständigen Ausübung des Rechtsanwaltsberufs in einem anderen Mitgliedstaat als dem, in dem die Qualifikation erworben wurde (ABl. 1998, L 77, S. 36), in der durch die Richtlinie 2013/25/EU des Rates vom 13. Mai 2013 (ABl. 2013, L 158, S. 368) geänderten Fassung (im Folgenden: Richtlinie 98/5) bestimmt:
„Für die Zwecke dieser Richtlinie bezeichnet
a)
‚Rechtsanwalt‘ jede Person, die Angehörige eines Mitgliedstaats ist und ihre beruflichen Tätigkeiten unter einer der folgenden Berufsbezeichnungen auszuüben berechtigt ist:
Belgien: Avocat/Advocaat/Rechtsanwalt
Bulgarien: Aдвокат
Tschechische Republik: Advokát
Dänemark: Advokat
Deutschland: Rechtsanwalt
Estland: Vandeadvokaat
Griechenland: Δικηγόρος
Spanien: Abogado/Advocat/Avogado/Abokatu
Frankreich: Avocat
Kroatien: Odvjetnik/Odvjetnica
Irland: Barrister/Solicitor
Italien: Avvocato
Zypern: Δικηγόρος
Lettland: Zvērināts advokāts
Litauen: Advokatas
Luxemburg: Avocat
Ungarn: Ügyvéd
Malta: Avukat/Prokuratur Legali
Niederlande: Advocaat
Österreich: Rechtsanwalt
Polen: Adwokat/Radca prawny
Portugal: Advogado
Rumänien: Avocat
Slowenien: Odvetnik/Odvetnica
Slowakei: Advokát/Komerčný právnik
Finnland: Asianajaja/Advokat
Schweden: Advokat
Vereinigtes Königreich: Advocate/Barrister/Solicitor“.
Richtlinie 2011/16
4 Mit der Richtlinie 2011/16 wurde ein System der Zusammenarbeit zwischen den nationalen Steuerbehörden der Mitgliedstaaten geschaffen, und es wurden Regeln und Verfahren festgelegt, die beim Informationsaustausch für steuerliche Zwecke anzuwenden sind.
5 Diese Richtlinie wurde mehrfach geändert, u. a. durch die Richtlinie 2018/822 (im Folgenden: geänderte Richtlinie 2011/16), mit der eine Meldepflicht bei den zuständigen Behörden in Bezug auf potenziell aggressive grenzüberschreitende Steuerplanungsgestaltungen (im Folgenden: Meldepflicht oder Meldung) eingeführt wurde.
6 Art. 2 („Geltungsbereich“) der geänderten Richtlinie 2011/16 sieht in den Abs. 1 und 2 vor:
„(1) Diese Richtlinie gilt für Steuern aller Art, die von einem oder für einen Mitgliedstaat bzw. von oder für gebiets- oder verwaltungsmäßige Gliederungseinheiten eines Mitgliedstaats, einschließlich der lokalen Behörden, erhoben werden.
(2) Ungeachtet des Absatzes 1 gilt diese Richtlinie nicht für die Mehrwertsteuer und Zölle oder für Verbrauchsteuern, die in anderen Rechtsvorschriften der Union über die Zusammenarbeit zwischen den Verwaltungsbehörden der Mitgliedstaaten erfasst sind. Diese Richtlinie gilt auch nicht für Pflichtbeiträge zu Sozialversicherungen, die an den Mitgliedstaat, eine Gliederungseinheit des Mitgliedstaats oder an öffentlich-rechtliche Sozialversicherungseinrichtungen zu leisten sind.“
7 Art. 3 („Begriffsbestimmungen“) der geänderten Richtlinie 2011/16 bestimmt:
„Für die Zwecke dieser Richtlinie bezeichnet der Ausdruck:
1. ‚zuständige Behörde‘ eines Mitgliedstaats die Behörde, die als solche von diesem Mitgliedstaat benannt worden ist. Ein zentrales Verbindungsbüro, eine Verbindungsstelle oder ein zuständiger Bediensteter, die gemäß dieser Richtlinie tätig werden, gelten bei Bevollmächtigung gemäß Artikel 4 ebenfalls als zuständige Behörde;
…
18. ‚grenzüberschreitende Gestaltungen‘ eine Gestaltung, die entweder mehr als einen Mitgliedstaat oder einen Mitgliedstaat und ein Drittland betrifft, wobei mindestens eine der folgenden Bedingungen erfüllt ist:
a)
Nicht alle an der Gestaltung Beteiligten sind im selben Hoheitsgebiet steuerlich ansässig;
b)
einer oder mehrere der an der Gestaltung Beteiligten ist/sind gleichzeitig in mehreren Hoheitsgebieten steuerlich ansässig;
c)
einer oder mehrere der an der Gestaltung Beteiligten übt/üben in einem anderen Hoheitsgebiet über eine dort gelegene Betriebsstätte eine Geschäftstätigkeit aus, und die Gestaltung stellt teilweise oder ganz die durch die Betriebsstätte ausgeübte Geschäftstätigkeit dar;
d)
einer oder mehrere der an der Gestaltung Beteiligten übt/üben in einem anderen Hoheitsgebiet eine Tätigkeit aus, ohne dort steuerlich ansässig zu sein oder eine Betriebsstätte zu begründen;
e)
eine solche Gestaltung hat möglicherweise Auswirkungen auf den automatischen Informationsaustausch oder die Identifizierung der wirtschaftlichen Eigentümer.
Für die Zwecke der Nummern 18 bis 25 dieses Artikels, des Artikels 8ab und des Anhangs IV kann es sich bei einer Gestaltung auch um eine Reihe von Gestaltungen handeln. Eine Gestaltung kann mehr als einen Schritt oder Teil umfassen;
19. ‚meldepflichtige grenzüberschreitende Gestaltung‘ jede grenzüberschreitende Gestaltung, die mindestens eines der in Anhang IV aufgeführten Kennzeichen aufweist;
20. ‚Kennzeichen‘ ein Merkmal oder eine Eigenschaft einer grenzüberschreitenden Gestaltung gemäß Anhang IV, das bzw. die auf ein potenzielles Risiko der Steuervermeidung hindeutet;
21. ‚Intermediär‘ jede Person, die eine meldepflichtige grenzüberschreitende Gestaltung konzipiert, vermarktet, organisiert oder zur Umsetzung bereitstellt oder die die Umsetzung einer solchen Gestaltung verwaltet.
Dieser Ausdruck bezeichnet auch jede Person, die – unter Berücksichtigung der relevanten Fakten und Umstände und auf der Grundlage der verfügbaren Informationen sowie des einschlägigen Fachwissens und Verständnisses, die für die Erbringung solcher Dienstleistungen erforderlich sind – weiß oder vernünftigerweise wissen müsste, dass sie unmittelbar oder über andere Personen Hilfe, Unterstützung oder Beratung im Hinblick auf Konzeption, Vermarktung, Organisation, Bereitstellung zur Umsetzung oder Verwaltung der Umsetzung einer meldepflichtigen grenzüberschreitenden Gestaltung geleistet hat. Jede Person hat das Recht, Beweise zu erbringen, wonach sie nicht wusste oder vernünftigerweise nicht wissen konnte, dass sie an einer meldepflichtigen grenzüberschreitenden Gestaltung beteiligt war. Die betreffende Person kann zu diesem Zweck alle relevanten Fakten und Umstände sowie verfügbaren Informationen und ihr einschlägiges Fachwissen und Verständnis geltend machen.
Damit eine Person als Intermediär fungieren kann, muss sie mindestens eine der folgenden zusätzlichen Bedingungen erfüllen:
a)
Sie ist in einem Mitgliedstaat steuerlich ansässig;
b)
sie hat eine Betriebsstätte in einem Mitgliedstaat, durch die die Dienstleistungen im Zusammenhang mit der Gestaltung erbracht werden;
c)
sie ist nach dem Recht eines Mitgliedstaats eingetragen oder unterliegt dem Recht eines Mitgliedstaats;
d)
sie ist in einem Mitgliedstaat Mitglied in einer Organisation für juristische, steuerliche oder beratende Dienstleistungen;
22. ‚relevanter Steuerpflichtiger‘ jede Person, der eine meldepflichtige grenzüberschreitende Gestaltung zur Umsetzung bereitgestellt wird oder die bereit ist, eine meldepflichtige grenzüberschreitende Gestaltung umzusetzen, oder die den ersten Schritt einer solchen Gestaltung umgesetzt hat;
23. ‚verbundenes Unternehmen‘ für die Zwecke des Artikels 8ab eine Person, die mit einer anderen Person auf mindestens eine der folgenden Arten verbunden ist:
a)
Eine Person ist an der Geschäftsleitung einer anderen Person insofern beteiligt, als sie erheblichen Einfluss auf diese ausüben kann;
b)
eine Person ist über eine Holdinggesellschaft, die über mehr als 25 % der Stimmrechte verfügt, an der Kontrolle einer anderen Person beteiligt;
c)
eine Person ist über ein Eigentumsrecht, das unmittelbar oder mittelbar mehr als 25 % des Kapitals beträgt, am Kapital einer anderen Person beteiligt;
d)
eine Person hat Anspruch auf mindestens 25 % der Gewinne einer anderen Person.
Falls mehr als eine Person gemäß den Buchstaben a bis d an der Geschäftsleitung, der Kontrolle, dem Kapital oder den Gewinnen derselben Person beteiligt ist, gelten alle betroffenen Personen als verbundene Unternehmen.
Falls dieselben Personen gemäß den Buchstaben a bis d an der Geschäftsleitung, der Kontrolle, dem Kapital oder den Gewinnen von mehr als einer Person beteiligt sind, gelten alle betroffenen Personen als verbundene Unternehmen.
Für die Zwecke dieser Nummer wird eine Person, die in Bezug auf die Stimmrechte oder die Kapitalbeteiligung an einem Unternehmen gemeinsam mit einer anderen Person handelt, so behandelt, als würde sie eine Beteiligung an allen Stimmrechten oder dem gesamten Kapital dieses Unternehmens halten, die bzw. das von der anderen Person gehalten werden/wird.
Bei mittelbaren Beteiligungen wird die Erfüllung der Anforderungen gemäß Buchstabe c durch Multiplikation der Beteiligungsquoten an den nachgeordneten Unternehmen ermittelt. Eine Person mit einer Stimmrechtsbeteiligung von mehr als 50 % gilt als Halter von 100 % der Stimmrechte.
Eine natürliche Person, ihr Ehepartner und ihre Verwandte[n] in aufsteigender oder absteigender gerader Linie werden als eine einzige Person behandelt;
24. ‚marktfähige Gestaltung‘ eine grenzüberschreitende Gestaltung, die konzipiert wird, vermarktet wird, umsetzungsbereit ist oder zur Umsetzung bereitgestellt wird, ohne dass sie individuell angepasst werden muss;
25. ‚maßgeschneiderte Gestaltung‘ jede grenzüberschreitende Gestaltung, bei der es sich nicht um eine marktfähige Gestaltung handelt.“
8 In Art. 8ab der geänderten Richtlinie 2011/16 („Umfang und Voraussetzungen des verpflichtenden automatischen Informationsaustauschs über meldepflichtige grenzüberschreitende Gestaltungen“) heißt es:
„(1) Jeder Mitgliedstaat ergreift die erforderlichen Maßnahmen, um die Intermediäre zur Vorlage der ihnen bekannten, in ihrem Besitz oder unter ihrer Kontrolle befindlichen Informationen über meldepflichtige grenzüberschreitende Gestaltungen bei den zuständigen Steuerbehörden zu verpflichten, und zwar innerhalb von 30 Tagen beginnend
a)
an dem Tag, nach dem die meldepflichtige grenzüberschreitende Gestaltung zur Umsetzung bereitgestellt wird, oder
b)
an dem Tag, nach dem die meldepflichtige grenzüberschreitende Gestaltung umsetzungsbereit ist, oder
c)
wenn der erste Schritt der Umsetzung der meldepflichtigen grenzüberschreitenden Gestaltung gemacht wurde,
je nachdem, was früher eintritt.
Ungeachtet des Unterabsatzes 1 sind auch die in Artikel 3 Nummer 21 Absatz 2 genannten Intermediäre zur Vorlage der Informationen innerhalb von 30 Tagen, beginnend an dem Tag, nach dem sie unmittelbar oder über andere Personen Hilfe, Unterstützung oder Beratung geleistet haben, verpflichtet.
(2) Im Falle von marktfähigen Gestaltungen ergreifen die Mitgliedstaaten die erforderlichen Maßnahmen, um sicherzustellen, dass der Intermediär alle drei Monate einen regelmäßigen Bericht mit einer Aktualisierung vorlegt, der neue meldepflichtige Informationen gemäß Absatz 14 Buchstaben a, d, g und h enthält, die seit der Vorlage des letzten Berichts verfügbar geworden sind.
…
(5) Jeder Mitgliedstaat kann die erforderlichen Maßnahmen ergreifen, um den Intermediären das Recht auf Befreiung von der Pflicht zu gewähren, Informationen über eine meldepflichtige grenzüberschreitende Gestaltung vorzulegen, wenn mit der Meldepflicht nach dem nationalen Recht dieses Mitgliedstaats gegen eine gesetzliche Verschwiegenheitspflicht verstoßen würde. In solchen Fällen ergreift jeder Mitgliedstaat die erforderlichen Maßnahmen, um die Intermediäre zu verpflichten, andere Intermediäre oder, falls es keine solchen gibt, den relevanten Steuerpflichtigen unverzüglich über ihre Meldepflichten gemäß Absatz 6 zu unterrichten.
Intermediäre können die in Unterabsatz 1 genannte Befreiung nur insoweit in Anspruch nehmen, als sie ihre Tätigkeit im Rahmen der für ihren Beruf relevanten nationalen Rechtsvorschriften ausüben.
(6) Für den Fall, dass kein Intermediär existiert oder der Intermediär den relevanten Steuerpflichtigen oder einen anderen Intermediär über die Anwendung einer Befreiung gemäß Absatz 5 unterrichtet, ergreift jeder Mitgliedstaat die erforderlichen Maßnahmen, um sicherzustellen, dass die Pflicht zur Vorlage von Informationen über eine meldepflichtige grenzüberschreitende Gestaltung dem anderen unterrichteten Intermediär oder, falls kein solcher existiert, dem relevanten Steuerpflichtigen obliegt.
(7) Der relevante Steuerpflichtige, dem die Meldepflicht obliegt, legt die Informationen innerhalb von 30 Tagen vor, beginnend an dem Tag, nach dem ihm die meldepflichtige grenzüberschreitende Gestaltung zur Umsetzung bereitgestellt wird oder … zur Umsetzung durch den relevanten Steuerpflichtigen bereit ist[,] oder wenn der erste Schritt [zu ihrer] Umsetzung im Zusammenhang mit dem relevanten Steuerpflichtigen gemacht wurde, je nachdem, was früher eintritt.
Ist der relevante Steuerpflichtige verpflichtet, den zuständigen Behörden von mehr als einem Mitgliedstaat Informationen über meldepflichtige grenzüberschreitende Gestaltungen vorzulegen, so sind die betreffenden Informationen nur den zuständigen Behörden in dem Mitgliedstaat vorzulegen, der in der nachstehenden Liste zuerst erscheint:
a)
der Mitgliedstaat, in dem der relevante Steuerpflichtige steuerlich ansässig ist;
b)
der Mitgliedstaat, in dem der relevante Steuerpflichtige eine Betriebsstätte hat, der durch die Gestaltung ein Vorteil entsteht;
c)
der Mitgliedstaat, in dem der relevante Steuerpflichtige Einkünfte oder Gewinne erzielt, obwohl er in keinem Mitgliedstaat steuerlich ansässig ist oder eine Betriebsstätte hat;
d)
der Mitgliedstaat, in dem der relevante Steuerpflichtige eine Tätigkeit ausübt, obwohl er in keinem Mitgliedstaat steuerlich ansässig ist oder eine Betriebsstätte hat.
(8) Besteht gemäß Absatz 7 eine Verpflichtung zur Mehrfachmeldung, ist der relevante Steuerpflichtige von der Vorlage der Informationen befreit, wenn er im Einklang mit den nationalen Rechtsvorschriften nachweisen kann, dass dieselben Informationen bereits in einem anderen Mitgliedstaat vorgelegt wurden.
(9) Für den Fall, dass mehr als ein Intermediär existiert, ergreift jeder Mitgliedstaat die erforderlichen Maßnahmen, um sicherzustellen, dass die Verpflichtung zur Vorlage von Informationen über die meldepflichtige grenzüberschreitende Gestaltung allen Intermediären, die an derselben meldepflichtigen grenzüberschreitenden Gestaltung beteiligt sind, obliegt.
Ein Intermediär ist nur soweit von der Vorlage der Informationen befreit, als er im Einklang mit den nationalen Rechtsvorschriften nachweisen kann, dass dieselben Informationen gemäß Absatz 14 bereits durch einen anderen Intermediär vorgelegt wurden.
…
(12) Jeder Mitgliedstaat ergreift die erforderlichen Maßnahmen, um Intermediäre und relevante Steuerpflichtige zur Vorlage von Informationen über meldepflichtige grenzüberschreitende Gestaltungen zu verpflichten, deren erster Schritt zwischen dem 25. Juni 2018 und dem 30. Juni 2020 umgesetzt wurde. Die Intermediäre und die relevanten Steuerpflichtigen legen, sofern betroffen, bis zum 31. August 2020 Informationen über diese meldepflichtigen grenzüberschreitenden Gestaltungen vor.
(13) Die zuständige Behörde eines Mitgliedstaats, in dem die Informationen gemäß den Absätzen 1 bis 12 vorgelegt wurden, übermittelt den zuständigen Behörden aller anderen Mitgliedstaaten die in Absatz 14 aufgeführten Informationen …
(14) Die von der zuständigen Behörde eines Mitgliedstaats gemäß Absatz 13 zu übermittelnden Informationen umfassen soweit anwendbar Folgendes:
a)
die Angaben zu den Intermediären und relevanten Steuerpflichtigen, einschließlich des Namens, des Geburtsdatums und ‑orts (bei natürlichen Personen), der Steueransässigkeit und der Steueridentifikationsnummer sowie gegebenenfalls der Personen, die als verbundene Unternehmen des relevanten Steuerpflichtigen gelten;
b)
Einzelheiten zu den in Anhang IV aufgeführten Kennzeichen, die bewirken, dass die grenzüberschreitende Gestaltung meldepflichtig ist;
c)
eine Zusammenfassung des Inhalts der meldepflichtigen grenzüberschreitenden Gestaltung, soweit vorhanden einschließlich eines Verweises auf die Bezeichnung, unter der [sie] allgemein bekannt ist, und einer abstrakt gehaltenen Beschreibung der relevanten Geschäftstätigkeiten oder Gestaltungen, die nicht zur Preisgabe eines Handels‑, Gewerbe- oder Berufsgeheimnisses oder eines Geschäftsverfahrens oder von Informationen führt, deren Preisgabe die öffentliche Ordnung verletzen würde;
d)
das Datum, an dem der erste Schritt der Umsetzung der meldepflichtigen grenzüberschreitenden Gestaltung gemacht wurde oder gemacht werden wird;
e)
Einzelheiten zu den nationalen Vorschriften, die die Grundlage der meldepflichtigen grenzüberschreitenden Gestaltung bilden;
f)
den Wert der meldepflichtigen grenzüberschreitenden Gestaltung;
g)
die Angabe des Mitgliedstaats des/der relevanten Steuerpflichtigen und aller anderen Mitgliedstaaten, die wahrscheinlich von der meldepflichtigen grenzüberschreitenden Gestaltung betroffen sind;
h)
Angaben zu allen anderen Personen in einem Mitgliedstaat, die wahrscheinlich von der meldepflichtigen grenzüberschreitenden Gestaltung betroffen sind, einschließlich Angaben darüber, zu welchen Mitgliedstaaten sie in Beziehung stehen.
…“
9 Art. 25a („Sanktionen“) der geänderten Richtlinie 2011/16 lautet:
„Die Mitgliedstaaten erlassen Vorschriften über Sanktionen, die bei Verstößen gegen die gemäß dieser Richtlinie im Hinblick auf die Artikel 8aa und 8ab erlassenen nationalen Vorschriften zu verhängen sind, und treffen alle für die Anwendung der Sanktionen erforderlichen Maßnahmen. Die Sanktionen müssen wirksam, verhältnismäßig und abschreckend sein.“
10 Anhang IV („Kennzeichen“) der geänderten Richtlinie 2011/16 (im Folgenden: Anhang IV) sieht einen „Main benefit“-Test vor und enthält eine Liste der Kategorien von Kennzeichen; er lautet:
„Teil I. ‚Main benefit‘-Test
Allgemeine Kennzeichen gemäß Kategorie A und spezifische Kennzeichen gemäß Kategorie B und gemäß Kategorie C Absatz 1 Buchstabe b Ziffer i, Buchstabe c und Buchstabe d können nur berücksichtigt werden, wenn sie das Kriterium des ‚Main benefit‘-Tests erfüllen.
Dieser Test gilt als erfüllt, wenn festgestellt werden kann, dass der Hauptvorteil oder einer der Hauptvorteile, den eine Person unter Berücksichtigung aller relevanten Fakten und Umstände vernünftigerweise von einer Gestaltung erwarten kann, die Erlangung eines Steuervorteils ist.
Bezüglich der Kennzeichen gemäß Kategorie C Absatz 1 kann die Erfüllung der in Kategorie C Absatz 1 Buchstabe b Ziffer i, Buchstabe c oder Buchstabe d dargelegten Bedingungen nicht allein der Grund für die Feststellung sein, dass eine Gestaltung das Kriterium des ‚Main benefit‘-Tests erfüllt.
Teil II. Kategorien von Kennzeichen
A.
Allgemeine Kennzeichen in Verbindung mit dem ‚Main benefit‘-Test
1. Eine Gestaltung, bei de[r] der relevante Steuerpflichtige oder ein an der Gestaltung Beteiligter sich verpflichtet, eine Vertraulichkeitsklausel einzuhalten, der zufolge sie gegenüber anderen Intermediären oder den Steuerbehörden nicht offenlegen dürfen, auf welche Weise aufgrund der Gestaltung ein Steuervorteil erlangt wird.
2. Eine Gestaltung, bei der der Intermediär Anspruch auf eine Vergütung (bzw. Zinsen, Vergütung der Finanzkosten und sonstiger Kosten) für die Gestaltung hat und diese Vergütung in Bezug auf Folgendes festgesetzt wird:
a)
Betrag des aufgrund der Gestaltung erlangten Steuervorteils oder
b)
ob durch die Gestaltung tatsächlich ein Steuervorteil erlangt wird. Dies wäre mit der Verpflichtung des Intermediärs verbunden, die Vergütungen ganz oder teilweise zurückzuerstatten, falls der mit der Gestaltung beabsichtigte Steuervorteil nicht ganz oder teilweise erzielt wird.
3. Eine Gestaltung, deren Dokumentation und/oder Struktur im Wesentlichen standardisiert ist und für mehr als einen relevanten Steuerpflichtigen verfügbar ist, ohne dass sie für die Umsetzung wesentlich individuell angepasst werden muss.
B.
Spezifische Kennzeichen in Verbindung mit dem ‚Main benefit‘-Test
1. Eine Gestaltung, bei der ein an der Gestaltung Beteiligter künstlich Schritte unternimmt, um ein verlustbringendes Unternehmen zu erwerben, die Haupttätigkeit dieses Unternehmens zu beenden und dessen Verluste dafür zu nutzen, seine Steuerbelastung zu verringern, einschließlich der Übertragung dieser Verluste in ein anderes Hoheitsgebiet oder der rascheren Nutzung dieser Verluste.
2. Eine Gestaltung, die sich so auswirkt, dass Einkünfte in Vermögen, Schenkungen oder andere niedriger besteuerte oder steuerbefreite Arten von Einkünften umgewandelt werden.
3. Eine Gestaltung, die zirkuläre Transaktionen nutzt, die zu einem Round tripping von Vermögen führen, und zwar durch die Einbeziehung zwischengeschalteter Unternehmen ohne primäre wirtschaftliche Funktion oder von Transaktionen, die sich gegenseitig aufheben oder ausgleichen oder die ähnliche Merkmale aufweisen.
C.
Spezifische Kennzeichen im Zusammenhang mit grenzüberschreitenden Transaktionen
1. Eine Gestaltung, die abzugsfähige grenzüberschreitende Zahlungen zwischen zwei oder mehr verbundenen Unternehmen umfasst und bei der mindestens eine der folgenden Bedingungen erfüllt ist:
a)
Der Empfänger ist steuerlich in keinem Hoheitsgebiet ansässig;
b)
der Empfänger ist zwar steuerlich in einem Hoheitsgebiet ansässig, dieses Hoheitsgebiet
i)
erhebt aber keine Körperschaftsteuer oder hat einen Körperschaftsteuersatz von null oder nahe null oder
ii)
wird in der Liste der Drittländer geführt, die von den Mitgliedstaaten gemeinsam oder im Rahmen der [Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD)] als nicht-kooperierende Länder eingestuft wurden;
c)
die Zahlung ist im Hoheitsgebiet, in dem der Empfänger steuerlich ansässig ist, vollständig von der Steuer befreit;
d)
die Zahlung kommt im Hoheitsgebiet, in dem der Empfänger steuerlich ansässig ist, in den Genuss von einem präferentiellen Steuerregime.
2. In mehr als einem Hoheitsgebiet werden Abzüge für die Abschreibung desselben Vermögenswertes beantragt.
3. In mehr als einem Hoheitsgebiet wird eine Befreiung von der Doppelbesteuerung für dieselben Einkünfte oder dasselbe Vermögen beantragt.
4. Es liegt eine Gestaltung vor, die die Übertragung von Vermögenswerten vorsieht und bei der es einen wesentlichen Unterschied hinsichtlich des in diesen beteiligten Hoheitsgebieten für den Vermögenswert anzusetzenden Wertes gibt.
D.
Spezifische Kennzeichen hinsichtlich des automatischen Informationsaustauschs und der wirtschaftlichen Eigentümer
1. Eine Gestaltung, die zu einer Aushöhlung der Meldepflicht gemäß den Rechtsvorschriften zur Umsetzung des Unionsrechts oder gemäß gleichwertiger Abkommen über den automatischen Informationsaustausch über Finanzkonten, einschließlich Abkommen mit Drittländern, führen kann oder sich das Fehlen derartiger Rechtsvorschriften oder Abkommen zunutze macht. Derartige Gestaltungen umfassen zumindest Folgendes:
a)
die Nutzung eines Kontos, Produkts oder einer Anlage, das/die kein Finanzkonto ist oder vorgeblich kein Finanzkonto ist, jedoch Merkmale aufweist, die im Wesentlichen denen eines Finanzkontos entsprechen;
b)
die Übertragung eines Finanzkontos oder von Vermögenswerten in ein Hoheitsgebiet oder die Einbeziehung von Hoheitsgebieten, die nicht an den automatischen Informationsaustausch über Finanzkonten mit dem Staat, in dem der relevante Steuerpflichtige ansässig ist, gebunden sind;
c)
die Neueinstufung von Einkünften und Vermögen als Produkte oder Zahlungen, die nicht dem automatischen Informationsaustausch über Finanzkonten unterliegen;
d)
die Übertragung oder Umwandlung eines Finanzinstituts oder eines Finanzkontos oder der darin enthaltenen Vermögenswerte in ein Finanzinstitut oder ein Finanzkonto oder in Vermögenswerte, die nicht der Meldepflicht im Rahmen des automatischen Informationsaustausch[s] über Finanzkonten unterliegen;
e)
die Einbeziehung von Rechtspersonen, Gestaltungen oder Strukturen, die die Meldung eines/einer oder mehrerer Kontoinhaber(s) oder Beherrschende(n) Person(en) im Rahmen des automatischen Informationsaustauschs über Finanzkonten ausschließen oder vorgeben auszuschließen;
f)
Gestaltungen, die die Verfahren zur Erfüllung der Sorgfaltspflichten aushöhlen oder Schwächen in diesen Verfahren ausnutzen, die Finanzinstitute zur Erfüllung ihrer Meldepflichten bezüglich Informationen über Finanzkonten anwenden, einschließlich der Einbeziehung von Hoheitsgebieten mit ungeeigneten oder schwachen Regelungen für die Durchsetzung von Vorschriften gegen Geldwäsche oder mit schwachen Transparenzanforderungen für juristische Personen oder Rechtsvereinbarungen.
2. Eine Gestaltung mit einer intransparenten Kette an rechtlichen oder wirtschaftlichen Eigentümern durch die Einbeziehung von Personen, Rechtsvereinbarungen oder Strukturen,
a)
die keine wesentliche wirtschaftliche Tätigkeit ausüben, die mit angemessener Ausstattung sowie angemessenen personellen Ressourcen, Vermögenswerten und Räumlichkeiten einhergeht, und
b)
die in anderen Hoheitsgebieten eingetragen, ansässig oder niedergelassen sind bzw. verwaltet oder kontrolliert werden als dem Hoheitsgebiet, in dem ein oder mehrere der wirtschaftlichen Eigentümer der von diesen Personen, Rechtsvereinbarungen oder Strukturen gehaltenen Vermögenswerte ansässig ist/sind, und
c)
sofern die wirtschaftlichen Eigentümer dieser Personen, Rechtsvereinbarungen oder Strukturen gemäß [der] Richtlinie (EU) 2015/849 [des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Mai 2015 zur Verhinderung der Nutzung des Finanzsystems zum Zwecke der Geldwäsche und der Terrorismusfinanzierung, zur Änderung der Verordnung (EU) Nr. 648/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates und zur Aufhebung der Richtlinie 2005/60/EG des Europäischen Parlaments und des Rates und der Richtlinie 2006/70/EG der Kommission (ABl. 2015, L 141, S. 73)] nicht identifizierbar gemacht werden.
E.
Spezifische Kennzeichen hinsichtlich der Verrechnungspreisgestaltung
1. Eine Gestaltung, die unilaterale Safe-Harbor-Regeln nutzt.
2. Eine Gestaltung mit Übertragung von schwer zu bewertenden immateriellen Werten. Der Begriff ‚schwer zu bewertende immaterielle Werte‘ umfasst immaterielle Werte oder Rechte an immateriellen Werten, für die zum Zeitpunkt ihrer Übertragung zwischen verbundenen Unternehmen
a)
keine ausreichend verlässlichen Vergleichswerte vorliegen und
b)
zum Zeitpunkt der Transaktion die Prognosen voraussichtlicher Cashflows oder die vom übertragenen immateriellen Wert erwarteten abzuleitenden Einkünfte oder die der Bewertung des immateriellen Werts zugrunde gelegten Annahmen höchst unsicher sind, weshalb der letztendliche Erfolg des immateriellen Werts zum Zeitpunkt der Übertragung nur schwer absehbar ist.
3. Eine Gestaltung, bei der eine gruppeninterne grenzüberschreitende Übertragung von Funktionen und/oder Risiken und/oder Vermögenswerten stattfindet, wenn der erwartete jährliche Gewinn vor Zinsen und Steuern (EBIT) des/der Übertragenden über einen Zeitraum von drei Jahren nach der Übertragung weniger als 50 % des jährlichen EBIT des/der Übertragenden beträgt, der erwartet worden wäre, wenn die Übertragung nicht stattgefunden hätte.“
Richtlinie (EU) 2016/1164
11 Im elften Erwägungsgrund der Richtlinie (EU) 2016/1164 des Rates vom 12. Juli 2016 mit Vorschriften zur Bekämpfung von Steuervermeidungspraktiken mit unmittelbaren Auswirkungen auf das Funktionieren des Binnenmarkts (ABl. 2016, L 193, S. 1) heißt es:
„Allgemeine Vorschriften zur Verhinderung von Missbrauch dienen in Steuersystemen dazu, gegen missbräuchliche Steuerpraktiken vorzugehen, für die noch keine besonderen Vorschriften bestehen. Allgemeine Vorschriften zur Verhinderung von Missbrauch sollen somit Lücken schließen, ohne sich auf die Anwendbarkeit besonderer Vorschriften zur Verhinderung von Missbrauch auszuwirken. In der [Europäischen] Union sollten die allgemeinen Vorschriften zur Verhinderung von Missbrauch auf unangemessene Gestaltungen angewendet werden; andernfalls sollte der Steuerpflichtige das Recht haben, die steuereffizienteste Struktur für seine geschäftlichen Angelegenheiten zu wählen. …“
12 Art. 6 („Allgemeine Vorschrift zur Verhinderung von Missbrauch“) der Richtlinie 2016/1164 bestimmt:
„(1) Liegt unter Berücksichtigung aller relevanten Fakten und Umstände eine unangemessene Gestaltung oder eine unangemessene Abfolge von Gestaltungen vor, bei der der wesentliche Zweck oder einer der wesentlichen Zwecke darin besteht, einen steuerlichen Vorteil zu erlangen, der dem Ziel oder Zweck des geltenden Steuerrechts zuwiderläuft, so berücksichtigen die Mitgliedstaaten diese bei der Berechnung der Körperschaftsteuerschuld nicht. Eine Gestaltung kann mehr als einen Schritt oder Teil umfassen.
(2) Für die Zwecke von Absatz 1 gilt eine Gestaltung oder eine Abfolge solcher Gestaltungen in dem Umfang als unangemessen, als sie nicht aus triftigen wirtschaftlichen Gründen vorgenommen wurde, die die wirtschaftliche Realität widerspiegeln.
(3) Bleiben Gestaltungen oder eine Abfolge solcher Gestaltungen gemäß Absatz 1 unberücksichtigt, so wird die Steuerschuld im Einklang mit nationalem Recht berechnet.“
Richtlinie 2018/822
13 In den Erwägungsgründen 2, 4, 6 bis 9, 14 und 18 der Richtlinie 2018/822 heißt es:
„(2)
Für die Mitgliedstaaten wird es immer schwieriger, ihre nationalen Steuerbemessungsgrundlagen gegen Aushöhlung zu schützen, da die Steuerplanungsstrukturen immer ausgefeilter werden und sich häufig die höhere Mobilität von Kapital und Personen im Binnenmarkt zunutze machen. Derartige Strukturen umfassen häufig Gestaltungen, die für mehrere Hoheitsgebiete gemeinsam entwickelt werden und durch die steuerpflichtige Gewinne in Staaten mit vorteilhafteren Steuersystemen verlagert werden oder die eine Verringerung der Gesamtsteuerbelastung der Steuerpflichtigen bewirken. Infolgedessen kommt es häufig zu einem beträchtlichen Rückgang der Steuereinnahmen in den Mitgliedstaaten, was diese wiederum daran hindert, eine wachstumsfreundliche Steuerpolitik zu verfolgen. Es ist daher von entscheidender Bedeutung, dass die Steuerbehörden der Mitgliedstaaten umfassende und relevante Informationen über potenziell aggressive Steuergestaltungen erhalten. Diese Informationen würden die Behörden in die Lage versetzen, zeitnah gegen schädliche Steuerpraktiken vorzugehen und Schlupflöcher durch den Erlass von Rechtsvorschriften oder durch die Durchführung geeigneter Risikoabschätzungen sowie durch Steuerprüfungen zu schließen. Die Tatsache, dass Steuerbehörden nicht auf eine gemeldete Gestaltung reagieren, sollte jedoch nicht die Anerkennung der Gültigkeit oder der steuerlichen Behandlung dieser Gestaltung implizieren.
…
(4) In Anerkennung der Tatsache, dass ein transparenter Rahmen für die Entwicklung unternehmerischer Tätigkeit zur Bekämpfung von Steuervermeidung und Steuerhinterziehung im Binnenmarkt beitragen kann, wurde die [Europäische] Kommission ersucht, Initiativen zur verpflichtenden Offenlegung von Informationen zu potenziell aggressiven Steuerplanungsgestaltungen entsprechend dem Aktionspunkt 12 des OECD-Projekts zu Gewinnverkürzung und Gewinnverlagerung [Base Erosion and Profit Shifting, BEPS] einzuleiten. In diesem Zusammenhang hat das Europäische Parlament zu strengeren Maßnahmen gegen Intermediäre aufgerufen, die an Gestaltungen mitwirken, die zu Steuervermeidung und Steuerhinterziehung führen können. Ferner ist darauf hinzuweisen, dass die OECD in der Erklärung der G7 von Bari vom 13. Mai 2017 über die Bekämpfung von Steuerkriminalität und sonstigen illegalen Finanzströmen aufgefordert wurde, mit der Erörterung der Möglichkeiten zur Bekämpfung von Gestaltungen zu beginnen, die dazu dienen, die Meldung im Rahmen des gemeinsamen Meldestandards zu umgehen, oder die darauf abzielen, wirtschaftlichen Eigentümern den Schutz durch nicht transparente Strukturen zu gewähren, auch unter Berücksichtigung von Mustervorschriften für verbindliche Offenlegungsregelungen auf Grundlage des Ansatzes zu Vermeidungsgestaltungen, der im Bericht über den Aktionspunkt 12 des BEPS-Projekts dargelegt ist.
…
(6) Die Meldung potenziell aggressiver grenzüberschreitender Steuerplanungsgestaltungen kann die Bemühungen zur Schaffung einer gerechten Besteuerung im Binnenmarkt nachhaltig unterstützen. Hier würde die Verpflichtung der Intermediäre, die Steuerbehörden … zu informieren, … einen Schritt in die richtige Richtung darstellen. …
(7) Es steht außer Frage, dass die Meldung potenziell aggressiver grenzüberschreitender Steuerplanungsgestaltungen bessere Aussichten hätte, ihre abschreckende Wirkung zu entfalten, wenn die entsprechenden Informationen die Steuerbehörden frühzeitig erreichten, d. h., bevor diese Gestaltungen tatsächlich umgesetzt werden. Um die Arbeit der Verwaltungen der Mitgliedstaaten zu erleichtern, könnte der anschließende Informationsaustausch über diese Gestaltungen vierteljährlich erfolgen.
(8) Um das reibungslose Funktionieren des Binnenmarkts zu gewährleisten und Schlupflöcher in den vorgeschlagenen Rahmenvorschriften zu vermeiden, sollten alle Akteure, die normalerweise an der Konzeption, Vermarktung, Organisation oder Verwaltung der Umsetzung einer meldepflichtigen grenzüberschreitenden Transaktion oder einer Reihe solcher Transaktionen beteiligt sind, sowie alle, die Unterstützung oder Beratung leisten, zur Meldung verpflichtet sein. Es darf auch nicht außer Acht gelassen werden, dass in bestimmten Fällen die Meldepflicht eines Intermediärs aufgrund einer gesetzlichen Verschwiegenheitspflicht nicht durchsetzbar ist oder gar kein Intermediär vorhanden ist, weil beispielsweise der Steuerpflichtige eine Steuerplanungsgestaltung selbst konzipiert und umsetzt. Es wäre äußerst wichtig, dass die Steuerbehörden in solchen Fällen weiterhin die Möglichkeit haben, Informationen über Steuergestaltungen zu erhalten, die potenziell mit aggressiver Steuerplanung verbunden sind. Hierfür müsste die Meldepflicht auf den Steuerpflichtigen verlagert werden, der in diesen Fällen von der Gestaltung profitiert.
(9) Aggressive Steuerplanungsgestaltungen haben sich über Jahre hinweg entwickelt, sind immer komplexer geworden und unterliegen ständigen Änderungen und Anpassungen, mit denen auf Gegenmaßnahmen der Steuerbehörden reagiert wird. Angesichts dessen wäre es wirksamer, potenziell aggressive Steuerplanungsgestaltungen durch die Zusammenstellung einer Liste von Merkmalen und Elementen von Transaktionen zu erfassen, die stark auf Steuervermeidung oder Steuermissbrauch hindeuten, anstatt den Begriff der aggressiven Steuerplanung zu definieren. Diese Merkmale werden als ‚Kennzeichen‘ bezeichnet.
…
(14) Obwohl die Mitgliedstaaten weiterhin für die direkte Besteuerung zuständig sind, ist es angemessen, ausschließlich zum Zweck der eindeutigen Festlegung des Geltungsbereichs des Kennzeichens für Gestaltungen, … die … meldepflichtig sein sollten …, auf einen Körperschaftsteuersatz von null oder nahe null Bezug zu nehmen. Ferner ist darauf hinzuweisen, dass aggressive grenzüberschreitende Steuerplanungsgestaltungen, die ausschließlich oder hauptsächlich dem Zweck dienen, einen steuerlichen Vorteil zu erlangen, der dem Ziel oder dem Zweck des geltenden Steuerrechts zuwiderläuft, der allgemeinen Vorschrift zur Verhinderung von Missbrauch gemäß Artikel 6 der Richtlinie [2016/1164] unterliegen.
…
(18) Diese Richtlinie steht im Einklang mit den Grundrechten und Grundsätzen, die insbesondere mit der Charta … anerkannt wurden.“
Belgisches Recht
14 Mit dem Gesetz vom 20. Dezember 2019 zur Umsetzung der Richtlinie 2018/822 wurden das Einkommensteuergesetzbuch 1992, das Registrierungs‑, Hypotheken- und Kanzleigebührengesetzbuch, das Erbschaftsteuergesetzbuch sowie das Gesetzbuch der verschiedenen Gebühren und Steuern abgeändert (im Folgenden: Gesetz vom 20. Dezember 2019).
Ausgangsverfahren und Vorlagefragen
15 Mit Klageschriften, die am 30. Juni sowie am 1. und 2. Juli 2020 eingingen, beantragten die Kläger des Ausgangsverfahrens bei der Cour constitutionnelle (Verfassungsgerichtshof, Belgien), dem vorlegenden Gericht, die vollständige oder teilweise Nichtigerklärung des Gesetzes vom 20. Dezember 2019. Die betreffenden Rechtssachen wurden vom vorlegenden Gericht zu gemeinsamem Verfahren verbunden.
16 Das vorlegende Gericht führt aus, einige Kläger des Ausgangsverfahrens beanstandeten, dass das Gesetz vom 20. Dezember 2019 auch für andere Steuern als die Gesellschaftssteuer gelte. Da diese undifferenzierte Anwendung auf die Bestimmungen der Richtlinie 2018/822 zurückgeht, hält das vorlegende Gericht es für erforderlich, eine erste Frage nach der Gültigkeit dieser Richtlinie im Licht der Grundsätze der Gleichbehandlung und der Nichtdiskriminierung sowie der Art. 20 und 21 der Charta zu stellen.
17 Das vorlegende Gericht führt ferner aus, einige Kläger des Ausgangsverfahrens machten geltend, dass die Begriffe „Gestaltung“, „Intermediär“, „Beteiligter“ und „verbundenes Unternehmen“ sowie das Adjektiv „grenzüberschreitend“, die verschiedenen „Kennzeichen“ und der „Main benefit“-Test nicht hinreichend präzise seien. Da sie sowie die Begriffe „marktfähige Gestaltung“ und „maßgeschneiderte Gestaltung“ die Terminologie der Richtlinie 2018/822 wiedergeben und da der Verstoß gegen die durch diese Richtlinie eingeführte Meldepflicht mit den im nationalen Recht vorgesehenen Geldbußen geahndet wird, hält das vorlegende Gericht es für erforderlich, in Bezug auf diese Begriffe eine zweite Frage nach der Gültigkeit der Richtlinie 2018/822 im Licht des Grundsatzes der Rechtssicherheit, des in Art. 49 Abs. 1 der Charta verankerten Legalitätsprinzips in Strafsachen und des in Art. 7 der Charta garantierten Rechts auf Achtung des Privatlebens zur Vorabentscheidung vorzulegen.
18 Da einige Kläger des Ausgangsverfahrens geltend gemacht haben, dass die Bestimmungen des Gesetzes vom 20. Dezember 2019 es nicht ermöglichten, mit dem erforderlichen Maß an Präzision den Zeitpunkt zu bestimmen, ab dem die darin vorgesehene Meldefrist zu laufen beginne, und da diese Bestimmungen insoweit auf die Bestimmungen der Richtlinie 2018/822 zurückgehen, hält das vorlegende Gericht es für erforderlich, eine diesen Aspekt betreffende dritte Frage nach der Gültigkeit der Richtlinie zu stellen, wiederum im Licht von Art. 7 und Art. 49 Abs. 1 der Charta.
19 Da das vorlegende Gericht auch über die Rügen einiger Kläger des Ausgangsverfahrens in Bezug auf die Verpflichtung des Intermediärs, der sich auf das Berufsgeheimnis beruft, die anderen Intermediäre von ihrer Meldepflicht in Kenntnis zu setzen, zu befinden hat, ist es der Auffassung, dass dem Gerichtshof vor der Entscheidung in der Sache eine vierte Frage nach der Gültigkeit der diese Verpflichtung vorsehenden Bestimmung der Richtlinie 2018/822 vorzulegen ist, die der in der Rechtssache C‑694/20 gestellten Frage ähnelt, zu der mittlerweile das Urteil vom8. Dezember 2022, Orde van Vlaamse Balies u. a. (C‑694/20, EU:C:2022:963), ergangen ist, aber alle Intermediäre betrifft, die dem Berufsgeheimnis unterliegen, und sich nur auf das Recht auf Achtung des Privatlebens bezieht.
20 Schließlich führt das vorlegende Gericht zu der in der Richtlinie 2018/822 vorgesehenen Meldepflicht für grenzüberschreitende Gestaltungen, gegen die einige Kläger des Ausgangsverfahrens ebenfalls Einwände erhoben haben, aus, dass ihr Anwendungsbereich weit gefasst sei und dass sie Gestaltungen betreffen könne, die rechtmäßig, angemessen und nicht missbräuchlich seien und deren Hauptvorteil nicht steuerlicher Art sei. Daher stelle sich die Frage, ob diese Meldepflicht angesichts ihres weiten Anwendungsbereichs und der zu meldenden Informationen bei vernünftiger Betrachtung gerechtfertigt und im Hinblick auf die angestrebten Ziele verhältnismäßig sei und ob sie im Hinblick auf das Ziel, das reibungslose Funktionieren des Binnenmarkts zu gewährleisten, sachdienlich sei, da insbesondere die Bedingung, dass die Gestaltung grenzüberschreitend sein müsse, die Ausübung der Verkehrsfreiheiten behindern könnte. Insoweit hält das vorlegende Gericht es für erforderlich, eine fünfte Frage nach der Gültigkeit dieser Richtlinie und der durch sie eingeführten Meldepflicht im Licht des in Art. 7 der Charta verankerten Rechts auf Achtung des Privatlebens zur Vorabentscheidung vorzulegen.
21 Unter diesen Umständen hat die Cour constitutionnelle (Verfassungsgerichtshof) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
1. Verstößt die Richtlinie 2018/822 gegen Art. 6 Abs. 3 EUV und die Art. 20 und 21 der Charta und insbesondere die Grundsätze der Gleichheit und Nichtdiskriminierung, den diese Bestimmungen gewährleisten, insofern die Richtlinie 2018/822 die Meldepflicht für meldepflichtige grenzüberschreitende Gestaltungen nicht auf die Gesellschaftssteuer beschränkt, sondern sie auf alle Steuern, die in den Anwendungsbereich der Richtlinie 2011/16 fallen, für anwendbar erklärt, was im belgischen Recht nicht nur die Gesellschaftssteuer, sondern auch andere direkte Steuern als die Gesellschaftssteuer und indirekte Steuern wie die Registrierungsgebühren einschließt?
2. Verstößt die Richtlinie 2018/822 gegen das Legalitätsprinzip in Strafsachen, das durch Art. 49 Abs. 1 der Charta und Art. 7 Abs. 1 der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) gewährleistet wird, verstößt sie gegen den allgemeinen Grundsatz der Rechtssicherheit und verstößt sie gegen das Recht auf Achtung des Privatlebens, das durch Art. 7 der Charta und Art. 8 EMRK gewährleistet wird, insofern die Begriffe „Gestaltung“ (und somit die Begriffe „grenzüberschreitende Gestaltung“, „marktfähige Gestaltung“ und „maßgeschneiderte Gestaltung“), „Intermediär“, „Beteiligter“ und „verbundenes Unternehmen“, das Adjektiv „grenzüberschreitend“, die verschiedenen „Kennzeichen“ und das „Kriterium des ‚Main benefit‘-Tests“, die in der Richtlinie 2018/822 verwendet werden, um den Anwendungsbereich und die Tragweite der Meldepflicht für meldepflichtige grenzüberschreitende Gestaltungen zu bestimmen, nicht ausreichend klar und bestimmt wären?
3. Verstößt die Richtlinie 2018/822, insbesondere insofern sie Art. 8ab Abs. 1 und 7 der Richtlinie 2011/16 einfügt, gegen das Legalitätsprinzip in Strafsachen, das durch Art. 49 Abs. 1 der Charta und Art. 7 Abs. 1 EMRK gewährleistet wird, und verstößt sie gegen das Recht auf Achtung des Privatlebens, das durch Art. 7 der Charta und Art. 8 EMRK gewährleistet wird, insofern der Anfangszeitpunkt der Frist von 30 Tagen, in der ein Intermediär oder ein relevanter Steuerpflichtiger der Meldepflicht für eine meldepflichtige grenzüberschreitende Gestaltung nachkommen muss, nicht ausreichend klar und bestimmt festgelegt wäre?
4. Verstößt Art. 1 Nr. 2 der Richtlinie 2018/822 gegen das Recht auf Achtung des Privatlebens, das durch Art. 7 der Charta und Art. 8 EMRK gewährleistet wird, insofern der neue Art. 8ab Abs. 5, den er in die Richtlinie 2011/16 eingefügt hat, vorsieht, dass dann, wenn ein Mitgliedstaat die erforderlichen Maßnahmen ergreift, um den Intermediären das Recht auf Befreiung von der Pflicht zu gewähren, Informationen über eine meldepflichtige grenzüberschreitende Gestaltung vorzulegen, wenn mit der Meldepflicht nach dem nationalen Recht dieses Mitgliedstaats gegen eine gesetzliche Verschwiegenheitspflicht verstoßen würde, dieser Mitgliedstaat verpflichtet ist, diese Intermediäre zu verpflichten, andere Intermediäre oder, falls es keine solchen gibt, den relevanten Steuerpflichtigen unverzüglich über ihre Meldepflichten zu unterrichten, insofern diese Pflicht zur Folge hat, dass ein Intermediär, der dem nach dem Recht dieses Mitgliedstaats strafbewehrten Berufsgeheimnis unterliegt, verpflichtet ist, mit einem anderen Intermediär, der nicht sein Klient ist, Informationen auszutauschen, von denen er bei der Ausübung seines Berufs Kenntnis erlangt?
5. Verstößt die Richtlinie 2018/822 gegen das Recht auf Achtung des Privatlebens, das durch Art. 7 der Charta und Art. 8 EMRK gewährleistet wird, insofern die Meldepflicht für meldepflichtige grenzüberschreitende Gestaltungen einen Eingriff in das Recht auf Achtung des Privatlebens von Intermediären und relevanten Steuerpflichtigen zur Folge hätte, der nicht vernünftig gerechtfertigt und im Hinblick auf die angestrebten Ziele verhältnismäßig wäre und der im Hinblick auf das Ziel, das reibungslose Funktionieren des Binnenmarkts zu gewährleisten, nicht sachdienlich wäre?
Zu den Vorlagefragen
Zur ersten Vorlagefrage
22 Mit der ersten Frage ersucht das vorlegende Gericht den Gerichtshof im Wesentlichen, die Gültigkeit der geänderten Richtlinie 2011/16 im Licht der Grundsätze der Gleichbehandlung und der Nichtdiskriminierung sowie der Art. 20 und 21 der Charta zu prüfen, soweit sich die in Art. 8ab Abs. 1, 6 und 7 der Richtlinie vorgesehene Meldepflicht nicht auf die Gesellschaftssteuer beschränkt, sondern für alle in ihren Geltungsbereich fallenden Steuern gilt.
23 Zu dem in Art. 21 der Charta niedergelegten Diskriminierungsverbot ist zunächst festzustellen, dass nicht ersichtlich ist, inwiefern die unterschiedslose Anwendung der in Rede stehenden Meldepflicht auf die verschiedenen von ihr erfassten Steuerarten zu einer Ungleichbehandlung aufgrund eines spezifischen Faktors wie den in dieser Bestimmung aufgezählten führen könnte.
24 Das Diskriminierungsverbot ist allerdings nur der spezifische Ausdruck des allgemeinen Gleichheitsgrundsatzes, der zu den Grundprinzipien des Unionsrechts gehört; dieser Grundsatz, der auch in Art. 20 der Charta zum Ausdruck kommt, verlangt, dass vergleichbare Sachverhalte nicht unterschiedlich und unterschiedliche Sachverhalte nicht gleichbehandelt werden, es sei denn, dass eine solche Behandlung objektiv gerechtfertigt ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 17. Dezember 2020, Centraal Israëlitisch Consistorie van België u. a., C‑336/19, EU:C:2020:1031, Rn. 85 und die dort angeführte Rechtsprechung).
25 Die Vergleichbarkeit unterschiedlicher Sachverhalte ist anhand aller Merkmale zu beurteilen, die sie kennzeichnen. Diese Merkmale sind u. a. im Licht des Gegenstands und des Ziels der Unionsmaßnahme, mit der die fragliche Unterscheidung eingeführt wird, zu bestimmen und zu beurteilen. Zu berücksichtigen sind auch die Grundsätze und Ziele des Regelungsbereichs, zu dem die betreffende Maßnahme gehört (Urteil vom 10. Februar 2022, OE [Gewöhnlicher Aufenthalt eines Ehegatten – Kriterium der Staatsangehörigkeit], C‑522/20, EU:C:2022:87, Rn. 20 und die dort angeführte Rechtsprechung).
26 Überdies hat der Gerichtshof zur gerichtlichen Kontrolle der Wahrung des Gleichbehandlungsgrundsatzes durch den Unionsgesetzgeber entschieden, dass Letzterer im Rahmen der Ausübung der ihm übertragenen Zuständigkeiten über ein weites Ermessen verfügt, wenn er in einem Bereich tätig wird, der politische, wirtschaftliche und soziale Entscheidungen impliziert, und wenn er komplexe Beurteilungen und Prüfungen vornehmen muss. Daher kann eine in diesem Bereich erlassene Maßnahme nur dann rechtswidrig sein, wenn sie zur Erreichung des Ziels, das die zuständigen Organe anstreben, offensichtlich ungeeignet ist (Urteil vom 10. Februar 2022, OE [Gewöhnlicher Aufenthalt eines Ehegatten – Kriterium der Staatsangehörigkeit], C‑522/20, EU:C:2022:87, Rn. 21 und die dort angeführte Rechtsprechung).
27 Im vorliegenden Fall ergibt sich aus Art. 2 Abs. 1 und 2 der geänderten Richtlinie 2011/16, dass die in ihrem Art. 8ab Abs. 1, 6 und 7 vorgesehene Meldepflicht im Wesentlichen für Steuern aller Art gilt, die von einem Mitgliedstaat und seinen gebiets- oder verwaltungsmäßigen Gliederungseinheiten erhoben werden, nicht aber für die Mehrwertsteuer und Zölle oder für Verbrauchsteuern, die in anderen Rechtsvorschriften der Union über die Zusammenarbeit zwischen den Verwaltungsbehörden der Mitgliedstaaten erfasst sind.
28 Diese Pflicht fügt sich in den Rahmen der Schaffung einer internationalen steuerlichen Zusammenarbeit zur Bekämpfung der aggressiven Steuerplanung ein, die sich durch einen Informationsaustausch zwischen Mitgliedstaaten konkretisiert. Sie soll zur Bekämpfung der aggressiven Steuerplanung und zur Verhinderung der Gefahr von Steuervermeidung und Steuerhinterziehung beitragen (Urteil vom 8. Dezember 2022, Orde van Vlaamse Balies u. a.,C‑694/20, EU:C:2022:963, Rn. 43 und 44 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).
29 Daraus folgt, dass die Gefahr aggressiver Steuerplanung sowie von Steuervermeidung und Steuerhinterziehung das Referenzkriterium ist, anhand dessen im vorliegenden Fall zu beurteilen ist, ob ein Verstoß gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung vorliegen könnte, weil die geänderte Richtlinie 2011/16 die Pflicht zur Meldung grenzüberschreitender Gestaltungen nicht auf die Gesellschaftssteuer beschränkt, sondern auf alle Steuern außer der Mehrwertsteuer, den Zöllen und den Verbrauchsteuern erstreckt.
30 Nichts in den Akten, die dem Gerichtshof vorliegen, lässt aber den Schluss zu, dass aggressive Steuerplanungspraktiken nur im Bereich der Gesellschaftssteuer umgesetzt werden können, nicht aber im Bereich der übrigen direkten Steuern wie z. B. der Einkommensteuer für natürliche Personen und im Bereich der indirekten Steuern, die – im Unterschied zur Mehrwertsteuer, zu den Zöllen und zu den Verbrauchsteuern, die vom Geltungsbereich der geänderten Richtlinie 2011/16 ausgenommen sind – nicht wie diese drei Arten indirekter Steuern Gegenstand spezifischer Regelungen der Union sind, in deren Kontext das Ziel der Bekämpfung solcher Praktiken unter Umständen gezielter erreicht werden kann.
31 Wie der Generalanwalt hierzu in Nr. 35 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, lag zwar der Schwerpunkt der Folgenabschätzung der Kommission vom 21. Juni 2017 (SWD[2017] 236 final) zum Vorschlag für die Änderung der Richtlinie 2011/16 (im Folgenden: Folgenabschätzung) bei den direkten Steuern, doch wird darin dargelegt, dass Steuern aller Art Gegenstand einer aggressiven Steuerplanung sein können. Die in der Folgenabschätzung angestellte Erwägung, dass die Bekämpfung der aggressiven Steuerplanung im Bereich der Mehrwertsteuer besser im Rahmen der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. 2006, L 347, S. 1) erfolgen könnte, was darin zum Ausdruck kommt, dass die Mehrwertsteuer nicht in den sachlichen Geltungsbereich der geänderten Richtlinie 2011/16 fällt, bedeutet nicht, dass zur Bekämpfung der aggressiven Steuerplanung bei anderen indirekten Steuern ein Rückgriff auf die Meldepflicht unangebracht wäre.
32 Überdies belegt, wie der Generalanwalt in Nr. 28 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, auch das OECD/G20-Projekt zu Gewinnverkürzung und Gewinnverlagerung, von dem sich der Unionsgesetzgeber, wie dem vierten Erwägungsgrund der Richtlinie 2018/822 zu entnehmen ist, leiten ließ, dass ein Meldesystem wie das mit dieser Richtlinie eingeführte geeignet war, das größtmögliche Spektrum von Steuerarten zu erfassen.
33 Unter diesen Umständen handelt es sich bei den verschiedenen Arten von Steuern, die nach der geänderten Richtlinie 2011/16 der Meldepflicht unterliegen, angesichts der mit dieser Richtlinie im Bereich der Bekämpfung aggressiver Steuerplanung sowie der Steuervermeidung und Steuerhinterziehung im Binnenmarkt verfolgten Ziele um vergleichbare Situationen, so dass ihre Einbeziehung in einem Bereich, in dem der Unionsgesetzgeber über ein weites Ermessen bei der Ausübung der ihm übertragenen Befugnisse verfügt, zur Erreichung dieser Ziele nicht offensichtlich ungeeignet war.
34 Nach alledem ist festzustellen, dass die Prüfung des Aspekts, auf den sich die erste Frage bezieht, nichts ergeben hat, was die Gültigkeit der geänderten Richtlinie 2011/16 im Licht der Grundsätze der Gleichbehandlung und der Nichtdiskriminierung sowie der Art. 20 und 21 der Charta berühren könnte.
Zur zweiten und zur dritten Vorlagefrage
35 Mit der zweiten und der dritten Frage, die zusammen zu prüfen sind, ersucht das vorlegende Gericht den Gerichtshof, die Gültigkeit der geänderten Richtlinie 2011/16 im Licht des Grundsatzes der Rechtssicherheit, des in Art. 49 Abs. 1 der Charta verankerten Grundsatzes der Gesetzmäßigkeit in Strafsachen und des in Art. 7 der Charta garantierten Rechts auf Achtung des Privatlebens zu prüfen, da der Begriff „Gestaltung“ und somit die Begriffe „grenzüberschreitende Gestaltung“, „marktfähige Gestaltung“ und „maßgeschneiderte Gestaltung“, „Intermediär“, „Beteiligter“ und „verbundenes Unternehmen“, das Adjektiv „grenzüberschreitend“, die verschiedenen „Kennzeichen“, das „Kriterium des ‚Main benefit‘-Tests“ und schließlich der Beginn der Frist von 30 Tagen für die Erfüllung der Meldepflicht, die in dieser Richtlinie zur Bestimmung des Geltungsbereichs und des Umfangs der Meldepflicht verwendet und festgelegt würden, nicht ausreichend klar und bestimmt seien.
36 Der Grundsatz der Rechtssicherheit gebietet, dass Rechtsvorschriften – vor allem dann, wenn sie nachteilige Folgen haben können – klar und bestimmt sowie in ihrer Anwendung für den Einzelnen vorhersehbar sind. Insbesondere verlangt er, dass eine Regelung es den Betroffenen ermöglicht, den Umfang der ihnen auferlegten Pflichten genau zu erkennen, und dass sie ihre Rechte und Pflichten eindeutig erkennen und sich darauf einstellen können (Urteil vom 16. Februar 2022, Ungarn/Parlament und Rat, C‑156/21, EU:C:2022:97, Rn. 223 und die dort angeführte Rechtsprechung).
37 Diese Erfordernisse sind jedoch weder so zu verstehen, dass sie den Unionsgesetzgeber daran hindern, im Rahmen einer von ihm erlassenen Norm einen abstrakten Rechtsbegriff zu verwenden, noch so, dass in einer solchen abstrakten Norm die verschiedenen konkreten Fälle genannt werden müssen, auf die sie angewandt werden kann, sofern der Gesetzgeber nicht alle diese Fälle im Voraus bestimmen kann (Urteil vom 16. Februar 2022, Ungarn/Parlament und Rat, C‑156/21, EU:C:2022:97, Rn. 224 und die dort angeführte Rechtsprechung).
38 Zum Grundsatz der Gesetzmäßigkeit in Strafsachen ist festzustellen, dass die Mitgliedstaaten, auch wenn die geänderte Richtlinie 2011/16 selbst keine Sanktion für die Verletzung der Meldepflicht festlegt, nach deren Art. 25a insoweit wirksame, verhältnismäßige und abschreckende Sanktionen vorsehen müssen, d. h. Sanktionen, die strafrechtlichen Charakter haben können. Das vorlegende Gericht weist im Übrigen darauf hin, dass dies bei den im belgischen Recht vorgesehenen Sanktionen der Fall ist. Dabei kann ein etwaiger Mangel an Klarheit oder Bestimmtheit der in der zweiten und der dritten Frage angesprochenen Begriffe und Fristen, die festlegen, welche Verhaltensweisen die Betroffenen an den Tag legen müssen, damit gegen sie keine solchen Sanktionen verhängt werden, gegen den Grundsatz der Gesetzmäßigkeit in Strafsachen verstoßen.
39 Dieser in Art. 49 Abs. 1 der Charta verankerte Grundsatz, der eine besondere Ausprägung des allgemeinen Grundsatzes der Rechtssicherheit darstellt, impliziert nämlich insbesondere, dass die Straftaten und die für sie angedrohten Strafen im Gesetz klar definiert werden (Urteil vom 8. März 2022, Bezirkshauptmannschaft Hartberg-Fürstenfeld [Unmittelbare Wirkung], C‑205/20, EU:C:2022:168, Rn. 47 und die dort angeführte Rechtsprechung).
40 Die Gesetzmäßigkeit in Strafsachen ist gewahrt, wenn der Einzelne anhand des Wortlauts der einschlägigen Bestimmung und nötigenfalls mit Hilfe ihrer Auslegung durch die Gerichte erkennen kann, welche Handlungen und Unterlassungen seine strafrechtliche Verantwortung begründen (Urteil vom 5. Dezember 2017, M. A. S. und M. B., C‑42/17, EU:C:2017:936, Rn. 56 und die dort angeführte Rechtsprechung).
41 Überdies gehört der Grundsatz der Gesetzmäßigkeit im Zusammenhang mit Straftaten und Strafen zu den gemeinsamen Verfassungstraditionen der Mitgliedstaaten und ist in verschiedenen völkerrechtlichen Verträgen, u. a. in Art. 7 Abs. 1 EMRK, verankert. Nach den Erläuterungen zur Charta der Grundrechte (ABl. 2007, C 303, S. 17) hat das in Art. 49 der Charta garantierte Recht nach deren Art. 52 Abs. 3 dieselbe Bedeutung und Tragweite wie das von der EMRK garantierte Recht (Urteil vom 5. Dezember 2017, M. A. S. und M. B., C‑42/17, EU:C:2017:936, Rn. 53 und 54).
42 Insoweit geht aus der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (im Folgenden: EGMR) zu Art. 7 EMRK hervor, dass der Wortlaut von Rechtsakten wegen ihres notwendigerweise allgemeinen Charakters keine absolute Bestimmtheit aufweisen kann. Daraus folgt u. a., dass die Gesetzgebungstechnik, eher allgemeine Kategorien zu verwenden als abschließende Aufzählungen, zwar oft Grauzonen bei der Abgrenzung lässt, doch ist eine Vorschrift nicht bereits wegen solcher in einer begrenzten Zahl von Fällen bestehender Zweifel mit Art. 7 EMRK unvereinbar, sofern sie in den meisten Fällen hinreichend klar ist (vgl. in diesem Sinne u. a. EGMR, 15. November 1996, Cantoni/Frankreich, CE:ECHR:1996:1115JUD001786291, §§ 31 und 32).
43 Ebenso darf der Bestimmtheitsgrundsatz nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs nicht so verstanden werden, dass er die schrittweise Klärung der Vorschriften über die strafrechtliche Verantwortlichkeit durch Auslegungen seitens der Gerichte untersagt, sofern diese hinreichend vorhersehbar sind (Urteil vom 28. März 2017, Rosneft, C‑72/15, EU:C:2017:236, Rn. 167 und die dort angeführte Rechtsprechung).
44 Nach alledem steht der Umstand, dass in einer Regelung auf weit gefasste Begriffe Bezug genommen wird, die schrittweise zu klären sind, grundsätzlich nicht der Annahme entgegen, dass diese Regelung klare und bestimmte Vorschriften enthält, die es dem Einzelnen ermöglichen, vorherzusehen, welche Handlungen und Unterlassungen Gegenstand strafrechtlicher Sanktionen sein können (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 5. Mai 2022, BV, C‑570/20, EU:C:2022:348, Rn. 42). Insoweit kommt es darauf an, ob der Anschein der Mehrdeutigkeit oder Unbestimmtheit dieser Begriffe unter Rückgriff auf die üblichen Methoden der Rechtsauslegung zerstreut werden kann. Entsprechen diese Begriffe den im Rahmen der einschlägigen internationalen Übereinkommen und Gepflogenheiten verwendeten Begriffen, können diese Übereinkommen und Gepflogenheiten dem mit der Auslegung betrauten Gericht zusätzliche Hinweise geben (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 25. November 2021, État luxembourgeois [Information zu einer Gruppe von Steuerpflichtigen], C‑437/19, EU:C:2021:953, Rn. 69 bis 71).
45 Schließlich hat der Gerichtshof hervorgehoben, dass der Grad der verlangten Vorhersehbarkeit in hohem Maß vom Inhalt der in Rede stehenden Vorschriften, von dem durch sie erfassten Bereich sowie von Zahl und Eigenschaft ihrer Adressaten abhängt. Mit der Vorhersehbarkeit des Gesetzes ist es nicht unvereinbar, dass die betreffende Person gezwungen ist, fachkundigen Rat einzuholen, um unter den Umständen des konkreten Falles angemessen zu beurteilen, welche Folgen sich aus einer bestimmten Handlung ergeben können. Das gilt insbesondere für die in Ausübung ihres Berufs tätigen Personen, die gewohnt sind, sich bei der Ausübung ihrer Tätigkeit sehr umsichtig verhalten zu müssen. Daher kann von ihnen erwartet werden, dass sie die Risiken, die eine solche Tätigkeit mit sich bringt, besonders sorgfältig beurteilen (Urteil vom 5. Mai 2022, BV,C‑570/20, EU:C:2022:348, Rn. 43 und die dort angeführte Rechtsprechung).
46 Im Licht der vorstehenden Erwägungen sind die in der zweiten Frage genannten Begriffe zu prüfen.
47 Erstens wird der Begriff „Gestaltung“ in Art. 3 („Begriffsbestimmungen“) der geänderten Richtlinie 2011/16 nicht gesondert definiert. Er wird in dieser Richtlinie entweder allein oder zusammen mit anderen Worten („grenzüberschreitende Gestaltung“, „meldepflichtige grenzüberschreitende Gestaltung“, „marktfähige Gestaltung“ und „maßgeschneiderte Gestaltung“) verwendet. Der Begriff „Gestaltung“ wird auch in Anhang IV in Wendungen wie „Gestaltung, die sich so auswirkt, dass Einkünfte in Vermögen, Schenkungen oder andere niedriger besteuerte oder steuerbefreite Arten von Einkünften umgewandelt werden“, „Gestaltung, die zirkuläre Transaktionen nutzt“, oder „Gestaltung, bei der der Intermediär Anspruch auf eine Vergütung … für die Gestaltung hat und diese Vergütung in Bezug auf [den Betrag des aufgrund der Gestaltung erlangten Steuervorteils] festgesetzt wird“. Schließlich kann es sich nach Art. 3 Nr. 18 der Richtlinie bei einer „Gestaltung“ auch um eine Reihe von Gestaltungen handeln, und sie kann mehr als einen Schritt oder Teil umfassen.
48 Darüber hinaus wird im zweiten Erwägungsgrund der Richtlinie 2018/822 ausgeführt: „Für die Mitgliedstaaten wird es immer schwieriger, ihre nationalen Steuerbemessungsgrundlagen gegen Aushöhlung zu schützen, da die Steuerplanungsstrukturen immer ausgefeilter werden und sich häufig die höhere Mobilität von Kapital und Personen im Binnenmarkt zunutze machen. Derartige Strukturen umfassen häufig Gestaltungen, die für mehrere Hoheitsgebiete gemeinsam entwickelt werden und durch die steuerpflichtige Gewinne in Staaten mit vorteilhafteren Steuersystemen verlagert werden oder die eine Verringerung der Gesamtsteuerbelastung der Steuerpflichtigen bewirken.“
49 Aus dem Vorstehenden ergibt sich, dass der Begriff „Gestaltung“ in seiner üblichen Bedeutung als Mechanismus, Vorgang, Struktur oder Kniff zu verstehen ist und im Kontext der geänderten Richtlinie 2011/16 die Durchführung einer Steuerplanung zum Gegenstand hat. In Anbetracht der großen Vielfalt und Ausgefeiltheit möglicher Steuerplanungsstrukturen, auf die im zweiten Erwägungsgrund der Richtlinie 2018/822 hingewiesen wird, kann, wie im Wesentlichen in Art. 3 Nr. 18 in fine der geänderten Richtlinie 2011/16 dargelegt wird, nicht ausgeschlossen werden, dass eine Gestaltung ihrerseits aus mehreren Gestaltungen besteht. Dies kann bei einer Gestaltung der Fall sein, mit der u. a. in verschiedenen Mitgliedstaaten oder nach einem gestaffelten Zeitplan gesonderte rechtliche und steuerliche Mechanismen koordiniert umgesetzt werden, die nicht nur Schritte oder Teile dieser Gestaltung sind, sondern mit denen bereits individuell und getrennt voneinander die Verwirklichung von Steuerplanungen und in Verbindung miteinander die Verwirklichung einer Gesamtsteuerplanung verfolgt werden.
50 Hinzuzufügen ist, dass die Berücksichtigung der Steuerplanungspraktiken durch den allgemeinen Begriff „Gestaltung“ eine gängige Vorgehensweise ist; dies spiegeln u. a. die Model Mandatory Disclosure Rules for CRS Avoidance Arrangements and Opaque Offshore Structures (Mustervorschriften für verbindliche Offenlegungsregeln für die Bekämpfung von Gestaltungen zur Umgehung des gemeinsamen Meldestandards und von undurchsichtigen Offshore-Strukturen) der OECD von 2018 (im Folgenden: OECD-Mustervorschriften) wider, die gestützt auf die im Bericht über den Aktionspunkt 12 des BEPS-Projekts empfohlene bewährte Praxis erarbeitet und vom Unionsgesetzgeber am Ende des vierten Erwägungsgrundes der Richtlinie 2018/822 angesprochen wurden. In Nr. 23 der in den OECD-Mustervorschriften enthaltenen Kommentare heißt es, dass der Begriff „Gestaltung“ integraler Bestandteil der Definition der „Gestaltungen zur Umgehung des gemeinsamen Meldestandards“ ist und dass diese Definition weit und umfassend genug sein soll, um alle Vereinbarungen, Vorhaben oder Pläne zu erfassen sowie alle Schritte und Transaktionen, die Teil der Gestaltung sind oder sie umsetzen.
51 Der OBFG trägt vor, da die Meldepflicht für jede „meldepflichtige Gestaltung“ gelte, sei der Umstand, dass eine solche Gestaltung aus einer Reihe von Gestaltungen bestehen könne, geeignet, Unsicherheit über den Umfang der zu beachtenden konkreten Meldepflichten auszulösen.
52 Insoweit geht aus Art. 8ab der geänderten Richtlinie 2011/16 hervor, dass die Meldepflicht grundsätzlich für jede „meldepflichtige grenzüberschreitende Gestaltung“ gilt, d. h. nach Art. 3 Nr. 19 der Richtlinie für jede grenzüberschreitende Gestaltung, die mindestens eines der in Anhang IV aufgeführten Kennzeichen umfasst; diese deuten nach Art. 3 Nr. 20 der Richtlinie auf ein potenzielles Risiko der Steuervermeidung hin. In diesem Kontext gilt nur dann, wenn und soweit eine Gestaltung ihrerseits aus Mechanismen besteht, die nicht nur Schritte oder Teile der Gestaltung darstellen, sondern bereits individuell und getrennt voneinander die Verwirklichung von Steuerplanungen verfolgen und bereits „meldepflichtige grenzüberschreitende Gestaltungen“ darstellen, d. h. aus Gestaltungen, von denen jede individuell und isoliert ein „potenzielles Risiko der Steuervermeidung“ mit sich bringt, die Meldepflicht für jede dieser Gestaltungen und darüber hinaus zu gegebener Zeit für die von ihnen gebildete Gesamtgestaltung. Besteht eine „meldepflichtige Gestaltung“ aus Mechanismen, die diese Merkmale nicht aufweisen, besteht die Meldepflicht hingegen nur für diese Gestaltung und entsteht erst dann, wenn die Gestaltung eine der in Art. 8ab Abs. 1 der geänderten Richtlinie 2011/16 vorgesehenen zeitlichen Voraussetzungen erfüllt.
53 In Anbetracht der vorstehenden Erwägungen und im Licht der oben in den Rn. 36 bis 45 angeführten Rechtsprechung erscheint der Begriff „Gestaltung“ hinsichtlich der Anforderungen, die sich aus den Grundsätzen der Rechtssicherheit und der Gesetzmäßigkeit in Strafsachen ergeben, hinreichend klar und bestimmt.
54 Zweitens werden die Begriffe „grenzüberschreitende Gestaltung“, „marktfähige Gestaltung“ und „maßgeschneiderte Gestaltung“ in Art. 3 Nrn. 18, 24 und 25 der geänderten Richtlinie 2011/16 definiert.
55 Für die Einstufung als „grenzüberschreitende Gestaltung“ sind nach Art. 3 Nr. 18 der geänderten Richtlinie 2011/16 im Wesentlichen die steuerliche Ansässigkeit des oder der an einer solchen Gestaltung Beteiligten, der Ort, an dem sie eine Geschäftstätigkeit ausüben, die möglichen Auswirkungen der Gestaltung auf den automatischen Informationsaustausch oder die Identifizierung ihrer wirtschaftlichen Eigentümer maßgebend.
56 Zunächst ist zu den Begriffen „steuerliche Ansässigkeit“ und „Ort, an dem sie eine Geschäftstätigkeit ausüben“, festzustellen, dass sie keine besondere Verständnisschwierigkeit aufwerfen.
57 Sodann ist der Begriff „an der Gestaltung Beteiligter“, auch wenn er in der geänderten Richtlinie 2011/16 nicht eigens definiert wird, gleichwohl ohne Weiteres so zu verstehen, dass darunter der „relevante Steuerpflichtige“ im Sinne von Art. 3 Nr. 22 der Richtlinie fällt, a priori aber nicht der „Intermediär“ im Sinne von Art. 3 Nr. 21 der Richtlinie, unbeschadet der Möglichkeit, dass der Intermediär nicht nur die in Nr. 21 genannten Transaktionen vornimmt, sondern auch als relevanter Steuerpflichtiger aktiv an der Gestaltung beteiligt ist.
58 Schließlich wird die Beurteilung der möglichen „Auswirkungen auf den automatischen Informationsaustausch oder die Identifizierung der wirtschaftlichen Eigentümer“ einer Gestaltung in Anhang IV hinreichend erläutert, da dort in Kategorie D die spezifischen Kennzeichen hinsichtlich des automatischen Informationsaustauschs und der wirtschaftlichen Eigentümer aufgeführt sind. Kategorie D enthält in den Nrn. 1 und 2 Listen verschiedener Organisations- oder Funktionsmodalitäten, aufgrund deren eine Gestaltung zu einer Aushöhlung der Meldepflicht oder, durch den Rückgriff auf intransparente Eigentümerketten, zu einer Verschleierung der Identität der wirtschaftlichen Eigentümer, die von diesen Organisations- oder Funktionsmodalitäten profitieren, führen kann.
59 Aus den vorstehenden Erwägungen ergibt sich, dass der Begriff „grenzüberschreitende Gestaltung“ in seinen verschiedenen Aspekten bei der Prüfung der Bestimmungen der geänderten Richtlinie 2011/16 unter Berücksichtigung der oben in den Rn. 36 bis 45 angeführten Rechtsprechung hinsichtlich der Anforderungen, die sich aus den Grundsätzen der Rechtssicherheit und der Gesetzmäßigkeit in Strafsachen ergeben, hinreichend klar und bestimmt erscheint.
60 Gleiches gilt für die – einander ausschließenden – Begriffe „marktfähige Gestaltung“ und „maßgeschneiderte Gestaltung“, wobei mit Ersterem eine grenzüberschreitende Gestaltung bezeichnet wird, die konzipiert wird, vermarktet wird, umsetzungsbereit ist oder zur Umsetzung bereitgestellt wird, ohne dass sie individuell angepasst werden muss, während Letzterer als jede grenzüberschreitende Gestaltung definiert wird, bei der es sich nicht um eine marktfähige Gestaltung handelt. Insbesondere wird nämlich das Merkmal des fehlenden individuellen Anpassungsbedarfs durch das Kennzeichen A.3 des Anhangs IV dergestalt erläutert, dass es bei einer Gestaltung vorliegt, deren Dokumentation und/oder Struktur im Wesentlichen standardisiert ist und für mehr als einen relevanten Steuerpflichtigen verfügbar ist, ohne dass sie für die Umsetzung wesentlich individuell angepasst werden muss.
61 Drittens wird der Begriff „Intermediär“ in Art. 3 Nr. 21 der geänderten Richtlinie 2011/16 so definiert, dass er jede Person bezeichnet, „die eine meldepflichtige grenzüberschreitende Gestaltung konzipiert, vermarktet, organisiert oder zur Umsetzung bereitstellt oder die die Umsetzung einer solchen Gestaltung verwaltet“ (Abs. 1), aber auch „jede Person, die – unter Berücksichtigung der relevanten Fakten und Umstände und auf der Grundlage der verfügbaren Informationen sowie des einschlägigen Fachwissens und Verständnisses, die für die Erbringung solcher Dienstleistungen erforderlich sind – weiß oder vernünftigerweise wissen müsste, dass sie unmittelbar oder über andere Personen Hilfe, Unterstützung oder Beratung im Hinblick auf Konzeption, Vermarktung, Organisation, Bereitstellung zur Umsetzung oder Verwaltung der Umsetzung einer meldepflichtigen grenzüberschreitenden Gestaltung geleistet hat“ (Abs. 2).
62 Weiter heißt es in Art. 3 Nr. 21, dass eine Person, damit sie als Intermediär fungieren kann, mindestens eine der folgenden vier zusätzlichen, eine Verbindung zum Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten herstellenden Voraussetzungen erfüllen muss: Sie ist in einem Mitgliedstaat steuerlich ansässig, hat eine Betriebsstätte in einem Mitgliedstaat, durch die die Dienstleistungen im Zusammenhang mit der grenzüberschreitenden Gestaltung erbracht werden, ist nach dem Recht eines Mitgliedstaats eingetragen oder unterliegt dem Recht eines Mitgliedstaats oder ist in einem Mitgliedstaat Mitglied in einer Organisation für juristische, steuerliche oder beratende Dienstleistungen.
63 Aus dem Vorabentscheidungsersuchen geht hervor, dass sich die Zweifel des vorlegenden Gerichts vor allem darauf beziehen, dass der Begriff „Intermediär“ nach Art. 3 Nr. 21 Abs. 2 der geänderten Richtlinie 2011/16 Personen erfasst, die der Sache nach nur „Auxiliarintermediäre“ oder, nach der Terminologie in den OECD-Mustervorschriften, „Dienstleistungserbringer“ sind, da sie nur „Hilfe, Unterstützung oder Beratung“ leisten (im Folgenden: Auxiliarintermediäre), während die in Art. 3 Nr. 21 Abs. 1 der Richtlinie genannten Personen die grenzüberschreitende Gestaltung konzipieren, vermarkten, organisieren, zur Umsetzung bereitstellen oder ihre Umsetzung verwalten (im Folgenden: Hauptintermediäre) und in den Mustervorschriften als „Promoter“ der Gestaltung bezeichnet werden.
64 In diesem Kontext ist aber festzustellen, dass der Formulierung, die in Art. 3 Nr. 21 Abs. 2 der geänderten Richtlinie 2011/16 nach seinem oben in Rn. 61 wiedergegebenen Inhalt enthalten ist, in Anbetracht der oben in den Rn. 36 bis 45 angeführten Rechtsprechung nicht die erforderliche Bestimmtheit fehlt, damit die betreffenden Wirtschaftsteilnehmer erkennen können, ob sie zur Kategorie der meldepflichtigen Personen gehören. Dies gilt insbesondere für die insoweit zentrale Wendung, dass die Person „unmittelbar oder über andere Personen Hilfe, Unterstützung oder Beratung“ leistet.
65 Viertens wird der Begriff „verbundenes Unternehmen“ in Art. 3 Nr. 23 der geänderten Richtlinie 2011/16 definiert, der vorsieht, dass ein solches Unternehmen für die Zwecke von Art. 8ab der Richtlinie eine Person ist, die mit einer anderen Person auf eine der verschiedenen in Art. 3 Nr. 23 aufgeführten Arten verbunden ist, sofern sie unter bestimmten Modalitäten und Bedingungen an der Geschäftsleitung, der Kontrolle, dem Kapital oder den Gewinnen der anderen Person beteiligt ist. Diese Bestimmung sieht ferner u. a. vor, dass im Fall einer gemeinsamen Beteiligung mehrerer Personen an der Geschäftsleitung, der Kontrolle, dem Kapital oder den Gewinnen einer oder mehrerer anderer Personen alle beteiligten Personen als verbundene Unternehmen gelten. Sie regelt außerdem die Modalitäten für die Berücksichtigung mittelbarer Beteiligungen und stellt klar, dass eine natürliche Person, ihr Ehepartner und ihre Verwandten in aufsteigender oder absteigender gerader Linie als eine einzige Person behandelt werden.
66 In Anbetracht der oben in den Rn. 36 bis 45 angeführten Rechtsprechung genügt eine solche Vorschrift, auch wenn sie weit gefasst ist, offensichtlich den Erfordernissen der Klarheit und Bestimmtheit, die sich aus den Grundsätzen der Rechtssicherheit und der Gesetzmäßigkeit in Strafsachen ergeben. Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass sich die Ausführungen des OBFG in seinen Erklärungen zu dieser Definition weniger auf einen etwaigen Mangel an Klarheit dieser Vorschrift beziehen als auf ihren Umfang.
67 Fünftens heißt es in Bezug auf die in Anhang IV der geänderten Richtlinie 2011/16 aufgeführten Kennzeichen im neunten Erwägungsgrund der Richtlinie 2018/822 im Wesentlichen, dass es angesichts dessen, dass die aggressive Steuerplanung immer komplexer geworden ist und ständig an die Gegenmaßnahmen der Steuerbehörden angepasst wird, wirksamer ist, potenziell aggressive Steuerplanungsgestaltungen durch die Zusammenstellung einer Liste von Merkmalen und Elementen, die „Kennzeichen“ dieser Gestaltungen darstellen, zu erfassen, statt den Begriff der aggressiven Steuerplanung zu definieren.
68 In Art. 3 Nr. 20 der geänderten Richtlinie 2011/16 wird „Kennzeichen“ definiert als „ein Merkmal oder eine Eigenschaft einer grenzüberschreitenden Gestaltung gemäß Anhang IV, das bzw. die auf ein potenzielles Risiko der Steuervermeidung hindeutet“.
69 Die in Anhang IV definierten Kennzeichen sind in verschiedene Kategorien unterteilt, und zwar „Allgemeine Kennzeichen in Verbindung mit dem ‚Main benefit‘-Test“ (Kategorie A) und „Spezifische Kennzeichen“, erstens in Verbindung mit dem „‚Main benefit‘-Test“ (Kategorie B), zweitens im Zusammenhang mit „grenzüberschreitenden Transaktionen“ (Kategorie C), drittens hinsichtlich des „automatischen Informationsaustauschs und der wirtschaftlichen Eigentümer“ (Kategorie D) und viertens hinsichtlich der „Verrechnungspreisgestaltung“ (Kategorie E).
70 Während bei bestimmten Kennzeichen die Tatsache, dass eine grenzüberschreitende Gestaltung sie aufweist, als Nachweis dafür genügt, dass diese Gestaltung ein potenzielles Risiko der Steuervermeidung aufweist, können andere, und zwar die der Kategorien A und B sowie der Kategorie C Abs. 1 Buchst. b Ziff. i, Buchst. c und Buchst. d, nur berücksichtigt werden, wenn sie das in Teil I von Anhang IV definierte Kriterium des „Main benefit“-Tests erfüllen. Dieser Test ist erfüllt, wenn „festgestellt werden kann, dass der Hauptvorteil oder einer der Hauptvorteile, den eine Person unter Berücksichtigung aller relevanten Fakten und Umstände vernünftigerweise von einer Gestaltung erwarten kann, die Erlangung eines Steuervorteils ist“.
71 Die in Anhang IV definierten Kennzeichen beziehen sich auf spezifische und konkrete Merkmale von Steuergestaltungen, die Intermediäre im Sinne der geänderten Richtlinie 2011/16, die in der Regel Steuerfachleute sind, oder – in Ermangelung eines Intermediärs – Steuerpflichtige, die selbst grenzüberschreitende Steuerplanungsgestaltungen konzipieren, ohne übermäßige Schwierigkeiten ermitteln können.
72 Außerdem können die in Anhang IV enthaltenen Definitionen der Kennzeichen mit den detaillierten Analysen im Bericht über den Aktionspunkt 12 des BEPS-Projekts und in der Folgenabschätzung verknüpft werden.
73 Überdies implizieren zwar, wie der Generalanwalt in Nr. 88 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, die Vielfalt und die Tragweite der Kennzeichen, dass sie eine heterogene Gesamtheit von Gestaltungen abdecken, doch ist dieser Umstand nicht geeignet, die Anwendung der Meldepflicht für die ihr unterliegenden Personen unvorhersehbar werden zu lassen.
74 Zum Vorbringen des OBFG, das Kriterium des Hauptvorteils stelle ein subjektives Kriterium dar, ist festzustellen, dass es auf den Vorteil Bezug nimmt, „den eine Person unter Berücksichtigung aller relevanten Fakten und Umstände vernünftigerweise von einer Gestaltung erwarten kann“. Es dürfte für einen Intermediär – und in Ermangelung eines meldepflichtigen Intermediärs für den relevanten Steuerpflichtigen – nicht besonders schwierig sein, sich dazu zu äußern, ob der Hauptvorteil oder einer der Hauptvorteile, der vernünftigerweise von der von ihnen konzipierten und/oder genutzten Gestaltung erwartet werden kann, steuerlicher Natur ist. Hierzu heißt es im Bericht über den Aktionspunkt 12 des BEPS-Projekts, dass bei dem Kriterium des Hauptsteuervorteils die Höhe des erwarteten Steuervorteils mit allen übrigen Vorteilen verglichen wird, die sich aus der Gestaltung ergeben können, was den Vorzug hat, sich auf eine objektive Bewertung der Steuervorteile zu stützen.
75 In Anbetracht der vorstehenden Erwägungen und im Licht der oben in den Rn. 36 bis 45 angeführten Rechtsprechung erscheinen die in Anhang IV definierten Kennzeichen hinsichtlich der Anforderungen, die sich aus den Grundsätzen der Rechtssicherheit und der Gesetzmäßigkeit in Strafsachen ergeben, hinreichend klar und bestimmt.
76 Sechstens beginnt nach Art. 8ab Abs. 1 Unterabs. 1 der geänderten Richtlinie 2011/16 die Frist von 30 Tagen für die Erfüllung der Meldepflicht durch die Intermediäre an dem Tag, nach dem die meldepflichtige grenzüberschreitende Gestaltung zur Umsetzung bereitgestellt wird, oder an dem Tag, nach dem diese Gestaltung umsetzungsbereit ist, oder wenn der erste Schritt zur Umsetzung dieser Gestaltung gemacht wurde, je nachdem, was früher eintritt.
77 Ferner bestimmt Art. 8ab Abs. 1 Unterabs. 2 dieser Richtlinie: „Ungeachtet des Unterabsatzes 1 sind auch die in Artikel 3 Nummer 21 Absatz 2 genannten Intermediäre zur Vorlage der Informationen innerhalb von 30 Tagen, beginnend an dem Tag, nach dem sie unmittelbar oder über andere Personen Hilfe, Unterstützung oder Beratung geleistet haben, verpflichtet.“
78 Schließlich bestimmt Art. 8ab Abs. 7 der Richtlinie für den Fall, dass die Meldepflicht in Ermangelung eines meldepflichtigen Intermediärs dem relevanten Steuerpflichtigen obliegt, im Wesentlichen und mit ähnlichen Worten wie bei den Hauptintermediären, dass die Frist von 30 Tagen an dem Tag beginnt, nach dem die Gestaltung dem relevanten Steuerpflichtigen zur Umsetzung bereitgestellt wird oder zur Umsetzung durch ihn bereit ist oder wenn der erste Schritt zu ihrer Umsetzung im Zusammenhang mit dem Steuerpflichtigen gemacht wurde, je nachdem, was früher eintritt.
79 Der Grundgedanke der geänderten Richtlinie 2011/16 und der durch sie auferlegten Meldepflicht implizieren, den Zeitpunkt festzulegen, zu dem diese Pflicht entsteht. Wie sich aus den oben in den Rn. 76 bis 78 erwähnten Bestimmungen ergibt, handelt es sich bei der Umsetzung der meldepflichtigen Gestaltung oder der Leistung von Hilfe, Unterstützung oder Beratung um die vom Unionsgesetzgeber insoweit gewählten Gegebenheiten.
80 Zum einen bezeichnet die Wendung „Bereitstellung der grenzüberschreitenden Gestaltung zur Umsetzung“, wie der Generalanwalt in Nr. 107 seiner Schlussanträge ausgeführt hat und wie der gewöhnliche Sprachgebrauch nahelegt, den Übergang von der Konzeptphase der Gestaltung zu ihrer operationellen Phase. Dieser Begriff kann nicht als unbestimmt oder unklar für den oder die Intermediäre im Sinne von Art. 3 Nr. 21 Abs. 1 der geänderten Richtlinie 2011/16 bzw., in Ermangelung eines Intermediärs, für den relevanten Steuerpflichtigen angesehen werden. Denn die Intermediäre bzw., in Ermangelung eines Intermediärs, der relevante Steuerpflichtige kennen die fragliche Gestaltung und sind daher in der Lage, den Zeitpunkt, zu dem ein solcher Übergang erfolgt, genau zu bestimmen.
81 Zum anderen ist hinsichtlich der für die in Art. 8ab Abs. 1 Unterabs. 2 der geänderten Richtlinie 2011/16 genannten Intermediäre, bei denen es sich um Intermediäre im Sinne ihres Art. 3 Nr. 21 Abs. 2 handelt, geltenden Bezugnahme auf die Leistung von Hilfe, Unterstützung oder Beratung festzustellen, dass sich diese Leistung über einen gewissen Zeitraum erstrecken kann.
82 In Art. 8ab Abs. 1 Unterabs. 2 wird allerdings nicht klargestellt, ob die den Intermediären zur Verfügung stehende Meldefrist am Tag nach dem ersten oder dem letzten Tag des Zeitraums beginnt, in dem Hilfe, Unterstützung oder Beratung geleistet wird.
83 Außerdem ist hervorzuheben, dass die Meldepflicht der Intermediäre im Sinne von Art. 3 Nr. 21 Abs. 2 der Richtlinie logischerweise erst dann bestehen kann, wenn die betreffende Person weiß oder vernünftigerweise wissen müsste, dass sie unmittelbar oder über andere Personen Hilfe, Unterstützung oder Beratung im Hinblick auf Konzeption, Vermarktung oder Organisation einer meldepflichtigen grenzüberschreitenden Gestaltung geleistet hat und somit ein der Meldepflicht unterliegender „Intermediär“ ist. Dieser Zeitpunkt kann gegebenenfalls, je nach den Informationen, die dieser Person über die genaue Art der fraglichen Gestaltung zur Verfügung stehen, nach dem Beginn der Hilfe, Unterstützung oder Beratung durch sie liegen. In Anbetracht insbesondere dieses Umstands heißt es in Art. 3 Nr. 21 Abs. 2 der Richtlinie, dass die betreffende Person das Recht hat, Beweise zu erbringen, wonach sie nicht wusste oder vernünftigerweise nicht wissen konnte, dass sie an einer meldepflichtigen grenzüberschreitenden Gestaltung beteiligt war.
84 Schließlich ist, wie der Generalanwalt in Nr. 109 seiner Schlussanträge ausgeführt hat und wie sich aus dem siebten Erwägungsgrund der Richtlinie 2018/822 ergibt, davon auszugehen, dass die frühzeitige (d. h. vor der Umsetzung der Gestaltung erfolgende) Vorlage von Informationen bei der Steuerverwaltung vorzugswürdig ist. Gleichwohl ist, wie der Generalanwalt in Nr. 112 seiner Schlussanträge im Wesentlichen ausgeführt hat, die Gefahr möglichst gering zu halten, dass Meldepflichten in Bezug auf Gestaltungen zu erfüllen sind, deren Umsetzung ungewiss bleibt, was insbesondere bei Auxiliarintermediären der Fall sein könnte, bei denen es, da sie nicht so unmittelbar involviert sind wie die Hauptintermediäre, weniger wahrscheinlich ist, dass sie genau über den Stand der Umsetzung der betreffenden Gestaltung informiert sind.
85 Unter diesen Umständen ist sowohl aus der Verwendung einer Vergangenheitsform in Art. 8ab Abs. 1 Unterabs. 2 der geänderten Richtlinie 2011/16 („geleistet haben“) als auch aus der für die Hauptintermediäre geltenden Regel, wonach die Meldefrist nicht schon ab dem Beginn ihrer Beteiligung an der Konzipierung der Gestaltung läuft, sondern erst im Stadium ihrer Umsetzung, abzuleiten, dass die Meldefrist für Auxiliarintermediäre erst an dem Tag beginnen kann, nach dem sie ihre Hilfe, Unterstützung oder Beratung beendet haben, und spätestens an dem in Art. 8ab Abs. 1 Unterabs. 1 festgelegten Tag, ihre Kenntnis vorausgesetzt. Hinzuzufügen ist, dass diese Erwägungen ihre Möglichkeit unberührt lassen, ihrer Meldepflicht, wenn sie dies wünschen, nachzukommen, bevor die hierfür geltende Frist von 30 Tagen zu laufen beginnt, also etwa schon zu Beginn ihrer Hilfe, Unterstützung oder Beratung.
86 In Anbetracht der vorstehenden Erwägungen und im Licht der oben in den Rn. 36 bis 45 angeführten Rechtsprechung ist davon auszugehen, dass der Beginn der Meldefrist für die verschiedenen von der geänderten Richtlinie 2011/16 erfassten Kategorien von Intermediären sowie für den relevanten Steuerpflichtigen, wenn ihm die Meldepflicht obliegt, in einer hinsichtlich der Anforderungen, die sich aus den Grundsätzen der Rechtssicherheit und der Gesetzmäßigkeit in Strafsachen ergeben, hinreichend klaren und bestimmten Weise festgelegt ist.
87 Unter diesen Umständen stellt die Prüfung der zweiten und der dritten Frage die Gültigkeit der geänderten Richtlinie 2011/16 im Licht der Grundsätze der Rechtssicherheit und der Gesetzmäßigkeit in Strafsachen nicht in Frage.
88 Hinsichtlich der Beachtung von Art. 7 der Charta geht es bei der zweiten und der dritten Frage im Wesentlichen darum, ob die darin angesprochenen Begriffe und Fristen unabhängig von der Frage der Wahrung des Berufsgeheimnisses hinreichend genau sind, um sicherzustellen, dass der mit der Meldepflicht verbundene Eingriff in das Privatleben des Intermediärs und des relevanten Steuerpflichtigen im Hinblick auf die Informationen, die diese Meldung enthalten muss, seinerseits hinreichend genau bestimmt wird.
89 Da, wie der Generalanwalt in Nr. 123 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, Art. 7 der Charta hinsichtlich des Erfordernisses der Klarheit und Genauigkeit der verwendeten Begriffe und der festgelegten Fristen keine strengere Verpflichtung als ihr Art. 49 aufstellt, ist davon auszugehen, dass der mit der Meldepflicht verbundene Eingriff in das Privatleben des Intermediärs und des relevanten Steuerpflichtigen im Hinblick auf die Informationen, die diese Meldung enthalten muss, seinerseits hinreichend genau bestimmt wird. Diese Erwägung gilt jedoch unbeschadet der Prüfung, ob der Eingriff nicht über das hinausgeht, was zur Wahrung der mit der geänderten Richtlinie 2011/16 verfolgten, dem Gemeinwohl dienenden Ziele erforderlich ist; dies ist Gegenstand der fünften Vorlagefrage.
90 Nach alledem hat die Prüfung der Aspekte, auf die sich die zweite und die dritte Vorlagefrage beziehen, nichts ergeben, was die Gültigkeit der geänderten Richtlinie 2011/16 im Licht des Grundsatzes der Rechtssicherheit, des in Art. 49 Abs. 1 der Charta verankerten Grundsatzes der Gesetzmäßigkeit in Strafsachen und des durch Art. 7 der Charta garantierten Rechts auf Achtung des Privatlebens berühren könnte.
Zur vierten Vorlagefrage
91 Die vierte Frage betrifft die in Art. 8ab Abs. 5 der geänderten Richtlinie 2011/16 vorgesehene Unterrichtungspflicht und ähnelt der in Bezug auf Rechtsanwälte in der Rechtssache, in der das Urteil vom 8. Dezember 2022, Orde van Vlaamse Balies u. a. (C‑694/20, EU:C:2022:963), ergangen ist, gestellten Frage. Im vorliegenden Fall betrifft sie Intermediäre, für die, ohne dass sie Rechtsanwälte sind, nach nationalem Recht eine Verschwiegenheitspflicht besteht.
Vorbemerkungen zur Tragweite von Art. 8ab Abs. 5 der geänderten Richtlinie 2011/16
92 Vor der Prüfung dieser Frage ist auf die in der mündlichen Verhandlung wiederholten Erklärungen der Kommission einzugehen, wonach die in Art. 8ab Abs. 5 der geänderten Richtlinie 2011/16 vorgesehene Möglichkeit der Mitgliedstaaten, die Meldepflicht durch die Unterrichtungspflicht zu ersetzen, nicht für alle Berufsangehörigen eingeführt worden sei, für die nach nationalem Recht eine Verschwiegenheitspflicht bestehe, sondern nur für diejenigen unter ihnen, die Rechtsanwälten gleichzustellen seien, da sie nach nationalem Recht befugt seien, Parteien vor Gericht zu vertreten. Die Kommission hat hinzugefügt, angesichts der Vielfalt der nationalen Rechtssysteme habe der Unionsgesetzgeber die Bestimmung dieser Berufsangehörigen in das Ermessen jedes Mitgliedstaats stellen wollen.
93 In seinen schriftlichen Erklärungen und in der mündlichen Verhandlung hat auch der Rat der Europäischen Union die Auffassung vertreten, dass es in Bezug auf die Verschwiegenheitspflicht nicht gerechtfertigt sei, den Intermediären, die keine Rechtsanwälte seien, den gleichen Schutz wie Rechtsanwälten zu gewähren. Insoweit hat er im Wesentlichen geltend gemacht, dass die in Art. 8ab Abs. 5 der geänderten Richtlinie 2011/16 vorgesehene Möglichkeit, die Meldepflicht durch die Unterrichtungspflicht zu ersetzen, den Mitgliedstaaten nur eingeräumt worden sei, damit sie den Anforderungen nachkommen könnten, die sich aus der Charta sowie der Rechtsprechung des EGMR und des Gerichtshofs ergäben.
94 Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs ist bei der Auslegung einer unionsrechtlichen Vorschrift nicht nur deren Wortlaut zu berücksichtigen, sondern auch ihr Kontext und die Ziele, die mit der Regelung, zu der sie gehört, verfolgt werden (Urteil vom 20. Oktober 2022, Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid [Rückführung eines Opfers des Menschenhandels], C‑66/21, EU:C:2022:809, Rn. 55 und die dort angeführte Rechtsprechung).
95 Zum Wortlaut von Art. 8ab Abs. 5 der geänderten Richtlinie 2011/16 ist festzustellen, dass die Sprachfassungen dieser Bestimmung voneinander abweichen. In der englischen Sprachfassung wird der Ausdruck „legal professional privilege“ verwendet, der im Kontext des Unionsrechts, wie die Kommission geltend macht, als Bezugnahme auf das Berufsgeheimnis des Rechtsanwalts und Angehöriger anderer Berufe anzusehen ist, die ihm gleichzustellen sind, da sie nach dem anwendbaren nationalen Recht zur rechtlichen Vertretung eines Mandanten vor den nationalen Gerichten befugt sind. Zwei Sprachfassungen, und zwar die maltesische und die rumänische, enthalten eine wörtliche Übersetzung dieses englischen Ausdrucks (privileġġ professjonali legali und privilegiu profesional legal). In der griechischen Fassung wird ausdrücklich auf das „Berufsgeheimnis des Rechtsanwalts nach nationalem Recht“ (το δικηγορικό απόρρητο βάσει της εθνικής νομοθεσίας) Bezug genommen. Dagegen enthalten die übrigen achtzehn Sprachfassungen Ausdrücke, die im Wesentlichen auf das nach nationalem Recht bestehende Berufsgeheimnis verweisen, ohne Bezugnahme auf das anwaltliche Berufsgeheimnis. Diese anderen Sprachfassungen können daher Berufe (wie Steuerberater, Notar, Wirtschaftsprüfer, Buchprüfer oder Bankier) erfassen, die nach nationalem Recht einem Berufsgeheimnis unterliegen, aber a priori nicht zur Vertretung vor Gericht befugt sind.
96 Der achte, die Einfügung von Art. 8ab Abs. 5 in die Richtlinie 2011/16 betreffende Erwägungsgrund der Richtlinie 2018/822 weist in seinen 22 Sprachfassungen die gleichen terminologischen Unterschiede sowie folgende zusätzliche Besonderheiten auf. In der griechischen Sprachfassung dieses Erwägungsgrundes (το επαγγελματικό απόρρητο) wird auf das Berufsgeheimnis im Allgemeinen Bezug genommen, ohne dass – wie in der griechischen Fassung von Art. 8ab Abs. 5 – das anwaltliche Berufsgeheimnis erwähnt wird. Umgekehrt nimmt die dänische Fassung dieses Erwägungsgrundes Bezug auf den Rechtsanwalt und sieht vor, dass die Meldepflicht im Fall der „Vertraulichkeit der Korrespondenz zwischen dem Rechtsanwalt und seinem Mandanten oder einer ähnlichen gesetzlichen Verpflichtung“ („på grund af fortroligheden af korrespondance mellem advokat og klient, eller en tilsvarende lovbaseret tavshedspligt“) nicht auferlegt werden darf, während in der dänischen Fassung von Art. 8ab Abs. 5 Rechtsanwälte nicht erwähnt werden.
97 Daraus ergibt sich, dass die Auslegung des Wortlauts von Art. 8ab Abs. 5 der geänderten Richtlinie 2011/16 es nicht erlaubt, klar und eindeutig zu bestimmen, welche Tragweite die den Mitgliedstaaten durch die geänderte Richtlinie 2011/16 eingeräumte Befugnis, die Meldepflicht durch die Unterrichtungspflicht zu ersetzen, hinsichtlich der möglicherweise betroffenen Berufe hat.
98 Zum Kontext und zu den mit der geänderten Richtlinie 2011/16 verfolgten Zielen ist erstens darauf hinzuweisen, dass die Richtlinie 2018/822, wie sich aus ihrem zweiten Erwägungsgrund ergibt, es den Mitgliedstaaten ermöglichen soll, ihre nationalen Steuerbemessungsgrundlagen wirksam gegen die Aushöhlung zu schützen, die ihnen aufgrund der Schaffung immer ausgefeilterer Steuerplanungsstrukturen durch Steuerpflichtige droht. Aus diesem Erwägungsgrund geht ferner hervor, dass die Mitgliedstaaten, um einen solchen wirksamen Schutz zu ermöglichen, umfassende und relevante Informationen über potenziell aggressive Steuergestaltungen erhalten müssen, damit sie zeitnah gegen schädliche Steuerpraktiken vorgehen und Schlupflöcher durch den Erlass von Rechtsvorschriften oder die Durchführung geeigneter Risikoabschätzungen sowie durch Steuerprüfungen schließen können. Überdies soll die Richtlinie, wie aus ihren Erwägungsgründen 4 und 8 hervorgeht, durch die Bekämpfung von Steuervermeidung und Steuerhinterziehung im Binnenmarkt dessen reibungsloses Funktionieren gewährleisten. Zur Verwirklichung jedes dieser Ziele hat der Unionsgesetzgeber, wie sich aus den Erwägungsgründen 6 bis 8 der Richtlinie ergibt, die verpflichtende Offenlegung von Informationen zu potenziell aggressiven Steuerplanungsgestaltungen mittels Meldepflichten der Intermediäre für unabdingbar erachtet.
99 Wie der Generalanwalt in den Nrn. 202 bis 204 seiner Schlussanträge im Wesentlichen ausgeführt hat, hätte eine Auslegung von Art. 8ab der geänderten Richtlinie 2011/16, wonach er es den Mitgliedstaaten gestattet, alle Intermediäre, u. a. Steuerberater, Notare, Wirtschaftsprüfer, Buchprüfer oder Bankiers, von der Meldepflicht zu befreien, sofern für sie nach dem einschlägigen nationalen Recht eine Verschwiegenheitspflicht besteht, potenziell zur Folge, dass der Weg zu einer Infragestellung der Wirksamkeit des vom Unionsgesetzgeber geschaffenen Meldesystems offenstünde.
100 Zweitens ist der Kommission und den Ausführungen des Generalanwalts in Nr. 206 seiner Schlussanträge beizupflichten, dass die geänderte Richtlinie 2011/16 und insbesondere die in ihrem Art. 8ab vorgesehene Melde- und Unterrichtungspflicht eng mit OECD-Dokumenten und insbesondere mit der Vorschrift 2.4 der OECD-Mustervorschriften verbunden sind.
101 Diese Vorschrift („Umstände, unter denen ein Intermediär von der Meldepflicht befreit ist“) bestimmt, dass die Befreiung von der Meldepflicht aufgrund von innerstaatlichen Vorschriften über das Berufsgeheimnis nur gilt, „soweit durch die Meldung vertrauliche Informationen offenbart würden, die ein Rechtsanwalt oder ein anderer zugelassener Rechtsvertreter [‚attorney, solicitor or other admitted legal representative‘ in der englischen Sprachfassung] in Bezug auf einen Mandanten gemäß der Definition im Kommentar zu Art. 26 des OECD-Musterabkommens hat“.
102 Desgleichen heißt es in Nr. 80 von Teil III („Kommentar“) der OECD- Mustervorschriften: „Vorschriften über die Meldepflicht verpflichten einen Rechtsanwalt oder einen anderen zugelassenen Rechtsvertreter [‚attorney, solicitor or other admitted legal representative‘ in der englischen Sprachfassung] nicht zur Offenbarung von Informationen, die durch das Berufsgeheimnis oder gleichwertige berufliche Verschwiegenheitspflichten geschützt sind.“
103 Auch in Nr. 19.4 des Kommentars zu Art. 26 des OECD-Musterabkommens zur Beseitigung der Doppelbesteuerung auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen wird auf den Schutz vertraulicher Kommunikationen zwischen einem Mandanten und einem „Rechtsanwalt oder einem anderen zugelassenen Rechtsvertreter [‚attorney, solicitor or other admitted legal representative‘ in der englischen Sprachfassung]“ Bezug genommen.
104 Aus dem Vorstehenden folgt, dass die Arbeiten, auf denen der Wortlaut der geänderten Richtlinie 2011/16 in Bezug auf die Meldepflicht und die Unterrichtungspflicht beruht, im Wesentlichen nur zum Schutz der Berufsgeheimnisse von Rechtsanwälten und anderer Berufsangehöriger dienten, die wie Erstere von Rechts wegen zur Vertretung vor Gericht befugt sind.
105 Drittens dürfte die Bezugnahme in Art. 8ab Abs. 5 der geänderten Richtlinie 2011/16 auf die „nach dem nationalen Recht“ bestehende Verschwiegenheitspflicht damit zu erklären sein, dass der verstärkte Schutz der Kommunikation zwischen einem Rechtsanwalt und seinem Mandanten auf Unionsebene zwar bereits aufgrund der Art. 7 und 47 der Charta gewährleistet ist, doch sind die Modalitäten dieses Schutzes und vor allem die Bedingungen und Grenzen, unter denen sich andere der Verschwiegenheitspflicht unterliegende Berufsangehörige gegebenenfalls auf einen vergleichbaren Schutz berufen können, im nationalen Recht geregelt. Insoweit geht aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten hervor, dass einige Mitgliedstaaten die Befugnis zur Vertretung vor Gericht auf andere Berufe als den des Rechtsanwalts ausdehnen.
106 Somit ist es zwar, wie in Art. 8ab Abs. 5 der geänderten Richtlinie 2011/16 vorgesehen, gerechtfertigt, dass die Mitgliedstaaten in diesem Kontext über einen Spielraum bei der Ausübung ihrer Befugnis verfügen, die Meldepflicht durch die Unterrichtungspflicht zu ersetzen, damit sie andere von ihnen zur Vertretung vor Gericht ermächtigte Berufsgruppen als Rechtsanwälte berücksichtigen können; gleichwohl soll dieser Spielraum es den Mitgliedstaaten nicht ermöglichen, die mit dieser Ersetzung von Pflichten verbundene Vergünstigung auf Berufe auszudehnen, die nicht vor Gericht auftreten dürfen.
107 Hinzuzufügen ist, dass bei einer anderen Auslegung von Art. 8ab Abs. 5 der geänderten Richtlinie 2011/16 und der Befugnis der Mitgliedstaaten, die Meldepflicht durch die Unterrichtungspflicht zu ersetzen, die Gefahr der Schaffung von Verzerrungen zwischen Mitgliedstaaten bestünde, da eine weite Ausübung dieser Befugnis in Form der Einbeziehung von Berufen, die einer Verschwiegenheitspflicht unterliegen, aber nicht vor Gericht auftreten, durch einige Mitgliedstaaten dazu führen könnte, dass potenziell aggressive Steuerplanungstätigkeiten in ihr Hoheitsgebiet verlagert und dadurch die Wirksamkeit und Einheitlichkeit der Bekämpfung von Steuervermeidung und Steuerhinterziehung im Binnenmarkt auf Unionsebene beeinträchtigt werden.
108 In Anbetracht der vorstehenden Erwägungen ist davon auszugehen, dass die Befugnis der Mitgliedstaaten nach Art. 8ab Abs. 5 der geänderten Richtlinie 2011/16, die Meldepflicht durch die Unterrichtungspflicht zu ersetzen, nur für Berufsangehörige besteht, die im nationalen Recht wie Rechtsanwälte zur Vertretung vor Gericht befugt sind.
109 Zu klären bleibt jedoch noch, ob – wie der Gerichtshof in Bezug auf das Verhältnis zwischen einem Rechtsanwalt und seinem Mandanten bereits in seinem Urteil vom 8. Dezember 2022, Orde van Vlaamse Balies u. a. (C‑694/20, EU:C:2022:963, Rn. 19
in fine und 27), entschieden hat – schon die Existenz einer Beziehung zwischen einem zur Vertretung vor Gericht befugten Berufsangehörigen, der kein Rechtsanwalt ist, und seinem Kunden Dritten gegenüber geheim bleiben sollte, mit der Folge, dass es gar nicht in Betracht käme, einem solchen Berufsangehörigen die subsidiäre Meldepflicht aufzuerlegen, mit der die Offenbarung der Existenz einer Beziehung zwischen ihm und seinem Kunden gegenüber Dritten verbunden wäre.
110 Auf die letztgenannte Frage ist im Wesentlichen im Rahmen der Prüfung der vierten Vorlagefrage einzugehen.
Prüfung der Frage
111 Mit der vierten Frage ersucht das vorlegende Gericht den Gerichtshof im Wesentlichen, die Gültigkeit von Art. 8ab Abs. 5 der geänderten Richtlinie 2011/16 im Licht von Art. 7 der Charta zu prüfen, soweit die Anwendung von Art. 8ab Abs. 5 durch die Mitgliedstaaten zur Folge hat, dass ein Intermediär, der, obwohl kein Rechtsanwalt, zur Vertretung vor Gericht befugt ist, verpflichtet ist, sofern er aufgrund seiner Verschwiegenheitspflicht von der in Art. 8ab Abs. 1 der Richtlinie vorgesehenen Meldepflicht befreit ist, jeden anderen Intermediär, der nicht sein Kunde ist, unverzüglich über dessen Meldepflichten gemäß Art. 8ab Abs. 6 der Richtlinie zu unterrichten.
112 Insoweit ist zunächst darauf hinzuweisen, dass Art. 7 der Charta, der jeder Person das Recht auf Achtung ihres Privat- und Familienlebens, ihrer Wohnung sowie ihrer Kommunikation zuerkennt, Art. 8 Abs. 1 EMRK entspricht (Urteil vom 8. Dezember 2022, Orde van Vlaamse Balies u. a., C‑694/20, EU:C:2022:963, Rn. 25).
113 Gemäß Art. 52 Abs. 3 der Charta, der die notwendige Kohärenz zwischen den in ihr enthaltenen Rechten und den entsprechenden durch die EMRK garantierten Rechten gewährleisten soll, ohne dass dadurch die Eigenständigkeit des Unionsrechts berührt wird, muss der Gerichtshof daher bei der Auslegung der durch Art. 7 der Charta garantierten Rechte die entsprechenden durch Art. 8 Abs. 1 EMRK garantierten Rechte in ihrer Auslegung durch den EGMR als Mindestschutzstandard berücksichtigen (Urteil vom 8. Dezember 2022, Orde van Vlaamse Balies u. a., C‑694/20, EU:C:2022:963, Rn. 26).
114 Wie der Gerichtshof bereits festgestellt hat, ergibt sich aus der Rechtsprechung des EGMR, dass Art. 8 Abs. 1 EMRK die Vertraulichkeit jeder Korrespondenz zwischen Privatpersonen schützt und dem Schriftwechsel zwischen Rechtsanwälten und ihren Mandanten einen verstärkten Schutz zuweist (vgl. in diesem Sinne EGMR, 6. Dezember 2012, Michaud/Frankreich, CE:ECHR:2012:1206JUD001232311, §§ 117 und 118). Ebenso wie diese Bestimmung, deren Schutz nicht nur die Verteidigungstätigkeit, sondern auch die Rechtsberatung umfasst, garantiert Art. 7 der Charta notwendigerweise das Rechtsberatungsgeheimnis, und zwar im Hinblick sowohl auf den Inhalt als auch auf die Existenz der Beratung. Wie der EGMR ausgeführt hat, können nämlich Personen, die einen Rechtsanwalt konsultieren, vernünftigerweise erwarten, dass ihre Kommunikation privat und vertraulich bleibt (EGMR, 9. April 2019, Altay/Türkei [Nr. 2], CE:ECHR:2019:0409JUD001123609, § 49). Abgesehen von Ausnahmefällen ist es daher legitim, wenn diese Personen darauf vertrauen, dass ihr Anwalt ohne ihre Zustimmung niemandem offenlegen wird, dass sie ihn konsultieren (Urteil vom 8. Dezember 2022, Orde van Vlaamse Balies u. a., C‑694/20, EU:C:2022:963, Rn. 27).
115 Wie der Gerichtshof ferner entschieden hat, wird der durch Art. 7 der Charta und Art. 8 Abs. 1 EMRK gewährte besondere Schutz des anwaltlichen Berufsgeheimnisses, der vor allem in anwaltlichen Pflichten zum Ausdruck kommt, dadurch gerechtfertigt, dass den Rechtsanwälten in einer demokratischen Gesellschaft eine grundlegende Aufgabe übertragen wird, nämlich die Verteidigung der Rechtsunterworfenen (EGMR, 6. Dezember 2012, Michaud/Frankreich, CE:ECHR:2012:1206JUD001232311, §§ 118 und 119). Diese grundlegende Aufgabe umfasst zum einen das in allen Mitgliedstaaten als bedeutsam anerkannte Erfordernis, dass es dem Einzelnen möglich sein muss, sich völlig frei an seinen Rechtsanwalt zu wenden, zu dessen Beruf schon dem Wesen nach die Aufgabe gehört, all denen unabhängig Rechtsberatung zu erteilen, die sie benötigen, und zum anderen die damit zusammenhängende Loyalität des Rechtsanwalts seinem Mandanten gegenüber (Urteil vom 8. Dezember 2022, Orde van Vlaamse Balies u. a., C‑694/20, EU:C:2022:963, Rn. 28).
116 Aus der oben in den Rn. 114 und 115 angeführten Rechtsprechung geht hervor, dass die Vertraulichkeit der Beziehung zwischen dem Rechtsanwalt und seinem Mandanten einen ganz spezifischen Schutz genießt, der sich aus der singulären Stellung des Rechtsanwalts innerhalb der Gerichtsorganisation der Mitgliedstaaten sowie der ihm übertragenen grundlegenden Aufgabe ergibt, die von allen Mitgliedstaaten anerkannt wird. Aufgrund dieser Erwägungen hat der Gerichtshof im Urteil vom 8. Dezember 2022, Orde van Vlaamse Balies u. a. (C‑694/20, EU:C:2022:963), festgestellt, dass die dem Rechtsanwalt auferlegte Unterrichtungspflicht gegen Art. 7 der Charta verstößt.
117 Insoweit ist schließlich darauf hinzuweisen, dass das Erfordernis, dass der Berater, von dem die zu schützende Kommunikation ausgeht, die Position und Eigenschaft eines unabhängigen Rechtsanwalts haben muss, auf einem Verständnis von der Rolle des Anwalts als eines Mitgestalters der Rechtspflege beruht, der in völliger Unabhängigkeit und in deren vorrangigem Interesse dem Mandanten die rechtliche Unterstützung zu gewähren hat, die dieser benötigt. Das Gegenstück zu diesem Schutz bilden die Berufs‑ und Standespflichten, die im allgemeinen Interesse festgelegt und kontrolliert werden. Ein solches Verständnis entspricht den gemeinsamen Rechtstraditionen der Mitgliedstaaten und hat auch in der Unionsrechtsordnung ihren Niederschlag gefunden, wie sich aus Art. 19 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union ergibt (Urteil vom 14. September 2010, Akzo Nobel Chemicals und Akcros Chemicals/Kommission u. a., C‑550/07 P, EU:C:2010:512, Rn. 42 und die dort angeführte Rechtsprechung).
118 Im Licht dieser Erwägungen und der singulären Stellung, die sie dem Beruf des Rechtsanwalts in der Gesellschaft im Interesse einer geordneten Rechtspflege zuerkennen, ist davon auszugehen, dass sich die im Urteil vom 8. Dezember 2022, Orde van Vlaamse Balies u. a. (C‑694/20, EU:C:2022:963), in Bezug auf Rechtsanwälte entwickelte Lösung nur auf Personen erstrecken kann, die ihre beruflichen Tätigkeiten unter einer der in Art. 1 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 98/5 aufgeführten Berufsbezeichnungen ausüben.
119 Bei anderen Berufsangehörigen, die zwar – wie z. B. Universitätsprofessoren in einigen Mitgliedstaaten – von den Mitgliedstaaten zur Vertretung vor Gericht ermächtigt worden sein mögen, aber nicht die oben genannten Merkmale aufweisen, lässt somit nichts den Schluss zu, dass Art. 8ab Abs. 5 der geänderten Richtlinie 2011/16 gemessen an Art. 7 der Charta ungültig ist, weil die von einem Mitgliedstaat anstelle der Meldepflicht vorgesehene Unterrichtungspflicht zur Folge hat, dass die auf einer Konsultation beruhende Beziehung zwischen dem unterrichtungspflichtigen Intermediär und seinem Kunden dem unterrichteten Intermediär und letztlich der Steuerverwaltung zur Kenntnis gebracht wird.
120 Unter diesen Umständen ist auf die vierte Frage zu antworten, dass die vom Gerichtshof im Urteil vom 8. Dezember 2022, Orde van Vlaamse Balies u. a. (C‑694/20, EU:C:2022:963), festgestellte Ungültigkeit von Art. 8ab Abs. 5 der geänderten Richtlinie 2011/16 im Licht von Art. 7 der Charta nur für Personen gilt, die ihre beruflichen Tätigkeiten unter einer der in Art. 1 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 98/5 aufgeführten Berufsbezeichnungen ausüben.
Zur fünften Vorlagefrage
121 Mit dieser Frage ersucht das vorlegende Gericht den Gerichtshof im Wesentlichen, die Gültigkeit von Art. 8ab Abs. 1, 6 und 7 der geänderten Richtlinie 2011/16 im Licht des in Art. 7 der Charta garantierten Rechts auf Achtung des Privatlebens zu prüfen, soweit diese Bestimmungen bewirken, dass Intermediäre, die nicht in den Genuss der in Art. 8ab Abs. 5 genannten Befreiung kommen, und – in Ermangelung eines meldepflichtigen Intermediärs – der relevante Steuerpflichtige verpflichtet sind, die in Art. 8ab Abs. 1 vorgesehene Erklärung abzugeben.
122 Insoweit weist das vorlegende Gericht insbesondere darauf hin, dass die Meldepflicht grenzüberschreitende Gestaltungen betreffen könne, die rechtmäßig, authentisch und nicht missbräuchlich seien und deren Hauptvorteil nicht steuerlicher Art sei.
123 Somit geht die fünfte Frage dahin, ob sich aus der Pflicht zur Meldung einer Gestaltung, mit der in legaler und nicht missbräuchlicher Weise ein Steuervorteil angestrebt wird, ein Eingriff in das Recht auf Schutz des Privatlebens ergeben kann, da sie die Freiheit des Steuerpflichtigen, den Weg der geringsten steuerlichen Belastung zu wählen, sowie die Freiheit des Intermediärs, diesen Weg zu konzipieren und ihm anzuraten, einschränken würde.
124 Wie oben in den Rn. 112 und 113 ausgeführt, entspricht Art. 7 der Charta Art. 8 Abs. 1 EMRK, und nach Art. 52 Abs. 3 der Charta berücksichtigt der Gerichtshof bei der Auslegung der durch ihren Art. 7 garantierten Rechte die entsprechenden durch Art. 8 Abs. 1 EMRK in seiner Auslegung durch den EGMR garantierten Rechte.
125 In diesem Kontext hat der Gerichtshof entschieden, dass Bestimmungen, die vorschreiben oder gestatten, dass personenbezogene Daten wie der Name, der Wohnsitz oder die finanziellen Mittel natürlicher Personen ohne deren Einwilligung einer Behörde übermittelt werden, unabhängig von der späteren Verwendung dieser Daten als Eingriff in ihr Privatleben und damit – unbeschadet einer etwaigen Rechtfertigung – als Einschränkung des durch Art. 7 der Charta garantierten Rechts einzustufen sind (Urteil vom 18. Juni 2020, Kommission/Ungarn [Transparenz von Vereinigungen], C‑78/18, EU:C:2020:476, Rn. 124).
126 Überdies geht aus der Rechtsprechung des EGMR hervor, dass der Begriff des Privatlebens ein weiter Begriff ist, der den Begriff der persönlichen Autonomie einschließt. Insbesondere hat der EGMR entschieden, dass Art. 8 EMRK „das Recht auf persönliche Entfaltung, sei es in Form der persönlichen Entwicklung oder der persönlichen Autonomie, [schützt,] das ein wichtiges, der Auslegung der Garantien von Art. 8 zugrunde liegendes Prinzip widerspiegelt“. Er hat ausgeführt, dass diese Bestimmung „das Recht jeder Person [umfasst], sich anderen zuzuwenden, um Beziehungen zu ihnen und zur Außenwelt zu knüpfen und auszubauen, d. h. das Recht auf ein ‚soziales Privatleben‘, was berufliche Tätigkeiten oder Tätigkeiten, die in einem öffentlichen Kontext stattfinden, einschließen kann“ (EGMR, 18. Januar 2018, FNASS u. a./Frankreich, CE:ECHR:2018:0118JUD004815111, § 153 und die dort angeführte Rechtsprechung). Dabei hat er u. a. festgestellt, dass es im Prinzip keinen Grund dafür gibt, berufliche oder gewerbliche Tätigkeiten vom Begriff „Privatleben“ auszuschließen, und dass die Auslegung, wonach er solche Tätigkeiten erfasst, dem wesentlichen Ziel und Zweck von Art. 8 EMRK entspricht, den Einzelnen vor willkürlichen staatlichen Eingriffen zu schützen (vgl. in diesem Sinne EGMR, 16. Dezember 1992, Niemietz/Deutschland, CE:ECHR:1992:1216JUD001371088, §§ 29 und 31).
127 Aus dem Vorstehenden ergibt sich, dass der Begriff des Privatlebens ein weiter Begriff ist und den Begriff der persönlichen Autonomie einschließt, der zumindest die Freiheit jeder Person umfasst, ihr Leben und ihre persönlichen, beruflichen oder geschäftlichen Tätigkeiten zu gestalten. Der Gerichtshof hat jedoch auch darauf hingewiesen, dass die Rechtsprechung des EGMR zu berücksichtigen ist, wonach der Eingriffsvorbehalt in Art. 8 Abs. 2 EMRK bei beruflichen oder geschäftlichen Tätigkeiten durchaus weiter gehen könnte als in anderen Fällen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 22. Oktober 2002, Roquette Frères, C‑94/00, EU:C:2002:603, Rn. 29).
128 Im vorliegenden Fall ist hervorzuheben, dass die Freiheit der Wirtschaftsteilnehmer, ihre Tätigkeiten so zu gestalten, dass ihre Steuerlast begrenzt wird, u. a. im elften Erwägungsgrund der Richtlinie 2016/1164 zum Ausdruck kommt, in dem es im Wesentlichen heißt, dass in der Union zwar die allgemeinen Vorschriften zur Verhinderung von Missbrauch auf unangemessene Gestaltungen angewendet werden sollten, anderenfalls der Steuerpflichtige aber das Recht haben sollte, die steuereffizienteste Struktur für seine geschäftlichen Angelegenheiten zu wählen. Zudem soll die in Rede stehende Meldung, wie sich aus dem zweiten Erwägungsgrund der Richtlinie 2018/822 ergibt, es u. a. den Steuerverwaltungen und den nationalen Gesetzgebern ermöglichen, zeitnah auf Unterschiede zwischen den nationalen Rechtsvorschriften oder auf Regelungslücken zu reagieren, die häufig dazu führen, dass grenzüberschreitende Steuergestaltungen zur Verringerung der Steuerlast der Steuerpflichtigen entwickelt werden.
129 Die in Rede stehende Meldepflicht impliziert, dass der Steuerverwaltung zusammen mit den die betreffenden Personen identifizierenden Daten Informationen über die in Rede stehende grenzüberschreitende Gestaltung offenbart werden. Zu diesen Informationen gehören nach Art. 8ab Abs. 14 der geänderten Richtlinie 2011/16 u. a. eine Zusammenfassung des Inhalts dieser Gestaltung und Einzelheiten zu den nationalen Vorschriften, die ihre Grundlage bilden. Damit stellt diese Pflicht als solche einen Eingriff in das Recht auf Achtung des Privatlebens und der Kommunikation dar, der dazu führt, dass der Verwaltung Einblick in das Ergebnis steuerlicher Planungs- und Gestaltungsaktivitäten im Kontext persönlicher, beruflicher oder geschäftlicher Tätigkeiten des Steuerpflichtigen selbst oder, in den meisten Fällen, eines oder mehrerer Intermediäre im Sinne von Art. 3 Nr. 21 der Richtlinie verschafft wird.
130 Damit ist diese Pflicht, da sie den Steuerverwaltungen die Möglichkeit gibt, die den grenzüberschreitenden Gestaltungen zugrunde liegenden Unterschiede und Regelungslücken zeitnah zu beheben, geeignet, das Interesse der Steuerpflichtigen am Rückgriff auf steuerliche Gestaltungen zu verringern, deren sinnvolle Nutzungsdauer für sie sich entsprechend verkürzen kann.
131 Die Meldepflicht ist daher geeignet, sowohl die Steuerpflichtigen als auch ihre Berater von der Konzipierung und Umsetzung von Mechanismen zur grenzüberschreitenden Steuerplanung abzuhalten, die zwar rechtmäßig sind, aber auf vorhandenen Unterschieden zwischen den verschiedenen einschlägigen nationalen Regelungen beruhen.
132 Daraus folgt, dass die Meldepflicht, soweit sie u. a. auf solche Gestaltungen abzielt, zu einer Beschränkung der Freiheit der Steuerpflichtigen und Intermediäre führt, ihre persönlichen, beruflichen und geschäftlichen Tätigkeiten zu gestalten, und daher einen Eingriff in das durch Art. 7 der Charta garantierte Recht auf Achtung des Privatlebens darstellt.
133 Mithin stellt sich die Frage, ob dieser Eingriff gerechtfertigt werden kann.
134 Die in Art. 7 der Charta verankerten Rechte können keine uneingeschränkte Geltung beanspruchen, sondern müssen im Hinblick auf ihre gesellschaftliche Funktion gesehen werden. Nach ihrem Art. 52 Abs. 1 lässt die Charta nämlich Einschränkungen der Ausübung dieser Rechte zu, sofern diese gesetzlich vorgesehen sind und den Wesensgehalt der Rechte achten. Unter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit müssen sie erforderlich sein und den von der Union anerkannten dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen oder den Erfordernissen des Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer tatsächlich entsprechen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. Oktober 2020, Privacy International, C‑623/17, EU:C:2020:790, Rn. 63 und 64).
135 Erstens bedeutet das Erfordernis einer gesetzlichen Grundlage für jede Einschränkung der Ausübung von Grundrechten, dass der Rechtsakt, der den Grundrechtseingriff ermöglicht, selbst festlegen muss, in welchem Umfang die Ausübung des betreffenden Rechts eingeschränkt wird. Dieses Erfordernis schließt aber zum einen nicht aus, dass die fragliche Einschränkung hinreichend offen formuliert ist, um Anpassungen an verschiedene Fallgruppen und an Änderungen der Lage zu erlauben. Zum anderen kann der Gerichtshof gegebenenfalls die konkrete Tragweite der Einschränkung im Wege der Auslegung präzisieren, und zwar anhand sowohl des Wortlauts als auch der Systematik und der Ziele der fraglichen Unionsregelung, wie sie im Licht der durch die Charta garantierten Grundrechte auszulegen sind (Urteil vom 21. Juni 2022, Ligue des droits humains, C‑817/19, EU:C:2022:491, Rn. 114 und die dort angeführte Rechtsprechung).
136 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass Art. 8ab Abs. 1 der geänderten Richtlinie 2011/16 ausdrücklich vorsieht, dass die Mitgliedstaaten die erforderlichen Maßnahmen ergreifen, um die Intermediäre zu verpflichten, die „ihnen bekannten, in ihrem Besitz oder unter ihrer Kontrolle befindlichen Informationen über meldepflichtige grenzüberschreitende Gestaltungen“ den zuständigen Steuerbehörden vorzulegen. Gibt es keinen meldepflichtigen Intermediär, obliegt diese Pflicht nach Art. 8ab Abs. 6 der Richtlinie dem relevanten Steuerpflichtigen. Außerdem wird der Begriff „meldepflichtige grenzüberschreitende Gestaltung“ in Art. 3 Nr. 19 der Richtlinie in Verbindung mit den Kennzeichen in Anhang IV definiert. Und schließlich kann der Inhalt dieser Pflicht Art. 8ab Abs. 14 der geänderten Richtlinie 2011/16 entnommen werden.
137 Unter diesen Umständen ist das Erfordernis einer gesetzlichen Grundlage für die Einschränkung der Ausübung von Grundrechten erfüllt.
138 Zweitens ist in Bezug auf das Erfordernis der Achtung des Wesensgehalts des in Art. 7 der Charta garantierten Rechts auf Achtung des Privatlebens festzustellen, dass eine Pflicht wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende, die nur die Übermittlung von Daten über die Konzeption und Umsetzung einer potenziell aggressiven steuerlichen Gestaltung betrifft, ohne die Möglichkeit ihrer Konzeption oder Umsetzung unmittelbar zu berühren, nicht als Beeinträchtigung des Kernbestands des Rechts auf Achtung des Privatlebens der betreffenden Personen angesehen werden kann.
139 Drittens ist hinsichtlich des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit zunächst zu prüfen, ob mit der in Art. 8ab Abs. 1, 6 und 7 der geänderten Richtlinie 2011/16 vorgesehenen Meldepflicht eine von der Union anerkannte dem Gemeinwohl dienende Zielsetzung verfolgt wird. Sollte dies zu bejahen sein, ist sodann zu klären, ob diese Pflicht zur Erreichung der Zielsetzung geeignet ist, ob der Eingriff in das Grundrecht auf Achtung des Privatlebens, der sich aus ihr ergeben kann, insofern auf das absolut Notwendige beschränkt ist, als die verfolgte Zielsetzung bei vernünftiger Betrachtung nicht ebenso wirksam durch andere Mittel erreicht werden könnte, die dieses Recht weniger beeinträchtigen, und ob, sofern dies der Fall ist, der Eingriff nicht unverhältnismäßig ist und keine Nachteile mit sich bringt, die außer Verhältnis zu der Zielsetzung stehen, was insbesondere eine Gewichtung ihrer Bedeutung und der Schwere des Eingriffs impliziert (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 22. November 2022, Luxembourg Business Registers, C‑37/20 und C‑601/20, EU:C:2022:912, Rn. 64 und 66).
140 Zu dem Erfordernis, dass die Einschränkung des Grundrechts einer dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzung entsprechen muss, ist festzustellen, dass sich die Änderung der Richtlinie 2011/16 durch die Richtlinie 2018/822 in den Rahmen einer internationalen steuerlichen Zusammenarbeit zur Bekämpfung der aggressiven Steuerplanung einfügt, die sich durch einen Informationsaustausch zwischen Mitgliedstaaten konkretisiert. Insoweit geht u. a. aus den Erwägungsgründen 2, 4, 8 und 9 der Richtlinie 2018/822 hervor, dass die durch Art. 8ab der geänderten Richtlinie 2011/16 geschaffenen Melde- und Unterrichtungspflichten zur Bekämpfung der aggressiven Steuerplanung und zur Verhinderung der Gefahren von Steuervermeidung und Steuerhinterziehung beitragen sollen.
141 Die Bekämpfung aggressiver Steuerplanung und die Verhinderung der Gefahren von Steuervermeidung und Steuerhinterziehung stellen von der Union anerkannte dem Gemeinwohl dienende Zielsetzungen im Sinne von Art. 52 Abs. 1 der Charta dar, die es erlauben, die Ausübung der durch Art. 7 der Charta garantierten Rechte einzuschränken (Urteil vom 8. Dezember 2022, Orde van Vlaamse Balies u. a., C‑694/20, EU:C:2022:963, Rn. 44 und die dort angeführte Rechtsprechung).
142 Zu der Frage, ob die in Art. 8ab Abs. 1, 6 und 7 der geänderten Richtlinie 2011/16 vorgesehene Meldepflicht zur Erreichung dieser Zielsetzungen geeignet ist, ist darauf hinzuweisen, dass die Bereitstellung detaillierter Informationen über grenzüberschreitende Steuergestaltungen an die nationalen Steuerbehörden, insbesondere der in Art. 8ab Abs. 14 der Richtlinie genannten Informationen, in dem in ihrem Art. 8ab Abs. 1 vorgesehenen frühen Stadium, wie der Unionsgesetzgeber insbesondere in den Erwägungsgründen 2, 6 und 7 der Richtlinie 2018/822 hervorgehoben hat, besonders geeignet ist, es den Mitgliedstaaten zu ermöglichen, zeitnah gegen schädliche Steuerpraktiken, auch wenn sie rechtmäßig sind, vorzugehen sowie Unterschiede und Regelungslücken zu beseitigen, die die Entwicklung solcher Praktiken erleichtern können.
143 Zu dem Erfordernis, dass sich der Eingriff in das Grundrecht auf Achtung des Privatlebens, der aus der Meldepflicht resultieren kann, insofern auf das absolut Notwendige beschränkt sein muss, als die verfolgte Zielsetzung bei vernünftiger Betrachtung nicht ebenso wirksam durch andere, dieses Recht weniger beeinträchtigende Mittel erreicht werden kann, ist darauf hinzuweisen, dass diese Pflicht ein besonders wirksames Mittel zur Bekämpfung aggressiver Steuerplanung und zur Verhinderung der Gefahren von Steuervermeidung und ‑hinterziehung ist. Indem der Unionsgesetzgeber den Intermediären und ersatzweise dem relevanten Steuerpflichtigen vorschreibt, der Steuerverwaltung in einem sehr frühen Stadium Informationen über grenzüberschreitende Gestaltungen zu übermitteln, die eines der in Anhang IV aufgeführten Kennzeichen aufweisen, ermöglicht er es den Mitgliedstaaten nämlich, genau und schnell, gegebenenfalls koordiniert, auf aggressive Steuerplanungsmechanismen zu reagieren, während die nachträgliche Prüfung und Kontrolle steuerlicher Verhaltensweisen dies nicht in gleichem Maß gestatten.
144 Überdies betreffen die nach Art. 8ab Abs. 14 der geänderten Richtlinie 2011/16 im Rahmen der Meldung zu übermittelnden Informationen Angaben zu den Intermediären und den relevanten Steuerpflichtigen sowie gegebenenfalls zu verbundenen Unternehmen dieser Steuerpflichtigen und zu den in Anhang IV aufgeführten Kennzeichen. Ferner enthalten sie eine Zusammenfassung des Inhalts der betreffenden grenzüberschreitenden Gestaltung, soweit vorhanden einschließlich einer abstrakt gehaltenen Beschreibung der relevanten Geschäftstätigkeiten oder Gestaltungen, die nicht zur Preisgabe eines Handels- oder sonstigen Geheimnisses führt. Sie nennen das Datum der Umsetzung der betreffenden grenzüberschreitenden Gestaltung, die nationalen Vorschriften, die ihre Grundlage bilden, und den Wert der Gestaltung. Sie bezeichnen den oder die wahrscheinlich betroffenen Mitgliedstaaten sowie alle anderen Personen in einem Mitgliedstaat, die wahrscheinlich von der Gestaltung betroffen sind.
145 Diese Informationen gehen nicht über das hinaus, was unbedingt erforderlich ist, um es den Mitgliedstaaten zu ermöglichen, die betreffende grenzüberschreitende Gestaltung hinreichend zu verstehen und zeitnah zu handeln, sei es allein auf der Grundlage der übermittelten Informationen oder durch Kontaktaufnahme mit den betreffenden Intermediären oder Steuerpflichtigen zur Erlangung zusätzlicher Informationen.
146 Außerdem ergibt sich aus Art. 8ab Abs. 1 der geänderten Richtlinie 2011/16, dass die Meldepflicht für den Intermediär und ersatzweise für den relevanten Steuerpflichtigen nur Informationen betrifft, von denen sie Kenntnis haben, die sie besitzen oder die sie kontrollieren. Folglich braucht der Meldepflichtige über die von ihm bereits kontrollierten Informationen hinaus keine weiteren Informationen zu ermitteln und zu suchen.
147 Schließlich unterscheiden sich die den Steuerverwaltungen der Mitgliedstaaten durch die Meldepflicht verschafften Informationen sowohl in der Natur der dabei übermittelten Daten als auch in den Modalitäten ihrer Übermittlung von den Informationen, die bereits nach der Richtlinie 2011/16 und ihren fünf vor der Richtlinie 2018/822 erfolgten Änderungen unter den Mitgliedstaaten zu teilen waren. Im Unterschied zu den in diesen früheren Fassungen der Richtlinie 2011/16 vorgesehenen Mechanismen des automatischen Informationsaustauschs verschafft die Änderung durch die Richtlinie 2018/822 den Mitgliedstaaten nämlich frühzeitige und gezielte Informationen über konkrete Steuergestaltungen, die eine potenzielle Gefahr der Steuervermeidung mit sich bringen, sowie über ihre Entwickler und ihre Nutzer, was geeignet ist, die Wirksamkeit der Bekämpfung aggressiver Steuerplanung und die Verhinderung von Gefahren der Steuervermeidung und ‑hinterziehung erheblich zu verbessern.
148 Zu der Frage, ob der mit der Meldepflicht verbundene Eingriff in das Recht auf Schutz des Privatlebens nicht unverhältnismäßig ist und nicht außer Verhältnis zu der verfolgten, dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzung steht, ist festzustellen, dass dieser Eingriff zwar nicht unerheblich ist, aber die Bekämpfung der aggressiven Steuerplanung und die Verhinderung der Gefahren von Steuervermeidung und Steuerhinterziehung wichtige Ziele darstellen. von deren Verfolgung nicht nur, wie in den Erwägungsgründen 2 und 6 der Richtlinie 2018/822 hervorgehoben wird, der Schutz der Steuerbemessungsgrundlage und damit der Steuereinnahmen der Mitgliedstaaten sowie die Schaffung einer gerechten Besteuerung im Binnenmarkt abhängen, sondern auch die Wahrung einer ausgewogenen Aufteilung der Besteuerungsbefugnis der Mitgliedstaaten und eine effiziente Beitreibung der Steuer, die nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs legitime Ziele darstellen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 22. November 2018, Sofina u. a., C‑575/17, EU:C:2018:943, Rn. 56 und 67 sowie die dort angeführte Rechtsprechung). Unter diesen Umständen lässt die Tatsache, dass die Meldepflicht womöglich, zu den oben in den Rn. 139 bis 147 genannten Zwecken und unter den dort genannten Voraussetzungen, für rechtmäßige grenzüberschreitende Gestaltungen gelten könnte, nicht den Schluss zu, dass diese Pflicht für den Steuerpflichtigen, der von der betreffenden Gestaltung profitiert, oder den Intermediär, der sie konzipiert hat, unverhältnismäßig ist.
149 Aus den vorstehenden Erwägungen ergibt sich, dass die mit der Meldepflicht nach Art. 8ab Abs. 1, 6 und 7 der geänderten Richtlinie 2011/16 verbundene Einschränkung des Rechts auf Schutz des Privatlebens, verstanden als das Recht jeder Person, ihr Privatleben zu gestalten, gerechtfertigt ist.
150 Nach alledem hat die Prüfung der Aspekte, auf die sich die fünfte Frage bezieht, nichts ergeben, was die Gültigkeit der geänderten Richtlinie 2011/16 im Licht des in Art. 7 der Charta garantierten Rechts auf Achtung des Privatlebens berühren könnte.
Kosten
151 Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Zweite Kammer) für Recht erkannt:
1. Die Prüfung des Aspekts, auf den sich die erste Vorlagefrage bezieht, hat nichts ergeben, was die Gültigkeit der Richtlinie 2011/16/EU des Rates vom 15. Februar 2011 über die Zusammenarbeit der Verwaltungsbehörden im Bereich der Besteuerung und zur Aufhebung der Richtlinie 77/799/EWG in der durch die Richtlinie (EU) 2018/822 des Rates vom 25. Mai 2018 geänderten Fassung im Licht der Grundsätze der Gleichbehandlung und der Nichtdiskriminierung sowie der Art. 20 und 21 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union berühren könnte.
2. Die Prüfung der Aspekte, auf die sich die zweite und die dritte Vorlagefrage beziehen, hat nichts ergeben, was die Gültigkeit der Richtlinie 2011/16 in der durch die Richtlinie 2018/822 geänderten Fassung im Licht des Grundsatzes der Rechtssicherheit, des in Art. 49 Abs. 1 der Charta der Grundrechte verankerten Grundsatzes der Gesetzmäßigkeit in Strafsachen und des durch Art. 7 der Charta garantierten Rechts auf Achtung des Privatlebens berühren könnte.
3. Die vom Gerichtshof im Urteil vom 8. Dezember 2022, Orde van Vlaamse Balies u. a. (C‑694/20, EU:C:2022:963), festgestellte Ungültigkeit von Art. 8ab Abs. 5 der Richtlinie 2011/16 in der durch die Richtlinie 2018/822 geänderten Fassung im Licht von Art. 7 der Charta der Grundrechte gilt nur für Personen, die ihre beruflichen Tätigkeiten unter einer der in Art. 1 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 98/5/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Februar 1998 zur Erleichterung der ständigen Ausübung des Rechtsanwaltsberufs in einem anderen Mitgliedstaat als dem, in dem die Qualifikation erworben wurde, aufgeführten Berufsbezeichnungen ausüben.
4. Die Prüfung der Aspekte, auf die sich die fünfte Vorlagefrage bezieht, hat nichts ergeben, was die Gültigkeit der Richtlinie 2011/16 in der durch die Richtlinie 2018/822 geänderten Fassung im Licht des durch Art. 7 der Charta der Grundrechte garantierten Rechts auf Achtung des Privatlebens berühren könnte.
Unterschriften
(*1) Verfahrenssprache: Französisch.
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Urteil des Gerichtshofs (Große Kammer) vom 15. Juli 2021.#CG gegen The Department for Communities in Northern Ireland.#Vorabentscheidungsersuchen des Appeal Tribunal for Northern Ireland.#Vorlage zur Vorabentscheidung – Unionsbürgerschaft – Nicht erwerbstätiger Staatsbürger eines Mitgliedstaats, der sich auf der Grundlage des innerstaatlichen Rechts im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats aufhält – Art. 18 Abs. 1 AEUV – Verbot der Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit – Richtlinie 2004/38/EG – Art. 7 – Voraussetzungen der Erlangung eines Rechts auf Aufenthalt für mehr als drei Monate – Art. 24 – Sozialhilfe – Begriff – Gleichbehandlung – Abkommen über den Austritt des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland – Übergangszeitraum – Innerstaatliche Bestimmung, nach der Unionsbürger, die nach innerstaatlichem Recht über ein Recht auf befristeten Aufenthalt verfügen, keinen Anspruch auf Sozialhilfe haben – Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Art. 1, 7 und 24.#Rechtssache C-709/20.
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62020CJ0709
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ECLI:EU:C:2021:602
| 2021-07-15T00:00:00 |
Richard de la Tour, Gerichtshof
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62020CJ0709
URTEIL DES GERICHTSHOFS (Große Kammer)
15. Juli 2021 (*1)
„Vorlage zur Vorabentscheidung – Unionsbürgerschaft – Nicht erwerbstätiger Staatsbürger eines Mitgliedstaats, der sich auf der Grundlage des innerstaatlichen Rechts im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats aufhält – Art. 18 Abs. 1 AEUV – Verbot der Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit – Richtlinie 2004/38/EG – Art. 7 – Voraussetzungen der Erlangung eines Rechts auf Aufenthalt für mehr als drei Monate – Art. 24 – Sozialhilfe – Begriff – Gleichbehandlung – Abkommen über den Austritt des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland – Übergangszeitraum – Innerstaatliche Bestimmung, nach der Unionsbürger, die nach innerstaatlichem Recht über ein Recht auf befristeten Aufenthalt verfügen, keinen Anspruch auf Sozialhilfe haben – Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Art. 1, 7 und 24“
In der Rechtssache C‑709/20
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Appeal Tribunal for Northern Ireland (Berufungsgericht für Nordirland, Vereinigtes Königreich) mit Entscheidung vom 21. Dezember 2020, beim Gerichtshof eingegangen am 30. Dezember 2020, in dem Verfahren
CG
gegen
The Department for Communities in Northern Ireland
erlässt
DER GERICHTSHOF (Große Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten K. Lenaerts, des Kammerpräsidenten J.‑C. Bonichot, der Kammerpräsidentin A. Prechal, der Kammerpräsidenten E. Regan, M. Ilešič, L. Bay Larsen, A. Kumin und N. Wahl, des Richters T. von Danwitz, der Richterin K. Jürimäe (Berichterstatterin), der Richter C. Lycourgos, I. Jarukaitis und N. Jääskinen, der Richterin I. Ziemele und des Richters J. Passer,
Generalanwalt: J. Richard de la Tour,
Kanzler: C. Strömholm, Verwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 4. Mai 2021,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
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von CG, vertreten durch R. Drabble und T. de la Mare, QC, T. Royston und G. Sarathy, Barristers, sowie M. Black und S. Park, Solicitors,
–
von The Department for Communities in Northern Ireland, vertreten durch C. Cooley als Bevollmächtigte im Beistand von T. McGleenan, QC, und L. McMahon, BL,
–
der Regierung des Vereinigten Königreichs, vertreten durch F. Shibli und S. McCrory als Bevollmächtigte im Beistand von D. Blundell, QC, sowie J. Smyth, Barrister,
–
der Europäischen Kommission, vertreten durch E. Montaguti und J. Tomkin als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 24. Juni 2021
folgendes
Urteil
1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 18 AEUV.
2 Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen CG, die sowohl die kroatische als auch die niederländische Staatsangehörigkeit besitzt und seit 2018 in Nordirland (Vereinigtes Königreich) lebt, und The Department for Communities in Northern Ireland (Ministerium für kommunale Angelegenheiten [Nordirland], Vereinigtes Königreich) wegen der Nichtgewährung von Sozialhilfe.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
3 Art. 18 Abs. 1 AEUV bestimmt:
„Unbeschadet besonderer Bestimmungen der Verträge ist in ihrem Anwendungsbereich jede Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit verboten.“
4 Art. 20 Abs. 1 AEUV bestimmt:
„Es wird eine Unionsbürgerschaft eingeführt. Unionsbürger ist, wer die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzt. Die Unionsbürgerschaft tritt zur nationalen Staatsbürgerschaft hinzu, ersetzt sie aber nicht.“
5 Art. 21 Abs. 1 AEUV bestimmt:
„Jeder Unionsbürger hat das Recht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten vorbehaltlich der in den Verträgen und in den Durchführungsvorschriften vorgesehenen Beschränkungen und Bedingungen frei zu bewegen und aufzuhalten.“
Abkommen über den Austritt des Vereinigten Königreichs
6 In der Präambel des am 17. Oktober 2019 angenommenen Abkommens über den Austritt des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland aus der Europäischen Union und der Europäischen Atomgemeinschaft (ABl. 2020, L 29, S. 7, im Folgenden: Abkommen über den Austritt des Vereinigten Königreichs), das am 1. Februar 2020 in Kraft getreten ist, heißt es in den Abs. 6, 8 und 9:
„IN DER ERKENNTNIS, dass es notwendig ist, einen beiderseitigen Schutz für Unionsbürger und britische Staatsangehörige sowie ihre jeweiligen Familienangehörigen vorzusehen, wenn sie vor einem in diesem Abkommen festgesetzten Tag ihre Freizügigkeitsrechte ausgeübt haben, und zu gewährleisten, dass ihre Rechte nach diesem Abkommen durchsetzbar sind und auf dem Grundsatz der Nichtdiskriminierung beruhen; ferner in der Erkenntnis, dass Rechte, die sich aus Sozialversicherungszeiten ergeben, geschützt werden sollten,
…
IN DER ERWÄGUNG, dass es sowohl im Interesse der Union als auch im Interesse des Vereinigten Königreichs liegt, einen Übergangs- oder Durchführungszeitraum festzulegen, in dem – ungeachtet aller Folgen des Austritts des Vereinigten Königreichs aus der Union für die Beteiligung des Vereinigten Königreichs an den Organen, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union, insbesondere des Endes der Amtszeit der im Zusammenhang mit der Mitgliedschaft des Vereinigten Königreichs in der Union benannten, ernannten oder gewählten Mitglieder der Organe, Einrichtungen und Agenturen der Union am Tag des Inkrafttretens dieses Abkommens – das Unionsrecht, einschließlich der internationalen Übereinkünfte, auf das Vereinigte Königreich und im Vereinigten Königreich und in der Regel mit gleicher Wirkung wie in Bezug auf die Mitgliedstaaten Anwendung finden sollte, um Störungen in dem Zeitraum zu vermeiden, in dem das oder die Abkommen über die künftigen Beziehungen ausgehandelt werden,
IN DER ERKENNTNIS, dass, auch wenn das Unionsrecht im Übergangszeitraum auf das Vereinigte Königreich und im Vereinigten Königreich Anwendung findet, die Besonderheiten des Vereinigten Königreichs als eines aus der Union ausgetretenen Staates bedeuten, dass es für das Vereinigte Königreich wichtig sein wird, Schritte unternehmen zu können, um selbst neue internationale Regelungen, auch in den in die ausschließliche Zuständigkeit der Union fallenden Bereichen, auszuarbeiten und festzulegen, sofern solche Übereinkünfte nicht während dieses Zeitraums in Kraft treten oder gelten, es sei denn, die Union stimmt dem zu“.
7 Teil eins („Gemeinsame Bestimmungen“) des Abkommens enthält die Art. 1 bis 8. Art. 2 Buchst. a und c bestimmt:
„Für die Zwecke dieses Abkommens bezeichnet der Ausdruck
a)
‚Unionsrecht‘
i)
den Vertrag über die Europäische Union (‚EUV‘), den Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (‚AEUV‘) und den Vertrag zur Gründung der Europäischen Atomgemeinschaft (‚Euratom-Vertrag‘) in ihrer geänderten oder ergänzten Fassung sowie die Beitrittsverträge und die Charta der Grundrechte der Europäischen Union [im Folgenden: Charta], zusammen ‚Verträge‘ genannt;
ii)
die allgemeinen Grundsätze des Rechts der Union;
iii)
die von den Organen, Einrichtungen oder sonstigen Stellen der Union erlassenen Rechtsakte;
…
c)
‚Unionsbürger‘ jede Person, die die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzt“.
8 Art. 4 („Methoden und Grundsätze in Bezug auf die Wirkung, die Durchführung und die Anwendung dieses Abkommens“) des Abkommens bestimmt in den Abs. 1 bis 4:
„(1) Die Bestimmungen dieses Abkommens und die aufgrund dieses Abkommens anwendbaren Bestimmungen des Unionsrechts entfalten für das Vereinigte Königreich und im Vereinigten Königreich die gleichen Rechtswirkungen wie innerhalb der Union und ihrer Mitgliedstaaten.
Dementsprechend können juristische oder natürliche Personen sich insbesondere unmittelbar auf die Bestimmungen berufen, die in diesem Abkommen enthalten sind oder auf die dort verwiesen wird, welche die Voraussetzungen für eine unmittelbare Wirkung nach dem Unionsrecht erfüllen.
(2) Das Vereinigte Königreich gewährleistet durch innerstaatliche vorrangige Gesetzgebung die Einhaltung von Absatz 1, einschließlich in Bezug auf die Befugnisse, die erforderlich sind, damit seine Justiz- und Verwaltungsbehörden widersprüchliche oder unvereinbare innerstaatliche Vorschriften nicht anwenden.
(3) Die Bestimmungen dieses Abkommens, die auf Unionsrecht oder Begriffe oder Bestimmungen des Unionsrechts verweisen, werden im Einklang mit den Methoden und allgemeinen Grundsätzen des Unionsrechts ausgelegt und angewandt.
(4) Die Bestimmungen dieses Abkommens, die auf Unionsrecht oder darin enthaltene Begriffe oder Bestimmungen verweisen, werden in ihrer Umsetzung und Anwendung unter Einhaltung der vor dem Ende des Übergangszeitraums ergangenen einschlägigen Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union ausgelegt.“
9 Teil zwei („Rechte der Bürger“) des Abkommens enthält die Art. 9 bis 39. Art. 9 Buchst. c Ziff. i bestimmt:
„Für die Zwecke dieses Teils und unbeschadet des Titels III bezeichnet der Ausdruck
…
c)
‚Aufnahmestaat‘
i)
im Falle von Unionsbürgern und ihren Familienangehörigen das Vereinigte Königreich, wenn sie dort vor Ende des Übergangszeitraums ihr Aufenthaltsrecht im Einklang mit dem Unionsrecht ausgeübt haben und danach weiter dort wohnen“.
10 Art. 10 Abs. 1 des Abkommens bestimmt:
„Dieser Teil gilt unbeschadet des Titels III für die folgenden Personen:
a)
Unionsbürger, die ihr Recht auf Aufenthalt im Vereinigten Königreich vor Ende des Übergangszeitraums im Einklang mit dem Unionsrecht ausgeübt haben und danach weiter dort wohnen;
…“
11 Art. 12 des Abkommens bestimmt:
„Im Anwendungsbereich dieses Teils ist unbeschadet darin enthaltender besonderer Bestimmungen jede Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit im Sinne des Artikels 18 Absatz 1 AEUV in Bezug auf die in Artikel 10 dieses Abkommens genannten Personen im Aufnahmestaat und im Arbeitsstaat verboten.“
12 Art. 13 Abs. 1 des Abkommens bestimmt:
„Unionsbürger und britische Staatsangehörige haben das Recht, sich mit den Beschränkungen und unter den Bedingungen, die in Artikel 21, 45 oder 49 AEUV sowie in Artikel 6 Absatz 1, Artikel 7 Absatz 1 Buchstabe a, b oder c, Artikel 7 Absatz 3, Artikel 14, Artikel 16 Absatz 1 oder Artikel 17 Absatz 1 der [Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 und zur Aufhebung der Richtlinien 64/221/EWG, 68/360/EWG, 72/194/EWG, 73/148/EWG, 75/34/EWG, 75/35/EWG, 90/364/EWG, 90/365/EWG und 93/96/EWG (ABl. 2004, L 158, S. 77, Berichtigung: ABl. 2004, L 229, S. 35)] vorgesehen sind, im Aufnahmestaat aufzuhalten.“
13 Art. 18 („Ausstellung von Aufenthaltsdokumenten“) des Abkommens bestimmt:
„(1) Der Aufnahmestaat kann von Unionsbürgern oder britischen Staatsangehörigen, ihren jeweiligen Familienangehörigen sowie sonstigen Personen, die sich im Einklang mit den in diesem Titel vorgesehenen Bedingungen in seinem Hoheitsgebiet aufhalten, verlangen, dass sie einen neuen Aufenthaltsstatus, der die Rechte nach diesem Titel verleiht, und ein Dokument zum Nachweis dieses Status, das in digitaler Form ausgegeben werden kann, beantragen.
Die Beantragung dieses Aufenthaltsstatus unterliegt den folgenden Bedingungen:
…
k)
Von Unionsbürgern und britischen Staatsangehörigen darf der Aufnahmestaat zusätzlich zu den unter Buchstabe i des vorliegenden Absatzes genannten Ausweispapieren nur die Vorlage der in Artikel 8 Absatz 3 der Richtlinie 2004/38/EG genannten folgenden Belege verlangen:
…
ii)
wenn sie sich als Nichterwerbspersonen nach Artikel 7 Absatz 1 Buchstabe b der Richtlinie 2004/38/EG im Aufnahmestaat aufhalten: Nachweis, dass sie für sich und ihre Familienangehörigen über ausreichende Existenzmittel verfügen, so dass sie während ihres Aufenthalts keine Sozialhilfeleistungen des Aufnahmestaats in Anspruch nehmen müssen, und dass sie und ihre Familienangehörigen über einen umfassenden Krankenversicherungsschutz im Aufnahmestaat verfügen,
…
…
(4) Hat sich ein Aufnahmestaat dafür entschieden, von Unionsbürgern oder britischen Staatsangehörigen, ihren Familienangehörigen und sonstigen Personen, die sich im Einklang mit den in diesem Titel vorgesehenen Bedingungen in seinem Hoheitsgebiet aufhalten, nicht zu verlangen, den als Voraussetzung für einen rechtmäßigen Aufenthalt in Absatz 1 genannten neuen Aufenthaltsstatus zu beantragen, so haben die für Aufenthaltsrechte nach diesem Titel infrage kommenden Personen das Recht, unter den Voraussetzungen der Richtlinie 2004/38/EG ein Aufenthaltsdokument zu erhalten, das in digitaler Form ausgegeben werden kann und das eine Erklärung enthalten muss, dass es im Einklang mit diesem Abkommen ausgestellt wurde.“
14 Art. 19 („Ausstellung von Aufenthaltsdokumenten während des Übergangszeitraums“) des Abkommens bestimmt in Abs. 1:
„Während des Übergangszeitraums kann ein Aufnahmestaat gestatten, dass ab dem Tag des Inkrafttretens dieses Abkommens auf freiwilliger Basis ein Antrag auf einen Aufenthaltsstatus oder ein Aufenthaltsdokument nach Artikel 18 Absätze 1 und 4 gestellt wird.“
15 Art. 23 („Gleichbehandlung“) des Abkommens bestimmt:
„(1) Vorbehaltlich der besonderen Bestimmungen, die in diesem Titel und den Titeln I und IV dieses Teils vorgesehen sind, genießt jeder Unionsbürger oder britische Staatsangehörige, der sich aufgrund dieses Abkommens im Hoheitsgebiet des Aufnahmestaats aufhält, nach Artikel 24 der Richtlinie 2004/38/EG im Anwendungsbereich dieses Teils die gleiche Behandlung wie die Staatsangehörigen dieses Staates. Das Recht auf Gleichbehandlung erstreckt sich auch auf die Familienangehörigen von Unionsbürgern oder britischen Staatsangehörigen, die das Recht auf Aufenthalt oder das Recht auf Daueraufenthalt genießen.
(2) Abweichend von Absatz 1 ist der Aufnahmestaat nicht verpflichtet, anderen Personen als Arbeitnehmern oder Selbstständigen, Personen, denen dieser Status erhalten bleibt, oder ihren Familienangehörigen während Aufenthaltszeiten auf der Grundlage des Artikels 6 oder des Artikels 14 Absatz 4 Buchstabe b der Richtlinie 2004/38/EG einen Anspruch auf Sozialhilfe oder vor Erwerb des Rechts auf Daueraufenthalt nach Artikel 15 dieses Abkommens Studienbeihilfen, einschließlich Beihilfen zur Berufsausbildung, in Form eines Stipendiums oder Studiendarlehens, zu gewähren.“
16 Art. 38 Abs. 1 des Abkommens bestimmt:
„Dieser Teil berührt nicht in einem Aufnahmestaat oder einem Arbeitsstaat anwendbare Rechts- und Verwaltungsvorschriften, die für die betroffenen Personen günstiger sind. Dieser Absatz gilt nicht für Titel III.“
17 Teil drei („Trennungsbestimmungen“) des Abkommens enthält die Art. 40 bis 125. Art. 86 („Vor dem Gerichtshof der Europäischen Union anhängige Rechtssachen“) bestimmt in den Abs. 2 und 3:
„(2) Der Gerichtshof der Europäischen Union ist weiterhin für Vorabentscheidungsersuchen der Gerichte des Vereinigten Königreichs zuständig, die vor Ende des Übergangszeitraums vorgelegt werden.
(3) Für die Zwecke dieses Kapitels gilt ein Verfahren vor dem Gerichtshof der Europäischen Union zu dem Zeitpunkt als eingeleitet und ein Vorabentscheidungsersuchen zu dem Zeitpunkt als vorgelegt, zu dem die Unterlagen zur Einleitung des Verfahrens von der Kanzlei des Gerichtshofs der Europäischen Union registriert wurden.“
18 Art. 89 Abs. 1 des Abkommens bestimmt:
„Vor Ende des Übergangszeitraums ergehende Urteile und Beschlüsse des Gerichtshofs der Europäischen Union sowie nach Ende des Übergangszeitraums ergehende Urteile und Beschlüsse in Verfahren nach den Artikeln 86 und 87 sind in ihrer Gesamtheit für das Vereinigte Königreich und im Vereinigten Königreich rechtsverbindlich.“
19 Art. 126 („Übergangszeitraum“) des Abkommens bestimmt:
„Es gibt einen Übergangs- oder Durchführungszeitraum, der am Tag des Inkrafttretens dieses Abkommens beginnt und am 31. Dezember 2020 endet.“
20 Art. 127 („Anwendungsbereich für den Übergang“) des Abkommens bestimmt in den Abs. 1 und 3:
„(1) Sofern in diesem Abkommen nichts anderes bestimmt ist, gilt das Unionsrecht während des Übergangszeitraums für das Vereinigte Königreich sowie im Vereinigten Königreich.
…
(3) Während des Übergangszeitraums entfaltet das nach Absatz 1 für das Vereinigte Königreich und im Vereinigten Königreich geltende Unionsrecht die gleichen Rechtswirkungen wie innerhalb der Union und ihrer Mitgliedstaaten und wird nach denselben Methoden und allgemeinen Grundsätzen auslegt und angewendet, die auch innerhalb der Union gelten.“
Richtlinie 2004/38
21 In den Erwägungsgründen 10 und 16 der Richtlinie 2004/38 heißt es:
„(10)
Allerdings sollten Personen, die ihr Aufenthaltsrecht ausüben, während ihres ersten Aufenthalts die Sozialhilfeleistungen des Aufnahmemitgliedstaats nicht unangemessen in Anspruch nehmen. Daher sollte das Aufenthaltsrecht von Unionsbürgern und ihren Familienangehörigen für eine Dauer von über drei Monaten bestimmten Bedingungen unterliegen.
…
(16) Solange die Aufenthaltsberechtigten die Sozialhilfeleistungen des Aufnahmemitgliedstaats nicht unangemessen in Anspruch nehmen, sollte keine Ausweisung erfolgen. Die Inanspruchnahme von Sozialhilfeleistungen sollte daher nicht automatisch zu einer Ausweisung führen. Der Aufnahmemitgliedstaat sollte prüfen, ob es sich bei dem betreffenden Fall um vorübergehende Schwierigkeiten handelt, und die Dauer des Aufenthalts, die persönlichen Umstände und den gewährten Sozialhilfebetrag berücksichtigen, um zu beurteilen, ob der Leistungsempfänger die Sozialhilfeleistungen unangemessen in Anspruch genommen hat, und in diesem Fall seine Ausweisung zu veranlassen. In keinem Fall sollte eine Ausweisungsmaßnahme gegen Arbeitnehmer, Selbstständige oder Arbeitssuchende in dem vom Gerichtshof definierten Sinne erlassen werden, außer aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit.“
22 Art. 1 der Richtlinie bestimmt:
„Diese Richtlinie regelt
a)
die Bedingungen, unter denen Unionsbürger und ihre Familienangehörigen das Recht auf Freizügigkeit und Aufenthalt innerhalb des Hoheitsgebiets der Mitgliedstaaten genießen;
b)
das Recht auf Daueraufenthalt der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten;
c)
die Beschränkungen der in den Buchstaben a) und b) genannten Rechte aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit.“
23 Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie bestimmt:
„Diese Richtlinie gilt für jeden Unionsbürger, der sich in einen anderen als den Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, begibt oder sich dort aufhält, sowie für seine Familienangehörigen im Sinne von Artikel 2 Nummer 2, die ihn begleiten oder ihm nachziehen.“
24 Art. 7 („Recht auf Aufenthalt für mehr als drei Monate“) der Richtlinie bestimmt in Abs. 1:
„Jeder Unionsbürger hat das Recht auf Aufenthalt im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats für einen Zeitraum von über drei Monaten, wenn er
…
b)
für sich und seine Familienangehörigen über ausreichende Existenzmittel verfügt, so dass sie während ihres Aufenthalts keine Sozialhilfeleistungen des Aufnahmemitgliedstaats in Anspruch nehmen müssen, und er und seine Familienangehörigen über einen umfassenden Krankenversicherungsschutz im Aufnahmemitgliedstaat verfügen oder
…“
25 Art. 24 („Gleichbehandlung“) der Richtlinie bestimmt:
„(1) Vorbehaltlich spezifischer und ausdrücklich im Vertrag und im abgeleiteten Recht vorgesehener Bestimmungen genießt jeder Unionsbürger, der sich aufgrund dieser Richtlinie im Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats aufhält, im Anwendungsbereich des Vertrags die gleiche Behandlung wie die Staatsangehörigen dieses Mitgliedstaats. Das Recht auf Gleichbehandlung erstreckt sich auch auf Familienangehörige, die nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzen und das Recht auf Aufenthalt oder das Recht auf Daueraufenthalt genießen.
(2) Abweichend von Absatz 1 ist der Aufnahmemitgliedstaat jedoch nicht verpflichtet, anderen Personen als Arbeitnehmern oder Selbstständigen, Personen, denen dieser Status erhalten bleibt, und ihren Familienangehörigen während der ersten drei Monate des Aufenthalts oder gegebenenfalls während des längeren Zeitraums nach Artikel 14 Absatz 4 Buchstabe b) einen Anspruch auf Sozialhilfe oder vor Erwerb des Rechts auf Daueraufenthalt Studienbeihilfen, einschließlich Beihilfen zur Berufsausbildung, in Form eines Stipendiums oder Studiendarlehens, zu gewähren.“
26 Art. 37 („Günstigere innerstaatliche Rechtsvorschriften“) der Richtlinie bestimmt:
„Diese Richtlinie lässt Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten, die für die in den Anwendungsbereich dieser Richtlinie fallenden Personen günstiger sind, unberührt.“
Recht des Vereinigten Königreichs
Anhang EU der Niederlassungsregelung
27 Bei dem EU Settlement Scheme – Appendix EU of the UK Immigration Rules (Niederlassungsregelung „EU Settlement Scheme“ – Anhang „EU“ zu den Einwanderungsbestimmungen des Vereinigten Königreichs, im Folgenden: Anhang EU der Niederlassungsregelung) handelt es sich um einen Rechtsakt, mit dem die Behörden des Vereinigten Königreichs im Hinblick auf den Austritt des Vereinigten Königreichs aus der Union für die im Vereinigten Königreich lebenden Staatsangehörigen des Europäischen Wirtschaftsraums (EWG) und damit auch für die dort lebenden Unionsbürger eine neue rechtliche Regelung getroffen haben. Danach können alle Unionsbürger, die schon vor dem 31. Dezember 2020 im Vereinigten Königreich lebten, für sich und ihre Angehörigen beantragen, weiter im Vereinigten Königreich leben zu dürfen. Diese Regelung ist am 30. März 2019 in Kraft getreten.
28 Im Anhang EU der Niederlassungsregelung ist geregelt, in welchem Verfahren und unter welchen Voraussetzungen verschiedene Kategorien von Unionsbürgern und ihre Angehörigen das Recht, sich dauerhaft oder vorübergehend im Hoheitsgebiet des Vereinigten Königreichs aufzuhalten, erlangen können. So ist vorgesehen, das Unionsbürger, die das Recht hatten, sich dauerhaft im Hoheitsgebiet des Vereinigten Königreichs aufzuhalten, den Status einer sich dauerhaft im Vereinigten Königreich aufhaltenden Person haben, während diejenigen, die seit weniger als fünf Jahren im Vereinigten Königreich leben, den Status einer sich nicht dauerhaft im Vereinigten Königreich aufhaltenden Person (Pre-Settled Status) erhalten, der für sie ein Recht auf einen vorübergehenden Aufenthalt von fünf Jahren begründet.
Verordnung (Nordirland) von 2016 über die Universalbeihilfe
29 In den Universal Credit Regulations (Northern Ireland) 2016 (Verordnung [Nordirland] von 2016 über die Universalbeihilfe) in der durch die Social Security (Income-related Benefits) (Updating and Amendment) (EU Exit) Regulations (Northern Ireland) 2019 (Verordnung [Nordirland] von 2019 über die soziale Sicherheit [bedarfsabhängige Leistungen] [Aktualisierung und Änderung] [Austritt aus der Europäischen Union]) geänderten Fassung (im Folgenden: Verordnung von 2016 über die Universalbeihilfe) bestimmt Art. 9:
„Personen, bei denen angenommen wird, dass sie sich nicht in Nordirland befinden
„(1) Für die Zwecke der Feststellung, ob eine Person die Grundvoraussetzung erfüllt, sich in Nordirland zu befinden – außer in dem Fall, dass eine Person unter Paragraph 4 fällt –, gilt eine Person als nicht in Nordirland befindlich, wenn sie ihren gewöhnlichen Aufenthalt nicht im Vereinigten Königreich, auf den Kanalinseln, auf der Isle of Man oder in der Republik Irland hat.
(2) Eine Person gilt nicht als im Vereinigten Königreich, auf den Kanalinseln, auf der Isle of Man oder in der Republik Irland gewöhnlich aufhältig, wenn sie nicht an einem dieser Orte über ein Aufenthaltsrecht verfügt.
(3) Für die Zwecke von Paragraph 2 umfasst ein Aufenthaltsrecht kein Recht, das gemäß oder im Einklang mit folgenden Bestimmungen besteht:
(a)
Regulation 13 der [Immigration (European Economic Area) Regulations 2016 (Verordnung von 2016 über die Einwanderung (Europäischer Wirtschaftsraum)), SI 2016/1052, im Folgenden: EWR‑Verordnung] oder Art. 6 der Richtlinie 2004/38,
(b)
Regulation 14 der EWR-Verordnung, jedoch nur in Fällen, in denen das Recht nach der EWR‑Verordnung aufgrund dessen besteht, dass die Person:
(i)
eine im Sinne von Regulation 6(1) dieser Verordnung als Arbeitssuchender qualifizierte Person oder
(ii)
ein Familienangehöriger (im Sinne von Regulation 7 dieser Verordnung) eines solchen Arbeitssuchenden ist,
(c)
Regulation 16 der EWR-Verordnung, jedoch nur in den Fällen, in denen das Recht nach dieser Verordnung besteht, weil die Person die Kriterien nach Regulation 16(5) dieser Verordnung oder nach Art. 20 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (in dem Fall, dass das Aufenthaltsrecht darauf beruht, dass ohne dieses Recht ein britischer Bürger am effektiven Genuss seiner Rechte als Unionsbürger gehindert würde) erfüllt oder
(d)
eine Person, die über eine begrenzte Erlaubnis zur Einreise in das Vereinigte Königreich oder zum Aufenthalt dort gemäß dem Immigration Act 1971 [Einwanderungsgesetz von 1971] verfügt aufgrund
(i)
des auf Section 3(2) des Einwanderungsgesetzes beruhenden [Anhangs EU der Niederlassungsregelung]
…
…“
Ausgangsverfahren und Vorlagefragen
30 CG besitzt sowohl die kroatische als auch die niederländische Staatsangehörigkeit. Sie ist Mutter zweier noch kleiner Kinder, die sie alleine großzieht. Nach ihren eigenen Angaben war sie 2018 mit ihrem Partner, dem Vater ihrer Kinder, der die niederländische Staatsangehörigkeit besitzt, nach Nordirland (Vereinigtes Königreich) eingereist. Sie war im Vereinigten Königreich zu keiner Zeit erwerbstätig. Sie lebte dort mit ihrem Partner zusammen, bis sie in ein Frauenhaus zog. CG ist mittellos. Sie ist nicht in der Lage, für ihren eigenen Lebensunterhalt und den ihrer Kinder aufzukommen.
31 Am 4. Juni 2020 wurde CG vom Home Office (Innenministerium, Vereinigtes Königreich) auf der Grundlage des Anhangs EU der Niederlassungsregelung der Status einer sich nicht dauerhaft im Vereinigten Königreich aufhaltenden Person (Pre-Settled Status) zuerkannt, auf dessen Grundlage ihr ein Recht auf vorübergehenden Aufenthalt gewährt wurde. Die Zuerkennung dieses Status setzt nicht voraus, dass die betreffende Person über bestimmte Mittel verfügt.
32 Am 8. Juni 2020 beantragte CG beim Ministerium für kommunale Angelegenheiten (Nordirland) eine Sozialhilfeleistung, die sog. Universalbeihilfe (Universal Credit). Ihr Antrag wurde mit Bescheid vom 17. Juni 2020 mit der Begründung abgelehnt, dass sie nicht die Voraussetzungen erfülle, die insoweit an den Aufenthalt gestellt würden.
33 Die zuständige Behörde vertrat die Auffassung, dass nur bei Personen, die gemäß Regulation 9(2) der Verordnung von 2016 über die Universalbeihilfe ein Recht auf Aufenthalt im Vereinigten Königreich hätten, angenommen werden könne, dass sie ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Vereinigten Königreich hätten, und deshalb nur solche Personen die Universalbeihilfe erhalten könnten. Personen, die wie CG die Staatsangehörigkeit eines der Mitgliedstaaten besäßen und über ein Aufenthaltsrecht nach Anhang EU der Niederlassungsregelung verfügten, kämen nach Regulation 9(3)(d)(i) der Verordnung von 2016 über die Universalbeihilfe hingegen nicht als potenzielle Empfänger der Universalbeihilfe in Betracht.
34 Das Aufenthaltsrecht, das durch den Anhang EU der Niederlassungsregelung für die Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten geschaffen wurde, gehört, wie sich aus Regulation 9(3)(d)(i) der Verordnung von 2016 über die Universalbeihilfe ergibt, nicht zu den Aufenthaltsrechten, die einen gewöhnlichen Aufenthalt im Vereinigten Königreich zu begründen vermögen. Mit dieser Bestimmung, die durch die Verordnung (Nordirland) von 2019 über die soziale Sicherheit (bedarfsabhängige Leistungen) (Aktualisierung und Änderung) (Austritt aus der Europäischen Union) in die Verordnung von 2016 über die Universalbeihilfe eingefügt wurde, wollten die nationalen Behörden die genannten Personen von der Kategorie der potenziellen Empfänger der Universalbeihilfe ausschließen. Hierzu sahen sie vor, dass das Aufenthaltsrecht, über das diese Personen nunmehr verfügen, für die Begründung eines „gewöhnlichen Aufenthalts“ im Sinne der Regulation 9(2) der Verordnung von 2016 über die Universalbeihilfe nicht relevant ist.
35 Der Bescheid des Ministers für kommunale Angelegenheiten (Nordirland) vom 17. Juni 2020 wurde am 30. Juni 2020 bestätigt, nachdem CG gegen ihn Widerspruch eingelegt hatte.
36 CG erhob daraufhin beim Appeal Tribunal for Northern Ireland (Berufungsgericht für Nordirland, Vereinigtes Königreich) gegen den Bescheid vom 17. Juni 2020 Klage. Sie macht insbesondere geltend, dass die Vorschrift, auf die der angefochtene Bescheid gestützt sei, nämlich die Regulation 9(3)(d)(i) der Verordnung von 2016 über die Universalbeihilfe, rechtswidrig sei. Diese Bestimmung verstoße insoweit gegen Art. 18 AEUV und die Verpflichtungen des Vereinigten Königreichs aus dem European Communities Act 1972 (Gesetz von 1972 über die Europäischen Gemeinschaften) betreffend den Beitritt des Vereinigten Königreichs zur Europäischen Union, als Unionsbürger, bei denen das Vereinigte Königreich anerkannt habe, dass sie sich rechtmäßig in seinem Hoheitsgebiet aufhielten, keinen Anspruch auf Sozialhilfe hätten.
37 CG macht insoweit geltend, dass bei ihr, da sie über ein Recht auf vorübergehenden Aufenthalt verfüge, das sich aus dem ihr am 4. Juni 2020 zuerkannten Status einer sich nicht dauerhaft im Vereinigten Königreich aufhaltenden Person ergebe, davon ausgegangen werden müsse, dass sie sich im Sinne von Regulation 9 der Verordnung von 2016 über die Universalbeihilfe im Hoheitsgebiet von Nordirland befinde. Sie habe daher Anspruch auf die Universalbeihilfe. Die Weigerung, ihr diese Sozialhilfeleistung zu gewähren, weil ihr Status für die Begründung eines „gewöhnlichen Aufenthalts“ im Vereinigten Königreich unerheblich sei, stelle eine Ungleichbehandlung von Unionsbürgern, die sich rechtmäßig im Vereinigten Königreich aufhielten, und Personen, die die Staatsangehörigkeit des Vereinigten Königreichs besäßen, und damit eine Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit im Sinne von Art. 18 Abs. 1 AEUV dar. Nach dem Urteil vom 7. September 2004, Trojani (C‑456/02, EU:C:2004:488), und der einschlägigen nationalen Rechtsprechung könne sie sich unmittelbar auf diese Bestimmung berufen, um Sozialhilfe in Anspruch zu nehmen, da sie nach innerstaatlichem Recht ein Aufenthaltsrecht habe, auch wenn sie die unionsrechtlichen Voraussetzungen für die Erlangung eines Aufenthaltsrechts nicht erfülle.
38 Der Minister für kommunale Angelegenheiten (Nordirland) macht geltend, dass nach innerstaatlichem Recht der Status einer sich nicht dauerhaft im Vereinigten Königreich aufhaltenden Person (Pre-Settled Status) als solcher nicht bereits einen Anspruch auf Sozialhilfe begründe. Für diese gälten weiterhin ihre eigenen Anspruchsvoraussetzungen.
39 Das Appeal Tribunal for Northern Ireland (Berufungsgericht für Nordirland) hat das Verfahren deshalb ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:
1. Ist die Regulation 9(3)(d)(i) der Verordnung von 2016 über die Universalbeihilfe, eingefügt durch die Verordnung von 2019, die Unionsbürger, die nach innerstaatlichem Recht über ein Recht auf (vorübergehenden) Aufenthalt (im vorliegenden Fall den gemäß dem Anhang EU der Niederlassungsregelung erlangten „Status einer sich nicht dauerhaft im Vereinigten Königreich aufhaltenden Person“) verfügen, vom Bezug von Sozialhilfeleistungen ausschließt, (unmittelbar oder mittelbar) rechtswidrig diskriminierend nach Art. 18 AEUV und nicht mit den Verpflichtungen des Vereinigten Königreichs nach dem Gesetz von 1972 über die Europäischen Gemeinschaften vereinbar?
2. Wenn Frage 1 bejaht wird und Regulation 9(3)(d)(i) der Verordnung von 2016 über die Universalbeihilfe als mittelbar diskriminierend angesehen wird: Ist diese Bestimmung nach Art. 18 AEUV gerechtfertigt und ist sie nicht mit den Verpflichtungen des Vereinigten Königreichs nach dem Gesetz von 1972 über die Europäischen Gemeinschaften vereinbar?
Zum Antrag auf Entscheidung im beschleunigten Verfahren
40 Das Appeal Tribunal for Northern Ireland (Berufungsgericht für Nordirland) hat beantragt, die vorliegende Rechtssache angesichts ihrer offensichtlichen Dringlichkeit und der schwierigen finanziellen Lage von CG dem beschleunigten Verfahren gemäß Art. 105 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs zu unterwerfen.
41 Nach Art. 105 Abs. 1 der Verfahrensordnung kann der Präsident des Gerichtshofs auf Antrag des vorlegenden Gerichts oder ausnahmsweise von Amts wegen, nach Anhörung des Berichterstatters und des Generalanwalts, entscheiden, eine Vorlage zur Vorabentscheidung einem beschleunigten Verfahren zu unterwerfen, wenn die Art der Rechtssache ihre rasche Erledigung erfordert.
42 Mit Beschluss des Präsidenten des Gerichtshofs vom 26. Januar 2021 ist das vorlegende Gericht um Auskünfte ersucht worden. Es ist insbesondere darum gebeten worden, sich dazu zu äußern, ob eine potenzielle Gefahr der Verletzung der in den Art. 7 und 24 der Charta der Grundrechte (im Folgenden: Charta) verbürgten Grundrechte von CG und ihrer Kinder besteht, und anzugeben, über welche finanziellen Mittel CG verfügt und wie es um die Wohnverhältnisse von CG und ihren Kindern bestellt ist.
43 Mit E-Mail vom 5. Februar 2021 hat das vorlegende Gericht bestätigt, dass CG mittellos sei, derzeit vom Staat keine Leistungen erhalte und in einem Frauenhaus lebe und dass die Gefahr einer Verletzung der Grundrechte ihrer Kinder bestehe.
44 Unter diesen Umständen hat der Präsident des Gerichtshofs dem Antrag auf Entscheidung im beschleunigten Verfahren gemäß Art. 105 der Verfahrensordnung nach Anhörung der Berichterstatterin und des Generalanwalts mit Beschluss vom 11. Februar 2021 angesichts der Bedürftigkeit von CG und ihrer Kinder und des Umstands, dass CG nach innerstaatlichem Recht keinen Anspruch auf Sozialhilfe hat, stattgegeben.
Zur Zuständigkeit des Gerichtshofs
45 Nach ständiger Rechtsprechung hat der Gerichtshof zur Prüfung seiner eigenen Zuständigkeit die Umstände zu untersuchen, unter denen er von dem nationalen Gericht angerufen wird (Urteil vom 10. Dezember 2020, J & S Service, C‑620/19, EU:C:2020:1011, Rn. 32 und die dort angeführte Rechtsprechung).
46 Nach Art. 19 Abs. 3 Buchst. b EUV und Art. 267 Abs. 1 AEUV ist der Gerichtshof dafür zuständig, im Wege der Vorabentscheidung über die Auslegung des Unionsrechts oder über die Gültigkeit der Handlungen der Unionsorgane zu entscheiden. Wird in einem Verfahren vor einem Gericht eines Mitgliedstaats eine vorlagefähige Frage gestellt und hält dieses Gericht eine Entscheidung darüber zum Erlass seines Urteils für erforderlich, kann es die Frage dem Gerichtshof zur Entscheidung vorlegen (Art. 267 Abs. 2 AEUV).
47 Im vorliegenden Fall ist festzustellen, dass das Vereinigte Königreich am 1. Februar 2020, dem Tag, an dem das Abkommen über den Austritt des Vereinigten Königreichs in Kraft getreten ist, aus der Union ausgetreten ist und damit zu einem Drittstaat geworden ist. Die Gerichte des Vereinigten Königreichs können seitdem nicht mehr als Gerichte eines Mitgliedstaats angesehen werden.
48 Im Abkommen über den Austritt des Vereinigten Königreichs ist in Art. 126 jedoch ein Übergangszeitraum vom 1. Februar 2020 (Inkrafttreten des Abkommens) bis zum 31. Dezember 2020 vorgesehen. Art. 127 des Abkommens sieht vor, dass das Unionsrecht, sofern in dem Abkommen nichts anderes bestimmt ist, während des Übergangszeitraums für das Vereinigte Königreich sowie im Vereinigten Königreich gilt, die gleichen Rechtswirkungen wie innerhalb der Union und ihrer Mitgliedstaaten entfaltet und nach denselben Methoden und allgemeinen Grundsätzen ausgelegt und angewendet wird, die auch innerhalb der Union gelten.
49 Weiter sieht Art. 86 des Abkommens über den Austritt des Vereinigten Königreichs vor, dass der Gerichtshof weiterhin für Vorabentscheidungsersuchen der Gerichte des Vereinigten Königreichs zuständig ist, die vor Ende des Übergangszeitraums vorgelegt werden (Abs. 2) und dass ein Vorabentscheidungsersuchen zu dem Zeitpunkt als vorgelegt in diesem Sinne gilt, zu dem die Unterlagen zur Einleitung des Verfahrens von der Kanzlei des Gerichtshofs registriert wurden (Abs. 3).
50 Das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen ist am 30. Dezember 2020, also vor Ablauf des Übergangszeitraums, von einem Gericht des Vereinigten Königreichs eingereicht worden, und zwar im Rahmen eines Rechtsstreits über einen von CG am 8. Juni 2020 beim Ministerium für kommunale Angelegenheiten (Nordirland) eingereichten Antrag auf Sozialhilfe.
51 Daraus folgt zum einen, dass der im Ausgangsverfahren in Rede stehende Sachverhalt gemäß den Art. 126 und 127 des Abkommens über den Austritt des Vereinigten Königreichs in den zeitlichen Anwendungsbereich des Unionsrechts fällt, und zum anderen, dass der Gerichtshof gemäß Art. 86 Abs. 2 des Abkommens dafür zuständig ist, im Wege der Vorabentscheidung über das Ersuchen des vorlegenden Gerichts zu entscheiden, soweit damit um die Auslegung von Art. 18 Abs. 1 AEUV ersucht wird.
52 Dagegen ist der Gerichtshof für Frage 1 insoweit nicht zuständig, als die Vereinbarkeit von Regulation 9(3)(d)(i) der Verordnung von 2016 über die Universalbeihilfe mit den Verpflichtungen des Vereinigten Königreichs aus dem Gesetz von 1972 über die Europäischen Gemeinschaften beurteilt werden soll. Frage 1 betrifft insoweit weder die Auslegung des Unionsrechts noch die Gültigkeit einer Handlung der Unionsorgane im Sinne von Art. 267 Abs. 1 AEUV.
Zu den Vorlagefragen
Zur Zulässigkeit der Fragen
53 Die Regierung des Vereinigten Königreichs macht in ihren schriftlichen Erklärungen geltend, dass der Sachverhalt, um den es im Ausgangsverfahren gehe, allein dem innerstaatlichen Recht unterliege und daher nicht in den Anwendungsbereich des Unionsrechts falle. Das im Ausgangsverfahren in Rede stehende Recht auf vorübergehenden Aufenthalt sei CG allein auf der Grundlage des innerstaatlichen Rechts gewährt worden. Dass CG auf der Grundlage des Unionsrechts für einen anfänglichen Zeitraum von drei Monaten Zugang zum Hoheitsgebiet des Vereinigten Königreichs gehabt habe, sei für die Beurteilung des Sachverhalts, um den es im Ausgangsverfahren gehe, nicht relevant.
54 Nach ständiger Rechtsprechung ist es im Rahmen der durch Art. 267 AEUV geschaffenen Zusammenarbeit zwischen dem Gerichtshof und den nationalen Gerichten allein Sache des nationalen Gerichts, das mit dem Rechtsstreit befasst ist und in dessen Verantwortungsbereich die zu erlassende Entscheidung fällt, anhand der Besonderheiten der Rechtssache sowohl die Erforderlichkeit einer Vorabentscheidung für den Erlass seines Urteils als auch die Erheblichkeit der dem Gerichtshof vorzulegenden Fragen zu beurteilen. Daher ist der Gerichtshof grundsätzlich gehalten, über ihm vorgelegte Fragen zu befinden, wenn diese die Auslegung des Unionsrechts betreffen (Urteil vom 10. Dezember 2020, J & S Service, C‑620/19, EU:C:2020:1011, Rn. 31 und die dort angeführte Rechtsprechung).
55 Der Gerichtshof kann die Beantwortung einer Vorlagefrage eines nationalen Gerichts nur ablehnen, wenn die Auslegung des Unionsrechts, um die er ersucht wird, offensichtlich in keinem Zusammenhang mit den Gegebenheiten oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits steht, wenn das Problem hypothetischer Natur ist oder wenn der Gerichtshof nicht über die tatsächlichen und rechtlichen Angaben verfügt, die für eine zweckdienliche Beantwortung der ihm vorgelegten Fragen erforderlich sind (Urteil vom 24. November 2020, Openbaar Ministerie [Urkundenfälschung], C‑510/19, EU:C:2020:953, Rn. 26 und die dort angeführte Rechtsprechung).
56 Im vorliegenden Fall ist festzustellen, dass sich aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten ergibt, dass CG, die sowohl die kroatische als auch die niederländische Staatsangehörigkeit besitzt, 2018 in das Vereinigte Königreich eingereist ist und sich seit dem 4. Juni 2020 auf der Grundlage des innerstaatlichen Rechts im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats aufhält.
57 Da das Unionsrecht nach Art. 127 des Abkommens über den Austritt des Vereinigten Königreichs im Vereinigten Königreich bis zum Ende des Übergangszeitraums galt, sofern in dem Abkommen nichts anderes bestimmt ist, ist festzustellen, dass ein Unionsbürger, der die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzt und sich in einen anderen Mitgliedstaat begeben hat, von seiner Freizügigkeit Gebrauch gemacht hat, so dass seine Situation in den Geltungsbereich des Unionsrechts fällt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 19. November 2020, ZW, C‑454/19, EU:C:2020:947, Rn. 23 und die dort angeführte Rechtsprechung).
58 Weiter entspricht es der Rechtsprechung des Gerichtshofs, dass eine Person, die die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzt und daher den Status eines Unionsbürgers hat, wenn sie sich rechtmäßig im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats aufhält, auch aus diesem Grund in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fällt. Folglich hat eine Person, die die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzt und sich in einem anderen Mitgliedstaat aufhält, als Unionsbürger das Recht, sich auf Art. 21 Abs. 1 AEUV zu berufen, und fällt in den Anwendungsbereich der Verträge im Sinne von Art. 18 AEUV, der den Grundsatz des Verbots der Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit enthält (Urteil vom 17. Dezember 2020, Generalstaatsanwaltschaft Berlin [Auslieferung an die Ukraine], C‑398/19, EU:C:2020:1032, Rn. 29 und 30 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).
59 Die Situation von CG fiel daher bis zum Ende des im Abkommen über den Austritt des Vereinigten Königreichs vorgesehenen Übergangszeitraums in den Anwendungsbereich des Unionsrechts. Die Vorlagefragen sind mithin insoweit zulässig, als sie die Auslegung von Art. 18 Abs. 1 AEUV betreffen.
Zur Beantwortung der Vorlagefragen
Zu Frage 1
60 Mit Frage 1 möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 18 AEUV dahin auszulegen ist, dass eine innerstaatliche Rechtsvorschrift, nach der Unionsbürger, die nach innerstaatlichem Recht über ein Recht auf vorübergehenden Aufenthalt verfügen, keinen Anspruch auf Sozialhilfe haben, unter das in ihm vorgesehene Verbot der Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit fällt.
61 Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass es nach ständiger Rechtsprechung im Rahmen des durch Art. 267 AEUV eingeführten Verfahrens der Zusammenarbeit zwischen den nationalen Gerichten und dem Gerichtshof dessen Aufgabe ist, dem nationalen Gericht eine für die Entscheidung des bei ihm anhängigen Rechtsstreits sachdienliche Antwort zu geben. Hierzu hat der Gerichtshof die ihm vorgelegten Fragen gegebenenfalls umzuformulieren (Urteil vom 17. Dezember 2020, Generalstaatsanwaltschaft Hamburg, C‑416/20 PPU, EU:C:2020:1042, Rn. 27 und die dort angeführte Rechtsprechung).
62 Als Erstes ist auf die Vorschriften einzugehen, die für die Beantwortung der Fragen des vorlegenden Gerichts relevant sind. Art. 20 Abs. 1 AEUV verleiht jeder Person, die die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzt, den Status eines Unionsbürgers. Dieser ist dazu bestimmt, der grundlegende Status der Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten zu sein, der es denjenigen unter ihnen, die sich in der gleichen Situation befinden, erlaubt, im sachlichen Anwendungsbereich des AEU‑Vertrags unabhängig von ihrer Staatsangehörigkeit und unbeschadet der insoweit ausdrücklich vorgesehenen Ausnahmen die gleiche rechtliche Behandlung zu genießen (Urteil vom 11. November 2014, Dano, C‑333/13, EU:C:2014:2358, Rn. 57 und 58 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).
63 Deshalb kann sich jeder Unionsbürger in allen Situationen, die in den sachlichen Anwendungsbereich des Unionsrechts fallen, auf das Verbot der Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit gemäß Art. 18 AEUV berufen. Zu diesen Situationen gehören diejenigen, die die Ausübung der durch Art. 20 Abs. 2 Buchst. a AEUV und Art. 21 AEUV verliehenen Freiheit betreffen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten (Urteil vom 11. November 2014, Dano, C‑333/13, EU:C:2014:2358, Rn. 59 und die dort angeführte Rechtsprechung).
64 CG ist eine Unionsbürgerin, die von ihrem Recht, sich frei zu bewegen und aufzuhalten, Gebrauch gemacht hat, um sich im Vereinigten Königreich niederzulassen. Ihre Situation fällt daher in den sachlichen Anwendungsbereich des Unionsrechts, so dass sie sich grundsätzlich auf das Verbot der Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit gemäß Art. 18 AEUV berufen kann.
65 Nach ständiger Rechtsprechung soll Art. 18 Abs. 1 AEUV eigenständig allerdings nur bei unionsrechtlich geregelten Fallgestaltungen zur Anwendung kommen, für die der AEU‑Vertrag keine besonderen Diskriminierungsverbote vorsieht (Urteil vom 6. Oktober 2020, Jobcenter Krefeld, C‑181/19, EU:C:2020:794, Rn. 78). Außerdem sieht Art. 20 Abs. 2 Unterabs. 2 AEUV ausdrücklich vor, dass die Rechte, die dieser Artikel den Unionsbürgern verleiht, „unter den Bedingungen und innerhalb der Grenzen ausgeübt [werden], die in den Verträgen und durch die in Anwendung der Verträge erlassenen Maßnahmen festgelegt sind“, und nach Art. 21 AEUV besteht auch das Recht der Unionsbürger, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, „vorbehaltlich der in den Verträgen und in den Durchführungsvorschriften vorgesehenen Beschränkungen und Bedingungen“ (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 11. November 2014, Dano, C‑333/13, EU:C:2014:2358, Rn. 60 und die dort angeführte Rechtsprechung).
66 So hat das Diskriminierungsverbot für Unionsbürger, die von ihrer Freiheit Gebrauch machen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, in Art. 24 der Richtlinie 2004/38 eine konkrete Ausprägung erfahren.
67 Insoweit ist zunächst darauf hinzuweisen, dass nach Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 nur Unionsbürger, die sich in einen anderen als den Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzen, begeben oder sich dort aufhalten, sowie ihre Familienangehörigen im Sinne von Art. 2 Nr. 2 der Richtlinie, die sie begleiten oder ihnen nachziehen, in den Geltungsbereich der Richtlinie fallen und Berechtigte der durch diese gewährten Rechte sind (Urteil vom 10. September 2019, Chenchooliah, C‑94/18, EU:C:2019:693, Rn. 54 und die dort angeführte Rechtsprechung). Bei einer Person wie CG, die sowohl die kroatische als auch die niederländische Staatsangehörigkeit besitzt und von der Freiheit, sich im Hoheitsgebiet des Vereinigten Königreichs frei zu bewegen und aufzuhalten, vor Ende des Übergangszeitraums gemäß Art. 126 des Abkommens über den Austritt des Vereinigten Königreichs Gebrauch gemacht hat, ist dies der Fall. Eine Person, die sich in der Situation von CG befindet, fällt mithin in den Anwendungsbereich der Richtlinie 2004/38, so dass für die Beurteilung der Frage, ob sie aus Gründen der Staatsangehörigkeit diskriminiert wird, nicht Art. 18 Abs. 1 AEUV, sondern Art. 24 der Richtlinie 2004/38 maßgeblich ist.
68 Was als Zweites die Art der Sozialleistungen betrifft, um die es im Ausgangsverfahren geht, ist festzustellen, dass mit dem Begriff „Sozialhilfe“ im Sinne von Art. 24 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38 sämtliche von öffentlichen Stellen eingerichteten Hilfssysteme gemeint sind, die auf nationaler, regionaler oder örtlicher Ebene bestehen und die ein Einzelner in Anspruch nimmt, der nicht über ausreichende Existenzmittel zur Befriedigung seiner Grundbedürfnisse und derjenigen seiner Familie verfügt und deshalb während seines Aufenthalts möglicherweise die öffentlichen Finanzen des Aufnahmemitgliedstaats belasten muss, was geeignet ist, sich auf das gesamte Niveau der Beihilfe auszuwirken, die der Aufnahmemitgliedstaat gewähren kann (Urteil vom 11. November 2014, Dano, C‑333/13, EU:C:2014:2358, Rn. 63 und die dort angeführte Rechtsprechung).
69 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts, die ihren Empfängern das Minimum an Existenzmitteln gewährleisten sollen, das erforderlich ist, um ein Leben zu führen, das der Menschenwürde entspricht, sind somit als „Sozialhilfe“ im Sinne von Art. 24 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38 anzusehen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. Oktober 2020, Jobcenter Krefeld, C‑181/19, EU:C:2020:794, Rn. 57 und die dort angeführte Rechtsprechung).
70 Aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten geht hervor, dass es sich bei der von CG beantragten Leistung, der Universalbeihilfe, um eine zum steuerfinanzierten System des sozialen Schutzes gehörende Geldleistung zur Sicherung des Lebensunterhalts handelt, bei deren Gewährung es u. a. auf die Mittel ankommt, über die die betreffende Person verfügt. Mit der Universalbeihilfe sollen verschiedene andere Sozialleistungen ersetzt werden wie die auf dem Einkommen beruhende Leistung für Arbeitssuchende (income based jobseeker’s allowance), die auf dem Einkommen beruhende Leistung bei Beschäftigung und zur Unterstützung (income-related employment and support allowance), die Beihilfe zum Einkommen (income support), die Steuergutschrift für erwerbstätige Personen (working tax credit), die Steuergutschrift für Kinder (child tax credit) und das Wohngeld (housing benefit).
71 Unter dem Vorbehalt der Überprüfungen, die das vorlegende Gericht vorzunehmen haben wird, ist die Universalbeihilfe demnach als Sozialhilfe im Sinne von Art. 24 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38 einzustufen.
72 Frage 1 ist daher umzuformulieren. Das vorlegende Gericht möchte wissen, ob Art. 24 der Richtlinie 2004/38 dahin auszulegen ist, dass er der Regelung eines Aufnahmemitgliedstaats entgegensteht, nach der Unionsbürger mit einem vom Aufnahmemitgliedstaat auf der Grundlage des innerstaatlichen Rechts gewährten Recht auf vorübergehenden Aufenthalt, die nicht erwerbstätig sind und nicht über ausreichende Existenzmittel verfügen, keinen Anspruch auf Sozialhilfe haben, während Personen, die die Staatsangehörigkeit des Aufnahmemitgliedstaats besitzen, in einer solchen Situation einen solchen Anspruch haben.
73 Das vorlegende Gericht hat im Vorlagebeschluss festgestellt, dass die Klägerin des Ausgangsverfahrens seit mehr als drei Monaten im Vereinigten Königreich lebt, dass sie nicht arbeitssuchend ist und dass sie in das Hoheitsgebiet des Vereinigten Königreichs eingereist war, um ihren früheren Lebensgefährten zu begleiten, der der Vater ihrer noch kleinen Kinder ist und von dem sie sich, nachdem sie Opfer häuslicher Gewalt geworden war, getrennt hat. Eine solche Situation fällt unter keinen der Fälle, in denen Art. 24 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38 eine Ausnahme von der Gleichbehandlung zulässt, insbesondere was den Zugang zu einer Sozialhilfeleistung wie der Universalbeihilfe betrifft.
74 Nach Art. 24 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 genießt jeder Unionsbürger, der sich aufgrund der Richtlinie im Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats aufhält, im Anwendungsbereich des Vertrags die gleiche Behandlung wie die Staatsangehörigen des Aufnahmemitgliedstaats.
75 Der Gerichtshof hat entschieden, dass ein Unionsbürger nur dann verlangen kann, hinsichtlich des Zugangs zur Sozialhilfe gemäß dieser Bestimmung die gleiche Behandlung wie die Staatsangehörigen des Aufnahmemitgliedstaats zu genießen, wenn sein Aufenthalt im Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats die Voraussetzungen der Richtlinie 2004/38 erfüllt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 11. November 2014, Dano, C‑333/13, EU:C:2014:2358, Rn. 68 und 69).
76 Insoweit ist zu beachten, dass das Aufenthaltsrecht bei einem Aufenthalt im Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats von mehr als drei Monaten und weniger als fünf Jahren von den in Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 genannten Voraussetzungen abhängig ist. Insbesondere muss ein Bürger, der nicht erwerbstätig ist, für sich und seine Familienangehörigen über ausreichende Existenzmittel verfügen (Art. 7 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2004/38). Wie sich aus dem zehnten Erwägungsgrund der Richtlinie ergibt, soll damit u. a. verhindert werden, dass solche Personen die Sozialhilfeleistungen des Aufnahmemitgliedstaats unangemessen in Anspruch nehmen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 11. November 2014, Dano, C‑333/13, EU:C:2014:2358, Rn. 71 und die dort angeführte Rechtsprechung).
77 Ließe man zu, dass Unionsbürger, denen kein Aufenthaltsrecht nach der Richtlinie 2004/38 zusteht, ebenso wie Inländer Sozialhilfeleistungen beanspruchen könnten, liefe dies diesem Ziel zuwider und würde es nicht erwerbstätigen Unionsbürgern unter Umständen ermöglichen, das System der sozialen Sicherheit des Aufnahmemitgliedstaats zur Bestreitung ihres Lebensunterhalts in Anspruch zu nehmen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 11. November 2014, Dano, C‑333/13, EU:C:2014:2358, Rn. 74, 76 und 77 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).
78 Ein Mitgliedstaat hat daher gemäß Art. 7 der Richtlinie 2004/38 die Möglichkeit, nicht erwerbstätigen Unionsbürgern, die von ihrer Freizügigkeit Gebrauch machen und nicht über ausreichende Existenzmittel für die Beanspruchung eines Aufenthaltsrechts gemäß der Richtlinie verfügen, Sozialhilfeleistungen zu versagen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 11. November 2014, Dano, C‑333/13, EU:C:2014:2358, Rn. 78).
79 Folglich ist bei der Beurteilung der Frage, ob ein Unionsbürger gemäß Art. 7 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2004/38 über ausreichende Existenzmittel verfügt und sich daher im Aufnahmemitgliedstaat auf das Diskriminierungsverbot des Art. 24 Abs. 1 der Richtlinie berufen kann, um die gleiche Behandlung wie die Staatsangehörigen des Aufnahmemitgliedstaats zu genießen, eine konkrete Prüfung der wirtschaftlichen Situation jedes Betroffenen vorzunehmen, bei der die beantragten Sozialhilfeleistungen außer Betracht bleiben (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 11. November 2014, Dano, C‑333/13, EU:C:2014:2358, Rn. 80 und 81).
80 Im Ausgangsverfahren ergibt sich aus der Antwort des vorlegenden Gerichts auf das Auskunftsersuchen des Gerichtshofs, dass CG nicht über ausreichende Existenzmittel verfügt. Folglich kann bei einer solchen Person angenommen werden, dass sie die Sozialhilfeleistungen des Vereinigten Königreichs unangemessen in Anspruch nimmt. Sie kann sich daher nicht auf das in Art. 24 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 vorgesehene Diskriminierungsverbot berufen.
81 Dem steht nicht entgegen, dass CG nach innerstaatlichem Recht über ein Recht auf vorübergehenden Aufenthalt verfügt, das ihr ohne Rücksicht darauf gewährt wurde, ob sie über bestimmte Mittel verfügt. Könnte sich nämlich ein nicht erwerbstätiger Unionsbürger, der nicht über ausreichende Existenzmittel verfügt und sich außerhalb der in der Richtlinie 2004/38 vorgesehenen Bedingungen im Aufnahmemitgliedstaat aufhält, auf das Diskriminierungsverbot des Art. 24 Abs. 1 der Richtlinie berufen, würde er einen umfassenderen Schutz genießen als denjenigen, den er bei Anwendung der Bestimmungen der Richtlinie erhalten hätte, die dazu geführt hätten, dass ihm ein Aufenthaltsrecht verweigert worden wäre.
82 Bei innerstaatlichen Bestimmungen wie den im Ausgangsverfahren in Rede stehenden, die einem Unionsbürger ein Aufenthaltsrecht gewähren, obwohl die entsprechenden Voraussetzungen der Richtlinie 2004/38 nicht alle erfüllt sind, ist zwar Art. 37 der Richtlinie einschlägig. Danach steht die Richtlinie nicht dem entgegen, dass das Recht der Mitgliedstaaten eine Regelung vorsieht, die günstiger ist als die durch die Bestimmungen der Richtlinie eingeführte.
83 Bei einem solchen Aufenthaltsrecht kann aber nicht angenommen werden, dass es im Sinne von Art. 24 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 „aufgrund dieser Richtlinie“ gewährt worden wäre. Der Gerichtshof hat nämlich entschieden, dass der Umstand, dass innerstaatliche Bestimmungen, die in Bezug auf das Aufenthaltsrecht der Unionsbürger günstiger sind als die der Richtlinie 2004/38, unberührt bleiben, keineswegs bedeutet, dass diese Bestimmungen in das mit der Richtlinie eingeführte System aufzunehmen wären. Er hat daraus insbesondere gefolgert, dass ein Mitgliedstaat, der sich dafür entschieden hat, eine Regelung einzuführen, die günstiger ist als die durch die Bestimmungen der Richtlinie 2004/38 eingeführte, zu bestimmen hat, welche Folgen ein nur aufgrund des innerstaatlichen Rechts gewährtes Aufenthaltsrecht hat (Urteil vom 21. Dezember 2011, Ziolkowski und Szeja, C‑424/10 und C‑425/10, EU:C:2011:866, Rn. 49 und 50).
84 Wie bereits ausgeführt (siehe oben, Rn. 57), hat ein Unionsbürger, der sich wie CG in einen anderen Mitgliedstaat begeben hat, jedoch von seiner in Art. 21 Abs. 1 AEUV verbürgten Grundfreiheit Gebrauch gemacht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, so dass seine Situation in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fällt, und zwar selbst dann, wenn er sein Aufenthaltsrecht aus dem innerstaatlichen Recht ableitet.
85 Insoweit ist festzustellen, dass der Anwendungsbereich der Charta in Art. 51 Abs. 1 der Charta definiert ist. Danach gilt diese, was das Handeln der Mitgliedstaaten betrifft, für die Mitgliedstaaten ausschließlich bei der Durchführung des Rechts der Union (Urteil vom13. Juni 2017, Florescu u. a., C‑258/14, EU:C:2017:448, Rn. 44 und die dort angeführte Rechtsprechung). Nach ihrem Art. 51 Abs. 2 dehnt die Charta den Geltungsbereich des Unionsrechts nicht über die Zuständigkeiten der Europäischen Union hinaus aus und begründet weder neue Zuständigkeiten noch neue Aufgaben für die Union, noch ändert sie die in den Verträgen festgelegten Zuständigkeiten und Aufgaben (Urteil vom 19. November 2019, TSN und AKT, C‑609/17 und C‑610/17, EU:C:2019:981, Rn. 42).
86 Nach ständiger Rechtsprechung finden die in der Unionsrechtsordnung gewährleisteten Grundrechte in allen unionsrechtlich geregelten Fallgestaltungen Anwendung (Urteil vom 19. November 2019, TSN und AKT, C‑609/17 und C‑610/17, EU:C:2019:981, Rn. 43 und die dort angeführte Rechtsprechung).
87 Im vorliegenden Fall ergibt sich aus dem Vorlagebeschluss, dass die Behörden des Vereinigten Königreichs CG ein Aufenthaltsrecht gewährt haben, obwohl diese nicht über ausreichende Existenzmittel verfügte. Wie bereits ausgeführt (siehe oben, Rn. 82), haben die Behörden des Vereinigten Königreichs eine Regelung angewandt, die, was das Aufenthaltsrecht angeht, günstiger ist als die durch die Bestimmungen der Richtlinie 2004/38 eingeführte. Diese Handlung kann daher nicht als Durchführung der Richtlinie angesehen werden. Die Behörden des Vereinigten Königreichs haben damit allerdings das den Unionsbürgern durch Art. 21 Abs. 1 AEUV verliehene Recht eines Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats, sich in seinem Hoheitsgebiet frei aufzuhalten, anerkannt, ohne sich auf die in der Richtlinie 2004/38 vorgesehenen Bedingungen und Beschränkungen dieses Rechts zu berufen.
88 Daraus folgt, dass die Behörden des Aufnahmemitgliedstaats, wenn sie dieses Recht unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens gewähren, die Bestimmungen des AEU‑Vertrags über den Unionsbürgerstatus durchführen, der dazu bestimmt ist, der grundlegende Status der Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten zu sein (siehe oben, Rn. 62), und dass sie daher verpflichtet sind, die Vorschriften der Charta zu beachten.
89 Insbesondere hat sich der Aufnahmemitgliedstaat gemäß Art. 1 der Charta zu vergewissern, dass ein Unionsbürger, der von seinem Recht Gebrauch gemacht hat, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, nach innerstaatlichem Recht ein Aufenthaltsrecht hat und sich in einer Situation befindet, in der er schutzbedürftig ist, gleichwohl unter würdigen Bedingungen leben kann.
90 Außerdem erkennt Art. 7 der Charta das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens an. Dieser Artikel ist in Verbindung mit der Verpflichtung zu sehen, bei allen Handlungen, die Kinder betreffen, das in Art. 24 Abs. 2 der Charta anerkannte Wohl des Kindes zu berücksichtigen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 26. März 2019, SM [Unter algerische Kafala gestelltes Kind], C‑129/18, EU:C:2019:248, Rn. 67 und die dort angeführte Rechtsprechung).
91 Der Aufnahmemitgliedstaat ist verpflichtet, es den Kindern, die besonders schutzbedürftig sind, zu ermöglichen, dass sie mit dem Elternteil bzw. den Eltern, dem bzw. denen die elterliche Sorge zusteht, unter würdigen Bedingungen wohnen können.
92 Im vorliegenden Fall geht aus dem Vorlagebeschluss hervor, dass CG Mutter von zwei noch kleinen Kindern ist, über keinerlei Mittel verfügt, um für ihren eigenen Lebensunterhalt und den ihrer Kinder aufzukommen, und auf sich allein gestellt ist, weil sie vor einem gewalttätigen Partner geflohen ist. In einem solchen Fall können die zuständigen nationalen Behörden einen Antrag auf eine Sozialhilfeleistung wie die Universalbeihilfe erst dann ablehnen, wenn sie sich vergewissert haben, dass dies den betreffenden Bürger und die Kinder, für die ihm die elterliche Sorge zusteht, nicht dem konkreten und gegenwärtigen Risiko einer Verletzung ihrer Grundrechte, wie sie in den Artikeln 1, 7 und 24 der Charta verbürgt sind, aussetzt. Im Rahmen dieser Prüfung können die zuständigen nationalen Behörden sämtliche Hilfeleistungen berücksichtigen, die das innerstaatliche Recht vorsieht und die der betroffene Bürger und seine Kinder gegenwärtig tatsächlich in Anspruch nehmen können. Im Ausgangsrechtsstreit wird das vorlegende Gericht insbesondere zu prüfen haben, ob CG und ihre Kinder die anderen Leistungen als die Universalbeihilfe, auf die die Vertreter des Vereinigten Königreichs und des Ministeriums für kommunale Angelegenheiten (Nordirland) in ihren beim Gerichtshof eingereichten Erklärungen verwiesen haben, gegenwärtig tatsächlich in Anspruch nehmen können.
93 Nach alledem ist auf Frage 1 zu antworten:
–
Art. 24 der Richtlinie 2004/38 ist dahin auszulegen, dass er der Regelung eines Aufnahmemitgliedstaats, nach der Unionsbürger mit einem vom Aufnahmemitgliedstaat auf der Grundlage des innerstaatlichen Rechts gewährten Recht auf vorübergehenden Aufenthalt, die nicht erwerbstätig sind und nicht über ausreichende Existenzmittel verfügen, keinen Anspruch auf Sozialhilfe haben, während Personen, die die Staatsangehörigkeit des Aufnahmemitgliedstaats besitzen, in einer solchen Situation einen solchen Anspruch haben, nicht entgegensteht.
–
Hält sich ein Unionsbürger nach innerstaatlichem Recht rechtmäßig im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats als desjenigen, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, auf, haben sich die zuständigen nationalen Behörden bei der Entscheidung über die Gewährung von Sozialhilfe jedoch zu vergewissern, dass die auf die genannte Regelung gestützte Ablehnung von Sozialhilfe den betreffenden Unionsbürger und die Kinder, für die ihm die elterliche Sorge zusteht, nicht einem konkreten und gegenwärtigen Risiko der Verletzung ihrer Grundrechte, wie sie in den Artikeln 1, 7 und 24 der Charta verbürgt sind, aussetzt. Verfügt der betreffende Unionsbürger über keinerlei Mittel, um für seinen Lebensunterhalt und den seiner Kinder aufzukommen, und ist er auf sich allein gestellt, haben sich die zuständigen nationalen Behörden zu vergewissern, dass er im Falle der Nichtgewährung von Sozialhilfe mit seinen Kindern dennoch unter würdigen Umständen leben kann. Bei dieser Prüfung können die zuständigen nationalen Behörden sämtliche Hilfeleistungen berücksichtigen, die das innerstaatliche Recht vorsieht und die der betreffende Unionsbürger und seine Kinder tatsächlich in Anspruch nehmen können.
Zu Frage 2
94 In Anbetracht der Antwort auf Frage 1 ist Frage 2 nicht zu beantworten.
Kosten
95 Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Große Kammer) für Recht erkannt:
Art. 24 der Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 und zur Aufhebung der Richtlinien 64/221/EWG, 68/360/EWG, 72/194/EWG, 73/148/EWG, 75/34/EWG, 75/35/EWG, 90/364/EWG, 90/365/EWG und 93/96/EWG ist dahin auszulegen, dass er der Regelung eines Aufnahmemitgliedstaats, nach der Unionsbürger mit einem vom Aufnahmemitgliedstaat auf der Grundlage des innerstaatlichen Rechts gewährten Recht auf vorübergehenden Aufenthalt, die nicht erwerbstätig sind und nicht über ausreichende Existenzmittel verfügen, keinen Anspruch auf Sozialhilfe haben, während Personen, die die Staatsangehörigkeit des Aufnahmemitgliedstaats besitzen, in einer solchen Situation einen solchen Anspruch haben, nicht entgegensteht.
Hält sich ein Unionsbürger nach innerstaatlichem Recht rechtmäßig im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats als desjenigen, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, auf, haben sich die zuständigen nationalen Behörden bei der Entscheidung über die Gewährung von Sozialhilfe jedoch zu vergewissern, dass die auf die genannte Regelung gestützte Ablehnung von Sozialhilfe den betreffenden Unionsbürger und die Kinder, für die ihm die elterliche Sorge zusteht, nicht einem konkreten und gegenwärtigen Risiko der Verletzung ihrer Grundrechte, wie sie in den Artikeln 1, 7 und 24 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union verbürgt sind, aussetzt. Verfügt der betreffende Unionsbürger über keinerlei Mittel, um für seinen Lebensunterhalt und den seiner Kinder aufzukommen, und ist er auf sich allein gestellt, haben sich die zuständigen nationalen Behörden zu vergewissern, dass er im Falle der Nichtgewährung von Sozialhilfe mit seinen Kindern dennoch unter würdigen Umständen leben kann. Bei dieser Prüfung können die zuständigen nationalen Behörden sämtliche Hilfeleistungen berücksichtigen, die das innerstaatliche Recht vorsieht und die der betreffende Unionsbürger und seine Kinder tatsächlich in Anspruch nehmen können.
Unterschriften
(*1) Verfahrenssprache: Englisch.
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Urteil des Gerichtshofs (Große Kammer) vom 6. Oktober 2020.#État luxembourgeois gegen B und État luxembourgois gegen B u. a.#Vorabentscheidungsersuchen der Cour administrative (Luxemburg).#Vorlage zur Vorabentscheidung – Richtlinie 2011/16/EU – Zusammenarbeit der Verwaltungsbehörden im Bereich der Besteuerung – Art. 1 und 5 – Anordnung der Übermittlung von Informationen an die zuständige Behörde eines Mitgliedstaats, die auf ein Ersuchen um Austausch von Informationen der zuständigen Behörde eines anderen Mitgliedstaats tätig wird – Informationsinhaber, dem die zuständige Behörde des erstgenannten Mitgliedstaats die Übermittlung aufgibt – Steuerpflichtiger, der von der Untersuchung betroffen ist, die dem Ersuchen der zuständigen Behörde des letztgenannten Mitgliedstaats zugrunde liegt – Dritte, mit denen der Steuerpflichtige Rechts‑, Bank- oder Finanzbeziehungen oder ganz allgemein wirtschaftliche Beziehungen unterhält – Gerichtlicher Rechtsschutz – Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Art. 47 – Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf – Art. 52 Abs. 1 – Beschränkung – Rechtsgrundlage – Beachtung des Wesensgehalts des Rechts auf einen wirksamen Rechtsbehelf – Bestehen eines Rechtsbehelfs, der es den betroffenen Einzelnen ermöglicht, eine wirksame Kontrolle aller relevanten Tatsachen- und Rechtsfragen sowie einen wirksamen gerichtlichen Schutz der ihnen durch das Unionsrecht garantierten Rechte zu erlangen – Von der Union anerkannte dem Gemeinwohl dienende Zielsetzung – Bekämpfung internationalen Steuerbetrugs und internationaler Steuerhinterziehung – Verhältnismäßigkeit – ‚Voraussichtliche Erheblichkeit‘ der Informationen, die Gegenstand der Auskunftsanordnung sind – Gerichtliche Überprüfung – Umfang – Zu berücksichtigende personelle, zeitliche und sachliche Gesichtspunkte.#Verbundene Rechtssachen C-245/19 und C-246/19.
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62019CJ0245
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ECLI:EU:C:2020:795
| 2020-10-06T00:00:00 |
Gerichtshof, Kokott
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Sammlung der Rechtsprechung – allgemein
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62019CJ0245
URTEIL DES GERICHTSHOFS (Große Kammer)
6. Oktober 2020 (*1) (i
)
„Vorlage zur Vorabentscheidung – Richtlinie 2011/16/EU – Zusammenarbeit der Verwaltungsbehörden im Bereich der Besteuerung – Art. 1 und 5 – Anordnung der Übermittlung von Informationen an die zuständige Behörde eines Mitgliedstaats, die auf ein Ersuchen um Austausch von Informationen der zuständigen Behörde eines anderen Mitgliedstaats tätig wird – Informationsinhaber, dem die zuständige Behörde des erstgenannten Mitgliedstaats die Übermittlung aufgibt – Steuerpflichtiger, der von der Untersuchung betroffen ist, die dem Ersuchen der zuständigen Behörde des letztgenannten Mitgliedstaats zugrunde liegt – Dritte, mit denen der Steuerpflichtige Rechts‑, Bank- oder Finanzbeziehungen oder ganz allgemein wirtschaftliche Beziehungen unterhält – Gerichtlicher Rechtsschutz – Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Art. 47 – Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf – Art. 52 Abs. 1 – Beschränkung – Rechtsgrundlage – Beachtung des Wesensgehalts des Rechts auf einen wirksamen Rechtsbehelf – Bestehen eines Rechtsbehelfs, der es den betroffenen Einzelnen ermöglicht, eine wirksame Kontrolle aller relevanten Tatsachen- und Rechtsfragen sowie einen wirksamen gerichtlichen Schutz der ihnen durch das Unionsrecht garantierten Rechte zu erlangen – Von der Union anerkannte dem Gemeinwohl dienende Zielsetzung – Bekämpfung internationalen Steuerbetrugs und internationaler Steuerhinterziehung – Verhältnismäßigkeit – ‚Voraussichtliche Erheblichkeit‘ der Informationen, die Gegenstand der Auskunftsanordnung sind – Gerichtliche Überprüfung – Umfang – Zu berücksichtigende personelle, zeitliche und sachliche Gesichtspunkte“
In den verbundenen Rechtssachen C‑245/19 und C‑246/19
betreffend Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Cour administrative (Verwaltungsgerichtshof, Luxemburg) mit Entscheidungen vom 14. März 2019, beim Gerichtshof eingegangen am 20. März 2019, in den Verfahren
État luxembourgeois
gegen
B (C‑245/19)
und
État luxembourgeois
gegen
B,
C,
D,
F. C.,
Beteiligte:
A (C‑246/19),
erlässt
DER GERICHTSHOF (Große Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten K. Lenaerts, der Vizepräsidentin R. Silva de Lapuerta, der Kammerpräsidenten J.‑C. Bonichot, A. Arabadjiev, E. Regan und S. Rodin, der Richter M. Ilešič, J. Malenovský (Berichterstatter), D. Šváby und F. Biltgen, der Richterin K. Jürimäe sowie der Richter C. Lycourgos, A. Kumin, N. Jääskinen und N. Wahl,
Generalanwältin: J. Kokott,
Kanzler: M.‑A. Gaudissart, Hilfskanzler,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 26. Mai 2020,
unter Berücksichtigung der Erklärungen:
–
von B, C, D und F. C., vertreten durch C. Henlé, avocate,
–
der luxemburgischen Regierung, zunächst vertreten durch D. Holderer und T. Uri, dann durch Letztgenannten als Bevollmächtigte,
–
der belgischen Regierung, vertreten durch S. Baeyens, P. Cottin und J.‑C. Halleux als Bevollmächtigte,
–
der griechischen Regierung, vertreten durch A. Dimitrakopoulou, M. Tassopoulou und G. Konstantinos als Bevollmächtigte,
–
der spanischen Regierung, vertreten durch S. Jiménez García als Bevollmächtigten,
–
der französischen Regierung, zunächst vertreten durch A. Alidière, E. de Moustier, D. Colas und E. Toutain, dann durch A. Alidière, E. de Moustier und E. Toutain als Bevollmächtigte,
–
der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna als Bevollmächtigten,
–
der Europäischen Kommission, zunächst vertreten durch N. Gossement, H. Kranenborg, W. Roels und P. J. O. Van Nuffel, dann durch die drei Letztgenannten als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge der Generalanwältin in der Sitzung vom 2. Juli 2020
folgendes
Urteil
1 Die Vorabentscheidungsersuchen betreffen zum einen die Auslegung der Art. 7, 8 und 47 sowie von Art. 52 Abs. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) und zum anderen der Art. 1 Abs. 1 und Art. 5 der Richtlinie 2011/16/EU des Rates vom 15. Februar 2011 über die Zusammenarbeit der Verwaltungsbehörden im Bereich der Besteuerung und zur Aufhebung der Richtlinie 77/799/EWG (ABl. 2011, L 64, S. 1) in der durch die Richtlinie 2014/107/EU des Rates vom 9. Dezember 2014 (ABl. 2014, L 359, S. 1) geänderten Fassung (im Folgenden: Richtlinie 2011/16).
2 Sie ergehen im Rahmen zweier Rechtsstreitigkeiten zwischen dem luxemburgischen Staat und der Gesellschaft B (erster Rechtsstreit) bzw. den Gesellschaften B, C und D sowie F. C. (zweiter Rechtsstreit) wegen zweier Entscheidungen des Directeur de l’administration des contributions directes (Leiter der Verwaltung für direkte Abgaben, Luxemburg, im Folgenden: Directeur), mit denen gegenüber der Gesellschaft B bzw. der Bank A angeordnet wurde, ihm bestimmte Informationen zu übermitteln, und zwar im Anschluss an Ersuchen um Informationsaustausch zwischen Mitgliedstaaten in Steuerangelegenheiten.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Richtlinie 2011/16
3 In den Erwägungsgründen 1, 2, 9 und 27 der Richtlinie 2011/16 heißt es:
„(1)
Im Zeitalter der Globalisierung wird der Bedarf der Mitgliedstaaten an gegenseitiger Amtshilfe im Bereich der Besteuerung immer vordringlicher. Durch die erhebliche Zunahme der Mobilität der Steuerpflichtigen, der Anzahl der grenzüberschreitenden Transaktionen und der Internationalisierung der Finanzinstrumente wird es für die Mitgliedstaaten immer schwieriger, die geschuldeten Steuern ordnungsgemäß festzusetzen. Diese zunehmende Schwierigkeit wirkt sich auf das Funktionieren der Steuersysteme aus und zieht Doppelbesteuerung nach sich, was wiederum zu Steuerbetrug und Steuerhinterziehung Anlass gibt …
(2) Ein einzelner Mitgliedstaat ist daher nicht in der Lage, sein internes Steuersystem, insbesondere was die direkten Steuern angeht, zu verwalten, ohne Informationen aus anderen Mitgliedstaaten zu erhalten. Um die negativen Auswirkungen dieser Situation zu beseitigen, ist es unumgänglich, eine neue Verwaltungszusammenarbeit zwischen den Steuerbehörden der Mitgliedstaaten zu entwickeln. Es besteht Bedarf an Instrumenten zur Vertrauensbildung zwischen den Mitgliedstaaten, die dafür Sorge tragen, dass für alle Mitgliedstaaten dieselben Regeln, Pflichten und Rechte gelten.
…
(9) Mitgliedstaaten sollten Informationen über einzelne Fälle austauschen, wenn sie von einem anderen Mitgliedstaat darum ersucht werden, und sollten die notwendigen Ermittlungen durchführen, um die betreffenden Informationen zu beschaffen. Mit dem Standard der ‚voraussichtlichen Erheblichkeit‘ soll gewährleistet werden, dass ein Informationsaustausch in Steuerangelegenheiten im größtmöglichen Umfang stattfindet, und zugleich klargestellt werden, dass es den Mitgliedstaaten nicht gestattet ist, sich an Beweisausforschungen (‚fishing expeditions‘) zu beteiligen oder um Informationen zu ersuchen, bei denen es unwahrscheinlich ist, dass sie für die Steuerangelegenheiten eines bestimmten Steuerpflichtigen erheblich sind. …
…
(27) Jeder Informationsaustausch, auf den in dieser Richtlinie Bezug genommen wird, unterliegt den Durchführungsvorschriften zur Richtlinie 95/46/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 24. Oktober 1995 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten und zum freien Datenverkehr [(ABl. 1995, L 281, S. 31)] … Allerdings sollten Beschränkungen bestimmter Rechte und Pflichten nach der Richtlinie 95/46 … erwogen werden, um die in Artikel 13 Absatz 1 Buchstabe e jener Richtlinie genannten Interessen zu schützen. Solche Beschränkungen sind angesichts der potenziellen Einnahmenausfälle für die Mitgliedstaaten und der wesentlichen Bedeutung der von der vorliegenden Richtlinie erfassten Informationen für eine wirksame Betrugsbekämpfung erforderlich und verhältnismäßig.“
4 Art. 1 („Gegenstand“) Abs. 1 der Richtlinie 2011/16 lautet:
„Diese Richtlinie legt die Regeln und Verfahren fest, nach denen die Mitgliedstaaten untereinander im Hinblick auf den Austausch von Informationen zusammenarbeiten, die für die Anwendung und Durchsetzung des innerstaatlichen Rechts der Mitgliedstaaten über die in Artikel 2 genannten Steuern voraussichtlich erheblich sind.“
5 Art. 5 („Verfahren für den Informationsaustausch auf Ersuchen“) dieser Richtlinie sieht vor:
„Auf Ersuchen der ersuchenden Behörde übermittelt die ersuchte Behörde der ersuchenden Behörde alle in Artikel 1 Absatz 1 genannten Informationen, die sie besitzt oder die sie im Anschluss an behördliche Ermittlungen erhalten hat.“
6 Nach Art. 7 der Richtlinie sind die in ihrem Art. 5 genannten Informationen möglichst rasch und, außer in bestimmten besonders gelagerten Fällen, innerhalb von zwei oder sechs Monaten zur Verfügung zu stellen, je nachdem, ob die ersuchte Behörde bereits im Besitz der erbetenen Informationen ist oder nicht.
7 Art. 25 („Datenschutz“) Abs. 1 der Richtlinie 2011/16 bestimmt:
„Jeder Informationsaustausch gemäß dieser Richtlinie unterliegt den Durchführungsvorschriften zur Richtlinie 95/46.… Zur korrekten Anwendung der vorliegenden Richtlinie begrenzen die Mitgliedstaaten jedoch den Anwendungsbereich der in Artikel 10, Artikel 11 Absatz 1, Artikel 12 und Artikel 21 der Richtlinie 95/46… genannten Pflichten und Rechte, soweit dies notwendig ist, um die in Artikel 13 Absatz 1 Buchstabe e jener Richtlinie genannten Interessen zu schützen.“
Richtlinie 95/46
8 Art. 10, Art. 11 Abs. 1 und die Art. 12 und 21 der Richtlinie 95/46 regeln erstens die Art und Weise der Information natürlicher Personen, die von einer Verarbeitung personenbezogener Daten betroffen sind, wenn diese Daten bei ihnen erhoben werden, zweitens die Art und Weise der Information dieser natürlichen Personen für den Fall, dass die Daten nicht bei ihnen erhoben wurden, drittens das Auskunftsrecht dieser natürlichen Personen hinsichtlich der in Rede stehenden Daten und viertens die Öffentlichkeit der Verarbeitungen personenbezogener Daten.
9 Nach Art. 13 Abs. 1 Buchst. e dieser Richtlinie können die Mitgliedstaaten Rechtsvorschriften erlassen, die die Pflichten und Rechte gemäß u. a. Art. 10, Art. 11 Abs. 1, Art. 12 und Art. 21 der Richtlinie beschränken, sofern eine solche Beschränkung notwendig ist für ein wichtiges wirtschaftliches oder finanzielles Interesse eines Mitgliedstaats oder der Union einschließlich Währungs‑, Haushalts- und Steuerangelegenheiten.
10 Art. 22 der Richtlinie bestimmt:
„Unbeschadet des verwaltungsrechtlichen Beschwerdeverfahrens, das vor Beschreiten des Rechtsweges … eingeleitet werden kann, sehen die Mitgliedstaaten vor, dass jede Person bei der Verletzung der Rechte, die ihr durch die für die betreffende Verarbeitung geltenden einzelstaatlichen Rechtsvorschriften garantiert sind, bei Gericht einen Rechtsbehelf einlegen kann.“
Verordnung (EU) 2016/679
11 Die Richtlinie 95/46 wurde mit Wirkung vom 25. Mai 2018 durch die Verordnung (EU) 2016/679 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 27. April 2016 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten, zum freien Datenverkehr und zur Aufhebung der Richtlinie 95/46 (Datenschutz-Grundverordnung) (ABl. 2016, L 119, S. 1, und Berichtigung im ABl. 2018, L 127, S. 2) aufgehoben, deren Art. 1 („Gegenstand und Ziele“) u. a. klarstellt, dass diese Verordnung Vorschriften zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten enthält und die Grundrechte und Grundfreiheiten natürlicher Personen und insbesondere deren Recht auf Schutz personenbezogener Daten schützt. Außerdem sieht Art. 94 Abs. 2 dieser Verordnung vor, dass Verweise auf die Richtlinie 95/46 als Verweise auf die vorliegende Verordnung gelten.
12 Die Art. 13, 14 und 15 der Verordnung 2016/679 übernehmen jeweils, mit Änderungen, die früher in Art. 10, Art. 11 Abs. 1 bzw. Art. 12 der Richtlinie 95/46 enthaltenen Bestimmungen.
13 Nach Art. 23 Abs. 1 Buchst. e dieser Verordnung, der mit Änderungen die zuvor in Art. 13 Abs. 1 Buchst. e der Richtlinie 95/46 enthaltene Bestimmung übernimmt, können durch Rechtsvorschriften der Union oder der Mitgliedstaaten die Pflichten und Rechte gemäß u. a. den Art. 13 bis 15 dieser Verordnung im Wege von Gesetzgebungsmaßnahmen beschränkt werden, sofern eine solche Beschränkung den Wesensgehalt der Grundrechte und Grundfreiheiten achtet und in einer demokratischen Gesellschaft eine notwendige und verhältnismäßige Maßnahme darstellt, die den Schutz bestimmter wichtiger Ziele des allgemeinen öffentlichen Interesses, und insbesondere eines wichtigen wirtschaftlichen oder finanziellen Interesses der Union oder eines Mitgliedstaats, etwa im Währungs‑, Haushalts- und Steuerbereich sowie im Bereich der öffentlichen Gesundheit und der sozialen Sicherheit, sicherstellt.
14 Art. 79 Abs. 1 der Verordnung 2016/679, der mit Änderungen Art. 22 der Richtlinie 95/46 übernimmt, sieht vor, dass jede von einer Verarbeitung personenbezogener Daten betroffene Person unbeschadet eines verfügbaren verwaltungsrechtlichen oder außergerichtlichen Rechtsbehelfs das Recht auf einen wirksamen gerichtlichen Rechtsbehelf hat, wenn sie der Ansicht ist, dass die ihr aufgrund dieser Verordnung zustehenden Rechte infolge einer nicht im Einklang mit dieser Verordnung stehenden Verarbeitung ihrer personenbezogenen Daten verletzt wurden.
Luxemburgisches Recht
Gesetz vom 29. März 2013
15 Art. 6 des Gesetzes vom 29. März 2013 zur Umsetzung der Richtlinie 2011/16 und 1. zur Änderung des allgemeinen Steuergesetzes und 2. zur Aufhebung des geänderten Gesetzes vom 15. März 1979 über die internationale Amtshilfe im Bereich der direkten Steuern (Mémorial A 2013, S. 756) bestimmt:
„Auf Ersuchen der ersuchenden Behörde übermittelt die ersuchte luxemburgische Behörde ihr alle für die Anwendung und Durchsetzung des innerstaatlichen Rechts des ersuchenden Mitgliedstaats über die … Steuern voraussichtlich erheblichen Informationen, die sie besitzt oder die sie im Anschluss an behördliche Ermittlungen erhalten hat.“
Gesetz vom 25. November 2014
16 Das Gesetz vom 25. November 2014 über das auf den Informationsaustausch auf Ersuchen in Steuerangelegenheiten anzuwendende Verfahren sowie zur Änderung des Gesetzes vom 31. März 2010 über die Genehmigung der Besteuerungsübereinkünfte und über das darauf anzuwendende Verfahren für den Informationsaustausch auf Ersuchen (Mémorial A 2014, S. 4170, im Folgenden: Gesetz vom 25. November 2014) findet u. a. auf Ersuchen um Informationsaustausch gemäß Art. 6 des in der vorstehenden Randnummer angeführten Gesetzes vom 29. März 2013 Anwendung.
17 In Art. 2 des Gesetzes vom 25. November 2014 heißt es:
„(1) Die Steuerbehörden sind befugt, die zur Durchführung des in den Übereinkünften und Gesetzen vorgesehenen Informationsaustauschs erbetenen Informationen aller Art von demjenigen zu verlangen, der über sie verfügt.
(2) Der Informationsinhaber ist verpflichtet, die verlangten Auskünfte vollständig, genau und unverändert innerhalb eines Monats nach Zustellung der die verlangten Auskünfte anordnenden Entscheidung zu erteilen. Diese Verpflichtung schließt die Übermittlung der unveränderten Schriftstücke ein, auf denen diese Auskünfte beruhen.
…“
18 Art. 3 dieses Gesetzes sah in seiner auf die Ausgangsrechtsstreitigkeiten anwendbaren Fassung vor:
„(1) Die zuständige Steuerverwaltung prüft die formelle Ordnungsmäßigkeit des Ersuchens um Informationsaustausch. Das Ersuchen um Informationsaustausch ist formal ordnungsgemäß, wenn es die Angabe der rechtlichen Grundlage und der ersuchenden zuständigen Behörde sowie die weiteren in den Übereinkünften und Gesetzen vorgesehenen Angaben enthält.
…
(3) Verfügt die zuständige Steuerverwaltung nicht über die erbetenen Informationen, stellt der Leiter der zuständigen Steuerbehörde oder dessen Vertreter dem Informationsinhaber seine die Erteilung der erbetenen Auskünfte anordnende Entscheidung durch eingeschriebenen Brief zu. Die Zustellung der Entscheidung an den Inhaber der erbetenen Informationen gilt als Zustellung an jede andere darin genannte Person.
…“
19 In Art. 5 Abs. 1 dieses Gesetzes heißt es:
„Werden die verlangten Auskünfte nicht innerhalb eines Monats nach Zustellung der die Erteilung der erbetenen Auskünfte anordnenden Entscheidung erteilt, kann gegen den Informationsinhaber eine steuerliche Geldbuße von bis zu 250000 Euro verhängt werden. Ihre Höhe wird vom Leiter der zuständigen Finanzbehörde oder dessen Vertreter festgesetzt.“
20 Art. 6 dieses Gesetzes lautete in seiner auf die Ausgangsrechtsstreitigkeiten anwendbaren Fassung wie folgt:
„(1) Gegen die in Art. 3 Abs. 1 und 3 genannten Ersuchen um Informationsaustausch und Anordnungen findet kein Rechtsbehelf statt.
(2) Gegen die in Art. 5 genannten Entscheidungen kann der Informationsinhaber Abänderungsklage vor dem Verwaltungsgericht erheben. … Die Klage hat aufschiebende Wirkung. …
…“
Gesetz vom 1. März 2019
21 Das Gesetz vom 1. März 2019 zur Änderung des Gesetzes vom 25. November 2014 über das auf den Informationsaustausch auf Ersuchen in Steuerangelegenheiten anzuwendende Verfahren (Mémorial A 2019, S. 112, im Folgenden: Gesetz vom 1. März 2019) trat am 9. März 2019 in Kraft.
22 Art. 3 Abs. 1 des Gesetzes vom 25. November 2014 in der Fassung des Gesetzes vom 1. März 2019 bestimmt:
„Die zuständige Steuerverwaltung prüft die formale Ordnungsmäßigkeit des Ersuchens um Informationsaustausch. Das Ersuchen um Informationsaustausch ist formal ordnungsgemäß, wenn es die Angabe der rechtlichen Grundlage und der ersuchenden zuständigen Behörde sowie die weiteren in den Übereinkünften und Gesetzen vorgesehenen Angaben enthält. Die zuständige Steuerverwaltung vergewissert sich, dass den erbetenen Informationen im Hinblick auf die Identität der von dem Ersuchen um Informationsaustausch betroffenen Person und des Informationsinhabers sowie auf die Bedürfnisse des fraglichen Steuerverfahrens nicht völlig die voraussichtliche Erheblichkeit fehlt.“
23 Art. 6 Abs. 1 des Gesetzes vom 25. November 2014 in der Fassung des Gesetzes vom 1. März 2019 sieht vor:
„Gegen die in Art. 3 Abs. 3 genannte Anordnung kann der Informationsinhaber Anfechtungsklage vor dem Verwaltungsgericht erheben. …“
Ausgangsverfahren und Vorlagefragen
24 Den Ausgangsrechtsstreitigkeiten liegt jeweils ein Ersuchen um Informationsaustausch zugrunde, das die Steuerverwaltung des Königreichs Spanien an die Steuerverwaltung des Großherzogtums Luxemburg gerichtet hat, um Informationen über F. C. zu erhalten, eine natürliche Person mit Wohnsitz in Spanien, wo sie als Steuerpflichtige Gegenstand von Ermittlungen zur Feststellung ihrer Situation im Hinblick auf das nationale Steuerrecht ist.
Rechtssache C‑245/19
25 Am 18. Oktober 2016 richtete die spanische Steuerverwaltung ein erstes Ersuchen um Informationsaustausch in Bezug auf F. C. an die luxemburgische Steuerverwaltung.
26 Am 16. Juni 2017 gab der Directeur diesem Ersuchen statt, indem er eine Entscheidung erließ, mit der er gegenüber der Gesellschaft B anordnete, Informationen über den Zeitraum vom 1. Januar 2011 bis zum 31. Dezember 2014 zu übermitteln, die folgende Punkte betrafen:
–
die von der Gesellschaft B mit den Gesellschaften E und F geschlossenen Verträge über die Rechte von F. C.;
–
alle anderen F. C. betreffenden Verträge, die entweder während des fraglichen Zeitraums oder vor oder nach diesem Zeitraum geschlossen wurden, aber während dieses Zeitraums wirksam wurden;
–
alle im Zusammenhang mit diesen Verträgen ausgestellten oder erhaltenen Rechnungen sowie Angaben zur Art und Weise ihrer Einziehung und Bezahlung;
–
nähere Informationen zu Bankkonten und Finanzinstituten, bei denen die verbuchten Geldbestände verwahrt sind.
27 In dieser Entscheidung wurde außerdem darauf hingewiesen, dass gegen sie nach Art. 6 des Gesetzes vom 25. November 2014 kein Rechtsbehelf statthaft sei.
28 Mit Klageschrift, die am 17. Juli 2017 bei der Kanzlei des Tribunal administratif (Verwaltungsgericht, Luxemburg) einging, erhob die Gesellschaft B Klage auf Abänderung, hilfsweise auf Aufhebung dieser Entscheidung.
29 Mit Urteil vom 26. Juni 2018 erklärte sich das Verwaltungsgericht für zuständig, über diese Klage zu entscheiden, soweit sie auf die Aufhebung der Entscheidung vom 16. Juni 2017 gerichtet war, und hob diese teilweise auf. Hinsichtlich seiner Zuständigkeit war es der Ansicht, dass Art. 6 Abs. 1 des Gesetzes vom 25. November 2014 nicht mit Art. 47 der Charta vereinbar sei, soweit er einen unmittelbaren Rechtsbehelf gegen eine die Übermittlung von Informationen an die Steuerverwaltung anordnende Entscheidung ausschließe, so dass diese Bestimmung unangewendet bleiben müsse. Zur Begründetheit vertrat es die Auffassung, dass einige der vom Directeur angeforderten Informationen für die von der spanischen Steuerverwaltung durchgeführte Untersuchung voraussichtlich nicht erheblich seien, so dass die Entscheidung vom 16. Juni 2017 aufzuheben sei, soweit sie gegenüber der Gesellschaft B die Übermittlung dieser Informationen angeordnet habe.
30 Mit am 24. Juli 2018 bei der Kanzlei der Cour administrative (Verwaltungsgerichtshof, Luxemburg) eingegangener Rechtsmittelschrift legte der luxemburgische Staat gegen dieses Urteil Berufung ein.
31 Im Rahmen dieser Berufung macht er geltend, dass Art. 6 Abs. 1 des Gesetzes vom 25. November 2014 nicht gegen Art. 47 der Charta verstoße, da er dem nicht entgegenstehe, dass eine Person, gegen die eine die Übermittlung von Informationen an die Steuerverwaltung anordnende Entscheidung gerichtet sei und die über die erbetenen Informationen verfüge, diese Entscheidung, falls sie ihr nicht nachgekommen und ihr deshalb eine Sanktion auferlegt worden sei, im Rahmen einer Abänderungsklage gemäß Art. 6 Abs. 2 dieses Gesetzes inzident anfechten könne, mit der sie sich gegen diese Sanktion wenden könne. Folglich habe das Verwaltungsgericht zu Unrecht Art. 6 Abs. 1 dieses Gesetzes außer Acht gelassen und sich für zuständig erklärt, über die bei ihm erhobene Anfechtungsklage zu entscheiden. Außerdem sei das Gericht zu Unrecht davon ausgegangen, dass einige der in der Entscheidung vom 16. Juni 2017 genannten Informationen voraussichtlich nicht erheblich im Sinne der Richtlinie 2011/16 seien.
32 In ihrer Vorlageentscheidung fragt sich die Cour administrative (Verwaltungsgerichtshof) als Erstes, ob die Art. 7, 8, 47 und 52 der Charta es gebieten, einer Person, an die eine Entscheidung gerichtet sei, mit der ihr gegenüber angeordnet werde, der Steuerverwaltung Informationen, über die sie verfüge, zu übermitteln, zusätzlich zu der für diese Person bestehenden Möglichkeit, diese Entscheidung, wenn sie diese nicht beachtet habe und ihr deshalb später aus diesem Grund eine Sanktion auferlegt werde, inzident anzufechten, gemäß dem im Licht des Urteils vom 16. Mai 2017, Berlioz Investment Fund (C‑682/15, EU:C:2017:373), ausgelegten Gesetz vom 25. November 2014 das Recht zuzuerkennen, gegen diese Entscheidung einen unmittelbaren Rechtsbehelf einzulegen.
33 Als Zweites möchte das vorlegende Gericht für den Fall, dass diese erste Frage bejaht wird, wissen, welchen Umfang die Prüfung hat, die der Richter im Rahmen eines solchen unmittelbaren Rechtsbehelfs in Bezug auf die voraussichtliche Erheblichkeit der in Rede stehenden Informationen im Licht der Art. 1 und 5 der Richtlinie 2011/16 durchzuführen veranlasst sein kann.
34 Unter diesen Umständen hat die Cour administrative (Verwaltungsgerichtshof) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
1. Sind die Art. 7, 8 und 52 Abs. 1 der Charta gegebenenfalls in Verbindung mit Art. 47 der Charta dahin auszulegen, dass sie Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats entgegenstehen, die im Rahmen eines Verfahrens zum Informationsaustausch auf Ersuchen insbesondere im Hinblick auf die Umsetzung der Richtlinie 2011/16 erlassen wurden und jeden Rechtsbehelf, insbesondere gerichtlicher Natur, eines dritten Informationsinhabers gegen eine Entscheidung ausschließen, mit der ihn die zuständige Behörde dieses Mitgliedstaats zur Vorlage von Informationen zur Erfüllung eines Ersuchens um Informationsaustausch durch einen anderen Mitgliedstaat verpflichtet hat?
2. Sind, falls die erste Frage bejaht wird, Art. 1 Abs. 1 und Art. 5 der Richtlinie 2011/16, gegebenenfalls unter Berücksichtigung der Entwicklung der Auslegung von Art. 26 des Mustersteuerabkommens der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) zur Vermeidung der Doppelbesteuerung auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen, dahin auszulegen, dass ein Ersuchen um Austausch zusammen mit der dieses umsetzenden Anordnung der zuständigen Behörde des ersuchten Mitgliedstaats das Kriterium der nicht offensichtlich fehlenden voraussichtlichen Erheblichkeit erfüllt, sofern der ersuchende Mitgliedstaat die Identität des betreffenden Steuerpflichtigen, den von der Untersuchung im ersuchenden Mitgliedstaat erfassten Zeitraum und die Identität des Inhabers der genannten Informationen angibt, wenn er Informationen hinsichtlich Verträgen sowie der damit zusammenhängenden Rechnungen und Zahlungen einholt, die nicht näher bestimmt, aber durch Kriterien eingegrenzt sind, die darauf bezogen sind, dass erstens diese Verträge durch den identifizierten Informationsinhaber geschlossen wurden, sie zweitens während der von der Untersuchung der Behörden des ersuchenden Mitgliedstaats erfassten Steuerjahre galten und sie drittens einen Zusammenhang mit dem betreffenden identifizierten Steuerpflichtigen aufweisen?
Rechtssache C‑246/19
35 Am 16. März 2017 richtete die spanische Steuerverwaltung ein zweites Ersuchen um Informationsaustausch in Bezug auf F. C. an die luxemburgische Steuerverwaltung.
36 Am 29. Mai 2017 gab der Directeur diesem Ersuchen statt, indem er eine Entscheidung erließ, mit der er gegenüber der Bank A anordnete, Informationen über den Zeitraum vom 1. Januar 2011 bis zum 31. Dezember 2014 zu übermitteln, die folgende Punkte betrafen:
–
den Namen des gegenwärtigen Inhabers bzw. die Namen der gegenwärtigen Inhaber eines bestimmten Bankkontos;
–
den oder die Namen der zur Vornahme von Transaktionen auf diesem Konto befugten Person(en);
–
den oder die Namen der Person(en), die dieses Konto eröffnet hat bzw. haben;
–
Kontoauszüge dieses Kontos für den fraglichen Zeitraum;
–
den oder die Nutzungsberechtigten des betreffenden Kontos;
–
die Frage, ob ein anderes Bankkonto nach dem 31. Dezember 2014 bei der Bank A eröffnet wurde und ob das auf dieses Konto eingezahlte Geld von einem zuvor bei dieser Bank eröffneten Konto stammen;
–
Aufstellungen aller finanziellen Vermögenswerte, die von F. C. an der Gesellschaft B, der Gesellschaft D oder einer anderen von F. C. während des fraglichen Zeitraums kontrollierten Gesellschaft gehalten wurden, und
–
die Aufstellungen der Finanzanlagen, in denen F. C. in diesem Zeitraum als Nutzungsberechtigte erscheint.
37 In dieser Entscheidung wurde außerdem darauf hingewiesen, dass gemäß Art. 6 Abs. 1 des Gesetzes vom 25. November 2014 gegen sie kein Rechtsbehelf statthaft sei.
38 Mit Klageschrift, die am 17. Juli 2017 bei der Kanzlei des Tribunal administratif (Verwaltungsgericht) einging, erhoben die Gesellschaften B, C und D sowie F. C. Klage auf Abänderung, hilfsweise auf Aufhebung dieser Entscheidung.
39 Mit Urteil vom 26. Juni 2018 erklärte sich das Verwaltungsgericht für zuständig, über diese Klage zu entscheiden, soweit sie auf die Aufhebung der Entscheidung vom 29. Mai 2017 gerichtet war, und hob diese teilweise auf, wobei es sich auf Gründe stützte, die den in Rn. 29 des vorliegenden Urteils zusammengefassten entsprechen.
40 Mit am 24. Juli 2018 bei der Kanzlei der Cour administrative (Verwaltungsgerichtshof) eingegangener Rechtsmittelschrift legte der luxemburgische Staat gegen dieses Urteil Berufung ein.
41 In ihrer Vorlageentscheidung äußert die Cour administrative (Verwaltungsgerichtshof) ähnliche Fragen, wie sie in den Rn. 32 und 33 des vorliegenden Urteils zusammengefasst worden sind, weist aber darauf hin, dass der Rechtssache C‑246/19 Klagen zugrunde lägen, die nicht wie in der Rechtssache C‑245/19 von einer Person erhoben worden seien, die Adressat einer die Übermittlung von Informationen, über die sie verfüge, an die Steuerverwaltung eines Mitgliedstaats anordnenden Entscheidung sei, sondern von Personen mit anderen rechtlichen Eigenschaften, nämlich zum einen der eines Steuerpflichtigen, gegen den Ermittlungen der Steuerverwaltung eines anderen Mitgliedstaats eingeleitet worden seien, und zum anderen der von Dritten, die mit diesem Steuerpflichtigen Rechts‑, Bank- oder Finanzbeziehungen oder ganz allgemein wirtschaftliche Beziehungen unterhielten.
42 Unter diesen Umständen hat die Cour administrative (Verwaltungsgerichtshof) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
1. Sind die Art. 7, 8 und 52 Abs. 1 der Charta gegebenenfalls in Verbindung mit Art. 47 der Charta dahin auszulegen, dass sie Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats entgegenstehen, die im Rahmen eines Verfahrens zum Informationsaustausch auf Ersuchen insbesondere im Hinblick auf die Umsetzung der Richtlinie 2011/16 erlassen wurden und jeden Rechtsbehelf, insbesondere gerichtlicher Natur, des von einer Untersuchung in einem anderen Mitgliedstaat erfassten Steuerpflichtigen und eines betroffenen Dritten gegen eine Entscheidung ausschließen, mit der die zuständige Behörde des erstgenannten Mitgliedstaats einen Informationsinhaber zur Vorlage von Informationen zur Erfüllung eines Ersuchens dieses anderen Mitgliedstaats um Informationsaustausch verpflichtet hat?
2. Sind, falls die erste Frage bejaht wird, Art. 1 Abs. 1 und Art. 5 der Richtlinie 2011/16, gegebenenfalls unter Berücksichtigung der Entwicklung der Auslegung von Art. 26 des OECD-Mustersteuerabkommens zur Vermeidung der Doppelbesteuerung auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen, dahin auszulegen, dass ein Ersuchen um Austausch zusammen mit der dieses umsetzenden Anordnung der zuständigen Behörde des ersuchten Mitgliedstaats das Kriterium der nicht offensichtlich fehlenden voraussichtlichen Erheblichkeit erfüllt, sofern der ersuchende Mitgliedstaat die Identität des betreffenden Steuerpflichtigen, den von der Untersuchung im ersuchenden Mitgliedstaat erfassten Zeitraum und die Identität des Inhabers der genannten Informationen angibt, wenn er Informationen hinsichtlich Bankkonten und finanziellen Vermögenswerten einholt, die nicht näher bestimmt, aber durch Kriterien eingegrenzt sind, die darauf bezogen sind, dass erstens der identifizierte Informationsinhaber über sie verfügt, sie zweitens die von der Untersuchung der Behörden des ersuchenden Staates erfassten Steuerjahre betreffen und sie drittens einen Zusammenhang mit dem betreffenden identifizierten Steuerpflichtigen aufweisen?
43 Durch Beschluss des Präsidenten des Gerichtshofs vom 3. Mai 2019 sind die Rechtssachen C‑245/19 und C‑246/19 zu gemeinsamem schriftlichen und mündlichen Verfahren und zu gemeinsamer Entscheidung verbunden worden.
Zu den Vorlagefragen
Zur ersten Frage in den Rechtssachen C‑245/19 und C‑246/19
Einleitende Bemerkungen
44 Mit seiner ersten Frage in den Rechtssachen C‑245/19 und C‑246/19 möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 47 der Charta in Verbindung mit deren Art. 7, 8 und 52 Abs. 1 dahin auszulegen ist, dass er es verbietet, dass Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats, mit denen das von der Richtlinie 2011/16 eingeführte Verfahren zum Informationsaustausch auf Ersuchen durchgeführt wird, es ausschließen, dass gegen eine Entscheidung, mit der die zuständige Behörde dieses Mitgliedstaats einen Informationsinhaber ist dazu verpflichtet, ihr diese Informationen zu erteilen, um einem Ersuchen um Informationsaustausch der zuständigen Behörde eines anderen Mitgliedstaats nachzukommen, ein Rechtsbehelf erstens von diesem Informationsinhaber, zweitens von dem Steuerpflichtigen, gegen den in diesem anderen Mitgliedstaat die dem Ersuchen zugrunde liegenden Ermittlungen gerichtet sind, und drittens von Dritten eingelegt werden kann, die von den fraglichen Informationen betroffen sind.
45 Wie sich aus Art. 51 Abs. 1 der Charta ergibt, gelten deren Bestimmungen für die Mitgliedstaaten ausschließlich bei der Durchführung des Rechts der Union.
46 Der Erlass von Rechtsvorschriften durch einen Mitgliedstaat, die die Modalitäten des durch die Richtlinie 2011/16 eingeführten Verfahrens zum Informationsaustausch auf Ersuchen regeln, stellt eine solche Durchführung des Rechts der Union dar, die zur Anwendbarkeit der Charta führt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 16. Mai 2017, Berlioz Investment Fund,C‑682/15, EU:C:2017:373, Rn. 34 bis 37), indem sie u. a. vorsehen, dass die zuständige Behörde eine Entscheidung erlassen kann, die einen Informationsinhaber dazu verpflichtet, ihr diese Informationen zu erteilen.
47 Nach Art. 47 Abs. 1 der Charta hat jede Person, deren durch das Recht der Union garantierte Rechte oder Freiheiten verletzt worden sind, das Recht, nach Maßgabe der in diesem Artikel vorgesehenen Bedingungen bei einem Gericht einen wirksamen Rechtsbehelf einzulegen. Diesem Recht entspricht die Pflicht der Mitgliedstaaten nach Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV, die erforderlichen Rechtsbehelfe zu schaffen, damit ein wirksamer Rechtsschutz in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen gewährleistet ist.
48 In den Art. 7 und 8 der Charta ist erstens das Recht auf Achtung des Privatlebens und zweitens das Recht auf Schutz personenbezogener Daten verankert.
49 Keines dieser drei Grundrechte kann eine uneingeschränkte Geltung beanspruchen, da jedes von ihnen im Hinblick auf seine gesellschaftliche Funktion gesehen werden muss (vgl. zum Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf Urteil vom 18. März 2010, Alassini u. a.,C‑317/08 bis C‑320/08, EU:C:2010:146, Rn. 63 und die dort angeführte Rechtsprechung, und in Bezug auf die Rechte auf Achtung des Privatlebens und auf Schutz personenbezogener Daten Urteil vom 16. Juli 2020, Facebook Ireland und Schrems, C‑311/18, EU:C:2020:559, Rn. 172 und die dort angeführte Rechtsprechung).
50 So kann, wenn es in einem bestimmten Einzelfall mehrere von der Charta garantierte Rechte gibt, die kollidieren könnten, der erforderliche Ausgleich, der zwischen diesen Rechten herzustellen ist, um ein angemessenes Gleichgewicht zwischen ihren jeweiligen Schutzbereichen sicherzustellen, zu einer Beschränkung dieser Rechte führen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 29. Januar 2008, Promusicae,C‑275/06, EU:C:2008:54, Rn. 63 bis 65, und vom 27. März 2014, UPC Telekabel Wien,C‑314/12, EU:C:2014:192, Rn. 46).
51 Ferner sieht Art. 52 Abs. 1 der Charta vor, dass die Ausübung der in dieser Charta anerkannten Rechte und Freiheiten eingeschränkt werden kann, sofern diese Einschränkungen erstens gesetzlich vorgesehen sind, zweitens den Wesensgehalt der in Rede stehenden Rechte und Freiheiten achten und drittens unter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit erforderlich sind und den von der Union anerkannten dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen oder den Erfordernissen des Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer tatsächlich entsprechen.
52 Im vorliegenden Fall können die drei betroffenen Grundrechte jedoch nicht miteinander in Konflikt treten, sondern sollen in einander ergänzender Weise angewendet werden. Die Wirksamkeit des Schutzes, den Art. 47 der Charta dem Inhaber des durch ihn garantierten Rechts gewähren soll, kann nämlich nur in Bezug auf materielle Rechte wie die in den Art. 7 und 8 der Charta genannten eintreten und beurteilt werden.
53 Im Einzelnen ergibt sich aus der ersten Frage in den Rechtssachen C‑245/19 und C‑246/19 in Verbindung mit der ihnen zugrunde liegenden Begründung, dass das vorlegende Gericht wissen möchte, ob Art. 47 der Charta dahin auszulegen ist, dass eine nationale Regelung einem Informationsinhaber, einem von einer Steuerprüfung betroffenen Steuerpflichtigen und von diesen Informationen betroffenen Dritten die Möglichkeit nehmen kann, einen Rechtsbehelf unmittelbar gegen eine die Übermittlung dieser Informationen an die Steuerverwaltung anordnende Entscheidung einzulegen, die nach Ansicht des vorlegenden Gerichts die von den Art. 7 und 8 der Charta garantierten Rechte dieser Personen verletzen könnte.
Zu dem durch Art. 47 der Charta garantierten Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf
54 Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs kann das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf allein auf der Grundlage von Art. 47 der Charta geltend gemacht werden, ohne dass dessen Inhalt durch andere Bestimmungen des Unionsrechts oder durch Bestimmungen des innerstaatlichen Rechts der Mitgliedstaaten konkretisiert werden müsste (Urteile vom 17. April 2018, Egenberger,C‑414/16, EU:C:2018:257, Rn. 78, und vom 29. Juli 2019, Torubarov,C‑556/17, EU:C:2019:626, Rn. 56).
55 Allerdings setzt die Anerkennung dieses Rechts in einem bestimmten Einzelfall nach Art. 47 Abs. 1 der Charta voraus, dass sich die Person, die es geltend macht, auf durch das Recht der Union garantierte Rechte oder Freiheiten beruft.
– Zum Recht des Informationsinhabers, an den die zuständige Behörde die die Übermittlung dieser Informationen anordnende Entscheidung richtet, auf einen wirksamen Rechtsbehelf
56 Wie sich aus den in Rn. 26 des vorliegenden Urteils zusammengefassten Ausführungen des vorlegenden Gerichts und den in den Rn. 17 bis 19 dieses Urteils wiedergegebenen nationalen Vorschriften ergibt, ist der im Ausgangsverfahren in Rede stehende Informationsinhaber eine juristische Person, gegen die die zuständige nationale Behörde eine die Übermittlung dieser Informationen anordnende Entscheidung erlassen hat, deren Nichtbeachtung eine Sanktion nach sich ziehen kann.
57 Was als Erstes die Frage betrifft, ob einer solchen Person bei Vorliegen einer solchen Entscheidung das durch Art. 47 der Charta garantierte Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf zuzuerkennen ist, ist zunächst darauf hinzuweisen, dass nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs der Schutz vor willkürlichen oder unverhältnismäßigen Eingriffen der öffentlichen Gewalt in die Sphäre der privaten Betätigung einer natürlichen oder juristischen Person einen allgemeinen Grundsatz des Unionsrechts darstellt (Urteile vom 21. September 1989, Hoechst/Kommission,46/87 und 227/88, EU:C:1989:337, Rn. 19, sowie vom 13. September 2018, UBS Europe u. a.,C‑358/16, EU:C:2018:715, Rn. 56).
58 Dieser Schutz kann aber von einer juristischen Person als durch das Recht der Union garantiertes Recht im Sinne von Art. 47 Abs. 1 der Charta geltend gemacht werden, um einen sie belastenden Rechtsakt wie eine Anordnung zur Übermittlung von Informationen oder eine wegen Nichtbeachtung dieser Anordnung verhängte Sanktion, gerichtlich anzufechten (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 16. Mai 2017, Berlioz Investment Fund,C‑682/15, EU:C:2017:373, Rn. 51 und 52).
59 Folglich muss einer juristischen Person, gegen die die zuständige nationale Behörde eine die Übermittlung von Informationen wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden anordnende Entscheidung erlassen hat, gegen diese Entscheidung das durch Art. 47 der Charta garantierte Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf zuerkannt werden.
60 Was als Zweites die Frage betrifft, ob die Ausübung dieses Rechts durch nationale Rechtsvorschriften beschränkt werden kann, ergibt sich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs, dass die Ausübung des in Art. 47 der Charta verankerten Rechts auf einen wirksamen Rechtsbehelf durch den Unionsgesetzgeber oder – in Ermangelung einer einschlägigen Unionsregelung – von den Mitgliedstaaten eingeschränkt werden kann, wenn die in Art. 52 Abs. 1 der Charta vorgesehenen Voraussetzungen erfüllt sind (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 15. September 2016, Star Storage u. a.,C‑439/14 und C‑488/14, EU:C:2016:688, Rn. 46 und 49).
61 Im vorliegenden Fall ergibt sich aus keiner Bestimmung der Richtlinie 2011/16, deren Umsetzung die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Rechtsvorschriften sicherstellen, dass der Unionsgesetzgeber im Fall einer Anordnung zur Übermittlung von Informationen wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden die Ausübung des Rechts auf einen wirksamen Rechtsbehelf hätte beschränken wollen.
62 Im Übrigen verweist die Richtlinie 2011/16 in ihrem Art. 25 Abs. 1 auf die Unionsregelung über die Verarbeitung personenbezogener Daten, indem sie vorsieht, dass jeder Informationsaustausch gemäß dieser Richtlinie den Durchführungsvorschriften zur Richtlinie 95/46 unterliegt, die, wie in Rn. 11 des vorliegenden Urteils ausgeführt, mit Wirkung vom 25. Mai 2018, d. h. nach dem Erlass der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Entscheidungen, durch die Verordnung 2016/679 aufgehoben und ersetzt wurde, deren Ziel u. a. darin besteht, das in Art. 8 der Charta garantierte Recht auf Schutz personenbezogener Daten sicherzustellen und zu präzisieren.
63 Art. 22 der Richtlinie 95/46, dessen Inhalt Art. 79 der Verordnung 2016/679 im Wesentlichen übernimmt, hebt jedoch hervor, dass jede Person bei Vorliegen einer Verletzung der Rechte, die ihr durch die für die Verarbeitung solcher Daten geltenden Rechtsvorschriften garantiert sind, über einen gerichtlichen Rechtsbehelf verfügen muss.
64 Hieraus folgt, dass der Unionsgesetzgeber die Ausübung des in Art. 47 der Charta verankerten Rechts auf einen wirksamen Rechtsbehelf nicht selbst beschränkt hat und es den Mitgliedstaaten freisteht, diese Ausübung zu beschränken, sofern sie die in Art. 52 Abs. 1 der Charta vorgesehenen Anforderungen beachten.
65 Wie in Rn. 51 des vorliegenden Urteils ausgeführt, verlangt diese Bestimmung u. a., dass jede Einschränkung der Ausübung der durch die Charta garantierten Rechte und Freiheiten deren Wesensgehalt achtet.
66 Insoweit ergibt sich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs, dass zum Wesensgehalt des in Art. 47 der Charta verankerten Rechts auf einen wirksamen Rechtsbehelf u. a. gehört, dass die Person, die Inhaber dieses Rechts ist, Zugang zu einem Gericht erhalten kann, das über die Befugnis verfügt, die Achtung der ihr durch das Unionsrecht garantierten Rechte sicherzustellen und zu diesem Zweck alle für die bei ihm anhängige Streitigkeit relevanten Tatsachen- und Rechtsfragen zu prüfen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 6. November 2012, Otis u. a.,C‑199/11, EU:C:2012:684, Rn. 49, und vom 12. Dezember 2019, Aktiva Finants,C‑433/18, EU:C:2019:1074, Rn. 36). Außerdem darf diese Person, um Zugang zu einem solchen Gericht zu erhalten, nicht gezwungen sein, gegen eine Regel oder eine rechtliche Verpflichtung zu verstoßen und sich der mit diesem Verstoß verbundenen Sanktion auszusetzen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 1. April 2004, Kommission/Jégo-Quéré,C‑263/02 P, EU:C:2004:210, Rn. 35, vom 13. März 2007, Unibet,C‑432/05, EU:C:2007:163, Rn. 64, und vom 3. Oktober 2013, Inuit Tapiriit Kanatami u. a./Parlament und Rat, C‑583/11 P, EU:C:2013:625, Rn. 104).
67 Im vorliegenden Fall ergibt sich aber aus den in Rn. 32 des vorliegenden Urteils zusammengefassten Ausführungen des vorlegenden Gerichts, dass im Hinblick auf die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Rechtsvorschriften die Person, an die eine die Übermittlung von Informationen wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden anordnende Entscheidung gerichtet ist, nur dann, wenn sie zum einen diese Entscheidung nicht beachtet, und wenn zum anderen anschließend aus diesem Grund eine Sanktion gegen sie verhängt wird, über eine Möglichkeit verfügt, diese Entscheidung im Rahmen des ihr gegen eine solche Sanktion zur Verfügung stehenden Rechtsbehelfs inzident anzufechten.
68 Daraus folgt, dass eine solche Person im Fall einer willkürlichen oder unverhältnismäßigen Anordnung der Übermittlung von Informationen keinen Zugang zu einem Gericht hat, es sei denn, sie verstößt gegen diese Entscheidung, indem sie es ablehnt, der in ihr enthaltenen Anordnung nachzukommen, und setzt sich damit der Sanktion aus, die an die Nichtbeachtung der Entscheidung geknüpft ist. Daher kann nicht davon ausgegangen werden, dass diese Person einen wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz genießt.
69 Unter diesen Umständen ist festzustellen, dass nationale Rechtsvorschriften wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden, die einem Informationsinhaber, an den die zuständige nationale Behörde eine die Übermittlung dieser Informationen anordnende Entscheidung richtet, die Möglichkeit verwehren, einen unmittelbaren Rechtsbehelf gegen diese Entscheidung einzulegen, nicht den Wesensgehalt des durch Art. 47 der Charta garantierten Rechts auf einen wirksamen Rechtsbehelf achtet, und dass folglich Art. 52 Abs. 1 der Charta einer solchen Regelung entgegensteht.
– Zum Recht des Steuerpflichtigen, gegen den sich die der Anordnung zur Übermittlung von Informationen zugrunde liegenden Ermittlungen richten, auf einen wirksamen Rechtsbehelf
70 Wie sich aus den in Rn. 24 des vorliegenden Urteils zusammengefassten Ausführungen des vorlegenden Gerichts ergibt, ist die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Steuerpflichtige eine natürliche Person, die ihren Wohnsitz in einem anderen Mitgliedstaat als demjenigen hat, zu dem die Behörde gehört, die die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Anordnungen zur Übermittlung von Informationen erlassen hat, und gegen die in diesem Mitgliedstaat Ermittlungen zur Feststellung ihrer Situation im Hinblick auf das Steuerrecht dieses Mitgliedstaats gerichtet sind.
71 Im Übrigen ergibt sich aus dem in den Rn. 26 und 36 des vorliegenden Urteils wiedergegebenen Wortlaut der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Anordnungen zur Übermittlung von Informationen, dass sich die Informationen, deren Übermittlung an die die Entscheidungen erlassende Behörde durch diese Entscheidungen angeordnet wird, auf Bankkonten und auf Finanzvermögen, deren Inhaberin oder Begünstigte diese Person ist, sowie auf verschiedene Rechts‑, Bank- oder Finanzgeschäfte oder ganz allgemein wirtschaftliche Transaktionen beziehen, die von dieser Person oder von in ihrem Namen oder in ihrem Interesse handelnden Dritten vorgenommen worden sein können.
72 Was als Erstes die Frage betrifft, ob einer solchen Person bei Vorliegen solcher Entscheidungen das in Art. 47 der Charta verankerte Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf zuzuerkennen ist, ist darauf hinzuweisen, dass diese Person ersichtlich Inhaberin zum einen des durch Art. 7 der Charta garantierten Rechts auf Achtung des Privatlebens und zum anderen des durch Art. 8 Abs. 1 der Charta gewährleisteten Rechts auf Schutz personenbezogener Daten ist, das bei natürlichen Personen in engem Zusammenhang mit dem Recht auf Achtung ihres Privatlebens steht (Urteile vom 9. November 2010, Volker und Markus Schecke und Eifert, C‑92/09 und C‑93/09, EU:C:2010:662, Rn. 47, sowie vom 18. Juni 2020, Kommission/Ungarn [Transparenz von Vereinigungen], C‑78/18, EU:C:2020:476, Rn. 123 und 126).
73 Außerdem ergibt sich aus der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs, dass die Übermittlung von Informationen über eine bestimmte oder bestimmbare natürliche Person an einen Dritten, und sei es an eine Behörde, sowie die Maßnahme, mit der diese Übermittlung angeordnet oder gestattet wird, unbeschadet ihrer etwaigen Rechtfertigung Eingriffe in das Recht dieser Person auf Achtung ihres Privatlebens und ihr Recht auf Schutz der sie betreffenden personenbezogenen Daten darstellen, ohne dass es darauf ankommt, ob diese Informationen sensiblen Charakter haben und unabhängig von ihrer späteren Verwendung, es sei denn, diese Übermittlung erfolgt unter Beachtung der einschlägigen Vorschriften des Rechts der Union und gegebenenfalls des innerstaatlichen Rechts (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 18. Juni 2020, Kommission/Ungarn [Transparenz von Vereinigungen], C‑78/18, EU:C:2020:476, Rn. 124 und 126, sowie vom 16. Juli 2020, Facebook Ireland und Schrems, C‑311/18, EU:C:2020:559, Rn. 171 und die dort angeführte Rechtsprechung).
74 Somit können die Übermittlung von Informationen über eine bestimmte oder bestimmbare natürliche Person – wie die in Rn. 71 des vorliegenden Urteils genannten Informationen – an die zuständige nationale Behörde und die Maßnahme, die – wie die in derselben Randnummer genannten Entscheidungen – diese Übermittlung vorschreibt, das Recht der betreffenden Person auf Achtung ihres Privatlebens und ihr Recht auf Schutz der sie betreffenden personenbezogenen Daten verletzen.
75 Daher muss einem Steuerpflichtigen wie dem in Rn. 70 des vorliegenden Urteils genannten im Fall einer Anordnung zur Übermittlung von Informationen wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden die Inanspruchnahme des durch Art. 47 der Charta garantierten Rechts auf einen wirksamen Rechtsbehelf zuerkannt werden.
76 Was als Zweites die Frage betrifft, ob die Ausübung dieses Rechts gemäß Art. 52 Abs. 1 der Charta beschränkt werden kann, indem ausgeschlossen wird, dass eine solche Person einen unmittelbaren Rechtsbehelf gegen diese Entscheidung einlegen kann, ist darauf hinzuweisen, dass eine solche Beschränkung erstens gesetzlich vorgesehen sein muss, was nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs u. a. bedeutet, dass ihre Rechtsgrundlage deren Tragweite klar und deutlich definiert (Urteile vom 17. Dezember 2015, WebMindLicenses,C‑419/14, EU:C:2015:832, Rn. 81, und vom 8. September 2020, Recorded Artists Actors Performers,C‑265/19, EU:C:2020:677, Rn. 86).
77 Im vorliegenden Fall ergibt sich aus dem Wortlaut der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden nationalen Rechtsvorschriften, dass dieses Erfordernis erfüllt ist.
78 Zweitens ist der Wesensgehalt des Rechts auf einen wirksamen Rechtsbehelf zu beachten, wobei diese Anforderung insbesondere anhand der in Rn. 66 des vorliegenden Urteils genannten Gesichtspunkte zu beurteilen ist.
79 Insoweit ergibt sich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs, dass diese Anforderung als solche nicht bedeutet, dass der Inhaber dieses Rechts über einen unmittelbaren Rechtsbehelf verfügt, der in erster Linie darauf abzielt, eine bestimmte Maßnahme in Frage zu stellen, sofern es im Übrigen vor den verschiedenen zuständigen nationalen Gerichten einen oder mehrere Rechtsbehelfe gibt, die es ihm ermöglichen, inzident eine gerichtliche Kontrolle dieser Maßnahme zu erreichen, die die Beachtung der ihm durch das Unionsrecht garantierten Rechte und Freiheiten gewährleistet, ohne sich hierzu der Gefahr aussetzen zu müssen, dass ihm im Fall der Nichtbeachtung der fraglichen Maßnahme eine Sanktion auferlegt wird (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 13. März 2007, Unibet,C‑432/05, EU:C:2007:163, Rn. 47, 49, 53 bis 55, 61 und 64, sowie vom 21. November 2019, Deutsche Lufthansa,C‑379/18, EU:C:2019:1000, Rn. 61).
80 Im vorliegenden Fall ist insoweit darauf hinzuweisen, dass sich die Situation eines Steuerpflichtigen, gegen den sich eine Untersuchung richtet, von der Situation der Person unterscheidet, die im Besitz von Informationen über diesen Steuerpflichtigen ist. Wie in Rn. 68 des vorliegenden Urteils ausgeführt, würde letztgenannter Person nämlich jeder effektive gerichtliche Rechtsschutz genommen, wenn es ihr nicht möglich wäre, gegen eine an sie gerichtete Entscheidung, mit der ihr eine rechtliche Verpflichtung zur Übermittlung der fraglichen Informationen auferlegt wird, einen unmittelbaren Rechtsbehelf einzulegen. Dagegen ist der betreffende Steuerpflichtige nicht Adressat einer solchen Entscheidung und wird durch sie nicht rechtlich verpflichtet und damit auch nicht der Gefahr ausgesetzt, dass im Fall ihrer Nichtbeachtung eine Sanktion gegen ihn verhängt wird. Folglich ist ein solcher Steuerpflichtiger nicht gezwungen, sich ins Unrecht zu setzen, um von seinem Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf Gebrauch machen zu können, so dass die im zweiten Satz von Rn. 66 des vorliegenden Urteils angeführte Rechtsprechung auf ihn nicht anwendbar ist.
81 Im Übrigen ergeht eine die Übermittlung von Informationen wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden anordnende Entscheidung im Rahmen der Voruntersuchung gegen den in Rede stehenden Steuerpflichtigen, in der Informationen über seine steuerliche Situation gesammelt werden und die keinen kontradiktorischen Charakter hat. Erst die spätere Phase dieser Untersuchung nämlich, die mit der Versendung eines Berichtigungs- oder Nachforderungsvorschlags an den betreffenden Steuerpflichtigen beginnt, hat erstens einen kontradiktorischen Charakter, der impliziert, diesem Steuerpflichtigen die Ausübung seines Anhörungsrechts zu erlauben (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 22. Oktober 2013, Sabou,C‑276/12, EU:C:2013:678, Rn. 40 und 44), und kann zweitens in eine an den Steuerpflichtigen gerichtete Berichtigungs- oder Nachforderungsentscheidung münden.
82 Die letztgenannte Entscheidung stellt aber einen Rechtsakt dar, in Bezug auf den der betreffende Steuerpflichtige über ein Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf verfügen muss, was voraussetzt, dass das mit dem Rechtsstreit befasste Gericht, wie in Rn. 66 des vorliegenden Urteils ausgeführt, zur Prüfung aller für die Entscheidung dieses Rechtsstreits relevanten rechtlichen und tatsächlichen Fragen und insbesondere dazu befugt ist, zu prüfen, ob die Beweise, auf die dieser Rechtsakt gestützt ist, nicht unter Verletzung der dem Betroffenen durch das Unionsrecht garantierten Rechte und Freiheiten erlangt oder verwendet worden sind (vgl. entsprechend Urteil vom 17. Dezember 2015, WebMindLicenses,C‑419/14, EU:C:2015:832, Rn. 87 bis 89).
83 Führt eine die Übermittlung von Informationen wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden anordnende Entscheidung dazu, dass die nationale Behörde, die diese Informationen erbeten hat, eine Berichtigungs- oder Nachforderungsentscheidung erlässt, die sich auf diese Informationen als Beweise stützt, hat der von der Untersuchung betroffene Steuerpflichtige daher die Möglichkeit, im Rahmen des Rechtsbehelfs, den er gegen die letztgenannten Entscheidungen erheben kann, inzident die Anordnung sowie die Bedingungen der Erhebung und Verwendung der auf ihrer Grundlage gesammelten Beweise zu rügen.
84 Folglich ist davon auszugehen, dass nationale Rechtsvorschriften wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden den Wesensgehalt des dem betreffenden Steuerpflichtigen garantierten Rechts auf einen wirksamen Rechtsbehelf nicht beeinträchtigen. Darüber hinaus beschränken sie auch nicht den Zugang dieses Steuerpflichtigen zu den Rechtsbehelfen nach Art. 79 Abs. 1 der Verordnung 2016/679, der mit Änderungen Art. 22 der Richtlinie 95/46 übernimmt, wenn der Steuerpflichtige der Ansicht ist, dass die ihm durch diese Verordnung verliehenen Rechte durch eine ihn betreffende Verarbeitung personenbezogener Daten verletzt worden sind.
85 Drittens müssen solche nationalen Rechtsvorschriften, wie in Rn. 51 des vorliegenden Urteils ausgeführt, unter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit erforderlich sein und einer von der Union anerkannten dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzung tatsächlich entsprechen. Es ist daher zu prüfen, ob sie einer dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzung der Union entsprechen und ob sie, wenn dies zu bejahen ist, den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit wahren (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 5. Juli 2017, Fries,C‑190/16, EU:C:2017:513, Rn. 39, und vom 12. Juli 2018, Spika u. a.,C‑540/16, EU:C:2018:565, Rn. 40).
86 Insoweit hebt das vorlegende Gericht hervor, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Rechtsvorschriften die Richtlinie 2011/16 umsetzten, deren 27. Erwägungsgrund vorsieht, dass der von der Richtlinie 95/46 gewährleistete Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung ihrer personenbezogenen Daten notwendigen und verhältnismäßigen Beschränkungen unterworfen werden kann, und die nach ihren Erwägungsgründen 1 und 2 einen Beitrag zur Bekämpfung internationalen Steuerbetrugs und internationaler Steuerhinterziehung leisten soll, indem die Zusammenarbeit zwischen den zuständigen nationalen Behörden in diesem Bereich verstärkt wird.
87 Diese Zielsetzung entspricht aber einer von der Union anerkannten dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzung im Sinne von Art. 52 Abs. 1 der Charta (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 22. Oktober 2013, Sabou,C‑276/12, EU:C:2013:678, Rn. 32, vom 17. Dezember 2015, WebMindLicenses,C‑419/14, EU:C:2015:832, Rn. 76, und vom 26. Februar 2019, X [In Drittländern ansässige Zwischengesellschaften], C‑135/17, EU:C:2019:136, Rn. 74 und 75), die eine Einschränkung der Ausübung der durch die Art. 7, 8 und 47 der Charta garantierten Rechte einzeln oder zusammen genommen ermöglichen kann.
88 Daraus folgt, dass das mit den im Ausgangsverfahren in Rede stehenden nationalen Rechtsvorschriften verfolgte Ziel eine von der Union anerkannte dem Gemeinwohl dienende Zielsetzung darstellt.
89 Dieses Ziel der Bekämpfung des internationalen Steuerbetrugs und der internationalen Steuerhinterziehung kommt u. a. in den Art. 5 bis 7 der Richtlinie 2011/16 zum Ausdruck, indem ein Verfahren zum Informationsaustausch auf Ersuchen eingeführt wird, das es den zuständigen nationalen Behörden ermöglicht, effizient und schnell zusammenzuarbeiten, um im Rahmen von Ermittlungen betreffend einen bestimmten Steuerpflichtigen Informationen zu sammeln (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 16. Mai 2017, Berlioz Investment Fund,C‑682/15, EU:C:2017:373, Rn. 46, 47 und 77).
90 Das Interesse an der Wirksamkeit und Schnelligkeit dieser Zusammenarbeit, das die der Richtlinie 2011/16 zugrunde liegende Zielsetzung der Bekämpfung internationalen Steuerbetrugs und internationaler Steuerhinterziehung konkretisiert, gebietet u. a., dass alle in Art. 7 dieser Richtlinie vorgesehenen Fristen eingehalten werden.
91 In Anbetracht dieser Situation ist davon auszugehen, dass eine nationale Regelung, die es ausschließt, dass der Steuerpflichtige, der von der Untersuchung betroffen ist, die dem Ersuchen um Informationsaustausch zugrunde liegt und die die zuständige nationale Behörde zum Erlass eine Anordnung zur Übermittlung von Informationen wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden veranlasst hat, gegen diese Entscheidung einen unmittelbaren Rechtsbehelf einlegen kann, geeignet ist, das mit der Richtlinie 2011/16 verfolgte Ziel der Bekämpfung internationalen Steuerbetrugs und der internationalen Steuerhinterziehung zu erreichen, und zur Erreichung dieses Ziels erforderlich ist.
92 Außerdem erscheint sie nicht als unverhältnismäßig, da zum einen ein solcher Bescheid den betreffenden Steuerpflichtigen keiner rechtlichen Verpflichtung und keinem Sanktionsrisiko unterwirft und zum anderen dieser Steuerpflichtige die Möglichkeit hat, diese Entscheidung im Rahmen eines Rechtsbehelfs gegen eine spätere Berichtigungs- oder Nachforderungsentscheidung inzident anzufechten.
93 Unter diesen Umständen ist festzustellen, dass Art. 47 der Charta in Verbindung mit deren Art. 7, 8 und 52 Abs. 1 es nicht verbietet, dass nationale Rechtsvorschriften wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden ausschließen, dass eine Entscheidung, mit der die zuständige Behörde eines Mitgliedstaats einen Informationsinhaber verpflichtet, ihr diese Informationen zu erteilen, um einem von der zuständigen Behörde eines anderen Mitgliedstaats gestellten Ersuchen um Informationsaustausch nachzukommen, von dem Steuerpflichtigen, der in diesem anderen Mitgliedstaat von der diesem Ersuchen zugrunde liegenden Untersuchung betroffen ist, mit einem unmittelbaren Rechtsbehelf angefochten werden kann.
– Zum Recht betroffener Dritter auf einen wirksamen Rechtsbehelf
94 Wie sich aus den Rn. 26, 36 und 71 des vorliegenden Urteils ergibt, sind die betroffenen Dritten, auf die das vorlegende Gericht Bezug nimmt, juristische Personen, mit denen der Steuerpflichtige, der von der Untersuchung betroffen ist, die den im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Anordnungen zur Übermittlung von Informationen zugrunde liegt, Rechts‑, Bank- oder Finanzbeziehungen oder ganz allgemein wirtschaftliche Beziehungen unterhält oder unterhalten könnte.
95 Zunächst ist festzustellen, ob diesen Dritten in einer Situation wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden das in Art. 47 der Charta verankerte Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf zuzuerkennen ist.
96 Wie eine juristische Person, die im Besitz von Informationen ist, an die die zuständige nationale Behörde eine Anordnung zur Übermittlung dieser Informationen richtet, können sich diese Dritten auf den Schutz berufen, den jede natürliche oder juristische Person nach dem in Rn. 57 des vorliegenden Urteils angeführten allgemeinen Grundsatz des Unionsrechts gegen willkürliche oder unverhältnismäßige Eingriffe der öffentlichen Gewalt in ihrer Sphäre der privaten Betätigung genießt, auch wenn die Übermittlung von sie betreffenden Rechts‑, Bank- oder Finanzinformationen oder ganz allgemein wirtschaftlichen Informationen an eine öffentliche Stelle in keiner Weise als den Kern dieser Betätigung berührend angesehen werden kann (vgl. in diesem Sinne EGMR, 16. Juni 2015, Othymia Investments BV/Niederlande, CE:ECHR:2015:0616DEC007529210, § 37, 7. Juli 2015, M. N. u. a./San Marino, CE:ECHR:2015:0707JUD002800512, §§ 51 und 54, sowie 22. Dezember 2015, G.S.B./Schweiz, CE:ECHR:2015:1222JUD002860111, §§ 51 und 93).
97 Daher muss diesen Dritten das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf zugestanden werden, wenn eine die Übermittlung von Informationen anordnende Entscheidung vorliegt, die ihr Recht auf diesen Schutz verletzen könnte.
98 Was sodann die Frage betrifft, ob die Ausübung des Rechts auf einen wirksamen Rechtsbehelf, das Dritten garantiert wird, die von den in Rede stehenden Informationen betroffen sind, so beschränkt werden kann, dass diese im Fall einer solchen Entscheidung keinen unmittelbaren Rechtsbehelf einlegen können, ist erstens darauf hinzuweisen, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden nationalen Rechtsvorschriften die Beschränkung der Ausübung dieses Rechts klar und genau definieren.
99 Zum Erfordernis der Wahrung des Wesensgehalts des Rechts auf einen wirksamen Rechtsbehelf ist zweitens darauf hinzuweisen, dass die von den in Rede stehenden Informationen betroffenen Dritten – anders als die Person, die im Besitz dieser Informationen ist und an die die zuständige Behörde eines Mitgliedstaats eine Anordnung zu ihrer Übermittlung erlassen hat – keiner rechtlichen Verpflichtung unterliegen, diese Informationen zu übermitteln, und damit auch nicht der Gefahr, dass im Fall der Nichtbeachtung einer solchen rechtlichen Verpflichtung eine Sanktion gegen sie verhängt wird. Daher ist die im zweiten Satz der Rn. 66 des vorliegenden Urteils angeführte Rechtsprechung auf sie nicht anwendbar.
100 Im Übrigen kann die Übermittlung von Informationen über diese Dritten an eine öffentliche Stelle durch die Person, die Adressat einer Anordnung zu ihrer Übermittlung an diese öffentliche Stelle ist, zwar das Recht dieser Dritten auf Schutz vor willkürlichen oder unverhältnismäßigen Eingriffen öffentlicher Stellen in ihre Sphäre der privaten Betätigung beeinträchtigen und ihnen dadurch einen Schaden zufügen.
101 Aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs ergibt sich jedoch, dass die Möglichkeit für einen bestimmten Bürger, Klage zu erheben, um die Verletzung seiner durch das Unionsrecht garantierten Rechte feststellen zu lassen und Ersatz des ihm durch diese Verletzung entstandenen Schadens zu erlangen, einen wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz für diesen Rechtsuchenden gewährleistet, da das mit dem Rechtsstreit befasste Gericht die Möglichkeit hat, den Rechtsakt oder die Maßnahme zu überprüfen, der bzw. die diesem Verstoß und diesem Schaden zugrunde liegt (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 13. März 2007, Unibet,C‑432/05, EU:C:2007:163, Rn. 58).
102 Daraus folgt im vorliegenden Fall, dass die Beachtung des Wesensgehalts des Rechts auf einen wirksamen Rechtsbehelf es nicht erfordert, dass Einzelne wie Dritte, die von den fraglichen Informationen betroffen sind, ohne jedoch einer rechtlichen Verpflichtung zur Übermittlung dieser Informationen zu unterliegen, und folglich auch nicht der Gefahr unterliegen, dass im Fall der Nichtbeachtung einer solchen rechtlichen Verpflichtung eine Sanktion verhängt wird, im Übrigen die Möglichkeit haben, die die Übermittlung dieser Informationen anordnende Entscheidung unmittelbar anzufechten.
103 Drittens ist darauf hinzuweisen, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden nationalen Rechtsvorschriften, wie in den Rn. 86 bis 88 des vorliegenden Urteils ausgeführt, eine von der Union anerkannte dem Gemeinwohl dienende Zielsetzung verfolgen.
104 Das Erfordernis der Erforderlichkeit und der Verhältnismäßigkeit dieser Regelung im Hinblick auf ein solches Ziel ist, wie sich aus den Rn. 90 bis 92 des vorliegenden Urteils ergibt, unter Berücksichtigung zum einen der Fristen, die einzuhalten sind, um die Wirksamkeit und Schnelligkeit des Verfahrens des Informationsaustauschs zu gewährleisten, in dem das der Richtlinie 2011/16 zugrunde liegende Ziel der Bekämpfung internationalen Steuerbetrugs und internationaler Steuerhinterziehung konkretisiert wird, und zum anderen angesichts der Möglichkeit für die betroffenen Personen, gerichtlich eine Verletzung der ihnen durch das Unionsrecht garantierten Rechte feststellen und den durch diese Verletzung verursachten Schaden ersetzen zu lassen, als erfüllt anzusehen.
105 Nach alledem ist auf die erste Frage in den Rechtssachen C‑245/19 und C‑246/19 zu antworten, dass Art. 47 der Charta in Verbindung mit deren Art. 7, 8 und 52 Abs. 1 dahin auszulegen ist,
–
dass er es verbietet, dass Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats, mit denen das von der Richtlinie 2011/16 eingeführte Verfahren zum Informationsaustausch auf Ersuchen durchgeführt wird, es ausschließen, dass eine Person, die Inhaberin von Informationen ist, gegen eine Entscheidung, mit der die zuständige Behörde dieses Mitgliedstaats sie dazu verpflichtet, ihr diese Informationen zu erteilen, um einem Ersuchen um Informationsaustausch der zuständigen Behörde eines anderen Mitgliedstaats nachzukommen, einen Rechtsbehelf einlegen kann, und
–
dass er es nicht verbietet, dass solche Rechtsvorschriften es ausschließen, dass der Steuerpflichtige, gegen den in diesem anderen Mitgliedstaat die dem Ersuchen zugrunde liegende Untersuchung gerichtet ist, sowie Dritte, die von den fraglichen Informationen betroffen sind, einen Rechtsbehelf gegen eine solche Entscheidung einlegen können.
Zur zweiten Vorlagefrage in der Rechtssache C‑245/19
106 Angesichts der Antworten auf die erste Frage in den Rechtssachen C‑245/19 und C‑246/19 und des Umstands, dass die zweite Frage in diesen Rechtssachen nur für den Fall einer Bejahung dieser Frage gestellt worden ist, ist nur die zweite Frage in der Rechtssache C‑245/19 zu beantworten.
107 Mit dieser Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 1 Abs. 1 und Art. 5 der Richtlinie 2011/16 dahin auszulegen sind, dass eine Entscheidung, mit der die zuständige Behörde eines Mitgliedstaats einen Informationsinhaber verpflichtet, ihr diese Informationen zu übermitteln, um einem von der zuständigen Behörde eines anderen Mitgliedstaats gestellten Ersuchen um Informationsaustausch nachzukommen, zusammen mit diesem Ersuchen als auf Informationen bezogen anzusehen ist, denen die voraussichtliche Erheblichkeit nicht offenkundig völlig zu fehlen scheint, sofern darin die Identität des Inhabers der fraglichen Informationen, die des Steuerpflichtigen, der von den dem Ersuchen um Informationsaustausch zugrunde liegenden Ermittlungen betroffen ist und der von diesen Ermittlungen erfasste Zeitraum angegeben wird und sie Verträge, Rechnungen und Zahlungen betrifft, die nicht näher bestimmt, aber durch Kriterien eingegrenzt sind, die darauf bezogen sind, dass sie erstens durch den Informationsinhaber geschlossen, erstellt oder getätigt wurden, zweitens in die von den fraglichen Ermittlungen erfassten Steuerjahre fielen und drittens einen Zusammenhang mit dem betreffenden Steuerpflichtigen aufweisen.
108 Nach Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie 2011/16 arbeiten die Mitgliedstaaten untereinander im Hinblick auf den Austausch von Informationen zusammen, die für die Anwendung und Durchsetzung ihres innerstaatlichen Steuerrechts voraussichtlich erheblich sind.
109 Art. 5 dieser Richtlinie sieht vor, dass auf Ersuchen der „ersuchenden Behörde“ genannten nationalen Behörde, die um die Übermittlung dieser Informationen bittet, die als „ersuchte Behörde“ bezeichnete Behörde, an die dieses Ersuchen gerichtet ist, diese Informationen übermittelt, gegebenenfalls nachdem sie sie nach Ermittlungen erlangt hat.
110 Der Ausdruck „voraussichtlich erheblich“ in Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie 2011/16 soll es der ersuchenden Behörde, wie der Gerichtshof bereits festgestellt hat, ermöglichen, alle Informationen zu verlangen und zu erlangen, von denen sie nach vernünftigem Ermessen davon ausgehen kann, dass sie sich für ihre Untersuchung als erheblich erweisen werden, ohne ihr jedoch zu gestatten, den Rahmen der Untersuchung offensichtlich zu überschreiten oder der ersuchten Behörde eine übermäßige Belastung aufzuerlegen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 16. Mai 2017, Berlioz Investment Fund,C‑682/15, EU:C:2017:373, Rn. 63 und 66 bis 68).
111 Außerdem ist dieser Ausdruck im Licht des in Rn. 57 des vorliegenden Urteils genannten allgemeinen unionsrechtlichen Grundsatzes des Schutzes natürlicher oder juristischer Personen gegen willkürliche oder unverhältnismäßige Eingriffe der öffentlichen Gewalt in ihre Sphäre der privaten Betätigung auszulegen.
112 Insoweit ist festzustellen, dass die ersuchende Behörde, die die dem Ersuchen um Informationsaustausch zugrunde liegenden Ermittlungen führt, bei der anhand der Umstände des Falles durchzuführenden Beurteilung, ob die erbetenen Informationen voraussichtlich erheblich sind, zwar über einen Beurteilungsspielraum verfügt, die ersuchte Behörde jedoch nicht um Informationen ersuchen kann, die für die betreffende Ermittlung völlig unerheblich sind (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 16. Mai 2017, Berlioz Investment Fund,C‑682/15, EU:C:2017:373, Rn. 70 und 71).
113 Eine Anordnung zur Übermittlung von Informationen, mit der die ersuchte Behörde einem Ersuchen der ersuchenden Behörde um Informationsaustausch nachkommen würde und die auf die im neunten Erwägungsgrund der Richtlinie 2011/16 erwähnten Beweisausforschungen („fishing expeditions“) abzielte, käme daher einem willkürlichen oder unverhältnismäßigen Eingriff der öffentlichen Gewalt gleich.
114 Daraus folgt, dass Informationen, die für die Zwecke einer solchen „fishing expedition“ erbeten werden, keinesfalls als „voraussichtlich erheblich“ im Sinne von Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie 2011/16 angesehen werden können.
115 Insoweit muss die ersuchte Behörde prüfen, ob die Begründung des an sie gerichteten Ersuchens der ersuchenden Behörde auf Informationsaustausch ausreicht, um zu belegen, dass den fraglichen Informationen unter Berücksichtigung der Identität des Steuerpflichtigen, gegen den sich die dem Ersuchen zugrunde liegende Ermittlung richtet, der Zwecke einer solchen Untersuchung und, falls es erforderlich ist, die fraglichen Informationen von einer Person zu erhalten, in deren Besitz sie sich befinden, der Identität dieser Person, die voraussichtliche Erheblichkeit nicht völlig fehlt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 16. Mai 2017, Berlioz Investment Fund,C‑682/15, EU:C:2017:373, Rn. 76, 78, 80 und 82).
116 Im Übrigen muss das zuständige Gericht, wenn diese Person gegen die an sie gerichtete Anordnung zur Übermittlung von Informationen Klage erhoben hat, prüfen, ob die Begründung dieser Entscheidung und des Ersuchens, auf das sie gestützt ist, für die Feststellung ausreicht, dass den fraglichen Informationen im Hinblick zum einen auf die Identität des betreffenden Steuerpflichtigen, auf die des Inhabers dieser Informationen und auf die Zwecke der in Rede stehenden Ermittlung die voraussichtliche Erheblichkeit nicht offenkundig völlig zu fehlen scheint (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 16. Mai 2017, Berlioz Investment Fund,C‑682/15, EU:C:2017:373, Rn. 86).
117 Unter Berücksichtigung dieser Gesichtspunkte ist daher zu prüfen, ob eine Anordnung zur Übermittlung von Informationen wie die, die dem Ausgangsrechtsstreit in der Rechtssache C‑245/19 zugrunde liegt, zusammen mit dem Ersuchen um Informationsaustausch, auf das sie gestützt ist, Informationen betrifft, denen nicht offensichtlich jede voraussichtliche Erheblichkeit fehlt.
118 Hierzu ist festzustellen, dass sich eine solche Entscheidung zusammen mit einem solchen Ersuchen zweifellos auf Informationen bezieht, denen nicht offensichtlich jede voraussichtliche Erheblichkeit fehlt, soweit sie die Identität des Steuerpflichtigen, gegen den sich die diesem Ersuchen zugrunde liegende Ermittlung richtet, den Zeitraum dieser Ermittlung und die Identität der Person angibt, die Informationen über in diesem Zeitraum geschlossene Verträge, erstellte Rechnungen oder getätigte Zahlungen besitzt, die mit dem fraglichen Steuerpflichtigen im Zusammenhang stehen.
119 Die Zweifel des vorlegenden Gerichts ergeben sich jedoch daraus, dass die Entscheidung zusammen mit dem Ersuchen Verträge, Rechnungen und Zahlungen betrifft, die nicht näher bestimmt sind.
120 Zum einen ist festzustellen, dass sich diese Entscheidung zusammen mit dem Ersuchen unstreitig auf Informationen bezieht, denen nicht offensichtlich jede voraussichtliche Erheblichkeit fehlt, soweit sie sich auf Verträge, Rechnungen und Zahlungen beziehen, die während des Untersuchungszeitraums von der Person, die Informationen über sie besitzt, geschlossen, erstellt oder getätigt wurden und die einen Zusammenhang mit dem von der Ermittlung betroffenen Steuerpflichtigen aufweisen.
121 Zum anderen ist darauf hinzuweisen, dass sowohl die Entscheidung als auch das Ersuchen, wie sich aus Rn. 81 des vorliegenden Urteils ergibt, in der ersten Phase dieser Ermittlungen ergangen sind, die dazu dient, Informationen zu sammeln, von denen die ersuchende Behörde naturgemäß keine genaue und vollständige Kenntnis hat.
122 Unter diesen Umständen erscheint es wahrscheinlich, dass sich einige der Informationen, die Gegenstand der die Übermittlung von Informationen anordnenden Entscheidung sind, die dem Ausgangsrechtsstreit in der Rechtssache C‑245/19 zugrunde liegt, zusammen mit dem Ersuchen um Informationsaustausch, auf das sie gestützt ist, nach Abschluss der von der ersuchenden Behörde durchgeführten Ermittlung im Licht der Ergebnisse dieser Ermittlung letztlich als nicht erheblich erweisen werden.
123 Im Hinblick auf die Erwägungen in den Rn. 118 und 120 des vorliegenden Urteils impliziert dies jedoch nicht, dass die fraglichen Informationen für die Zwecke der in den Rn. 115 und 116 des vorliegenden Urteils genannten Kontrolle offensichtlich voraussichtlich unerheblich zu sein scheinen und daher den Anforderungen von Art. 1 Abs. 1 und Art. 5 der Richtlinie 2011/16 nicht entsprechen.
124 Nach alledem ist auf die zweite Frage in der Rechtssache C‑245/19 zu antworten, dass Art. 1 Abs. 1 und Art. 5 der Richtlinie 2011/16 dahin auszulegen sind, dass eine Entscheidung, mit der die zuständige Behörde eines Mitgliedstaats einen Informationsinhaber verpflichtet, ihr diese Informationen zu übermitteln, um einem von der zuständigen Behörde eines anderen Mitgliedstaats gestellten Ersuchen um Informationsaustausch nachzukommen, zusammen mit diesem Ersuchen als auf Informationen bezogen anzusehen ist, denen die voraussichtliche Erheblichkeit nicht offensichtlich völlig zu fehlen scheint, sofern darin die Identität des Inhabers der fraglichen Informationen, die des Steuerpflichtigen, der von den dem Ersuchen um Informationsaustausch zugrunde liegenden Ermittlungen betroffen ist und der von diesen Ermittlungen erfasste Zeitraum angegeben wird und sie Verträge, Rechnungen und Zahlungen betreffen, die nicht näher bestimmt, aber durch Kriterien eingegrenzt sind, die darauf bezogen sind, dass sie erstens durch den Informationsinhaber geschlossen, erstellt oder getätigt wurden, zweitens in die von den fraglichen Ermittlungen erfassten Steuerjahre fielen und drittens einen Zusammenhang mit dem betreffenden Steuerpflichtigen aufweisen.
Kosten
125 Für die Parteien der Ausgangsverfahren ist das Verfahren ein Zwischenstreit in den beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreitigkeiten; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Große Kammer) für Recht erkannt:
1. Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union in Verbindung mit deren Art. 7, 8 und 52 Abs. 1 ist dahin auszulegen,
–
dass er es verbietet, dass Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats, mit denen das von der Richtlinie 2011/16/EU des Rates vom 15. Februar 2011 über die Zusammenarbeit der Verwaltungsbehörden im Bereich der Besteuerung und zur Aufhebung der Richtlinie 77/799/EWG in der durch die Richtlinie 2014/107/EU des Rates vom 9. Dezember 2014 geänderten Fassung eingeführte Verfahren zum Informationsaustausch auf Ersuchen durchgeführt wird, es ausschließen, dass eine Person, die Inhaberin von Informationen ist, gegen eine Entscheidung, mit der die zuständige Behörde dieses Mitgliedstaats sie dazu verpflichtet, ihr diese Informationen zu erteilen, um einem Ersuchen um Informationsaustausch der zuständigen Behörde eines anderen Mitgliedstaats nachzukommen, einen Rechtsbehelf einlegen kann, und
–
dass er es nicht verbietet, dass solche Rechtsvorschriften es ausschließen, dass der Steuerpflichtige, gegen den in diesem anderen Mitgliedstaat die dem Ersuchen zugrunde liegende Untersuchung gerichtet ist, sowie Dritte, die von den fraglichen Informationen betroffen sind, einen Rechtsbehelf gegen eine solche Entscheidung einlegen können.
2. Art. 1 Abs. 1 und Art. 5 der Richtlinie 2011/16 in der durch die Richtlinie 2014/107 geänderten Fassung sind dahin auszulegen, dass eine Entscheidung, mit der die zuständige Behörde eines Mitgliedstaats einen Informationsinhaber verpflichtet, ihr diese Informationen zu übermitteln, um einem von der zuständigen Behörde eines anderen Mitgliedstaats gestellten Ersuchen um Informationsaustausch nachzukommen, zusammen mit diesem Ersuchen als auf Informationen bezogen anzusehen ist, denen die voraussichtliche Erheblichkeit nicht offensichtlich völlig zu fehlen scheint, sofern darin die Identität des Inhabers der fraglichen Informationen, die des Steuerpflichtigen, der von den dem Ersuchen um Informationsaustausch zugrunde liegenden Ermittlungen betroffen ist und der von diesen Ermittlungen erfasste Zeitraum angegeben wird und sie Verträge, Rechnungen und Zahlungen betreffen, die nicht näher bestimmt, aber durch Kriterien eingegrenzt sind, die darauf bezogen sind, dass sie erstens durch den Informationsinhaber geschlossen, erstellt oder getätigt wurden, zweitens in die von den fraglichen Ermittlungen erfassten Steuerjahre fielen und drittens einen Zusammenhang mit dem betreffenden Steuerpflichtigen aufweisen.
Unterschriften
(*1) Verfahrenssprache: Französisch.
(i
) Die vorliegende Sprachfassung ist im Rubrum und in der Kopfzeile gegenüber der ursprünglich online gestellten Fassung geändert worden.
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Urteil des Gerichtshofs (Große Kammer) vom 20. März 2018.#Strafverfahren gegen Luca Menci.#Vorabentscheidungsersuchen des Tribunale di Bergamo.#Vorlage zur Vorabentscheidung – Mehrwertsteuer – Richtlinie 2006/112/EG – Nichtabführung der geschuldeten Mehrwertsteuer – Sanktionen – Nationale Rechtsvorschriften, die für dieselbe Tat eine verwaltungsrechtliche und eine strafrechtliche Sanktion vorsehen – Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Art. 50 – Grundsatz ne bis in idem – Strafrechtliche Natur der Verwaltungssanktion – Vorliegen derselben Straftat – Art. 52 Abs. 1 – Einschränkungen des Grundsatzes ne bis in idem – Voraussetzungen.#Rechtssache C-524/15.
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62015CJ0524
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ECLI:EU:C:2018:197
| 2018-03-20T00:00:00 |
Campos Sánchez-Bordona, Gerichtshof
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Sammlung der Rechtsprechung – allgemein – Abschnitt „Informationen über nicht veröffentlichte Entscheidungen“
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62015CJ0524
URTEIL DES GERICHTSHOFS (Große Kammer)
20. März 2018 (*1)
„Vorlage zur Vorabentscheidung – Mehrwertsteuer – Richtlinie 2006/112/EG – Nichtabführung der geschuldeten Mehrwertsteuer – Sanktionen – Nationale Rechtsvorschriften, die für dieselbe Tat eine verwaltungsrechtliche und eine strafrechtliche Sanktion vorsehen – Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Art. 50 – Grundsatz ne bis in idem – Strafrechtliche Natur der Verwaltungssanktion – Vorliegen derselben Straftat – Art. 52 Abs. 1 – Einschränkungen des Grundsatzes ne bis in idem – Voraussetzungen“
In der Rechtssache C‑524/15
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Tribunale di Bergamo (Gericht von Bergamo, Italien) mit Entscheidung vom 16. September 2015, beim Gerichtshof eingegangen am 1. Oktober 2015, in dem Strafverfahren gegen
Luca Menci,
Beteiligte:
Procura della Repubblica,
erlässt
DER GERICHTSHOF (Große Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten K. Lenaerts, des Vizepräsidenten A. Tizzano, der Kammerpräsidentin R. Silva de Lapuerta, der Kammerpräsidenten M. Ilešič, T. von Danwitz (Berichterstatter), A. Rosas und E. Levits, der Richter E. Juhász, J.‑C. Bonichot, A. Arabadjiev, S. Rodin und F. Biltgen, der Richterin K. Jürimäe sowie der Richter C. Lycourgos und E. Regan,
Generalanwalt: M. Campos Sánchez-Bordona,
Kanzler: V. Giacobblo-Peyronnel, Verwaltungsrätin, dann R. Schiano, Verwaltungsrat,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 8. September 2016,
aufgrund des Beschlusses vom 25. Januar 2017 zur Wiedereröffnung des mündlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 30. Mai 2017,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
–
von Herrn Menci, vertreten durch G. Broglio, V. Meanti und I. Dioli, avvocati,
–
der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von G. Galluzzo, avvocato dello Stato,
–
der tschechischen Regierung, vertreten durch M. Smolek und J. Vláčil als Bevollmächtigte,
–
der deutschen Regierung, vertreten durch T. Henze und D. Klebs als Bevollmächtigte,
–
Irlands, zunächst vertreten durch E. Creedon, dann durch M. Browne, G. Hodge und A. Joyce als Bevollmächtigte im Beistand von M. Gray, Barrister,
–
der französischen Regierung, vertreten durch D. Colas, G. de Bergues, F.‑X. Bréchot, S. Ghiandoni und E. de Moustier als Bevollmächtigte,
–
der niederländischen Regierung, vertreten durch M. K. Bulterman und J. Langer als Bevollmächtigte,
–
der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna als Bevollmächtigten,
–
der Europäischen Kommission, vertreten durch H. Krämer, M. Owsiany-Hornung und F. Tomat als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 12. September 2017
folgendes
Urteil
1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 50 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) im Licht von Art. 4 des Protokolls Nr. 7 zu der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (im Folgenden: EMRK).
2 Es ergeht im Rahmen eines Strafverfahrens gegen Herrn Luca Menci wegen Mehrwertsteuerstraftaten.
Rechtlicher Rahmen
EMRK
3 Art. 4 („Recht, wegen derselben Strafsache nicht zweimal vor Gericht gestellt oder bestraft zu werden“) des Protokolls Nr. 7 zur EMRK bestimmt:
„(1) Niemand darf wegen einer Straftat, wegen der er bereits nach dem Gesetz und dem Strafverfahrensrecht eines Staates rechtskräftig verurteilt oder freigesprochen worden ist, in einem Strafverfahren desselben Staates erneut verfolgt oder bestraft werden.
(2) Absatz 1 schließt die Wiederaufnahme des Verfahrens nach dem Gesetz und dem Strafverfahrensrecht des betreffenden Staates nicht aus, falls neue oder neu bekannt gewordene Tatsachen vorliegen oder das vorausgegangene Verfahren schwere, den Ausgang des Verfahrens berührende Mängel aufweist.
(3) Von diesem Artikel darf nicht nach Artikel 15 der Konvention abgewichen werden.“
Unionsrecht
4 Art. 2 Abs. 1 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. 2006, L 347, S. 1) bestimmt, welche Umsätze der Mehrwertsteuer unterliegen.
5 Art. 273 dieser Richtlinie sieht vor:
„Die Mitgliedstaaten können vorbehaltlich der Gleichbehandlung der von Steuerpflichtigen bewirkten Inlandsumsätze und innergemeinschaftlichen Umsätze weitere Pflichten vorsehen, die sie für erforderlich erachten, um eine genaue Erhebung der Steuer sicherzustellen und um Steuerhinterziehung zu vermeiden, sofern diese Pflichten im Handelsverkehr zwischen den Mitgliedstaaten nicht zu Formalitäten beim Grenzübertritt führen.“
Italienisches Recht
6 In Art. 13 Abs. 1 des Decreto Legislativo n. 471 – Riforma delle sanzioni tributarie non penali in materia di imposte dirette, di imposta sul valore aggiunto e di riscossione dei tributi, a norma dell’articolo 3, comma 133, lettera q, della legge 23 dicembre 1996, n. 662 (Gesetzesvertretendes Dekret Nr. 471 – Reform der nicht strafrechtlichen Steuersanktionen im Bereich der direkten Steuern, der Mehrwertsteuer und des Steuereinzugs gemäß Art. 3 Abs. 133 Buchst. q des Gesetzes Nr. 662 vom 23. Dezember 1996), vom 18. Dezember 1997 (Supplemento ordinario zur GURI Nr. 5 vom 8. Januar 1998) in seiner auf das Ausgangsverfahren anwendbaren Fassung (im Folgenden: Gesetzesvertretendes Dekret Nr. 471/97) hieß es:
„Wer es ganz oder teilweise unterlässt, innerhalb der vorgesehenen Fristen Abschlagszahlungen, wiederkehrende Zahlungen, die Ausgleichszahlung oder den sich aus der Erklärung ergebenden Steuersaldo, in diesen Fällen abzüglich des Betrags der wiederkehrenden Zahlungen und der Abschlagszahlungen, auch wenn sie nicht abgeführt wurden, zu leisten, wird mit einer Verwaltungssanktion belegt, die 30 % des jeweils nicht geleisteten Betrags entspricht, auch wenn sich infolge der Berichtigung bei der Überprüfung der jährlichen Erklärung festgestellter Schreib- oder Rechenfehler eine höhere Steuer oder ein geringerer abzugsfähiger Überschuss ergibt. …“
7 Art. 10bis Abs. 1 des Decreto Legislativo n. 74 – Nuova disciplina dei reati in materia di imposte sui redditi e sul valore aggiunto, a norma dell’articolo 9 della legge 25 giugno 1999, n. 205 (Gesetzesvertretendes Dekret Nr. 74 – Erlass einer Neuregelung für Straftaten im Bereich der Einkommensteuer und der Mehrwertsteuer gemäß Art. 9 des Gesetzes Nr. 205 vom 25. Juni 1999), vom 10. März 2000 (GURI Nr. 76 vom 31. März 2000, S. 4) bestimmte in seiner auf das Ausgangsverfahren anwendbaren Fassung (im Folgenden: Gesetzesvertretendes Dekret Nr. 74/2000):
„Mit Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu zwei Jahren wird bestraft, wer die nach der Jahressteuererklärung geschuldeten oder sich aus der den Steuerpflichtigen ausgestellten Bescheinigung ergebenden Steuerabzüge nicht innerhalb der Frist zur Vorlage der Jahressteuererklärung des Steuerabführungspflichtigen abführt, wenn der geschuldete Betrag im jeweiligen Besteuerungszeitraum 50000 Euro übersteigt.“
8 Art. 10ter („Nichtabführung der Mehrwertsteuer“) des Gesetzesvertretenden Dekrets Nr. 74/2000 sah in seiner auf das Ausgangsverfahren anwendbaren Fassung in Abs. 1 vor:
„Art. 10bis findet innerhalb der dort festgelegten Grenzen auch auf denjenigen Anwendung, der die nach der Jahressteuererklärung geschuldete Mehrwertsteuer nicht innerhalb der für Abschlagszahlungen für den folgenden Steuerzeitraum geltenden Frist abführt.“
9 Art. 20 („Verhältnis zwischen Strafverfahren und Steuerverfahren“) des Gesetzesvertretenden Dekrets Nr. 74/2000 sieht in Abs. 1 vor:
„Das behördliche Steuerprüfungsverfahren zur Festsetzung des beizutreibenden Betrags und das finanzgerichtliche Verfahren können während des laufenden Strafverfahrens wegen derselben Tat oder wegen einer Tat, deren Feststellung für den Verfahrensausgang maßgebend ist, nicht ausgesetzt werden.“
10 Art. 21 („Verwaltungssanktionen für unter das Strafrecht fallende Taten“) des Gesetzesvertretenden Dekrets Nr. 74/2000 bestimmt in den Abs. 1 und 2:
„(1) Die zuständige Behörde verhängt jedenfalls die Verwaltungssanktionen für Steuerstraftaten, für die eine Mitteilung des Verdachts einer Straftat vorliegt.
(2) Diese Sanktionen sind gegenüber anderen als den in Art. 19 Abs. 2 bezeichneten Personen nur vollstreckbar, wenn das Strafverfahren durch einen Einstellungsbeschluss oder ein rechtskräftiges Urteil beendet wird, in dem der Angeklagte freigesprochen wird oder mit der Feststellung freigesprochen wird, dass die Tat keine strafrechtliche Relevanz hat. Im letztgenannten Fall beginnt die Frist für die Beitreibung mit dem Tag der Bekanntgabe des Einstellungsbeschlusses oder des Urteils gegenüber der zuständigen Behörde; die Bekanntgabe erfolgt durch die Kanzlei des Gerichts, das die Entscheidung erlassen hat.“
Ausgangsverfahren und Vorlagefrage
11 Gegen Herrn Menci wurde ein Verwaltungsverfahren durchgeführt, in dem ihm vorgeworfen wurde, es als Inhaber des gleichnamigen Einzelunternehmens unterlassen zu haben, die sich aus der Jahressteuererklärung für das Steuerjahr 2011 ergebende Mehrwertsteuer in Höhe von insgesamt 282495,76 Euro innerhalb der gesetzlich festgelegten Fristen abzuführen.
12 In diesem Verfahren erging eine Entscheidung der Amministrazione Finanziaria (Finanzverwaltung, Italien), mit der sie Herrn Menci aufgab, die geschuldete Mehrwertsteuer abzuführen, und gegen ihn auf der Grundlage von Art. 13 Abs. 1 des Gesetzesvertretenden Dekrets Nr. 471/97 eine Verwaltungssanktion in Höhe von 30 % der Steuerschuld (84748,74 Euro) verhängte. Diese Entscheidung wurde bestandskräftig. Dem Antrag auf Ratenzahlung von Herrn Menci wurde stattgegeben, woraufhin dieser die ersten Raten zahlte.
13 Nach dem endgültigen Abschluss dieses Verwaltungsverfahrens wurde durch Anklageschrift der Procura della Repubblica (Staatsanwaltschaft, Italien) gegen Herrn Menci wegen derselben Tat ein Strafverfahren beim Tribunale di Bergamo (Gericht von Bergamo, Italien) eingeleitet, mit der Begründung, die Nichtabführung von Mehrwertsteuer sei eine Straftat nach Art. 10bis Abs. 1 und Art. 10ter Abs. 1 des Gesetzesvertretenden Dekrets Nr. 74/2000.
14 Das vorlegende Gericht weist darauf hin, dass das Strafverfahren und das Verwaltungsverfahren nach den Bestimmungen des Gesetzesvertretenden Dekrets Nr. 74/2000 getrennt voneinander zu führen seien und in die Zuständigkeit der Strafverfolgungsbehörden bzw. der Verwaltungsbehörden fielen. Keines dieser beiden Verfahren dürfe ausgesetzt werden, um das Ergebnis des anderen Verfahrens abzuwarten.
15 Art. 21 Abs. 2 des Gesetzesvertretenden Dekrets Nr. 74/2000, wonach die von der zuständigen Verwaltungsbehörde wegen Steuerstraftaten verhängten Verwaltungssanktionen nur vollstreckbar seien, wenn das Strafverfahren durch einen Einstellungsbeschluss oder ein rechtskräftiges Urteil, in dem der Angeklagte freigesprochen werde oder mit der Feststellung freigesprochen werde, dass die Tat keine strafrechtliche Relevanz habe, beendet worden sei, lasse es zu, dass gegen eine Person wie Herrn Menci ein Strafverfahren durchgeführt werde, nachdem sie bereits mit einer bestandskräftigen Verwaltungssanktion belegt worden sei.
16 Unter diesen Umständen hat das Tribunale di Bergamo (Gericht von Bergamo) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:
Steht Art. 50 der Charta, wie er im Licht von Art. 4 des Protokolls Nr. 7 zur EMRK sowie der diesbezüglichen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte auszulegen ist, der Möglichkeit entgegen, ein Strafverfahren wegen einer Tat (Nichtabführung der Mehrwertsteuer) durchzuführen, für die der Angeklagte bereits mit einer unwiderruflichen Verwaltungssanktion belegt wurde?
Zur Vorlagefrage
17 Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 50 der Charta im Licht von Art. 4 des Protokolls Nr. 7 zur EMRK dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung entgegensteht, nach der eine Person, die die geschuldete Mehrwertsteuer nicht innerhalb der gesetzlichen Fristen abgeführt hat, in einem Strafverfahren verfolgt werden kann, obwohl sie wegen derselben Tat bereits mit einer bestandskräftigen Verwaltungssanktion belegt wurde.
18 Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass in Bezug auf die Mehrwertsteuer u. a. aus den Art. 2 und 273 der Richtlinie 2006/112 in Verbindung mit Art. 4 Abs. 3 EUV hervorgeht, dass die Mitgliedstaaten verpflichtet sind, alle Rechts- und Verwaltungsvorschriften zu erlassen, die geeignet sind, die Erhebung der gesamten in ihrem jeweiligen Hoheitsgebiet geschuldeten Mehrwertsteuer zu gewährleisten und den Betrug zu bekämpfen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 26. Februar 2013, Åkerberg Fransson, C‑617/10, EU:C:2013:105, Rn. 25 und die dort angeführte Rechtsprechung).
19 Zudem verpflichtet Art. 325 AEUV die Mitgliedstaaten, zur Bekämpfung rechtswidriger Handlungen, die sich gegen die finanziellen Interessen der Europäischen Union richten, abschreckende und wirksame Maßnahmen zu ergreifen; insbesondere müssen sie zur Bekämpfung von Betrug, der sich gegen die finanziellen Interessen der Union richtet, dieselben Maßnahmen ergreifen wie zur Bekämpfung von Betrug, der sich gegen ihre eigenen Interessen richtet. Dabei umfassen die finanziellen Interessen der Union u. a. die Einnahmen aus der Mehrwertsteuer (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 5. Dezember 2017, M.A.S. und M.B., C‑42/17, EU:C:2017:936, Rn. 30 und 31 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).
20 Die Mitgliedstaaten können, um die vollständige Erhebung der Einnahmen aus der Mehrwertsteuer in ihrer Gesamtheit und damit den Schutz der finanziellen Interessen der Union zu gewährleisten, die anwendbaren Sanktionen frei wählen. Dabei kann es sich um verwaltungsrechtliche oder strafrechtliche Sanktionen oder um eine Kombination aus beiden handeln. Strafrechtliche Sanktionen können allerdings unerlässlich sein, um bestimmte Fälle von schwerem Mehrwertsteuerbetrug wirksam und abschreckend zu bekämpfen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 5. Dezember 2017, M.A.S. und M.B., C‑42/17, EU:C:2017:936, Rn. 33 und 34).
21 Die von den nationalen Steuerbehörden verhängten Verwaltungssanktionen und wegen Mehrwertsteuerstraftaten eingeleiteten Strafverfahren wie die im Ausgangsverfahren fraglichen sollen die genaue Erhebung der Mehrwertsteuer sicherstellen und Betrug bekämpfen. Daher sind sie als Durchführung der Art. 2 und 273 der Richtlinie 2006/112 sowie von Art. 325 AEUV und somit als Durchführung des Unionsrechts im Sinne von Art. 51 Abs. 1 der Charta anzusehen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 26. Februar 2013, Åkerberg Fransson, C‑617/10, EU:C:2013:105, Rn. 27, sowie vom 5. April 2017, Orsi und Baldetti, C‑217/15 und C‑350/15, EU:C:2017:264, Rn. 16). Sie müssen daher das in Art. 50 der Charta verbürgte Grundrecht wahren.
22 Zudem sind die durch die EMRK anerkannten Grundrechte zwar, wie Art. 6 Abs. 3 EUV bestätigt, als allgemeine Grundsätze Teil des Unionsrechts, und nach Art. 52 Abs. 3 der Charta haben die in ihr enthaltenen Rechte, die den durch die EMRK garantierten Rechten entsprechen, die gleiche Bedeutung und Tragweite, wie sie ihnen in der EMRK verliehen werden. Jedoch stellt die EMRK, solange die Union ihr nicht beigetreten ist, kein Rechtsinstrument dar, das formell in die Unionsrechtsordnung übernommen wurde (Urteile vom 26. Februar 2013, Åkerberg Fransson, C‑617/10, EU:C:2013:105, Rn. 44, sowie vom 15. Februar 2016, N., C‑601/15 PPU, EU:C:2016:84, Rn. 45 und die dort angeführte Rechtsprechung).
23 Nach den Erläuterungen zu Art. 52 der Charta soll mit dessen Abs. 3 die notwendige Kohärenz zwischen der Charta und der EMRK geschaffen werden, „ohne dass dadurch die Eigenständigkeit des Unionsrechts und des Gerichtshofs der Europäischen Union berührt wird“ (Urteile vom 15. Februar 2016, N., C‑601/15 PPU, EU:C:2016:84, Rn. 47, und vom 14. September 2017, K., C‑18/16, EU:C:2017:680, Rn. 50 und die dort angeführte Rechtsprechung).
24 Daher ist die Prüfung der Vorlagefrage anhand der durch die Charta verbürgten Grundrechte und insbesondere ihres Art. 50 vorzunehmen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 5. April 2017, Orsi und Baldetti, C‑217/15 und C‑350/15, EU:C:2017:264, Rn. 15 und die dort angeführte Rechtsprechung).
25 Art. 50 der Charta lautet: „Niemand darf wegen einer Straftat, derentwegen er bereits in der Union nach dem Gesetz rechtskräftig verurteilt oder freigesprochen worden ist, in einem Strafverfahren erneut verfolgt oder bestraft werden.“ Der Grundsatz ne bis in idem verbietet somit eine Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen, die strafrechtlicher Natur im Sinne dieses Artikels sind, gegenüber derselben Person wegen derselben Tat (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 26. Februar 2013, Åkerberg Fransson, C‑617/10, EU:C:2013:105, Rn. 34).
Zur strafrechtlichen Natur der Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen
26 Für die Beurteilung der strafrechtlichen Natur von Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen wie den im Ausgangsverfahren fraglichen sind nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs drei Kriterien maßgebend: erstens die rechtliche Einordnung der Zuwiderhandlung im innerstaatlichen Recht, zweitens die Art der Zuwiderhandlung und drittens der Schweregrad der dem Betroffenen drohenden Sanktion (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 5. Juni 2012, Bonda, C‑489/10, EU:C:2012:319, Rn. 37, und vom 26. Februar 2013, Åkerberg Fransson, C‑617/10, EU:C:2013:105, Rn. 35).
27 Zwar ist es Sache des vorlegenden Gerichts, anhand der genannten Kriterien zu beurteilen, ob die im Ausgangsverfahren fraglichen straf- und verwaltungsrechtlichen Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen im Sinne von Art. 50 der Charta strafrechtlicher Natur sind, doch kann der Gerichtshof in seiner Vorabentscheidung Klarstellungen vornehmen, um diesem Gericht eine Richtschnur für seine Auslegung zu geben (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 5. Juni 2014, Mahdi, C‑146/14 PPU, EU:C:2014:1320, Rn. 79 und die dort angeführte Rechtsprechung).
28 Im vorliegenden Fall ist zunächst festzustellen, dass die im Ausgangsverfahren fragliche Verfolgung in einem Strafverfahren und die sich daraus möglicherweise ergebenden Sanktionen anhand der in Rn. 26 des vorliegenden Urteils angeführten Kriterien zweifelsfrei als strafrechtlich einzustufen sind. Hingegen stellt sich die Frage, ob das in Bezug auf Herrn Menci durchgeführte Verwaltungsverfahren und die bestandskräftige Verwaltungssanktion, die ihm am Ende dieses Verfahrens auferlegt wurde, strafrechtlicher Natur im Sinne von Art. 50 der Charta sind.
29 Hinsichtlich des ersten in Rn. 26 des vorliegenden Urteils angeführten Kriteriums ergibt sich insoweit aus der dem Gerichtshof vorliegenden Akte, dass das Verfahren, das zur Verhängung der Verwaltungssanktion führte, im nationalen Recht als Verwaltungsverfahren eingestuft wird.
30 Die Anwendung von Art. 50 der Charta beschränkt sich jedoch nicht allein auf Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen, die im nationalen Recht als „strafrechtlich“ eingestuft werden, sondern erstreckt sich – unabhängig von einer solchen innerstaatlichen Einordnung – auf Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen, die nach den beiden anderen in Rn. 26 angeführten Kriterien strafrechtlicher Natur sind.
31 In Bezug auf das zweite Kriterium, das sich auf die Art der Zuwiderhandlung bezieht, ist zu prüfen, ob die fragliche Sanktion insbesondere eine repressive Zielsetzung verfolgt (vgl. Urteil vom 5. Juni 2012, Bonda, C‑489/10, EU:C:2012:319, Rn. 39). Dem ist zu entnehmen, dass eine Sanktion mit repressiver Zielsetzung strafrechtlicher Natur im Sinne von Art. 50 der Charta ist und dass der bloße Umstand, dass sie auch eine präventive Zielsetzung verfolgt, ihr nicht ihre Einstufung als strafrechtliche Sanktion nehmen kann. Wie der Generalanwalt in Nr. 113 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, liegt es nämlich in der Natur strafrechtlicher Sanktionen, dass sie sowohl auf die Repression als auch auf die Prävention rechtswidriger Verhaltensweisen abzielen. Dagegen ist eine Maßnahme, die nur den durch die Straftat entstandenen Schaden ersetzen soll, nicht strafrechtlicher Natur.
32 Im vorliegenden Fall sieht Art. 13 Abs. 1 des Gesetzesvertretenden Dekrets Nr. 471/97 für die Nichtabführung der geschuldeten Mehrwertsteuer eine Verwaltungssanktion vor, die zu den vom Steuerpflichtigen zu zahlenden Mehrwertsteuerbeträgen hinzukommt. Zwar wird diese Sanktion, wie die italienische Regierung in ihren schriftlichen Erklärungen ausführt, herabgesetzt, wenn die Steuer innerhalb einer bestimmten Frist nach der Nichtabführung tatsächlich gezahlt wird. Gleichwohl wird mit der Sanktion die verspätete Abführung der geschuldeten Mehrwertsteuer geahndet. Somit ist davon auszugehen, was im Übrigen auch der Einschätzung des vorlegenden Gerichts entspricht, dass die Verwaltungssanktion eine repressive Zielsetzung verfolgt, was für eine Sanktion strafrechtlicher Natur im Sinne von Art. 50 der Charta typisch ist.
33 Zum dritten Kriterium ist darauf hinzuweisen, dass es sich bei der im Ausgangsverfahren fraglichen Verwaltungssanktion gemäß Art. 13 Abs. 1 des Gesetzesvertretenden Dekrets Nr. 471/97 um eine Geldbuße in Höhe von 30 % der geschuldeten Mehrwertsteuer handelt, die neben dieser Steuer zu zahlen ist. Diese Sanktion weist – wie zwischen den Parteien des Ausgangsverfahrens unstreitig ist – einen hohen Schweregrad auf, der geeignet ist, die Einschätzung zu stützen, dass die Sanktion strafrechtlicher Natur im Sinne von Art. 50 der Charta ist. Dies zu prüfen ist jedoch Sache des vorlegenden Gerichts.
Zum Vorliegen derselben Straftat
34 Schon aus dem Wortlaut von Art. 50 der Charta geht hervor, dass er es verbietet, dieselbe Person mehr als einmal wegen derselben Straftat in einem Strafverfahren zu verfolgen oder zu bestrafen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 5. April 2017, Orsi und Baldetti, C‑217/15 und C‑350/15, EU:C:2017:264, Rn. 18). Wie das vorlegende Gericht in seiner Vorlageentscheidung ausführt, richten sich die verschiedenen Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen strafrechtlicher Natur, um die es im Ausgangsverfahren geht, gegen dieselbe Person, nämlich gegen Herrn Menci.
35 Für die Beurteilung, ob es sich um dieselbe Straftat handelt, ist nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs das Kriterium der Identität der materiellen Tat maßgebend, verstanden als das Vorliegen einer Gesamtheit konkreter, unlösbar miteinander verbundener Umstände, die zum Freispruch oder zur rechtskräftigen Verurteilung des Betroffenen geführt haben (vgl. entsprechend Urteile vom 18. Juli 2007, Kraaijenbrink, C‑367/05, EU:C:2007:444, Rn. 26 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie vom 16. November 2010, Mantello, C‑261/09, EU:C:2010:683, Rn. 39 und 40). Art. 50 der Charta verbietet somit, wegen derselben Tat am Ende verschiedener zu diesem Zweck durchgeführter Verfahren mehrere Sanktionen strafrechtlicher Natur zu verhängen.
36 Ferner sind die rechtliche Einordnung der Tat nach nationalem Recht und das geschützte rechtliche Interesse für die Feststellung, ob dieselbe Straftat vorliegt, nicht erheblich, da die Reichweite des in Art. 50 der Charta gewährten Schutzes nicht von einem Mitgliedstaat zum anderen unterschiedlich sein kann.
37 Im vorliegenden Fall ergibt sich aus den Angaben in der Vorlageentscheidung, dass Herr Menci mit einer bestandskräftigen Verwaltungssanktion strafrechtlicher Natur belegt wurde, weil er es unterlassen hatte, die sich aus der Jahressteuererklärung für das Steuerjahr 2011 ergebende Mehrwertsteuer innerhalb der gesetzlich festgelegten Fristen abzuführen, und dass die im Ausgangsverfahren fragliche Verfolgung in einem Strafverfahren dieselbe Unterlassung betrifft.
38 Die italienische Regierung führt zwar in ihren schriftlichen Erklärungen aus, dass die Verhängung einer strafrechtlichen Sanktion am Ende einer Verfolgung in einem Strafverfahren wie der im Ausgangsverfahren fraglichen – im Gegensatz zu der in Rede stehenden Verwaltungssanktion strafrechtlicher Natur – ein subjektives Element verlange. Jedoch kann der Umstand, dass die Verhängung dieser strafrechtlichen Sanktion von einem im Vergleich zur Verwaltungssanktion strafrechtlicher Natur zusätzlichen Tatbestandsmerkmal abhängt, für sich allein die Identität der betreffenden materiellen Tat nicht in Frage stellen. Vorbehaltlich einer Überprüfung durch das vorlegende Gericht scheinen daher die Verwaltungssanktion strafrechtlicher Natur und die Verfolgung in einem Strafverfahren, um die es im Ausgangsverfahren geht, dieselbe Straftat zu betreffen.
39 Somit ist davon auszugehen, dass es nach der im Ausgangsverfahren fraglichen nationalen Regelung zulässig ist, eine Person wie Herrn Menci wegen einer Straftat der Nichtabführung der nach der Steuererklärung für ein Steuerjahr geschuldeten Mehrwertsteuer in einem Strafverfahren zu verfolgen, nachdem gegen diese Person wegen derselben Tat eine bestandskräftige Verwaltungssanktion strafrechtlicher Natur im Sinne von Art. 50 der Charta verhängt wurde. Eine solche Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen stellt aber eine Einschränkung des in diesem Artikel verbürgten Grundrechts dar.
Zur Rechtfertigung der Einschränkung des in Art. 50 der Charta verbürgten Rechts
40 Der Gerichtshof hat in seinem Urteil vom 27. Mai 2014, Spasic (C‑129/14 PPU, EU:C:2014:586, Rn. 55 und 56), entschieden, dass eine Einschränkung des in Art. 50 der Charta verbürgten Grundsatzes ne bis in idem nach Art. 52 Abs. 1 der Charta gerechtfertigt werden kann.
41 Gemäß Art. 52 Abs. 1 Satz 1 der Charta muss jede Einschränkung der Ausübung der in der Charta anerkannten Rechte und Freiheiten gesetzlich vorgesehen sein und den Wesensgehalt dieser Rechte und Freiheiten achten. Nach Art. 52 Abs. 1 Satz 2 dürfen Einschränkungen dieser Rechte und Freiheiten unter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit nur vorgenommen werden, wenn sie erforderlich sind und den von der Union anerkannten dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen oder den Erfordernissen des Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer tatsächlich entsprechen.
42 Im vorliegenden Fall ist unstreitig, dass die Möglichkeit, strafrechtliche Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen mit verwaltungsrechtlichen Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen strafrechtlicher Natur zu kumulieren, gesetzlich vorgesehen ist.
43 Zudem wahrt eine nationale Regelung wie die im Ausgangsverfahren fragliche den Wesensgehalt von Art. 50 der Charta. Nach den Angaben in der dem Gerichtshof vorliegenden Akte lässt sie eine solche Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen nämlich nur unter abschließend festgelegten Voraussetzungen zu und stellt damit sicher, dass das in Art. 50 verbürgte Recht als solches nicht in Frage gestellt wird.
44 Hinsichtlich der Frage, ob die Einschränkung des Grundsatzes ne bis in idem, die sich aus einer nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren fraglichen ergibt, einer dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzung entspricht, ist der dem Gerichtshof vorliegenden Akte zu entnehmen, dass mit dieser Regelung die Erhebung der gesamten geschuldeten Mehrwertsteuer gewährleistet werden soll. In Anbetracht der Bedeutung, die die Rechtsprechung des Gerichtshofs der Bekämpfung von Mehrwertsteuerstraftaten zur Erreichung dieses Ziels beimisst (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 5. Dezember 2017, M.A.S. und M.B., C‑42/17, EU:C:2017:936, Rn. 34 und die dort angeführte Rechtsprechung), kann eine Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen strafrechtlicher Natur gerechtfertigt sein, wenn zur Erreichung eines solchen Ziels mit diesen Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen komplementäre Zwecke verfolgt werden, die gegebenenfalls verschiedene Aspekte desselben rechtswidrigen Verhaltens betreffen, was zu prüfen Sache des vorlegenden Gerichts ist.
45 Insoweit erscheint es bei Zuwiderhandlungen im Bereich der Mehrwertsteuer legitim, dass ein Mitgliedstaat zum einen mit der Verhängung von gegebenenfalls pauschal festgesetzten Verwaltungssanktionen von jedem vorsätzlichen oder nicht vorsätzlichen Verstoß gegen die Regeln über die Erklärung und Erhebung der Mehrwertsteuer abschrecken und ihn ahnden will, und zum anderen von schweren Verstößen gegen diese Regeln, die für die Gesellschaft besonders schädlich sind und die Verhängung schwererer strafrechtlicher Sanktionen rechtfertigen, abschrecken und sie ahnden will.
46 Zur Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit ist festzustellen, dass nach diesem Grundsatz die in einer nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren fraglichen vorgesehene Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen nicht die Grenzen dessen überschreiten darf, was zur Erreichung der mit dieser Regelung zulässigerweise verfolgten Ziele geeignet und erforderlich ist; stehen mehrere geeignete Maßnahmen zur Auswahl, ist die am wenigsten belastende zu wählen, und die durch sie bedingten Nachteile müssen in angemessenem Verhältnis zu den angestrebten Zielen stehen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 25. Februar 2010, Müller Fleisch, C‑562/08, EU:C:2010:93, Rn. 43, vom 9. März 2010, ERG u. a., C‑379/08 und C‑380/08, EU:C:2010:127, Rn. 86, sowie vom 19. Oktober 2016, EL-EM-2001, C‑501/14, EU:C:2016:777, Rn. 37 und 39 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).
47 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass die Mitgliedstaaten nach der in Rn. 20 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung die anwendbaren Sanktionen frei wählen können, um die vollständige Erhebung der Einnahmen aus der Mehrwertsteuer zu gewährleisten. In Ermangelung einer Harmonisierung des Unionsrechts auf diesem Gebiet dürfen die Mitgliedstaaten daher sowohl eine Regelung vorsehen, in der Mehrwertsteuerstraftaten nur einmal Gegenstand von Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen sein können, als auch eine Regelung, die eine Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen zulässt. Der bloße Umstand, dass sich der betreffende Mitgliedstaat für die Möglichkeit einer solchen Kumulierung entschieden hat, kann mithin die Verhältnismäßigkeit einer nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren fraglichen nicht in Zweifel ziehen, da dem Mitgliedstaat sonst seine Wahlfreiheit genommen würde.
48 Dies vorausgeschickt, ist festzustellen, dass eine nationale Regelung wie die im Ausgangsverfahren fragliche, die eine solche Kumulierungsmöglichkeit vorsieht, zur Erreichung des in Rn. 44 des vorliegenden Urteils genannten Ziels geeignet ist.
49 Zur zwingenden Erforderlichkeit einer nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren fraglichen ist zunächst darauf hinzuweisen, dass sie klare und präzise Regeln aufstellen muss, die es den Bürgern ermöglichen, vorherzusehen, bei welchen Handlungen und Unterlassungen eine solche Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen in Frage kommt.
50 Wie sich aus der dem Gerichtshof vorliegenden Akte ergibt, sieht im vorliegenden Fall die im Ausgangsverfahren fragliche nationale Regelung, insbesondere Art. 13 Abs. 1 des Gesetzesvertretenden Dekrets Nr. 471/97, vor, unter welchen Voraussetzungen die Nichtabführung der geschuldeten Mehrwertsteuer innerhalb der gesetzlichen Fristen mit einer Verwaltungssanktion strafrechtlicher Natur geahndet werden kann. Nach Art. 13 Abs. 1 kann unter den in Art. 10bis Abs. 1 und Art. 10ter Abs. 1 des Gesetzesvertretenden Dekrets Nr. 74/2000 genannten Voraussetzungen auch eine Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu zwei Jahren wegen einer solchen Unterlassung verhängt werden, wenn diese eine Jahressteuererklärung über einen Mehrwertsteuerbetrag von mehr als 50000 Euro betrifft.
51 Vorbehaltlich der Überprüfung durch das vorlegende Gericht ist somit davon auszugehen, dass die im Ausgangsverfahren fragliche nationale Regelung klar und präzise vorsieht, unter welchen Umständen bei Nichtabführung der geschuldeten Mehrwertsteuer eine Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen strafrechtlicher Natur in Frage kommt.
52 Sodann muss eine nationale Regelung wie die im Ausgangsverfahren fragliche sicherstellen, dass die Belastungen, die sich aus einer solchen Kumulierung für die Betroffenen ergeben, auf das zur Erreichung des in Rn. 44 des vorliegenden Urteils genannten Ziels zwingend Erforderliche beschränkt bleiben.
53 Was zum einen die Kumulierung von Verfahren strafrechtlicher Natur betrifft, die, wie aus der Akte hervorgeht, unabhängig voneinander durchgeführt werden, folgt aus der in der vorstehenden Randnummer genannten Anforderung, dass es Regeln zur Gewährleistung einer Koordinierung geben muss, um die mit einer solchen Kumulierung verbundene zusätzliche Belastung für die Betroffenen auf das zwingend Erforderliche zu beschränken.
54 Im vorliegenden Fall lässt die im Ausgangsverfahren fragliche nationale Regelung zwar selbst nach der Verhängung einer Verwaltungssanktion strafrechtlicher Natur, mit der das Verwaltungsverfahren endgültig beendet wird, noch die Einleitung einer Verfolgung in einem Strafverfahren zu. Jedoch geht aus den in Rn. 50 des vorliegenden Urteils zusammengefassten Angaben in der Akte hervor, dass die Verfolgung in einem Strafverfahren nach dieser Regelung offenbar auf Straftaten beschränkt ist, die eine gewisse Schwere aufweisen, nämlich auf solche, die einen nicht abgeführten Mehrwertsteuerbetrag von über 50000 Euro betreffen. Für sie hat der nationale Gesetzgeber eine Freiheitsstrafe vorgesehen, deren Schwere die Notwendigkeit zu rechtfertigen scheint, zur Verhängung einer solchen Strafe ein vom Verwaltungsverfahren strafrechtlicher Natur unabhängiges Strafverfahren durchzuführen.
55 Zum anderen muss die Kumulierung von Sanktionen strafrechtlicher Natur von Regeln begleitet sein, mit denen sichergestellt werden kann, dass die Schwere aller verhängten Sanktionen der Schwere der betreffenden Straftat entspricht, wobei sich eine solche Anforderung nicht nur aus Art. 52 Abs. 1 der Charta ergibt, sondern auch aus dem in Art. 49 Abs. 3 der Charta verankerten Grundsatz der Verhältnismäßigkeit von Strafen. Diese Regeln müssen die zuständigen Behörden dazu verpflichten, im Fall der Verhängung einer zweiten Sanktion dafür zu sorgen, dass die Schärfe aller verhängten Sanktionen nicht die Schwere der festgestellten Straftat überschreitet.
56 Im vorliegenden Fall scheint aus Art. 21 des Gesetzesvertretenden Dekrets Nr. 74/2000 hervorzugehen, dass er nicht nur die Aussetzung der Vollstreckung der Verwaltungssanktionen strafrechtlicher Natur während des laufenden Strafverfahrens vorsieht, sondern diese Vollstreckung auch nach der strafrechtlichen Verurteilung des Betroffenen endgültig verhindert. Nach den Angaben in der Vorlageentscheidung ist zudem die freiwillige Zahlung der Steuerschuld, sofern sie sich auch auf die gegen den Betroffenen verhängte Verwaltungssanktion erstreckt, ein spezieller mildernder Umstand, der im Strafverfahren zu berücksichtigen ist. Somit ist davon auszugehen, dass die im Ausgangsverfahren fragliche Regelung Voraussetzungen enthält, mit denen sichergestellt werden kann, dass die zuständigen Behörden die Schwere aller verhängten Sanktionen auf das im Verhältnis zur Schwere der begangenen Straftat zwingend Erforderliche beschränken.
57 Daher ist vorbehaltlich der Überprüfung durch das vorlegende Gericht davon auszugehen, dass eine nationale Regelung wie die im Ausgangsverfahren fragliche die Gewähr dafür bietet, dass die nach ihr zulässige Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen nicht über das hinausgeht, was zur Erreichung des in Rn. 44 des vorliegenden Urteils genannten Ziels zwingend erforderlich ist.
58 Außerdem ist darauf hinzuweisen, dass eine nationale Regelung, die die in den Rn. 44, 49, 53 und 55 des vorliegenden Urteils angeführten Anforderungen erfüllt, zwar grundsätzlich geeignet erscheint, den notwendigen Ausgleich zwischen den verschiedenen in Rede stehenden Interessen sicherzustellen, doch muss sie von den nationalen Behörden und Gerichten auch in einer Weise angewandt werden, dass die Belastung, die sich im vorliegenden Fall für den Betroffenen aus der Kumulierung der Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen ergibt, nicht unverhältnismäßig im Hinblick auf die Schwere der begangenen Straftat ist.
59 Letztlich ist es Sache des vorlegenden Gerichts, die Verhältnismäßigkeit der konkreten Anwendung dieser Regelung im Rahmen des Ausgangsverfahrens zu beurteilen und dabei die Schwere der betreffenden Steuerstraftat gegen die Belastung abzuwägen, die sich für den Betroffenen aus der Kumulierung der im Ausgangsverfahren fraglichen Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen konkret ergibt.
60 Schließlich haben nach Art. 52 Abs. 3 der Charta die in ihr enthaltenen Rechte, die den durch die EMRK garantierten Rechten entsprechen, die gleiche Bedeutung und Tragweite, wie sie ihnen in der EMRK verliehen wird. Daher ist Art. 4 des Protokolls Nr. 7 zur EMRK bei der Auslegung von Art. 50 der Charta zu berücksichtigen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 15. Februar 2016, N., C‑601/15 PPU, EU:C:2016:84, Rn. 77, und vom 5. April 2017, Orsi und Baldetti, C‑217/15 und C‑350/15, EU:C:2017:264, Rn. 24).
61 Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat insoweit entschieden, dass eine Kumulierung von steuer- und strafrechtlichen Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen, mit denen derselbe Verstoß gegen Steuergesetze geahndet wird, den in Art. 4 des Protokolls Nr. 7 zur EMRK verankerten Grundsatz ne bis in idem nicht verletzt, wenn es zwischen dem Steuerverfahren und dem Strafverfahren einen hinreichend engen sachlichen und zeitlichen Zusammenhang gibt (EGMR, 15. November 2016, A und B gegen Norwegen, CE:ECHR:2016:1115JUD002413011, § 132).
62 Wie sich aus den Rn. 44, 49, 53, 55 und 58 des vorliegenden Urteils ergibt, gewährleisten somit die Anforderungen, die Art. 50 der Charta in Verbindung mit ihrem Art. 52 Abs. 1 an eine etwaige Kumulierung von strafrechtlichen Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen mit verwaltungsrechtlichen Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen strafrechtlicher Natur stellt, ein Schutzniveau für den Grundsatz ne bis in idem, das das in Art. 4 des Protokolls Nr. 7 zur EMRK in seiner Auslegung durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte garantierte Schutzniveau nicht verletzt.
63 Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 50 der Charta dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung nicht entgegensteht, nach der eine Person, die die geschuldete Mehrwertsteuer nicht innerhalb der gesetzlichen Fristen abgeführt hat, in einem Strafverfahren verfolgt werden kann, obwohl sie wegen derselben Tat bereits mit einer bestandskräftigen Verwaltungssanktion strafrechtlicher Natur im Sinne von Art. 50 belegt wurde, sofern diese Regelung
–
eine dem Gemeinwohl dienende Zielsetzung hat, die eine solche Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen rechtfertigen kann, nämlich die Bekämpfung von Mehrwertsteuerstraftaten, wobei mit den Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen komplementäre Zwecke verfolgt werden müssen,
–
Regeln zur Gewährleistung einer Koordinierung enthält, mit der die zusätzliche Belastung, die sich für die Betroffenen aus einer Kumulierung von Verfahren ergibt, auf das zwingend Erforderliche beschränkt wird, und
–
Regeln vorsieht, mit denen sichergestellt werden kann, dass die Schwere aller verhängten Sanktionen auf das im Verhältnis zur Schwere der betreffenden Straftat zwingend Erforderliche beschränkt wird.
64 Es ist Sache des nationalen Gerichts, sich unter Berücksichtigung aller Umstände des Ausgangsverfahrens zu vergewissern, dass die Belastung, die sich für den Betroffenen aus der Anwendung der im Ausgangsverfahren fraglichen nationalen Regelung und aus der nach ihr zulässigen Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen konkret ergibt, nicht außer Verhältnis zur Schwere der begangenen Straftat steht.
Kosten
65 Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Große Kammer) für Recht erkannt:
1. Art. 50 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union ist dahin auszulegen, dass er einer nationalen Regelung nicht entgegensteht, nach der eine Person, die die geschuldete Mehrwertsteuer nicht innerhalb der gesetzlichen Fristen abgeführt hat, in einem Strafverfahren verfolgt werden kann, obwohl sie wegen derselben Tat bereits mit einer bestandskräftigen Verwaltungssanktion strafrechtlicher Natur im Sinne von Art. 50 belegt wurde, sofern diese Regelung
–
eine dem Gemeinwohl dienende Zielsetzung hat, die eine solche Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen rechtfertigen kann, nämlich die Bekämpfung von Mehrwertsteuerstraftaten, wobei mit den Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen komplementäre Zwecke verfolgt werden müssen,
–
Regeln zur Gewährleistung einer Koordinierung enthält, mit der die zusätzliche Belastung, die sich für die Betroffenen aus einer Kumulierung von Verfahren ergibt, auf das zwingend Erforderliche beschränkt wird, und
–
Regeln vorsieht, mit denen sichergestellt werden kann, dass die Schwere aller verhängten Sanktionen auf das im Verhältnis zur Schwere der betreffenden Straftat zwingend Erforderliche beschränkt wird.
2. Es ist Sache des nationalen Gerichts, sich unter Berücksichtigung aller Umstände des Ausgangsverfahrens zu vergewissern, dass die Belastung, die sich für den Betroffenen aus der Anwendung der im Ausgangsverfahren fraglichen nationalen Regelung und aus der nach ihr zulässigen Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen konkret ergibt, nicht außer Verhältnis zur Schwere der begangenen Straftat steht.
Unterschriften
(*1) Verfahrenssprache: Italienisch.
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Urteil des Gerichtshofs (Siebte Kammer) vom 5. Juni 2025.#RL u. a. gegen Curtea de Apel Bucureşti.#Vorabentscheidungsersuchen der Curtea de Apel Bucureşti.#Vorlage zur Vorabentscheidung – Zahlung einer Vergütung an Richter und Staatsanwälte bei Eintritt in den Ruhestand – Aussetzung und Abschaffung dieser Zahlung aus Gründen, die mit Erfordernissen der Beseitigung eines übermäßigen Haushaltsdefizits zusammenhängen – Art. 2 EUV – Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV – Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit – Befugnisse der Legislative und der Exekutive der Mitgliedstaaten zur Kürzung der Bezüge von Richtern – Voraussetzungen.#Rechtssache C-762/23.
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62023CJ0762
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ECLI:EU:C:2025:400
| 2025-06-05T00:00:00 |
Gerichtshof, Spielmann
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Sammlung der Rechtsprechung – allgemein
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62023CJ0762
URTEIL DES GERICHTSHOFS (Siebte Kammer)
5. Juni 2025 (*1)
„Vorlage zur Vorabentscheidung – Zahlung einer Vergütung an Richter und Staatsanwälte bei Eintritt in den Ruhestand – Aussetzung und Abschaffung dieser Zahlung aus Gründen, die mit Erfordernissen der Beseitigung eines übermäßigen Haushaltsdefizits zusammenhängen – Art. 2 EUV – Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV – Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit – Befugnisse der Legislative und der Exekutive der Mitgliedstaaten zur Kürzung der Bezüge von Richtern – Voraussetzungen“
In der Rechtssache C‑762/23
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Curtea de Apel București (Berufungsgericht Bukarest, Rumänien) mit Entscheidung vom 27. November 2023, beim Gerichtshof eingegangen am 12. Dezember 2023, in dem Verfahren
RL,
QN,
MR,
JT,
VS,
AX
gegen
Curtea de Apel Bucureşti,
Beteiligter:
Consiliul Naţional pentru Combaterea Discriminării,
erlässt
DER GERICHTSHOF (Siebte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten M. Gavalec (Berichterstatter) sowie der Richter Z. Csehi und F. Schalin,
Generalanwalt: D. Spielmann,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
–
der rumänischen Regierung, vertreten durch E. Gane und L. Ghiță als Bevollmächtigte,
–
der Europäischen Kommission, vertreten durch Ș. Ciubotaru, K. Herrmann und F. Ronkes Agerbeek als Bevollmächtigte,
aufgrund der nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Entscheidung, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,
folgendes
Urteil
1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 in Verbindung mit Art. 2 EUV.
2 Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen den ehemaligen Richterinnen RL, QN, MR, JT, VS und AX auf der einen Seite und der Curtea de Apel Bucureşti (Berufungsgericht Bukarest, Rumänien) auf der anderen Seite, der darauf beruht, dass diesen Richterinnen bei ihrem Eintritt in den Ruhestand keine entsprechende Vergütung gezahlt wurde.
Rechtlicher Rahmen
Gesetz Nr. 24/2000
3 Art. 66 der Legea nr. 24/2000 privind normele de tehnică legislativă pentru elaborarea actelor normative (Gesetz Nr. 24/2000 über Regeln der Gesetzgebungstechnik zur Abfassung normativer Rechtsakte) vom 27. März 2000 (Monitorul Oficial al României, Teil I, Nr. 260 vom 21. April 2010) bestimmt:
„(1) In besonderen Fällen kann die Anwendung eines normativen Rechtsakts durch einen anderen Rechtsakt desselben oder höheren Ranges ausgesetzt werden. In diesem Fall werden das Datum, an dem die Aussetzung erfolgt, sowie ihre bestimmte Dauer ausdrücklich angegeben.
…
(3) Die Verlängerung der Aussetzung, die Änderung oder die Aufhebung des ausgesetzten normativen Rechtsakts oder der ausgesetzten Bestimmung kann Gegenstand eines normativen Rechtsakts oder einer ausdrücklichen Bestimmung mit Wirkung ab dem Zeitpunkt des Ablaufs der Aussetzung sein.
…“
Altes Richter- und Staatsanwältegesetz
4 Art. 74 der Legea nr. 303/2004 privind statutul judecătorilor și procurorilor (Gesetz Nr. 303/2004 über den Status von Richtern und Staatsanwälten) vom 28. Juni 2004 (Neubekanntmachung: Monitorul Oficial al României, Teil I, Nr. 826 vom 13. September 2005, im Folgenden: altes Richter- und Staatsanwältegesetz) sah vor:
„(1) Richter und Staatsanwälte haben für ihre Tätigkeit Anspruch auf eine Besoldung, die sich nach dem Grad des Gerichts oder der Staatsanwaltschaft, der wahrgenommenen Aufgabe, der Dienstdauer im Richteramt und in der Staatsanwaltschaft und anderen durch Gesetz festgelegten Kriterien bestimmt.
(2) Die Besoldungsansprüche von Richtern und Staatsanwälten dürfen nur in den in diesem Gesetz vorgesehenen Fällen gekürzt oder ausgesetzt werden. Die Besoldung von Richtern und Staatsanwälten wird durch ein besonderes Gesetz festgelegt. …“
5 In Art. 81 des alten Richter- und Staatsanwältegesetzes hieß es:
„(1) Richter und Staatsanwälte mit einer ununterbrochenen Dienstzeit von 20 Jahren in der Justiz erhalten bei Eintritt in den Ruhestand oder bei Ausscheiden aus dem Dienst aus anderen ihnen nicht zur Last zu legenden Gründen eine Vergütung in Höhe von sieben Bruttomonatsbezügen, die nach den gesetzlichen Vorschriften besteuert wird.
(2) Die in Abs. 1 vorgesehene Vergütung wird nur einmal während der Laufbahn eines Richters oder Staatsanwalts gewährt und ist nach Maßgabe des Gesetzes zu registrieren.
…“
Gesetz Nr. 285/2010
6 In der Begründung der Legea nr. 285/2010 privind salarizarea în anul 2011 a personalului plătit din fonduri publice (Gesetz Nr. 285/2010 über die Vergütung im Jahr 2011 des aus öffentlichen Mitteln bezahlten Personals) vom 28. Dezember 2010 (Monitorul Oficial al României, Teil I, Nr. 878 vom 28. Dezember 2010, im Folgenden: Gesetz Nr. 285/2010) heißt es: „Im Jahr 2010 haben sich die finanziellen Bedingungen trotz leichter Verbesserungen der Wirtschaftslage als schwieriger als ursprünglich vorgesehen erwiesen, da die Wirtschaftstätigkeit in Rumänien in den letzten Monaten nach wie vor unter der Rezession gelitten hat.“
7 Art. 13 Abs. 1 des Gesetzes sieht vor:
„Für das Jahr 2011 finden die Rechtsvorschriften über die Gewährung von Beihilfen bzw. Vergütungen bei Eintritt in den Ruhestand, Ausscheiden aus dem Militärdienst, Ausscheiden aus dem Dienst oder Versetzung in die Reservearmee keine Anwendung.“
8 Die Aussetzung der Zahlung dieser Vergütungen wurde jedes Jahr bis einschließlich 2023 verlängert, zuletzt durch die Ordonanța de urgență a Guvernului nr. 168/2022, privind unele măsuri fiscal-bugetare, prorogarea unor termene, precum și pentru modificarea și completarea unor acte normative (Dringlichkeitsverordnung Nr. 168/2022 der Regierung über bestimmte steuerlich-budgetäre Maßnahmen, die Verlängerung bestimmter Fristen sowie die Änderung und Ergänzung bestimmter normativer Rechtsakte) vom 8. Dezember 2022 (Monitorul Oficial al României, Teil I, Nr. 1186 vom 9. Dezember 2022).
Neues Richter- und Staatsanwältegesetz
9 Durch die Legea nr. 303/2022, privind statutul judecătorilor și procurorilor (Gesetz Nr. 303/2022 über den Status von Richtern und Staatsanwälten) vom 15. November 2022 (Monitorul Oficial al României, Teil I, Nr. 1102 vom 16. November 2022, im Folgenden: neues Richter- und Staatsanwältegesetz), die am 16. Dezember 2022 in Kraft trat, wurde das alte Richter- und Staatsanwältegesetz aufgehoben.
Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefrage
10 Die Klägerinnen des Ausgangsverfahrens, ehemalige Richterinnen, erhielten bei ihrem Eintritt in den Ruhestand nicht die in Art. 81 Abs. 1 des alten Richter- und Staatsanwältegesetzes vorgesehene Vergütung in Höhe von sieben Bruttomonatsbezügen (im Folgenden: Übergangsgeld). Konkret hatten Art. 13 Abs. 1 des Gesetzes Nr. 285/2010 und die Bestimmungen, mit denen die Aussetzung der Zahlung des Übergangsgeldes ohne Unterbrechung bis einschließlich 2023 verlängert wurde, zur Folge, dass bis zu seiner Aufhebung am 16. Dezember 2022 durch das neue Richter- und Staatsanwältegesetz die Zahlung des Übergangsgeldes für 13 aufeinanderfolgende Jahre ausgesetzt wurde.
11 Die Klägerinnen des Ausgangsverfahrens erhoben beim Tribunalul București (Regionalgericht Bukarest, Rumänien) Klage, mit der sie u. a. die Aussetzung der Zahlung des Übergangsgeldes beanstandeten und die Zahlung von Schadensersatz in Höhe des ihnen nicht gezahlten Übergangsgeldes beantragten.
12 Mit Urteil vom 9. Mai 2023 wies dieses Gericht die Klage als verfrüht ab und begründete dies im Wesentlichen damit, dass unter Berücksichtigung der wiederholten Aussetzung von Art. 81 Abs. 1 des alten Richter- und Staatsanwältegesetzes durch aufeinanderfolgende normative Rechtsakte, die als mit der rumänischen Verfassung vereinbar erachtet würden, das Übergangsgeld nicht in das Vermögen der Klägerinnen des Ausgangsverfahrens eingegangen sei, sondern der Anspruch auf dieses Übergangsgeld von einer Neuregelung durch den Gesetzgeber abhänge.
13 Die Klägerinnen des Ausgangsverfahrens legten gegen dieses Urteil bei der Curtea de Apel București (Berufungsgericht Bukarest, Rumänien), dem vorlegenden Gericht, Berufung ein und machten u. a. geltend, dass die Weigerung, ihnen das Übergangsgeld zu gewähren, in Anbetracht des sich aus Art. 19 EUV ergebenden Grundsatzes der richterlichen Unabhängigkeit das Recht auf Eigentum verletze. Zudem hätte die Aussetzung der Zahlung des Übergangsgeldes, die mit der schweren Wirtschaftskrise in Rumänien im Jahr 2010 begründet worden sei, nur vorübergehend sein sollen. Daher sei die Aufhebung von Art. 81 Abs. 1 des alten Richter- und Staatsanwältegesetzes unverhältnismäßig.
14 Das vorlegende Gericht weist zunächst darauf hin, dass das Übergangsgeld, das die mindestens zwanzigjährige ununterbrochene, unter anerkennenswerten Bedingungen erfolgte Arbeit der Richter habe honorieren sollen, als Gratifikation mit Besoldungscharakter oder als Vergütung angesehen worden sei, da es sich unmittelbar aus dem Dienstverhältnis ergeben habe.
15 Die Aussetzung der Zahlung des Übergangsgeldes für die Jahre 2010 bis 2022 sei aufgrund von Erfordernissen der Beseitigung des übermäßigen Haushaltsdefizits des rumänischen Staates beschlossen worden. Insoweit sei in der Begründung mehrerer Dringlichkeitsverordnungen der Regierung, mit denen die Zahlung des Übergangsgeldes ausgesetzt worden sei, auf die Gefahr hingewiesen worden, dass das Haushaltsdefizit Rumäniens ohne den Erlass derartiger Maßnahmen zur Kürzung der Bezüge die in Art. 126 Abs. 2 AEUV in Verbindung mit Art. 1 des dem EU-Vertrag und dem AEU-Vertrag beigefügten Protokolls (Nr. 12) über das Verfahren bei einem übermäßigen Defizit vorgesehene Schwelle von 3 % des Bruttoinlandsprodukts (BIP) überschreite, was die Kommission veranlassen könnte, ein Verfahren wegen übermäßigen Defizits gegen diesen Mitgliedstaat einzuleiten.
16 Auch wenn die Curtea Constituțională (Verfassungsgerichtshof, Rumänien) festgestellt habe, dass der Anspruch auf das Übergangsgeld nicht unter die Grundrechte falle, so dass es dem rumänischen Gesetzgeber freigestanden habe, dessen Zahlung abzuschaffen, stelle sich die Frage, ob die langfristige Aussetzung einer solchen Zahlung, gefolgt von der Abschaffung eines solchen Übergangsgeldes, nicht gegen den sich aus Art. 19 EUV ergebenden Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit verstoße. Die finanzielle Stabilität der Richter, einschließlich der Richter im Ruhestand, sei nämlich eine der Garantien für die Unabhängigkeit der Justiz. Auf diesen Aspekt wiesen im Übrigen verschiedene internationale Instrumente hin, insbesondere Nr. 54 der am 17. November 2010 angenommenen Empfehlung CM/Rec(2010)12 des Ministerkomitees des Europarats („Richter: Unabhängigkeit, Effizienz und Verantwortung“) (im Folgenden: Empfehlung des Ministerkomitees von 2010) und Nr. 6.4 der am 10. Juli 1998 in Straßburg vom Europarat angenommenen Europäischen Charta über das Richterstatut.
17 Unter diesen Umständen hat die Curtea de Apel București (Berufungsgericht Bukarest) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:
Ist Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 in Verbindung mit Art. 2 EUV dahin auszulegen, dass der Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit es verbietet, rumänischen Richtern mit einer ununterbrochenen Dienstzeit von 20 Jahren in der Justiz das Recht zu entziehen, bei Eintritt in den Ruhestand oder bei Ausscheiden aus dem Dienst aus anderen ihnen nicht zur Last zu legenden Gründen einen Betrag in Höhe von sieben Bruttomonatsbezügen zu beziehen, wenn die Ausübung dieses Rechts auf Dienstbezüge aus Gründen, die in erster Linie mit den Erfordernissen der Beseitigung eines übermäßigen Haushaltsdefizits zusammenhängen (der Gesetzgeber verweist ausdrücklich auf den im AEUV festgelegten Schwellenwert von 3 % des BIP), vor seiner Aufhebung ununterbrochen und für einen längeren Zeitraum ausgesetzt war?
Zur Vorlagefrage
18 Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 in Verbindung mit Art. 2 EUV dahin auszulegen ist, dass der Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit dem entgegensteht, dass Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats, nach denen Richter und Staatsanwälte mit einer ununterbrochenen Dienstzeit von 20 Jahren in der Justiz bei Eintritt in den Ruhestand oder bei Ausscheiden aus dem Dienst aus anderen ihnen nicht zur Last zu legenden Gründen einst eine entsprechende Vergütung erhielten, aufgehoben werden, nachdem sie über einen längeren ununterbrochenen Zeitraum aus Gründen, die in erster Linie mit den Erfordernissen der Beseitigung eines übermäßigen Haushaltsdefizits dieses Staates zusammenhängen, ausgesetzt waren.
19 Nach ständiger Rechtsprechung müssen die Mitgliedstaaten, auch wenn die Organisation ihrer Justiz in ihre Zuständigkeit fällt, gleichwohl bei der Ausübung dieser Zuständigkeit die Verpflichtungen einhalten, die sich für sie aus dem Unionsrecht ergeben, und zwar nicht zuletzt, wenn sie die Modalitäten für die Festlegung der Bezüge von Richtern erlassen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 18. Mai 2021, Asociaţia Forumul Judecătorilor din România u. a., C‑83/19, C‑127/19, C‑195/19, C‑291/19, C‑355/19 und C‑397/19, EU:C:2021:393, Rn. 111, sowie vom 25. Februar 2025, Sąd Rejonowy w Białymstoku und Adoreikė, C‑146/23 und C‑374/23, EU:C:2025:109, Rn. 33).
20 Art. 19 EUV, mit dem der in Art. 2 EUV proklamierte Wert der Rechtsstaatlichkeit konkretisiert wird, überträgt den nationalen Gerichten und dem Gerichtshof die Aufgabe, die volle Anwendung des Unionsrechts in allen Mitgliedstaaten sowie den gerichtlichen Schutz, der dem Einzelnen aus diesem Recht erwächst, zu gewährleisten. Dabei ist die Wahrung der Unabhängigkeit dieser Einrichtungen von grundlegender Bedeutung. Dieses Erfordernis, das dem richterlichen Auftrag inhärent ist, gehört nämlich zum Wesensgehalt des Grundrechts auf wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz und auf ein faires Verfahren, dem als Garant für den Schutz sämtlicher dem Einzelnen aus dem Unionsrecht erwachsender Rechte und für die Wahrung der in Art. 2 EUV genannten Werte, die den Mitgliedstaaten gemeinsam sind, u. a. des Wertes der Rechtsstaatlichkeit, grundlegende Bedeutung zukommt (Urteil vom 25. Februar 2025, Sąd Rejonowy w Białymstoku und Adoreikė, C‑146/23 und C‑374/23, EU:C:2025:109, Rn. 47 und 48 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).
21 Der Begriff der Unabhängigkeit der Gerichte setzt u. a. voraus, dass die betreffende Einrichtung ihre richterlichen Funktionen in völliger Autonomie ausübt, ohne mit irgendeiner Stelle hierarchisch verbunden oder ihr untergeordnet zu sein und ohne von irgendeiner Stelle Anordnungen oder Anweisungen zu erhalten, und dass sie auf diese Weise vor Interventionen oder Druck von außen geschützt ist, die oder der die Unabhängigkeit des Urteils ihrer Mitglieder gefährden und deren Entscheidungen beeinflussen könnten. Neben der Nichtabsetzbarkeit der Mitglieder der betreffenden Einrichtung stellt auch eine der Bedeutung der von ihnen ausgeübten Funktionen entsprechende Vergütung eine wesentliche Garantie für die richterliche Unabhängigkeit dar (Urteil vom 25. Februar 2025, Sąd Rejonowy w Białymstoku und Adoreikė, C‑146/23 und C‑374/23, EU:C:2025:109, Rn. 49 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).
22 Auch wenn nach dem für einen Rechtsstaat kennzeichnenden Grundsatz der Gewaltenteilung die Unabhängigkeit der Gerichte gegenüber der Legislative und der Exekutive eines Mitgliedstaats zu gewährleisten ist, ist die bloße Tatsache, dass die Legislative und die Exekutive in die Ermittlung der Bezüge von Richtern involviert sind, als solche nicht geeignet, eine Abhängigkeit der Richter von ihnen zu schaffen oder Zweifel an der Unabhängigkeit oder Unparteilichkeit der Richter zu wecken. Die Mitgliedstaaten verfügen nämlich über ein weites Ermessen bei der Aufstellung ihres Haushalts und seiner Verteilung auf die verschiedenen Posten öffentlicher Ausgaben. Dieses weite Ermessen schließt die Festlegung der Methode zur Berechnung dieser Ausgaben und insbesondere der Bezüge von Richtern ein, da die nationale Legislative und Exekutive am besten in der Lage sind, dem besonderen sozioökonomischen Kontext des Mitgliedstaats Rechnung zu tragen, in dem der Haushalt aufgestellt und die richterliche Unabhängigkeit gewährleistet werden soll (Urteil vom 25. Februar 2025, Sąd Rejonowy w Białymstoku und Adoreikė, C‑146/23 und C‑374/23, EU:C:2025:109, Rn. 50 und 51).
23 Gleichwohl dürfen die nationalen Vorschriften über die Bezüge von Richtern bei den Bürgern keine berechtigten Zweifel daran aufkommen lassen, dass die betreffenden Richter nicht durch äußere Faktoren beeinflussbar und in Bezug auf die widerstreitenden Interessen neutral sind. In diesem Zusammenhang können die Chartas, Berichte und anderen Dokumente der Einrichtungen des Europarats oder des Systems der Vereinten Nationen relevante Anhaltspunkte für die Auslegung des Unionsrechts angesichts in diesem Bereich erlassener nationaler Bestimmungen liefern (Urteil vom 25. Februar 2025, Sąd Rejonowy w Białymstoku und Adoreikė, C‑146/23 und C‑374/23, EU:C:2025:109, Rn. 52 und 53).
24 Wie der Gerichtshof im Urteil vom 25. Februar 2025, Sąd Rejonowy w Białymstoku und Adoreikė (C‑146/23 und C‑374/23, EU:C:2025:109, Rn. 65), entschieden hat, können die Legislative und die Exekutive eines Mitgliedstaats von den nationalen Rechtsvorschriften abweichen, in denen die Modalitäten für die Ermittlung der Bezüge von Richtern in objektiver Weise definiert werden, und beschließen, die Höhe dieser Bezüge zu kürzen, sofern eine Reihe von Anforderungen erfüllt ist.
25 Erstens muss nach dem Grundsatz der Rechtssicherheit eine Kürzung der Besoldung oder des Ruhegehalts von Richtern gesetzlich festgelegt sowie objektiv, vorhersehbar und transparent sein. Das entsprechende Gesetz kann die Mitwirkung der Sozialpartner, speziell von Organisationen, die die betreffenden Richter vertreten, vorsehen. In diesem Kontext trägt die Transparenz des Gesetzgebungsverfahrens dazu bei, die richterliche Unabhängigkeit zu gewährleisten (Urteil vom 25. Februar 2025, Sąd Rejonowy w Białymstoku und Adoreikė, C‑146/23 und C‑374/23, EU:C:2025:109, Rn. 54 und 66).
26 Zweitens muss eine Kürzung der Besoldung oder des Ruhegehalts von Richtern durch eine dem Gemeinwohl dienende Zielsetzung wie das Erfordernis, ein übermäßiges Haushaltsdefizit im Sinne von Art. 126 Abs. 1 AEUV abzubauen, gerechtfertigt sein, wobei die Möglichkeit für einen Mitgliedstaat, sich auf ein solches Erfordernis zu berufen, nicht voraussetzt, dass gegen ihn ein Verfahren gemäß dem dem EU-Vertrag und dem AEU-Vertrag beigefügten Protokoll (Nr. 12) über das Verfahren bei einem übermäßigen Defizit eröffnet wurde (Urteil vom 25. Februar 2025, Sąd Rejonowy w Białymstoku und Adoreikė, C‑146/23 und C‑374/23, EU:C:2025:109, Rn. 67 und 68 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).
27 Die Haushaltsgründe, die den Erlass einer von den allgemeinen Vorschriften im Bereich der Bezüge von Richtern abweichenden Maßnahme gerechtfertigt haben, müssen klar dargelegt werden. Außerdem dürfen solche Maßnahmen, außer unter hinreichend begründeten außergewöhnlichen Umständen, nicht speziell nur auf die Mitglieder der nationalen Gerichte abzielen, sondern müssen sich in einen allgemeineren Rahmen einfügen, mit dem einer größeren Gruppe von Angehörigen des nationalen öffentlichen Dienstes ein Beitrag zu den unternommenen Haushaltsanstrengungen abverlangt werden soll (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 27. Februar 2018, Associação Sindical dos Juízes Portugueses, C‑64/16, EU:C:2018:117, Rn. 49, und vom 25. Februar 2025, Sąd Rejonowy w Białymstoku und Adoreikė, C‑146/23 und C‑374/23, EU:C:2025:109, Rn. 69).
28 Nr. 54 der Empfehlung des Ministerkomitees von 2010 sieht vor, dass zum Schutz vor einer Kürzung der Bezüge, die speziell auf Richter abzielt, besondere Rechtsvorschriften erlassen werden sollten. Dagegen steht nach Nr. 57 der Begründung dieser Empfehlung die Bestimmung, wonach nicht speziell die Bezüge von Richtern gekürzt werden sollten, einer Kürzung der Bezüge im Rahmen der staatlichen Politik zur generellen Reduzierung der Gehälter von Angehörigen des öffentlichen Dienstes nicht entgegen.
29 Wenn ein Mitgliedstaat Maßnahmen zur Haushaltskürzung erlässt, die seine Beamten und öffentlichen Bediensteten treffen, kann er folglich in einer Gesellschaft, die sich durch Solidarität auszeichnet (Art. 2 EUV), beschließen, diese Maßnahmen auch auf die nationalen Richter anzuwenden (Urteil vom 25. Februar 2025, Sąd Rejonowy w Białymstoku und Adoreikė, C‑146/23 und C‑374/23, EU:C:2025:109, Rn. 71).
30 Drittens muss nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, der einen allgemeinen Grundsatz des Unionsrechts darstellt (Urteil vom 8. März 2022, Bezirkshauptmannschaft Hartberg-Fürstenfeld [Unmittelbare Wirkung], C‑205/20, EU:C:2022:168, Rn. 31), eine Maßnahme zur Kürzung der Bezüge von Richtern geeignet sein, die Verwirklichung des verfolgten, dem Gemeinwohl dienenden Ziels zu gewährleisten, muss sich auf das zur Erreichung dieses Ziels unbedingt notwendige Maß beschränken und darf nicht außer Verhältnis zu ihm stehen; dies impliziert, dass die Bedeutung des Ziels gegen die Schwere des Eingriffs in den Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit abgewogen werden muss.
31 Daher muss eine Maßnahme dieser Art, die zur Verwirklichung der oben in Rn. 26 angesprochenen, dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzung geeignet erscheint, Ausnahmecharakter haben und vorübergehender Art sein, d. h., sie darf nicht über den zur Verwirklichung des verfolgten legitimen Ziels wie den Abbau eines übermäßigen Haushaltsdefizits erforderlichen Zeitraum hinaus angewandt werden. Außerdem darf die Auswirkung der Maßnahme auf die Bezüge von Richtern nicht außer Verhältnis zu dem verfolgten Ziel stehen (Urteil vom 25. Februar 2025, Sąd Rejonowy w Białymstoku und Adoreikė, C‑146/23 und C‑374/23, EU:C:2025:109, Rn. 73 und 74).
32 In Anbetracht des weiten Ermessens, über das die Mitgliedstaaten, wie oben in Rn. 22 dargelegt, bei der Aufstellung ihres Haushalts und seiner Verteilung auf die verschiedenen Posten öffentlicher Ausgaben verfügen, steht es einem Mitgliedstaat jedoch frei, eine gesetzgeberische Maßnahme zu erlassen, die nicht darauf gerichtet ist, von der Grundregelung zur Festlegung der Bezüge von Richtern abzuweichen, um einer Haushaltskrise zu begegnen, sondern darauf, diese Regelung für die Zukunft zu ändern, indem er die richterlichen Bezüge herabsetzt, um seine langfristige Haushaltslage zu verbessern.
33 Der Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit, der sich aus Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 in Verbindung mit Art. 2 EUV ergibt, kann einer solchen Änderung nicht entgegenstehen, auch wenn sie unbefristet ist, sofern die neu festgelegte Höhe der richterlichen Bezüge weiterhin ausreicht, um die Unabhängigkeit der Richter zu gewährleisten.
34 Die Wahrung der richterlichen Unabhängigkeit verlangt nämlich, dass die Höhe der Bezüge von Richtern auch dann, wenn die Richter einer Maßnahme zur Haushaltskürzung unterliegen, der Bedeutung der von ihnen ausgeübten Funktionen entsprechen muss, damit die Richter, im Sinne der oben in Rn. 21 angeführten Rechtsprechung, von Interventionen oder Druck von außen verschont bleiben, durch die oder den die Unabhängigkeit ihres Urteils gefährdet und ihre Entscheidungen beeinflusst werden könnten.
35 Insoweit geht aus der auf das Urteil vom 7. Februar 2019, Escribano Vindel (C‑49/18, EU:C:2019:106, Rn. 70, 71 und 73), zurückgehenden Rechtsprechung hervor, dass die Bezüge von Richtern unter Berücksichtigung des sozioökonomischen Kontexts des betreffenden Mitgliedstaats hoch genug sein müssen, um ihnen eine gewisse wirtschaftliche Unabhängigkeit zu verschaffen, die sie vor der Gefahr zu schützen vermag, dass etwaige Interventionen oder etwaiger Druck von außen der Neutralität ihrer Entscheidungen abträglich sein könnten. Die Bezüge müssen also so hoch sein, dass sie die Richter vor der Gefahr von Korruption schützen.
36 Die Beurteilung der Angemessenheit der richterlichen Bezüge setzt insbesondere voraus, dass die wirtschaftliche, soziale und finanzielle Situation im betreffenden Mitgliedstaat berücksichtigt wird. Aus diesem Blickwinkel ist es angebracht, die Durchschnittsbezüge von Richtern mit dem Durchschnittsgehalt im jeweiligen Staat zu vergleichen (Urteil vom 25. Februar 2025, Sąd Rejonowy w Białymstoku und Adoreikė, C‑146/23 und C‑374/23, EU:C:2025:109, Rn. 62).
37 Die Erwägungen in den beiden vorstehenden Randnummern gelten entsprechend für Richter im Ruhestand. Der Umstand, dass Richter im aktiven Dienst die Gewähr haben, dass sie nach ihrem Eintritt in den Ruhestand ein hinreichend hohes Ruhegehalt erhalten werden, ist nämlich geeignet, sie vor der Gefahr von Korruption während ihres aktiven Dienstes zu schützen.
38 Insoweit ist auf Nr. 54 der Empfehlung des Ministerkomitees von 2010 hinzuweisen, wonach die Zahlung eines Ruhegehalts, das in einem angemessenen Verhältnis zur Höhe der Bezüge von Richtern im aktiven Dienst stehen sollte, gewährleistet werden sollte. Ebenso ergibt sich aus Nr. 6.4 der oben in Rn. 16 angeführten Europäischen Charta über das Richterstatut, dass dieses Statut Richtern, die das gesetzliche Alter für das Ausscheiden aus dem Dienst erreicht haben, nachdem sie ihn eine bestimmte Zeit lang hauptberuflich ausgeübt haben, die Zahlung eines Ruhegehalts garantieren muss, dessen Höhe so nahe wie möglich an der Höhe ihrer letzten Bezüge für die Rechtsprechungstätigkeit liegen muss.
39 Viertens muss eine Kürzung der Bezüge Gegenstand einer wirksamen gerichtlichen Kontrolle nach den im Recht des betreffenden Mitgliedstaats vorgesehenen Verfahrensmodalitäten sein können.
40 Auch wenn es im Rahmen des in Art. 267 AEUV vorgesehenen Verfahrens nicht Sache des Gerichtshofs ist, die Normen des Unionsrechts auf einen Einzelfall anzuwenden, kann er den vorlegenden Gerichten, um ihnen eine zweckdienliche Antwort zu geben, auf der Grundlage der Akten des Ausgangsverfahrens und der schriftlichen Erklärungen, über die er verfügt, Hinweise geben, die ihnen eine Entscheidung ermöglichen (Urteil vom 25. Februar 2025, Sąd Rejonowy w Białymstoku und Adoreikė, C‑146/23 und C‑374/23, EU:C:2025:109, Rn. 77 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).
41 Hierzu ist erstens festzustellen, dass im vorliegenden Fall die Aufhebung von Art. 81 Abs. 1 des alten Richter- und Staatsanwältegesetzes durch das neue Richter- und Staatsanwältegesetz, wie in der oben in Rn. 6 angeführten Begründung des Gesetzes Nr. 285/2010 dargelegt, mit Erfordernissen der Beseitigung eines übermäßigen Haushaltsdefizits des betreffenden Mitgliedstaats gerechtfertigt wurde. Das vorlegende Gericht weist, wie oben aus Rn. 15 hervorgeht, ganz allgemein darauf hin, dass in der Begründung mehrerer von der Regierung erlassener Dringlichkeitsverordnungen zur Aussetzung der Zahlung des Übergangsgeldes die Gefahr hervorgehoben worden sei, dass das Haushaltsdefizit Rumäniens die in Art. 126 Abs. 2 AEUV in Verbindung mit Art. 1 des dem EU-Vertrag und dem AEU-Vertrag beigefügten Protokolls (Nr. 12) über das Verfahren bei einem übermäßigen Defizit vorgesehene Schwelle von 3 % des BIP überschreiten könnte, sowie die Gefahr für diesen Mitgliedstaat, dass die Kommission gegen ihn ein Verfahren wegen übermäßigen Defizits einleiten könnte, wenn nicht umgehend Maßnahmen zur Kürzung der Bezüge ergriffen würden.
42 Zweitens führt die Abschaffung des Übergangsgeldes zu einer begrenzten Kürzung der Bezüge rumänischer Richter. Zudem betrifft diese Maßnahme nicht die Hauptvergütung rumänischer Richter, sondern eine zusätzliche Vergütung, die nur einmal bei Eintritt in den Ruhestand bezogen werden konnte. Vorbehaltlich der vom vorlegenden Gericht vorzunehmenden Prüfungen erscheint die Abschaffung des Übergangsgeldes daher nicht unverhältnismäßig.
43 Drittens stellt, wie die Kommission in ihren schriftlichen Erklärungen unter Berufung auf Schaubild 34 ihrer Mitteilung COM(2023) 309 final („EU-Justizbarometer 2023“) hervorgehoben hat, das durchschnittliche Jahresgehalt rumänischer Richter am Anfang der Laufbahn das 2,9fache und für Richter an den obersten Gerichten das 5,8fache des durchschnittlichen rumänischen Bruttojahresgehalts dar.
44 Aus den beiden vorstehenden Randnummern ergibt sich, dass die Bezüge der rumänischen Richter trotz der Aufhebung von Art. 81 Abs. 1 des alten Richter- und Staatsanwältegesetzes weiterhin der Bedeutung der von ihnen ausgeübten Funktionen entsprechen.
45 Viertens sind die Aussetzung und anschließende Aufhebung dieser Bestimmung Teil einer umfassenderen Politik der Kürzung der Bezüge des Personals des rumänischen öffentlichen Dienstes. So sah Art. 13 Abs. 1 des Gesetzes Nr. 285/2010 vor, dass „[f]ür das Jahr 2011 … die Rechtsvorschriften über die Gewährung von Beihilfen bzw. Vergütungen bei Eintritt in den Ruhestand, Ausscheiden aus dem Militärdienst, Ausscheiden aus dem Dienst oder Versetzung in die Reservearmee keine Anwendung [finden]“. Wie die Kommission in ihren schriftlichen Erklärungen ausgeführt hat, betraf die Abschaffung der mit der Versetzung in die Reservearmee einhergehenden Beihilfen Militärangehörige, Polizisten und Beamte mit besonderem Status im Strafvollzug.
46 Fünftens hat im Kontext der vorliegenden Rechtssache die Aufhebung von Art. 81 Abs. 1 des alten Richter- und Staatsanwältegesetzes, nachdem diese Bestimmung 13 Jahre lang ununterbrochen ausgesetzt worden war, dazu beigetragen, die nationale Rechtslage zu klären und damit Rechtssicherheit zu gewährleisten.
47 Vorbehaltlich der vom vorlegenden Gericht vorzunehmenden Prüfungen können sich die Klägerinnen des Ausgangsverfahrens auch nicht auf ein berechtigtes Vertrauen in die Weitergewährung des Übergangsgeldes berufen. Wie sich aus der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte ergibt, muss die berechtigte Erwartung, weiterhin in den Genuss des Eigentums kommen zu können, auf einer „ausreichenden Grundlage im innerstaatlichen Recht“ beruhen, z. B. wenn sie durch eine gefestigte Rechtsprechung der Gerichte bestätigt wird oder wenn sie auf einer Rechtsvorschrift oder einem Rechtsakt in Bezug auf das fragliche Vermögensinteresse basiert (EGMR, 23. September 2014, Valle Pierimpiè Società Agricola S.P.A./Italien, CE:ECHR:2014:0923JUD004615411, § 38).
48 Im vorliegenden Fall ergibt sich jedoch sowohl aus der oben in Rn. 16 angeführten Rechtsprechung der Curtea Constituțională (Verfassungsgerichtshof) als auch aus Art. 66 Abs. 3 des oben in Rn. 3 angeführten Gesetzes Nr. 24/2000, dass der Anspruch auf ein Übergangsgeld seit dem Jahr 2010 nicht als auf einer ausreichenden Grundlage im rumänischen Recht beruhend angesehen werden kann. Die Curtea Constituțională (Verfassungsgerichtshof) hat nämlich festgestellt, dass der Anspruch auf das Übergangsgeld kein Grundrecht sei und es dem rumänischen Gesetzgeber daher freigestanden habe, dessen Zahlung abzuschaffen. Was Art. 66 Abs. 3 des Gesetzes Nr. 24/2000 anbelangt, so sieht er vor, dass die Aufhebung einer ausgesetzten Bestimmung Gegenstand einer ausdrücklichen Bestimmung mit Wirkung ab dem Zeitpunkt des Ablaufs der Aussetzung sein kann.
49 Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 in Verbindung mit Art. 2 EUV dahin auszulegen ist, dass der Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit dem nicht entgegensteht, dass Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats, nach denen Richter und Staatsanwälte mit einer ununterbrochenen Dienstzeit von 20 Jahren in der Justiz bei Eintritt in den Ruhestand oder bei Ausscheiden aus dem Dienst aus anderen ihnen nicht zur Last zu legenden Gründen einst eine entsprechende Vergütung erhielten, aufgehoben werden, nachdem sie über einen längeren ununterbrochenen Zeitraum aus Gründen, die in erster Linie mit den Erfordernissen der Beseitigung eines übermäßigen Haushaltsdefizits dieses Staates zusammenhängen, ausgesetzt waren.
Kosten
50 Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Siebte Kammer) für Recht erkannt:
Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV ist in Verbindung mit Art. 2 EUV
dahin auszulegen, dass
der Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit dem nicht entgegensteht, dass Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats, nach denen Richter und Staatsanwälte mit einer ununterbrochenen Dienstzeit von 20 Jahren in der Justiz bei Eintritt in den Ruhestand oder bei Ausscheiden aus dem Dienst aus anderen ihnen nicht zur Last zu legenden Gründen einst eine entsprechende Vergütung erhielten, aufgehoben werden, nachdem sie über einen längeren ununterbrochenen Zeitraum aus Gründen, die in erster Linie mit den Erfordernissen der Beseitigung eines übermäßigen Haushaltsdefizits dieses Staates zusammenhängen, ausgesetzt waren.
Unterschriften
(*1) Verfahrenssprache: Rumänisch.
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Urteil des Gerichtshofs (Dritte Kammer) vom 28. November 2024.#Strafverfahren gegen PT.#Vorabentscheidungsersuchen des Spetsializiran nakazatelen sad.#Vorlage zur Vorabentscheidung – Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts – Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen – Straftaten und Sanktionen in den Bereichen des illegalen Drogenhandels und der Bekämpfung der organisierten Kriminalität – Möglichkeit einer Herabsetzung der einschlägigen Strafen – Tragweite – Rahmenbeschluss 2004/757/JI – Art. 4 und 5 – Rahmenbeschluss 2008/841/JI – Art. 3 und 4 – Nationale Regelung, mit der das Unionsrecht nicht durchgeführt wird – Art. 51 Abs. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Wirksamer gerichtlicher Rechtsschutz – Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV – Strafverfahren gegen mehrere Personen – Im nationalen Recht vorgesehene Verständigung – Genehmigung durch einen Ad-hoc-Spruchkörper – Zustimmung der Mitangeklagten.#Rechtssache C-432/22.
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62022CJ0432
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ECLI:EU:C:2024:987
| 2024-11-28T00:00:00 |
Gerichtshof, Pikamäe
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Sammlung der Rechtsprechung – allgemein – Abschnitt „Informationen über nicht veröffentlichte Entscheidungen“
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62022CJ0432
URTEIL DES GERICHTSHOFS (Dritte Kammer)
28. November 2024 (*1)
„Vorlage zur Vorabentscheidung – Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts – Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen – Straftaten und Sanktionen in den Bereichen des illegalen Drogenhandels und der Bekämpfung der organisierten Kriminalität – Möglichkeit einer Herabsetzung der einschlägigen Strafen – Tragweite – Rahmenbeschluss 2004/757/JI – Art. 4 und 5 – Rahmenbeschluss 2008/841/JI – Art. 3 und 4 – Nationale Regelung, mit der das Unionsrecht nicht durchgeführt wird – Art. 51 Abs. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Wirksamer gerichtlicher Rechtsschutz – Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV – Strafverfahren gegen mehrere Personen – Im nationalen Recht vorgesehene Verständigung – Genehmigung durch einen Ad-hoc-Spruchkörper – Zustimmung der Mitangeklagten“
In der Rechtssache C-432/22
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Spetsializiran nakazatelen sad (Spezialisiertes Strafgericht, Bulgarien) mit Entscheidung vom 28. Juni 2022, beim Gerichtshof eingegangen am 28. Juni 2022, in dem Strafverfahren gegen
PT,
Beteiligte:
Spetsializirana prokuratura,
erlässt
DER GERICHTSHOF (Dritte Kammer)
unter Mitwirkung der Präsidentin der Zweiten Kammer K. Jürimäe in Wahrnehmung der Aufgaben des Präsidenten der Dritten Kammer sowie der Richter N. Jääskinen und N. Piçarra (Berichterstatter),
Generalanwalt: P. Pikamäe,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
–
der Europäischen Kommission, vertreten durch S. Grünheid, M. Wasmeier und I. Zaloguin als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 14. Dezember 2023
folgendes
Urteil
1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 5 des Rahmenbeschlusses 2004/757/JI des Rates vom 25. Oktober 2004 zur Festlegung von Mindestvorschriften über die Tatbestandsmerkmale strafbarer Handlungen und die Strafen im Bereich des illegalen Drogenhandels (ABl. 2004, L 335, S. 8), von Art. 4 des Rahmenbeschlusses 2008/841/JI des Rates vom 24. Oktober 2008 zur Bekämpfung der organisierten Kriminalität (ABl. 2008, L 300, S. 42), von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV sowie der Art. 47 und 52 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta).
2 Es ergeht im Rahmen eines Strafverfahrens gegen PT und weitere Personen, die wegen Führung einer und/oder Beteiligung an einer organisierten kriminellen Vereinigung verfolgt werden.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
EU-Vertrag
3 Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV bestimmt:
„Die Mitgliedstaaten schaffen die erforderlichen Rechtsbehelfe, damit ein wirksamer Rechtsschutz in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen gewährleistet ist.“
Rahmenbeschluss 2004/757
4 In Art. 4 („Strafen“) Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2004/757 heißt es:
„Jeder Mitgliedstaat trifft die erforderlichen Maßnahmen, um sicherzustellen, dass die in Artikel 2 und 3 genannten Straftaten mit wirksamen, verhältnismäßigen und abschreckenden strafrechtlichen Sanktionen bedroht sind.
Jeder Mitgliedstaat trifft die erforderlichen Maßnahmen, um sicherzustellen, dass die in Artikel 2 genannten Straftaten mit Freiheitsstrafen im Höchstmaß von mindestens einem bis drei Jahren bedroht sind.“
5 Art. 5 („Besondere Umstände“) des Rahmenbeschlusses 2004/757 sieht vor:
„Ungeachtet des Artikels 4 kann jeder Mitgliedstaat die erforderlichen Maßnahmen ergreifen, um sicherzustellen, dass die in Artikel 4 vorgesehenen Strafen gemildert werden können, wenn der Straftäter
a)
sich von seinen kriminellen Aktivitäten im Bereich des illegalen Handels mit Drogen und Grundstoffen lossagt und
b)
den Verwaltungs- oder Justizbehörden Informationen liefert, die sie nicht auf andere Weise erhalten könnten, und ihnen auf diese Weise hilft,
i)
die Auswirkungen der Straftat zu verhindern oder abzumildern,
ii)
andere Straftäter zu ermitteln oder vor Gericht zu bringen,
iii)
Beweise zu sammeln oder
iv)
weitere Straftaten im Sinne der Artikel 2 und 3 zu verhindern.“
Rahmenbeschluss 2008/841
6 In Art. 3 („Sanktionen“) Abs. 1 Buchst. a des Rahmenbeschlusses 2008/841 heißt es:
„Jeder Mitgliedstaat trifft die erforderlichen Maßnahmen, um sicherzustellen, dass
a)
die in Artikel 2 Buchstabe a genannte Straftat mit einer Freiheitsstrafe im Höchstmaß von mindestens zwei bis fünf Jahren bedroht wird…“
7 Art. 4 („Besondere Umstände“) des Rahmenbeschlusses 2008/841 sieht vor:
„Jeder Mitgliedstaat kann die erforderlichen Maßnahmen ergreifen, um sicherzustellen, dass die in Artikel 3 vorgesehenen Strafen gemildert werden können oder dass der Straftäter straffrei bleibt, wenn er beispielsweise
a)
sich von seinen kriminellen Tätigkeiten lossagt und
b)
den Verwaltungs- oder Justizbehörden Informationen liefert, die sie nicht auf andere Weise hätten erhalten können, und ihnen auf diese Weise hilft,
i)
die Auswirkungen der Straftat zu verhindern, zu beenden oder abzuschwächen,
ii)
die anderen Straftäter zu ermitteln oder vor Gericht zu bringen,
iii)
Beweise zu sammeln,
iv)
der kriminellen Vereinigung ihre Mittel oder die Erträge aus ihren Straftaten zu entziehen oder
v)
die Begehung weiterer Straftaten nach Artikel 2 zu verhindern.“
Bulgarisches Recht
NK
8 Art. 55 Abs. 1 des Nakazatelen kodeks (Strafgesetzbuch) in seiner auf das Ausgangsverfahren anwendbaren Fassung (im Folgenden: NK) bestimmt:
„Wenn außergewöhnliche oder zahlreiche mildernde Umstände vorliegen und sich die mildeste gesetzlich vorgesehene Strafe als unverhältnismäßig erweist,
1. verhängt das Gericht eine Strafe unterhalb des Mindestmaßes;
…“
9 Art. 321 NK sieht vor:
„…
(2) Die Beteiligung an einer [organisierten kriminellen Vereinigung] wird mit Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu sechs Jahren bestraft.
(3) Ist die [organisierte kriminelle] Vereinigung bewaffnet oder ist sie in Bereicherungsabsicht oder mit dem Ziel gebildet worden, die in... Art. 354a Abs. 1 und 2... genannten Straftaten zu begehen, werden folgende Strafen verhängt:
…
2. Für Straftaten nach Abs. 2: Freiheitsstrafe von drei Jahren bis zu zehn Jahren.
…“
10 Art. 354a Abs. 1 NK bestimmt:
„Die Herstellung, die Verarbeitung, der Erwerb und der Besitz von Betäubungsmitteln oder deren Äquivalenten ohne gesetzliche Erlaubnis zum Zweck der Verbreitung sowie die Verbreitung von Betäubungsmitteln oder entsprechenden Stoffen werden im Fall hoch gefährlicher Betäubungsmittel oder entsprechender Stoffe mit Freiheitsstrafe von zwei Jahren bis zu acht Jahren und mit Geldstrafe von fünftausend bis zwanzigtausend [bulgarischen Leva (BGN) (etwa 2260 bis 10230 Euro)] und im Fall gefährlicher Betäubungsmittel oder entsprechender Stoffe mit Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu sechs Jahren und mit Geldstrafe von zweitausend bis zehntausend BGN (etwa 1020 bis 5115 Euro) bestraft....“
NPK
11 Art. 381 („Verständigung über die Sache in der vorgerichtlichen Phase“) des Nakazatelno protsesualen kodeks (Strafprozessordnung) in seiner auf das Ausgangsverfahren anwendbaren Fassung (im Folgenden: NPK) bestimmt:
„(1) Nach Abschluss der Ermittlungen kann auf Vorschlag des Staatsanwalts oder des Verteidigers zwischen ihnen eine Vereinbarung geschlossen werden, um die Sache beizulegen....
…
(4) In der Verständigung kann die Strafe auch dann gemäß den Art. 55 NK genannten Voraussetzungen festgesetzt werden, wenn keine außergewöhnlichen oder zahlreichen mildernden Umstände vorliegen.
(5) Die Verständigung wird schriftlich ausgefertigt und enthält das Einvernehmen zu folgenden Fragen:
1. Wurde eine Tat begangen, wurde sie von dem Beschuldigten begangen und wurde sie schuldhaft begangen, stellt die Tat eine Straftat dar und wie ist sie rechtlich einzuordnen?
2. Welcher Art muss die Strafe sein, und wie hoch muss sie sein?
…
(6) Die Verständigung wird vom Staatsanwalt und vom Verteidiger unterzeichnet. Der Beschuldigte unterzeichnet die Verständigung, wenn er ihr zustimmt, nachdem er erklärt hat, dass er auf eine Entscheidung seiner Sache im ordentlichen Verfahren verzichtet.
(7) Wird das Verfahren gegen mehrere Personen oder wegen mehrerer Straftaten geführt, kann die Verständigung von einigen dieser Personen oder in Bezug auf einige dieser Straftaten geschlossen werden.
…“
12 Art. 383 („Folgen der Verständigung über die Sache“) Abs. 1 NPK sieht vor:
„Eine vom Gericht genehmigte Verständigung entfaltet die Wirkungen einer rechtskräftigen Verurteilung.“
13 In Art. 384 („Verständigung über die Sache im Gerichtsverfahren“) NPK heißt es:
„(1) Unter den Voraussetzungen und gemäß den Modalitäten dieses Kapitels kann das erstinstanzliche Gericht eine nach Einleitung des Gerichtsverfahrens, aber vor Abschluss der gerichtlichen Untersuchungsphase eingegangene Verständigung genehmigen.
…
(3) In diesem Fall wird die Verständigung [über die Sache] nur genehmigt, nachdem alle Beteiligten [des Verfahrens] zugestimmt haben.“
14 Art. 384a („Entscheidung über eine Verständigung mit einem der Angeklagten oder in Bezug auf eine der Straftaten“) NPK bestimmt:
„(1) Ist nach Einleitung des Gerichtsverfahrens, aber vor Abschluss der gerichtlichen Untersuchungsphase eine Verständigung mit einem der Angeklagten oder in Bezug auf eine der Straftaten erfolgt, setzt das Gericht das Verfahren aus.
(2) Ein anderer Spruchkörper entscheidet... über die eingegangene Verständigung.
(3) Der Spruchkörper nach Abs. 1 setzt die Prüfung der Sache fort, nachdem über die Verständigung entschieden worden ist.“
Ausgangsverfahren und Vorlagefragen
15 Am 25. März 2020 erhob die Spetsializirana prokuratura (Spezialisierte Staatsanwaltschaft, Bulgarien) beim Spetsializiran nakazatelen sad (Spezialisiertes Strafgericht, Bulgarien), dem vorlegenden Gericht, Anklage gegen 41 Personen, darunter SD und PT, wegen Führung einer und/oder Beteiligung an einer organisierten kriminellen Vereinigung, die sich in Bereicherungsabsicht das Ziel gesetzt hatte, Drogen zu verbreiten. PT wird wegen Beteiligung an dieser kriminellen Vereinigung und wegen Besitzes von Betäubungsmitteln zum Zweck der Verbreitung gemäß Art. 321 Abs. 2 und Abs. 3 Nr. 2 sowie Art. 354a Abs. 1 NK verfolgt.
16 Am 19. August 2020 wurde die Rechtssache zur Behebung von Verfahrensfehlern in der Anklageschrift an die Spetsializirana prokuratura (Spezialisierte Staatsanwaltschaft) zurückverwiesen.
17 In der vorgerichtlichen Phase gingen der Staatsanwalt und der Verteidiger von SD am 26. August 2020 eine Verständigung über die Sache ein, wonach gegen SD eine mildere als die gesetzlich vorgesehene Strafe verhängt werden sollte, da dieser sich im Hinblick auf die gegen ihn erhobenen Tatvorwürfe für schuldig bekannt hatte. In dieser Verständigung waren die vollständigen Namen und nationalen Identifikationsnummern der 40 übrigen Beschuldigten aufgeführt, deren Zustimmung zur Genehmigung der Verständigung nicht eingeholt worden war. Die Verständigung wurde am 1. September 2020 von einem anderen als dem ursprünglich mit der Rechtssache befassten Spruchkörper genehmigt.
18 Am 28. August 2020 reichte die Spetsializirana prokuratura (Spezialisierte Staatsanwaltschaft) eine berichtigte Fassung der Anklageschrift ein, und das Gerichtsverfahren wurde eingeleitet.
19 Am 17. November 2020 gingen der Staatsanwalt und der Verteidiger von PT eine Verständigung über die Sache ein, wonach gegen PT, nachdem er sich im Hinblick auf alle ihn betreffenden Tatvorwürfe für schuldig bekannt hatte, eine Freiheitsstrafe von drei Jahren verhängt würde, deren Vollstreckung für fünf Jahre zur Bewährung ausgesetzt würde. Um dem Urteil vom 5. September 2019, AH u. a. (Unschuldsvermutung) (C-377/18, EU:C:2019:670), Rechnung zu tragen, wurde diese Verständigung dahin abgeändert, dass die Namen und die nationalen Identifikationsnummern der Mitangeklagten weggelassen wurden. Die berichtigte Fassung dieser Verständigung datiert weiterhin vom 17. November 2020.
20 Am 18. Januar 2021 legte das vorlegende Gericht die in der vorstehenden Randnummer genannte Verständigung gemäß Art. 384a NPK seinem Präsidenten zu dem Zweck vor, einen anderen Spruchkörper zur Entscheidung über die Verständigung zu bestimmen. Am 21. Januar 2021 verweigerte der auf diese Weise bestimmte Spruchkörper die Genehmigung der Verständigung mit der Begründung, dass einige Angeklagte ihre nach Art. 384 Abs. 3 NPK erforderliche Zustimmung nicht erteilt hätten.
21 Am 10. Mai 2022 gingen der Staatsanwalt und der Verteidiger von PT eine neue, inhaltsgleiche Verständigung über die Sache ein und ersuchten das vorlegende Gericht, über diese Verständigung zu entscheiden, ohne die Zustimmung der Mitangeklagten einzuholen.
22 Am 18. Mai 2022 verweigerte der gemäß Art. 384a NPK bestimmte Spruchkörper die Genehmigung der in der vorstehenden Randnummer genannten Verständigung mit der Begründung, dass für diese Genehmigung gemäß Art. 384 Abs. 3 NPK die Zustimmung der 39 Mitangeklagten erforderlich sei.
23 Infolge dieser Weigerung bestätigten der Staatsanwalt, PT und sein Verteidiger am selben Tag, dass sie eine Verständigung eingehen wollten und dass das vorlegende Gericht, vor dem alle Beweise erhoben worden seien, diese Verständigung genehmigen solle, ohne die Zustimmung der Mitangeklagten einzuholen. Der Staatsanwalt äußerte jedoch Zweifel an der Unparteilichkeit des vorlegenden Gerichts in Bezug auf die Fortsetzung des Verfahrens gegen die Mitangeklagten, falls es die Verständigung genehmigen sollte. PT wiederum machte geltend, dass es eine Verletzung seiner Rechte aus der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (im Folgenden: EMRK) darstelle, wenn es ihm unmöglich sei, eine solche Verständigung einzugehen.
24 Zur Zulässigkeit des Vorabentscheidungsersuchens weist das vorlegende Gericht darauf hin, dass die bei ihm anhängige Rechtssache Straftaten, die in den Anwendungsbereich der Rahmenbeschlüsse 2004/757 und 2008/841 fielen, und damit „vom Unionsrecht [erfasste] Bereiche“ im Sinne von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV betreffe. Da diese Straftaten u. a. nach Art. 4 Abs. 1 Unterabs. 1 des Rahmenbeschlusses 2004/757 Gegenstand wirksamer, verhältnismäßiger und abschreckender strafrechtlicher Sanktionen sein müssten, unterliege das Strafverfahren, in dem diese Bestimmungen angewandt würden, den Anforderungen aus Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV und Art. 47 Abs. 1 und 2 der Charta. Außerdem stellten die im nationalen Recht vorgesehenen Modalitäten für Verständigungen eine „Durchführung des Rechts der Union“ – im vorliegenden Fall von Art. 5 des Rahmenbeschlusses 2004/757 und Art. 4 des Rahmenbeschlusses 2008/841 – im Sinne von Art. 51 Abs. 1 der Charta dar.
25 Unter diesen Umständen fragt sich das vorlegende Gericht erstens, ob Art. 384a NPK mit Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV und Art. 47 Abs. 1 und 2 der Charta vereinbar ist, da diese Bestimmung des bulgarischen Rechts im Rahmen eines gegen mehrere Personen eingeleiteten Strafverfahrens verlange, dass ein anderer Spruchkörper als der mit der Rechtssache befasste bestimmt werde, um über die von einem der Angeklagten in der gerichtlichen Phase dieses Verfahrens eingegangene Verständigung zu entscheiden. Art. 384a NPK solle es dem in der Sache befassten Spruchkörper ermöglichen, das Verfahren gegen die Mitangeklagten fortzusetzen, ohne Gefahr zu laufen, seine Objektivität und Unparteilichkeit zu verlieren. Das vorlegende Gericht geht jedoch davon aus, dass das Recht auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz verletzt würde, wenn die vor dem ursprünglich mit der Rechtssache befassten Spruchkörper gesammelten Beweise von einem anderen Spruchkörper gewürdigt werden müssten.
26 Das vorlegende Gericht fragt sich zweitens, ob Art. 384 Abs. 3 NPK mit Art. 5 des Rahmenbeschlusses 2004/757, Art. 4 des Rahmenbeschlusses 2008/841, Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV sowie den Art. 47 und 52 der Charta vereinbar ist, da nach Art. 384 Abs. 3 NPK in dem Fall, dass einer der Angeklagten in einem Strafverfahren gegen mehrere Personen in der gerichtlichen Phase dieses Verfahrens eine Verständigung eingegangen ist, für die Genehmigung der Verständigung die einstimmige Zustimmung der Mitangeklagten erforderlich ist, was in der vorgerichtlichen Phase eines Strafverfahrens nicht der Fall ist.
27 Nach Ansicht des vorlegenden Gerichts erreicht der Angeklagte durch die Verständigung und deren gerichtliche Genehmigung das von ihm angestrebte Endergebnis, nämlich die Verhängung einer milderen Sanktion als derjenigen, die gegen ihn verhängt worden wäre, wenn die Sache im Rahmen eines ordentlichen Verfahrens behandelt worden wäre. Unter diesen Umständen würde das Erfordernis der einstimmigen Zustimmung der Mitangeklagten die Fairness des Verfahrens im Sinne von Art. 47 Abs. 2 der Charta beeinträchtigen und zudem unter Verstoß gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im Sinne von Art. 52 der Charta den Zugang zu einem „Rechtsbehelf“ im Sinne von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV beschränken.
28 Drittens fragt sich das vorlegende Gericht, ob es, falls es die PT betreffende Verständigung genehmigen würde, gemäß dem Beschluss vom 28. Mai 2020, UL und VM (C-709/18, EU:C:2020:411), verpflichtet wäre, sich für die Prüfung des gegen die Mitangeklagten erhobenen Tatvorwurfs für unzuständig zu erklären, um ihnen das in Art. 47 Abs. 2 der Charta vorgesehene Recht auf ein unparteiisches Gericht zu gewährleisten.
29 Das vorlegende Gericht führt aus, die Antworten, die der Gerichtshof auf seine Fragen geben werde, würden es im Wesentlichen in die Lage versetzen, festzustellen, ob es selbst, wie von PT beantragt, die von PT eingegangene Verständigung genehmigen könne oder sogar müsse, und zwar ohne Zustimmung der Mitangeklagten.
30 Unter diesen Umständen hat der Spetsializiran nakazatelen sad (Spezialisiertes Strafgericht) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
1. Wenn es sich um ein Strafverfahren handelt, das die Anklage wegen Taten betrifft, die in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fallen, ist dann mit Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV und Art. 47 Abs. 1 und 2 der Charta ein nationales Gesetz vereinbar, das die Anforderung aufstellt, dass nicht das mit dem Fall befasste Gericht, vor dem alle Beweise erhoben worden sind, sondern ein anderes Gericht eine zwischen dem Staatsanwalt und einem Angeklagten eingegangene Verständigung inhaltlich zu prüfen hat, wenn der Grund für diese Anforderung darin besteht, dass es Mitangeklagte gibt, die keine Verständigung eingegangen sind?
2. Ist mit Art. 5 des Rahmenbeschlusses 2004/757, Art. 4 des Rahmenbeschlusses 2008/841, Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV und Art. 52 in Verbindung mit Art. 47 der Charta ein nationales Gesetz vereinbar, wonach eine das Strafverfahren beendende Verständigung nur dann genehmigt wird, wenn alle Mitangeklagten und deren Verteidiger dieser zugestimmt haben?
3. Ist es nach Art. 47 Abs. 2 der Charta erforderlich, dass ein Gericht, nachdem es eine Verständigung geprüft und genehmigt hat, die Prüfung des Tatvorwurfs gegen die Mitangeklagten ablehnt, sofern es über diese Verständigung in einer Weise entschieden hat, die weder eine Aussage über deren Beteiligung trifft noch einen Schuldausspruch ihnen gegenüber darstellt?
31 Mit Schreiben vom 5. August 2022 hat der Sofiyski gradski sad (Stadtgericht Sofia, Bulgarien) dem Gerichtshof mitgeteilt, dass der Spetsializiran nakazatelen sad (Spezialisiertes Strafgericht) infolge einer am 27. Juli 2022 in Kraft getretenen Gesetzesänderung aufgelöst worden sei und bestimmte bei diesem Gericht anhängig gemachte Rechtssachen, darunter das Ausgangsverfahren, ihm ab diesem Zeitpunkt übertragen worden seien.
Zur Zuständigkeit des Gerichtshofs
32 Vorab ist darauf hinzuweisen, dass es nach ständiger Rechtsprechung Sache des Gerichtshofs selbst ist, die Umstände, unter denen er von dem innerstaatlichen Gericht angerufen wurde, zu untersuchen, um seine eigene Zuständigkeit oder die Zulässigkeit des ihm vorgelegten Ersuchens zu überprüfen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 4. Juli 2006, Adeneler u. a., C-212/04, EU:C:2006:443, Rn. 42, und vom 11. Juli 2024, Hann-Invest u. a., C-554/21, C-622/21 und C-727/21, EU:C:2024:594, Rn. 29).
Zur Anwendbarkeit der Charta
33 Nach Art. 51 Abs. 1 der Charta gelten deren Bestimmungen für die Mitgliedstaaten ausschließlich bei der Durchführung des Rechts der Union. Nach Art. 51 Abs. 2 dehnen die Bestimmungen der Charta die in den Verträgen festgelegten Zuständigkeiten der Union in keiner Weise aus.
34 Diese Bestimmungen bestätigen die ständige Rechtsprechung des Gerichtshofs, nach der die in der Unionsrechtsordnung garantierten Grundrechte in allen unionsrechtlich geregelten Fallgestaltungen, aber nicht außerhalb derselben Anwendung finden. Folglich kann der Gerichtshof im Rahmen eines Vorabentscheidungsersuchens nach Art. 267 AEUV das Unionsrecht nur in den Grenzen der ihm übertragenen Zuständigkeiten prüfen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 11. Juli 2024, Hann-Invest u. a., C-554/21, C-622/21 und C-727/21, EU:C:2024:594, Rn. 30 und 31 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).
35 Der Begriff „Durchführung des Rechts der Union“ im Sinne von Art. 51 Abs. 1 der Charta setzt das Vorliegen eines Zusammenhangs zwischen einem Unionsrechtsakt und der betreffenden nationalen Maßnahme voraus, der darüber hinausgeht, dass die fraglichen Sachbereiche benachbart sind oder der eine von ihnen mittelbare Auswirkungen auf den anderen haben kann (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 6. März 2014, Siragusa, C-206/13, EU:C:2014:126, Rn. 24, und vom 29. Juli 2024, protectus, C-185/23, EU:C:2024:657, Rn. 42).
36 Der Gerichtshof hat bereits festgestellt, dass die Grundrechte der Union im Verhältnis zu einer nationalen Regelung unanwendbar sind, wenn die unionsrechtlichen Vorschriften in dem betreffenden Sachbereich keine bestimmten Verpflichtungen der Mitgliedstaaten im Hinblick auf den im Ausgangsverfahren fraglichen Sachverhalt schaffen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 6. März 2014, Siragusa, C-206/13, EU:C:2014:126, Rn. 26, und vom 10. Juli 2014, Julián Hernández u. a., C-198/13, EU:C:2014:2055, Rn. 35).
37 Unter Berücksichtigung dieser Erwägungen ist zu bestimmen, ob, wie das vorlegende Gericht ausführt, mit den bulgarischen Rechtsvorschriften, die die Verständigung zur Beilegung einer Sache regeln, im Sinne von Art. 51 Abs. 1 der Charta das Recht der Union durchgeführt wird und ob demnach der Gerichtshof für die Auslegung der vom vorlegenden Gericht angeführten Bestimmungen der Charta zuständig ist.
38 Soweit das vorlegende Gericht der Auffassung ist, dass mit diesen nationalen Rechtsvorschriften Art. 5 in Verbindung mit Art. 4 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2004/757 sowie Art. 4 in Verbindung mit Art. 3 des Rahmenbeschlusses 2008/841 durchgeführt würden, ist erstens festzustellen, dass diese unionsrechtlichen Bestimmungen in Rechtsakten enthalten sind, die auf der Grundlage von Art. 31 Abs. 1 EU erlassen wurden, dessen Regelung in Art. 83 Abs. 1 Unterabs. 1 AEUV übernommen wurde. Der genannte Art. 4 Abs. 1 und der genannte Art. 3 enthalten Mindestvorschriften über die Sanktionen für Straftaten in den Kriminalitätsbereichen, die in den jeweiligen Anwendungsbereich der beiden Rahmenbeschlüsse fallen, nämlich illegaler Drogenhandel und organisierte Kriminalität.
39 Wie der Generalanwalt in den Nrn. 32 und 33 seiner Schlussanträge im Wesentlichen ausgeführt hat, setzt deren Durchführung voraus, dass die Mitgliedstaaten Rechtsvorschriften des materiellen Strafrechts wie Art. 321 und Art. 354a Abs. 1 NK erlassen. Im Bereich des Strafverfahrensrechts, zu dem die Bestimmungen des bulgarischen Rechts über Verständigungen, d. h. Art. 384 Abs. 3 und Art. 384a NPK, im Wesentlichen gehören, wurde hingegen auf der Grundlage von Art. 31 EU oder Art. 82 AEUV, der die Zuständigkeit der Union im Bereich des Strafverfahrensrechts definiert, kein Rechtsakt der Union über Verständigungen erlassen.
40 Daraus folgt, dass das Verhältnis zwischen den in Rn. 38 des vorliegenden Urteils genannten Bestimmungen des materiellen Strafrechts der Union und den Bestimmungen des bulgarischen Strafverfahrensrechts, die die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Verständigung regeln, nicht darüber hinausgeht, dass diese benachbart sind oder die erstgenannten Bestimmungen Auswirkungen auf die zweitgenannten haben können. Unter diesen Umständen kann zwischen ihnen kein Zusammenhang im Sinne der in Rn. 35 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung festgestellt werden.
41 Zweitens sehen Art. 5 („Besondere Umstände“) des Rahmenbeschlusses 2004/757 und Art. 4 (ebenfalls „Besondere Umstände“) des Rahmenbeschlusses 2008/841 lediglich vor, dass die Mitgliedstaaten die erforderlichen Maßnahmen ergreifen können, um sicherzustellen, dass die Strafen im Sinne dieser Rahmenbeschlüsse gemildert werden können, wenn sich der Täter in den von diesen Rahmenbeschlüssen erfassten Bereichen von seinen kriminellen Tätigkeiten lossagt und den Verwaltungs- oder Justizbehörden Informationen liefert, die sie nicht auf andere Weise hätten erhalten können, und ihnen auf diese Weise u. a. hilft, die anderen Straftäter zu ermitteln oder vor Gericht zu bringen oder Beweise zu sammeln. Diese unionsrechtlichen Bestimmungen legen weder die Modalitäten noch die Voraussetzungen für Verständigungen fest und verpflichten die Mitgliedstaaten auch nicht, in diesem Bereich Rechtsvorschriften zu erlassen. Dies ist indessen nach der in Rn. 36 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung erforderlich, damit ein Zusammenhang zwischen ihnen und den Bestimmungen des bulgarischen Rechts über Verständigungen festgestellt werden kann.
42 Aus den vorstehenden Erwägungen ergibt sich, dass die Bestimmungen des NPK über Verständigungen und deren Genehmigung, insbesondere Art. 384 Abs. 3 und Art. 384a NPK, keine „Durchführung“ der Bestimmungen der Rahmenbeschlüsse 2004/757 und 2008/841 im Sinne von Art. 51 Abs. 1 der Charta darstellen.
43 Daher ist der Gerichtshof für die Beantwortung der Vorlagefragen des vorlegenden Gerichts nicht zuständig, soweit sie Art. 5 des Rahmenbeschlusses 2004/757, Art. 4 des Rahmenbeschlusses 2008/841, Art. 47 Abs. 1 und 2 sowie Art. 52 der Charta betreffen.
Zur Anwendbarkeit von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV
44 Nach Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV schaffen die Mitgliedstaaten die erforderlichen Rechtsbehelfe, damit ein wirksamer Rechtsschutz in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen gewährleistet ist. Sie müssen daher ein System von Rechtsbehelfen und Verfahren vorsehen, mit dem in diesen Bereichen eine wirksame gerichtliche Kontrolle gewährleistet ist (Urteile vom 27. Februar 2018, Associação Sindical dos Juízes Portugueses, C-64/16, EU:C:2018:117, Rn. 34, und vom 11. Juli 2024, Hann-Invest u. a., C-554/21, C-622/21 und C-727/21, EU:C:2024:594, Rn. 34 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).
45 Was den sachlichen Anwendungsbereich von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV angeht, so betrifft diese Bestimmung die „vom Unionsrecht erfassten Bereiche“, ohne dass es insoweit darauf ankäme, in welchem Kontext die Mitgliedstaaten Unionsrecht durchführen (Urteile vom27. Februar 2018, Associação Sindical dos Juízes Portugueses, C-64/16, EU:C:2018:117, Rn. 29, und vom 11. Juli 2024, Hann-Invest u. a., C-554/21, C‑622/21 und C‑727/21, EU:C:2024:594, Rn. 35 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).
46 Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV ist daher u. a. auf jede nationale Einrichtung anwendbar, die als Gericht über Fragen der Auslegung oder der Anwendung des Unionsrechts und somit über Fragen aus den vom Unionsrecht erfassten Bereichen zu entscheiden hat (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 27. Februar 2018, Associação Sindical dos Juízes Portugueses, C-64/16, EU:C:2018:117, Rn. 40, und vom 11. Juli 2024, Hann-Invest u. a., C-554/21, C-622/21 und C-727/21, EU:C:2024:594, Rn. 36 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).
47 Dies trifft auf das vorlegende Gericht zu, das im vorliegenden Fall über Fragen im Zusammenhang mit der Auslegung und Anwendung der Rahmenbeschlüsse 2004/757 und 2008/841 zu entscheiden hat, die durch Bestimmungen des NK in bulgarisches Recht umgesetzt wurden, so dass das vorlegende Gericht den Anforderungen aus Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV an einen wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz genügen muss.
48 Unter diesen Umständen ist der Gerichtshof für die Auslegung von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV in der vorliegenden Rechtssache zuständig.
Zu den Vorlagefragen
Zur ersten Frage
49 Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV dahin auszulegen ist, dass er einer Bestimmung des nationalen Rechts entgegensteht, nach der die Zuständigkeit für die Entscheidung über eine in einem Strafverfahren in der gerichtlichen Phase dieses Verfahrens erfolgte Verständigung zwischen einem Angeklagten und der Staatsanwaltschaft einem Ad-hoc-Spruchkörper und nicht dem mit der Sache befassten Spruchkörper zugewiesen wird, wenn es in diesem Strafverfahren Mitangeklagte gibt.
50 Zwar fällt die Organisation der Justiz in den Mitgliedstaaten, u. a. die Errichtung, die Besetzung, die Zuständigkeiten und die Arbeitsweise der nationalen Gerichte, in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten, doch haben diese bei der Ausübung dieser Zuständigkeit die Verpflichtungen einzuhalten, die sich für sie aus dem Unionsrecht, insbesondere aus Art. 19 EUV, ergeben (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 11. Juli 2024, Hann-Invest u. a, C-554/21, C-622/21 und C-727/21, EU:C:2024:594, Rn. 44 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).
51 Der in Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV genannte Grundsatz des wirksamen Rechtsschutzes stellt einen allgemeinen Grundsatz des Unionsrechts dar, der u. a. in Art. 47 Abs. 2 der Charta verankert ist. Diese Bestimmung ist daher bei der Auslegung von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 gebührend zu berücksichtigen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 11. Juli 2024, Hann-Invest u. a., C-554/21, C-622/21 und C-727/21, EU:C:2024:594, Rn. 45 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).
52 Zudem haben die Rechte, die die Charta enthält, nach deren Art. 52 Abs. 3 Satz 1 die gleiche Bedeutung und Tragweite wie die entsprechenden durch die EMRK gewährten Rechte. Dies steht nach Art. 52 Abs. 3 Satz 2 der Charta nicht dem entgegen, dass das Recht der Union einen weiter gehenden Schutz gewährt. Nach den Erläuterungen zur Charta (ABl. 2007, C 303, S. 17) entspricht Art. 47 Abs. 2 der Charta Art. 6 Abs. 1 EMRK. Der Gerichtshof muss daher darauf achten, dass seine Auslegung in der vorliegenden Rechtssache ein Schutzniveau gewährleistet, das das in Art. 6 Abs. 1 EMRK in seiner Auslegung durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte garantierte Schutzniveau nicht verletzt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 11. Juli 2024, Hann-Invest u. a., C-554/21, C-622/21 und C-727/21, EU:C:2024:594, Rn. 46 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).
53 Jeder Mitgliedstaat hat nach Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV dafür zu sorgen, dass Einrichtungen, die als „Gerichte“ im unionsrechtlichen Sinne dazu berufen sind, über Fragen im Zusammenhang mit der Anwendung oder Auslegung des Unionsrechts zu entscheiden, und damit Bestandteil seines Rechtsbehelfssystems in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen sind, den Anforderungen an einen wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz, u. a. dem Erfordernis der Unabhängigkeit, gerecht werden (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 21. Dezember 2021, Euro Box Promotion u. a., C-357/19, C-379/19, C-547/19, C-811/19 und C-840/19, EU:C:2021:1034, Rn. 220 und 224, sowie vom 11. Juli 2024, Hann-Invest u. a., C-554/21, C-622/21 und C-727/21, EU:C:2024:594, Rn. 47).
54 Im Übrigen hat der Gerichtshof bereits klargestellt, dass Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV, der den Mitgliedstaaten eine klare und präzise und an keine Bedingung geknüpfte Ergebnispflicht auferlegt, insbesondere in Bezug auf die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der zur Auslegung und Anwendung des Unionsrechts berufenen Gerichte, eine unmittelbare Wirkung hat, die bedeutet, dass jede nationale Bestimmung, Rechtsprechung oder Praxis, die mit diesen unionsrechtlichen Bestimmungen in ihrer Auslegung durch den Gerichtshof unvereinbar ist, unangewendet bleiben muss (Urteil vom 5. Juni 2023, Kommission/Polen [Unabhängigkeit und Privatleben von Richtern], C-204/21, EU:C:2023:442, Rn. 78 und die dort angeführte Rechtsprechung).
55 Dieses Unabhängigkeitserfordernis umfasst zwei Aspekte. Der erste, das Außenverhältnis betreffende Aspekt erfordert, dass die betreffende Einrichtung ihre Funktionen in völliger Autonomie ausübt, ohne mit irgendeiner Stelle hierarchisch verbunden oder ihr untergeordnet zu sein und ohne von irgendeiner Stelle Anordnungen oder Anweisungen zu erhalten, so dass sie auf diese Weise vor Interventionen oder Druck von außen geschützt ist, die die Unabhängigkeit des Urteils ihrer Mitglieder gefährden und deren Entscheidungen beeinflussen könnten. Der zweite, das Innenverhältnis betreffende Aspekt steht mit dem Begriff der Unparteilichkeit in Zusammenhang und bezieht sich darauf, dass den Parteien des Rechtsstreits und ihren jeweiligen Interessen am Streitgegenstand mit dem gleichen Abstand begegnet wird. Dieser Aspekt verlangt, dass Sachlichkeit obwaltet und neben der strikten Anwendung der Rechtsnormen keinerlei Interesse am Ausgang des Rechtsstreits besteht (Urteil vom 11. Juli 2024, Hann-Invest u. a, C-554/21, C-622/21 und C-727/21, EU:C:2024:594, Rn. 50 und 51 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).
56 Im vorliegenden Fall geht aus dem Vorabentscheidungsersuchen hervor, dass der Staatsanwalt dem vorlegenden Gericht seine Zweifel an der Unparteilichkeit des für das Ausgangsverfahren zuständigen Spruchkörpers bei der Fortsetzung des Verfahrens gegen die Mitangeklagten übermittelt hat, falls dieser die Verständigung in Bezug auf PT genehmigen sollte.
57 Wie der Generalanwalt in Nr. 66 seiner Schlussanträge im Wesentlichen ausgeführt hat, stellt, wenn wie im vorliegenden Fall mehrere Personen wegen ihrer Beteiligung an derselben kriminellen Vereinigung verfolgt werden und eine von ihnen in der gerichtlichen Phase dieses Verfahrens eine Verständigung eingeht, in der sie sich für schuldig bekennt, die Bestimmung einesAd-hoc-Spruchkörpers zur Entscheidung über diese Verständigung eine Maßnahme der Rechtspflege dar, die die Mitgliedstaaten vorsehen können, um die Einhaltung der Anforderungen aus Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV in Bezug auf die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit des Spruchkörpers, der über die Mitangeklagten zu entscheiden hat, die sich nicht für schuldig bekannt haben, sicherzustellen bzw. zu stärken.
58 So hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in seinem Urteil vom 25. November 2021, Mucha/Slowakei (CE:ECHR:2021:1125JUD006370319, §§ 62 bis 64 und 66), eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK in Bezug auf den Grundsatz der Unparteilichkeit und den Grundsatz der Unschuldsvermutung in einer Fallgestaltung festgestellt, in der derselbe Spruchkörper in einem ersten Schritt über die Vereinbarungen, sich für schuldig zu bekennen, die acht Personen betrafen, die wegen der Beteiligung an einer kriminellen Vereinigung verfolgt wurden, und in einem zweiten Schritt in der Sache über die Anklage gegen eine weitere Person, die wegen Beteiligung an derselben kriminellen Vereinigung verfolgt wurde, geurteilt hatte, da die Urteile, mit denen die Vereinbarungen genehmigt wurden, einen spezifischen und individuellen Hinweis auf die der letztgenannten Person vorgeworfenen Taten enthielten und durch sie somit das Recht dieser Person, bis zum rechtmäßigen Nachweis ihrer Schuld als unschuldig zu gelten, verletzt wurde. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte kam zu dem Schluss, dass die Zweifel an der Unparteilichkeit dieses Spruchkörpers objektiv berechtigt gewesen seien.
59 Im Übrigen ist das vorlegende Gericht der Ansicht, dass im Rahmen eines Strafverfahrens, in dem mehrere Personen verfolgt würden, die Bestimmung eines Ad-hoc-Spruchkörpers zur Entscheidung über eine Verständigung gegen den Grundsatz der Unmittelbarkeit des Strafverfahrens verstoßen könne.
60 Dieser Grundsatz bedeutet, dass die für eine Entscheidung über Schuld oder Unschuld des Angeklagten verantwortlichen Personen die Zeugen grundsätzlich persönlich zu hören und ihre Glaubwürdigkeit zu beurteilen haben, da die Möglichkeit für den Angeklagten, im Beisein desjenigen Richters, der letztendlich entscheiden wird, den Zeugen gegenüberzutreten, ein wichtiges Merkmal eines fairen Verfahrens ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 29. Juli 2019, Gambino und Hyka, C-38/18, EU:C:2019:628, Rn. 42 und 43).
61 Im vorliegenden Fall kann, wie der Generalanwalt in Nr. 73 seiner Schlussanträge im Wesentlichen ausgeführt hat, die Bestimmung eines Ad-hoc-Spruchkörpers für die Entscheidung über eine Verständigung wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende den Grundsatz der Unmittelbarkeit des Strafverfahrens nicht verletzen. Der Angeklagte, der sich dafür entschieden hat, sich freiwillig und in voller Kenntnis der ihm zur Last gelegten Taten und der Rechtswirkungen dieser Entscheidung für schuldig zu bekennen, verzichtet nämlich, wie sich aus Art. 381 Abs. 6 NPK ergibt, auf „eine Entscheidung seiner Sache im ordentlichen Verfahren“ und auf bestimmte sich daraus ergebende Rechte.
62 Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV dahin auszulegen ist, dass er einer Bestimmung des nationalen Rechts, nach der die Zuständigkeit für die Entscheidung über eine in einem Strafverfahren in der gerichtlichen Phase erfolgte Verständigung zwischen einem Angeklagten und der Staatsanwaltschaft einem Ad-hoc-Spruchkörper und nicht dem mit der Sache befassten Spruchkörper zugewiesen wird, wenn es in diesem Strafverfahren Mitangeklagte gibt, nicht entgegensteht.
Zur zweiten Frage
Zur Zulässigkeit
63 Die Europäische Kommission macht in ihren schriftlichen Erklärungen geltend, dass die Begründung des Vorabentscheidungsersuchens zur zweiten Frage, soweit sich Letztere auf die Auslegung von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV beziehe, „sehr knapp“ sei und nicht den Anforderungen von Art. 94 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs genüge.
64 Nach ständiger Rechtsprechung spricht eine Vermutung für die Entscheidungserheblichkeit der Vorlagefragen des nationalen Gerichts, die es zur Auslegung des Unionsrechts in dem rechtlichen und sachlichen Rahmen stellt, den es in eigener Verantwortung festlegt und dessen Richtigkeit der Gerichtshof nicht zu prüfen hat. Der Gerichtshof kann die Entscheidung über ein Vorabentscheidungsersuchen eines nationalen Gerichts nur dann ablehnen, wenn die erbetene Auslegung des Unionsrechts offensichtlich in keinem Zusammenhang mit den Gegebenheiten oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits steht, wenn das Problem hypothetischer Natur ist oder er nicht über die tatsächlichen und rechtlichen Angaben verfügt, die für eine zweckdienliche Beantwortung der ihm vorgelegten Fragen erforderlich sind (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 15. Dezember 1995, Bosman, C-415/93, EU:C:1995:463, Rn. 61, und vom 8. November 2022, Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid [Von Amts wegen erfolgende Prüfung der Haft], C-704/20 und C‑39/21, EU:C:2022:858, Rn. 61).
65 Da das Vorabentscheidungsersuchen als Grundlage des Vorabentscheidungsverfahrens vor dem Gerichtshof nach Art. 267 AEUV dient, ist es jedoch unerlässlich, dass das nationale Gericht darin den tatsächlichen und rechtlichen Rahmen des Ausgangsverfahrens darlegt und ein Mindestmaß an Erläuterungen zu den Gründen für die Wahl der Vorschriften des Unionsrechts, um deren Auslegung es ersucht, und zu dem Zusammenhang gibt, den es zwischen diesen Vorschriften und der auf den bei ihm anhängigen Rechtsstreit anzuwendenden nationalen Regelung herstellt. Diese kumulativen Anforderungen sind ausdrücklich in Art. 94 der Verfahrensordnung angeführt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 4. Juni 2020, C. F. [Steuerprüfung], C-430/19, EU:C:2020:429, Rn. 23 und die dort angeführte Rechtsprechung).
66 Im vorliegenden Fall legt das vorlegende Gericht die Umstände des Ausgangsverfahrens hinreichend dar und führt die anwendbaren nationalen Vorschriften im Einzelnen an. Es gibt auch die Gründe an, aus denen es insbesondere Zweifel an der Vereinbarkeit von Art. 384 Abs. 3 NPK mit Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV hat. Das vorlegende Gericht ist nämlich der Ansicht, dass das Erfordernis der Zustimmung aller Mitangeklagten zur Genehmigung einer Verständigung, die von einem Angeklagten in der gerichtlichen Phase eines gegen mehrere Personen eingeleiteten Strafverfahrens eingegangen worden sei, „in unlauterer Weise“ den „Rechtsbehelf“ einschränke, den eine solche Verständigung seiner Auffassung nach für diesen Angeklagten darstellt, da der Angeklagte durch eine solche Verständigung und deren Genehmigung „das von ihm angestrebte Endergebnis [erreicht], nämlich die Verhängung einer milderen Sanktion als derjenigen, die gegen ihn verhängt worden wäre, wenn die Sache im Rahmen eines ordentlichen Verfahrens behandelt worden wäre“. Eine solche Einschränkung könne „ein faires Verfahren“ beeinträchtigen.
67 Daraus folgt, dass das Vorabentscheidungsersuchen entgegen dem Vorbringen der Kommission den Anforderungen von Art. 94 der Verfahrensordnung genügt und daher zulässig ist, soweit es die Auslegung von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV betrifft.
Zur Beantwortung der Frage
68 Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV dahin auszulegen ist, dass er einer Bestimmung des nationalen Rechts entgegensteht, die in einem Strafverfahren, das gegen mehrere Personen wegen ihrer Beteiligung an derselben kriminellen Vereinigung eingeleitet wurde, die gerichtliche Genehmigung einer in der gerichtlichen Phase dieses Verfahrens erfolgten Verständigung zwischen einem der Angeklagten und der Staatsanwaltschaft von der Zustimmung aller Mitangeklagten abhängig macht.
69 Wie das vorlegende Gericht ausführt, dient dieses Erfordernis im Ausgangsverfahren „dem Interesse einiger der [Mitangeklagten], gegen die PT nach der Genehmigung der ihn betreffenden Verständigung als Zeuge aussagen könnte“. Im Übrigen hat das vorlegende Gericht in Beantwortung eines Ersuchens des Gerichtshofs um Klarstellung gemäß Art. 101 Abs. 1 der Verfahrensordnung ausgeführt, dass das Gericht, das über die Mitangeklagten zu urteilen habe, an den Inhalt des von einem der Angeklagten eingegangenen Vergleichs „gebunden ist“.
70 Unter diesem Blickwinkel gehört das Erfordernis der Zustimmung der Mitangeklagten zum Recht auf ein faires Verfahren und zu deren Verteidigungsrechten. Die Wahrung dieser Rechte stellt aber ebenso wie der Begriff „faires Verfahren“ in Art. 6 EMRK einen integralen Bestandteil des in Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV genannten tragenden Grundsatzes des wirksamen Rechtsschutzes dar (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 15. Juli 2021, Kommission/Polen [Disziplinarordnung für Richter], C-791/19, EU:C:2021:596, Rn. 203).
71 Gegen diesen tragenden Grundsatz des Unionsrechts würde es verstoßen, wenn eine gerichtliche Entscheidung auf Tatsachen und Schriftstücke gegründet würde, von denen die Parteien selbst – oder eine von ihnen – keine Kenntnis nehmen und zu denen sie daher auch nicht Stellung nehmen konnten (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 22. März 1961, Snupat/Hohe Behörde, 42/59 und 49/59, EU:C:1961:5, S. 169, und vom 17. November 2022, Harman International Industries, C-175/21, EU:C:2022:895, Rn. 63). Darüber hinaus gebietet es der Anspruch auf ein faires Verfahren, in geeigneten Fällen die Interessen der Verteidigung gegen die der zu einer Aussage berufenen Zeugen oder Opfer abzuwägen (Urteil vom 29. Juli 2019, Gambino und Hyka, C-38/18, EU:C:2019:628, Rn. 41).
72 Angesichts des Vorstehenden kann der Grundsatz der Wahrung der Verteidigungsrechte nicht dahin ausgelegt werden, dass er Bestimmungen des nationalen Rechts wie Art. 384 Abs. 3 NPK entgegensteht, deren Zweck darin besteht, die Verteidigungsrechte der Angeklagten zu gewährleisten, die, da sie sich nicht für schuldig bekannt haben, in einem späteren Strafverfahren abgeurteilt werden müssen, und zwar nicht nur unter Berücksichtigung der sie betreffenden Informationen, die in der Verständigung des Angeklagten, der sich für schuldig bekannt hat, enthalten sein können, sondern auch der Aussagen, die dieser als Zeuge vor dem Spruchkörper machen könnte, der über die strafrechtliche Verantwortung der Mitangeklagten zu entscheiden hat.
73 Nach alledem ist auf die zweite Frage zu antworten, dass Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV dahin auszulegen ist, dass er einer Bestimmung des nationalen Rechts, die in einem Strafverfahren, das gegen mehrere Personen wegen ihrer Beteiligung an derselben kriminellen Vereinigung eingeleitet wurde, die gerichtliche Genehmigung einer in der gerichtlichen Phase dieses Verfahrens erfolgten Verständigung zwischen einem der Angeklagten und der Staatsanwaltschaft von der Zustimmung aller Mitangeklagten abhängig macht, nicht entgegensteht.
Zur dritten Frage
74 Wie sich aus Rn. 42 des vorliegenden Urteils ergibt, ist der Gerichtshof für die Beantwortung der dritten Frage nicht zuständig, da diese ausschließlich die Auslegung von Art. 47 der Charta betrifft.
Kosten
75 Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Dritte Kammer) für Recht erkannt:
1. Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV ist dahin auszulegen, dass er einer Bestimmung des nationalen Rechts, nach der die Zuständigkeit für die Entscheidung über eine in der gerichtlichen Phase des Strafverfahrens erfolgte Verständigung zwischen einem Angeklagten und der Staatsanwaltschaft einem Ad-hoc
-Spruchkörper und nicht dem mit der Sache befassten Spruchkörper zugewiesen wird, wenn es in diesem Strafverfahren Mitangeklagte gibt, nicht entgegensteht.
2. Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV ist dahin auszulegen, dass er einer Bestimmung des nationalen Rechts, die in einem Strafverfahren, das gegen mehrere Personen wegen ihrer Beteiligung an derselben kriminellen Vereinigung eingeleitet wurde, die gerichtliche Genehmigung einer in der gerichtlichen Phase dieses Verfahrens erfolgten Verständigung zwischen einem der Angeklagten und der Staatsanwaltschaft von der Zustimmung aller Mitangeklagten abhängig macht, nicht entgegensteht.
Unterschriften
(*1) Verfahrenssprache: Bulgarisch.
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Urteil des Gerichtshofs (Große Kammer) vom 4. Oktober 2024.#M.-A. A. gegen Direcţia de Evidenţă a Persoanelor Cluj u. a.#Vorabentscheidungsersuchen der Judecătoria Sectorului 6 Bucureşti.#Vorlage zur Vorabentscheidung – Unionsbürgerschaft – Art. 20 und 21 AEUV – Art. 7 und 45 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Recht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten – Unionsbürger, der bei der Ausübung dieses Rechts und während seines Aufenthalts in einem anderen Mitgliedstaat rechtmäßig die Änderung seines Vornamens und seiner Geschlechtsidentität erworben hat – Verpflichtung des Herkunftsmitgliedstaats, diese Änderung des Vornamens und der Geschlechtsidentität anzuerkennen und in die Geburtsurkunde einzutragen – Nationale Regelung, die eine solche Anerkennung und Eintragung nicht erlaubt und den Betroffenen zwingt, ein neues Verfahren gerichtlicher Art zum Wechsel der Geschlechtsidentität im Herkunftsmitgliedstaat anzustrengen – Auswirkungen des Austritts des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland aus der Europäischen Union.#Rechtssache C-4/23.
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62023CJ0004
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ECLI:EU:C:2024:845
| 2024-10-04T00:00:00 |
Gerichtshof, Richard de la Tour
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Sammlung der Rechtsprechung – allgemein
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62023CJ0004
URTEIL DES GERICHTSHOFS (Große Kammer)
4. Oktober 2024 (*1)
„Vorlage zur Vorabentscheidung – Unionsbürgerschaft – Art. 20 und 21 AEUV – Art. 7 und 45 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Recht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten – Unionsbürger, der bei der Ausübung dieses Rechts und während seines Aufenthalts in einem anderen Mitgliedstaat rechtmäßig die Änderung seines Vornamens und seiner Geschlechtsidentität erworben hat – Verpflichtung des Herkunftsmitgliedstaats, diese Änderung des Vornamens und der Geschlechtsidentität anzuerkennen und in die Geburtsurkunde einzutragen – Nationale Regelung, die eine solche Anerkennung und Eintragung nicht erlaubt und den Betroffenen zwingt, ein neues Verfahren gerichtlicher Art zum Wechsel der Geschlechtsidentität im Herkunftsmitgliedstaat anzustrengen – Auswirkungen des Austritts des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland aus der Europäischen Union“
In der Rechtssache C‑4/23 [Mirin] (i
)
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Judecătoria Sectorului 6 Bucureşti (Gericht erster Instanz Stadtbezirk 6 Bukarest, Rumänien) mit Entscheidung vom 11. August 2022, beim Gerichtshof eingegangen am 3. Januar 2023, in dem Verfahren
M.‑A. A.
gegen
Direcţia de Evidenţă a Persoanelor Cluj, Serviciul stare civilă,
Direcţia pentru Evidenţa Persoanelor şi Administrarea Bazelor de Date din Ministerul Afacerilor Interne,
Municipiul Cluj-Napoca,
Beteiligte:
Asociaţia Accept,
Consiliul Național pentru Combaterea Discriminării,
erlässt
DER GERICHTSHOF (Große Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten K. Lenaerts (Berichterstatter), des Vizepräsidenten L. Bay Larsen, des Kammerpräsidenten A. Arabadjiev, der Kammerpräsidentinnen A. Prechal und K. Jürimäe, des Kammerpräsidenten T. von Danwitz, der Kammerpräsidentin O. Spineanu-Matei sowie der Richter J.‑C. Bonichot, S. Rodin, I. Jarukaitis und A. Kumin, der Richterin M. L. Arastey Sahún und des Richters M. Gavalec,
Generalanwalt: J. Richard de la Tour,
Kanzler: R. Șereș, Verwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 23. Januar 2024,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
–
von M.‑A. A., vertreten durch R.‑I. Ionescu, Avocată,
–
der Municipiul Cluj-Napoca, vertreten durch E. Boc, R. Lăpuşan, A. Roman, A. Roşca und A. Rus als Bevollmächtigte,
–
der Asociaţia Accept, vertreten durch A.‑M. Baltac, Consilier juridic, und R.‑I. Ionescu, Avocată,
–
der rumänischen Regierung, vertreten durch E. Gane und O.‑C. Ichim als Bevollmächtigte,
–
der deutschen Regierung, vertreten durch J. Möller und R. Kanitz als Bevollmächtigte,
–
der griechischen Regierung, vertreten durch T. Papadopoulou als Bevollmächtigte,
–
der ungarischen Regierung, vertreten durch Zs. Biró-Tóth und M. Z. Fehér als Bevollmächtigte,
–
der niederländischen Regierung, vertreten durch M. K. Bulterman und C. S. Schillemans als Bevollmächtigte,
–
der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna, E. Borawska Kędzierska und A. Siwek-Ślusarek als Bevollmächtigte,
–
der Europäischen Kommission, vertreten durch A. Biolan, H. Krämer und E. Montaguti als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 7. Mai 2024
folgendes
Urteil
1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung des Art. 2 EUV, der Art. 18, 20 und 21 AEUV sowie der Art. 1, 7, 20, 21 und 45 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta).
2 Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen M.‑A. A., einem rumänischen Staatsangehörigen, auf der einen Seite und der Direcția de Evidență a Persoanelor Cluj, Serviciul stare civilă (Direktion für das Personenregister – Standesamt – von Cluj, Rumänien), der Direcția pentru Evidența Persoanelor și Administrarea Bazelor de Date din Ministerul Afacerilor Interne (Direktion, die für das Personenregister und die Verwaltung der Datenbanken des Innenministeriums zuständig ist, Rumänien) und der Municipiul Cluj-Napoca (Gemeinde Cluj-Napoca [Klausenburg], Rumänien) auf der anderen Seite wegen der Anerkennung von Angaben in Bezug auf die im Vereinigten Königreich rechtmäßig erworbene Änderung des Vornamens und der Geschlechtsidentität und deren Eintragung in die rumänische Geburtsurkunde von M.‑A. A.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
EU-Vertrag und AEU-Vertrag
3 Art. 2 EUV lautet:
„Die Werte, auf die sich die Union gründet, sind die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte einschließlich der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören. Diese Werte sind allen Mitgliedstaaten in einer Gesellschaft gemeinsam, die sich durch Pluralismus, Nichtdiskriminierung, Toleranz, Gerechtigkeit, Solidarität und die Gleichheit von Frauen und Männern auszeichnet.“
4 Art. 18 Abs. 1 AEUV lautet:
„Unbeschadet besonderer Bestimmungen der Verträge ist in ihrem Anwendungsbereich jede Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit verboten.“
5 Art. 20 AEUV sieht vor:
„(1) Es wird eine Unionsbürgerschaft eingeführt. Unionsbürger ist, wer die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzt. Die Unionsbürgerschaft tritt zur nationalen Staatsbürgerschaft hinzu, ersetzt sie aber nicht.
(2) Die Unionsbürgerinnen und Unionsbürger haben die in den Verträgen vorgesehenen Rechte und Pflichten. Sie haben unter anderem
a)
das Recht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten;
…
Diese Rechte werden unter den Bedingungen und innerhalb der Grenzen ausgeübt, die in den Verträgen und durch die in Anwendung der Verträge erlassenen Maßnahmen festgelegt sind.“
6 Art. 21 Abs. 1 AEUV bestimmt:
„Jeder Unionsbürger hat das Recht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten vorbehaltlich der in den Verträgen und in den Durchführungsvorschriften vorgesehenen Beschränkungen und Bedingungen frei zu bewegen und aufzuhalten.“
Charta
7 Art. 1 („Würde des Menschen“) der Charta lautet:
„Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie ist zu achten und zu schützen.“
8 Art. 7 („Achtung des Privat- und Familienlebens“) der Charta bestimmt:
„Jede Person hat das Recht auf Achtung ihres Privat- und Familienlebens, ihrer Wohnung sowie ihrer Kommunikation.“
9 Art. 20 („Gleichheit vor dem Gesetz“) der Charta lautet:
„Alle Personen sind vor dem Gesetz gleich.“
10 Art. 21 („Nichtdiskriminierung“) Abs. 1 der Charta sieht vor:
„Diskriminierungen insbesondere wegen des Geschlechts, der Rasse, der Hautfarbe, der ethnischen oder sozialen Herkunft, der genetischen Merkmale, der Sprache, der Religion oder der Weltanschauung, der politischen oder sonstigen Anschauung, der Zugehörigkeit zu einer nationalen Minderheit, des Vermögens, der Geburt, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung sind verboten.“
11 Art. 45 („Freizügigkeit und Aufenthaltsfreiheit“) der Charta lautet:
„(1) Die Unionsbürgerinnen und Unionsbürger haben das Recht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten.
(2) Staatsangehörigen von Drittländern, die sich rechtmäßig im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats aufhalten, kann nach Maßgabe der Verträge Freizügigkeit und Aufenthaltsfreiheit gewährt werden.“
Austrittsabkommen
12 Das am 17. Oktober 2019 angenommene und am 1. Februar 2020 in Kraft getretene Abkommen über den Austritt des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland aus der Europäischen Union und der Europäischen Atomgemeinschaft (ABl. 2020, L 29, S. 7) (im Folgenden: Austrittsabkommen), wurde durch den Beschluss (EU) 2020/135 des Rates vom 30. Januar 2020 (ABl. 2020, L 29, S. 1) im Namen der Union und der Europäischen Atomgemeinschaft genehmigt.
13 Im vierten, im sechsten und im achten Absatz der Präambel dieses Abkommens heißt es:
„Eingedenk dessen, dass nach Artikel 50 [EUV] in Verbindung mit Artikel 106a [EA] und vorbehaltlich der Regelungen in diesem Abkommen das Recht der Union und der Euratom in seiner Gesamtheit ab dem Tag des Inkrafttretens dieses Abkommens auf das Vereinigte Königreich keine Anwendung mehr findet,
…
In der Erkenntnis, dass es notwendig ist, einen beiderseitigen Schutz für Unionsbürger und britische Staatsangehörige sowie ihre jeweiligen Familienangehörigen vorzusehen, wenn sie vor einem in diesem Abkommen festgesetzten Tag ihre Freizügigkeitsrechte ausgeübt haben, und zu gewährleisten, dass ihre Rechte nach diesem Abkommen durchsetzbar sind und auf dem Grundsatz der Nichtdiskriminierung beruhen; …
…
In der Erwägung, dass es sowohl im Interesse der Union als auch im Interesse des Vereinigten Königreichs liegt, einen Übergangs- oder Durchführungszeitraum festzulegen, in dem … das Unionsrecht, einschließlich der internationalen Übereinkünfte, auf das Vereinigte Königreich und im Vereinigten Königreich und in der Regel mit gleicher Wirkung wie in Bezug auf die Mitgliedstaaten Anwendung finden sollte, um Störungen in dem Zeitraum zu vermeiden, in dem das oder die Abkommen über die künftigen Beziehungen ausgehandelt werden“.
14 Art. 126 („Übergangszeitraum“) des Austrittsabkommens bestimmt:
„Es gibt einen Übergangs- oder Durchführungszeitraum, der am Tag des Inkrafttretens dieses Abkommens beginnt und am 31. Dezember 2020 endet.“
15 Art. 127 („Anwendungsbereich für den Übergang“) des Austrittsabkommens sieht vor:
„(1) Sofern in diesem Abkommen nichts anderes bestimmt ist, gilt das Unionsrecht während des Übergangszeitraums für das Vereinigte Königreich sowie im Vereinigten Königreich.
…
(3) Während des Übergangszeitraums entfaltet das nach Absatz 1 für das Vereinigte Königreich und im Vereinigten Königreich geltende Unionsrecht die gleichen Rechtswirkungen wie innerhalb der Union und ihrer Mitgliedstaaten und wird nach denselben Methoden und allgemeinen Grundsätzen aus[ge]legt und angewendet, die auch innerhalb der Union gelten.
…
(6) Sofern in diesem Abkommen nichts anderes bestimmt ist, schließen während des Übergangszeitraums alle Bezugnahmen auf Mitgliedstaaten in dem nach Absatz 1 geltenden Unionsrecht, einschließlich der Durchführung und Anwendung durch die Mitgliedstaaten, das Vereinigte Königreich ein.
…“
16 Gemäß Art. 185 des Austrittsabkommens trat dieses am 1. Februar 2020 in Kraft.
Rumänisches Recht
17 Art. 9 der Legea nr. 119/1996 cu privire la actele de stare civilă (Gesetz Nr. 119/1996 über Personenstandsurkunden) vom 16. Oktober 1996 in der neu bekannt gemachten Fassung (Monitorul Oficial al României, Teil I, Nr. 339 vom 18. Mai 2012) in seiner auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren Fassung (im Folgenden: Gesetz Nr. 119/1996) lautet:
„Weigert sich der Standesbeamte oder der Beamte, der als Standesbeamter tätig wird, eine Urkunde auszustellen oder eine Eintragung vorzunehmen, die in seinen Zuständigkeitsbereich fallen, so kann die geschädigte Person nach Maßgabe des Gesetzes beim zuständigen Gericht Klage erheben.“
18 Art. 41 Abs. 1 bis 3 dieses Gesetzes bestimmt:
„(1) Personenstandsurkunden rumänischer Staatsangehöriger, die von ausländischen Behörden ausgestellt wurden, haben im Inland nur dann Beweiskraft, wenn sie in die rumänischen Personenstandsregister eingetragen sind.
(2) Der rumänische Staatsangehörige ist verpflichtet, innerhalb von sechs Monaten nach der Eintragung der Personenstandsurkunde oder des Personenstandssachverhalts bei den ausländischen Behörden oder dem Zeitpunkt des Erwerbs bzw. Wiedererlangens der rumänischen Staatsangehörigkeit die Umschrift der Personenstandsurkunden oder ‑auszüge bei der örtlichen Behörde für das Personenregister oder dem Rathaus der zuständigen örtlichen Verwaltungseinheit oder den diplomatischen oder berufskonsularischen Vertretungen Rumäniens zu beantragen.
(3) Die Umschreibung der Personenstandsurkunden/‑auszüge/mehrsprachigen Personenstandsauszüge erfolgt im Ausland mit Zustimmung der Leiter der diplomatischen oder berufskonsularischen Vertretungen und im Inland mit Zustimmung des Bürgermeisters der Verwaltungseinheit des Wohnorts/letzten Wohnsitzes des Inhabers bzw. des Antragstellers in Rumänien und mit Zustimmung des Leiters der Behörde für das Personenregister des Kreises/der gemeinschaftlichen örtlichen Behörde für das Personenregister des Bezirks Bukarest, wobei ihre Ablehnung zu begründen ist.“
19 In Art. 43 dieses Gesetzes heißt es:
„In Geburtsurkunden und gegebenenfalls in Heirats- oder Sterbeurkunden werden Eintragungen über Änderungen des Personenstands in folgenden Fällen vorgenommen:
…
f) Änderung des Namens;
…
i) Änderung des Geschlechts nach einer rechtskräftigen gerichtlichen Entscheidung;
…“
20 Art. 57 Abs. 1 dieses Gesetzes sieht vor:
„Die Kraftloserklärung, Ergänzung oder Änderung von Personenstandsurkunden und der darin enthaltenen Angaben kann nur aufgrund einer rechtskräftigen gerichtlichen Entscheidung erfolgen.“
21 In Art. 4 Abs. 2 der Ordonanța Guvernului nr. 41/2003 privind dobândirea și schimbarea pe cale administrativă a numelor persoanelor fizice (Regierungsverordnung Nr. 41/2003 über den Erwerb und die Änderung der Namen natürlicher Personen im Verwaltungsweg) vom 30. Januar 2003 (Monitorul Oficial al României, Teil I, Nr. 68 vom 2. Februar 2003) hieß es:
„Anträge auf Namensänderung gelten in den folgenden Fällen als begründet:
…
l)
wenn die Person eine Genehmigung der Geschlechtsänderung durch eine in Rechtskraft erwachsene und unwiderrufliche gerichtliche Entscheidung erhalten hat und unter Vorlage einer rechtsmedizinischen Bescheinigung, in der ihr Geschlecht angegeben ist, beantragt, einen entsprechenden Namen zu führen;
…“
22 Art. 131 Abs. 2 der durch die Hotărârea Guvernului Nr. 64/2011 (Regierungsbeschluss Nr. 64/2011) vom 26. Januar 2011 (Monitorul Oficial al României, Teil I, Nr. 151 vom 2. März 2011) genehmigte Metodologie cu privire la aplicarea unitară a dispozițiilor în materie de stare civilă (Methodik zur einheitlichen Anwendung der Vorschriften des Personenstandsrechts) sieht vor:
„Die Personenidentifikationsnummer wird auf der Grundlage der in der Geburtsurkunde eingetragenen Angaben des Geschlechts und des Geburtsdatums zugeteilt.“
23 Nach Art. 19 Abs. 1 Buchst. i der Ordonanța de urgență a Guvernului nr. 97/2005 privind evidența, domiciliul, reședința și actele de identitate ale cetățenilor români (Dringlichkeitsverordnung Nr. 97/2005 der Regierung über das Personenregister, den Hauptwohnsitz, den Nebenwohnsitz und die Identitätsnachweise rumänischer Staatsangehöriger) vom 14. Juli 2005 in der neu bekannt gemachten Fassung (Monitorul Oficial al României, Teil I, Nr. 719 vom 12. Oktober 2011) stellt die für das Personenregister zuständige Behörde im Fall der Geschlechtsänderung einen neuen Personalausweis aus.
Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefragen
24 M.‑A. A. ist eine am 24. August 1992 in Cluj-Napoca im Județul Cluj (Kreis Cluj, Rumänien) geborene Person, die bei der Geburt als weibliche Person registriert wurde. Ihre rumänische Geburtsurkunde enthält einen weiblichen Vornamen, weist sie als weiblichen Geschlechts aus und ordnet ihr eine Personenidentifikationsnummer zu, die sie ebenfalls als weiblich ausweist.
25 Nachdem M.‑A. A. im Jahr 2008 mit seinen Eltern ins Vereinigte Königreich gezogen war, erwarb er am 21. April 2016 im Wege der Einbürgerung die britische Staatsangehörigkeit.
26 Am 27. Februar 2017 änderte M.‑A. A. im Vereinigten Königreich seinen Vornamen und seine Anrede, indem er nach dem Deed-Poll-Verfahren, das es britischen Staatsbürgern ermöglicht, ihren Namen oder ihren Vornamen durch einfache Erklärung zu ändern, von weiblich zu männlich wechselte. Anschließend ließ er bestimmte von den britischen Behörden ausgestellte amtliche Dokumente austauschen, und zwar seinen Führerschein und seinen Reisepass, die auf seinen neuen Namen ausgestellt wurden.
27 Am 29. Juni 2020 erhielt M.‑A. A. im Vereinigten Königreich ein „Gender Identity Certificate“ (Geschlechtsidentitätsbescheinigung), eine Urkunde, die seine männliche Geschlechtsidentität bestätigt.
28 Im Mai 2021 beantragte M.‑A. A. auf der Grundlage der im Deed-Poll-Verfahren abgegebenen Erklärung und der Geschlechtsidentitätsbescheinigung bei der Direktion für das Personenregister – Standesamt – von Cluj die Eintragung von seiner männlichen Geschlechtszugehörigkeit entsprechenden Vermerken über die Änderung seines Vornamens, seines Geschlechts und seiner Personenidentifikationsnummer in seine Geburtsurkunde sowie die Ausstellung einer neuen Geburtsbescheinigung mit diesen neuen Angaben.
29 Mit Entscheidung vom 21. Juni 2021 lehnten die rumänischen Behörden den Antrag von M.‑A. A. u. a. mit der Begründung ab, dass gemäß Art. 43 Buchst. i des Gesetzes Nr. 119/1996 in Verbindung mit Art. 4 Abs. 2 Buchst. l der Regierungsverordnung Nr. 41/2003 ein Vermerk über die Änderung der Geschlechtsidentität einer Person in ihre Geburtsurkunde nur dann eingetragen werden könne, wenn diese Änderung durch eine rechtskräftige gerichtliche Entscheidung genehmigt worden sei.
30 Am 14. September 2021 erhob M.‑A. A. bei der Judecătoria Sectorului 6 Bucureşti (Gericht erster Instanz Stadtbezirk 6 Bukarest, Rumänien), dem vorlegenden Gericht, gegen die Direktion für das Personenregister – Standesamt – von Cluj, die für das Personenregister und die Verwaltung der Datenbanken des Innenministeriums zuständige Direktion und die Gemeinde Cluj-Napoca Klage und beantragte, diese Behörden zu verurteilen, in seine Geburtsurkunde die Vermerke zur Änderung seines Vornamens, seiner Geschlechtsidentität und seiner Personenidentifikationsnummer einzutragen, so dass sie der männlichen Geschlechtszugehörigkeit entsprechen, und ihm eine neue Geburtsbescheinigung mit diesen neuen Angaben auszustellen.
31 M.‑A. A. beantragt insbesondere, in unmittelbarer Anwendung des Unionsrechts und insbesondere des Rechts jedes Unionsbürgers, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, diesen Behörden aufzugeben, seine Geburtsurkunde mit seinem Vornamen und seiner Geschlechtsidentität, die er im Vereinigten Königreich rechtmäßig erworben habe, in Einklang zu bringen, um ihm zu ermöglichen, dieses Recht ungehindert auszuüben, indem er über ein Reisedokument verfüge, das seiner männlichen Geschlechtsidentität entspreche. M.‑A. A. ist der Ansicht, dass er, da er ein neues Verfahren gerichtlicher Art in Rumänien anstrengen müsse, um die Genehmigung der Änderung der Geschlechtsidentität zu erhalten, Gefahr laufe, dass dieses Verfahren zu einem anderen Ergebnis führe als dem, zu dem die britischen Behörden gelangt seien. Außerdem habe der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte dieses Verfahren in seinem Urteil vom 19. Januar 2021, X und Y/Rumänien (CE:ECHR:2021:0119JUD000214516), als unklar und unvorhersehbar eingestuft.
32 Nach Ansicht des vorlegenden Gerichts hängt die Begründetheit der Anträge von M.‑A. A. und damit die Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits von der Auslegung von Bestimmungen des Unionsrechts ab, insbesondere von Art. 2 EUV, der Art. 18, 20 und 21 AEUV sowie der Art. 1, 7, 20, 21 und 45 der Charta. Im Einzelnen fragt es sich, ob der Unionsbürgerstatus und das Recht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, einer nationalen Regelung entgegenstehen, die den Betroffenen verpflichtet, ein neues Verfahren zur Änderung der Geschlechtsidentität vor den nationalen Gerichten anzustrengen, wenn er ein entsprechendes Verfahren in einem anderen Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit er ebenfalls besitzt, bereits erfolgreich abgeschlossen hat.
33 Unter Bezugnahme auf die einschlägige Rechtsprechung des Gerichtshofs, insbesondere die Urteile vom 2. Oktober 2003, Garcia Avello (C‑148/02, EU:C:2003:539), vom 14. Oktober 2008, Grunkin und Paul (C‑353/06, EU:C:2008:559), vom 8. Juni 2017, Freitag (C‑541/15, EU:C:2017:432), und vom 14. Dezember 2021, Stolichna obshtina, rayonPancharevo (C‑490/20, EU:C:2021:1008), vertritt das vorlegende Gericht die Auffassung, dass sich die Antwort auf diese Frage nicht mit der erforderlichen Klarheit aus dieser Rechtsprechung ergebe.
34 Für den Fall, dass diese Frage bejaht werden sollte, möchte das vorlegende Gericht außerdem wissen, wie sich der Austritt des Vereinigten Königreichs aus der Union auf die Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits auswirkt. Es weist insbesondere darauf hin, dass im vorliegenden Fall das Verfahren zur Änderung der Geschlechtsidentität im Vereinigten Königreich vor dem Austritt dieses Staates aus der Union eingeleitet worden sei, aber nach diesem Austritt während des Übergangszeitraums abgeschlossen worden sei. Daher sei zu prüfen, ob Rumänien unter solchen Umständen verpflichtet sei, die Rechtswirkungen dieses im Vereinigten Königreich durchgeführten Verfahrens zur Änderung der Geschlechtsidentität anzuerkennen.
35 Unter diesen Umständen hat die Judecătoria Sectorului 6 București (Gericht erster Instanz Stadtbezirk 6 Bukarest) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
1. Steht der Umstand, dass Art. 43 Buchst. i und Art. 57 des Gesetzes Nr. 119/1996 Änderungen der Angaben zum Personenstand hinsichtlich des Geschlechts und des Vornamens, die ein Transgender-Mann mit doppelter Staatsangehörigkeit (der rumänischen und der Staatsangehörigkeit eines anderen Mitgliedstaats) in einem anderen Mitgliedstaat mittels eines Verfahrens zur rechtlichen Anerkennung des Geschlechts rechtswirksam erworben hat, nicht anerkennen und den rumänischen Staatsbürger dazu verpflichten, ein vollständiges gesondertes Gerichtsverfahren in Rumänien gegen die Personenstandsbehörde zu führen – ein Verfahren, das vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte als unklar und unvorhersehbar eingestuft wurde (EGMR, 19. Januar 2021, X und Y/Rumänien, CE:ECHR:2021:0119JUD000214516) und das zu einer Entscheidung führen kann, die der des anderen Mitgliedstaats zuwiderläuft –, dem entgegen, dass das Recht auf Unionsbürgerschaft (Art. 20 AEUV) und/oder das Recht der Unionsbürger auf Freizügigkeit und freien Aufenthalt (Art. 21 AEUV und Art. 45 der Charta) unter Wahrung der Würde, der Gleichheit vor dem Gesetz und der Nichtdiskriminierung (Art. 2 EUV, Art. 18 AEUV und Art. 1, 20 und 21 der Charta) sowie unter Wahrung des Rechts auf Privat- und Familienleben (Art. 7 der Charta) ausgeübt werden kann?
2. Wirkt sich der Austritt des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland aus der Union auf die Beantwortung der ersten Frage aus, insbesondere wenn i) das Verfahren zur Änderung des Personenstands vor dem Brexit begonnen und während des Übergangszeitraums abgeschlossen wurde und wenn ii) der Brexit bewirkt, dass eine Person von den Rechten im Zusammenhang mit der Unionsbürgerschaft, einschließlich des Rechts auf Freizügigkeit und freien Aufenthalt, nur auf der Grundlage rumänischer Identitäts- oder Reisedokumente Gebrauch machen kann, in denen das weibliche Geschlecht und ein weiblicher Vorname angegeben sind, obwohl dies ihrer bereits rechtlich anerkannten Geschlechtsidentität widerspricht?
Zur Zulässigkeit des Vorabentscheidungsersuchens
36 Die rumänische Regierung hält das Vorabentscheidungsersuchen für unzulässig, weil M.‑A. A. erst im Mai 2021, d. h. nach dem gemäß Art. 126 des Austrittsabkommens auf den 31. Dezember 2020 festgesetzten Ablauf des Übergangszeitraums, bei den zuständigen rumänischen Behörden beantragt habe, die Änderungen des Vornamens und der Geschlechtsidentität, die in den Jahren 2017 und 2020 im Vereinigten Königreich erlangt worden seien, in seine rumänische Geburtsurkunde einzutragen.
37 Zum Zeitpunkt der Befassung dieser Behörden sei das Vereinigte Königreich somit im Verhältnis zur Union ein Drittstaat gewesen, so dass sich Unionsbürger und Staatsangehörige des Vereinigten Königreichs nicht mehr auf ihre Rechte aus dem Austrittsabkommen hätten berufen können. Unter Bezugnahme auf das Urteil vom 12. Mai 2011, Runevič-Vardyn und Wardyn (C‑391/09, EU:C:2011:291, Rn. 55 und 56), in dem der Gerichtshof die Anwendbarkeit der Bestimmungen des AEU‑Vertrags über die Unionsbürgerschaft auf die gegenwärtigen Wirkungen von Sachverhalten festgestellt habe, die vor dem Beitritt eines Mitgliedstaats zur Union entstanden seien, macht die rumänische Regierung geltend, dass diese Bestimmungen mutatis mutandis nach dem Austritt eines Staates nicht mehr auf die gegenwärtigen Wirkungen von Sachverhalten angewandt werden könnten, die entstanden seien, als dieser noch Mitglied der Union gewesen sei. Es liege hier also ein rein innerstaatlicher Sachverhalt vor.
38 Nach ständiger Rechtsprechung ist es im Rahmen der durch Art. 267 AEUV geschaffenen Zusammenarbeit zwischen dem Gerichtshof und den nationalen Gerichten allein Sache des nationalen Gerichts, das mit dem Rechtsstreit befasst ist und in dessen Verantwortungsbereich die zu erlassende Entscheidung fällt, anhand der Besonderheiten der Rechtssache sowohl die Erforderlichkeit einer Vorabentscheidung für den Erlass seines Urteils als auch die Erheblichkeit der dem Gerichtshof vorzulegenden Fragen zu beurteilen. Daher ist der Gerichtshof grundsätzlich gehalten, über ihm vorgelegte Fragen zu befinden, wenn diese die Auslegung des Unionsrechts betreffen (Urteil vom 15. Juli 2021, The Department for Communities in Northern Ireland,C‑709/20, EU:C:2021:602, Rn. 54 und die dort angeführte Rechtsprechung).
39 Der Gerichtshof kann die Beantwortung einer Vorlagefrage eines nationalen Gerichts nur ablehnen, wenn die Auslegung des Unionsrechts, um die er ersucht wird, offensichtlich in keinem Zusammenhang mit den Gegebenheiten oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits steht, wenn das Problem hypothetischer Natur ist oder wenn der Gerichtshof nicht über die tatsächlichen und rechtlichen Angaben verfügt, die für eine zweckdienliche Beantwortung der ihm vorgelegten Fragen erforderlich sind (Urteil vom 15. Juli 2021, The Department for Communities in Northern Ireland,C‑709/20, EU:C:2021:602, Rn. 55 und die dort angeführte Rechtsprechung).
40 Im vorliegenden Fall ersucht das vorlegende Gericht den Gerichtshof um Auslegung u. a. der Bestimmungen des AEU‑Vertrags über die Unionsbürgerschaft, darunter Art. 21 Abs. 1 AEUV, im Rahmen einer Rechtssache, in der eine Person mit der Staatsangehörigkeit ihres Geburtslands Rumänien und des Vereinigten Königreichs, wo sie seit 2008 wohnt, die Aktualisierung ihrer Geburtsurkunde beantragt, damit diese mit ihrem neuen Vornamen und ihrer neuen Geschlechtsidentität übereinstimmt, die im Vereinigten Königreich vor dem Ende des auf den 31. Dezember 2020 festgelegten Übergangszeitraums rechtmäßig erworben wurden.
41 Insoweit ist erstens festzustellen, dass sich ein Staatsangehöriger eines Mitgliedstaats, der in seiner Eigenschaft als Unionsbürger von seinem Recht, sich in einem anderen Mitgliedstaat als seinem Herkunftsmitgliedstaat frei zu bewegen und aufzuhalten, Gebrauch gemacht hat, auf die mit dieser Eigenschaft verbundenen Rechte, insbesondere die in Art. 21 Abs. 1 AEUV vorgesehenen, berufen kann, und zwar gegebenenfalls auch gegenüber seinem Herkunftsmitgliedstaat (Urteil vom 14. Dezember 2021, Stolichna obshtina, rayonPancharevo, C‑490/20, EU:C:2021:1008, Rn. 42 und die dort angeführte Rechtsprechung).
42 Im vorliegenden Fall ist die Personenstandsänderung von M.‑A. A. im Vereinigten Königreich hinsichtlich des Namens noch während der Mitgliedschaft dieses Staates in der Union und hinsichtlich der Geschlechtsidentität während des Übergangszeitraums eingetreten.
43 Zweitens ist das Vereinigte Königreich zwar am 1. Februar 2020, dem Tag des Inkrafttretens des Austrittsabkommens, aus der Union ausgetreten und damit zu einem Drittstaat geworden, doch sieht dieses Abkommen in seinem Art. 126 einen Übergangszeitraum zwischen dem Zeitpunkt des Inkrafttretens des Austrittsabkommens, d. h. dem 1. Februar 2020, und dem 31. Dezember 2020 vor. Nach Art. 127 Abs. 6 des Abkommens ist das Vereinigte Königreich während dieses Zeitraums u. a. für die Zwecke der Vorschriften über die Unionsbürgerschaft und die Freizügigkeit als „Mitgliedstaat“ und nicht als Drittstaat anzusehen, wobei Art. 127 Abs. 1 im Übrigen klarstellt, dass das Unionsrecht während dieses Übergangszeitraums für das Vereinigte Königreich galt (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 15. Juli 2021, The Department for Communities in Northern Ireland,C‑709/20, EU:C:2021:602, Rn. 47 und 48, sowie vom 14. März 2024, Kommission/Vereinigtes Königreich [Urteil des Obersten Gerichtshofs], C‑516/22, EU:C:2024:231, Rn. 53).
44 Da, wie der Generalanwalt in den Nrn. 44 bis 46 seiner Schlussanträge im Wesentlichen ausgeführt hat, M.‑A. A. in seiner Eigenschaft als Unionsbürger in seinem Herkunftsmitgliedstaat die Anerkennung der Änderung seines Vornamens und seiner Geschlechtsidentität verlangt, die er im Rahmen der Ausübung seines Rechts, sich im Vereinigten Königreich frei zu bewegen und aufzuhalten, vor dem Austritt dieses Mitgliedstaats aus der Union bzw. vor dem Ende des Übergangszeitraums erlangt hat, kann er sich gegenüber dem Herkunftsmitgliedstaat auf die mit dieser Eigenschaft verbundenen Rechte, insbesondere die in den Art. 20 und 21 AEUV vorgesehenen Rechte, berufen, und zwar auch nach diesem Zeitraum.
45 Folglich kann der im Ausgangsverfahren in Rede stehende Sachverhalt nicht allein deshalb einem rein innerstaatlichen Sachverhalt gleichgestellt werden, weil M.‑A. A. nach dem 31. Dezember 2020, dem im Austrittsabkommen als Ende des Übergangszeitraums festgelegten Zeitpunkt, bei den zuständigen rumänischen Behörden die Eintragung von Vermerken zur Änderung seines Vornamens und seiner Geschlechtsidentität in seine Geburtsurkunde beantragt hat.
46 Folglich ist das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen zulässig.
Zu den Vorlagefragen
47 Mit seinen Fragen, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 20 und Art. 21 Abs. 1 AEUV, gelesen im Licht der Art. 7 und 45 der Charta, dahin auszulegen sind, dass sie einer Regelung eines Mitgliedstaats entgegenstehen, die es nicht erlaubt, die Änderung des Vornamens und der Geschlechtsidentität eines Angehörigen dieses Mitgliedstaats, die in einem anderen Mitgliedstaat während der Ausübung seines Rechts auf Freizügigkeit und freien Aufenthalt rechtmäßig erworben wurde, anzuerkennen und in die Geburtsurkunde des Betroffenen einzutragen, mit der Folge, dass er gezwungen ist, ein neues Verfahren gerichtlicher Art zur Änderung der Geschlechtsidentität im erstgenannten Mitgliedstaat anzustrengen, das diese in dem anderen Mitgliedstaat bereits rechtmäßig erworbene Änderung außer Acht lässt.
48 Das vorlegende Gericht möchte ferner wissen, ob es Auswirkungen auf die Beantwortung dieser Frage hat, dass der Staat, in dem die Änderung des Vornamens und der Geschlechtsidentität rechtmäßig erlangt wurde, hier das Vereinigte Königreich, kein Mitgliedstaat der Union mehr ist.
49 Zum letztgenannten Punkt ist vorab festzustellen, dass sich aus den Erwägungen in den Rn. 41 bis 45 des vorliegenden Urteils zur Zulässigkeit des vorliegenden Vorabentscheidungsersuchens ergibt, dass der Umstand, dass das Vereinigte Königreich kein Mitgliedstaat der Union mehr ist, keine Auswirkungen auf die Beantwortung der ersten Vorlagefrage hat, da die Situation von M.‑A. A. in den Anwendungsbereich von Art. 20 und Art. 21 Abs. 1 AEUV fällt.
50 Folglich genießt M.‑A. A. als rumänischer Staatsbürger nach Art. 20 Abs. 1 AEUV den Status eines Unionsbürgers.
51 Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs ist der Unionsbürgerstatus dazu bestimmt, der grundlegende Status der Angehörigen der Mitgliedstaaten zu sein (Urteile vom 5. Juni 2018, Coman u. a.,C‑673/16, EU:C:2018:385, Rn. 30, sowie vom 14. Dezember 2021, Stolichna obshtina, rayon Pancharevo, C‑490/20, EU:C:2021:1008, Rn. 41 und die dort angeführte Rechtsprechung).
52 Art. 20 Abs. 2 sowie die Art. 21 und 22 AEUV knüpfen an diesen Status eine Reihe von Rechten. Die Unionsbürgerschaft verleiht nach Art. 20 Abs. 2 Buchst. a und Art. 21 Abs. 1 AEUV jedem Unionsbürger u. a. ein elementares, persönliches Recht, sich vorbehaltlich der im Vertrag vorgesehenen Beschränkungen und Bedingungen und der Maßnahmen zu ihrer Durchführung im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten (Urteil vom 9. Juni 2022, Préfet du Gers und Institut national de la statistique et des études économiques, C‑673/20, EU:C:2022:449, Rn. 50 und die dort angeführte Rechtsprechung).
53 Beim derzeitigen Stand des Unionsrechts fällt das Personenstandsrecht, zu dem die Regelungen über die Änderung des Vornamens und der Geschlechtsidentität einer Person gehören, in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten, und das Unionsrecht lässt diese Zuständigkeit unberührt. Bei der Ausübung dieser Zuständigkeit müssen die Mitgliedstaaten jedoch das Unionsrecht und insbesondere die Bestimmungen des AEU‑Vertrags über die jedem Unionsbürger zuerkannte Freiheit, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, beachten und hierzu den in einem anderen Mitgliedstaat nach dessen Recht festgestellten Personenstand anerkennen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 26. Juni 2018, MB [Geschlechtsumwandlung und Altersrente], C‑451/16, EU:C:2018:492, Rn. 29, und vom 14. Dezember 2021, Stolichna obshtina, rayon Pancharevo, C‑490/20, EU:C:2021:1008, Rn. 52 und die dort angeführte Rechtsprechung).
54 In diesem Zusammenhang hat der Gerichtshof in Bezug auf die Weigerung der Behörden eines Mitgliedstaats, den Namen eines Angehörigen dieses Staates, der von seinem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch gemacht hat und auch die Staatsangehörigkeit eines anderen Mitgliedstaats besitzt, so anzuerkennen, wie er dort bestimmt wurde, entschieden, dass eine solche Weigerung die Ausübung des in Art. 21 AEUV verankerten Rechts, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, behindern kann. Eine Divergenz zwischen zwei für dieselbe Person verwendeten Namen kann nämlich zu Missverständnissen und Nachteilen führen, da viele alltägliche Handlungen im öffentlichen wie im privaten Bereich den Nachweis der eigenen Identität erfordern (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 8. Juni 2017, Freitag,C‑541/15, EU:C:2017:432, Rn. 36 und 37 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).
55 Eine solche Behinderung kann sich auch aus der Weigerung der Behörden ergeben, die Änderung der Geschlechtsidentität anzuerkennen, die in Anwendung der hierfür vorgesehenen Verfahren in dem Mitgliedstaat, in dem der Unionsbürger von seiner Freizügigkeit und seinem Aufenthaltsrecht Gebrauch gemacht hat, vorgenommen wurde, unabhängig davon, ob diese Änderung, wie im vorliegenden Fall, mit einer Änderung des Vornamens einhergeht oder nicht. Wie der Name definiert nämlich das Geschlecht die Identität und den persönlichen Status einer Person. Daher können dem Angehörigen eines Mitgliedstaats aus der Weigerung, die Geschlechtsidentität, die er in einem anderen Mitgliedstaat rechtmäßig erworben hat, zu ändern und anzuerkennen, schwerwiegende Nachteile administrativer, beruflicher und privater Art im Sinne der Rechtsprechung des Gerichtshofs erwachsen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 2. Juni 2016, Bogendorff von Wolffersdorff,C‑438/14, EU:C:2016:401, Rn. 38 und die dort angeführte Rechtsprechung).
56 So besteht für einen Unionsbürger, der, wie der Kläger des Ausgangsverfahrens, von seinem Recht Gebrauch gemacht hat, sich in einem anderen Mitgliedstaat frei zu bewegen und aufzuhalten, und der während seines Aufenthalts in diesem anderen Mitgliedstaat seinen Vornamen und seine Geschlechtsidentität gemäß den hierfür in diesem anderen Mitgliedstaat vorgesehenen Verfahren geändert hat, aufgrund der Tatsache, dass er zwei verschiedene Vornamen trägt und ihm zwei unterschiedliche Geschlechtsidentitäten zuerkannt werden, die konkrete Gefahr, dass er Zweifel an seiner Identität sowie an der Echtheit der von ihm vorgelegten Dokumente oder an der Wahrheitsgemäßheit der darin enthaltenen Angaben ausräumen muss; dieser Umstand ist geeignet, die Ausübung des Rechts aus Art. 21 AEUV zu behindern (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 2. Juni 2016, Bogendorff von Wolffersdorff,C‑438/14, EU:C:2016:401, Rn. 40 und die dort angeführte Rechtsprechung, und vom 8. Juni 2017, Freitag,C‑541/15, EU:C:2017:432, Rn. 38).
57 Folglich ist die Weigerung der zuständigen Personenstandsbehörden eines Mitgliedstaats, die von einem Angehörigen dieses Mitgliedstaats in einem anderen Mitgliedstaat rechtmäßig erworbene Änderung des Vornamens und der Geschlechtsidentität in den Personenstandsregistern und insbesondere in der Geburtsurkunde des Angehörigen dieses Mitgliedstaats anzuerkennen und einzutragen, die auf einer nationalen Regelung beruht, wonach eine solche Anerkennung und Eintragung nicht zulässig sind und der Betroffene somit gezwungen ist, ein neues Verfahren gerichtlicher Art zur Änderung der Geschlechtsidentität im erstgenannten Mitgliedstaat anzustrengen, das diese in dem anderen Mitgliedstaat bereits rechtmäßig erworbene Änderung außer Acht lässt, geeignet, die Ausübung des Rechts, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zu beschränken.
58 Eine solche Beschränkung ist auch in Bezug auf das in Art. 45 Abs. 1 der Charta verankerte Recht festzustellen. Dieses Recht entspricht nämlich dem in Art. 20 Abs. 2 Unterabs. 1 Buchst. a AEUV garantierten Recht und wird gemäß Art. 20 Abs. 2 Unterabs. 2 AEUV und Art. 52 Abs. 2 der Charta unter den Bedingungen und innerhalb der Grenzen ausgeübt, die in den Verträgen und durch die in Anwendung der Verträge erlassenen Maßnahmen festgelegt sind. Demnach würde jede Beschränkung der in Art. 21 Abs. 1 AEUV vorgesehenen Rechte zwangsläufig gegen Art. 45 Abs. 1 der Charta verstoßen, da das in der Charta verankerte Recht jedes Unionsbürgers, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, das durch Art. 21 Abs. 1 AEUV gewährte Recht widerspiegelt (Urteil vom 22. Februar 2024, Direcţia pentru Evidenţa Persoanelor şi Administrarea Bazelor de Date,C‑491/21, EU:C:2024:143, Rn. 49 und 50).
59 Nach ständiger Rechtsprechung lässt sich eine nationale Regelung wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende, die geeignet ist, die Ausübung dieses in Art. 21 AEUV verankerten Rechts zu beschränken, nur rechtfertigen, wenn sie auf objektiven Erwägungen beruht und in einem angemessenen Verhältnis zu dem mit dem nationalen Recht berechtigterweise verfolgten Zweck steht (Urteil vom 2. Juni 2016, Bogendorff von Wolffersdorff,C‑438/14, EU:C:2016:401, Rn. 48 und die dort angeführte Rechtsprechung).
60 In diesem Zusammenhang ist ferner darauf hinzuweisen, dass nach ständiger Rechtsprechung eine nationale Regelung, die es verhindert, dass eine Transgender-Person wegen fehlender Anerkennung ihrer neuen Geschlechtsidentität eine notwendige Voraussetzung erfüllen kann, um in den Genuss eines unionsrechtlich geschützten Anspruchs zu gelangen, grundsätzlich als mit dem Unionsrecht unvereinbar anzusehen ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 27. April 2006, Richards,C‑423/04, EU:C:2006:256, Rn. 31 und die dort angeführte Rechtsprechung).
61 Im vorliegenden Fall haben weder das vorlegende Gericht noch die rumänische Regierung Angaben zu den Zielen gemacht, die mit der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden nationalen Regelung verfolgt werden, die die Anerkennung und Eintragung der in einem anderen Mitgliedstaat rechtmäßig erworbenen Änderung des Vornamens und der Geschlechtsidentität in der Geburtsurkunde nicht erlaubt und den Betroffenen somit zwingt, ein neues Verfahren zur Änderung der Geschlechtsidentität vor den nationalen Gerichten anzustrengen, das diese in dem anderen Mitgliedstaat bereits rechtmäßig erworbene Änderung außer Acht lässt.
62 Darüber hinaus kann diese nationale Regelung, selbst wenn sie ein legitimes Ziel verfolgen sollte, jedenfalls nur dann als gerechtfertigt angesehen werden, wenn sie mit den durch die Charta garantierten Grundrechten, deren Wahrung der Gerichtshof sichert (Urteil vom 14. Dezember 2021, Stolichna obshtina, rayon Pancharevo, C‑490/20, EU:C:2021:1008, Rn. 58 und die dort angeführte Rechtsprechung), und insbesondere mit dem in Art. 7 der Charta verankerten Recht auf Achtung des Privatlebens vereinbar ist.
63 Insoweit geht aus den Erläuterungen zur Charta der Grundrechte (ABl. 2007, C 303, S. 17) hervor, dass nach Art. 52 Abs. 3 der Charta die in deren Art. 7 verbürgten Rechte die gleiche Bedeutung und Tragweite haben wie die Rechte aus Art. 8 der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (im Folgenden: EMRK) (Urteil vom 14. Dezember 2021, Stolichna obshtina, rayon Pancharevo, C‑490/20, EU:C:2021:1008, Rn. 60), wobei die letztgenannte Bestimmung einen Mindestschutzstandard darstellt (vgl. entsprechend Urteil vom 29. Juli 2024, Alchaster,C‑202/24, EU:C:2024:649, Rn. 92 und die dort angeführte Rechtsprechung).
64 Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte schützt Art. 8 EMRK die Geschlechtsidentität einer Person als konstitutives Element und eine der intimsten Angelegenheiten ihres Privatlebens. Somit umfasst diese Bestimmung das Recht jedes Einzelnen, die Einzelheiten seiner Identität als Mensch festzulegen, was das Recht transsexueller Personen auf persönliche Entwicklung und auf körperliche und moralische Unversehrtheit sowie auf Achtung und Anerkennung ihrer Geschlechtsidentität umfasst (EGMR, 11. Juli 2002, Christine Goodwin/Vereinigtes Königreich, CE:ECHR:2002:0711JUD002895795, §§ 77, 78 und 90, EGMR, 12. Juni 2003, Van Kück/Deutschland, CE:ECHR:2003:0612JUD003596897, §§ 69 bis 75 und 82, sowie EGMR, 19. Januar 2021, X und Y/Rumänien, CE:ECHR:2021:0119JUD000214516, §§ 147 und 165).
65 Dieser Art. 8 erlegt den Staaten zu diesem Zweck neben negativen Verpflichtungen, die den Schutz transsexueller Personen vor willkürlichen Eingriffen des Staates bezwecken, positive Verpflichtungen auf, was auch die Einrichtung wirksamer und zugänglicher Verfahren impliziert, die eine wirksame Achtung ihres Rechts auf sexuelle Identität gewährleisten. Zudem verfügen die Staaten angesichts der besonderen Bedeutung dieses Rechts in diesem Bereich nur über einen begrenzten Ermessensspielraum (EGMR, 19. Januar 2021, X und Y/Rumänien, CE:ECHR:2021:0119JUD000214516, §§ 146 bis 148 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie EGMR, 1. Dezember 2022, A. D. u. a./Georgien, CE:ECHR:2022:1201JUD005786417, § 71).
66 Aus der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte ergibt sich somit, dass die Staaten nach dem genannten Art. 8 verpflichtet sind, ein klares und vorhersehbares Verfahren für die rechtliche Anerkennung der Geschlechtsidentität vorzusehen, das die Änderung des Geschlechts und damit des Namens oder der Personenidentifikationsnummer in amtlichen Dokumenten auf schnelle, transparente und zugängliche Weise ermöglicht (EGMR, 19. Januar 2021, X und Y/Rumänien, CE:ECHR:2021:0119JUD000214516, § 168).
67 Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat in seinem Urteil vom 19. Januar 2021, X und Y/Rumänien (CE:ECHR:2021:0119JUD000214516, §§ 157 und 168), jedoch festgestellt, dass das Verfahren – das in der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden nationalen Regelung vorgesehen ist – als mit Art. 8 EMRK unvereinbar anzusehen ist, da dieses Verfahren nicht den Anforderungen dieser Bestimmung für die Prüfung eines erstmals bei einem nationalen Gericht gestellten Antrags auf Änderung der Geschlechtsidentität entspricht.
68 Dieses Verfahren kann auch kein wirksames Mittel darstellen, das es einem Unionsbürger, der während seines Aufenthalts in einem anderen Mitgliedstaat und damit in Ausübung des durch Art. 21 AEUV und Art. 45 der Charta garantierten Rechts die Änderung seines Vornamens und seiner Geschlechtsidentität gemäß den hierfür in diesem Mitgliedstaat vorgesehenen Verfahren bereits rechtmäßig erworben hat, ermöglicht, seine Rechte aus diesen Artikeln, gelesen im Licht von Art. 7 der Charta, wirksam geltend zu machen, zumal dieses Verfahren den Unionsbürger der Gefahr aussetzt, dass es zu einem anderen Ergebnis führt als dem, zu dem die Behörden des Mitgliedstaats gelangt sind, die diese Änderung des Vornamens und der Geschlechtsidentität rechtmäßig gewährt haben.
69 Nach gefestigter Rechtsprechung kann eine nationale Regelung wie die über die Eintragung der Änderung des Vornamens und der Geschlechtsidentität in die Personenstandsregister nämlich nur dann mit dem Unionsrecht als vereinbar angesehen werden, wenn die Bestimmungen oder das innerstaatliche Verfahren für die Beantragung einer solchen Eintragung die Wahrnehmung der durch Art. 21 AEUV verliehenen Rechte und insbesondere des Rechts auf Anerkennung dieser Änderung nicht unmöglich machen oder übermäßig erschweren. Die Ausübung dieses Rechts kann aber durch das Ermessen in Frage gestellt werden, über das die zuständigen Behörden im Rahmen des Verfahrens zur Anerkennung und Eintragung des Vornamens und der Geschlechtsidentität verfügen, dem die Personen unterliegen, die diese Änderungen in einem anderen Mitgliedstaat rechtmäßig erworben haben. Das Bestehen eines solchen Ermessens kann zu einer Divergenz zwischen den beiden Namen und den beiden Geschlechtern, die derselben Person zum Nachweis ihrer Identität gegeben werden, sowie zu den in den Rn. 54 und 55 des vorliegenden Urteils genannten schwerwiegenden Nachteilen administrativer, beruflicher und privater Art führen.
70 Daher verstößt eine nationale Regelung wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende, die eine Eintragung des Vornamens und der Geschlechtsidentität, die in einem anderen Mitgliedstaat rechtmäßig erworben wurden, nicht erlaubt und den Betroffenen zwingt, ein neues Verfahren gerichtlicher Art zur Änderung der Geschlechtsidentität im Herkunftsmitgliedstaat anzustrengen, und dabei außer Acht lässt, dass der Unionsbürger die Änderung seines Vornamens und seiner Geschlechtsidentität in seinem Wohnsitzmitgliedstaat bereits rechtmäßig erworben und sich den hierfür in diesem Staat vorgesehenen Verfahren unterworfen hat, gegen die sich aus Art. 21 AEUV ergebenden Anforderungen.
71 Nach alledem ist auf die vorgelegten Fragen zu antworten, dass Art. 20 und Art. 21 Abs. 1 AEUV, gelesen im Licht der Art. 7 und 45 der Charta, dahin auszulegen sind, dass sie einer Regelung eines Mitgliedstaats entgegenstehen, die es nicht erlaubt, die Änderung des Vornamens und der Geschlechtsidentität eines Angehörigen dieses Mitgliedstaats, die in einem anderen Mitgliedstaat während der Ausübung seines Rechts auf Freizügigkeit und freien Aufenthalt rechtmäßig erworben wurde, anzuerkennen und in die Geburtsurkunde des Betroffenen einzutragen, mit der Folge, dass er gezwungen ist, im erstgenannten Mitgliedstaat ein neues Verfahren gerichtlicher Art zur Änderung der Geschlechtsidentität anzustrengen, das diese in dem anderen Mitgliedstaat bereits rechtmäßig erworbene Änderung außer Acht lässt. Insoweit ist es unerheblich, dass der Antrag auf Anerkennung und Eintragung der Änderung des Vornamens und der Geschlechtsidentität in diesem ersten Mitgliedstaat zu einem Zeitpunkt gestellt wurde, zu dem der Austritt des anderen Mitgliedstaats aus der Union bereits wirksam geworden war.
Kosten
72 Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Große Kammer) für Recht erkannt:
Die Art. 20 und 21 AEUV, gelesen im Licht der Art. 7 und 45 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union,
sind dahin auszulegen, dass
sie einer Regelung eines Mitgliedstaats entgegenstehen, die es nicht erlaubt, die Änderung des Vornamens und der Geschlechtsidentität eines Angehörigen dieses Mitgliedstaats, die in einem anderen Mitgliedstaat während der Ausübung seines Rechts auf Freizügigkeit und freien Aufenthalt rechtmäßig erworben wurde, anzuerkennen und in die Geburtsurkunde des Betroffenen einzutragen, mit der Folge, dass er gezwungen ist, im erstgenannten Mitgliedstaat ein neues Verfahren gerichtlicher Art zur Änderung der Geschlechtsidentität anzustrengen, das diese in dem anderen Mitgliedstaat bereits rechtmäßig erworbene Änderung außer Acht lässt.
Insoweit ist es unerheblich, dass der Antrag auf Anerkennung und Eintragung der Änderung des Vornamens und der Geschlechtsidentität in diesem ersten Mitgliedstaat zu einem Zeitpunkt gestellt wurde, zu dem der Austritt des anderen Mitgliedstaats aus der Europäischen Union bereits wirksam geworden war.
Unterschriften
(*1) Verfahrenssprache: Rumänisch.
(i
) Die vorliegende Rechtssache ist mit einem fiktiven Namen bezeichnet, der nicht dem echten Namen eines Verfahrensbeteiligten entspricht.
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Urteil des Gerichtshofs (Große Kammer) vom 22. Dezember 2022.#S. M.#Vorabentscheidungsersuchen dersOberlandesgerichts München.#Vorlage zur Vorabentscheidung – Unionsbürgerschaft – Art. 18 und 21 AEUV – An einen Mitgliedstaat gerichtetes Ersuchen eines Drittstaats um Auslieferung eines Unionsbürgers, der Staatsangehöriger eines anderen Mitgliedstaats ist und von seinem Recht auf Freizügigkeit im erstgenannten Mitgliedstaat Gebrauch gemacht hat – Zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe gestelltes Ersuchen – Nur für eigene Staatsangehörige geltendes Auslieferungsverbot – Beschränkung der Freizügigkeit – Rechtfertigung mit der Verhinderung von Straflosigkeit – Verhältnismäßigkeit.#Rechtssache C-237/21.
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62021CJ0237
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ECLI:EU:C:2022:1017
| 2022-12-22T00:00:00 |
Richard de la Tour, Gerichtshof
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Sammlung der Rechtsprechung – allgemein – Abschnitt „Informationen über nicht veröffentlichte Entscheidungen“
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62021CJ0237
URTEIL DES GERICHTSHOFS (Große Kammer)
22. Dezember 2022 (*1)
„Vorlage zur Vorabentscheidung – Unionsbürgerschaft – Art. 18 und 21 AEUV – An einen Mitgliedstaat gerichtetes Ersuchen eines Drittstaats um Auslieferung eines Unionsbürgers, der Staatsangehöriger eines anderen Mitgliedstaats ist und von seinem Recht auf Freizügigkeit im erstgenannten Mitgliedstaat Gebrauch gemacht hat – Zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe gestelltes Ersuchen – Nur für eigene Staatsangehörige geltendes Auslieferungsverbot – Beschränkung der Freizügigkeit – Rechtfertigung mit der Verhinderung von Straflosigkeit – Verhältnismäßigkeit“
In der Rechtssache C‑237/21
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Oberlandesgericht München (Deutschland) mit Beschluss vom 9. April 2021, beim Gerichtshof eingegangen am 13. April 2021, in dem Verfahren betreffend die Auslieferung von
S.M.,
Beteiligte:
Generalstaatsanwaltschaft München,
erlässt
DER GERICHTSHOF (Große Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten K. Lenaerts, des Vizepräsidenten L. Bay Larsen, des Kammerpräsidenten A. Arabadjiev, der Kammerpräsidentin K. Jürimäe (Berichterstatterin), der Kammerpräsidenten E. Regan und P. G. Xuereb, der Kammerpräsidentin L. S. Rossi, der Richter M. Ilešič, I. Jarukaitis, A. Kumin, N. Jääskinen und N. Wahl, der Richterin I. Ziemele, des Richters J. Passer und der Richterin O. Spineanu-Matei,
Generalanwalt: J. Richard de la Tour,
Kanzler: D. Dittert, Referatsleiter,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 26. April 2022,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
–
der Generalstaatsanwaltschaft München, vertreten durch J. Ettenhofer und F. Halabi als Bevollmächtigte,
–
der deutschen Regierung, vertreten durch J. Möller und M. Hellmann als Bevollmächtigte,
–
der tschechischen Regierung, vertreten durch A. Edelmannová, M. Smolek und J. Vláčil als Bevollmächtigte,
–
der spanischen Regierung, vertreten durch L. Aguilera Ruiz als Bevollmächtigten,
–
der kroatischen Regierung, vertreten durch G. Vidović Mesarek als Bevollmächtigte,
–
der litauischen Regierung, vertreten durch K. Dieninis und R. Dzikovič als Bevollmächtigte,
–
der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna als Bevollmächtigten,
–
der Europäischen Kommission, vertreten durch L. Baumgart, S. Grünheid und H. Leupold als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 14. Juli 2022
folgendes
Urteil
1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Art. 18 und 21 AEUV.
2 Es ergeht im Rahmen eines Auslieferungsersuchens der bosnisch-herzegowinischen Behörden an die Behörden der Bundesrepublik Deutschland betreffend S.M., der die kroatische, die bosnisch-herzegowinische und die serbische Staatsangehörigkeit besitzt, zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe.
Rechtlicher Rahmen
Europäisches Auslieferungsübereinkommen
3 Art. 1 des am 13. Dezember 1957 in Paris unterzeichneten Europäischen Auslieferungsübereinkommens (im Folgenden: Europäisches Auslieferungsübereinkommen) bestimmt:
„Die Vertragsparteien verpflichten sich, gemäß den nachstehenden Vorschriften und Bedingungen einander die Personen auszuliefern, die von den Justizbehörden des ersuchenden Staates wegen einer strafbaren Handlung verfolgt oder zur Vollstreckung einer Strafe oder einer Maßregel der Sicherung und Besserung gesucht werden.“
4 Art. 6 („Auslieferung eigener Staatsangehöriger“) dieses Übereinkommens sieht vor:
„1
a
Jede Vertragspartei ist berechtigt, die Auslieferung ihrer Staatsangehörigen abzulehnen.
b
Jede Vertragspartei kann, was sie betrifft, bei der Unterzeichnung oder der Hinterlegung ihrer Ratifikations- oder Beitrittsurkunde durch eine Erklärung den Begriff ‚Staatsangehörige‘ im Sinne dieses Übereinkommens bestimmen.
c
Für die Beurteilung der Eigenschaft als Staatsangehöriger ist der Zeitpunkt der Entscheidung über die Auslieferung maßgebend. …
2 Liefert der ersuchte Staat seinen Staatsangehörigen nicht aus, so hat er auf Begehren des ersuchenden Staates die Angelegenheit den zuständigen Behörden zu unterbreiten, damit gegebenenfalls eine gerichtliche Verfolgung durchgeführt werden kann. Zu diesem Zweck sind die auf die strafbare Handlung bezüglichen Akten, Unterlagen und Gegenstände kostenlos auf dem in Artikel 12 Abs. 1 vorgesehenen Wege zu übermitteln. Dem ersuchenden Staat ist mitzuteilen, inwieweit seinem Begehren Folge gegeben worden ist.“
5 Die Bundesrepublik Deutschland gab bei der Hinterlegung der Ratifikationsurkunde am 2. Oktober 1976 folgende Erklärung im Sinne von Art. 6 Abs. 1 Buchst. b des Europäischen Auslieferungsübereinkommens ab:
„Die Auslieferung eines Deutschen aus der Bundesrepublik Deutschland an das Ausland ist nach Artikel 16 Absatz 2 Satz 1 des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland [vom 23. Mai 1949, (BGBl. 1949 I, S. 1)] nicht zulässig und muss daher in jedem Fall abgelehnt werden.
Der Begriff ‚Staatsangehörige‘ im Sinne des Artikels 6 Absatz 1 Buchstabe b des Europäischen Auslieferungsübereinkommens umfasst alle Deutschen im Sinne des Artikels 116 Absatz 1 des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland.“
Übereinkommen über die Überstellung verurteilter Personen
6 Nach Art. 2 des Übereinkommens des Europarats vom 21. März 1983 über die Überstellung verurteilter Personen (im Folgenden: Übereinkommen über die Überstellung verurteilter Personen) können im Hoheitsgebiet eines Unterzeichnerstaats (Urteilsstaat) verurteilte Personen zum Vollzug der gegen sie verhängten Sanktion in das Hoheitsgebiet ihres Herkunftslands (Vollstreckungsstaat) überstellt werden. Dabei kann nach Art. 9 Abs. 1 Buchst. b dieses Übereinkommens die im Urteilsstaat verhängte Sanktion durch eine nach dem Recht des Vollstreckungsstaats für dieselbe Straftat vorgesehene Sanktion ersetzt werden.
7 Nach den Erwägungsgründen dieses Übereinkommens besteht das Ziel einer solchen Überstellung u. a. darin, die soziale Wiedereingliederung verurteilter Personen dadurch zu fördern, dass Ausländern, denen wegen der Begehung einer Straftat ihre Freiheit entzogen ist, Gelegenheit gegeben wird, die gegen sie verhängte Sanktion in ihrer Heimat zu verbüßen.
8 Seit dem 1. November 1995 sind alle Mitgliedstaaten der Europäischen Union an das Übereinkommen über die Überstellung verurteilter Personen gebunden. Dieses Übereinkommen, das auch Bosnien und Herzegowina bindet, trat in Deutschland am 1. Februar 1992 in Kraft.
Deutsches Recht
9 Art. 16 Abs. 2 des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland bestimmt:
„Kein Deutscher darf an das Ausland ausgeliefert werden. Durch Gesetz kann eine abweichende Regelung für Auslieferungen an einen Mitgliedstaat der Europäischen Union oder an einen internationalen Gerichtshof getroffen werden, soweit rechtsstaatliche Grundsätze gewahrt sind.“
10 Art. 116 Abs. 1 des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland lautet:
„Deutscher im Sinne dieses Grundgesetzes ist vorbehaltlich anderweitiger gesetzlicher Regelung, wer die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt oder als Flüchtling oder Vertriebener deutscher Volkszugehörigkeit oder als dessen Ehegatte oder Abkömmling in dem Gebiete des Deutschen Reiches nach dem Stande vom 31. Dezember 1937 Aufnahme gefunden hat.“
11 § 48 des Gesetzes über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen vom 23. Dezember 1982 (BGBl. 1982 I, S. 2071) in seiner auf den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens anwendbaren Fassung (im Folgenden: IRG) sieht vor:
„Rechtshilfe kann für ein Verfahren in einer strafrechtlichen Angelegenheit durch Vollstreckung einer im Ausland rechtskräftig verhängten Strafe oder sonstigen Sanktion geleistet werden. …“
12 Nach den §§ 54 und 55 IRG wird, soweit die Vollstreckung des ausländischen Erkenntnisses in Deutschland zulässig ist, die verhängte Sanktion in die ihr im deutschen Recht am meisten entsprechende Sanktion umgewandelt und das ausländische Erkenntnis für vollstreckbar erklärt. Nach § 57 Abs. 1 IRG führt die deutsche Staatsanwaltschaft die Vollstreckung durch, „soweit der ausländische Staat mit der Vollstreckung einverstanden ist“.
Ausgangsverfahren und Vorlagefrage
13 Am 5. November 2020 ersuchten die bosnisch-herzegowinischen Behörden die Bundesrepublik Deutschland um Auslieferung von S.M., der die kroatische, die bosnisch-herzegowinische und die serbische Staatsangehörigkeit besitzt, zur Vollstreckung der im Urteil des Gemeindegerichts Bosanska Krupa (Bosnien und Herzegowina) vom 24. März 2017 wegen Bestechlichkeit verhängten Freiheitsstrafe von sechs Monaten. S.M. lebt mit seiner Ehefrau seit Mitte des Jahres 2017 in Deutschland. Er arbeitet dort seit dem 22. Mai 2020 und befindet sich, nachdem er zwischenzeitlich in Auslieferungshaft war, auf freiem Fuß.
14 Die deutschen Behörden setzten die kroatischen Behörden von dem S.M. betreffenden Auslieferungsersuchen in Kenntnis, ohne dass diese hierauf reagierten.
15 Die Generalstaatsanwaltschaft München (Deutschland) beantragte unter Bezugnahme auf das Urteil vom 13. November 2018, Raugevicius (C‑247/17, im Folgenden: Urteil Raugevicius, EU:C:2018:898), die Auslieferung von S.M. für unzulässig zu erklären.
16 Nach Ansicht des Oberlandesgerichts München (Deutschland), das das vorlegende Gericht in der vorliegenden Rechtssache ist, hängt die Begründetheit des Antrags der Generalstaatsanwaltschaft München von der Frage ab, ob die Art. 18 und 21 AEUV dahin auszulegen sind, dass sie die Nichtauslieferung eines Unionsbürgers auch dann vorschreiben, wenn der ersuchte Mitgliedstaat völkervertraglich zu dessen Auslieferung verpflichtet ist.
17 Diese Frage sei durch das Urteil Raugevicius nicht beantwortet worden, da die Republik Finnland in der Rechtssache, die zu jenem Urteil geführt habe, nach den anwendbaren völkerrechtlichen Verträgen berechtigt gewesen sei, den betroffenen litauischen Staatsangehörigen nicht an die Russische Föderation auszuliefern.
18 Ebenso hätten es die besonderen Auslieferungsabkommen bzw. das Europäische Auslieferungsübereinkommen, um die es in den Rechtssachen gegangen sei, die zu den Urteilen vom 6. September 2016, Petruhhin (C‑182/15, EU:C:2016:630), vom 10. April 2018, Pisciotti (C‑191/16, EU:C:2018:222), und vom 17. Dezember 2020, Generalstaatsanwaltschaft Berlin (Auslieferung an die Ukraine) (C‑398/19, EU:C:2020:1032), geführt hätten, in die Hände des ersuchten Mitgliedstaats gelegt, zu entscheiden, an welchen von mehreren ersuchenden Staaten der Verfolgte ausgeliefert werde. Eine Auslieferung an den Heimatmitgliedstaat des verfolgten Unionsbürgers wäre in allen diesen Fällen möglich gewesen, ohne dass die betreffenden Mitgliedstaaten dadurch ihre gegenüber den betreffenden Drittländern bestehenden völkervertraglichen Pflichten verletzten.
19 In der vorliegenden Rechtssache dagegen sei die Bundesrepublik Deutschland gegenüber Bosnien und Herzegowina gemäß Art. 1 des Europäischen Auslieferungsübereinkommens zur Auslieferung von S.M. verpflichtet.
20 Nach dieser Bestimmung seien die Bundesrepublik Deutschland sowie Bosnien und Herzegowina verpflichtet, einander Personen auszuliefern, die von den Justizbehörden des ersuchenden Staates zur Vollstreckung einer Strafe gesucht würden, soweit die entsprechenden Bedingungen des Übereinkommens erfüllt seien und nicht eine der anderen Vorschriften des Übereinkommens eine Ausnahme vorsehe.
21 Im vorliegenden Fall seien die Voraussetzungen des Europäischen Auslieferungsübereinkommens für eine Auslieferung von S.M. erfüllt und es lägen keine Auslieferungshindernisse nach den einschlägigen Bestimmungen dieses Übereinkommens vor. Insbesondere würden diese Auslieferung und die ihr zugrunde liegenden Akten den in der Bundesrepublik Deutschland verbindlichen völkerrechtlichen Mindeststandard wahren und die unabdingbaren verfassungsrechtlichen Grundsätze bzw. das unabdingbare Maß an Grundrechtsschutz nicht verletzen.
22 Nach Auffassung des vorlegenden Gerichts ist mithin zweifelhaft, ob die aus dem Urteil Raugevicius hervorgegangene Rechtsprechung auf einen Fall wie den des Ausgangsverfahrens anwendbar ist.
23 Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs stelle die Ungleichbehandlung, die darin bestehe, dass ein Unionsbürger, der die Staatsangehörigkeit eines anderen als des ersuchten Mitgliedstaats besitze, im Gegensatz zu einem Staatsangehörigen des ersuchten Mitgliedstaats ausgeliefert werden könne, eine Beschränkung des Rechts aus Art. 21 AEUV dar, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten.
24 Eine solche Beschränkung sei nur gerechtfertigt, wenn sie auf objektiven Erwägungen beruhe und in angemessenem Verhältnis zu dem vom ersuchten Mitgliedstaat verfolgten legitimen Zweck stehe. Der Gerichtshof habe insoweit anerkannt, dass das Ziel, der Gefahr entgegenzuwirken, dass Personen, die eine Straftat begangen hätten, sich der entsprechenden Strafe entzögen, als legitimer Zweck einzustufen sei und eine beschränkende Maßnahme wie die Auslieferung grundsätzlich rechtfertigen könne.
25 Die Frage, ob die Notwendigkeit, weniger einschränkende Maßnahmen als die Auslieferung ins Auge zu fassen, bedeuten könne, dass der ersuchte Mitgliedstaat gegen seine völkerrechtlichen Verpflichtungen verstoße, sei indessen in der Rechtsprechung des Gerichtshofs nicht behandelt worden.
26 Schließlich weist das vorlegende Gericht darauf hin, dass eine Vollstreckung der vom Gemeindegericht Bosanska Krupa verhängten Freiheitsstrafe in Deutschland möglich wäre. Da sich S.M. bereits im deutschen Hoheitsgebiet aufhalte, sei das Übereinkommen über die Überstellung verurteilter Personen, das sowohl von der Bundesrepublik Deutschland als auch von Bosnien und Herzegowina ratifiziert worden sei, nicht einschlägig. Die Vollstreckung der Strafe richte sich daher nach dem deutschen Recht, das weder die deutsche Staatsangehörigkeit des Verfolgten noch seine Zustimmung erfordere. Die Vollstreckung könne allerdings nur durchgeführt werden, wenn und soweit der Urteilsstaat damit einverstanden sei. Dies sei vorliegend nicht der Fall, da die bosnisch-herzegowinischen Behörden um die Auslieferung von S.M. und nicht um Übernahme der Vollstreckung durch die deutschen Behörden ersucht hätten.
27 Unter diesen Umständen hat das Oberlandesgericht München beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:
Gebieten es die Grundsätze aus dem Urteil Raugevicius zur Anwendung der Art. 18 und 21 AEUV, ein auf das Europäische Auslieferungsübereinkommen gestütztes Ersuchen eines Drittstaats um Auslieferung eines Unionsbürgers zur Strafvollstreckung auch dann abzulehnen, wenn der ersuchte Mitgliedstaat nach diesem Übereinkommen völkervertraglich zur Auslieferung des Unionsbürgers verpflichtet ist, weil er den Begriff „Staatsangehörige“ gemäß Art. 6 Abs. 1 Buchst. b des Übereinkommens dahin bestimmt hat, dass nur seine eigenen Staatsangehörigen und nicht auch andere Unionsbürger davon erfasst werden?
Zur Vorlagefrage
28 Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob die Art. 18 und 21 AEUV dahin auszulegen sind, dass sie dem entgegenstehen, dass ein Mitgliedstaat, wenn von einem Drittstaat ein Auslieferungsersuchen zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe gegen einen Staatsangehörigen eines anderen Mitgliedstaats gestellt wird, der seinen ständigen Wohnsitz im erstgenannten Mitgliedstaat hat, nach dessen Recht nur die Auslieferung eigener Staatsangehöriger an Staaten außerhalb der Union verboten und die Möglichkeit vorgesehen ist, die Strafe – vorausgesetzt, der Drittstaat stimmt dem zu – in seinem Hoheitsgebiet zu vollstrecken, diesen Unionsbürger gemäß seinen völkervertraglichen Pflichten ausliefert, wenn er mangels einer solchen Zustimmung die Vollstreckung der Strafe nicht übernehmen kann.
29 Erstens ist darauf hinzuweisen, dass das Urteil Raugevicius wie das Ausgangsverfahren ein Auslieferungsersuchen eines Drittstaats betraf, mit dem die Union kein Auslieferungsabkommen geschlossen hat. Der Gerichtshof hat in Rn. 45 jenes Urteils entschieden, dass zwar mangels einer unionsrechtlichen Regelung der Auslieferung von Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten an Drittstaaten die Mitgliedstaaten für den Erlass solcher Regelungen zuständig sind, sie jedoch bei der Ausübung dieser Zuständigkeit das Unionsrecht und insbesondere das Diskriminierungsverbot des Art. 18 AEUV sowie das durch Art. 21 Abs. 1 AEUV gewährleistete Recht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, beachten müssen.
30 Eine Person, die die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzt und sich rechtmäßig im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats aufhält, hat aber als Unionsbürger das Recht, sich auf Art. 21 Abs. 1 AEUV zu berufen, und fällt in den Anwendungsbereich der Verträge im Sinne von Art. 18 AEUV, der den Grundsatz des Verbots der Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit enthält (Urteil vom 17. Dezember 2020, Generalstaatsanwaltschaft Berlin [Auslieferung an die Ukraine], C‑398/19, EU:C:2020:1032, Rn. 30 und die dort angeführte Rechtsprechung).
31 Der Umstand, dass ein solcher Staatsangehöriger eines anderen als des um Auslieferung ersuchten Mitgliedstaats auch die Staatsangehörigkeit des um die Auslieferung ersuchenden Drittstaats besitzt, kann diesen Staatsangehörigen nicht an der Geltendmachung der durch den Unionsbürgerstatus verliehenen, insbesondere in den Art. 18 und 21 AEUV garantierten Rechte und Freiheiten hindern. Der Gerichtshof hat nämlich wiederholt entschieden, dass die doppelte Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats und eines Drittstaats dem Betroffenen diese Rechte und Freiheiten nicht nehmen kann (vgl. in diesem Sinne Urteile Raugevicius, Rn. 29, und vom 17. Dezember 2020, Generalstaatsanwaltschaft Berlin [Auslieferung an die Ukraine], C‑398/19, EU:C:2020:1032, Rn. 32).
32 Im vorliegenden Fall ergibt sich aus dem Vorlagebeschluss, dass S.M., der u. a. die kroatische Staatsangehörigkeit besitzt, in seiner Eigenschaft als Unionsbürger von seinem in Art. 21 Abs. 1 AEUV vorgesehenen Recht Gebrauch gemacht hat, sich in einem anderen Mitgliedstaat, hier der Bundesrepublik Deutschland, frei zu bewegen und aufzuhalten, so dass seine Situation in den Anwendungsbereich der Verträge im Sinne von Art. 18 AEUV fällt, obwohl er auch Staatsangehöriger des um seine Auslieferung ersuchenden Drittstaats ist.
33 Zweitens sind nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs Auslieferungsvorschriften eines Mitgliedstaats, die – wie im Ausgangsverfahren – eine Ungleichbehandlung in Abhängigkeit davon schaffen, ob die gesuchte Person ein Staatsangehöriger dieses Mitgliedstaats oder ein Staatsangehöriger eines anderen Mitgliedstaats ist, geeignet, das Recht der Staatsangehörigen anderer Mitgliedstaaten, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zu beeinträchtigen, da sie dazu führen, dass Staatsangehörigen anderer Mitgliedstaaten, die sich rechtmäßig im Hoheitsgebiet des ersuchten Mitgliedstaats aufhalten, der Schutz vor Auslieferung, den die Staatsangehörigen dieses Mitgliedstaats genießen, nicht gewährt wird (vgl. in diesem Sinne Urteile Raugevicius, Rn. 28, und vom 17. Dezember 2020, Generalstaatsanwaltschaft Berlin [Auslieferung an die Ukraine], C‑398/19, EU:C:2020:1032, Rn. 39 und die dort angeführte Rechtsprechung).
34 Folglich führt in einer Situation wie der des Ausgangsverfahrens die Ungleichbehandlung, die darin besteht, dass ein Unionsbürger, der die Staatsangehörigkeit eines anderen als des ersuchten Mitgliedstaats besitzt, ausgeliefert werden kann, zu einer Beschränkung des Rechts aus Art. 21 AEUV, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten (Urteile Raugevicius, Rn. 30, und vom 17. Dezember 2020, Generalstaatsanwaltschaft Berlin [Auslieferung an die Ukraine], C‑398/19, EU:C:2020:1032, Rn. 40 und die dort angeführte Rechtsprechung).
35 Eine solche Beschränkung lässt sich nur rechtfertigen, wenn sie auf objektiven Erwägungen beruht und in angemessenem Verhältnis zu dem mit dem nationalen Recht legitimerweise verfolgten Zweck steht (Urteile Raugevicius, Rn. 31, und vom 17. Dezember 2020, Generalstaatsanwaltschaft Berlin [Auslieferung an die Ukraine], C‑398/19, EU:C:2020:1032, Rn. 41 und die dort angeführte Rechtsprechung).
36 Insoweit hat der Gerichtshof anerkannt, dass das Ziel, der Gefahr entgegenzuwirken, dass Personen, die eine Straftat begangen haben, straflos bleiben, als legitim anzusehen ist und dass eine Maßnahme, durch die eine Grundfreiheit wie die in Art. 21 AEUV vorgesehene eingeschränkt wird, mit diesem Ziel gerechtfertigt werden kann, wenn diese Maßnahme zum Schutz der Belange, die sie gewährleisten soll, erforderlich ist, und auch nur insoweit, als diese Ziele nicht mit weniger einschränkenden Maßnahmen erreicht werden können (Urteile Raugevicius, Rn. 32, und vom 17. Dezember 2020, Generalstaatsanwaltschaft Berlin [Auslieferung an die Ukraine], C‑398/19, EU:C:2020:1032, Rn. 42 und die dort angeführte Rechtsprechung).
37 Zwar kann das nach nationalem Recht gewährleistete Verbot der Doppelbestrafung für einen Mitgliedstaat ein Hindernis bei der Strafverfolgung von Personen darstellen, gegen die ein Auslieferungsersuchen zum Zweck der Strafvollstreckung vorliegt. Um jedoch der Gefahr entgegenzuwirken, dass solche Personen einer Strafe entgehen, gibt es im nationalen Recht und/oder im Völkerrecht Mechanismen, die es ermöglichen, dass diese Personen ihre Strafe etwa in dem Mitgliedstaat verbüßen, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzen, wodurch ihre Chancen auf eine soziale Wiedereingliederung nach dem Strafvollzug steigen (vgl. in diesem Sinne Urteil Raugevicius, Rn. 36).
38 Dies gilt insbesondere für das Übereinkommen über die Überstellung verurteilter Personen. Sowohl alle Mitgliedstaaten als auch Bosnien und Herzegowina sind Vertragsparteien dieses Übereinkommens. Nach dessen Art. 2 kann eine im Hoheitsgebiet eines der Unterzeichnerstaaten verurteilte Person beantragen, zum Vollzug der gegen sie verhängten Sanktion in das Hoheitsgebiet ihres Herkunftslands überstellt zu werden, wobei aus den Erwägungsgründen des Übereinkommens hervorgeht, dass mit einer solchen Überstellung u. a. die soziale Wiedereingliederung verurteilter Personen gefördert werden soll, indem Ausländern, denen wegen der Begehung einer Straftat ihre Freiheit entzogen worden ist, Gelegenheit gegeben wird, die gegen sie verhängte Sanktion in ihrer Heimat zu verbüßen (vgl. in diesem Sinne Urteil Raugevicius, Rn. 37 und die dort angeführte Rechtsprechung).
39 Außerdem sehen einige Mitgliedstaaten, wie die Bundesrepublik Deutschland, vor, dass Rechtshilfe für ein Verfahren in einer strafrechtlichen Angelegenheit durch Vollstreckung einer im Ausland verhängten Strafe geleistet werden kann.
40 Wie der Generalanwalt in Nr. 50 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, besteht aber im Fall eines Auslieferungsersuchens zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe die alternative Maßnahme zur Auslieferung, die die Ausübung des Rechts auf Freizügigkeit und Aufenthalt eines Unionsbürgers, der seinen ständigen Wohnsitz im ersuchten Mitgliedstaat hat, weniger beeinträchtigt – wenn sie im Recht des ersuchten Mitgliedstaats vorgesehen ist –, gerade darin, dass diese Strafe im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats vollstreckt werden kann.
41 Für den Fall, dass diese Möglichkeit besteht, hat der Gerichtshof zudem entschieden, dass sich im Hinblick auf das Ziel, einer Straflosigkeit entgegenzuwirken, die Staatsangehörigen des ersuchten Mitgliedstaats und die Staatsangehörigen anderer Mitgliedstaaten, die ihren ständigen Wohnsitz im ersuchten Mitgliedstaat haben und somit ein bestimmtes Maß an Integration in dessen Gesellschaft aufweisen, in einer vergleichbaren Situation befinden (vgl. in diesem Sinne Urteil Raugevicius, Rn. 46 und die dort angeführte Rechtsprechung).
42 Unter diesen Umständen verlangen die Art. 18 und 21 AEUV, dass Staatsangehörige anderer Mitgliedstaaten, die ihren ständigen Wohnsitz im ersuchten Mitgliedstaat haben und gegen die ein Auslieferungsersuchen eines Drittstaats zum Zweck der Vollstreckung einer Freiheitsstrafe vorliegt, ihre Strafe unter denselben Bedingungen wie die Staatsangehörigen des ersuchten Mitgliedstaats in diesem Mitgliedstaat verbüßen können.
43 Im vorliegenden Fall geht das vorlegende Gericht von der Prämisse aus, dass S.M., der seit 2017 mit seiner Ehefrau im Hoheitsgebiet der Bundesrepublik Deutschland lebt und seit 2020 dort arbeitet, als Unionsbürger anzusehen ist, der seinen ständigen Wohnsitz in diesem Mitgliedstaat hat.
44 Außerdem ist nach den vom vorlegenden Gericht gegenüber dem Gerichtshof gemachten Angaben die Vollstreckung der in Bosnien und Herzegowina gegenüber S.M. verhängten Strafe im deutschen Hoheitsgebiet möglich. Nach § 48 und § 57 Abs. 1 IRG ist nämlich die Vollstreckung einer in einem Drittstaat verhängten Strafe im deutschen Hoheitsgebiet zulässig, sofern der Drittstaat damit einverstanden ist.
45 Das vorlegende Gericht gibt jedoch zu bedenken, dass im vorliegenden Fall die Vollstreckung dieser Strafe im deutschen Hoheitsgebiet dazu führen würde, dass die Bundesrepublik Deutschland gegen die Auslieferungspflicht verstoße, die dem ersuchten Mitgliedstaat nach dem Europäischen Auslieferungsübereinkommen obliege.
46 In diesem Zusammenhang weist es darauf hin, dass der Begriff „Staatsangehörige“ im Sinne des Europäischen Auslieferungsübereinkommens, was die Bundesrepublik Deutschland betreffe, gemäß ihrer Erklärung nach Art. 6 Abs. 1 Buchst. b dieses Übereinkommens nur die Personen umfasse, die die Staatsangehörigkeit dieses Mitgliedstaats besäßen. Unter diesen Umständen verstoße – im Unterschied zu der Rechtssache, in der das Urteil Raugevicius ergangen sei – eine etwaige Weigerung der Bundesrepublik Deutschland, S.M. an Bosnien und Herzegowina auszuliefern, gegen die Verpflichtungen dieses Mitgliedstaats aus diesem Übereinkommen.
47 In Anbetracht dieser Erwägungen ist drittens klarzustellen, dass, wie der Generalanwalt in Nr. 32 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, die aus dem Urteil Raugevicius hervorgegangene Rechtsprechung des Gerichtshofs kein automatisches und absolutes Recht für die Unionsbürger anerkannt hat, nicht nach außerhalb des Unionsgebiets ausgeliefert zu werden.
48 Wie sich nämlich aus den Rn. 35 bis 42 des vorliegenden Urteils ergibt, ist der ersuchte Mitgliedstaat bei einer nationalen Regelung, die wie im Ausgangsverfahren eine Ungleichbehandlung zwischen den Staatsangehörigen des ersuchten Mitgliedstaats und den dort dauerhaft ansässigen Unionsbürgern einführt, indem sie nur die Auslieferung Ersterer verbietet, verpflichtet, aktiv nach einer alternativen Maßnahme zur Auslieferung zu suchen, die die Ausübung der solchen Unionsbürgern aus den Art. 18 und 21 AEUV erwachsenden Rechte und Freiheiten weniger beeinträchtigt, wenn sie von einem Auslieferungsersuchen eines Drittstaats betroffen sind.
49 Besteht die Anwendung einer solchen alternativen Maßnahme zur Auslieferung wie im vorliegenden Fall darin, dass die Unionsbürger, die im ersuchten Mitgliedstaat ihren ständigen Wohnsitz haben, ihre Strafe in diesem Mitgliedstaat unter den gleichen Bedingungen wie die Staatsangehörigen dieses Mitgliedstaats verbüßen können, wobei die Anwendung aber davon abhängt, dass der um Auslieferung ersuchende Drittstaat dem zustimmt, so verpflichten die Art. 18 und 21 AEUV den ersuchten Staat demnach dazu, sich aktiv zu bemühen, die Zustimmung dieses Drittstaats zu erlangen. Hierzu ist der ersuchte Mitgliedstaat verpflichtet, alle Mechanismen der Zusammenarbeit und der gegenseitigen Unterstützung in Strafsachen zu nutzen, über die er im Rahmen seiner Beziehungen zu dem betreffenden Drittstaat verfügt.
50 Stimmt der um Auslieferung ersuchende Drittstaat der Vollstreckung der Freiheitsstrafe im Hoheitsgebiet des ersuchten Mitgliedstaats zu, so ist dieser Mitgliedstaat in der Lage, den Unionsbürgern, auf die sich das Auslieferungsersuchen bezieht und die in diesem Hoheitsgebiet ihren ständigen Wohnsitz haben, Gelegenheit zu geben, ihre Strafe dort zu verbüßen, und damit die gleiche Behandlung zu gewährleisten, die er seinen eigenen Staatsangehörigen im Bereich der Auslieferung vorbehält.
51 Für einen solchen Fall geht aus den dem Gerichtshof vorgelegten Angaben hervor, dass es die Anwendung dieser alternativen Maßnahme zur Auslieferung dem ersuchten Mitgliedstaat auch ermöglichen könnte, seine Befugnisse im Einklang mit seinen vertraglichen Verpflichtungen gegenüber dem um Auslieferung ersuchenden Drittstaat auszuüben. Vorbehaltlich der vom vorlegenden Gericht vorzunehmenden Überprüfungen ist nämlich die Zustimmung dieses Drittstaats dazu, dass die gesamte Strafe, die Gegenstand des Auslieferungsersuchens ist, im Hoheitsgebiet des ersuchten Mitgliedstaats vollstreckt wird, grundsätzlich geeignet, die Vollstreckung des Ersuchens hinfällig zu machen.
52 Sollte es vorliegend der Bundesrepublik Deutschland gelingen, die Zustimmung von Bosnien und Herzegowina dazu einzuholen, dass S.M. die in diesem Drittstaat verhängte Strafe im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats verbüßt, würde die Anwendung dieser nach den Art. 18 und 21 AEUV gebotenen alternativen Maßnahme zur Auslieferung daher nicht zwangsläufig dazu führen, dass dieser Mitgliedstaat gegen die ihm nach dem Europäischen Auslieferungsübereinkommen gegenüber diesem Drittstaat obliegenden Verpflichtungen verstößt, was vom vorlegenden Gericht zu prüfen ist.
53 Stimmt dagegen der Drittstaat trotz Anwendung der in Rn. 49 des vorliegenden Urteils genannten Mechanismen einer Verbüßung der in Rede stehenden Freiheitsstrafe im Hoheitsgebiet des ersuchten Mitgliedstaats nicht zu, könnte die nach den Art. 18 und 21 AEUV gebotene alternative Maßnahme zur Auslieferung nicht angewandt werden. In diesem Fall kann der Mitgliedstaat die betroffene Person gemäß den ihm nach diesem Übereinkommen obliegenden Verpflichtungen ausliefern, da es die Verweigerung der Auslieferung in diesem Fall nicht ermöglichen würde, der Gefahr der Straflosigkeit dieser Person entgegenzuwirken.
54 In diesem Fall stellt die Auslieferung der betroffenen Person im Hinblick auf dieses Ziel eine zu seiner Erreichung erforderliche und verhältnismäßige Maßnahme dar, so dass die Beschränkung des im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Rechts aus Art. 21 AEUV, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, in Anbetracht der in den Rn. 35 und 36 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung gerechtfertigt erscheint.
55 Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs muss der ersuchte Mitgliedstaat jedoch überprüfen, dass durch die Auslieferung die in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union und insbesondere in deren Art. 19 verbürgten Rechte nicht beeinträchtigt werden (Urteil Raugevicius, Rn. 49; vgl. in diesem Sinne auch Urteil vom 2. April 2020, Ruska Federacija, C‑897/19 PPU, EU:C:2020:262, Rn. 64 und die dort angeführte Rechtsprechung).
56 Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass die Art. 18 und 21 AEUV dahin auszulegen sind, dass
–
sie einen Mitgliedstaat, an den von einem Drittstaat ein Auslieferungsersuchen zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe gegen einen Staatsangehörigen eines anderen Mitgliedstaats gerichtet wird, der seinen ständigen Wohnsitz im erstgenannten Mitgliedstaat hat, nach dessen Recht nur die Auslieferung eigener Staatsangehöriger an Staaten außerhalb der Union verboten und die Möglichkeit vorgesehen ist, die Strafe – vorausgesetzt, der Drittstaat stimmt dem zu – in seinem Hoheitsgebiet zu vollstrecken, verpflichten, sich aktiv um diese Zustimmung des um Auslieferung ersuchenden Drittstaats zu bemühen und dabei alle Mechanismen der Zusammenarbeit und der gegenseitigen Unterstützung in Strafsachen zu nutzen, über die er im Rahmen seiner Beziehungen zu diesem Drittstaat verfügt;
–
sie, wird diese Zustimmung nicht erlangt, dem nicht entgegenstehen, dass der erstgenannte Mitgliedstaat unter diesen Umständen den Unionsbürger im Einklang mit seinen völkervertraglichen Pflichten ausliefert, sofern durch diese Auslieferung die in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union verbürgten Rechte nicht beeinträchtigt werden.
Kosten
57 Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Große Kammer) für Recht erkannt:
Die Art. 18 und 21 AEUV sind dahin auszulegen, dass
–
sie einen Mitgliedstaat, an den von einem Drittstaat ein Auslieferungsersuchen zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe gegen einen Staatsangehörigen eines anderen Mitgliedstaats gerichtet wird, der seinen ständigen Wohnsitz im erstgenannten Mitgliedstaat hat, nach dessen Recht nur die Auslieferung eigener Staatsangehöriger an Staaten außerhalb der Europäischen Union verboten und die Möglichkeit vorgesehen ist, die Strafe – vorausgesetzt, der Drittstaat stimmt dem zu – in seinem Hoheitsgebiet zu vollstrecken, verpflichten, sich aktiv um diese Zustimmung des um Auslieferung ersuchenden Drittstaats zu bemühen und dabei alle Mechanismen der Zusammenarbeit und der gegenseitigen Unterstützung in Strafsachen zu nutzen, über die er im Rahmen seiner Beziehungen zu diesem Drittstaat verfügt;
–
sie, wird diese Zustimmung nicht erlangt, dem nicht entgegenstehen, dass der erstgenannte Mitgliedstaat unter diesen Umständen den Unionsbürger im Einklang mit seinen völkervertraglichen Pflichten ausliefert, sofern durch diese Auslieferung die in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union verbürgten Rechte nicht beeinträchtigt werden.
Lenaerts
Bay Larsen
Arabadjiev
Jürimäe
Regan
Xuereb
Rossi
Ilešič
Jarukaitis
Kumin
Jääskinen
Wahl
Ziemele
Passer
Spineanu-Matei
Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 22. Dezember 2022.
Der Kanzler
A. Calot Escobar
Der Präsident
K. Lenaerts
(*1) Verfahrenssprache: Deutsch.
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Beschluss des Gerichtshofs (Zehnte Kammer) vom 24. Juni 2022.#Rzecznik Praw Obywatelskich.#Vorabentscheidungsersuchen des Wojewódzki Sąd Administracyjny w Krakowie.#Vorlage zur Vorabentscheidung – Art. 99 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs – Unionsbürgerschaft – Art. 20 und 21 AEUV – Recht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten – Vom Geburtsmitgliedstaat des Kindes ausgestellte Geburtsurkunde, in der zwei Mütter für dieses Kind angegeben werden – Weigerung des Herkunftsmitgliedstaats einer dieser beiden Mütter, diese Geburtsurkunde in das nationale Personenstandsregister zu übertragen – Übertragung dieses Dokuments als Voraussetzung für die Ausstellung von Ausweispapieren – Nationale Regelung dieses Herkunftsmitgliedstaats, die keine Elternschaft von Personen desselben Geschlechts zulässt.#Rechtssache C-2/21.
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62021CO0002
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ECLI:EU:C:2022:502
| 2022-06-24T00:00:00 |
Kokott, Gerichtshof
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Sammlung der Rechtsprechung – allgemein
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Vorläufige Fassung
BESCHLUSS DES GERICHTSHOFS (Zehnte Kammer)
24. Juni 2022(*)
„Vorlage zur Vorabentscheidung – Art. 99 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs – Unionsbürgerschaft – Art. 20 und 21 AEUV – Recht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten – Vom Geburtsmitgliedstaat des Kindes ausgestellte Geburtsurkunde, in der zwei Mütter für dieses Kind angegeben werden – Weigerung des Herkunftsmitgliedstaats einer dieser beiden Mütter, diese Geburtsurkunde in das nationale Personenstandsregister zu übertragen – Übertragung dieses Dokuments als Voraussetzung für die Ausstellung von Ausweispapieren – Nationale Regelung dieses Herkunftsmitgliedstaats, die keine Elternschaft von Personen desselben Geschlechts zulässt“
In der Rechtssache C‑2/21
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Wojewódzki Sąd Administracyjny w Krakowie (Woiwodschaftsverwaltungsgericht Kraków [Krakau], Polen) mit Entscheidung vom 9. Dezember 2020, beim Gerichtshof eingegangen am 4. Januar 2021, in dem Verfahren
Rzecznik Praw Obywatelskich,
Beteiligte:
K.S.,
S.V.D.,
Prokurator Prokuratury Okręgowej w Krakowie M. C.,
Prokuratura Krajowa,
Kierownik Urzędu Stanu Cywilnego w Krakowie,
erlässt
DER GERICHTSHOF (Zehnte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten I. Jarukaitis sowie der Richter M. Ilešič (Berichterstatter) und D. Gratsias,
Generalanwältin: J. Kokott,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund der nach Anhörung der Generalanwältin ergangenen Entscheidung, gemäß Art. 99 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs durch mit Gründen versehenen Beschluss zu entscheiden,
folgenden
Beschluss
1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 20 Abs. 2 Buchst. a und Art. 21 Abs. 1 AEUV sowie von Art. 7, Art. 21 Abs. 1 und Art. 24 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta).
2 Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen dem Rzecznik Praw Obywatelskich (nationaler Bürgerbeauftragter, Polen) und dem Kierownik Urzędu Stanu Cywilnego w Krakowie (Leiter des Standesamts der Stadt Kraków, Polen) (im Folgenden: Leiter des Standesamts) wegen der Weigerung des Letzteren, die von den spanischen Behörden ausgestellte Geburtsurkunde der Tochter von K.S. und ihrer Ehefrau S.V.D. in das polnische Personenstandsregister zu übertragen.
Rechtlicher Rahmen
Völkerrecht
3 Art. 2 des am 20. November 1989 von der Generalversammlung der Vereinten Nationen angenommenen Übereinkommens über die Rechte des Kindes (United Nations Treaty Series, Bd. 1577, S. 3) bestimmt:
„(1) Die Vertragsstaaten achten die in diesem Übereinkommen festgelegten Rechte und gewährleisten sie jedem ihrer Hoheitsgewalt unterstehenden Kind ohne jede Diskriminierung unabhängig von der Rasse, der Hautfarbe, dem Geschlecht, der Sprache, der Religion, der politischen oder sonstigen Anschauung, der nationalen, ethnischen oder sozialen Herkunft, des Vermögens, einer Behinderung, der Geburt oder des sonstigen Status des Kindes, seiner Eltern oder seines Vormunds.
(2) Die Vertragsstaaten treffen alle geeigneten Maßnahmen, um sicherzustellen, dass das Kind vor allen Formen der Diskriminierung oder Bestrafung wegen des Status, der Tätigkeiten, der Meinungsäußerungen oder der Weltanschauung seiner Eltern, seines Vormunds oder seiner Familienangehörigen geschützt wird.“
4 Art. 7 dieses Übereinkommens lautet:
„(1) Das Kind ist unverzüglich nach seiner Geburt in ein Register einzutragen und hat das Recht auf einen Namen von Geburt an, das Recht, eine Staatsangehörigkeit zu erwerben, und soweit möglich das Recht, seine Eltern zu kennen und von ihnen betreut zu werden.
(2) Die Vertragsstaaten stellen die Verwirklichung dieser Rechte im Einklang mit ihrem innerstaatlichen Recht und mit ihren Verpflichtungen aufgrund der einschlägigen internationalen Übereinkünfte in diesem Bereich sicher, insbesondere für den Fall, dass das Kind sonst staatenlos wäre.“
Unionsrecht
AEU-Vertrag
5 Art. 20 AEUV sieht vor:
„(1) Es wird eine Unionsbürgerschaft eingeführt. Unionsbürger ist, wer die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzt. Die Unionsbürgerschaft tritt zur nationalen Staatsbürgerschaft hinzu, ersetzt sie aber nicht.
(2) Die Unionsbürgerinnen und Unionsbürger haben die in den Verträgen vorgesehenen Rechte und Pflichten. Sie haben unter anderem
a) das Recht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten;
…
Diese Rechte werden unter den Bedingungen und innerhalb der Grenzen ausgeübt, die in den Verträgen und durch die in Anwendung der Verträge erlassenen Maßnahmen festgelegt sind.“
6 Art. 21 Abs. 1 AEUV bestimmt:
„Jeder Unionsbürger hat das Recht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten vorbehaltlich der in den Verträgen und in den Durchführungsvorschriften vorgesehenen Beschränkungen und Bedingungen frei zu bewegen und aufzuhalten.“
Charta
7 Art. 7 („Achtung des Privat- und Familienlebens“) der Charta bestimmt:
„Jede Person hat das Recht auf Achtung ihres Privat- und Familienlebens, ihrer Wohnung sowie ihrer Kommunikation.“
8 Gemäß Art. 21 Abs. 1 der Charta sind „Diskriminierungen insbesondere wegen des Geschlechts, der Rasse, der Hautfarbe, der ethnischen oder sozialen Herkunft, der genetischen Merkmale, der Sprache, der Religion oder der Weltanschauung, der politischen oder sonstigen Anschauung, der Zugehörigkeit zu einer nationalen Minderheit, des Vermögens, der Geburt, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung … verboten“.
9 Art. 24 („Rechte des Kindes“) der Charta lautet wie folgt:
„(1) Kinder haben Anspruch auf den Schutz und die Fürsorge, die für ihr Wohlergehen notwendig sind. Sie können ihre Meinung frei äußern. Ihre Meinung wird in den Angelegenheiten, die sie betreffen, in einer ihrem Alter und ihrem Reifegrad entsprechenden Weise berücksichtigt.
(2) Bei allen Kinder betreffenden Maßnahmen öffentlicher Stellen oder privater Einrichtungen muss das Wohl des Kindes eine vorrangige Erwägung sein.
(3) Jedes Kind hat Anspruch auf regelmäßige persönliche Beziehungen und direkte Kontakte zu beiden Elternteilen, es sei denn, dies steht seinem Wohl entgegen.“
Richtlinie 2004/38/EG
10 Die Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 und zur Aufhebung der Richtlinien 64/221/EWG, 68/360/EWG, 72/194/EWG, 73/148/EWG, 75/34/EWG, 75/35/EWG, 90/364/EWG, 90/365/EWG und 93/96/EWG (ABl. 2004, L 158, S. 77, berichtigt in ABl. 2004, L 229, S. 35) sieht in Art. 4 („Recht auf Ausreise“) vor:
„(1) Unbeschadet der für die Kontrollen von Reisedokumenten an den nationalen Grenzen geltenden Vorschriften haben alle Unionsbürger, die einen gültigen Personalausweis oder Reisepass mit sich führen, und ihre Familienangehörigen, die nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzen und die einen gültigen Reisepass mit sich führen, das Recht, das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats zu verlassen und sich in einen anderen Mitgliedstaat zu begeben.
…
(3) Die Mitgliedstaaten stellen ihren Staatsangehörigen gemäß ihren Rechtsvorschriften einen Personalausweis oder einen Reisepass aus, der ihre Staatsangehörigkeit angibt, und verlängern diese Dokumente.
(4) Der Reisepass muss zumindest für alle Mitgliedstaaten und die unmittelbar zwischen den Mitgliedstaaten liegenden Durchreiseländer gelten. …“
Polnisches Recht
11 Art. 18 der Konstytucja Rzeczypospolitej Polskiej (Verfassung der Republik Polen) lautet wie folgt:
„Die Ehe als Verbindung von Frau und Mann, Familie, Mutterschaft und das Elternrecht stehen unter Schutz und in Obhut der Republik Polen.“
12 Art. 7 der Ustawa – Prawo prywatne międzynarodowe (Gesetz zum Internationalen Privatrecht) vom 4. Februar 2011 in konsolidierter Fassung (Dz. U. 2015, Pos. 1792) bestimmt:
„Das ausländische Recht wird nicht angewandt, wenn die Anwendung Wirkungen entfalten würde, die den Grundprinzipien der Rechtsordnung der Republik Polen zuwiderlaufen.“
13 Art. 104 Abs. 5 der Ustawa – Prawo o aktach stanu cywilnego (Gesetz über Personenstandsurkunden) vom 28. November 2014 in geänderter, konsolidierter Fassung (Dz. U. 2020, Pos. 463) sieht vor:
„Die Übertragung ist obligatorisch, wenn ein polnischer Staatsangehöriger, den das ausländische Personenstandsdokument betrifft, über eine in der Republik Polen erstellte Personenstandsurkunde verfügt, die früher eingetretene Ereignisse bescheinigt, und er die Durchführung einer Maßnahme aus dem Bereich der Eintragung des Personenstands begehrt oder einen polnischen Personalausweis oder eine [Identifikationsnummer für natürliche Personen, die die polnische Staatsangehörigkeit besitzen] beantragt.“
14 Art. 107 des Gesetzes über Personenstandsurkunden lautet wie folgt:
„Der Leiter des Standesamts verweigert die Übertragung, wenn:
1) das Dokument im Ausstellerstaat nicht als Personenstandsdokument anerkannt wird oder nicht als amtliches Dokument gilt oder nicht von der zuständigen Behörde ausgestellt wurde oder Zweifel an seiner Echtheit bestehen oder es ein anderes Ereignis als Geburt, Heirat oder Tod bescheinigt;
2) das ausländische Dokument infolge einer Übertragung in einem anderen Land entstanden ist als dem Land, in dem das Ereignis eingetreten ist;
3) die Übertragung den Grundprinzipien der Rechtsordnung der Republik Polen zuwiderlaufen würde.“
Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefrage
15 Die polnische Staatsangehörige K.S. und die irische Staatsangehörige S.V.D. heirateten 2018 in Irland.
16 2018 wurde ihre Tochter S.R.S. – D. in Spanien geboren. Deren Geburt wurde vom spanischen Standesamt auf der Grundlage einer gemeinsamen Erklärung der Mutter des Kindes, K.S., und ihrer Ehefrau, S.V.D., eingetragen. Diese Geburtsurkunde weist K.S. als „Mutter A“ und S.V.D. als „Mutter B“ aus.
17 K.S. und S.V.D. beantragten die Übertragung der von den spanischen Behörden ausgestellten Geburtsurkunde von S.R.S. – D., die die polnische Staatsangehörigkeit besitzt, in das polnische Personenstandsregister.
18 Mit Entscheidung vom 16. April 2019 wurde dieser Antrag vom Leiter des Standesamts mit der Begründung abgelehnt, dass eine solche Übertragung den Grundprinzipien der Rechtsordnung der Republik Polen zuwiderlaufen würde. Da K.S. und S.V.D. gegen diese ablehnende Entscheidung keinen Widerspruch erhoben, wurde diese am 30. April 2019 bestandskräftig.
19 Am 25. September 2019 richtete K.S. ein Beistandsersuchen an den nationalen Bürgerbeauftragten, in dem sie ausführte, dass S.R.S. – D. kein Ausweisdokument habe, da der Antrag auf Ausstellung eines polnischen Reisepasses für dieses Kind wegen fehlender Übertragung der Geburtsurkunde des Kindes in das polnische Personenstandsregister abgelehnt worden sei. Mit Schreiben vom 17. Februar 2019 teilten die für Ausweispapiere zuständigen irischen Behörden diesem Bürgerbeauftragten mit, dass das Kind nicht die irische Staatsangehörigkeit besitze und daher weder Anspruch auf einen Personalausweis noch auf einen Reisepass habe.
20 Der nationale Bürgerbeauftragte erhob daraufhin im Namen von K.S. und S.V.D. beim vorlegenden Gericht Klage gegen die Entscheidung des Leiters des Standesamts vom 16. April 2019, mit dem die Übertragung der von den spanischen Behörden für ihre Tochter ausgestellten Geburtsurkunde in das polnische Personenstandsregister abgelehnt worden war.
21 Im Lauf des Verfahrens vor dem vorlegenden Gericht lehnte die erstinstanzliche Verwaltungsbehörde auch einen Antrag auf Ausstellung eines Personalausweises für S.R.S – D. mit der Begründung ab, dass ein Kind nach polnischem Recht nur eine Frau und einen Mann als Eltern haben könne. Nachdem das vorlegende Gericht es für legitim gehalten hatte, zunächst die Entscheidung der zweitinstanzlichen Verwaltungsbehörde abzuwarten, wies der nationale Bürgerbeauftragte mit Schreiben vom 30. Juli 2020 darauf hin, dass die Entscheidung über die Ablehnung des Antrags auf Ausstellung eines Personalausweises in zweiter Instanz bestätigt worden sei.
22 Nach Ansicht des vorlegenden Gerichts gewährleisten die derzeit geltenden Bestimmungen nicht effektiv das Recht auf Freizügigkeit eines Kindes wie S.R.S. – D., die „zweifelsfrei polnische Staatsangehörige“ und damit Unionsbürgerin sei, da die für die Ausübung dieser Freiheit erforderlichen Dokumente, nämlich ein polnischer Personalausweis oder Reisepass, diesem Kind deshalb nicht ausgestellt werden könnten, weil es sich bei den in seiner Geburtsurkunde eingetragenen Eltern um zwei Frauen handele, die nach dem für eine von ihnen geltenden Recht geheiratet hätten. Zudem erschwere die praktische Anwendung dieser Bestimmungen des polnischen Rechts es den Behörden, einschließlich der Gerichte, einem minderjährigen Kind unter Berücksichtigung seines Wohls wirksamen Schutz zu gewähren.
23 Das vorlegende Gericht räumt ein, dass es sich bei Fragen des Personenstands und den damit verbundenen Regelungen über die Ehe um Bereiche handele, die in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten fielen, und dass das Unionsrecht diese Zuständigkeit unberührt lasse. Die Unterschiede zwischen den in den verschiedenen Mitgliedstaaten geltenden Regelungen dürften jedoch nicht die jedem Unionsbürger zuerkannte Freiheit beeinträchtigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten.
24 Das vorlegende Gericht weist darauf hin, dass es, für den Fall, dass festgestellt werden sollte, dass die Weigerung, die Geburtsurkunde eines Kindes zu übertragen, gegen die Art. 20 Abs. 2 Buchst. a und Art. 21 Abs. 1 AEUV in Verbindung mit den Art. 7, Art. 21 Abs. 1 und Art. 24 Abs. 2 der Charta verstößt, in der Lage wäre, den polnischen Behörden aufzugeben, diese Geburtsurkunde wörtlich zu übertragen, was es anschließend ermöglichen würde, ein Ausweisdokument auszustellen. Dieses würde sicherstellen, dass das betroffene Kind die Binnengrenzen der Union überschreiten könne, und dessen Privat- und Familienleben schützen.
25 Unter diesen Umständen hat der Wojewódzki Sąd Administracyjny w Krakowie (Woiwodschaftsverwaltungsgericht Kraków, Polen) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:
Sind die Art. 20 Abs. 2 Buchst. a in Verbindung mit Art. 21 Abs. 1 AEUV in Verbindung mit Art. 7, Art. 21 Abs. 1 und Art. 24 Abs. 2 der Charta dahin auszulegen, dass sie dem entgegenstehen, dass die Behörden eines Mitgliedstaats, dessen Staatsangehörigkeit ein minderjähriges Kind besitzt, es diesem Kind verweigern, seine von einem anderen Mitgliedstaat ausgestellte Geburtsurkunde zu übertragen, was erforderlich ist, damit es ein Ausweisdokument des Mitgliedstaats erhalten kann, dessen Staatsangehörigkeit es besitzt, und dass sie dies damit begründen, dass das nationale Recht dieses Mitgliedstaats die Elternschaft von Paaren gleichen Geschlechts nicht vorsieht und dass diese Geburtsurkunde Personen gleichen Geschlechts als Eltern ausweist?
Verfahren vor dem Gerichtshof
26 Das vorlegende Gericht hat beantragt, die vorliegende Rechtssache dem Eilvorabentscheidungsverfahren nach Art. 107 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs zu unterwerfen.
27 Mit Entscheidung vom 25. Januar 2021 hat die Fünfte Kammer des Gerichtshofs auf Vorschlag des Berichterstatters und nach Anhörung der Generalanwältin entschieden, dass dem Antrag, die vorliegende Rechtssache im Eilvorabentscheidungsverfahren zu behandeln, nicht stattzugeben ist, da die Voraussetzungen der Dringlichkeit nach Art. 107 der Verfahrensordnung nicht erfüllt sind.
28 In Anbetracht des Zusammenhangs zwischen der vorliegenden Rechtssache und derjenigen, in der das Urteil vom 14. Dezember 2021, Stolichna obshtina, rayon „Pancharevo“ (C‑490/20, EU:C:2021:1008), ergangen ist, ist das Verfahren in der vorliegenden Rechtssache durch Entscheidung des Präsidenten des Gerichtshofs vom 26. Januar 2021 bis zur Verkündung dieses Urteils ausgesetzt worden.
29 Nach Verkündung des Urteils vom 14. Dezember 2021, Stolichna obshtina, rayon „Pancharevo“ (C‑490/20, EU:C:2021:1008), hat die Kanzlei des Gerichtshofs dem vorlegenden Gericht eine Kopie dieses Urteils übermittelt und es gebeten, der Kanzlei mitzuteilen, ob es das Vorabentscheidungsersuchen aufrechterhalten wolle.
30 Mit Schreiben vom 17. und 28. Januar 2022 hat das vorlegende Gericht dem Gerichtshof mitgeteilt, dass es das Vorabentscheidungsersuchen aufrechterhalten wolle, wobei es u. a. ausgeführt hat, dass das Gerichtsverfahren wegen der Weigerung, die Geburtsurkunde zu übertragen, bis zum Eingang der Entscheidung des Gerichtshofs über dieses Vorabentscheidungsersuchen ausgesetzt bleibe. Im Übrigen habe der Rechtsanwalt der Eltern des betroffenen minderjährigen Kindes im Januar 2022 beim Wojewódzki Sąd Administracyjny w Warszawie (Woiwodschaftsverwaltungsgericht Warschau) ein Gerichtsverfahren auf Aufhebung der Verwaltungsentscheidung eingeleitet, mit der die Erteilung eines Personalausweises an dieses Kind abgelehnt worden sei.
Zur Vorlagefrage
31 Nach Art. 99 seiner Verfahrensordnung kann der Gerichtshof, u. a. wenn die Antwort auf eine zur Vorabentscheidung vorgelegte Frage klar aus der Rechtsprechung abgeleitet werden kann, auf Vorschlag des Berichterstatters und nach Anhörung des Generalanwalts jederzeit die Entscheidung treffen, durch mit Gründen versehenen Beschluss zu entscheiden.
32 Diese Bestimmung ist in der vorliegenden Rechtssache anzuwenden.
33 Mit der Vorlagefrage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 20 Abs. 2 Buchst. a und Art. 21 Abs. 1 AEUV in Verbindung mit Art. 7, Art. 21 Abs. 1 und Art. 24 Abs. 2 der Charta dahin auszulegen sind, dass im Fall eines minderjährigen Kindes, das Unionsbürger ist und dessen von den zuständigen Behörden eines Mitgliedstaats ausgestellte Geburtsurkunde zwei Personen gleichen Geschlechts als seine Eltern ausweist, der Mitgliedstaat, dessen Staatsangehöriger dieses Kind ist, verpflichtet ist, eine solche Geburtsurkunde zu übertragen, um es ihm zu ermöglichen, ein Ausweisdokument zu erhalten.
34 Vorab ist darauf hinzuweisen, dass nach Art. 20 Abs. 1 AEUV Unionsbürger ist, wer die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzt. Da nach den Feststellungen des vorlegenden Gerichts unstreitig ist, dass S.R.S. – D. die polnische Staatsangehörigkeit besitzt, genießt sie gemäß dieser Bestimmung den Status einer Unionsbürgerin.
35 Insoweit hat der Gerichtshof wiederholt ausgeführt, dass der Status eines Unionsbürgers dazu bestimmt ist, der grundlegende Status der Angehörigen der Mitgliedstaaten zu sein (Urteil vom 14. Dezember 2021, Stolichna obshtina, rayon „Pancharevo“, C‑490/20, EU:C:2021:1008, Rn. 41 und die dort angeführte Rechtsprechung).
36 Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs kann sich ein Staatsangehöriger eines Mitgliedstaats, der in seiner Eigenschaft als Unionsbürger von seinem Recht, sich in einem anderen Mitgliedstaat als seinem Herkunftsmitgliedstaat frei zu bewegen und aufzuhalten, Gebrauch gemacht hat, auf die mit dieser Eigenschaft verbundenen Rechte, insbesondere die in Art. 21 Abs. 1 AEUV vorgesehenen, berufen, und zwar gegebenenfalls auch gegenüber seinem Herkunftsmitgliedstaat. Auf diese Bestimmung und die zu ihrer Durchführung erlassenen Vorschriften können sich auch die Unionsbürger berufen, die im Aufnahmemitgliedstaat ihrer Eltern geboren wurden und nie von ihrem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch gemacht haben (Urteil vom 14. Dezember 2021, Stolichna obshtina, rayon „Pancharevo“, C‑490/20, EU:C:2021:1008, Rn. 42 und die dort angeführte Rechtsprechung).
37 Nach Art. 21 Abs. 1 AEUV hat jeder Unionsbürger das Recht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten vorbehaltlich der in den Verträgen und in den Durchführungsvorschriften vorgesehenen Beschränkungen und Bedingungen frei zu bewegen und aufzuhalten. Um ihren Staatsangehörigen die Ausübung dieses Rechts zu ermöglichen, sind die Mitgliedstaaten nach Art. 4 Abs. 3 der Richtlinie 2004/38 verpflichtet, ihren Staatsangehörigen gemäß ihren Rechtsvorschriften einen Personalausweis oder einen Reisepass auszustellen, der ihre Staatsangehörigkeit angibt.
38 Da S.R.S. – D. polnische Staatsangehörige ist, sind die polnischen Behörden mithin verpflichtet, ihr einen Personalausweis oder Reisepass auszustellen, der ihre Staatsangehörigkeit und ihren Nachnamen angibt, wie er sich aus der von den spanischen Behörden ausgestellten Geburtsurkunde ergibt. Hierzu hat der Gerichtshof festgestellt, dass Art. 21 AEUV dem entgegensteht, dass die Behörden eines Mitgliedstaats es unter Anwendung ihres nationalen Rechts ablehnen, den Nachnamen eines Kindes anzuerkennen, der in einem anderen Mitgliedstaat bestimmt und eingetragen wurde, in dem dieses Kind geboren wurde und seitdem wohnt (Urteil vom 14. Dezember 2021, Stolichna obshtina, rayon „Pancharevo“, C‑490/20, EU:C:2021:1008, Rn. 44 und die dort angeführte Rechtsprechung).
39 Es ist darauf hinzuweisen, dass Art. 4 Abs. 3 der Richtlinie 2004/38 die polnischen Behörden verpflichtet, für S.R.S. – D. einen Personalausweis oder Reisepass unabhängig davon auszustellen, ob die spanische Geburtsurkunde für dieses Kind in das polnische Personenstandsregister übertragen wird. Soweit das polnische Recht die Übertragung der Geburtsurkunde vor Ausstellung eines polnischen Personalausweises oder Reisepasses verlangt, kann sich dieser Mitgliedstaat somit nicht auf sein nationales Recht berufen, um die Ausstellung eines solchen Personalausweises oder Reisepasses für S.R.S. – D. zu verweigern (vgl. entsprechend Urteil vom 14. Dezember 2021, Stolichna obshtina, rayon „Pancharevo“ , C‑490/20, EU:C:2021:1008, Rn. 45).
40 Ein solches Dokument – für sich allein oder in Verbindung mit anderen Dokumenten, gegebenenfalls einem vom Aufnahmemitgliedstaat des Kindes ausgestellten Dokument – muss es einem Kind, das sich in einer Situation wie der von S.R.S. – D. befindet, ermöglichen, sein in Art. 21 Abs. 1 AEUV gewährleistetes Recht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, mit jeder seiner beiden Mütter auszuüben, deren Status als Elternteil dieses Kindes während eines Aufenthalts im Einklang mit der Richtlinie 2004/38 durch ihren Aufnahmemitgliedstaat festgestellt wurde (Urteil vom 14. Dezember 2021, Stolichna obshtina, rayon „Pancharevo“, C‑490/20, EU:C:2021:1008, Rn. 46).
41 Es ist im Übrigen darauf hinzuweisen, dass zu den Rechten, die den Staatsangehörigen von Mitgliedstaaten in Art. 21 Abs. 1 AEUV gewährleistet werden, ihr Recht gehört, sowohl im Aufnahmemitgliedstaat als auch, wenn sie dorthin zurückkehren, in dem Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzen, ein normales Familienleben zu führen, indem sie dort mit ihren Familienangehörigen zusammenleben (Urteil vom 14. Dezember 2021, Stolichna obshtina, rayon „Pancharevo“, C‑490/20, EU:C:2021:1008, Rn. 47 und die dort angeführte Rechtsprechung).
42 Unstreitig haben im Ausgangsverfahren die spanischen Behörden ein biologisches oder rechtliches Abstammungsverhältnis zwischen S.R.S. – D. und ihren beiden Elternteilen, K.S. und S.V.D., rechtmäßig festgestellt und dies in der für deren Kind ausgestellten Geburtsurkunde bescheinigt. K.S. und S.V.D. muss daher in Anwendung von Art. 21 AEUV als Eltern eines minderjährigen Unionsbürgers, für den sie tatsächlich sorgen, von allen Mitgliedstaaten das Recht zuerkannt werden, sich bei diesem aufzuhalten, wenn er sein Recht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, ausübt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 14. Dezember 2021, Stolichna obshtina, rayon „Pancharevo“, C‑490/20, EU:C:2021:1008, Rn. 48).
43 Da S.R.S. – D. nach den Feststellungen des vorlegenden Gerichts die polnische Staatsangehörigkeit besitzt, sind die polnischen Behörden wie die Behörden jedes anderen Mitgliedstaats verpflichtet, dieses Abstammungsverhältnis anzuerkennen, um es diesem Kind zu ermöglichen, sein in Art. 21 Abs. 1 AEUV gewährleistetes Recht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, ungehindert mit jedem seiner beiden Elternteile auszuüben.
44 Damit S.R.S. – D. ihr Recht, sich mit jedem ihrer beiden Elternteile im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, tatsächlich ausüben kann, ist es darüber hinaus erforderlich, dass K.S. und S.V.D. über ein Dokument verfügen können, in dem sie als zur Reise mit diesem Kind berechtigte Personen aufgeführt sind.
45 Die Pflicht eines Mitgliedstaats, einem Kind mit der Staatsangehörigkeit dieses Mitgliedstaats, das in einem anderen Mitgliedstaat geboren wurde und dessen von den Behörden dieses anderen Mitgliedstaats ausgestellte Geburtsurkunde zwei Personen gleichen Geschlechts als seine Eltern ausweist, einen Personalausweis oder einen Reisepass auszustellen und das Abstammungsverhältnis zwischen diesem Kind und jeder dieser beiden Personen im Rahmen der Ausübung seiner Rechte aus Art. 21 AEUV und den damit zusammenhängenden Sekundärrechtsakten anzuerkennen, bedeutet nicht, dass der Mitgliedstaat, dessen Staatsangehöriger das Kind ist, in seinem nationalen Recht die Elternschaft von Personen gleichen Geschlechts vorsehen müsste oder das Abstammungsverhältnis zwischen dem Kind und den Personen, die in der von den Behörden des Aufnahmemitgliedstaats ausgestellten Geburtsurkunde als seine Eltern genannt sind, zu anderen Zwecken als der Ausübung der diesem Kind aus dem Unionsrecht erwachsenden Rechte anerkennen müsste (Urteil vom 14. Dezember 2021, Stolichna obshtina, rayon „Pancharevo“, C‑490/20, EU:C:2021:1008, Rn. 56 und 57 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).
46 Zu ergänzen ist, dass eine nationale Maßnahme, die geeignet ist, die Ausübung der Personenfreizügigkeit zu beschränken, nur dann gerechtfertigt sein kann, wenn sie mit den durch die Charta verbürgten Grundrechten vereinbar ist, deren Beachtung der Gerichtshof sichert (Urteil vom 14. Dezember 2021, Stolichna obshtina, rayon „Pancharevo“, C‑490/20, EU:C:2021:1008, Rn. 58 und die dort angeführte Rechtsprechung).
47 In der Situation, die Gegenstand des Ausgangsverfahrens ist, sind das in Art. 7 der Charta gewährleistete Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens sowie die in Art. 24 der Charta gewährleisteten Rechte des Kindes, insbesondere das Recht auf Berücksichtigung seines Wohls als eine vorrangige Erwägung bei allen Kinder betreffenden Maßnahmen sowie der Anspruch auf regelmäßige persönliche Beziehungen und direkte Kontakte zu beiden Elternteilen, von grundlegender Bedeutung.
48 Daher steht die Beziehung zwischen dem Kind und jeder der beiden Personen, mit denen es ein tatsächliches Familienleben im Aufnahmemitgliedstaat führt und die in der von dessen Behörden ausgestellten Geburtsurkunde als seine Eltern genannt sind, unter dem Schutz von Art. 7 der Charta.
49 Da außerdem Art. 24 der Charta ausweislich der Erläuterungen zur Charta der Grundrechte (ABl. 2007, C 303, S. 17) die wichtigsten Rechte des Kindes, die in dem von allen Mitgliedstaaten ratifizierten Übereinkommen über die Rechte des Kindes verankert sind, in das Unionsrecht integriert, ist bei der Auslegung dieses Artikels den Bestimmungen dieses Übereinkommens gebührend Rechnung zu tragen (Urteil vom 14. Dezember 2014, Stolichna obshtina, rayon „Pancharevo“, C‑490/20, EU:C:2021:1008, Rn. 63 und die dort angeführte Rechtsprechung).
50 Insbesondere stellt Art. 2 dieses Übereinkommens für das Kind den Grundsatz der Nichtdiskriminierung auf, der verlangt, dass dem Kind die in diesem Übereinkommen genannten Rechte, zu denen das in Art. 7 des Übereinkommens verbürgte Recht gehört, nach seiner Geburt in ein Register eingetragen zu werden, einen Namen zu haben und eine Staatsangehörigkeit zu erwerben, gewährleistet werden, ohne dass es insoweit, auch nicht wegen der sexuellen Orientierung seiner Eltern, Diskriminierung erfährt.
51 Unter diesen Umständen verstieße es gegen die dem Kind in den Art. 7 und 24 der Charta gewährleisteten Grundrechte, ihm die Beziehung zu einem seiner Elternteile im Rahmen der Ausübung seines Rechts, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, vorzuenthalten oder ihm die Ausübung dieses Rechts faktisch unmöglich zu machen oder übermäßig zu erschweren, weil seine Eltern gleichen Geschlechts sind (Urteil vom 14. Dezember 2021, Stolichna obshtina, rayon „Pancharevo“, C‑490/20, EU:C:2021:1008, Rn. 65).
52 Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass die Art. 20 und 21 AEUV in Verbindung mit den Art. 7 und 24 der Charta sowie mit Art. 4 Abs. 3 der Richtlinie 2004/38 dahin auszulegen sind, dass im Fall eines minderjährigen Kindes, das Unionsbürger ist und dessen von den Behörden eines Mitgliedstaats ausgestellte Geburtsurkunde zwei Personen gleichen Geschlechts als seine Eltern ausweist, der Mitgliedstaat, dessen Staatsangehöriger dieses Kind ist, zum einen verpflichtet ist, ihm einen Personalausweis oder Reisepass auszustellen, ohne die vorherige Übertragung einer Geburtsurkunde dieses Kindes in das nationale Personenstandsregister zu verlangen, sowie zum anderen wie jeder andere Mitgliedstaat das aus einem anderen Mitgliedstaat stammende Dokument anzuerkennen hat, das es diesem Kind ermöglicht, mit jeder dieser beiden Personen sein Recht ungehindert auszuüben, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten.
Kosten
53 Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Zehnte Kammer) beschlossen:
Die Art. 20 und 21 AEUV in Verbindung mit den Art. 7 und 24 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union sowie mit Art. 4 Abs. 3 der Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 und zur Aufhebung der Richtlinien 64/221/EWG, 68/360/EWG, 72/194/EWG, 73/148/EWG, 75/34/EWG, 75/35/EWG, 90/364/EWG, 90/365/EWG und 93/96/EWG sind dahin auszulegen, dass im Fall eines minderjährigen Kindes, das Unionsbürger ist und dessen von den Behörden eines Mitgliedstaats ausgestellte Geburtsurkunde zwei Personen gleichen Geschlechts als seine Eltern ausweist, der Mitgliedstaat, dessen Staatsangehöriger dieses Kind ist, zum einen verpflichtet ist, ihm einen Personalausweis oder Reisepass auszustellen, ohne die vorherige Übertragung einer Geburtsurkunde dieses Kindes in das nationale Personenstandsregister zu verlangen, sowie zum anderen wie jeder andere Mitgliedstaat das aus einem anderen Mitgliedstaat stammende Dokument anzuerkennen hat, das es diesem Kind ermöglicht, mit jeder dieser beiden Personen sein Recht ungehindert auszuüben, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten.
Unterschriften
* Verfahrenssprache: Polnisch.
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Urteil des Gerichtshofs (Große Kammer) vom 22. März 2022.#bpost SA gegen Autorité belge de la concurrence.#Vorabentscheidungsersuchen der Cour d'appel de Bruxelles.#Vorlage zur Vorabentscheidung – Wettbewerb – Postdienste – Von einem Anbieter von Universaldienstleistungen eingeführtes Tarifsystem – Von einer nationalen Regulierungsbehörde für den Postsektor verhängte Geldbuße – Von einer nationalen Wettbewerbsbehörde verhängte Geldbuße – Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Art. 50 – Grundsatz ne bis in idem – Vorliegen derselben Straftat – Art. 52 Abs. 1 – Einschränkungen des Grundsatzes ne bis in idem – Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen – Voraussetzungen – Verfolgung einer dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzung – Verhältnismäßigkeit.#Rechtssache C-117/20.
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62020CJ0117
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ECLI:EU:C:2022:202
| 2022-03-22T00:00:00 |
Gerichtshof, Bobek
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Sammlung der Rechtsprechung – allgemein – Abschnitt „Informationen über nicht veröffentlichte Entscheidungen“
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62020CJ0117
URTEIL DES GERICHTSHOFS (Große Kammer)
22. März 2022 (*1)
„Vorlage zur Vorabentscheidung – Wettbewerb – Postdienste – Von einem Anbieter von Universaldienstleistungen eingeführtes Tarifsystem – Von einer nationalen Regulierungsbehörde für den Postsektor verhängte Geldbuße – Von einer nationalen Wettbewerbsbehörde verhängte Geldbuße – Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Art. 50 – Grundsatz ne bis in idem – Vorliegen derselben Straftat – Art. 52 Abs. 1 – Einschränkungen des Grundsatzes ne bis in idem – Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen – Voraussetzungen – Verfolgung einer dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzung – Verhältnismäßigkeit“
In der Rechtssache C‑117/20
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Cour d’appel de Bruxelles (Appellationshof Brüssel, Belgien) mit Entscheidung vom 19. Februar 2020, beim Gerichtshof eingegangen am 3. März 2020, in dem Verfahren
bpost SA
gegen
Autorité belge de la concurrence,
Beteiligte:
Publimail SA,
Europäische Kommission,
erlässt
DER GERICHTSHOF (Große Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten K. Lenaerts, des Vizepräsidenten L. Bay Larsen, des Kammerpräsidenten A. Arabadjiev, der Kammerpräsidentin K. Jürimäe (Berichterstatterin), der Kammerpräsidenten C. Lycourgos, E. Regan und N. Jääskinen, der Kammerpräsidentin I. Ziemele, des Kammerpräsidenten J. Passer sowie der Richter M. Ilešič, T. von Danwitz, A. Kumin und N. Wahl,
Generalanwalt: M. Bobek,
Kanzler: D. Dittert, Referatsleiter,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 22. März 2021,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
–
der bpost SA, vertreten durch J. Bocken, S. Gnedasj, K. Verbouwe und S. Mathieu, Avocats,
–
der belgischen Regierung, vertreten durch J.‑C. Halleux, L. Van den Broeck und C. Pochet als Bevollmächtigte im Beistand von P. Vernet und E. de Lophem, Avocats,
–
der deutschen Regierung, zunächst vertreten durch J. Möller und S. Heimerl als Bevollmächtigte, dann durch J. Möller als Bevollmächtigten,
–
der tschechischen Regierung, vertreten durch M. Smolek, J. Vláčil und I. Gavrilova als Bevollmächtigte,
–
der griechischen Regierung, vertreten durch L. Kotroni als Bevollmächtigte,
–
der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von F. Meloncelli, Avvocato dello Stato,
–
der lettischen Regierung, zunächst vertreten durch K. Pommere und V. Kalniņa, dann durch K. Pommere als Bevollmächtigte,
–
der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna und M. Wiącek als Bevollmächtigte,
–
der rumänischen Regierung, vertreten durch E. Gane, R. I. Haţieganu und A. Wellman als Bevollmächtigte,
–
der Europäischen Kommission, vertreten durch H. van Vliet, P. Rossi, A. Cleenewerck de Crayencour und F. van Schaik als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 2. September 2021
folgendes
Urteil
1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 50 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta).
2 Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der bpost SA und der Autorité belge de la concurrence (Belgische Wettbewerbsbehörde), der Rechtsnachfolgerin des Conseil de la concurrence (Wettbewerbsrat) (im Folgenden zusammen: Wettbewerbsbehörde), über die Rechtmäßigkeit einer Entscheidung, mit der bpost wegen Missbrauchs einer beherrschenden Stellung eine Geldbuße auferlegt wurde (im Folgenden: Entscheidung der Wettbewerbsbehörde).
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
3 Mit der Richtlinie 97/67/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. Dezember 1997 über gemeinsame Vorschriften für die Entwicklung des Binnenmarktes der Postdienste der Gemeinschaft und die Verbesserung der Dienstequalität (ABl. 1998, L 15, S. 14) in der durch die Richtlinie 2008/6/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Februar 2008 (ABl. 2008, L 52, S. 3) geänderten Fassung (im Folgenden: Richtlinie 97/67) soll der Markt für Postdienste schrittweise liberalisiert werden.
4 Die Erwägungsgründe 8 und 41 der Richtlinie 97/67 lauten:
„(8)
Maßnahmen zur schrittweisen und kontrollierten Liberalisierung des Marktes und zur Wahrung eines angemessenen Gleichgewichts bei deren Durchführung sind notwendig, um [in der gesamten Europäischen Union] das freie Angebot von Diensten im Postsektor unter Beachtung der Pflichten und Rechte der Anbieter von Universaldienstleistungen zu gewährleisten.
…
(41) Die Anwendung der Bestimmungen des Vertrags, insbesondere der Bestimmungen über den Wettbewerb und die Dienstleistungsfreiheit, bleibt von dieser Richtlinie unberührt.“
5 Art. 12 dieser Richtlinie sieht u. a. vor, dass die Mitgliedstaaten Schritte unternehmen, um zu gewährleisten, dass die Tarife für die einzelnen Universaldienstleistungen transparent und nicht diskriminierend sind.
Belgisches Recht
6 Mit den Art. 144bis und 144ter der Loi du 21 mars 1991 portant réforme de certaines entreprises publiques économiques (Gesetz vom 21. März 1991 zur Umstrukturierung bestimmter öffentlicher Wirtschaftsunternehmen) (Moniteur belge vom 27. März 1991, S. 6155, deutsche Übersetzung veröffentlicht im Belgischen Staatsblatt vom 9. Januar 2013, S. 600) in ihrer auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren Fassung wird Art. 12 der Richtlinie 97/67 in die belgische Rechtsordnung umgesetzt.
7 Art. 3 der Loi du 10 juin 2006 sur la protection de la concurrence économique (Gesetz vom 10. Juni 2006 über den Schutz des wirtschaftlichen Wettbewerbs) (Moniteur belge vom 29. Juni 2006, S. 32755, deutsche Übersetzung veröffentlicht im Belgischen Staatsblatt vom 28. Februar 2007, S. 9418), koordiniert durch den Königlichen Erlass vom 15. September 2006 (Moniteur belge vom 29. September 2006, S. 50613, deutsche Übersetzung veröffentlicht im Belgischen Staatsblatt vom 6. April 2007, S. 19544), in ihrer auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren Fassung (im Folgenden: Gesetz über den Schutz des Wettbewerbs) bestimmt:
„Verboten ist, ohne dass dies einer vorherigen Entscheidung bedarf, die missbräuchliche Ausnutzung einer beherrschenden Stellung auf dem betreffenden belgischen Markt oder auf einem wesentlichen Teil davon durch ein oder mehrere Unternehmen.
Dieser Missbrauch kann insbesondere in Folgendem bestehen:
1. der unmittelbaren oder mittelbaren Erzwingung von unangemessenen Einkaufs- oder Verkaufspreisen oder sonstigen Geschäftsbedingungen,
2. der Einschränkung der Erzeugung, des Absatzes oder der technischen Entwicklung zum Schaden der Verbraucher,
3. der Anwendung unterschiedlicher Bedingungen bei gleichwertigen Leistungen gegenüber Handelspartnern, wodurch diese im Wettbewerb benachteiligt werden,
4. der an den Abschluss von Verträgen geknüpften Bedingung, dass die Vertragspartner zusätzliche Leistungen annehmen, die weder sachlich noch nach Handelsbrauch in Beziehung zum Vertragsgegenstand stehen.“
Ausgangsverfahren und Vorlagefragen
8 In Belgien ist bpost der etablierte Postdiensteanbieter. Sie bietet Postzustelldienste für die breite Öffentlichkeit an, aber auch für zwei besondere Kategorien von Kunden, nämlich Massenversender, die Endverbraucher sind, und Konsolidierer, bei denen es sich um Postvorbereiter handelt, die selbst Dienstleistungen vor dem Postzustelldienst erbringen, indem sie Post aufbereiten und Sendungen einliefern.
9 Ab dem Jahr 2010 führte bpost ein neues Tarifsystem für die Zustellung von namentlich adressierten Werbesendungen und Verwaltungssendungen ein, das auf dem sogenannten „Versendermodell“ beruht. Nach diesem Modell wurden die den Konsolidierern gewährten Mengenrabatte nicht mehr auf der Grundlage der Gesamtmenge der Sendungen aller Versender, denen sie ihre Dienste erbrachten, sondern auf der Grundlage der Sendungsmenge berechnet, die individuell von jedem Versender abgegeben wurde.
10 Mit Entscheidung vom 20. Juli 2011 verhängte das Institut belge des services postaux et des télécommunications (Belgisches Institut für Post- und Fernmeldewesen, BIPF, im Folgenden: Regulierungsbehörde für den Postsektor) auf der Grundlage von Art. 144bis und Art. 144ter Abs. 1 Nr. 5 des Gesetzes vom 21. März 1991 zur Umstrukturierung bestimmter öffentlicher Wirtschaftsunternehmen in seiner auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren Fassung eine Geldbuße in Höhe von 2,3 Mio. Euro gegen bpost, da sie hinsichtlich der Tarife gegen das Gebot der Nichtdiskriminierung verstoßen habe (im Folgenden: Entscheidung der Regulierungsbehörde für den Postsektor). Gemäß dieser Entscheidung beruhte das von bpost ab dem Jahr 2010 eingeführte neue Tarifsystem auf einer ungerechtfertigten Ungleichbehandlung von Konsolidierern und unmittelbaren Kunden. Die Regulierungsbehörde für den Postsektor wies außerdem darauf hin, dass das Verfahren, das zum Erlass dieser Entscheidung geführt habe, nicht die Anwendung des Wettbewerbsrechts betreffe.
11 Mit Urteil vom 10. März 2016 hob die Cour d’appel de Bruxelles (Appellationshof Brüssel, Belgien) die Entscheidung der Regulierungsbehörde für den Postsektor auf, da das in Rede stehende Tarifsystem nicht diskriminierend sei. Dieses Urteil, das rechtskräftig geworden ist, erging im Anschluss an ein Vorabentscheidungsersuchen, zu dem das Urteil vom 11. Februar 2015, bpost (C‑340/13, EU:C:2015:77), ergangen ist.
12 In der Zwischenzeit stellte die Wettbewerbsbehörde mit Entscheidung vom 10. Dezember 2012 fest, dass bpost einen nach Art. 3 des Gesetzes über den Schutz des Wettbewerbs und Art. 102 AEUV verbotenen Missbrauch einer beherrschenden Stellung begangen habe. Dieser Missbrauch habe in der Einführung und Umsetzung des neuen Tarifsystems durch bpost im Zeitraum von Januar 2010 bis Juli 2011 bestanden. Gemäß dieser Entscheidung hatte dieses System einen Verdrängungseffekt für potenzielle Konsolidierer und Wettbewerber von bpost sowie einen Effekt der Kundenbindung bei den wichtigsten Kunden, so dass die Zutrittsschranken zum Markt erhöht worden seien. Aufgrund dieses Missbrauchs wurde bpost eine Geldbuße in Höhe von 37399786 Euro auferlegt, die unter Berücksichtigung der zuvor von der Regulierungsbehörde für den Postsektor verhängten Geldbuße berechnet wurde. Das Verfahren, das zum Erlass dieser Entscheidung führte, betraf nicht das Vorliegen etwaiger diskriminierender Praktiken.
13 Mit Urteil vom 10. November 2016 hob die Cour d’appel de Bruxelles (Appellationshof Brüssel) die Entscheidung der Wettbewerbsbehörde auf, da diese gegen den Grundsatz ne bis in idem verstoße. Dieses Gericht war der Ansicht, dass die von der Regulierungsbehörde für den Postsektor und von der Wettbewerbsbehörde durchgeführten Verfahren denselben Sachverhalt beträfen.
14 Mit Urteil vom 22. November 2018 hob die Cour de cassation (Kassationshof, Belgien) dieses Urteil auf und verwies die Sache an die Cour d’appel de Bruxelles (Appellationshof Brüssel) zurück.
15 Im Rahmen des Verfahrens im Anschluss an diese Zurückverweisung erörterten bpost, die Wettbewerbsbehörde und die als amicus curiae beteiligte Europäische Kommission, ob der Grundsatz ne bis in idem und die Voraussetzungen für seine Anwendung beachtet worden seien.
16 In seinem Vorabentscheidungsersuchen führt das vorlegende Gericht aus, dass die von der Regulierungsbehörde für den Postsektor bzw. von der Wettbewerbsbehörde durchgeführten Verfahren zur Verhängung von Verwaltungssanktionen mit strafrechtlichem Charakter führten, mit denen verschiedene Verstöße geahndet werden sollten, die sich im einen Fall aus der Missachtung einer sektorspezifischen Regelung und im anderen Fall aus der Missachtung des Wettbewerbsrechts ergäben. Unter diesen Umständen sei grundsätzlich auf die Rechtsprechung des Gerichtshofs zum Grundsatz ne bis in idem im Bereich des Wettbewerbsrechts abzustellen, wie sie sich insbesondere aus dem Urteil vom 14. Februar 2012, Toshiba Corporation u. a. (C‑17/10, EU:C:2012:72), ergebe. Aus dieser Rechtsprechung gehe hervor, dass zur Feststellung, ob zwei Verfahren denselben Sachverhalt beträfen, zu prüfen sei, ob drei kumulative Kriterien erfüllt seien, nämlich die Identität des Sachverhalts, die Identität der Zuwiderhandelnden und die Identität des geschützten Rechtsguts. Die letzte Voraussetzung gelte aber nicht in anderen Gebieten als dem des Wettbewerbsrechts.
17 Das vorlegende Gericht weist darauf hin, dass die beiden im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Verfahren auf verschiedenen Rechtsvorschriften beruhten, mit denen verschiedene Rechtsgüter geschützt werden sollten. Mit dem von der Regulierungsbehörde für den Postsektor durchgeführten Verfahren habe die Liberalisierung des Postsektors durch Vorschriften über die Transparenz und die Nichtdiskriminierung im Hinblick auf die Tarife gewährleistet werden sollen, während das von der Wettbewerbsbehörde durchgeführte Verfahren darauf abziele, den freien Wettbewerb auf dem Binnenmarkt zu gewährleisten, indem u. a. der Missbrauch einer beherrschenden Stellung verboten werde. Das Kriterium der Identität des geschützten Rechtsguts sei notwendig, um die Wirksamkeit der Anwendung des Wettbewerbsrechts zu gewährleisten.
18 Gleichwohl hält es das vorlegende Gericht in Anbetracht der Ungewissheit, ob dieses Kriterium im Hinblick auf die Rechtsprechung des Gerichtshofs relevant sei, für erforderlich, diesen hierzu um Klarstellung zu ersuchen.
19 Außerdem möchte das vorlegende Gericht wissen, unter welchen Voraussetzungen eine etwaige Kumulierung der Verfolgungsmaßnahmen aufgrund einer Einschränkung des Grundsatzes ne bis in idem im Licht der Rechtsprechung aus den Urteilen vom 20. März 2018, Menci (C‑524/15, EU:C:2018:197), vom 20. März 2018, Garlsson Real Estate u. a. (C‑537/16, EU:C:2018:193), sowie vom 20. März 2018, Di Puma und Zecca (C‑596/16 und C‑597/16, EU:C:2018:192), möglich ist.
20 Unter diesen Umständen hat die Cour d’appel de Bruxelles (Appellationshof Brüssel) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
1. Ist der Grundsatz ne bis in idem, so wie er durch Art. 50 der Charta garantiert ist, dahin auszulegen, dass er die zuständige Verwaltungsbehörde eines Mitgliedstaats nicht daran hindert, eine Geldbuße wegen Verstoßes gegen das europäische Wettbewerbsrecht zu verhängen, wenn in einem Fall wie dem vorliegenden dieselbe juristische Person bereits vom Vorwurf eines Verstoßes gegen das Postrecht, der von der nationalen Regulierungsbehörde für den Postsektor im Hinblick auf denselben oder einen ähnlichen Sachverhalt gegen sie erhoben und mit einer Geldbuße geahndet wurde, rechtskräftig freigesprochen wurde, da das Kriterium der Identität des geschützten Rechtsguts nicht erfüllt ist, weil die vorliegende Rechtssache zwei unterschiedliche Verstöße gegen zwei gesonderte Regelungen aus zwei verschiedenen Rechtsbereichen betrifft?
2. Ist der Grundsatz ne bis in idem, so wie er durch Art. 50 der Charta garantiert ist, dahin auszulegen, dass er die zuständige Verwaltungsbehörde eines Mitgliedstaats nicht daran hindert, eine Geldbuße wegen Verstoßes gegen das europäische Wettbewerbsrecht zu verhängen, wenn in einem Fall wie dem vorliegenden dieselbe juristische Person bereits vom Vorwurf eines Verstoßes gegen das Postrecht, der von der nationalen Regulierungsbehörde für den Postsektor im Hinblick auf denselben oder einen ähnlichen Sachverhalt gegen sie erhoben und mit einer Geldbuße geahndet wurde, rechtskräftig freigesprochen wurde, weil eine Einschränkung des Grundsatzes ne bis in idem im Hinblick darauf gerechtfertigt ist, dass die wettbewerbsrechtlichen Vorschriften eine dem Gemeinwohl dienende komplementäre Zielsetzung verfolgen, und zwar die Wahrung und Aufrechterhaltung eines Systems ohne Wettbewerbsverzerrung im Binnenmarkt, und nicht über das hinausgehen, was zum Erreichen der mit diesen Rechtsvorschriften verfolgten legitimen Zielsetzung und/oder zum Schutz der unternehmerischen Freiheit der übrigen Wirtschaftsteilnehmer gemäß Art. 16 der Charta geeignet und erforderlich ist?
Zu den Vorlagefragen
21 Mit seinen Fragen, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 50 der Charta dahin auszulegen ist, dass er der Verhängung einer Geldbuße gegen eine juristische Person wegen eines Verstoßes gegen das Wettbewerbsrecht der Union entgegensteht, wenn gegen diese Person im Hinblick auf denselben Sachverhalt am Ende eines Verfahrens wegen eines Verstoßes gegen eine sektorspezifische Regelung über die Liberalisierung des betreffenden Marktes bereits eine endgültige Entscheidung ergangen ist.
Vorbemerkungen
22 Beim Grundsatz ne bis in idem handelt es sich um einen tragenden Grundsatz des Unionsrechts (Urteil vom 15. Oktober 2002, Limburgse Vinyl Maatschappij u. a./Kommission, C‑238/99 P, C‑244/99 P, C‑245/99 P, C‑247/99 P, C‑250/99 P bis C‑252/99 P und C‑254/99 P, EU:C:2002:582, Rn. 59), der nunmehr in Art. 50 der Charta niedergelegt ist.
23 Diese Bestimmung enthält ein Recht, das dem in Art. 4 des Protokolls Nr. 7 zu der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (im Folgenden: EMRK) vorgesehenen entspricht. Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass nach Art. 52 Abs. 3 der Charta die in ihr enthaltenen Rechte, die den durch die EMRK garantierten Rechten entsprechen, die gleiche Bedeutung und Tragweite haben, wie sie ihnen in der EMRK verliehen wird. Daher ist Art. 4 des Protokolls Nr. 7 zur EMRK unbeschadet der Eigenständigkeit des Unionsrechts und des Gerichtshofs der Europäischen Union bei der Auslegung von Art. 50 der Charta zu berücksichtigen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 20. März 2018, Menci, C‑524/15, EU:C:2018:197, Rn. 23 und 60).
24 Art. 50 der Charta bestimmt, dass „[n]iemand … wegen einer Straftat, derentwegen er bereits in der Union nach dem Gesetz rechtskräftig verurteilt oder freigesprochen worden ist, in einem Strafverfahren erneut verfolgt oder bestraft werden [darf]“. Der Grundsatz ne bis in idem verbietet somit eine Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen, die strafrechtlicher Natur im Sinne dieses Artikels sind, gegenüber derselben Person wegen derselben Tat (Urteil vom 20. März 2018, Menci, C‑524/15, EU:C:2018:197, Rn. 25 und die dort angeführte Rechtsprechung).
25 Für die vom vorlegenden Gericht vorzunehmende Beurteilung der strafrechtlichen Natur der in Rede stehenden Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen sind drei Kriterien maßgebend: erstens die rechtliche Einordnung der Zuwiderhandlung im innerstaatlichen Recht, zweitens die Art der Zuwiderhandlung und drittens der Schweregrad der dem Betroffenen drohenden Sanktion (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 5. Juni 2012, Bonda, C‑489/10, EU:C:2012:319, Rn. 37, und vom 20. März 2018, Menci, C‑524/15, EU:C:2018:197, Rn. 26 und 27).
26 Zu betonen ist insoweit, dass sich die Anwendung von Art. 50 der Charta nicht allein auf Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen beschränkt, die im nationalen Recht als „strafrechtlich“ eingestuft werden, sondern sich – unabhängig von einer solchen Einordnung im innerstaatlichen Recht – auf Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen erstreckt, die nach den beiden anderen in der vorstehenden Randnummer angeführten Kriterien strafrechtlicher Natur sind (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 20. März 2018, Menci, C‑524/15, EU:C:2018:197, Rn. 30).
27 Im vorliegenden Fall genügt jedoch die Feststellung, dass, wie das vorlegende Gericht ausführt, die beiden im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Verfahren auf die Verhängung von Verwaltungssanktionen mit strafrechtlichem Charakter gerichtet sind, so dass die strafrechtliche Einordnung dieser Verfahren im Hinblick auf die in Rn. 25 des vorliegenden Urteils angeführten Kriterien nicht in Frage steht.
28 Die Anwendung des Grundsatzes ne bis in idem setzt zweierlei voraus, nämlich zum einen, dass es eine frühere endgültige Entscheidung gibt (Voraussetzung „bis“), und zum anderen, dass bei der früheren Entscheidung und bei den späteren Verfolgungsmaßnahmen oder Entscheidungen auf denselben Sachverhalt abgestellt wird (Voraussetzung „idem“).
Zur Voraussetzung „bis“
29 Was die Voraussetzung „bis“ anbelangt, ist es für die Annahme, dass eine gerichtliche Entscheidung über den einem zweiten Verfahren unterliegenden Sachverhalt endgültig entschieden hat, nicht nur erforderlich, dass diese Entscheidung rechtskräftig geworden ist, sondern auch, dass sie nach einer Prüfung in der Sache ergangen ist (vgl. entsprechend Urteil vom 5. Juni 2014, M, C‑398/12, EU:C:2014:1057, Rn. 28 und 30).
30 Im vorliegenden Fall ergibt sich aus den Feststellungen des vorlegenden Gerichts, dass die Entscheidung der Regulierungsbehörde für den Postsektor durch ein rechtskräftiges Urteil aufgehoben wurde, gemäß dem bpost in dem Verfahren, das auf der Grundlage der spezifischen Regelung für den Postsektor gegen sie geführt wurde, von den entsprechenden Vorwürfen freigesprochen wurde. Vorbehaltlich einer Überprüfung durch das vorlegende Gericht zeigt sich somit, dass das erste Verfahren durch eine endgültige Entscheidung im Sinne der in der vorstehenden Randnummer angeführten Rechtsprechung beendet wurde.
Zur Voraussetzung „idem“
31 Was die Voraussetzung „idem“ betrifft, ergibt sich schon aus dem Wortlaut von Art. 50 der Charta, dass dieser es verbietet, dieselbe Person mehr als einmal wegen derselben Straftat in einem Strafverfahren zu verfolgen oder zu bestrafen.
32 Wie das vorlegende Gericht in seinem Vorabentscheidungsersuchen ausführt, betreffen die beiden im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Verfahren dieselbe juristische Person, nämlich bpost.
33 Für die Beurteilung, ob es sich um dieselbe Straftat handelt, ist nach gefestigter Rechtsprechung des Gerichtshofs das Kriterium der Identität der materiellen Tat maßgebend, verstanden als das Vorliegen einer Gesamtheit konkreter, unlösbar miteinander verbundener Umstände, die zum Freispruch oder zur rechtskräftigen Verurteilung des Betroffenen geführt haben. Art. 50 der Charta verbietet es somit, wegen derselben Tat mehrere Sanktionen strafrechtlicher Natur am Ende verschiedener zu diesem Zweck durchgeführter Verfahren zu verhängen (Urteile vom 20. März 2018, Menci, C‑524/15, EU:C:2018:197, Rn. 35, und vom 20. März 2018, Garlsson Real Estate u. a., C‑537/16, EU:C:2018:193, Rn. 37 und die dort angeführte Rechtsprechung).
34 Ferner sind nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs die rechtliche Einordnung der Tat nach nationalem Recht und das geschützte Rechtsgut für die Feststellung, ob dieselbe Straftat vorliegt, nicht erheblich, da die Reichweite des in Art. 50 der Charta gewährten Schutzes nicht von einem Mitgliedstaat zum anderen unterschiedlich sein kann (Urteile vom 20. März 2018, Menci, C‑524/15, EU:C:2018:197, Rn. 36, sowie vom 20. März 2018, Garlsson Real Estate u. a., C‑537/16, EU:C:2018:193, Rn. 38).
35 Gleiches gilt für die Anwendung des in Art. 50 der Charta verankerten Grundsatzes ne bis in idem im Bereich des Wettbewerbsrechts der Union, da, wie der Generalanwalt in den Nrn. 95 und 122 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, die Reichweite des mit dieser Bestimmung gewährten Schutzes, sofern im Unionsrecht nichts anderes bestimmt ist, nicht von einem Bereich des Unionsrechts zu einem anderen unterschiedlich sein kann.
36 Insoweit ist noch darauf hinzuweisen, dass die Voraussetzung „idem“ angesichts der in Rn. 33 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung eine identische materielle Tat erfordert. Dagegen findet der Grundsatz ne bis in idem keine Anwendung, wenn der fragliche Sachverhalt nicht identisch, sondern nur ähnlich ist.
37 Die Identität der materiellen Tat ist nämlich als die Gesamtheit der konkreten Umstände zu verstehen, die sich aus Ereignissen ergeben, bei denen es sich im Wesentlichen um dieselben handelt, da dieselbe Person gehandelt hat und sie zeitlich sowie räumlich unlösbar miteinander verbunden sind (vgl. in diesem Sinne EGMR, Urteil vom 10. Februar 2009, Sergueï Zolotoukhine/Russland, CE:ECHR:2009:0210JUD001493903, §§ 83 und 84, sowie EGMR, Urteil vom 20. Mai 2014, Pirttimäki/Finnland, CE:ECHR:2014:0520JUD003523211, §§ 49 bis 52).
38 Im vorliegenden Fall ist es Sache des vorlegenden Gerichts, zu prüfen, ob der Sachverhalt, der Gegenstand der beiden auf der Grundlage einer sektorspezifischen Regelung bzw. des Wettbewerbsrechts eingeleiteten Verfahren war, identisch ist. Insoweit hat es den Sachverhalt, der im Rahmen jedes der Verfahren berücksichtigt wurde, sowie den Zeitraum der behaupteten Zuwiderhandlung zu prüfen.
39 Sollte das vorlegende Gericht der Ansicht sein, dass der Sachverhalt, der Gegenstand der beiden im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Verfahren war, identisch ist, würde diese Kumulierung das in Art. 50 der Charta verbürgte Grundrecht einschränken.
Zur Rechtfertigung einer etwaigen Einschränkung des in Art. 50 der Charta verbürgten Grundrechts
40 Eine Einschränkung des in Art. 50 der Charta verbürgten Grundrechts kann auf der Grundlage von Art. 52 Abs. 1 der Charta gerechtfertigt werden (Urteile vom 27. Mai 2014, Spasic, C‑129/14 PPU, EU:C:2014:586, Rn. 55 und 56, sowie vom 20. März 2018, Menci, C‑524/15, EU:C:2018:197, Rn. 40).
41 Nach Art. 52 Abs. 1 Satz 1 der Charta muss jede Einschränkung der Ausübung der in der Charta anerkannten Rechte und Freiheiten gesetzlich vorgesehen sein und den Wesensgehalt dieser Rechte und Freiheiten achten. Nach Art. 52 Abs. 1 Satz 2 dürfen Einschränkungen dieser Rechte und Freiheiten unter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit nur vorgenommen werden, wenn sie erforderlich sind und den von der Union anerkannten dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen oder den Erfordernissen des Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer tatsächlich entsprechen.
42 Im vorliegenden Fall ist es Sache des vorlegenden Gerichts, zu prüfen, ob es, wie aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten hervorzugehen scheint, gesetzlich vorgesehen war, dass jede der betreffenden nationalen Behörden tätig wird, was – wie geltend gemacht wird – zu einer Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen geführt habe.
43 Diese Möglichkeit, Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen zu kumulieren, wahrt den Wesensgehalt von Art. 50 der Charta, sofern die nationale Regelung es nicht ermöglicht, denselben Sachverhalt aufgrund desselben Verstoßes oder zur Verfolgung desselben Ziels zu verfolgen und zu ahnden, sondern nur die Möglichkeit einer Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen aufgrund unterschiedlicher Regelungen vorsieht.
44 Zur Frage, ob die Einschränkung des in Art. 50 der Charta verbürgten Grundrechts durch eine Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen auf der Grundlage einer sektorspezifischen Regelung und des Wettbewerbsrechts einer dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzung entspricht, ist festzustellen, dass mit den beiden im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Regelungen verschiedene legitime Ziele verfolgt werden.
45 Mit der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden sektorspezifischen Regelung, mit der die Richtlinie 97/67 umgesetzt wurde, soll der Binnenmarkt für Postdienste liberalisiert werden.
46 Zum Gesetz über den Schutz des Wettbewerbs und Art. 102 AEUV, auf die die Entscheidung der Wettbewerbsbehörde gestützt ist, ist darauf hinzuweisen, dass der genannte Artikel eine der öffentlichen Ordnung zuzurechnende zwingende Bestimmung ist, die den Missbrauch beherrschender Stellungen verbietet und das für das Funktionieren des Binnenmarkts unerlässliche Ziel verfolgt, zu garantieren, dass der Wettbewerb im Binnenmarkt nicht verfälscht wird (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 13. Juli 2006, Manfredi u. a., C‑295/04 bis C‑298/04, EU:C:2006:461, Rn. 31, sowie vom 17. Februar 2011, TeliaSonera Sverige, C‑52/09, EU:C:2011:83, Rn. 20 bis 22).
47 Es ist daher legitim, dass ein Mitgliedstaat, um zu gewährleisten, dass der Prozess der Liberalisierung des Binnenmarkts für Postdienste bei gleichzeitiger Sicherstellung seines reibungslosen Funktionierens fortschreitet, Verstöße gegen die sektorspezifische Regelung zur Liberalisierung des betreffenden Marktes und gegen die im Wettbewerbsrecht anwendbaren Vorschriften ahndet, wie es im 41. Erwägungsgrund der Richtlinie 97/67 vorgesehen ist.
48 Zur Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit ist festzustellen, dass nach diesem Grundsatz die in der nationalen Regelung vorgesehene Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen nicht die Grenzen dessen überschreiten darf, was zur Erreichung der mit dieser Regelung zulässigerweise verfolgten Ziele geeignet und erforderlich ist; stehen mehrere geeignete Maßnahmen zur Auswahl, ist die am wenigsten belastende zu wählen, und die durch sie bedingten Nachteile müssen in angemessenem Verhältnis zu den angestrebten Zielen stehen (Urteil vom 20. März 2018, Menci, C‑524/15, EU:C:2018:197, Rn. 46 und die dort angeführte Rechtsprechung).
49 Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass die Behörden berechtigt sind, auf bestimmte für die Gesellschaft schädliche Verhaltensweisen einander ergänzende rechtliche Antworten zu geben, indem in verschiedenen Verfahren in zusammenhängender Weise unterschiedliche Aspekte des betreffenden sozialen Problems behandelt werden, sofern diese kombinierten rechtlichen Antworten keine übermäßige Belastung für die betreffende Person darstellen (vgl. in diesem Sinne EGMR, Urteil vom 15. November 2016, A und B/Norwegen, CE:ECHR:2016:1115JUD002413011, §§ 121 und 132). Die Tatsache, dass mit zwei Verfahren unterschiedliche dem Gemeinwohl dienende Zielsetzungen verfolgt werden, deren kumulierter Schutz legitim ist, kann daher im Rahmen der Prüfung der Verhältnismäßigkeit einer Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen als Faktor zur Rechtfertigung dieser Kumulierung berücksichtigt werden, sofern diese Verfahren komplementär sind und die zusätzliche Belastung durch diese Kumulierung somit durch die beiden verfolgten Ziele gerechtfertigt werden kann.
50 Mit nationalen Vorschriften, die die Möglichkeit einer Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen auf der Grundlage einer sektorspezifischen Regelung und des Wettbewerbsrechts vorsehen, kann die dem Gemeinwohl dienende Zielsetzung erreicht werden, die wirksame Anwendung jeder der beiden in Rede stehenden Regelungen sicherzustellen, da mit ihnen die in den Rn. 45 und 46 des vorliegenden Urteils genannten verschiedenen legitimen Ziele verfolgt werden. Insoweit ist es Sache des vorlegenden Gerichts, im Hinblick auf die nationalen Bestimmungen, die zu den von der Regulierungsbehörde für den Postsektor bzw. der Wettbewerbsbehörde eingeleiteten Verfahren geführt haben, zu beurteilen, ob die Kumulierung strafrechtlicher Sanktionen im Ausgangsrechtsstreit dadurch gerechtfertigt sein kann, dass mit den von diesen Behörden eingeleiteten Verfolgungsmaßnahmen komplementäre Zwecke verfolgt werden, die verschiedene Aspekte desselben rechtswidrigen Verhaltens betreffen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 20. März 2018, Menci, C‑524/15, EU:C:2018:197, Rn. 44).
51 Hinsichtlich der zwingenden Erforderlichkeit einer solchen Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen ist zu prüfen, ob es klare und präzise Regeln gibt, anhand deren sich vorhersehen lässt, bei welchen Handlungen und Unterlassungen eine Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen in Frage kommt, und die eine Koordinierung zwischen den verschiedenen Behörden ermöglichen; weiter ist zu prüfen, ob die beiden Verfahren in hinreichend koordinierter Weise und in einem engen zeitlichen Zusammenhang geführt wurden und ob die gegebenenfalls im Rahmen des chronologisch zuerst geführten Verfahrens verhängte Sanktion bei der Bestimmung der zweiten Sanktion berücksichtigt wurde, so dass die Belastungen, die sich aus einer solchen Kumulierung für die Betroffenen ergeben, auf das zwingend Erforderliche beschränkt bleiben und die Gesamtheit der verhängten Sanktionen der Schwere der begangenen Straftaten entspricht (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 20. März 2018, Menci, C‑524/15, EU:C:2018:197, Rn. 49, 52, 53, 55 und 58, sowie EGMR, Urteil vom 15. November 2016, A und B/Norwegen, CE:ECHR:2016:1115JUD002413011, §§ 130 und 132).
52 Zwar können, wie der Generalanwalt in Nr. 109 seiner Schlussanträge ausführt, die in der vorstehenden Randnummer beschriebene Beurteilung der Erforderlichkeit und folglich die umfassende Prüfung der Frage, ob die Kumulierung von zwei Verfahren nach Art. 52 Abs. 1 der Charta gerechtfertigt werden kann, angesichts der Natur bestimmter zu berücksichtigender Faktoren nur nachträglich vollständig erfolgen.
53 Jedoch wird durch den Schutz, der sich aus den beiden in Rn. 28 des vorliegenden Urteils angeführten Umständen, von denen die Anwendung des Grundsatzes ne bis in idem abhängt, ergibt – vorbehaltlich einer etwaigen Rechtfertigung einer Einschränkung der sich aus diesem Grundsatz ergebenden Rechte nach Art. 52 Abs. 1 der Charta in einem konkreten Fall –, der Wesensgehalt von Art. 50 der Charta gewahrt. Wie nämlich aus Rn. 51 des vorliegenden Urteils hervorgeht, setzt eine solche Rechtfertigung die Feststellung voraus, dass die Kumulierung der in Rede stehenden Verfahren zwingend erforderlich war, wobei in diesem Kontext im Wesentlichen zu berücksichtigen ist, ob ein hinreichend enger sachlicher und zeitlicher Zusammenhang zwischen den beiden in Rede stehenden Verfahren bestand (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 20. März 2018, Menci, C‑524/15, EU:C:2018:197, Rn. 61, sowie entsprechend EGMR, Urteil vom 15. November 2016, A und B/Norwegen, CE:ECHR:2016:1115JUD002413011, § 130). Die etwaige Rechtfertigung einer Kumulierung von Sanktionen ist somit an Voraussetzungen geknüpft, die, wenn sie erfüllt sind, insbesondere dazu dienen, die in funktionaler Hinsicht bestehende Verschiedenartigkeit der betreffenden Verfahren und damit die konkreten Auswirkungen, die sich für die Betroffenen aus dem Umstand ergeben, dass die gegen sie geführten Verfahren kumuliert werden, zu begrenzen, ohne jedoch das Vorliegen eines „bis“ als solches in Frage zu stellen.
54 Es ist Sache des vorlegenden Gerichts, im Licht aller Umstände des Ausgangsrechtsstreits zu prüfen, ob die in Rn. 51 des vorliegenden Urteils genannten Voraussetzungen in diesem Rechtsstreit erfüllt sind. Um dem vorlegenden Gericht eine sachdienliche Antwort zu geben, sind jedoch folgende Klarstellungen vorzunehmen.
55 Erstens ist festzustellen, dass das Bestehen einer Bestimmung des nationalen Rechts, die – wie Art. 14 der Loi du 17 janvier 2003 relative au statut du régulateur des secteurs des postes et des télécommunications belges (Gesetz vom 17. Januar 2003 über das Statut der Regulierungsinstanz des belgischen Post- und Telekommunikationssektors, Moniteur belge vom 24. Januar 2003, S. 2591) – die Zusammenarbeit und den Informationsaustausch zwischen den betreffenden Behörden vorsieht, was vom vorlegenden Gericht zu prüfen ist, einen einschlägigen Rahmen für die Gewährleistung der in Rn. 51 des vorliegenden Urteils genannten Koordinierung darstellen würde. Es ist ebenfalls Sache des vorlegenden Gerichts, zu prüfen, ob eine solche Koordinierung im vorliegenden Fall tatsächlich stattgefunden hat.
56 Zweitens ist vorbehaltlich der Beurteilung durch das vorlegende Gericht darauf hinzuweisen, dass die dem Gerichtshof vorliegenden Akten Anhaltspunkte für einen hinreichend engen zeitlichen Zusammenhang zwischen den beiden geführten Verfahren sowie zwischen den auf der Grundlage der sektorspezifischen Regelung und des Wettbewerbsrechts erlassenen Entscheidungen enthalten. So scheinen die Regulierungsbehörde für den Postsektor und die Wettbewerbsbehörde ihre Verfahren zumindest teilweise parallel durchgeführt zu haben. Die beiden Behörden haben ihre Entscheidungen in engem zeitlichen Abstand getroffen, nämlich am 20. Juli 2011 bzw. am 10. Dezember 2012, was im Übrigen angesichts der Komplexität von wettbewerbsrechtlichen Ermittlungen von einem hinreichend engen zeitlichen Zusammenhang zeugt.
57 Schließlich lässt der Umstand, dass die im Rahmen des zweiten Verfahrens verhängte Geldbuße höher ist als die, die im Rahmen des ersten Verfahrens durch eine endgültige Entscheidung verhängt wurde, für sich genommen nicht den Schluss zu, dass die Kumulierung der Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen gegen die betreffende juristische Person unverhältnismäßig ist, u. a. deshalb, weil diese beiden Verfahren komplementäre und zusammenhängende, aber gleichwohl unterschiedliche rechtliche Antworten auf dasselbe Verhalten darstellen können.
58 Nach alledem ist auf die vorgelegten Fragen zu antworten, dass Art. 50 der Charta in Verbindung mit deren Art. 52 Abs. 1 dahin auszulegen ist, dass er der Verhängung einer Geldbuße gegen eine juristische Person wegen eines Verstoßes gegen das Wettbewerbsrecht der Union nicht entgegensteht, wenn gegen diese Person im Hinblick auf denselben Sachverhalt am Ende eines Verfahrens wegen eines Verstoßes gegen eine sektorspezifische Regelung über die Liberalisierung des betreffenden Marktes bereits eine endgültige Entscheidung ergangen ist, sofern es klare und präzise Regeln gibt, anhand deren sich vorhersehen lässt, bei welchen Handlungen und Unterlassungen eine Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen in Frage kommt, und die eine Koordinierung zwischen den beiden zuständigen Behörden ermöglichen, sofern die beiden Verfahren in hinreichend koordinierter Weise und in engem zeitlichen Zusammenhang geführt wurden und sofern die Gesamtheit der verhängten Sanktionen der Schwere der begangenen Straftaten entspricht.
Kosten
59 Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Große Kammer) für Recht erkannt:
Art. 50 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union in Verbindung mit deren Art. 52 Abs. 1 ist dahin auszulegen, dass er der Verhängung einer Geldbuße gegen eine juristische Person wegen eines Verstoßes gegen das Wettbewerbsrecht der Union nicht entgegensteht, wenn gegen diese Person im Hinblick auf denselben Sachverhalt am Ende eines Verfahrens wegen eines Verstoßes gegen eine sektorspezifische Regelung über die Liberalisierung des betreffenden Marktes bereits eine endgültige Entscheidung ergangen ist, sofern es klare und präzise Regeln gibt, anhand deren sich vorhersehen lässt, bei welchen Handlungen und Unterlassungen eine Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen in Frage kommt, und die eine Koordinierung zwischen den beiden zuständigen Behörden ermöglichen, sofern die beiden Verfahren in hinreichend koordinierter Weise und in engem zeitlichen Zusammenhang geführt wurden und sofern die Gesamtheit der verhängten Sanktionen der Schwere der begangenen Straftaten entspricht.
Unterschriften
(*1) Verfahrenssprache: Französisch.
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Urteil des Gerichtshofs (Große Kammer) vom 22. Februar 2022.#Verfahren auf Betreiben von RS.#Vorabentscheidungsersuchen der Curtea de Apel Craiova.#Vorlage zur Vorabentscheidung – Rechtsstaatlichkeit – Unabhängigkeit der Justiz – Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV – Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Vorrang des Unionsrechts – Fehlende Befugnis eines nationalen Gerichts, nationale Rechtsvorschriften, die vom Verfassungsgericht des betreffenden Mitgliedstaats für verfassungsgemäß erklärt wurden, auf ihre Vereinbarkeit mit dem Unionsrecht zu prüfen – Disziplinarverfahren.#Rechtssache C-430/21.
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62021CJ0430
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ECLI:EU:C:2022:99
| 2022-02-22T00:00:00 |
Collins, Gerichtshof
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Sammlung der Rechtsprechung – allgemein – Abschnitt „Informationen über nicht veröffentlichte Entscheidungen“
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62021CJ0430
URTEIL DES GERICHTSHOFS (Große Kammer)
22. Februar 2022 (*1)
„Vorlage zur Vorabentscheidung – Rechtsstaatlichkeit – Unabhängigkeit der Justiz – Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV – Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Vorrang des Unionsrechts – Fehlende Befugnis eines nationalen Gerichts, nationale Rechtsvorschriften, die vom Verfassungsgericht des betreffenden Mitgliedstaats für verfassungsgemäß erklärt wurden, auf ihre Vereinbarkeit mit dem Unionsrecht zu prüfen – Disziplinarverfahren“
In der Rechtssache C‑430/21
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Curtea de Apel Craiova (Berufungsgericht Craiova, Rumänien) mit Entscheidung vom 7. Juli 2021, beim Gerichtshof eingegangen am 14. Juli 2021, in dem Verfahren
RS
erlässt
DER GERICHTSHOF (Große Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten K. Lenaerts, des Vizepräsidenten L. Bay Larsen (Berichterstatter), der Kammerpräsidenten A. Arabadjiev, C. Lycourgos, E. Regan und S. Rodin, der Kammerpräsidentin I. Ziemele und des Kammerpräsidenten J. Passer, der Richter F. Biltgen, P. G. Xuereb, N. Piçarra, der Richterin L. S. Rossi, der Richter N. Wahl und D. Gratsias sowie der Richterin M. L. Arastey Sahún,
Generalanwalt: A. M. Collins,
Kanzler: C. Di Bella, Verwaltungsrat,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 23. November 2021,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
–
der rumänischen Regierung, vertreten durch E. Gane, L. Liţu und L.‑E. Baţagoi als Bevollmächtigte im Beistand von M. Manolache,
–
der belgischen Regierung, vertreten durch L. Van den Broeck, M. Jacobs und C. Pochet als Bevollmächtigte,
–
der niederländischen Regierung, vertreten durch M. K. Bulterman und J. Langer als Bevollmächtigte,
–
der Europäischen Kommission, vertreten durch P. J. O. Van Nuffel, I. Rogalski und K. Herrmann als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 20. Januar 2022
folgendes
Urteil
1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 2 und Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV sowie von Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta).
2 Es ergeht im Rahmen einer von RS erhobenen Beschwerde, mit der die Dauer der infolge einer Anzeige seiner Ehefrau eingeleiteten Strafverfolgung gerügt wird.
Rechtlicher Rahmen
Verfassung Rumäniens
3 Art. 148 Abs. 2 und 4 der Constituția României (Verfassung Rumäniens) sieht vor:
„(2) Infolge des Beitritts gehen die Vorschriften der Gründungsverträge der Europäischen Union sowie die anderen zwingenden Vorschriften des Gemeinschaftsrechts entgegenstehenden Bestimmungen des nationalen Rechts nach Maßgabe der Beitrittsakte vor.
…
(4) Das Parlament, der Präsident Rumäniens, die Regierung und die Recht sprechende Gewalt gewährleisten die Erfüllung der sich aus der Beitrittsakte und den Bestimmungen in Abs. 2 ergebenden Pflichten.“
Codul de procedură penală (Strafprozessordnung)
4 Art. 4881 des Codul de procedură penală (Strafprozessordnung) sieht vor, dass in Verfahren, die sich im Stadium des Ermittlungsverfahrens befinden, frühestens ein Jahr nach Einleitung der Strafverfolgung eine Beschwerde eingelegt werden kann, um die Beschleunigung eines Strafverfahrens zu beantragen.
5 Gemäß Art. 4885 der Strafprozessordnung hat der für Rechte und Freiheiten zuständige Richter oder das zuständige Gericht die Angemessenheit der Dauer der Strafverfolgung anhand einer Reihe von in dieser Bestimmung genannten Gesichtspunkten zu beurteilen.
6 Art. 4886 Abs. 1 der Strafprozessordnung sieht vor, dass der für Rechte und Freiheiten zuständige Richter, wenn er den Antrag für begründet hält, der Staatsanwaltschaft eine Frist zur abschließenden Bearbeitung der Sache setzt.
Gesetz Nr. 303/2004
7 Art. 99 Buchst. ș der Legea nr. 303/2004 privind statutul judecătorilor și procurorilor (Gesetz Nr. 303/2004 über die Rechtsstellung der Richter und Staatsanwälte) vom 28. Juni 2004 (Monitorul Oficial al României, Teil I, Nr. 826 vom 13. September 2005) in der auf das Ausgangsverfahren anwendbaren Fassung (im Folgenden: Gesetz Nr. 303/2004) sieht u. a. vor, dass die Nichtbeachtung von Entscheidungen der Curtea Constituțională (Verfassungsgerichtshof) ein Disziplinarvergehen darstellt.
Ausgangsverfahren und Vorlagefragen
8 Gegen RS wurde ein Strafverfahren eingeleitet, in dem er verurteilt wurde.
9 Am 1. April 2020 erstattete die Ehefrau von RS Strafanzeige, mit der sie u. a. Straftaten der unrechtmäßigen Strafverfolgung und des Amtsmissbrauchs beanstandete, die im Rahmen dieses Strafverfahrens von einem Staatsanwalt und zwei Richtern begangen worden sein sollen.
10 Da diese Anzeige u. a. Richter betrifft, fällt ihre Prüfung in die Zuständigkeit der Secția pentru Investigarea Infracțiunilor din Justiție (Abteilung für die Untersuchung von Straftaten innerhalb der Justiz, im Folgenden: AUSJ), die beim Parchetul de pe lângă Înalta Curte de Casaţie şi Justiţie (Staatsanwaltschaft beim Obersten Kassations- und Gerichtshof, Rumänien) angesiedelt ist. Mit Beschluss vom 14. April 2020 leitete ein Staatsanwalt der AUSJ gegen die von dieser Strafanzeige betroffenen Richter wegen Straftaten der unrechtmäßigen Strafverfolgung und des Amtsmissbrauchs ein Strafverfahren ein.
11 Am 10. Juni 2021 erhob RS beim vorlegenden Gericht eine Beschwerde nach den Art. 4881 ff. der Strafprozessordnung, mit der er die übermäßige Dauer der auf diese Anzeige hin eingeleiteten Ermittlungen rügte und beantragte, dem mit dieser Strafanzeige befassten Staatsanwalt eine Frist zur abschließenden Bearbeitung der Sache zu setzen.
12 Dieses Gericht ist der Ansicht, dass es für die Entscheidung über diese Beschwerde die nationalen Rechtsvorschriften, mit denen die AUSJ errichtet worden sei, prüfen müsse.
13 Der Gerichtshof habe sich bereits im Urteil vom 18. Mai 2021, Asociaţia Forumul judecătorilor Din România u. a. (C‑83/19, C‑127/19, C‑195/19, C‑291/19, C‑355/19 und C‑397/19, EU:C:2021:393), zu Fragen hinsichtlich dieser nationalen Rechtsvorschriften geäußert.
14 Aus diesem Urteil gehe u. a. hervor, dass das Unionsrecht, insbesondere Art. 2 und Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV, dahin auszulegen sei, dass es einer nationalen Regelung entgegenstehe, die die Errichtung einer spezialisierten Abteilung der Staatsanwaltschaft mit ausschließlicher Zuständigkeit für die Untersuchung von durch Richter und Staatsanwälte begangenen Straftaten vorsehe, ohne dass die Errichtung einer solchen Abteilung durch objektive und überprüfbare Erfordernisse einer geordneten Rechtspflege gerechtfertigt sei und mit besonderen Garantien einhergehe. Diese Garantien müssten es zum einen ermöglichen, jede Gefahr auszuschließen, dass diese Abteilung als ein Instrument zur politischen Kontrolle der Tätigkeit dieser Richter und Staatsanwälte verwendet werde, das deren Unabhängigkeit beeinträchtigen könnte, und zum anderen, sicherzustellen, dass diese Zuständigkeit gegenüber Letztgenannten unter vollumfänglicher Beachtung der sich aus den Art. 47 und 48 der Charta ergebenden Anforderungen wahrgenommen werden könne.
15 Außerdem habe der Gerichtshof in Nr. 7 des Tenors dieses Urteils für Recht erkannt, dass der Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts dahin auszulegen sei, dass er einer Regelung mit Verfassungsrang eines Mitgliedstaats in der Auslegung durch das Verfassungsgericht dieses Staates entgegenstehe, wonach ein untergeordnetes Gericht nicht berechtigt sei, eine in den Anwendungsbereich der Entscheidung 2006/928/EG der Kommission vom 13. Dezember 2006 zur Einrichtung eines Verfahrens für die Zusammenarbeit und die Überprüfung der Fortschritte Rumäniens bei der Erfüllung bestimmter Vorgaben in den Bereichen Justizreform und Korruptionsbekämpfung (ABl. 2006, L 354, S. 56) fallende nationale Bestimmung, die es im Licht eines Urteils des Gerichtshofs als mit dieser Entscheidung oder mit Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV unvereinbar ansehe, aus eigener Entscheidungsbefugnis unangewendet zu lassen.
16 Das vorlegende Gericht verweist ganz allgemein auf die ständige Rechtsprechung des Gerichtshofs, wonach jedes nationale Gericht verpflichtet ist, in dem bei ihm anhängigen Rechtsstreit jede nationale Bestimmung, die einer Bestimmung des Unionsrechts mit unmittelbarer Wirkung entgegensteht, unangewendet zu lassen, sowie auf die Verbindlichkeit der vom Gerichtshof in Vorabentscheidungsverfahren erlassenen Urteile.
17 Hierzu führt das vorlegende Gericht aus, dass Art. 148 Abs. 2 und 4 der rumänischen Verfassung den Vorrang der unionsrechtlichen Vorschriften vorsehe.
18 Allerdings habe die Curtea Constituțională (Verfassungsgerichtshof) mit Urteil Nr. 390/2021 vom 8. Juni 2021 eine Einrede der Verfassungswidrigkeit in Bezug auf mehrere Bestimmungen der die AUSJ betreffenden Regelung als unbegründet zurückgewiesen.
19 In diesem Urteil habe die Curtea Constituțională (Verfassungsgerichtshof) u. a. klargestellt, dass sie, da der dem Unionsrecht zuerkannte Vorrang in der rumänischen Rechtsordnung durch das Erfordernis der Achtung der nationalen Verfassungsidentität beschränkt sei, verpflichtet sei, den Vorrang der rumänischen Verfassung im rumänischen Hoheitsgebiet zu gewährleisten. Folglich dürfe ein ordentliches Gericht zwar die Vereinbarkeit einer Bestimmung des nationalen Rechts mit dem Unionsrecht prüfen, sei aber nicht befugt, die Vereinbarkeit einer nationalen Bestimmung, die von der Curtea Constituțională (Verfassungsgerichtshof) für mit Art. 148 der rumänischen Verfassung vereinbar erklärt worden sei, mit dem Unionsrecht zu prüfen.
20 Die Curtea Constituțională (Verfassungsgerichtshof) habe weiter ausgeführt, dass Nr. 7 des Tenors des Urteils vom 18. Mai 2021, Asociaţia Forumul Judecătorilor Din România u. a. (C‑83/19, C‑127/19, C‑195/19, C‑291/19, C‑355/19 und C‑397/19, EU:C:2021:393), jeglicher Grundlage in der rumänischen Verfassung entbehre. Art. 148 der Verfassung schreibe zwar den Vorrang des Unionsrechts vor entgegenstehenden Bestimmungen des nationalen Rechts fest, doch stellten die in Anwendung der Entscheidung 2006/928 erstellten Berichte aufgrund ihres Inhalts und ihrer Wirkungen keine unionsrechtlichen Vorschriften dar, denen das nationale Gericht unter Nichtanwendung der nationalen Regelung Anwendungsvorrang einzuräumen hätte.
21 Schließlich habe die Curtea Constituțională (Verfassungsgerichtshof) in diesem Urteil Nr. 390/2021 vom 8. Juni 2021 festgestellt, dass die Rechtssicherheit stark beeinträchtigt würde, was eine Verletzung des Grundsatzes der Rechtsstaatlichkeit nach sich zöge, wenn Gerichte aus eigener Entscheidungsbefugnis nationale Bestimmungen, die sie für unionsrechtswidrig hielten, unangewendet ließen, während andere dieselben Bestimmungen anwendeten, weil sie diese als mit dem Unionsrecht vereinbar ansähen.
22 In diesem Zusammenhang erachtet es das vorlegende Gericht für erforderlich zu klären, ob es sich der Rechtsprechung der Curtea Constituțională (Verfassungsgerichtshof) beugen müsse, wie es das rumänische Recht vorsehe, oder ob es sich an die Rechtsprechung des Gerichtshofs zu halten habe, um entscheiden zu können, ob es die Vereinbarkeit der Rechtsvorschriften zur Errichtung der AUSJ mit dem Unionsrecht prüfen dürfe.
23 Das vorlegende Gericht weist ferner darauf hin, dass, falls es beschließen sollte, der Rechtsprechung des Gerichtshofs zu folgen und die Vereinbarkeit dieser Rechtsvorschriften mit dem Unionsrecht zu beurteilen, den betreffenden Richterinnen und Richtern ein Disziplinarverfahren und eine etwaige Suspendierung von ihren Ämtern drohen würden, da die Nichtbeachtung einer Entscheidung der Curtea Constituțională (Verfassungsgerichtshof) nach rumänischem Recht ein Disziplinarvergehen darstelle. Das vorlegende Gericht äußert Zweifel, ob eine nationale Regelung, wonach gegen einen Richter, der nach dem Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts eine nationale Vorschrift unter Missachtung einer Entscheidung des Verfassungsgerichts des betreffenden Mitgliedstaats auf ihre Vereinbarkeit mit dem Unionsrecht überprüft hat, Disziplinarstrafen verhängt werden können, mit dem Unionsrecht, insbesondere mit dem Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit, vereinbar ist.
24 Außerdem gehe aus Presseberichten und den bei der Curtea de Apel Pitești (Berufungsgericht Pitești, Rumänien) verfügbaren Daten hervor, dass bereits ein Disziplinarverfahren gegen einen Richter eingeleitet worden sei, der in einem Verfahren, das mit dem des Ausgangsverfahrens vergleichbar sei, die Auffassung vertreten habe, dass die rumänischen Rechtsvorschriften, mit denen die AUSJ errichtet worden sei, gegen das Unionsrecht verstießen. Nach Ansicht des vorlegenden Gerichts ist die Vereinbarkeit eines solchen Disziplinarverfahrens mit dem Unionsrecht zweifelhaft.
25 Aus diesen Gründen hat die Curtea de Apel Craiova (Berufungsgericht Craiova, Rumänien) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof die folgenden Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
1. Steht der in Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV in Verbindung mit Art. 2 EUV und Art. 47 der Charta verankerte Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit einer nationalen Bestimmung wie Art. 148 Abs. 2 der Verfassung Rumäniens in ihrer Auslegung durch die Curtea Constituțională (Verfassungsgerichtshof) in der Entscheidung Nr. 390/2021 vom 8. Juni 2021 entgegen, wonach die nationalen Gerichte nicht befugt sind, die Vereinbarkeit einer nationalen Bestimmung, die durch eine Entscheidung der Curtea Constituțională (Verfassungsgerichtshof) für verfassungsgemäß erklärt wurde, mit den Bestimmungen des Unionsrechts zu prüfen?
2. Steht der in Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV in Verbindung mit Art. 2 EUV und Art. 47 der Charta verankerte Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit einer nationalen Bestimmung wie Art. 99 Buchst. ș des Gesetzes Nr. 303/2004 entgegen, die es zulässt, dass gegen einen Richter wegen Nichtbeachtung einer Entscheidung der Curtea Constituțională (Verfassungsgerichtshof) ein Disziplinarverfahren eingeleitet und Disziplinarstrafen verhängt werden, wenn er über den Anwendungsvorrang des Unionsrechts gegenüber den Erwägungen einer Entscheidung der Curtea Constituțională (Verfassungsgerichtshof) zu entscheiden hat, und die dem Richter die Möglichkeit nimmt, ein Urteil des Gerichtshofs anzuwenden, das er für vorrangig hält?
3. Steht der in Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV in Verbindung mit Art. 2 EUV und Art. 47 der Charta verankerte Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit nationalen Gerichtspraktiken entgegen, die es dem Richter unter Androhung disziplinarischer Folgen verbieten, die Rechtsprechung des Gerichtshofs in Strafverfahren wie der Beschwerde hinsichtlich der angemessenen Dauer des Strafverfahrens nach Art. 4881 der Strafprozessordnung anzuwenden?
Zum Verfahren vor dem Gerichtshof
26 Das vorlegende Gericht hat beantragt, das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen dem Eilvorabentscheidungsverfahren oder, hilfsweise, dem beschleunigten Verfahren nach Art. 23a der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union zu unterwerfen.
27 Zur Begründung dieses Antrags hat das vorlegende Gericht ausgeführt, dass die Sache, die dem vorliegenden Vorabentscheidungsersuchen zugrunde liege, eine schwerwiegende Beeinträchtigung der Unabhängigkeit der rumänischen Gerichte betreffe und dass sich die Unsicherheiten im Zusammenhang mit den im Ausgangsverfahren fraglichen nationalen Rechtsvorschriften auf das Funktionieren des Systems der justiziellen Zusammenarbeit auswirken könnten, das durch den in Art. 267 AEUV vorgesehenen Mechanismus der Vorlage zur Vorabentscheidung geschaffen wurde.
28 Was erstens den Antrag auf Durchführung des Eilvorabentscheidungsverfahrens betrifft, hat die Erste Kammer des Gerichtshofs auf Vorschlag des Berichterstatters und nach Anhörung des Generalanwalts am 30. Juli 2021 entschieden, diesem Antrag nicht stattzugeben.
29 Was zweitens den Antrag auf Durchführung des beschleunigten Verfahrens anbelangt, ist darauf hinzuweisen, dass nach Art. 105 Abs. 1 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs der Präsident des Gerichtshofs auf Antrag des vorlegenden Gerichts oder ausnahmsweise von Amts wegen, nach Anhörung des Berichterstatters und des Generalanwalts, entscheiden kann, eine Vorlage zur Vorabentscheidung einem beschleunigten Verfahren zu unterwerfen, wenn die Art der Rechtssache ihre rasche Erledigung erfordert.
30 Am 12. August 2021 hat der Präsident des Gerichtshofs nach Anhörung des Berichterstatters und des Generalanwalts entschieden, dem Antrag, diese Vorlage zur Vorabentscheidung dem beschleunigten Verfahren zu unterwerfen, stattzugeben.
31 Wenn eine Rechtssache große Ungewissheit hervorruft, die Grundfragen des nationalen Verfassungsrechts und des Unionsrechts berührt, kann es nämlich in Anbetracht der besonderen Umstände einer solchen Rechtssache erforderlich sein, sie im Einklang mit Art. 105 Abs. 1 der Verfahrensordnung rasch zu erledigen (Beschluss des Präsidenten des Gerichtshofs vom 19. Oktober 2018, Wightman u. a., C‑621/18, nicht veröffentlicht, EU:C:2018:851, Rn. 10 und die dort angeführte Rechtsprechung).
32 In Anbetracht der Tatsache, dass die in der vorliegenden Rechtssache aufgeworfenen Fragen, die die Beziehungen zwischen den ordentlichen Gerichten und dem Verfassungsgericht Rumäniens sowie den Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit und den Vorrang des Unionsrechts betreffen, für diesen Mitgliedstaat und die Unionsrechtsordnung grundlegende Bedeutung haben, kann eine rasche Antwort des Gerichtshofs die große Ungewissheit beseitigen, mit der sich das vorlegende Gericht konfrontiert sieht, was die Erledigung dieser Rechtssache unter den in Art. 105 Abs. 1 der Verfahrensordnung festgelegten Voraussetzungen rechtfertigt.
Zu den Vorlagefragen
Zur ersten Frage
33 Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV in Verbindung mit Art. 2 EUV und Art. 47 der Charta dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung oder Praxis entgegensteht, wonach die ordentlichen Gerichte eines Mitgliedstaats nicht befugt sind, die Unionsrechtskonformität nationaler Rechtsvorschriften zu prüfen, die das Verfassungsgericht dieses Mitgliedstaats für mit einer nationalen Verfassungsbestimmung, die die Wahrung des Grundsatzes des Vorrangs des Unionsrechts vorschreibt, vereinbar erklärt hat.
34 Soweit die erste Frage die Auslegung von Art. 47 der Charta betrifft, ist vorab darauf hinzuweisen, dass die Anerkennung des Rechts auf einen wirksamen Rechtsbehelf in einem bestimmten Einzelfall voraussetzt, dass sich die Person, die es geltend macht, auf durch das Recht der Union garantierte Rechte oder Freiheiten beruft (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 6. Oktober 2020, Luxemburgischer Staat [Rechtsbehelf gegen ein Auskunftsersuchen in Steuersachen], C‑245/19 und C‑246/19, EU:C:2020:795, Rn. 55, und vom 20. April 2021, Repubblika, C‑896/19, EU:C:2021:311, Rn. 41), oder dass diese Person Gegenstand von Verfolgungsmaßnahmen ist, die eine Durchführung des Unionsrechts im Sinne von Art. 51 Abs. 1 der Charta darstellen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 21. Dezember 2021, Euro Box Promotion u. a., C‑357/19, C‑379/19, C‑547/19, C‑811/19 und C‑840/19, EU:C:2021:1034, Rn. 204).
35 Aus der Vorlageentscheidung geht jedoch weder hervor, dass RS sich auf ein Recht beriefe, das ihm aufgrund einer Bestimmung des Unionsrechts zusteht, noch, dass er Gegenstand von Verfolgungsmaßnahmen wäre, die eine Durchführung des Unionsrechts darstellen.
36 Unter diesen Umständen ist Art. 47 der Charta als solcher nicht auf das Ausgangsverfahren anwendbar.
37 Da Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV jedoch alle Mitgliedstaaten verpflichtet, die erforderlichen Rechtsbehelfe zu schaffen, damit in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen ein wirksamer Rechtsschutz insbesondere im Sinne von Art. 47 der Charta gewährleistet ist, ist letztere Bestimmung bei der Auslegung von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV gebührend zu berücksichtigen (Urteil vom 20. April 2021, Repubblika, C‑896/19, EU:C:2021:311‚ Rn. 45 und die dort angeführte Rechtsprechung).
38 Zu den Beziehungen zwischen den ordentlichen Gerichten und dem Verfassungsgericht eines Mitgliedstaats, die Gegenstand der ersten Frage sind, ist darauf hinzuweisen, dass die Organisation der Justiz in den Mitgliedstaaten, einschließlich der Errichtung, der Besetzung und der Arbeitsweise eines Verfassungsgerichts, zwar in deren Zuständigkeit fällt, dass die Mitgliedstaaten bei der Ausübung dieser Zuständigkeit jedoch die Verpflichtungen einzuhalten haben, die sich für sie aus dem Unionsrecht und insbesondere aus den Art. 2 und 19 EUV ergeben (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 24. Juni 2019, Kommission/Polen [Unabhängigkeit des Obersten Gerichts], C‑619/18, EU:C:2019:531‚ Rn. 52, und vom 21. Dezember 2021, Euro Box Promotion u. a., C‑357/19, C‑379/19, C‑547/19, C‑811/19 und C‑840/19, EU:C:2021:1034, Rn. 216).
39 Zu den sich aus Art. 19 EUV ergebenden Verpflichtungen ist festzustellen, dass diese Bestimmung, die den in Art. 2 EUV proklamierten Wert der Rechtsstaatlichkeit konkretisiert, den nationalen Gerichten und dem Gerichtshof die Aufgabe überträgt, die volle Anwendung des Unionsrechts in allen Mitgliedstaaten und den gerichtlichen Schutz, der den Einzelnen aus diesem Recht erwächst, zu gewährleisten (Urteile vom 24. Juni 2019, Kommission/Polen [Unabhängigkeit des Obersten Gerichts], C‑619/18, EU:C:2019:531, Rn. 47, und vom 21. Dezember 2021, Euro Box Promotion u. a., C‑357/19, C‑379/19, C‑547/19, C‑811/19 und C‑840/19, EU:C:2021:1034, Rn. 217).
40 Nach gefestigter Rechtsprechung hat jeder Mitgliedstaat, damit dieser Schutz gewährleistet ist, gemäß Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV dafür zu sorgen, dass Einrichtungen, die als „Gerichte“ im Sinne des Unionsrechts dazu berufen sind, über Fragen im Zusammenhang mit der Anwendung oder Auslegung dieses Rechts zu entscheiden, und damit Bestandteil seines Rechtsbehelfssystems in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen sind, den Anforderungen an einen wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz, u. a. dem Erfordernis der Unabhängigkeit, gerecht werden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 21. Dezember 2021, Euro Box Promotion u. a., C‑357/19, C‑379/19, C‑547/19, C‑811/19 und C‑840/19, EU:C:2021:1034, Rn. 220 und 221 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).
41 Das Erfordernis der Unabhängigkeit der Gerichte, das sich aus Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV ergibt, umfasst zwei Aspekte. Der erste, das Außenverhältnis betreffende Aspekt verlangt, dass die betreffende Einrichtung ihre Funktionen in völliger Autonomie ausübt, ohne mit irgendeiner Stelle hierarchisch verbunden oder ihr untergeordnet zu sein und ohne von irgendeiner Stelle Anordnungen oder Anweisungen zu erhalten, so dass sie auf diese Weise vor Interventionen oder Druck von außen geschützt ist, die die Unabhängigkeit des Urteils ihrer Mitglieder gefährden und deren Entscheidungen beeinflussen könnten. Der zweite, das Innenverhältnis betreffende Aspekt steht mit dem Begriff der Unparteilichkeit in Zusammenhang und bezieht sich darauf, dass den Parteien des Rechtsstreits und ihren jeweiligen Interessen am Streitgegenstand mit dem gleichen Abstand begegnet wird. Der letztgenannte Aspekt verlangt, dass Sachlichkeit obwaltet und neben der strikten Anwendung der Rechtsnormen keinerlei Interesse am Ausgang des Rechtsstreits besteht (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 24. Juni 2019, Kommission/Polen [Unabhängigkeit des Obersten Gerichts], C‑619/18, EU:C:2019:531‚ Rn. 72 und 73, sowie vom 21. Dezember 2021, Euro Box Promotion u. a., C‑357/19, C‑379/19, C‑547/19, C‑811/19 und C‑840/19, EU:C:2021:1034, Rn. 224).
42 Nach dem für einen Rechtsstaat kennzeichnenden Grundsatz der Gewaltenteilung ist die Unabhängigkeit der Gerichte insbesondere gegenüber der Legislative und der Exekutive zu gewährleisten (Urteile vom 19. November 2019, A. K. u. a. [Unabhängigkeit der Disziplinarkammer des Obersten Gerichts], C‑585/18, C‑624/18 und C‑625/18, EU:C:2019:982, Rn. 124, und vom 21. Dezember 2021, Euro Box Promotion u. a., C‑357/19, C‑379/19, C‑547/19, C‑811/19 und C‑840/19, EU:C:2021:1034, Rn. 228).
43 Wie in Rn. 38 des vorliegenden Urteils in Bezug auf die Organisation der Justiz ausgeführt, geben weder Art. 2 noch Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV noch irgendeine andere Bestimmung des Unionsrechts den Mitgliedstaaten ein konkretes verfassungsrechtliches Modell vor, das die Beziehungen und das Zusammenwirken zwischen den verschiedenen Staatsgewalten, namentlich in Bezug auf die Festlegung und Abgrenzung ihrer Zuständigkeiten, regeln würde. Die Union achtet nach Art. 4 Abs. 2 EUV die nationale Identität der Mitgliedstaaten, die in ihren grundlegenden politischen und verfassungsmäßigen Strukturen zum Ausdruck kommt. Bei der Wahl ihres jeweiligen verfassungsrechtlichen Modells müssen die Mitgliedstaaten jedoch insbesondere das Erfordernis der Unabhängigkeit der Gerichte beachten, das sich aus diesen unionsrechtlichen Bestimmungen ergibt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 21. Dezember 2021, Euro Box Promotion u. a., C‑357/19, C‑379/19, C‑547/19, C‑811/19 und C‑840/19, EU:C:2021:1034, Rn. 229 und die dort angeführte Rechtsprechung).
44 Unter diesen Umständen stehen Art. 2 und Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV sowie die Entscheidung 2006/928 einer nationalen Regelung oder Praxis, wonach die Entscheidungen des Verfassungsgerichts für die ordentlichen Gerichte bindend sind, nicht entgegen, sofern das nationale Recht die Unabhängigkeit dieses Verfassungsgerichts gegenüber insbesondere der Legislative und der Exekutive, wie sie diese Bestimmungen verlangen, gewährleistet. Wenn dagegen das nationale Recht diese Unabhängigkeit nicht gewährleistet, stehen diese Bestimmungen des Unionsrechts einer solchen nationalen Regelung oder Praxis entgegen, da ein solches Verfassungsgericht nicht in der Lage ist, den nach Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV erforderlichen wirksamen Rechtsschutz zu gewährleisten (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 21. Dezember 2021, Euro Box Promotion u. a., C‑357/19, C‑379/19, C‑547/19, C‑811/19 und C‑840/19, EU:C:2021:1034, Rn. 230).
45 Aus dem Vorstehenden ergibt sich, dass Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV – unter dem in der vorstehenden Randnummer genannten Vorbehalt – einer nationalen Regelung oder Praxis nicht entgegensteht, nach der die ordentlichen Gerichte eines Mitgliedstaats nach nationalem Verfassungsrecht an eine Entscheidung des Verfassungsgerichts dieses Mitgliedstaats gebunden sind, mit der eine nationale Rechtsvorschrift für mit der Verfassung dieses Mitgliedstaats vereinbar erklärt wird.
46 Dies kann jedoch nicht gelten, wenn die Anwendung einer solchen Regelung oder Praxis bedeutet, dass jede Zuständigkeit dieser ordentlichen Gerichte für die Beurteilung der Vereinbarkeit nationaler Rechtsvorschriften, die das Verfassungsgericht dieses Mitgliedstaats für mit einer nationalen Verfassungsvorschrift, die den Vorrang des Unionsrechts vorsieht, vereinbar erklärt hat, ausgeschlossen wird.
47 Der Gerichtshof hat nämlich in ständiger Rechtsprechung zum EWG‑Vertrag entschieden, dass mit den Gemeinschaftsverträgen im Unterschied zu gewöhnlichen völkerrechtlichen Verträgen eine neue eigene Rechtsordnung geschaffen wurde, die bei Inkrafttreten der Verträge in die Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten aufgenommen wurde und von ihren Gerichten anzuwenden ist. Die Mitgliedstaaten haben in den durch die Verträge festgelegten Bereichen ihre Souveränitätsrechte zugunsten dieser neuen Rechtsordnung eingeschränkt, die mit eigenen Organen ausgestattet ist und deren Rechtssubjekte nicht nur die Mitgliedstaaten, sondern auch deren Bürger sind (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 5. Februar 1963, van Gend & Loos, 26/62,EU:C:1963:1, S. 3, 25, vom 15. Juli 1964, Costa, 6/64, EU:C:1964:66, S. 1253, 1269, und vom 21. Dezember 2021, Euro Box Promotion u. a., C‑357/19, C‑379/19, C‑547/19, C‑811/19 und C‑840/19, EU:C:2021:1034, Rn. 245).
48 Somit hat der Gerichtshof im Urteil vom 15. Juli 1964, Costa (6/64, EU:C:1964:66, S. 1253, 1269 bis 1270) festgestellt, dass die Schaffung einer eigenen Rechtsordnung durch den EWG‑Vertrag, die von den Mitgliedstaaten auf der Grundlage der Gegenseitigkeit angenommen wurde, zur Folge hat, dass die Mitgliedstaaten weder gegen diese Rechtsordnung nachträgliche einseitige Maßnahmen geltend machen können noch dem aus dem EWG‑Vertrag hervorgegangenen Recht Vorschriften des nationalen Rechts gleich welcher Art entgegensetzen können. Andernfalls würde diesem Recht sein Gemeinschaftscharakter aberkannt und die Rechtsgrundlage der Gemeinschaft selbst in Frage gestellt. Außerdem hat der Gerichtshof betont, dass es eine Gefahr für die Verwirklichung der Ziele des EWG‑Vertrags bedeuten würde und eine nach diesem Vertrag verbotene Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit zur Folge hätte, wenn das Gemeinschaftsrecht je nach der nachträglichen innerstaatlichen Gesetzgebung von einem Staat zum anderen verschiedene Geltung haben könnte (Urteil vom 21. Dezember 2021, Euro Box Promotion u. a., C‑357/19, C‑379/19, C‑547/19, C‑811/19 und C‑840/19, EU:C:2021:1034, Rn. 246).
49 Diese wesentlichen Merkmale der Rechtsordnung der Union und die Bedeutung der ihr geschuldeten Achtung wurden im Übrigen durch die vorbehaltlose Ratifizierung der Verträge zur Änderung des EWG‑Vertrags und insbesondere des Vertrags von Lissabon bestätigt. Bei der Annahme dieses Vertrags hat die Konferenz der Vertreter der Regierungen der Mitgliedstaaten nämlich in ihrer Erklärung Nr. 17 zum Vorrang, die der Schlussakte der Regierungskonferenz, die den Vertrag von Lissabon angenommen hat, beigefügt ist (ABl. 2012, C 326, S. 346), ausdrücklich darauf hingewiesen, dass „die Verträge und das von der Union auf der Grundlage der Verträge gesetzte Recht im Einklang mit der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs unter den in dieser Rechtsprechung festgelegten Bedingungen Vorrang vor dem Recht der Mitgliedstaaten haben“ (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 21. Dezember 2021, Euro Box Promotion u. a., C‑357/19, C‑379/19, C‑547/19, C‑811/19 und C‑840/19, EU:C:2021:1034, Rn. 248).
50 Nach dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon hat der Gerichtshof in ständiger Rechtsprechung die frühere Rechtsprechung zum Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts bestätigt, der alle mitgliedstaatlichen Stellen verpflichtet, den verschiedenen unionsrechtlichen Vorschriften volle Wirksamkeit zu verschaffen, wobei das Recht der Mitgliedstaaten die diesen verschiedenen Vorschriften zuerkannte Wirkung in ihrem Hoheitsgebiet nicht beeinträchtigen darf (Urteil vom 21. Dezember 2021, Euro Box Promotion u. a., C‑357/19, C‑379/19, C‑547/19, C‑811/19 und C‑840/19, EU:C:2021:1034, Rn. 250 und die dort angeführte Rechtsprechung).
51 Gemäß dieser Rechtsprechung kann nach dem Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts die Einheit und die Wirksamkeit des Unionsrechts nicht dadurch beeinträchtigt werden, dass sich ein Mitgliedstaat auf Bestimmungen des nationalen Rechts beruft, auch wenn sie Verfassungsrang haben. Nach ständiger Rechtsprechung sind die Wirkungen des Grundsatzes des Vorrangs des Unionsrechts nämlich für alle Einrichtungen eines Mitgliedstaats verbindlich, ohne dass dem insbesondere die innerstaatlichen Bestimmungen, auch wenn sie Verfassungsrang haben, entgegenstehen könnten (Urteile vom 17. Dezember 1970, Internationale Handelsgesellschaft, 11/70, EU:C:1970:114, Rn. 3, und vom 21. Dezember 2021, Euro Box Promotion u. a., C‑357/19, C‑379/19, C‑547/19, C‑811/19 und C‑840/19, EU:C:2021:1034, Rn. 251).
52 Da der Gerichtshof somit die ausschließliche Zuständigkeit für die verbindliche Auslegung des Unionsrechts hat (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 2. September 2021, Republik Moldau, C‑741/19, EU:C:2021:655, Rn. 45), ist es seine Sache, in Ausübung dieser Zuständigkeit die Tragweite des Grundsatzes des Vorrangs des Unionsrechts im Hinblick auf die einschlägigen Bestimmungen des Unionsrechts zu präzisieren, so dass diese Tragweite weder von einer Auslegung von Bestimmungen des nationalen Rechts noch von einer Auslegung von Bestimmungen des Unionsrechts durch ein nationales Gericht, die nicht der Auslegung durch den Gerichtshof entspricht, abhängen darf (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 21. Dezember 2021, Euro Box Promotion u. a., C‑357/19, C‑379/19, C‑547/19, C‑811/19 und C‑840/19, EU:C:2021:1034, Rn. 254).
53 Hierzu ist insbesondere darauf hinzuweisen, dass ein nationales Gericht, das im Rahmen seiner Zuständigkeit die Bestimmungen des Unionsrechts anzuwenden hat und eine nationale Regelung nicht im Einklang mit den Anforderungen des Unionsrechts auslegen kann, nach dem Grundsatz des Vorrangs verpflichtet ist, für die volle Wirksamkeit der Anforderungen des Unionsrechts in dem bei ihm anhängigen Rechtsstreit Sorge zu tragen, indem es erforderlichenfalls jede – auch spätere – nationale Regelung oder Praxis, die einer Bestimmung des Unionsrechts mit unmittelbarer Wirkung entgegensteht, unangewendet lässt, ohne dass es die vorherige Beseitigung dieser nationalen Regelung oder Praxis auf gesetzgeberischem Weg oder durch irgendein anderes verfassungsrechtliches Verfahren beantragen oder abwarten müsste (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 9. März 1978, Simmenthal, 106/77, EU:C:1978:49, Rn. 24, vom 24. Juni 2019, Popławski, C‑573/17, EU:C:2019:530, Rn. 61 und 62, sowie vom 21. Dezember 2021, Euro Box Promotion u. a., C‑357/19, C‑379/19, C‑547/19, C‑811/19 und C‑840/19, EU:C:2021:1034, Rn. 252).
54 Wie in Rn. 39 des vorliegenden Urteils ausgeführt, ist die Erfüllung dieser Verpflichtung, jede unmittelbar wirkende Bestimmung des Unionsrechts uneingeschränkt anzuwenden, als unerlässlich anzusehen, um die volle Anwendung des Unionsrechts in allen Mitgliedstaaten, wie sie Art. 19 Abs. 1 EUV verlangt, zu gewährleisten.
55 Die Einhaltung dieser Verpflichtung ist auch erforderlich, um die Achtung der Gleichheit der Mitgliedstaaten vor den Verträgen sicherzustellen, die die Möglichkeit ausschließt, eine einseitige Maßnahme welcher Art auch immer gegen die Unionsrechtsordnung durchzusetzen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 21. Dezember 2021, Euro Box Promotion u. a., C‑357/19, C‑379/19, C‑547/19, C‑811/19 und C‑840/19, EU:C:2021:1034, Rn. 249), und ist Ausdruck des in Art. 4 Abs. 3 EUV niedergelegten Grundsatzes der loyalen Zusammenarbeit, wonach jede möglicherweise entgegenstehende Bestimmung des nationalen Rechts, gleichgültig, ob sie früher oder später als die unmittelbar wirksame Unionsnorm ergangen ist, unangewendet zu lassen ist (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 8. September 2010, Winner Wetten, C‑409/06, EU:C:2010:503, Rn. 55, und vom 21. Januar 2021, Whiteland Import Export, C‑308/19, EU:C:2021:47, Rn. 31).
56 Hier geht das vorlegende Gericht davon aus, dass es im Hinblick auf die Entscheidung im Ausgangsverfahren zu prüfen hat, ob die nationalen Rechtsvorschriften zur Errichtung der AUSJ mit Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV und den im Anhang der Entscheidung 2006/928 genannten spezifischen Vorgaben für die Justizreform und die Korruptionsbekämpfung vereinbar sind.
57 Unter diesen Umständen ist zum einen darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof bereits entschieden hat, dass solche nationalen Rechtsvorschriften in den Anwendungsbereich der Entscheidung 2006/928 fallen und folglich den Anforderungen genügen müssen, die sich aus dem Unionsrecht und insbesondere aus Art. 2 und Art. 19 Abs. 1 EUV ergeben (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 18. Mai 2021, Asociaţia Forumul Judecătorilor din România u. a., C‑83/19, C‑127/19, C‑195/19, C‑291/19, C‑355/19 und C‑397/19, EU:C:2021:393, Rn. 183 und 184).
58 Zum anderen sind sowohl Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV als auch die in Rn. 56 des vorliegenden Urteils genannten Vorgaben klar und präzise formuliert und an keine Bedingung geknüpft, so dass sie unmittelbare Wirkung haben (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 18. Mai 2021, Asociaţia Forumul Judecătorilor din România u. a., C‑83/19, C‑127/19, C‑195/19, C‑291/19, C‑355/19 und C‑397/19, EU:C:2021:393, Rn. 249 und 250, sowie vom 21. Dezember 2021, Euro Box Promotion u. a., C‑357/19, C‑379/19, C‑547/19, C‑811/19 und C‑840/19, EU:C:2021:1034, Rn. 253).
59 Daraus folgt, dass die rumänischen ordentlichen Gerichte die nationalen Bestimmungen, sofern sie sie nicht im Einklang mit dieser Vorschrift bzw. diesen Vorgaben auslegen können, aus eigener Entscheidungsbefugnis unangewendet lassen müssen.
60 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass diese ordentlichen Gerichte nach dem einschlägigen nationalen Recht, wie es vom vorlegenden Gericht beschrieben wird, zwar grundsätzlich dafür zuständig sind, die Vereinbarkeit rumänischer Rechtsvorschriften mit diesen Normen des Unionsrechts zu beurteilen, ohne dass sie ein entsprechendes Ersuchen an das nationale Verfassungsgericht richten müssten.
61 Der Vorlageentscheidung zufolge wird ihnen diese Zuständigkeit jedoch genommen, wenn das nationale Verfassungsgericht entschieden hat, dass die betreffenden Rechtsvorschriften mit einer nationalen Verfassungsvorschrift, die den Vorrang des Unionsrechts vorsieht, vereinbar sind, da sie verpflichtet sind, dieses Urteil des nationalen Verfassungsgerichts zu beachten.
62 In diesem Zusammenhang ist daran zu erinnern, dass die Befugnis, bereits zum Zeitpunkt der Anwendung des Unionsrechts alles Erforderliche zu tun, um eine nationale Regelung oder Praxis beiseitezulassen, die unter Umständen ein Hindernis für die volle Wirksamkeit der Normen des Unionsrechts bilden, Bestandteil des Amts des Unionsrichters ist, das dem nationalen Gericht obliegt, das im Rahmen seiner Zuständigkeit die Normen des Unionsrechts anzuwenden hat, so dass die Ausübung dieser Befugnis eine wesentliche Garantie der sich aus Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV ergebenden richterlichen Unabhängigkeit darstellt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 21. Dezember 2021, Euro Box Promotion u. a., C‑357/19, C‑379/19, C‑547/19, C‑811/19 und C‑840/19, EU:C:2021:1034, Rn. 257).
63 Daher wäre jede nationale Regelung oder Praxis, die dadurch zu einer Abschwächung der Wirksamkeit des Unionsrechts führen würde, dass dem für die Anwendung dieses Rechts zuständigen Gericht die Befugnis abgesprochen wird, bereits zum Zeitpunkt dieser Anwendung alles Erforderliche zu tun, um eine nationale Vorschrift oder Praxis beiseitezulassen, die unter Umständen ein Hindernis für die volle Wirksamkeit der Normen des Unionsrechts bilden, mit den in der Natur des Unionsrechts liegenden Erfordernissen unvereinbar (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 9. März 1978, Simmenthal, 106/77, EU:C:1978:49, Rn. 22, und vom 21. Dezember 2021, Euro Box Promotion u. a., C‑357/19, C‑379/19, C‑547/19, C‑811/19 und C‑840/19, EU:C:2021:1034, Rn. 258). Dies wäre dann der Fall, wenn bei einem Konflikt zwischen einer unionsrechtlichen Bestimmung und einem staatlichen Gesetz die Lösung dieses Normenkonflikts einem über ein eigenes Beurteilungsermessen verfügenden anderen Organ als dem Gericht, das für die Anwendung des Unionsrechts zu sorgen hat, vorbehalten wäre (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 9. März 1978, Simmenthal, 106/77, EU:C:1978:49, Rn. 23, und vom 22. Juni 2010, Melki und Abdeli, C‑188/10 und C‑189/10, EU:C:2010:363, Rn. 44).
64 Zudem ist darauf hinzuweisen, dass nach ständiger Rechtsprechung der durch Art. 267 AEUV festgelegte Vorabentscheidungsmechanismus sicherstellen soll, dass das Unionsrecht unter allen Umständen in allen Mitgliedstaaten die gleiche Wirkung hat, und damit unterschiedliche Auslegungen des von den einzelstaatlichen Gerichten anzuwendenden Unionsrechts verhindern und die Anwendung dieses Rechts gewährleisten soll. Zu diesem Zweck gibt dieser Artikel dem einzelstaatlichen Richter die Möglichkeit, die Schwierigkeiten auszuräumen, die sich aus dem Erfordernis ergeben könnten, dem Unionsrecht im Rahmen der Gerichtssysteme der Mitgliedstaaten zu voller Geltung zu verhelfen. Somit haben die einzelstaatlichen Gerichte ein unbeschränktes Recht oder sogar die Pflicht zur Vorlage an den Gerichtshof, wenn sie der Auffassung sind, dass ein bei ihnen anhängiges Verfahren Fragen der Auslegung oder der Gültigkeit der unionsrechtlichen Bestimmungen aufwirft, die einer Entscheidung durch diese Gerichte bedürfen (Urteil vom 16. Dezember 2021, AB u. a. [Rücknahme einer Amnestie], C‑203/20, EU:C:2021:1016, Rn. 49 und die dort angeführte Rechtsprechung).
65 Folglich wäre die Wirksamkeit der durch das Vorabentscheidungsverfahren eingerichteten Zusammenarbeit zwischen dem Gerichtshof und den nationalen Gerichten und damit des Unionsrechts gefährdet, wenn die Entscheidung über eine Einrede der Verfassungswidrigkeit vor dem Verfassungsgericht eines Mitgliedstaats bewirken könnte, dass das innerstaatliche Gericht, bei dem ein nach Unionsrecht zu entscheidender Rechtsstreit anhängig ist, davon abgeschreckt wird, von der ihm durch Art. 267 AEUV eingeräumten Befugnis Gebrauch zu machen, dem Gerichtshof Fragen vorzulegen, die die Auslegung oder die Gültigkeit von Rechtsakten des Unionsrechts betreffen, um darüber entscheiden zu können, ob eine innerstaatliche Vorschrift mit dem Unionsrecht vereinbar ist oder nicht (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 22. Juni 2010, Melki und Abdeli, C‑188/10 und C‑189/10, EU:C:2010:363, Rn. 45, vom 5. Juli 2016, Ognyanov, C‑614/14, EU:C:2016:514, Rn. 25, und vom 23. November 2021, IS [Rechtswidrigkeit des Vorlagebeschlusses], C‑564/19, EU:C:2021:949, Rn. 73).
66 Hat das Verfassungsgericht eines Mitgliedstaats entschieden, dass Rechtsvorschriften mit einer nationalen Verfassungsvorschrift vereinbar sind, die den Vorrang des Unionsrechts vorsieht, würde eine nationale Vorschrift oder Praxis wie die in Rn. 61 des vorliegenden Urteils beschriebene der vollen Wirksamkeit der in Rede stehenden Normen des Unionsrechts entgegenstehen, da sie das ordentliche Gericht, das für die Anwendung des Unionsrechts zuständig ist, daran hindern würde, selbst die Vereinbarkeit dieser Rechtsvorschriften mit dem Unionsrecht zu beurteilen.
67 Die Anwendung einer solchen nationalen Regelung oder Praxis würde auch die Wirksamkeit der durch das Vorabentscheidungsverfahren geschaffenen Zusammenarbeit zwischen dem Gerichtshof und den nationalen Gerichten beeinträchtigen, indem das ordentliche Gericht, das über den Rechtsstreit zu entscheiden hat, davon abgeschreckt wird, dem Gerichtshof ein Vorabentscheidungsersuchen vorzulegen, und zwar damit es den Entscheidungen des Verfassungsgerichts des betreffenden Mitgliedstaats nachkommt.
68 Die in den vorstehenden Randnummern getroffenen Feststellungen sind umso mehr in einer Situation wie der vom vorlegenden Gericht beschriebenen geboten, in der das Verfassungsgericht des betreffenden Mitgliedstaats es in einem Urteil ablehnt, einem in einem Vorabentscheidungsverfahren ergangenen Urteil des Gerichtshofs nachzukommen, und sich dabei u. a. auf die Verfassungsidentität des betreffenden Mitgliedstaats und auf die Erwägung stützt, dass der Gerichtshof seine Zuständigkeit überschritten habe.
69 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof zwar nach Art. 4 Abs. 2 EUV veranlasst sein kann, zu prüfen, ob eine unionsrechtliche Pflicht nicht der nationalen Identität eines Mitgliedstaats widerspricht (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 17. Juli 2014, Torresi, C‑58/13 und C‑59/13, EU:C:2014:2088, Rn. 58, und vom 5. Juni 2018, Coman u. a., C‑673/16, EU:C:2018:385, Rn. 46).
70 Diese Bestimmung hat jedoch weder zum Ziel noch zur Folge, dass ein Verfassungsgericht eines Mitgliedstaats unter Missachtung der Verpflichtungen, die sich insbesondere aus Art. 4 Abs. 2 und 3 sowie Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV ergeben, die Anwendung einer Norm des Unionsrechts mit der Begründung ausschließen kann, dass diese Norm die von ihm definierte nationale Identität des betreffenden Mitgliedstaats missachte.
71 Ist ein Verfassungsgericht eines Mitgliedstaats der Auffassung, dass eine Bestimmung des sekundären Unionsrechts in ihrer Auslegung durch den Gerichtshof gegen die Verpflichtung verstoße, die nationale Identität dieses Mitgliedstaats zu achten, muss es das Verfahren aussetzen und dem Gerichtshof nach Art. 267 AEUV ein Ersuchen um Vorabentscheidung über die Gültigkeit dieser Bestimmung im Licht von Art. 4 Abs. 2 EUV vorlegen, da allein der Gerichtshof befugt ist, die Ungültigkeit einer Handlung der Union festzustellen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 22. Oktober 1987, Foto-Frost, 314/85, EU:C:1987:452, Rn. 20, und vom 3. Oktober 2013, Inuit Tapiriit Kanatami u. a./Parlament und Rat, C‑583/11 P, EU:C:2013:625, Rn. 96).
72 Da der Gerichtshof, wie in Rn. 52 des vorliegenden Urteils ausgeführt, die ausschließliche Zuständigkeit für die verbindliche Auslegung des Unionsrechts hat, kann das Verfassungsgericht eines Mitgliedstaats nicht auf der Grundlage seiner eigenen Auslegung unionsrechtlicher Bestimmungen, darunter Art. 267 AEUV, wirksam entscheiden, dass der Gerichtshof ein Urteil erlassen habe, das über seinen Zuständigkeitsbereich hinausgehe, und es somit ablehnen, einem in einem Vorabentscheidungsverfahren ergangenen Urteil des Gerichtshofs nachzukommen.
73 Insoweit ist zu betonen, dass das in Art. 267 AEUV vorgesehene Vorabentscheidungsverfahren, das das Schlüsselelement des durch die Verträge geschaffenen Gerichtssystems darstellt, einen Dialog von Gericht zu Gericht zwischen dem Gerichtshof und den Gerichten der Mitgliedstaaten einführt, der die einheitliche Auslegung des Unionsrechts gewährleisten soll und damit die Sicherstellung seiner Kohärenz, seiner vollen Geltung und seiner Autonomie sowie letztlich des eigenen Charakters des durch die Verträge geschaffenen Rechts ermöglicht (vgl. in diesem Sinne Gutachten 2/13 [Beitritt der Union zur EMRK] vom 18. Dezember 2014, EU:C:2014:2454, Rn. 176, und Urteil vom 6. Oktober 2021, Consorzio Italian Management und Catania Multiservizi, C‑561/19, EU:C:2021:799, Rn. 27).
74 Ein Urteil des Gerichtshofs im Vorabentscheidungsverfahren bindet das nationale Gericht hinsichtlich der Auslegung des Unionsrechts bei der Entscheidung über den Rechtsstreit, mit dem es befasst ist (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 3. Februar 1977, Benedetti, 52/76, EU:C:1977:16, Rn. 26, und vom 11. Dezember 2018, Weiss u. a., C‑493/17, EU:C:2018:1000, Rn. 19).
75 Das nationale Gericht, das von der ihm nach Art. 267 Abs. 2 AEUV eingeräumten Möglichkeit Gebrauch gemacht hat, muss daher gegebenenfalls von der Beurteilung eines höheren nationalen Gerichts abweichen, wenn es angesichts der Auslegung durch den Gerichtshof der Auffassung ist, dass sie nicht dem Unionsrecht entspricht, indem es gegebenenfalls die nationale Vorschrift, die es verpflichtet, den Entscheidungen dieses höheren Gerichts nachzukommen, unangewendet lässt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 5. Oktober 2010, Elchinov, C‑173/09, EU:C:2010:581, Rn. 30 und 31).
76 Dies gilt nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs auch dann, wenn ein ordentliches Gericht aufgrund einer nationalen Verfahrensvorschrift an eine Entscheidung eines nationalen Verfassungsgerichts gebunden ist, die es für unionsrechtswidrig hält (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 15. Januar 2013, Križan u. a., C‑416/10, EU:C:2013:8, Rn. 71).
77 Zudem ist, da durch die Auslegung einer Vorschrift des Unionsrechts, die der Gerichtshof in Ausübung seiner Befugnisse aus Art. 267 AEUV vornimmt, soweit erforderlich erläutert und verdeutlicht wird, in welchem Sinne und mit welcher Tragweite diese Vorschrift seit ihrem Inkrafttreten zu verstehen und anzuwenden ist oder gewesen wäre (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 27. März 1980, Denkavit italiana, 61/79, EU:C:1980:100, Rn. 16, und vom 18. November 2021, État belge [Ausbildung von Piloten], C‑413/20, EU:C:2021:938, Rn. 53), davon auszugehen, dass ein ordentliches Gericht, um die volle Wirksamkeit der unionsrechtlichen Vorschriften zu gewährleisten, verpflichtet ist, in einem bei ihm anhängigen Rechtsstreit die Beurteilung eines nationalen Verfassungsgerichts, das es ablehnt, einem in einem Vorabentscheidungsverfahren ergangenen Urteil des Gerichtshofs nachzukommen, unangewendet zu lassen, und zwar selbst dann, wenn dieses Urteil nicht auf einem von diesem ordentlichen Gericht in Zusammenhang mit diesem Rechtsstreit eingereichten Vorabentscheidungsersuchen beruht.
78 Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV in Verbindung mit Art. 2 und Art. 4 Abs. 2 und 3 EUV, Art. 267 AEUV und dem Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung oder Praxis entgegensteht, wonach die ordentlichen Gerichte eines Mitgliedstaats nicht befugt sind, die Unionsrechtskonformität nationaler Rechtsvorschriften zu prüfen, die das Verfassungsgericht dieses Mitgliedstaats für mit einer nationalen Verfassungsbestimmung, die die Wahrung des Grundsatzes des Vorrangs des Unionsrechts vorschreibt, vereinbar erklärt hat.
Zur zweiten und zur dritten Frage
79 Mit seiner zweiten und seiner dritten Frage, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV in Verbindung mit Art. 2 EUV und Art. 47 der Charta dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung oder Praxis entgegensteht, wonach ein nationaler Richter mit der Begründung disziplinarisch belangt werden kann, dass er das Unionsrecht in seiner Auslegung durch den Gerichtshof angewandt habe und damit von einer mit dem Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts unvereinbaren Rechtsprechung des Verfassungsgerichts des betreffenden Mitgliedstaats abgewichen sei.
80 Vorab ist darauf hinzuweisen, dass Art. 47 der Charta als solcher, wie in Rn. 36 des vorliegenden Urteils ausgeführt, nicht auf das Ausgangsverfahren anwendbar ist.
81 Wie in Rn. 41 des vorliegenden Urteils ausgeführt, verlangt Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV, dass die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der Einrichtungen, die über Fragen im Zusammenhang mit der Anwendung oder der Auslegung des Unionsrechts zu entscheiden haben, gewahrt bleiben.
82 Diese nach dem Unionsrecht erforderlichen Garantien der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit setzen voraus, dass es Regeln gibt, die es ermöglichen, bei den Rechtsuchenden jeden berechtigten Zweifel an der Unempfänglichkeit der betreffenden Einrichtung für äußere Faktoren und an ihrer Neutralität in Bezug auf die widerstreitenden Interessen auszuräumen (Urteil vom 21. Dezember 2021, Euro Box Promotion u. a., C‑357/1919, C‑379/19, C‑547/19, C‑811/19 und C‑840/19, EU:C:2021:1034, Rn. 225 und die dort angeführte Rechtsprechung).
83 Was des Näheren die disziplinarrechtliche Verantwortlichkeit betrifft, die nach der in Rede stehenden nationalen Regelung für Richter der ordentlichen Gerichtsbarkeit im Fall der Nichtbeachtung der Entscheidungen des nationalen Verfassungsgerichts eintreten kann, so trifft es zwar zu, dass die Wahrung der Unabhängigkeit der Gerichte insbesondere nicht dazu führen darf, dass völlig ausgeschlossen ist, dass die disziplinarrechtliche Verantwortlichkeit eines Richters in bestimmten, ganz außergewöhnlichen Fällen durch von ihm erlassene Gerichtsentscheidungen ausgelöst werden kann. Die Anforderung der Unabhängigkeit ist nämlich ganz sicher nicht dazu gedacht, etwaige schwerwiegende und völlig unentschuldbare Verhaltensweisen von Richtern zu billigen, wie z. B. die vorsätzliche und böswillige oder besonders grob fahrlässige Missachtung von Vorschriften des nationalen Rechts und des Unionsrechts, deren Einhaltung sie gewährleisten sollen, Willkür oder Rechtsverweigerung, wenn sie als diejenigen, die mit der Aufgabe des Richtens betraut sind, über Streitigkeiten zu entscheiden haben, die ihnen von Rechtsuchenden vorgelegt werden (Urteile vom 15. Juli 2021, Kommission/Polen [Disziplinarordnung für Richter], C‑791/19, EU:C:2021:596, Rn. 137, und vom 21. Dezember 2021, Euro Box Promotion u. a., C‑357/19, C‑379/19, C‑547/19, C‑811/19 und C‑840/19, EU:C:2021:1034, Rn. 238).
84 Jedoch ist es für die Wahrung der Unabhängigkeit der Gerichte und um auf diese Weise zu verhindern, dass die Disziplinarregelung entgegen ihrem legitimen Zweck zur politischen Kontrolle von Gerichtsentscheidungen oder zur Ausübung von Druck auf Richter eingesetzt werden kann, von grundlegender Bedeutung, dass ein etwaiger Fehler in einer Gerichtsentscheidung bei der Auslegung und Anwendung der Vorschriften des nationalen Rechts und des Unionsrechts oder bei der Würdigung des Sachverhalts und der Beweise für sich allein nicht zur Auslösung der disziplinarrechtlichen Verantwortlichkeit des betreffenden Richters führen kann (Urteil vom 15. Juli 2021, Kommission/Polen [Disziplinarordnung für Richter], C‑791/19, EU:C:2021:596, Rn. 138, und vom 21. Dezember 2021, Euro Box Promotion u. a., C‑357/19, C‑379/19, C‑547/19, C‑811/19 und C‑840/19, EU:C:2021:1034, Rn. 239).
85 Ferner stellt es eine wesentliche Garantie für die Unabhängigkeit der nationalen Richter dar, dass sie keinen Disziplinarverfahren oder ‑strafen für die Ausübung der – in ihre ausschließliche Zuständigkeit fallenden – Befugnis zur Anrufung des Gerichtshofs nach Art. 267 AEUV ausgesetzt sind (Urteil vom 21. Dezember 2021, Euro Box Promotion u. a., C‑357/19, C‑379/19, C‑547/19, C‑811/19 und C‑840/19, EU:C:2021:1034, Rn. 227 und die dort angeführte Rechtsprechung).
86 Folglich muss die Auslösung der disziplinarrechtlichen Verantwortlichkeit eines Richters wegen einer Gerichtsentscheidung auf ganz außergewöhnliche Fälle wie die in Rn. 83 des vorliegenden Urteils genannten beschränkt bleiben und dabei durch objektive und überprüfbare Kriterien, die sich aus Erfordernissen einer geordneten Rechtspflege ergeben, sowie durch Garantien beschränkt sein, die darauf abzielen, jegliche Gefahr eines Drucks von außen bezüglich des Inhalts von Gerichtsentscheidungen zu vermeiden und damit bei den Rechtsuchenden jeden berechtigten Zweifel an der Unempfänglichkeit der betreffenden Richter und an ihrer Neutralität in Bezug auf die widerstreitenden Interessen auszuräumen (Urteile vom 15. Juli 2021, Kommission/Polen [Disziplinarordnung für Richter], C‑791/19, EU:C:2021:596, Rn. 139, und vom 21. Dezember 2021, Euro Box Promotion u. a., C‑357/19, C‑379/19, C‑547/19, C‑811/19 und C‑840/19, EU:C:2021:1034, Rn. 240).
87 Daher sind Art. 2 und Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Regelung oder Praxis entgegenstehen, wonach ein nationaler Richter für jegliche Nichtbeachtung der Entscheidungen des nationalen Verfassungsgerichts disziplinarisch belangt werden kann (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 21. Dezember 2021, Euro Box Promotion u. a., C‑357/19, C‑379/19, C‑547/19, C‑811/19 und C‑840/19, EU:C:2021:1034, Rn. 242).
88 In Anbetracht der Antwort auf die erste Frage wäre die mit einer solchen nationalen Regelung oder Praxis verbundene Beeinträchtigung der Unabhängigkeit der nationalen Richter auch unvereinbar mit den Grundsätzen der Gleichbehandlung der Mitgliedstaaten und der loyalen Zusammenarbeit zwischen der Union und den Mitgliedstaaten, die in Art. 4 Abs. 2 und 3 EUV anerkannt sind, mit Art. 267 AEUV und mit dem Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts, wenn ein nationaler Richter mit der Begründung disziplinarisch belangt wird, dass er eine Entscheidung des Verfassungsgerichts des betreffenden Mitgliedstaats, mit der es dieses abgelehnt hat, einem im Vorabentscheidungsverfahren ergangenen Urteil des Gerichtshofs nachzukommen, nicht beachtet habe.
89 Diese Auslegung ist umso mehr geboten, als durch eine solche disziplinarische Belangung eines nationalen Richters die Missachtung der Anforderungen des Unionsrechts durch eine nationale Regelung, wonach die ordentlichen Gerichte eines Mitgliedstaats nicht zur Prüfung der Unionsrechtskonformität nationaler Rechtsvorschriften befugt sind, die das Verfassungsgericht dieses Mitgliedstaats unter Missachtung eines Vorabentscheidungsurteils des Gerichtshofs für mit einer nationalen Verfassungsbestimmung, die den Vorrang des Unionsrechts vorsieht, vereinbar erklärt hat, noch verstärkt werden kann (vgl. entsprechend Urteil vom 21. Dezember 2021, Euro Box Promotion u. a., C‑357/19, C‑379/19, C‑547/19, C‑811/19 und C‑840/19, EU:C:2021:1034, Rn. 259).
90 Außerdem ist, auch wenn die rumänische Regierung in der mündlichen Verhandlung erklärt hat, dass in Anwendung der nationalen Rechtsvorschrift, auf die sich die zweite und die dritte Frage beziehen, keine Sanktion verhängt worden sei, darauf hinzuweisen, dass die bloße Aussicht auf die Einleitung eines Disziplinarverfahrens als solche geeignet ist, Druck auf diejenigen auszuüben, deren Aufgabe es ist, zu entscheiden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 18. Mai 2021, Asociaţia Forumul Judecătorilor din România u. a., C‑83/19, C‑127/19, C‑195/19, C‑291/19, C‑355/19 und C‑397/19, EU:C:2021:393, Rn. 199).
91 Die Angaben in der Vorlageentscheidung lassen nicht erkennen, dass die in Art. 99 Buchst. ș des Gesetzes Nr. 303/2004 vorgesehene Verantwortlichkeit der nationalen Richter der ordentlichen Gerichte aufgrund der Nichtbeachtung der Entscheidungen der Curtea Constituțională (Verfassungsgerichtshof) Voraussetzungen unterläge, die gewährleisten können, dass sie sich – wie in Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV gefordert und in den Rn. 84 und 86 des vorliegenden Urteils erläutert – auf die in Rn. 83 des vorliegenden Urteils erwähnten ganz außergewöhnlichen Fälle beschränkt.
92 Im Übrigen ist hervorzuheben, dass der Gerichtshof in Rn. 241 des Urteils vom 21. Dezember 2021, Euro Box Promotion u. a. (C‑357/19, C‑379/19, C‑547/19, C‑811/19 und C‑840/19, EU:C:2021:1034), bereits feststellen konnte, dass sich aus den Vorabentscheidungsersuchen in den Rechtssachen, in denen jenes Urteil ergangen ist, nicht ergibt, dass sich diese Verantwortlichkeit auf solche Fälle beschränkte.
93 Nach alledem ist auf die zweite und die dritte Frage zu antworten, dass Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV in Verbindung mit Art. 2 und Art. 4 Abs. 2 und 3 EUV, Art. 267 AEUV und dem Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung oder Praxis entgegensteht, wonach ein nationaler Richter mit der Begründung disziplinarisch belangt werden kann, dass er das Unionsrecht in seiner Auslegung durch den Gerichtshof angewandt habe und damit von einer mit dem Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts unvereinbaren Rechtsprechung des Verfassungsgerichts des betreffenden Mitgliedstaats abgewichen sei.
Kosten
94 Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Große Kammer) für Recht erkannt:
1. Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV in Verbindung mit Art. 2 und Art. 4 Abs. 2 und 3 EUV, Art. 267 AEUV und dem Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts ist dahin auszulegen, dass er einer nationalen Regelung oder Praxis entgegensteht, wonach die ordentlichen Gerichte eines Mitgliedstaats nicht befugt sind, die Unionsrechtskonformität nationaler Rechtsvorschriften zu prüfen, die das Verfassungsgericht dieses Mitgliedstaats für mit einer nationalen Verfassungsbestimmung, die die Wahrung des Grundsatzes des Vorrangs des Unionsrechts vorschreibt, vereinbar erklärt hat.
2. Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV in Verbindung mit Art. 2 und Art. 4 Abs. 2 und 3 EUV, Art. 267 AEUV und dem Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts ist dahin auszulegen, dass er einer nationalen Regelung oder Praxis entgegensteht, wonach ein nationaler Richter mit der Begründung disziplinarisch belangt werden kann, dass er das Unionsrecht in seiner Auslegung durch den Gerichtshof angewandt habe und damit von einer mit dem Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts unvereinbaren Rechtsprechung des Verfassungsgerichts des betreffenden Mitgliedstaats abgewichen sei.
Unterschriften
(*1) Verfahrenssprache: Rumänisch.
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Urteil des Gerichtshofs (Große Kammer) vom 15. April 2021.#Diskrimineringsombudsmannen gegen Braathens Regional Aviation AB.#Vorabentscheidungsersuchen des Högsta domstol.#Vorlage zur Vorabentscheidung – Gleichbehandlung ohne Unterschied der Rasse oder der ethnischen Herkunft – Richtlinie 2000/43/EG – Art. 7 – Rechtsschutz – Art. 15 – Sanktionen – Klage auf Schadensersatz wegen Diskriminierung – Anerkenntnis der Schadensersatzforderung durch den Beklagten, ohne dass er das Vorliegen der behaupteten Diskriminierung einräumt – Zusammenhang zwischen dem gezahlten Schadensersatz und der behaupteten Diskriminierung – Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Anspruch auf wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz – Nationale Verfahrensvorschriften, die das mit der Klage befasste Gericht daran hindern, trotz ausdrücklichen Antrags des Klägers über das Vorliegen der behaupteten Diskriminierung zu entscheiden.#Rechtssache C-30/19.
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62019CJ0030
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ECLI:EU:C:2021:269
| 2021-04-15T00:00:00 |
Gerichtshof, Saugmandsgaard Øe
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62019CJ0030
URTEIL DES GERICHTSHOFS (Große Kammer)
15. April 2021 (*1)
„Vorlage zur Vorabentscheidung – Gleichbehandlung ohne Unterschied der Rasse oder der ethnischen Herkunft – Richtlinie 2000/43/EG – Art. 7 – Rechtsschutz – Art. 15 – Sanktionen – Klage auf Schadensersatz wegen Diskriminierung – Anerkenntnis der Schadensersatzforderung durch den Beklagten, ohne dass er das Vorliegen der behaupteten Diskriminierung einräumt – Zusammenhang zwischen dem gezahlten Schadensersatz und der behaupteten Diskriminierung – Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Anspruch auf wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz – Nationale Verfahrensvorschriften, die das mit der Klage befasste Gericht daran hindern, trotz ausdrücklichen Antrags des Klägers über das Vorliegen der behaupteten Diskriminierung zu entscheiden“
In der Rechtssache C‑30/19
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Högsta domstol (Oberster Gerichtshof, Schweden) mit Entscheidung vom 20. Dezember 2018, beim Gerichtshof eingegangen am 10. Januar 2019, in dem Verfahren
Diskrimineringsombudsmannen
gegen
Braathens Regional Aviation AB
erlässt
DER GERICHTSHOF (Große Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten K. Lenaerts, der Vizepräsidentin R. Silva de Lapuerta, der Kammerpräsidentin A. Prechal, der Kammerpräsidenten M. Vilaras, E. Regan und N. Piçarra, des Richters T. von Danwitz (Berichterstatter), der Richterin C. Toader, der Richter M. Safjan und D. Šváby, der Richterin K. Jürimäe, der Richter C. Lycourgos und P. G. Xuereb, der Richterin L. S. Rossi und des Richters I. Jarukaitis,
Generalanwalt: H. Saugmandsgaard Øe,
Kanzler: C. Strömholm, Verwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 11. Februar 2020,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
–
des Diskrimineringsombudsman, vertreten durch M. Mörk, T. A. Qureshi und A. Rosenmüller Nordlander,
–
der Braathens Regional Aviation AB, vertreten durch J. Josjö und C. Gullikson Dock, advokater, sowie durch J. Hettne,
–
der schwedischen Regierung, zunächst vertreten durch H. Eklinder, C. Meyer-Seitz, H. Shev und J. Lundberg, dann durch H. Eklinder, C. Meyer-Seitz und H. Shev als Bevollmächtigte,
–
der finnischen Regierung, vertreten durch M. Pere als Bevollmächtigte,
–
der Europäischen Kommission, vertreten durch K. Simonsson, E. Ljung Rasmussen, G. Tolstoy und C. Valero als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 14. Mai 2020
folgendes
Urteil
1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Art. 7 und 15 der Richtlinie 2000/43/EG des Rates vom 29. Juni 2000 zur Anwendung des Gleichbehandlungsgrundsatzes ohne Unterschied der Rasse oder der ethnischen Herkunft (ABl. 2000, L 180, S. 22) in Verbindung mit Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta).
2 Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen dem Diskrimineringsombudsman (Bürgerbeauftragter für Diskriminierungangelegenheiten, Schweden), im Namen eines Fluggasts, der sich als Opfer einer Diskriminierung sieht, und der Braathens Regional Aviation AB (im Folgenden: Braathens), einer schwedischen Fluggesellschaft, die den Schadensersatzanspruch dieses Fluggasts anerkannt hat, ohne jedoch das Vorliegen der behaupteten Diskriminierung einzuräumen.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
3 In den Erwägungsgründen 19 und 26 der Richtlinie 2000/43 heißt es:
„(19)
Opfer von Diskriminierungen aus Gründen der Rasse oder der ethnischen Herkunft sollten über einen angemessenen Rechtsschutz verfügen. Um einen effektiveren Schutz zu gewährleisten, sollte auch die Möglichkeit bestehen, dass sich Verbände oder andere juristische Personen unbeschadet der nationalen Verfahrensordnung bezüglich der Vertretung und Verteidigung vor Gericht bei einem entsprechenden Beschluss der Mitgliedstaaten im Namen eines Opfers oder zu seiner Unterstützung an einem Verfahren beteiligen.
…
(26) Die Mitgliedstaaten sollten wirksame, verhältnismäßige und abschreckende Sanktionen für den Fall vorsehen, dass gegen die aus der Richtlinie erwachsenden Verpflichtungen verstoßen wird.“
4 Art. 1 („Zweck“) dieser Richtlinie 2000/43 lautet:
„Zweck dieser Richtlinie ist die Schaffung eines Rahmens zur Bekämpfung der Diskriminierung aufgrund der Rasse oder der ethnischen Herkunft im Hinblick auf die Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung in den Mitgliedstaaten.“
5 Art. 2 („Der Begriff ‚Diskriminierung‘“) Abs. 1 der Richtlinie bestimmt:
„Im Sinne dieser Richtlinie bedeutet ‚Gleichbehandlungsgrundsatz‘, dass es keine unmittelbare oder mittelbare Diskriminierung aus Gründen der Rasse oder der ethnischen Herkunft geben darf.“
6 Art. 3 („Geltungsbereich“) Abs. 1 Buchst. h der Richtlinie sieht vor:
„Im Rahmen der auf die [Europäische Union] übertragenen Zuständigkeiten gilt diese Richtlinie für alle Personen in öffentlichen und privaten Bereichen, einschließlich öffentlicher Stellen, in Bezug auf:
…
h)
den Zugang zu und die Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen, die der Öffentlichkeit zur Verfügung stehen, einschließlich von Wohnraum.“
7 In Art. 7 („Rechtsschutz“) der Richtlinie 2000/43 heißt es:
„(1) Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass alle Personen, die sich durch die Nichtanwendung des Gleichbehandlungsgrundsatzes in ihren Rechten für verletzt halten, ihre Ansprüche aus dieser Richtlinie auf dem Gerichts- und/oder Verwaltungsweg sowie, wenn die Mitgliedstaaten es für angezeigt halten, in Schlichtungsverfahren geltend machen können, selbst wenn das Verhältnis, während dessen die Diskriminierung vorgekommen sein soll, bereits beendet ist.
(2) Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass Verbände, Organisationen oder andere juristische Personen, die gemäß den in ihrem einzelstaatlichen Recht festgelegten Kriterien ein rechtmäßiges Interesse daran haben, für die Einhaltung der Bestimmungen dieser Richtlinie zu sorgen, sich entweder im Namen der beschwerten Person oder zu deren Unterstützung und mit deren Einwilligung an den in dieser Richtlinie zur Durchsetzung der Ansprüche vorgesehenen Gerichts- und/oder Verwaltungsverfahren beteiligen können.
…“
8 Art. 8 („Beweislast“) dieser Richtlinie sieht vor:
„(1) Die Mitgliedstaaten ergreifen im Einklang mit ihrem nationalen Gerichtswesen die erforderlichen Maßnahmen, um zu gewährleisten, dass immer dann, wenn Personen, die sich durch die Nichtanwendung des Gleichbehandlungsgrundsatzes für verletzt halten und bei einem Gericht oder einer anderen zuständigen Stelle Tatsachen glaubhaft machen, die das Vorliegen einer unmittelbaren oder mittelbaren Diskriminierung vermuten lassen, es dem Beklagten obliegt zu beweisen, dass keine Verletzung des Gleichbehandlungsgrundsatzes vorgelegen hat.
…
(3) Absatz 1 gilt nicht für Strafverfahren.
…“
9 Art. 15 („Sanktionen“) der Richtlinie 2000/43 bestimmt:
„Die Mitgliedstaaten legen die Sanktionen fest, die bei einem Verstoß gegen die einzelstaatlichen Vorschriften zur Anwendung dieser Richtlinie zu verhängen sind, und treffen alle geeigneten Maßnahmen, um deren Durchsetzung zu gewährleisten. Die Sanktionen, die auch Schadensersatzleistungen an die Opfer umfassen können, müssen wirksam, verhältnismäßig und abschreckend sein. …“
Schwedisches Recht
10 Nach Kapitel 1 § 4 Abs. 1 des Diskrimineringslag (2008:567) (Diskriminierungsgesetz [2008:567]) liegt eine Diskriminierung u. a. dann vor, wenn eine Person dadurch benachteiligt wird, dass sie ungünstiger behandelt wird als eine andere Person in einer vergleichbaren Situation behandelt wird oder behandelt würde, falls die Ungleichbehandlung im Zusammenhang mit dem Geschlecht, einer transsexuellen Identität oder einem transsexuellen Bekenntnis, der ethnischen Zugehörigkeit, der Religion oder dem Glauben, einer Behinderung, der sexuellen Orientierung oder dem Alter steht.
11 Nach Kapitel 2 § 12 dieses Gesetzes ist eine Diskriminierung u. a. Personen verboten, die außerhalb des Privat- und Familienlebens der Allgemeinheit Waren, Dienstleistungen oder Wohnungen anbieten.
12 Kapitel 5 dieses Gesetzes sieht die Sanktionen vor, die gegen jeden, der eine Diskriminierung begeht, verhängt werden können, nämlich die Entschädigung des Opfers durch die Zahlung eines „Schadensersatzes wegen Diskriminierung“ sowie die Anpassung und die Aufhebung von Verträgen und anderen Rechtsgeschäften.
13 Aus Kapitel 6 § 1 Abs. 2 Diskrimineringslag geht hervor, dass Streitigkeiten betreffend die Anwendung von Kapitel 2 § 12 dieses Gesetzes von den ordentlichen Gerichten gemäß den Bestimmungen des Rättegångsbalk (Gerichtsprozessordnung) über Zivilverfahren – in denen eine gütliche Beilegung des Rechtsstreits zulässig ist – geprüft werden.
14 Nach Kapitel 13 § 1 Rättegångsbalk kann der Kläger unter den in dieser Bestimmung genannten Voraussetzungen eine Leistungsklage erheben, um die Verurteilung des Beklagten zur Erfüllung einer Handlungspflicht, etwa der zur Zahlung eines Geldbetrags an den Kläger, zu erwirken.
15 In Kapitel 13 § 2 Rättegångsbalk ist die Feststellungsklage geregelt. Nach § 2 Abs. 1 kann eine solche Klage, die auf die Feststellung des Bestehens oder Nichtbestehens eines bestimmten Rechtsverhältnisses gerichtet ist, vom Gericht geprüft werden, wenn in Bezug auf dieses Rechtsverhältnis eine Unsicherheit mit nachteiligen Auswirkungen für den Kläger besteht.
16 Kapitel 42 § 7 Rättegångsbalk sieht vor, dass sich der Beklagte in der mündlichen Verhandlung unverzüglich gegen die Klage verteidigen muss. Stattdessen kann er sich in diesem Stadium aber auch entscheiden, den Anspruch des Klägers anzuerkennen.
17 Gemäß Kapitel 42 § 18 Rättegångsbalk erlässt das Gericht, nachdem der Beklagte die Forderungen des Klägers anerkannt hat, ein Urteil auf der Grundlage dieses Anerkenntnisses.
Ausgangsverfahren und Vorlagefrage
18 Im Juli 2015 wurde ein in Chile geborener Fluggast mit Wohnsitz in Stockholm (Schweden), der einen von der Fluggesellschaft Braathens durchgeführten Flug innerhalb Schwedens gebucht hatte (im Folgenden: Fluggast), aufgrund einer Entscheidung des Bordkommandanten einer zusätzlichen Sicherheitskontrolle unterzogen.
19 Der Diskrimineringsombudsman erhob vor dem Stockholms tingsrätt (Gericht erster Instanz Stockholm, Schweden) Klage gegen Braathens auf Zahlung von Schadensersatz in Höhe von 10000 schwedischen Kronen (SEK) (rund 1000 Euro) an den Fluggast wegen der Diskriminierung, die diese Fluggesellschaft gegenüber dem Fluggast begangen habe.
20 Zur Begründung seiner Klage machte der Diskrimineringsombudsman der Sache nach geltend, der Fluggast sei von Braathens unter Verstoß gegen Kapitel 2 § 12 und Kapitel 1 § 4 Diskrimineringslag unmittelbar diskriminiert worden, da diese einen Bezug zwischen ihm und einer arabischen Person hergestellt und ihn deswegen einer zusätzlichen Sicherheitskontrolle unterzogen habe. Braathens habe dem Fluggast dadurch aus Gründen, die im Zusammenhang mit seinem Aussehen und seiner ethnischen Zugehörigkeit stünden, einen Nachteil zugefügt, indem sie ihn ungünstiger behandelt habe als andere Fluggäste in einer vergleichbaren Situation.
21 Vor dem Stockholms tingsrätt (Gericht erster Instanz Stockholm) war Braathens bereit, den geforderten Betrag als Schadensersatz wegen Diskriminierung zu zahlen, erkannte aber nicht an, irgendeine Diskriminierung begangen zu haben. Der Diskrimineringsombudsman sprach sich vor diesem Gericht gegen eine Entscheidung auf der Grundlage des Anerkenntnisses von Braathens ohne Prüfung der geltend gemachten Diskriminierung in der Sache aus.
22 Das Stockholms tingsrätt (Gericht erster Instanz Stockholm) verurteilte Braathens zur Zahlung des geforderten Betrags zuzüglich Zinsen und zur Tragung der Kosten. Nach Auffassung dieses Gerichts sind zivilrechtliche Rechte und Pflichten betreffende Streitigkeiten, die wie der Rechtsstreit des Ausgangsverfahrens zur freien Disposition der Parteien stehen, im Fall des Anerkenntnisses der Schadensersatzforderung des Klägers ohne Prüfung in der Sache zu entscheiden und das Gericht sei an das Anerkenntnis von Braathens gebunden. Im Übrigen erklärte es die Anträge des Diskrimineringsombudsman, die auf den Erlass eines Feststellungsurteils in dem Sinne gerichtet waren, dass die Fluggesellschaft aufgrund ihres diskriminierenden Verhaltens zur Zahlung von Schadensersatz wegen Diskriminierung verpflichtet sei, hilfsweise, dass der Fluggast durch Braathens diskriminiert worden sei, aufgrund dieses Anerkenntnisses für unzulässig.
23 Nachdem seine gegen das Urteil des Stockholms tingsrätt (Gericht erster Instanz Stockholm) beim Svea hovrätt (Berufungsgericht mit Sitz in Stockholm, Schweden) eingelegte Berufung ohne Erfolg geblieben war, legte der Diskrimineringsombudsman gegen dessen Urteil beim vorlegenden Gericht, dem Högsta domstol (Oberster Gerichtshof, Schweden), ein Rechtsmittel ein. Im Rahmen dieses Rechtsmittels beantragte er, das Berufungsurteil aufzuheben, das Urteil des Stockholms tingsrätt (Gericht erster Instanz Stockholm) aufzuheben und die Sache an dieses Gericht zurückzuverweisen, damit es zumindest einen der beiden Anträge auf Erlass eines Feststellungsurteils in der Sache prüfen möge. Braathens beantragte, die Anträge des Diskrimineringsombudsman zurückzuweisen.
24 Nach Angaben des vorlegenden Gerichts hat das Diskriminerungslag den Zweck, u. a. verschiedene Rechtsakte der Union, darunter auch die Richtlinie 2000/43, umzusetzen. Wie aus den Gesetzesmaterialien hervorgehe, ziele dieses Gesetz darauf ab, scharfe und abschreckende Sanktionen für Diskriminierungen zu ermöglichen. Insbesondere handele es sich beim Schadensersatz wegen Diskriminierung um eine Sanktion im Sinne von Art. 15 der Richtlinie und dieser sei in jedem Einzelfall so festzusetzen, dass er für das Opfer einen angemessenen Ausgleich darstelle und zur Bekämpfung von Diskriminierungen in der Gesellschaft beitrage. Er erfülle also eine doppelte Funktion von Wiedergutmachung und Prävention.
25 Hinzu komme, dass sich der Beklagte gemäß den Bestimmungen des Rättegångsbalk entscheiden könne, den Schadensersatzanspruch des Klägers anzuerkennen; dabei müsse er weder die Gründe für dieses Anerkenntnis angeben noch sich auf einen vom Kläger geltend gemachten Klagegrund stützen, noch das Vorliegen der behaupteten Diskriminierung einräumen. In der Praxis ziele ein solches Anerkenntnis darauf ab, das Verfahren zu beenden, ohne dass es einer weiteren Prüfung des Falles bedürfe, da das Gericht ein allein mit diesem Anerkenntnis begründetes Urteil zu erlassen habe. Die Feststellungsklage dürfe sich lediglich auf das Vorliegen oder Fehlen eines Rechtsverhältnisses zwischen den Parteien des Rechtsstreits beziehen, nicht jedoch etwa auf rein tatsächliche Aspekte. Im Übrigen habe das Gericht zu beurteilen, ob die Prüfung der Klage zweckmäßig sei.
26 Das vorlegende Gericht weist darauf hin, dass das erst- und das zweitinstanzliche Gericht Entscheidungen erlassen hätten, mit denen Braathens aufgrund ihres Anerkenntnisses der Forderung des im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Fluggasts zur Zahlung des von diesem verlangten Schadensersatzes verurteilt worden sei. Aufgrund dieses Anerkenntnisses könne die Frage des Vorliegens der geltend gemachten Diskriminierung nach Auffassung dieser Gerichte auch nicht im Rahmen eines Antrags auf Erlass eines Feststellungsurteils geprüft werden.
27 Der Högsta domstol (Oberster Gerichtshof) möchte wissen, ob die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden nationalen Rechtsvorschriften den Anforderungen von Art. 15 der Richtlinie 2000/43 in Verbindung mit Art. 47 der Charta gerecht werden, die für jede Person das Recht auf einen wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz gewährleisteten. Daher sei zu klären, ob das Gericht im Fall eines Anerkenntnisses der Schadensersatzforderung des Klägers durch den Beklagten gleichwohl, um gemäß Art. 7 dieser Richtlinie den Schutz der sich aus ihr ergebenden Rechte sicherzustellen, die Möglichkeit haben müsse, das Vorliegen einer Diskriminierung auf Antrag der Partei zu prüfen, die sich für von einer solchen betroffen halte, und ob es bei dieser Prüfung darauf ankomme, ob der mutmaßliche Urheber der Diskriminierung diese einräume.
28 Unter diesen Umständen hat der Högsta domstol (Oberster Gerichtshof) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:
Muss ein Mitgliedstaat in einer Rechtssache betreffend einen Verstoß gegen ein in der Richtlinie 2000/43 vorgesehenes Verbot, wenn der Verletzte Schadensersatz wegen Diskriminierung verlangt, auf dessen Antrag hin immer das Vorliegen einer Diskriminierung prüfen – und gegebenenfalls deren Vorliegen feststellen –, unabhängig davon, ob derjenige, dem die Diskriminierung vorgeworfen wird, diese bestätigt hat, damit die in Art. 15 dieser Richtlinie vorgesehene Voraussetzung betreffend wirksame, verhältnismäßige und abschreckende Sanktionen als erfüllt angesehen werden kann?
Zur Vorlagefrage
29 Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die Art. 7 und 15 der Richtlinie 2000/43 in Verbindung mit Art. 47 der Charta dahin auszulegen sind, dass sie nationalen Rechtsvorschriften entgegenstehen, die ein Gericht, das mit einer Klage auf Schadensersatz wegen des Vorwurfs einer gemäß dieser Richtlinie verbotenen Diskriminierung befasst ist, daran hindern, den Antrag auf Feststellung des Vorliegens dieser Diskriminierung zu prüfen, wenn der Beklagte sich zur Zahlung des geforderten Schadensersatzes bereit erklärt, ohne jedoch das Vorliegen der Diskriminierung einzuräumen.
30 Vorab ist darauf hinzuweisen, dass Zweck der Richtlinie 2000/43 gemäß ihrem Art. 1 die Schaffung eines Rahmens zur Bekämpfung der Diskriminierung aus Gründen der Rasse oder der ethnischen Herkunft im Hinblick auf die Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung in den Mitgliedstaaten ist. Diese Richtlinie bildet den konkreten Ausdruck des in Art. 21 der Charta niedergelegten Verbots der Diskriminierung aus Gründen der Rasse oder der ethnischen Herkunft in ihrem Geltungsbereich (vgl. Urteil vom 16. Juli 2015, CHEZ Razpredelenie Bulgaria, C‑83/14, EU:C:2015:480, Rn. 72 und die dort angeführte Rechtsprechung).
31 Es steht fest, dass der Ausgangsrechtsstreit in den sachlichen Geltungsbereich der Richtlinie 2000/43 fällt, da er ein angeblich diskriminierendes Verhalten aus Gründen der ethnischen Herkunft oder der Rasse betrifft, das – im Sinne von Art. 3 Abs. 1 Buchst. h dieser Richtlinie – im Rahmen des Zugangs zu einer Dienstleistung, die der Öffentlichkeit zur Verfügung steht, gezeigt worden sei.
32 Wie aus dem 19. Erwägungsgrund der Richtlinie 2000/43 hervorgeht, sollten Opfer von Diskriminierungen aus Gründen der Rasse oder der ethnischen Herkunft über einen angemessenen Rechtsschutz verfügen, und um einen effektiveren Schutz zu gewährleisten, sollte auch die Möglichkeit bestehen, dass sich Verbände oder andere juristische Personen bei einem entsprechenden Beschluss der Mitgliedstaaten im Namen eines Opfers oder zu seiner Unterstützung an einem Verfahren beteiligen. Außerdem sollten dem 26. Erwägungsgrund dieser Richtlinie zufolge die Mitgliedstaaten wirksame, verhältnismäßige und abschreckende Sanktionen für den Fall vorsehen, dass gegen die aus der Richtlinie erwachsenden Verpflichtungen verstoßen wird.
33 Insoweit sieht Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2000/43 vor, dass die Mitgliedstaaten sicherstellen, dass alle Personen, die sich durch die Nichtanwendung des Gleichbehandlungsgrundsatzes in ihren Rechten für verletzt halten, den in dieser Richtlinie verankerten Gleichbehandlungsgrundsatz auf dem Gerichts- und/oder Verwaltungsweg geltend machen können. Damit bestätigt diese Vorschrift das in Art. 47 der Charta verankerte Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf.
34 Darüber hinaus müssen nach Art. 7 Abs. 2 der Richtlinie 2000/43 die Verbände, Organisationen oder anderen juristischen Personen, die gemäß den in ihrem einzelstaatlichen Recht festgelegten Kriterien ein rechtmäßiges Interesse daran haben, für die Einhaltung der Bestimmungen dieser Richtlinie zu sorgen, u. a. die Möglichkeit haben, sich im Namen der beschwerten Person und mit deren Einwilligung an den in dieser Richtlinie zur Durchsetzung der Ansprüche vorgesehenen Gerichtsverfahren zu beteiligen. Somit stellt Art. 7 Abs. 2 der Richtlinie in dem betreffenden Bereich eine Konkretisierung des durch Art. 47 der Charta gewährleisteten Rechts auf einen wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz dar.
35 Die Beachtung des Gleichheitsgrundsatzes erfordert somit in Bezug auf Personen, die glauben, aus Gründen der Rasse oder der ethnischen Herkunft diskriminiert worden zu sein, die Gewährleistung eines wirksamen gerichtlichen Schutzes ihres Rechts auf Gleichbehandlung, unabhängig davon, ob diese Personen unmittelbar oder über einen Verband, eine Organisation oder eine andere juristische Person im Sinne der vorstehenden Randnummer handeln (vgl. entsprechend Urteil vom 8. Mai 2019, Leitner, C‑396/17, EU:C:2019:375, Rn. 62).
36 Art. 15 der Richtlinie 2000/43 sieht vor, dass die Mitgliedstaaten die Regeln für die Sanktionen festlegen, die bei einem Verstoß gegen die einzelstaatlichen Vorschriften zur Umsetzung dieser Richtlinie zu verhängen sind, und alle erforderlichen Maßnahmen treffen, um die Anwendung solcher Sanktionen zu gewährleisten. Dieser Artikel schreibt keine konkreten Sanktionen vor, legt aber fest, dass die so vorgesehenen Sanktionen, die auch Schadensersatzleistungen an die Opfer umfassen können, wirksam, verhältnismäßig und abschreckend sein müssen.
37 Art. 15 erlegt den Mitgliedstaaten somit die Verpflichtung auf, in ihre innerstaatliche Rechtsordnung Maßnahmen aufzunehmen, die hinreichend wirksam sind, um das Ziel der Richtlinie 2000/43 zu erreichen, und dafür Sorge zu tragen, dass diese Maßnahmen vor den nationalen Gerichten auch von einem Verband, einer Organisation oder einer anderen juristischen Person im Sinne von Art. 7 Abs. 2 dieser Richtlinie tatsächlich geltend gemacht werden können, damit der gerichtliche Rechtsschutz effektiv und wirksam ist, belässt ihnen aber die Freiheit der Wahl unter den verschiedenen Lösungen, die zur Verwirklichung dieses Ziels geeignet sind (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 10. Juli 2008, Feryn, C‑54/07, EU:C:2008:397, Rn. 37 und 38).
38 Insoweit muss die zur Umsetzung von Art. 15 der Richtlinie 2000/43 in die nationale Rechtsordnung eines Mitgliedstaats geschaffene Sanktionsregelung neben den zur Durchführung von Art. 7 dieser Richtlinie ergriffenen Maßnahmen insbesondere einen effektiven und wirksamen rechtlichen Schutz der aus der Richtlinie hergeleiteten Rechte sicherstellen. Die Härte der Sanktionen muss der Schwere der mit ihnen geahndeten Verstöße entsprechen, indem sie insbesondere eine wirklich abschreckende Wirkung gewährleistet, zugleich aber den allgemeinen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit wahren (vgl. entsprechend Urteil vom 25. April 2013, Asociația Accept, C‑81/12, EU:C:2013:275, Rn. 63).
39 Wird für den Fall, dass das Vorliegen einer Diskriminierung festgestellt wird, als Maßnahme die finanzielle Wiedergutmachung gewählt, so muss diese angemessen in dem Sinne sein, dass sie es erlaubt, die durch diese Diskriminierung tatsächlich entstandenen Schäden gemäß den anwendbaren staatlichen Regeln in vollem Umfang auszugleichen (vgl. entsprechend Urteil vom 17. Dezember 2015, Arjona Camacho, C‑407/14, EU:C:2015:831, Rn. 33 und die dort angeführte Rechtsprechung). Dagegen entspricht eine rein symbolische Sanktion nicht einer ordnungsgemäßen und wirksamen Umsetzung der Richtlinie 2000/43 (vgl. entsprechend Urteil vom 25. April 2013, Asociația Accept, C‑81/12, EU:C:2013:275, Rn. 64).
40 Im vorliegenden Fall geht aus den Angaben im Vorabentscheidungsersuchen hervor, dass gemäß dem nationalen Recht zur Umsetzung u. a. der Richtlinie 2000/43 jede Person, die sich als Opfer einer Diskriminierung aus Gründen der Rasse oder der ethnischen Herkunft sieht, eine Klage auf Durchsetzung der im „Schadensersatz wegen Diskriminierung“ bestehenden Sanktion erheben kann. Die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden nationalen Rechtsvorschriften sehen vor, dass das mit dieser Klage befasste Gericht, wenn der Beklagte entscheidet, die Schadensersatzforderung des Klägers anzuerkennen, den Beklagten zur Zahlung des vom Kläger als Schadensersatz geforderten Betrags verurteilt.
41 Dem Vorabentscheidungsersuchen ist jedoch auch zu entnehmen, dass ein solches Anerkenntnis, das nach diesen nationalen Rechtsvorschriften für das Gericht rechtlich bindend ist und das Verfahren beendet, vom Beklagten auch erklärt werden kann, ohne dass er das Vorliegen der ihm vorgeworfenen Diskriminierung anerkennt, ja sogar, wenn er diese – wie im Ausgangsverfahren – ausdrücklich bestreitet. In einer solchen Situation erlässt das nationale Gericht ein auf dieses Anerkenntnis gestütztes Urteil, ohne dass aus diesem Urteil jedoch auf die Feststellung des Vorliegens der behaupteten Diskriminierung geschlossen werden könnte.
42 Folglich hat das Anerkenntnis des Beklagten in einer solchen Situation, die Wirkung, dass dessen Verpflichtung zur Zahlung des vom Kläger geforderten Schadensersatzes nicht damit verknüpft ist, dass der Beklagte das Vorliegen der ihm vorgeworfenen Diskriminierung einräumt oder diese vom zuständigen Gericht festgestellt wird. Zudem – und vor allem – hat ein solches Anerkenntnis zur Folge, dass das mit der Klage befasste Gericht daran gehindert ist, darüber zu befinden, ob die behauptete Diskriminierung tatsächlich vorliegt, obwohl diese der Grund für die Schadensersatzforderung und daher integraler Bestandteil dieser Klage ist.
43 Was die in den im Ausgangsverfahren in Rede stehenden nationalen Rechtsvorschriften vorgesehene Feststellungsklage betrifft, lässt sich den Angaben im Vorabentscheidungsersuchen zufolge durch sie nicht das Recht einer Person, die sich als Opfer einer nach der Richtlinie 2000/43 verbotenen Diskriminierung sieht, gewährleisten, das Vorliegen der behaupteten Diskriminierung von einem Gericht prüfen und gegebenenfalls feststellen zu lassen. Die Feststellungsklage darf sich nach diesen Rechtsvorschriften nämlich nicht auf rein tatsächliche Aspekte beziehen und ihre Zulässigkeit hängt von einer Opportunitätsentscheidung des befassten Gerichts ab, die auf einer Abwägung der in Rede stehenden Interessen beruht, und zwar u. a. des Rechtsschutzinteresses des Klägers gegen die Unannehmlichkeiten, die diese Klage dem Beklagten bereiten kann.
44 Folglich kann gemäß den im Ausgangsverfahren in Rede stehenden nationalen Rechtsvorschriften der Kläger dann, wenn der Beklagte die Verpflichtung zur Zahlung des geforderten Schadensersatzes anerkennt, ohne jedoch die ihm vorgeworfene Diskriminierung einzuräumen, nicht erwirken, dass ein Zivilgericht über das Vorliegen dieser Diskriminierung befindet.
45 Solche nationalen Rechtsvorschriften verstoßen damit gegen die in den Art. 7 und 15 der Richtlinie 2000/43 in Verbindung mit Art. 47 der Charta gestellten Anforderungen.
46 Erstens nämlich soll, wie aus den Rn. 33 bis 35 des vorliegenden Urteils hervorgeht, durch die in Art. 7 dieser Richtlinie genannten Verfahren jeder Person, die sich als Opfer einer Diskriminierung aus Gründen der Rasse oder der ethnische Herkunft sieht, die Geltendmachung ihrer Rechte aus dem Gleichbehandlungsgrundsatz ermöglicht sowie deren Wahrung sichergestellt werden. Daraus ergibt sich daher notwendigerweise, dass diese Person, wenn der Beklagte die ihm vorgeworfene Diskriminierung nicht einräumt, die Möglichkeit haben muss, eine gerichtliche Entscheidung über eine etwaige Verletzung der Rechte zu erwirken, die durch diese Verfahren gewahrt werden sollen.
47 Folglich vermag allein die Zahlung eines Geldbetrags, selbst in der vom Kläger geforderten Höhe, nicht den wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz einer Person zu gewährleisten, die die Feststellung begehrt, dass eine Verletzung ihres sich aus dieser Richtlinie ergebenden Rechts auf Gleichbehandlung vorliegt, insbesondere dann nicht, wenn das Hauptanliegen dieser Person nicht wirtschaftlicher Art ist, sondern sie feststellen lassen möchte, dass der dem Beklagten zur Last gelegte Sachverhalt zutrifft und wie er rechtlich zu beurteilen ist.
48 Zweitens stehen nationale Rechtsvorschriften wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden sowohl der Wiedergutmachungs- als auch der Abschreckungsfunktion entgegen, die die von den Mitgliedstaaten nach Art. 15 der Richtlinie 2000/43 bei Verstößen gegen die nationalen Bestimmungen zur Umsetzung dieser Richtlinie vorgesehenen Sanktionen haben müssen.
49 Insoweit reicht, wie auch der Generalanwalt in den Nrn. 83 und 84 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, die Zahlung eines Geldbetrags nicht aus, um dem Anliegen einer Person gerecht zu werden, der es vor allem darum geht, zur Wiedergutmachung des von ihr erlittenen immateriellen Schadens feststellen zu lassen, dass sie Opfer einer Diskriminierung war, so dass insoweit nicht davon ausgegangen werden kann, dass diese Zahlung eine hinreichende Wiedergutmachungsfunktion hat. Zudem kann durch die Verpflichtung zur Zahlung eines Geldbetrags keine wirklich abschreckende Wirkung gegenüber dem Urheber einer Diskriminierung in dem Sinne sichergestellt werden, dass für ihn ein Anreiz geschaffen wird, sein diskriminierendes Verhalten nicht zu wiederholen, und somit verhindert wird, dass er erneut Diskriminierungen begeht, wenn der Beklagte, wie im vorliegenden Fall, das Vorliegen einer Diskriminierung bestreitet, aber davon ausgeht, dass es für ihn kostengünstiger ist und sein Image weniger beeinträchtigt, wenn er den vom Kläger geforderten Schadensersatz zahlt und damit gleichzeitig verhindert, dass das nationale Gericht das Vorliegen einer Diskriminierung feststellt.
50 Diese Beurteilung kann nicht dadurch in Frage gestellt werden, dass – wie die schwedische Regierung geltend macht – ein Strafverfahren angestrengt werden kann, anhand dessen die Person, die sich als Opfer einer durch die Richtlinie 2000/43 verbotenen Diskriminierung sieht, diese durch ein Strafgericht feststellen und sanktionieren lassen könnte. Durch ein solches Strafverfahren ließe sich aufgrund der ihm eigenen Zielsetzungen und der ihm immanenten Beschränkungen nämlich kein Ausgleich dafür schaffen, dass die zivilrechtlichen Rechtsbehelfe den Anforderungen der Richtlinie nicht genügen.
51 Insbesondere liegen – wie der Generalanwalt in den Nrn. 118 bis 120 seiner Schlussanträge ausgeführt hat – einem solchen Strafverfahren Regeln der Beweislast und der Beweiserhebung zugrunde, die nicht den für den Betroffenen günstigeren des Art. 8 der Richtlinie 2000/43 entsprechen. So obliegt es nach Art. 8 Abs. 1 dieser Richtlinie, wenn der Betroffene vor einem Gericht oder einer anderen zuständigen Stelle Tatsachen glaubhaft macht, die das Vorliegen einer unmittelbaren oder mittelbaren Diskriminierung vermuten lassen, dem Beklagten, den Nachweis dafür zu erbringen, dass keine Verletzung des Gleichbehandlungsgrundsatzes vorgelegen hat. Gemäß Art. 8 Abs. 3 der Richtlinie gilt dessen Abs. 1 hingegen nicht für Strafverfahren.
52 Drittens kann entgegen dem Vorbringen von Braathens eine andere Auslegung als die in den vorstehenden Randnummern vertretene auch nicht durch verfahrensrechtliche Grundsätze oder Erwägungen wie den Dispositionsgrundsatz, den Grundsatz der Verfahrensökonomie und das Bemühen, die gütliche Beilegung von Streitigkeiten zu fördern, gerechtfertigt werden.
53 Zum einen nämlich bewirken nationale Rechtsvorschriften wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden, anders als eine gütliche Beilegung eines Rechtsstreits im Sinne von Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2000/43, bei der jede Partei weiterhin frei über ihre Ansprüche verfügen kann, dass die Herrschaft über den Rechtsstreit dadurch auf den Beklagten übergeht, dass dieser die Schadensersatzforderung des Klägers anerkennen kann, ohne jedoch das Vorliegen der behaupteten Diskriminierung einzuräumen, er diese sogar ausdrücklich bestreiten kann, wobei der Kläger nicht mehr erreichen kann, dass das befasste Gericht über die Grundlage seiner Forderung entscheidet, und er sich auch der Beendigung des von ihm eingeleiteten Verfahrens nicht mehr widersetzen kann.
54 Zum anderen verstieße ein mit einer solchen Klage befasstes Gericht keineswegs gegen den Dispositionsgrundsatz, wenn es trotz der Einwilligung des Beklagten in die Zahlung des vom Kläger geforderten Schadensersatzes im Hinblick auf dessen dieser Klage zugrunde liegende Behauptung prüfte, ob diese Diskriminierung vorliegt, sofern der Beklagte sie nicht einräumt oder sie sogar bestreitet. Eine solche Prüfung betrifft dann die Grundlage für die Schadensersatzforderung des Klägers, die Teil des durch diese Klage bestimmten Streitgegenstands ist, zumal dann, wenn – wie hier – der Kläger im Rahmen dieser Klage ausdrücklich einen Antrag auf Feststellung dieser Diskriminierung gestellt hat.
55 Viertens ist darauf hinzuweisen, dass zwar, wie Braathens geltend macht, das Unionsrecht grundsätzlich die Mitgliedstaaten nicht zwingt, vor ihren nationalen Gerichten neben den nach nationalem Recht bereits bestehenden Rechtsbehelfen neue zu schaffen, um den Schutz der dem Einzelnen aus dem Unionsrecht erwachsenden Rechte zu gewährleisten (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 13. März 2007, Unibet, C‑432/05, EU:C:2007:163, Rn. 40, und vom 24. Oktober 2018, XC u. a., C‑234/17, EU:C:2018:853, Rn. 51).
56 Insoweit genügt jedoch der Hinweis, dass es im vorliegenden Fall für die Einhaltung des Unionsrechts nicht erforderlich ist, einen neuen Rechtsbehelf einzuführen, sondern dass lediglich vom vorlegenden Gericht verlangt wird, die Verfahrensvorschrift unangewendet zu lassen, nach der das Gericht, bei dem nach innerstaatlichem Recht eine Schadensersatzklage von einer Person anhängig gemacht wurde, die sich als Opfer einer Diskriminierung sieht, nur deshalb nicht über das Vorliegen dieser Diskriminierung entscheiden darf, weil der Beklagte sich zur Zahlung des als Schadensersatz geforderten Betrags bereit erklärt hat, ohne jedoch das Vorliegen dieser Diskriminierung einzuräumen. Diese Vorschrift ist nämlich nicht nur mit den Art. 7 und 15 der Richtlinie 2000/43, sondern auch mit Art. 47 der Charta unvereinbar.
57 Hierzu ist daran zu erinnern, dass, wie in Rn. 38 des vorliegenden Urteils ausgeführt worden ist, durch die Art. 7 und 15 der Richtlinie 2000/43 ein effektiver und wirksamer gerichtlicher Schutz des sich aus dieser Richtlinie ergebenden Rechts auf Gleichbehandlung ohne Unterschied der Rasse oder der ethnischen Herkunft gewährleistet werden soll. Folglich wird durch diese Artikel lediglich das in Art. 47 der Charta verankerte Recht auf einen wirksamen gerichtlichen Rechtsbehelf konkretisiert, das aus sich heraus Wirkung entfaltet und nicht durch Bestimmungen des Unionsrechts oder des nationalen Rechts konkretisiert werden muss, um dem Einzelnen ein Recht zu verleihen, das er als solches geltend machen kann (Urteil vom 17. April 2018, Egenberger, C‑414/16, EU:C:2018:257, Rn. 76 bis 78).
58 Zum anderen ist nach dem Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts jedes im Rahmen seiner Zuständigkeit angerufene nationale Gericht, sofern es eine nationale Regelung nicht den Anforderungen des Unionsrechts entsprechend auslegen kann, als Organ eines Mitgliedstaats verpflichtet, jede nationale Bestimmung, die einer Bestimmung des Unionsrechts entgegensteht, die in dem bei ihm anhängigen Rechtsstreit unmittelbare Wirkung hat, unangewendet zu lassen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 24. Juni 2019, Popławski, C‑573/17, EU:C:2019:530, Rn. 53 und 61 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).
59 Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass die Art. 7 und 15 der Richtlinie 2000/43 in Verbindung mit Art. 47 der Charta dahin auszulegen sind, dass sie einer nationalen Rechtsvorschrift entgegenstehen, die ein Gericht, das mit einer Klage auf Schadensersatz wegen des Vorwurfs einer gemäß dieser Richtlinie verbotenen Diskriminierung befasst ist, daran hindert, den Antrag auf Feststellung des Vorliegens dieser Diskriminierung zu prüfen, wenn der Beklagte sich zur Zahlung des geforderten Schadensersatzes bereit erklärt, ohne jedoch das Vorliegen der Diskriminierung einzuräumen. Es ist Sache des mit einem Rechtsstreit zwischen Privatpersonen befassten nationalen Gerichts, im Rahmen seiner Befugnisse den Rechtsschutz zu gewährleisten, der den Einzelnen aus Art. 47 der Charta erwächst, indem es erforderlichenfalls jede entgegenstehende Bestimmung des nationalen Rechts unangewendet lässt.
Kosten
60 Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Große Kammer) für Recht erkannt:
Die Art. 7 und 15 der Richtlinie 2000/43/EG des Rates vom 29. Juni 2000 zur Anwendung des Gleichbehandlungsgrundsatzes ohne Unterschied der Rasse oder der ethnischen Herkunft in Verbindung mit Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union sind dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Rechtsvorschrift entgegenstehen, die ein Gericht, das mit einer Klage auf Schadensersatz wegen des Vorwurfs einer gemäß dieser Richtlinie verbotenen Diskriminierung befasst ist, daran hindert, den Antrag auf Feststellung des Vorliegens dieser Diskriminierung zu prüfen, wenn der Beklagte sich zur Zahlung des geforderten Schadensersatzes bereit erklärt, ohne jedoch das Vorliegen der Diskriminierung einzuräumen. Es ist Sache des mit einem Rechtsstreit zwischen Privatpersonen befassten nationalen Gerichts, im Rahmen seiner Befugnisse den Rechtsschutz zu gewährleisten, der den Einzelnen aus Art. 47 der Charta der Grundrechte erwächst, indem es erforderlichenfalls jede entgegenstehende Bestimmung des nationalen Rechts unangewendet lässt.
Unterschriften
(*1) Verfahrenssprache: Schwedisch.
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Urteil des Gerichtshofs (Erste Kammer) vom 2. Oktober 2019.#Ermira Bajratari gegen Secretary of State for the Home Department.#Vorabentscheidungsersuchen des Court of Appeal in Northern Ireland.#Vorlage zur Vorabentscheidung – Unionsbürgerschaft – Richtlinie 2004/38/EG – Aufenthaltsrecht eines Drittstaatsangehörigen, der Verwandter in aufsteigender Linie von minderjährigen Unionsbürgern ist – Art. 7 Abs. 1 Buchst. b – Voraussetzung ausreichender Existenzmittel – Existenzmittel, die aus Einkünften aus einer ohne Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis verrichteten Arbeit stammen.#Rechtssache C-93/18.
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62018CJ0093
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ECLI:EU:C:2019:809
| 2019-10-02T00:00:00 |
Szpunar, Gerichtshof
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Sammlung der Rechtsprechung – allgemein
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62018CJ0093
URTEIL DES GERICHTSHOFS (Erste Kammer)
2. Oktober 2019 (*1)
„Vorlage zur Vorabentscheidung – Unionsbürgerschaft – Richtlinie 2004/38/EG – Aufenthaltsrecht eines Drittstaatsangehörigen, der Verwandter in aufsteigender Linie von minderjährigen Unionsbürgern ist – Art. 7 Abs. 1 Buchst. b – Voraussetzung ausreichender Existenzmittel – Existenzmittel, die aus Einkünften aus einer ohne Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis verrichteten Arbeit stammen“
In der Rechtssache C‑93/18
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Court of Appeal in Northern Ireland (Rechtsmittelgericht Nordirland, Vereinigtes Königreich) mit Entscheidung vom 15. Dezember 2017, beim Gerichtshof eingegangen am 9. Februar 2018, in dem Verfahren
Ermira Bajratari
gegen
Secretary of State for the Home Department,
Beteiligter:
Aire Centre,
erlässt
DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten J.‑C. Bonichot, der Vizepräsidentin des Gerichtshofs R. Silva de Lapuerta (Berichterstatterin) sowie der Richter A. Rosas, L. Bay Larsen und M. Safjan,
Generalanwalt: M. Szpunar,
Kanzler: R. Schiano, Verwaltungsrat,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 24. Januar 2019,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
–
von Frau Bajratari, vertreten durch R. Gillen, Solicitor, H. Wilson, BL, und R. Lavery, QC,
–
des Aire Centre, vertreten durch C. Moynagh, Solicitor, R. Toal, BL, G. Mellon, BL, A. Danes, QC, und A. O’Neill, QC,
–
der Regierung des Vereinigten Königreichs, vertreten durch F. Shibli und R. Fadoju als Bevollmächtigte im Beistand von D. Blundell, Barrister,
–
der tschechischen Regierung, vertreten durch M. Smolek, J. Vláčil und A. Brabcová als Bevollmächtigte,
–
der dänischen Regierung, vertreten durch J. Nymann-Lindegren, M. Wolff und P. Ngo als Bevollmächtigte,
–
der niederländischen Regierung, vertreten durch M. Bulterman und C. S. Schillemans als Bevollmächtigte,
–
der österreichischen Regierung, zunächst vertreten durch G. Hesse, dann durch J. Schmoll als Bevollmächtigte,
–
der Europäischen Kommission, vertreten durch E. Montaguti und J. Tomkin als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 19. Juni 2019
folgendes
Urteil
1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 7 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 und zur Aufhebung der Richtlinien 64/221/EWG, 68/360/EWG, 72/194/EWG, 73/148/EWG, 75/34/EWG, 75/35/EWG, 90/364/EWG, 90/365/EWG und 93/96/EWG (ABl. 2004, L 158, S. 77, sowie Berichtigungen in ABl. 2004, L 229, S. 35, und ABl. 2007, L 204, S. 28).
2 Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Frau Ermira Bajratari und dem Secretary of State for the Home Department (Innenministerium, Vereinigtes Königreich) über ihr Aufenthaltsrecht im Vereinigten Königreich.
Rechtlicher Rahmen
3 Im zehnten Erwägungsgrund der Richtlinie 2004/38 heißt es:
„… Personen, die ihr Aufenthaltsrecht ausüben, [sollten] während ihres ersten Aufenthalts die Sozialhilfeleistungen des Aufnahmemitgliedstaats nicht unangemessen in Anspruch nehmen. Daher sollte das Aufenthaltsrecht von Unionsbürgern und ihren Familienangehörigen für eine Dauer von über drei Monaten bestimmten Bedingungen unterliegen.“
4 Art. 2 („Begriffsbestimmungen“) der Richtlinie 2004/38 sieht vor:
„Im Sinne dieser Richtlinie bezeichnet der Ausdruck
1. ‚Unionsbürger‘ jede Person, die die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzt;
2. ‚Familienangehöriger‘
…
d)
die Verwandten in gerader aufsteigender Linie des Unionsbürgers und des Ehegatten oder des Lebenspartners im Sinne von Buchstabe b), denen von diesen Unterhalt gewährt wird;
3. ‚Aufnahmemitgliedstaat‘ den Mitgliedstaat, in den sich der Unionsbürger begibt, um dort sein Recht auf Freizügigkeit oder Aufenthalt auszuüben.“
5 Art. 3 („Berechtigte“) der Richtlinie 2004/38 bestimmt in Abs. 1:
„Diese Richtlinie gilt für jeden Unionsbürger, der sich in einen anderen als den Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, begibt oder sich dort aufhält, sowie für seine Familienangehörigen im Sinne von Artikel 2 Nummer 2, die ihn begleiten oder ihm nachziehen.“
6 Art. 7 („Recht auf Aufenthalt für mehr als drei Monate“) Abs. 1 der Richtlinie sieht vor:
„Jeder Unionsbürger hat das Recht auf Aufenthalt im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats für einen Zeitraum von über drei Monaten, wenn er
a)
Arbeitnehmer oder Selbstständiger im Aufnahmemitgliedstaat ist oder
b)
für sich und seine Familienangehörigen über ausreichende Existenzmittel verfügt, so dass sie während ihres Aufenthalts keine Sozialhilfeleistungen des Aufnahmemitgliedstaats in Anspruch nehmen müssen, und er und seine Familienangehörigen über einen umfassenden Krankenversicherungsschutz im Aufnahmemitgliedstaat verfügen oder
c)
–
bei einer privaten oder öffentlichen Einrichtung, die von dem Aufnahmemitgliedstaat aufgrund seiner Rechtsvorschriften oder seiner Verwaltungspraxis anerkannt oder finanziert wird, zur Absolvierung einer Ausbildung einschließlich einer Berufsausbildung als Hauptzweck eingeschrieben ist und
–
über einen umfassenden Krankenversicherungsschutz im Aufnahmemitgliedstaat verfügt und der zuständigen nationalen Behörde durch eine Erklärung oder durch jedes andere gleichwertige Mittel seiner Wahl glaubhaft macht, dass er für sich und seine Familienangehörigen über ausreichende Existenzmittel verfügt, so dass sie während ihres Aufenthalts keine Sozialhilfeleistungen des Aufnahmemitgliedstaats in Anspruch nehmen müssen, oder
d)
ein Familienangehöriger ist, der den Unionsbürger, der die Voraussetzungen des Buchstaben a), b) oder c) erfüllt, begleitet oder ihm nachzieht.“
7 Art. 14 („Aufrechterhaltung des Aufenthaltsrechts“) Abs. 2 dieser Richtlinie sieht vor:
„Unionsbürgern und ihren Familienangehörigen steht das Aufenthaltsrecht nach den Artikeln 7, 12 und 13 zu, solange sie die dort genannten Voraussetzungen erfüllen.
…“
8 In Kapitel VI („Beschränkungen des Einreise- und Aufenthaltsrechts aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit“) der Richtlinie 2004/38 bestimmt Art. 27 Abs. 1 und 2:
„(1) Vorbehaltlich der Bestimmungen dieses Kapitels dürfen die Mitgliedstaaten die Freizügigkeit und das Aufenthaltsrecht eines Unionsbürgers oder seiner Familienangehörigen, ungeachtet ihrer Staatsangehörigkeit, aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit beschränken. Diese Gründe dürfen nicht zu wirtschaftlichen Zwecken geltend gemacht werden.
(2) Bei Maßnahmen aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit ist der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu wahren und darf ausschließlich das persönliche Verhalten des Betroffenen ausschlaggebend sein. Strafrechtliche Verurteilungen allein können ohne Weiteres diese Maßnahmen nicht begründen.
Das persönliche Verhalten muss eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr darstellen, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt. Vom Einzelfall losgelöste oder auf Generalprävention verweisende Begründungen sind nicht zulässig.“
Sachverhalt des Ausgangsrechtsstreits und Vorlagefragen
9 Die Klägerin des Ausgangsverfahrens, Frau Bajratari, ist albanische Staatsangehörige und wohnt seit 2012 in Nordirland.
10 Der Ehegatte der Klägerin des Ausgangsverfahrens, Herr Bajratari, der ebenfalls albanischer Staatsangehöriger ist und in Nordirland wohnt, war Inhaber einer Aufenthaltskarte, die ihm gestattete, vom 13. Mai 2009 bis zum 13. Mai 2014 im Vereinigten Königreich zu wohnen. Diese Aufenthaltskarte war ihm aufgrund seiner früheren Beziehung mit Frau Toal, einer Staatsangehörigen des Vereinigten Königreichs, erteilt worden. Diese Beziehung endete Anfang 2011. Obwohl er das Vereinigte Königreich 2011 verließ, um Frau Bajratari in Albanien zu heiraten, kehrte er 2012 nach Nordirland zurück. Seine Aufenthaltskarte wurde ihm zu keiner Zeit entzogen.
11 Das Ehepaar hat drei Kinder, die alle in Nordirland geboren wurden. Ihre ersten beiden Kinder haben ein irisches Staatsangehörigkeitszeugnis erhalten.
12 Aus der Vorlageentscheidung geht hervor, dass Herr Bajratari seit 2009 verschiedene berufliche Tätigkeiten ausgeübt hat und dass er zumindest seit dem 12. Mai 2014, dem Zeitpunkt, zu dem seine Aufenthaltskarte abgelaufen ist, illegal arbeitet, da er über keine Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis verfügt. Außerdem wird erwähnt, dass kein Familienmitglied jemals umgezogen sei und nie in einem anderen Mitgliedstaat als dem Vereinigten Königreich gewohnt habe und dass die einzigen Mittel, über die die Familie verfüge, das Einkommen von Herrn Bajratari sei.
13 Nach der Geburt ihres ersten Kindes beantragte Frau Bajratari am 9. September 2013 beim Home Office (Innenministerium, Vereinigtes Königreich) die Anerkennung eines abgeleiteten Aufenthaltsrechts nach der Richtlinie 2004/38, indem sie sich auf ihren Status als Person berief, die die elterliche Sorge für ihr Kind, einen Unionsbürger, tatsächlich wahrnimmt, und geltend machte, dass eine Versagung der Aufenthaltskarte ihrem Kind die Rechte als Unionsbürger entziehen würde.
14 Dieser Antrag wurde mit Bescheid des Secretary of State for the Home Department (Innenministerium) vom 28. Januar 2014 aus zwei Gründen abgelehnt, nämlich zum einen, weil Frau Bajratari nicht den Status einer „Familienangehörigen“ im Sinne der Richtlinie 2004/38 habe, und zum anderen, weil ihr Kind die Bedingung finanzieller Autonomie nach Art. 7 Abs. 1 Buchst. b dieser Richtlinie nicht erfülle. Die Erfüllung der Voraussetzung des umfassenden Krankenversicherungsschutzes wurde jedoch nicht bestritten.
15 Am 8. Juni 2015 wies das First-tier Tribunal (Immigration and Asylum Chamber) (Erstinstanzliches Gericht [Kammer für Einwanderung und Asyl], Vereinigtes Königreich) die von Frau Bajratari gegen den Bescheid des Home Office (Innenministerium) erhobene Klage ab. Am 6. Oktober 2016 wies das Upper Tribunal (Immigration and Asylum Chamber) (Obergericht [Kammer für Einwanderung und Asyl], Vereinigtes Königreich) das Rechtsmittel von Frau Bajratari zurück. Diese beantragte daraufhin beim Court of Appeal in Northern Ireland (Rechtsmittelgericht Nordirland, Vereinigtes Königreich) die Zulassung eines Rechtsmittels gegen das Urteil des Upper Tribunal (Immigration and Asylum Chamber) (Obergericht [Kammer für Einwanderung und Asyl]).
16 Das vorlegende Gericht weist darauf hin, dass der Gerichtshof bereits entschieden habe, dass das in Art. 7 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2004/38 aufgestellte Erfordernis, dem zufolge ein Unionsbürger über ausreichende Mittel verfügen müsse, erfüllt sei, wenn dem Unionsbürger diese Mittel zur Verfügung stünden, und dass keine Anforderung im Hinblick auf die Herkunft dieser Mittel bestehe (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 19. Oktober 2004, Zhu und Chen, C‑200/02, EU:C:2004:639, Rn. 30, sowie vom 10. Oktober 2013, Alokpa und Moudoulou, C‑86/12, EU:C:2013:645, Rn. 27). Der Gerichtshof habe sich aber noch nicht speziell zu der Frage geäußert, ob Einkünfte aus einer nach nationalem Recht illegalen Beschäftigung zu berücksichtigen seien.
17 Unter diesen Umständen hat der Court of Appeal in Northern Ireland (Berufungsgericht Nordirland) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
1. Kann die Verfügbarkeit ausreichender Existenzmittel im Sinne von Art. 7 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2004/38 ganz oder teilweise mit einem Einkommen nachgewiesen werden, das aus einer nach nationalem Recht illegalen Beschäftigung stammt?
2. Falls ja, kann das Erfordernis aus Art. 7 Abs. 1 Buchst. b dieser Richtlinie als erfüllt angesehen werden, wenn das Beschäftigungsverhältnis allein aufgrund seiner Illegalität als prekär eingestuft wird?
Zu den Vorlagefragen
Zur Zulässigkeit
18 Die Regierung des Vereinigten Königreichs führt aus, dass nach dem Einreichen des vorliegenden Vorabentscheidungsersuchens den ersten beiden Kindern von Frau Bajratari die irische Staatsangehörigkeit entzogen worden sei, so dass sie nicht mehr über die Unionsbürgerschaft und die sich daraus ergebenden Rechte verfügten. Damit seien die in den Vorlagefragen aufgeworfenen Fragestellungen rein hypothetisch geworden, und der Gerichtshof müsse es daher ablehnen, diese Fragen zu beantworten.
19 Frau Bajratari und das Aire Centre tragen vor, dass eine gerichtliche Klage erhoben worden sei, um die Entscheidung der irischen Behörden, den ersten beiden Kindern von Frau Bajratari die irische Staatsangehörigkeit abzuerkennen, anzufechten, und dass der High Court (Hoher Gerichtshof, Irland) damit aktuell befasst sei.
20 Insoweit ist festzustellen, dass es Sache des mit dem Rechtsstreit befassten nationalen Gerichts, in dessen Verantwortungsbereich die zu erlassende gerichtliche Entscheidung fällt, ist, im Hinblick auf die Besonderheiten der Rechtssache sowohl die Erforderlichkeit einer Vorabentscheidung zum Erlass seines Urteils als auch die Erheblichkeit der dem Gerichtshof vorgelegten Fragen zu beurteilen. Daher ist der Gerichtshof grundsätzlich gehalten, über die ihm vorgelegten Fragen zu befinden, wenn sie die Auslegung des Unionsrechts betreffen. Der Gerichtshof kann die Beantwortung einer Vorlagefrage eines nationalen Gerichts nur ablehnen, wenn die erbetene Auslegung des Unionsrechts offensichtlich in keinem Zusammenhang mit der Realität oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits steht, wenn das Problem hypothetischer Natur ist oder wenn der Gerichtshof nicht über die tatsächlichen und rechtlichen Angaben verfügt, die für eine zweckdienliche Beantwortung der ihm vorgelegten Fragen erforderlich sind (Urteil vom 27. Juni 2019, Azienda Agricola Barausse Antonio e Gabriele, C‑348/18, EU:C:2019:545, Rn. 26 und die dort angeführte Rechtsprechung).
21 Im vorliegenden Fall geht aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten hervor, dass Frau Bajratari gestattet wurde, die Entscheidungen, mit denen die irischen Staatsangehörigkeitszeugnisse ihrer ersten beiden Kinder für ungültig erklärt wurden, mit einem Antrag auf gerichtliche Überprüfung anzufechten.
22 Des Weiteren enthalten die Akten keinen Anhaltspunkt dafür, dass diese Entscheidungen bestandskräftig geworden sind.
23 Auf ein Ersuchen um Klarstellung, das der Gerichtshof gemäß Art. 101 seiner Verfahrensordnung an das vorlegende Gericht gerichtet hat, hat dieses ferner ausgeführt, dass der Ausgangsrechtsstreit zwar aufgrund des Verlusts der irischen Staatsangehörigkeit der beiden betroffenen Kinder möglicherweise gegenstandslos werden könne, aber bis zum heutigen Tag fortdaure und wirksam bleibe.
24 Folglich ist das Vorabentscheidungsersuchen für zulässig zu erklären.
Zu den Fragen
25 Mit seinen beiden Fragen, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 7 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2004/38 dahin auszulegen ist, dass ein minderjähriger Unionsbürger über ausreichende Existenzmittel verfügt, so dass er während seines Aufenthalts die Sozialhilfeleistungen des Aufnahmemitgliedstaats nicht unangemessen in Anspruch nehmen muss, auch wenn diese Mittel aus den Einkünften stammen, die aus einer Beschäftigung bezogen werden, der sein Vater, der einem Drittstaat angehört und über keine Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis in diesem Mitgliedstaat verfügt, illegal nachgeht.
26 Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof in Bezug auf Unionsbürger, die – wie die ersten beiden Kinder von Frau Bajratari – im Aufnahmemitgliedstaat geboren wurden und nie von ihrem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch gemacht haben, entschieden hat, dass sich diese Unionsbürger auf Art. 21 Abs. 1 AEUV und die zu seiner Durchführung erlassenen Vorschriften berufen können (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 13. September 2016, Rendón Marín, C‑165/14, EU:C:2016:675, Rn. 42 und 43 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).
27 Daraus folgt, dass Art. 21 Abs. 1 AEUV und die Richtlinie 2004/38 den ersten beiden Kindern von Frau Bajratari ein Aufenthaltsrecht im Vereinigten Königreich grundsätzlich einräumen.
28 Es ist jedoch auch darauf hinzuweisen, dass das nach Art. 21 AEUV verliehene Recht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten aufzuhalten, jedem Unionsbürger „vorbehaltlich der in den Verträgen und in den Durchführungsvorschriften vorgesehenen Beschränkungen und Bedingungen“ gewährt wird (Urteil vom 30. Juni 2016, NA, C‑115/15, EU:C:2016:487, Rn. 75).
29 Bei diesen Beschränkungen und Bedingungen handelt es sich insbesondere um die in Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 genannten; zu ihnen gehören nach Art. 7 Abs. 1 Buchst. b u. a. ausreichende Existenzmittel, um während des Aufenthalts keine Sozialhilfeleistungen des Aufnahmemitgliedstaats in Anspruch nehmen zu müssen, und ein umfassender Krankenversicherungsschutz (Urteil vom 30. Juni 2016, NA, C‑115/15, EU:C:2016:487, Rn. 76).
30 Insbesondere in Bezug auf die in Art. 7 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2004/38 genannte Voraussetzung ausreichender Existenzmittel hat der Gerichtshof bereits entschieden, dass dem Unionsbürger zwar ausreichende Existenzmittel zur Verfügung stehen müssen, das Unionsrecht in Bezug auf die Herkunft der Mittel jedoch keine Anforderungen enthält, so dass sie auch von einem Drittstaatsangehörigen, der Elternteil der betreffenden minderjährigen Unionsbürger ist, stammen können (Urteil vom 13. September 2016, Rendón Marín, C‑165/14, EU:C:2016:675, Rn. 48 und die dort angeführte Rechtsprechung).
31 Somit schließt die Tatsache, dass die Existenzmittel, auf die sich ein minderjähriger Unionsbürger für die Zwecke von Art. 7 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2004/38 berufen möchte, aus Mitteln stammen, die von seinem einem Drittstaat angehörenden Elternteil aus der Beschäftigung bezogen werden, der dieser im Aufnahmemitgliedstaat nachgeht, es nicht aus, dass die in dieser Bestimmung genannte Voraussetzung ausreichender Existenzmittel als erfüllt angesehen werden kann (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 16. Juli 2015, Singh u. a., C‑218/14, EU:C:2015:476, Rn. 76).
32 Es ist zu prüfen, ob dies auch gilt, wenn der Elternteil des minderjährigen Unionsbürgers über keine Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis im Aufnahmemitgliedstaat verfügt.
33 Hierzu ist hervorzuheben, dass sich dem Wortlaut von Art. 7 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2004/38 nicht entnehmen lässt, dass für die Zwecke dieser Bestimmung nur die Existenzmittel berücksichtigt werden können, die aus einer Beschäftigung bezogen werden, der ein einem Drittstaat angehörender und über eine Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis verfügender Elternteil eines minderjährigen Unionsbürgers nachgeht.
34 Diese Bestimmung verlangt nämlich lediglich, dass die betreffenden Unionsbürger über ausreichende Existenzmittel verfügen, so dass sie während ihres Aufenthalts die Sozialhilfeleistungen des Aufnahmemitgliedstaats nicht unangemessen in Anspruch nehmen müssen, ohne eine weitere Voraussetzung u. a. im Hinblick auf die Herkunft dieser Mittel aufzustellen.
35 Da das Recht auf Freizügigkeit als ein grundlegendes Prinzip des Unionsrechts die Grundregel darstellt, sind außerdem, wie aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs hervorgeht, die in Art. 7 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2004/38 festgelegten Voraussetzungen unter Einhaltung der vom Unionsrecht gezogenen Grenzen und des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit auszulegen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 19. September 2013, Brey, C‑140/12, EU:C:2013:565, Rn. 70 und die dort angeführte Rechtsprechung).
36 Die Beachtung dieses Grundsatzes bedeutet, dass die nationalen Maßnahmen, die bei der Anwendung der in dieser Bestimmung vorgeschriebenen Voraussetzungen und Beschränkungen getroffen werden, zur Erreichung des verfolgten Ziels, nämlich dem Schutz der öffentlichen Finanzen der Mitgliedstaaten (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 16. Juli 2015, Singh u. a., C‑218/14, EU:C:2015:476, Rn. 75 und die dort angeführte Rechtsprechung), geeignet und erforderlich sein müssen (vgl. in diesem Sinne in Bezug auf die Instrumente des Unionsrechts vor der Richtlinie 2004/38 Urteil vom 23. März 2006, Kommission/Belgien, C‑408/03, EU:C:2006:192, Rn. 39 und die dort angeführte Rechtsprechung).
37 Es trifft insoweit zu, dass dann, wenn die Existenzmittel, über die ein minderjähriger Unionsbürger verfügt, um für seinen Lebensunterhalt und den seiner Familie während seines Aufenthalts im Aufnahmemitgliedstaat aufzukommen, aus Einkünften stammen, die aus einer Beschäftigung bezogen werden, der sein aus einem Drittland stammender und nicht über eine Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis verfügender Elternteil in diesem Mitgliedstaat nachgeht, in Anbetracht von dessen prekärer Situation und wegen des illegalen Charakters seines Aufenthalts das Risiko, dass ein Wegfall ausreichender Existenzmittel eintritt und dieser minderjährige Unionsbürger Sozialhilfeleistungen in Anspruch nehmen muss, größer ist.
38 Aus dieser Perspektive betrachtet würde eine nationale Maßnahme, die darin besteht, solche Einkünfte vom Begriff „ausreichende Existenzmittel“ im Sinne von Art. 7 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2004/38 auszuschließen, gewiss die Erreichung des von dieser Bestimmung verfolgten Ziels ermöglichen.
39 Es ist jedoch hervorzuheben, dass die Richtlinie 2004/38 zum Schutz der berechtigten Interessen des Aufnahmemitgliedstaats Vorschriften enthält, die es diesem ermöglichen, im Fall des tatsächlichen Wegfalls der finanziellen Mittel tätig zu werden, um zu verhindern, dass der Inhaber des Aufenthaltsrechts den öffentlichen Finanzen dieses Mitgliedstaats zur Last fällt.
40 Insbesondere wird nach Art. 14 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38 das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich gemäß Art. 7 dieser Richtlinie im Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats aufzuhalten, nur aufrechterhalten, wenn diese Unionsbürger und ihre Familienangehörigen die in dieser Bestimmung genannten Voraussetzungen erfüllen (Urteil vom 16. Juli 2015, Singh u. a., C‑218/14, EU:C:2015:476, Rn. 57).
41 Art. 14 der Richtlinie 2004/38 erlaubt somit dem Aufnahmemitgliedstaat, nachzuprüfen, ob die Unionsbürger und ihre Familienangehörigen, denen das Aufenthaltsrecht gewährt wird, während ihres gesamten Aufenthalts die entsprechenden Bedingungen der Richtlinie 2004/38 erfüllen.
42 Unter diesen Umständen würde mit einer Auslegung der in Art. 7 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2004/38 genannten Voraussetzung ausreichender Existenzmittel dahin, dass ein minderjähriger Unionsbürger sich für die Zwecke dieser Bestimmung nicht auf die Einkünfte berufen darf, die aus einer Beschäftigung bezogen werden, der sein einem Drittland angehörender und nicht über eine Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis in diesem Aufnahmemitgliedstaat verfügender Elternteil dort nachgeht, dieser Voraussetzung eine Anforderung in Bezug auf die Herkunft der von diesem Elternteil bereitgestellten Existenzmittel hinzugefügt, die einen unverhältnismäßigen Eingriff in die Ausübung des durch Art. 21 AEUV gewährleisteten Grundrechts auf Freizügigkeit und Aufenthalt des betreffenden minderjährigen Unionsbürgers darstellen würde, da es für die Erreichung des verfolgten Ziels nicht erforderlich ist.
43 Im vorliegenden Fall geht aus den Erklärungen von Frau Bajratari hervor, dass Herr Bajratari im Vereinigten Königreich seit 2009 immer beschäftigt gewesen ist, zunächst als Küchenchef in einem Restaurant und dann ab Februar 2018 als Angestellter in einer Autowaschanlage.
44 Zudem wurde in der mündlichen Verhandlung von Frau Bajratari bestätigt, ohne dass die Regierung des Vereinigten Königreichs dem widersprochen hat, dass auf die Einkünfte, die aus der Beschäftigung bezogen wurden, der Herr Bajratari trotz des Ablaufs seiner Aufenthaltskarte weiterhin nachging, Steuern und Sozialversicherungsabgaben entrichtet wurden.
45 Schließlich deutet nichts in den dem Gerichtshof vorliegenden Akten darauf hin, dass die Kinder von Herrn Bajratari in den letzten zehn Jahren im Vereinigten Königreich Sozialhilfeleistungen in Anspruch genommen haben. Darüber hinaus wird, wie aus Rn. 14 des vorliegenden Urteils hervorgeht, die Erfüllung der in Art. 7 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2004/38 genannten Voraussetzung eines umfassenden Krankenversicherungsschutzes im vorliegenden Fall nicht bestritten.
46 Eine nationale Maßnahme, die den Behörden des betreffenden Mitgliedstaats erlaubt, einem minderjährigen Unionsbürger ein Aufenthaltsrecht mit der Begründung zu verweigern, dass die Existenzmittel, auf die er sich für die Zwecke von Art. 7 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2004/38 berufen möchte, aus einer Beschäftigung stammen, der sein einem Drittland angehörender und nicht über eine Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis verfügender Elternteil nachgeht, obwohl diese Existenzmittel diesem Unionsbürger erlauben, seit zehn Jahren seinen Lebensunterhalt und den seiner Familienmitglieder zu bestreiten, ohne Sozialhilfeleistungen dieses Mitgliedstaats in Anspruch nehmen zu müssen, geht jedoch offensichtlich über das hinaus, was zum Schutz der öffentlichen Finanzen dieses Mitgliedstaats erforderlich ist.
47 Überdies liefe eine Auslegung der Voraussetzung ausreichender Existenzmittel, wie sie in Rn. 42 des vorliegenden Urteils erwähnt wird, dem von der Richtlinie 2004/38 verfolgten Ziel zuwider, nämlich, wie sich aus ständiger Rechtsprechung ergibt, die Ausübung des elementaren und individuellen Rechts, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, das den Unionsbürgern unmittelbar aus Art. 21 Abs. 1 AEUV erwächst, zu erleichtern und dieses Recht zu verstärken (Urteil vom 18. Dezember 2014, McCarthy u. a., C‑202/13, EU:C:2014:2450, Rn. 31 und die dort angeführte Rechtsprechung).
48 Aus dem Vorstehenden ergibt sich, dass die Tatsache, dass die Existenzmittel, auf die sich ein minderjähriger Unionsbürger für die Zwecke von Art. 7 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2004/38 berufen möchte, aus den Einkünften stammen, die von seinem einem Drittstaat angehörenden Elternteil aus der Beschäftigung bezogen werden, der dieser im Aufnahmemitgliedstaat nachgeht, es nicht ausschließt, dass die in dieser Bestimmung genannte Voraussetzung ausreichender Existenzmittel selbst dann als erfüllt angesehen werden kann, wenn dieser Elternteil nicht über eine Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis in diesem Mitgliedstaat verfügt.
49 Schließlich beruft sich das Vereinigte Königreich auf Gründe im Zusammenhang mit der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung, um die Beschränkung des Aufenthaltsrechts eines minderjährigen Unionsbürgers zu rechtfertigen, die sich aus der Tatsache ergibt, dass Einkünfte, die von einem einem Drittstaat angehörenden und nicht über eine Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis im Vereinigten Königreich verfügenden Elternteil aus der Beschäftigung bezogen werden, der dieser in diesem Mitgliedstaat nachgeht, vom Begriff „ausreichende Existenzmittel“ im Sinne von Art. 7 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2004/38 ausgeschlossen werden.
50 Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass der Begriff „öffentliche Ordnung“ als Rechtfertigung für eine Abweichung vom Aufenthaltsrecht der Unionsbürger oder ihrer Familienangehörigen eng auszulegen ist, so dass seine Tragweite nicht ohne Kontrolle durch die Organe der Union einseitig von den Mitgliedstaaten bestimmt werden darf (Urteil vom 13. September 2016, CS, C‑304/14, EU:C:2016:674, Rn. 37 und die dort angeführte Rechtsprechung).
51 So hat der Gerichtshof entschieden, dass der Begriff „öffentliche Ordnung“ jedenfalls voraussetzt, dass außer der Störung der sozialen Ordnung, die jeder Gesetzesverstoß darstellt, eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr vorliegt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt (Urteil vom 13. September 2016, CS, C‑304/14, EU:C:2016:674, Rn. 38).
52 Unter Berücksichtigung der Umstände des Ausgangsverfahrens ist, wie der Generalanwalt in Nr. 78 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, festzustellen, dass die Voraussetzungen, die erfüllt sein müssen, um aus Gründen der öffentlichen Ordnung die Beschränkung des Aufenthaltsrechts der ersten beiden Kinder von Frau Bajratari zu rechtfertigen, die sich aus dem Ausschluss der Einkünfte, die aus der Beschäftigung bezogen werden, der ihr Vater illegal nachgeht, vom Begriff „ausreichende Existenzmittel“ im Sinne von Art. 7 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2004/38 ergibt, im vorliegenden Fall nicht erfüllt sind.
53 Nach alledem ist auf die Vorlagefragen zu antworten, dass Art. 7 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2004/38 dahin auszulegen ist, dass ein minderjähriger Unionsbürger über ausreichende Existenzmittel verfügt, so dass er während seines Aufenthalts die Sozialhilfeleistungen des Aufnahmemitgliedstaats nicht unangemessen in Anspruch nehmen muss, auch wenn diese Mittel aus den Einkünften stammen, die aus einer Beschäftigung bezogen werden, der sein Vater, der einem Drittstaat angehört und über keine Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis in diesem Mitgliedstaat verfügt, illegal nachgeht.
Kosten
54 Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Erste Kammer) für Recht erkannt:
Art. 7 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 und zur Aufhebung der Richtlinien 64/221/EWG, 68/360/EWG, 72/194/EWG, 73/148/EWG, 75/34/EWG, 75/35/EWG, 90/364/EWG, 90/365/EWG und 93/96/EWG ist dahin auszulegen, dass ein minderjähriger Unionsbürger über ausreichende Existenzmittel verfügt, so dass er während seines Aufenthalts die Sozialhilfeleistungen des Aufnahmemitgliedstaats nicht unangemessen in Anspruch nehmen muss, selbst wenn diese Mittel aus den Einkünften stammen, die aus einer Beschäftigung bezogen werden, der sein Vater, der einem Drittstaat angehört und über keine Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis in diesem Mitgliedstaat verfügt, illegal nachgeht.
Unterschriften
(*1) Verfahrenssprache: Englisch.
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Urteil des Gerichtshofs (Vierte Kammer) vom 11. September 2019.#Oana Mădălina Călin gegen Direcţia Regională a Finanţelor Publice Ploieşti – Administraţia Judeţeană a Finanţelor Publice Dâmboviţa u. a.#Vorabentscheidungsersuchen der Curtea de Apel Ploieşti.#Vorlage zur Vorabentscheidung – Grundsätze des Unionsrechts – Verfahrensautonomie – Grundsätze der Äquivalenz und der Effektivität – Grundsatz der Rechtssicherheit – Rechtskraft – Erstattung einer unter Verstoß gegen das Unionsrecht von einem Mitgliedstaat erhobenen Abgabe – Rechtskräftige Gerichtsentscheidung, die zur Zahlung einer unionsrechtswidrigen Abgabe verpflichtet – Wiederaufnahmeantrag bezüglich einer solchen Gerichtsentscheidung – Frist für die Stellung dieses Antrags.#Rechtssache C-676/17.
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62017CJ0676
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ECLI:EU:C:2019:700
| 2019-09-11T00:00:00 |
Gerichtshof, Bobek
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62017CJ0676
URTEIL DES GERICHTSHOFS (Vierte Kammer)
11. September 2019 (*1)
„Vorlage zur Vorabentscheidung – Grundsätze des Unionsrechts – Verfahrensautonomie – Grundsätze der Äquivalenz und der Effektivität – Grundsatz der Rechtssicherheit – Rechtskraft – Erstattung einer unter Verstoß gegen das Unionsrecht von einem Mitgliedstaat erhobenen Abgabe – Rechtskräftige Gerichtsentscheidung, die zur Zahlung einer unionsrechtswidrigen Abgabe verpflichtet – Wiederaufnahmeantrag bezüglich einer solchen Gerichtsentscheidung – Frist für die Stellung dieses Antrags“
In der Rechtssache C‑676/17
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Curtea de Apel Ploieşti (Berufungsgericht Ploieşti, Rumänien) mit Entscheidung vom 5. Oktober 2017, beim Gerichtshof eingegangen am 1. Dezember 2017, in dem Verfahren
Oana Mădălina Călin
gegen
Direcţia Regională a Finanţelor Publice Ploieşti – Administraţia Judeţeană a Finanţelor Publice Dâmboviţa,
Statul Român – Ministerul Finanţelor Publice,
Administrația Fondului pentru Mediu
erlässt
DER GERICHTSHOF (Vierte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten M. Vilaras, der Richterin K. Jürimäe (Berichterstatterin) sowie der Richter D. Šváby, S. Rodin und N. Piçarra,
Generalanwalt: M. Bobek,
Kanzler: R. Șereș, Verwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 28. November 2018,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
–
der rumänischen Regierung, zunächst vertreten durch R.‑H. Radu, C.‑M. Florescu und R. I. Haţieganu als Bevollmächtigte, dann durch C.‑R. Canțăr, C.‑M. Florescu und R. I. Haţieganu als Bevollmächtigte,
–
der Europäischen Kommission, vertreten durch A. Armenia und C. Perrin als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 5. Februar 2019
folgendes
Urteil
1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 4 Abs. 3 EUV, von Art. 110 AEUV, der Art. 17, 20, 21 und 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) sowie der Grundsätze der loyalen Zusammenarbeit, der Äquivalenz, der Effektivität und der Rechtssicherheit.
2 Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Frau Oana Mădălina Călin auf der einen Seite und der Direcția Generală Regională a Finanțelor Publice Ploiești – Administrația Județeană a Finanțelor Publice Dâmbovița (Regionale Generaldirektion für öffentliche Finanzen Ploiești – Kreisverwaltung für öffentliche Finanzen Dâmbovița), dem Statul Român – Ministerul Finanţelor Publice (Rumänischer Staat – Ministerium für öffentliche Finanzen) und der Administrația Fondului pentru Mediu (Umweltfonds-Amt, Rumänien) auf der anderen Seite betreffend einen Antrag auf Wiederaufnahme in Bezug auf eine rechtskräftige Gerichtsentscheidung, mit der ein Wiederaufnahmeantrag bezüglich einer anderen rechtskräftigen Gerichtsentscheidung, mit der Frau Călin die Zahlung einer später für mit dem Unionsrecht unvereinbar erklärten Umweltgebühr auferlegt worden war, wegen Verfristung für unzulässig erklärt wurde.
Rechtlicher Rahmen
3 Art. 21 „Außerordentliche Rechtsbehelfe“ der Legea contenciosului administrativ nr. 554/2004 (Gesetz Nr. 554/2004 über das verwaltungsgerichtliche Verfahren) vom 2. Dezember 2004 (Monitorul Oficial al României, Teil I, Nr. 1154 vom 7. Dezember 2004) sah vor:
„(1) Gegen rechtskräftige und unwiderrufliche Entscheidungen der Verwaltungsgerichte sind die nach der Zivilprozessordnung vorgesehenen Rechtsbehelfe statthaft.
(2) Die Verkündung rechtskräftiger und unwiderruflicher Entscheidungen unter Verstoß gegen den in Art. 148 Abs. 2 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 2 der neu bekannt gemachten Verfassung Rumäniens normierten Grundsatz des Vorrangs des [Unions]rechts stellt einen Wiederaufnahmegrund dar, der neben die in der Zivilprozessordnung geregelten Wiederaufnahmegründe tritt. Der Wiederaufnahmeantrag ist innerhalb von 15 Tagen ab Übermittlung der Entscheidung einzureichen, die abweichend von der in Art. 17 Abs. 3 festgelegten Regel auf gebührend begründeten Antrag der betroffenen Partei innerhalb von 15 Tagen ab Verkündung erfolgt. Über den Wiederaufnahmeantrag ist dringlich und vorrangig innerhalb von 60 Tagen nach seiner Eintragung in das Gerichtsregister zu entscheiden.“
4 Aus dem Vorabentscheidungsersuchen geht hervor, dass Art. 21 Abs. 2 Satz 2 des Gesetzes Nr. 554/2004 mit der Entscheidung Nr. 1609/2010 der Curtea Constituţională (Verfassungsgericht, Rumänien) vom 9. Dezember 2010 für verfassungswidrig erklärt wurde.
5 Das vorlegende Gericht weist im Wesentlichen darauf hin, dass nur die Bestimmungen von Art. 21 Abs. 2 Sätze 1 und 3 weiterhin Rechtswirkung entfalteten. Dagegen endeten die Rechtswirkungen des die Frist für die Wiederaufnahme betreffenden Satzes 2 dieser Vorschrift.
6 Mit dem Urteil Nr. 45/2016 vom 12. Dezember 2016, veröffentlicht im Monitorul Oficial al României am 23. Mai 2017, hat die Înalta Curte de Casație și Justiție (Oberster Kassations- und Gerichtshof, Rumänien) entschieden, dass die Frist für den Wiederaufnahmeantrag gemäß Art. 21 Abs. 2 des Gesetzes Nr. 554/2004 einen Monat betrage und mit dem Zeitpunkt der Übermittlung des rechtskräftigen Urteils beginne, auf das sich die Wiederaufnahme beziehe.
7 Art. 509 („Gegenstand der Wiederaufnahme und Wiederaufnahmegründe“) Abs. 1 des Codul de procedură civilă (Zivilprozessordnung) sieht vor:
„(1) Ein Wiederaufnahmeantrag in Bezug auf eine in der Sache ergangene oder die Sache erörternde … Entscheidung kann gestellt werden, wenn
…
11. die Curtea Constituțională (Verfassungsgericht), nachdem das Urteil rechtskräftig geworden ist, über eine in dieser Rechtssache erhobene Einrede entschieden und eine Bestimmung, die den Gegenstand dieser Einrede der Verfassungswidrigkeit bildet, für verfassungswidrig erklärt hat.“
8 Art. 511 („Antragsfrist“) Abs. 3 der Zivilprozessordnung bestimmt:
„Bezüglich der in Art. 509 Abs. 1 Nrn. 10 und 11 festgelegten Gründe beträgt die Frist drei Monate ab dem Tag der Veröffentlichung des Urteils des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte oder der Entscheidung der Curtea Constituțională (Verfassungsgericht) im Monitorul Oficial al României, Teil I“.
Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefrage
9 Am 12. April 2013 erwarb Frau Călin, eine rumänische Staatsangehörige, ein gebrauchtes Kraftfahrzeug aus Deutschland. Der Serviciul Public Comunitar Regim Permise de Conducere și Înmatriculare a Vehiculelor Târgoviște (Amt für öffentliche Angelegenheiten, Referat Fahrerlaubnisse und Fahrzeugzulassungen, Târgoviște, Rumänien) machte die Zulassung des Pkw von Frau Călin von der Zahlung einer Umweltgebühr für Kraftfahrzeuge in Höhe von 968 rumänischen Lei (RON) (ungefähr 207 Euro) abhängig. Dieser Betrag wurde von Frau Călin entrichtet.
10 Frau Călin erhob daraufhin Klage beim Tribunalul Dâmbovița – Secția a II‑a civilă, de contencios administrativ și fiscal (Landgericht Dâmbovița – Zweite Zivilkammer für Verwaltungs- und Abgabenstreitsachen) auf Erstattung dieses Betrags mit der Begründung, dass die Auferlegung einer solchen Umweltgebühr mit dem Unionsrecht unvereinbar sei.
11 Mit Urteil vom 15. Mai 2014 wies dieses Gericht die Klage ab.
12 Am 28. April 2015 stellte Frau Călin bei dem genannten Gericht einen ersten Wiederaufnahmeantrag in Bezug auf dieses Urteil und berief sich dabei auf das Urteil vom 14. April 2015, Manea (C‑76/14, EU:C:2015:216), in dem der Gerichtshof festgestellt habe, dass diese Umweltgebühr unter Verstoß gegen das Unionsrecht eingeführt worden sei. Dieser Wiederaufnahmeantrag wurde mit Urteil vom 16. Juni 2015 zurückgewiesen.
13 Am 17. August 2016 stellte Frau Călin einen zweiten Wiederaufnahmeantrag beim Tribunalul Dâmbovița – Secția a II-a civilă, de contencios administrativ și fiscal (Landgericht Dâmbovița – Zweite Zivilkammer für Verwaltungs- und Abgabenstreitsachen) in Bezug auf das Urteil vom 15. Mai 2014. Dieser Wiederaufnahmeantrag war auf das Urteil vom 9. Juni 2016, Budişan (C‑586/14, EU:C:2016:421), sowie auf Art. 21 Abs. 2 des Gesetzes Nr. 554/2004 gestützt, der die Wiederaufnahme bezüglich rechtskräftiger Urteile, die unter Verletzung des Unionsrechts erlassen worden seien, hätte ermöglichen sollen. Mit Urteil vom 11. Oktober 2016 gab das genannte Gericht diesem Antrag statt und ordnete die Erstattung der Umweltgebühr zuzüglich Zinsen an.
14 Die Regionale Generaldirektion für öffentliche Finanzen Ploiești – Kreisverwaltung für öffentliche Finanzen Dâmbovița legte gegen dieses Urteil Berufung bei der Curtea de Apel Ploiești (Berufungsgericht Ploiești, Rumänien) ein.
15 Mit Urteil vom 16. Januar 2017 hob dieses Gericht das Urteil des Tribunalul Dâmbovița – Secția a II‑a civilă, de contencios administrativ și fiscal (Landgericht Dâmbovița – Zweite Zivilkammer für Verwaltungs- und Abgabenstreitsachen) vom 11. Oktober 2016 auf, da es der Ansicht war, dass der zweite Wiederaufnahmeantrag nach Ablauf der Frist von einem Monat gestellt worden sei, die mit dem Zeitpunkt der Übermittlung der rechtskräftigen Entscheidung, die Gegenstand der Wiederaufnahme sei, zu laufen beginne. Diese Frist, die sich aus dem Urteil Nr. 45/2016 ergebe, sei für alle rumänischen Gerichte beginnend zum Zeitpunkt der Veröffentlichung dieses Urteils im Monitorul Oficial al României bindend. Das Urteil, auf das sich der Wiederaufnahmeantrag bezog, war Frau Călin aber am 26. Mai 2014 übermittelt worden, während der Antrag auf Wiederaufnahme am 17. August 2016 gestellt wurde.
16 Gegenstand des Ausgangsverfahrens ist ein Wiederaufnahmeantrag bezüglich des Urteils vom 16. Januar 2017, der von Frau Călin beim vorlegenden Gericht gestellt wurde. Dieser Antrag wird zum einen auf einen Verstoß gegen das Rückwirkungsverbot gestützt, da das Urteil vom 9. Juni 2016, Budişan (C‑586/14, EU:C:2016:421), ergangen ist, nachdem die nationale Entscheidung, bezüglich deren die Wiederaufnahme beantragt wurde, rechtskräftig geworden ist. Zum anderen wird dieser Antrag auf einen von der Curtea de Apel Ploiești (Berufungsgerichtshof Ploiești) begangenen Verstoß gegen den in Art. 4 Abs. 3 AEUV verankerten Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit gestützt.
17 In diesem Zusammenhang zieht das nationale Gericht die Vereinbarkeit des Urteils Nr. 45/2016 mit dem Grundsatz der Rechtssicherheit und dem Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit sowie mit den Grundsätzen der Äquivalenz und der Effektivität in Zweifel.
18 Das vorlegende Gericht weist insoweit darauf hin, dass sich die Umstände des Ausgangsrechtsstreits von denen der Rechtssache unterschieden, in der das Urteil vom 6. Oktober 2015, Târşia (C‑69/14, EU:C:2015:662), ergangen sei, in dem der Gerichtshof festgestellt habe, dass das Unionsrecht dem nicht entgegenstehe, dass es an einem Wiederaufnahmeverfahren bezüglich einer rechtskräftigen Gerichtsentscheidung fehle, wenn sich diese Entscheidung als unvereinbar mit einer Auslegung des Unionsrechts erweise. Das vorlegende Gericht führt aus, dass nämlich im Ausgangsverfahren anders als in der genannten Rechtssache die Möglichkeit einer Wiederaufnahme bezüglich einer rechtskräftigen nationalen Gerichtsentscheidung, die unter Verstoß gegen das Unionsrecht ergangen sei, bestehe.
19 Es weist darauf hin, dass es in Ermangelung einer Unionsregelung zur Erstattung zu Unrecht erhobener Abgaben nach dem Grundsatz der Verfahrensautonomie Sache jedes Mitgliedstaats sei, die Verfahrensmodalitäten für Klagen zu regeln, die den Schutz der dem Steuerpflichtigen aus dem Unionsrecht erwachsenden Rechte gewährleisten sollten. Diese Verfahrensmodalitäten müssten jedoch stets den Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit, die Grundsätze der Äquivalenz und der Effektivität sowie den Grundsatz der Rechtssicherheit wahren.
20 Im vorliegenden Fall sehe Art. 21 Abs. 2 des Gesetzes Nr. 554/2004 keine Frist für den Wiederaufnahmeantrag vor; eine solche Frist ergebe sich nur aus dem Urteil Nr. 45/2016.
21 Das vorlegende Gericht ist jedoch der Ansicht, dass die Anwendung dieser Frist eine Erstattung der unter Verstoß gegen das Unionsrecht erhobenen Abgabe an Frau Călin unmöglich machen würde. Frau Călin stünde nämlich keine andere nationale Verfahrensart zur Verfügung, um die Erstattung dieser Abgabe zu erreichen.
22 Unter diesen Umständen hat das vorlegende Gericht die Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:
Können Art. 4 Abs. 3 EUV, der sich auf den Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit bezieht, die Art. 17, 20, 21 und 47 der Charta, Art. 110 AEUV, der Grundsatz der Rechtssicherheit sowie die Grundsätze der Äquivalenz und der Effektivität, die sich aus dem Grundsatz der Verfahrensautonomie ergeben, dahin ausgelegt werden, dass sie einer nationalen Regelung, nämlich Art. 21 Abs. 2 des Gesetzes Nr. 554/2004 in der Auslegung durch die Entscheidung Nr. 45/2016 entgegenstehen, wonach die Frist für die Stellung des Wiederaufnahmeantrags gemäß Art. 21 Abs. 2 des Gesetzes Nr. 554/2004 einen Monat beträgt und mit dem Zeitpunkt der Übermittlung des rechtskräftigen Urteils beginnt, auf das sich die Wiederaufnahme bezieht?
Zur Vorlagefrage
23 Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob das Unionsrecht, insbesondere die Grundsätze der Äquivalenz und der Effektivität, dahin auszulegen ist, dass es einer nationalen Bestimmung in der Auslegung durch ein Urteil eines nationalen Gerichts entgegensteht, die eine Ausschlussfrist von einem Monat für die Stellung eines Wiederaufnahmeantrags bezüglich einer rechtskräftigen, unter Verstoß gegen das Unionsrecht ergangenen Gerichtsentscheidung vorsieht, die mit dem Zeitpunkt der Übermittlung der Entscheidung beginnt, auf die sich der Wiederaufnahmeantrag bezieht.
24 Vorab ist festzustellen, dass aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten hervorgeht, dass Frau Călin die Zahlung einer Umweltgebühr für Kraftfahrzeuge auferlegt wurde, obwohl der Gerichtshof mit Urteil vom 9. Juni 2016, Budişan (C‑586/14, EU:C:2016:421), im Wesentlichen entschieden hat, dass Art. 110 AEUV dahin auszulegen ist, dass er einer Abgabe wie dieser Umweltgebühr entgegensteht.
25 Der Anspruch auf Erstattung von Abgaben, die ein Mitgliedstaat unter Verstoß gegen Vorschriften des Unionsrechts erhoben hat, stellt nach ständiger Rechtsprechung insoweit eine Folge und eine Ergänzung der Rechte dar, die dem Einzelnen aus den diesen Abgaben entgegenstehenden Bestimmungen des Unionsrechts in ihrer Auslegung durch den Gerichtshof erwachsen. Die Mitgliedstaaten sind also grundsätzlich verpflichtet, unionsrechtswidrig erhobene Abgaben zu erstatten (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 9. November 1983, San Giorgio, 199/82, EU:C:1983:318, Rn. 12, vom 19. Juli 2012, Littlewoods Retail u. a., C‑591/10, EU:C:2012:478, Rn. 24, sowie vom 6. Oktober 2015, Târşia, C‑69/14, EU:C:2015:662, Rn. 24).
26 Allerdings ist auf die Bedeutung hinzuweisen, die dem Grundsatz der Rechtskraft sowohl in der Unionsrechtsordnung als auch in den nationalen Rechtsordnungen zukommt. Zur Gewährleistung des Rechtsfriedens und der Beständigkeit rechtlicher Beziehungen sowie einer geordneten Rechtspflege sollen nämlich nach Ausschöpfung des Rechtswegs oder nach Ablauf der entsprechenden Rechtsmittelfristen unanfechtbar gewordene Gerichtsentscheidungen nicht mehr in Frage gestellt werden können (Urteile vom 10. Juli 2014, Impresa Pizzarotti, C‑213/13, EU:C:2014:2067, Rn. 58, vom 6. Oktober 2015, Târşia, C‑69/14, EU:C:2015:662, Rn. 28, und vom 29. Juli 2019, Hochtief Solutions Magyarországi Fióktelepe, C‑620/17, EU:C:2019:630, Rn. 54).
27 Daher gebietet es das Unionsrecht einem nationalen Gericht nicht, von der Anwendung innerstaatlicher Verfahrensvorschriften, aufgrund deren eine Gerichtsentscheidung Rechtskraft erlangt, abzusehen, selbst wenn dadurch einer mit dem Unionsrecht unvereinbaren nationalen Situation abgeholfen werden könnte (Urteile vom 10. Juli 2014, Impresa Pizzarotti, C‑213/13, EU:C:2014:2067, Rn. 59, vom 6. Oktober 2015, Târşia, C‑69/14, EU:C:2015:662, Rn. 29, und vom 29. Juli 2019, Hochtief Solutions Magyarországi Fióktelepe, C‑620/17, EU:C:2019:630, Rn. 55).
28 Wie bereits entschieden wurde, verlangt das Unionsrecht nämlich nicht, dass ein nationales Rechtsprechungsorgan seine rechtskräftig gewordene Entscheidung grundsätzlich rückgängig machen muss, um der Auslegung einer einschlägigen unionsrechtlichen Bestimmung durch den Gerichtshof Rechnung zu tragen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 10. Juli 2014, Impresa Pizzarotti, C‑213/13, EU:C:2014:2067, Rn. 60, vom 6. Oktober 2015, Târşia, C‑69/14, EU:C:2015:662, Rn. 38, und vom 29. Juli 2019, Hochtief Solutions Magyarországi Fióktelepe, C‑620/17, EU:C:2019:630, Rn. 56).
29 Besteht hingegen für das nationale Gericht nach den anwendbaren innerstaatlichen Verfahrensvorschriften unter bestimmten Voraussetzungen die Möglichkeit, eine rechtskräftig gewordene Entscheidung rückgängig zu machen, um die Situation mit dem nationalen Recht in Einklang zu bringen, muss davon, sofern diese Voraussetzungen erfüllt sind, nach den Grundsätzen der Äquivalenz und der Effektivität Gebrauch gemacht werden, damit die Vereinbarkeit der betreffenden Situation mit dem Unionsrecht wiederhergestellt wird (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 10. Juli 2014, Impresa Pizzarotti, C‑213/13, EU:C:2014:2067, Rn. 62, vom 6. Oktober 2015, Târşia, C‑69/14, EU:C:2015:662, Rn. 30, und vom 29. Juli 2019, Hochtief Solutions Magyarországi Fióktelepe, C‑620/17, EU:C:2019:630, Rn. 60).
30 Nach dem in Art. 4 Abs. 3 EUV verankerten Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit dürfen nämlich die Verfahrensmodalitäten für Klagen, die den Schutz der den Einzelnen aus dem Unionsrecht erwachsenden Rechte gewährleisten sollen, nicht weniger günstig ausgestaltet sein als für entsprechende innerstaatliche Klagen (Grundsatz der Äquivalenz), und sie dürfen die Ausübung der durch die Unionsrechtsordnung verliehenen Rechte nicht praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren (Grundsatz der Effektivität) (Urteil vom 24. Oktober 2018, XC u. a., C‑234/17, EU:C:2018:853, Rn. 22 und die dort angeführte Rechtsprechung).
31 Die Einhaltung der genannten Anforderungen ist unter Berücksichtigung der Stellung der betreffenden Vorschriften im gesamten Verfahren, von dessen Ablauf und der Besonderheiten dieser Vorschriften vor den verschiedenen nationalen Stellen zu prüfen (Urteile vom 27. Juni 2013, Agrokonsulting‑04, C‑93/12, EU:C:2013:432, Rn. 38 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie vom 24. Oktober 2018, XC u. a., C‑234/17, EU:C:2018:853, Rn. 24).
32 Im vorliegenden Fall ergibt sich aus den Informationen, über die der Gerichtshof verfügt, dass das rumänische Recht einen Rechtsbehelf bietet, der es ermöglicht, in Bezug auf rechtskräftige Gerichtsentscheidungen, die dem Unionsrecht zuwiderlaufen, einen Wiederaufnahmeantrag zu stellen. Aus den Angaben des vorlegenden Gerichts folgt, dass für diesen Wiederaufnahmeantrag eine Frist von einem Monat gilt, die mit dem Zeitpunkt der Übermittlung der Entscheidung beginnt, auf die sich der Wiederaufnahmeantrag bezieht. Diese Frist ging aus dem Urteil Nr. 45/2016 hervor, das die Auslegung und Anwendung von Art. 21 Abs. 2 des Gesetzes Nr. 554/2004 betraf.
33 Es ist daher zu prüfen, ob eine solche Frist mit den Grundsätzen der Äquivalenz und der Effektivität vereinbar ist.
Zum Äquivalenzgrundsatz
34 Wie in Rn. 30 des vorliegenden Urteils ausgeführt, steht der Äquivalenzgrundsatz dem entgegen, dass ein Mitgliedstaat die Verfahrensmodalitäten für Anträge, die auf den Schutz der den Einzelnen aus dem Unionsrecht erwachsenden Rechte gerichtet sind, weniger günstig ausgestaltet als diejenigen für entsprechende innerstaatliche Klagen.
35 Daher ist zu prüfen, ob der im Ausgangsverfahren in Rede stehende Wiederaufnahmeantrag mit einem auf einen Verstoß gegen innerstaatliches Recht gestützten Antrag bei Berücksichtigung des Gegenstands dieser Rechtsbehelfe, ihres Rechtsgrundes und ihrer wesentlichen Merkmale vergleichbar ist (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 27. Juni 2013, Agrokonsulting‑04, C‑93/12, EU:C:2013:432, Rn. 39, und vom 24. Oktober 2018, XC u. a., C‑234/17, EU:C:2018:853, Rn. 27).
36 Wie der Generalanwalt in Nr. 55 seiner Schlussanträge im Wesentlichen dargelegt hat, führt das vorlegende Gericht insoweit in den Gründen seines Vorabentscheidungsersuchens keinen auf einen Verstoß gegen innerstaatliches Recht gestützten Wiederaufnahmeantrag an, der als dem im Ausgangsverfahren in Rede stehenden vergleichbar angesehen werden könnte.
37 Hingegen macht die Kommission geltend, dass der in Art. 21 Abs. 2 des Gesetzes Nr. 554/2004 vorgesehene Wiederaufnahmeantrag bezüglich einer rechtskräftigen Entscheidung, mit der gegen das Unionsrecht verstoßen worden sei, demjenigen in Art. 509 Abs. 1 Nr. 11 der Zivilprozessordnung vergleichbar sei, wonach ein Wiederaufnahmeantrag gestellt werden könne, wenn die Curtea Constituțională (Verfassungsgericht), nachdem die Entscheidung rechtskräftig geworden sei, über eine in derselben Rechtssache erhobene Einrede der Verfassungswidrigkeit entschieden und eine Bestimmung, die den Gegenstand dieser Einrede bilde, für verfassungswidrig erklärt habe.
38 Allerdings ist die Kommission der Auffassung, dass im vorliegenden Fall ein Verstoß gegen den Äquivalenzgrundsatz vorliege, da die Verfahrensmodalitäten für auf Art. 509 Abs. 1 Nr. 11 der Zivilprozessordnung gestützte Anträge günstiger seien als die für Wiederaufnahmeanträge nach Art. 21 Abs. 2 des Gesetzes Nr. 554/2004. Während nämlich der erstgenannte Rechtsbehelf innerhalb einer Frist von drei Monaten nach Veröffentlichung des Urteils der Curtea Constituțională (Verfassungsgericht), mit dem die Verfassungswidrigkeit einer nationalen Bestimmung festgestellt werde, eingelegt werden könne, müsse der letztgenannte Rechtsbehelf innerhalb eines Monats nach der Übermittlung der Entscheidung eingelegt werden, auf die sich der Wiederaufnahmeantrag beziehe.
39 Wie der Generalanwalt in den Nrn. 71 und 77 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, erlaubt jedoch im Rahmen von Art. 509 Abs. 1 Nr. 11 der Zivilprozessordnung das Urteil der Curtea Constituțională (Verfassungsgericht), mit dem festgestellt worden ist, dass eine nationale Bestimmung verfassungswidrig ist, nur die Wiederaufnahme bezüglich der rechtskräftigen Gerichtsentscheidung, die in dem Verfahren erlassen wurde, in dem die Parteien die Verfassungswidrigkeit einer nationalen Bestimmung geltend gemacht haben, während Art. 21 Abs. 2 des Gesetzes Nr. 554/2004 die Wiederaufnahme bezüglich jeder rechtskräftigen Gerichtsentscheidung ermöglichen würde, die gegen das Unionsrecht verstößt.
40 Gleichwohl ist der Gerichtshof mangels näherer Angaben zu letzterem Punkt nicht in der Lage, über das Bestehen oder Nichtbestehen einer Ähnlichkeit zwischen dem in Art. 21 Abs. 2 des Gesetzes Nr. 554/2004 vorgesehenen Wiederaufnahmeantrag und demjenigen, der in Art. 509 Abs. 1 Nr. 11 der Zivilprozessordnung vorgesehen ist, zu befinden, und somit auch nicht in der Lage, festzustellen, ob die sich aus dem Äquivalenzgrundsatz ergebenden Anforderungen im vorliegenden Fall erfüllt sind.
41 Es ist daher Sache des vorlegenden Gerichts, die Beachtung des Äquivalenzgrundsatzes im Ausgangsverfahren im Licht der in Rn. 30 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung zu prüfen, wobei es diesem Gericht unbenommen bleibt, ein neues Vorabentscheidungsersuchen vorzulegen, wenn es dem Gerichtshof alle Angaben zu liefern vermag, die ihm eine Entscheidung über die Frage der Beachtung des Äquivalenzgrundsatzes ermöglichen (vgl. in diesem Sinne Beschluss vom 12. Mai 2016, Security Service u. a., C‑692/15 bis C‑694/15, EU:C:2016:344, Rn. 30 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).
Zum Effektivitätsgrundsatz
42 In Bezug auf den Effektivitätsgrundsatz ist darauf hinzuweisen, dass nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs jeder Fall, in dem sich die Frage stellt, ob eine nationale Verfahrensvorschrift die Anwendung des Unionsrechts unmöglich macht oder übermäßig erschwert, unter Berücksichtigung der Stellung dieser Vorschrift im gesamten Verfahren, des Verfahrensablaufs und der Besonderheiten des Verfahrens vor den verschiedenen innerstaatlichen Stellen zu prüfen ist. Dabei ist gegebenenfalls u. a. dem Schutz der Verteidigungsrechte, dem Grundsatz der Rechtssicherheit und dem ordnungsgemäßen Ablauf des Verfahrens Rechnung zu tragen (Urteile vom 14. Juni 2012, Banco Español de Crédito, C‑618/10, EU:C:2012:349, Rn. 49, vom 22. Februar 2018, INEOS Köln, C‑572/16, EU:C:2018:100, Rn. 44, sowie vom 24. Oktober 2018, XC u. a., C‑234/17, EU:C:2018:853, Rn. 49).
43 Was insbesondere Ausschlussfristen anbelangt, hat der Gerichtshof entschieden, dass im Interesse der Rechtssicherheit die Festlegung angemessener Ausschlussfristen mit dem Unionsrecht vereinbar ist (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 16. Dezember 1976, Rewe-Zentralfinanz und Rewe-Zentral, 33/76, EU:C:1976:188, Rn. 5, vom 10. Juli 1997, Palmisani, C‑261/95, EU:C:1997:351, Rn. 28, vom 29. Oktober 2015, BBVA, C‑8/14, EU:C:2015:731, Rn. 28, sowie vom 22. Februar 2018, INEOS Köln, C‑572/16, EU:C:2018:100, Rn. 47).
44 Im vorliegenden Fall hat die Curtea de Apel Ploiești (Berufungsgericht Ploiești), wie aus den dem Gerichtshof vorliegenden Unterlagen hervorgeht, entsprechend dem Urteil Nr. 45/2016 befunden, dass der zweite von Frau Călin gestellte Wiederaufnahmeantrag verspätet gewesen sei. Gemäß diesem Urteil betrug die Frist für die Stellung eines Wiederaufnahmeantrags einen Monat ab der Übermittlung des Urteils vom 15. Mai 2014, auf das sich der Wiederaufnahmeantrag bezieht, an Frau Călin.
45 Somit ist zu prüfen, ob eine solche Frist, nach deren Ablauf der Einzelne keinen Wiederaufnahmeantrag bezüglich einer rechtskräftigen, unter Verstoß gegen das Unionsrecht ergangenen Gerichtsentscheidung mehr stellen kann, angemessen ist.
46 Hierzu ist festzustellen, dass eine Frist von einem Monat für die Stellung eines solchen Wiederaufnahmeantrags bezüglich einer rechtskräftigen Gerichtsentscheidung, bei dem es sich nach der Überschrift des Art. 21 des Gesetzes Nr. 554/2004 um einen „außerordentlichen“ Rechtsbehelf handelt, an sich nicht zu beanstanden ist.
47 Eine Ausschlussfrist für die Stellung eines Wiederaufnahmeantrags ist nämlich insofern angemessen, als sie es dem Einzelnen ermöglicht, zu beurteilen, ob Gründe für einen Antrag auf Wiederaufnahme bezüglich einer rechtskräftigen Gerichtsentscheidung vorliegen, und gegebenenfalls den Wiederaufnahmeantrag vorzubereiten. Insoweit ist in der vorliegenden Rechtssache nicht vorgetragen worden, dass die hierfür gesetzte Frist von einem Monat unangemessen wäre (vgl. entsprechend Urteil vom 6. Oktober 2009, Asturcom Telecomunicaciones, C‑40/08, EU:C:2009:615, Rn. 44).
48 Außerdem ist darauf hinzuweisen, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Frist mit der Übermittlung der betreffenden rechtskräftigen Gerichtsentscheidung an die Parteien zu laufen beginnt. Somit können sich die Parteien nicht in einer Situation befinden, in der diese Frist abgelaufen ist, ohne dass sie Kenntnis von der rechtskräftigen Gerichtsentscheidung hatten (vgl. entsprechend Urteil vom 6. Oktober 2009, Asturcom Telecomunicaciones, C‑40/08, EU:C:2009:615, Rn. 45).
49 Unter diesen Umständen scheint die Dauer der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Frist für den Wiederaufnahmeantrag als solche nicht geeignet, die Stellung eines Wiederaufnahmeantrags bezüglich einer rechtskräftigen Gerichtsentscheidung praktisch unmöglich zu machen oder übermäßig zu erschweren.
50 Was die Modalitäten der Anwendung dieser Frist betrifft, ist daran zu erinnern, dass der Grundsatz der Rechtssicherheit, von dem sich der Grundsatz des Vertrauensschutzes ableitet, es gebietet, dass Rechtsvorschriften klar und bestimmt sind und dass ihre Anwendung für den Einzelnen voraussehbar ist (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 15. Februar 1996, Duff u. a., C‑63/93, EU:C:1996:51, Rn. 20, vom 10. September 2009, Plantanol, C‑201/08, EU:C:2009:539, Rn. 46, sowie vom 11. Juni 2015, Berlington Hungary u. a., C‑98/14, EU:C:2015:386, Rn. 77).
51 Aus der Vorlageentscheidung geht jedoch hervor, dass die Frist von einem Monat für die Stellung eines Wiederaufnahmeantrags durch das Urteil Nr. 45/2016 festgelegt wurde, das für die rumänischen Gerichte seit seiner Veröffentlichung im Monitorul Oficial al României verbindlich ist. Wie aus den schriftlichen Antworten der Parteien auf eine Frage des Gerichtshofs hervorgeht, wurde dieses Urteil zwar am 12. Dezember 2016 verkündet, aber erst am 23. Mai 2017 im Monitorul Oficial al României veröffentlicht.
52 Somit war das Urteil Nr. 45/2016 noch nicht im Monitorul Oficial al României veröffentlicht, als Frau Călin am 17. August 2016 ihren zweiten Wiederaufnahmeantrag stellte.
53 Demnach scheint es – vorbehaltlich weiterer Prüfungen, die vorzunehmen Sache des vorlegenden Gerichts ist –, dass die Curtea de Apel Ploiești (Berufungsgericht Ploiești) für die Feststellung der Verfristung des von Frau Călin gestellten zweiten Wiederaufnahmeantrags die im Urteil Nr. 45/2016 vorgesehene Frist angewandt hat, obwohl dieses Urteil noch nicht veröffentlicht war. Außerdem geht aus den dem Gerichtshof vorliegenden Informationen nicht hervor, dass zu dem Zeitpunkt, zu dem Frau Călin den Wiederaufnahmeantrag stellte, im rumänischen Recht eine andere Frist für einen solchen Wiederaufnahmeantrag existiert hätte, der als im Sinne der in Rn. 50 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung klar, bestimmt und voraussehbar hätte angesehen werden können.
54 In der mündlichen Verhandlung hat die rumänische Regierung jedoch angegeben, dass die rumänischen Gerichte vor der Veröffentlichung des Urteils Nr. 45/2016 im Monitorul Oficial al României unterschiedliche Fristen für die Stellung von Wiederaufnahmeanträgen gemäß Art. 21 Abs. 2 des Gesetzes Nr. 554/2004 angewandt hätten, da sie nicht verpflichtet gewesen seien, eine spezielle Frist anzuwenden.
55 Soweit die rumänische Regierung mit dieser Erklärung die Anwendung der mit dem Urteil Nr. 45/2016 entwickelten Lösung bereits vor seiner Veröffentlichung rechtfertigen möchte, ist festzustellen, dass eine solche Praxis nicht geeignet war, die Vorschrift über die Frist für den Wiederaufnahmeantrag klar, bestimmt und vorhersehbar zu machen und damit zum Ziel der Rechtssicherheit beizutragen.
56 Ferner ist, da das vorlegende Gericht festgestellt hat, dass die Anwendung dieser Frist durch die Curtea de Apel Ploiești (Berufungsgericht Ploiești) eine Erstattung der unionsrechtswidrig erhobenen Abgabe an Frau Călin unmöglich gemacht habe, da Frau Călin keine andere nationale Verfahrensart zur Verfügung gestanden habe, um die Erstattung dieser Abgabe zu erreichen, darauf hinzuweisen, dass, wie der Generalanwalt in Nr. 103 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, der Grundsatz der Rechtskraft einer Anerkennung des Grundsatzes der Haftung des Staates für Entscheidungen letztinstanzlicher Gerichte – wie des vorlegenden Gerichts – nicht entgegensteht (Urteil vom 30. September 2003, Köbler, C‑224/01, EU:C:2003:513, Rn. 40). Denn insbesondere aufgrund des Umstands, dass eine Verletzung der aus dem Unionsrecht erwachsenden Rechte durch eine solche Entscheidung in der Regel nicht mehr rückgängig gemacht werden kann, darf dem Einzelnen nicht die Möglichkeit genommen werden, den Staat haftbar zu machen, um auf diesem Weg einen gerichtlichen Schutz seiner Rechte zu erlangen (Urteile vom 30. September 2003, Köbler, C‑224/01, EU:C:2003:513, Rn. 34, vom 6. Oktober 2015, Târșia, C‑69/14, EU:C:2015:662, Rn. 40, sowie vom 24. Oktober 2018, XC u. a., C‑234/17, EU:C:2018:853, Rn. 58).
57 Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass
–
das Unionsrecht, insbesondere die Grundsätze der Äquivalenz und der Effektivität, dahin auszulegen ist, dass es einer nationalen Bestimmung in der Auslegung durch ein Urteil eines nationalen Gerichts, die eine Ausschlussfrist von einem Monat für die Stellung eines Wiederaufnahmeantrags bezüglich einer rechtskräftigen, unter Verstoß gegen das Unionsrecht ergangenen Gerichtsentscheidung vorsieht, die mit dem Zeitpunkt der Übermittlung der Entscheidung beginnt, auf die sich der Wiederaufnahmeantrag bezieht, grundsätzlich nicht entgegensteht;
–
der Grundsatz der Effektivität in Verbindung mit dem Grundsatz der Rechtssicherheit jedoch dahin auszulegen ist, dass er unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens dem entgegensteht, dass ein nationales Gericht für die Stellung eines Wiederaufnahmeantrags bezüglich einer rechtskräftigen Gerichtsentscheidung eine Ausschlussfrist von einem Monat anwendet, wenn zu dem Zeitpunkt, zu dem dieser Wiederaufnahmeantrag gestellt wurde, das Urteil, mit dem diese Frist eingeführt wurde, noch nicht im Monitorul Oficial al României veröffentlicht war.
Kosten
58 Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Vierte Kammer) für Recht erkannt:
1. Das Unionsrecht, insbesondere die Grundsätze der Äquivalenz und der Effektivität, ist dahin auszulegen, dass es einer nationalen Bestimmung in der Auslegung durch ein Urteil eines nationalen Gerichts, die eine Ausschlussfrist von einem Monat für die Stellung eines Wiederaufnahmeantrags bezüglich einer rechtskräftigen, unter Verstoß gegen das Unionsrecht ergangenen Gerichtsentscheidung vorsieht, die mit dem Zeitpunkt der Übermittlung der Entscheidung beginnt, auf die sich der Wiederaufnahmeantrag bezieht, grundsätzlich nicht entgegensteht.
2. Jedoch ist der Grundsatz der Effektivität in Verbindung mit dem Grundsatz der Rechtssicherheit dahin auszulegen, dass er unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens dem entgegensteht, dass ein nationales Gericht für die Stellung eines Wiederaufnahmeantrags bezüglich einer rechtskräftigen Gerichtsentscheidung eine Ausschlussfrist von einem Monat anwendet, wenn zu dem Zeitpunkt, zu dem dieser Wiederaufnahmeantrag gestellt wurde, das Urteil, mit dem diese Frist eingeführt wurde, noch nicht im Monitorul Oficial al României veröffentlicht war.
Unterschriften
(*1) Verfahrenssprache: Rumänisch.
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Urteil des Gerichtshofs (Große Kammer) vom 10. September 2019.#Nalini Chenchooliah gegen Minister for Justice and Equality.#Vorabentscheidungsersuchen des High Court (Irland).#Vorlage zur Vorabentscheidung – Unionsbürgerschaft – Art. 21 AEUV – Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats frei zu bewegen und aufzuhalten – Richtlinie 2004/38/EG – Art. 3 Abs. 1 und Art. 15, 27, 28, 30 und 31 – Begriff des Berechtigten – Staatsangehöriger eines Drittstaats, der mit einem Unionsbürger verheiratet ist, der sein Recht auf Freizügigkeit ausgeübt hat – Rückkehr des Unionsbürgers in den Mitgliedstaat, dessen Staatsbürgerschaft er besitzt und in dem er eine Freiheitsstrafe verbüßt – Anforderungen der Richtlinie 2004/38/EG an den Aufnahmemitgliedstaat bei der Entscheidung, die Ausweisung des Drittstaatsangehörigen zu verfügen.#Rechtssache C-94/18.
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62018CJ0094
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ECLI:EU:C:2019:693
| 2019-09-10T00:00:00 |
Gerichtshof, Szpunar
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62018CJ0094
URTEIL DES GERICHTSHOFS (Große Kammer)
10. September 2019 (*1)
„Vorlage zur Vorabentscheidung – Unionsbürgerschaft – Art. 21 AEUV – Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats frei zu bewegen und aufzuhalten – Richtlinie 2004/38/EG – Art. 3 Abs. 1 und Art. 15, 27, 28, 30 und 31 – Begriff des Berechtigten – Staatsangehöriger eines Drittstaats, der mit einem Unionsbürger verheiratet ist, der sein Recht auf Freizügigkeit ausgeübt hat – Rückkehr des Unionsbürgers in den Mitgliedstaat, dessen Staatsbürgerschaft er besitzt und in dem er eine Freiheitsstrafe verbüßt – Anforderungen der Richtlinie 2004/38/EG an den Aufnahmemitgliedstaat bei der Entscheidung, die Ausweisung des Drittstaatsangehörigen zu verfügen“
In der Rechtssache C‑94/18
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom High Court (Hoher Gerichtshof, Irland) mit Entscheidung vom 16. Januar 2018, beim Gerichtshof eingegangen am 12. Februar 2018, in dem Verfahren
Nalini Chenchooliah
gegen
Minister for Justice and Equality
erlässt
DER GERICHTSHOF (Große Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten K. Lenaerts, der Vizepräsidentin R. Silva de Lapuerta, des Kammerpräsidenten A. Arabadjiev, der Kammerpräsidentin A. Prechal (Berichterstatterin), des Kammerpräsidenten M. Vilaras, der Kammerpräsidentin C. Toader, der Richter A. Rosas, E. Juhász, M. Safjan, D. Šváby, C. G. Fernlund, C. Vajda und S. Rodin, der Richterin L. S. Rossi sowie des Richters I. Jarukaitis,
Generalanwalt: M. Szpunar,
Kanzler: L. Hewlett, Hauptverwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 15. Januar 2019,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
–
von Frau Chenchooliah, vertreten durch C. Power, SC, und I. Whelan, BL, im Auftrag von M. Trayers und M. Moroney, Solicitors,
–
des Minister for Justice and Equality, vertreten durch M. Browne, G. Hodge und A. Joyce als Bevollmächtigte im Beistand von N. Travers, SC, S.‑J. Hillery, BL, und D. O’Loghlin, Solicitor,
–
von Irland, vertreten durch M. Browne, G. Hodge und A. Joyce als Bevollmächtigte im Beistand von N. Travers, SC, S.‑J. Hillery, BL, und D. O’Loghlin, Solicitor,
–
der dänischen Regierung, vertreten durch J. Nymann-Lindegren, M. Wolff und P. Z. L. Ngo als Bevollmächtigte,
–
der niederländischen Regierung, vertreten durch M. K. Bulterman und C. S. Schillemans als Bevollmächtigte,
–
der österreichischen Regierung, vertreten durch G. Hesse als Bevollmächtigten,
–
der Europäischen Kommission, vertreten durch E. Montaguti und J. Tomkin als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 21. Mai 2019
folgendes
Urteil
1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Art. 14, 15, 27 und 28 der Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 und zur Aufhebung der Richtlinien 64/221/EWG, 68/360/EWG, 72/194/EWG, 73/148/EWG, 75/34/EWG, 75/35/EWG, 90/364/EWG, 90/365/EWG und 93/96/EWG (ABl. 2004, L 158, S. 77, berichtigt im ABl. 2004, L 229, S. 35).
2 Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Frau Nalini Chenchooliah, einer Drittstaatsangehörigen, und dem Minister for Justice and Equality (Minister für Justiz und Gleichberechtigung, Irland) (im Folgenden: Minister) wegen einer Entscheidung, mit der ihre Abschiebung verfügt wurde, nachdem ihr Ehegatte, ein Unionsbürger, in den Mitgliedstaat zurückgekehrt war, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und in dem er eine Freiheitsstrafe verbüßt.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
3 In den Erwägungsgründen 5, 23 und 24 der Richtlinie 2004/38 heißt es:
„(5)
Das Recht aller Unionsbürger, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, sollte, wenn es unter objektiven Bedingungen in Freiheit und Würde ausgeübt werden soll, auch den Familienangehörigen ungeachtet ihrer Staatsangehörigkeit gewährt werden. …
…
(23) Die Ausweisung von Unionsbürgern und ihren Familienangehörigen aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit ist eine Maßnahme, die Personen, die ihre Rechte und Freiheiten aus dem Vertrag in Anspruch genommen haben und vollständig in den Aufnahmemitgliedstaat integriert sind, sehr schaden kann. Die Wirkung derartiger Maßnahmen sollte daher gemäß dem Verhältnismäßigkeitsprinzip begrenzt werden, damit der Grad der Integration der Betroffenen, die Dauer des Aufenthalts im Aufnahmemitgliedstaat, ihr Alter, ihr Gesundheitszustand, die familiäre und wirtschaftliche Situation und die Bindungen zum Herkunftsstaat berücksichtigt werden.
(24) Daher sollte der Schutz vor Ausweisung in dem Maße zunehmen, wie die Unionsbürger und ihre Familienangehörigen in den Aufnahmemitgliedstaat stärker integriert sind. …“
4 Art. 1 („Gegenstand“) der Richtlinie lautet:
„Diese Richtlinie regelt
a)
die Bedingungen, unter denen Unionsbürger und ihre Familienangehörigen das Recht auf Freizügigkeit und Aufenthalt innerhalb des Hoheitsgebiets der Mitgliedstaaten genießen;
b)
das Recht auf Daueraufenthalt der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten;
c)
die Beschränkungen der in den Buchstaben a) und b) genannten Rechte aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit.“
5 In Art. 2 („Begriffsbestimmungen“) der Richtlinie heißt es:
„Im Sinne dieser Richtlinie bezeichnet der Ausdruck
1. ‚Unionsbürger‘ jede Person, die die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzt;
2. ‚Familienangehöriger‘
a)
den Ehegatten;
…“
6 Art. 3 („Berechtigte“) der Richtlinie sieht in Abs. 1vor:
„Diese Richtlinie gilt für jeden Unionsbürger, der sich in einen anderen als den Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, begibt oder sich dort aufhält, sowie für seine Familienangehörigen im Sinne von Artikel 2 Nummer 2, die ihn begleiten oder ihm nachziehen.“
7 Kapitel III („Aufenthaltsrecht“) der Richtlinie 2004/38 umfasst deren Art. 6 bis 15.
8 Art. 6 („Recht auf Aufenthalt bis zu drei Monaten“) der Richtlinie lautet:
„(1) Ein Unionsbürger hat das Recht auf Aufenthalt im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats für einen Zeitraum von bis zu drei Monaten, wobei er lediglich im Besitz eines gültigen Personalausweises oder Reisepasses sein muss und ansonsten keine weiteren Bedingungen zu erfüllen oder Formalitäten zu erledigen braucht.
(2) Absatz 1 gilt auch für Familienangehörige im Besitz eines gültigen Reisepasses, die nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzen und die den Unionsbürger begleiten oder ihm nachziehen.“
9 In Art. 7 der Richtlinie heißt es:
„(1) Jeder Unionsbürger hat das Recht auf Aufenthalt im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats für einen Zeitraum von über drei Monaten, wenn er
a)
Arbeitnehmer oder Selbstständiger im Aufnahmemitgliedstaat ist oder
b)
für sich und seine Familienangehörigen über ausreichende Existenzmittel verfügt, so dass sie während ihres Aufenthalts keine Sozialhilfeleistungen des Aufnahmemitgliedstaats in Anspruch nehmen müssen, und er und seine Familienangehörigen über einen umfassenden Krankenversicherungsschutz im Aufnahmemitgliedstaat verfügen oder
c)
–
bei einer privaten oder öffentlichen Einrichtung, die von dem Aufnahmemitgliedstaat aufgrund seiner Rechtsvorschriften oder seiner Verwaltungspraxis anerkannt oder finanziert wird, zur Absolvierung einer Ausbildung einschließlich einer Berufsausbildung als Hauptzweck eingeschrieben ist und
–
über einen umfassenden Krankenversicherungsschutz im Aufnahmemitgliedstaat verfügt und der zuständigen nationalen Behörde durch eine Erklärung oder durch jedes andere gleichwertige Mittel seiner Wahl glaubhaft macht, dass er für sich und seine Familienangehörigen über ausreichende Existenzmittel verfügt, so dass sie während ihres Aufenthalts keine Sozialhilfeleistungen des Aufnahmemitgliedstaats in Anspruch nehmen müssen, oder
…
(2) Das Aufenthaltsrecht nach Absatz 1 gilt auch für Familienangehörige, die nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzen und die den Unionsbürger in den Aufnahmemitgliedstaat begleiten oder ihm nachziehen, sofern der Unionsbürger die Voraussetzungen des Absatzes 1 Buchstabe a), b) oder c) erfüllt.
…“
10 Art. 12 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38 enthält Vorschriften über die Aufrechterhaltung des Aufenthaltsrechts der Familienangehörigen eines Unionsbürgers, die nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzen, beim Tod des Unionsbürgers.
11 Art. 13 Abs. 2 der Richtlinie regelt die Aufrechterhaltung des Aufenthaltsrechts der Familienangehörigen eines Unionsbürgers, die nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzen, bei Scheidung oder Aufhebung der Ehe oder bei Beendigung einer eingetragenen Partnerschaft.
12 In Art. 14 („Aufrechterhaltung des Aufenthaltsrechts“) der Richtlinie heißt es:
„(1) Unionsbürgern und ihren Familienangehörigen steht das Aufenthaltsrecht nach Artikel 6 zu, solange sie die Sozialhilfeleistungen des Aufnahmemitgliedstaats nicht unangemessen in Anspruch nehmen.
(2) Unionsbürgern und ihren Familienangehörigen steht das Aufenthaltsrecht nach den Artikeln 7, 12 und 13 zu, solange sie die dort genannten Voraussetzungen erfüllen.
…
(4) Abweichend von den Absätzen 1 und 2 und unbeschadet der Bestimmungen des Kapitels VI darf gegen Unionsbürger oder ihre Familienangehörigen auf keinen Fall eine Ausweisung verfügt werden, wenn
a)
die Unionsbürger Arbeitnehmer oder Selbständige sind oder
b)
die Unionsbürger in das Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats eingereist sind, um Arbeit zu suchen. In diesem Fall dürfen die Unionsbürger und ihre Familienangehörigen nicht ausgewiesen werden, solange die Unionsbürger nachweisen können, dass sie weiterhin Arbeit suchen und dass sie eine begründete Aussicht haben, eingestellt zu werden.“
13 Art. 15 („Verfahrensgarantien“) der Richtlinie bestimmt:
„(1) Die Verfahren der Artikel 30 und 31 finden sinngemäß auf jede Entscheidung Anwendung, die die Freizügigkeit von Unionsbürgern und ihren Familienangehörigen beschränkt und nicht aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit erlassen wird.
…
(3) Eine Entscheidung gemäß Absatz 1, mit der die Ausweisung verfügt wird, darf nicht mit einem Einreiseverbot des Aufnahmemitgliedstaats einhergehen.“
14 Die Art. 27, 28, 30 und 31 der Richtlinie 2004/38 gehören zu ihrem Kapitel VI („Beschränkungen des Einreise- und Aufenthaltsrechts aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit“).
15 Art. 27 („Allgemeine Grundsätze“) der Richtlinie bestimmt:
„(1) Vorbehaltlich der Bestimmungen dieses Kapitels dürfen die Mitgliedstaaten die Freizügigkeit und das Aufenthaltsrecht eines Unionsbürgers oder seiner Familienangehörigen, ungeachtet ihrer Staatsangehörigkeit, aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit beschränken. Diese Gründe dürfen nicht zu wirtschaftlichen Zwecken geltend gemacht werden.
(2) Bei Maßnahmen aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit ist der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu wahren und darf ausschließlich das persönliche Verhalten des Betroffenen ausschlaggebend sein. Strafrechtliche Verurteilungen allein können ohne Weiteres diese Maßnahmen nicht begründen.
Das persönliche Verhalten muss eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr darstellen, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt. Vom Einzelfall losgelöste oder auf Generalprävention verweisende Begründungen sind nicht zulässig.
…“
16 In Art. 28 („Schutz vor Ausweisung“) der Richtlinie heißt es:
„(1) Bevor der Aufnahmemitgliedstaat eine Ausweisung aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit verfügt, berücksichtigt er insbesondere die Dauer des Aufenthalts des Betroffenen im Hoheitsgebiet, sein Alter, seinen Gesundheitszustand, seine familiäre und wirtschaftliche Lage, seine soziale und kulturelle Integration im Aufnahmemitgliedstaat und das Ausmaß seiner Bindungen zum Herkunftsstaat.
(2) Der Aufnahmemitgliedstaat darf gegen Unionsbürger oder ihre Familienangehörigen, ungeachtet ihrer Staatsangehörigkeit, die das Recht auf Daueraufenthalt in seinem Hoheitsgebiet genießen, eine Ausweisung nur aus schwerwiegenden Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit verfügen.
…“
17 Art. 30 („Mitteilung der Entscheidungen“) der Richtlinie lautet:
„(1) Entscheidungen nach Artikel 27 Absatz 1 müssen dem Betroffenen schriftlich in einer Weise mitgeteilt werden, dass er deren Inhalt und Wirkung nachvollziehen kann.
(2) Dem Betroffenen sind die Gründe der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit, die der ihn betreffenden Entscheidung zugrunde liegen, genau und umfassend mitzuteilen, es sei denn, dass Gründe der Sicherheit des Staates dieser Mitteilung entgegenstehen.
(3) In der Mitteilung ist anzugeben, bei welchem Gericht oder bei welcher Verwaltungsbehörde der Betroffene einen Rechtsbehelf einlegen kann, innerhalb welcher Frist der Rechtsbehelf einzulegen ist und gegebenenfalls binnen welcher Frist er das Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats zu verlassen hat. Außer in ordnungsgemäß begründeten dringenden Fällen muss die Frist zum Verlassen des Hoheitsgebiets mindestens einen Monat, gerechnet ab dem Zeitpunkt der Mitteilung, betragen.“
18 Art. 31 („Verfahrensgarantien“) der Richtlinie 2004/38 sieht vor:
„(1) Gegen eine Entscheidung aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit müssen die Betroffenen einen Rechtsbehelf bei einem Gericht und gegebenenfalls bei einer Behörde des Aufnahmemitgliedstaats einlegen können.
(2) Wird neben dem Rechtsbehelf gegen die Entscheidung, mit der die Ausweisung verfügt wurde, auch ein Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz gestellt, um die Vollstreckung dieser Entscheidung auszusetzen, so darf die Abschiebung aus dem Hoheitsgebiet nicht erfolgen, solange nicht über den Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz entschieden wurde, es sei denn,
–
die Entscheidung, mit der die Ausweisung verfügt wird, stützt sich auf eine frühere gerichtliche Entscheidung, oder
–
die Betroffenen hatten bereits früher die Möglichkeit, eine gerichtliche Überprüfung zu beantragen, oder
–
die Entscheidung, mit der die Ausweisung verfügt wird, beruht auf zwingenden Gründen der öffentlichen Sicherheit nach Artikel 28 Absatz 3.
(3) Im Rechtsbehelfsverfahren sind die Rechtmäßigkeit der Entscheidung sowie die Tatsachen und die Umstände, auf denen die Entscheidung beruht, zu überprüfen. Es gewährleistet, dass die Entscheidung insbesondere im Hinblick auf die Erfordernisse gemäß Artikel 28 nicht unverhältnismäßig ist.
(4) Die Mitgliedstaaten können dem Betroffenen verbieten, sich während des anhängigen Rechtsbehelfsverfahrens in ihrem Hoheitsgebiet aufzuhalten, dürfen ihn jedoch nicht daran hindern, sein Verfahren selbst zu führen, es sei denn, die öffentliche Ordnung oder Sicherheit können durch sein persönliches Erscheinen ernsthaft gestört werden oder der Rechtsbehelf richtet sich gegen die Verweigerung der Einreise in das Hoheitsgebiet.“
Irisches Recht
19 Die irischen Rechtsvorschriften zur Umsetzung der Richtlinie 2004/38 sind in den European Communities (Free Movement of Persons) Regulations 2015 (Verordnung von 2015 über die Freizügigkeit in den Europäischen Gemeinschaften) enthalten, die ab dem 1. Februar 2016 an die Stelle der European Communities (Free Movement of Persons) (No 2) Regulations 2006 (Verordnung Nr. 2 von 2006 über die Freizügigkeit in den Europäischen Gemeinschaften) vom 18. Dezember 2006 (im Folgenden: Regulations 2006) getreten sind.
20 Regulation 20 der Regulations 2006 regelte die Befugnis des Ministers zum Erlass sogenannter „removal orders“ (Ausweisungsverfügungen).
21 Der Immigration Act 1999 (Einwanderungsgesetz von 1999, im Folgenden: Gesetz von 1999) enthält Vorschriften des nationalen Ausländerrechts, die außerhalb des Geltungsbereichs der Richtlinie 2004/38 anwendbar sind.
22 Section 3 des Gesetzes von 1999 regelt die Befugnis des Ministers zum Erlass sogenannter „deportation orders“ (Abschiebungsverfügungen).
23 Nach Section 3(1) des Gesetzes von 1999 kann der Minister eine Abschiebungsverfügung erlassen, „um einem in der Verfügung genannten Ausländer aufzugeben, binnen einer darin angegebenen Frist das Staatsgebiet zu verlassen und nicht wieder einzureisen“.
24 Nach Section 3(2)(h) und (i) des Gesetzes von 1999 kann eine Abschiebungsverfügung gegen Personen ergehen, die „nach Auffassung des Ministers gegen eine ihnen auferlegte Beschränkung oder Bedingung hinsichtlich der Landung oder der Ankunft im Hoheitsgebiet oder der Genehmigung zum Aufenthalt im Hoheitsgebiet verstoßen haben“ oder „deren Abschiebung nach Auffassung des Ministers dem Gemeinwohl förderlich wäre“.
25 Nach Section 3(3)(a) des Gesetzes von 1999 muss der Minister, wenn er eine Abschiebungsverfügung erlassen will, den Betroffenen schriftlich von seiner Absicht und den Gründen dafür unterrichten.
26 Nach Section 3(4) des Gesetzes von 1999 muss die Unterrichtung über diese Absicht u. a. folgende Angaben enthalten:
–
den Hinweis, dass der Betroffene binnen fünfzehn Werktagen Stellung nehmen kann;
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den Hinweis, dass der Betroffene den Staat freiwillig verlassen kann, bevor der Minister in der Sache entscheidet, und den Hinweis, dass der Betroffene den Minister über die zum Verlassen des Hoheitsgebiets getroffenen Vorkehrungen unterrichten soll;
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den Hinweis, dass der Betroffene binnen fünfzehn Werktagen dem Erlass einer Abschiebungsverfügung zustimmen kann und dass der Minister im Anschluss daran die Abschiebung des Betroffenen in die Wege leiten wird, sobald dies praktikabel ist.
27 Eine einmal erlassene Abschiebungsverfügung bleibt für unbestimmte Zeit in Kraft. Der Betroffene kann jedoch gemäß Section 3(11) des Gesetzes von 1999 beantragen, die Verfügung zu ändern oder zu widerrufen. Bei der Prüfung eines solchen Antrags muss der Minister darüber entscheiden, ob der Antragsteller dargetan hat, dass seit dem Erlass dieser Verfügung eine ihren Widerruf rechtfertigende Änderung von Umständen eingetreten ist. Dies kann u. a. der Fall sein, wenn der Betroffene ein Familienangehöriger eines Unionsbürgers ist, der in Irland die ihm durch das Unionsrecht verliehene Freizügigkeit in Anspruch nimmt.
Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefragen
28 Frau Chenchooliah, eine Staatsangehörige von Mauritius, kam etwa im Februar 2005 mit einem Studentenvisum nach Irland und lebte dort aufgrund einer Reihe von Aufenthaltstiteln bis zum 7. Februar 2012.
29 Am 13. September 2011 heiratete sie einen in Irland lebenden portugiesischen Staatsangehörigen.
30 Mit Schreiben vom 2. Februar 2012 beantragte sie, ihr als Ehegattin eines Unionsbürgers eine Aufenthaltskarte auszustellen.
31 In der Folge ersuchte der Minister Frau Chenchooliah mehrfach um zusätzliche Informationen, die sie mit Schreiben vom 25. Mai 2012 teilweise erteilte. Mit Schreiben vom 27. August 2012 beantragte sie eine zusätzliche Frist für die Vorlage eines Arbeitsvertrags und brachte vor, ihr Ehegatte habe gerade eine Arbeit aufgenommen.
32 Mit Entscheidung vom 11. September 2012 lehnte der Minister den Antrag von Frau Chenchooliah auf Ausstellung einer Aufenthaltskarte mit folgender Begründung ab:
„Sie haben nicht nachgewiesen, dass der Unionsbürger im Inland eine wirtschaftliche Tätigkeit ausübt, so dass der Minister nicht davon überzeugt ist, dass der Unionsbürger [seine] Rechte im Einklang mit den Erfordernissen von Regulation 6(2)(a) der Regulations [von 2006] wahrnimmt, indem er unselbständig oder selbständig tätig ist, ein Studium absolviert, unfreiwillig arbeitslos ist oder über ausreichende Existenzmittel verfügt. Folglich sind Sie nicht nach Regulation 6(2)(b) der Regulations [von 2006] zum Aufenthalt [in Irland] berechtigt.“
33 Mit Schreiben vom 15. Oktober 2012 legte Frau Chenchooliah Nachweise dafür vor, dass ihr Ehegatte zwei Wochen lang in einem Restaurant gearbeitet hatte, und beantragte eine Verlängerung der Frist für die Einreichung eines Antrags auf Überprüfung der Entscheidung vom 11. September 2012.
34 Mit Schreiben vom 31. Oktober 2012 stimmte der Minister der Fristverlängerung zu. In der Folge forderte er zusätzliche Informationen an und wies darauf hin, dass die Akte der für Ausweisungen zuständigen Stelle übermittelt würde, falls die Informationen nicht innerhalb von zehn Werktagen übermittelt würden.
35 Da Frau Chenchooliah fast zwei Jahre lang keine neuen Informationen lieferte, wurde die Entscheidung vom 11. September 2012 bestandskräftig.
36 Mit einem unmittelbar an den Minister gerichteten Schreiben vom 17. Juli 2014 teilte Frau Chenchooliah mit, dass sich ihr Ehegatte nach einer strafrechtlichen Verurteilung seit dem 16. Juni 2014 in Portugal in Haft befinde, und beantragte, ihr aufgrund ihrer persönlichen Lage den Verbleib in Irland zu gestatten.
37 Mit Schreiben vom 3. September 2014 unterrichtete der Minister Frau Chenchooliah darüber, dass erwogen werde, ihre Ausweisung zu verfügen, weil ihr Ehegatte sich als Unionsbürger für mehr als drei Monate in Irland aufgehalten habe, ohne die Erfordernisse von Regulation 6(2) der Regulations 2006 – einer Bestimmung zur Umsetzung von Art. 7 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38 in irisches Recht – zu erfüllen, so dass sie nicht mehr das Recht habe, in Irland zu bleiben.
38 Mit Schreiben vom 26. November 2015 ersuchten die Anwälte von Frau Chenchooliah den Minister, ihr im Rahmen des ihm nach irischem Recht zustehenden Ermessens eine Aufenthaltsgenehmigung zu erteilen, wobei sie u. a. ihren langen Aufenthalt in Irland, ihren beruflichen Werdegang und ihre Beschäftigungsaussichten anführten.
39 Mit Schreiben vom 15. November 2016 teilte der Minister Frau Chenchooliah mit, dass er entschieden habe, keine Ausweisung zu verfügen, sondern ein Abschiebungsverfahren nach Section 3 des Einwanderungsgesetzes von 1999 einzuleiten.
40 Diesem Schreiben war ein Entwurf einer Abschiebungsverfügung beigefügt, zu dem Frau Chenchooliah um Stellungnahme ersucht wurde. Der Entwurf beruht darauf, dass der Aufenthalt von Frau Chenchooliah in Irland seit dem 7. Februar 2012 rechtswidrig sei und dass ihre Abschiebung nach Auffassung des Ministers dem Gemeinwohl förderlich wäre.
41 Dem Schreiben war auch eine frühere Entscheidung vom 21. Oktober 2016 beigefügt, mit der bestätigt wurde, dass davon abgesehen worden sei, aufgrund der Regulations 2006 und der Übergangsbestimmungen der European Communities (Free Movement of Persons) Regulations 2015 die Ausweisung von Frau Chenchooliah zu verfügen.
42 Am 12. Dezember 2016 gestattete das vorlegende Gericht Frau Chenchooliah, zu beantragen, dass die Entscheidung vom 21. Oktober 2016 gerichtlich überprüft wird und dass dem Minister untersagt wird, ihre Abschiebung zu verfügen. Das vorlegende Gericht hat außerdem vorläufige Maßnahmen erlassen, um den Fortgang des Verfahrens zur Abschiebung von Frau Chenchooliah vor einer Entscheidung über ihren Rechtsbehelf zu verhindern.
43 Nach Ansicht des vorlegenden Gerichts hat sich der Gerichtshof noch nicht zu der Frage geäußert, ob in einer Situation wie der vorliegenden, in der ein Unionsbürger zur Verbüßung einer Freiheitsstrafe in den Mitgliedstaat zurückgekehrt ist, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, und daher im Aufnahmemitgliedstaat von seiner unionsrechtlich gewährleisteten Freizügigkeit keinen Gebrauch mehr macht, ein mit diesem Unionsbürger verheirateter Drittstaatsangehöriger als „Berechtigter“ im Sinne von Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 weiterhin in den Geltungsbereich der Richtlinie fällt, so dass seine Ausweisung aus dem Aufnahmemitgliedstaat, in dem er sich nunmehr rechtswidrig aufhält, u. a. durch die Art. 27, 28 und 31 der Richtlinie geregelt wird.
44 Der High Court (Hoher Gerichtshof, Irland) verweist in diesem Zusammenhang auf sein Urteil vom 29. April 2014, in dem in einer dem Ausgangsverfahren entsprechenden Situation entschieden wurde, dass diese Frage zu bejahen ist. Nach seinem Urteil lässt sich diese Lösung auf die Rechtsprechung des Gerichtshofs und insbesondere auf das Urteil vom 25. Juli 2008, Metock u. a. (C‑127/08, EU:C:2008:449), stützen.
45 Das vorlegende Gericht führt aus, dass die etwaigen Erkenntnisse, die aus dem Urteil für die vorliegende Rechtssache gezogen werden könnten, vor ihm erörtert worden seien.
46 So habe der Minister u. a. beanstandet, dass das Urteil die wesentliche Tatsache außer Acht lasse, dass der Familienangehörige eines Unionsbürgers nicht in den Geltungsbereich der Richtlinie 2004/38 falle, wenn der Unionsbürger sein Freizügigkeitsrecht gegenwärtig nicht tatsächlich ausübe. In einem solchen Fall werde eine Entscheidung, die Ausweisung dieses Familienangehörigen zu verfügen, nicht durch die Bestimmungen des Kapitels VI der Richtlinie geregelt, sondern durch das außerhalb ihres Geltungsbereichs anwendbare nationale Recht.
47 Darüber hinaus müsste er bei gegenteiliger Auslegung den Nachweis erbringen, dass der Betreffende einer Gefahr für die öffentliche Ordnung oder die öffentliche Sicherheit darstelle; dies würde die Ausweisung drittstaatsangehöriger Ehegatten von Unionsbürgern, die vielleicht nur zu einer bestimmten Zeit über ein vorübergehendes Aufenthaltsrecht aufgrund der Tätigkeit ihrer Ehegatten im Aufnahmemitgliedstaat verfügt hätten, unabhängig von der aktuellen Tätigkeit der Unionsbürger oder dem möglicherweise sogar außerhalb der Union befindlichen Ort, an dem sie sich nunmehr aufhielten, sehr schwierig oder praktisch unmöglich machen.
48 Dagegen hat Frau Chenchooliah vor dem vorlegenden Gericht vorgebracht, dass dessen Urteil vom 29. April 2014 ihren Standpunkt bestätige, wonach sie als Person, die zu einem bestimmten Zeitpunkt aufgrund ihrer Eheschließung über ein zumindest vorübergehendes dreimonatiges Aufenthaltsrecht nach Art. 6 der Richtlinie 2004/38 verfügt habe, weiterhin in den Geltungsbereich der Richtlinie falle und daher nur im Einklang mit den darin vorgesehenen Vorschriften und Garantien, darunter denen in ihren Art. 27 und 28, aus dem Aufnahmemitgliedstaat ausgewiesen werden könne.
49 Unter diesen Umständen hat der High Court (Hoher Gerichtshof) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
1. Wenn dem Ehegatten eines Unionsbürgers, der Freizügigkeitsrechte nach Art. 6 der Richtlinie 2004/38 ausgeübt hat, ein Aufenthaltsrecht nach Art. 7 der Richtlinie verweigert worden ist, weil der fragliche Unionsbürger im betreffenden Aufnahmemitgliedstaat keine Rechte aus dem EU-Vertrag ausübt oder sie nicht mehr ausübt, und die Absicht besteht, den Ehegatten aus dem Mitgliedstaat auszuweisen, muss dann die Ausweisung mit den Vorschriften der Richtlinie im Einklang stehen, oder fällt sie in die Zuständigkeit des nationalen Rechts des Mitgliedstaats?
2. Sollte die Antwort auf die vorstehende Frage lauten, dass die Ausweisung mit den Vorschriften der Richtlinie 2004/38 im Einklang stehen muss, muss dann die Ausweisung mit den Anforderungen von Kapitel VI der Richtlinie und insbesondere ihrer Art. 27 und 28 im Einklang stehen, oder darf sich der Mitgliedstaat unter solchen Umständen auf andere Vorschriften der Richtlinie stützen, insbesondere ihre Art. 14 und 15?
Zu den Vorlagefragen
50 Mit seinen beiden Fragen, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die Bestimmungen des Kapitels VI der Richtlinie 2004/38, insbesondere deren Art. 27 und 28, sowie die Art. 14 und 15 der Richtlinie dahin auszulegen sind, dass sie auf eine Entscheidung anwendbar ist, mit der in einer Situation wie der des Ausgangsverfahrens, in der ein Drittstaatsangehöriger einen Unionsbürger zu einem Zeitpunkt heiratete, als dieser von seinem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch machte, indem er sich in den Aufnahmemitgliedstaat begab und sich dort mit dem Drittstaatsangehörigen aufhielt, anschließend aber in den Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, zurückkehrte, die Ausweisung des Drittstaatsangehörigen verfügt wird, weil er nicht mehr über ein Aufenthaltsrecht nach der Richtlinie verfügt.
51 Vor der Prüfung dieser Fragen ist zunächst deren Tragweite abzugrenzen.
52 Im vorliegenden Fall beansprucht Frau Chenchooliah, eine Drittstaatsangehörige, kein vom Aufenthaltsrecht ihres Ehegatten, eines Unionsbürgers, abgeleitetes Recht auf Aufenthalt nach der Richtlinie 2004/38. Ihr Antrag auf Zuerkennung eines solchen Rechts nach Art. 7 der Richtlinie wurde nämlich mit einer bestandskräftigen Entscheidung abgelehnt, die von ihr nicht angefochten wird.
53 Sie macht vielmehr geltend, dass ihr nunmehr rechtswidriger Aufenthalt in Irland, dem Aufnahmemitgliedstaat, nicht zum Erlass einer – von Amts wegen mit einem unbefristeten Verbot der Einreise nach Irland einhergehenden – Abschiebungsverfügung nach Section 3 des Einwanderungsgesetzes von 1999 berechtige, sondern nur zu einer Ausweisungsverfügung führen könne, die unter Beachtung des ihr durch die Richtlinie 2004/38 und insbesondere deren Art. 27 und 28 gewährten Schutzes zu erlassen sei.
54 Nach dieser Klarstellung ist zunächst darauf hinzuweisen, dass nach Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 nur Unionsbürger, die sich in einen anderen als den Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzen, begeben oder sich dort aufhalten, sowie ihre Familienangehörigen im Sinne von Art. 2 Nr. 2 der Richtlinie, die sie begleiten oder ihnen nachziehen, in den Geltungsbereich der Richtlinie fallen und Berechtigte der durch sie gewährten Rechte sind (Urteil vom 14. November 2017, Lounes, C‑165/16, EU:C:2017:862‚ Rn. 34 und die dort angeführte Rechtsprechung).
55 Im vorliegenden Fall steht fest, dass der Ehegatte von Frau Chenchooliah, ein portugiesischer Staatsangehöriger und damit ein Unionsbürger, von seinem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch machte, indem er Portugal verließ und sich in einen anderen Mitgliedstaat, und zwar nach Irland, begab und sich dort aufhielt.
56 Unstreitig ist auch, dass sich Frau Chenchooliah aufgrund dessen, dass sie diesen Unionsbürger heiratete, als er von seinem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch machte, eine Zeit lang kraft des abgeleiteten Aufenthaltsrechts, das den Familienangehörigen eines Unionsbürgers nach Art. 6 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38 zusteht, mit ihrem Ehemann in Irland aufhielt.
57 Im Übrigen ist es unerheblich, dass Frau Chenchooliah nach Irland einreiste, bevor ihr Ehemann es tat und bevor sie seine Familienangehörige wurde, da feststeht, dass sie sich mit ihrem Ehegatten im Aufnahmemitgliedstaat aufhielt.
58 Wie der Gerichtshof nämlich bereits festgestellt hat, muss der Begriff „Familienangehörige [eines Unionsbürgers], die ihn begleiten“ in Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 dahin ausgelegt werden, dass er sowohl die Familienangehörigen eines Unionsbürgers umfasst, die mit ihm in den Aufnahmemitgliedstaat eingereist sind, als auch diejenigen, die sich mit ihm dort aufhalten, ohne dass im letztgenannten Fall danach zu unterscheiden wäre, ob die Drittstaatsangehörigen vor oder nach dem Unionsbürger in den Aufnahmemitgliedstaat eingereist sind oder bevor oder nachdem sie Angehörige seiner Familie wurden (Urteil vom 25. Juli 2008, Metock u. a., C‑127/08, EU:C:2008:449‚ Rn. 93).
59 Seit der Rückkehr ihres Ehemanns nach Portugal ist Frau Chenchooliah jedoch keine „Berechtigte“ im Sinne von Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 mehr.
60 Da Frau Chenchooliah in Irland blieb, wo sie sich nicht mehr mit ihrem portugiesischen Ehegatten aufhält, der zwar in der Vergangenheit von seinem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch gemacht hatte, indem er sich nach Irland begab und dort eine Zeit lang mit ihr aufhielt, erfüllt sie nämlich nicht mehr das in Art. 3 Abs. 1 aufgestellte Erfordernis, dass sie einen Unionsbürger begleitete oder ihm nachzog.
61 Wie der Gerichtshof ausgeführt hat, entspricht dieses Erfordernis, das u. a. auch in Art. 6 Abs. 2 und in Art. 7 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38 enthalten ist, dem Zweck und der Rechtfertigung der abgeleiteten Rechte auf Einreise und Aufenthalt, die diese Richtlinie für die Familienangehörigen der Unionsbürger vorsieht. Der Zweck und die Rechtfertigung dieser abgeleiteten Rechte beruhen nämlich darauf, dass ihre Nichtanerkennung insbesondere die tatsächliche Ausübung des Freizügigkeitsrechts durch den betreffenden Unionsbürger sowie die Ausübung und die praktische Wirksamkeit der Rechte, die ihm nach Art. 21 Abs. 1 AEUV zustehen, beeinträchtigen könnte (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 8. November 2012, Iida, C‑40/11, EU:C:2012:691, Rn. 62 und 63, sowie vom 14. November 2017, Lounes, C‑165/16, EU:C:2017:862, Rn. 48).
62 Überdies ist der Begriff „Berechtigter“ im Sinne von Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 insofern ein dynamischer Begriff, als diese Eigenschaft, auch wenn sie in der Vergangenheit erworben wurde, später verloren gehen kann, wenn die in der genannten Bestimmung aufgestellten Voraussetzungen nicht mehr erfüllt sind (vgl. entsprechend Urteil vom 14. November 2017, Lounes, C‑165/16, EU:C:2017:862‚ Rn. 38 bis 42).
63 In diesem Zusammenhang hat der Gerichtshof entschieden, dass es einer Beschränkung de Rechte auf Einreise und Aufenthalt von Familienangehörigen eines Unionsbürgers auf den Mitgliedstaat, in dem dieser sich aufhält, gleichkäme, wenn die Richtlinie 2004/38 nur auf Familienangehörige eines Unionsbürgers, die ihn „begleiten“ oder ihm „nachziehen“, angewandt würde (Urteil vom 25. Juli 2008, Metock u. a., C‑127/08, EU:C:2008:449‚ Rn. 94).
64 Der Gerichtshof hat hinzugefügt, dass der Aufnahmemitgliedstaat die aufgrund der Richtlinie 2004/38 bestehenden Rechte eines Drittstaatsangehörigen, als Familienangehöriger eines Unionsbürgers in den Aufnahmemitgliedstaat einzureisen und sich dort aufzuhalten, nur unter Beachtung der Art. 27 und 35 dieser Richtlinie beschränken darf (Urteil vom 25. Juli 2008, Metock u. a., C‑127/08, EU:C:2008:449‚ Rn. 95).
65 Sofern sich der Drittstaatsangehörige, der mit einem von seinem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch machenden Unionsbürger verheiratet ist, mit diesem Unionsbürger im Aufnahmemitgliedstaat aufhält und daher ein „Berechtigter“ im Sinne von Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 ist, darf das dem Drittstaatsangehörigen nach der Richtlinie – insbesondere nach ihrem Art. 7 Abs. 2 – zustehende Aufenthaltsrecht somit nur unter Beachtung insbesondere ihrer Art. 27 und 35 beschränkt werden.
66 Eine solche Situation unterscheidet sich jedoch von der des Ausgangsverfahrens, die dadurch gekennzeichnet ist, dass sich die betreffende Drittstaatsangehörige nach der Ausreise ihres Ehegatten, eines Unionsbürgers, nicht mehr mit ihm im Aufnahmemitgliedstaat aufhält, und ihr ein Aufenthaltsrecht nach Art. 7 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38 verweigert wurde. Daher steht ihr kein Aufenthaltsrecht nach der Richtlinie mehr zu, da ihre Situation auch nicht zu den von den Art. 12 Abs. 2 und 13 Abs. 2 der Richtlinie erfassten Fällen der Aufrechterhaltung des Aufenthaltsrechts der Familienangehörigen eines Unionsbürgers, die nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats haben, gehört.
67 Folglich gelten die Ausführungen in Rn. 95 des Urteils vom 25. Juli 2008, Metock u. a. (C‑127/08, EU:C:2008:449)‚ nicht für die Situation des Ausgangsverfahrens.
68 Allerdings stellt sich die Frage, ob bei Frau Chenchooliah der Verlust der Eigenschaft als „Berechtigte“ im Sinne von Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 bedeutet, dass eine Ausweisungsverfügung, die im Wesentlichen mit der Versagung eines Aufenthaltsrechts nach Art. 7 Abs. 2 der Richtlinie begründet wird, nicht unter die Richtlinie fällt, sondern nur unter das außerhalb ihres Geltungsbereichs anwendbare nationale Recht.
69 Dies ist zu verneinen.
70 Insoweit ist festzustellen, dass die Richtlinie 2004/38 nicht nur Vorschriften zur Regelung der Voraussetzungen für die Gewährung einer der verschiedenen von ihr vorgesehenen Arten von Aufenthaltsrechten sowie der Voraussetzungen enthält, die erfüllt sein müssen, um weiterhin in den Genuss der betreffenden Rechte kommen zu können. Die Richtlinie enthält außerdem eine Reihe von Vorschriften zur Regelung der Situation, die sich aus dem Verlust eines dieser Rechte ergibt, insbesondere im Fall des Wegzugs des Unionsbürgers aus dem Aufnahmemitgliedstaat.
71 So bestimmt Art. 15 („Verfahrensgarantien“) der Richtlinie 2004/38 in Abs. 1, dass die Verfahren ihrer Art. 30 und 31 sinngemäß auf jede Entscheidung Anwendung finden, die die Freizügigkeit von Unionsbürgern und ihren Familienangehörigen beschränkt und nicht aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit erlassen wird.
72 Außerdem darf nach Art. 15 Abs. 3 der Richtlinie 2004/38 eine solche Entscheidung, mit der die Ausweisung verfügt wird, nicht mit einem Einreiseverbot des Aufnahmemitgliedstaats einhergehen.
73 Schon nach dem Wortlaut des Art. 15 der Richtlinie 2004/38 – will man dieser Bestimmung nicht einen großen Teil ihres Inhalts und ihrer praktischen Wirksamkeit nehmen – erfasst ihr Geltungsbereich eine Ausweisungsverfügung, die wie im Ausgangsverfahren aus Gründen ergeht, die nicht mit einer Gefahr für die öffentliche Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit zusammenhängen, sondern damit, dass ein Familienangehöriger eines Unionsbürgers, der in der Vergangenheit über ein vorübergehendes Aufenthaltsrecht nach der Richtlinie 2004/38 verfügte, das sich aus der Ausübung des Rechts auf Freizügigkeit durch den Unionsbürger ableitete, nach dem Wegzug des Unionsbürgers aus dem Aufnahmemitgliedstaat und seiner Rückkehr in den Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, gegenwärtig nicht mehr über ein solches Aufenthaltsrecht verfügt.
74 Diese Bestimmung, die zu Kapitel III („Aufenthaltsrecht“) der Richtlinie 2004/38 gehört, regelt nämlich den Fall, dass ein aufgrund der Richtlinie bestehendes Recht zum vorübergehenden Aufenthalt endet, insbesondere wenn ein Unionsbürger oder ein Angehöriger seiner Familie, dem in der Vergangenheit ein Recht auf Aufenthalt von bis zu drei Monaten oder für mehr als drei Monate nach Art. 6 bzw. Art. 7 der Richtlinie zustand, die Voraussetzungen für das betreffende Aufenthaltsrecht nicht mehr erfüllt und daher vom Aufnahmemitgliedstaat grundsätzlich ausgewiesen werden darf.
75 Im vorliegenden Fall hatte Frau Chenchooliah nach ihrer Eheschließung mit einem Unionsbürger, der in Irland von seinem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch machte, eine Zeit lang ein Recht auf Aufenthalt in diesem Mitgliedstaat nach Art. 6 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38.
76 Nach dem Wegzug ihres Ehegatten verlor sie dieses Aufenthaltsrecht jedoch, da sie nicht mehr die Voraussetzung erfüllte, dass sie einen von seinem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch machenden Unionsbürger begleitete oder ihm nachzog, was zur Ablehnung ihres Antrags auf Gewährung eines Aufenthaltsrechts nach Art. 7 der Richtlinie führte.
77 Da eine solche Situation – wie in Rn. 66 des vorliegenden Urteils ausgeführt – nicht zu den von den Art. 12 Abs. 2 und 13 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38 erfassten Fällen der Aufrechterhaltung des Aufenthaltsrechts der Familienangehörigen eines Unionsbürgers, die nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzen, gehört, darf der Aufnahmemitgliedstaat nach Art. 15 der Richtlinie gegenüber Frau Chenchooliah eine Ausweisungsverfügung erlassen. Eine solche Ausweisungsverfügung darf jedoch nur unter Beachtung der in dieser Bestimmung aufgestellten Anforderungen ergehen.
78 Wie auch der Generalanwalt in Nr. 75 seiner Schlussanträge im Wesentlichen ausgeführt hat, ist diese Feststellung in einer Situation wie der des Ausgangsverfahrens nicht unvereinbar damit, dass die betreffende Person die Eigenschaft als „Berechtigte“ im Sinne von Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 verloren hat.
79 Der Verlust dieser Eigenschaft hat nämlich zur Folge, dass der betreffenden Person die Rechte auf Freizügigkeit und Aufenthalt im Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats, die sie eine Zeit lang besaß, nicht mehr zustehen, da sie nicht mehr die Voraussetzungen erfüllt, von denen diese Rechte abhängen. Wie sich aus Rn. 74 des vorliegenden Urteils ergibt, bedeutet dieser Verlust dagegen nicht, dass die Richtlinie 2004/38 nicht mehr auf den Erlass einer Entscheidung des Aufnahmemitgliedstaats anwendbar ist, mit der aus diesem Grund die Ausweisung der betreffenden Person verfügt wird.
80 Hinsichtlich der Folgen der Anwendbarkeit von Art. 15 der Richtlinie 2004/38 auf eine Situation wie die des Ausgangsverfahrens ergibt sich aus Art. 15 Abs. 1, dass die Garantien der Art. 30 und 31 der Richtlinie „sinngemäß“ Anwendung finden.
81 Das Wort „sinngemäß“ ist so zu verstehen, dass die Bestimmungen der Art. 30 und 31 der Richtlinie 2004/38 im Rahmen ihres Art. 15 nur dann Anwendung finden, wenn sie – gegebenenfalls nach den erforderlichen Anpassungen – tatsächlich auf Entscheidungen angewandt werden können, die aus anderen Gründen als denen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit getroffen wurden.
82 Dies ist bei Art. 30 Abs. 2, Art. 31 Abs. 2 dritter Gedankenstrich und Art. 31 Abs. 4 der Richtlinie 2004/38 jedoch nicht der Fall.
83 Diese Bestimmungen, deren Anwendung strikt auf Ausweisungsverfügungen aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit beschränkt bleiben muss, sind daher auf die von Art. 15 der Richtlinie 2004/38 erfassten Ausweisungsverfügungen nicht anwendbar.
84 Hinsichtlich der Bestimmungen der Art. 30 und 31 der Richtlinie 2004/38, die im Rahmen ihres Art. 15 anwendbar sind, und insbesondere in Bezug auf ihren Art. 31 Abs. 1 und das nach dieser Vorschrift zu gewährleistende Recht auf Einlegung eines Rechtsbehelfs bei einem Gericht ist darauf hinzuweisen, dass die Verfahrensmodalitäten dieser den Schutz der durch die Richtlinie 2004/38 verliehenen Rechte gewährleistenden Rechtsbehelfe, da sie zur „Durchführung des Rechts der Union“ im Sinne von Art. 51 Abs. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union dienen, u. a. die Anforderungen erfüllen müssen, die sich aus dem Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf im Sinne von Art. 47 der Charta ergeben.
85 Außerdem müssen nach Art. 31 Abs. 3 der Richtlinie 2004/38, der im Rahmen ihres Art. 15 anwendbar ist, die Rechtsbehelfsverfahren nicht nur eine Überprüfung der Rechtmäßigkeit der betreffenden Entscheidung sowie der Tatsachen und Umstände, auf denen sie beruht, ermöglichen, sondern auch gewährleisten, dass die fragliche Entscheidung nicht unverhältnismäßig ist.
86 Ferner ist darauf hinzuweisen, dass in Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 nur von der sinngemäßen Anwendung ihrer Art. 30 und 31 die Rede ist, so dass andere Bestimmungen des Kapitels VI der Richtlinie, wie deren Art. 27 und 28, im Rahmen des Erlasses einer Entscheidung nach Art. 15 nicht anwendbar sind.
87 Wie in Rn. 65 des vorliegenden Urteils ausgeführt, sind die Bestimmungen der Art. 27 und 28 der Richtlinie 2004/38 nämlich nur anwendbar, wenn der betreffenden Person gegenwärtig ein Recht auf Aufenthalt im Aufnahmemitgliedstaat – sei es vorübergehend oder dauerhaft – nach der Richtlinie zusteht (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 25. Juli 2008, Metock u. a., C‑127/08, EU:C:2008:449, Rn. 95).
88 Schließlich ist hervorzuheben, dass die Ausweisungsverfügung, die im Ausgangsverfahren ergehen kann, nach Art. 15 Abs. 3 der Richtlinie 2004/38 nicht mit einem Einreiseverbot einhergehen darf.
89 Nach alledem ist auf die Vorlagefragen zu antworten, dass Art. 15 der Richtlinie 2004/38 dahin auszulegen ist, dass er auf eine Entscheidung anwendbar ist, mit der in einer Situation wie der des Ausgangsverfahrens, in der ein Drittstaatsangehöriger einen Unionsbürger zu einem Zeitpunkt heiratete, als dieser von seinem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch machte, indem er sich in den Aufnahmemitgliedstaat begab und sich dort mit dem Drittstaatsangehörigen aufhielt, anschließend aber in den Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, zurückkehrte, die Ausweisung des Drittstaatsangehörigen verfügt wird, weil er nicht mehr über ein Aufenthaltsrecht nach der Richtlinie verfügt. Folglich sind die einschlägigen in den Art. 30 und 31 der Richtlinie 2004/38 aufgestellten Garantien beim Erlass einer solchen Ausweisungsverfügung, die nicht mit einem Einreiseverbot einhergehen darf, heranzuziehen.
Kosten
90 Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Große Kammer) für Recht erkannt:
Art. 15 der Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 und zur Aufhebung der Richtlinien 64/221/EWG, 68/360/EWG, 72/194/EWG, 73/148/EWG, 75/34/EWG, 75/35/EWG, 90/364/EWG, 90/365/EWG und 93/96/EWG ist dahin auszulegen, dass er auf eine Entscheidung anwendbar ist, mit der in einer Situation wie der des Ausgangsverfahrens, in der ein Drittstaatsangehöriger einen Unionsbürger zu einem Zeitpunkt heiratete, als dieser von seinem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch machte, indem er sich in den Aufnahmemitgliedstaat begab und sich dort mit dem Drittstaatsangehörigen aufhielt, anschließend aber in den Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, zurückkehrte, die Ausweisung des Drittstaatsangehörigen verfügt wird, weil er nicht mehr über ein Aufenthaltsrecht nach der Richtlinie verfügt. Folglich sind die einschlägigen in den Art. 30 und 31 der Richtlinie 2004/38 aufgestellten Garantien beim Erlass einer solchen Ausweisungsverfügung, die nicht mit einem Einreiseverbot einhergehen darf, heranzuziehen.
Unterschriften
(*1) Verfahrenssprache: Englisch.
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Urteil des Gerichtshofs (Große Kammer) vom 12. März 2019.#M.G. Tjebbes u. a. gegen Minister van Buitenlandse Zaken.#Vorabentscheidungsersuchen des Raad van State (Niederlande).#Vorlage zur Vorabentscheidung – Unionsbürgerschaft – Art. 20 AEUV – Art. 7 und 24 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats und eines Drittstaats – Verlust der Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats und der Unionsbürgerschaft kraft Gesetzes – Folgen – Verhältnismäßigkeit.#Rechtssache C-221/17.
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62017CJ0221
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ECLI:EU:C:2019:189
| 2019-03-12T00:00:00 |
Gerichtshof, Mengozzi
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62017CJ0221
URTEIL DES GERICHTSHOFS (Große Kammer)
12. März 2019 (*1)
„Vorlage zur Vorabentscheidung – Unionsbürgerschaft – Art. 20 AEUV – Art. 7 und 24 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats und eines Drittstaats – Verlust der Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats und der Unionsbürgerschaft kraft Gesetzes – Folgen – Verhältnismäßigkeit“
In der Rechtssache C‑221/17
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Raad van State (Staatsrat, Niederlande) mit Entscheidung vom 19. April 2017, beim Gerichtshof eingegangen am 27. April 2017, in dem Verfahren
M. G. Tjebbes,
G. J. M. Koopman,
E. Saleh Abady,
L. Duboux
gegen
Minister van Buitenlandse Zaken
erlässt
DER GERICHTSHOF (Große Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten K. Lenaerts, der Kammerpräsidentin A. Prechal, des Kammerpräsidenten M. Vilaras, der Kammerpräsidentin K. Jürimäe und des Kammerpräsidenten C. Lycourgos (Berichterstatter) sowie der Richter A. Rosas, E. Juhász, J. Malenovský, E. Levits, L. Bay Larsen und D. Šváby,
Generalanwalt: P. Mengozzi,
Kanzler: M.‑A. Gaudissart, Hilfskanzler,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 24. April 2018,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
–
von Frau Tjebbes, vertreten durch A. van Rosmalen,
–
von Frau Koopman und Frau Duboux, vertreten durch E. Derksen, advocaat,
–
von Frau Saleh Abady, vertreten durch N. van Bremen, advocaat,
–
der niederländischen Regierung, vertreten durch M. K. Bulterman, H. S. Gijzen und J. Langer als Bevollmächtigte,
–
von Irland, vertreten durch M. Browne, L. Williams und A. Joyce als Bevollmächtigte,
–
der griechischen Regierung, vertreten durch T. Papadopoulou als Bevollmächtigte,
–
der Europäischen Kommission, vertreten durch H. Kranenborg und E. Montaguti als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 12. Juli 2018
folgendes
Urteil
1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Art. 20 und 21 AEUV sowie des Art. 7 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta).
2 Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen den Damen M. G. Tjebbes, G. J. M. Koopman, E. Saleh Abady sowie L. Duboux und dem Minister van Buitenlandse Zaken (Minister für auswärtige Angelegenheiten, Niederlande) (im Folgenden: Minister) wegen dessen Weigerung, ihren jeweiligen Antrag auf Erteilung eines nationalen Reisepasses zu prüfen.
Rechtlicher Rahmen
Völkerrecht
Übereinkommen zur Verminderung der Staatenlosigkeit
3 Das am 30. August 1961 in New York angenommene und am 13. Dezember 1975 in Kraft getretene Übereinkommen der Vereinten Nationen zur Verminderung der Staatenlosigkeit (im Folgenden: Übereinkommen zur Verminderung der Staatenlosigkeit) ist im Königreich der Niederlande seit dem 11. August 1985 anwendbar. Art. 6 dieses Übereinkommens bestimmt:
„Erstreckt sich nach dem Recht eines Vertragsstaats der Verlust oder Entzug der Staatsangehörigkeit einer Person auf den Ehegatten oder die Kinder, so ist für diese der Verlust vom Besitz oder Erwerb einer anderen Staatsangehörigkeit abhängig.“
4 Art. 7 Abs. 3 bis 6 des Übereinkommens sieht vor:
„(3) Vorbehaltlich der Absätze 4 und 5 verliert ein Staatsangehöriger eines Vertragsstaats weder wegen Verlassens des Landes, Auslandsaufenthaltes oder Verletzung einer Meldepflicht noch aus einem ähnlichen Grund seine Staatsangehörigkeit, wenn er dadurch staatenlos wird.
(4) Eine eingebürgerte Person kann auf Grund eines Auslandsaufenthaltes nach einer im Recht des Vertragsstaats festgesetzten Dauer, die nicht weniger als sieben aufeinanderfolgende Jahre betragen darf, ihre Staatsangehörigkeit verlieren, wenn sie es unterlässt, der zuständigen Behörde ihre Absicht mitzuteilen, sich ihre Staatsangehörigkeit zu erhalten.
(5) Für Staatsangehörige eines Vertragsstaats, die außerhalb seines Hoheitsgebiets geboren sind, kann das Recht dieses Staates die Erhaltung der Staatsangehörigkeit über den Ablauf eines Jahres nach Erreichung der Volljährigkeit hinaus davon abhängig machen, dass sie sich zu diesem Zeitpunkt in seinem Hoheitsgebiet aufhalten oder bei der zuständigen Behörde registriert sind.
(6) Mit Ausnahme der in diesem Artikel vorgesehenen Fälle verliert niemand die Staatsangehörigkeit eines Vertragsstaats, wenn er dadurch staatenlos würde, selbst wenn dieser Verlust durch keine andere Bestimmung dieses Übereinkommens ausdrücklich verboten ist.“
Europäisches Übereinkommen über die Staatsangehörigkeit
5 Das am 6. November 1997 im Rahmen des Europarats angenommene und am 1. März 2000 in Kraft getretene Europäische Übereinkommen über die Staatsangehörigkeit (im Folgenden: Übereinkommen über die Staatsangehörigkeit) ist seit dem 1. Juli 2001 im Königreich der Niederlande anwendbar. Art. 7 des Übereinkommens über die Staatsangehörigkeit bestimmt:
„1 Ein Vertragsstaat darf in seinem innerstaatlichen Recht nicht den Verlust der Staatsangehörigkeit kraft Gesetzes oder auf seine Veranlassung vorsehen, außer in folgenden Fällen:
…
e)
Fehlen einer echten Bindung zwischen dem Vertragsstaat und einem Staatsangehörigen mit gewöhnlichem Aufenthalt im Ausland;
…
2 Ein Vertragsstaat kann – außer in den Fällen des Absatzes 1 Buchstaben c und d – den Verlust seiner Staatsangehörigkeit für Kinder vorsehen, deren Eltern diese Staatsangehörigkeit verlieren. Kinder verlieren jedoch diese Staatsangehörigkeit nicht, wenn einer ihrer Elternteile sie beibehält.
…“
Unionsrecht
6 Art. 20 AEUV sieht vor:
„(1) Es wird eine Unionsbürgerschaft eingeführt. Unionsbürger ist, wer die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzt. Die Unionsbürgerschaft tritt zur nationalen Staatsbürgerschaft hinzu, ersetzt sie aber nicht.
(2) Die Unionsbürgerinnen und Unionsbürger haben die in den Verträgen vorgesehenen Rechte und Pflichten. Sie haben unter anderem
a)
das Recht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten;
…
c)
im Hoheitsgebiet eines Drittlands, in dem der Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzen, nicht vertreten ist, Recht auf Schutz durch die diplomatischen und konsularischen Behörden eines jeden Mitgliedstaats unter denselben Bedingungen wie Staatsangehörige dieses Staates;
…“
7 Gemäß Art. 7 der Charta hat jede Person das Recht auf Achtung ihres Privat- und Familienlebens, ihrer Wohnung sowie ihrer Kommunikation.
8 Art. 24 Abs. 2 der Charta sieht vor:
„…
Bei allen Kinder betreffenden Maßnahmen öffentlicher Stellen oder privater Einrichtungen muss das Wohl des Kindes eine vorrangige Erwägung sein.
…“
Niederländisches Recht
9 Art. 6 Abs. 1 Buchst. f der Rijkswet op het Nederlanderschap (Gesetz über die niederländische Staatsangehörigkeit, im Folgenden: RWN) sieht vor:
„Nach Abgabe einer entsprechenden schriftlichen Erklärung erwirbt durch eine Bestätigung im Sinne von Abs. 3 die niederländische Staatsangehörigkeit: … f. der volljährige Ausländer, der zu irgendeiner Zeit im Besitz der niederländischen Staatsangehörigkeit … war und seit mindestens einem Jahr einen unbefristeten Aufenthaltstitel sowie den gewöhnlichen Aufenthalt in … den Niederlanden … hat, sofern er die niederländische Staatsangehörigkeit nicht gemäß Art. 15 Abs. 1 Buchst. d oder f verloren hat.“
10 Art. 15 RWN bestimmt:
„(1) Ein Volljähriger verliert die niederländische Staatsangehörigkeit:
…
c)
wenn er zugleich eine ausländische Staatsangehörigkeit besitzt und während seiner Volljährigkeit während eines ununterbrochenen Zeitraums von zehn Jahren im Besitz beider Staatsangehörigkeiten seinen gewöhnlichen Aufenthalt außerhalb der Niederlande und der Gebiete hat, auf die der [EU-Vertrag] Anwendung findet;
…
(3) Die in Abs. 1 Buchst. c genannte Frist gilt als nicht unterbrochen, wenn die betreffende Person während eines Zeitraums, der kürzer als ein Jahr ist, ihren gewöhnlichen Aufenthalt in den Niederlanden … oder in den Gebieten hat, auf die der [EU-Vertrag] Anwendung findet.
(4) Die in Abs. 1 Buchst. c genannte Frist wird durch die Ausstellung einer Erklärung über den Besitz der niederländischen Staatsangehörigkeit oder eines Reisedokuments oder eines niederländischen Personalausweises im Sinne der Paspoortwet [(Passgesetz)] unterbrochen. Ab dem Tag der Ausstellung beginnt eine neue Frist von zehn Jahren.“
11 Art. 16 RWN bestimmt:
„(1) Ein Minderjähriger verliert die niederländische Staatsangehörigkeit,
…
d)
wenn sein Vater oder seine Mutter die niederländische Staatsbürgerschaft gemäß Art. 15 Abs. 1 Buchst. b, c oder d … verliert;
…
(2) Der Verlust der niederländischen Staatsangehörigkeit nach Abs. 1 tritt nicht ein,
a)
wenn und solange einer der Elternteile im Besitz der niederländischen Staatsangehörigkeit ist;
…
e)
wenn der Minderjährige in dem Land, dessen Staatsangehörigkeit er erworben hat, geboren wurde und im Zeitpunkt des Erwerbs der Staatsangehörigkeit dort seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat …;
f)
wenn der Minderjährige während eines ununterbrochenen Zeitraums von fünf Jahren in dem Land, dessen Staatsangehörigkeit er erworben hat, seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat oder gehabt hat …;
…“
12 Nach Art. IV der Rijkswet tot wijziging Rijkswet op het Nederlanderschap (verkrijging, verlening en verlies van het Nederlanderschap) (Gesetz zur Änderung des Gesetzes über die niederländische Staatsangehörigkeit [Erwerb, Verleihung und Verlust der niederländischen Staatsangehörigkeit]) vom 21. Dezember 2000 beginnt der Zehnjahreszeitraum im Sinne von Art. 15 Abs. 1 RWN erst am 1. April 2003.
Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefrage
13 Frau Tjebbes wurde am 29. August 1984 in Vancouver (Kanada) geboren und besitzt seit ihrer Geburt die niederländische und die kanadische Staatsangehörigkeit. Am 9. Mai 2003 wurde ihr ein niederländischer Pass ausgestellt. Die Gültigkeit dieses Passes endete am 9. Mai 2008. Am 25. April 2014 beantragte Frau Tjebbes einen Pass beim niederländischen Konsulat in Calgary (Kanada).
14 Frau Koopman wurde am 23. März 1967 in Hoorn (Niederlande) geboren. Am 21. Mai 1985 nahm sie ihren Wohnsitz in der Schweiz und heiratete am 7. April 1988 Herrn P. Duboux, der die Schweizer Staatsangehörigkeit besaß. Durch die Heirat erwarb Frau Koopman auch die Schweizer Staatsangehörigkeit. Sie besaß einen am 10. Juli 2000 ausgestellten nationalen Pass, der bis zum 10. Juli 2005 gültig war. Am 8. September 2014 beantragte Frau Koopman einen Pass bei der Botschaft des Königreichs der Niederlande in Bern (Schweiz).
15 Frau Saleh Abady wurde am 25. März 1960 in Teheran (Iran) geboren. Sie besitzt die iranische Staatsangehörigkeit durch Geburt. Durch Koninklijk Besluit (königliche Verordnung) vom 3. September 1999 erwarb sie auch die niederländische Staatsangehörigkeit. Am 6. Oktober 1999 wurde ihr zuletzt ein niederländischer Pass ausgestellt, der bis zum 6. Oktober 2004 gültig war. Am 3. Dezember 2002 wurde ihre Eintragung im Melderegister nicht mehr weitergeführt, da sie ausgewandert war. Seit diesem Datum hatte Frau Saleh Abady ihren gewöhnlichen Aufenthalt offenbar ununterbrochen im Iran gehabt. Am 29. Oktober 2014 beantragte sie einen Pass bei der Botschaft des Königreichs der Niederlande in Teheran.
16 Frau Duboux wurde am 13. April 1995 in Lausanne (Schweiz) geboren. Sie erwarb die niederländische Staatsangehörigkeit aufgrund der doppelten Staatsbürgerschaft ihrer Mutter, Frau Koopman, durch Geburt sowie die Schweizer Staatsangehörigkeit aufgrund der Schweizer Staatsangehörigkeit ihres Vaters P. Duboux. Ihr wurde nie ein niederländischer Pass ausgestellt. Als Minderjährige war sie jedoch in dem am 10. Juli 2000 ausgestellten Pass ihrer Mutter eingetragen, der bis zum 10. Juli 2005 gültig war. Am 13. April 2013 wurde Frau Duboux volljährig. Am 8. September 2014 beantragte sie zugleich mit ihrer Mutter einen Pass bei der Botschaft des Königreichs der Niederlande in Bern.
17 Durch vier gesonderte Entscheidungen vom 2. Mai 2014, 16. September 2014, 20. Januar 2015 und 23. Februar 2015 hat der Minister die Behandlung der Anträge von Frau Tjebbes, Frau Koopman, Frau Saleh Abady und Frau Duboux auf einen nationalen Pass eingestellt. Der Minister hatte nämlich festgestellt, dass diese Personen die niederländische Staatsangehörigkeit kraft Gesetzes gemäß Art. 15 Abs. 1 Buchst. c oder Art. 16 Abs. 1 Buchst. d RWN verloren hatten.
18 Nach der Zurückweisung der gegen diese Entscheidungen eingelegten Beschwerden durch den Minister erhoben die Klägerinnen der Ausgangsverfahren vier gesonderte Klagen vor der Rechtbank Den Haag (Gericht Den Haag, Niederlande). Mit Urteilen vom 24. April 2015, 16. Juli 2015 bzw. 6. Oktober 2015 wies die Rechtbank Den Haag (Gericht Den Haag) die Klagen von Frau Tjebbes, Frau Koopman und Frau Saleh Abady als unbegründet ab. Mit Urteil vom 4. Februar 2016 erklärte dieses Gericht dagegen die Klage von Frau Duboux für begründet und hob die auf ihre Beschwerde hin ergangene Entscheidung des Ministers unter Aufrechterhaltung der Rechtswirkungen dieser Entscheidung auf.
19 Gegen diese Urteile haben die Klägerinnen der Ausgangsverfahren jeweils Berufung beim Raad van State (Staatsrat, Niederlande) eingelegt.
20 Das vorlegende Gericht führt aus, es sei mit der Frage befasst, ob der kraft Gesetzes eintretende Verlust der niederländischen Staatsangehörigkeit mit dem Unionsrecht vereinbar sei, und zwar insbesondere mit den Art. 20 und 21 AEUV im Licht des Urteils vom 2. März 2010, Rottmann (C‑135/08, EU:C:2010:104). Seiner Auffassung nach finden diese Artikel in den Ausgangsverfahren Anwendung, obwohl der Verlust der Unionsbürgerschaft hier aus dem Verlust der Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats kraft Gesetzes folge und nicht auf einer ausdrücklichen Individualentscheidung über die Rücknahme der Staatsangehörigkeit beruhe, wie es in der Rechtssache der Fall gewesen sei, in der das genannte Urteil ergangen ist.
21 Der Raad van State (Staatsrat) fragt sich, ob es möglich sei, zu prüfen, ob eine nationale Regelung, die den Verlust der Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats kraft Gesetzes vorsehe, mit dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz vereinbar sei, auf den der Gerichtshof in Rn. 55 des in der vorstehenden Randnummer angeführten Urteils Bezug nimmt, und wie diese Prüfung vorzunehmen sei. Obwohl die Prüfung der Verhältnismäßigkeit der Folgen des Verlusts der niederländischen Staatsangehörigkeit für die betroffenen Personen aus unionsrechtlicher Sicht eine Einzelfallabwägung erfordern könnte, schließe das vorlegende Gericht nicht aus, dass diese Verhältnismäßigkeitsprüfung bereits in einer allgemeinen gesetzlichen Regelung selbst, im vorliegenden Fall der des RWN, enthalten sein könne, wie der Minister vorgetragen habe.
22 Der Raad van State (Staatsrat) meint in Bezug auf die Situation volljähriger Personen, dass es gute Gründe für die Annahme gebe, dass Art. 15 Abs. 1 Buchst. c RWN mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im Einklang stehe und mit den Art. 20 und 21 AEUV vereinbar sei. Die Vorschrift sehe eine großzügige Frist von zehn Jahren des Aufenthalts im Ausland vor, bevor die niederländische Staatsangehörigkeit verloren gehe; dann könne angenommen werden, dass die Betroffenen keine oder nur eine sehr schwache Bindung zu den Niederlanden und somit zur Europäischen Union hätten. Zudem könne die niederländische Staatsangehörigkeit relativ einfach beibehalten werden, denn dieser Zehnjahreszeitraum werde unterbrochen, wenn der Betroffene sich während dieses Zeitraums mindestens ein Jahr ununterbrochen in den Niederlanden oder der Union aufhalte oder ihm eine Erklärung über den Besitz der niederländischen Staatsangehörigkeit, ein niederländischer Personalausweis oder ein Reisedokument im Sinne des niederländischen Passgesetzes ausgestellt werde. Ferner weist das vorlegende Gericht darauf hin, dass jeder, der die vorgeschriebenen Bedingungen für eine „Option“ im Sinne von Art. 6 RWN erfülle, Anspruch auf den Erwerb der zuvor besessenen niederländischen Staatsangehörigkeit im Wege der Bestätigung habe.
23 Außerdem äußert der Raad van State (Staatsrat) die vorläufige Auffassung, dass der niederländische Gesetzgeber mit dem Erlass von Art. 15 Abs. 1 Buchst. c RWN nicht willkürlich gehandelt habe und daher kein Verstoß gegen Art. 7 der Charta vorliege, der die Achtung des Privat- und Familienlebens betreffe.
24 Da nach Auffassung des Raad van State (Staatsrat) jedoch nicht ausgeschlossen ist, dass die Prüfung der Verhältnismäßigkeit der Folgen des Verlusts der niederländischen Staatsangehörigkeit für die Situation der betroffenen Personen eine Einzelfallabwägung erfordere, stehe nicht mit Sicherheit fest, ob eine allgemeine gesetzliche Regelung wie die in der RWN vorgesehene mit den Art. 20 und 21 AEUV in Einklang stehe.
25 In Bezug auf die Situation der Minderjährigen weist das vorlegende Gericht darauf hin, dass Art. 16 Abs. 1 Buchst. d RWN die Bedeutung zum Ausdruck bringe, die der nationale Gesetzgeber der Einheitlichkeit der Staatsangehörigkeit innerhalb der Familie beigemessen habe. Insoweit sei es fraglich, ob es verhältnismäßig sei, einem Minderjährigen allein aus Gründen des Erhalts der Einheitlichkeit der Staatsangehörigkeit innerhalb der Familie die Unionsbürgerschaft und die damit verbundenen Rechte zu entziehen, und welche Rolle das vorrangige Wohl des Kindes im Sinne von Art. 24 Abs. 2 der Charta insoweit spiele. Es sei zu beachten, dass ein Minderjähriger nur wenig Einfluss auf die Beibehaltung seiner niederländischen Staatsangehörigkeit habe und dass die Möglichkeiten der Fristunterbrechung oder der Ausstellung etwa einer Erklärung über den Besitz der niederländischen Staatsbürgerschaft für Minderjährige keine Ausnahmegründe bildeten. Mithin stehe nicht eindeutig fest, dass Art. 16 Abs. 1 Buchst. d RWN mit dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz im Einklang stehe.
26 Unter diesen Umständen hat der Raad van State (Staatsrat) das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:
Sind die Art. 20 und 21 AEUV u. a. im Licht von Art. 7 der Charta dahin auszulegen, dass sie, wegen des Fehlens einer Prüfung im Einzelfall am Verhältnismäßigkeitsgrundsatz – was die Folgen des Verlusts der Staatsangehörigkeit für die Situation des Betroffenen aus unionsrechtlicher Sicht angeht –, gesetzlichen Regelungen wie den im Ausgangsrechtsstreit in Rede stehenden entgegenstehen, die vorsehen, dass
a)
ein Volljähriger, der zugleich die Staatsangehörigkeit eines Drittstaats besitzt, die Staatsangehörigkeit seines Mitgliedstaats und damit die Unionsbürgerschaft kraft Gesetzes verliert, weil er während eines ununterbrochenen Zeitraums von zehn Jahren seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Ausland und außerhalb der Union gehabt hat, obwohl Möglichkeiten bestehen, diese zehnjährige Frist zu unterbrechen,
b)
ein Minderjähriger aufgrund des Verlusts der Staatsangehörigkeit eines Elternteils im Sinne der Ausführungen unter Buchst. a unter bestimmten Umständen die Staatsangehörigkeit seines Mitgliedstaats und damit die Unionsbürgerschaft kraft Gesetzes verliert?
Zur Vorlagefrage
27 Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob die Art. 20 und 21 AEUV im Licht von Art. 7 der Charta dahin auszulegen sind, dass sie einer Regelung eines Mitgliedstaats wie der in den Ausgangsverfahren entgegenstehen, die unter bestimmten Bedingungen den Verlust der Staatsangehörigkeit dieses Mitgliedstaats kraft Gesetzes vorsieht, der bei Personen, die nicht auch die Staatsangehörigkeit eines anderen Mitgliedstaats besitzen, den Verlust ihres Unionsbürgerstatus und der damit verbundenen Rechte nach sich zieht, ohne dass eine Einzelfallprüfung der Folgen dieses Verlusts für die Situation dieser Personen aus unionsrechtlicher Sicht im Hinblick auf den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit vorgenommen wird.
28 Vorab ist festzustellen, dass auf die Frage nicht geantwortet zu werden braucht, soweit sie sich auf Art. 21 AEUV bezieht, da aus der Vorlageentscheidung nicht hervorgeht, dass die Klägerinnen der Ausgangsverfahren ihr Recht auf Freizügigkeit innerhalb der Union ausgeübt hätten.
29 Nach dieser Klarstellung ist darauf hinzuweisen, dass Art. 15 Abs. 1 Buchst. c RWN vorsieht, dass ein Volljähriger die niederländische Staatsangehörigkeit verliert, wenn er zugleich eine ausländische Staatsangehörigkeit besitzt und während seiner Volljährigkeit während eines ununterbrochenen Zeitraums von zehn Jahren im Besitz beider Staatsangehörigkeiten seinen gewöhnlichen Aufenthalt außerhalb der Niederlande und der Gebiete hat, auf die der EU-Vertrag Anwendung findet. Ferner verliert nach Art. 16 Abs. 1 Buchst. d RWN eine minderjährige Person grundsätzlich die niederländische Staatsangehörigkeit, wenn ihr Vater oder ihre Mutter die niederländische Staatsangehörigkeit u. a. gemäß Art. 15 Abs. 1 Buchst. c RWN verliert.
30 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof bereits entschieden hat, dass zwar die Festlegung der Voraussetzungen für den Erwerb und den Verlust der Staatsangehörigkeit nach dem Völkerrecht in die Zuständigkeit der einzelnen Mitgliedstaaten fällt, aber die Tatsache, dass für ein Rechtsgebiet die Mitgliedstaaten zuständig sind, nicht ausschließt, dass die betreffenden nationalen Vorschriften in Situationen, die unter das Unionsrecht fallen, dieses Recht beachten müssen (Urteil vom 2. März 2010, Rottmann, C‑135/08, EU:C:2010:104, Rn. 39 und 41 und die dort angeführte Rechtsprechung).
31 Art. 20 AEUV verleiht aber jeder Person, die die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzt, den Status eines Unionsbürgers, der nach ständiger Rechtsprechung dazu bestimmt ist, der grundlegende Status der Angehörigen der Mitgliedstaaten zu sein (Urteil vom 8. Mai 2018, K.A. u. a. [Familienzusammenführung in Belgien], C‑82/16, EU:C:2018:308, Rn. 47 und die dort angeführte Rechtsprechung).
32 Die Situation von Unionsbürgerinnen, die, wie die Klägerinnen der Ausgangsverfahren, die Staatsangehörigkeit nur eines einzigen Mitgliedstaats besitzen und die durch den Verlust dieser Staatsangehörigkeit auch mit dem Verlust des durch Art. 20 AEUV verliehenen Status und der damit verbundenen Rechte konfrontiert werden, fällt daher ihrem Wesen und ihren Folgen nach unter das Unionsrecht. Infolgedessen haben die Mitgliedstaaten bei der Ausübung ihrer Zuständigkeit im Bereich der Staatsangehörigkeit das Unionsrecht zu beachten (Urteil vom 2. März 2010, Rottmann, C‑135/08, EU:C:2010:104, Rn. 42 und 45).
33 In diesem Zusammenhang hat der Gerichtshof bereits entschieden, dass es legitim ist, dass ein Mitgliedstaat das zwischen ihm und seinen Staatsbürgern bestehende Verhältnis besonderer Verbundenheit und Loyalität sowie die Gegenseitigkeit der Rechte und Pflichten, die dem Staatsangehörigkeitsband zugrunde liegen, schützen will (Urteil vom 2. März 2010, Rottmann, C‑135/08, EU:C:2010:104, Rn. 51).
34 Im vorliegenden Fall geht aus der Vorlageentscheidung hervor, dass der niederländische Gesetzgeber mit Art. 15 Abs. 1 Buchst. c RWN eine Regelung einführen wollte, die u. a. darauf abzielte, die unerwünschten Folgen des Besitzes mehrerer Staatsangehörigkeiten durch ein und dieselbe Person auszuschließen. Die niederländische Regierung führt außerdem in ihren vor dem Gerichtshof abgegebenen Erklärungen aus, dass es eines der Ziele des RWN sei, zu vermeiden, dass Personen die niederländische Staatsangehörigkeit erhalten oder beibehalten, obwohl keine Bindung zwischen ihnen und dem Königreich der Niederlande (mehr) besteht. Mit Art. 16 Abs. 1 Buchst. d RWN wiederum werde bezweckt, die Einheitlichkeit der Staatsangehörigkeit innerhalb der Familie wiederherzustellen.
35 Wie der Generalanwalt in den Nrn. 53 und 55 seiner Schlussanträge feststellt, darf ein Mitgliedstaat bei der Ausübung seiner Zuständigkeit für die Festlegung der Voraussetzungen für den Erwerb und den Verlust der Staatsangehörigkeit davon ausgehen, dass die Staatsangehörigkeit Ausdruck einer echten Bindung zwischen ihm und seinen Staatsbürgern ist, und folglich das Fehlen oder den Wegfall einer solchen echten Bindung mit dem Verlust der Staatsangehörigkeit verbinden. Es ist auch legitim, dass ein Mitgliedstaat die Einheitlichkeit der Staatsangehörigkeit innerhalb der Familie schützen möchte.
36 Ein Kriterium wie das in Art. 15 Abs. 1 Buchst. c RWN enthaltene, das auf den gewöhnlichen Aufenthalt der Staatsangehörigen des Königreichs der Niederlande während eines ununterbrochenen Zeitraums von zehn Jahren außerhalb dieses Mitgliedstaats und der Gebiete, auf die der EU-Vertrag Anwendung findet, abstellt, kann insoweit dahin aufgefasst werden, dass es das Fehlen dieser echten Bindung widerspiegelt. Außerdem kann davon ausgegangen werden, dass, wie die niederländische Regierung in Bezug auf Art. 16 Abs. 1 Buchst. d RWN ausgeführt hat, das Fehlen einer echten Bindung zwischen den Eltern eines minderjährigen Kindes und dem Königreich der Niederlande grundsätzlich das Fehlen einer solchen Bindung zwischen diesem Kind und dem Mitgliedstaat impliziert.
37 Die grundsätzliche Zulässigkeit des Verlusts der Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats in solchen Situationen wird darüber hinaus durch die Bestimmungen von Art. 6 und Art. 7 Abs. 3 bis 6 des Übereinkommens zur Verringerung der Fälle von Staatenlosigkeit bestätigt, die in ähnlichen Situationen vorsehen, dass eine Person die Staatsangehörigkeit eines Vertragsstaats verlieren kann, sofern sie nicht staatenlos würde. Diese Gefahr der Staatenlosigkeit wird im vorliegenden Fall durch die in den Ausgangsverfahren in Rede stehenden innerstaatlichen Rechtsvorschriften ausgeschlossen, da deren Anwendung voraussetzt, dass die betreffende Person neben der niederländischen Staatsangehörigkeit die eines anderen Staates besitzt. Ferner bestimmt Art. 7 Abs. 1 Buchst. e und Abs. 2 des Übereinkommens über die Staatsangehörigkeit, dass ein Vertragsstaat insbesondere, wenn – bei Volljährigen – eine echte Bindung zwischen diesem Staat und einem Staatsangehörigen mit gewöhnlichem Aufenthalt im Ausland fehlt und – bei Minderjährigen – für Kinder, deren Eltern die Staatsangehörigkeit dieses Staates verlieren, den Verlust der Staatsangehörigkeit vorsehen kann.
38 Für diese Zulässigkeit spricht zudem, dass nach den Ausführungen des vorlegenden Gerichts der niederländische Gesetzgeber, wenn die betreffende Person innerhalb des Zehnjahreszeitraums im Sinne von Art. 15 Abs. 1 Buchst. c RWN die Ausstellung einer Erklärung über den Besitz der niederländischen Staatsangehörigkeit, eines Reisedokuments oder eines niederländischen Personalausweises im Sinne des niederländischen Passgesetzes beantragt, der Auffassung ist, dass diese Person somit eine echte Bindung mit dem Königreich der Niederlande aufrechterhalten will, wie die Tatsache zeigt, dass nach Art. 15 Abs. 4 RWN die Ausstellung eines dieser Dokumente diese Frist unterbricht und damit den Verlust der niederländischen Staatsangehörigkeit ausschließt.
39 Unter diesen Umständen verbietet es das Unionsrecht grundsätzlich nicht, dass in Situationen wie den von Art. 15 Abs. 1 Buchst. c RWN und Art. 16 Abs. 1 Buchst. d RWN erfassten ein Mitgliedstaat aus Gründen des Allgemeininteresses den Verlust der Staatsangehörigkeit vorsieht, auch wenn dieser Verlust für die betreffende Person den Verlust ihres Unionsbürgerstatus nach sich zieht.
40 Es ist jedoch Sache der zuständigen nationalen Behörden und der nationalen Gerichte, zu prüfen, ob mit dem Verlust der Staatsangehörigkeit des betreffenden Mitgliedstaats, wenn er zum Verlust des Unionsbürgerstatus und der damit verbundenen Rechte führt, hinsichtlich seiner Auswirkungen auf die unionsrechtliche Stellung des Betroffenen und gegebenenfalls seiner Familienangehörigen, der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gewahrt wird (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 2. März 2010, Rottmann, C‑135/08, EU:C:2010:104, Rn. 55 und 56).
41 Der Verlust der Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats kraft Gesetzes verstieße gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, wenn die relevanten innerstaatlichen Rechtsvorschriften zu keinem Zeitpunkt eine Einzelfallprüfung der Folgen dieses Verlusts für die Situation der Betroffenen aus unionsrechtlicher Sicht erlaubten.
42 Hieraus folgt, dass in Situationen wie den in den Ausgangsverfahren in Rede stehenden, in denen der Verlust der Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats kraft Gesetzes erfolgt und den Verlust des Unionsbürgerstatus nach sich zieht, die zuständigen nationalen Behörden und Gerichte in der Lage sein müssen, bei der Beantragung eines Reisedokuments oder eines anderen Dokuments zur Bescheinigung der Staatsangehörigkeit durch eine betroffene Person inzident die Folgen dieses Verlusts der Staatsangehörigkeit zu prüfen und gegebenenfalls die Staatsangehörigkeit der betroffenen Personen rückwirkend wiederherzustellen.
43 Im Übrigen gibt das vorlegende Gericht im Wesentlichen an, dass sowohl der Minister als auch die zuständigen Gerichte nach dem innerstaatlichen Recht aufgerufen seien, die Möglichkeit der Beibehaltung der niederländischen Staatsangehörigkeit im Rahmen des Verfahrens für Anträge auf Passerneuerung unter Vornahme einer umfassenden Beurteilung im Hinblick auf den im Unionsrecht verankerten Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu prüfen.
44 Eine solche Prüfung erfordert eine Beurteilung der individuellen Situation der betroffenen Person sowie der ihrer Familie, um zu bestimmen, ob der Verlust der Staatsangehörigkeit des betreffenden Mitgliedstaats, wenn er den Verlust des Unionsbürgerstatus mit sich bringt, Folgen hat, die die normale Entwicklung ihres Familien- und Berufslebens – gemessen an dem vom nationalen Gesetzgeber verfolgten Ziel – aus unionsrechtlicher Sicht unverhältnismäßig beeinträchtigen würden. Dabei darf es sich nicht um nur hypothetische oder potenzielle Folgen handeln.
45 Im Rahmen dieser Verhältnismäßigkeitsprüfung ist es Sache insbesondere der zuständigen nationalen Behörden und gegebenenfalls der nationalen Gerichte, sich Gewissheit darüber zu verschaffen, dass ein solcher Verlust der Staatsangehörigkeit mit den Grundrechten der Charta, deren Wahrung der Gerichtshof sichert, im Einklang steht, und insbesondere mit dem Recht auf Achtung des Familienlebens, das in Art. 7 der Charta niedergelegt ist, wobei dieser Artikel in Zusammenschau mit der Verpflichtung auszulegen ist, das in Art. 24 Abs. 2 der Charta anerkannte Kindeswohl zu berücksichtigen (Urteil vom 10. Mai 2017, Chavez-Vilchez u. a., C‑133/15, EU:C:2017:354, Rn. 70).
46 Was die Umstände in Bezug auf die individuelle Situation der betroffenen Person angeht, die bei der von den zuständigen nationalen Behörden und den nationalen Gerichten im vorliegenden Fall vorzunehmenden Beurteilung relevant sein können, ist u. a. die Tatsache zu erwähnen, dass die betroffene Person infolge des Verlusts der niederländischen Staatsangehörigkeit und des Unionsbürgerstatus kraft Gesetzes Beschränkungen bei der Ausübung ihres Rechts, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, ausgesetzt wäre, gegebenenfalls verbunden mit besonderen Schwierigkeiten, sich weiter in die Niederlande oder einen anderen Mitgliedstaat zu begeben, um dort tatsächliche und regelmäßige Bindungen mit Mitgliedern ihrer Familie aufrechtzuerhalten, ihre berufliche Tätigkeit auszuüben oder die notwendigen Schritte zu unternehmen, um dort eine solche Tätigkeit auszuüben. Ebenfalls relevant wäre erstens der Umstand, dass ein Verzicht der betroffenen Person auf die Staatsangehörigkeit eines Drittstaats nicht möglich gewesen wäre und sie deshalb in den Anwendungsbereich von Art. 15 Abs. 1 Buchst. c RWN fällt, und zweitens die ernsthafte Gefahr einer wesentlichen Verschlechterung ihrer Sicherheit oder ihrer Freiheit, zu kommen und zu gehen, der die betroffene Person deshalb ausgesetzt wäre, weil es ihr unmöglich wäre, im Hoheitsgebiet des Drittstaats, in dem diese Person wohnt, konsularischen Schutz gemäß Art. 20 Abs. 2 Buchst. c AEUV in Anspruch zu nehmen.
47 Was minderjährige Personen betrifft, müssen die zuständigen Behörden oder Gerichte außerdem im Rahmen ihrer individuellen Prüfung dem etwaigen Vorliegen von Umständen Rechnung tragen, aus denen sich ergibt, dass der Verlust der niederländischen Staatsangehörigkeit des betroffenen Minderjährigen, die der innerstaatliche Gesetzgeber an den Verlust der niederländischen Staatsangehörigkeit eines seiner Elternteile geknüpft hat, um die Einheitlichkeit der Staatsangehörigkeit innerhalb der Familie zu wahren, wegen der Folgen eines solchen Verlusts für diesen Minderjährigen aus unionsrechtlicher Sicht nicht dem in Art. 24 der Charta anerkannten Kindeswohl entspricht.
48 Nach alledem ist auf die vorgelegte Frage zu antworten, dass Art. 20 AEUV im Licht der Art. 7 und 24 der Charta dahin auszulegen ist, dass er einer Regelung eines Mitgliedstaats wie der in den Ausgangsverfahren in Rede stehenden, die unter bestimmten Bedingungen den Verlust der Staatsangehörigkeit dieses Mitgliedstaats kraft Gesetzes vorsieht, der bei Personen, die nicht auch die Staatsangehörigkeit eines anderen Mitgliedstaats besitzen, zum Verlust ihres Unionsbürgerstatus und der damit verbundenen Rechte führt, nicht entgegensteht, sofern die zuständigen nationalen Behörden einschließlich gegebenenfalls der nationalen Gerichte in der Lage sind, bei der Beantragung eines Reisedokuments oder eines anderen Dokuments zur Bescheinigung der Staatsangehörigkeit durch eine betroffene Person inzident die Folgen dieses Verlusts der Staatsangehörigkeit zu prüfen und gegebenenfalls die Staatsangehörigkeit der betroffenen Personen rückwirkend wiederherzustellen. Im Rahmen dieser Prüfung müssen diese Behörden und Gerichte feststellen, ob der Verlust der Staatsangehörigkeit des betreffenden Mitgliedstaats, der den Verlust des Unionsbürgerstatus mit sich bringt, im Hinblick auf seine Folgen für die Situation der betroffenen Personen und gegebenenfalls für die ihrer Familienangehörigen aus unionsrechtlicher Sicht mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit vereinbar ist.
49 Angesichts der Antwort auf die Frage braucht über den von der niederländischen Regierung in der mündlichen Verhandlung gestellten Antrag, die Wirkungen des Urteils für den Fall, dass darin die Unvereinbarkeit der niederländischen Regelung mit Art. 20 AEUV festgestellt werden sollte, zeitlich zu begrenzen, nicht entschieden zu werden.
Kosten
50 Für die Parteien der Ausgangsverfahren ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Große Kammer) für Recht erkannt:
Art. 20 AEUV ist im Licht der Art. 7 und 24 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union dahin auszulegen, dass er einer Regelung eines Mitgliedstaats wie der in den Ausgangsverfahren in Rede stehenden, die unter bestimmten Bedingungen den Verlust der Staatsangehörigkeit dieses Mitgliedstaats kraft Gesetzes vorsieht, der bei Personen, die nicht auch die Staatsangehörigkeit eines anderen Mitgliedstaats besitzen, zum Verlust ihres Status als Bürger der Europäischen Union und der damit verbundenen Rechte führt, nicht entgegensteht, sofern die zuständigen nationalen Behörden einschließlich gegebenenfalls der nationalen Gerichte in der Lage sind, bei der Beantragung eines Reisedokuments oder eines anderen Dokuments zur Bescheinigung der Staatsangehörigkeit durch eine betroffene Person inzident die Folgen dieses Verlusts der Staatsangehörigkeit zu prüfen und gegebenenfalls die Staatsangehörigkeit der betroffenen Personen rückwirkend wiederherzustellen. Im Rahmen dieser Prüfung müssen diese Behörden und Gerichte feststellen, ob der Verlust der Staatsangehörigkeit des betreffenden Mitgliedstaats, der den des Unionsbürgerstatus mit sich bringt, im Hinblick auf seine Folgen für die Situation der betroffenen Personen und gegebenenfalls für die ihrer Familienangehörigen aus unionsrechtlicher Sicht mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit vereinbar ist.
Unterschriften
(*1) Verfahrenssprache: Niederländisch.
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Urteil des Gerichtshofs (Große Kammer) vom 13. November 2018.#Denis Raugevicius.#Vorabentscheidungsersuchen des Korkein oikeus.#Vorlage zur Vorabentscheidung – Unionsbürgerschaft – Art. 18 und 21 AEUV – Von einem Drittstaat an einen Mitgliedstaat gerichtetes Ersuchen um Auslieferung eines Unionsbürgers, der Staatsangehöriger eines anderen Mitgliedstaats ist und im erstgenannten Mitgliedstaat sein Recht auf Freizügigkeit ausgeübt hat – Auslieferungsersuchen, das zum Zweck der Vollstreckung einer Freiheitsstrafe und nicht zum Zweck der Strafverfolgung gestellt wird – Verbot der Auslieferung, das nur auf die eigenen Staatsangehörigen angewandt wird – Beschränkung der Freizügigkeit – Rechtfertigung mit der Verhinderung von Straflosigkeit – Verhältnismäßigkeit.#Rechtssache C-247/17.
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62017CJ0247
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ECLI:EU:C:2018:898
| 2018-11-13T00:00:00 |
Gerichtshof, Bot
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62017CJ0247
URTEIL DES GERICHTSHOFS (Große Kammer)
13. November 2018 (*1)
„Vorlage zur Vorabentscheidung – Unionsbürgerschaft – Art. 18 und 21 AEUV – Von einem Drittstaat an einen Mitgliedstaat gerichtetes Ersuchen um Auslieferung eines Unionsbürgers, der Staatsangehöriger eines anderen Mitgliedstaats ist und im erstgenannten Mitgliedstaat sein Recht auf Freizügigkeit ausgeübt hat – Auslieferungsersuchen, das zum Zweck der Vollstreckung einer Freiheitsstrafe und nicht zum Zweck der Strafverfolgung gestellt wird – Verbot der Auslieferung, das nur auf die eigenen Staatsangehörigen angewandt wird – Beschränkung der Freizügigkeit – Rechtfertigung mit der Verhinderung von Straflosigkeit – Verhältnismäßigkeit“
In der Rechtssache C‑247/17
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Korkein oikeus (Oberster Gerichtshof, Finnland) mit Entscheidung vom 12. Mai 2017, beim Gerichtshof eingegangen am 16. Mai 2017, in dem Verfahren über die Auslieferung von
Denis Raugevicius
erlässt
DER GERICHTSHOF (Große Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten K. Lenaerts, der Vizepräsidentin R. Silva de Lapuerta, der Kammerpräsidenten J.‑C. Bonichot, A. Arabadjiev, M. Vilaras, E. Regan, F. Biltgen und C. Lycourgos sowie der Richter M. Ilešič, E. Levits, L. Bay Larsen, C. G. Fernlund (Berichterstatter) und S. Rodin,
Generalanwalt: Y. Bot,
Kanzler: M. Aleksejev, Verwaltungsrat,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 14. Mai 2018,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
–
der finnischen Regierung, vertreten durch H. Leppo als Bevollmächtigte,
–
der tschechischen Regierung, vertreten durch M. Smolek, J. Vláčil und J. Pavliš als Bevollmächtigte,
–
der deutschen Regierung, vertreten durch T. Henze, M. Hellmann und S. Weinkauff als Bevollmächtigte,
–
Irlands, vertreten durch M. Browne, J. Quaney und A. Joyce als Bevollmächtigte im Beistand von M. Gray, BL,
–
der zyprischen Regierung, vertreten durch E. Zachariadou, E. Neofytou und M. Spiliotopoulou als Bevollmächtigte,
–
der litauischen Regierung, vertreten durch D. Kriaučiūnas und V. Čepaitė als Bevollmächtigte,
–
der ungarischen Regierung, vertreten durch M. Z. Fehér, G. Koós und R. Kissné Berta als Bevollmächtigte,
–
der österreichischen Regierung, vertreten durch G. Eberhard als Bevollmächtigten,
–
der rumänischen Regierung, vertreten durch C.‑R. Canţăr, R. Mangu, E. Gane und C.‑M. Florescu als Bevollmächtigte,
–
der schwedischen Regierung, vertreten durch A. Falk, H. Shev, C. Meyer‑Seitz, L. Zettergren und A. Alriksson als Bevollmächtigte,
–
der Europäischen Kommission, vertreten durch S. Grünheid, R. Troosters und M. Huttunen als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 25. Juli 2018
folgendes
Urteil
1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 18 Abs. 1 und Art. 21 AEUV.
2 Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines von den russischen Behörden an die finnischen Behörden gerichteten Auslieferungsersuchens betreffend Herrn Denis Raugevicius, der die litauische und die russische Staatsangehörigkeit besitzt, zum Zwecke der Vollstreckung einer Freiheitsstrafe.
Rechtlicher Rahmen
Das Europäische Auslieferungsübereinkommen
3 Art. 1 des Europäischen Auslieferungsübereinkommens vom 13. Dezember 1957 (im Folgenden Europäisches Auslieferungsübereinkommen) bestimmt:
„Die Vertragsparteien verpflichten sich, gemäß den nachstehenden Vorschriften und Bedingungen einander die Personen auszuliefern, die von den Justizbehörden des ersuchenden Staates wegen einer strafbaren Handlung verfolgt oder zur Vollstreckung einer Strafe oder einer Maßregel der Sicherung und Besserung gesucht werden.“
4 Art. 6 („Auslieferung eigener Staatsangehöriger“) des Übereinkommens sieht vor:
a)
Jede Vertragspartei ist berechtigt, die Auslieferung ihrer Staatsangehörigen abzulehnen.
b)
Jede Vertragspartei kann, was sie betrifft, bei der Unterzeichnung oder der Hinterlegung ihrer Ratifikations- oder Beitrittsurkunde durch eine Erklärung den Begriff ‚Staatsangehörige‘ im Sinne dieses Übereinkommens bestimmen.
c)
Für die Beurteilung der Eigenschaft als Staatsangehöriger ist der Zeitpunkt der Entscheidung über die Auslieferung maßgebend. …
(2) Liefert der ersuchte Staat seinen Staatsangehörigen nicht aus, so hat er auf Begehren des ersuchenden Staates die Angelegenheit den zuständigen Behörden zu unterbreiten, damit gegebenenfalls eine gerichtliche Verfolgung durchgeführt werden kann. Zu diesem Zweck sind die auf die strafbare Handlung bezüglichen Akten, Unterlagen und Gegenstände kostenlos auf dem im Artikel 12 Absatz 1 vorgesehenen Weg zu übermitteln. Dem ersuchenden Staat ist mitzuteilen, inwieweit seinem Begehren Folge gegeben worden ist.“
5 In Art. 10 („Verjährung“) des Übereinkommens heißt es:
„Die Auslieferung wird nicht bewilligt, wenn nach den Rechtsvorschriften des ersuchenden oder des ersuchten Staates die Strafverfolgung oder Strafvollstreckung verjährt ist.“
6 Art. 17 des Übereinkommens lautet:
„Wird wegen derselben oder wegen verschiedener Handlungen von mehreren Staaten zugleich um Auslieferung ersucht, so entscheidet der ersuchte Staat unter Berücksichtigung aller Umstände, insbesondere der verhältnismäßigen Schwere der strafbaren Handlungen, des Ortes ihrer Begehung, des Zeitpunktes der Auslieferungsersuchen, der Staatsangehörigkeit des Verfolgten und der Möglichkeit einer späteren Auslieferung an einen anderen Staat.“
7 Die Republik Finnland hat eine Erklärung gemäß Art. 6 des Europäischen Auslieferungsübereinkommens (im Folgenden: Erklärung) mit folgendem Wortlaut abgegeben:
„Im Sinne dieses Übereinkommens bezeichnet der Ausdruck ‚Staatsangehörige‘ Staatsangehörige von Finnland, Dänemark, Island, Norwegen und Schweden sowie Ausländer, die in diesen Staaten ihren Wohnsitz haben.“
Finnisches Recht
8 Nach § 9 Abs. 3 des finnischen Grundgesetzes in seiner auf den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens anwendbaren Fassung darf „[e]in finnischer Staatsbürger … nicht … gegen seinen Willen an ein anderes Land ausgeliefert oder überstellt werden. Durch Gesetz kann jedoch geregelt werden, dass ein finnischer Staatsangehöriger wegen einer Straftat oder zum Zweck eines Gerichtsverfahrens … an ein Land ausgeliefert oder überstellt werden kann, in dem seine Menschenrechte und sein rechtlicher Schutz gewährleistet sind.“
9 Nach § 2 des Rikoksen johdosta tapahtuvasta luovuttamisesta annettu laki (456/1970) (Gesetz [456/1970] über die Auslieferung wegen einer Straftat, im Folgenden: Auslieferungsgesetz) darf ein finnischer Staatsbürger nicht ausgeliefert werden.
10 § 14 Abs. 1 des Auslieferungsgesetzes sieht vor:
„Das Justizministerium entscheidet, ob einem Auslieferungsersuchen stattzugeben ist.“
11 § 16 Abs. 1 des Auslieferungsgesetzes bestimmt:
„Hat die Person, um deren Auslieferung ersucht wurde, im Lauf der Untersuchung oder in einem beim Justizministerium vor Entscheidung der Sache eingegangenen Schriftsatz mitgeteilt, dass nach ihrer Auffassung die rechtlichen Voraussetzungen für die Auslieferung nicht vorliegen, hat das Ministerium, falls das Auslieferungsersuchen nicht sofort abgelehnt wird, vor Entscheidung der Sache ein Gutachten des Korkein oikeus [(Oberster Gerichtshof, Finnland)] zu beantragen. Das Ministerium kann ein Gutachten auch in anderen Fällen beantragen, wenn es dies für erforderlich hält.“
12 § 17 des Auslieferungsgesetzes lautet:
„Der Korkein oikeus [(Oberster Gerichtshof)] prüft unter Berücksichtigung der Bestimmungen der §§ 1 bis 10 dieses Gesetzes und der entsprechenden Bestimmungen eines Finnland bindenden internationalen Übereinkommens, ob dem Auslieferungsersuchen stattgegeben werden kann.
Ist der Korkein oikeus [(Oberster Gerichtshof)] der Auffassung, dass der Auslieferung ein Hindernis entgegensteht, kann dem Auslieferungsersuchen nicht stattgegeben werden.“
13 Eine Freiheitsstrafe, die von einem Gericht eines Staates, der nicht Mitgliedstaat der Union ist, verhängt wurde, kann in Finnland gemäß dem Kansainvälisestä yhteistoiminnasta eräiden rikosoikeudellisten seuraamusten täytäntöönpanossa annettu laki (21/1987) (Gesetz [21/1987] über die internationale Zusammenarbeit bei der Vollstreckung bestimmter strafrechtlicher Sanktionen) vollzogen werden. § 3 dieses Gesetzes bestimmt:
„Eine Sanktion, die von einem ausländischen Gericht verhängt wurde, kann in Finnland vollzogen werden, wenn
1. das Urteil in dem Staat, in dem es ergangen ist, rechtskräftig und vollstreckbar ist,
…
3. der Staat, in dem die Sanktion verhängt wurde, dies beantragt oder dem zugestimmt hat.
Eine Sanktion, die einen Freiheitsentzug beinhaltet, kann in Finnland gemäß Abs. 1 vollzogen werden, wenn es sich bei dem Verurteilten um einen finnischen Staatsangehörigen oder einen Ausländer, der seinen ständigen Wohnsitz in Finnland hat, handelt und der Verurteilte zugestimmt hat. …“
Ausgangsverfahren und Vorlagefragen
14 Am 1. Februar 2011 wurde Herr Raugevicius von einem russischen Gericht wegen eines Betäubungsmitteldelikts für schuldig befunden, weil er ohne Verkaufsabsicht ein Gemisch in seinem Besitz hatte, das 3,040 g Heroin enthielt. Hierfür wurde er zu einer Freiheitsstrafe verurteilt, die zur Bewährung ausgesetzt wurde.
15 Am 16. November 2011 widerrief ein Gericht im Verwaltungsbezirk Leningrad (Russland) die Aussetzung zur Bewährung wegen Verstoßes gegen Bewährungsauflagen und ordnete die Vollstreckung der gegen Herrn Raugevicius verhängten Freiheitsstrafe von vier Jahren an.
16 Herr Raugevicius wurde am 12. Juli 2016 zur internationalen Fahndung ausgeschrieben.
17 Am 12. Dezember 2016 verhängte ein erstinstanzliches Gericht in Finnland ein Ausreiseverbot gegen Herrn Raugevicius.
18 Am 27. Dezember 2016 ersuchte die Russische Föderation die finnischen Behörden um die Verhaftung von Herrn Raugevicius und seine Auslieferung an Russland zum Zweck der Vollstreckung einer dort gegen ihn verhängten Freiheitsstrafe.
19 Herr Raugevicius widersprach der Auslieferung und machte u. a. geltend, dass er schon lange in Finnland lebe und Vater von zwei Kindern sei, die ebenfalls in diesem Mitgliedstaat lebten und finnische Staatsangehörige seien.
20 Am 7. Februar 2017 beantragte das Justizministerium beim Korkein oikeus (Oberster Gerichtshof) ein Gutachten zu der Frage, ob der Auslieferung von Herrn Raugevicius an Russland ein rechtliches Hindernis entgegenstehe.
21 Der Korkein oikeus (Oberster Gerichtshof) ist der Auffassung, er sei, auch wenn er im Rahmen eines Auslieferungsersuchens ein Gutachten erstelle, ein „Gericht“ im Sinne der Rechtsprechung des Gerichtshofs zu Art. 267 AEUV. In Anbetracht seiner gesetzlichen Grundlage, seiner Dauerhaftigkeit, seiner obligatorischen Gerichtsbarkeit, des streitigen Verfahrens, der Anwendung von Rechtsnormen und seiner Unabhängigkeit erfülle er die entsprechenden Kriterien, wie sie der Gerichtshof u. a. in seinem Urteil vom 19. Dezember 2012, Epitropos tou Elegktikou Synedriou (C‑363/11, EU:C:2012:825‚ Rn. 18), wiederholt habe. Im Übrigen sei er mit einem Rechtsstreit befasst, da Herr Raugevicius seiner Auslieferung widersprochen habe und das Justizministerium nicht davon ausgegangen sei, dass das Auslieferungsersuchen der Russischen Föderation sofort abgelehnt werden müsse. Schließlich sei das von ihm zu erstellende Gutachten bindend, denn dem in Rede stehenden Auslieferungsersuchen könne nicht stattgegeben werden, wenn in dem Gutachten festgestellt werde, dass der Auslieferung ein Hindernis entgegenstehe.
22 Nach Ansicht des vorlegenden Gerichts hat der Gerichtshof im Urteil vom 6. September 2016, Petruhhin (C‑182/15, EU:C:2016:630), festgestellt, dass durch die Auslieferungsvorschriften die Freiheit der Staatsangehörigen anderer Mitgliedstaaten, sich in den Mitgliedstaaten zu bewegen und aufzuhalten, beeinträchtigt werden könne. Folglich seien diese Vorschriften auch unter dem Aspekt des Diskriminierungsverbots zu prüfen.
23 Der Korkein oikeus (Oberster Gerichtshof) weist jedoch darauf hin, dass der vorliegende Fall, in dem es um ein Auslieferungsersuchen zum Zweck des Vollzugs eines Strafurteils geht, anders gelagert sei als der dem genannten Urteil zugrunde liegende Sachverhalt, der ein Auslieferungsersuchen zum Zweck der Strafverfolgung betraf.
24 Das vorlegende Gericht stellt insbesondere fest, dass der ersuchte Mitgliedstaat zwar grundsätzlich verpflichtet sei, seine eigenen Staatsangehörigen strafrechtlich zu verfolgen, wenn er sie nicht ausliefere, dass es aber keine entsprechende Verpflichtung gebe, eine gegen diese von einem Drittstaat verhängte Strafe im eigenen Hoheitsgebiet vollstrecken zu lassen.
25 Unter diesen Umständen hat der Korkein oikeus (Oberster Gerichtshof) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
Zu den Vorlagefragen
26 Mit seinen Fragen, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob die Art. 18 und 21 AEUV dahin auszulegen sind, dass der ersuchte Mitgliedstaat, nach dessen nationalem Recht die Auslieferung eigener Staatsangehöriger an Staaten außerhalb der Union zum Zweck der Vollstreckung einer Strafe verboten und die Möglichkeit vorgesehen ist, eine solche im Ausland verhängte Strafe im Inland zu vollziehen, im Fall eines von einem Drittstaat zum Zweck der Vollstreckung einer Freiheitsstrafe und nicht zum Zweck der Strafverfolgung gestellten Ersuchens um Auslieferung eines Unionsbürgers, der von seinem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch gemacht hat, alternative Maßnahmen zur Auslieferung prüfen muss, bei denen die Ausübung dieses Rechts auf Freizügigkeit weniger beschränkt wird.
27 Insoweit ist daran zu erinnern, dass ein Unionsbürger wie Herr Raugevicius, der Staatsangehöriger eines Mitgliedstaats – vorliegend der Republik Litauen – ist und sich in einem anderen Mitgliedstaat – hier Finnland – aufhält, von seiner Freizügigkeit Gebrauch gemacht hat, so dass seine Situation in den Anwendungsbereich von Art. 18 AEUV fällt, in dem der Grundsatz des Verbots der Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit verankert ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. September 2016, Petruhhin, C‑182/15, EU:C:2016:630, Rn. 31).
28 Im Übrigen wird durch eine nationale Regelung, die nur die Auslieferung finnischer Staatsangehöriger verbietet, eine Ungleichbehandlung zwischen diesen und den Staatsangehörigen der anderen Mitgliedstaaten eingeführt. Damit schafft diese Regelung eine Ungleichbehandlung, die geeignet ist, die Freizügigkeit der Staatsangehörigen anderer Mitgliedstaaten innerhalb der Union zu beeinträchtigen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. September 2016, Petruhhin, C‑182/15, EU:C:2016:630, Rn. 32).
29 Diese Feststellung wird auch nicht durch den Umstand in Frage gestellt, dass ein Staatsangehöriger eines anderen als des um Auslieferung ersuchten Mitgliedstaats, wie vorliegend Herr Raugevicius, auch die Staatsangehörigkeit des um die Auslieferung ersuchenden Drittstaats besitzt. Die doppelte Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats und eines Drittstaats kann dem Betroffenen nämlich nicht die Freiheiten nehmen, die er als Staatsangehöriger eines Mitgliedstaats aus dem Unionsrecht herleitet (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 7. Juli 1992, Micheletti u. a., C‑369/90, EU:C:1992:295, Rn. 15).
30 Folglich führt in einer Situation wie der im Ausgangsverfahren die Ungleichbehandlung, die darin besteht, dass ein Unionsbürger, der wie Herr Raugevicius die Staatsangehörigkeit eines anderen als des ersuchten Mitgliedstaats besitzt, ausgeliefert werden kann, zu einer Beschränkung der Freizügigkeit im Sinne von Art. 21 AEUV (Urteil vom 6. September 2016, Petruhhin, C‑182/15, EU:C:2016:630, Rn. 33).
31 Eine solche Beschränkung lässt sich nur rechtfertigen, wenn sie auf objektiven Erwägungen beruht und in angemessenem Verhältnis zu dem mit dem nationalen Recht legitimerweise verfolgten Zweck steht (Urteil vom 6. September 2016, Petruhhin, C‑182/15, EU:C:2016:630, Rn. 34 und die dort angeführte Rechtsprechung).
32 Insoweit hat der Gerichtshof anerkannt, dass das Ziel, der Gefahr entgegenzuwirken, dass Personen, die eine Straftat begangen haben, sich dieser Strafe entziehen, als legitim einzustufen ist und eine beschränkende Maßnahme rechtfertigen kann, sofern sie für den Schutz der Belange, die sie gewährleisten soll, erforderlich ist, und auch nur insoweit, als diese Ziele nicht mit weniger einschränkenden Maßnahmen erreicht werden können (Urteil vom 6. September 2016, Petruhhin, C‑182/15, EU:C:2016:630‚ Rn. 37 und 38).
33 So hat der Gerichtshof in Rn. 39 des Urteils vom 6. September 2016, Petruhhin (C‑182/15, EU:C:2016:630), festgestellt, dass die Auslieferung ein Verfahren ist, mit dem der Gefahr entgegengewirkt werden soll, dass eine Person, die sich in einem anderen Hoheitsgebiet als dem aufhält, in dem sie eine Straftat begangen haben soll, der Strafe entgeht. In jenem Urteil, das ein Auslieferungsersuchen zum Zweck der Strafverfolgung betraf, hat der Gerichtshof ebenfalls in Rn. 39 darauf hingewiesen, dass die Nichtauslieferung eigener Staatsangehöriger im Allgemeinen dadurch ausgeglichen wird, dass der ersuchte Mitgliedstaat die Möglichkeit hat, seine eigenen Staatsangehörigen wegen außerhalb seines Hoheitsgebiets begangener schwerer Straftaten zu verfolgen, er jedoch in der Regel nicht dafür zuständig ist, über solche Sachverhalte zu urteilen, wenn weder der Täter noch das Opfer der mutmaßlichen Straftat die Staatsangehörigkeit dieses Mitgliedstaats besitzt. Der Gerichtshof hat daraus geschlossen, dass sich mit der Auslieferung verhindern lässt, dass Straftaten, die im Hoheitsgebiet eines Staates von Personen begangen werden, die aus diesem Hoheitsgebiet geflohen sind, nicht geahndet werden.
34 Das vorlegende Gericht möchte dennoch wissen, ob diese Erwägungen auch im Fall eines Auslieferungsersuchens gelten, das zum Zwecke der Strafvollstreckung gestellt wurde.
35 Das vorlegende Gericht hegt insoweit Zweifel und macht geltend, dass das Europäische Auslieferungsübereinkommen zwar in Art. 6 Abs. 2 für den ersuchten Mitgliedstaat die Möglichkeit vorsehe, eigene Staatsangehörige, die er nicht ausliefere, strafrechtlich zu verfolgen, dass dieses Übereinkommen einen Staat, der die Auslieferung seiner Staatsangehörigen ablehne, aber nicht dazu verpflichte, Maßnahmen zur Vollstreckung von Strafen zu ergreifen, die von einem Gericht eines anderen Vertragsstaats des Übereinkommens verhängt worden seien. Das vorlegende Gericht und mehrere der Regierungen, die Erklärungen beim Gerichtshof abgegeben haben, sind zudem der Auffassung, dass eine erneute Verfolgung einer Person, die im ersuchenden Staat bereits verfolgt und verurteilt worden sei, gegen den Grundsatz ne bis in idem verstoßen könne, der besagt, dass eine Person nicht zweimal wegen derselben Straftat verfolgt werden darf.
36 Zwar kann das nach nationalem Recht gewährleistete Verbot der Doppelbestrafung für einen Mitgliedstaat ein Hindernis bei der Strafverfolgung von Personen darstellen, gegen die ein Auslieferungsersuchen zum Zweck der Strafvollstreckung vorliegt. Um jedoch der Gefahr entgegenzuwirken, dass solche Personen einer Strafe entgehen, gibt es im nationalen Recht und/oder im Völkerrecht Mechanismen, die es ermöglichen, dass diese Personen ihre Strafe etwa in dem Staat verbüßen, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzen, wodurch ihre Chancen auf eine soziale Wiedereingliederung nach dem Strafvollzug steigen.
37 Dies gilt insbesondere für das Übereinkommen über die Überstellung verurteilter Personen vom 21. März 1983. Sowohl alle Mitgliedstaaten als auch die Russische Föderation sind Vertragsparteien dieses Übereinkommens. Nach dessen Art. 2 kann eine im Hoheitsgebiet eines der Unterzeichnerstaaten verurteilte Person beantragen, zum Vollzug der gegen sie verhängten Sanktion in das Hoheitsgebiet ihres Herkunftslands überstellt zu werden, wobei aus den Begründungserwägungen des Übereinkommens hervorgeht, dass mit einer solchen Überstellung u. a. die soziale Wiedereingliederung verurteilter Personen gefördert werden soll, indem Ausländern, denen wegen der Begehung einer Straftat ihre Freiheit entzogen worden ist, Gelegenheit gegeben wird, die gegen sie verhängte Sanktion im sozialen Umfeld ihres Herkunftslands zu verbüßen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 20. Januar 2005, Laurin Effing, C‑302/02, EU:C:2005:36, Rn. 12 und 13).
38 Darüber hinaus sehen einige Mitgliedstaaten, so auch die Republik Finnland, für ihre eigenen Staatsangehörigen die Möglichkeit vor, eine in einem anderen Staat verhängte Strafe im Inland zu verbüßen.
39 Folglich ist bei einem Auslieferungsersuchen zum Zweck der Strafvollstreckung zum einen darauf hinzuweisen, dass es, auch wenn der ersuchte Mitgliedstaat möglicherweise keine Strafverfolgungsmaßnahmen gegen seine eigenen Staatsangehörigen einleiten kann, doch Mechanismen gibt, damit sie ihre Strafe in diesem Mitgliedstaat verbüßen können. Zum anderen kann aber durch die Auslieferung vermieden werden, dass sich diejenigen Unionsbürger, die nicht Staatsangehörige des ersuchten Mitgliedstaats sind, der Vollstreckung ihrer Strafe entziehen.
40 Da mit der Auslieferung, wie in Rn. 33 des vorliegenden Urteils ausgeführt, der Gefahr entgegengewirkt werden soll, dass Staatangehörige aus anderen, mit dem ersuchten Mitgliedstaat nicht identischen Mitgliedstaaten der Strafe entgehen, und die im Ausgangsverfahren in Rede stehende nationale Regelung die Auslieferung von Staatsangehörigen anderer Mitgliedstaaten als der Finnischen Republik zulässt, ist die Verhältnismäßigkeit der Regelung zu prüfen, indem überprüft wird, ob es Maßnahmen gibt, mit denen dieses Ziel ebenso wirksam erreicht werden kann, durch die aber die Freizügigkeit dieser Personen weniger beschränkt wird (Urteil vom 6. September 2016, Petruhhin, C‑182/15, EU:C:2016:630, Rn. 41), wobei alle tatsächlichen und rechtlichen Umstände der Rechtssache zu berücksichtigen sind.
41 Im vorliegenden Fall ergibt sich aus der Vorlageentscheidung, dass Herr Raugevicius seiner Auslieferung widersprochen hat, weil er seit Langem in Finnland lebe und Vater von zwei Kindern sei, die ebenfalls in Finnland lebten und finnische Staatsangehörige seien. Diese Umstände wurden im Rahmen des Verfahrens vor dem Gerichtshof nicht in Frage gestellt. Somit kann nicht ausgeschlossen werden, dass Herr Raugevicius im Sinne von § 3 Abs. 2 des Gesetzes über die internationale Zusammenarbeit im Bereich der Vollstreckung bestimmter strafrechtlicher Sanktionen als Ausländer mit ständigem Wohnsitz in Finnland angesehen werden kann.
42 Sollte dies der Fall sein, so könnte Herr Raugevicius die Strafe, die in Russland gegen ihn verhängt wurde, in Finnland verbüßen, wenn sowohl Russland als auch Herr Raugevicius selbst dem zustimmen.
43 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass nach ständiger Rechtsprechung der Unionsbürgerstatus dazu bestimmt ist, der grundlegende Status der Angehörigen der Mitgliedstaaten zu sein (vgl. u. a. Urteile vom 20. September 2001, Grzelczyk, C‑184/99, EU:C:2001:458, Rn. 31, vom 8. März 2011, Ruiz Zambrano, C‑34/09, EU:C:2011:124, Rn. 41, sowie vom 5. Juni 2018, Coman u. a., C‑673/16, EU:C:2018:385, Rn. 30).
44 Jeder Unionsbürger kann sich daher in allen Situationen, die in den sachlichen Anwendungsbereich des Unionsrechts fallen, auf Art. 18 AEUV berufen, der jede Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit verbietet, wobei zu diesen Situationen die Ausübung der durch Art. 21 AEUV verliehenen Grundfreiheit gehört, sich in den Mitgliedstaaten zu bewegen und aufzuhalten, um die es im Ausgangsrechtsstreit geht (vgl. Urteile vom 4. Oktober 2012, Kommission/Österreich, C‑75/11, EU:C:2012:605, Rn. 39, und vom 11. November 2014, Dano, C‑333/13, EU:C:2014:2358, Rn. 59).
45 Außerdem bleiben zwar mangels einer unionsrechtlichen Regelung der Auslieferung von Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten an Russland die Mitgliedstaaten für den Erlass solcher Regelungen zuständig, doch müssen sie bei der Ausübung dieser Zuständigkeit das Unionsrecht und insbesondere das Diskriminierungsverbot des Art. 18 AEUV sowie die durch Art. 21 Abs. 1 AEUV gewährleistete Freiheit beachten, sich in den Mitgliedstaaten zu bewegen und aufzuhalten.
46 Im Hinblick auf das Ziel, der Gefahr einer Straflosigkeit entgegenzuwirken, befinden sich die finnischen Staatsangehörigen und die Staatsangehörigen anderer Mitgliedstaaten, die ihren ständigen Wohnsitz in Finnland haben und somit ein bestimmtes Maß an Integration in der Gesellschaft dieses Mitgliedstaats aufweisen, in einer vergleichbaren Situation (vgl. entsprechend Urteil vom 6. Oktober 2009, Wolzenburg, C‑123/08, EU:C:2009:616, Rn. 67). Die Überprüfung, ob Herr Raugevicius unter diese Kategorie von Staatsangehörigen anderer Mitgliedstaaten fällt, obliegt dem vorlegenden Gericht.
47 Somit verlangen die Art. 18 und 21 AEUV, dass die Regelung, wonach finnische Staatsangehörige nicht ausgeliefert werden dürfen, auch den Staatsangehörigen anderer Mitgliedstaaten zugutekommen muss, die ihren ständigen Wohnsitz in Finnland haben und gegen die ein Auslieferungsersuchen zum Zweck der Vollstreckung einer Freiheitsstrafe vorliegt; diese müssen also ihre Strafe unter denselben Bedingungen wie Inländer in Finnland verbüßen können.
48 Wenn dagegen bei einem Unionsbürger wie Herrn Raugevicius nicht davon ausgegangen werden kann, dass er seinen ständigen Wohnsitz im ersuchten Mitgliedstaat hat, bestimmt sich die Frage seiner Auslieferung nach dem anwendbaren nationalen oder internationalen Recht.
49 Außerdem ist darauf hinzuweisen, dass ein Mitgliedstaat, der mit einem Ersuchen eines Drittstaats um Auslieferung eines Staatsangehörigen eines anderen Mitgliedstaats befasst ist, überprüfen muss, ob durch die Auslieferung die in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union und insbesondere in deren Art. 19 verbürgten Rechte beeinträchtigt werden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. September 2016, Petruhhin, C‑182/15, EU:C:2016:630, Rn. 60).
50 Nach alldem ist auf die Vorlagefragen zu antworten, dass die Art. 18 und 21 AEUV dahin auszulegen sind, dass der ersuchte Mitgliedstaat, nach dessen nationalem Recht die Auslieferung eigener Staatsangehöriger an Staaten außerhalb der Union zum Zweck der Vollstreckung einer Strafe verboten und die Möglichkeit vorgesehen ist, eine solche im Ausland verhängte Strafe im Inland zu vollziehen, im Fall des von einem Drittstaat zum Zweck der Vollstreckung einer Freiheitsstrafe und nicht zum Zweck der Strafverfolgung gestellten Ersuchens um Auslieferung eines Unionsbürgers, der von seinem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch gemacht hat, sicherstellen muss, dass dieser Unionsbürger, wenn er seinen ständigen Wohnsitz im Inland hat, bei Auslieferungsfragen auf gleiche Weise wie seine eigenen Staatsangehörigen behandelt wird.
Kosten
51 Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Große Kammer) für Recht erkannt:
Die Art. 18 und 21 AEUV sind dahin auszulegen, dass der ersuchte Mitgliedstaat, nach dessen nationalem Recht die Auslieferung eigener Staatsangehöriger an Staaten außerhalb der Union zum Zweck der Vollstreckung einer Strafe verboten und die Möglichkeit vorgesehen ist, eine solche im Ausland verhängte Strafe im Inland zu vollziehen, im Fall des von einem Drittstaat zum Zweck der Vollstreckung einer Freiheitsstrafe und nicht zum Zweck der Strafverfolgung gestellten Ersuchens um Auslieferung eines Unionsbürgers, der von seinem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch gemacht hat, sicherstellen muss, dass dieser Unionsbürger, wenn er seinen ständigen Wohnsitz im Inland hat, bei Auslieferungsfragen auf gleiche Weise wie seine eigenen Staatsangehörigen behandelt wird.
Unterschriften
(*1) Verfahrenssprache: Finnisch.
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Urteil des Gerichtshofs (Große Kammer) vom 13. September 2016.#Secretary of State for the Home Department gegen CS.#Vorabentscheidungsersuchen des Upper Tribunal (Immigration and Asylum Chamber) London.#Vorlage zur Vorabentscheidung – Unionsbürgerschaft – Art. 20 AEUV – Drittstaatsangehöriger, der einem Kleinkind Unterhalt gewährt, das Unionsbürger ist – Recht auf Aufenthalt in dem Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit das Kind besitzt – Strafrechtliche Verurteilungen des Elternteils des Kindes – Ausweisung des Elternteils, die dazu führt, dass mittelbar auch das Kind ausgewiesen wird.#Rechtssache C-304/14.
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62014CJ0304
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ECLI:EU:C:2016:674
| 2016-09-13T00:00:00 |
Szpunar, Gerichtshof
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Sammlung der Rechtsprechung – allgemein
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62014CJ0304
URTEIL DES GERICHTSHOFS (Große Kammer)
13. September 2016 (*1)
„Vorlage zur Vorabentscheidung — Unionsbürgerschaft — Art. 20 AEUV — Drittstaatsangehöriger, der einem Kleinkind Unterhalt gewährt, das Unionsbürger ist — Recht auf Aufenthalt in dem Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit das Kind besitzt — Strafrechtliche Verurteilungen des Elternteils des Kindes — Ausweisung des Elternteils, die dazu führt, dass mittelbar auch das Kind ausgewiesen wird“
In der Rechtssache C‑304/14
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Upper Tribunal (Immigration and Asylum Chamber) (Obergericht [Senat für Einwanderung und Asyl], Vereinigtes Königreich) mit Entscheidung vom 4. Juni 2014, beim Gerichtshof eingegangen am 24. Juni 2014, in dem Verfahren
Secretary of State for the Home Department
gegen
CS
erlässt
DER GERICHTSHOF (Große Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten K. Lenaerts, der Kammerpräsidentin R. Silva de Lapuerta, der Kammerpräsidenten M. Ilešič und L. Bay Larsen, der Kammerpräsidentin C. Toader, der Kammerpräsidenten D. Šváby, F. Biltgen und C. Lycourgos, der Richter A. Rosas (Berichterstatter), E. Juhász, A. Borg Barthet und M. Safjan sowie der Richterinnen M. Berger, A. Prechal und K. Jürimäe,
Generalanwalt: M. Szpunar,
Kanzler: M. Ferreira, Hauptverwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 30. Juni 2015,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
—
von CS, vertreten durch R. Husain, QC, L. Dubinsky und P. Tridimas, Barristers, beauftragt durch D. Furner, Solicitor,
—
der Regierung des Vereinigten Königreichs, vertreten durch M. Holt und J. Beeko als Bevollmächtigte im Beistand von D. Blundell, Barrister,
—
der dänischen Regierung, vertreten durch C. Thorning und M. Wolff als Bevollmächtigte,
—
der französischen Regierung, vertreten durch D. Colas und R. Coesme als Bevollmächtigte,
—
der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna, K. Pawłowska und M. Pawlicka als Bevollmächtigte,
—
der Europäischen Kommission, vertreten durch I. Martínez del Peral, C. Tufvesson und M. Wilderspin als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 4. Februar 2016
folgendes
Urteil
1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 20 AEUV.
2 Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Drittstaatsangehörigen CS, der Mutter eines Kleinkinds, das Unionsbürger ist und die Staatsbürgerschaft eines Mitgliedstaats besitzt, in dem es sich durchgehend aufgehalten hat, und dem Secretary of State for the Home Department (Innenminister, Vereinigtes Königreich) wegen einer Verfügung, mit der CS wegen ihrer Vorstrafen aus dem Hoheitsgebiet des Vereinigten Königreichs in einen Drittstaat ausgewiesen wurde.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
3 Art. 3 („Berechtigte“) der Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 und zur Aufhebung der Richtlinien 64/221/EWG, 68/360/EWG, 72/194/EWG, 73/148/EWG, 75/34/EWG, 75/35/EWG, 90/364/EWG, 90/365/EWG und 93/96/EWG (ABl. 2004, L 158, S. 77, berichtigt im ABl. 2004, L 229, S. 35) bestimmt:
„(1) Diese Richtlinie gilt für jeden Unionsbürger, der sich in einen anderen als den Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, begibt oder sich dort aufhält, sowie für seine Familienangehörigen im Sinne von Artikel 2 Nummer 2, die ihn begleiten oder ihm nachziehen.
(2) Unbeschadet eines etwaigen persönlichen Rechts auf Freizügigkeit und Aufenthalt der Betroffenen erleichtert der Aufnahmemitgliedstaat nach Maßgabe seiner innerstaatlichen Rechtsvorschriften die Einreise und den Aufenthalt der folgenden Personen:
a)
jedes nicht unter die Definition in Artikel 2 Nummer 2 fallenden Familienangehörigen ungeachtet seiner Staatsangehörigkeit, dem der primär aufenthaltsberechtigte Unionsbürger im Herkunftsland Unterhalt gewährt oder der mit ihm im Herkunftsland in häuslicher Gemeinschaft gelebt hat …
…
Der Aufnahmemitgliedstaat führt eine eingehende Untersuchung der persönlichen Umstände durch und begründet eine etwaige Verweigerung der Einreise oder des Aufenthalts dieser Personen.“
Recht des Vereinigten Königreichs
Borders Act
4 Nach Section 32(5) des UK Borders Act 2007 (Gesetz über die Grenzen von 2007, im Folgenden: Borders Act) hat der Innenminister, wenn eine Person, die nicht die britische Staatsangehörigkeit besitzt, im Vereinigten Königreich wegen einer strafbaren Handlung zu einer Freiheitsstrafe von mindestens zwölf Monaten verurteilt wurde, gegen sie eine Ausweisungsverfügung zu erlassen.
5 Nach Section 33 des Borders Act gilt dies nicht, wenn die Abschiebung der verurteilten Person gemäß der Ausweisungsverfügung
a)
die Rechte einer Person aufgrund der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten verletzen,
b)
gegen die Verpflichtungen des Vereinigten Königreichs aus dem am 28. Juli 1951 in Genf unterzeichneten Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (United Nations Treaty Series, Bd. 189, S. 150, Nr. 2545 [1954]) verstoßen oder
c)
Rechte des Straftäters aus den EU-Verträgen verletzen würde.
Immigration Regulations
6 Nach Regulation 15A(4A) der Immigration (European Economic Area) Regulations 2006 (Verordnung von 2006 über die Einwanderung [Europäischer Wirtschaftsraum]) in ihrer im Lauf des Jahres 2012 geänderten Fassung (im Folgenden: Immigration Regulations), mit der dem Urteil vom 8. März 2011, Ruiz Zambrano (C‑34/09, EU:C:2011:124), Rechnung getragen wurde, hat eine Person, die die Voraussetzungen dieser Bestimmung erfüllt, „ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht im Vereinigten Königreich“.
7 Nach Regulation 15A(9) der Immigration Regulations hat eine Person, die normalerweise ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht – etwa nach Regulation 15A(4A) – hätte, dieses Recht jedoch nicht, „wenn der [Innenminister] eine Verfügung gemäß Regulation 19(3b), 20(1) oder 20A(1) erlassen hat“.
8 Nach Regulation 20(1) der Immigration Regulations kann der Innenminister die Erteilung einer Anmeldebescheinigung, einer Aufenthaltskarte, eines Dokuments, in dem ein Daueraufenthalt bescheinigt wird, oder einer Daueraufenthaltskarte verweigern, diese Dokumente widerrufen oder ihre Verlängerung verweigern, „wenn die Verweigerung oder der Widerruf aus Gründen der öffentlichen Ordnung, öffentlichen Sicherheit oder öffentlichen Gesundheit gerechtfertigt ist“.
9 Ein solcher Bescheid hat nach Regulation 20(6) der Immigration Regulations im Einklang mit Regulation 21 zu ergehen.
10 Mit Regulation 21A der Immigration Regulations wird eine geänderte Fassung von Teil 4 der Immigration Regulations u. a. auf Entscheidungen im Zusammenhang mit abgeleiteten Aufenthaltsrechten angewandt. Dabei ist nach Regulation 21A(3)(a) Teil 4 in der Weise anzuwenden, dass „Bezugnahmen auf einen Sachverhalt, der ‚aus Gründen der öffentlichen Ordnung, öffentlichen Sicherheit oder öffentlichen Gesundheit gerechtfertigt im Sinne von Regulation 21‘ ist, stattdessen darauf Bezug nehmen, dass ein Sachverhalt ‚im allgemeinen Interesse liegt‘“.
11 Nach diesen Vorschriften kann einer Person das abgeleitete Aufenthaltsrecht, das ihr normalerweise nach Art. 20 AEUV in der Auslegung des Gerichtshofs in seinem Urteil vom 8. März 2011, Ruiz Zambrano (C‑34/09, EU:C:2011:124), zustünde, verweigert werden, wenn dies im allgemeinen Interesse liegt.
Ausgangsverfahren und Vorlagefragen
12 Die Drittstaatsangehörige CS heiratete im Jahr 2002 einen britischen Staatsangehörigen. Im September 2003 erhielt sie aufgrund ihrer Eheschließung ein Visum und reiste rechtmäßig in das Vereinigte Königreich ein, mit der Erlaubnis, sich dort bis zum 20. August 2005 aufzuhalten. Am 31. Oktober 2005 wurde ihr eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis für das Vereinigte Königreich erteilt.
13 Aus der Ehe ging ein Kind hervor. Es wurde 2011 im Vereinigten Königreich geboren. Dem Vorlagebeschluss zufolge sorgt CS alleine für das Kind. Es besitzt die britische Staatsangehörigkeit.
14 CS wurde am 21. März 2012 wegen einer Straftat verurteilt. Als Strafmaß wurde am 4. Mai 2012 eine Freiheitsstrafe von zwölf Monaten festgesetzt.
15 Am 2. August 2012 wurde CS darüber informiert, dass sie aufgrund ihrer Verurteilung aus dem Vereinigten Königreich ausgewiesen werden könne. Am 30. August 2012 stellte sie im Vereinigten Königreich einen Asylantrag, der von der zuständigen nationalen Behörde, dem Innenminister, geprüft wurde.
16 Am 2. November 2012 wurde CS nach Verbüßung ihrer Freiheitsstrafe aus der Haft entlassen. Ihr Asylantrag wurde am 9. Januar 2013 vom Innenminister abgelehnt. Die Verfügung, mit der CS aus dem Vereinigten Königreich in einen Drittstaat ausgewiesen wurde, erging nach Section 32(5) des Borders Act. CS focht die Entscheidung des Innenministers an. Sie machte dabei von ihrem Recht auf Klage beim First-tier Tribunal (Immigration and Asylum Chamber) (Erstinstanzliches Gericht [Kammer für Einwanderung und Asyl], Vereinigtes Königreich) Gebrauch. Am 3. September 2013 wurde ihrer Klage mit der Begründung stattgegeben, dass eine Ausweisung gegen das Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, die Art. 3 und 8 der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten und die Verträge verstoßen würde.
17 In seiner Entscheidung stellte das First-tier Tribunal (Immigration and Asylum Chamber) (Erstinstanzliches Gericht [Kammer für Einwanderung und Asyl]) fest, dass sich im Fall einer Ausweisungsmaßnahme gegen CS kein anderer Familienangehöriger im Vereinigten Königreich um ihr Kind kümmern könne, so dass das Kind CS in deren Herkunftsstaat folgen müsste. Das Gericht verwies auf die Rechte, die das Kind von CS als Unionsbürger nach Art. 20 AEUV in der Auslegung durch den Gerichtshof im Urteil vom 8. März 2011, Ruiz Zambrano (C‑34/09, EU:C:2011:124), habe, und entschied, dass es unter keinen Umständen zulässig sei, einen Unionsbürger einfach aus dem Unionsgebiet auszuweisen, dass es von dieser Verpflichtung keinerlei Ausnahme gebe, auch dann nicht, wenn die Eltern vorbestraft seien, und dass die im vorliegenden Fall ergangene Ausweisungsverfügung daher nicht im Einklang mit dem Gesetz stehe, weil sie die Rechte des Kindes aus Art. 20 AEUV verletze.
18 Dem Innenminister wurde erlaubt, Rechtsmittel beim Upper Tribunal (Immigration and Asylum Chamber) (Obergericht [Senat für Einwanderung und Asyl], Vereinigtes Königreich) einzulegen. Der Innenminister machte geltend, dass das erstinstanzliche Gericht der Klage von CS zu Unrecht stattgegeben habe. Dem erstinstanzlichen Gericht seien Rechtsfehler unterlaufen, insbesondere bei den Beurteilungen in Bezug auf die Rechte des Kindes aus Art. 20 AEUV, das Urteil vom 8. März 2011, Ruiz Zambrano (C‑34/09, EU:C:2011:124), und die abgeleiteten Rechte von CS. Das Unionsrecht stehe einer Ausweisung von CS in ihren Herkunftsstaat nicht entgegen, auch wenn dadurch ihrem Kind, das Unionsbürger sei, der tatsächliche Genuss des Kernbestands der mit diesem Status verbundenen Rechte genommen werde.
19 Unter diesen Umständen hat das Upper Tribunal (Immigration and Asylum Chamber) (Obergericht [Senat für Einwanderung und Asyl]) das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:
Zu den Vorlagefragen
20 Mit seinen Fragen, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 20 AEUV dahin auszulegen ist, dass er einer Regelung eines Mitgliedstaats entgegensteht, nach der ein wegen einer Straftat von gewisser Schwere verurteilter Drittstaatsangehöriger auch dann in den Drittstaat auszuweisen ist, wenn er tatsächlich für ein Kleinkind sorgt, das die Staatsangehörigkeit dieses Mitgliedstaats besitzt, in dem es sich seit seiner Geburt aufgehalten hat, ohne von seinem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch gemacht zu haben, und das Kind wegen der beabsichtigten Ausweisung das Unionsgebiet verlassen müsste, so dass ihm der tatsächliche Genuss des Kernbestands seiner Rechte als Unionsbürger verwehrt würde.
Zu den unionsrechtlichen Bestimmungen über die Unionsbürgerschaft
21 Als Erstes ist festzustellen, dass die Richtlinie 2004/38 nach Abs. 1 ihres Art. 3 („Berechtigte“) für jeden Unionsbürger gilt, der „sich in einen anderen als den Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, begibt oder sich dort aufhält, sowie für seine Familienangehörigen“.
22 In einem Fall, wie er dem Ausgangsverfahren zugrunde liegt, gilt die Richtlinie 2004/38 also nicht. Der betreffende Unionsbürger hat nämlich zu keinem Zeitpunkt von seinem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch gemacht und sich durchgehend in dem Mitgliedstaat aufgehalten, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt (vgl. Urteil vom 8. März 2011, Ruiz Zambrano, C‑34/09, EU:C:2011:124, Rn. 39). Sofern ein Unionsbürger nicht unter den Begriff „Berechtigter“ im Sinne von Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 fällt, fallen auch seine Familienangehörigen nicht unter diesen Begriff, da die durch diese Richtlinie den Familienangehörigen eines nach ihr Berechtigten verliehenen Rechte keine eigenen Rechte dieser Angehörigen, sondern abgeleitete Rechte sind, die sie als Familienangehörige des Berechtigten erworben haben (vgl. Urteile vom 5. Mai 2011, McCarthy, C‑434/09, EU:C:2011:277, Rn. 42, vom 15. November 2011, Dereci u. a., C‑256/11, EU:C:2011:734, Rn. 55, und vom 8. Mai 2013, Ymeraga u. a., C‑87/12, EU:C:2013:291, Rn. 31).
23 Was als Zweites Art. 20 AEUV angeht, hat der Gerichtshof bereits entschieden, dass die Situation eines Unionsbürgers, der – wie das die britische Staatsangehörigkeit besitzende Kind von CS – vom Recht auf Freizügigkeit keinen Gebrauch gemacht hat, nicht allein aus diesem Grund einer rein internen Situation gleichgestellt werden kann, d. h. einer Situation, die keine Anknüpfungspunkte an eine der vom Unionsrecht erfassten Situationen aufweist (vgl. Urteile vom 5. Mai 2011, McCarthy, C‑434/09, EU:C:2011:277, Rn. 46, vom 15. November 2011, Dereci u. a., C‑256/11, EU:C:2011:734, Rn. 61, und vom 6. Dezember 2012, O. u. a., C‑356/11 und C‑357/11, EU:C:2012:776, Rn. 43).
24 Das Kind von CS genießt nämlich als Angehöriger eines Mitgliedstaats gemäß Art. 20 Abs. 1 AEUV den Status eines Unionsbürgers, der dazu bestimmt ist, der grundlegende Status der Angehörigen der Mitgliedstaaten zu sein, und kann sich daher – auch gegenüber dem Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit es besitzt – auf die mit diesem Status verbundenen Rechte berufen (vgl. Urteile vom 5. Mai 2011, McCarthy, C‑434/09, EU:C:2011:277, Rn. 48, vom 15. November 2011, Dereci u. a., C‑256/11, EU:C:2011:734, Rn. 63, und vom 6. Dezember 2012, O. u. a., C‑356/11 und C‑357/11, EU:C:2012:776, Rn. 44).
25 Die Unionsbürgerschaft verleiht jedem Unionsbürger das elementare, persönliche Recht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten vorbehaltlich der im Vertrag vorgesehenen Beschränkungen und Bedingungen und der Maßnahmen zu ihrer Durchführung frei zu bewegen und aufzuhalten (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 7. Oktober 2007, Lassal, C‑162/09, EU:C:2010:592, Rn. 29, und vom 16. Oktober 2012, Ungarn/Slowakei, C‑364/10, EU:C:2012:630, Rn. 43).
26 Wie der Gerichtshof in Rn. 42 des Urteils vom 8. März 2011, Ruiz Zambrano (C‑34/09, EU:C:2011:124), festgestellt hat, steht Art. 20 AEUV nationalen Maßnahmen entgegen, die bewirken, dass den Unionsbürgern der tatsächliche Genuss des Kernbestands der Rechte, die ihnen der Unionsbürgerstatus verleiht, verwehrt wird.
27 Die Vertragsbestimmungen über die Unionsbürgerschaft verleihen Drittstaatsangehörigen dagegen keine eigenständigen Rechte (Urteile vom 8. November 2012, Iida, C‑40/11, EU:C:2012:691, Rn. 66, und vom 8. Mai 2013, Ymeraga u. a., C‑87/12, EU:C:2013:291, Rn. 34).
28 Die etwaigen Rechte, die die Vertragsbestimmungen über die Unionsbürgerschaft den Drittstaatsangehörigen verleihen, sind nämlich nicht deren eigene Rechte, sondern aus den Rechten des Unionsbürgers abgeleitete. Ihr Zweck und ihre Rechtfertigung beruhen auf der Feststellung, dass ihre Nichtanerkennung den Unionsbürger insbesondere in seiner Freizügigkeit beeinträchtigen könnte (Urteile vom 8. November 2012, Iida, C‑40/11, EU:C:2012:691, Rn. 67 und 68, und vom 8. Mai 2013, Ymeraga u. a., C‑87/12, EU:C:2013:291, Rn. 35).
29 Insoweit hat der Gerichtshof bereits entschieden, dass es ganz besondere Sachverhalte gibt, in denen – obwohl das für das Aufenthaltsrecht von Drittstaatsangehörigen geltende Sekundärrecht nicht anwendbar ist und der betreffende Unionsbürger sein Recht auf Freizügigkeit nicht ausgeübt hat – einem Drittstaatsangehörigen, der Familienangehöriger des Unionsbürgers ist, dennoch ein Aufenthaltsrecht eingeräumt werden muss, da sonst die Unionsbürgerschaft ihrer praktischen Wirksamkeit beraubt würde, wenn sich der Unionsbürger infolge der Verweigerung des Aufenthaltsrechts de facto gezwungen sähe, das Gebiet der Union als Ganzes zu verlassen, und ihm dadurch der tatsächliche Genuss des Kernbestands der Rechte, die ihm dieser Status verleiht, verwehrt würde (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 8. März 2011, Ruiz Zambrano, C‑34/09, EU:C:2011:124, Rn. 43 und 44, vom 15. November 2011, Dereci u. a., C‑256/11, EU:C:2011:734, Rn. 66 und 67, vom 8. November 2012, Iida, C‑40/11, EU:C:2012:691, Rn. 71, vom 8. Mai 2013, Ymeraga u. a., C‑87/12, EU:C:2013:291, Rn. 36, und vom 10. Oktober 2013, Alokpa und Moudoulou, C‑86/12, EU:C:2013:645, Rn. 32).
30 Kennzeichnend für die genannten Fälle ist, dass sie, auch wenn sie durch Rechtsvorschriften geregelt sind, die a priori in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten fallen, und zwar durch die Rechtsvorschriften über das Einreise- und Aufenthaltsrecht von Drittstaatsangehörigen außerhalb des Anwendungsbereichs des Sekundärrechts, die unter bestimmten Voraussetzungen die Verleihung eines Einreise- und Aufenthaltsrechts vorsehen, in einem inneren Zusammenhang mit der Freizügigkeit und dem Aufenthaltsrecht eines Unionsbürgers stehen, die beeinträchtigt würden, wenn den Drittstaatsangehörigen das Recht verweigert würde, in den Mitgliedstaat, in dem der Unionsbürger wohnt, einzureisen und sich dort aufzuhalten, und die daher der Versagung dieses Rechts entgegenstehen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 8. November 2012, Iida, C‑40/11, EU:C:2012:691, Rn. 72, und vom 8. Mai 2013, Ymeraga u. a., C‑87/12, EU:C:2013:291, Rn. 37).
31 Im vorliegenden Fall hat das Kind von CS als Unionsbürger das Recht, sich im Unionsgebiet frei zu bewegen und aufzuhalten. Jede Einschränkung dieses Rechts fällt in den Anwendungsbereich des Unionsrechts.
32 Eine Einschränkung der Rechte, die der Unionsbürgerstatus verleiht, könnte aber aus der Ausweisung der Mutter des Kindes resultieren, die tatsächlich für das Kind sorgt. Das Kind könnte nämlich faktisch gezwungen sein, seine Mutter zu begleiten und somit das Unionsgebiet als Ganzes zu verlassen. Dem Kind könnte durch die Ausweisung seiner Mutter mithin der tatsächliche Genuss des Kernbestands der Rechte, die ihm der Unionsbürgerstatus verleiht, verwehrt werden.
33 Somit ist festzustellen, dass dem Kind von CS durch die Situation, um die es im Ausgangsverfahren geht, der tatsächliche Genuss des Kernbestands der Rechte, die ihm sein Unionsbürgerstatus verleiht, verwehrt wird, so dass diese Situation in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fällt.
Zur Möglichkeit der Einschränkung eines aus Art. 20 AEUV abgeleiteten Aufenthaltsrechts
34 Die Regierung des Vereinigten Königreichs vertritt die Auffassung, die Begehung einer Straftat könne einen Fall dem Anwendungsbereich des vom Gerichtshof im Urteil vom 8. März 2011, Ruiz Zambrano (C‑34/09, EU:C:2011:124), aufgestellten Grundsatzes entziehen. Wenn der Gerichtshof jedoch zu dem Schluss gelangen sollte, dass dieser Grundsatz in einem Fall wie dem des Ausgangsverfahrens anwendbar sei, könnten für ihn Einschränkungen gelten. Die Entscheidung, CS wegen ihres strafrechtlich relevanten Verhaltens von gewisser Schwere auszuweisen, sei aus Gründen der öffentlichen Ordnung getroffen worden. Denn dieses Verhalten stelle eindeutig eine Gefahr für ein legitimes Interesse des Vereinigten Königreichs dar, nämlich die Wahrung des sozialen Zusammenhalts und der Werte seiner Gesellschaft. Der Court of Appeal (England & Wales) (Criminal Division) (Berufungsgerichtshof [England & Wales] [Abteilung für Strafsachen], Vereinigtes Königreich) habe in der Entscheidung, mit der die Berufung von CS gegen ihre Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe zurückgewiesen worden sei, festgestellt, dass CS eine schwere Straftat begangen habe.
35 Die Möglichkeit der Mitgliedstaaten, einen Unionsbürger aus ihrem Hoheitsgebiet auszuweisen, insbesondere wenn er eine Straftat begangen habe, sei in den Art. 27 und 28 der Richtlinie 2004/38 geregelt. Bestünde nicht die Möglichkeit, ein unmittelbar auf Art. 20 AEUV beruhendes abgeleitetes Aufenthaltsrecht einzuschränken und eine Ausweisung zu verfügen, könnte ein Mitgliedstaat einen Drittstaatsangehörigen, der eine Straftat begangen habe, nicht ausweisen, sofern er ein Kind habe, das Unionsbürger sei und in dem Mitgliedstaat lebe, dessen Staatsangehörigkeit es besitze. Der Schutz vor Ausweisung aus dem Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats wäre dann für einen Drittstaatsangehörigen mit abgeleitetem Aufenthaltsrecht höher als für einen Unionsbürger. Ein Mitgliedstaat müsse deshalb befugt sein, von dem auf Art. 20 AEUV beruhenden abgeleiteten Aufenthaltsrecht abzuweichen und einen solchen Drittstaatsangehörigen im Fall einer Straftat von gewisser Schwere aus seinem Hoheitsgebiet auszuweisen, selbst wenn dies bedeute, dass das betreffende Kind das Unionsgebiet verlassen müsse. Eine solche Ausweisung müsse allerdings verhältnismäßig sein und die Grundrechte beachten.
36 Dazu ist festzustellen, dass Art. 20 AEUV die Möglichkeit der Mitgliedstaaten unberührt lässt, sich u. a. auf eine Ausnahme wegen der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit zu berufen. Da die Situation von CS aber dem Unionsrecht unterliegt, ist bei ihrer Beurteilung das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens gemäß Art. 7 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) zu berücksichtigen, wobei dieser Artikel im Zusammenhang mit der Verpflichtung zu sehen ist, das Wohl des Kindes, wie es in Art. 24 Abs. 2 der Charta anerkannt ist, zu berücksichtigen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 23. Dezember 2009, Detiček, C‑403/09 PPU, EU:C:2009:810, Rn. 53 und 54).
37 Im Übrigen sind die Begriffe „öffentliche Ordnung“ und „öffentliche Sicherheit“ als Rechtfertigung für eine Abweichung vom Aufenthaltsrecht der Unionsbürger oder ihrer Familienangehörigen eng auszulegen, so dass ihre Tragweite nicht ohne Kontrolle durch die Organe der Union einseitig von den Mitgliedstaaten bestimmt werden darf (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 4. Dezember 1974, van Duyn, 41/74, EU:C:1974:133, Rn. 18, vom 27. Oktober 1977, Bouchereau, 30/77, EU:C:1977:172, Rn. 33, vom 29. April 2004, Orfanopoulos und Oliveri, C‑482/01 und C‑493/01, EU:C:2004:262, Rn. 64 und 65, vom 27. April 2006, Kommission/Deutschland, C‑441/02, EU:C:2006:253, Rn. 34, und vom 7. Juni 2007, Kommission/Niederlande, C‑50/06, EU:C:2007:325, Rn. 42).
38 Dabei hat der Gerichtshof entschieden, dass der Begriff „öffentliche Ordnung“ jedenfalls voraussetzt, dass außer der Störung der sozialen Ordnung, die jeder Gesetzesverstoß darstellt, eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr vorliegt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt.
39 Zum Begriff „öffentliche Sicherheit“ geht aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs hervor, dass er sowohl die innere als auch die äußere Sicherheit eines Mitgliedstaats umfasst, so dass die Beeinträchtigung des Funktionierens der Einrichtungen des Staates und seiner wichtigen öffentlichen Dienste sowie das Überleben der Bevölkerung ebenso wie die Gefahr einer erheblichen Störung der auswärtigen Beziehungen oder des friedlichen Zusammenlebens der Völker oder eine Beeinträchtigung der militärischen Interessen die öffentliche Sicherheit berühren können (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 23. November 2010, Tsakouridis, C‑145/09, EU:C:2010:708, Rn. 43 und 44, und vom 15. Februar 2016, N., C‑601/15 PPU, EU:C:2016:84, Rn. 65 und 66). Der Gerichtshof hat ferner entschieden, dass der Begriff „öffentliche Sicherheit“ die Bekämpfung der mit bandenmäßigem Handel mit Betäubungsmitteln verbundenen Kriminalität (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 23. November 2010, Tsakouridis, C‑145/09, EU:C:2010:708, Rn. 45 und 46) oder des Terrorismus (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 26. November 2002, Oteiza Olazabal, C‑100/01, EU:C:2002:712, Rn. 12 und 35) umfasst.
40 In diesem Kontext ist davon auszugehen, dass eine Ausweisung wegen des Vorliegens einer tatsächlichen, gegenwärtigen und erheblichen Gefahr für die öffentliche Ordnung oder Sicherheit aufgrund der Straftaten, die ein für Kinder, die Unionsbürger sind, allein sorgeberechtigter Drittstaatsangehöriger begangen hat, mit dem Unionsrecht vereinbar sein kann.
41 Ein solcher Schluss kann jedoch nicht automatisch allein auf der Grundlage der Vorstrafen des Betroffenen gezogen werden. Vorausgehen muss stets eine konkrete Beurteilung sämtlicher aktuellen, relevanten Umstände des Einzelfalls durch das nationale Gericht unter Berücksichtigung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit, des Wohls des Kindes und der Grundrechte, deren Beachtung der Gerichtshof sichert.
42 Bei dieser Beurteilung sind daher u. a. das persönliche Verhalten des Betroffenen, die Dauer und Rechtmäßigkeit seines Aufenthalts im Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats, die Art und Schwere der begangenen Straftat, der Grad der gegenwärtigen Gefährlichkeit des Betroffenen für die Gesellschaft, das Alter des Kindes und sein Gesundheitszustand sowie seine familiäre und wirtschaftliche Situation zu berücksichtigen.
43 Im vorliegenden Fall sieht nach den Angaben des vorlegenden Gerichts die nationale Regelung, um die es im Ausgangsverfahren geht, bei einer Person, die nicht die Staatsangehörigkeit des Vereinigten Königreichs besitzt und wegen einer strafbaren Handlung zu einer Freiheitsstrafe von mindestens zwölf Monaten verurteilt wurde, vor, dass der Erlass einer Ausweisungsverfügung durch den Innenminister obligatorisch ist, es sei denn, dass sie „Rechte des Straftäters aus den EU-Verträgen verletzen würde“.
44 Diese Regelung knüpft an die strafrechtliche Verurteilung der betreffenden Person also offenbar automatisch und systematisch die entsprechende Ausweisungsverfügung an. Jedenfalls besteht eine Vermutung dafür, dass die betreffende Person aus dem Vereinigten Königreich auszuweisen ist.
45 Wie oben in den Rn. 40 bis 42 ausgeführt, kann das bloße Vorliegen von Vorstrafen aber nicht eine Ausweisungsverfügung rechtfertigen, durch die dem Kind von CS der tatsächliche Genuss des Kernbestands der Rechte, die ihm der Unionsbürgerstatus verleiht, genommen würde.
46 Angesichts der Erwägungen in Rn. 40 des vorliegenden Urteils wird das vorlegende Gericht zunächst zu ermitteln haben, inwieweit das Verhalten von CS oder die von ihr begangene Straftat eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr darstellt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft oder des Aufnahmemitgliedstaats berührt und eine Ausweisung aus dem Vereinigten Königreich zum Schutz der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit zu rechtfertigen vermag.
47 Dabei wird das vorlegende Gericht zum einen einzuschätzen haben, wie gefährlich das strafrechtlich relevante Verhalten von CS für die Gesellschaft ist, und zum anderen, welche Folgen es für die öffentliche Ordnung oder Sicherheit des betreffenden Mitgliedstaats haben könnte.
48 Im Rahmen der von ihm vorzunehmenden Abwägung muss das vorlegende Gericht auch die Grundrechte, deren Beachtung der Gerichtshof sichert, und insbesondere das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens gemäß Art. 7 der Charta berücksichtigen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 23. November 2010, Tsakouridis, C‑145/09, EU:C:2010:708, Rn. 52) und darauf achten, dass der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gewahrt wird.
49 Im vorliegenden Fall ist bei der Abwägung der einander gegenüberstehenden Interessen das Wohl des Kindes zu berücksichtigen. In besonderem Maß sind seinem Alter, seiner Situation im betreffenden Mitgliedstaat und dem Grad seiner Abhängigkeit vom Elternteil Rechnung zu tragen (vgl. in diesem Sinne EGMR, 3. Oktober 2014, Jeunesse/Niederlande, CE:ECHR:2014:1003JUD001273810, § 118).
50 Nach alledem ist auf die Vorlagefragen zu antworten, dass Art. 20 AEUV dahin auszulegen ist, dass er einer Regelung eines Mitgliedstaats entgegensteht, nach der ein wegen einer Straftat verurteilter Drittstaatsangehöriger auch dann in den Drittstaat auszuweisen ist, wenn er tatsächlich für ein Kleinkind sorgt, das die Staatsangehörigkeit dieses Mitgliedstaats besitzt, in dem es sich seit seiner Geburt aufgehalten hat, ohne von seinem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch gemacht zu haben, und das wegen der Ausweisung des Drittstaatsangehörigen das Unionsgebiet verlassen müsste, so dass ihm der tatsächliche Genuss des Kernbestands seiner Rechte als Unionsbürger verwehrt würde. Unter außergewöhnlichen Umständen darf ein Mitgliedstaat jedoch eine Ausweisungsverfügung erlassen, sofern sie auf dem persönlichen Verhalten des Drittstaatsangehörigen beruht, das eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr darstellen muss, die ein Grundinteresse der Gesellschaft des Mitgliedstaats berührt, und die verschiedenen einander gegenüberstehenden Interessen berücksichtigt werden. Es ist Sache des nationalen Gerichts, dies zu überprüfen.
Kosten
51 Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Große Kammer) für Recht erkannt:
Art. 20 AEUV ist dahin auszulegen, dass er einer Regelung eines Mitgliedstaats entgegensteht, nach der ein wegen einer Straftat verurteilter Drittstaatsangehöriger auch dann in den Drittstaat auszuweisen ist, wenn er tatsächlich für ein Kleinkind sorgt, das die Staatsangehörigkeit dieses Mitgliedstaats besitzt, in dem es sich seit seiner Geburt aufgehalten hat, ohne von seinem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch gemacht zu haben, und das wegen der Ausweisung des Drittstaatsangehörigen das Gebiet der Europäischen Union verlassen müsste, so dass ihm der tatsächliche Genuss des Kernbestands seiner Rechte als Unionsbürger verwehrt würde. Unter außergewöhnlichen Umständen darf ein Mitgliedstaat jedoch eine Ausweisungsverfügung erlassen, sofern sie auf dem persönlichen Verhalten des Drittstaatsangehörigen beruht, das eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr darstellen muss, die ein Grundinteresse der Gesellschaft des Mitgliedstaats berührt, und die verschiedenen einander gegenüberstehenden Interessen berücksichtigt werden. Es ist Sache des nationalen Gerichts, dies zu überprüfen.
Unterschriften
(*1) Verfahrenssprache: Englisch.
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Urteil des Gerichtshofes (Zweite Kammer) vom 22. Dezember 2010.#DEB Deutsche Energiehandels- und Beratungsgesellschaft mbH gegen Bundesrepublik Deutschland.#Ersuchen um Vorabentscheidung: Kammergericht - Deutschland.#Effektiver gerichtlicher Schutz der Rechte aus dem Unionsrecht - Recht auf ein Gericht - Prozesskostenhilfe - Nationale Regelung, die juristischen Personen bei fehlenden ‚allgemeinen Interessen‘ die Prozesskostenhilfe verweigert.#Rechtssache C-279/09.
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62009CJ0279
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ECLI:EU:C:2010:811
| 2010-12-22T00:00:00 |
Gerichtshof, Mengozzi
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Sammlung der Rechtsprechung 2010 I-13849
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Rechtssache C‑279/09
DEB Deutsche Energiehandels- und Beratungsgesellschaft mbH
gegen
Bundesrepublik Deutschland
(Vorabentscheidungsersuchen des Kammergerichts)
„Effektiver gerichtlicher Schutz der Rechte aus dem Unionsrecht – Recht auf ein Gericht – Prozesskostenhilfe – Nationale Regelung, die juristischen Personen bei fehlenden ‚allgemeinen Interessen‘ die Prozesskostenhilfe verweigert“
Leitsätze des Urteils
1. Unionsrecht – Grundsätze – Anspruch auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz – Verankerung in der Europäischen Menschenrechtskonvention
– Berücksichtigung der Charta der Grundrechte der Europäischen Union
(Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 47)
2. Unionsrecht – Grundsätze – Anspruch auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz – Verankerung in der Charta der Grundrechte
der Europäischen Union – Nationale Regelung, nach der die gerichtliche Geltendmachung von der Zahlung eines Gerichtskostenvorschusses
und/oder der Gebühren für den Beistand eines Rechtsanwalts abhängig gemacht wird – Ausschluss einer juristischen Person, die
diesen Vorschuss nicht aufbringen kann, von der Prozesskostenhilfe – Zulässigkeit – Voraussetzungen – Beurteilung durch das
nationale Gericht
(Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 47)
1. Der Grundsatz des effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes ist ein allgemeiner Grundsatz des Unionsrechts, der sich aus den
gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten ergibt und der in den Art. 6 und 13 der Europäischen Menschenrechtskonvention
verankert ist.
Hinsichtlich der Grundrechte ist die Charta der Grundrechte der Europäischen Union zu berücksichtigen; seit dem Inkrafttreten
des Vertrags von Lissabon sind nach Art. 6 Abs. 1 Unterabs. 1 EUV die Charta „und die Verträge … rechtlich gleichrangig“.
Nach ihrem Art. 51 Abs. 1 gilt die Charta nämlich für die Mitgliedstaaten bei der Durchführung des Rechts der Union.
Nach den Erläuterungen zu Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, die gemäß Art. 6 Abs. 1 Unterabs. 3 EUV
und Art. 52 Abs. 7 der Charta für deren Auslegung zu berücksichtigen sind, entspricht Art. 47 Abs. 2 der Charta Art. 6 Abs. 1
der Europäischen Menschenrechtskonvention.
(vgl. Randnrn. 29-32)
2. Der in Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union verankerte Grundsatz des effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes
ist dahin auszulegen, dass seine Geltendmachung durch juristische Personen nicht ausgeschlossen ist und dass er u. a. die
Befreiung von der Zahlung des Gerichtskostenvorschusses und/oder der Gebühren für den Beistand eines Rechtsanwalts umfassen
kann.
Der nationale Richter hat insoweit zu prüfen, ob die Voraussetzungen für die Gewährung von Prozesskostenhilfe eine Beschränkung
des Rechts auf Zugang zu den Gerichten darstellen, die dieses Recht in seinem Wesensgehalt selbst beeinträchtigen, ob sie
einem legitimen Zweck dienen und ob die angewandten Mittel in einem angemessenen Verhältnis zum verfolgten Ziel stehen.
Im Rahmen dieser Würdigung kann der nationale Richter den Streitgegenstand, die begründeten Erfolgsaussichten des Klägers,
die Bedeutung des Rechtsstreits für diesen, die Komplexität des geltenden Rechts und des anwendbaren Verfahrens sowie die
Fähigkeit des Klägers berücksichtigen, sein Anliegen wirksam zu verteidigen. Bei der Beurteilung der Verhältnismäßigkeit kann
der nationale Richter auch der Höhe der vorzuschießenden Gerichtskosten sowie dem Umstand Rechnung tragen, ob sie für den
Zugang zum Recht gegebenenfalls ein unüberwindliches Hindernis darstellen oder nicht.
Insbesondere bei juristischen Personen kann der nationale Richter deren Verhältnisse in Betracht ziehen. So kann er u. a.
die Gesellschaftsform der in Rede stehenden juristischen Person, das Bestehen oder Fehlen von Gewinnerzielungsabsicht sowie
die Finanzkraft ihrer Gesellschafter oder Anteilseigner und deren Möglichkeit berücksichtigen, sich die zur Einleitung der
Rechtsverfolgung erforderlichen Beträge zu beschaffen.
(vgl. Randnrn. 59-62 und Tenor)
URTEIL DES GERICHTSHOFS (Zweite Kammer)
22. Dezember 2010(*)
„Effektiver gerichtlicher Schutz der Rechte aus dem Unionsrecht – Recht auf ein Gericht – Prozesskostenhilfe – Nationale Regelung, die juristischen Personen bei fehlenden ‚allgemeinen Interessen‘ die Prozesskostenhilfe verweigert“
In der Rechtssache C‑279/09
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 234 EG, eingereicht vom Kammergericht (Deutschland) mit Entscheidung vom
30. Juni 2009, beim Gerichtshof eingegangen am 22. Juli 2009, in dem Verfahren
DEB Deutsche Energiehandels- und Beratungsgesellschaft mbH
gegen
Bundesrepublik Deutschland
erlässt
DER GERICHTSHOF (Zweite Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten J. N. Cunha Rodrigues, der Richter A. Rosas (Berichterstatter), U. Lõhmus und A. Ó Caoimh
sowie der Richterin P. Lindh,
Generalanwalt: P. Mengozzi,
Kanzler: B. Fülöp, Verwaltungsrat,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 3. Juni 2010,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
– der DEB Deutsche Energiehandels‑ und Beratungsgesellschaft mbH, vertreten durch Rechtsanwältin L. Schwarz,
– der deutschen Regierung, vertreten durch M. Lumma und J. Kemper als Bevollmächtigte,
– der dänischen Regierung, vertreten durch V. Pasternak Jørgensen und R. Holdgaard als Bevollmächtigte,
– der französischen Regierung, vertreten durch G. de Bergues, S. Menez und B. Beaupère-Manokha als Bevollmächtigte,
– der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von G. Aiello, avvocato dello Stato,
– der polnischen Regierung, vertreten durch M. Dowgielewicz als Bevollmächtigten,
– der Europäischen Kommission, vertreten durch J.‑P. Keppenne und F. Hoffmeister als Bevollmächtigte,
– der EFTA-Überwachungsbehörde, vertreten durch F. Simonetti, I. Hauger und L. Armati als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 2. September 2010
folgendes
Urteil
1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung des in der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union verankerten
Effektivitätsgrundsatzes im Hinblick auf die Frage, ob dieser Grundsatz es gebietet, juristischen Personen Prozesskostenhilfe
zu gewähren.
2 Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der DEB Deutsche Energiehandels- und Beratungsgesellschaft mbH
(im Folgenden: DEB) und der Bundesrepublik Deutschland über einen von dieser Gesellschaft vor deutschen Gerichten gestellten
Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
3 Der fünfte und der elfte Erwägungsgrund der Richtlinie 2003/8/EG des Rates vom 27. Januar 2003 zur Verbesserung des Zugangs
zum Recht bei Streitsachen mit grenzüberschreitendem Bezug durch Festlegung gemeinsamer Mindestvorschriften für die Prozesskostenhilfe
in derartigen Streitsachen (ABl. L 26, S. 41; Berichtigung ABl. L 32, S. 15) lauten:
„(5) Diese Richtlinie zielt darauf ab, die Anwendung der Prozesskostenhilfe in Streitsachen mit grenzüberschreitendem Bezug für
Personen zu fördern, die nicht über ausreichende Mittel verfügen, soweit diese Hilfe erforderlich ist, um den Zugang zu den
Gerichten wirksam zu gewährleisten. Das allgemein anerkannte Recht auf Zugang zu den Gerichten wird auch in Artikel 47 der
Charta … bestätigt.
…
(11) Die Prozesskostenhilfe sollte die vorprozessuale Rechtsberatung zur außergerichtlichen Streitbeilegung, den Rechtsbeistand
bei Anrufung eines Gerichts und die rechtliche Vertretung vor Gericht sowie eine Unterstützung oder Befreiung von den Prozesskosten
umfassen.“
4 Der persönliche Anwendungsbereich des Anspruchs auf Prozesskostenhilfe ist in Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2003/08 wie folgt
definiert:
„An einer Streitsache im Sinne dieser Richtlinie beteiligte natürliche Personen haben Anspruch auf eine angemessene Prozesskostenhilfe,
damit ihr effektiver Zugang zum Recht nach Maßgabe dieser Richtlinie gewährleistet ist.“
5 Art. 6 Abs. 3 dieser Richtlinie bestimmt:
„Bei der Entscheidung über das Wesen, insbesondere die Erfolgsaussichten, eines Antrags berücksichtigen die Mitgliedstaaten
unbeschadet des Artikels 5 die Bedeutung der betreffenden Rechtssache für den Antragsteller, wobei sie jedoch auch der Art
der Rechtssache Rechnung tragen können, wenn der Antragsteller eine Rufschädigung geltend macht, jedoch keinen materiellen
oder finanziellen Schaden erlitten hat, oder wenn der Antrag einen Rechtsanspruch betrifft, der in unmittelbarem Zusammenhang
mit dem Geschäft oder der selbständigen Erwerbstätigkeit des Antragstellers entstanden ist.“
6 Art. 94 §§ 2 und 3 der Verfahrensordnung des Gerichts der Europäischen Union vom 2. Mai 1991 (konsolidierte Fassung im ABl.
C 177 vom 2. Juli 2010, S. 37, veröffentlicht) hat folgenden Wortlaut:
„§ 2
Natürliche Personen, die aufgrund ihrer wirtschaftlichen Lage vollständig oder teilweise außer Stande sind, die Kosten nach
§ 1 zu tragen, haben Anspruch auf Prozesskostenhilfe.
Die wirtschaftliche Lage wird unter Berücksichtigung objektiver Faktoren wie des Einkommens, des Vermögens und der familiären
Situation beurteilt.
§ 3
Die Bewilligung von Prozesskostenhilfe wird abgelehnt, wenn die Rechtsverfolgung, für die sie beantragt ist, offensichtlich
unzulässig oder offensichtlich unbegründet erscheint.“
7 Art. 95 §§ 2 und 3 der Verfahrensordnung des Gerichts für den öffentlichen Dienst der Europäischen Union vom 25. Juli 2007
(konsolidierte Fassung im ABl. C 177 vom 2. Juli 2010, S. 71, veröffentlicht) hat den gleichen Wortlaut wie Art. 94 §§ 2 und
3 der Verfahrensordnung des Gerichts.
Nationales Recht
8 § 12 Abs. 1 des Gerichtskostengesetzes (im Folgenden: GKG), der den für jeden Kläger in bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten
geltenden Grundsatz eines Vorschusses der Gerichtskosten festlegt, hat folgenden Wortlaut:
„In bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten soll die Klage erst nach Zahlung der Gebühr für das Verfahren im Allgemeinen zugestellt
werden. Wird der Klageantrag erweitert, soll vor Zahlung der Gebühr für das Verfahren im Allgemeinen keine gerichtliche Handlung
vorgenommen werden; dies gilt auch in der Rechtsmittelinstanz.“
9 § 78 Abs. 1 der Zivilprozessordnung (im Folgenden: ZPO) bestimmt:
„Vor den Landgerichten und Oberlandesgerichten müssen sich die Parteien durch einen Rechtsanwalt vertreten lassen. …“
10 In § 114 ZPO heißt es:
„Eine Partei, die nach ihren persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nicht, nur zum
Teil oder nur in Raten aufbringen kann, erhält auf Antrag Prozesskostenhilfe, wenn die beabsichtigte Rechtsverfolgung oder
Rechtsverteidigung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet und nicht mutwillig erscheint. …“
11 § 116 ZPO lautet:
„Prozesskostenhilfe erhalten auf Antrag
1. …
2. eine juristische Person oder parteifähige Vereinigung, die im Inland … gegründet und dort ansässig ist, wenn die Kosten weder
von ihr noch von den am Gegenstand des Rechtsstreits wirtschaftlich Beteiligten aufgebracht werden können und wenn die Unterlassung
der Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung allgemeinen Interessen zuwiderlaufen würde.“
12 § 122 Abs. 1 ZPO sieht vor:
„Die Bewilligung der Prozesskostenhilfe bewirkt, dass
1. die Bundes- oder Landeskasse
a) die rückständigen und die entstehenden Gerichtskosten und Gerichtsvollzieherkosten,
b) die auf sie übergegangenen Ansprüche der beigeordneten Rechtsanwälte gegen die Partei
nur nach den Bestimmungen, die das Gericht trifft, gegen die Partei geltend machen kann,
2. die Partei von der Verpflichtung zur Sicherheitsleistung für die Prozesskosten befreit ist,
3. die beigeordneten Rechtsanwälte Ansprüche auf Vergütung gegen die Partei nicht geltend machen können.“
13 § 123 ZPO lautet:
„Die Bewilligung der Prozesskostenhilfe hat auf die Verpflichtung, die dem Gegner entstandenen Kosten zu erstatten, keinen
Einfluss.“
Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefrage
14 DEB beantragt Prozesskostenhilfe für eine Klage gegen die Bundesrepublik Deutschland, mit der ein unionsrechtlicher Staatshaftungsanspruch
verfolgt werden soll.
15 DEB begehrt Schadensersatz wegen verspäteter Umsetzung der Richtlinien 98/30/EG des Europäischen Parlaments und des Rates
vom 22. Juni 1998 betreffend gemeinsame Vorschriften für den Erdgasbinnenmarkt (ABl. L 204, S. 1) und 2003/55/EG des Europäischen
Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2003 über gemeinsame Vorschriften für den Erdgasbinnenmarkt und zur Aufhebung der Richtlinie
98/30/EG (ABl. L 176, S. 57) durch diesen Mitgliedstaat, die den diskriminierungsfreien Zugang zu den nationalen Gasnetzen
hätten ermöglichen sollen. Die Antragstellerin des Ausgangsverfahrens habe deshalb gegenüber den deutschen Netzbetreibern
ihren Zugang zu deren Gasnetzen nicht durchsetzen können, weswegen ihr ein Gewinn in Höhe von rund 3,7 Milliarden Euro aus
Gaslieferverträgen mit Lieferanten entgangen sei.
16 Den gemäß § 12 Abs. 1 GKG erforderlichen Gerichtskostenvorschuss, der sich auf 274 368 Euro belaufe, könne DEB, die derzeit
weder Arbeitnehmer beschäftige noch Gläubiger habe, mangels Einnahmen und Vermögen nicht aufbringen.
17 Ebenso stünden ihr keine finanziellen Mittel zur Verfügung, einen Rechtsanwalt, dessen Mitwirkung zwingend vorgeschrieben
sei, als Prozessbevollmächtigten zu beauftragen.
18 Das Landgericht Berlin lehnte die Bewilligung von Prozesskostenhilfe ab, weil die Voraussetzungen des § 116 Nr. 2 ZPO nicht
vorlägen.
19 Auch nach Ansicht des Kammergerichts, bei dem Beschwerde erhoben wurde, liegen die Voraussetzungen des § 116 Nr. 2 ZPO nicht
vor.
20 Das Kammergericht ist unter Bezugnahme auf die zu dieser Vorschrift ergangene Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs der Auffassung,
dass die Unterlassung der Rechtsverfolgung im vorliegenden Fall nicht allgemeinen Interessen zuwiderlaufen würde. Dies wäre
nur dann der Fall, wenn die Entscheidung größere Kreise der Bevölkerung oder des Wirtschaftslebens anspreche oder soziale
Wirkung nach sich ziehen könne (vgl. Beschluss des Bundesgerichtshofs vom 20. Dezember 1989, VIII ZR 139/89). Die Unterlassung
der Rechtsverfolgung könne allgemeinen Interessen zuwiderlaufen, wenn eine juristische Person ohne die Durchführung des Rechtsstreits
der Allgemeinheit dienende Aufgaben nicht mehr erfüllen könnte oder aber wenn von der Durchführung des Rechtsstreits, dessen
Einleitung die juristische Person plane, deren Existenz abhinge und deshalb Arbeitsplätze verloren gingen oder eine Vielzahl
von Gläubigern geschädigt werden könnte. Dies sei im Fall der Antragstellerin des Ausgangsverfahrens nicht gegeben, weil diese
derzeit weder Arbeitnehmer beschäftige noch Gläubiger habe.
21 Zwar ermögliche der Rechtsbegriff „allgemeine Interessen“, alle nur denkbaren allgemeinen Interessen zugunsten der juristischen
Person in die Überlegung einzubeziehen (vgl. Beschluss des Bundesgerichtshofs vom 24. Oktober 1990, VIII ZR 87/90). Das allgemeine
Interesse an einer richtigen Entscheidung genüge hierfür regelmäßig jedoch nicht. Ebenso wenig reiche der Umstand aus, dass
bei der Entscheidung des Rechtsstreits Rechtsfragen von allgemeinem Interesse zu beantworten sein sollten (vgl. Beschluss
des Bundesgerichtshofs vom 20. Dezember 1989). Insoweit fehle es – wie auch im vorliegenden Fall – an einem tatsächlichen,
die Allgemeinheit betreffenden Nachteil, der über das etwaige Unterbleiben eines Urteilsausspruchs hinausgehe. DEB räume selbst
ein, dass eine Verurteilung der Bundesrepublik Deutschland nicht unmittelbar zu einer Öffnung des Energiemarkts führen könne,
worauf sich die DEB zur Begründung eines allgemeinen Interesses im Sinne von § 116 Nr. 2 ZPO berufen habe.
22 Eine Ausdehnung und Anwendung auf jegliche, auch mittelbare Auswirkung sei von einer Auslegung dieser innerstaatlichen Norm
unter Berücksichtigung der Gesetzgebungsmaterialien nicht mehr gedeckt. Die Rechtsprechung habe es unter Berufung auf die
Vorarbeiten zur ZPO stets für erforderlich gehalten, dass außer den an der Führung des Prozesses wirtschaftlich Beteiligten
ein erheblicher Kreis von Personen durch die Unterlassung der Rechtsverfolgung in Mitleidenschaft gezogen würde.
23 Die Regelung des § 116 Nr. 2 ZPO stehe auch mit dem Grundgesetz im Einklang. Insbesondere sei verfassungsrechtlich nicht zu
beanstanden, dass die Anforderungen an eine Bewilligung von Prozesskostenhilfe für juristische Personen strenger seien als
für natürliche Personen.
24 Dies habe das Bundesverfassungsgericht wiederholt festgestellt. Die Gewährung von Prozesskostenhilfe sei letztlich eine Maßnahme
der Sozialhilfe, die sich aus dem Sozialstaatsprinzip herleite und zur Achtung der Menschenwürde notwendig sei, was bei juristischen
Personen entfalle. Letztere seien künstliche Schöpfungen nach Maßgabe einer von der Rechtsordnung eines Staates aus Zweckmäßigkeitsgründen
zugelassenen Rechtsform. Diese Rechtsform biete den hinter der Gesellschaft stehenden Personen wirtschaftliche Vorteile, insbesondere
eine Haftungsbeschränkung auf das Gesellschaftsvermögen. Demgemäß sei die Rechtsträgerschaft an ein ausreichendes Vermögen
gebunden. Dieses sei Voraussetzung sowohl für ihre Gründung als auch für ihre weitere Existenz. Die juristische Person besitze
demnach grundsätzlich nur dann eine von der Rechtsordnung anerkannte Existenzberechtigung, wenn sie ihre Ziele und Aufgaben
aus eigener Kraft zu verfolgen in der Lage sei. Die Regelung des § 116 Nr. 2 ZPO trage damit den besonderen Verhältnissen
bei juristischen Personen Rechnung (vgl. Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 3. Juli 1973, 1 BvR 153/69).
25 Das Kammergericht stellt sich jedoch die Frage, ob die Ablehnung von Prozesskostenhilfe für die DEB zur Verfolgung eines unionsrechtlichen
Staatshaftungsanspruchs gegen die Grundsätze des unionsrechtlichen Staatshaftungsanspruchs, insbesondere gegen den Grundsatz
der Effektivität, verstoßen könnte. Der Antragstellerin des Ausgangsverfahrens, die nicht in der Lage sei, den Gerichtskostenvorschuss
zu zahlen, würde durch eine solche Ablehnung die Geltendmachung des unionsrechtlichen Staatshaftungsanspruchs schlechthin
versagt. Es wäre ihr mithin praktisch unmöglich oder zumindest doch übermäßig erschwert, eine Entschädigung zu erlangen. Dafür
spreche auch, dass der Gerichtshof den unionsrechtlichen Staatshaftungsanspruch aus dem Erfordernis der vollen Wirksamkeit
des Gemeinschaftsrechts, speziell zum Schutz der Rechte Einzelner herleite (vgl. Urteil vom 19. November 1991, Francovich,
C‑6/90 und C‑9/90, Slg. 1991, I‑5357).
26 Unter diesen Umständen hat das Kammergericht beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur
Vorabentscheidung vorzulegen:
Bestehen im Hinblick darauf, dass durch die nationale Ausgestaltung der schadensersatzrechtlichen Voraussetzungen und des
Verfahrens zur Geltendmachung des unionsrechtlichen Staatshaftungsanspruchs durch die Mitgliedstaaten die Erlangung einer
Entschädigung nach den Grundsätzen des unionsrechtlichen Staatshaftungsanspruchs nicht praktisch unmöglich gemacht oder übermäßig
erschwert werden darf, Bedenken gegen eine nationale Regelung, nach der die gerichtliche Geltendmachung von der Zahlung eines
Kostenvorschusses abhängig gemacht wird und einer juristischen Person, die diesen Vorschuss nicht aufbringen kann, Prozesskostenhilfe
nicht zu bewilligen ist?
Zur Vorlagefrage
27 Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob das Unionsrecht, insbesondere der Effektivitätsgrundsatz, dahin
auszulegen ist, dass im Zusammenhang mit einem Verfahren zur Geltendmachung des unionsrechtlichen Staatshaftungsanspruchs
dieser Grundsatz einer nationalen Regelung entgegensteht, nach der die gerichtliche Geltendmachung von der Zahlung eines Kostenvorschusses
abhängig gemacht wird und einer juristischen Person, wenn sie diesen Vorschuss nicht aufbringen kann, Prozesskostenhilfe nicht
zu bewilligen ist.
28 Nach gefestigter Rechtsprechung zum Effektivitätsgrundsatz dürfen die Verfahrensmodalitäten für Klagen, die den Schutz der
den Einzelnen aus dem Unionsrecht erwachsenden Rechte gewährleisten sollen, die Ausübung der durch die Gemeinschaftsrechtsordnung
verliehenen Rechte nicht praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren (vgl. u. a. Urteile vom 16. Dezember 1976, Rewe-Zentralfinanz
und Rewe-Zentral, 33/76, Slg. 1976, 1989, Randnr. 5, vom 13. März 2007, Unibet, C‑432/05, Slg. 2007, I‑2271, Randnr. 43, und
vom 15. April 2008, Impact, C‑268/06, Slg. 2008, I‑2483, Randnr. 46). Das Gericht möchte im Kern wissen, ob der Umstand, dass
eine juristische Person nicht in den Genuss von Prozesskostenhilfe gelangen kann, ihr die Ausübung ihrer Rechte in dem Sinne
praktisch unmöglich macht, dass diese juristische Person deshalb keinen Zugang zu einem Gericht haben kann, weil es ihr nicht
möglich ist, den Gerichtskostenvorschuss zu leisten und sich des Beistands eines Rechtsanwalts zu versichern.
29 Die Vorlagefrage betrifft somit den Anspruch einer juristischen Person auf wirksamen Zugang zu den Gerichten und im Kontext
des Unionsrechts daher den Grundsatz des effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes. Dieser Grundsatz ist ein allgemeiner Grundsatz
des Unionsrechts, der sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten ergibt und der in den Art. 6
und 13 der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten
(im Folgenden: EMRK) verankert ist (Urteile vom 15. Mai 1986, Johnston, 222/84, Slg. 1986, 1651, Randnrn. 18 und 19, vom 15.
Oktober 1987, Heylens u. a., 222/86, Slg. 1987, 4097, Randnr. 14, vom 27. November 2001, Kommission/Österreich, C‑424/99,
Slg. 2001, I‑9285, Randnr. 45, vom 25. Juli 2002, Unión de Pequeños Agricultores/Rat, C‑50/00 P, Slg. 2002, I‑6677, Randnr.
39, vom 19. Juni 2003, Eribrand, C‑467/01, Slg. 2003, I‑6471, Randnr. 61, und Unibet, Randnr. 37).
30 Hinsichtlich der Grundrechte ist die Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) zu berücksichtigen;
seit dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon sind nach Art. 6 Abs. 1 Unterabs. 1 EUV die Charta „und die Verträge … rechtlich
gleichrangig“. Nach ihrem Art. 51 Abs. 1 gilt die Charta nämlich für die Mitgliedstaaten bei der Durchführung des Rechts der
Union.
31 Insoweit hat nach Art. 47 Abs. 1 der Charta jede Person, deren durch das Recht der Union garantierte Rechte oder Freiheiten
verletzt worden sind, das Recht, nach Maßgabe der in diesem Artikel vorgesehenen Bedingungen bei einem Gericht einen wirksamen
Rechtsbehelf einzulegen. Nach Art. 47 Abs. 2 hat jede Person ein Recht darauf, dass ihre Sache von einem unabhängigen, unparteiischen
und zuvor durch Gesetz errichteten Gericht in einem fairen Verfahren, öffentlich und innerhalb angemessener Frist verhandelt
wird. Jede Person kann sich beraten, verteidigen und vertreten lassen. Art. 47 Abs. 3 der Charta sieht speziell vor, dass
Personen, die nicht über ausreichende Mittel verfügen, Prozesskostenhilfe bewilligt wird, soweit diese Hilfe erforderlich
ist, um den Zugang zu den Gerichten wirksam zu gewährleisten.
32 Nach den Erläuterungen zu diesem Artikel, die gemäß Art. 6 Abs. 1 Unterabs. 3 EU und Art. 52 Abs. 7 der Charta für deren Auslegung
zu berücksichtigen sind, entspricht Art. 47 Abs. 2 der Charta Art. 6 Abs. 1 EMRK.
33 In Anbetracht dieser Umstände ist die Vorlagefrage dahin umzuformulieren, dass sie die Auslegung des in Art. 47 der Charta
verankerten Grundsatzes des effektiven gerichtlichen Schutzes im Hinblick auf die Prüfung betrifft, ob im Zusammenhang mit
einem Verfahren zur Geltendmachung des unionsrechtlichen Staatshaftungsanspruchs diese Bestimmung einer nationalen Regelung
entgegensteht, nach der die gerichtliche Geltendmachung von der Zahlung eines Kostenvorschusses abhängig gemacht wird und
einer juristischen Person, wenn sie diesen Vorschuss nicht aufbringen kann, Prozesskostenhilfe nicht zu bewilligen ist.
34 Nach § 122 Abs. 1 ZPO kann die Prozesskostenhilfe sowohl die Gerichtskosten als auch die Ansprüche der Rechtsanwälte gegen
die Partei decken. Da das nationale Gericht nicht erläutert hat, ob sich die Vorlagefrage nur auf den Aspekt des Gerichtskostenvorschusses
bezieht, sind beide Aspekte zu prüfen.
35 In Art. 52 Abs. 3 der Charta heißt es, dass, soweit diese Charta Rechte enthält, die den durch die EMRK garantierten Rechten
entsprechen, diese die gleiche Bedeutung und Tragweite haben, wie sie ihnen in der genannten Konvention verliehen werden.
Nach der Erläuterung zu dieser Bestimmung werden die Bedeutung und Tragweite der garantierten Rechte nicht nur durch den Wortlaut
der EMRK, sondern u. a. auch durch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte bestimmt. Nach Art. 52
Abs. 3 Satz 2 der Charta steht deren Art. 52 Abs. 3 Satz 1 dem nicht entgegen, dass das Recht der Union einen weiter gehenden
Schutz gewährt (in diesem Sinne Urteil vom 5. Oktober 2010, McB., C‑400/10 PPU, noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht,
Randnr. 53).
36 Was speziell Art. 47 Abs. 3 der Charta betrifft, wird im letzten Absatz der Erläuterung zu Art. 47 das Urteil Airey des Europäischen
Gerichtshofs für Menschenrechte erwähnt (Urteil vom 9. Oktober 1979, Airey/Irland, Serie A, Nr. 32, S. 11), wonach eine Prozesskostenhilfe
zu gewähren ist, wenn mangels einer solchen Hilfe die Einlegung eines wirksamen Rechtsbehelfs nicht gewährleistet wäre. Es
wird weder angegeben, ob einer juristischen Person eine solche Hilfe zu gewähren ist, noch, was sie abdeckt.
37 Diese Bestimmung ist in ihrem Kontext im Licht anderer Vorschriften des Unionsrechts, des Rechts der Mitgliedstaaten und der
Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte auszulegen.
38 Wie die Kommission der Europäischen Gemeinschaften in ihren schriftlichen Erklärungen ausgeführt hat, kann der in Art. 47
Abs. 1 und 2 der Charta verwendete Begriff „Person“ auf Individualpersonen hinweisen, schließt aber auch juristische Personen
rein sprachlich nicht aus.
39 Insoweit ist festzustellen, dass zwar die Erläuterungen zur Charta in diesem Punkt keinen Aufschluss geben, das aber die Verwendung
des Begriffs „Person“ in der deutschen Sprachfassung dieses Art. 47 im Gegensatz zum Begriff „Mensch“, der in zahlreichen
anderen Bestimmungen, z. B. in den Art. 1, 2, 3, 6, 29, 34 und 35 dieser Charta verwendet wird, darauf hindeuten kann, dass
juristische Personen vom Anwendungsbereich dieses Artikels nicht ausgeschlossen sind.
40 Im Übrigen ist das in Art. 47 der Charta normierte Recht, bei einem Gericht einen wirksamen Rechtsbehelf einzulegen, in deren
Titel VI („Justizielle Rechte“) enthalten, in dem weitere Verfahrensgrundsätze verankert sind, die sowohl auf natürliche als
auch auf juristische Personen Anwendung finden.
41 Der Umstand, dass der Anspruch auf Prozesskostenhilfe nicht in Titel IV der Charta („Solidarität“) behandelt wird, zeigt,
dass dieses Recht nicht in erster Linie als Sozialhilfe angelegt ist, wie es im deutschen Recht der Fall zu sein scheint,
ein Gesichtspunkt, den die deutsche Regierung dafür angeführt hat, dass diese Hilfe natürlichen Personen vorbehalten bleiben
müsse.
42 Auch die Einbeziehung der Bestimmung über die Gewährung einer Prozesskostenhilfe in den Artikel der Charta betreffend das
Recht, einen wirksamen Rechtsbehelf einzulegen, zeigt, dass bei der Beurteilung der Erforderlichkeit der Gewährung dieser
Hilfe das Recht der Person selbst, die in ihren durch das Recht der Union garantierten Rechten oder Freiheiten verletzt worden
ist, zum Ausgangspunkt zu nehmen ist, nicht aber das Allgemeininteresse der Gesellschaft, auch wenn dieses einer der Gesichtspunkte
bei der Beurteilung der Erforderlichkeit der Hilfe sein kann.
43 Die weiteren Unionsrechtsvorschriften, die die Parteien des Ausgangsverfahrens sowie die Mitgliedstaaten, die Erklärungen
abgegeben haben, und die Kommission herangezogen haben, insbesondere die Richtlinie 2003/8, die Verfahrensordnungen des Gerichts
und des Gerichts für den öffentlichen Dienst, sehen keine Gewährung von Prozesskostenhilfe für juristische Personen vor. Daraus
lässt sich allerdings kein allgemein geltender Schluss ziehen, da, wie sich zum einen aus dem Anwendungsbereich der Richtlinie
und zum anderen aus den Zuständigkeiten des Gerichts und des Gerichts für den öffentlichen Dienst ergibt, diese Vorschriften
für spezifische Kategorien von Rechtsstreitigkeiten gelten.
44 Wie der Generalanwalt in den Nrn. 76 bis 80 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, lässt die Prüfung des Rechts der Mitgliedstaaten
erkennen, dass es bei der Bewilligung von Prozesskostenhilfe für juristische Personen keinen wirklich gemeinsamen Grundsatz
gibt, der von allen Mitgliedstaaten geteilt würde. In Nr. 80 der Schlussanträge hat der Generalanwalt auch darauf hingewiesen,
dass in der Praxis der Mitgliedstaaten, die die Bewilligung von Prozesskostenhilfe für juristische Personen zulassen, eine
relativ weit verbreitete Unterscheidung zwischen juristischen Personen mit und ohne Gewinnerzielungsabsicht bestehe.
45 Die Prüfung der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zeigt, dass dieses Rechtsprechungsorgan wiederholt
darauf hingewiesen hat, dass das Recht auf Zugang zu einem Gericht Bestandteil des Rechts auf einen fairen Prozess im Sinne
von Art. 6 Abs. 1 EMRK sei (vgl. u. a. EGMR, Urteil vom 7. Mai 2002, McVicar/Vereinigtes Königreich, Recueil des arrêts et décisions 2002-III, § 46). Es komme insoweit darauf an, dass einem Beschwerdeführer die Möglichkeit geboten werde, sein Anliegen sachgerecht
vor Gericht zu verteidigen (EGMR, Urteil vom 15. Februar 2005, Steel und Morris/Vereinigtes Königreich, § 59). Das Recht auf
Zugang zu den Gerichten habe jedoch keine absolute Geltung.
46 Zur Prozesskostenhilfe in Form des Beistands eines Rechtsanwalts hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte entschieden,
dass die Frage, ob die Gewährung einer Prozesskostenhilfe für ein faires Verfahren erforderlich sei, in Ansehung der besonderen
Umstände des Einzelfalls zu beantworten sei und u. a. vom Umfang der Auswirkungen auf den Kläger, der Komplexität des geltenden
Rechts und des anwendbaren Verfahrens sowie von der Fähigkeit des Klägers abhänge, seine Sache wirksam zu vertreten (EGMR,
Urteile Airey/Irland, § 26, McVicar, §§ 48 und 49, vom 16. Juli 2002, P., C. und S./Vereinigtes Königreich, Recueil des arrêts et décisions 2002-VI, § 91, und Steel und Morris, § 61). Allerdings dürfe den finanziellen Verhältnissen des Beschwerdeführers oder seinen
Erfolgsaussichten im Verfahren Rechnung getragen werden (EGMR, Urteil Steel und Morris, § 62).
47 Was die Prozesskostenhilfe in der Form einer Befreiung von den Gerichtskosten oder einer cautio judicatum solvi vor der Einleitung der Rechtsverfolgung angeht, hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte auch alle Umstände des
Einzelfalls im Hinblick auf die Prüfung untersucht, ob durch die Beschränkungen des Rechts auf Zugang zu den Gerichten das
Recht nicht in seinem Wesensgehalt selbst beeinträchtigt war, ob sie einem legitimen Zweck dienten und ob die angewandten
Mittel in angemessenem Verhältnis zum verfolgten Ziel standen (vgl. in diesem Sinne EGMR, Urteile vom 13. Juli 1995, Tolstoy
Miloslavsky/Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 316-B, §§ 59 bis 67, und vom 19. Juni 2001, Kreuz/Polen, Recueil des arrêts et décisions 2001-VI, §§ 54 und 55).
48 Aus diesen Entscheidungen ergibt sich, dass die Prozesskostenhilfe sowohl den Beistand eines Rechtsanwalts als auch die Befreiung
von den Gerichtskosten decken kann.
49 Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat darüber hinaus entschieden, dass dann, wenn ein Verfahren der Auslese der
Rechtssachen im Hinblick auf die Prüfung eingeführt werden dürfe, ob Prozesskostenhilfe bewilligt werden könne, die Funktionsweise
dieses Verfahrens nicht willkürlich sein dürfe (vgl. in diesem Sinne EGMR, Urteil vom 26. Februar 2002, Del Sol/Fankreich,
§ 26, Entscheidung vom 29. September 2009, Pucasu/Deutschland, S. 6 letzter Absatz, Urteil vom 14. Oktober 2010, Pedro Ramos/Schweiz,
§ 49).
50 Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hatte auch die Situation einer Handelsgesellschaft zu prüfen, die Prozesskostenhilfe
beantragt hatte, obwohl das französische Recht diese Hilfe nur für natürliche Personen und ausnahmsweise für juristische Personen
ohne Gewinnerzielungsabsicht vorsieht, die ihren Sitz in Frankreich haben und nicht über ausreichende Mittel verfügen. Er
hat befunden, dass die Ungleichbehandlung zwischen Handelsgesellschaften auf der einen und natürlichen und juristischen Personen
ohne Gewinnerzielungsabsicht auf der anderen Seite auf einer objektiven und nachvollziehbaren Rechtfertigung beruhe, die mit
der steuerlichen Regelung der Prozesskostenhilfe im Zusammenhang stehe, die die Möglichkeit vorsehe, die gesamten Prozesskosten
vom steuerbaren Ertrag abzuziehen und einen Verlustsaldo auf ein folgendes Steuerjahr zu verlagern (EGMR, Beschluss vom 26.
August 2008, VP Diffusion Sarl, S. 4, 5 und 7).
51 Ferner hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Bezug auf eine Gemeinschaft von Nutzern landwirtschaftlichen
Gemeinschaftsvermögens, die Prozesskostenhilfe beantragt hatte, um einer Klage entgegenzutreten, mit der das Eigentumsrecht
an einem Grundstück geltend gemacht wurde, befunden, dass dem Umstand Rechnung zu tragen sei, dass die von Vereinigungen und
privaten Gesellschaften für ihre Rechtsverteidigung genehmigten Gelder aus von deren Mitgliedern angenommenen, genehmigten
und gezahlten Mitteln stammten, und hervorgehoben, dass der Antrag für die Beteiligung an einer bürgerlichen Rechtsstreitigkeit
über das Eigentum an einem Grundstück gestellt worden sei, dessen Ausgang nur die Mitglieder der in Rede stehenden Gemeinschaften
betreffe (EGMR, Entscheidung vom 24. November 2009, C.M.V.M.C. O´Limo, Nr. 26). Der Gerichtshof ist zu dem Ergebnis gelangt,
dass die Weigerung, der klägerischen Gemeinschaft unentgeltlich Prozesskostenhilfe zu gewähren, deren Recht auf Zugang zu
einem Gericht nicht in seinem Wesensgehalt beeinträchtigt habe.
52 Aus der Prüfung dieser Rechtsprechung ergibt sich, dass die Gewährung von Prozesskostenhilfe für juristische Personen nicht
grundsätzlich ausgeschlossen, jedoch nach Maßgabe der geltenden Vorschriften und der Situation der fraglichen Gesellschaft
zu beurteilen ist.
53 Der Gegenstand des Rechtsstreits, insbesondere seine wirtschaftliche Bedeutung, kann in die Überlegungen einbezogen werden.
54 Im Rahmen der Berücksichtigung der finanziellen Leistungsfähigkeit des Beschwerdeführers kann, wenn es sich um eine juristische
Person handelt, insbesondere der Gesellschaftsform – Kapital- oder Personengesellschaft, Gesellschaft mit beschränkter oder
unbeschränkter Haftung –, der Finanzkraft ihrer Anteilseigner, dem Gesellschaftszweck, den Modalitäten ihrer Gründung und
speziell dem Verhältnis zwischen den ihr zur Verfügung gestellten Mitteln und der geplanten Tätigkeit Rechnung getragen werden.
55 Die EFTA-Überwachungsbehörde macht in ihren Erklärungen geltend, dass nach deutschem Recht einem Unternehmen in Fällen, in
denen es noch nicht in der Lage gewesen sei, sich richtig mit Arbeitnehmern und anderen Betriebsfaktoren zu etablieren, niemals
Prozesskostenhilfe bewilligt werden könnte. Diese Voraussetzung könnte sich vor allem auf Antragsteller auf Prozesskostenhilfe
auswirken, die durch das Unionsrecht verliehene Rechte, insbesondere die Niederlassungsfreiheit oder den Zugang zu einem bestimmten
Markt in einem Mitgliedstaat in Anspruch nehmen wollten.
56 Es ist festzustellen, dass die nationalen Gerichte einen solchen Umstand auf jeden Fall zu berücksichtigen haben. Allerdings
müssen sie einen gerechten Ausgleich anstreben, um den Zugang von Antragstellern, die sich auf das Unionsrecht berufen, zu
den Gerichten zu gewährleisten, ohne jedoch diese gegenüber anderen Antragstellern zu bevorzugen. Hierzu haben das vorlegende
Gericht und die deutsche Regierung ausgeführt, dass der Rechtsbegriff „allgemeine Interessen“ es nach der Rechtsprechung des
Bundesgerichtshofs ermögliche, alle nur denkbaren allgemeinen Interessen zugunsten der juristischen Person in die Überlegung
einzubeziehen.
57 DEB hat darüber hinaus in der mündlichen Verhandlung die Doppelrolle der Bundesrepublik Deutschland im Ausgangsverfahren unterstrichen.
Dieser Mitgliedstaat sei nämlich nicht nur Verursacher des ihr entstandenen Schadens, sondern auch derjenige, der effektiven
gerichtlichen Rechtsschutz zu gewährleisten habe.
58 Es ist jedoch darauf hinzuweisen, dass das Unionsrecht nicht verbietet, dass ein Mitgliedstaat Legislative, Exekutive und
Judikative zugleich verkörpert, sofern diese Aufgaben unter Wahrung des Gewaltenteilungsgrundsatzes wahrgenommen werden, der
für die Funktionsweise eines Rechtsstaats kennzeichnend ist. Es ist nicht vorgetragen worden, dass dies in dem im Ausgangsverfahren
in Rede stehenden Mitgliedstaat nicht der Fall wäre.
59 Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass der in Art. 47 der Charta verankerte Grundsatz des effektiven gerichtlichen
Rechtsschutzes dahin auszulegen ist, dass seine Geltendmachung durch juristische Personen nicht ausgeschlossen ist und dass
er u. a. die Befreiung von der Zahlung des Gerichtskostenvorschusses und/oder der Gebühren für den Beistand eines Rechtsanwalts
umfassen kann.
60 Der nationale Richter hat insoweit zu prüfen, ob die Voraussetzungen für die Gewährung von Prozesskostenhilfe eine Beschränkung
des Rechts auf Zugang zu den Gerichten darstellen, die dieses Recht in seinem Wesensgehalt selbst beeinträchtigen, ob sie
einem legitimen Zweck dienen und ob die angewandten Mittel in einem angemessenen Verhältnis zum verfolgten Ziel stehen.
61 Im Rahmen dieser Würdigung kann der nationale Richter den Streitgegenstand, die begründeten Erfolgsaussichten des Klägers,
die Bedeutung des Rechtsstreits für diesen, die Komplexität des geltenden Rechts und des anwendbaren Verfahrens sowie die
Fähigkeit des Klägers berücksichtigen, sein Anliegen wirksam zu verteidigen. Bei der Beurteilung der Verhältnismäßigkeit kann
der nationale Richter auch der Höhe der vorzuschießenden Gerichtskosten sowie dem Umstand Rechnung tragen, ob sie für den
Zugang zum Recht gegebenenfalls ein unüberwindliches Hindernis darstellen oder nicht.
62 Insbesondere bei juristischen Personen kann der nationale Richter deren Verhältnisse in Betracht ziehen. So kann er u. a.
die Gesellschaftsform der in Rede stehenden juristischen Person, das Bestehen oder Fehlen von Gewinnerzielungsabsicht sowie
die Finanzkraft ihrer Gesellschafter oder Anteilseigner und deren Möglichkeit berücksichtigen, sich die zur Einleitung der
Rechtsverfolgung erforderlichen Beträge zu beschaffen.
Kosten
63 Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen
Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von
Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Zweite Kammer) für Recht erkannt:
Der in Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union verankerte Grundsatz des effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes
ist dahin auszulegen, dass seine Geltendmachung durch juristische Personen nicht ausgeschlossen ist und dass er u. a. die
Befreiung von der Zahlung des Gerichtskostenvorschusses und/oder der Gebühren für den Beistand eines Rechtsanwalts umfassen
kann.
Der nationale Richter hat insoweit zu prüfen, ob die Voraussetzungen für die Gewährung von Prozesskostenhilfe eine Beschränkung
des Rechts auf Zugang zu den Gerichten darstellen, die dieses Recht in seinem Wesensgehalt selbst beeinträchtigen, ob sie
einem legitimen Zweck dienen und ob die angewandten Mittel in einem angemessenen Verhältnis zum verfolgten Ziel stehen.
Im Rahmen dieser Würdigung kann der nationale Richter den Streitgegenstand, die begründeten Erfolgsaussichten des Klägers,
die Bedeutung des Rechtsstreits für diesen, die Komplexität des geltenden Rechts und des anwendbaren Verfahrens sowie die
Fähigkeit des Klägers berücksichtigen, sein Anliegen wirksam zu verteidigen. Bei der Beurteilung der Verhältnismäßigkeit kann
der nationale Richter auch der Höhe der vorzuschießenden Gerichtskosten sowie dem Umstand Rechnung tragen, ob sie für den
Zugang zum Recht gegebenenfalls ein unüberwindliches Hindernis darstellen oder nicht.
Insbesondere bei juristischen Personen kann der nationale Richter deren Verhältnisse in Betracht ziehen. So kann er u. a.
die Gesellschaftsform der in Rede stehenden juristischen Person, das Bestehen oder Fehlen von Gewinnerzielungsabsicht sowie
die Finanzkraft ihrer Gesellschafter oder Anteilseigner und deren Möglichkeit berücksichtigen, sich die zur Einleitung der
Rechtsverfolgung erforderlichen Beträge zu beschaffen.
Unterschriften
* Verfahrenssprache: Deutsch.
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|||||||||||
Urteil des Gerichtshofs (Große Kammer) vom 5. Juni 2023.#Europäische Kommission gegen Republik Polen.#Vorläufiger Rechtsschutz – Beschluss über einstweilige Anordnungen – Art. 163 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs – Änderung der Umstände – Fehlen – Zuständigkeit der Izba Dyscyplinarna (Disziplinarkammer) des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht, Polen) – Disziplinarordnung für die Richter des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht), der ordentlichen Gerichte und der Verwaltungsgerichte – Verfahrensmodalitäten für die Kontrolle der Voraussetzungen in Bezug auf die Unabhängigkeit dieser Richter – Aussetzung der Anwendung nationaler Bestimmungen.#Rechtssache C-204/21.
|
62021CJ0204
|
ECLI:EU:C:2023:442
| 2023-06-05T00:00:00 |
Collins, Gerichtshof
|
Sammlung der Rechtsprechung – allgemein
|
62021CJ0204
URTEIL DES GERICHTSHOFS (Große Kammer)
5. Juni 2023 (*1) (i
)
Inhaltsverzeichnis
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
EU-Vertrag
Charta
DSGVO
Polnisches Recht
Verfassung
Geändertes Gesetz über das Oberste Gericht
Geändertes Gesetz über die ordentliche Gerichtsbarkeit
Geändertes Gesetz über die Verwaltungsgerichtsbarkeit
Übergangsbestimmungen im Änderungsgesetz
Vorverfahren
Verfahren vor dem Gerichtshof
Zur Klage
Zur Zuständigkeit des Gerichtshofs, zur Rechtsstaatlichkeit und zur richterlichen Unabhängigkeit sowie zum Vorrang des Unionsrechts
Zum Fortbestand des Streitgegenstands
Zur vierten Rüge
Vorbringen der Parteien
Würdigung durch den Gerichtshof
Zur dritten Rüge
Vorbringen der Parteien
Würdigung durch den Gerichtshof
– Einleitende Erwägungen
– Zum ersten Teil der dritten Rüge
– Zum zweiten Teil der dritten Rüge
Zur ersten Rüge
Vorbringen der Parteien
Würdigung durch den Gerichtshof
– Zur Zulässigkeit
– Zur Begründetheit
Zur zweiten Rüge
Vorbringen der Parteien
Würdigung durch den Gerichtshof
– Zur Zulässigkeit
– Zur Begründetheit
Zur fünften Rüge
Vorbringen der Parteien
Würdigung durch den Gerichtshof
– Einleitende Erwägungen
– Zur Anwendbarkeit der DSGVO
– Zur Anwendbarkeit von Art. 7 und Art. 8 Abs. 1 der Charta
– Zum Vorwurf eines Verstoßes gegen Art. 6 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. c und e sowie Abs. 3 und Art. 9 Abs. 1 DSGVO sowie Art. 7 und Art. 8 Abs. 1 der Charta
Kosten
„Vertragsverletzung eines Mitgliedstaats – Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV – Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Rechtsstaatlichkeit – Wirksamer Rechtsschutz in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen – Unabhängigkeit von Richtern – Art. 267 AEUV – Berechtigung, den Gerichtshof um eine Vorabentscheidung zu ersuchen – Vorrang des Unionsrechts – Der Disziplinarkammer des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht, Polen) übertragene Zuständigkeiten betreffend die Aufhebung der strafrechtlichen Immunität von Richtern sowie arbeitsrechtliche, sozialversicherungsrechtliche und ruhestandsrechtliche Angelegenheiten von Richtern dieses Gerichts – Verbot für die nationalen Gerichte, die Legitimität der Gerichte und der Verfassungsorgane in Frage zu stellen oder die Rechtmäßigkeit der Ernennung von Richtern oder ihrer richterlichen Befugnisse festzustellen oder zu beurteilen – Einstufung der von einem Richter vorgenommenen Prüfung, ob bestimmte Anforderungen in Bezug auf das Vorliegen eines unabhängigen, unparteiischen und zuvor durch Gesetz errichteten Gerichts erfüllt sind, als ‚Disziplinarvergehen‘ – Ausschließliche Zuständigkeit der Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) für die Prüfung von Fragen betreffend die fehlende Unabhängigkeit eines Gerichts oder eines Richters – Art. 7 und 8 der Grundrechtecharta – Recht auf Achtung des Privatlebens und Recht auf Schutz personenbezogener Daten – Verordnung (EU) 2016/679 – Art. 6 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. c und e sowie Abs. 3 Unterabs. 2 – Art. 9 Abs. 1 – Sensible Daten – Nationale Regelung, die Richter verpflichtet, eine Erklärung zu ihrer etwaigen Mitgliedschaft in einem Verein, einer Stiftung oder einer politischen Partei sowie zu den dort ausgeübten Funktionen abzugeben, und die Veröffentlichung der in diesen Erklärungen enthaltenen Angaben im Internet vorsieht“
In der Rechtssache C‑204/21
betreffend eine Vertragsverletzungsklage nach Art. 258 AEUV, eingelegt am 1. April 2021,
Europäische Kommission, vertreten durch K. Herrmann und P. J. O. Van Nuffel als Bevollmächtigte,
Klägerin,
unterstützt durch
Königreich Belgien, vertreten durch M. Jacobs, C. Pochet und L. Van den Broeck als Bevollmächtigte,
Königreich Dänemark, vertreten zunächst durch V. Pasternak Jørgensen, M. Søndahl Wolff und L. Teilgård, dann durch J. F. Kronborg, V. Pasternak Jørgensen und M. Søndahl Wolff als Bevollmächtigte,
Königreich der Niederlande, vertreten durch M. K. Bulterman, J. Langer, M. A. M. de Ree und C. S. Schillemans als Bevollmächtigte,
Republik Finnland, vertreten durch H. Leppo als Bevollmächtigte,
Königreich Schweden, vertreten durch H. Eklinder, C. Meyer-Seitz, A. Runeskjöld, M. Salborn Hodgson, R. Shahsavan Eriksson, H. Shev und O. Simonsson als Bevollmächtigte,
Streithelfer,
gegen
Republik Polen, vertreten durch B. Majczyna, J. Sawicka, K. Straś und S. Żyrek als Bevollmächtigte,
Beklagte,
erlässt
DER GERICHTSHOF (Große Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten K. Lenaerts, des Vizepräsidenten L. Bay Larsen, des Kammerpräsidenten A. Arabadjiev, der Kammerpräsidentin A. Prechal (Berichterstatterin), des Kammerpräsidenten E. Regan, der Kammerpräsidentin L. S. Rossi, der Richter M. Ilešič, N. Piçarra, I. Jarukaitis, A. Kumin und N. Jääskinen, der Richterin I. Ziemele, der Richter J. Passer und Z. Csehi sowie der Richterin O. Spineanu-Matei,
Generalanwalt: A. M. Collins,
Kanzler: M. Siekierzyńska, Verwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 28. Juni 2022,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 15. Dezember 2022
folgendes
Urteil
1 Mit ihrer Klage beantragt die Europäische Kommission beim Gerichtshof die Feststellung, dass die Republik Polen
–
dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV in Verbindung mit Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) im Licht der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu Art. 6 Abs. 1 der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (im Folgenden: EMRK) sowie aus Art. 267 AEUV und aus dem Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts verstoßen hat, dass sie Art. 42a §§ 1 und 2 sowie Art. 55 § 4 der Ustawa – Prawo o ustroju sądów powszechnych (Gesetz über den Aufbau der ordentlichen Gerichtsbarkeit) vom 27. Juli 2001 (Dz. U. Nr. 98, Pos. 1070) in der durch die Ustawa o zmianie ustawy – Prawo o ustroju sądów powszechnych, ustawy o Sądzie Najwyższym oraz niektórych innych ustaw (Gesetz zur Änderung des Gesetzes über den Aufbau der ordentlichen Gerichtsbarkeit, des Gesetzes über das Oberste Gericht und einiger anderer Gesetze) vom 20. Dezember 2019 (Dz. U. 2020, Pos. 190, im Folgenden: Änderungsgesetz) geänderten Fassung (im Folgenden: geändertes Gesetz über die ordentliche Gerichtsbarkeit), Art. 26 § 3 und Art. 29 §§ 2 und 3 der Ustawa o Sądzie Najwyższym (Gesetz über das Oberste Gericht) vom 8. Dezember 2017 (Dz. U. 2018, Pos. 5) in der durch das Änderungsgesetz geänderten Fassung (im Folgenden: geändertes Gesetz über das Oberste Gericht), Art. 5 §§ 1a und 1b der Ustawa – Prawo o ustroju sądów administracyjnych (Gesetz über den Aufbau der Verwaltungsgerichtsbarkeit) vom 25. Juli 2002 (Dz. U. 153, Pos. 1269) in der durch das Änderungsgesetz geänderten Fassung (im Folgenden: geändertes Gesetz über die Verwaltungsgerichtsbarkeit) sowie Art. 8 des Änderungsgesetzes erlassen und beibehalten hat, wonach allen nationalen Gerichten die Prüfung, ob die Anforderungen der Europäischen Union in Bezug auf ein unabhängiges, unparteiisches und zuvor durch Gesetz errichtetes Gericht erfüllt sind, untersagt ist;
–
dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV in Verbindung mit Art. 47 der Charta sowie aus Art. 267 AEUV und aus dem Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts verstoßen hat, dass sie Art. 26 §§ 2 und 4 bis 6 sowie Art. 82 §§ 2 bis 5 des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht sowie Art. 10 des Änderungsgesetzes erlassen und beibehalten hat, wonach für die Prüfung von Rügen und Rechtsfragen betreffend die fehlende Unabhängigkeit eines Gerichts oder eines Richters ausschließlich die Izba Kontroli Nadzwyczajnej i Spraw Publicznych (Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten) des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht, Polen) (im Folgenden: Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten) zuständig ist;
–
dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV in Verbindung mit Art. 47 der Charta sowie aus Art. 267 AEUV verstoßen hat, dass sie Art. 107 § 1 Nrn. 2 und 3 des geänderten Gesetzes über die ordentliche Gerichtsbarkeit und Art. 72 § 1 Nrn. 1 bis 3 des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht erlassen und beibehalten hat, wonach die Prüfung, ob die Anforderungen der Union in Bezug auf ein unabhängiges, unparteiisches und zuvor durch Gesetz errichtetes Gericht erfüllt sind, als „Disziplinarvergehen“ gewertet werden kann;
–
dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV verstoßen hat, dass sie die Izba Dyscyplinarna (Disziplinarkammer) des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) (im Folgenden: Disziplinarkammer), deren Unabhängigkeit und Unparteilichkeit nicht gewährleistet sind, ermächtigt hat, in Sachen zu entscheiden, die sich unmittelbar auf den Status und die Amtsausübung von Richtern und Assessoren auswirken, etwa zum einen in Sachen betreffend die Zustimmung dazu, dass Richter und Assessoren strafrechtlich zur Verantwortung gezogen oder festgenommen werden, und zum anderen in arbeits- und sozialversicherungsrechtlichen Sachen betreffend die Richter des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) sowie Sachen betreffend die Versetzung eines solchen Richters in den Ruhestand;
–
dadurch das Recht auf Achtung des Privatlebens und das Recht auf Schutz personenbezogener Daten, wie sie in Art. 7 und Art. 8 Abs. 1 der Charta sowie in Art. 6 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. c und e sowie Abs. 3 und Art. 9 Abs. 1 der Verordnung (EU) 2016/679 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 27. April 2016 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten, zum freien Datenverkehr und zur Aufhebung der Richtlinie 95/46/EG (Datenschutz-Grundverordnung) (ABl. 2016, L 119, S. 1) (im Folgenden: DSGVO) niedergelegt sind, verletzt hat, dass sie Art. 88a des geänderten Gesetzes über die ordentliche Gerichtsbarkeit, Art. 45 § 3 des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht und Art. 8 § 2 des geänderten Gesetzes über die Verwaltungsgerichtsbarkeit erlassen und beibehalten hat.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
EU-Vertrag
2 Art. 2 EUV lautet:
„Die Werte, auf die sich die Union gründet, sind die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte einschließlich der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören. Diese Werte sind allen Mitgliedstaaten in einer Gesellschaft gemeinsam, die sich durch Pluralismus, Nichtdiskriminierung, Toleranz, Gerechtigkeit, Solidarität und die Gleichheit von Frauen und Männern auszeichnet.“
3 Art. 4 EUV bestimmt:
„(1) Alle der Union nicht in den Verträgen übertragenen Zuständigkeiten verbleiben gemäß Artikel 5 bei den Mitgliedstaaten.
(2) Die Union achtet die Gleichheit der Mitgliedstaaten vor den Verträgen und ihre jeweilige nationale Identität, die in ihren grundlegenden politischen und verfassungsmäßigen Strukturen einschließlich der regionalen und lokalen Selbstverwaltung zum Ausdruck kommt. Sie achtet die grundlegenden Funktionen des Staates, insbesondere die Wahrung der territorialen Unversehrtheit, die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und den Schutz der nationalen Sicherheit. Insbesondere die nationale Sicherheit fällt weiterhin in die alleinige Verantwortung der einzelnen Mitgliedstaaten.
(3) Nach dem Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit achten und unterstützen sich die Union und die Mitgliedstaaten gegenseitig bei der Erfüllung der Aufgaben, die sich aus den Verträgen ergeben.
Die Mitgliedstaaten ergreifen alle geeigneten Maßnahmen allgemeiner oder besonderer Art zur Erfüllung der Verpflichtungen, die sich aus den Verträgen oder den Handlungen der Organe der Union ergeben.
Die Mitgliedstaaten unterstützen die Union bei der Erfüllung ihrer Aufgabe und unterlassen alle Maßnahmen, die die Verwirklichung der Ziele der Union gefährden könnten.“
4 Art. 5 Abs. 1 und 2 EUV lautet:
„(1) Für die Abgrenzung der Zuständigkeiten der Union gilt der Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung. Für die Ausübung der Zuständigkeiten der Union gelten die Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit.
(2) Nach dem Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung wird die Union nur innerhalb der Grenzen der Zuständigkeiten tätig, die die Mitgliedstaaten ihr in den Verträgen zur Verwirklichung der darin niedergelegten Ziele übertragen haben. Alle der Union nicht in den Verträgen übertragenen Zuständigkeiten verbleiben bei den Mitgliedstaaten.“
5 Art. 19 Abs. 1 EUV bestimmt:
„Der Gerichtshof der Europäischen Union umfasst den Gerichtshof, das Gericht und Fachgerichte. Er sichert die Wahrung des Rechts bei der Auslegung und Anwendung der Verträge.
Die Mitgliedstaaten schaffen die erforderlichen Rechtsbehelfe, damit ein wirksamer Rechtsschutz in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen gewährleistet ist.“
Charta
6 Art. 7 der Charta bestimmt:
„Jede Person hat das Recht auf Achtung ihres Privat- und Familienlebens, ihrer Wohnung sowie ihrer Kommunikation.“
7 In Art. 8 der Charta heißt es:
„(1) Jede Person hat das Recht auf Schutz der sie betreffenden personenbezogenen Daten.
(2) Diese Daten dürfen nur nach Treu und Glauben für festgelegte Zwecke und mit Einwilligung der betroffenen Person oder auf einer sonstigen gesetzlich geregelten legitimen Grundlage verarbeitet werden. …
…“
8 Art. 47 („Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf und ein unparteiisches Gericht“) der Charta bestimmt:
„Jede Person, deren durch das Recht der Union garantierte Rechte oder Freiheiten verletzt worden sind, hat das Recht, nach Maßgabe der in diesem Artikel vorgesehenen Bedingungen bei einem Gericht einen wirksamen Rechtsbehelf einzulegen.
Jede Person hat ein Recht darauf, dass ihre Sache von einem unabhängigen, unparteiischen und zuvor durch Gesetz errichteten Gericht in einem fairen Verfahren, öffentlich und innerhalb angemessener Frist verhandelt wird. …
…“
9 Art. 52 Abs. 1 der Charta sieht vor:
„Jede Einschränkung der Ausübung der in dieser Charta anerkannten Rechte und Freiheiten muss gesetzlich vorgesehen sein und den Wesensgehalt dieser Rechte und Freiheiten achten. Unter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit dürfen Einschränkungen nur vorgenommen werden, wenn sie erforderlich sind und den von der Union anerkannten dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen oder den Erfordernissen des Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer tatsächlich entsprechen.“
DSGVO
10 In den Erwägungsgründen 4, 10, 16, 20, 39 und 51 der DSGVO heißt es:
„(4)
Die Verarbeitung personenbezogener Daten sollte im Dienste der Menschheit stehen. Das Recht auf Schutz der personenbezogenen Daten ist kein uneingeschränktes Recht; es muss im Hinblick auf seine gesellschaftliche Funktion gesehen und unter Wahrung des Verhältnismäßigkeitsprinzips gegen andere Grundrechte abgewogen werden. Diese Verordnung steht im Einklang mit allen Grundrechten und achtet alle Freiheiten und Grundsätze, die mit der Charta anerkannt wurden und in den Europäischen Verträgen verankert sind, insbesondere Achtung des Privat- und Familienlebens, der Wohnung und der Kommunikation, Schutz personenbezogener Daten, Gedanken‑, Gewissens- und Religionsfreiheit, Freiheit der Meinungsäußerung und Informationsfreiheit, unternehmerische Freiheit, Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf und ein faires Verfahren und Vielfalt der Kulturen, Religionen und Sprachen.
…
(10) Um ein gleichmäßiges und hohes Datenschutzniveau für natürliche Personen zu gewährleisten und die Hemmnisse für den Verkehr personenbezogener Daten in der Union zu beseitigen, sollte das Schutzniveau für die Rechte und Freiheiten von natürlichen Personen bei der Verarbeitung dieser Daten in allen Mitgliedstaaten gleichwertig sein. Die Vorschriften zum Schutz der Grundrechte und Grundfreiheiten von natürlichen Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten sollten unionsweit gleichmäßig und einheitlich angewandt werden. Hinsichtlich der Verarbeitung personenbezogener Daten zur Erfüllung einer rechtlichen Verpflichtung oder zur Wahrnehmung einer Aufgabe, die im öffentlichen Interesse liegt oder in Ausübung öffentlicher Gewalt erfolgt, die dem Verantwortlichen übertragen wurde, sollten die Mitgliedstaaten die Möglichkeit haben, nationale Bestimmungen, mit denen die Anwendung der Vorschriften dieser Verordnung genauer festgelegt wird, beizubehalten oder einzuführen. … Diese Verordnung bietet den Mitgliedstaaten zudem einen Spielraum für die Spezifizierung ihrer Vorschriften, auch für die Verarbeitung besonderer Kategorien von personenbezogenen Daten (im Folgenden ‚sensible Daten‘). Diesbezüglich schließt diese Verordnung nicht Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten aus, in denen die Umstände besonderer Verarbeitungssituationen festgelegt werden, einschließlich einer genaueren Bestimmung der Voraussetzungen, unter denen die Verarbeitung personenbezogener Daten rechtmäßig ist.
…
(16) Diese Verordnung gilt nicht für Fragen des Schutzes von Grundrechten und Grundfreiheiten und des freien Verkehrs personenbezogener Daten im Zusammenhang mit Tätigkeiten, die nicht in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fallen, wie etwa die nationale Sicherheit betreffende Tätigkeiten. Diese Verordnung gilt nicht für die von den Mitgliedstaaten im Rahmen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik der Union durchgeführte Verarbeitung personenbezogener Daten.
…
(20) Diese Verordnung gilt zwar unter anderem für die Tätigkeiten der Gerichte und anderer Justizbehörden, doch könnte im Unionsrecht oder im Recht der Mitgliedstaaten festgelegt werden, wie die Verarbeitungsvorgänge und Verarbeitungsverfahren bei der Verarbeitung personenbezogener Daten durch Gerichte und andere Justizbehörden im Einzelnen auszusehen haben. Damit die Unabhängigkeit der Justiz bei der Ausübung ihrer gerichtlichen Aufgaben einschließlich ihrer Beschlussfassung unangetastet bleibt, sollten die Aufsichtsbehörden nicht für die Verarbeitung personenbezogener Daten durch Gerichte im Rahmen ihrer justiziellen Tätigkeit zuständig sein. Mit der Aufsicht über diese Datenverarbeitungsvorgänge sollten besondere Stellen im Justizsystem des Mitgliedstaats betraut werden können, die insbesondere die Einhaltung der Vorschriften dieser Verordnung sicherstellen, Richter und Staatsanwälte besser für ihre Pflichten aus dieser Verordnung sensibilisieren und Beschwerden in Bezug auf derartige Datenverarbeitungsvorgänge bearbeiten sollten.
…
(39) … [D]ie bestimmten Zwecke, zu denen die personenbezogenen Daten verarbeitet werden, [sollten] eindeutig und rechtmäßig sein und zum Zeitpunkt der Erhebung der personenbezogenen Daten feststehen. Die personenbezogenen Daten sollten für die Zwecke, zu denen sie verarbeitet werden, angemessen und erheblich sowie auf das für die Zwecke ihrer Verarbeitung notwendige Maß beschränkt sein. … Personenbezogene Daten sollten nur verarbeitet werden dürfen, wenn der Zweck der Verarbeitung nicht in zumutbarer Weise durch andere Mittel erreicht werden kann. …
…
(51) Personenbezogene Daten, die ihrem Wesen nach hinsichtlich der Grundrechte und Grundfreiheiten besonders sensibel sind, verdienen einen besonderen Schutz, da im Zusammenhang mit ihrer Verarbeitung erhebliche Risiken für die Grundrechte und Grundfreiheiten auftreten können. … Derartige personenbezogene Daten sollten nicht verarbeitet werden, es sei denn, die Verarbeitung ist in den in dieser Verordnung dargelegten besonderen Fällen zulässig, wobei zu berücksichtigen ist, dass im Recht der Mitgliedstaaten besondere Datenschutzbestimmungen festgelegt sein können, um die Anwendung der Bestimmungen dieser Verordnung anzupassen, damit die Einhaltung einer rechtlichen Verpflichtung oder die Wahrnehmung einer Aufgabe im öffentlichen Interesse oder die Ausübung öffentlicher Gewalt, die dem Verantwortlichen übertragen wurde, möglich ist. Zusätzlich zu den speziellen Anforderungen an eine derartige Verarbeitung sollten die allgemeinen Grundsätze und andere Bestimmungen dieser Verordnung, insbesondere hinsichtlich der Bedingungen für eine rechtmäßige Verarbeitung, gelten. Ausnahmen von dem allgemeinen Verbot der Verarbeitung dieser besonderen Kategorien personenbezogener Daten sollten ausdrücklich vorgesehen werden, unter anderem bei ausdrücklicher Einwilligung der betroffenen Person oder bei bestimmten Notwendigkeiten, insbesondere wenn die Verarbeitung im Rahmen rechtmäßiger Tätigkeiten bestimmter Vereinigungen oder Stiftungen vorgenommen wird, die sich für die Ausübung von Grundfreiheiten einsetzen.“
11 Art. 1 („Gegenstand und Ziele“) Abs. 2 DSGVO bestimmt:
„Diese Verordnung schützt die Grundrechte und Grundfreiheiten natürlicher Personen und insbesondere deren Recht auf Schutz personenbezogener Daten.“
12 Art. 2 („Sachlicher Anwendungsbereich“) DSGVO bestimmt:
„(1) Diese Verordnung gilt für die ganz oder teilweise automatisierte Verarbeitung personenbezogener Daten sowie für die nichtautomatisierte Verarbeitung personenbezogener Daten, die in einem Dateisystem gespeichert sind oder gespeichert werden sollen.
(2) Diese Verordnung findet keine Anwendung auf die Verarbeitung personenbezogener Daten
a)
im Rahmen einer Tätigkeit, die nicht in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fällt,
b)
durch die Mitgliedstaaten im Rahmen von Tätigkeiten, die in den Anwendungsbereich von Titel V Kapitel 2 EUV fallen,
…“
13 In Art. 4 („Begriffsbestimmungen“) DSGVO heißt es:
„Im Sinne dieser Verordnung bezeichnet der Ausdruck:
1. ‚personenbezogene Daten‘ alle Informationen, die sich auf eine identifizierte oder identifizierbare natürliche Person (im Folgenden ‚betroffene Person‘) beziehen; als identifizierbar wird eine natürliche Person angesehen, die direkt oder indirekt, insbesondere mittels Zuordnung zu einer Kennung wie einem Namen, zu einer Kennnummer, zu Standortdaten, zu einer Online-Kennung oder zu einem oder mehreren besonderen Merkmalen, die Ausdruck der physischen, physiologischen, genetischen, psychischen, wirtschaftlichen, kulturellen oder sozialen Identität dieser natürlichen Person sind, identifiziert werden kann;
2. ‚Verarbeitung‘ jeden mit oder ohne Hilfe automatisierter Verfahren ausgeführten Vorgang oder jede solche Vorgangsreihe im Zusammenhang mit personenbezogenen Daten wie das Erheben, das Erfassen, die Organisation, das Ordnen, die Speicherung, die Anpassung oder Veränderung, das Auslesen, das Abfragen, die Verwendung, die Offenlegung durch Übermittlung, Verbreitung oder eine andere Form der Bereitstellung, den Abgleich oder die Verknüpfung, die Einschränkung, das Löschen oder die Vernichtung;
…
7. ‚Verantwortlicher‘ die natürliche oder juristische Person, Behörde, Einrichtung oder andere Stelle, die allein oder gemeinsam mit anderen über die Zwecke und Mittel der Verarbeitung von personenbezogenen Daten entscheidet; sind die Zwecke und Mittel dieser Verarbeitung durch das Unionsrecht oder das Recht der Mitgliedstaaten vorgegeben, so kann der Verantwortliche beziehungsweise können die bestimmten Kriterien seiner Benennung nach dem Unionsrecht oder dem Recht der Mitgliedstaaten vorgesehen werden;
…“
14 Art. 6 („Rechtmäßigkeit der Verarbeitung“) DSGVO sieht in den Abs. 1 und 3 vor:
„(1) Die Verarbeitung ist nur rechtmäßig, wenn mindestens eine der nachstehenden Bedingungen erfüllt ist:
…
c)
die Verarbeitung ist zur Erfüllung einer rechtlichen Verpflichtung erforderlich, der der Verantwortliche unterliegt;
…
e)
die Verarbeitung ist für die Wahrnehmung einer Aufgabe erforderlich, die im öffentlichen Interesse liegt oder in Ausübung öffentlicher Gewalt erfolgt, die dem Verantwortlichen übertragen wurde;
…
(3) Die Rechtsgrundlage für die Verarbeitungen gemäß Absatz 1 Buchstaben c und e wird festgelegt durch
a)
Unionsrecht oder
b)
das Recht der Mitgliedstaaten, dem der Verantwortliche unterliegt.
Der Zweck der Verarbeitung muss in dieser Rechtsgrundlage festgelegt oder hinsichtlich der Verarbeitung gemäß Absatz 1 Buchstabe e für die Erfüllung einer Aufgabe erforderlich sein, die im öffentlichen Interesse liegt oder in Ausübung öffentlicher Gewalt erfolgt, die dem Verantwortlichen übertragen wurde. … Das Unionsrecht oder das Recht der Mitgliedstaaten müssen ein im öffentlichen Interesse liegendes Ziel verfolgen und in einem angemessenen Verhältnis zu dem verfolgten legitimen Zweck stehen.“
15 Art. 9 („Verarbeitung besonderer Kategorien personenbezogener Daten“) Abs. 1 und 2 DSGVO bestimmt:
„(1) Die Verarbeitung personenbezogener Daten, aus denen die rassische und ethnische Herkunft, politische Meinungen, religiöse oder weltanschauliche Überzeugungen oder die Gewerkschaftszugehörigkeit hervorgehen, sowie die Verarbeitung von genetischen Daten, biometrischen Daten zur eindeutigen Identifizierung einer natürlichen Person, Gesundheitsdaten oder Daten zum Sexualleben oder der sexuellen Orientierung einer natürlichen Person ist untersagt.
(2) Absatz 1 gilt nicht in folgenden Fällen:
…
g)
die Verarbeitung ist auf der Grundlage des Unionsrechts oder des Rechts eines Mitgliedstaats, das in angemessenem Verhältnis zu dem verfolgten Ziel steht, den Wesensgehalt des Rechts auf Datenschutz wahrt und angemessene und spezifische Maßnahmen zur Wahrung der Grundrechte und Interessen der betroffenen Person vorsieht, aus Gründen eines erheblichen öffentlichen Interesses erforderlich,
…“
Polnisches Recht
Verfassung
16 In Art. 45 Abs. 1 der Konstytucja Rzeczypospolitej Polskiej (Verfassung der Republik Polen, im Folgenden: Verfassung) heißt es:
„Jedermann hat das Recht auf gerechte und öffentliche Verhandlung der Sache ohne unbegründete Verzögerung vor dem zuständigen, unabhängigen, unparteiischen Gericht.“
17 Nach Art. 179 der Verfassung werden die Richter vom Präsidenten der Republik auf Vorschlag der Krajowa Rada Sądownictwa (Landesjustizrat, Polen, im Folgenden: KRS) auf unbestimmte Zeit ernannt.
18 Art. 186 Abs. 1 der Verfassung sieht vor:
„Die [KRS] schützt die Unabhängigkeit der Gerichte und der Richter.“
19 Art. 187 der Verfassung bestimmt:
„1. Die [KRS] besteht aus:
1)
dem Ersten Präsidenten des Sąd Najwyższy [(Oberstes Gericht)], dem Justizminister, dem Präsidenten des Naczelny Sąd Administracyjny [(Oberstes Verwaltungsgericht, Polen)] und einer vom Präsidenten der Republik ernannten Person,
2)
fünfzehn Mitgliedern, die aus der Mitte der Richter des Sąd Najwyższy [(Oberstes Gericht)], der ordentlichen Gerichte, der Verwaltungs- und der Militärgerichte gewählt worden sind,
3)
vier Mitgliedern, die vom Sejm [(Erste Kammer des Parlaments, Polen)] aus der Mitte der Abgeordneten gewählt worden sind, und zwei Mitgliedern, die vom Senat aus der Mitte der Senatoren gewählt worden sind.
…
3. Die Amtszeit der gewählten Mitglieder der [KRS] beträgt vier Jahre.
4. Die Ordnung, den Umfang der Tätigkeit und die Arbeitsweise der [KRS] sowie die Wahl ihrer Mitglieder regelt ein Gesetz.“
Geändertes Gesetz über das Oberste Gericht
20 Mit dem Gesetz über das Oberste Gericht wurden innerhalb des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) zwei neue Kammern geschaffen, nämlich zum einen die Disziplinarkammer und zum anderen die Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten.
21 Durch das Änderungsgesetz, das am 14. Februar 2020 in Kraft trat, wurde das Gesetz über das Oberste Gericht insbesondere wie folgt geändert: Eingefügt wurden neue §§ 2 bis 6 in Art. 26, eine neue Nr. 1a in Art. 27 § 1, ein neuer § 3 in Art. 45 sowie neue §§ 2 bis 5 in Art. 82, und geändert wurden Art. 29 und Art. 72 § 1 des Gesetzes.
22 In Art. 26 §§ 2 bis 6 des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht heißt es:
„§ 2. Die Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten ist zuständig für Anträge oder Erklärungen betreffend die Ablehnung eines Richters oder die Bestimmung des Gerichts, bei dem ein Verfahren geführt werden soll, mit denen die fehlende Unabhängigkeit des Gerichts oder des Richters gerügt wird. Das mit der Sache befasste Gericht übermittelt dem Präsidenten der Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten unverzüglich den Antrag, damit dieser nach den in gesonderten Vorschriften festgelegten Regeln weiter behandelt wird. Durch die Übermittlung des Antrags an den Präsidenten der Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten wird das laufende Verfahren nicht ausgesetzt.
§ 3. Der Antrag nach § 2 wird nicht geprüft, wenn er die Feststellung und die Beurteilung der Rechtmäßigkeit der Ernennung eines Richters oder seiner Ermächtigung zur Wahrnehmung von Aufgaben im Bereich der Rechtsprechung betrifft.
§ 4. Die Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten ist für Klagen zuständig, die auf die Feststellung der Rechtswidrigkeit rechtskräftiger Entscheidungen des Sąd Najwyższy [(Oberstes Gericht)], der ordentlichen Gerichte, der Militärgerichte und der Verwaltungsgerichte einschließlich des Naczelny Sąd Administracyjny [(Oberstes Verwaltungsgericht)] gerichtet sind, wenn die Rechtswidrigkeit darin besteht, dass der Status der zur Ausübung des Richteramts berufenen Person in Frage gestellt wird, die in der Sache entschieden hat.
§ 5. Für das Verfahren in den Sachen nach § 4 gelten die Bestimmungen über die Feststellung der Rechtswidrigkeit rechtskräftiger Entscheidungen entsprechend, und in Strafsachen die Bestimmungen über die Wiederaufnahme eines durch eine rechtskräftige Entscheidung abgeschlossenen Gerichtsverfahrens. Es ist nicht erforderlich, dass ein durch den Erlass der Entscheidung, die Gegenstand der Klage ist, verursachter Schaden vorliegt oder glaubhaft gemacht wird.
§ 6. Eine Klage auf Feststellung der Rechtswidrigkeit einer rechtskräftigen Entscheidung nach § 4 kann bei der Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten … ohne Befassung des Gerichts, das die angefochtene Entscheidung erlassen hat, erhoben werden, und zwar auch dann, wenn eine Partei die ihr zur Verfügung stehenden Rechtsbehelfe, einschließlich des außerordentlichen Rechtsbehelfs beim Sąd Najwyższy [(Oberstes Gericht)], nicht ausgeschöpft hat.“
23 Art. 27 § 1 des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht sieht vor:
„Die Disziplinarkammer ist zuständig für:
1)
Disziplinarsachen,
a)
die Richter des Sąd Najwyższy [(Oberstes Gericht)] betreffen,
b)
die vom Sąd Najwyższy [(Oberstes Gericht)] im Zusammenhang mit Disziplinarverfahren geprüft werden, die auf der Grundlage folgender Gesetze betrieben werden:
…
–
[Gesetz über die ordentliche Gerichtsbarkeit],
…
1a)
Sachen betreffend die Zustimmung dazu, dass Richter, Gerichtsassessoren [(Richter auf Probe)], Staatsanwälte und Staatsanwaltsassessoren [(Staatsanwälte auf Probe)] strafrechtlich zur Verantwortung gezogen oder in Untersuchungshaft genommen werden;
2)
arbeits- und sozialversicherungsrechtliche Sachen, die Richter des Sąd Najwyższy [(Oberstes Gericht)] betreffen;
3)
Sachen betreffend die Versetzung eines Richters des Sąd Najwyższy [(Oberstes Gericht)] in den Ruhestand.“
24 Art. 29 §§ 2 und 3 des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht sieht vor:
„§ 2. Im Rahmen der Tätigkeiten des Sąd Najwyższy [(Oberstes Gericht)] oder seiner Organe darf die Legitimität der [Gerichte], der Verfassungsorgane des Staates und der Organe zur Kontrolle und zum Schutz des Rechts nicht in Frage gestellt werden.
§ 3. Der Sąd Najwyższy [(Oberstes Gericht)] oder ein anderes Organ der Staatsgewalt darf die Rechtmäßigkeit der Ernennung eines Richters oder der sich daraus ergebenden Befugnis zur Wahrnehmung von Aufgaben im Bereich der Rechtsprechung weder feststellen noch beurteilen.“
25 Art. 45 § 3 des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht bestimmt:
„Die Erklärung nach Art. 88a des [geänderten Gesetzes über die ordentliche Gerichtsbarkeit] ist von den Richtern des Sąd Najwyższy [(Oberstes Gericht)] gegenüber dem Ersten Präsidenten des Sąd Najwyższy [(Oberstes Gericht)] und vom Ersten Präsidenten des Sąd Najwyższy [(Oberstes Gericht)] gegenüber der [KRS] abzugeben.“
26 Art. 72 § 1 des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht sieht vor:
„Ein Richter des Sąd Najwyższy [(Oberstes Gericht)] kann für Fehlverhalten im Amt (Disziplinarvergehen) disziplinarisch belangt werden, u. a. für:
1)
die offensichtliche und grobe Missachtung von Rechtsvorschriften;
2)
Handlungen oder Unterlassungen, die das Funktionieren eines Organs der Rechtsprechung unmöglich machen oder wesentlich erschweren können;
3)
Handlungen, mit denen das Bestehen des Dienstverhältnisses eines Richters, die Wirksamkeit der Ernennung eines Richters oder die Legitimität eines Verfassungsorgans der Republik Polen in Frage gestellt wird.“
27 Nach Art. 73 § 1 des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht ist die Disziplinarkammer das Disziplinargericht erster und zweiter Instanz für die Richter des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht).
28 Art. 82 des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht bestimmt:
„§ 1. Hat der Sąd Najwyższy [(Oberstes Gericht)] bei der Prüfung einer Kassationsbeschwerde oder eines anderen Rechtsbehelfs ernste Zweifel hinsichtlich der Auslegung der Rechtsvorschriften, auf deren Grundlage die betreffende Entscheidung erlassen wurde, so kann er das Verfahren aussetzen und einem aus sieben Richtern dieses Gerichts bestehenden Spruchkörper eine Rechtsfrage vorlegen.
§ 2. Prüft der Sąd Najwyższy [(Oberstes Gericht)] eine Sache, in der sich eine Rechtsfrage stellt, die die Unabhängigkeit eines Richters oder eines Gerichts betrifft, so setzt er die Entscheidung aus und legt diese Frage einem Spruchkörper vor, der aus sämtlichen Mitgliedern der Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten besteht.
§ 3. Hat der Sąd Najwyższy [(Oberstes Gericht)] bei der Prüfung eines Antrags nach Art. 26 § 2 ernste Zweifel hinsichtlich der Auslegung der Rechtsvorschriften, auf deren Grundlage die Entscheidung zu ergehen hat, so kann er das Verfahren aussetzen und einem aus sämtlichen Mitgliedern der Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten bestehenden Spruchkörper eine Rechtsfrage vorlegen.
§ 4. Beim Erlass eines Beschlusses nach § 2 oder § 3 ist die Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten nicht an einen Beschluss eines anderen Spruchkörpers des Sąd Najwyższy [(Oberstes Gericht)] gebunden, auch wenn dieser Beschluss die Wirkung eines Rechtsgrundsatzes hat.
§ 5. Ein von sämtlichen Mitgliedern der Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten auf der Grundlage von § 2 oder § 3 erlassener Beschluss ist für alle Spruchkörper des Sąd Najwyższy [(Oberstes Gericht)] verbindlich. Eine Abweichung von einem Beschluss, der die Wirkung eines Rechtsgrundsatzes hat, erfordert eine erneute Entscheidung durch einen Beschluss des Plenums des Sąd Najwyższy [(Oberstes Gericht)] in Anwesenheit von mindestens zwei Dritteln der Richter jeder der Kammern. Art. 88 findet keine Anwendung.“
Geändertes Gesetz über die ordentliche Gerichtsbarkeit
29 Durch das Änderungsgesetz wurde das Gesetz über die ordentliche Gerichtsbarkeit insbesondere wie folgt geändert: Eingefügt wurden neue Art. 42a und 88a, ein neuer § 4 in Art. 55, neue Nrn. 2 und 3 in Art. 107 sowie ein neuer § 2a in Art. 110 des Gesetzes.
30 Art. 42a des geänderten Gesetzes über die ordentliche Gerichtsbarkeit bestimmt:
„§ 1. Im Rahmen der Tätigkeiten der Gerichte oder der Organe der Gerichte darf die Legitimität der [Gerichte], der Verfassungsorgane des Staates und der Organe zur Kontrolle und zum Schutz des Rechts nicht in Frage gestellt werden.
§ 2. Ein ordentliches Gericht oder ein anderes Organ der Staatsgewalt darf die Rechtmäßigkeit der Ernennung eines Richters oder der sich daraus ergebenden Befugnis zur Wahrnehmung von Aufgaben im Bereich der Rechtsprechung weder feststellen noch beurteilen.“
31 Art. 55 des geänderten Gesetzes über die ordentliche Gerichtsbarkeit bestimmt:
„§ 1. Ein Richter eines ordentlichen Gerichts ist eine Person, die vom Präsidenten der Republik in dieses Amt ernannt wurde und ihm gegenüber einen Eid geleistet hat.
§ 2. Die Richter der ordentlichen Gerichte werden in die folgenden Ämter ernannt:
1)
Richter am Sąd Rejonowy [(Rayongericht)];
2)
Richter am Sąd Okręgowy [(Regionalgericht)];
3)
Richter am Sąd Apelacyjny [(Berufungsgericht)].
§ 3. Bei der Ernennung einer Person in das Richteramt bestimmt der Präsident der Republik ihren Dienstort (Amtssitz). In den in Art. 75 vorgesehenen Fällen und nach den dort bestimmten Modalitäten kann der Dienstort ohne Änderung der dienstlichen Stellung geändert werden.
§ 4. Ein Richter kann über alle Sachen an seinem Dienstort und in den gesetzlich vorgesehenen Fällen in anderen Gerichten entscheiden (Zuständigkeit des Richters). Die Vorschriften über die Zuweisung von Sachen sowie über die Bestimmung und Änderung der Spruchkörper beschränken nicht die Zuständigkeit des Richters und können keine Grundlage für die Feststellung sein, dass ein Spruchkörper im Widerspruch zu Rechtsvorschriften steht, dass ein Gericht nicht ordnungsgemäß besetzt ist oder dass eine Person an der Entscheidung beteiligt war, die dazu nicht befugt oder zuständig ist.“
32 Art. 80 des geänderten Gesetzes über die ordentliche Gerichtsbarkeit bestimmt:
„§ 1. Ein Richter darf ohne Zustimmung des zuständigen Disziplinargerichts weder festgenommen noch strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden. Diese Bestimmung betrifft nicht die Festnahme eines Richters auf frischer Tat, wenn diese Festnahme unerlässlich ist, um die ordnungsgemäße Durchführung des Verfahrens zu gewährleisten. Bis zum Erlass des Beschlusses, mit dem die Zustimmung dazu gegeben wird, dass ein Richter strafrechtlich zur Verantwortung gezogen wird, dürfen nur Maßnahmen getroffen werden, die keinen Aufschub dulden.
…
§ 2c. Das Disziplinargericht erlässt einen Beschluss, mit dem die Zustimmung dazu gegeben wird, dass ein Richter strafrechtlich zur Verantwortung gezogen wird, wenn der hinreichend begründete Verdacht besteht, dass er eine Straftat begangen hat. Der Beschluss enthält die Entscheidung über die Zustimmung dazu, dass der betreffende Richter strafrechtlich zur Verantwortung gezogen wird, und die Begründung dafür.
§ 2d. Das Disziplinargericht prüft einen Antrag auf Zustimmung dazu, dass ein Richter strafrechtlich zur Verantwortung gezogen wird, innerhalb von 14 Tagen nach seinem Eingang.
…“
33 Art. 88a des geänderten Gesetzes über die ordentliche Gerichtsbarkeit lautet:
„§ 1. Ein Richter ist verpflichtet, eine schriftliche Erklärung mit folgenden Angaben abzugeben:
1)
seine Mitgliedschaft in einer Vereinigung, u. a. einem Verein, einschließlich des Namens und des eingetragenen Sitzes der Vereinigung, der dort eingenommenen Positionen und des Zeitraums der Mitgliedschaft;
2)
die in einem Organ einer Stiftung ohne Gewinnzweck eingenommene Position, einschließlich des Namens und des eingetragenen Sitzes der Stiftung und des Zeitraums, in dem diese Position eingenommen wurde;
3)
seine Mitgliedschaft in einer politischen Partei vor seiner Ernennung auf die Stelle eines Richters sowie seine Mitgliedschaft in einer politischen Partei während seiner Amtszeit vor dem 29. Dezember 1989, einschließlich des Namens der Partei, der eingenommenen Positionen und des Zeitraums der Mitgliedschaft.
§ 2. Die Erklärungen nach § 1 sind von Richtern gegenüber dem Präsidenten des zuständigen Sąd Apelacyjny [(Berufungsgericht)] und von den Präsidenten der Sądy Apelacyjne [(Berufungsgerichte)] gegenüber dem Justizminister abzugeben.
§ 3. Die Erklärungen nach § 1 sind binnen 30 Tagen ab dem Amtsantritt des Richters und binnen 30 Tagen ab dem Eintritt oder dem Wegfall der in § 1 bezeichneten Umstände abzugeben.
§ 4. Die in den Erklärungen nach § 1 enthaltenen Angaben sind öffentlich und werden nicht später als 30 Tage nach der Abgabe der Erklärung gegenüber der zuständigen Stelle in dem in der Ustawa o dostępie do informacji publicznej [(Gesetz über den Zugang zu öffentlichen Informationen) vom 6. September 2001 (Dz. U. Nr. 112, Pos. 1198)] bezeichneten Biuletyn Informacji Publicznej [(Bulletin für öffentliche Informationen)] veröffentlicht.“
34 Art. 107 § 1 des geänderten Gesetzes über die ordentliche Gerichtsbarkeit bestimmt:
„Ein Richter kann für Fehlverhalten im Amt (Disziplinarvergehen) disziplinarisch belangt werden, u. a. für:
1)
die offensichtliche und grobe Missachtung von Rechtsvorschriften;
2)
Handlungen oder Unterlassungen, die das Funktionieren eines Organs der Rechtsprechung unmöglich machen oder wesentlich erschweren können;
3)
Handlungen, mit denen das Bestehen des Dienstverhältnisses eines Richters, die Wirksamkeit der Ernennung eines Richters oder die Legitimität eines Verfassungsorgans der Republik Polen in Frage gestellt wird;
…“
35 In Art. 110 § 2a des geänderten Gesetzes über die ordentliche Gerichtsbarkeit heißt es:
„… In den Sachen nach … Art. 80 … entscheidet im ersten Rechtszug der Sąd Najwyższy [(Oberstes Gericht)] in der Besetzung mit einem Richter der Disziplinarkammer und im zweiten Rechtszug der Sąd Najwyższy [(Oberste Gericht)] in der Besetzung mit drei Richtern der Disziplinarkammer.“
36 In Art. 129 §§ 1 bis 3 des geänderten Gesetzes über die ordentliche Gerichtsbarkeit heißt es:
„§ 1. Das Disziplinargericht kann einen Richter, gegen den ein Disziplinar- oder Entmündigungsverfahren eingeleitet wurde, von seinen Diensttätigkeiten suspendieren; dies gilt auch dann, wenn es mit einem Beschluss seine Zustimmung dazu gibt, dass ein Richter strafrechtlich zur Verantwortung gezogen wird.
§ 2. Wenn das Disziplinargericht mit einem Beschluss seine Zustimmung dazu gibt, dass ein Richter wegen einer vorsätzlichen Straftat, die von Amts wegen verfolgt wird, strafrechtlich zur Verantwortung gezogen wird, suspendiert es diesen Richter von Amts wegen von seinen Diensttätigkeiten.
§ 3. Suspendiert das Disziplinargericht einen Richter von seinen Diensttätigkeiten, kürzt es für die Zeit der Suspendierung den Betrag seiner Vergütung um 25 bis 50 %; dies gilt nicht für Personen, gegen die ein Entmündigungsverfahren eingeleitet wurde.“
Geändertes Gesetz über die Verwaltungsgerichtsbarkeit
37 Durch das Änderungsgesetz wurde das Gesetz über die Verwaltungsgerichtsbarkeit insbesondere wie folgt geändert: Eingefügt wurden in Art. 5 neue §§ 1a und 1b sowie in Art. 8 ein neuer § 2, und geändert wurden Art. 29 § 1 und Art. 49 § 1 des Gesetzes.
38 Art. 5 §§ 1a und 1b des geänderten Gesetzes über die Verwaltungsgerichtsbarkeit bestimmt:
„§ 1a. Im Rahmen der Tätigkeiten eines Verwaltungsgerichts oder seiner Organe darf die Legitimität der [Gerichte], der Verfassungsorgane des Staates und der Organe zur Kontrolle und zum Schutz des Rechts nicht in Frage gestellt werden.
§ 1b. Ein Verwaltungsgericht oder ein anderes Organ der Staatsgewalt darf die Rechtmäßigkeit der Ernennung eines Richters oder der sich daraus ergebenden Befugnis zur Wahrnehmung von Aufgaben im Bereich der Rechtsprechung weder feststellen noch beurteilen.“
39 Art. 8 § 2 des geänderten Gesetzes über die Verwaltungsgerichtsbarkeit bestimmt:
„Die Erklärung nach Art. 88a des [geänderten Gesetzes über die ordentliche Gerichtsbarkeit] ist von den Richtern eines Wojewódzki Sąd Administracyjny [(Woiwodschaftsverwaltungsgericht)] gegenüber dem zuständigen Präsidenten eines Woiwodschaftsverwaltungsgerichts, vom Präsidenten eines Woiwodschaftsverwaltungsgerichts und von den Richtern des Naczelny Sąd Administracyjny [(Oberstes Verwaltungsgericht)] gegenüber dem Präsidenten des Naczelny Sąd Administracyjny [(Oberstes Verwaltungsgericht)] und vom Präsidenten des Naczelny Sąd Administracyjny [(Oberstes Verwaltungsgericht)] gegenüber der [KRS] abzugeben.“
40 Nach Art. 29 § 1 des geänderten Gesetzes über die Verwaltungsgerichtsbarkeit gelten die in Art. 107 § 1 Nrn. 2 und 3 des geänderten Gesetzes über die ordentliche Gerichtsbarkeit vorgesehenen Disziplinartatbestände auch für die Richter der Verwaltungsgerichte.
41 Nach Art. 49 § 1 des geänderten Gesetzes über die Verwaltungsgerichtsbarkeit gelten die in Art. 72 § 1 des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht vorgesehenen Disziplinartatbestände auch für die Richter des Naczelny Sąd Administracyjny [(Oberstes Verwaltungsgericht)].
Übergangsbestimmungen im Änderungsgesetz
42 Nach Art. 8 des Änderungsgesetzes gilt Art. 55 § 4 des geänderten Gesetzes über die ordentliche Gerichtsbarkeit auch für Sachen, die vor dem Inkrafttreten des Änderungsgesetzes eingeleitet oder abgeschlossen wurden.
43 Art. 10 des Änderungsgesetzes sieht vor:
„§ 1. Die Bestimmungen des [Gesetzes über das Oberste Gericht] in der Fassung des vorliegenden Gesetzes finden auch auf Sachen Anwendung, die der Prüfung durch die Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten unterliegen und vor dem Inkrafttreten dieses Gesetzes eingeleitet und nicht durch eine rechtskräftige Entscheidung, einschließlich eines Beschlusses, abgeschlossen worden sind.
§ 2. Das Gericht, bei dem eine Sache nach § 1 anhängig ist, verweist diese unverzüglich, spätestens sieben Tage nach dem Inkrafttreten dieses Gesetzes, an die Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten, die die zuvor vorgenommenen Handlungen aufheben kann, soweit sie der weiteren Prüfung der Sache im Einklang mit dem Gesetz entgegenstehen.
§ 3. Gerichtliche Handlungen und Handlungen der Parteien oder Verfahrensbeteiligten in Verfahren in den in § 1 genannten Sachen, die nach dem Inkrafttreten des vorliegenden Gesetzes unter Verstoß gegen § 2 vorgenommen werden, haben keine verfahrensrechtlichen Wirkungen.“
Vorverfahren
44 Am 29. April 2020 richtete die Kommission, die der Ansicht war, dass die Republik Polen durch den Erlass des Änderungsgesetzes in mehrfacher Hinsicht gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV in Verbindung mit Art. 47 der Charta, dem Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts und Art. 267 AEUV sowie Art. 7 und Art. 8 Abs. 1 der Charta, Art. 6 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. c und e sowie Abs. 3 und Art. 9 DSGVO verstoßen habe, ein Mahnschreiben an diesen Mitgliedstaat. Die Republik Polen antwortete darauf mit Schreiben vom 29. Juni 2020, in dem sie jeden Verstoß gegen das Unionsrecht bestritt.
45 Am 30. Oktober 2020 gab die Kommission eine mit Gründen versehene Stellungnahme ab, in der sie daran festhielt, dass die durch das Änderungsgesetz eingeführte Regelung gegen die in der vorstehenden Randnummer genannten Bestimmungen des Unionsrechts verstoße. Sie forderte die Republik Polen daher auf, die erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen, um der mit Gründen versehenen Stellungnahme binnen zweier Monate nach ihrem Erhalt nachzukommen.
46 In Anbetracht der zunehmenden Zahl der bei der Disziplinarkammer anhängigen Verfahren wegen Anträgen auf Zustimmung zur Einleitung eines Strafverfahrens gegen Richter stellte die Kommission den polnischen Behörden am 1. November 2020 mehrere Fragen, die diese am 13. November 2020 beantworteten.
47 Am 3. Dezember 2020 übersandte die Kommission der Republik Polen ein ergänzendes Mahnschreiben, in dem sie beanstandete, dass die Republik Polen dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV verstoßen habe, dass sie der Disziplinarkammer, deren Unabhängigkeit und Unparteilichkeit nicht gewährleistet seien, auf der Grundlage von Art. 27 § 1 Nrn. 1a, 2 und 3 des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht die Zuständigkeit für die Entscheidung in Sachen, die sich unmittelbar auf den Status und die Amtsausübung von Richtern und Assessoren auswirkten, zugewiesen habe.
48 Mit Schreiben vom 30. Dezember 2020 antwortete die Republik Polen auf die mit Gründen versehene Stellungnahme der Kommission vom 30. Oktober 2020 und stellte das Vorliegen der gerügten Vertragsverletzungen in Abrede.
49 Mit Schreiben vom 4. Januar 2021 antwortete die Republik Polen auf das ergänzende Mahnschreiben vom 3. Dezember 2020 und machte geltend, dass die darin erhobenen Rügen der Kommission ebenfalls unbegründet seien.
50 Am 27. Januar 2021 übersandte die Kommission der Republik Polen eine ergänzende mit Gründen versehene Stellungnahme, in der sie die Rügen aufrechterhielt, die sie in ihrem ergänzenden Mahnschreiben erhoben hatte. Sie forderte die Republik Polen daher auf, die erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen, um der ergänzenden mit Gründen versehenen Stellungnahme binnen eines Monats nach ihrem Erhalt nachzukommen.
51 Mit Schreiben vom 26. Februar 2021 antwortete die Republik Polen auf die ergänzende mit Gründen versehene Stellungnahme und wies die darin von der Kommission erhobenen Rügen zurück.
52 Vor diesem Hintergrund hat die Kommission die vorliegende Klage erhoben.
Verfahren vor dem Gerichtshof
53 Mit gesondertem Schriftsatz, der am 1. April 2021 bei der Kanzlei des Gerichtshofs eingegangen ist, hat die Kommission einen Antrag auf einstweilige Anordnungen nach Art. 279 AEUV gestellt.
54 Mit Beschluss vom 14. Juli 2021, Kommission/Polen (C‑204/21 R, EU:C:2021:593), hat die Vizepräsidentin des Gerichtshofs diesem Antrag bis zur Verkündung des vorliegenden Urteils stattgegeben und der Republik Polen im Wesentlichen aufgegeben, sowohl die Anwendung der nationalen Bestimmungen, die im ersten bis vierten Gedankenstrich der Klageanträge der Kommission, wie sie in Rn. 1 des vorliegenden Urteils wiedergeben sind, genannt werden, als auch die Wirkungen der Entscheidungen der Disziplinarkammer über die Zustimmung zur Einleitung eines Strafverfahrens gegen einen Richter oder zu seiner Festnahme auszusetzen.
55 Mit am 16. August 2021 bei der Kanzlei des Gerichtshofs eingegangenem Schriftsatz hat die Republik Polen beantragt, diesen Beschluss wieder aufzuheben. Dieser Antrag wurde mit Beschluss der Vizepräsidentin des Gerichtshofs vom 6. Oktober 2021, Polen/Kommission (C‑204/21 R, EU:C:2021:834), zurückgewiesen.
56 Mit am 7. September 2021 bei der Kanzlei des Gerichtshofs eingegangenem Schriftsatz hat die Kommission einen neuen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung auf Verurteilung der Republik Polen zur Zahlung eines täglichen Zwangsgelds gestellt. Mit Beschluss vom 27. Oktober 2021, Kommission/Polen (C‑204/21 R, EU:C:2021:878), hat der Vizepräsident des Gerichtshofs die Republik Polen verurteilt, an die Kommission ein Zwangsgeld in Höhe von 1000000 Euro pro Tag zu zahlen, und zwar ab dem Tag der Zustellung dieses Beschlusses bis zu dem Tag, an dem die Republik Polen ihren Verpflichtungen aus dem in Rn. 54 des vorliegenden Urteils genannten Beschluss der Vizepräsidentin des Gerichtshofs nachkommt, oder andernfalls bis zum Tag der Verkündung des vorliegenden Urteils. Mit Beschluss des Vizepräsidenten des Gerichtshofs vom 21. April 2023, Kommission/Polen (Unabhängigkeit und Privatleben von Richtern) (C‑204/21 R-RAP, EU:C:2023:334), ist der Betrag des Zwangsgelds ab dem Tag der Unterzeichnung dieses Beschlusses auf 500000 Euro pro Tag herabgesetzt worden.
57 Mit Beschlüssen vom 30. September 2021 hat der Präsident des Gerichtshofs das Königreich Belgien, das Königreich Dänemark, das Königreich der Niederlande, die Republik Finnland und das Königreich Schweden als Streithelfer zur Unterstützung der Anträge der Kommission zugelassen.
Zur Klage
58 Die Klage der Kommission umfasst fünf Rügen. Mit der ersten bis dritten Rüge beanstandet die Kommission Verstöße gegen Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV in Verbindung mit Art. 47 der Charta sowie gegen Art. 267 AEUV, wobei die erste und die zweite Rüge außerdem auf die Feststellung eines Verstoßes gegen den Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts gerichtet sind. Mit der vierten Rüge wird ein Verstoß gegen Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV geltend gemacht. Die fünfte Rüge betrifft einen Verstoß gegen Art. 7 und Art. 8 Abs. 1 der Charta sowie gegen Art. 6 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. c und e sowie Abs. 3 und Art. 9 Abs. 1 DSGVO.
59 Die Republik Polen stellt alle ihr insoweit vorgeworfenen Verstöße in Abrede und beantragt die Abweisung der Klage der Kommission.
Zur Zuständigkeit des Gerichtshofs, zur Rechtsstaatlichkeit und zur richterlichen Unabhängigkeit sowie zum Vorrang des Unionsrechts
60 In ihrer Gegenerwiderung beruft sich die Republik Polen auf das Urteil vom 14. Juli 2021 (Rechtssache P 7/20) des Trybunał Konstytucyjny (Verfassungsgerichtshof, Polen), in dem jenes Gericht zum einen auf der Grundlage von Art. 4 Abs. 1 und 2 sowie Art. 5 Abs. 1 EUV und insbesondere unter Zugrundelegung des unionsrechtlichen Grundsatzes der begrenzten Einzelermächtigung und der Verpflichtung der Union zur Achtung der nationalen Identität der Mitgliedstaaten festgestellt habe, dass Art. 4 Abs. 3 Satz 2 EUV in Verbindung mit Art. 279 AEUV in seiner Auslegung durch den Gerichtshof im Beschluss vom 8. April 2020, Kommission/Polen (C‑791/19 R, EU:C:2020:277), mit mehreren Bestimmungen der Verfassung unvereinbar sei. Zum anderen habe das Trybunał Konstytucyjny (Verfassungsgerichtshof) festgestellt, dass der Gerichtshof ultra vires entschieden habe, als er in diesem Beschluss einstweilige Anordnungen in Bezug auf die Organisation und die Zuständigkeit der polnischen Gerichte und das vor ihnen zu befolgende Verfahren getroffen habe und der Republik Polen dadurch Verpflichtungen auferlegt habe. Folglich seien diese Anordnungen nicht von den in Art. 91 Abs. 1 bis 3 der Verfassung genannten Grundsätzen des Vorrangs und der unmittelbaren Anwendbarkeit des Unionsrechts gedeckt. Im Urteil vom 14. Juli 2021 habe das Trybunał Konstytucyjny (Verfassungsgerichtshof) außerdem festgestellt, dass im Fall eines Konflikts zwischen seinen Entscheidungen und den Entscheidungen des Gerichtshofs das Trybunał Konstytucyjny (Verfassungsgerichtshof) in Grundsatzsachen, die die polnische Verfassungsordnung beträfen, das „letzte Wort“ haben müsse.
61 Die Republik Polen möchte insoweit im Wesentlichen, wie ihrer Gegenerwiderung zu entnehmen ist, sowohl das Vorliegen der von der Kommission in ihrer Klage beanstandeten Vertragsverletzungen, insbesondere derjenigen, die Verstöße gegen Art. 19 Abs. 1 EUV in Verbindung mit Art. 47 der Charta sowie gegen den Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts betreffen, als auch die Zuständigkeit des Gerichtshofs für die Entscheidung über diese Klage bestreiten. Aus dem Urteil des Trybunał Konstytucyjny (Verfassungsgerichtshof) vom 14. Juli 2021 gehe nämlich hervor, dass der Gerichtshof, wenn er den Rügen der Kommission stattgeben sollte, seine eigenen Zuständigkeiten und die Zuständigkeiten der Union überschreiten würde. Sollte den Rügen stattgegeben werden, würde dadurch zum einen unter Missachtung des unionsrechtlichen Grundsatzes der begrenzten Einzelermächtigung die ausschließliche Zuständigkeit der Republik Polen im Bereich der Organisation der Justiz untergraben und zum anderen die nationale Identität der Republik Polen, die in ihren grundlegenden politischen und verfassungsmäßigen Strukturen zum Ausdruck komme, unter Verstoß gegen Art. 4 Abs. 2 EUV verletzt.
62 Hierzu ist indessen zunächst festzustellen, dass die Kontrolle der Einhaltung der Erfordernisse von Art. 2 und Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV durch die Mitgliedstaaten in vollem Umfang in die Zuständigkeit des Gerichtshofs fällt, insbesondere wenn der Gerichtshof, wie im vorliegenden Fall, mit einer von der Kommission nach Art. 258 AEUV erhobenen Vertragsverletzungsklage befasst ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 16. Februar 2022, Ungarn/Parlament und Rat, C‑156/21, EU:C:2022:97, Rn. 161 und die dort angeführte Rechtsprechung).
63 Was die Tragweite dieser Bestimmungen betrifft, fällt nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs die Organisation der Justiz in den Mitgliedstaaten, u. a. die Errichtung, die Besetzung, die Zuständigkeiten und die Arbeitsweise der nationalen Gerichte sowie die Vorschriften über das Verfahren zur Ernennung von Richtern oder über ihren Status und ihre Amtsausübung, zwar in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten, doch haben diese bei der Ausübung dieser Zuständigkeit die Verpflichtungen einzuhalten, die sich für sie aus dem Unionsrecht, insbesondere aus den Art. 2 und 19 EUV, ergeben (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 15. Juli 2021, Kommission/Polen [Disziplinarordnung für Richter], C‑791/19, EU:C:2021:596, Rn. 56, 60 bis 62 und 95 sowie die dort angeführte Rechtsprechung, und vom 22. Februar 2022, RS [Wirkung der Urteile eines Verfassungsgerichts], C‑430/21, EU:C:2022:99, Rn. 38 und die dort angeführte Rechtsprechung).
64 Gemäß Art. 2 EUV gründet sich die Union auf Werte, die allen Mitgliedstaaten gemeinsam sind, und nach Art. 49 EUV stellt die Achtung dieser Werte für den Beitritt jedes europäischen Staates, der Mitglied der Union werden möchte, eine Vorbedingung dar (Urteil vom 16. Februar 2022, Ungarn/Parlament und Rat, C‑156/21, EU:C:2022:97, Rn. 124 und die dort angeführte Rechtsprechung).
65 Um der Union beitreten zu können, musste die Republik Polen im Übrigen den von den Beitrittskandidaten zu erfüllenden Kriterien genügen, wie sie vom Europäischen Rat von Kopenhagen vom 21. und 22. Juni 1993 festgelegt worden waren. Diese Kriterien erfordern u. a., dass der Beitrittskandidat „über stabile Institutionen verfügt, die die Demokratie, die Rechtsstaatlichkeit, die Achtung der Menschenrechte, die Wahrung der Rechte von Minderheiten und ihren Schutz gewährleisten“ (Urteil vom 29. März 2022, Getin Noble Bank, C‑132/20, EU:C:2022:235, Rn. 104).
66 Wie der Gerichtshof wiederholt hervorgehoben hat, besteht die Union aus Staaten, die die in Art. 2 EUV genannten Werte von sich aus und freiwillig übernommen haben, diese achten und sich für deren Förderung einsetzen. Das gegenseitige Vertrauen zwischen den Mitgliedstaaten und insbesondere ihren Gerichten beruht im Übrigen auf der grundlegenden Prämisse, dass die Mitgliedstaaten diese gemeinsamen Werte teilen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 15. Juli 2021, Kommission/Polen [Disziplinarordnung für Richter], C‑791/19, EU:C:2021:596, Rn. 50 und die dort angeführte Rechtsprechung).
67 Art. 2 EUV stellt daher keine bloße Aufzählung politischer Leitlinien oder Absichten dar, sondern enthält Werte, die der Union als Rechtsgemeinschaft schlechthin ihr Gepräge geben, wobei sich diese Werte in Grundsätzen niederschlagen, die rechtlich verbindliche Verpflichtungen für die Mitgliedstaaten beinhalten (Urteil vom 16. Februar 2022, Ungarn/Parlament und Rat, C‑156/21, EU:C:2022:97, Rn. 232).
68 Aus den vorstehenden Erwägungen ergibt sich insbesondere, dass die Achtung der in Art. 2 EUV verankerten Werte durch einen Mitgliedstaat eine Voraussetzung für den Genuss aller Rechte ist, die sich aus der Anwendung der Verträge auf diesen Mitgliedstaat ergeben. Die Achtung dieser Werte kann nämlich nicht auf eine Verpflichtung reduziert werden, der ein Beitrittskandidat im Hinblick auf seinen Beitritt zur Union unterläge und der er danach wieder entsagen könnte (Urteil vom 16. Februar 2022, Ungarn/Parlament und Rat, C‑156/21, EU:C:2022:97, Rn. 126 und die dort angeführte Rechtsprechung).
69 Art. 19 EUV wiederum konkretisiert den Wert der in Art. 2 EUV proklamierten Rechtsstaatlichkeit (Urteil vom 27. Februar 2018, Associação Sindical dos Juízes Portugueses, C‑64/16, EU:C:2018:117, Rn. 32). Was speziell Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV betrifft, ist es gemäß dieser Vorschrift Sache der Mitgliedstaaten, ein System von Rechtsbehelfen und Verfahren vorzusehen, das den Einzelnen die Wahrung ihres Rechts auf wirksamen Rechtsschutz in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen gewährleistet. Der Grundsatz des wirksamen gerichtlichen Schutzes der dem Einzelnen aus dem Unionsrecht erwachsenden Rechte, von dem in der genannten Bestimmung die Rede ist, ist ein allgemeiner Grundsatz des Unionsrechts, der sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten ergibt; er ist in den Art. 6 und 13 EMRK und nun auch in Art. 47 der Charta verankert (Urteil vom 15. Juli 2021, Kommission/Polen [Disziplinarordnung für Richter], C‑791/19, EU:C:2021:596, Rn. 52 und die dort angeführte Rechtsprechung).
70 Um sicherzustellen, dass Einrichtungen, die zur Entscheidung über Fragen im Zusammenhang mit der Anwendung oder der Auslegung des Unionsrechts angerufen werden können, in der Lage sind, einen solchen wirksamen Rechtsschutz sicherzustellen, ist es von grundlegender Bedeutung, dass die Unabhängigkeit der betreffenden Einrichtungen gewahrt ist, wie Art. 47 Abs. 2 der Charta bestätigt (Urteil vom 15. Juli 2021, Kommission/Polen [Disziplinarordnung für Richter], C‑791/19, EU:C:2021:596, Rn. 57 und die dort angeführte Rechtsprechung).
71 Der Gerichtshof hat ferner in seiner Rechtsprechung darauf hingewiesen, dass die Garantien für den Zugang zu einem unabhängigen, unparteiischen und zuvor durch Gesetz errichteten Gericht, und insbesondere diejenigen, die für den Begriff und die Zusammensetzung des Gerichts bestimmend sind, den Grundpfeiler des Rechts auf ein faires Verfahren bilden (Urteil vom 6. Oktober 2021, W. Ż. [Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten des Obersten Gerichts – Ernennung], C‑487/19, EU:C:2021:798, Rn. 126 und die dort angeführte Rechtsprechung).
72 Unter diesen Umständen kann nicht mit Erfolg geltend gemacht werden, dass die Erfordernisse, die sich als Voraussetzungen sowohl für den Unionsbeitritt als auch für die Teilnahme an der Union aus der Achtung von Werten und Grundsätzen wie der Rechtsstaatlichkeit, dem wirksamen Rechtsschutz und der richterlichen Unabhängigkeit ableiten, wie sie in Art. 2 und Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV verankert sind, die nationale Identität eines Mitgliedstaats im Sinne von Art. 4 Abs. 2 EUV beeinträchtigen können. Folglich kann Art. 4 Abs. 2 EUV, der unter Berücksichtigung der ihm gleichrangigen Bestimmungen von Art. 2 und Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV auszulegen ist, die Mitgliedstaaten nicht von der Verpflichtung zur Einhaltung der sich aus diesen Vorschriften ergebenden Erfordernisse befreien.
73 Der Gerichtshof hat insoweit festgestellt, dass, auch wenn die Union, wie es in Art. 4 Abs. 2 EUV heißt, die nationale Identität der Mitgliedstaaten achtet, die in ihren grundlegenden politischen und verfassungsmäßigen Strukturen zum Ausdruck kommt, so dass die Mitgliedstaaten bei der Umsetzung der Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit über einen gewissen Gestaltungsspielraum verfügen, daraus keineswegs folgt, dass die genannte Ergebnispflicht von einem Mitgliedstaat zum anderen variieren kann. Wenngleich die Mitgliedstaaten unterschiedliche nationale Identitäten haben, die in ihren grundlegenden politischen und verfassungsmäßigen Strukturen zum Ausdruck kommen und von der Union geachtet werden, schließen sie sich nämlich einem Verständnis von „Rechtsstaatlichkeit“ an, das sie im Sinne eines ihren eigenen Verfassungstraditionen gemeinsamen Wertes teilen und zu dessen dauerhafter Beachtung sie sich verpflichtet haben (Urteil vom 16. Februar 2022, Ungarn/Parlament und Rat, C‑156/21, EU:C:2022:97, Rn. 233 und 234).
74 Folglich müssen die Mitgliedstaaten bei der Wahl ihres jeweiligen verfassungsrechtlichen Modells insbesondere das Erfordernis der Unabhängigkeit der Gerichte beachten, das sich aus Art. 2 und Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV ergibt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 22. Februar 2022, RS [Wirkung der Urteile eines Verfassungsgerichts], C‑430/21, EU:C:2022:99, Rn. 43 und die dort angeführte Rechtsprechung). Sie müssen somit insbesondere dafür Sorge tragen, dass sie jeden nach Maßgabe des Wertes der Rechtsstaatlichkeit eintretenden Rückschritt in ihren Rechtsvorschriften über die Organisation der Justiz vermeiden, indem sie davon absehen, Regeln zu erlassen, die die richterliche Unabhängigkeit untergraben würden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 21. Dezember 2021, Euro Box Promotion u. a., C‑357/19, C‑379/19, C‑547/19, C‑811/19 und C‑840/19, EU:C:2021:1034, Rn. 162).
75 Darüber hinaus hat der Gerichtshof im Urteil vom 15. Juli 1964, Costa (6/64, EU:C:1964:66, S. 1269 bis 1271), festgestellt, dass die Schaffung einer eigenen Rechtsordnung durch den EWG-Vertrag, die von den Mitgliedstaaten auf der Grundlage der Gegenseitigkeit angenommen wurde, zur Folge hat, dass die Mitgliedstaaten weder gegen diese Rechtsordnung nachträgliche einseitige Maßnahmen geltend machen können noch dem aus dem EWG-Vertrag hervorgegangenen Recht Vorschriften des nationalen Rechts gleich welcher Art entgegensetzen können. Andernfalls würde diesem Recht sein Gemeinschaftscharakter aberkannt und die Rechtsgrundlage der Gemeinschaft selbst in Frage gestellt. Außerdem hat der Gerichtshof betont, dass es eine Gefahr für die Verwirklichung der Ziele des EWG-Vertrags bedeuten würde und eine nach diesem Vertrag verbotene Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit zur Folge hätte, wenn das Gemeinschaftsrecht je nach der nachträglichen innerstaatlichen Gesetzgebung von einem Staat zum anderen verschiedene Geltung haben könnte (Urteil vom 22. Februar 2022, RS [Wirkung der Urteile eines Verfassungsgerichts], C‑430/21, EU:C:2022:99, Rn. 48 und die dort angeführte Rechtsprechung).
76 Diese wesentlichen Merkmale der Rechtsordnung der Union und die Bedeutung der ihr geschuldeten Achtung wurden im Übrigen durch die vorbehaltlose Ratifizierung der Verträge zur Änderung des EWG-Vertrags und insbesondere des Vertrags von Lissabon bestätigt, wie insbesondere die Erklärung Nr. 17 zum Vorrang belegt, die der Schlussakte der Regierungskonferenz, die den am 13. Dezember 2007 unterzeichneten Vertrag von Lissabon angenommen hat, beigefügt ist (ABl. 2012, C 326, S. 346). Gleiches gilt für die Rechtsprechung des Gerichtshofs nach dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 22. Februar 2022, RS [Wirkung der Urteile eines Verfassungsgerichts], C‑430/21, EU:C:2022:99, Rn. 49 und 50 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).
77 Gemäß dieser ständigen Rechtsprechung kann nach dem Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts die Einheit und die Wirksamkeit des Unionsrechts nicht dadurch beeinträchtigt werden, dass sich ein Mitgliedstaat auf Bestimmungen des nationalen Rechts beruft, auch wenn sie Verfassungsrang haben. Nach ständiger Rechtsprechung sind die Wirkungen des Grundsatzes des Vorrangs des Unionsrechts nämlich für alle Einrichtungen eines Mitgliedstaats verbindlich, ohne dass dem insbesondere die innerstaatlichen Bestimmungen, auch wenn sie Verfassungsrang haben, entgegenstehen könnten (Urteile vom 17. Dezember 1970, Internationale Handelsgesellschaft, 11/70, EU:C:1970:114, Rn. 3, und vom 22. Februar 2022, RS [Wirkung der Urteile eines Verfassungsgerichts], C‑430/21, EU:C:2022:99, Rn. 51 und die dort angeführte Rechtsprechung). Die Einhaltung dieser Verpflichtung ist insbesondere erforderlich, um die Achtung der Gleichheit der Mitgliedstaaten vor den Verträgen sicherzustellen, und ist Ausdruck des in Art. 4 Abs. 3 EUV niedergelegten Grundsatzes der loyalen Zusammenarbeit (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 22. Februar 2022, RS [Wirkung der Urteile eines Verfassungsgerichts], C‑430/21, EU:C:2022:99, Rn. 55 und die dort angeführte Rechtsprechung).
78 Der Gerichtshof hat indessen entschieden, dass Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV – ausgelegt im Licht von Art. 47 der Charta –, der den Mitgliedstaaten eine klare und präzise und an keine Bedingung geknüpfte Ergebnispflicht auferlegt, insbesondere in Bezug auf die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der zur Auslegung und Anwendung des Unionsrechts berufenen Gerichte sowie das Erfordernis, dass diese Gerichte zuvor durch Gesetz errichtet wurden, eine unmittelbare Wirkung hat, die bedeutet, dass jede nationale Bestimmung, Rechtsprechung oder Praxis, die mit diesen unionsrechtlichen Bestimmungen in ihrer Auslegung durch den Gerichtshof unvereinbar ist, unangewendet bleiben muss (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 6. Oktober 2021, W. Ż. [Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten des Obersten Gerichts – Ernennung], C‑487/19, EU:C:2021:798, Rn. 158 und 159 sowie die dort angeführte Rechtsprechung, vom 16. Februar 2022, Ungarn/Parlament und Rat, C‑156/21, EU:C:2022:97, Rn. 162 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie vom 22. Februar 2022, RS [Wirkung der Urteile eines Verfassungsgerichts], C‑430/21, EU:C:2022:99, Rn. 58 und 59 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).
79 Da der Gerichtshof die ausschließliche Zuständigkeit für die verbindliche Auslegung des Unionsrechts hat, ist es schließlich seine Sache, in Ausübung dieser Zuständigkeit die Tragweite des Grundsatzes des Vorrangs des Unionsrechts im Hinblick auf die einschlägigen Bestimmungen des Unionsrechts zu präzisieren, so dass diese Tragweite weder von einer Auslegung von Bestimmungen des nationalen Rechts noch von einer Auslegung von Bestimmungen des Unionsrechts durch ein nationales Gericht, die nicht der Auslegung durch den Gerichtshof entspricht, abhängen darf (Urteil vom 22. Februar 2022, RS [Wirkung der Urteile eines Verfassungsgerichts], C‑430/21, EU:C:2022:99, Rn. 52 und die dort angeführte Rechtsprechung). Folglich obliegt es gegebenenfalls dem betreffenden nationalen Gericht, seine eigene Rechtsprechung abzuändern, wenn sie mit dem Unionsrecht in seiner Auslegung durch den Gerichtshof nicht vereinbar ist (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 19. April 2016, DI, C‑441/14, EU:C:2016:278, Rn. 33 und 34, sowie vom 6. November 2018, Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften, C‑684/16, EU:C:2018:874, Rn. 60).
80 Nach alledem ist festzustellen, dass entgegen dem Vorbringen der Republik Polen weder die in Art. 4 Abs. 1 und 2 sowie Art. 5 Abs. 1 EUV genannten Grundsätze noch die Rechtsprechung eines nationalen Verfassungsgerichts wie die oben in Rn. 60 angeführte verhindern können, dass die von der Kommission im Rahmen ihrer Klage beanstandeten nationalen Bestimmungen Gegenstand einer Kontrolle durch den Gerichtshof sein können, insbesondere im Hinblick auf Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV in Verbindung mit Art. 47 der Charta sowie den Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts.
Zum Fortbestand des Streitgegenstands
81 In der mündlichen Verhandlung hat die Republik Polen vorgetragen, dass vor Kurzem die Ustawa o zmianie ustawy o Sądzie Najwyższym oraz niektórych innych ustaw (Gesetz zur Änderung des Gesetzes über das Oberste Gericht und einiger anderer Gesetze) vom 9. Juni 2022 (Dz. U., Pos. 1259) erlassen worden sei, die am 15. Juli 2022 in Kraft getreten sei und insbesondere die Abschaffung der von der Kommission in der vierten Rüge beanstandeten Disziplinarkammer zum Gegenstand habe. Durch dieses Gesetz sei außerdem der bisherige Wortlaut der nationalen Bestimmungen, die den Gegenstand der ersten und der dritten Rüge bildeten, präzisiert und dadurch geändert worden. Vor diesem Hintergrund macht die Republik Polen geltend, dass die Fortsetzung des Verfahrens in Bezug auf die erste, die dritte und die vierte Rüge nicht gerechtfertigt sei.
82 Insoweit genügt jedoch der Hinweis, dass das Vorliegen einer Vertragsverletzung nach ständiger Rechtsprechung anhand der Situation zu beurteilen ist, in der sich der Mitgliedstaat bei Ablauf der Frist befand, die in der mit Gründen versehenen Stellungnahme gesetzt worden war, und später eingetretene Veränderungen vom Gerichtshof nicht berücksichtigt werden können (Urteil vom 24. Juni 2019, Kommission/Polen [Unabhängigkeit des Obersten Gerichts], C‑619/18, EU:C:2019:531, Rn. 30 und die dort angeführte Rechtsprechung).
83 Im vorliegenden Fall steht fest, dass zu den Zeitpunkten, an denen die Fristen abliefen, die die Kommission in der mit Gründen versehenen Stellungnahme und der ergänzenden mit Gründen versehenen Stellungnahme gesetzt hatte, alle von der Kommission mit ihrer Klage beanstandeten nationalen Bestimmungen weiterhin in Kraft waren. Folglich muss der Gerichtshof über alle Rügen entscheiden, die im Rahmen der Klage geltend gemacht werden.
Zur vierten Rüge
Vorbringen der Parteien
84 Mit der vierten Rüge, die als Erstes zu prüfen ist, macht die Kommission einen Verstoß gegen Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV geltend, da die Republik Polen gegen ihre Verpflichtung verstoßen habe, die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der Disziplinarkammer zu gewährleisten, obwohl diese als „Gericht“ Teil des polnischen Justizsystems in den „vom Unionsrecht erfassten Bereichen“ im Sinne der genannten Vorschrift sei und ihr die ausschließliche Zuständigkeit für die Entscheidung in bestimmten Sachen betreffend den Status und die Amtsausübung von Richtern übertragen worden sei, was die Unabhängigkeit der Richter beeinträchtigen könne.
85 In ihrer Klageschrift beruft sich die Kommission insoweit auf das Urteil vom 19. November 2019, A. K. u. a. (Unabhängigkeit der Disziplinarkammer des Obersten Gerichts) (C‑585/18, C‑624/18 und C‑625/18, im Folgenden: Urteil A. K. u. a., EU:C:2019:982), sowie das Urteil vom 5. Dezember 2019 (III PO 7/18) und die Beschlüsse vom 15. Januar 2020 (III PO 8/18 und III PO 9/18) des Sąd Najwyższy (Izba Pracy i Ubezpieczeń Społecznych) (Oberstes Gericht [Kammer für Arbeits- und Sozialversicherungssachen], Polen), des vorlegenden Gerichts in den Rechtssachen, in denen das Urteil A. K. u. a. ergangen ist. Aus diesen Gerichtsentscheidungen ergebe sich, dass eine Gesamtwürdigung, die insbesondere den Kontext und die Umstände, unter denen die Disziplinarkammer geschaffen worden sei, ihre Zusammensetzung, das Verfahren für die Ernennung ihrer Mitglieder und die Beteiligung der neu zusammengesetzten KRS in diesem Zusammenhang sowie bestimmte Eigenschaften und spezielle Befugnisse der Disziplinarkammer berücksichtige, geeignet sei, bei den Rechtssubjekten berechtigte Zweifel im Hinblick auf die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der Kammer hervorzurufen.
86 Art. 27 § 1 Nrn. 1a, 2 und 3 des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht könne die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der Richter des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht), insbesondere gegenüber ungerechtfertigtem Druck von außen, und somit das Recht der Einzelnen auf einen wirksamen Rechtsbehelf in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen nicht gewährleisten, da der Disziplinarkammer zum einen die Zuständigkeit übertragen werde, der Einleitung von Strafverfahren gegen Richter oder Assessoren sowie ihrer etwaigen Festnahme und Inhaftierung zuzustimmen und in solchen Fällen über ihre Suspendierung und die Kürzung ihrer Bezüge zu entscheiden, und sie zum anderen die Zuständigkeit für die Entscheidung von arbeits- und sozialversicherungsrechtlichen Sachen, die Richter des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) beträfen, und Sachen über die Versetzung von Richtern des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) in den Ruhestand erhalte.
87 In ihrer Erwiderung weist die Kommission darauf hin, dass in der Zwischenzeit die Stichhaltigkeit der vierten Rüge durch die Erkenntnisse aus dem Urteil vom 15. Juli 2021, Kommission/Polen (Disziplinarordnung für Richter) (C‑791/19, EU:C:2021:596), bestätigt worden sei. Zudem habe der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in seinem Urteil vom 22. Juli 2021, Reczkowicz/Polen (CE:ECHR:2021:0722JUD004344719), festgestellt, dass die Disziplinarkammer kein auf Gesetz beruhendes Gericht im Sinne von Art. 6 EMRK sei.
88 Zur Verteidigung trägt die Republik Polen vor, dass sowohl das Verfahren zur Ernennung der Mitglieder der Disziplinarkammer als auch die anderen Garantien, die diesen Mitgliedern nach ihrer Ernennung zustünden, die Unabhängigkeit der Disziplinarkammer gewährleisten könnten.
89 Zum einen seien nämlich die Voraussetzungen, die Bewerber für das Amt eines Richters am Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) erfüllen müssten, im nationalen Recht erschöpfend festgelegt. Das Ernennungsverfahren bestehe nach Veröffentlichung einer öffentlichen Ausschreibung aus einer von der KRS durchgeführten Auswahl, auf deren Grundlage die KRS einen Vorschlag zur Ernennung der ausgewählten Bewerber mache. Das Verfahren führe zum Ernennungsakt durch den Präsidenten der Republik, der nicht verpflichtet sei, dem Vorschlag der KRS zu folgen. Was die neue Zusammensetzung der KRS betreffe, deren Verfassungsmäßigkeit das Trybunał Konstytucyjny (Verfassungsgerichtshof) bestätigt habe, so unterscheide sie sich kaum von der Zusammensetzung der in anderen Mitgliedstaaten bestehenden Landesjustizräte. Die Beteiligung der Legislative an der Ernennung der Mitglieder der KRS stärke zudem deren demokratische Legitimierung, und die neue Zusammensetzung habe es ermöglicht, eine bessere Repräsentativität der polnischen Richterschaft zu gewährleisten.
90 Zum anderen stünden den Mitgliedern der Disziplinarkammer nach ihrer Ernennung Garantien zu, die u. a. die unbefristete Dauer ihrer Amtszeit, ihre Unabsetzbarkeit, ihre Immunität, ihre Verpflichtung, unpolitisch zu bleiben, sowie verschiedene berufliche Unvereinbarkeiten und eine besonders hohe Vergütung beträfen.
Würdigung durch den Gerichtshof
91 Wie oben in den Rn. 69 bis 71 dargelegt, sind die Mitgliedstaaten nach Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV verpflichtet, ein System von Rechtsbehelfen und Verfahren vorzusehen, das den Einzelnen die Wahrung ihres Rechts auf wirksamen Rechtsschutz in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen gewährleistet, insbesondere indem sie dafür sorgen, dass Einrichtungen, die als Gerichte dazu berufen sind, über Fragen im Zusammenhang mit der Anwendung oder Auslegung dieses Rechts zu entscheiden, den Anforderungen gerecht werden, die die Wahrung dieses Rechts gewährleisten, darunter das Erfordernis der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit dieser Einrichtungen.
92 Es steht jedoch fest, dass sowohl der Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) und insbesondere die zu ihm gehörende Disziplinarkammer als auch die polnischen ordentlichen Gerichte oder Verwaltungsgerichte als „Gerichte“, die von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV erfasst sind, zur Entscheidung über Fragen im Zusammenhang mit der Anwendung oder der Auslegung des Unionsrechts berufen sein können, so dass diese Gerichte den Anforderungen an einen wirksamen Rechtsschutz gerecht werden müssen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 15. Juli 2021, Kommission/Polen [Disziplinarordnung für Richter], C‑791/19, EU:C:2021:59, Rn. 55 und die dort angeführte Rechtsprechung).
93 Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs setzt die nach dem Unionsrecht erforderliche Gewähr für Unabhängigkeit und Unparteilichkeit im Übrigen voraus, dass es Regeln insbesondere für die Zusammensetzung der betreffenden Einrichtung, die Ernennung, die Amtsdauer und die Gründe für Enthaltung, Ablehnung und Abberufung ihrer Mitglieder gibt, die es ermöglichen, bei den Rechtsunterworfenen jeden berechtigten Zweifel an der Unempfänglichkeit dieser Einrichtung für äußere Faktoren und an ihrer Neutralität in Bezug auf die widerstreitenden Interessen auszuräumen (Urteil vom 15. Juli 2021, Kommission/Polen [Disziplinarordnung für Richter], C‑791/19, EU:C:2021:59, Rn. 59 und die dort angeführte Rechtsprechung).
94 Hierzu sind die Richter vor Interventionen oder Druck von außen, die ihre Unabhängigkeit gefährden könnten, zu schützen. Die für die Rechtsverhältnisse der Richter und die Ausübung des Richteramts geltenden Vorschriften müssen es insbesondere ermöglichen, nicht nur jede Form der unmittelbaren Einflussnahme in Form von Weisungen, sondern auch die Formen der mittelbaren Einflussnahme, die zur Steuerung der Entscheidungen der betreffenden Richter geeignet sein könnten, auszuschließen und damit dem Eindruck vorzubeugen, dass diese Richter nicht unabhängig und unparteiisch seien, wodurch das Vertrauen beeinträchtigt werden könnte, das die Justiz in einer demokratischen Gesellschaft und in einem Rechtsstaat bei den Einzelnen schaffen muss (Urteil vom 15. Juli 2021, Kommission/Polen [Disziplinarordnung für Richter], C‑791/19, EU:C:2021:59, Rn. 60 und die dort angeführte Rechtsprechung).
95 Was im Einzelnen die Vorschriften der Disziplinarordnung für Richter betrifft, ergibt sich aus der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs, dass die Anforderung der Unabhängigkeit, die sich aus dem Unionsrecht und insbesondere aus Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV ergibt, verlangt, dass die Disziplinarordnung die erforderlichen Garantien aufweist, damit jegliche Gefahr verhindert wird, dass sie als System zur politischen Kontrolle des Inhalts justizieller Entscheidungen eingesetzt wird. Insoweit bilden Regeln, die insbesondere festlegen, welche Verhaltensweisen Disziplinarvergehen begründen und welche Sanktionen konkret anwendbar sind, die die Einschaltung einer unabhängigen Einrichtung gemäß einem Verfahren vorsehen, das die in den Art. 47 und 48 der Charta niedergelegten Rechte, namentlich die Verteidigungsrechte, in vollem Umfang sicherstellt, und die die Möglichkeit festschreiben, die Entscheidungen der Disziplinarorgane vor Gericht anzufechten, eine Reihe von Garantien, die wesentlich sind, um die Unabhängigkeit der Justiz zu wahren (Urteil vom 15. Juli 2021, Kommission/Polen [Disziplinarordnung für Richter], C‑791/19, EU:C:2021:59, Rn. 61 und die dort angeführte Rechtsprechung).
96 Gleiches muss grundsätzlich entsprechend für andere Regeln gelten, die die Rechtsverhältnisse der Richter und die Ausübung des Richteramts betreffen, wie Regeln zur Aufhebung ihrer strafrechtlichen Immunität, wenn diese Immunität, wie im vorliegenden Fall, im betreffenden nationalen Recht vorgesehen ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 18. Mai 2021, Asociaţia Forumul Judecătorilor din România u. a., C‑83/19, C‑127/19, C‑195/19, C‑291/19, C‑355/19 und C‑397/19, EU:C:2021:393, Rn. 213).
97 Wie der Generalanwalt in Nr. 206 seiner Schlussanträge im Wesentlichen ausgeführt hat, kann die Anwendung solcher Regeln nämlich schwerwiegende Auswirkungen sowohl auf die Laufbahn der Richter als auch auf ihre Lebensumstände haben. Dies gilt sicherlich auch für Regeln wie diejenigen, mit deren Anwendung oder Kontrolle gemäß Art. 27 § 1 Nrn. 1a, 2 und 3 des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht die Disziplinarkammer betraut ist, soweit die Anwendung eine Zustimmung zur Einleitung eines Strafverfahrens gegen die betreffenden Richter, ihre Festnahme und Untersuchungshaft sowie ihre Suspendierung und die Kürzung ihrer Bezüge zur Folge haben kann.
98 Ebenso verhält es sich mit Entscheidungen über wesentliche Aspekte der für diese Richter geltenden arbeits- oder sozialversicherungsrechtlichen Regelungen, wie ihre Rechte betreffend Bezüge, Urlaub oder Arbeitsschutz oder ihre etwaige vorzeitige Versetzung in den Ruhestand, insbesondere aus medizinischen Gründen.
99 Insoweit muss die Rechtsordnung des betreffenden Mitgliedstaats Garantien beinhalten, die geeignet sind, jegliche Gefahr zu verhindern, dass solche Maßnahmen als System zur politischen Kontrolle des Inhalts von Gerichtsentscheidungen oder als Instrument zur Ausübung von Druck auf Richter und zur Einschüchterung von Richtern eingesetzt werden und damit u. a. der Eindruck erweckt werden könnte, dass diese Richter nicht unabhängig und unparteiisch sind, und das Vertrauen beeinträchtigt werden könnte, das die Justiz in einer demokratischen Gesellschaft und in einem Rechtsstaat bei den Rechtsunterworfenen schaffen muss (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 18. Mai 2021, Asociaţia Forumul Judecătorilor din România u. a.,C‑83/19, C‑127/19, C‑195/19, C‑291/19, C‑355/19 und C‑397/19, EU:C:2021:393, Rn. 216).
100 Dafür müssen, wie oben in Rn. 95 zu den Vorschriften der Disziplinarordnung für Richter dargelegt, die Entscheidungen, mit denen der Einleitung von Strafverfahren gegen die betreffenden Richter, ihrer Festnahme und Inhaftierung sowie ihrer Suspendierung und der Kürzung ihrer Bezüge zugestimmt wird, und die Entscheidungen zu wesentlichen Aspekten der für diese Richter geltenden arbeits‑, sozialversicherungs- oder ruhestandsrechtlichen Regelungen von einer Einrichtung erlassen oder überprüft werden, die ihrerseits die Garantien eines wirksamen Rechtsschutzes erfüllt, zu denen die Unabhängigkeit zählt (vgl. entsprechend Urteil vom 15. Juli 2021, Kommission/Polen [Disziplinarordnung für Richter], C‑791/19, EU:C:2021:59, Rn. 80 und die dort angeführte Rechtsprechung).
101 Die bloße Aussicht für Richter, Gefahr zu laufen, dass die Zustimmung zu einem gegen sie einzuleitenden Strafverfahren bei einer Einrichtung beantragt und erlangt wird, deren Unabhängigkeit nicht gewährleistet ist, kann ihre eigene Unabhängigkeit beeinträchtigen (vgl. entsprechend Urteil vom 15. Juli 2021, Kommission/Polen [Disziplinarordnung für Richter], C‑791/19, EU:C:2021:59, Rn. 82 und die dort angeführte Rechtsprechung). Gleiches gilt für die Gefahr, dass eine solche Einrichtung über ihre etwaige Suspendierung von ihrem Amt und eine Kürzung ihrer Bezüge, ihre vorzeitige Versetzung in den Ruhestand oder andere wesentliche Aspekte der für sie geltenden arbeits- und sozialversicherungsrechtlichen Regelung entscheidet.
102 Im vorliegenden Fall ist darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof in Anbetracht aller in den Rn. 89 bis 110 des Urteils vom 15. Juli 2021, Kommission/Polen (Disziplinarordnung für Richter) (C‑791/19, EU:C:2021:596), dargelegten Umstände und Erwägungen, auf die Bezug zu nehmen ist, in Rn. 112 jenes Urteils entschieden hat, dass eine Gesamtschau des besonderen Kontexts und der objektiven Bedingungen, unter denen die Disziplinarkammer geschaffen wurde, ihrer Merkmale sowie der Art und Weise der Ernennung ihrer Mitglieder geeignet ist, bei den Rechtsunterworfenen berechtigte Zweifel an ihrer Unempfänglichkeit für äußere Faktoren, insbesondere für unmittelbare oder mittelbare Einflussnahmen durch die Legislative und die Exekutive, und an ihrer Neutralität in Bezug auf die widerstreitenden Interessen aufkommen zu lassen, und daher dazu führen kann, dass sie nicht den Eindruck vermittelt, unabhängig und unparteiisch zu sein, wodurch das Vertrauen beeinträchtigt werden kann, das die Justiz in einer demokratischen Gesellschaft bei den Rechtsunterworfenen schaffen muss.
103 Unter diesen Umständen ist der vierten Rüge stattzugeben.
Zur dritten Rüge
Vorbringen der Parteien
104 Die dritte Rüge, die als Zweites zu prüfen ist, besteht aus zwei Teilen.
105 Mit dem ersten Teil dieser Rüge macht die Kommission geltend, die Bestimmungen von Art. 72 § 1 Nrn. 2 und 3 des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht und Art. 107 § 1 Nrn. 2 und 3 des geänderten Gesetzes über die ordentliche Gerichtsbarkeit, die zum einen Handlungen oder Unterlassungen, die das Funktionieren eines Organs der Rechtsprechung unmöglich machen oder wesentlich erschweren könnten, und zum anderen Handlungen, mit denen das Bestehen des Dienstverhältnisses eines Richters, die Wirksamkeit der Ernennung eines Richters oder die Legitimität eines Verfassungsorgans der Republik Polen in Frage gestellt werde, als Disziplinarvergehen von Richtern des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) und Richtern der ordentlichen Gerichte einstuften, seien nicht mit dem Unionsrecht vereinbar. Die Kommission weist insoweit darauf hin, dass, wie Art. 29 § 1 und Art. 49 § 1 des geänderten Gesetzes über die Verwaltungsgerichtsbarkeit zu entnehmen sei, die Bestimmungen von Art. 107 § 1 Nrn. 2 und 3 des geänderten Gesetzes über die ordentliche Gerichtsbarkeit auch für die Richter der Verwaltungsgerichte gälten.
106 Nach Auffassung der Kommission verstoßen diese nationalen Vorschriften als Erstes gegen Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV in Verbindung mit Art. 47 der Charta, da sie darauf gerichtet seien, alle betreffenden Richter unter Androhung von Disziplinarstrafen, die bis zu ihrer Abberufung gehen könnten, an der Vornahme von Beurteilungen zu hindern, zu denen sie nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs verpflichtet seien und die die Frage beträfen, ob in Rechtssachen, in denen es um Rechte des Einzelnen aus dem Unionsrecht gehe, das Recht des Einzelnen, seinen Fall von einem unabhängigen, unparteiischen und zuvor durch Gesetz errichteten Gericht untersuchen zu lassen, garantiert werden könne oder nicht verletzt worden sei.
107 Ein Disziplinarvergehen müsse immer klar und präzise definiert sein, doch werde diese Anforderung durch die in Art. 72 § 1 Nr. 2 des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht und Art. 107 § 1 Nr. 2 des geänderten Gesetzes über die ordentliche Gerichtsbarkeit enthaltenen Formulierungen – nämlich: die das Funktionieren eines Organs der Rechtsprechung „unmöglich machen“ oder „wesentlich erschweren können“ – nicht erfüllt.
108 Diese Formulierungen erlaubten es z. B., das Vorliegen eines Vergehens im Sinne dieser nationalen Bestimmungen festzustellen, wenn ein Justizorgan, statt die Prüfung eines Ablehnungsabtrags der Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten vorzulegen, wie dies Art. 26 § 2 des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht verlange, selbst prüfe, ob der betreffende Richter unabhängig sei, und unter Berufung auf die Rechtsprechung des Gerichtshofs zu dem Ergebnis komme, dass dem nicht so sei.
109 Gleiches gelte für den Fall, dass ein nationales Gericht unter Einhaltung seiner Verpflichtungen aus dem Urteil A. K. u. a. im Hinblick auf ein anderes Gericht, das über eine Rechtssache zu entscheiden habe, die Kriterien anwende, die der Gerichtshof in den Rn. 132 bis 154 jenes Urteils aufgestellt habe, und unter Berücksichtigung dieser Kriterien beschließe, zum einen die Anwendung der nationalen Bestimmung, die das andere Gericht für zuständig erkläre, aufgrund seiner fehlenden Unabhängigkeit auszuschließen und zum anderen die betreffende Rechtssache an ein drittes Gericht zu verweisen, das die Gewähr für Unabhängigkeit biete. Ein solches gerichtliches Vorgehen könne nämlich als Handlung oder Unterlassung, die das Funktionieren eines Organs der Rechtsprechung unmöglich machen oder wesentlich erschweren könne, im Sinne der beanstandeten nationalen Bestimmungen angesehen werden.
110 Die von Art. 72 § 1 Nr. 3 des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht und Art. 107 § 1 Nr. 3 des geänderten Gesetzes über die ordentliche Gerichtsbarkeit erfassten Handlungen könnten insbesondere nicht nur das Infragestellen der Gültigkeit der Ernennung eines Richters betreffen, sondern ganz allgemein jede negative Beurteilung des ordnungsgemäßen Ablaufs des Verfahrens zur Ernennung eines Richters im Rahmen der Überprüfung, ob die Anforderungen der Union in Bezug auf ein zuvor durch Gesetz errichtetes Gericht gewahrt seien. So könne z. B. vom Vorliegen des betreffenden Vergehens ausgegangen werden, wenn ein im zweiten Rechtszug entscheidendes Gericht feststelle, dass das erstinstanzliche Gericht aufgrund der Modalitäten der Ernennung der in diesem Gericht entscheidenden Richter kein zuvor durch Gesetz errichtetes Gericht darstelle, und deshalb die Entscheidung des erstinstanzlichen Gerichts aufhebe.
111 Insoweit sei u. a. den Rn. 133 und 134 des Urteils A. K. u. a. zu entnehmen, dass sich jedes nationale Gericht im Rahmen der ihm obliegenden, oben in Rn. 109 beschriebenen Prüfung insbesondere vergewissern können müsse, dass die materiellen Voraussetzungen und die Verfahrensmodalitäten für den Erlass der Entscheidungen zur Ernennung von Richtern des Gerichts, dessen Unabhängigkeit in Frage gestellt werde, so beschaffen seien, dass sie bei den Rechtsunterworfenen, seien die betreffenden Richter erst einmal ernannt, keine berechtigten Zweifel an deren Unempfänglichkeit für äußere Faktoren und an ihrer Neutralität in Bezug auf die widerstreitenden Interessen aufkommen lassen könnten. Schon allein die Vornahme einer solchen Prüfung könne jedoch auf der Grundlage der beanstandeten nationalen Bestimmungen disziplinarisch geahndet werden.
112 Zudem sei der Begründung des Gesetzesentwurfs, der zum Erlass des Änderungsgesetzes geführt habe, zu entnehmen, dass die damit neu eingeführten Disziplinarvergehen primär das Ziel gehabt hätten, die Judikative und die Verfassungsorgane des Staates davor zu schützen, von den eigenen Einrichtungen in Frage gestellt zu werden.
113 Überdies beträfen die neuen Disziplinarvergehen den Inhalt von Gerichtsentscheidungen, obwohl sich das Erfordernis der Unabhängigkeit von Richtern nicht damit vereinbaren lasse, dass die Gefahr bestehe, dass die für sie geltende Disziplinarordnung zur politischen Kontrolle des Inhalts von Gerichtsentscheidungen verwendet werde.
114 Die Kommission macht als Zweites geltend, dass die oben in Rn. 105 genannten nationalen Bestimmungen auch gegen Art. 267 AEUV verstießen. Angesichts der Formulierung dieser nationalen Bestimmungen könne nämlich allein der Umstand, dass ein nationales Gericht ein anhängiges Verfahren aussetze und dem Gerichtshof Fragen zur Auslegung der sich aus dem Unionsrecht ergebenden Anforderungen an einen wirksamen Rechtsschutz vorlege, weil es z. B. Zweifel hege, ob die einem nationalen Gericht oder einem Verfassungsorgan wie der KRS übertragene Zuständigkeit oder die Umstände, unter denen die Ernennung eines Richters erfolgt sei, mit diesen Anforderungen vereinbar seien, als Disziplinarvergehen eingestuft werden.
115 Mit dem zweiten Teil der dritten Rüge macht die Kommission geltend, die Einführung eines durch die „offensichtliche und grobe“ Missachtung von Rechtsvorschriften gekennzeichneten Disziplinarvergehens in Art. 72 § 1 Nr. 1 des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht begegne den Einwänden, die sie in gleicher Weise im Kontext der von ihr in der Rechtssache Kommission/Polen (Disziplinarordnung für Richter) (C‑791/19, EU:C:2021:596) erhobenen Vertragsverletzungsklage im Hinblick auf die gleichlautende Bestimmung in Art. 107 § 1 Nr. 1 des Gesetzes über die ordentliche Gerichtsbarkeit erhoben habe. Ein derart vage formuliertes Vergehen, zudem in dem von der Kommission in ihrer Vertragsverletzungsklage beschriebenen Kontext der vermehrten Disziplinarmaßnahmen gegen Richter und der Vervielfachung des Drucks der Exekutive auf die Tätigkeiten der Disziplinarspruchkörper, berge die Gefahr, dass Art. 72 § 1 Nr. 1 für die Zwecke der politischen Kontrolle und Lähmung der Rechtsprechungstätigkeit der Richter des Sąd Najwyższy (Oberster Gerichtshof) eingesetzt werde.
116 In ihrer Erwiderung macht die Kommission geltend, die Erkenntnisse aus dem Urteil vom 15. Juli 2021, Kommission/Polen (Disziplinarordnung für Richter) (C‑791/19, EU:C:2021:596), hätten zwischenzeitlich die Stichhaltigkeit der dritten Rüge voll und ganz bestätigt.
117 In der mündlichen Verhandlung hat die Kommission schließlich vorgetragen, der Kontext, in dem das Änderungsgesetz erlassen worden sei, in großer Eile und knapp einen Monat nach der Verkündung des Urteils A. K. u. a., in dem es um die Beurteilung der Unabhängigkeit der Disziplinarkammer und der KRS gegangen sei, bestätige, dass die mit der dritten Rüge beanstandeten nationalen Bestimmungen ebenso wie die von ihr mit der ersten Rüge beanstandeten nationalen Bestimmungen in Wirklichkeit dazu gedient hätten, die polnischen Richter davon abzuhalten, die Erkenntnisse aus dem Urteil A. K. u. a. und aus dem zwischenzeitlich ergangenen Urteil vom 6. Oktober 2021, W. Ż. (Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten des Obersten Gerichts – Ernennung) (C‑487/19, EU:C:2021:798), anzuwenden.
118 Aus diesen Urteilen gehe nämlich hervor, dass die Kontrolle des Verfahrens zur Ernennung von Richtern sowie die Prüfung, die in diesem Zusammenhang sicherstellen solle, dass es sich bei der KRS um eine unabhängige Einrichtung handle, sich als erforderlich erweisen könnten, um zu gewährleisten, dass die betreffenden Richter oder das Gericht, dem sie angehörten, unabhängig und zuvor durch Gesetz errichtet worden seien. Eine solche Kontrolle und Prüfung würden jedoch durch die beanstandeten nationalen Bestimmungen verhindert, da diese es ermöglichten, jedes Infragestellen der Wirksamkeit der Ernennung eines Richters oder der Legitimität eines Verfassungsorgans disziplinarisch zu ahnden.
119 Zur Verteidigung trägt die Republik Polen vor, die Kommission komme ihrer Beweispflicht nicht nach und äußere bloße Vermutungen hinsichtlich der beanstandeten nationalen Bestimmungen, indem sie Auslegungen dieser Bestimmungen vertrete, die mit ihrem Wortlaut und ihrer Zielsetzung unvereinbar seien, und keinen Beweis für eine Praxis der polnischen Behörden oder Gerichte erbringe, die diese Auslegungen stützen könne.
120 Erstens könnten nämlich die korrekte Anwendung des Unionsrechts durch ein nationales Gericht, insbesondere in Bezug auf die Unabhängigkeit von Richtern oder die Eigenschaft als ein zuvor durch Gesetz errichtetes Gericht, oder die Vorlage eines Vorabentscheidungsersuchens an den Gerichtshof keine Handlung oder Unterlassung darstellen, die das Funktionieren der Justiz unmöglich machen oder wesentlich erschweren könne, da der Tatbestand des fraglichen Disziplinarvergehens ganz im Gegenteil gerade dem Ziel diene, zu gewährleisten, dass die Richter ihren Verpflichtungen nachkämen und kein Verhalten an den Tag legten, das mit der Würde ihres Amts unvereinbar sei.
121 Was zweitens Disziplinarvergehen betreffe, die mit dem Infragestellen des Mandats oder Dienstverhältnisses eines Richters zusammenhingen, so könnten diese nicht darauf beruhen, dass ein Richter prüfe, ob das Recht eines Rechtsunterworfenen auf wirksamen Rechtsschutz gewahrt sei, oder dass der Richter im Fall einer etwaigen Verletzung dieses Rechts die gesetzlich vorgesehenen Konsequenzen ziehe, wie die Ablehnung eines Richters, die Verweisung einer Rechtssache an ein anderes Gericht, das die Gewähr für Unabhängigkeit biete, oder die Aufhebung einer Gerichtsentscheidung. Ebenso wenig könnten diese Disziplinarvergehen darauf beruhen, dass Fragen zur richterlichen Unabhängigkeit dem Gerichtshof zur Vorabentscheidung vorgelegt würden, wie im Übrigen verschiedene Vorabentscheidungsersuchen belegten, die einen solchen Gegenstand hätten und kürzlich von polnischen Gerichten vorgelegt worden seien, ohne dass aus diesem Grund Disziplinarverfahren eingeleitet worden seien.
122 In Wirklichkeit handle es sich bei den unter die beanstandeten nationalen Bestimmungen fallenden Disziplinarvergehen ausschließlich um das Infragestellen der Ernennung eines Richters oder der Wirkungen dieser Ernennung im Rahmen von Verfahren, die in der Verfassung nicht vorgesehen seien, was zudem mit den Erfordernissen der Unabsetzbarkeit von Richtern und der Stabilität ihres Dienstverhältnisses im Einklang stehe.
123 Drittens sei das Disziplinarvergehen, das eine „offensichtliche und grobe“ Missachtung von Rechtsvorschriften betreffe, nur deshalb in Art. 72 § 1 Nr. 1 des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht aufgenommen worden, um die Fälle, in denen Richter des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) disziplinarisch belangt würden, mit den Fällen in Einklang zu bringen, die für Richter der ordentlichen Gerichtsbarkeit gälten und in Art. 107 § 1 Nr. 1 des Gesetzes über die ordentliche Gerichtsbarkeit vorgesehen seien, so dass diesen beiden Bestimmungen die gleiche Tragweite beizumessen sei. Art. 107 § 1 Nr. 1 des Gesetzes über die ordentliche Gerichtsbarkeit werde jedoch nach gefestigter Rechtsprechung des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) sehr eng ausgelegt, und nach dieser Auslegung sei es ausgeschlossen, dass dieses Disziplinarvergehen auf dem Inhalt von Gerichtsentscheidungen beruhen könne, in denen das Gesetz ausgelegt werde. Insbesondere könne der Umstand, dass ein nationales Gericht den Verpflichtungen nachkomme, die ihm das Unionsrecht auferlege, einschließlich der Verpflichtung, einer Partei das Recht auf wirksamen Rechtsschutz im Sinne von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV in Verbindung mit Art. 47 der Charta zu gewährleisten, oder dass ein nationales Gericht dem Gerichtshof eine Frage zur Auslegung unionsrechtlicher Bestimmungen vorlege, per definitionem keine offensichtliche und grobe Missachtung von Rechtsvorschriften im Sinne von Art. 72 § 1 Nr. 1 darstellen.
124 Schließlich ist die Republik Polen der Auffassung, dass sich die dritte und die zweite Rüge widersprächen, da es nicht möglich sei, einerseits geltend zu machen, dass das nationale Recht es den Richtern der nationalen Gerichte unter Androhung von Disziplinarstrafen verbiete, das etwaige Vorliegen von Verstößen gegen das Recht auf einen wirksamen Rechtsschutz zu prüfen, und andererseits zu behaupten, dass die Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten die ausschließliche Zuständigkeit für die Entscheidung über Klagegründe habe, die sich auf solche Verstöße stützten.
Würdigung durch den Gerichtshof
– Einleitende Erwägungen
125 Vorab ist zum einen darauf hinzuweisen, dass die Disziplinarordnung für Richter zwar in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten fällt, dass aber jeder Mitgliedstaat bei der Ausübung dieser Zuständigkeit das Unionsrecht beachten muss. Somit muss die Republik Polen, um den Rechtsunterworfenen den nach Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV erforderlichen wirksamen Rechtsschutz zu gewährleisten, sicherstellen, dass die von ihr eingeführte Disziplinarordnung für nationale Richter geeignet ist, die Unabhängigkeit der Gerichte zu wahren, die, wie die ordentlichen Gerichte, die Verwaltungsgerichte und der Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht), über Fragen im Zusammenhang mit der Anwendung oder Auslegung des Unionsrechts zu entscheiden haben (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 15. Juli 2021, Kommission/Polen [Disziplinarordnung für Richter], C‑791/19, EU:C:2021:596, Rn. 136 und die dort angeführte Rechtsprechung). Nach dem für einen Rechtsstaat kennzeichnenden Grundsatz der Gewaltenteilung ist die Unabhängigkeit der Gerichte insbesondere gegenüber der Legislative und der Exekutive zu gewährleisten (Urteil vom 22. Februar 2022, RS [Wirkung der Urteile eines Verfassungsgerichts], C‑430/21, EU:C:2022:99, Rn. 42 und die dort angeführte Rechtsprechung).
126 In Bezug auf Verhaltensweisen, die als Disziplinarvergehen von Richtern eingestuft werden können, hat der Gerichtshof zwar festgestellt, dass die Wahrung dieser Unabhängigkeit nicht dazu führen darf, dass völlig ausgeschlossen ist, dass die disziplinarrechtliche Verantwortlichkeit eines Richters in bestimmten, ganz außergewöhnlichen Fällen durch von ihm erlassene Gerichtsentscheidungen ausgelöst werden kann. Die Anforderung der Unabhängigkeit ist nämlich ganz sicher nicht dazu gedacht, etwaige schwerwiegende und völlig unentschuldbare Verhaltensweisen von Richtern zu billigen wie z. B. die vorsätzliche und böswillige oder besonders grob fahrlässige Missachtung von Vorschriften des nationalen Rechts und des Unionsrechts, deren Einhaltung sie gewährleisten sollen, Willkür oder Rechtsverweigerung, wenn sie als diejenigen, die mit der Aufgabe des Richtens betraut sind, über Streitigkeiten zu entscheiden haben, die ihnen von Rechtssuchenden vorgelegt werden (Urteil vom 15. Juli 2021, Kommission/Polen [Disziplinarordnung für Richter], C‑791/19, EU:C:2021:596, Rn. 137).
127 Der Gerichtshof hat jedoch auch entschieden, dass es für die Wahrung der richterlichen Unabhängigkeit und um auf diese Weise zu verhindern, dass die Disziplinarordnung entgegen ihrem legitimen Zweck zur politischen Kontrolle von Gerichtsentscheidungen eingesetzt werden kann, von grundlegender Bedeutung ist, dass die Auslösung der disziplinarrechtlichen Verantwortlichkeit eines Richters wegen einer Gerichtsentscheidung auf ganz außergewöhnliche Fälle wie die in der vorstehenden Randnummer genannten beschränkt bleibt und dabei durch objektive und überprüfbare Kriterien, die sich aus Erfordernissen einer geordneten Rechtspflege ergeben, sowie durch Garantien beschränkt ist, die darauf abzielen, jegliche Gefahr eines Drucks von außen bezüglich des Inhalts von Gerichtsentscheidungen zu vermeiden. Zu diesem Zweck müssen insbesondere Regeln vorgesehen werden, die die Verhaltensweisen, die die disziplinarrechtliche Verantwortlichkeit von Richtern begründen können, hinreichend klar und präzise definieren (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 15. Juli 2021, Kommission/Polen [Disziplinarordnung für Richter], C‑791/19, EU:C:2021:596, Rn. 138 bis 140 und die dort angeführte Rechtsprechung).
128 Zum anderen ist auch zu berücksichtigen, dass die Verträge – wie der Rechtsprechung des Gerichtshofs zu entnehmen ist –, um sicherzustellen, dass die besonderen Merkmale und die Autonomie der Rechtsordnung der Union erhalten bleiben, ein Gerichtssystem geschaffen haben, das zur Gewährleistung der Kohärenz und der Einheitlichkeit bei der Auslegung des Unionsrechts dient. Insoweit überträgt Art. 19 EUV, mit dem, wie oben in Rn. 69 dargelegt, der in Art. 2 EUV proklamierte Wert der Rechtsstaatlichkeit konkretisiert wird, den nationalen Gerichten und dem Gerichtshof die Aufgabe, die volle Anwendung des Unionsrechts in allen Mitgliedstaaten und den gerichtlichen Schutz, der den Einzelnen aus diesem Recht erwächst, zu gewährleisten (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 24. Oktober 2018, XC u. a., C‑234/17, EU:C:2018:853, Rn. 39 und 40 sowie die dort angeführte Rechtsprechung, und vom 2. März 2021, A. B. u. a. [Ernennung von Richtern am Obersten Gericht – Rechtsbehelf], C‑824/18, EU:C:2021:153, Rn. 108 die dort angeführte Rechtsprechung).
129 Wie die Kommission ausführt, hat der Gerichtshof insoweit festgestellt, dass das Grundrecht auf ein faires Verfahren und insbesondere die Garantien für den Zugang zu einem unabhängigen, unparteiischen und zuvor durch Gesetz errichteten Gericht, die dieses Grundrecht kennzeichnen, u. a. implizieren, dass jedes Gericht überprüfen muss, ob es in Anbetracht seiner Zusammensetzung ein solches Gericht ist, wenn insoweit ein ernsthafter Zweifel besteht, und dass diese Überprüfung im Hinblick auf das Vertrauen, das die Gerichte einer demokratischen Gesellschaft bei den Rechtssuchenden wecken müssen, erforderlich ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 26. März 2020, Überprüfung Simpson/Rat und HG/Kommission, C‑542/18 RX‑II und C‑543/18 RX‑II, EU:C:2020:232, Rn. 57).
130 Allgemein ist insoweit der Rechtsprechung des Gerichtshofs zu entnehmen, dass die nationalen Gerichte unter bestimmten Umständen gezwungen sein können, zu überprüfen, ob die Anforderungen erfüllt sind, die sich aus dem Grundrecht auf einen wirksamen gerichtlichen Schutz im Sinne von Art. 19 Abs. 1 EUV und Art. 47 der Charta ergeben, insbesondere die Anforderungen in Bezug auf den Zugang zu einem unabhängigen, unparteiischen und zuvor durch Gesetz errichteten Gericht (vgl. z. B. Urteile A. K. u. a., Rn. 153, 154, 164 und 166, vom 2. März 2021, A. B. u. a. [Ernennung von Richtern am Obersten Gericht – Rechtsbehelf], C‑824/18, EU:C:2021:153, Rn. 139, 149, 165 und 166, sowie vom 16. November 2021, Prokuratura Rejonowa w Mińsku Mazowieckim u. a., C‑748/19 bis C‑754/19, EU:C:2021:931, Rn. 74 und 87).
131 Folglich steht insbesondere fest, dass ein nationales Gericht unter bestimmten Umständen prüfen können muss, ob eine Vorschriftswidrigkeit des Verfahrens zur Ernennung eines Richters zu einer Verletzung dieses Grundrechts führen konnte (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. Oktober 2021, W. Ż. [Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten des Obersten Gerichts – Ernennung], C‑487/19, EU:C:2021:798, Rn. 130 und 131, 152 bis 154 und 159).
132 Vor diesem Hintergrund kann der Umstand, dass ein nationales Gericht die ihm durch die Verträge übertragenen Aufgaben wahrnimmt und dadurch den Verpflichtungen nachkommt, die ihm nach den Verträgen obliegen, indem es Bestimmungen wie Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV und Art. 47 der Charta Wirkung verleiht, per definitionem nicht als Disziplinarvergehen der diesem Gericht angehörenden Richter eingestuft werden, ohne dass damit automatisch gegen die unionsrechtlichen Bestimmungen verstoßen wird.
– Zum ersten Teil der dritten Rüge
133 Mit dem ersten Teil der dritten Rüge beantragt die Kommission, festzustellen, dass die Republik Polen durch den Erlass und die Aufrechterhaltung der Bestimmungen in Art. 72 § 1 Nrn. 2 und 3 des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht und Art. 107 § 1 Nrn. 2 und 3 des geänderten Gesetzes über die ordentliche Gerichtsbarkeit gegen ihre Verpflichtungen aus zum einen Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV in Verbindung mit Art. 47 der Charta und zum anderen Art. 267 AEUV verstoßen hat.
134 Wie dem Wortlaut der nationalen Bestimmungen zu entnehmen ist, stufen sie „Handlungen oder Unterlassungen, die das Funktionieren eines Organs der Rechtsprechung unmöglich machen oder wesentlich erschweren können“, sowie „Handlungen, mit denen das Bestehen des Dienstverhältnisses eines Richters, die Wirksamkeit der Ernennung eines Richters oder die Legitimität eines Verfassungsorgans der Republik Polen in Frage gestellt wird“, als Disziplinarvergehen von Richtern der ordentlichen Gerichte und des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) ein. Zudem geht aus Art. 29 § 1 und Art. 49 § 1 des geänderten Gesetzes über die Verwaltungsgerichtsbarkeit hervor, dass diese Disziplinarvergehen auch für Richter an Verwaltungsgerichten gelten.
135 Was zum einen den geltend gemachten Verstoß gegen Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV in Verbindung mit Art. 47 der Charta betrifft, ist als Erstes festzustellen, dass entgegen dem Vorbringen der Republik Polen der Wortlaut der beanstandeten nationalen Bestimmungen nicht den Schluss zulässt, dass sich die genannten Disziplinarvergehen ausschließlich auf Rechtsprechungshandlungen beziehen, die eine Entscheidung über die Gültigkeit der Ernennung eines Richters zum Gegenstand haben.
136 Die Bezugnahmen dieser nationalen Bestimmungen auf „Handlungen oder Unterlassungen“, die das „Funktionieren“ eines „Organs der Rechtsprechung“„unmöglich machen oder wesentlich erschweren“ können, und auf „Handlungen“, mit denen das Bestehen eines „Dienstverhältnisses eines Richters“, die „Wirksamkeit“ der Ernennung eines Richters oder die „Legitimität eines Verfassungsorgans“„in Frage gestellt wird“, können nämlich dazu führen, dass eine ziemlich große Bandbreite an Handlungen oder Unterlassungen, insbesondere richterlicher Art, angesichts ihres Inhalts oder ihrer Wirkungen als „Disziplinarvergehen“ der betreffenden Richter eingestuft werden kann, ohne dass die oben genannte, von der Republik Polen vertretene einschränkende Auslegung dieser nationalen Bestimmungen auf den vom polnischen Gesetzgeber gewählten Wortlaut gestützt werden kann.
137 Wie der Generalanwalt im Wesentlichen in den Nrn. 181 und 183 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, sind diese Formulierungen derart weit gefasst und ungenau, dass sie insbesondere in Fällen, in denen die betreffenden Richter prüfen und entscheiden, ob sie selbst oder das Gericht, dem sie angehören, oder andere Richter oder die Gerichte, denen diese angehören, den Anforderungen gemäß Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV und Art. 47 der Charta genügen, zur Anwendung der beanstandeten nationalen Bestimmungen und zur Einleitung von Disziplinarverfahren gegen die betreffenden Richter führen können.
138 Zudem können die nationalen Bestimmungen, da sie nicht hinreichend klar und präzise formuliert sind, auch nicht gewährleisten, dass die Verantwortlichkeit der betreffenden Richter für die von ihnen zu erlassenden Gerichtsentscheidungen strikt auf ganz außergewöhnliche Fälle wie die oben in Rn. 126 genannten beschränkt bleibt.
139 Als Zweites sind außerdem, wie die Kommission geltend macht, die besonderen Umstände und der spezielle Kontext des Erlasses der genannten nationalen Bestimmungen zu berücksichtigen, da sie dazu beitragen können, die Tragweite dieser Bestimmungen zu verdeutlichen.
140 In diesem Zusammenhang darf insbesondere nicht außer Acht gelassen werden, dass der Wortlaut, dem der polnische Gesetzgeber bei dem in großer Eile und auf der Grundlage eines der Ersten Kammer des Parlaments am 12. Dezember 2019 vorgelegten Gesetzesentwurfs vorgenommenen Erlass des Änderungsgesetzes vom 20. Dezember 2019, mit dem die beanstandeten nationalen Bestimmungen in das Gesetz über das Oberste Gericht, das Gesetz über die ordentliche Gerichtsbarkeit und das Gesetz über die Verwaltungsgerichtsbarkeit aufgenommen wurden, den Vorzug gab, offensichtlich und konkret an eine Reihe von Fragen anknüpft, die verschiedene polnische Gerichte in Bezug auf die Vereinbarkeit mehrerer unlängst vorgenommener, die Organisation der Justiz in Polen betreffender Gesetzesänderungen mit dem Unionsrecht und speziell mit den Anforderungen gemäß Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV und Art. 47 der Charta gestellt hatten.
141 Erstens ergab sich insoweit eindeutig aus dem kurz vor Erlass des Änderungsgesetzes verkündeten Urteil A. K. u. a., insbesondere aus dessen Rn. 134, 139 und 149 sowie dem Urteilstenor, dass das vorlegende Gericht in den verbundenen Rechtssachen, in denen jenes Urteil ergangen ist, und, angesichts der Wirkung erga omnes der gemäß Art. 267 AEUV ergangenen Auslegungsurteile des Gerichtshofs (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 11. Juni 1987, X, 14/86, EU:C:1987:275, Rn. 12 und die dort angeführte Rechtsprechung, vom 24. November 2020, Openbaar Ministerie [Urkundenfälschung], C‑510/19, EU:C:2020:953, Rn. 73 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie vom 6. Oktober 2021, Consorzio Italian Management und Catania Multiservizi, C‑561/19, EU:C:2021:799, Rn. 36 und die dort angeführte Rechtsprechung), alle anderen nationalen Gerichte, die später über entsprechende Rechtssachen zu entscheiden haben, nach dem Unionsrecht verpflichtet sein könnten, zum einen zu entscheiden, ob eine Einrichtung wie die Disziplinarkammer geeignet ist, über Rechtssachen zu entscheiden, die dem Unionsrecht unterliegen, und dabei die Umstände zu berücksichtigen, unter denen die Ernennung der Mitglieder der Disziplinarkammer erfolgte, und zum anderen über die Unabhängigkeit der KRS als Einrichtung, die am Verfahren zur Ernennung von Richtern zu beteiligen ist, zu entscheiden.
142 Dadurch könnten jedoch die nationalen Gerichte, die im Rahmen ihrer Zuständigkeit die Bestimmungen des Unionsrechts anzuwenden haben, verpflichtet sein, Handlungen vorzunehmen, die „das Funktionieren eines Organs der Rechtsprechung“, wie der Disziplinarkammer, „unmöglich machen oder wesentlich erschweren können“ und mit denen „die Wirksamkeit der Ernennung“ von Richtern der Disziplinarkammer oder „die Legitimität eines Verfassungsorgans“, wie der KRS, „in Frage gestellt wird“ und die somit unter die nationalen Bestimmungen fallen können, die die Kommission im ersten Teil der dritten Rüge beanstandet.
143 Im Übrigen ist in diesem Zusammenhang auch zu berücksichtigen, dass der Sąd Najwyższy (Izba Pracy i Ubezpieczeń Społecznych) (Oberstes Gericht [Kammer für Arbeits- und Sozialversicherungssachen]) in seinem Urteil vom 5. Dezember 2019 (III PO 7/18) auf der Grundlage der sich aus dem Urteil A. K. u. a. ergebenden Erkenntnisse selbst festgestellt hatte, dass die KRS in ihrer neuen Zusammensetzung kein von der polnischen Legislative und Exekutive unabhängiges Organ sei und die Disziplinarkammer kein Gericht im Sinne von Art. 47 der Charta, Art. 6 EMRK und Art. 45 Abs. 1 der Verfassung sei.
144 Zweitens war der Gerichtshof zum Zeitpunkt des Erlasses der beanstandeten nationalen Bestimmungen zudem im Wege des Vorabentscheidungsverfahrens mit mehreren Fragen zur Auslegung von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV befasst, die polnische Gerichte vorgelegt hatten und die insbesondere die Frage betrafen, ob diese Bestimmung dahin auszulegen ist, dass
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es sich bei einem Gericht, das mit einer Person besetzt ist, die unter eklatanter Verletzung der Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats über die Ernennung von Richtern in das Richteramt berufen wurde, nicht um ein unabhängiges, unparteiisches und zuvor durch Gesetz errichtetes Gericht handelt (Rechtssache C‑487/19, W. Ż. [Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten des Obersten Gerichts – Ernennung]);
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ein nationales Gericht in einem Verfahren über die Feststellung des Nichtbestehens eines Dienstverhältnisses eines Richters entscheiden kann, dass kein Richter ist, wer in einer mit dem Grundsatz des wirksamen gerichtlichen Rechtsschutzes nicht im Einklang stehenden Art und Weise in das Richteramt berufen wurde (Rechtssache C‑508/19, Prokurator Generalny u. a. [Disziplinarkammer des Obersten Gerichts – Ernennung]);
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die Anforderungen an einen wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz, insbesondere die Unabhängigkeit der Rechtsprechung, verletzt sind, wenn ein Strafverfahren in der Weise gestaltet ist, dass ein Richter, der einem Gericht angehört, das eine Hierarchieebene tiefer liegt, vom Justizminister abgeordnet werden kann, um in einem Spruchkörper mitzuwirken, der über eine bestimmte Rechtssache zu entscheiden hat, wobei die Kriterien, die der Abordnungsentscheidung zugrunde liegen, unbekannt sind, die Abordnungsentscheidung nicht Gegenstand einer gerichtlichen Kontrolle sein kann und der Justizminister befugt ist, die Abordnung jederzeit zu widerrufen (verbundene Rechtssachen C‑748/19 bis C‑754/19, Prokuratura Rejonowa w Mińsku Mazowieckim u. a.).
145 Ihrem Inhalt nach waren die damals auf diese verschiedenen Fragen zu erwartenden Antworten jedoch offensichtlich geeignet, die vorlegenden Gerichte, die den Gerichtshof in den betreffenden Sachen angerufen hatten, und darüber hinaus alle anderen nationalen Gerichte, die künftig über entsprechende Rechtssachen zu entscheiden haben, zu veranlassen, gegebenenfalls Handlungen vorzunehmen, die als Handlungen angesehen werden können, die im Sinne der beanstandeten nationalen Bestimmungen entweder „die Wirksamkeit der Ernennung eines Richters“ oder „das Bestehen des Dienstverhältnisses eines Richters“„in Frage [stellen]“ oder „das Funktionieren eines Organs der Rechtsprechung … wesentlich erschweren“ und somit von diesen Bestimmungen erfasst sein können.
146 Drittens hat der Gerichtshof in einem der Urteile, die zum Zeitpunkt des Erlasses der nationalen Bestimmungen ausstanden, nämlich im Urteil vom 6. Oktober 2021, W. Ż. (Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten des Obersten Gerichts – Ernennung) (C‑487/19, EU:C:2021:798), festgestellt, dass Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV und der Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts dahin auszulegen sind, dass ein nationales Gericht, das mit einem Ablehnungsantrag im Zusammenhang mit einem Rechtsbehelf befasst ist, mit dem ein Richter, der in einem Gericht tätig ist, das Unionsrecht auslegen und anwenden kann, eine Entscheidung anficht, durch die er ohne seine Zustimmung versetzt wurde, einen Beschluss als nicht existent anzusehen hat, mit dem ein letztinstanzlich und in Einzelrichterbesetzung entscheidender Spruchkörper diesen Rechtsbehelf zurückgewiesen hat, wenn eine solche Folge in Anbetracht der in Rede stehenden Verfahrenslage unerlässlich ist, um den Vorrang des Unionsrechts zu gewährleisten, und wenn sich aus der Gesamtheit der Bedingungen und Umstände, unter denen das Verfahren zur Ernennung dieses Einzelrichters stattgefunden hat, ergibt, dass die Ernennung unter offensichtlicher Verletzung der Grundregeln erfolgt ist, die Bestandteil der Errichtung und der Funktionsfähigkeit des betroffenen Justizsystems sind, und dass die Integrität des Ergebnisses dieses Ernennungsverfahrens dadurch gefährdet ist, dass bei den Rechtsunterworfenen berechtigte Zweifel an der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit des betreffenden Richters geweckt werden, so dass der genannte Beschluss nicht als von einem unabhängigen, unparteiischen und zuvor durch Gesetz errichteten Gericht im Sinne von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV erlassen angesehen werden kann.
147 Es ist jedoch offensichtlich, dass aufgrund der Vornahme der insoweit erforderlichen Prüfung und der gegebenenfalls aus den vorgenannten Gründen erfolgenden Nichtanwendung eines Beschlusses wie desjenigen, der im Ausgangsverfahren in der Rechtssache C‑487/19 in Rede stand, die Gefahr besteht, dass den Richtern, die dem vorlegenden Gericht in dieser Rechtssache angehören, ebenso wie allen Richtern, die künftig eine solche Prüfung vorzunehmen und eine solche Entscheidung zu erlassen haben, vorgeworfen wird, dadurch im Sinne der beanstandeten nationalen Bestimmungen „die Wirksamkeit der Ernennung des Richters“, der den Beschluss erlassen hat, „in Frage gestellt“ zu haben oder eine Handlung vorgenommen zu haben, die „das Funktionieren eines Organs der Rechtsprechung unmöglich machen oder wesentlich erschweren“ kann.
148 Zudem hat der Gerichtshof in einem anderen Urteil, das zum Zeitpunkt des Erlasses der nationalen Bestimmungen ausstand, nämlich im Urteil vom 16. November 2021, Prokuratura Rejonowa w Mińsku Mazowieckim u. a. (C‑748/19 bis C‑754/19, EU:C:2021:931), festgestellt, wie dem Urteilstenor zu entnehmen ist, dass Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV in Verbindung mit Art. 2 EUV sowie Art. 6 Abs. 1 und 2 der Richtlinie (EU) 2016/343 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. März 2016 über die Stärkung bestimmter Aspekte der Unschuldsvermutung und des Rechts auf Anwesenheit in der Verhandlung in Strafverfahren (ABl. 2016, L 65, S. 1) dahin auszulegen sind, dass sie innerstaatlichen Rechtsvorschriften entgegenstehen, nach denen der Justizminister eines Mitgliedstaats einen Richter nach Kriterien, die nicht bekannt gegeben werden, auf bestimmte oder unbestimmte Dauer an ein Strafgericht höherer Ordnung abordnen und die Abordnung unabhängig davon, ob sie auf bestimmte oder unbestimmte Dauer erfolgt ist, jederzeit ohne Angabe von Gründen beenden kann.
149 Es ist jedoch auch hier offensichtlich, dass die Richter des vorlegenden Gerichts in den Rechtssachen, in denen das Urteil vom 16. November 2021, Prokuratura Rejonowa w Mińsku Mazowieckim u. a. (C‑748/19 bis C‑754/19, EU:C:2021:931), erging, und alle Richter, die künftig über entsprechende Sachverhalte entscheiden müssen, ebenfalls Gefahr laufen, dass ihnen, weil sie die Konsequenzen aus jenem Urteil zu ziehen haben, angelastet wird, Handlungen vorgenommen zu haben, die im Sinne der beanstandeten nationalen Bestimmungen „das Funktionieren eines Organs der Rechtsprechung unmöglich machen oder wesentlich erschweren können“, und dass mit dieser Begründung Disziplinarverfahren gegen sie eingeleitet werden.
150 Was als Drittes den Umstand betrifft, dass die in den nationalen Bestimmungen genannten Disziplinarvergehen der Republik Polen zufolge nur Handlungen erfassen, die bereits nach nationalen verfassungsrechtlichen Bestimmungen in der Auslegung durch das Trybunał Konstytucyjny (Verfassungsgerichtshof) verboten seien, ist dieser Umstand, wie der oben in den Rn. 75 bis 79 angeführten Rechtsprechung zu entnehmen ist, selbst wenn er erwiesen wäre, für die Beurteilung der von den Mitgliedstaaten einzuhaltenden Anforderungen gemäß Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV nicht relevant.
151 Überdies kann in dem Fall, dass ein nationales Gericht infolge von Urteilen des Gerichtshofs zu der Auffassung gelangen sollte, dass die Rechtsprechung eines Verfassungsgerichts nicht mit dem Unionsrecht vereinbar ist, der Umstand, dass das nationale Gericht diese Rechtsprechung gemäß dem Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts unangewendet lässt, nicht seine disziplinarrechtliche Verantwortlichkeit auslösen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 21. Dezember 2021, Euro Box Promotion u. a., C‑357/19, C‑379/19, C‑547/19, C‑811/19 und C‑840/19, EU:C:2021:1034, Rn. 260).
152 Aus alledem ergibt sich, dass die Gefahr, dass die oben in Rn. 133 genannten nationalen Bestimmungen Gegenstand einer Auslegung werden, die es möglich macht, dass die Disziplinarordnung für Richter und insbesondere die in ihr vorgesehenen Sanktionen dafür eingesetzt werden, die betreffenden nationalen Gerichte an bestimmten Feststellungen oder Beurteilungen zu hindern, die sie jedoch gemäß Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV und Art. 47 der Charta vorzunehmen haben, und dadurch die von diesen Gerichten erwarteten Gerichtsentscheidungen zu beeinflussen und somit die Unabhängigkeit der Richter dieser Gerichte zu untergraben, im vorliegenden Fall nachgewiesen ist und somit in beiderlei Hinsicht ein Verstoß gegen die unionsrechtlichen Bestimmungen vorliegt.
153 Was zum anderen den beanstandeten Verstoß gegen Art. 267 AEUV betrifft, führen die oben in den Rn. 135 bis 149 angestellten Erwägungen ebenfalls zu der Feststellung, dass die Richter der ordentlichen Gerichte, der Verwaltungsgerichte und des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht), die dem Gerichtshof ein Ersuchen um Vorabentscheidung über Fragen zur Auslegung der Anforderungen an die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit von Gerichten sowie zum Begriff „zuvor durch Gesetz errichtetes Gericht“ im Sinne von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV und Art. 47 der Charta vorlegen, wie die dem Gerichtshof im Rahmen der oben in den Rn. 141 und 144 genannten Vorabentscheidungssachen vorgelegten Fragen, Gefahr laufen, aufgrund des Umstands, dass sie diese Fragen vorgelegt und ihren Zweifeln, die zur Vorlage der Fragen geführt haben, Ausdruck verliehen haben, beschuldigt zu werden, die Vergehen gemäß den beanstandeten nationalen Bestimmungen begangen zu haben.
154 Die nationalen Bestimmungen sind nämlich, wie oben in den Rn. 135 bis 138 dargelegt, derart weit gefasst und ungenau, dass sich nicht ausschließen lässt, dass solche Zweifel und Fragen so verstanden werden, dass mit ihnen im Sinne der genannten Bestimmungen „das Bestehen des Dienstverhältnisses eines Richters, die Wirksamkeit der Ernennung eines Richters oder die Legitimität eines Verfassungsorgans der Republik Polen in Frage gestellt wird“, oder sie dazu beigetragen haben, „das Funktionieren eines Organs der Rechtsprechung unmöglich [zu] machen oder wesentlich [zu] erschweren“.
155 Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs verleiht Art. 267 AEUV den nationalen Gerichten jedoch ein unbeschränktes Recht zur Vorlage an den Gerichtshof, wenn sie der Auffassung sind, dass eine bei ihnen anhängige Rechtssache Fragen nach der Auslegung unionsrechtlicher Bestimmungen aufwirft, deren Beantwortung für die Entscheidung des ihnen unterbreiteten Rechtsstreits erforderlich ist (Urteil vom 15. Juli 2021, Kommission/Polen [Disziplinarordnung für Richter], C‑791/19, EU:C:2021:596, Rn. 223 und die dort angeführte Rechtsprechung).
156 Zudem wird bei Gerichten wie dem Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) oder dem Naczelny Sąd Administracyjny (Oberstes Verwaltungsgericht), deren Entscheidungen selbst nicht mehr im Sinne von Art. 267 Abs. 3 AEUV mit Rechtsmitteln des innerstaatlichen Rechts angefochten werden können, aus dieser Befugnis, vorbehaltlich der in der Rechtsprechung des Gerichtshofs anerkannten Ausnahmen, eine Pflicht zur Anrufung des Gerichtshofs im Wege der Vorabentscheidung (Urteil vom 15. Juli 2021, Kommission/Polen [Disziplinarordnung für Richter], C‑791/19, EU:C:2021:596, Rn. 224 und die dort angeführte Rechtsprechung).
157 Nach ebenfalls ständiger Rechtsprechung kann eine Vorschrift des nationalen Rechts ein nationales Gericht nicht daran hindern, von dieser Befugnis Gebrauch zu machen oder dieser Pflicht nachzukommen, denn diese sind dem durch Art. 267 AEUV geschaffenen System der Zusammenarbeit zwischen den nationalen Gerichten und dem Gerichtshof und den durch diese Bestimmung den nationalen Gerichten zugewiesenen Aufgaben des zur Anwendung des Unionsrechts berufenen Richters inhärent (Urteil vom 15. Juli 2021, Kommission/Polen [Disziplinarordnung für Richter], C‑791/19, EU:C:2021:596, Rn. 225 und die dort angeführte Rechtsprechung).
158 Außerdem beschneidet eine nationale Vorschrift, die insbesondere die Gefahr birgt, dass ein nationaler Richter lieber darauf verzichtet, dem Gerichtshof Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen, die den nationalen Gerichten nach Art. 267 AEUV zuerkannten Befugnisse und hemmt als Folge die Effizienz dieses Systems der Zusammenarbeit (Urteil vom 15. Juli 2021, Kommission/Polen [Disziplinarordnung für Richter], C‑791/19, EU:C:2021:596, Rn. 226 und die dort angeführte Rechtsprechung).
159 Nationale Bestimmungen, nach denen gegen nationale Richter ein Disziplinarverfahren eingeleitet werden kann, weil sie ein Vorabentscheidungsersuchen an den Gerichtshof gerichtet haben, können daher nicht zugelassen werden. Die bloße Aussicht darauf, dass aufgrund eines solchen Ersuchens oder der Entscheidung, dieses nach seiner Vorlage aufrechtzuerhalten, gegebenenfalls ein Disziplinarverfahren eingeleitet werden könnte, ist nämlich geeignet, die tatsächliche Wahrnehmung der in Rn. 157 des vorliegenden Urteils genannten Befugnisse und Aufgaben durch die betreffenden nationalen Richter zu beeinträchtigen (Urteil vom 15. Juli 2021, Kommission/Polen [Disziplinarordnung für Richter], C‑791/19, EU:C:2021:596, Rn. 227 und die dort angeführte Rechtsprechung).
160 Insoweit war der Gerichtshof zudem in mehreren Urteilen veranlasst, darauf hinzuweisen, dass Vorermittlungen vor der etwaigen Einleitung von Disziplinarverfahren wegen Entscheidungen, mit denen polnische Gerichte der ordentlichen Gerichtsbarkeit den Gerichtshof um Vorabentscheidung u. a. zur Auslegung von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV ersucht hatten, in der Tat bereits stattgefunden haben (vgl. Urteile vom 2. März 2021, A. B. u. a. [Ernennung von Richtern am Obersten Gericht – Rechtsbehelf], C‑824/18, EU:C:2021:153, Rn. 101 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie vom 15. Juli 2021, Kommission/Polen [Disziplinarordnung für Richter], C‑791/19, EU:C:2021:596, Rn. 231).
161 Aus alledem folgt, dass die Gefahr, dass die von der Kommission im ersten Teil der dritten Rüge beanstandeten nationalen Bestimmungen Gegenstand einer Auslegung sein können, die es möglich macht, dass die Disziplinarordnung dafür verwendet wird, nationale Richter zu sanktionieren, weil sie dem Gerichtshof ein Vorabentscheidungsersuchen vorgelegt haben oder ein solches Ersuchen aufrechterhalten haben, ebenfalls nachgewiesen ist und die nationalen Bestimmungen somit gegen Art. 267 AEUV verstoßen.
162 Zurückzuweisen ist schließlich das oben in Rn. 124 angeführte Vorbringen der Republik Polen, zwischen der dritten und der zweiten Rüge bestehe ein Widerspruch. Insoweit genügt nämlich der Hinweis, dass mit der zweiten Rüge beanstandet wird, dass die Prüfung bestimmter Rechtsfragen der ausschließlichen Zuständigkeit der Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten unterliegt, während die dritte Rüge die Vereinbarkeit von Bestimmungen zur Einstufung bestimmter Verhaltensweisen als Disziplinarvergehen von Richtern der ordentlichen Gerichte, der Verwaltungsgerichte und des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht), einschließlich der Richter der Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten, mit dem Unionsrecht betrifft.
163 Nach alledem ist festzustellen, dass Art. 72 § 1 Nrn. 2 und 3 des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht und Art. 107 § 1 Nrn. 2 und 3 des geänderten Gesetzes über die ordentliche Gerichtsbarkeit sowohl gegen Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV in Verbindung mit Art. 47 der Charta als auch gegen Art. 267 AEUV verstoßen, so dass dem ersten Teil der dritten Rüge der Kommission stattzugeben ist.
– Zum zweiten Teil der dritten Rüge
164 Vorab ist festzustellen, dass, wie die Kommission zu Recht geltend macht, Art. 72 § 1 Nr. 1 des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht, der die „offensichtliche und grobe Missachtung von Rechtsvorschriften“ als Disziplinarvergehen von Richtern des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) einstuft, insoweit eine Formulierung verwendet, die mit der Formulierung identisch ist, die bereits in Art. 107 § 1 Nr. 1 des Gesetzes über die ordentliche Gerichtsbarkeit vor seiner Änderung durch das Änderungsgesetz enthalten war und der zufolge ein solcher Verstoß ebenfalls als Disziplinarvergehen der Richter dieser Gerichte eingestuft wurde.
165 Wie jedoch Rn. 157 und Nr. 1 zweiter Gedankenstrich des Tenors des Urteils vom 15. Juli 2021, Kommission/Polen (Disziplinarordnung für Richter) (C‑791/19, EU:C:2021:596), das im Laufe des vorliegenden Verfahrens verkündet wurde, zu entnehmen ist, hat der Gerichtshof zu der in Art. 107 § 1 Nr. 1 des Gesetzes über die ordentliche Gerichtsbarkeit enthaltenen Vorschrift festgestellt, dass es angesichts aller in den Rn. 134 bis 156 des Urteils dargelegten Erwägungen erwiesen ist, dass in dem besonderen Kontext, der sich aus den jüngsten Reformen der Justiz und der für die Richter der ordentlichen Gerichtsbarkeit geltenden Disziplinarordnung in Polen ergibt, die in dieser Bestimmung enthaltene Definition des Begriffs „Disziplinarvergehen“ nicht verhindern kann, dass die Disziplinarordnung dazu eingesetzt wird, um bei diesen Richtern, die zur Auslegung und Anwendung des Unionsrechts berufen sind, Druck und eine abschreckende Wirkung zu erzeugen, die den Inhalt ihrer Entscheidungen beeinflussen können. In Rn. 157 hat der Gerichtshof daher den Schluss gezogen, dass Art. 107 § 1 Nr. 1 somit die Unabhängigkeit der Richter der ordentlichen Gerichte beeinträchtigt und gegen Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV verstößt.
166 Unter diesen Umständen ist aus Gründen, die im Wesentlichen mit den in den Rn. 134 bis 156 des Urteils vom 15. Juli 2021, Kommission/Polen (Disziplinarordnung für Richter) (C‑791/19, EU:C:2021:596), dargelegten Gründen identisch sind, auf die verwiesen wird, festzustellen, dass Art. 72 § 1 Nr. 1 des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht auch gegen Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV verstößt. Diese nationale Bestimmung beeinträchtigt nämlich die Unabhängigkeit der Richter des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht), die, wie oben in Rn. 92 dargelegt, ebenfalls zur Auslegung und Anwendung des Unionsrechts berufen sind, da die genannte nationale Bestimmung nicht verhindern kann, dass die für diese Richter geltende Disziplinarordnung eingesetzt wird, um Druck und eine abschreckende Wirkung zu erzeugen, die den Inhalt ihrer Entscheidungen beeinflussen können, insbesondere der Entscheidungen über die Anforderungen, die sich aus dem Recht auf einen wirksamen Rechtsschutz in Bezug auf das Vorliegen unabhängiger, unparteiischer und zuvor durch Gesetz errichteter Gerichte ergeben.
167 Zudem hat der Gerichtshof im Urteil vom 15. Juli 2021, Kommission/Polen (Disziplinarordnung für Richter) (C‑791/19, EU:C:2021:596), auch festgestellt, wie Rn. 234 und Nr. 2 des Tenors jenes Urteils zu entnehmen ist, dass aufgrund des Bestehens des in Art. 107 § 1 Nr. 1 des Gesetzes über die ordentliche Gerichtsbarkeit und aus den in den Rn. 222 bis 233 jenes Urteils dargelegten Gründen die Republik Polen dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 267 Abs. 2 und 3 AEUV verstoßen hatte, dass sie es zuließ, dass das Recht der Gerichte, sich mit Vorabentscheidungsersuchen an den Gerichtshof zu wenden, durch die Möglichkeit der Einleitung eines Disziplinarverfahrens eingeschränkt wird.
168 Insoweit ist aus Gründen, die im Wesentlichen mit der in den Rn. 222 bis 233 des Urteils vom 15. Juli 2021, Kommission/Polen (Disziplinarordnung für Richter) (C‑791/19, EU:C:2021:596), enthaltenen Begründung identisch sind, auf die verwiesen wird, festzustellen, dass die Republik Polen dadurch, dass sie Art. 72 § 1 Nr. 1 des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht erlassen und aufrechterhalten und es somit zugelassen hat, dass die Verpflichtung des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht), sich mit Vorabentscheidungsersuchen an den Gerichtshof zu wenden, durch die Möglichkeit der Einleitung eines Disziplinarverfahrens gegen die Richter dieses nationalen Gerichts eingeschränkt wird, gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 267 AEUV verstoßen hat.
169 Folglich ist der zweite Teil der dritten Rüge ebenfalls begründet und der dritten Rüge insgesamt stattzugeben.
Zur ersten Rüge
Vorbringen der Parteien
170 Mit ihrer ersten Rüge, die als Drittes zu prüfen ist, macht die Kommission geltend, dass Art. 42a §§ 1 und 2 des geänderten Gesetzes über die ordentliche Gerichtsbarkeit, Art. 26 § 3 und Art. 29 §§ 2 und 3 des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht und Art. 5 §§ 1a und 1b des geänderten Gesetzes über die Verwaltungsgerichtsbarkeit sowie Art. 55 § 4 des geänderten Gesetzes über die ordentliche Gerichtsbarkeit und Art. 8 des Änderungsgesetzes gegen Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV in Verbindung mit Art. 47 der Charta, den Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts und Art. 267 AEUV verstoßen.
171 Ziel dieser nationalen Bestimmungen sei es, den nationalen Gerichten, auf die sie Anwendung fänden, zu verbieten, von Amts wegen oder auf Antrag einer Partei die – ihnen obliegende – Prüfung der Frage vorzunehmen, ob das Recht des Einzelnen, seinen Fall von einem unabhängigen, unparteiischen und zuvor durch Gesetz errichteten Gericht untersuchen zu lassen, in Fällen, die Rechte des Einzelnen aus dem Unionsrecht beträfen, garantiert werden könne oder nicht, verletzt worden sei, indem sie prüften, ob ihre eigene Zusammensetzung oder die Zusammensetzung eines anderen Gerichts, z. B. eines Spruchkörpers niederer Ordnung, die Anforderungen erfülle, die mit einer solchen Garantie verbunden seien. Diese Prüfung müsse sich nämlich insbesondere auf die Ordnungsmäßigkeit des Verfahrens zur Ernennung der Richter der betreffenden Gerichte erstrecken oder es ermöglichen, die Legitimität dieser Gerichte und ihrer Mitglieder zu beurteilen, was die beanstandeten nationalen Bestimmungen zu verhindern suchten.
172 Indem sich die Republik Polen auf den Grundsatz der Unabsetzbarkeit von Richtern und das verfassungsrechtliche Verbot, die Ernennung von Richtern für ungültig zu erklären, berufe, verwechsle sie die Verpflichtung, eine solche nach Unionsrecht gebotene gerichtliche Überprüfung zuzulassen, mit den Folgen einer nach dieser gerichtlichen Überprüfung eventuell vorzunehmenden Feststellung, dass die Anforderungen nicht erfüllt seien, die sich aus dem Recht auf Zugang zu einem unabhängigen, unparteiischen und zuvor durch Gesetz errichteten Gericht ergäben. Diese Folgen, die von dem mit der Entscheidung befassten nationalen Gericht unter Zugrundelegung des anwendbaren nationalen Rechts und unter Berücksichtigung der vollen Wirksamkeit des Unionsrechts und der notwendigen Abwägung zwischen den Anforderungen aus der Anwendung des Grundsatzes der Rechtssicherheit und den Anforderungen im Zusammenhang mit der Einhaltung des anwendbaren Rechts zu bestimmen seien, müssten nicht zwangsläufig zur Aufhebung des fraglichen Ernennungsakts oder zur Abberufung des betreffenden Richters führen. Im Allgemeinen würden die Folgen zudem im Rahmen einer zweitinstanzlichen gerichtlichen Prüfung festgelegt, die ein Urteil oder einen anderen Rechtsakt als den Akt zur Ernennung auf die Stelle eines Richters zum Gegenstand habe.
173 Im Fall der Feststellung einer Verletzung des Grundrechts der Rechtsunterworfenen auf wirksamen gerichtlichen Schutz verlangten der Grundsatz des Vorrangs und der Wirksamkeit des Unionsrechts außerdem, dass die betreffenden nationalen Vorschriften unangewendet blieben, wenn dies aufgrund der oben genannten Abwägung geboten sei.
174 Zur Verteidigung trägt die Republik Polen vor, die Kommission sei ihrer Beweispflicht nicht nachgekommen, da sie ihre Behauptungen in Bezug auf etwaige Verstöße gegen Art. 267 AEUV und den Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts nicht substantiiert habe. Jedenfalls beträfen die beanstandeten nationalen Bestimmungen weder die Vorlage von Vorabentscheidungsfragen durch die nationalen Gerichte noch Normenkonflikte, in deren Kontext dieser Grundsatz gegebenenfalls Anwendung finden müsse. Zudem habe die Kommission auch nicht dargelegt, inwiefern eine der beanstandeten nationalen Bestimmungen, nämlich Art. 26 § 3 des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht, gegen Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV in Verbindung mit Art. 47 der Charta verstoßen könne.
175 Was die anderen geltend gemachten Verstöße gegen die beiden zuletzt genannten unionsrechtlichen Bestimmungen betreffe, werde durch die Verpflichtung eines nationalen Gerichts, die Einhaltung der mit diesen Bestimmungen verbundenen Garantien zu prüfen, um sicherzustellen, dass keine Unregelmäßigkeiten beim Verfahren zur Ernennung eines Richters das Recht einer Partei auf ein durch Gesetz errichtetes Gericht in einer bestimmten Rechtssache verletzt hätten, nicht impliziert, dass jedem Rechtsunterworfenen das Recht zuerkannt werde, die Amtsenthebung eines Richters zu verlangen, oder jedes nationale Gericht befugt sei, in jedem beliebigen Verfahren die Ernennung eines Richters und den Fortbestand ihrer Wirkung ohne rechtliche Grundlage in Frage zu stellen. Jede andere Auslegung habe zudem einen Verstoß gegen die Grundsätze der Unabsetzbarkeit und Unabhängigkeit von Richtern zur Folge.
176 Wie sich aus ihrer wörtlichen, kontextbezogenen, teleologischen und systematischen Auslegung ergebe – und entgegen der ihnen von der Kommission fälschlicherweise zugeschriebenen Bedeutung –, stünden Art. 42a §§ 1 und 2 des geänderten Gesetzes über die ordentliche Gerichtsbarkeit, Art. 26 § 3 und Art. 29 §§ 2 und 3 des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht sowie Art. 5 §§ 1a und 1b des geänderten Gesetzes über die Verwaltungsgerichtsbarkeit der Einhaltung der nach Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV und Art. 47 der Charta erforderlichen Garantien nicht entgegen.
177 Als Erstes seien diese nationalen Bestimmungen nur wegen der ernsthaften Bedrohung der Sicherheit der Rechtsverhältnisse und der Justiz eingeführt worden, die damit zusammenhänge, dass in jüngster Zeit vermehrt versucht worden sei, das Bestehen des richterlichen Mandats in Frage zu stellen. Insoweit habe der polnische Gesetzgeber nur das Ziel verfolgt, die Einhaltung des bestehenden nationalen Rechts sicherzustellen. Gemäß der Verfassung und der ständigen Rechtsprechung der Verfassungs- und Verwaltungsgerichte sei nämlich seit jeher ausgeschlossen gewesen, dass die Gültigkeit oder Wirksamkeit der Ernennung eines Richters Gegenstand einer gerichtlichen Kontrolle sein könne.
178 Als Zweites seien die genannten nationalen Bestimmungen im Licht der Bestimmungen, die innerhalb der Normenhierarchie einen höheren Rang einnähmen, d. h. Art. 45 der Verfassung, Art. 6 EMRK und die entsprechenden unionsrechtlichen Bestimmungen, und im Einklang mit ihnen auszulegen.
179 Als Drittes sei die wirksame, unionsrechtlich gebotene Kontrolle der Garantien im Zusammenhang mit dem Zugang zu einem unabhängigen, unparteiischen und zuvor durch Gesetz errichteten Gericht durch die Anwendung verschiedener anderer nationaler Bestimmungen in vollem Umfang gewährleistet. Dies gelte erstens für die Art. 48 bis 54 der Ustawa – Kodeks postepowania cywilnego (Gesetz über die Zivilprozessordnung, im Folgenden: Zivilprozessordnung), die Art. 40 bis 44 der Ustawa – Kodeks postępowania karnego (Gesetz über die Strafprozessordnung) und die Art. 18 bis 24 der Ustawa – Prawo o postępowaniu przed sądami administracyjnymi (Gesetz über die Verwaltungsgerichtsordnung), wonach die Ablehnung von Richtern beantragt werden könne, wenn Zweifel hinsichtlich ihrer Unparteilichkeit und Unabhängigkeit bestünden. Zweitens sei durch Art. 200 § 14 der Zivilprozessordnung, wonach die nationalen Gerichte von Amts wegen zu prüfen hätten, ob sie zuständig seien, und bei fehlender Zuständigkeit die Rechtssache an das zuständige Gericht verweisen müssten, garantiert, dass ein Rechtsunterworfener, der Zweifel daran habe, dass ein Gericht in der Lage sei, sein Recht auf ein solches Gericht zu gewährleisten, die Möglichkeit habe, zu beantragen, dass die betreffende Rechtssache im Einklang mit den Erkenntnissen aus dem Urteil A. K. u. a. an ein anderes Gericht verwiesen werde. Drittens müsse, wenn das Gericht, das entschieden habe, nicht ordnungsgemäß besetzt gewesen sei, das mit einem Rechtsmittel befasste Gericht höherer Ordnung das Verfahren von Amts wegen aufheben und das fragliche Urteil gemäß Art. 379 § 4 der Zivilprozessordnung, Art. 439 § 1 Nr. 1 der Strafprozessordnung bzw. Art. 183 § 2 Nr. 4 der Verwaltungsgerichtsordnung aufheben.
180 Außerdem verkenne die Kommission die Tragweite von Art. 55 § 4 des geänderten Gesetzes über die ordentliche Gerichtsbarkeit und somit von Art. 8 des Änderungsgesetzes, der die Anwendung von Art. 55 § 4 auf anhängige Rechtssachen vorsehe. Nach Art. 55 § 4 sei es nämlich keineswegs untersagt, zu prüfen, ob ein Gericht ordnungsgemäß zusammengesetzt sei, insbesondere im Rahmen eines Ablehnungsantrags oder zwecks Überprüfung, ob sich die Zusammensetzung negativ auf den Ausgang des betreffenden Rechtsstreits ausgewirkt habe. In Wirklichkeit handle es sich bei Art. 55 § 4 nur um die Kodifizierung der ständigen Rechtsprechung des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht), wonach der Umstand, dass eine Rechtssache von einem Spruchkörper unter Verletzung der Bestimmungen „im Verordnungsrang“ über die Zuweisung von Rechtssachen an Richter und die Bestimmung von Spruchkörpern geprüft worden sei, keinen Gesichtspunkt zwingenden Rechts darstelle, der in jedem Fall zur Feststellung der Ungültigkeit des betreffenden Verfahrens führe, und auch keinen Fall darstelle, in dem ein außerordentlicher Rechtsbehelf eingelegt werden könne.
181 Schließlich macht die Republik Polen in einer ähnlichen Formulierung wie der oben in Rn. 124 angeführten geltend, dass sich die erste und die zweite Rüge widersprächen, da es nicht möglich sei, einerseits geltend zu machen, dass das nationale Recht es den Richtern der nationalen Gerichte verbiete, das etwaige Vorliegen von Verstößen gegen das Recht auf einen wirksamen Rechtsschutz zu prüfen, und andererseits zu behaupten, dass die Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten die ausschließliche Zuständigkeit für die Entscheidung über Klagegründe habe, die sich auf solche Verstöße stützten.
182 In ihrer Erwiderung trägt die Kommission u. a. in Bezug auf den beanstandeten Verstoß gegen Art. 267 AEUV vor, sie habe in der mit Gründen versehenen Stellungnahme festgestellt, was im Übrigen offensichtlich sei, dass nämlich die beanstandeten nationalen Bestimmungen dadurch, dass sie es den nationalen Gerichten untersagten, zu prüfen, ob ein Gericht oder ein Richter bestimmte, sich aus dem Unionsrecht ergebende Anforderungen an einen wirksamen Rechtsschutz erfülle, die nationalen Gerichte automatisch daran hinderten, mit dem Gerichtshof hierzu in einen Vorabentscheidungsdialog zu treten. Der beanstandete Verstoß gegen Art. 267 AEUV sei außerdem in der Klageschrift im Rahmen der zweiten Rüge detailliert dargelegt worden. Art. 26 § 3 des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht habe den gleichen Regelungsgehalt wie Art. 29 § 3 dieses Gesetzes und Art. 42a des geänderten Gesetzes über die ordentliche Gerichtsbarkeit, so dass für alle diese Bestimmungen die gleiche juristische Argumentation gelte, ohne dass sie in der Begründung der Klageschrift dargelegt werden müsse.
183 Was den beanstandeten Verstoß gegen Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV in Verbindung mit Art. 47 der Charta sowie gegen den Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts betreffe, sei es nach den oben in Rn. 176 genannten nationalen Bestimmungen verboten, die Rechtmäßigkeit der Ernennung sowie „der sich daraus ergebenden Befugnis zur Wahrnehmung von Aufgaben im Bereich der Rechtsprechung“„festzustellen“ oder zu „beurteilen“ – ohne dass auf den betreffenden Ernennungsakt Bezug genommen werde –, so dass nach diesem Wortlaut die Beurteilung der Befugnis eines Richters, in einer bestimmten Rechtssache zu entscheiden, verboten sei. Diese Auslegung ergebe sich auch aus Art. 26 § 3 des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht, wonach ein Antrag nach Art. 26 § 2 nicht die Beurteilung der Rechtmäßigkeit der Ernennung eines Richters oder seiner Ermächtigung zur Wahrnehmung von Aufgaben im Bereich der Rechtsprechung betreffen dürfe.
184 Zu Art. 55 § 4 des geänderten Gesetzes über die ordentliche Gerichtsbarkeit macht die Kommission geltend, diese nationale Bestimmung erfasse nicht den Fall eines Verstoßes gegen Vorschriften über die Zuweisung von Sachen sowie über die Bestimmung und Änderung der Spruchkörper, so dass das auf einen solchen Verstoß gestützte Vorbringen der Republik Polen irrelevant sei.
185 In ihrer Gegenerwiderung trägt die Republik Polen in Bezug auf die beanstandeten Verstöße gegen Art. 267 AEUV und den Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts vor, die Kommission dürfe sich weder auf angeblich „offensichtliche“ Umstände berufen, da insoweit jegliche Vermutung ausgeschlossen sei, noch darauf, dass ein in der Klageschrift nicht enthaltenes Vorbringen in der mit Gründen versehenen Stellungnahme aufgeführt sei. Was Art. 26 § 3 des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht betreffe, sei die Kommission verpflichtet gewesen, ihre Rügen zu substantiieren, da nicht erwartet werden könne, dass die beklagte Partei errate, dass Argumente, die in der Klageschrift zu anderen nationalen Bestimmungen vorgetragen worden seien, auch diese Rügen stützen könnten.
186 Dem zweiten Satz von Art. 55 § 4 des geänderten Gesetzes über die ordentliche Gerichtsbarkeit und insbesondere der darin verwendeten Formulierung „können keine Grundlage … sein“ sei nicht zu entnehmen, dass die Einhaltung der Bestimmungen im Verordnungsrang über die Zuweisung von Sachen sowie über die Bestimmung oder Änderung der Spruchkörper alle anderen etwaigen Verfahrensfehler heilen könne, die zu einer Entscheidung führen könnten, die das Recht des Einzelnen auf ein unabhängiges, unparteiisches und zuvor durch Gesetz errichtetes Gericht verletze.
187 In der mündlichen Verhandlung hat die Kommission neben den oben in den Rn. 117 und 118 dargelegten Erwägungen erklärt, dass Art. 55 § 4 des geänderten Gesetzes über die ordentliche Gerichtsbarkeit z. B. die nationalen Gerichte daran hindern könne, die Konsequenzen aus Rn. 176 des Urteils vom 15. Juli 2021, Kommission/Polen (Disziplinarordnung für Richter) (C‑791/19, EU:C:2021:596), und aus dem Tenor des Urteils vom 16. November 2021, Prokuratura Rejonowa w Mińsku Mazowieckim u. a. (C‑748/19 bis C‑754/19, EU:C:2021:931), zu ziehen.
Würdigung durch den Gerichtshof
– Zur Zulässigkeit
188 Als Erstes ist zum behaupteten Verstoß gegen Art. 267 AEUV darauf hinzuweisen, dass nach Art. 120 Buchst. c der Verfahrensordnung des Gerichtshofs und seiner dazu ergangenen Rechtsprechung die Klageschrift den Streitgegenstand, die vorgebrachten Klagegründe und Argumente sowie eine kurze Darstellung dieser Klagegründe enthalten muss. Diese Darstellung muss hinreichend klar und deutlich sein, um dem Beklagten die Vorbereitung seines Verteidigungsvorbringens und dem Gerichtshof die Wahrnehmung seiner Kontrollaufgabe zu ermöglichen. Folglich müssen sich die wesentlichen tatsächlichen und rechtlichen Umstände, auf die eine Klage gestützt wird, zusammenhängend und verständlich unmittelbar aus der Klageschrift ergeben, und die Anträge in der Klageschrift müssen eindeutig formuliert sein, damit der Gerichtshof nicht ultra petita entscheidet oder eine Rüge übergeht (Urteil vom 19. September 2017, Kommission/Irland [Zulassungssteuer], C‑552/15, EU:C:2017:698, Rn. 38 und die dort angeführte Rechtsprechung).
189 Der Gerichtshof hat ferner entschieden, dass eine nach Art. 258 AEUV erhobene Klage eine zusammenhängende und genaue Darstellung der Rügen enthalten muss, damit der Mitgliedstaat und der Gerichtshof die Tragweite des gerügten Verstoßes gegen das Unionsrecht richtig erfassen können, was notwendig ist, damit der betreffende Staat sich sachgerecht verteidigen und der Gerichtshof überprüfen kann, ob die behauptete Vertragsverletzung vorliegt (Urteil vom 8. März 2022, Kommission/Vereinigtes Königreich [Bekämpfung von Betrug durch Unterbewertung], C‑213/19, EU:C:2022:167, Rn. 133 und die dort angeführte Rechtsprechung).
190 Insbesondere muss die Klage der Kommission eine zusammenhängende und detaillierte Darlegung der Gründe enthalten, aus denen diese zu der Überzeugung gelangt ist, dass der betreffende Mitgliedstaat gegen eine der ihm nach Unionsrecht obliegenden Verpflichtungen verstoßen hat (Urteil vom 31. Oktober 2019, Kommission/Niederlande, C‑395/17, EU:C:2019:918, Rn. 54 und die dort angeführte Rechtsprechung).
191 Im vorliegenden Fall wird Art. 267 AEUV zwar u. a. in dem die erste Rüge betreffenden Klageantrag erwähnt, doch enthalten die Ausführungen in der Klageschrift im Rahmen der kurzen Darstellung dieser Rüge und das damit verbundene Vorbringen der Kommission überhaupt keinen Hinweis auf diesen Artikel und seine etwaige Verletzung und erst recht keine genauere Begründung, inwiefern die mit dieser Rüge beanstandeten nationalen Bestimmungen geeignet sein sollen, gegen den genannten Artikel zu verstoßen.
192 Unter diesen Umständen ist im Einklang mit den Ausführungen des Generalanwalts in Nr. 128 seiner Schlussanträge festzustellen, dass die Klageschrift in Bezug auf den mit der ersten Rüge beanstandeten Verstoß gegen Art. 267 AEUV nicht den oben in den Rn. 188 bis 190 genannten Anforderungen entspricht. Diese Unregelmäßigkeit der verfahrenseinleitenden Handlung kann weder dadurch geheilt werden, dass die Kommission den beanstandeten Verstoß – bezogen auf die erste Rüge – in der mit Gründen versehenen Stellungnahme substantiiert hat, noch dadurch, dass ein entsprechender Verstoß gegen Art. 267 AEUV Gegenstand einer Argumentation war, die andere Rügen in der Klageschrift in Bezug auf andere nationale Bestimmungen als die mit der ersten Rüge beanstandeten betraf. In Bezug auf die erste Rüge erlaubt die Klageschrift nämlich keine zusammenhängende, klare und genaue Eingrenzung der Art. 267 AEUV betreffenden Streitigkeit, die dem Gerichtshof im vorliegenden Fall im Anschluss an das Vorverfahren vorgelegt wurde.
193 Was als Zweites den beanstandeten Verstoß gegen den Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts betrifft, nimmt die Kommission in ihren Ausführungen zur ersten Rüge in der Klageschrift auf diesen Grundsatz Bezug und macht insbesondere in Rn. 75 der Klageschrift geltend, dass die beanstandeten nationalen Bestimmungen, da sie es polnischen Gerichten in den von diesen Bestimmungen erfassten Fällen verwehrten, darüber zu entscheiden, ob die Erfordernisse nach Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV in Verbindung mit Art. 47 der Charta erfüllt seien, diese Gerichte auch daran hindern könnten, im Einklang mit dem genannten Grundsatz Handlungen vorzunehmen, die sich als notwendig erweisen könnten, um die tatsächliche Einhaltung dieser Erfordernisse in solchen Fällen zu gewährleisten.
194 Was als Drittes Art. 26 § 3 des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht betrifft, ist es zwar, wie die Republik Polen zu Recht vorträgt, zutreffend, dass, obwohl diese nationale Bestimmung in dem Klageantrag genannt wird, der die erste Rüge betrifft, das in der Klageschrift enthaltene Vorbringen zur ersten Rüge keine konkreten Ausführungen zu dieser Vorschrift enthält.
195 Wie die Kommission jedoch geltend macht, beschränkt sich Art. 26 § 3, wonach die Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten keine Anträge auf Feststellung oder Beurteilung der Rechtmäßigkeit der Ernennung eines Richters oder seiner Ermächtigung zur Wahrnehmung von Aufgaben im Bereich der Rechtsprechung prüfen kann, im Wesentlichen darauf, den Inhalt von Art. 29 § 3 des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht zu wiederholen, nämlich dass es dem Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht), insbesondere der Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten, untersagt ist, die Rechtmäßigkeit der Ernennung eines Richters oder der sich daraus ergebenden Befugnis zur Wahrnehmung von Aufgaben im Bereich der Rechtsprechung festzustellen oder zu beurteilen.
196 Vor diesem Hintergrund ist davon auszugehen, dass sich die Kritikpunkte, die die Kommission im Hinblick auf Art. 29 § 3 des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht geäußert hat, automatisch auch auf Art. 26 § 3 dieses Gesetzes beziehen und dadurch die zuletzt genannte Vorschrift erfassen. Somit war es nicht notwendig, dass die Kommission eine besondere Erläuterung zu der zuletzt genannten nationalen Bestimmung gibt, so dass das Fehlen einer solchen Erläuterung die Verteidigungsrechte der Republik Polen nicht beeinträchtigen konnte.
197 Nach alledem ist die erste Rüge der Kommission in Bezug auf den beanstandeten Verstoß gegen Art. 267 AEUV unzulässig und im Übrigen zulässig.
– Zur Begründetheit
198 Was zunächst Art. 42a §§ 1 und 2 des geänderten Gesetzes über die ordentliche Gerichtsbarkeit, Art. 29 §§ 2 und 3 des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht und Art. 5 §§ 1a und 1b des geänderten Gesetzes über die Verwaltungsgerichtsbarkeit betrifft, ist dem Wortlaut der ersten beiden nationalen Bestimmungen zu entnehmen, dass zum einen „[i]m Rahmen der Tätigkeiten“ der verschiedenen in Rede stehenden Gerichte „oder [ihrer] Organe“„die Legitimität der [Gerichte], der Verfassungsorgane des Staates und der Organe zur Kontrolle und zum Schutz des Rechts nicht in Frage gestellt werden [darf]“ und zum anderen diese Gerichte „die Rechtmäßigkeit der Ernennung eines Richters oder der sich daraus ergebenden Befugnis zur Wahrnehmung von Aufgaben im Bereich der Rechtsprechung weder feststellen noch beurteilen [dürfen]“. Nach Art. 26 § 3 des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht ist es ausgeschlossen, dass die Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten, nachdem ihr ein Antrag betreffend die Ablehnung eines Richters oder die Bestimmung des Gerichts, bei dem ein Verfahren geführt werden soll, mit dem gegebenenfalls die fehlende Unabhängigkeit des betreffenden Gerichts oder Richters gerügt wird, von einem anderen Gericht übersandt wurde, diesen Antrag prüft, wenn er „die Feststellung und die Beurteilung der Rechtmäßigkeit der Ernennung eines Richters oder seiner Ermächtigung zur Wahrnehmung von Aufgaben im Bereich der Rechtsprechung betrifft“.
199 Insoweit ist als Erstes festzustellen, dass, wie im Wesentlichen oben in den Rn. 135 bis 137 in Bezug auf die von der Kommission mit der dritten Rüge beanstandeten nationalen Bestimmungen dargelegt, der Wortlaut der von der ersten Rüge erfassten nationalen Bestimmungen entgegen dem Vorbringen der Republik Polen nicht den Schluss zulässt, dass sich die darin ausgesprochenen Verbote ausschließlich auf Rechtsprechungshandlungen beziehen, die eine Entscheidung über die Gültigkeit der Ernennung eines Richters zum Gegenstand haben.
200 Zum einen verbieten es die zuletzt genannten nationalen Bestimmungen nämlich nicht nur, die „Rechtmäßigkeit“ sowohl der „Ernennung“ selbst als auch der „sich daraus ergebenden Befugnis zur Wahrnehmung von Aufgaben im Bereich der Rechtsprechung“„fest[zu]stellen“, sondern auch, sie zu „beurteilen“. Zum anderen verbieten es diese Bestimmungen mit einer noch weiter gefassten Formulierung auch, dass die „Legitimität“ der „Gerichte“ und der „Verfassungsorgane des Staates und der Organe zur Kontrolle und zum Schutz des Rechts“„in Frage gestellt werden“.
201 Da diese Formulierungen relativ weit gefasst und ungenau sind, können sie offensichtlich dazu führen, dass eine große Bandbreite an Handlungen oder Verhaltensweisen der ordentlichen Gerichte, der Verwaltungsgerichte und des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) und ihrer Organe aufgrund ihres Inhalts oder ihrer Wirkungen von den aufgestellten Verboten erfasst sein können. Dies kann insbesondere dann der Fall sein, wenn die Gerichte im Einklang mit den ihnen obliegenden und oben in den Rn. 128 bis 131 genannten Verpflichtungen unter bestimmten Umständen prüfen müssen, ob sie selbst oder die Richter, die ihnen angehören, oder andere Richter oder Gerichte, die über das Unionsrecht betreffende Rechtssachen zu entscheiden haben oder entschieden haben, die Erfordernisse gemäß Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV und Art. 47 der Charta in Bezug auf Unabhängigkeit, Unparteilichkeit und vorherige Errichtung durch Gesetz erfüllen.
202 Als Zweites ist festzustellen, dass der vom polnischen Gesetzgeber verwendete Wortlaut, wie oben in Rn. 140 zu den von der Kommission mit der dritten Rüge beanstandeten nationalen Bestimmungen dargelegt, eng mit einer Reihe von Fragen verbunden ist, die verschiedene polnische Gerichte in Bezug auf die Vereinbarkeit mehrerer kürzlich vorgenommener, die Organisation der Justiz in Polen betreffender Gesetzesänderungen mit dem Unionsrecht und speziell mit den Anforderungen gemäß Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV und Art. 47 der Charta gestellt hatten.
203 Das Änderungsgesetz und die mit der ersten Rüge beanstandeten nationalen Bestimmungen wurden nämlich in großer Eile in dem oben in den Rn. 141 bis 145 beschriebenen Kontext erlassen, der u. a. gekennzeichnet ist durch Entwicklungen der jüngsten, aus dem Urteil A. K. u. a. hervorgegangenen Rechtsprechung zur Wahrung der Rechtsstaatlichkeit und speziell der Unabhängigkeit der Justiz in Polen sowie durch mehrere damals beim Gerichtshof anhängige Vorabentscheidungsersuchen, die ein ähnliches Problem betrafen.
204 Insoweit ist insbesondere den Rn. 134, 139 und 149 sowie dem Tenor des Urteils A. K. u. a. zu entnehmen, dass die Erkenntnisse aus diesem Urteil – ebenso wie die aus der oben in Rn. 143 angeführten nationalen Rechtsprechung, die im Licht des Urteils A. K. u. a. entwickelt wurde – die Vereinbarkeit der Befugnisse der Disziplinarkammer, u. a. angesichts der Modalitäten für die Ernennung der Mitglieder dieser Kammer und der fehlenden Unabhängigkeit sowohl der Disziplinarkammer als auch der am Ernennungsverfahren beteiligten KRS, mit dem Unionsrecht betreffen.
205 Insbesondere ging, wie oben in Rn. 141 dargelegt, aus dem Urteil A. K. u. a. eindeutig hervor, dass die nationalen Gerichte, die über entsprechende Rechtssachen zu befinden haben, nach dem Unionsrecht verpflichtet sein könnten, zum einen zu entscheiden, ob eine Einrichtung wie die Disziplinarkammer geeignet ist, über Rechtssachen zu entscheiden, die dem Unionsrecht unterliegen, und dabei die Umstände zu berücksichtigen, unter denen die Ernennung der Mitglieder der Disziplinarkammer erfolgte, und zum anderen die Unabhängigkeit der KRS zu prüfen und bei fehlender Unabhängigkeit über die Auswirkungen der Beteiligung dieser Einrichtung am Verfahren zur Ernennung von Richtern der Disziplinarkammer zu entscheiden.
206 Es war jedoch offensichtlich, dass die nationalen Gerichte, die im Rahmen ihrer Zuständigkeit Vorschriften des Unionsrechts anzuwenden haben, dadurch verpflichtet sein könnten, Handlungen vorzunehmen, die als geeignet angesehen werden könnten, die „Legitimität der [Gerichte]“, wie der Disziplinarkammer, oder der „Verfassungsorgane des Staates und der Organe … zum Schutz des Rechts“, wie der KRS, „in Frage [zu stellen]“, indem sie außerdem bei dieser Gelegenheit „Beurteilungen“ der „Rechtmäßigkeit“ der „Ernennung“ von Richtern der Disziplinarkammer und ihrer „Befugnis zur Wahrnehmung von Aufgaben im Bereich der Rechtsprechung“ im Sinne der von der Kommission mit der ersten Rüge beanstandeten nationalen Bestimmungen vornehmen.
207 Die oben in Rn. 144 erwähnten Vorlagefragen, mit denen der Gerichtshof zum Zeitpunkt des Erlasses der beanstandeten nationalen Bestimmungen befasst war, betrafen zum einen die etwaige Unvereinbarkeit neuer nationaler Vorschriften, auf deren Grundlage kurz zuvor Personen zu Richtern des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) ernannt worden waren, mit dem Unionsrecht und die möglichen Auswirkungen einer solchen Unvereinbarkeit auf die von den betreffenden Richtern vorgenommenen Rechtsprechungshandlungen. Zum anderen betrafen diese Vorlagefragen die etwaige Unvereinbarkeit nationaler Vorschriften, die den Erlass von Ministerentscheidungen zur Abordnung von Richtern an andere Gerichte als ihr Ursprungsgericht ermöglichten, mit Unionsrecht.
208 Je nach ihrem Inhalt konnten die damals vom Gerichtshof erwarteten Antworten auf diese Vorlagefragen die nationalen Gerichte dazu veranlassen, gegebenenfalls „Beurteilungen“ der „Rechtmäßigkeit“ der „Ernennung“ von Richtern des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) oder ihrer „Befugnis zur Wahrnehmung von Aufgaben im Bereich der Rechtsprechung“ abzugeben oder Handlungen vorzunehmen, die als Handlungen angesehen werden könnten, die die „Legitimität der [Gerichte]“, insbesondere der Gerichte, an die die Richter abgeordnet wurden, „in Frage [stellen]“.
209 Zudem ist den oben in den Rn. 146 und 148 genannten Urteilen zu entnehmen, dass die Antworten des Gerichtshofs auf die Vorlagefragen, deren Inhalt oben in Rn. 207 aufgeführt ist, die Gefahr bestätigt haben, dass Handlungen oder Beurteilungen, die den nationalen Gerichten unter bestimmten Umständen nach Art. 19 Abs. 1 EUV in Verbindung mit Art. 47 der Charta obliegen, in der Tat von den Verboten in den mit der ersten Rüge beanstandeten nationalen Bestimmungen erfasst werden.
210 Das oben in Rn. 175 erwähnte Vorbringen der Republik Polen kann die vorstehende Analyse nicht in Frage stellen. Aus dieser folgt nämlich nicht, dass jedes nationale Gericht befugt sein sollte, von Amts wegen oder auf Antrag eines Rechtsunterworfenen im Rahmen eines beliebigen Verfahrens die Ernennung eines Richters, sein Dienstverhältnis oder die Ausübung seiner richterlichen Entscheidungsbefugnis in Frage zu stellen, nachdem es gegebenenfalls den Gerichtshof um Auslegung im Wege der Vorabentscheidung ersucht hat.
211 Insoweit hat der Gerichtshof in seinem Urteil vom 22. März 2022, Prokurator Generalny u. a. (Disziplinarkammer des Obersten Gerichts – Ernennung) (C‑508/19, EU:C:2022:201, Rn. 70, 71 und 81 bis 83), ein Vorabentscheidungsersuchen, das im Rahmen einer Anfechtung der Gültigkeit der Ernennung eines Richters des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) vor dem vorlegenden Gericht erging, für unzulässig erklärt, nachdem er insbesondere festgestellt hatte, dass die mit dem Vorabentscheidungsersuchen vorgelegten Fragen ihrem Wesen nach ein anderes Verfahren als den Ausgangsrechtsstreit betrafen und eine Klage wie die im Ausgangsverfahren erhobene darauf gerichtet ist, eine Art Nichtigerklärung erga omnes der Ernennung des betreffenden Richters zum Richter an diesem Gericht zu erwirken, obwohl das nationale Recht es nicht sämtlichen Einzelnen gestattet – und nie gestattet hat –, die Ernennung von Richtern mit einer direkten Klage auf Nichtig- oder Ungültigerklärung einer solchen Ernennung anzufechten.
212 Als Drittes ist zum Vorbringen der Republik Polen, die anderen nationalen Vorschriften ließen eine Einhaltung der Erfordernisse von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV und Art. 47 der Charta zu, erstens festzustellen, dass sich in Bezug auf die oben in Rn. 179 genannten nationalen Bestimmungen über die Ablehnung von Richtern zum einen aus Art. 26 § 3 des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht ergibt, dass die Beurteilung der Rechtmäßigkeit der Ernennung eines Richters oder seiner Ermächtigung zur Wahrnehmung von Aufgaben im Bereich der Rechtsprechung im Rahmen eines Ablehnungsverfahrens nicht zulässig ist.
213 Wie zum anderen dem Wortlaut der nationalen Bestimmungen über die Ablehnung von Richtern, auf die sich die Republik Polen berufen hat und die sie auf Ersuchen des Gerichtshofs vorgelegt hat, zu entnehmen ist, scheint sich die Kontrolle, zu der diese nationalen Bestimmungen berechtigen, nur auf einen Teil der Anforderungen, die sich aus dem Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit ergeben, und speziell auf die mit dem internen Aspekt dieses Grundsatzes verbundenen Anforderungen zu beziehen, die sich mit dem Konzept der „Unabhängigkeit“ überschneiden und darauf gerichtet sind, dass die Richter den Parteien des Rechtsstreits und ihren jeweiligen Interessen am Streitgegenstand mit dem gleichen Abstand begegnen. Dagegen scheinen die nationalen Bestimmungen ihrem Wortlaut nach keine Kontrolle anderer Aspekte dieser Anforderungen zu erlauben, insbesondere derjenigen, die mit dem externen Aspekt des genannten Grundsatzes verbunden sind und sich u. a. auf den Schutz der betreffenden Einrichtung vor Interventionen oder Druck von außen oder auf das Erfordernis, dass die Einrichtung zuvor durch Gesetz errichtet wurde, beziehen.
214 In der mündlichen Verhandlung hat die Republik Polen hierzu im Übrigen erklärt, den jüngsten Urteilen des Trybunał Konstytucyjny (Verfassungsgerichtshof) zufolge seien nach diesen nationalen Bestimmungen u. a. keine Anträge oder Erklärungen zulässig, mit denen die Vorschriftswidrigkeit der Ernennung eines Richters oder ein anderer Umstand im Zusammenhang mit dem Verfahren zur Ernennung eines Richters gerügt werde.
215 Was zweitens die anderen nationalen Mechanismen betrifft, auf die sich die Republik Polen beruft und die ebenfalls oben in Rn. 179 genannt sind, d. h. diejenigen im Zusammenhang mit der Verweisung einer Rechtssache an das zuständige Gericht und der Kontrolle durch die Gerichte höherer Ordnung, ist festzustellen, dass, wie oben in den Rn. 200 und 201 dargelegt, die mit der ersten Rüge beanstandeten nationalen Bestimmungen weit und ungenau formuliert sind, so dass nicht ausgeschlossen werden kann, dass sie ebenfalls geeignet sind, diese Mechanismen zu lähmen.
216 Die in diesen nationalen Bestimmungen aufgestellten Verbote sind nämlich auch auf Gerichte anwendbar, vor denen sich die Frage stellt, ob die Rechtssache nach Art. 200 § 14 der Zivilprozessordnung an ein anderes Gericht verwiesen wird, und scheinen daher geeignet zu sein, die Gerichte an einer solchen Verweisung zu hindern, z. B. wenn dies unter den im Urteil A. K. u. a. genannten Bedingungen implizieren würde, dass die Vereinbarkeit mit den sich aus dem Unionsrecht ergebenden Anforderungen an die Unabhängigkeit und somit die Legitimität des Gerichts, das die betreffende Rechtssache normalerweise prüfen müsste, in Frage gestellt wird oder in diesem Kontext die Legitimität eines Verfassungsorgans wie der KRS in Frage gestellt wird.
217 Angesichts ihrer weiten und ungenauen Formulierung sind die beanstandeten nationalen Bestimmungen außerdem auch geeignet, ein Gericht höherer Ordnung, das mit der Prüfung der Entscheidung eines Gerichts niederer Ordnung befasst ist, daran zu hindern, die Rechtmäßigkeit der Ernennung eines Richters oder die sich aus der Ernennung ergebende Befugnis zur Wahrnehmung von Aufgaben im Bereich der Rechtsprechung zu beurteilen oder die Legitimität der Gerichte und Gerichtshöfe in Zweifel zu ziehen, und zwar sowohl bei Entscheidungen über die eigene Zusammensetzung oder Legitimität als zweitinstanzliches Gericht als auch bei entsprechenden Entscheidungen in Bezug auf das Gericht niederer Ordnung.
218 Als Viertes ist das oben in Rn. 181 aufgeführte Vorbringen der Republik Polen, wonach zwischen der ersten und der zweiten Rüge ein Widerspruch bestehen soll, ebenfalls zurückzuweisen. Insoweit genügt nämlich der Hinweis, dass mit der zweiten Rüge beanstandet wird, dass die Prüfung bestimmter Fragen der ausschließlichen Zuständigkeit der Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten unterliegt, während die erste Rüge die Vereinbarkeit von Vorschriften, die bestimmte Verbote aufstellen, die für ordentliche Gerichte, Verwaltungsgerichte und den Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht), einschließlich der Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten, gelten, mit dem Unionsrecht betrifft.
219 Aus den vorstehenden Erwägungen ergibt sich, dass die oben in Rn. 198 genannten nationalen Bestimmungen gegen Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV in Verbindung mit Art. 47 der Charta verstoßen.
220 Sodann ist, was Art. 55 § 4 des geänderten Gesetzes über die ordentliche Gerichtsbarkeit und Art. 8 des Änderungsgesetzes betrifft, wonach Art. 55 § 4 auf Sachen anwendbar ist, die vor dem Inkrafttreten des Änderungsgesetzes eingeleitet oder abgeschlossen wurden, insbesondere dem Wortlaut von Art. 55 § 4 Satz 2 zu entnehmen, dass „[d]ie Vorschriften über die Zuweisung von Sachen sowie über die Bestimmung und Änderung der Spruchkörper … keine Grundlage für die Feststellung sein [können], … dass ein Gericht nicht ordnungsgemäß besetzt ist oder dass eine Person an der Entscheidung beteiligt war, die dazu nicht befugt oder zuständig ist“.
221 Ebenso wie die oben in den Rn. 133 und 198 genannten nationalen Bestimmungen wurde auch Art. 55 § 4 des geänderten Gesetzes über die ordentliche Gerichtsbarkeit erst vor sehr kurzer Zeit in dem speziellen Kontext, der oben in den Rn. 140 bis 145 beschrieben ist, durch das Änderungsgesetz in die polnische Rechtsordnung aufgenommen.
222 Insoweit ist konkret darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof zu dem Zeitpunkt, als diese nationale Bestimmung erlassen wurde, u. a. in den verbundenen Rechtssachen, in denen zwischenzeitlich das Urteil vom 16. November 2021, Prokuratura Rejonowa w Mińsku Mazowieckim u. a. (C‑748/19 bis C‑754/19, EU:C:2021:931), ergangen ist, mit den Vorabentscheidungsersuchen befasst war, die im dritten Gedankenstrich der Rn. 144 des vorliegenden Urteils genannt sind.
223 In jenem Urteil hat der Gerichtshof festgestellt, dass Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV dahin auszulegen ist, dass er innerstaatlichen Rechtsvorschriften entgegensteht, nach denen der Justizminister eines Mitgliedstaats einen Richter nach Kriterien, die nicht bekannt gegeben werden, auf bestimmte oder unbestimmte Dauer an ein Strafgericht höherer Ordnung abordnen und die Abordnung unabhängig davon, ob sie auf bestimmte oder unbestimmte Dauer erfolgt ist, jederzeit ohne Angabe von Gründen beenden kann.
224 Darüber hinaus war der Gerichtshof bei Erlass von Art. 55 § 4 des geänderten Gesetzes über die ordentliche Gerichtsbarkeit in der Rechtssache C‑791/19 auch mit einer Vertragsverletzungsklage befasst, die die Kommission gegen die Republik Polen erhoben hatte und mit der u. a. die Feststellung begehrt wurde, dass die Republik Polen dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV verstoßen hatte, dass sie dem Präsidenten der Disziplinarkammer das Recht eingeräumt hatte, in Richter der ordentlichen Gerichtsbarkeit betreffenden Sachen das zuständige Disziplinargericht erster Instanz nach seinem Ermessen zu bestimmen.
225 In dem zwischenzeitlich ergangenen Urteil vom 15. Juli 2021, Kommission/Polen (Disziplinarordnung für Richter) (C‑791/19, EU:C:2021:596), hat der Gerichtshof in den Rn. 164 bis 177 dieser Rüge stattgegeben und festgestellt, dass die Republik Polen dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV verstoßen hatte, dass sie dem Präsidenten der Disziplinarkammer ein solches Ermessen eingeräumt und somit nicht gewährleistet hatte, dass Disziplinarsachen von einem „durch Gesetz errichteten“ Gericht entschieden werden.
226 Insofern ist offensichtlich, dass sich die nationalen Gerichte, wenn sie die Konsequenzen aus den oben in den Rn. 222 und 225 genannten Urteilen des Gerichtshofs zu ziehen haben, veranlasst sehen können, nationale Bestimmungen wie die in jenen Urteilen in Rede stehenden, die die „Bestimmung“ oder „Änderung der Spruchkörper“ betreffen, zu prüfen oder sie als „Grundlage“ heranzuziehen, um in einem konkreten Fall festzustellen, dass ein nationales Gericht aufgrund der Anwendung dieser nationalen Bestimmungen und ihrer Unvereinbarkeit mit dem Unionsrecht „nicht ordnungsgemäß besetzt ist“ oder „eine Person an der Entscheidung beteiligt war, die dazu nicht befugt oder zuständig ist“. Dadurch wäre das Vorgehen der betreffenden nationalen Gerichte von den Verboten erfasst, die in Art. 55 § 4 des geänderten Gesetzes über die ordentliche Gerichtsbarkeit aufgeführt sind. Diese Verbote sind im Übrigen von allgemeinerer Geltung, ungeachtet etwaiger Einwände Einzelner, mit denen geltend gemacht wird, dass die nationalen Bestimmungen über die Zuweisung von Sachen oder die Bestimmung oder Änderung von Spruchkörpern oder die Anwendung dieser Bestimmungen mit den unionsrechtlichen Anforderungen an das Recht auf ein unabhängiges, unparteiisches und zuvor durch Gesetz errichtetes Gericht unvereinbar seien.
227 Nach alledem ist festzustellen, dass Art. 55 § 4 des geänderten Gesetzes über die ordentliche Gerichtsbarkeit und folglich Art. 8 des Änderungsgesetzes ebenfalls gegen Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV und Art. 47 der Charta verstoßen.
228 Was den beanstandeten Verstoß gegen den Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts betrifft, so verpflichtet dieser Grundsatz ein nationales Gericht, das im Rahmen seiner Zuständigkeit die Bestimmungen des Unionsrechts anzuwenden hat, für die volle Wirksamkeit der Anforderungen des Unionsrechts in dem bei ihm anhängigen Rechtsstreit Sorge zu tragen. Insbesondere muss es jede – auch spätere – nationale Regelung oder Praxis, die einer Bestimmung des Unionsrechts mit unmittelbarer Wirkung entgegensteht, aus eigener Entscheidungsbefugnis unangewendet lassen, ohne dass es die vorherige Beseitigung dieser nationalen Regelung oder Praxis auf gesetzgeberischem Weg oder durch irgendein anderes verfassungsrechtliches Verfahren beantragen oder abwarten müsste (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 9. März 1978, Simmenthal, 106/77, EU:C:1978:49, Rn. 24, sowie vom 22. Februar 2022, RS [Wirkung der Urteile eines Verfassungsgerichts], C‑430/21, EU:C:2022:99, Rn. 53 und die dort angeführte Rechtsprechung).
229 Nach ständiger Rechtsprechung kommt Art. 47 der Charta eine solche unmittelbare Wirkung zu (vgl. u. a. Urteil vom 29. Juli 2019, Torubarov, C‑556/17, EU:C:2019:626, Rn. 56 und die dort angeführte Rechtsprechung), und dies gilt auch, wie oben in Rn. 78 dargelegt, für Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV.
230 Somit sind die oben in den Rn. 198 und 220 genannten nationalen Bestimmungen dadurch, dass sie aufgrund der in ihnen aufgestellten Verbote geeignet sind, zu verhindern, dass die betreffenden polnischen Gerichte bestimmte Vorschriften unangewendet lassen, die als unvereinbar mit unionsrechtlichen Bestimmungen mit unmittelbarer Wirkung angesehen werden, auch geeignet, gegen den Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts zu verstoßen.
231 Nach alledem ist der ersten Rüge stattzugeben, soweit mit ihr Verstöße gegen Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV in Verbindung mit Art. 47 der Charta sowie gegen den Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts geltend gemacht werden.
Zur zweiten Rüge
Vorbringen der Parteien
232 Mit ihrer zweiten Rüge, die als Viertes zu prüfen ist, vertritt die Kommission im Wesentlichen die Auffassung, dass Fragen zur Unabhängigkeit eines Gerichts oder Richters „Querschnittsfragen“ seien, die jedes nationale Gericht, das mit einer Sache mit unionsrechtlichem Bezug befasst sei, einschließlich in limine litis und in erster Instanz, im Hinblick auf Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV und Art. 47 der Charta prüfen müsse und zu denen es den Gerichtshof um eine Vorabentscheidung nach Art. 267 AEUV ersuchen können müsse, um später erforderlichenfalls im Einklang mit dem Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts alle nationalen Bestimmungen unangewendet zu lassen, die mit diesen unionsrechtlichen Bestimmungen in der Auslegung durch den Gerichtshof unvereinbar seien. Diese Fragen seien keine besonderen Rechtsfragen eines speziellen Rechtsgebiets, das der ausschließlichen Zuständigkeit eines angeblich spezialisierten Gerichts unterliegen könne.
233 Die Republik Polen habe dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus diesen unionsrechtlichen Bestimmungen und dem Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts verstoßen, dass sie erstens der Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten gemäß Art. 26 § 2 des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht eine ausschließliche Zuständigkeit für die Entscheidung über Fragen zur Ablehnung von Richtern und zur Bestimmung des zuständigen Gerichts für die Entscheidung einer Rechtssache, in der die fehlende Unabhängigkeit eines Gerichts oder Richters gerügt werde, übertragen habe und das mit einer Rechtssache betreffend diese Fragen befasste Gericht verpflichtet habe, die Fragen an diese Kammer zu verweisen, obwohl sie nicht für die Entscheidung in der Hauptsache zuständig sei.
234 Der polnische Gesetzgeber habe dadurch außerdem die mit einem Rechtsstreit befassten nationalen Gerichte daran hindern wollen, zu prüfen, gegebenenfalls durch Befragung des Gerichtshofs, ob das Justizorgan, das über den Rechtsstreit zu entscheiden habe, den unionsrechtlichen Anforderungen an die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit genüge, und in Ermangelung einer solchen Unabhängigkeit und Unparteilichkeit ihrer vom Gerichtshof im Urteil A. K. u. a. hervorgehobenen Verpflichtung nachzukommen, die nationale Bestimmung unangewendet zu lassen, die die Zuständigkeit für die Entscheidung eines solchen Rechtsstreits diesem Justizorgan vorbehalte. Mit der insoweit beanstandeten nationalen Bestimmung werde zudem das Ziel verfolgt, die nationalen Gerichte daran zu hindern, aus eigener Initiative oder auf Antrag einer Verfahrenspartei zu prüfen, ob ein Richter, der diesen Anforderungen nicht genüge, abgelehnt werden müsse, oder den Gerichtshof hierzu zu befragen.
235 Zweitens verstoße auch Art. 82 §§ 2 bis 5 des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht gegen die oben in Rn. 232 genannten Bestimmungen und den Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts. Da nämlich zum einen die Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten für die Entscheidung über Rechtsfragen in beim Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) anhängigen Sachen, die die Unabhängigkeit eines Richters oder eines Gerichts beträfen, ausschließlich zuständig sei, zum anderen diese Kammer beim Erlass eines entsprechenden Beschlusses an keine andere Entscheidung des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) gebunden sei und schließlich die Beschlüsse dieser Kammer für alle anderen Spruchkörper des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) verbindlich seien, würden die Spruchkörper der anderen Kammern des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) durch die nationalen Bestimmungen daran gehindert, über diese Rechtsfragen zu entscheiden und den Gerichtshof hierzu zu befragen.
236 Drittens würden diese Bestimmungen und der Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts durch Art. 26 §§ 4 bis 6 des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht verletzt, wonach die Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten für Klagen betreffend die Feststellung der Rechtswidrigkeit rechtskräftiger Entscheidungen aller polnischen Gerichte, sowohl der ordentlichen Gerichtsbarkeit als auch der Verwaltungsgerichtsbarkeit, einschließlich der anderen Kammern des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht), ausschließlich zuständig sei, wenn die Rechtswidrigkeit darin bestehe, dass der Status der zur Ausübung des Richteramts berufenen Person, die in der Sache entschieden habe, in Frage gestellt werde, wobei solche Klagen unabhängig davon erhoben werden könnten, ob die betreffende Partei alle anderen verfügbaren Rechtsbehelfe ausgeschöpft habe. Die nationalen Bestimmungen verhinderten nämlich, dass die anderen Kammern des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) über diese Fragen entschieden und dem Gerichtshof hierzu etwaige Fragen zur Vorabentscheidung vorlegten.
237 Viertens würden die oben in Rn. 232 genannten Bestimmungen und der Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts außerdem durch die Übergangsbestimmungen von Art. 10 des Änderungsgesetzes verletzt, wonach erstens die polnischen Gerichte, einschließlich der anderen Kammern des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht), die Rechtssachen, die am 14. Februar 2020 anhängig seien und Fragen beträfen, die nunmehr in die ausschließliche Zuständigkeit der Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten fielen, bis zum 21. Februar 2020 an diese Kammer zu verweisen hätten, zweitens die Kammer in diesem Fall die zuvor von dem nicht mehr zuständigen Gericht vorgenommenen Handlungen aufheben könne, was auch ein etwaiges Vorabentscheidungsersuchen an den Gerichtshof umfassen könne, und drittens Handlungen, die in diesen Rechtssachen nach dem 14. Februar 2020 vorgenommen würden, wie ein etwaiges Vorabentscheidungsersuchen, unwirksam seien.
238 Zur Verteidigung trägt die Republik Polen als Erstes vor, die Kommission lege das Urteil A. K. u. a. falsch aus. Aus diesem Urteil ergebe sich nämlich nur, dass, wenn eine Partei geltend mache, dass die Prüfung ihrer Sache durch das normalerweise zuständige Gericht zu einem Verstoß gegen Art. 47 der Charta führe, das mit der Sache befasste Gericht über diesen Einwand entscheiden könne und, falls er begründet sei, die Sache an ein anderes Gericht verweisen könne, das die erforderliche Gewähr für Unabhängigkeit biete und nach dem Gesetz zuständig wäre, wenn es keine Bestimmungen gäbe, die die Zuständigkeit dem Gericht vorbehielten, das eine solche Gewähr nicht biete.
239 Dagegen lasse sich dem Urteil A. K. u. a. nicht entnehmen, dass alle nationalen Gerichte befugt seien, über diese Art von Rechtssachen zu entscheiden. Überdies missachte die Kommission mit ihrem Vorbringen die Anforderung in Bezug auf ein zuvor durch Gesetz errichtetes Gericht, die es ausschließe, dass die Bestimmung des zuständigen Gerichts dem Ermessen der Justizorgane anheimgestellt werde. Im Urteil A. K. u. a. habe der Gerichtshof insoweit den betreffenden vorlegenden Gerichten nicht die Befugnis eingeräumt, Handlungen ohne Rechtsgrundlage vorzunehmen, sondern sie ermächtigt, die betreffenden Rechtssachen gemäß Art. 200 § 14 der Zivilprozessordnung an ein anderes Gericht zu verweisen, dessen Zuständigkeit auf einem Rechtsakt des Parlaments beruhe. Die einzige Verpflichtung, die den Mitgliedstaaten insoweit obliege, bestehe gemäß Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV darin, dass Rechtssachen, die eine Verbindung zum Unionsrecht aufwiesen, vor Gerichte zu bringen seien, die die nach dieser Vorschrift erforderliche Gewähr bieten könnten.
240 Außerdem stehe der vom Urteil A. K. u. a. erfasste Fall in keinem Zusammenhang mit den beanstandeten nationalen Bestimmungen, da sich diese auf die Stellung eines Gerichts bezögen, das mit einem Ablehnungsantrag, einer Rechtsfrage zur Unabhängigkeit eines Gerichts oder Zweifeln an der Rechtmäßigkeit eines rechtskräftigen Urteils befasst sei.
241 Was als Zweites konkret den Inhalt der beanstandeten nationalen Bestimmungen betrifft, macht die Republik Polen erstens zu Art. 26 § 2 des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht geltend, die Prüfung eines Ablehnungsantrags sei nach polnischem Recht nie in die Zuständigkeit des betreffenden Richters oder Gerichts gefallen, sondern habe bislang entweder von einem anderen Spruchkörper des gleichen Gerichts oder von einem Gericht höherer Ordnung vorgenommen werden müssen. Folglich entziehe diese nationale Bestimmung den Richtern oder Gerichten, vor denen eine solche inzidente Frage aufgeworfen werde, keine von ihnen bislang ausgeübte Zuständigkeit. Sie sehe lediglich vor, dass, wenn die zur Begründung der Ablehnung bestimmter Richter vorgetragenen Rügen deren Unabhängigkeit beträfen, diese Frage nunmehr an die Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten zu verweisen sei. Jedoch stehe es den Mitgliedstaaten weiterhin frei, das für die entsprechenden Rechtssachen zuständige Gericht zu bestimmen, und das Unionsrecht verlange lediglich, dass das für solche Rechtssachen zuständige Gericht die nach Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV erforderliche Gewähr biete.
242 Was zweitens Art. 26 §§ 4 bis 6 des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht betreffe, handle es sich bei der Feststellung der Rechtswidrigkeit eines rechtskräftigen Urteils nicht um eine „inzidente“ Frage, die in limine litis im Rahmen eines anderen Verfahrens geprüft werden könne. Vielmehr setze diese Feststellung die Erhebung eines außerordentlichen Rechtsbehelfs voraus, der per definitionem nur im Fall der Verkündung eines rechtskräftigen Urteils eingelegt werden könne, und zwar bei dem gesetzlich zuständigen Gericht, das sich zwangsläufig von dem Gericht unterscheiden müsse, das dieses Urteil erlassen habe. Zudem verstärkten die nationalen Bestimmungen die den Parteien zugutekommenden Verfahrensgarantien, da sie vorsähen, dass eine bestimmte Art von Rechtsbehelf vom Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) in einer Kammer geprüft werde, die auf Fragen zur Unabhängigkeit der Justiz spezialisiert sei.
243 Drittens macht die Republik Polen zu Art. 82 §§ 2 bis 5 des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht geltend, dass nach Art. 1 Nr. 1 Buchst. a dieses Gesetzes der Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) zuständig sei für den Erlass von Beschlüssen zu Rechtsfragen in Bezug auf alle Sachen, die in seine Zuständigkeit fielen. Insoweit beruhe die zweite Rüge ausschließlich auf dem angeblichen Erfordernis, dass solche Rechtsfragen, wenn sie die Unabhängigkeit der Justiz beträfen, von den Gerichten zu entscheiden seien, vor denen diese Fragen aufgeworfen würden. Das Bestehen eines solchen Erfordernisses habe die Kommission jedoch in keiner Weise belegt. Im Übrigen bestehe das Ziel des Verfahrens im Zusammenhang mit der Entscheidung einer Rechtsfrage gerade darin, bei Vorliegen einer komplexen Fragestellung, die Anlass zu unterschiedlichen Auslegungen geben könne, einem Gericht, dem die betreffende Frage gestellt werde, zu ermöglichen, die Frage einem spezialisierten Spruchkörper höherer Ordnung vorzulegen, um die benötigten Hinweise zu erhalten und im Interesse der Rechtssicherheit erhebliche und anhaltende Divergenzen in der Rechtsprechung zu vermeiden. Außerdem verpflichte dieser Mechanismus die betreffenden Gerichte nicht, eine Entscheidung zu einer Rechtsfrage zu beantragen, sondern räume ihnen die entsprechende Möglichkeit ein, und eine solche Entscheidung betreffe ausschließlich die Auslegung und nicht die Anwendung des Rechts, da die Rechtsanwendung weiterhin in die Zuständigkeit des Gerichts falle, bei dem der betreffende Rechtsstreit anhängig sei.
244 Viertens seien die Übergangsbestimmungen in Art. 10 des Änderungsgesetzes nicht mehr in Kraft, und sie hätten es jedenfalls nur erlaubt, im Einklang mit dem Anspruch auf ein zuvor durch Gesetz errichtetes Gericht sicherzustellen, dass die nicht mehr zuständigen Gerichte die betreffenden Rechtssachen an das nunmehr zuständige Gericht übertrügen.
245 Als Drittes vertritt die Republik Polen die Auffassung, dass die beanstandeten nationalen Bestimmungen die Befugnis der polnischen Gerichte, den Gerichtshof um Vorabentscheidung zu ersuchen, nicht beschränkten, soweit sie im Rahmen ihrer territorialen und sachlichen Zuständigkeit handelten. Darüber hinaus sei die Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten, da sie in letzter Instanz entscheide, dazu verpflichtet, dem Gerichtshof immer dann, wenn sie Zweifel in Bezug auf die Auslegung von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV hege, ein Vorabentscheidungsersuchen vorzulegen, was in der Praxis zu einem Ansteigen der Fälle führe, in denen die Verpflichtung bestehen könne, den Gerichtshof um Vorabentscheidung zu ersuchen, und somit die Wirksamkeit der Ausübung der Rechte aus Art. 47 der Charta erhöhe.
246 Zudem ermächtigten die Übergangsbestimmungen in Art. 10 des Änderungsgesetzes die Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten nicht, ein Vorabentscheidungsersuchen zurückzuziehen. Vielmehr sei die Kammer im Fall von Zweifeln hinsichtlich der Auslegung von Unionsrecht verpflichtet, die zuvor vorgelegten Fragen zu bestätigen oder selbst Fragen vorzulegen. Des Weiteren ließen die Übergangsbestimmungen die Aufhebung früherer Handlungen nur zu, wenn diese verhinderten, dass die betreffende Rechtssache „im Einklang mit dem Gesetz“ geprüft werde, was bei einem Vorabentscheidungsersuchen per definitionem nicht der Fall sein könne. Ebenso wenig untersagten die Übergangsbestimmungen es den nationalen Gerichten, die zur Verweisung der bei ihnen anhängigen Rechtssachen verpflichtet seien, Vorlagefragen zu stellen, wie im Übrigen zahlreiche Vorlagefragen zum Erfordernis der richterlichen Unabhängigkeit belegten, die dem Gerichtshof in letzter Zeit unterbreitet worden seien.
247 Als Viertes habe die Kommission die zweite Rüge in Bezug auf einen Verstoß gegen den Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts nicht untermauert, und die beanstandeten nationalen Bestimmungen beträfen keine Normenkonflikte, in deren Kontext dieser Grundsatz Anwendung finden müsse.
248 In ihrer Erwiderung trägt die Kommission vor, mit der zweiten Rüge werde im Wesentlichen beanstandet, dass die ausschließliche Zuständigkeit für die Prüfung der Einhaltung der in Rede stehenden unionsrechtlichen Anforderungen den bisher zuständigen verschiedenen nationalen Gerichten oder Kammern des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) entzogen und ohne besondere, berechtigte Gründe auf eine neue gerichtliche Kammer übertragen werde, die nicht als spezialisiertes Gericht angesehen werden könne. Zum einen gehörten der neuen gerichtlichen Kammer nämlich nur 20 der 10000 Richter der Republik Polen an, so dass das Recht des Einzelnen auf gerichtlichen Schutz und die Wirksamkeit des Unionsrechts erheblich geschwächt seien, während nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs alle nationalen Gerichte die unionsrechtlichen Vorschriften zur richterlichen Unabhängigkeit so weit wie möglich anwenden müssten. Zum anderen stelle sich, da alle Mitglieder der Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten auf Vorschlag der KRS in deren neuer Zusammensetzung ernannt worden seien, d. h. unter Umständen, die sehr häufig genau diejenigen seien, die mit Ablehnungsanträgen wegen fehlender richterlicher Unabhängigkeit geltend gemacht würden, die Frage der unparteiischen Würdigung solcher Fragen durch diese Kammer.
249 Zu Art. 267 AEUV macht die Kommission geltend, angesichts insbesondere der Justizreformen, die zum Erlass der beanstandeten nationalen Bestimmungen geführt hätten, und der wiederholten Maßnahmen, die die polnischen Behörden ergriffen hätten, um das reibungslose Funktionieren des in diesem Artikel vorgesehenen Vorabentscheidungsmechanismus zu verhindern, sei offensichtlich, dass die nationalen Bestimmungen den nationalen Gerichten, die bislang für die Prüfung der in jeder Rechtssache potenziell relevanten „Querschnittsfrage“ der richterlichen Unabhängigkeit zuständig gewesen seien, auf künstliche Weise die sachliche Zuständigkeit entzogen hätten, und zwar um die nationalen Gerichte unter Verstoß gegen Art. 267 AEUV in Verbindung mit Art. 4 Abs. 3 Unterabs. 3 EUV der Möglichkeit zu berauben, dem Gerichtshof in diesem Bereich Fragen vorzulegen.
250 Außerdem verstießen nationale Vorschriften, die, wie vorliegend, zur Folge hätten, dass ein nationaler Richter davon absehe, dem Gerichtshof Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen, gegen die Befugnisse der nationalen Gerichte aus Art. 267 AEUV. Das Vorbringen, wonach die praktische Wirksamkeit dieses Artikels durch die Übertragung der sachlichen Zuständigkeit auf ein Gericht, gegen dessen Entscheidungen kein Rechtsbehelf eingelegt werden könne, verstärkt werde, verkenne die Systematik dieser Vorschrift, die nämlich vorsehe, dass Gerichte niederer Ordnung die Möglichkeit hätten, den Gerichtshof zu befragen.
251 Was den Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts betreffe, habe die Kommission sowohl in der mit Gründen versehenen Stellungnahme als auch in der Klageschrift hervorgehoben, dass die ausschließliche Zuständigkeit der Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten in den drei betreffenden Kategorien von Rechtssachen die polnischen Gerichte daran hindere, die nationalen Bestimmungen unangewendet zu lassen, auf deren Grundlage die Zuständigkeit für Entscheidungen in unter das Unionsrecht fallenden Rechtssachen Gerichten und Richtern übertragen werde, die den unionsrechtlichen Anforderungen an die richterliche Unabhängigkeit nicht genügten.
252 In ihrer Gegenerwiderung macht die Republik Polen geltend, die Kommission erhebe in ihrer Erwiderung „neue Rügen“, wenn sie beanstande, dass die Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten, die seit 2018 existiere und bei der die Bedingungen für die Ernennung ihrer Mitglieder gut bekannt seien, nicht unabhängig und unparteiisch sei. Da sich diese Rügen jedoch nicht auf Umstände bezögen, die nach der Einleitung des Verfahrens zutage getreten seien, und die Ausführungen der Kommission zur angeblich fehlenden Unabhängigkeit und Unparteilichkeit nur der Stützung der vierten Rüge dienten, die sich ausschließlich auf die Disziplinarkammer beziehe, seien die genannten Rügen verspätet und gemäß Art. 127 Abs. 1 der Verfahrensordnung zurückzuweisen.
253 Jedenfalls seien die „neuen Rügen“ unbegründet. Der bloße Umstand, dass die Richter der Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten ebenso wie alle anderen polnischen Richter unter Einbindung einer Einrichtung wie der KRS ernannt würden, sei nämlich nicht geeignet, eine Abhängigkeit dieser Richter von der Politik zu schaffen. Außerdem bringe die Rechtsprechung dieser Kammer ihre Unabhängigkeit und Unparteilichkeit in vollem Maße zum Ausdruck.
254 Zudem verkenne die Kommission die Tragweite von Art. 26 §§ 4 bis 6 des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht, wenn sie behaupte, dass diese nationale Vorschrift den anderen Kammern des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) die Zuständigkeit für Klagen betreffend die Feststellung der Rechtswidrigkeit einer rechtskräftigen Entscheidung entziehe, wenn die Rechtswidrigkeit darin bestehe, dass der Status der zur Ausübung des Richteramts berufenen Person in Frage gestellt werde. Die Zuständigkeit dieser verschiedenen Kammern des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) sei nämlich in den Art. 23 bis 25 des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht festgelegt, wonach die Zuständigkeit für Zivilsachen der Zivilkammer, die Zuständigkeit für Strafsachen der Strafkammer und die Zuständigkeit für u. a. arbeits- und sozialversicherungsrechtliche Sachen der Kammer für Arbeits- und Sozialversicherungssachen vorbehalten sei. Die genannten sachlichen Zuständigkeiten stünden jedoch in keinem Zusammenhang mit Rechtssachen, in denen das Bestehen des Amts eines Richters in Frage gestellt werde, da diese Frage der ausschließlichen Zuständigkeit der Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten unterliege.
255 Jedenfalls habe die Kommission nicht nachgewiesen, dass Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV dazu verpflichte, sicherzustellen, dass Klagen auf Feststellung der Rechtswidrigkeit einer rechtskräftigen Entscheidung von allen Kammern des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) geprüft würden, oder dass das Unionsrecht auf der Grundlage der früheren nationalen Bestimmungen wirksam angewandt worden sei und dies nun aufgrund der beanstandeten nationalen Bestimmungen nicht mehr der Fall sei.
256 Was Art. 82 §§ 2 bis 5 des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht betreffe, sei das Vorbringen der Kommission, bei der Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten handle es sich nicht um ein spezialisiertes Gericht, willkürlich, da sich diese Kammer aus erfahrenen Juristen zusammensetze, die mindestens über einen postdoktoralen Abschluss in Rechtswissenschaften verfügten.
257 Schließlich würden weder sachlich zuständige noch unzuständige Gerichte durch die beanstandeten nationalen Bestimmungen daran gehindert, den Gerichtshof mit Vorlagefragen zu befassen, und die Kommission habe auch nicht dargelegt, inwiefern die nationalen Bestimmungen die nationalen Richter davon abhielten, Vorlagefragen zu stellen, oder sie zu einer Rücknahme solcher Fragen veranlassen könnten.
Würdigung durch den Gerichtshof
– Zur Zulässigkeit
258 Ergänzend zu den oben in den Rn. 188 bis 190 genannten Grundsätzen ist es auch ständige Rechtsprechung, dass das von der Kommission im Rahmen eines nach Art. 258 AEUV eingeleiteten Verfahrens an den betreffenden Mitgliedstaat gerichtete Mahnschreiben sowie ihre anschließende mit Gründen versehene Stellungnahme den Streitgegenstand abgrenzen, so dass dieser nicht mehr erweitert werden kann. Denn die Möglichkeit zur Äußerung stellt für diesen Mitgliedstaat auch dann, wenn er meint, davon nicht Gebrauch machen zu sollen, eine vom AEU-Vertrag gewollte wesentliche Garantie dar, deren Beachtung ein substanzielles Formerfordernis für den ordnungsgemäßen Ablauf des Verfahrens auf Feststellung der Vertragsverletzung eines Mitgliedstaats ist. Die mit Gründen versehene Stellungnahme und die Klage der Kommission müssen daher auf dieselben Rügen gestützt werden wie das Mahnschreiben, mit dem das Vorverfahren eingeleitet wird (Urteil vom 22. September 2016, Kommission/Tschechische Republik, C‑525/14, EU:C:2016:714, Rn. 17 und die dort angeführte Rechtsprechung).
259 Das Vorverfahren soll nämlich dem betreffenden Mitgliedstaat Gelegenheit geben, seinen unionsrechtlichen Verpflichtungen nachzukommen und sich gegen die Rügen der Kommission wirksam zu verteidigen. Der ordnungsgemäße Ablauf dieses Verfahrens ist eine vom AEU-Vertrag vorgeschriebene wesentliche Garantie, nicht nur für den Schutz der Rechte des betreffenden Mitgliedstaats, sondern auch dafür, dass ein etwaiges streitiges Verfahren einen eindeutig festgelegten Streitgegenstand hat (Urteil vom 8. März 2022, Kommission/Vereinigtes Königreich [Bekämpfung von Betrug durch Unterbewertung], C‑213/19, EU:C:2022:167, Rn. 131 und die dort angeführte Rechtsprechung).
260 Wie die Republik Polen jedoch zu Recht geltend macht, hat die Kommission im vorliegenden Fall weder im Vorverfahren noch in der Klageschrift vorgetragen, dass die von ihr mit der zweiten Rüge beanstandeten nationalen Bestimmungen aufgrund der Zusammensetzung der Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten, der diese nationalen Bestimmungen eine ausschließliche Zuständigkeit übertragen, und insbesondere aufgrund einer möglicherweise fehlenden Unparteilichkeit, die die Kammer bei der Ausübung dieser Zuständigkeit angesichts der Modalitäten für die Ernennung ihrer Mitglieder beeinträchtigen könnte, gegen Unionsrecht verstießen, obwohl der Kommission die Zusammensetzung und die Modalitäten für die Ernennung bekannt waren.
261 Da die Kommission diese Erwägungen erst in der Erwiderung vorbringt, beruft sie sich insoweit auf neue Argumente, die geeignet sind, die Tragweite der zweiten Rüge, wie sie bis dahin formuliert war, wesentlich zu verändern.
262 Da diese Argumente somit verspätet und unter Verstoß gegen die oben in den Rn. 258 und 259 genannten Anforderungen vorgebracht wurden, sind sie unzulässig und folglich zurückzuweisen.
– Zur Begründetheit
263 Als Erstes ist festzustellen, dass nach den oben in den Rn. 63 bis 74 genannten Grundsätzen die Verteilung oder Neuorganisation der gerichtlichen Zuständigkeiten in einem Mitgliedstaat zwar grundsätzlich unter die den Mitgliedstaaten durch Art. 4 Abs. 2 EUV garantierte Freiheit fällt (vgl. entsprechend Urteil vom 21. Dezember 2016, Remondis, C‑51/15, EU:C:2016:985, Rn. 47), doch gilt dies nur unter dem Vorbehalt, dass die Verteilung oder Neuorganisation die Einhaltung des in Art. 2 EUV verankerten Wertes der Rechtsstaatlichkeit und die sich insoweit aus Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV ergebenden Anforderungen nicht beeinträchtigt, darunter das Erfordernis, dass die Gerichte, die Unionsrecht auszulegen und anzuwenden haben, unabhängig und unparteiisch sind und zuvor durch Gesetz errichtet wurden.
264 Als Zweites ist darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof zwar wiederholt anerkannt hat, dass ein Mitgliedstaat bei der Ausübung seiner Befugnis in Bezug auf die Verteilung der gerichtlichen Zuständigkeiten in seinem Hoheitsgebiet unter bestimmten Umständen veranlasst sein kann, einer einzigen Stelle oder mehreren dezentralisierten Stellen die ausschließliche Zuständigkeit für die Entscheidung bestimmter, unter das Unionsrecht fallender Sachfragen zu übertragen.
265 Der Gerichtshof hat insoweit u. a. festgestellt, dass der Umstand, dass eine bestimmte materielle Streitigkeit der ausschließlichen Zuständigkeit eines einzigen Gerichts unterliegt, gegebenenfalls dazu führen kann, dass dieses Gericht eine besondere Fachkompetenz erwirbt und die durchschnittliche Verfahrensdauer auf diese Weise begrenzt wird oder eine einheitliche Praxis im gesamten Staatsgebiet gewährleistet wird und somit zur Rechtssicherheit beigetragen wird (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 27. Juni 2013, Agrokonsulting‑04, C‑93/12, EU:C:2013:432, Rn. 56). Ferner hat der Gerichtshof darauf hingewiesen, dass die Bestimmung überörtlicher Gerichte, von denen es weniger gibt als von den örtlichen Gerichten und die gegenüber diesen höherrangig sind und über mehr einschlägige Fachkompetenz verfügen, geeignet sein kann, eine homogenere Rechtsprechung mit einer Spezialisierung auf das betreffende Gebiet des materiellen Unionsrechts und einen wirksameren Schutz der mit diesem Rechtsgebiet verbundenen Rechte der Einzelnen zu begünstigen (Urteil vom 12. Februar 2015, Baczó und Vizsnyiczai, C‑567/13, EU:C:2015:88, Rn. 46 und 58).
266 Zwar ist es demnach Sache der einzelnen Mitgliedstaaten, im Rahmen ihres innerstaatlichen Rechts die zuständigen Gerichte zu bestimmen und die Verfahrensmodalitäten für Klagen zu regeln, die den Schutz der dem Einzelnen aus dem Unionsrecht erwachsenden Rechte gewährleisten sollen, doch sind die Mitgliedstaaten für den wirksamen Schutz dieser Rechte in jedem Einzelfall verantwortlich. Dabei dürfen nach gefestigter Rechtsprechung die Verfahrensmodalitäten für Klagen, die den Schutz der den Einzelnen aus dem Unionsrecht erwachsenden Rechte gewährleisten sollen, insbesondere nicht die Ausübung der durch die Unionsrechtsordnung verliehenen Rechte praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren, und dieses Erfordernis gilt auch für die Bestimmung der Gerichte, die für die Entscheidung über auf diese Rechte gestützte Klagen zuständig sind. Ein Verstoß gegen die genannte Anforderung auf dieser Ebene ist nämlich – ebenso wie deren Nichtbeachtung auf der Ebene der Festlegung der Verfahrensmodalitäten – geeignet, den Grundsatz des effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes zu beeinträchtigen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 15. April 2008, Impact, C‑268/06, EU:C:2008:223, Rn. 44 bis 48, vom 27. Juni 2013, Agrokonsulting‑04, C‑93/12, EU:C:2013:432, Rn. 35 bis 37 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie vom 24. Oktober 2018, XC u. a., C‑234/17, EU:C:2018:853, Rn. 22 und 23).
267 Im vorliegenden Fall wird von der Kommission jedoch in der Klage nicht behauptet und erst recht nicht bewiesen, dass die Bündelung von Zuständigkeiten, die die beanstandeten nationalen Bestimmungen zugunsten der Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten vornehmen, zu Verfahrensnachteilen führen kann, die als solche geeignet sind, die Wirksamkeit der durch die Rechtsordnung der Union verliehenen Rechte zu beeinträchtigen, indem sie die Ausübung dieser Rechte durch den Einzelnen praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren.
268 Allerdings ist als Drittes festzustellen, dass im Unterschied zu den mit materiellrechtlichen Unionsbestimmungen verbundenen Zuständigkeiten, um die es u. a. in den Rechtssachen ging, die den oben in den Rn. 265 und 266 genannten Urteilen zugrunde lagen, die von der Kommission mit der zweiten Rüge beanstandete Neuorganisation und Bündelung der gerichtlichen Zuständigkeiten bestimmte Anforderungen betrifft, die sich aus Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV und Art. 47 der Charta ergeben, d. h. aus Bestimmungen, die sowohl verfassungs- als auch verfahrensrechtlicher Natur sind und deren Einhaltung außerdem übergreifend in allen sachlichen Anwendungsbereichen des Unionsrechts und vor allen nationalen Gerichten, die mit in diese Bereiche fallenden Rechtssachen befasst sind, garantiert sein muss.
269 Wie nämlich oben in Rn. 69 hervorgehoben worden ist, wird mit Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV der in Art. 2 EUV verankerte Wert der Rechtsstaatlichkeit konkretisiert und den Mitgliedstaaten insoweit die Verpflichtung auferlegt, ein System von Rechtsbehelfen und Verfahren vorzusehen, das den Einzelnen die Wahrung ihres Rechts auf wirksamen Rechtsschutz in allen vom Unionsrecht erfassten Bereichen gewährleistet, wobei der Grundsatz des wirksamen Rechtsschutzes, von dem in Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV die Rede ist, ein allgemeiner Grundsatz des Unionsrechts ist, der jetzt in Art. 47 der Charta verankert ist.
270 Die beiden zuletzt genannten unionsrechtlichen Bestimmungen sowie dieser allgemeine Grundsatz sind eng mit dem Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts verknüpft. Die Umsetzung des zuletzt genannten Grundsatzes durch die nationalen Gerichte trägt nämlich zum wirksamen Schutz der den Einzelnen durch das Unionsrecht verliehenen Rechte bei (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 8. September 2010, Winner Wetten, C‑409/06, EU:C:2010:503, Rn. 53 bis 55 und die dort angeführte Rechtsprechung).
271 Der Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts, dem ebenfalls Verfassungsrang zukommt, verlangt nach der oben in Rn. 228 angeführten ständigen Rechtsprechung, dass die nationalen Gerichte, die im Rahmen ihrer Zuständigkeiten die Bestimmungen des Unionsrechts anzuwenden haben, für die volle Wirksamkeit dieser Bestimmungen Sorge tragen, indem sie erforderlichenfalls jede nationale Bestimmung, die einer Bestimmung des Unionsrechts mit unmittelbarer Wirkung entgegensteht, aus eigener Entscheidungsbefugnis unangewendet lassen, ohne die vorherige Beseitigung dieser nationalen Bestimmung auf gesetzgeberischem Weg oder durch irgendein anderes verfassungsrechtliches Verfahren zu beantragen oder abzuwarten.
272 Der Gerichtshof hat insoweit festgestellt, dass jede Bestimmung einer nationalen Rechtsordnung oder jede Gesetzgebungs‑, Verwaltungs- oder Gerichtspraxis, die dadurch zu einer Abschwächung der Wirksamkeit des Unionsrechts führen würde, dass dem für die Anwendung dieses Rechts zuständigen Gericht die Befugnis abgesprochen wird, unmittelbar zum Zeitpunkt dieser Anwendung alles Erforderliche zu tun, um diejenigen innerstaatlichen Rechtsvorschriften beiseite zu lassen, die unter Umständen ein Hindernis für die volle Wirksamkeit der unmittelbar geltenden Normen des Unionsrechts bilden, mit den in der Natur des Unionsrechts liegenden Erfordernissen unvereinbar ist (Urteil vom 4. Dezember 2018, Minister for Justice and Equality und Commissioner of An Garda Síochána, C‑378/17, EU:C:2018:979, Rn. 36 und die dort angeführte Rechtsprechung).
273 Der Gerichtshof hat klargestellt, dass dies dann der Fall wäre, wenn bei einem Widerspruch zwischen einer unionsrechtlichen Bestimmung und einem nationalen Gesetz die Lösung dieses Normenkonflikts einem über ein eigenes Ermessen verfügenden anderen Organ als dem Gericht, das für die Anwendung des Unionsrechts zu sorgen hat, vorbehalten wäre (Urteil vom 4. Dezember 2018, Minister for Justice and Equality und Commissioner of An Garda Síochána, C‑378/17, EU:C:2018:979, Rn. 37 und die dort angeführte Rechtsprechung), selbst wenn das daraus resultierende Hindernis für die volle Wirksamkeit des Unionsrechts nur vorübergehender Art wäre (Urteil vom 8. September 2010, Winner Wetten, C‑409/06, EU:C:2010:503, Rn. 57 und die dort angeführte Rechtsprechung).
274 Wie oben in Rn. 128 dargelegt, haben die Verträge, um sicherzustellen, dass die besonderen Merkmale und die Autonomie der Rechtsordnung der Union erhalten bleiben, ein Gerichtssystem geschaffen, das zur Gewährleistung der Kohärenz und der Einheitlichkeit bei der Auslegung des Unionsrechts dient, und in diesem Zusammenhang ist es Sache der nationalen Gerichte und des Gerichtshofs, die volle Anwendung des Unionsrechts in allen Mitgliedstaaten und den wirksamen Schutz der Rechte zu gewährleisten, die den Einzelnen aus ihm erwachsen.
275 Des Weiteren besteht nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs das Schlüsselelement des insoweit geschaffenen Gerichtssystems in dem in Art. 267 AEUV vorgesehenen Vorabentscheidungsverfahren, das durch die Einführung eines Dialogs von Gericht zu Gericht zwischen dem Gerichtshof und den Gerichten der Mitgliedstaaten die einheitliche Auslegung des Unionsrechts gewährleisten soll und damit die Sicherstellung seiner Kohärenz, seiner vollen Geltung und seiner Autonomie sowie letztlich des eigenen Charakters des durch die Verträge geschaffenen Rechts ermöglicht (Urteil vom 24. Oktober 2018, XC u. a., C‑234/17, EU:C:2018:853, Rn. 41 und die dort angeführte Rechtsprechung).
276 In diesem Zusammenhang hat der Gerichtshof u. a. festgestellt, wie oben in den Rn. 129 bis 131 dargelegt, dass das Grundrecht auf ein unabhängiges, unparteiisches und zuvor durch Gesetz errichtetes Gericht impliziert, dass jedes nationale Gericht, das Unionsrecht anzuwenden hat, überprüfen muss, ob es in Anbetracht seiner Zusammensetzung ein solches Gericht ist, wenn insoweit ein ernsthafter Zweifel besteht, da diese Überprüfung im Hinblick auf das Vertrauen, das die Gerichte einer demokratischen Gesellschaft bei den Rechtssuchenden wecken müssen, erforderlich ist, oder dass ein nationales Gericht unter bestimmten Umständen prüfen können muss, ob eine Vorschriftswidrigkeit des Verfahrens zur Ernennung eines Richters zu einer Verletzung dieses Grundrechts führen konnte.
277 Allerdings kann es gerechtfertigt sein, dass ein Richter, der sich nicht selbst abgelehnt hat und Gegenstand eines Ablehnungsantrags ist, den eine Verfahrenspartei aufgrund eines bei diesem Richter potenziell vorliegenden Interessenkonflikts gestellt hat, nicht an der Entscheidung teilnimmt, mit der über den Antrag entschieden wird, und dass die Zuständigkeit für die Entscheidung über den Antrag – wie dies für Polen vor dem Inkrafttreten der beanstandeten nationalen Bestimmungen zutraf – je nach Fall entweder einem anderen Spruchkörper des betreffenden Gerichts oder dem nächsthöheren Gericht übertragen wird. Ebenso kann es mit einer geordneten Rechtspflege vereinbar sein, dass Konflikte, die zwischen verschiedenen Gerichten in Bezug auf die sachliche oder räumliche Zuständigkeit auftreten können, von einer dritten Stelle entschieden werden.
278 Dagegen sind die oben in Rn. 276 genannten Verpflichtungen dergestalt, dass sie es ausschließen, dass die Kontrolle der Einhaltung und die anschließende Anwendung der Erfordernisse von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV und Art. 47 der Charta, so wie sie vom Gerichtshof ausgelegt werden, durch die nationalen Gerichte im Rahmen einer Neuorganisation der gerichtlichen Zuständigkeiten, wie sie von der Kommission in der zweiten Rüge beanstandet wird, allgemein und unterschiedslos einer einzigen nationalen Stelle unterliegen, und dies erst recht, wenn diese Stelle aufgrund des nationalen Rechts bestimmte Gesichtspunkte nicht prüfen kann, die mit den genannten Erfordernissen verbunden sind.
279 Ferner kann den Erwägungen, auf die der Gerichtshof in seiner oben in Rn. 265 angeführten Rechtsprechung Bezug nimmt und die den potenziellen Vorteilen einer Spezialisierung in Bezug auf Rechtsprechung, Fachkompetenz und Begrenzung der durchschnittlichen Verfahrensdauer oder einheitliche Rechtsanwendung Rechnung tragen, kein Vorrang gegenüber den Erfordernissen des Grundsatzes des wirksamen gerichtlichen Rechtsschutzes zukommen, dessen Einhaltung jedes nationale Gericht unabhängig von der Instanz oder sachlichen Zuständigkeit per definitionem für die Zwecke des konkret bei ihm anhängigen Rechtsstreits garantieren können muss, gegebenenfalls im Dialog mit dem Gerichtshof gemäß Art. 267 AEUV.
280 Vorliegend ist jedoch zum einen festzustellen, dass die von der Kommission mit der zweiten Rüge beanstandeten nationalen Bestimmungen dazu dienen, einer einzigen Stelle, und zwar einer bestimmten Kammer des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht), die allgemeine Kontrolle der mit diesem Grundsatz verbundenen Anforderungen an die Unabhängigkeit aller Gerichte und Richter sowohl der ordentlichen Gerichtsbarkeit als auch der Verwaltungsgerichtsbarkeit vorzubehalten und es auszuschließen, dass diese Kontrolle von einem der anderen Gerichte, und damit einschließlich der anderen Kammern des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) und des Naczelny Sąd Administracyjny (Oberstes Verwaltungsgericht) ausgeübt werden kann, wodurch den bislang zuständigen nationalen Gerichten die Zuständigkeiten genommen werden, die verschiedenen Arten der Kontrolle dieser Anforderungen auszuüben und insoweit die Erkenntnisse aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs unmittelbar anzuwenden.
281 Wie nämlich erstens Art. 26 § 2 des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht zu entnehmen ist, wurde der Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten die ausschließliche Zuständigkeit für die Entscheidung über „Anträge oder Erklärungen“ betreffend die „Ablehnung“ eines Richters oder die „Bestimmung des Gerichts“, bei dem ein Verfahren geführt werden soll, mit dem „die fehlende Unabhängigkeit des Gerichts oder des Richters gerügt wird“, übertragen, wobei diese Anträge oder Erklärungen der Kammer unverzüglich von jedem anderen mit einer Sache befassten Gericht zu übermitteln sind, auch dann, wenn die Sache dem Grunde nach in einen vom Unionsrecht erfassten Bereich fällt.
282 Zweitens bestimmt Art. 82 §§ 2 bis 5 des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht, dass die als Plenum entscheidende Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten ebenfalls über eine ausschließliche Zuständigkeit verfügt, wenn sich bei der Prüfung einer Kassationsbeschwerde oder eines anderen vor dem Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht), einschließlich der anderen Kammern dieses Gerichts, anhängigen Rechtsbehelfs „eine Rechtsfrage stellt, die die Unabhängigkeit eines Richters oder eines Gerichts betrifft“. Für diesen Fall sieht Art. 82 § 2 des Gesetzes nämlich vor, dass der mit der betreffenden Rechtssache befasste Spruchkörper des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) „die Entscheidung aus[setzt]“ und „diese Frage [der Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten] vor[legt]“, wobei darauf hingewiesen wird, dass ein auf dieser Grundlage erlassener Beschluss der Kammer „für alle Spruchkörper des Sąd Najwyższy [(Oberstes Gericht)] verbindlich“ ist.
283 Drittens hat nach Art. 26 §§ 4 bis 6 des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht die Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten die ausschließliche Zuständigkeit für „Klagen …, die auf die Feststellung der Rechtswidrigkeit rechtskräftiger Entscheidungen des Sąd Najwyższy [(Oberstes Gericht)], der ordentlichen Gerichte, der Militärgerichte und der Verwaltungsgerichte einschließlich des Naczelny Sąd Administracyjny [(Oberstes Verwaltungsgericht)] gerichtet sind, wenn die Rechtswidrigkeit darin besteht, dass der Status der zur Ausübung des Richteramts berufenen Person in Frage gestellt wird, die in der Sache entschieden hat“.
284 Die weite Formulierung von Art. 26 §§ 4 bis 6 des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht scheint es der Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten zu erlauben, eine nachträgliche Kontrolle aller rechtskräftigen Entscheidungen sämtlicher anderer polnischer Gerichte der ordentlichen Gerichtsbarkeit und der Verwaltungsgerichtsbarkeit vorzunehmen, einschließlich rechtskräftiger Entscheidungen der anderen Kammern des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) und des Naczelny Sąd Administracyjny (Oberstes Verwaltungsgericht), sobald der Status einer zur Ausübung des Richteramts berufenen Person, die in einem beliebigen Stadium über die betreffende Rechtssache zu entscheiden hat, in Frage gestellt wird.
285 Zum anderen wurden die mit der zweiten Rüge beanstandeten nationalen Bestimmungen in großer Eile und in dem oben in den Rn. 140 bis 145 beschriebenen Kontext gleichzeitig mit den anderen von der Kommission im Rahmen der ersten und der dritten Rüge beanstandeten Bestimmungen durch das Änderungsgesetz in das Gesetz über das Oberste Gericht aufgenommen. Wie jedoch den Feststellungen des Gerichtshofs im Rahmen der Prüfung der ersten und der dritten Rüge zu entnehmen ist, wird diesen Rügen insbesondere deshalb stattgegeben, weil die beanstandeten nationalen Bestimmungen aufgrund der in ihnen enthaltenen Verbote und Disziplinarvergehen im Hinblick auf Richter des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) und sämtlicher Gerichte der ordentlichen Gerichtsbarkeit und der Verwaltungsgerichtsbarkeit geeignet sind, diese Richter daran zu hindern, bestimmte Feststellungen und Beurteilungen vorzunehmen, zu denen sie jedoch unter gewissen Umständen nach dem Unionsrecht im Hinblick auf die Erfordernisse von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV und Art. 47 der Charta verpflichtet sind.
286 In einem solchen Kontext kann der Umstand, dass der nationale Gesetzgeber die geltenden gerichtlichen Zuständigkeiten neu organisiert und einer einzigen nationalen Stelle die Zuständigkeit für die Prüfung der Einhaltung bestimmter wesentlicher Anforderungen überträgt, die sich aus dem Grundrecht auf einen wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz gemäß Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV und Art. 47 der Charta ergeben, obwohl es je nach den Umständen vor jedem nationalen Gericht erforderlich werden kann, eine solche Prüfung vorzunehmen, in Verbindung mit der Einführung der oben genannten Verbote und Disziplinarvergehen dazu beitragen, dass die Wirksamkeit der Kontrolle der Wahrung dieses Grundrechts noch weiter abgeschwächt wird, obwohl das Unionsrecht alle nationalen Gerichte mit dieser Kontrolle betraut. Dies gilt umso mehr, als – wie oben in Rn. 198 dargelegt – diese Stelle im vorliegenden Fall keinen Antrag prüfen kann, der ihr von einem nationalen Gericht übermittelt wird und der „die Feststellung und die Beurteilung der Rechtmäßigkeit der Ernennung eines Richters oder seiner Ermächtigung zur Wahrnehmung von Aufgaben im Bereich der Rechtsprechung“ betrifft.
287 Außerdem verstoßen die von der Kommission mit der zweiten Rüge beanstandeten nationalen Bestimmungen auch gegen den Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts, indem sie unterschiedslos alle anderen Gerichte, unabhängig von der Instanz oder dem Verfahrensstadium, in dem diese zu entscheiden haben, und obwohl sie möglicherweise mit Sachen befasst sind, die die Anwendung materiellrechtlicher Unionsbestimmungen betreffen, daran hindern, unverzüglich das zu tun, was erforderlich ist, um das Recht der betroffenen Rechtssubjekte auf einen wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz zu gewährleisten, indem sie gegebenenfalls nationale Vorschriften unangewendet lassen, die nicht mit den Anforderungen vereinbar sind, die sich aus diesem Recht ergeben.
288 Was schließlich Art. 10 des Änderungsgesetzes betrifft, genügt die Feststellung, dass diese Vorschrift, da sie im Wesentlichen der Klarstellung dient, in welchem Umfang und wie die ausschließliche Zuständigkeit, die der Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten durch die oben in den Rn. 281 bis 283 genannten nationalen Bestimmungen übertragen wird, in Bezug auf Rechtssachen, die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des Änderungsgesetzes anhängig waren, auszuüben ist, untrennbar mit diesen anderen Bestimmungen verbunden ist und somit aus den gleichen Gründen – entsprechend den Ausführungen oben in den Rn. 268 bis 287 – sowohl gegen Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV in Verbindung mit Art. 47 der Charta als auch gegen den Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts verstößt.
289 Nach alledem ist der zweiten Rüge stattzugeben, soweit mit ihr ein Verstoß gegen Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV in Verbindung mit Art. 47 der Charta sowie gegen den Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts geltend gemacht wird.
290 Zu Art. 267 AEUV ist festzustellen, dass allein der Umstand, dass einer einzigen Stelle, d. h. vorliegend der Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten, die ausschließliche Zuständigkeit übertragen wird, bestimmte Fragen zur Anwendung von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV und Art. 47 der Charta zu entscheiden, geeignet ist, die anderen Gerichte, denen insoweit jegliche interne Zuständigkeit, selbst über diese Fragen zu entscheiden, genommen wird, daran zu hindern oder zumindest davon abzuhalten, dem Gerichtshof insoweit Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen, was, wie den oben in den Rn. 155 bis 158 genannten Grundsätzen zu entnehmen ist, gegen Art. 267 AEUV verstößt.
291 Was im Übrigen den allgemeinen Kontext betrifft, in dem das Änderungsgesetz und die beanstandeten nationalen Bestimmungen erlassen wurden, ist außerdem festzustellen, dass, wie die Kommission geltend macht und den Hinweisen in mehreren kürzlich ergangenen Urteilen des Gerichtshofs zu entnehmen ist, sich die Versuche der polnischen Behörden, die nationalen Gerichte davon abzuhalten oder daran zu hindern, den Gerichtshof um Vorabentscheidung zur Auslegung von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV und Art. 47 der Charta im Zusammenhang mit den jüngsten Gesetzesreformen betreffend die Justiz in Polen zu ersuchen, in der letzten Zeit vervielfacht haben (vgl. u. a. Urteil vom 2. März 2021, A. B. u. a. [Ernennung von Richtern am Obersten Gericht – Rechtsbehelf], C‑824/18, EU:C:2021:153, Rn. 99 bis 106 und die dort angeführte Rechtsprechung).
292 Nach alledem ist der zweiten Rüge stattzugeben.
Zur fünften Rüge
Vorbringen der Parteien
293 Mit der fünften Rüge macht die Kommission geltend, dass Art. 88a des geänderten Gesetzes über die ordentliche Gerichtsbarkeit, Art. 45 § 3 des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht und Art. 8 § 2 des geänderten Gesetzes über die Verwaltungsgerichtsbarkeit gegen Art. 7 und Art. 8 Abs. 1 der Charta sowie Art. 6 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. c und e sowie Abs. 3 und Art. 9 Abs. 1 DSGVO verstießen.
294 Soweit diese nationalen Bestimmungen die Richter der verschiedenen betroffenen Gerichte verpflichteten, eine schriftliche Erklärung zu ihrer etwaigen Mitgliedschaft in einer Vereinigung, einer Stiftung ohne Gewinnzweck oder einer politischen Partei sowie zu den dort ausgeübten Funktionen abzugeben, und die Veröffentlichung dieser Informationen im Biuletyn Informacji Publicznej vorschrieben, beinhalte dies eine Verarbeitung personenbezogener Daten, da die Informationen eindeutig identifizierte natürliche Personen beträfen, die sich in der privaten Sphäre betätigten.
295 Zudem falle die Erhebung und Veröffentlichung dieser personenbezogenen Daten nicht unter die Organisation der Justiz, und jedenfalls ließen sich diese Maßnahmen nicht aufgrund des etwaigen funktionalen Zusammenhangs zwischen den genannten Daten und der Ausübung des Richteramts vom Anwendungsbereich der DSGVO ausschließen. Die Maßnahmen dienten nämlich dazu, die berufliche Laufbahn von Richtern sowie die Ausübung ihrer Ämter zu beeinflussen und könnten ihre Unabhängigkeit beeinträchtigen, obwohl deren Schutz nach Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV zu garantieren sei, wenn diese Richter Unionsrecht anzuwenden und auszulegen hätten.
296 Da es sich außerdem bei den fraglichen personenbezogenen Daten um solche handle, die die politischen Meinungen oder weltanschaulichen Überzeugungen der betreffenden Richter offenbaren könnten, fielen sie in die Kategorien der sensiblen Daten, für die die in Art. 9 Abs. 1 DSGVO enthaltene Regelung gelte, die in Bezug auf diese Daten ein Verarbeitungsverbot und verstärkten Schutz vorsehe.
297 Selbst wenn man jedoch annehme, dass die Ziele, die der Begründung zu dem Art. 88a des geänderten Gesetzes über die ordentliche Gerichtsbarkeit zugrunde liegenden Gesetzesentwurf zu entnehmen seien und in der Wahrung der politischen Neutralität und Unparteilichkeit der Richter sowie des Vertrauens in deren Unparteilichkeit und im Schutz der Würde des Richteramts bestünden, als legitim angesehen werden könnten, seien die fraglichen Verpflichtungen, eine Erklärung abzugeben und zu veröffentlichen, indes nicht notwendig, um diese Ziele zu erreichen. Die mit den Verpflichtungen verbundenen Eingriffe in das Recht der Betroffenen auf Achtung ihres Privatlebens und Schutz ihrer personenbezogenen Daten seien daher nicht mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit vereinbar und verstießen somit gegen die Anforderungen der verschiedenen oben in Rn. 293 genannten unionsrechtlichen Bestimmungen.
298 Die Maßnahmen seien nämlich nicht eng auf das begrenzt, was für das Erreichen der genannten Ziele erforderlich sei, da insoweit weniger restriktive Mittel verfügbar seien, wie die Verfahren zur Ablehnung von Richtern und das Ermöglichen eines Zugriffs von Einrichtungen, die die Einhaltung berufsrechtlicher Anforderungen zu gewährleisten hätten oder mit der Besetzung der Mitglieder von Spruchkörpern betraut seien, auf Informationen zu bestimmten Tätigkeiten, die Richter außerhalb ihrer Ämter ausübten und die in einer bestimmten Rechtssache zu Interessenkonflikten der Richter führen könnten. Mit diesen weniger einschneidenden Maßnahmen ließe sich zudem vermeiden, dass die so erhobenen Informationen zu anderen Zwecken als den vorgeblichen verwendet würden, wie z. B. zur Ausübung von Druck von außen auf Richter zwecks Beeinträchtigung ihrer Unabhängigkeit oder in der Absicht, zum einen durch das Hervorrufen öffentlichen Misstrauens ihrem beruflichen Ansehen und ihrer Autorität zu schaden und zum anderen durch Diskriminierungen ihre berufliche Entwicklung zu beeinträchtigen.
299 Außerdem sei die frühere Zugehörigkeit einer Person zu einer politischen Partei Teil ihres Privatlebens vor ihrer Ernennung zum Richter und könne sich auf ihre aktuelle Tätigkeit nicht unmittelbar auswirken. Dies gelte insbesondere für die Zugehörigkeit zu einer politischen Partei vor dem 29. Dezember 1989, da die Einholung solcher Informationen keinerlei Relevanz für die Beurteilung der Unparteilichkeit eines Richters in Rechtssachen habe, mit denen er über 30 Jahre später befasst sei. Somit seien die obligatorische Angabe und Veröffentlichung solcher personenbezogenen Daten auch nicht geeignet, die im vorliegenden Fall angeblich verfolgten Ziele zu erreichen.
300 Die fraglichen nationalen Maßnahmen kämen in Wirklichkeit einem Mechanismus zur Überwachung von Richtern gleich, dessen plötzliche Einführung durch keinen konkreten Bedarf gerechtfertigt sei, da die unpolitische und unparteiische Haltung bereits seit Langem insbesondere durch Art. 178 der Verfassung gewährleistet sei, der diese unpolitische Haltung vorsehe, sowie durch den Eid, wonach Richter zu versichern hätten, „unparteiisch“ Recht zu sprechen, und die den Richtern gemäß den Art. 66 und 82 des Gesetzes über die ordentliche Gerichtsbarkeit obliegende Verpflichtung, jegliche Handlungen zu unterlassen, die „das Vertrauen in ihre Unparteilichkeit untergraben“ könnten.
301 Zur Verteidigung trägt die Republik Polen zunächst vor, die DSGVO finde nach Art. 2 Abs. 2 Buchst. a DSGVO keine Anwendung auf die fraglichen Verarbeitungen personenbezogener Daten, da sie im Rahmen einer Tätigkeit vorgenommen würden, die nicht in den Anwendungsbereich des Unionsrechts falle, nämlich Organisation der Justiz und Rechtspflege, die mit den betreffenden Informationen in „unmittelbarem Zusammenhang“ stünden, da sie die Ausübung des Richteramts beträfen.
302 Sodann trägt die Republik Polen vor, dass, selbst wenn man annehme, dass die DSGVO im vorliegenden Fall anwendbar sei, den beanstandeten nationalen Bestimmungen das legitime Ziel zugrunde liege, die Unparteilichkeit und politische Neutralität der Richter zu fördern, indem die Rechtsunterworfenen von dem etwaigen Vorliegen von Ablehnungsgründen, die von ihnen in einer bestimmten Rechtssache geltend gemacht werden könnten, in Kenntnis gesetzt würden, und dass die nationalen Bestimmungen im Hinblick auf dieses Ziel verhältnismäßig seien.
303 Erstens könne sich nämlich eine ehemalige Parteizugehörigkeit – auch vor dem 29. Dezember 1989 und in einem historischen Kontext der Politisierung der Justiz – auf die aktuelle und künftige Rechtsprechungstätigkeit des betreffenden Richters auswirken.
304 Zweitens habe die Kommission ihr Vorbringen, wonach die beanstandeten nationalen Bestimmungen das berufliche Ansehen der Richter und deren Unabhängigkeit beeinträchtigen könnten sowie die Gefahr der Diskriminierung im Rahmen ihrer beruflichen Laufbahn in sich bärgen oder zu solchen Zwecken genutzt werden könnten, in keiner Weise belegt. Insbesondere habe die Bereitstellung der betreffenden Informationen weder Auswirkungen auf die Zuständigkeit des Richters, Recht zu sprechen, noch auf die Verteilung von Rechtssachen innerhalb seines Gerichts noch auf die Entwicklung seiner beruflichen Laufbahn. Ebenso wenig werde durch die Bereitstellung der Informationen die Unabhängigkeit oder Unparteilichkeit des betreffenden Richters in den bei ihm anhängigen Rechtssachen beeinträchtigt, und es werde auch keine automatische Ablehnung des Richters im Rahmen dieser Rechtssachen ausgelöst. Die Kommission habe zudem keinen konkreten Fall dargetan, in dem solche Informationen so verwendet worden seien, wie von ihr behauptet.
305 Drittens könne das mit den beanstandeten nationalen Bestimmungen verfolgte Ziel nicht durch weniger restriktive Mittel erreicht werden, da die Rechtsunterworfenen ohne Zugang zu den betreffenden Informationen keine Kenntnis von etwaigen Ablehnungsgründen in Bezug auf die Richter erlangen könnten, die über eine sie betreffende Rechtssache zu entscheiden hätten.
306 Außerdem seien die betreffenden Daten nicht von den in Art. 9 Abs. 1 DSGVO genannten Kategorien erfasst, da die beanstandeten nationalen Bestimmungen nicht darauf gerichtet seien, dass ein Richter Informationen zu seinen politischen Meinungen oder weltanschaulichen Überzeugungen übermittle. Im Übrigen enthielten die nationalen Bestimmungen keine Aufzählung der zu nennenden Arten von Zugehörigkeit, und somit sei von Fall zu Fall zu entscheiden, ob eine Erklärungspflicht Anwendung finde, und dabei seien u. a. die Grenzen zu beachten, die für Eingriffe in das Privatleben gälten, insbesondere Art. 53 Abs. 7 der Verfassung, wonach es den staatlichen Stellen verboten sei, die Offenlegung der „Weltanschauung“, der Überzeugungen und der Religion einer Person zu verlangen. Jedenfalls erfüllten die genannten nationalen Bestimmungen aus den von der Republik Polen zuvor dargelegten Gründen auch die in Art. 9 Abs. 2 Buchst. g DSGVO genannte Voraussetzung der Verhältnismäßigkeit.
307 Schließlich macht die Republik Polen geltend, die Kommission versuche, die ihr obliegende Beweislast umzukehren, indem sie behaupte, dass es nur deshalb, weil diese nationalen Bestimmungen vorher nicht existiert hätten, der Republik Polen obliege, den Sachverhalt darzulegen, der den Erlass und die Verhältnismäßigkeit dieser nationalen Bestimmungen rechtfertige.
Würdigung durch den Gerichtshof
– Einleitende Erwägungen
308 Einleitend ist als Erstes festzustellen, dass die Kommission mit der fünften Rüge geltend macht, die Republik Polen habe durch den Erlass von Art. 88a des geänderten Gesetzes über die ordentliche Gerichtsbarkeit, Art. 45 § 3 des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht und Art. 8 § 2 des geänderten Gesetzes über die Verwaltungsgerichtsbarkeit gegen ihre Verpflichtungen sowohl aus Art. 6 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. c und e sowie Abs. 3 und Art. 9 Abs. 1 DSGVO als auch aus Art. 7 und Art. 8 Abs. 1 der Charta verstoßen.
309 Unter diesen Umständen obliegt es dem Gerichtshof, über die verschiedenen von der Kommission beanstandeten Vertragsverletzungen zu entscheiden (vgl. entsprechend Urteile vom 21. Mai 2019, Kommission/Ungarn [Nießbrauchsrechte an landwirtschaftlichen Flächen], C‑235/17, EU:C:2019:432, Rn. 131, und vom 18. Juni 2020, Kommission/Ungarn [Transparenz von Vereinigungen], C‑78/18, EU:C:2020:476, Rn. 143).
310 Was als Zweites die nationalen Bestimmungen betrifft, die die Kommission mit der fünften Rüge beanstandet, ist zum einen festzustellen, dass sie die Richter des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht), der ordentlichen Gerichte und der Verwaltungsgerichte verpflichten, je nach dem Gericht, dem sie angehören, und ihrer Position innerhalb dieses Gerichts eine Erklärung abzugeben, die in der Mehrzahl der Fälle an den Präsidenten eines ordentlichen Gerichts oder eines Verwaltungsgerichts und in Ausnahmefällen, sofern es sich um die Präsidenten eines Sąd Apelacyjny (Berufungsgericht), den ersten Präsidenten des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) oder den Präsidenten des Naczelny Sąd Administracyjny (Oberstes Verwaltungsgericht) handelt, entweder an die KRS oder an den Justizminister zu richten ist. Gemäß den nationalen Bestimmungen müssen diese verschiedenen nationalen Stellen die in den Erklärungen enthaltenen Informationen anschließend innerhalb von 30 Tagen auf der Website des Biuletyn Informacji Publicznej veröffentlichen.
311 Da die Erhebung der Informationen von der Kommission insoweit beanstandet wird, als sie für die Zwecke der Veröffentlichung im Internet erfolgt, sind diese beiden Vorgänge gemeinsam im Hinblick auf die unionsrechtlichen Vorschriften zu untersuchen, deren Verletzung die Kommission im vorliegenden Fall geltend macht.
312 Zum anderen ist festzustellen, dass, wie den beanstandeten nationalen Bestimmungen und konkret dem Wortlaut von Art. 88a des geänderten Gesetzes über die ordentliche Gerichtsbarkeit zu entnehmen ist, auf den wiederum Art. 45 § 3 des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht und Art. 8 § 2 des geänderten Gesetzes über die Verwaltungsgerichtsbarkeit verweisen, die Informationen, die zur Veröffentlichung im Internet übermittelt werden, dreierlei Art sind. Diese Informationen betreffen nämlich erstens die Mitgliedschaft des betreffenden Richters in einer Vereinigung, einschließlich Namen und Sitz der Vereinigung, der eingenommenen Positionen und des Zeitraums der Mitgliedschaft, zweitens die von dem Richter eingenommenen Positionen in einer Stiftung ohne Gewinnzweck, einschließlich Namen und Sitz der Stiftung und des Zeitraums, in dem die Positionen eingenommen wurden, und drittens die Mitgliedschaft des Richters in einer politischen Partei vor seiner Ernennung auf die Stelle eines Richters sowie seine Mitgliedschaft in einer politischen Partei während seiner Amtszeit vor dem 29. Dezember 1989, einschließlich des Namens der Partei, der eingenommenen Positionen und des Zeitraums der Mitgliedschaft in der Partei.
– Zur Anwendbarkeit der DSGVO
313 Da die Republik Polen geltend macht, dass die DSGVO nicht auf die beanstandeten nationalen Bestimmungen anwendbar sei, ist vorab festzustellen, dass die DSGVO gemäß ihrem Art. 2 Abs. 1 für die ganz oder teilweise automatisierte Verarbeitung personenbezogener Daten sowie für die nicht automatisierte Verarbeitung personenbezogener Daten gilt, die in einem Dateisystem gespeichert sind oder gespeichert werden sollen.
314 Gemäß Art. 2 Abs. 2 Buchst. a DSGVO findet diese Verordnung jedoch keine Anwendung auf die Verarbeitung personenbezogener Daten „im Rahmen einer Tätigkeit, die nicht in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fällt“.
315 Insoweit ist als Erstes festzustellen, dass weder der Umstand, dass die den beanstandeten nationalen Bestimmungen unterliegenden Informationen Richter betreffen, noch die Tatsache, dass die Informationen einen gewissen Zusammenhang mit der Ausübung ihrer Ämter aufweisen können, als solche geeignet sind, die nationalen Bestimmungen aus dem Anwendungsbereich der DSGVO auszunehmen.
316 Da die in Art. 2 Abs. 2 Buchst. a DSGVO vorgesehene Ausnahme zur Unanwendbarkeit der von der DSGVO vorgesehenen Regelung zum Schutz personenbezogener Daten führt und damit von dem ihr zugrunde liegenden Ziel, den Schutz der Grundrechte und Grundfreiheiten natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten – wie das durch Art. 7 der Charta garantierte Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens sowie das durch Art. 8 der Charta garantierte Recht auf Schutz personenbezogener Daten – sicherzustellen, abweicht, muss diese Ausnahme wie die anderen in Art. 2 Abs. 2 vorgesehenen Ausnahmen von der Anwendbarkeit eng ausgelegt werden (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 14. Februar 2019, Buivids, C‑345/17, EU:C:2019:122, Rn. 41 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie vom 22. Juni 2021, Latvijas Republikas Saeima [Strafpunkte], C‑439/19, EU:C:2021:504, Rn. 62 und die dort angeführte Rechtsprechung).
317 Der Gerichtshof hat insoweit festgestellt, dass Art. 2 Abs. 2 Buchst. a DSGVO im Licht ihres 16. Erwägungsgrundes und von Art. 2 Abs. 2 Buchst. b DSGVO sowie Art. 3 Abs. 2 erster Gedankenstrich der Richtlinie 95/46/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 24. Oktober 1995 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten und zum freien Datenverkehr (ABl. 1995, L 281, S. 31), an den Art. 2 Abs. 2 Buchst. a und b DSGVO teilweise anknüpft, so zu verstehen ist, dass mit ihm vom Anwendungsbereich der DSGVO allein Verarbeitungen personenbezogener Daten ausgenommen werden sollen, die von staatlichen Stellen im Rahmen einer Tätigkeit, die der Wahrung der nationalen Sicherheit dient, oder einer Tätigkeit, die derselben Kategorie zugeordnet werden kann, vorgenommen werden, so dass der bloße Umstand, dass eine Tätigkeit eine spezifische Tätigkeit des Staates oder einer Behörde ist, nicht dafür ausreicht, dass diese Ausnahme automatisch für diese Tätigkeit gilt (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 22. Juni 2021, Latvijas Republikas Saeima [Strafpunkte], C‑439/19, EU:C:2021:504, Rn. 63 bis 66 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie vom 20. Oktober 2022, Koalitsia Demokratichna Bulgaria – Obedinenie, C‑306/21, EU:C:2022:813, Rn. 36 bis 39).
318 Die auf die Wahrung der nationalen Sicherheit abzielenden Tätigkeiten, auf die Art. 2 Abs. 2 Buchst. a DSGVO abstellt, umfassen insbesondere solche, die den Schutz der grundlegenden Funktionen des Staates und der grundlegenden Interessen der Gesellschaft bezwecken (Urteile vom 22. Juni 2021, Latvijas Republikas Saeima [Strafpunkte], C‑439/19, EU:C:2021:504, Rn. 67, und vom 20. Oktober 2022, Koalitsia Demokratichna Bulgaria – Obedinenie, C‑306/21, EU:C:2022:813, Rn. 40).
319 Zwar fällt die Sicherstellung einer geordneten Rechtspflege in den Mitgliedstaaten und insbesondere der Erlass von Vorschriften zu den Rechtsverhältnissen der Richter und zur Ausübung des Richteramts in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten, doch können die Vorgänge, die in den von der Kommission mit der fünften Rüge beanstandeten nationalen Bestimmungen geregelt sind, nicht als Teil einer Tätigkeit angesehen werden, die nicht in den Anwendungsbereich des Unionsrechts im Sinne von Art. 2 Abs. 2 Buchst. a DSGVO fällt, wie eine auf die Wahrung der nationalen Sicherheit abzielende Tätigkeit.
320 Insoweit ist dem 20. Erwägungsgrund der DSGVO ausdrücklich zu entnehmen, dass diese Verordnung u. a. für die Tätigkeiten der Gerichte und anderer Justizbehörden gilt, vorbehaltlich bestimmter Modifikationen, die die Verordnung für den Fall, dass die Gerichte und andere Justizbehörden im Rahmen ihrer justiziellen Tätigkeit handeln, vorsieht oder erlaubt.
321 Es ist allerdings darauf hinzuweisen, dass zwar, wie oben in Rn. 312 dargelegt, die beanstandeten nationalen Bestimmungen vorsehen, dass die Erhebung der betreffenden Informationen und ihre Veröffentlichung im Internet grundsätzlich den Präsidenten entweder der ordentlichen Gerichte oder der Verwaltungsgerichte und in Ausnahmefällen der KRS oder dem Justizminister obliegen, doch sind diese Vorgänge nicht Teil der justiziellen Tätigkeit der betreffenden Stellen, so dass Art. 2 Abs. 2 Buchst. a DSGVO nicht auf diese Vorgänge anwendbar ist.
322 Als Zweites bezeichnet gemäß Art. 4 Nr. 1 DSGVO der Ausdruck „personenbezogene Daten“„alle Informationen, die sich auf eine identifizierte oder identifizierbare natürliche Person … beziehen“. Art. 4 Nr. 2 DSGVO wiederum definiert den Begriff „Verarbeitung“ als „jeden mit oder ohne Hilfe automatisierter Verfahren ausgeführten Vorgang oder jede solche Vorgangsreihe im Zusammenhang mit personenbezogenen Daten“ und führt als Beispiel für solche Vorgänge u. a. „das Erheben, das Erfassen, … die … Verbreitung oder eine andere Form der Bereitstellung“ der Daten an.
323 Im vorliegenden Fall ist jedoch zum einen festzustellen, dass die Informationen, die obligatorisch offenzulegen und im Internet zu veröffentlichen sind, identifizierte oder identifizierbare natürliche Personen betreffen und somit vom Begriff „personenbezogene Daten“ im Sinne von Art. 4 Nr. 1 DSGVO erfasst sind. Die Informationen beziehen sich nämlich auf namentlich identifizierte Personen und betreffen ihre Mitgliedschaft in Vereinigungen, Stiftungen ohne Gewinnzweck und politischen Parteien sowie die Positionen, die sie dort einnehmen oder eingenommen haben. Der geltend gemachte Umstand, dass die Informationen im Kontext der beruflichen Tätigkeit der erklärungspflichtigen Person stünden, ändert nichts an dieser Einstufung (Urteil vom 1. August 2022, Vyriausioji tarnybinės etikos komisija, C‑184/20, EU:C:2022:601, Rn. 65 und die dort angeführte Rechtsprechung).
324 Zum anderen setzen nationale Bestimmungen, mit denen, wie vorliegend, die Offenlegung der in Rede stehenden Informationen und ihre Veröffentlichung im Internet vorgeschrieben wird, Vorgänge voraus, die aus dem Erheben, Erfassen und Verbreiten dieser Informationen bestehen, d. h. eine Vorgangsreihe, die eine „Verarbeitung“ personenbezogener Daten im Sinne von Art. 4 Nr. 2 DSGVO darstellt (vgl. zur Veröffentlichung personenbezogener Daten im Internet Urteil vom 1. August 2022, Vyriausioji tarnybinės etikos komisija, C‑184/20, EU:C:2022:601, Rn. 65 und die dort angeführte Rechtsprechung).
325 Nach alledem ist festzustellen, dass die beanstandeten nationalen Bestimmungen dem Anwendungsbereich der DSGVO unterliegen und folglich mit den Bestimmungen dieser Verordnung vereinbar sein müssen, deren Verletzung die Kommission im vorliegenden Fall geltend macht.
– Zur Anwendbarkeit von Art. 7 und Art. 8 Abs. 1 der Charta
326 Nach ihrem Art. 51 Abs. 1 gilt die Charta für die Mitgliedstaaten bei der Durchführung des Rechts der Union.
327 Im vorliegenden Fall ist den oben in den Rn. 313 bis 325 angestellten Erwägungen zu entnehmen, dass die beanstandeten nationalen Bestimmungen die Verarbeitung personenbezogener Daten voraussetzen und dem Anwendungsbereich der DSGVO unterliegen. Somit war die Republik Polen bei Erlass der nationalen Bestimmungen insbesondere verpflichtet, die DSGVO umzusetzen.
328 Da die personenbezogenen Daten zudem Informationen zu identifizierten natürlichen Personen beinhalten, berührt der Zugang von allen Mitgliedern der Öffentlichkeit das durch Art. 7 der Charta garantierte Grundrecht der Betroffenen auf Achtung des Privatlebens, ohne dass es in diesem Zusammenhang relevant wäre, dass die Informationen berufliche Tätigkeiten betreffen können. Außerdem stellt die öffentliche Zugänglichmachung dieser Daten eine Verarbeitung personenbezogener Daten im Sinne von Art. 8 der Charta dar (vgl. entsprechend Urteil vom 22. November 2022, Luxembourg Business Registers, C‑37/20 und C‑601/20, EU:C:2022:912, Rn. 38 und die dort angeführte Rechtsprechung).
329 Somit stellt die Zurverfügungstellung dieser personenbezogenen Daten an Dritte unabhängig von der späteren Verwendung der übermittelten Informationen einen Eingriff in die in den Art. 7 und 8 der Charta verankerten Grundrechte dar. Dabei kommt es nicht darauf an, ob die betreffenden Informationen über das Privatleben als sensibel anzusehen sind oder ob die Betroffenen durch den Vorgang irgendwelche Nachteile erlitten haben (vgl. entsprechend Urteil vom 22. November 2022, Luxembourg Business Registers, C‑37/20 und C‑601/20, EU:C:2022:912, Rn. 39 und die dort angeführte Rechtsprechung).
330 Nach alledem sind Art. 7 und Art. 8 Abs. 1 der Charta im vorliegenden Fall anwendbar und müssen die beanstandeten nationalen Bestimmungen mit diesen Artikeln im Einklang stehen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 18. Juni 2020, Kommission/Ungarn [Transparenz von Vereinigungen], C‑78/18, EU:C:2020:476, Rn. 103).
– Zum Vorwurf eines Verstoßes gegen Art. 6 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. c und e sowie Abs. 3 und Art. 9 Abs. 1 DSGVO sowie Art. 7 und Art. 8 Abs. 1 der Charta
331 Hinzuweisen ist vorab zum einen auf den engen Zusammenhang zwischen der DSGVO und den Bestimmungen von Art. 7 und Art. 8 Abs. 1 der Charta, in deren Licht die Verordnung auszulegen ist.
332 Zudem ist Art. 1 Abs. 2 DSGVO in Verbindung mit den Erwägungsgründen 4 und 10 der DSGVO zu entnehmen, dass diese Verordnung u. a. zum Ziel hat, ein hohes Niveau des Schutzes der Grundrechte und Grundfreiheiten natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten zu gewährleisten; dieses Schutzrecht wird auch in Art. 8 der Charta anerkannt und steht in engem Zusammenhang mit dem in Art. 7 der Charta verankerten Recht auf Achtung des Privatlebens (Urteil vom 1. August 2022, Vyriausioji tarnybinės etikos komisija, C‑184/20, EU:C:2022:601, Rn. 61). Wie der Generalanwalt in Nr. 235 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, gilt eine Verarbeitung personenbezogener Daten, soweit die Bedingungen für ihre rechtmäßige Verarbeitung nach der genannten Verordnung erfüllt sind, grundsätzlich auch als den in den Art. 7 und 8 der Charta festgelegten Anforderungen entsprechend (vgl. entsprechend Urteil vom 27. September 2017, Puškár, C‑73/16, EU:C:2017:725, Rn. 102).
333 Wie zum anderen aus dem Vorbringen zur Stützung der fünften Rüge hervorgeht, zweifelt die Kommission an, dass mit den beanstandeten nationalen Bestimmungen tatsächlich die von der Republik Polen angeführten Ziele verfolgt werden, und macht geltend, dass die mit den nationalen Bestimmungen verbundenen Eingriffe in die Grundrechte auf Schutz personenbezogener Daten und der Privatsphäre jedenfalls nicht mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit vereinbar seien, der sich aus den verschiedenen unionsrechtlichen Bestimmungen ergebe, deren Verletzung sie beanstandet. Da die Kommission nicht geltend gemacht hat, dass die genannten nationalen Bestimmungen andere sich aus diesen unionsrechtlichen Vorschriften ergebende Anforderungen nicht einhalten, muss sich der Gerichtshof auf die Prüfung der so formulierten Rüge der Kommission beschränken und diese nationalen Bestimmungen somit ausschließlich hinsichtlich ihrer Verhältnismäßigkeit in Bezug auf die von der Republik Polen angeführten Ziele untersuchen.
334 Insoweit ist erstens darauf hinzuweisen, dass nach ständiger Rechtsprechung die in den Art. 7 und 8 der Charta verbürgten Grundrechte auf Achtung des Privatlebens und auf Schutz personenbezogener Daten keine uneingeschränkte Geltung beanspruchen, sondern im Hinblick auf ihre gesellschaftliche Funktion gesehen und gegen andere Grundrechte abgewogen werden müssen. Somit können Einschränkungen vorgesehen werden, sofern sie gemäß Art. 52 Abs. 1 der Charta gesetzlich vorgesehen sind und den Wesensgehalt der Grundrechte sowie den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit wahren. Nach diesem Grundsatz dürfen Einschränkungen nur vorgenommen werden, wenn sie erforderlich sind und den von der Union anerkannten dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen oder den Erfordernissen des Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer tatsächlich entsprechen. Sie müssen sich auf das absolut Notwendige beschränken, und die den Eingriff enthaltende Regelung muss klare und präzise Regeln für die Tragweite und die Anwendung der betreffenden Maßnahme vorsehen (Urteil vom 1. August 2022, Vyriausioji tarnybinės etikos komisija, C‑184/20, EU:C:2022:601, Rn. 70 und die dort angeführte Rechtsprechung).
335 Was zweitens Art. 6 Abs. 1 Unterabs. 1 DSGVO betrifft, enthält diese Vorschrift eine erschöpfende und abschließende Liste der Fälle, in denen eine Verarbeitung personenbezogener Daten als rechtmäßig angesehen werden kann. Daher muss eine Verarbeitung unter einen der in dieser Bestimmung vorgesehenen Fälle subsumierbar sein, um als rechtmäßig angesehen werden zu können (Urteil vom 1. August 2022, Vyriausioji tarnybinės etikos komisija, C‑184/20, EU:C:2022:601, Rn. 67 und die dort angeführte Rechtsprechung).
336 Gemäß Art. 6 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. c DSGVO ist eine Verarbeitung von Daten rechtmäßig, wenn sie zur Erfüllung einer rechtlichen Verpflichtung erforderlich ist, der der Verantwortliche unterliegt. Gemäß Art. 6 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. e DSGVO ist eine Verarbeitung auch rechtmäßig, wenn die Verarbeitung für die Wahrnehmung einer Aufgabe erforderlich ist, die im öffentlichen Interesse liegt oder in Ausübung öffentlicher Gewalt erfolgt, die dem Verantwortlichen übertragen wurde.
337 Art. 6 Abs. 3 DSGVO stellt in Bezug auf diese beiden Fälle der Rechtmäßigkeit klar, dass die Verarbeitung auf dem Unionsrecht oder dem Recht der Mitgliedstaaten, dem der Verantwortliche unterliegt, beruhen muss und dass die betreffende Rechtsgrundlage ein im öffentlichen Interesse liegendes Ziel verfolgen und in einem angemessenen Verhältnis zu dem verfolgten legitimen Zweck stehen muss. Da diese Anforderungen Ausfluss der Vorgaben sind, die sich aus Art. 52 Abs. 1 der Charta ergeben, sind sie im Licht der letztgenannten Bestimmung auszulegen (Urteil vom 1. August 2022, Vyriausioji tarnybinės etikos komisija, C‑184/20, EU:C:2022:601, Rn. 69).
338 Im vorliegenden Fall besteht, wie oben in Rn. 310 dargelegt, das Ziel der beanstandeten nationalen Bestimmungen darin, die betreffenden Richter zu verpflichten, je nach dem Gericht, dem sie angehören, und ihrer Position innerhalb dieses Gerichts eine Erklärung abzugeben, die in der Mehrzahl der Fälle an die Gerichtspräsidenten entweder der ordentlichen Gerichtsbarkeit oder der Verwaltungsgerichtsbarkeit und in Ausnahmefällen an die KRS oder an den Justizminister zu richten ist, damit diese Stellen die in der Erklärung enthaltenen Informationen im Biuletyn Informacji Publicznej veröffentlichen.
339 Da die diesen Stellen obliegende Verpflichtung zur Erhebung, Erfassung und Online-Veröffentlichung auf den oben in Rn. 310 genannten Bestimmungen beruht, ist davon auszugehen, dass die Verarbeitung der fraglichen personenbezogenen Daten zur Erfüllung einer rechtlichen Verpflichtung erforderlich ist, der die jeweilige Stelle als Verantwortliche unterliegt. Somit fällt diese Datenverarbeitung unter den in Art. 6 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. c DSGVO genannten Fall (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 1. August 2022, Vyriausioji tarnybinės etikos komisija, C‑184/20, EU:C:2022:601, Rn. 71).
340 Was den in Art. 6 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. e DSGVO genannten Fall der rechtmäßigen Datenverarbeitung betrifft, trägt die Verfolgung des Ziels der Unparteilichkeit von Richtern, das u. a. in der Begründung zu dem Gesetz zur Änderung der von der Kommission mit der fünften Rüge beanstandeten nationalen Bestimmungen genannt wird, dazu bei, die ordnungsgemäße Ausübung des richterlichen Amtes sicherzustellen, die eine im öffentlichen Interesse liegende Aufgabe im Sinne von Art. 6 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. e DSGVO ist.
341 Drittens untersagt Art. 9 Abs. 1 DSGVO u. a. die Verarbeitung personenbezogener Daten, aus denen politische Meinungen oder religiöse oder weltanschauliche Überzeugungen einer natürlichen Person hervorgehen. Gemäß der Überschrift von Art. 9 handelt es sich um „besondere Kategorien personenbezogener Daten“, wobei diese Daten im zehnten Erwägungsgrund der DSGVO auch als „sensible Daten“ bezeichnet werden.
342 Art. 9 Abs. 2 DSGVO enthält einige Ausnahmen von diesem Verbot. Gemäß Art. 9 Abs. 2 Buchst. g DSGVO gilt das Verbot u. a. dann nicht, wenn die fragliche Verarbeitung auf der Grundlage des Unionsrechts oder des Rechts eines Mitgliedstaats, das in angemessenem Verhältnis zu dem verfolgten Ziel steht, den Wesensgehalt des Rechts auf Datenschutz wahrt und angemessene und spezifische Maßnahmen zur Wahrung der Grundrechte und Interessen der betroffenen Person vorsieht, aus Gründen eines erheblichen öffentlichen Interesses erforderlich ist.
343 Dem Wortlaut von Art. 9 DSGVO ist zu entnehmen, dass das darin enthaltene Verbot vorbehaltlich der in der DSGVO vorgesehenen Ausnahmen für jede Art der Verarbeitung der in dieser Bestimmung genannten besonderen Datenkategorien und für sämtliche Verantwortliche gilt, die solche Verarbeitungen vornehmen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 24. September 2019, GC u. a. [Auslistung sensibler Daten], C‑136/17, EU:C:2019:773, Rn. 42).
344 Um festzustellen, ob die beanstandeten nationalen Bestimmungen vom Anwendungsbereich von Art. 9 DSGVO erfasst sind, ist vorab darauf hinzuweisen, dass diese Vorschrift für Verarbeitungen gilt, die sich nicht nur auf ihrem Wesen nach sensible Daten beziehen, sondern auch auf Daten, aus denen sich mittels eines Denkvorgangs der Ableitung oder des Abgleichs indirekt sensible Informationen ergeben (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 1. August 2022, Vyriausioji tarnybinės etikos komisija, C‑184/20, EU:C:2022:601, Rn. 123).
345 Wie der Gerichtshof außerdem festgestellt hat, spricht für eine weite Auslegung des Begriffs „sensible Daten“ auch das oben in Rn. 316 genannte Ziel der DSGVO, das darin besteht, ein hohes Niveau des Schutzes der Grundrechte und Grundfreiheiten natürlicher Personen – insbesondere ihres Privatlebens – bei der Verarbeitung sie betreffender personenbezogener Daten zu gewährleisten. Diese Auslegung steht auch im Einklang mit dem Zweck von Art. 9 Abs. 1 DSGVO, der darin besteht, einen erhöhten Schutz vor Datenverarbeitungen zu gewährleisten, die, wie sich aus dem 51. Erwägungsgrund der DSGVO ergibt, aufgrund der besonderen Sensibilität der betreffenden Daten einen besonders schweren Eingriff in die durch die Art. 7 und 8 der Charta garantierten Grundrechte auf Achtung des Privatlebens und auf Schutz personenbezogener Daten darstellen können (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 1. August 2022, Vyriausioji tarnybinės etikos komisija, C‑184/20, EU:C:2022:601, Rn. 125 und 126 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).
346 Im vorliegenden Fall handelt es sich bei der Erhebung und Online-Veröffentlichung von Informationen zur früheren „Mitgliedschaft“ eines Richters in einer „politischen Partei“ und zu den in der Partei eingenommenen „Positionen“ im Sinne von Art. 88a § 1 Nr. 3 des geänderten Gesetzes über die ordentliche Gerichtsbarkeit um Verarbeitungen im Sinne von Art. 9 Abs. 1 DSGVO, aus denen die politischen Meinungen des Betroffenen hervorgehen können.
347 Was Informationen zur früheren oder derzeitigen „Mitgliedschaft“ eines Richters in einer „Vereinigung“ und zu den dort eingenommenen „Positionen“ oder zu seinen in einer „Stiftung ohne Gewinnzweck“ früher oder derzeit eingenommenen „Positionen“ im Sinne von Art. 88a § 1 Nrn. 1 und 2 des geänderten Gesetzes über die ordentliche Gerichtsbarkeit betrifft, ist im Einklang mit den Ausführungen des Generalanwalts in den Nrn. 244 und 245 seiner Schlussanträge festzustellen, dass es angesichts der sehr weiten und ungenauen Formulierung des polnischen Gesetzgebers je nach der konkreten Art der betreffenden Vereinigungen und Stiftungen möglich ist, dass im Sinne von Art. 9 Abs. 1 DSGVO aus der Erhebung und Online-Veröffentlichung solcher Informationen die religiösen oder weltanschaulichen Überzeugungen der Betroffenen hervorgehen, wie die Kommission geltend macht.
348 Folglich müssen die beanstandeten nationalen Bestimmungen, um nicht unter das Verbot nach Art. 9 Abs. 1 DSGVO zu fallen, einem der in Art. 9 Abs. 2 DSGVO aufgeführten Fälle entsprechen und die dort genannten Voraussetzungen erfüllen, d. h. vorliegend die Voraussetzungen von Art. 9 Abs. 2 Buchst. g DSGVO.
349 Angesichts der vorstehenden Erwägungen ist nun, da die beanstandeten nationalen Bestimmungen in den Anwendungsbereich von Art. 6 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. c und e und Art. 9 Abs. 1 DSGVO sowie Art. 7 und Art. 8 Abs. 1 der Charta fallen, ihre etwaige Rechtfertigung im Hinblick auf Art. 6 Abs. 3 und Art. 9 Abs. 2 Buchst. g DSGVO sowie Art. 52 Abs. 1 der Charta zu prüfen.
350 Insoweit ist den Rn. 334, 337 und 342 des vorliegenden Urteils zu entnehmen, dass die beanstandeten nationalen Bestimmungen als Rechtsgrundlage der in Rede stehenden Verarbeitung personenbezogener Daten nur dann den Anforderungen genügen, die sich aus Art. 52 Abs. 1 der Charta, Art. 6 Abs. 3 und Art. 9 Abs. 2 Buchst. g DSGVO ergeben, wenn die Verarbeitung u. a. ein im öffentlichen Interesse liegendes Ziel verfolgt und in einem angemessenen Verhältnis zu dem verfolgten legitimen Zweck steht (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 1. August 2022, Vyriausioji tarnybinės etikos komisija, C‑184/20, EU:C:2022:601, Rn. 73).
351 Im vorliegenden Fall macht die Kommission in der Klageschrift geltend, der Begründung zu dem Gesetzesentwurf, der Art. 88a des geänderten Gesetzes über die ordentliche Gerichtsbarkeit zugrunde liege, sei zu entnehmen, dass der Entwurf von dem Willen getragen gewesen sei, die politische Neutralität und Unparteilichkeit der Richter und das Vertrauen der Öffentlichkeit in deren Unparteilichkeit zu wahren und letztlich die Würde des Richteramts zu schützen.
352 In ihrem Verteidigungsvorbringen hat sich die Republik Polen zur Rechtfertigung des Erlasses der beanstandeten nationalen Bestimmungen auf das Ziel bezogen, das in der Stärkung der politischen Neutralität und der Unparteilichkeit der Richter und dem Vertrauen der Rechtsunterworfenen in diese Unparteilichkeit bestehe, und darauf hingewiesen, dass im vorliegenden Fall die nationalen Bestimmungen konkret darauf gerichtet seien, es den Rechtsunterworfenen zu ermöglichen, sich über die früheren politischen Aktivitäten der betreffenden Richter zu informieren, wenn diese Aktivitäten geeignet seien, Zweifel an der Objektivität eines Richters in einer bestimmten Rechtssache aufkommen zu lassen und aus diesem Grund zu seiner etwaigen Ablehnung führen könnten.
353 Insoweit ist vorab festzustellen, dass das von der Republik Polen angeführte Ziel, soweit es darin besteht, die politische Neutralität und Unparteilichkeit der Richter zu gewährleisten und der Gefahr entgegenzuwirken, dass die Richter bei der Ausübung ihres Amtes von Erwägungen im Zusammenhang mit privaten oder politischen Interessen beeinflusst werden, unbestreitbar im öffentlichen Interesse liegt, wie oben in Rn. 340 dargelegt, und folglich legitim ist (vgl. entsprechend Urteil vom 1. August 2022, Vyriausioji tarnybinės etikos komisija, C‑184/20, EU:C:2022:601, Rn. 75 und 76). Gleiches gilt für das Ziel, das Vertrauen der Rechtsunterworfenen in das Vorhandensein dieser Unparteilichkeit zu stärken.
354 Wie der Gerichtshof nämlich wiederholt hervorgehoben hat, gehört das Erfordernis der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der Gerichte, das dem Auftrag des Richters inhärent ist, zum Wesensgehalt des Grundrechts auf wirksamen Rechtsschutz und auf ein faires Verfahren, dem als Garant für den Schutz sämtlicher dem Einzelnen aus dem Unionsrecht erwachsender Rechte und für die Wahrung der in Art. 2 EUV genannten Werte, die den Mitgliedstaaten gemeinsam sind, u. a. des Wertes der Rechtsstaatlichkeit, grundlegende Bedeutung zukommt (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 20. April 2021, Repubblika, C‑896/19, EU:C:2021:311‚ Rn. 51 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie vom 29. März 2022, Getin Noble Bank, C‑132/20, EU:C:2022:235, Rn. 94 und die dort angeführte Rechtsprechung).
355 Nach ständiger Rechtsprechung setzen die nach dem Unionsrecht erforderlichen Garantien der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit voraus, dass es Regeln insbesondere für die Zusammensetzung eines Justizorgans und die Gründe für die Abberufung seiner Mitglieder gibt, die es ermöglichen, bei den Rechtsunterworfenen jeden berechtigten Zweifel an der Unempfänglichkeit dieses Justizorgans für äußere Faktoren und an seiner Neutralität in Bezug auf die widerstreitenden Interessen auszuräumen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 29. März 2022, Getin Noble Bank, C‑132/20, EU:C:2022:235‚ Rn. 95 und die dort angeführte Rechtsprechung). Wie oben in Rn. 95 dargelegt, müssen diese Regeln es insbesondere ermöglichen, die Formen der mittelbaren Einflussnahme, die zur Steuerung der Entscheidungen der betreffenden Richter geeignet sein könnten, auszuschließen und damit dem Eindruck vorzubeugen, dass diese Richter nicht unabhängig und unparteiisch seien, wodurch das Vertrauen beeinträchtigt werden könnte, das die Justiz in einer demokratischen Gesellschaft und in einem Rechtsstaat bei den Einzelnen schaffen muss.
356 Daraus ergibt sich, dass das Ziel, das die Republik Polen laut ihren Angaben im vorliegenden Fall verfolgen wollte, als solches einer von der Union anerkannten dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzung im Sinne von Art. 52 Abs. 1 der Charta oder einem im öffentlichen Interesse liegenden Ziel und somit einem legitimen Zweck im Sinne von Art. 6 Abs. 3 DSGVO entspricht, wobei ein solches im öffentlichen Interesse liegendes Ziel außerdem als „erheblich“ im Sinne von Art. 9 Abs. 2 Buchst. g DSGVO eingestuft werden kann.
357 Folglich lässt das betreffende Ziel gemäß diesen unionsrechtlichen Bestimmungen Einschränkungen der Ausübung der in den Art. 7 und 8 der Charta garantierten Rechte zu, vorausgesetzt, dass sie diesem Ziel tatsächlich entsprechen und in einem angemessenen Verhältnis zu ihm stehen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 1. August 2022, Vyriausioji tarnybinės etikos komisija, C‑184/20, EU:C:2022:601, Rn. 81).
358 Nach ständiger Rechtsprechung verlangt die Verhältnismäßigkeit von Maßnahmen, aus denen sich ein Eingriff in die in den Art. 7 und 8 der Charta garantierten Grundrechte ergibt, dass nicht nur die Anforderungen an die Geeignetheit und Erforderlichkeit, sondern auch die Anforderung an die Verhältnismäßigkeit dieser Maßnahmen im Hinblick auf das verfolgte Ziel erfüllt sein müssen (Urteil vom 22. November 2022, Luxembourg Business Registers, C‑37/20 und C‑601/20, EU:C:2022:912, Rn. 63 und die dort angeführte Rechtsprechung).
359 Insbesondere beschränken sich die Ausnahmen vom Schutz personenbezogener Daten und dessen Einschränkungen auf das absolut Erforderliche, wobei, wenn mehrere geeignete Maßnahmen zur Erreichung der verfolgten legitimen Ziele zur Verfügung stehen, die am wenigsten belastende zu wählen ist. Außerdem kann eine dem Gemeinwohl dienende Zielsetzung nicht verfolgt werden, ohne dem Umstand Rechnung zu tragen, dass sie mit den von der fraglichen Maßnahme betroffenen Grundrechten in Einklang gebracht werden muss, indem eine ausgewogene Gewichtung der dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzung und der fraglichen Rechte vorgenommen wird, damit die durch diese Maßnahme bedingten Nachteile nicht außer Verhältnis zu den angestrebten Zielen stehen. Daher ist die Möglichkeit, eine Einschränkung der durch die Art. 7 und 8 der Charta garantierten Grundrechte zu rechtfertigen, zu beurteilen, indem die Schwere des mit einer solchen Einschränkung verbundenen Eingriffs bestimmt und geprüft wird, ob die mit ihr verfolgte dem Gemeinwohl dienende Zielsetzung in angemessenem Verhältnis zur Schwere des Eingriffs steht (Urteile vom 1. August 2022, Vyriausioji tarnybinės etikos komisija, C‑184/20, EU:C:2022:601, Rn. 98 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie vom 22. November 2022, Luxembourg Business Registers, C‑37/20 und C‑601/20, EU:C:2022:912, Rn. 64 und die dort angeführte Rechtsprechung).
360 Ebenso wird im 39. Erwägungsgrund der DSGVO insbesondere hervorgehoben, dass die Anforderung der Erforderlichkeit erfüllt ist, wenn das verfolgte, dem Gemeinwohl dienende Ziel nicht in zumutbarer Weise ebenso wirksam mit anderen Mitteln erreicht werden kann, die weniger stark in die Grundrechte der betroffenen Personen, insbesondere die in den Art. 7 und 8 der Charta verbürgten Rechte auf Achtung des Privatlebens und auf Schutz personenbezogener Daten, eingreifen, wobei sich die Ausnahmen und Einschränkungen hinsichtlich des Grundsatzes des Schutzes solcher Daten auf das absolut Notwendige beschränken müssen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 1. August 2022, Vyriausioji tarnybinės etikos komisija, C‑184/20, EU:C:2022:601, Rn. 85 und die dort angeführte Rechtsprechung).
361 Unter diesen Umständen ist erstens zu prüfen, ob die beanstandeten nationalen Bestimmungen, sofern damit tatsächlich das von der Republik Polen geltend gemachte, dem Gemeinwohl dienende Ziel verfolgt wird, für die Erreichung dieses Ziels geeignet sind. Gegebenenfalls ist zweitens zu untersuchen, ob der sich aus den nationalen Bestimmungen ergebende Eingriff in die in den Art. 7 und 8 der Charta garantierten Rechte in dem Sinne auf das absolut Notwendige beschränkt ist, dass dieses Ziel nicht in zumutbarer Weise ebenso wirksam mit anderen Mitteln erreicht werden kann, die diese Grundrechte weniger beeinträchtigen, und drittens, ob dieser Eingriff nicht außer Verhältnis zu dem Ziel steht, was insbesondere eine Gewichtung der Bedeutung des Ziels und der Schwere dieses Eingriffs impliziert (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 22. November 2022, Luxembourg Business Registers, C‑37/20 und C‑601/20, EU:C:2022:912, Rn. 66).
362 Was als Erstes die Frage betrifft, ob die Veröffentlichung der mit den fraglichen Erklärungen erhobenen Informationen im Biuletyn Informacji Publicznej geeignet ist, das im vorliegenden Fall geltend gemachte, dem Gemeinwohl dienende Ziel zu erreichen, hat die Republik Polen nicht klar und konkret dargelegt, inwiefern die obligatorische Online-Veröffentlichung von Informationen zur Mitgliedschaft einer Person in einer politischen Partei vor ihrer Ernennung auf die Stelle eines Richters und während der Ausübung ihres Amtes vor dem 29. Dezember 1989 geeignet sein soll, gegenwärtig dazu beizutragen, das Recht von Rechtsunterworfenen, ihren Fall von einem das Erfordernis der Unparteilichkeit erfüllenden Gericht untersuchen zu lassen, und ihr Vertrauen in diese Unparteilichkeit zu stärken.
363 Der Gerichtshof hat bereits allgemein festgestellt, dass die Umstände, unter denen es in einem Zeitraum, in dem das nicht demokratische Regime der Volksrepublik Polen bestand, zur erstmaligen Ernennung eines Richters kam, für sich genommen nicht als geeignet angesehen werden können, bei den Einzelnen berechtigte und ernsthafte Zweifel an der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit dieses Richters bei der Ausübung seiner späteren richterlichen Tätigkeiten zu wecken (Urteil vom 29. März 2022, Getin Noble Bank, C‑132/20, EU:C:2022:235, Rn. 82 bis 84 und 107).
364 Im Übrigen berechtigt der Erlass der von der Kommission mit der fünften Rüge beanstandeten nationalen Bestimmungen, die sich wie die mit der ersten und der dritten Rüge beanstandeten Bestimmungen im Änderungsgesetz befinden, das in großer Eile und unter den oben in den Rn. 141 bis 145 und 291 beschriebenen Umständen verabschiedet wurde, zu der von der Kommission vertretenen Annahme, dass diese Bestimmungen, soweit sie Informationen zur Mitgliedschaft von Richtern in einer politischen Partei vor ihrer Ernennung und während der Ausübung ihres Amtes vor dem 29. Dezember 1989 betreffen, in Wirklichkeit erlassen wurden, um dem beruflichen Ansehen der betreffenden Richter und dem Bild, das die Rechtsunterworfenen von ihnen haben, zu schaden oder sie gar zu stigmatisieren und somit die Entwicklung ihrer beruflichen Laufbahn zu behindern.
365 Aus alledem ergibt sich, dass die beanstandeten nationalen Bestimmungen, soweit sie sich auf diese Informationen beziehen und die Verpflichtung beinhalten, den Namen der betreffenden politischen Partei, die bei ihr eingenommenen Positionen und den Zeitraum der Mitgliedschaft, d. h. personenbezogene Daten, die darüber hinaus „sensibel“ im Sinne von Art. 9 DSGVO sind, anzugeben, selbst wenn man annimmt, dass diese Bestimmungen tatsächlich auf das vorliegend geltend gemachte legitime Ziel gerichtet waren, jedenfalls nicht geeignet sind, dieses Ziel zu erreichen.
366 Die Feststellungen in den Rn. 362 bis 365 des vorliegenden Urteils genügen, um auszuschließen, dass die beanstandeten nationalen Bestimmungen, soweit sie die Erhebung und Online-Veröffentlichung von Informationen zur Mitgliedschaft einer Person in einer politischen Partei vor ihrer Ernennung auf die Stelle eines Richters und während der Ausübung ihres Amtes vor dem 29. Dezember 1989 betreffen, den Anforderungen des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit, der in Art. 52 Abs. 1 der Charta sowie in Art. 6 Abs. 3 und Art. 9 Abs. 2 Buchst. g DSGVO verankert ist, genügen können. Soweit die genannten nationalen Bestimmungen diese Informationen betreffen, verstoßen sie folglich sowohl gegen Art. 6 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. c und e sowie Abs. 3 und Art. 9 Abs. 1 DSGVO als auch gegen Art. 7 und Art. 8 Abs. 1 der Charta.
367 Was dagegen die anderen Informationen betrifft, die den beanstandeten nationalen Bestimmungen unterliegen, d. h. Angaben zu einer derzeitigen oder früheren Mitgliedschaft in einer Vereinigung und zu derzeit oder früher eingenommenen Positionen in der betreffenden Vereinigung oder in einer Stiftung ohne Gewinnzweck, kann nicht von vornherein ausgeschlossen werden, dass die Veröffentlichung dieser Informationen im Internet dazu beiträgt, etwaige Interessenkonflikte, die die Amtsausübung der betreffenden Richter bei der Bearbeitung von Einzelfällen beeinflussen könnten, aufzudecken, um auf eine unparteiische Amtsausübung hinzuwirken und dadurch das Vertrauen der Rechtsunterworfenen in das Handeln der Justiz zu stärken (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 1. August 2022, Vyriausioji tarnybinės etikos komisija, C‑184/20, EU:C:2022:601, Rn. 83).
368 Somit ist als Zweites zu prüfen, ob das von der Republik Polen geltend gemachte Ziel in zumutbarer Weise ebenso wirksam mit anderen Mitteln erreicht werden könnte, die weniger stark in die Rechte der betreffenden Richter auf Schutz ihrer Privatsphäre und ihrer personenbezogenen Daten eingreifen, und ob der fragliche Eingriff nicht außer Verhältnis zu dem Ziel steht, was insbesondere eine Gewichtung der Bedeutung des Ziels und der Schwere dieses Eingriffs impliziert.
369 Bei dieser Prüfung sind alle dem betreffenden Mitgliedstaat eigenen rechtlichen und tatsächlichen Aspekte zu berücksichtigen, wie etwa das Bestehen anderweitiger Maßnahmen zur Gewährleistung der Unparteilichkeit und zur Verhütung von Interessenkonflikten (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 1. August 2022, Vyriausioji tarnybinės etikos komisija, C‑184/20, EU:C:2022:601, Rn. 86).
370 Insoweit bestehen zwar, wie die Kommission geltend macht und wie oben in Rn. 300 dargelegt, bereits verschiedene nationale Bestimmungen, die dazu dienen, die Unparteilichkeit der Richter in Polen zu festigen und zu gewährleisten, doch lässt sich daraus nicht ableiten, dass Maßnahmen, die diese Unparteilichkeit, einschließlich des Eindrucks der Unparteilichkeit, und das Vertrauen der Rechtsunterworfenen in die Unparteilichkeit noch verstärken sollen, als über das für diese Zwecke erforderliche Maß hinausgehend anzusehen sind.
371 Zudem ist die Bereitstellung der fraglichen Informationen zugunsten der Stellen, die über etwaige Interessenkonflikte zu entscheiden haben oder diese verhindern sollen, wie die Kommission vorschlägt, nicht zwangsläufig geeignet, die Rechtsunterworfenen in die Lage zu versetzen, selbst Kenntnis von diesen Informationen zu erlangen und das etwaige Vorliegen sich daraus ergebender Interessenkonflikte zu erkennen und sich gegebenenfalls auf diese Informationen zu berufen, um einen Antrag auf Ablehnung eines zur Entscheidung über eine bestimmte Rechtssache berufenen Richters zu stellen. Ebenso kann die Veröffentlichung dieser Informationen im Internet es den betreffenden Rechtsunterworfenen grundsätzlich ermöglichen, diese Informationen völlig transparent zu erhalten, ohne aus eigener Initiative Erkundigungen über die Personen einholen zu müssen, die über Streitigkeiten zu entscheiden haben, bei denen sie Partei sind. Eine solche Transparenz kann gleichzeitig zur Stärkung des Vertrauens der Rechtsunterworfenen in die Justiz beitragen.
372 Zum einen ist jedoch darauf hinzuweisen, dass sich die betreffenden personenbezogenen Daten im vorliegenden Fall u. a. auf Zeiträume beziehen, die vor dem Zeitpunkt liegen, an dem ein Richter die nach den beanstandeten nationalen Bestimmungen erforderliche Erklärung abzugeben hat, und zwar unabhängig davon, wie lange die jeweiligen Zeiträume zurückliegen. Da noch nicht einmal eine zeitliche Begrenzung in Bezug auf die insoweit betroffenen früheren Zeiträume gegeben ist, kann vernünftigerweise nicht davon ausgegangen werden, dass sich die fraglichen Maßnahmen, soweit sie sich auf diese früheren Zeiträume beziehen, auf das beschränken, was unbedingt erforderlich ist, um das Recht der Rechtsunterworfenen, in einer bestimmten Rechtssache ihren Fall von einem das Erfordernis der Unparteilichkeit erfüllenden Gericht untersuchen zu lassen, und ihr Vertrauen in diese Unparteilichkeit zu stärken.
373 Zum anderen ist außerdem angesichts der oben in Rn. 359 angeführten Rechtsprechung bei der Beurteilung der von der Kommission in Frage gestellten Verhältnismäßigkeit der Datenverarbeitung die Schwere des durch diese Verarbeitung bewirkten Eingriffs in die Grundrechte auf Achtung des Privatlebens und auf Schutz personenbezogener Daten zu bewerten und zu prüfen, ob die Bedeutung der dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzung, die mit dieser Verarbeitung verfolgt wird, im Verhältnis zu dieser Schwere steht.
374 Bei der Beurteilung der Schwere des Eingriffs ist insbesondere der Art der in Rede stehenden personenbezogenen Daten Rechnung zu tragen, vor allem der möglicherweise sensiblen Natur dieser Daten, sowie der Art und den konkreten Modalitäten ihrer Verarbeitung, insbesondere der Zahl der Personen, die Zugang zu diesen Daten haben, und den Zugangsmodalitäten (Urteil vom 1. August 2022, Vyriausioji tarnybinės etikos komisija, C‑184/20, EU:C:2022:601, Rn. 99 und die dort angeführte Rechtsprechung). Wie oben in Rn. 369 dargelegt, sind zu diesem Zweck auch alle dem betreffenden Mitgliedstaat eigenen rechtlichen und tatsächlichen Aspekte zu berücksichtigen.
375 Im vorliegenden Fall ist erstens festzustellen, dass die Veröffentlichung der fraglichen namensbezogenen Informationen im Internet je nach dem Gegenstand der betreffenden Vereinigungen oder Stiftungen ohne Gewinnzweck geeignet ist, Informationen über bestimmte sensible Aspekte des Privatlebens der betroffenen Richter zu offenbaren, u. a. ihre religiösen oder weltanschaulichen Überzeugungen, so dass diese Informationen, wie oben ausgeführt, von Art. 9 Abs. 1 DSGVO erfasst sind.
376 Zweitens führt die fragliche Verarbeitung der personenbezogenen Daten dazu, dass diese Angaben im Internet öffentlich und somit einer potenziell unbegrenzten Zahl von Personen zugänglich gemacht werden, so dass durch diese Verarbeitung Personen, die sich aus Gründen, die nicht mit dem geltend gemachten, dem Gemeinwohl dienenden Ziel zusammenhängen, die Unparteilichkeit von Richtern zu gewährleisten und bei ihnen vorliegende Interessenkonflikte zu vermeiden, über die persönliche Situation der erklärungspflichtigen Person Kenntnis verschaffen wollen, ungehindert auf diese Angaben zugreifen können (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 22. November 2022, Luxembourg Business Registers, C‑37/20 und C‑601/20, EU:C:2022:912, Rn. 42 und die dort angeführte Rechtsprechung).
377 Drittens ist auch dem Umstand Rechnung zu tragen, dass, wie die Kommission geltend macht und oben in Rn. 364 hervorgehoben wird, in dem speziellen, dem betreffenden Mitgliedstaat eigenen Kontext, in dem die beanstandeten nationalen Bestimmungen erlassen wurden, die Veröffentlichung der fraglichen personenbezogenen Daten im Internet die betreffenden Richter z. B. der Gefahr einer unzulässigen Stigmatisierung durch ungerechtfertigte Beeinträchtigung ihrer Wahrnehmung sowohl durch die einzelnen ihrer Gerichtsbarkeit unterstehenden Personen als auch durch die allgemeine Öffentlichkeit sowie der Gefahr einer unzulässigen Behinderung ihrer beruflichen Entwicklung aussetzen kann.
378 Folglich ist eine Verarbeitung personenbezogener Daten wie die von den beanstandeten nationalen Bestimmungen vorgesehene als besonders schwerer Eingriff in die durch Art. 7 und Art. 8 Abs. 1 der Charta garantierten Grundrechte der betreffenden Personen auf Achtung des Privatlebens und auf Schutz personenbezogener Daten anzusehen.
379 Die Schwere des Eingriffs ist mit der Bedeutung des geltend gemachten, dem Gemeinwohl dienenden Ziels abzuwägen, die Unparteilichkeit von Richtern, einschließlich des Eindrucks der Unparteilichkeit, zu gewährleisten und bei ihnen Interessenkonflikte zu vermeiden und gleichzeitig die Transparenz zu erhöhen und das Vertrauen der Rechtsunterworfenen in die Unparteilichkeit zu festigen.
380 Zu diesem Zweck sind u. a. die konkreten Ausprägungen und das Ausmaß der Gefahr, die auf diese Weise bekämpft werden soll, und die mit den beanstandeten nationalen Bestimmungen tatsächlich verfolgten Ziele zu berücksichtigen, insbesondere im Hinblick auf den Kontext, in dem die Bestimmungen erlassen wurden, so dass das Ergebnis der Abwägung zwischen diesen Zielen einerseits und dem Recht der betroffenen Personen auf Achtung des Privatlebens und auf Schutz personenbezogener Daten andererseits nicht unbedingt für alle Mitgliedstaaten gleich ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 1. August 2022, Vyriausioji tarnybinės etikos komisija, C‑184/20, EU:C:2022:601, Rn. 110 und die dort angeführte Rechtsprechung).
381 Im vorliegenden Fall ist angesichts des bereits dargelegten allgemeinen und besonderen nationalen Kontexts, in dem die beanstandeten nationalen Bestimmungen ergingen, und der besonders schweren Auswirkungen, die diese nationalen Bestimmungen auf die betreffenden Richter haben können, das Ergebnis der Abwägung zwischen dem Eingriff, der sich aus der Veröffentlichung der betreffenden personenbezogenen Daten im Internet ergibt, und dem geltend gemachten, dem Gemeinwohl dienenden Ziel nicht ausgewogen.
382 Verglichen mit dem status quo ante, der sich aus dem nationalen Rechtsrahmen, wie er zuvor bestand, ergibt, stellt die Veröffentlichung der betreffenden personenbezogenen Daten im Internet nämlich einen potenziell erheblichen Eingriff in die durch Art. 7 und Art. 8 Abs. 1 der Charta garantierten Grundrechte dar, ohne dass dieser Eingriff im vorliegenden Fall durch die etwaigen Vorteile gerechtfertigt werden kann, die damit in Bezug auf die Vermeidung von Interessenkonflikten bei Richtern und das gesteigerte Vertrauen in deren Unparteilichkeit erzielt werden könnten.
383 Zudem ist jeder Richter gemäß den allgemein für die Rechtsverhältnisse der Richter und die Ausübung des Richteramts geltenden Vorschriften verpflichtet, sich in einem Verfahren selbst abzulehnen, in dem ein Umstand, wie z. B. seine derzeitige oder frühere Mitgliedschaft in einer Vereinigung oder derzeit oder früher eingenommene Positionen in dieser Vereinigung oder in einer Stiftung ohne Gewinnzweck, berechtigterweise Zweifel an seiner Unparteilichkeit begründen könnte.
384 Im Licht der vorstehenden Ausführungen verstoßen die beanstandeten Bestimmungen sowohl gegen Art. 6 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. c und e sowie Abs. 3 und Art. 9 Abs. 1 DSGVO als auch gegen Art. 7 und Art. 8 Abs. 1 der Charta, auch soweit sie sich auf die Erhebung und Online-Veröffentlichung personenbezogener Daten zur derzeitigen oder früheren Mitgliedschaft in einer Vereinigung und zu derzeit oder früher eingenommenen Positionen in der betreffenden Vereinigung oder in einer Stiftung ohne Gewinnzweck beziehen.
385 Unter diesen Umständen ist der fünften Rüge insgesamt stattzugeben, soweit sie sich auf den Verstoß gegen diese Bestimmungen des Unionsrechts bezieht.
386 Nach alledem ist festzustellen, dass
–
die Republik Polen dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV verstoßen hat, dass sie die Disziplinarkammer, deren Unabhängigkeit und Unparteilichkeit nicht gewährleistet sind, ermächtigt hat, in Sachen zu entscheiden, die sich unmittelbar auf den Status und die Amtsausübung von Richtern und Assessoren auswirken, etwa zum einen in Sachen betreffend die Zustimmung dazu, dass Richter und Assessoren strafrechtlich zur Verantwortung gezogen oder festgenommen werden, und zum anderen in arbeits- und sozialversicherungsrechtlichen Sachen betreffend die Richter des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) sowie Sachen betreffend die Versetzung eines solchen Richters in den Ruhestand;
–
die Republik Polen dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV in Verbindung mit Art. 47 der Charta sowie aus Art. 267 AEUV verstoßen hat, dass sie Art. 107 § 1 Nrn. 2 und 3 des geänderten Gesetzes über die ordentliche Gerichtsbarkeit und Art. 72 § 1 Nrn. 1 bis 3 des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht erlassen und beibehalten hat, wonach die Prüfung, ob die Anforderungen der Union in Bezug auf ein unabhängiges, unparteiisches und zuvor durch Gesetz errichtetes Gericht erfüllt sind, als Disziplinarvergehen gewertet werden kann;
–
die Republik Polen dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV in Verbindung mit Art. 47 der Charta und aus dem Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts verstoßen hat, dass sie Art. 42a §§ 1 und 2 sowie Art. 55 § 4 des geänderten Gesetzes über die ordentliche Gerichtsbarkeit, Art. 26 § 3 und Art. 29 §§ 2 und 3 des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht, Art. 5 §§ 1a und 1b des geänderten Gesetzes über die Verwaltungsgerichtsbarkeit sowie Art. 8 des Änderungsgesetzes erlassen und beibehalten hat, wonach allen nationalen Gerichten die Prüfung, ob die sich aus dem Unionsrecht ergebenden Anforderungen in Bezug auf die Gewährleistung eines unabhängigen, unparteiischen und zuvor durch Gesetz errichteten Gerichts erfüllt sind, untersagt ist;
–
die Republik Polen dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV in Verbindung mit Art. 47 der Charta sowie aus Art. 267 AEUV und aus dem Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts verstoßen hat, dass sie Art. 26 §§ 2 und 4 bis 6 sowie Art. 82 §§ 2 bis 5 des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht sowie Art. 10 des Änderungsgesetzes erlassen und beibehalten hat, wonach für die Prüfung von Rügen und Rechtsfragen betreffend die fehlende Unabhängigkeit eines Gerichts oder eines Richters ausschließlich die Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten zuständig ist;
–
die Republik Polen dadurch das Recht auf Achtung des Privatlebens und das Recht auf Schutz personenbezogener Daten, wie sie in Art. 7 und Art. 8 Abs. 1 der Charta sowie in Art. 6 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. c und e sowie Abs. 3 und Art. 9 Abs. 1 DSGVO niedergelegt sind, verletzt hat, dass sie Art. 88a des geänderten Gesetzes über die ordentliche Gerichtsbarkeit, Art. 45 § 3 des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht und Art. 8 § 2 des geänderten Gesetzes über die Verwaltungsgerichtsbarkeit erlassen und beibehalten hat.
387 Im Übrigen wird die Klage abgewiesen, d. h. soweit die Kommission mit ihrer ersten Rüge die Feststellung eines Verstoßes gegen Art. 267 AEUV begehrt.
Kosten
388 Nach Art. 138 Abs. 1 der Verfahrensordnung ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Da die Republik Polen mit ihrem Vorbringen im Wesentlichen unterlegen ist, sind ihr gemäß dem Antrag der Kommission die Kosten einschließlich der Kosten der Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes aufzuerlegen.
389 Nach Art. 140 Abs. 1 der Verfahrensordnung tragen das Königreich Belgien, das Königreich Dänemark, das Königreich der Niederlande, die Republik Finnland und das Königreich Schweden ihre eigenen Kosten.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Große Kammer) für Recht erkannt und entschieden:
1. Die Republik Polen hat dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV verstoßen, dass sie die Disziplinarkammer des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht, Polen), deren Unabhängigkeit und Unparteilichkeit nicht gewährleistet sind, ermächtigt hat, in Sachen zu entscheiden, die sich unmittelbar auf den Status und die Amtsausübung von Richtern und Assessoren auswirken, etwa zum einen in Sachen betreffend die Zustimmung dazu, dass Richter und Assessoren strafrechtlich zur Verantwortung gezogen oder festgenommen werden, und zum anderen in arbeits- und sozialversicherungsrechtlichen Sachen betreffend die Richter des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) sowie Sachen betreffend die Versetzung eines solchen Richters in den Ruhestand.
2. Die Republik Polen hat dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV in Verbindung mit Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union und aus Art. 267 AEUV verstoßen, dass sie Art. 107 § 1 Nrn. 2 und 3 der Ustawa – Prawo o ustroju sądów powszechnych (Gesetz über den Aufbau der ordentlichen Gerichtsbarkeit) vom 27. Juli 2001 in der durch die Ustawa o zmianie ustawy – Prawo o ustroju sądów powszechnych, ustawy o Sądzie Najwyższym oraz niektórych innych ustaw (Gesetz zur Änderung des Gesetzes über den Aufbau der ordentlichen Gerichtsbarkeit, des Gesetzes über das Oberste Gericht und einiger anderer Gesetze) vom 20. Dezember 2019 geänderten Fassung und Art. 72 § 1 Nrn. 1 bis 3 der Ustawa o Sądzie Najwyższym (Gesetz über das Oberste Gericht) vom 8. Dezember 2017 in der durch das Gesetz vom 20. Dezember 2019 geänderten Fassung erlassen und beibehalten hat, wonach die Prüfung, ob die Anforderungen der Europäischen Union in Bezug auf ein unabhängiges, unparteiisches und zuvor durch Gesetz errichtetes Gericht erfüllt sind, als Disziplinarvergehen gewertet werden kann.
3. Die Republik Polen hat dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV in Verbindung mit Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union und aus dem Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts verstoßen, dass sie Art. 42a §§ 1 und 2 sowie Art. 55 § 4 des Gesetzes über den Aufbau der ordentlichen Gerichtsbarkeit in der durch das vorgenannte Gesetz vom 20. Dezember 2019 geänderten Fassung, Art. 26 § 3 und Art. 29 §§ 2 und 3 des Gesetzes über das Oberste Gericht in der durch das Gesetz vom 20. Dezember 2019 geänderten Fassung, Art. 5 §§ 1a und 1b der Ustawa – Prawo o ustroju sądów administracyjnych (Gesetz über den Aufbau der Verwaltungsgerichtsbarkeit) vom 25. Juli 2002 in der durch das Gesetz vom 20. Dezember 2019 geänderten Fassung sowie Art. 8 des zuletzt genannten Gesetzes erlassen und beibehalten hat, wonach allen nationalen Gerichten die Prüfung, ob die sich aus dem Unionsrecht ergebenden Anforderungen in Bezug auf die Gewährleistung eines unabhängigen, unparteiischen und zuvor durch Gesetz errichteten Gerichts erfüllt sind, untersagt ist.
4. Die Republik Polen hat dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV in Verbindung mit Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union sowie aus Art. 267 AEUV und aus dem Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts verstoßen, dass sie Art. 26 §§ 2 und 4 bis 6 sowie Art. 82 §§ 2 bis 5 des Gesetzes über das Oberste Gericht in der durch das vorgenannte Gesetz vom 20. Dezember 2019 geänderten Fassung sowie Art. 10 des zuletzt genannten Gesetzes erlassen und beibehalten hat, wonach für die Prüfung von Rügen und Rechtsfragen betreffend die fehlende Unabhängigkeit eines Gerichts oder eines Richters ausschließlich die Izba Kontroli Nadzwyczajnej i Spraw Publicznych (Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten) des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht, Polen) zuständig ist.
5. Die Republik Polen hat dadurch das Recht auf Achtung des Privatlebens und das Recht auf Schutz personenbezogener Daten, wie sie in Art. 7 und Art. 8 Abs. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union sowie in Art. 6 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. c und e sowie Abs. 3 und Art. 9 Abs. 1 der Verordnung (EU) 2016/679 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 27. April 2016 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten, zum freien Datenverkehr und zur Aufhebung der Richtlinie 95/46/EG (Datenschutz-Grundverordnung) niedergelegt sind, verletzt, dass sie Art. 88a des Gesetzes über den Aufbau der ordentlichen Gerichtsbarkeit in der durch das vorgenannte Gesetz vom 20. Dezember 2019 geänderten Fassung, Art. 45 § 3 des Gesetzes über das Oberste Gericht in der durch das Gesetz vom 20. Dezember 2019 geänderten Fassung und Art. 8 § 2 des Gesetzes über den Aufbau der Verwaltungsgerichtsbarkeit in der durch das Gesetz vom 20. Dezember 2019 geänderten Fassung erlassen und beibehalten hat.
6. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
7. Die Republik Polen trägt neben ihren eigenen Kosten die der Europäischen Kommission entstandenen Kosten einschließlich der Kosten der Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes.
8. Das Königreich Belgien, das Königreich Dänemark, das Königreich der Niederlande, die Republik Finnland und das Königreich Schweden tragen ihre eigenen Kosten.
Unterschriften
(*1) Verfahrenssprache: Polnisch.
(i
) Die vorliegende Sprachfassung ist in Rn. 100 gegenüber der ursprünglich online gestellten Fassung geändert worden.
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Urteil des Gerichtshofs (Fünfte Kammer) vom 10. Juni 2021.#Land Oberösterreich gegen KV.#Vorabentscheidungsersuchen des Landesgerichts Linz.#Vorlage zur Vorabentscheidung – Richtlinie 2003/109/EG – Rechtsstellung der langfristig aufenthaltsberechtigten Drittstaatsangehörigen – Art. 11 – Recht auf Gleichbehandlung in Bezug auf soziale Sicherheit, Sozialhilfe und Sozialschutz – Abweichung vom Grundsatz der Gleichbehandlung im Bereich der Sozialhilfe und des Sozialschutzes – Begriff ‚Kernleistungen‘ – Richtlinie 2000/43/EG – Grundsatz der Gleichbehandlung ohne Unterschied der Rasse oder der ethnischen Herkunft – Art. 2 – Begriff ‚Diskriminierung‘ – Art. 21 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Regelung eines Mitgliedstaats, nach der die Gewährung einer Wohnbeihilfe an langfristig aufenthaltsberechtigte Drittstaatsangehörige daran geknüpft ist, dass diese auf eine durch diese Regelung bestimmte Weise den Nachweis erbringen, dass sie über grundlegende Kenntnisse der Sprache dieses Mitgliedstaats verfügen.#Rechtssache C-94/20.
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62020CJ0094
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ECLI:EU:C:2021:477
| 2021-06-10T00:00:00 |
Gerichtshof, Hogan
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62020CJ0094
URTEIL DES GERICHTSHOFS (Fünfte Kammer)
10. Juni 2021 (*1)
„Vorlage zur Vorabentscheidung – Richtlinie 2003/109/EG – Rechtsstellung der langfristig aufenthaltsberechtigten Drittstaatsangehörigen – Art. 11 – Recht auf Gleichbehandlung in Bezug auf soziale Sicherheit, Sozialhilfe und Sozialschutz – Abweichung vom Grundsatz der Gleichbehandlung im Bereich der Sozialhilfe und des Sozialschutzes – Begriff ‚Kernleistungen‘ – Richtlinie 2000/43/EG – Grundsatz der Gleichbehandlung ohne Unterschied der Rasse oder der ethnischen Herkunft – Art. 2 – Begriff ‚Diskriminierung‘ – Art. 21 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Regelung eines Mitgliedstaats, nach der die Gewährung einer Wohnbeihilfe an langfristig aufenthaltsberechtigte Drittstaatsangehörige daran geknüpft ist, dass diese auf eine durch diese Regelung bestimmte Weise den Nachweis erbringen, dass sie über grundlegende Kenntnisse der Sprache dieses Mitgliedstaats verfügen“
In der Rechtssache C-94/20
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Landesgericht Linz (Österreich) mit Entscheidung vom 6. Februar 2020, beim Gerichtshof eingegangen am 25. Februar 2020, in dem Verfahren
Land Oberösterreich
gegen
KV
erlässt
DER GERICHTSHOF (Fünfte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten E. Regan sowie der Richter M. Ilešič, E. Juhász, C. Lycourgos und I. Jarukaitis (Berichterstatter),
Generalanwalt: G. Hogan,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
–
des Landes Oberösterreich, vertreten durch Rechtsanwältin K. Holzinger,
–
von KV, vertreten durch Rechtsanwältin S. Scheed,
–
der Europäischen Kommission, vertreten durch C. Cattabriga, D. Martin und B.-R. Killmann als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 2. März 2021
folgendes
Urteil
1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 11 der Richtlinie 2003/109/EG des Rates vom 25. November 2003 betreffend die Rechtsstellung der langfristig aufenthaltsberechtigten Drittstaatsangehörigen (ABl. 2004, L 16, S. 44), von Art. 2 der Richtlinie 2000/43/EG des Rates vom 29. Juni 2000 zur Anwendung des Gleichbehandlungsgrundsatzes ohne Unterschied der Rasse oder der ethnischen Herkunft (ABl. 2000, L 180, S. 22) und von Art. 21 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta).
2 Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen KV und dem Land Oberösterreich (Österreich) wegen einer Klage auf Ersatz des Schadens, der KV angeblich durch die Nichtgewährung einer Wohnbeihilfe (im Folgenden: Wohnbeihilfe) entstanden ist.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Richtlinie 2000/43
3 Art. 1 („Zweck“) der Richtlinie 2000/43 lautet:
„Zweck dieser Richtlinie ist die Schaffung eines Rahmens zur Bekämpfung der Diskriminierung aufgrund der Rasse oder der ethnischen Herkunft im Hinblick auf die Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung in den Mitgliedstaaten.“
4 Art. 2 („Der Begriff ‚Diskriminierung‘“) der Richtlinie bestimmt:
„(1) Im Sinne dieser Richtlinie bedeutet ‚Gleichbehandlungsgrundsatz‘, dass es keine unmittelbare oder mittelbare Diskriminierung aus Gründen der Rasse oder der ethnischen Herkunft geben darf.
(2) Im Sinne von Absatz 1
a)
liegt eine unmittelbare Diskriminierung vor, wenn eine Person aufgrund ihrer Rasse oder ethnischen Herkunft in einer vergleichbaren Situation eine weniger günstige Behandlung als eine andere Person erfährt, erfahren hat oder erfahren würde;
b)
liegt eine mittelbare Diskriminierung vor, wenn dem Anschein nach neutrale Vorschriften, Kriterien oder Verfahren Personen, die einer Rasse oder ethnischen Gruppe angehören, in besonderer Weise benachteiligen können, es sei denn, die betreffenden Vorschriften, Kriterien oder Verfahren sind durch ein rechtmäßiges Ziel sachlich gerechtfertigt, und die Mittel sind zur Erreichung dieses Ziels angemessen und erforderlich.
...“
5 Art. 3 („Geltungsbereich“) Abs. 2 dieser Richtlinie sieht vor:
„Diese Richtlinie betrifft nicht unterschiedliche Behandlungen aus Gründen der Staatsangehörigkeit und berührt nicht die Vorschriften und Bedingungen für die Einreise von Staatsangehörigen dritter Staaten oder staatenlosen Personen in das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten oder deren Aufenthalt in diesem Hoheitsgebiet sowie eine Behandlung, die sich aus der Rechtsstellung von Staatsangehörigen dritter Staaten oder staatenlosen Personen ergibt.“
Richtlinie 2003/109
6 In den Erwägungsgründen 2, 4, 12 und 13 der Richtlinie 2003/109 heißt es:
„(2)
Der Europäische Rat hat auf seiner Sondertagung in Tampere [(Finnland)] am 15. und 16. Oktober 1999 erklärt, dass die Rechtsstellung von Drittstaatsangehörigen an diejenige der Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten angenähert werden sollte und einer Person, die sich während eines noch zu bestimmenden Zeitraums in einem Mitgliedstaat rechtmäßig aufgehalten hat und einen langfristigen Aufenthaltstitel besitzt, in diesem Mitgliedstaat eine Reihe einheitlicher Rechte gewährt werden sollte, die denjenigen der Unionsbürger so nah wie möglich sind.
...
(4) Die Integration von Drittstaatsangehörigen, die in den Mitgliedstaaten langfristig ansässig sind, trägt entscheidend zur Förderung des wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalts bei, der als eines der Hauptziele der [Europäischen Union] im [AEU‑]Vertrag angegeben ist.
...
(12) Um ein echtes Instrument zur Integration von langfristig Aufenthaltsberechtigten in die Gesellschaft, in der sie leben, darzustellen, sollten langfristig Aufenthaltsberechtigte nach Maßgabe der entsprechenden, in dieser Richtlinie festgelegten Bedingungen in vielen wirtschaftlichen und sozialen Bereichen wie die Bürger des Mitgliedstaats behandelt werden.
(13) Hinsichtlich der Sozialhilfe ist die Möglichkeit, die Leistungen für langfristig Aufenthaltsberechtigte auf Kernleistungen zu beschränken, so zu verstehen, dass dieser Begriff zumindest ein Mindesteinkommen sowie Unterstützung bei Krankheit, bei Schwangerschaft, bei Elternschaft und bei Langzeitpflege erfasst. Die Modalitäten der Gewährung dieser Leistungen sollten durch das nationale Recht bestimmt werden.“
7 In Art. 2 („Definitionen“) dieser Richtlinie heißt es:
„Im Sinne dieser Richtlinie bezeichnet der Ausdruck
a)
‚Drittstaatsangehöriger‘ jede Person, die nicht Unionsbürger im Sinne des Artikels [20] Absatz 1 [AEUV] ist;
b)
‚langfristig Aufenthaltsberechtigter‘ jeden Drittstaatsangehörigen, der die Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten im Sinne der Artikel 4 bis 7 [dieser Richtlinie] besitzt;
...“
8 Art. 11 („Gleichbehandlung“) dieser Richtlinie bestimmt:
„(1) Langfristig Aufenthaltsberechtigte werden auf folgenden Gebieten wie eigene Staatsangehörige behandelt:
...
d)
soziale Sicherheit, Sozialhilfe und Sozialschutz im Sinn des nationalen Rechts;
...
(4) Die Mitgliedstaaten können die Gleichbehandlung bei Sozialhilfe und Sozialschutz auf die Kernleistungen beschränken.
...“
Österreichisches Recht
OöWFG
9 Das Land Oberösterreich gewährt Wohnbeihilfe, wobei die Voraussetzungen hierfür in den folgenden Bestimmungen des oberösterreichischen Wohnbauförderungsgesetzes (LGBl. Nr. 6/1993) in seiner auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren Fassung (im Folgenden: oöWFG) geregelt waren. § 6 oöWFG sah vor:
„...
(9) Förderungen nach diesem Landesgesetz sind österreichischen Staatsbürgern, Staatsangehörigen eines EWR-Staates und Unionsbürgern sowie deren Familienangehörigen im Sinn der Richtlinie 2004/38/EG [des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 und zur Aufhebung der Richtlinien 64/221/EWG, 68/360/EWG, 72/194/EWG, 73/148/EWG, 75/34/EWG, 75/35/EWG, 90/364/EWG, 90/365/EWG und 93/96/EWG (ABl. 2004, L 158, S. 77)] zu gewähren. Sonstigen Personen, sofern ihnen nicht auf Grund eines Staatsvertrags eine Förderung wie Inländern zu gewähren ist, darf eine Förderung nur gewährt werden, wenn diese
1. ununterbrochen und rechtmäßig mehr als fünf Jahre in Österreich ihren Hauptwohnsitz haben,
2. Einkünfte beziehen, die der Einkommensteuer in Österreich unterliegen, oder auf Grund der Ausübung einer Erwerbstätigkeit Beiträge an die gesetzliche Sozialversicherung in Österreich entrichtet haben und nunmehr Leistungen aus dieser erhalten, sowie innerhalb der letzten fünf Jahre 54 Monate lang oben genannte Einkünfte oder Leistungen bezogen haben und
3. Deutschkenntnisse gemäß Abs. 11 nachweisen.
...
(11) Die Voraussetzung des Abs. 9 Z 3 gilt als erfüllt, wenn
1. ein Prüfungszeugnis des Österreichischen Integrationsfonds (ÖIF) oder einer vom ÖIF zertifizierten Prüfungseinrichtung über die erfolgreiche Absolvierung einer Integrationsprüfung vorgelegt wird oder
2. ein allgemein anerkanntes Sprachdiplom oder Prüfungszeugnis über Deutschkenntnisse auf dem Niveau A2 von einer zertifizierten Prüfungseinrichtung im Sinn der Integrationsvereinbarungs-Verordnung, BGBl. II Nr. 242/2017, vorgelegt wird oder
3. der Nachweis eines mindestens fünfjährigen Besuchs einer Pflichtschule in Österreich vorgelegt wird und das Unterrichtsfach ‚Deutsch‘ positiv abgeschlossen wurde oder das Unterrichtsfach ‚Deutsch‘ auf dem Niveau der 9. Schulstufe positiv abgeschlossen wurde oder
4. der Förderwerber über eine Lehrabschlussprüfung gemäß dem Berufsausbildungsgesetz, BGBl. Nr. 142/1969, verfügt.
...“
10 § 23 oöWFG bestimmte:
„Dem Hauptmieter, Wohnungseigentumsbewerber oder Eigentümer einer geförderten Wohnung kann eine Wohnbeihilfe gewährt werden, wenn der Förderungswerber
1. durch den Wohnungsaufwand unzumutbar belastet wird,
2. die geförderte Wohnung zur Befriedigung seines Wohnbedürfnisses dauernd bewohnt,
3. sonstige Zuschüsse zur Minderung des Wohnungsaufwandes (§ 24 Abs. 1), auf die er einen Rechtsanspruch besitzt, beantragt hat und
4. die Rückzahlung des Förderungsdarlehens (§ 9) oder eines bezuschussten Hypothekardarlehens (§ 10) bereits eingesetzt hat.
(2) Dem Hauptmieter einer nicht geförderten Wohnung kann eine Wohnbeihilfe bei Vorliegen der Voraussetzungen gemäß Abs. 1 Z 1 bis 3 gewährt werden, wenn das Mietverhältnis nicht mit einer nahestehenden Person abgeschlossen wurde.
...“
Oberösterreichische Wohnbeihilfen-Verordnung
11 Nach § 2 Abs. 3 der oberösterreichischen Wohnbeihilfen-Verordnung in der auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren Fassung war die Höhe der Wohnbeihilfe auf 300 Euro monatlich begrenzt.
OöBMSG
12 Personen in einer sozialen Notlage konnten nach dem oberösterreichischen Mindestsicherungsgesetz (BGBl. Nr. 74/2011) in seiner auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren Fassung (im Folgenden: oöBMSG) eine bedarfsorientierte Mindestsicherung erhalten. Nach § 1 oöBMSG war Aufgabe bedarfsorientierter Mindestsicherung die Sicherstellung eines menschenwürdigen Lebens sowie die damit verbundene dauerhafte Einbeziehung in die Gesellschaft für jene, die dazu der Hilfe der Gemeinschaft bedürfen. Diese Leistung konnte unter bestimmten Voraussetzungen auch neben oder unter teilweiser Anrechnung der Wohnbeihilfe bezogen werden. Der Grundbetrag dieser Leistung betrug im Jahr 2018 für eine alleinstehende Person 921,30 Euro pro Monat und für volljährige Personen in einem gemeinsamen Haushalt grundsätzlich 649,10 Euro pro Person; für Kinder wurden zusätzliche Leistungen gewährt.
13 § 4 oöBMSG bestimmte:
„(1) Bedarfsorientierte Mindestsicherung kann, sofern dieses Landesgesetz nichts anderes bestimmt, nur Personen geleistet werden, die
1. ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Land Oberösterreich haben … und
2. a)
österreichische Staatsbürgerinnen und -bürger oder deren Familienangehörige,
b)
Asylberechtigte oder subsidiär Schutzberechtigte,
c)
EU-/EWR-Bürgerinnen oder -Bürger, Schweizer Staatsangehörige oder deren Familienangehörige, jeweils soweit sie durch den Bezug dieser Leistungen nicht ihr Aufenthaltsrecht verlieren würden,
d)
Personen mit einem Aufenthaltstitel ‚Daueraufenthalt – [EU]‘ oder ‚Daueraufenthalt – Familienangehörige‘ oder mit einem Niederlassungsnachweis oder einer unbefristeten Niederlassungsbewilligung,
e)
Personen mit einem sonstigen dauernden Aufenthaltsrecht im Inland, soweit sie durch den Bezug dieser Leistungen nicht ihr Aufenthaltsrecht verlieren würden, sind.“
14 § 5 oöBMSG sah vor:
„Voraussetzung für die Leistung bedarfsorientierter Mindestsicherung ist, dass eine Person im Sinn des § 4
1. von einer sozialen Notlage (§ 6) betroffen ist und
2. bereit ist, sich um die Abwendung, Milderung bzw. Überwindung der sozialen Notlage zu bemühen (§ 7).“
15 § 6 oöBMSG bestimmte:
„(1) Eine soziale Notlage liegt bei Personen vor,
1. die ihren eigenen Lebensunterhalt und Wohnbedarf oder
2. den Lebensunterhalt und Wohnbedarf von unterhaltsberechtigten Angehörigen, die mit ihnen in Haushaltsgemeinschaft leben,
nicht decken oder im Zusammenhang damit den erforderlichen Schutz bei Krankheit, Schwangerschaft und Entbindung nicht gewährleisten können.
(2) Der Lebensunterhalt im Sinn des Abs. 1 umfasst den Aufwand für die regelmäßig wiederkehrenden Bedürfnisse zur Führung eines menschenwürdigen Lebens, insbesondere für Nahrung, Bekleidung, Körperpflege, Hausrat, Beheizung und Strom sowie andere persönliche Bedürfnisse, wie die angemessene soziale und kulturelle Teilhabe.
(3) Der Wohnbedarf nach Abs. 1 umfasst den für die Gewährleistung einer angemessenen Wohnsituation erforderlichen regelmäßig wiederkehrenden Aufwand für Miete, allgemeine Betriebskosten und Abgaben.
...“
OöADG
16 Durch das oberösterreichische Antidiskriminierungsgesetz (LGBl. Nr. 50/2005) in seiner auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren Fassung (im Folgenden: oöADG) wurde die Richtlinie 2000/43 in österreichisches Recht umgesetzt. § 1 („Diskriminierungsverbot“) oöADG verbietet jede unmittelbare oder mittelbare Diskriminierung von natürlichen Personen u. a. aus Gründen der ethnischen Zugehörigkeit. Nach § 3 oöADG gilt der genannte § 1 nicht für eine unterschiedliche Behandlung aus Gründen der Staatsangehörigkeit, sofern diese gesetzlich vorgegeben oder sachlich gerechtfertigt ist und dem nicht Vorschriften der Union oder Staatsverträge im Rahmen der europäischen Integration über die Gleichstellung von Personen entgegenstehen.
17 § 8 oöADG sah vor:
„(1) Bei Verletzungen des Verbotes der Diskriminierung aus den Gründen des § 1 hat die benachteiligte Person … einen Anspruch auf angemessenen Schadenersatz …
Neben dem Anspruch auf Ersatz des Vermögensschadens besteht auch ein Anspruch auf eine angemessene Entschädigung für die erlittene persönliche Beeinträchtigung. Der Ersatz für die erlittene persönliche Beeinträchtigung beträgt mindestens 1.000 Euro.
...“
Ausgangsverfahren und Vorlagefragen
18 KV, ein türkischer Staatsangehöriger, lebt seit 1997 mit seiner Ehefrau und drei Kindern in Österreich, wo er die „Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten“ im Sinne von Art. 2 Buchst. b der Richtlinie 2003/109 besitzt. Bis Ende 2017 bezog er Wohnbeihilfe nach dem oöWFG. Da die Gewährung dieser Beihilfe an Drittstaatsangehörige mit Wirkung vom 1. Januar 2018 nach § 6 Abs. 9 und 11 oöWFG daran geknüpft wurde, dass diese auf eine durch diese Regelung bestimmte Weise den Nachweis erbringen, dass sie über grundlegende Deutschkenntnisse verfügen, wurde KV ab diesem Zeitpunkt die Beihilfe mit der Begründung verweigert, dass er den erforderlichen Nachweis nicht erbracht habe.
19 KV erhob daraufhin beim Bezirksgericht Linz (Österreich) Klage auf Verurteilung des Landes Oberösterreich zur Zahlung von Schadensersatz in Höhe der entgangenen Wohnbeihilfe von Januar bis November 2018 (281,54 Euro pro Monat) sowie von immateriellem Schadensersatz in Höhe von 1000 Euro. Er stützte seine Klage auf § 8 oöADG und machte zum einen geltend, dass § 6 Abs. 9 Z 3 und § 6 Abs. 11 oöWFG ihn aufgrund seiner ethnischen Zugehörigkeit benachteiligten, ohne dass dies gerechtfertigt sei, und zum anderen, dass die Wohnbeihilfe eine „Kernleistung“ im Sinne von Art. 11 Abs. 4 der Richtlinie 2003/109 sei.
20 Nachdem das Bezirksgericht Linz der Klage stattgegeben hatte, erhob das Land Oberösterreich Berufung beim vorlegenden Gericht, dem Landesgericht Linz (Österreich).
21 Dieses Gericht weist zunächst darauf hin, dass die Beantwortung seiner ersten und seiner zweiten Frage unabhängig voneinander für die Entscheidung des bei ihm anhängigen Rechtsstreits erforderlich sei. Sollte die Wohnbeihilfe als „Kernleistung“ im Sinne von Art. 11 Abs. 4 der Richtlinie 2003/109 einzustufen sein, wäre eine Beantwortung der zweiten Vorlagefrage für das vorlegende Gericht nämlich dennoch von Nutzen, da KV seine Klage auf seinen Schadensersatzanspruch nach § 8 Abs. 1 oöADG stütze und sowohl die Zahlung der nicht erhaltenen Wohnbeihilfe als auch den Ersatz seines immateriellen Schadens verlange, der sich daraus ergebe, dass er aufgrund seiner ethnischen Zugehörigkeit diskriminiert worden sei. Sollte die Wohnbeihilfe nicht als „Kernleistung“ im Sinne des Art. 11 Abs. 4 der Richtlinie 2003/109 anzusehen sein, wäre es dennoch denkbar, dass die Regelung des § 6 Abs. 9 und 11 oöWFG eine unzulässige Diskriminierung im Sinne der Richtlinie 2000/43 darstelle oder gegen die Charta verstoße. Als das Land Oberösterreich von der Ausnahme nach Art. 11 Abs. 4 dieser Richtlinie Gebrauch gemacht habe, habe es bei der Ausgestaltung der Regelung für die Gewährung der Wohnbeihilfe sonstige Vorgaben des Unionsrechts wie die Richtlinie 2000/43 und die Charta beachten müssen und keine diskriminierenden Kriterien anwenden dürfen. Folglich sei unabhängig von Art. 11 der Richtlinie 2003/109 zu prüfen, ob § 6 Abs. 9 und 11 oöWFG gegen die Richtlinie 2000/43 oder die Charta verstoße.
22 Das vorlegende Gericht möchte zunächst wissen, ob die Wohnbeihilfe eine „Kernleistung“ im Sinne von Art. 11 Abs. 4 der Richtlinie 2003/109 darstellt, und weist insoweit darauf hin, dass der Ausschuss für Wohnbau, Baurecht und Naturschutz des oberösterreichischen Landtags (Österreich) in seinem Bericht zu einem Entwurf zur Änderung des oöWFG im Jahr 2013 ausgeführt habe, dass die Wohnbauförderung (einschließlich der Wohnbeihilfe) keine Kernleistung darstelle. Dieser Ausschuss habe damit den Willen des oberösterreichischen Landtags zum Ausdruck gebracht, von der Ausnahme nach dieser Bestimmung Gebrauch zu machen. Dabei habe man langfristig aufenthaltsberechtigte Drittstaatsangehörige jedoch nicht generell von der Wohnbeihilfe ausgeschlossen, sondern für diesen Personenkreis lediglich zusätzliche Voraussetzungen aufgestellt. Das vorlegende Gericht sei allerdings nicht an die vom Ausschuss vorgenommene Auslegung von Art. 11 Abs. 4 der Richtlinie 2003/109 gebunden.
23 Unter Bezugnahme auf das Urteil vom 24. April 2012, Kamberaj (C‑571/10, EU:C:2012:233), vertritt das vorlegende Gericht die Ansicht, dass die Anwendung der in diesem Urteil aufgestellten Grundsätze auf die Wohnbeihilfe nicht offensichtlich sei.
24 Die Mindestsicherung nach dem oöBMSG solle hingegen allgemein Personen in sozialen Notlagen ein menschenwürdiges Leben ermöglichen, was den Zugang zu Wohnraum einschließe. Sie sei an deutlich strengere Voraussetzungen geknüpft als die Wohnbeihilfe, da sie nur von Personen ohne Einkommen oder mit äußerst niedrigem Einkommen bezogen werden könne. Sie setze also ein deutlich höheres Maß an sozialer Bedürftigkeit voraus, als für die Gewährung der Wohnbeihilfe verlangt werde. Daher könnten Personen mit zwar niedrigem, jedoch existenzsicherndem Einkommen Wohnbeihilfe beziehen, erhielten aber keine Leistungen aus der Mindestsicherung. In bestimmten Fällen sei es möglich, sowohl Mindestsicherung als auch Wohnbeihilfe zu erhalten, wobei dann die erstgenannte Leistung teilweise auf die zweitgenannte Leistung angerechnet werde. Die Zielgruppen dieser beiden Leistungen seien jedoch nicht identisch.
25 Das vorlegende Gericht stellt sich die Frage, ob nur die Leistungen nach dem oöBMSG als „Kernleistungen“ im Sinne von Art. 11 Abs. 4 der Richtlinie 2003/109 anzusehen seien oder ob dies auch auf die Wohnbeihilfe zutreffe, weil auch diese der Abfederung unzumutbarer Belastungen durch Wohnkosten diene, wenngleich sie anders als die Mindestsicherung keine soziale Notlage des Betroffenen voraussetze.
26 Was sodann die behauptete Diskriminierung aus Gründen der Rasse oder der ethnischen Herkunft betrifft, führt das vorlegende Gericht aus, dass das oöADG – soweit für das Ausgangsverfahren relevant – die Richtlinie 2000/43 in österreichisches Recht umsetze, obwohl dieses Gesetz den Ausdruck „ethnische Zugehörigkeit“ verwende. Da nach Art. 3 Abs. 2 dieser Richtlinie eine unterschiedliche Behandlung auf Basis des Kriteriums der Drittstaatsangehörigkeit für sich genommen grundsätzlich nicht unter diese Richtlinie falle, stelle sich die Frage, ob in einer Anknüpfung an die Staatsangehörigkeit unter bestimmten Voraussetzungen dennoch eine „mittelbare Diskriminierung“ aufgrund der ethnischen Herkunft im Sinne von Art. 2 Abs. 2 Buchst. b dieser Richtlinie liegen könne. Das vorlegende Gericht sei insofern mit einer Regelung befasst, wonach grundlegende Deutschkenntnisse vorhanden sein müssten und dies auf eine bestimmte Art nachgewiesen werden müsse. Für den Fall, dass das oöWFG auf eine mittelbare Diskriminierung zu prüfen sein sollte, müsste deren sachliche Rechtfertigung untersucht werden. Die Zielsetzung von § 6 Abs. 9 und 11 oöWFG sei ein restriktiverer Zugang von Drittstaatsangehörigen zu Wohnbeihilfen, und der Grund für das Erfordernis von grundlegenden Deutschkenntnissen bestehe darin, dass diese für die gesellschaftliche Integration des Betroffenen bedeutsam seien. Aus Sicht des vorlegenden Gerichts ist das Erfordernis eines Deutschnachweises angesichts der übrigen Voraussetzungen für die Gewährung der Wohnbeihilfe und der Anforderungen, die der betreffende Drittstaatsangehörige erfüllen müsse, um die „Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten“ im Sinne von Art. 2 Buchst. b der Richtlinie 2003/109 zu erlangen, diskussionswürdig.
27 Für den Fall schließlich, dass der Gerichtshof die Richtlinie 2000/43 als auf den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens unanwendbar erachten sollte, stellt sich nach Ansicht des vorlegenden Gerichts die Frage, ob die Regelung in § 6 Abs. 9 und 11 oöWFG an Art. 21 der Charta gemessen werden müsse. Die genauen Modalitäten einer solchen Regelung seien nämlich unter Berücksichtigung der Vorgaben der Charta zu bestimmen, da das Ausgangsverfahren in den Anwendungsbereich der Charta falle, weil es unionsrechtliche Vorgaben gebe, die die Gewährung von Sozialleistungen an langfristig aufenthaltsberechtigte Drittstaatsangehörige vorschrieben, und die im Ausgangsverfahren in Rede stehende nationale Regelung als Ausgestaltung dieser Vorgaben angesehen werden könne.
28 Unter diesen Umständen hat das Landesgericht Linz beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
1. Ist Art. 11 der Richtlinie 2003/109 dahin gehend auszulegen, dass er einer nationalen Regelung wie der des § 6 Abs. 9 und Abs. 11 oöWFG entgegensteht, die Unionsbürgern, Staatsangehörigen eines EWR-Staates und Familienangehörigen im Sinn der Richtlinie 2004/38 die Sozialleistung der Wohnbeihilfe ohne Nachweis von Sprachkenntnissen zukommen lässt, hingegen bei langfristig aufenthaltsberechtigten Drittstaatsangehörigen im Sinn der Richtlinie 2003/109 auf eine bestimmte Weise nachzuweisende, grundlegende Kenntnisse der deutschen Sprache verlangt, wenn diese Wohnbeihilfe unzumutbare Belastungen durch Wohnkosten abfedern soll, eine Sicherung des Existenzminimums (einschließlich Wohnbedarf) aber auch durch eine weitere Sozialleistung (bedarfsorientierte Mindestsicherung nach dem oöBMSG) für Personen in sozialer Notlage gewährleistet werden soll?
2. Ist das Verbot der „unmittelbaren oder mittelbaren Diskriminierung“ aus Gründen der „Rasse oder ethnischen Herkunft“ nach Art. 2 der Richtlinie 2000/43 dahin gehend auszulegen, dass es einer nationalen Regelung wie der des § 6 Abs. 9 und Abs. 11 oöWFG entgegensteht, die Unionsbürgern, Staatsangehörigen eines EWR-Staates und Familienangehörigen im Sinn der Richtlinie 2004/38 eine Sozialleistung (Wohnbeihilfe nach oöWFG) ohne Nachweis von Sprachkenntnissen zukommen lässt, hingegen bei Drittstaatsangehörigen (einschließlich langfristig aufenthaltsberechtigter Drittstaatsangehöriger im Sinn der Richtlinie 2003/109) auf eine bestimmte Weise nachzuweisende, grundlegende Kenntnisse der deutschen Sprache verlangt?
3. Falls Frage 2 verneint wird:
Ist das Verbot der Diskriminierung aufgrund der ethnischen Herkunft nach Art. 21 der Charta dahin gehend auszulegen, dass es einer nationalen Regelung wie der des § 6 Abs. 9 und Abs. 11 oöWFG entgegensteht, die Unionsbürgern, Staatsangehörigen eines EWR-Staates und Familienangehörigen im Sinn der Richtlinie 2004/38 eine Sozialleistung (Wohnbeihilfe nach oöWFG) ohne Nachweis von Sprachkenntnissen zukommen lässt, hingegen bei Drittstaatsangehörigen (einschließlich langfristig aufenthaltsberechtigter Drittstaatsangehöriger im Sinn der Richtlinie 2003/109) auf eine bestimmte Weise nachzuweisende, grundlegende Kenntnisse der deutschen Sprache verlangt?
Zum Antrag auf Wiedereröffnung des mündlichen Verfahrens
29 Nach der Verlesung der Schlussanträge des Generalanwalts hat das Land Oberösterreich mit Schriftsatz, der am 12. März 2021 bei der Kanzlei des Gerichtshofs eingegangen ist, gemäß Art. 83 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs die Wiedereröffnung des mündlichen Verfahrens beantragt. Zur Stützung seines Antrags macht das Land Oberösterreich im Wesentlichen geltend, dass die vom Generalanwalt vorgenommene Einstufung der Wohnbeihilfe als „Kernleistung“ im Sinne von Art. 11 Abs. 4 der Richtlinie 2003/109 unzutreffend sei. Diese Einstufung verstoße nämlich sowohl gegen diese Bestimmung als auch gegen die Rechtsprechung des Gerichtshofs sowie gegen das Ziel dieser Leistung. Außerdem seien die Schlussanträge des Generalanwalts widersprüchlich und fußten auf nicht bewiesenen Tatsachen bzw. nicht vorgetragenen Argumenten. Was im Übrigen den Nachweis grundlegender Deutschkenntnisse betrifft, den der Steller eines Antrags auf Wohnbeihilfe vorzulegen hat, stellt das Land Oberösterreich in Abrede, dass es andere Beweismittel geben könne als die, die nach der nationalen Regelung bereits akzeptiert würden.
30 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass zum einen die Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union und die Verfahrensordnung keine Möglichkeit für die in Art. 23 der Satzung bezeichneten Beteiligten vorsehen, eine Stellungnahme zu den Schlussanträgen des Generalanwalts einzureichen (Urteil vom 2. März 2021, A. B. u. a. [Ernennung von Richtern am Obersten Gericht – Rechtsbehelf], C‑824/18, EU:C:2021:153, Rn. 63 und die dort angeführte Rechtsprechung).
31 Zum anderen stellt der Generalanwalt nach Art. 252 Abs. 2 AEUV öffentlich in völliger Unparteilichkeit und Unabhängigkeit begründete Schlussanträge zu den Rechtssachen, in denen nach der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union seine Mitwirkung erforderlich ist. Der Gerichtshof ist weder an diese Schlussanträge noch an ihre Begründung durch den Generalanwalt gebunden. Dass ein Beteiligter nicht mit den Schlussanträgen des Generalanwalts einverstanden ist, kann folglich unabhängig von den darin untersuchten Fragen für sich genommen kein Grund sein, der die Wiedereröffnung des mündlichen Verfahrens rechtfertigt (Urteile vom 4. Dezember 2019, Consorzio Tutela Aceto Balsamico di Modena, C-432/18, EU:C:2019:1045, Rn. 21, sowie vom 2. März 2021, A. B. u. a. [Ernennung von Richtern am Obersten Gericht – Rechtsbehelf], C-824/18, EU:C:2021:153, Rn. 64).
32 Allerdings kann der Gerichtshof nach Art. 83 der Verfahrensordnung jederzeit nach Anhörung des Generalanwalts die Wiedereröffnung des mündlichen Verfahrens beschließen, insbesondere wenn er sich für unzureichend unterrichtet hält, wenn eine Partei nach Abschluss des mündlichen Verfahrens eine neue Tatsache unterbreitet hat, die von entscheidender Bedeutung für die Entscheidung des Gerichtshofs ist, oder wenn ein zwischen den Parteien oder den in Art. 23 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union bezeichneten Beteiligten nicht erörtertes Vorbringen entscheidungserheblich ist.
33 Im vorliegenden Fall ist der Gerichtshof jedoch nach Anhörung des Generalanwalts der Auffassung, dass er am Ende des schriftlichen Verfahrens über alle für die Urteilsfindung erforderlichen Angaben verfügt. Auch ist die vorliegende Rechtssache nicht auf der Grundlage eines zwischen den Beteiligten nicht erörterten Vorbringens zu entscheiden. Der Antrag auf Wiedereröffnung des mündlichen Verfahrens lässt überdies keine neuen Tatsachen erkennen, die geeignet wären, die Entscheidung des Gerichtshofs in dieser Rechtssache zu beeinflussen. Aus diesen Gründen ist das mündliche Verfahren nicht wiederzueröffnen.
Zu den Vorlagefragen
Zur ersten Vorlagefrage
34 Aus der Vorlageentscheidung geht hervor, dass das vorlegende Gericht im Rahmen seiner ersten Frage von der Prämisse ausgeht, dass die Wohnbeihilfe unter die in Art. 11 Abs. 1 Buchst. d der Richtlinie 2003/109 genannten Leistungen fällt und dass die für die Umsetzung dieser Richtlinie zuständigen Behörden klar zum Ausdruck gebracht haben, dass sie sich auf die in Art. 11 Abs. 4 dieser Richtlinie vorgesehene Ausnahme berufen wollten, was vom vorlegenden Gericht zu überprüfen ist.
35 Unter diesen Umständen ist davon auszugehen, dass das vorlegende Gericht mit seiner ersten Frage wissen möchte, ob Art. 11 Abs. 1 Buchst. d der Richtlinie 2003/109 dahin auszulegen ist, dass er selbst dann, wenn von der Ausnahme nach Art. 11 Abs. 4 dieser Richtlinie Gebrauch gemacht worden ist, einer Regelung eines Mitgliedstaats entgegensteht, nach der die Gewährung einer Wohnbeihilfe an langfristig aufenthaltsberechtigte Drittstaatsangehörige daran geknüpft ist, dass diese auf eine durch diese Regelung bestimmte Weise den Nachweis erbringen, dass sie über grundlegende Kenntnisse der Sprache dieses Mitgliedstaats verfügen.
36 In dieser Hinsicht stellt sich das vorlegende Gericht vor allem die Frage, ob die Wohnbeihilfe als „Kernleistung“ im Sinne von Art. 11 Abs. 4 der Richtlinie 2003/109 einzustufen ist.
37 Nach dieser Bestimmung können die Mitgliedstaaten die Gleichbehandlung von „langfristig Aufenthaltsberechtigten“ im Sinne dieser Richtlinie und eigenen Staatsangehörigen bei Sozialhilfe und Sozialschutz auf die Kernleistungen beschränken. Da die Integration der dauerhaft in den Mitgliedstaaten ansässig gewordenen Drittstaatsangehörigen und ihr Recht auf Gleichbehandlung in den in Art. 11 Abs. 1 dieser Richtlinie genannten Bereichen die Grundregel bilden, ist die in Art. 11 Abs. 4 der Richtlinie vorgesehene Ausnahme eng auszulegen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 24. April 2012, Kamberaj, C-571/10, EU:C:2012:233, Rn. 86).
38 Zum Begriff „Kernleistung“ im Sinne von Art. 11 Abs. 4 der Richtlinie 2003/109 ist darauf hinzuweisen, dass mangels einer Definition dieses Begriffs in dieser Richtlinie und einer entsprechenden Verweisung auf das nationale Recht dessen Bedeutung und Tragweite unter Berücksichtigung des Kontexts, in den sich diese Bestimmung einfügt, und des mit dieser Richtlinie verfolgten Ziels zu ermitteln sind, das – wie insbesondere aus den Erwägungsgründen 2, 4 und 12 der Richtlinie hervorgeht – in der Integration der Drittstaatsangehörigen besteht, die sich rechtmäßig und langfristig in den Mitgliedstaaten aufgehalten haben. Art. 11 Abs. 4 der Richtlinie 2003/109 ist dahin zu verstehen, dass er es den Mitgliedstaaten gestattet, die Gleichbehandlung, auf die die Inhaber der von dieser Richtlinie gewährten Rechtsstellung Anspruch haben, zu beschränken; hiervon ausgenommen sind diejenigen von den Behörden, sei es auf nationaler, auf regionaler oder auf kommunaler Ebene, gewährten Leistungen der Sozialhilfe oder des Sozialschutzes, die dazu beitragen, es dem Betroffenen zu erlauben, seine Grundbedürfnisse wie Nahrung, Wohnung und Gesundheit zu befriedigen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 24. April 2012, Kamberaj, C-571/10, EU:C:2012:233, Rn. 90 und 91).
39 Außerdem müssen die Mitgliedstaaten bei der Festlegung der Maßnahmen der sozialen Sicherheit, der Sozialhilfe und des Sozialschutzes, die in ihrem nationalen Recht vorgesehen sind und dem in Art. 11 Abs. 1 Buchst. d der Richtlinie 2003/109 niedergelegten Gleichbehandlungsgrundsatz unterliegen, die in der Charta gewährleisteten Rechte beachten und die in ihr normierten Grundsätze berücksichtigen, darunter insbesondere die in Art. 34 der Charta aufgeführten. Dieser letztgenannte Artikel bestimmt, dass die Union das Recht auf eine soziale Unterstützung und eine Unterstützung für die Wohnung anerkennt und achtet, die allen, die nicht über ausreichende Mittel verfügen, ein menschenwürdiges Dasein sicherstellen sollen. Hieraus folgt, dass für eine Leistung, soweit sie den von diesem Artikel der Charta genannten Zweck erfüllt, im Unionsrecht nicht davon ausgegangen werden kann, dass sie nicht zu den „Kernleistungen“ im Sinne von Art. 11 Abs. 4 der Richtlinie 2003/109 gehört (Urteil vom 24. April 2012, Kamberaj, C-571/10, EU:C:2012:233, Rn. 80 und 92).
40 Daraus ergibt sich, dass – wie der Generalanwalt in Nr. 53 seiner Schlussanträge ausgeführt hat – eine Leistung, die es Personen, die selbst nicht über ausreichende Mittel verfügen, zur Sicherstellung menschenwürdiger Lebensbedingungen ermöglichen soll, ihren Wohnbedarf zu decken, eine „Kernleistung“ im Sinne von Art. 11 Abs. 4 der Richtlinie 2003/109 darstellt.
41 Im vorliegenden Fall weist das vorlegende Gericht darauf hin, dass der Zweck der Wohnbeihilfe darin bestehe, zu verhindern, dass Wohnkosten zu unzumutbaren Belastungen würden. Da die Wohnbeihilfe auf 300 Euro begrenzt sei, handele es sich um einen Zuschuss zu den Wohnkosten, der nicht darauf ausgelegt sei, die Wohnkosten eines Beihilfebeziehers vollständig abzudecken, sondern darauf, einen Teil dieser Wohnkosten zu decken, damit Personen mit niedrigem Einkommen nicht einen allzu großen Anteil ihres Einkommens für eine angemessene Wohnmöglichkeit aufwendeten.
42 Aus den Angaben des vorlegenden Gerichts ergibt sich, dass die Wohnbeihilfe – wie der Generalanwalt in Nr. 59 seiner Schlussanträge ausgeführt hat – dazu beiträgt, diesen Personen ein menschenwürdiges Dasein zu garantieren, indem ihnen ermöglicht wird, angemessen zu wohnen, ohne einen allzu großen Teil ihres Einkommens für die Wohnung auszugeben, was womöglich zulasten der Deckung anderer Grundbedürfnisse ginge. Die Wohnbeihilfe scheint somit eine Leistung nach Art. 34 Abs. 3 der Charta zu sein, die dazu beiträgt, die soziale Ausgrenzung und die Armut zu bekämpfen, indem sie für all diejenigen, die nicht über ausreichende Mittel verfügen, ein menschenwürdiges Dasein sicherstellt. Ist dies der Fall, ist ihre Gewährung an langfristig aufenthaltsberechtigte Drittstaatsangehörige folglich auch erforderlich, um das mit der Richtlinie 2003/109 verfolgte Integrationsziel zu erreichen. Demnach scheint die Wohnbeihilfe eine „Kernleistung“ im Sinne von Art. 11 Abs. 4 dieser Richtlinie darstellen zu können.
43 Es ist jedoch Sache des vorlegenden Gerichts, dies zu überprüfen und die erforderlichen Feststellungen zu treffen, wobei der Zweck der Wohnbeihilfe sowie die Voraussetzungen für ihre Gewährung und ihre Stellung im nationalen Sozialhilfesystem zu berücksichtigen sind (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 24. April 2012, Kamberaj, C-571/10, EU:C:2012:233, Rn. 92).
44 Insoweit kann der bloße Umstand, dass langfristig aufenthaltsberechtigte Drittstaatsangehörige bei Erfüllung der entsprechenden Voraussetzungen Anspruch auf andere Sozialleistungen wie etwa die Mindestsicherung nach dem oöBMSG haben, die Personen in sozialen Notlagen ein menschenwürdiges Leben – auch im Hinblick auf die Wohnsituation – ermöglichen soll und als „Kernleistung“ im Sinne von Art. 11 Abs. 4 der Richtlinie 2003/109 eingestuft werden kann, nicht ausschließen, dass die Wohnbeihilfe ebenso eingestuft wird, wenn sie ebenfalls die oben in den Rn. 38 bis 40 genannten Kriterien erfüllt.
45 Für den Fall, dass die Wohnbeihilfe nicht als „Kernleistung“ im Sinne von Art. 11 Abs. 4 der Richtlinie 2003/109 einzustufen sein sollte, ist festzustellen, dass die Richtlinie 2003/109 keine besondere Verpflichtung für einen Mitgliedstaat vorsieht, der von der in Art. 11 Abs. 4 der Richtlinie 2003/109 vorgesehenen Ausnahme Gebrauch gemacht hat und langfristig aufenthaltsberechtigten Drittstaatsangehörigen dennoch eine Leistung gewährt, die nicht als „Kernleistung“ eingestuft werden kann.
46 Ein solcher Fall unterscheidet sich von Fällen, in denen ein Unionsrechtsakt den Mitgliedstaaten ein Wahlrecht zwischen verschiedenen Anwendungsmodalitäten lässt oder ihnen ein Ermessen oder einen Wertungsspielraum einräumt, der integrierender Bestandteil der durch den Rechtsakt geschaffenen Regelung ist, oder auch von Fällen, in denen ein solcher Rechtsakt den Erlass spezifischer Maßnahmen durch die Mitgliedstaaten zulässt, mit denen zur Verwirklichung seines Ziels beigetragen werden soll (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 19. November 2019, TSN und AKT, C-609/17 und C‑610/17, EU:C:2019:981, Rn. 50).
47 Für den Fall, dass davon ausgegangen werden sollte, dass die Wohnbeihilfe keine „Kernleistung“ im Sinne von Art. 11 Abs. 4 der Richtlinie 2003/109 darstellt, fallen die Voraussetzungen für die Gewährung dieser Leistung – wie etwa der nach § 6 Abs. 9 und 11 oöWFG auf eine bestimmte Weise zu erbringende Nachweis des Besitzes grundlegender Deutschkenntnisse – daher in die den Mitgliedstaaten verbliebene Zuständigkeit. Sie sind weder durch die Richtlinie 2003/109 geregelt noch fallen sie in deren Anwendungsbereich (vgl. entsprechend Urteil vom 19. November 2019, TSN und AKT, C-609/17 und C-610/17, EU:C:2019:981, Rn. 52 und die dort angeführte Rechtsprechung).
48 Daraus folgt, dass in diesem Fall die in § 6 Abs. 9 und 11 oöWFG enthaltenen Voraussetzungen für die Gewährung der Wohnbeihilfe nicht anhand der Richtlinie 2003/109 zu beurteilen wären.
49 Nach alledem ist auf die erste Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 11 Abs. 1 Buchst. d der Richtlinie 2003/109 dahin auszulegen ist, dass er selbst dann, wenn von der Ausnahme nach Art. 11 Abs. 4 dieser Richtlinie Gebrauch gemacht worden ist, einer Regelung eines Mitgliedstaats, nach der die Gewährung einer Wohnbeihilfe an langfristig aufenthaltsberechtigte Drittstaatsangehörige daran geknüpft ist, dass diese auf eine durch diese Regelung bestimmte Weise den Nachweis erbringen, dass sie über grundlegende Kenntnisse der Sprache dieses Mitgliedstaats verfügen, entgegensteht, sofern diese Wohnbeihilfe eine „Kernleistung“ im Sinne der letztgenannten Bestimmung darstellt, was das vorlegende Gericht zu beurteilen hat.
Zur zweiten Frage
50 Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die Richtlinie 2000/43 dahin auszulegen ist, dass sie einer Regelung eines Mitgliedstaats entgegensteht, nach der die Gewährung einer Wohnbeihilfe an langfristig aufenthaltsberechtigte Drittstaatsangehörige daran geknüpft ist, dass diese auf eine durch diese Regelung bestimmte Weise den Nachweis erbringen, dass sie über grundlegende Kenntnisse der Sprache dieses Mitgliedstaats verfügen.
51 Nach Art. 1 und Art. 2 Abs. 1 und 2 der Richtlinie 2000/43 findet diese nur auf unmittelbare oder mittelbare Diskriminierungen aus Gründen der Rasse oder der ethnischen Herkunft Anwendung. Nach Art. 3 Abs. 2 der Richtlinie 2000/43 betrifft diese nicht unterschiedliche Behandlungen aus Gründen der Staatsangehörigkeit und berührt nicht die Vorschriften und Bedingungen für die Einreise von Staatsangehörigen dritter Staaten oder staatenlosen Personen in das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten oder deren Aufenthalt in diesem Hoheitsgebiet sowie eine Behandlung, die sich aus der Rechtsstellung von Staatsangehörigen dritter Staaten oder staatenlosen Personen ergibt.
52 Im vorliegenden Fall beruht die sich aus § 6 Abs. 9 und 11 oöWFG ergebende unterschiedliche Behandlung von Drittstaatsangehörigen mit der Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten und Inländern jedoch auf dieser Rechtsstellung.
53 Eine solche unterschiedliche Behandlung fällt folglich nicht in den Anwendungsbereich der Richtlinie 2000/43 (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 24. April 2012, Kamberaj, C-571/10, EU:C:2012:233, Rn. 50).
54 Das vorlegende Gericht fragt sich jedoch, ob unter bestimmten Voraussetzungen eine unterschiedliche Behandlung aus Gründen der Staatsangehörigkeit oder – wie im Ausgangsverfahren – aufgrund der Rechtsstellung eines langfristig aufenthaltsberechtigten Drittstaatsangehörigen auch eine „mittelbare Diskriminierung“ aufgrund der ethnischen Herkunft im Sinne von Art. 2 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie 2000/43 darstellen kann, da § 6 Abs. 9 und 11 oöWFG nicht nur nach dem Kriterium der Eigenschaft eines langfristig Aufenthaltsberechtigten, sondern auch nach dem Kriterium des Besitzes grundlegender Kenntnisse der Landessprache unterscheidet.
55 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass nach Art. 2 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie 2000/43 eine mittelbare Diskriminierung vorliegt, wenn dem Anschein nach neutrale Vorschriften, Kriterien oder Verfahren Personen, die einer bestimmten Rasse oder ethnischen Gruppe angehören, in besonderer Weise benachteiligen können. Der in dieser Bestimmung verwendete Ausdruck „in besonderer Weise benachteiligen“ ist dahin gehend zu verstehen, dass es insbesondere Personen einer bestimmten ethnischen Herkunft sind, die durch die fragliche Maßnahme benachteiligt werden. „Mittelbare Diskriminierung“ im Sinne dieser Bestimmung liegt begrifflich nur vor, wenn die mutmaßlich diskriminierende Maßnahme zur Benachteiligung einer bestimmten ethnischen Gruppe führt (Urteile vom 16. Juli 2015, CHEZ Razpredelenie Bulgaria, C-83/14, EU:C:2015:480, Rn. 100, vom 6. April 2017, Jyske Finans, C-668/15, EU:C:2017:278, Rn. 27 und 31, sowie vom 15. November 2018, Maniero, C-457/17, EU:C:2018:912, Rn. 47 und 48).
56 § 6 Abs. 9 und 11 oöWFG, der für alle Drittstaatsangehörigen unterschiedslos gilt, benachteiligt jedoch nicht Personen einer bestimmten ethnischen Herkunft. Folglich kann diese Vorschrift keine „mittelbare Diskriminierung“ aufgrund der ethnischen Herkunft im Sinne von Art. 2 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie 2000/43 darstellen.
57 Nach alledem ist auf die zweite Vorlagefrage zu antworten, dass eine Regelung eines Mitgliedstaats, die unterschiedslos für alle Drittstaatsangehörigen gilt und nach der die Gewährung einer Wohnbeihilfe an langfristig aufenthaltsberechtigte Drittstaatsangehörige daran geknüpft ist, dass diese auf eine durch diese Regelung bestimmte Weise den Nachweis erbringen, dass sie über grundlegende Kenntnisse der Sprache dieses Mitgliedstaats verfügen, nicht in den Anwendungsbereich der Richtlinie 2000/43 fällt.
Zur dritten Frage
58 Mit seiner dritten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 21 der Charta, insoweit als er jede Diskriminierung aufgrund der ethnischen Herkunft verbietet, dahin auszulegen ist, dass er einer Regelung eines Mitgliedstaats entgegensteht, nach der die Gewährung einer Wohnbeihilfe an langfristig aufenthaltsberechtigte Drittstaatsangehörige daran geknüpft ist, dass diese auf eine durch diese Regelung bestimmte Weise den Nachweis erbringen, dass sie über grundlegende Kenntnisse der Sprache dieses Mitgliedstaats verfügen.
59 Hierbei ist darauf hinzuweisen, dass die Charta nach ihrem Art. 51 Abs. 1 für die Mitgliedstaaten ausschließlich bei der Durchführung des Rechts der Union gilt. Art. 6 Abs. 1 EUV sowie Art. 51 Abs. 2 der Charta stellen klar, dass die in den Verträgen festgelegten Zuständigkeiten der Union durch die Bestimmungen der Charta in keiner Weise erweitert werden. Somit hat der Gerichtshof im Licht der Charta das Unionsrecht in den Grenzen der der Union übertragenen Zuständigkeiten zu prüfen und kann folglich eine nationale Regelung, die nicht in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fällt, nicht im Hinblick auf die Charta beurteilen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 6. März 2014, Siragusa, C-206/13, EU:C:2014:126, Rn. 20 und 21, sowie vom 10. Juli 2014, Julián Hernández u. a., C-198/13, EU:C:2014:2055, Rn. 32).
60 Zum einen fällt indes, wie sich aus der Antwort auf die zweite Vorlagefrage ergibt, eine Regelung eines Mitgliedstaats wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende nicht in den Anwendungsbereich der Richtlinie 2000/43.
61 Zum anderen ist für den Fall, dass die Wohnbeihilfe nicht als „Kernleistung“ im Sinne von Art. 11 Abs. 4 der Richtlinie 2003/109 einzustufen sein sollte, darauf hinzuweisen, dass diese Richtlinie – wie oben in den Rn. 45 und 47 ausgeführt worden ist – den Mitgliedstaaten keine besondere Verpflichtung für den Fall auferlegt, dass sie, nachdem sie von der Ausnahme nach Art. 11 Abs. 4 der Richtlinie 2003/109 Gebrauch gemacht haben, langfristig aufenthaltsberechtigten Drittstaatsangehörigen dennoch eine nicht als Kernleistung einzustufende Leistung im Bereich Sozialhilfe oder Sozialschutz gewähren. Demnach fallen die Voraussetzungen für die Gewährung einer solchen Leistung – wie etwa der auf eine bestimmte Weise zu erbringende Nachweis des Besitzes grundlegender Deutschkenntnisse, der nach § 6 Abs. 9 und 11 oöWFG verlangt wird – nicht in den Anwendungsbereich dieser Richtlinie.
62 Daraus folgt, dass in diesem Fall eine Bestimmung wie § 6 Abs. 9 und 11 oöWFG nicht in den Anwendungsbereich der Charta fiele und daher nicht im Hinblick auf deren Bestimmungen, insbesondere nicht im Hinblick auf Art. 21 der Charta, beurteilt werden könnte (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 19. November 2019, TSN und AKT, C-609/17 und C‑610/17, EU:C:2019:981, Rn. 53 und die dort angeführte Rechtsprechung).
63 Sollte die Wohnbeihilfe hingegen eine „Kernleistung“ im Sinne von Art. 11 Abs. 4 der Richtlinie 2003/109 darstellen, wäre – wie aus Rn. 39 des vorliegenden Urteils hervorgeht – die Charta anwendbar. Eine Bestimmung wie § 6 Abs. 9 und 11 oöWFG, die unterschiedslos für alle Drittstaatsangehörigen gilt und aus der nicht erkennbar ist, dass sie Personen einer bestimmten ethnischen Herkunft benachteiligt, kann jedoch nicht als Diskriminierung aus Gründen der ethnischen Herkunft im Sinne von Art. 21 der Charta angesehen werden, dessen konkreten Ausdruck die Richtlinie 2000/43 in den von ihr erfassten Bereichen bildet (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 16. Juli 2015, CHEZ Razpredelenie Bulgaria, C-83/14, EU:C:2015:480, Rn. 58).
64 Nach alledem ist auf die dritte Vorlagefrage zu antworten, dass, wenn von der Ausnahme nach Art. 11 Abs. 4 der Richtlinie 2003/109 Gebrauch gemacht worden ist, Art. 21 der Charta auf eine Regelung eines Mitgliedstaats, nach der die Gewährung einer Wohnbeihilfe an langfristig aufenthaltsberechtigte Drittstaatsangehörige daran geknüpft ist, dass diese auf eine durch diese Regelung bestimmte Weise den Nachweis erbringen, dass sie über grundlegende Kenntnisse der Sprache dieses Mitgliedstaats verfügen, nicht anwendbar ist, sofern diese Wohnbeihilfe keine „Kernleistung“ im Sinne von Art. 11 Abs. 4 der Richtlinie 2003/109 darstellt. Sollte diese Wohnbeihilfe eine solche Kernleistung darstellen, stünde Art. 21 der Charta, insoweit als er jede Diskriminierung aufgrund der ethnischen Herkunft verbietet, einer solchen Regelung nicht entgegen.
Kosten
65 Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Fünfte Kammer) für Recht erkannt:
1. Art. 11 Abs. 1 Buchst. d der Richtlinie 2003/109/EG des Rates vom 25. November 2003 betreffend die Rechtsstellung der langfristig aufenthaltsberechtigten Drittstaatsangehörigen ist dahin auszulegen, dass er selbst dann, wenn von der Ausnahme nach Art. 11 Abs. 4 dieser Richtlinie Gebrauch gemacht worden ist, einer Regelung eines Mitgliedstaats, nach der die Gewährung einer Wohnbeihilfe an langfristig aufenthaltsberechtigte Drittstaatsangehörige daran geknüpft ist, dass diese auf eine durch diese Regelung bestimmte Weise den Nachweis erbringen, dass sie über grundlegende Kenntnisse der Sprache dieses Mitgliedstaats verfügen, entgegensteht, sofern diese Wohnbeihilfe eine „Kernleistung“ im Sinne der letztgenannten Bestimmung darstellt, was das vorlegende Gericht zu beurteilen hat.
2. Eine Regelung eines Mitgliedstaats, die unterschiedslos für alle Drittstaatsangehörigen gilt und nach der die Gewährung einer Wohnbeihilfe an langfristig aufenthaltsberechtigte Drittstaatsangehörige daran geknüpft ist, dass diese auf eine durch diese Regelung bestimmte Weise den Nachweis erbringen, dass sie über grundlegende Kenntnisse der Sprache dieses Mitgliedstaats verfügen, fällt nicht in den Anwendungsbereich der Richtlinie 2000/43/EG des Rates vom 29. Juni 2000 zur Anwendung des Gleichbehandlungsgrundsatzes ohne Unterschied der Rasse oder der ethnischen Herkunft.
3. Wenn von der Ausnahme nach Art. 11 Abs. 4 der Richtlinie 2003/109 Gebrauch gemacht worden ist, ist Art. 21 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union auf eine Regelung eines Mitgliedstaats, nach der die Gewährung einer Wohnbeihilfe an langfristig aufenthaltsberechtigte Drittstaatsangehörige daran geknüpft ist, dass diese auf eine durch diese Regelung bestimmte Weise den Nachweis erbringen, dass sie über grundlegende Kenntnisse der Sprache dieses Mitgliedstaats verfügen, nicht anwendbar, sofern diese Wohnbeihilfe keine „Kernleistung“ im Sinne von Art. 11 Abs. 4 der Richtlinie 2003/109 darstellt. Sollte diese Wohnbeihilfe eine solche Kernleistung darstellen, stünde Art. 21 der Charta der Grundrechte, insoweit als er jede Diskriminierung aufgrund der ethnischen Herkunft verbietet, einer solchen Regelung nicht entgegen.
Unterschriften
(*1) Verfahrenssprache: Deutsch
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Beschluss des Gerichtshofs (Sechste Kammer) vom 26. März 2020.#Luxaviation SA gegen Ministre de l'Environnement.#Vorabentscheidungsersuchen der Cour administrative (Luxemburg).#Vorlage zur Vorabentscheidung – Umwelt – System für den Handel mit Treibhausgasemissionszertifikaten – Richtlinie 2003/87/EG – Sanktion wegen Emissionsüberschreitung – Fehlen eines Befreiungsgrundes, wenn über die nicht abgegebenen Zertifikate tatsächlich verfügt wurde, abgesehen vom Fall höherer Gewalt – Unmöglichkeit der Anpassung des Betrags der Sanktion – Verhältnismäßigkeit – Art. 20, 41, 47 und Art. 49 Abs. 3 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Grundsatz des Vertrauensschutzes.#Rechtssache C-113/19.
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62019CO0113
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ECLI:EU:C:2020:228
| 2020-03-26T00:00:00 |
Kokott, Gerichtshof
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Sammlung der Rechtsprechung – allgemein
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62019CO0113
BESCHLUSS DES GERICHTSHOFS (Sechste Kammer)
26. März 2020 (*1)
„Vorlage zur Vorabentscheidung – Umwelt – System für den Handel mit Treibhausgasemissionszertifikaten – Richtlinie 2003/87/EG – Sanktion wegen Emissionsüberschreitung – Fehlen eines Befreiungsgrundes, wenn über die nicht abgegebenen Zertifikate tatsächlich verfügt wurde, abgesehen vom Fall höherer Gewalt – Unmöglichkeit der Anpassung des Betrags der Sanktion – Verhältnismäßigkeit – Art. 20, 41, 47 und Art. 49 Abs. 3 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Grundsatz des Vertrauensschutzes“
In der Rechtssache C‑113/19
wegen eines Vorabentscheidungsersuchens nach Art. 267 AEUV der Cour administrative (Verwaltungsgerichtshof, Luxemburg) gemäß dem am 12. Februar 2019 beim Gerichtshof eingegangenen Beschluss vom 7. Februar 2019, in dem Verfahren
Luxaviation SA
gegen
Minister für Umwelt
erlässt
DER GERICHTSHOF (Sechste Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten M. Safjan, des Präsidenten der Ersten Kammer J.‑C. Bonichot (Berichterstatter) und der Richterin C. Toader,
Generalanwältin: J. Kokott,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen:
–
der Luxaviation SA, vertreten durch N. Bannasch und M. Zins, Rechtsanwälte,
–
der luxemburgischen Regierung, vertreten durch D. Holderer und T. Uri als Bevollmächtigte,
–
der niederländischen Regierung, vertreten durch M. K. Bulterman und J. Langer als Bevollmächtigte,
–
des Europäischen Parlaments, vertreten durch L. Darie und C. Ionescu Dima sowie durch A. Tamás als Bevollmächtigte,
–
des Rates der Europäischen Union, vertreten durch K. Michoel und A. Westerhof Löfflerová als Bevollmächtigte,
–
der Europäischen Kommission, vertreten durch J.‑F. Brakeland und A. C. Becker als Bevollmächtigte,
aufgrund der nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Entscheidung, gemäß Art. 99 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs durch mit Gründen versehenen Beschluss zu entscheiden,
folgenden
Beschluss
1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 16 Abs. 3 der Richtlinie 2003/87/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Oktober 2003 über ein System für den Handel mit Treibhausgasemissionszertifikaten in der Gemeinschaft und zur Änderung der Richtlinie 96/61/EG des Rates (ABl. 2003, L 275, S. 32) in der durch die Richtlinie 2009/29/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23. April 2009 (ABl. 2009, L 140, S. 63) geänderten Fassung (im Folgenden: Richtlinie 2003/87).
2 Dieses Ersuchen erging im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Luxaviation SA und dem Ministre de l’Environnement (Minister für Umwelt, Luxemburg) im Zusammenhang mit der Befolgung der Luxaviation im Bereich der Abgabe von CO2-Emissionszertifikaten für das Jahr 2015 obliegenden Verpflichtungen.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Richtlinie 2003/87
3 In den Erwägungsgründen 5 bis 7 der Richtlinie 2003/87 heißt es:
„(5)
Die Gemeinschaft und ihre Mitgliedstaaten sind übereingekommen, ihre Verpflichtungen zur Verringerung der anthropogenen Treibhausgasemissionen im Rahmen des Kyoto-Protokolls … gemeinsam zu erfüllen. Diese Richtlinie soll dazu beitragen, dass die Verpflichtungen der Europäischen Gemeinschaft und ihrer Mitgliedstaaten durch einen effizienten europäischen Markt für Treibhausgasemissionszertifikate effektiver und unter möglichst geringer Beeinträchtigung der wirtschaftlichen Entwicklung und der Beschäftigungslage erfüllt werden.
(6) Durch die Entscheidung 93/389/EWG des Rates vom 24. Juni 1993 über ein System zur Beobachtung der Emissionen von CO2 und anderen Treibhausgasen in der Gemeinschaft [ABl. 1993, L 167, S. 31] wurde ein System zur Beobachtung der Treibhausgasemissionen und zur Bewertung der Fortschritte bei der Erfüllung der Verpflichtungen im Hinblick auf diese Emissionen eingeführt. Dieses System wird es den Mitgliedstaaten erleichtern, die Gesamtmenge der zuteilbaren Zertifikate zu bestimmen.
(7) Gemeinschaftsvorschriften für die Zuteilung der Zertifikate durch die Mitgliedstaaten sind notwendig, um die Integrität des Binnenmarktes zu erhalten und Wettbewerbsverzerrungen zu vermeiden.“
4 In Art. 4 dieser Richtlinie wird bestimmt:
„Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass ab dem 1. Januar 2005 Anlagen die in Anhang I genannten Tätigkeiten, bei denen die für diese Tätigkeiten spezifizierten Emissionen entstehen, nur durchführen, wenn der Betreiber über eine Genehmigung verfügt, die von einer zuständigen Behörde gemäß den Artikeln 5 und 6 erteilt wurde …“
5 In Art. 6 Abs. 2 dieser Richtlinie ist vorgesehen:
„Genehmigungen zur Emission von Treibhausgasen enthalten folgende Angaben:
…
e)
eine Verpflichtung zur Abgabe von nicht gemäß Kapitel II vergebenen Zertifikaten in Höhe der … Gesamtemissionen der Anlage in jedem Kalenderjahr binnen vier Monaten nach Jahresende.“
6 Art. 11 Abs. 2 dieser Richtlinie bestimmt:
„Bis 28. Februar jeden Jahres vergeben die zuständigen Behörden die … Menge der in dem betreffenden Jahr zuzuteilenden Zertifikate.“
7 Art. 12 („Übertragung, Abgabe und Löschung von Zertifikaten“) Abs. 3 der Richtlinie 2003/87 bestimmt:
„Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass der Betreiber für jede Anlage bis zum 30. April jedes Jahres eine Anzahl von nicht gemäß Kapitel II ausgegebenen Zertifikaten abgibt, die den … Gesamtemissionen der Anlage im vorhergehenden Kalenderjahr entspricht, und dass diese Zertifikate anschließend gelöscht werden.“
8 Der Verstoß gegen diese Verpflichtung wird, zusätzlich zu der in Art. 16 Abs. 2 der Richtlinie 2003/87 vorgesehenen Veröffentlichung der Namen der säumigen Betreiber, nach Abs. 3 dieses Artikels wie folgt mit einer Sanktion geahndet:
„Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass Betreibern oder Luftfahrzeugbetreibern, die nicht bis zum 30. April jedes Jahres eine ausreichende Anzahl von Zertifikaten zur Abdeckung ihrer Emissionen im Vorjahr abgeben, eine Sanktion wegen Emissionsüberschreitung auferlegt wird. Die Sanktion wegen Emissionsüberschreitung beträgt für jede ausgestoßene Tonne Kohlendioxidäquivalent, für die der Betreiber oder Luftfahrzeugbetreiber keine Zertifikate abgegeben hat, 100 EUR. Die Zahlung der Sanktion entbindet den Betreiber nicht von der Verpflichtung, Zertifikate in Höhe dieser Emissionsüberschreitung abzugeben, wenn er die Zertifikate für das folgende Kalenderjahr abgibt.“
9 In Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie 2003/87 ist vorgesehen:
„Die Mitgliedstaaten legen Vorschriften über Sanktionen fest, die bei einem Verstoß gegen die gemäß dieser Richtlinie erlassenen nationalen Vorschriften zu verhängen sind, und treffen die notwendigen Maßnahmen, um die Durchsetzung dieser Vorschriften zu gewährleisten. Die Sanktionen müssen wirksam, verhältnismäßig und abschreckend sein. …“
Verordnung (EU) Nr. 389/2013
10 Art. 67 der Verordnung (EU) Nr. 389/2013 der Kommission vom 2. Mai 2013 zur Festlegung eines Unionsregisters gemäß der Richtlinie 2003/87 und den Entscheidungen Nr. 280/2004/EG und Nr. 406/2009/EG des Europäischen Parlaments und des Rates sowie zur Aufhebung der Verordnungen (EU) Nr. 920/2010 und (EU) Nr. 1193/2011 der Kommission (ABl. 2013, L 122, S. 1) bestimmt in Abs. 1 und 2:
„1. Anlagen- oder Luftfahrzeugbetreiber geben Zertifikate ab, indem sie dem Unionsregister vorschlagen,
a)
eine bestimmte Anzahl Zertifikate, die zur Verpflichtungserfüllung im selben Handelszeitraum generiert wurden, von dem betreffenden Anlagen- oder Luftfahrzeugbetreiberkonto auf das EU-Löschungskonto für Zertifikate zu übertragen;
b)
die Anzahl und den Typ der übertragenen Zertifikate als für die im laufenden Verpflichtungszeitraum entstandenen Emissionen der Anlage oder des Luftfahrzeugbetreibers abgegeben zu erfassen.
2. Luftverkehrszertifikate können nur von Luftfahrzeugbetreibern abgegeben werden.“
Luxemburgisches Recht
11 Die Richtlinie 2003/87 wurde mit der Loi du 23 décembre 2004, établissant un système d’échange de quotas d’émission de gaz à effet de serre (Gesetz vom 23. Dezember 2004 über ein System für den Handel mit Treibhausgasemissionszertifikaten) (Mémorial A 2004, S. 3792) in luxemburgisches Recht umgesetzt.
12 Art. 13 Abs. 2bis dieses Gesetzes in seiner auf den im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Beschluss vom 31. Oktober 2016 (Mémorial A 2012, S. 4410) anzuwendenden Fassung (im Folgenden: Gesetz vom 23. Dezember 2004) bestimmt:
„Der Minister stellt sicher, dass jeder Luftfahrzeugbetreiber bis zum 30. April jeden Jahres eine Anzahl von Zertifikaten abgibt, die den – gemäß Art. 16 überprüften – Gesamtemissionen des vorangegangenen Kalenderjahres aus Luftverkehrstätigkeiten im Sinne von Anhang I, die er als Luftfahrzeugbetreiber durchgeführt hat, entspricht. Die abgegebenen Zertifikate werden anschließend vom Minister gelöscht.“
13 Art. 15 dieses Gesetzes bestimmt:
„Jeder Anlagen- oder Luftfahrzeugbetreiber überwacht und meldet gemäß der oben genannten Verordnung (EU) Nr. 601/2012 nach Ablauf des betreffenden Jahres dem Minister die Emissionen, die in jedem Kalenderjahr durch seine Anlagen beziehungsweise ab dem 1. Januar 2010 durch die von ihm betriebenen Luftfahrzeuge erzeugt wurden.“
14 Art. 20 Abs. 3 und 7 dieses Gesetzes sieht vor:
„3. Betreibern oder Luftfahrzeugbetreibern, die nicht bis zum 30. April jedes Jahres eine ausreichende Anzahl von Zertifikaten zur Abdeckung ihrer Emissionen im Vorjahr abgeben, wird eine Sanktion wegen Emissionsüberschreitung auferlegt. Die Sanktion wegen Emissionsüberschreitung beträgt für jede ausgestoßene Tonne Kohlendioxidäquivalent, für die der Betreiber oder Luftfahrzeugbetreiber keine Zertifikate abgegeben hat, 100 EUR. Die Zahlung der Sanktion entbindet den Betreiber nicht von der Verpflichtung, Zertifikate in Höhe dieser Emissionsüberschreitung abzugeben, wenn er die Zertifikate für das folgende Kalenderjahr abgibt.
…
(7) Unbeschadet der vorstehenden Bestimmungen werden die Namen der Betreiber und Luftfahrzeugbetreiber, die gegen die Verpflichtungen gemäß Art. 13 Abs. 2bis oder 3 zur Abgabe einer ausreichenden Anzahl von Zertifikaten verstoßen, veröffentlicht.“
Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefragen
15 Luxaviation gehört zu einem Lufttransportkonzern, der nach eigenen Angaben über eine Flotte von 260 Luftfahrzeugen verfügt und rund 1700 Personen beschäftigt. Die Gesellschaft hat im Jahr 2013 ihre Tätigkeit aufgenommen und ist seit diesem Jahr unter der Identifikationsnummer 234154 an einem System für den Handel mit Treibhausgasemissionszertifikaten beteiligt. Aus der Vorlageentscheidung ergibt sich, dass sie ihre Treibhausgasemissionszertifikate für die Jahre 2013 und 2014 ordnungsgemäß abgegeben hat und dass die vorliegende Rechtssache das Jahr 2015 betrifft.
16 Für dieses Jahr hat Luxaviation ihren Treibhausgasemissionsbericht am 5. Februar 2016 erstellt.
17 Am 30. März 2016 erhielt Luxaviation auf elektronischem Wege von der Absenderadresse „[email protected]“ folgende Nachricht über die Prüfung dieses Berichts:
„Subject: Emissions approved
The emissions entered for:
23415 (Monitoring Plan for Annual Emissions)
Year(s) 2015
… have been VERIFIED.“
18 Luxaviation erklärt, sie habe am 19. April 2016 die Eintragung der Zertifikate im luxemburgischen Register veranlasst, bevor sie sie nach Durchführung der erforderlichen Überprüfungen übertragen habe. Am selben Tag habe sie die geforderten Zahlungen geleistet und die dazugehörigen Zertifikate auf dem europäischen Konto EU‑100‑5023942 freigegeben.
19 Luxaviation führt aus, sie habe damit die Gewissheit gehabt, das Verfahren zur Abgabe der Zertifikate für die Emissionen für das Jahr 2015 abgeschlossen zu haben, wobei diese Gewissheit noch durch den Erhalt eines elektronischen Schreibens verstärkt worden sei, das sie von der Absenderadresse „[email protected]“ am 19. April 2016 erhalten habe, in dem es wie folgt geheißen habe:
„The transaction EU341482 of type 10-00 Internal Transfer between:
EU-100-5023709
And:
EU-100-5023942
Involving:
Unit Type: Aviation, Unit Amount: 6428
… has ended with a status Completed.“
20 Wie die Europäische Kommission in ihren schriftlichen Erklärungen unwidersprochen angibt, bezog sich diese elektronische Abschlussbestätigung jedoch in Wirklichkeit auf einen Erwerb von Zertifikaten, den Luxaviation bei einem slowenischen Unternehmen getätigt hatte, und nicht auf eine Übertragung von Zertifikaten zugunsten des Unionsregisters.
21 Mit Schreiben vom 27. Juni 2016 teilte der Minister für Umwelt Luxaviation mit, dass sie die erforderliche Abgabe nicht fristgemäß, d. h. bis zum 30. April dieses Jahres, vorgenommen habe. Er gab ihr Gelegenheit zur Stellungnahme und fügte dem Schreiben den Entwurf eines Bescheids bei, in dem die Zahl der vermutlich für das Jahr 2015 nicht abgegebenen Emissionszertifikate sowie der Betrag der dafür zu verhängenden Sanktion angegeben waren.
22 In ihrer Antwort führte Luxaviation aus, sie habe von dieser Verspätung erst durch das Schreiben des Ministers für Umwelt erfahren. Sie stellte vorsätzliche Missachtung ihrer Verpflichtungen in Abrede und berief sich auf „ein Unterlassen eines ihrer Mitarbeiter bzw. eine informationstechnologische Fehlleistung“. Sie habe sich auf das elektronische Schreiben vom 19. April 2016 verlassen und sei der festen Überzeugung gewesen, das Abgabeverfahren ordnungsgemäß absolviert zu haben. Jedenfalls habe sie die Umwelt nicht beeinträchtigt.
23 Mit Bescheid vom 31. Oktober 2016 setzte der Minister für Umwelt gegenüber Luxaviation eine Sanktion von 100 Euro je nicht abgegebenes Zertifikat fest, insgesamt 642800 Euro, zahlbar bis zum 30. November 2016. Mit demselben Bescheid wurde die Veröffentlichung des Namens von Luxaviation auf der Internetseite der Umweltverwaltung angeordnet.
24 Luxaviation erhob gegen diesen Bescheid am 29. November 2016 Klage beim Tribunal administratif (Verwaltungsgericht, Luxemburg), die mit Urteil vom 28. Februar 2018 abgewiesen wurde, woraufhin Luxaviation am 6. April 2018 bei der Cour administrative (Verwaltungsgerichtshof, Luxemburg) Rechtsmittel einlegte.
25 Vor diesem Gericht führt Luxaviation insbesondere aus, sie sei guten Glaubens davon überzeugt gewesen, dass sie das Abgabeverfahren absolviert habe. Außerdem trug sie vor, dass die Sanktion sie in ihrem wirtschaftlichen Fortbestand bedrohe.
26 Ihrer Ansicht nach seien auch die Grundsätze der Gleichheit und des freien Wettbewerbs verletzt, da die französischen Betreiber bei der Erfüllung ihrer Abgabeverpflichtung von den zuständigen nationalen Behörden angeleitet worden seien.
27 Fraglich sei schließlich, ob die pauschale Sanktion mit dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz im Einklang stehe. Das Fehlen von Mechanismen zur Mahnung, Aufforderung und vorzeitigen Abgabe im luxemburgischen Recht widerspreche dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, da von den luxemburgischen Behörden keine Zwischenstufe vorgesehen worden sei, um die Betreiber bei der Befolgung ihrer Pflichten anzuleiten, und die pauschale Sanktion „automatisch, unmittelbar und ohne Prüfung der Umstände“ verhängt werde, die der Nichtabgabe der Zertifikate zugrunde lägen.
28 Der Verwaltungsgerichtshof hat daraufhin beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
1. Ist Art. 12 Abs. 3 der Richtlinie 2003/87, nach dem die Mitgliedstaaten die Abgabe der von ihren Betreibern ausgestellten Zertifikate sicherstellen müssen, in Verbindung mit Art. 41 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta), der den Grundsatz der guten Verwaltung normiert, dahin auszulegen, dass er für die zuständige innerstaatliche Behörde eine Verpflichtung zur Einrichtung einer individuellen Nachverfolgung der Abgabepflichten vor Ablauf der Frist am 30. April des betreffenden Jahres begründet, wenn diese Behörde für die Überwachung einer begrenzten Zahl an Betreibern, im vorliegenden Fall 25 Betreiber auf gesamtstaatlicher Ebene, zuständig ist?
2. a)
Ist bei einem unvollständigen Vorgang der Abgabe von Zertifikaten wie jenem im vorliegenden Fall, wo sich der Betreiber auf den Erhalt einer elektronischen Bestätigung über den Abschluss des Übertragungsvorgangs verlassen hat, davon auszugehen, dass er beim gutgläubigen Betreiber vernünftigerweise ein berechtigtes Vertrauen darauf hervorrufen konnte, dass er den Abgabevorgang nach Art. 6 Abs. 2 Buchst. e der Richtlinie 2003/87 abgeschlossen habe?
b)
Kann unter Berücksichtigung der Antwort auf die zweite Frage dieses Vertrauen bei einem gutgläubigen Betreiber erst recht als berechtigt betrachtet werden, wenn dieser im vorangegangenen Abgabeverfahren von der innerstaatlichen Behörde einige Tage vor Ablauf der in Art. 6 Abs. 2 Buchst. e der Richtlinie 2003/87 vorgesehenen Fristen von Amts wegen kontaktiert und darauf hingewiesen wurde, dass das Verfahren zur Abgabe der Zertifikate noch nicht abgeschlossen war, so dass er vernünftigerweise davon ausgehen kann, seine Abgabepflichten für das laufende Jahr erfüllt zu haben, wenn im folgenden Jahr eine direkte Kontaktaufnahme seitens dieser Behörde unterbleibt?
c)
Kann der Vertrauensschutzgrundsatz im Hinblick auf die Antwort auf die beiden vorstehenden Fragen – unabhängig davon, ob sie einzeln oder zusammen untersucht werden – dahin ausgelegt werden, dass er einen Fall von höherer Gewalt begründet, die eine teilweise oder gänzliche Befreiung des gutgläubigen Betreibers von der Sanktion nach Art. 16 Abs. 3 der Richtlinie 2003/87 ermöglicht?
3. a)
Steht Art. 49 Abs. 3 der Charta, der den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz statuiert, der pauschalen Festsetzung der Geldbuße für die mangelnde Abgabe der Emissionszertifikate nach Art. 16 Abs. 3 der Richtlinie 2003/87 entgegen, wenn diese Bestimmung keine Verhängung einer Sanktion erlaubt, die zu dem vom Betreiber begangenen Verstoß verhältnismäßig ist?
b)
Für den Fall der Verneinung der vorstehenden Frage: Sind der Gleichheitsgrundsatz nach Art. 20 der Charta sowie der allgemeine Grundsatz des guten Glaubens und das Prinzip fraus omnia corrumpit dahin auszulegen, dass sie es verbieten, dass ein bloß nachlässiger gutgläubiger Betreiber, der sich zudem zum maßgebenden Stichtag am 30. April im Einklang mit seinen Verpflichtungen zur Abgabe von Emissionszertifikaten wähnte, hinsichtlich der Höhe der nach Art. 16 Abs. 3 der Richtlinie 2003/87 zu verhängenden pauschalen Sanktion, zu der automatisch die in Art. 20 Abs. 7 des Gesetzes vom 23. Dezember 2004 vorgesehene Veröffentlichung hinzutritt, in gleicher Weise behandelt wird wie ein betrügerisch handelnder Betreiber?
c)
Für den Fall der Verneinung der vorstehenden Frage: Ist die Anwendung der pauschalen Sanktion, bei der das innerstaatliche Gericht außer in Fällen höherer Gewalt keine Möglichkeit einer Anpassung hat, sowie der automatischen Veröffentlichungssanktion mit Art. 47 der Charta vereinbar, der das Bestehen eines wirksamen Rechtsbehelfs garantiert?
d)
Für den Fall der Verneinung der vorstehenden Frage: Läuft die Bestätigung einer fixen monetären Sanktion, der ein dahin gehender Wille des europäischen Richtliniengebers zugrunde gelegt wird, sowie der automatischen Veröffentlichungssanktion, ohne dass der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz – abgesehen von Fällen höherer Gewalt im engen Sinne – greift, nicht darauf hinaus, dass das innerstaatliche Gericht gegenüber einem vermuteten Willen des europäischen Richtliniengebers zurücktritt, sowie auf einen im Hinblick auf die Art. 47 und 49 Abs. 3 der Charta ungerechtfertigten Verzicht auf die gerichtliche Kontrolle?
e)
Läuft unter Berücksichtigung der Antwort auf die vorstehende Frage das Fehlen der gerichtlichen Kontrolle durch das innerstaatliche Gericht im Zusammenhang mit der pauschalen Sanktion nach Art. 16 Abs. 3 der Richtlinie 2003/87 sowie der automatischen Veröffentlichungssanktion nach Art. 20 Abs. 7 des Gesetzes vom 23. Dezember 2004 nicht auf einen Bruch des im Wesentlichen fruchtbaren Dialogs zwischen dem Gerichtshof und den obersten nationalen Gerichten durch eine vorgefertigte Lösung hinaus, die vom Gerichtshof (außer im Fall von höherer Gewalt im engen Sinne) bestätigt wird und die bedeutet, dass ein effektiver Dialog für das innerstaatliche Gericht unmöglich wird, da diesem nur mehr bleibt, die Sanktion zu bestätigen, sofern kein Fall höherer Gewalt erwiesen ist?
4. Kann der Begriff der höheren Gewalt angesichts der Antworten auf die vorstehenden Fragen dahin ausgelegt werden, dass er eine subjektive Härte für den gutgläubigen Betreiber berücksichtigt, wenn die Entrichtung der in Art. 16 Abs. 3 der Richtlinie 2003/87 vorgesehenen pauschalen Sanktion sowie die automatische Veröffentlichungssanktion nach Art. 20 Abs. 7 des Gesetzes vom 23. Dezember 2004 ein erhebliches finanzielles Risiko und einen beträchtlichen Kreditverlust darstellen, die zur Kündigung seines Personals und sogar zu seinem eigenen Konkurs führen können?
Zu den Vorlagefragen
29 Gemäß Art. 99 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs kann der Gerichtshof, wenn die Antwort auf eine zur Vorabentscheidung vorgelegte Frage klar aus der Rechtsprechung abgeleitet werden kann oder wenn die Beantwortung der zur Vorabentscheidung vorgelegten Frage keinen Raum für vernünftige Zweifel lässt, auf Vorschlag des Berichterstatters und nach Anhörung des Generalanwalts jederzeit durch mit Gründen versehenen Beschluss entscheiden.
30 Diese Bestimmung ist in der vorliegenden Rechtssache anzuwenden.
31 Zunächst ist auf die vom Gerichtshof im Urteil vom 17. Oktober 2013, Billerud Karlsborg und Billerud Skärblacka (C‑203/12, im Folgenden: Urteil Billerud, EU:C:2013:664), vertretene Auslegung hinzuweisen.
32 Der Gerichtshof hat in Rn. 32 dieses Urteils festgestellt, dass Art. 16 Abs. 3 und 4 der Richtlinie 2003/87 dahin auszulegen ist, dass es dieser Bestimmung zuwiderläuft, wenn ein Betreiber, der die Zertifikate für das Kohlendioxidäquivalent in Höhe seiner Emissionen des Vorjahres nicht bis zum 30. April des laufenden Jahres abgegeben hat, obwohl er zu diesem Zeitpunkt über eine ausreichende Anzahl von Zertifikaten verfügt, der Sanktion wegen Emissionsüberschreitung entgeht. Diese Auslegung bezieht sich insbesondere darauf, dass die mit der Richtlinie 2003/87 auferlegte Verpflichtung nicht als bloße Verpflichtung anzusehen ist, am 30. April des laufenden Jahres Zertifikate zur Abdeckung der Emissionen des Vorjahres zu besitzen, sondern als Verpflichtung, diese Zertifikate bis zum 30. April abzugeben, damit sie im Unionsregister, das eine genaue Verbuchung der Zertifikate gewährleisten soll, gelöscht werden (Urteil Billerud, Rn. 30). Die allgemeine Systematik der Richtlinie 2003/87 beruht somit auf einer genauen Verbuchung von Vergabe, Besitz, Übertragung und Löschung der Zertifikate, die die Einführung eines standardisierten Registrierungssystems im Wege einer gesonderten Verordnung der Kommission erfordert (Urteil Billerud, Rn. 27).
33 In Anbetracht dieser Besonderheiten war der Gerichtshof der Auffassung, dass die in der Richtlinie 2003/87 vorgesehene Sanktion wegen Emissionsüberschreitung nicht deshalb dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz widerspricht, weil die Höhe der Sanktion vom nationalen Gericht nicht angepasst werden kann. Denn im Kontext eines dringenden Bedürfnisses, schwerwiegenden umweltbezogenen Bedenken entgegenzuwirken, erschienen dem Unionsgesetzgeber die Abgabepflicht nach Art. 12 Abs. 3 der Richtlinie 2003/87 und die pauschale Sanktion, mit der sie nach Art. 16 Abs. 3 dieser Richtlinie bewehrt ist und die keine andere Flexibilität als die vorübergehende Herabsetzung ihrer Höhe bietet, bei der Verfolgung des legitimen Ziels der Einführung eines leistungsfähigen Systems für den Handel mit Zertifikaten für das Kohlendioxidäquivalent erforderlich, um zu verhindern, dass einige Betreiber oder Mittelspersonen auf dem Markt dazu verleitet werden, das System durch missbräuchliche Spekulation in Bezug auf die Preise, Mengen, Fristen oder komplexen Finanzprodukte, die eine Begleiterscheinung jedes Marktes sind, zu umgehen oder zu manipulieren. Im Übrigen ergibt sich aus der Richtlinie 2003/87, dass die Betreiber über einen Zeitraum von vier Monaten verfügen, um sich in die Lage zu versetzen, die Abgabe der Zertifikate für das Vorjahr zu bewerkstelligen, was ihnen eine angemessene Frist lässt, ihrer Abgabepflicht nachzukommen (Urteil Billerud, Rn. 38 bis 40).
34 Im Licht dieser Rechtsprechung sind die vorgelegten Fragen zu beantworten.
Zur dritten Frage
35 Mit seiner dritten, vorab zu behandelnden Frage will das vorlegende Gericht sinngemäß wissen, ob die Art. 20 und 47 sowie Art. 49 Abs. 3 der Charta dahin auszulegen sind, dass sie es verbieten, dass die in Art. 16 Abs. 3 der Richtlinie 2003/87 vorgesehene pauschale Sanktion dem nationalen Gericht keine Möglichkeit einer Anpassung eröffnet.
36 Was zunächst Art. 20 der Charta anbelangt, ist darauf hinzuweisen, dass der in diesem Artikel verankerte Grundsatz der Gleichheit vor dem Gesetz ein allgemeiner Grundsatz der Gleichbehandlung ist, der gebietet, dass vergleichbare Sachverhalte nicht unterschiedlich und unterschiedliche Sachverhalte nicht gleichbehandelt werden, es sei denn, dass eine solche Behandlung objektiv gerechtfertigt ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 11. Juli 2006, Franz Egenberger, C‑313/04, EU:C:2006:454, Rn. 33).
37 Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs ist eine unterschiedliche Behandlung gerechtfertigt, wenn sie auf einem objektiven und angemessenen Kriterium beruht, d. h., wenn sie im Zusammenhang mit einem rechtlich zulässigen Ziel steht, das mit der in Rede stehenden Regelung verfolgt wird, und wenn diese unterschiedliche Behandlung in angemessenem Verhältnis zu dem mit der betreffenden Behandlung verfolgten Ziel steht (Urteil vom 16. Dezember 2008, Arcelor Atlantique und Lorraine u. a., C‑127/07, EU:C:2008:728, Rn. 47).
38 Wie in Rn. 33 des vorliegenden Beschlusses ausgeführt, trifft Art. 16 Abs. 3 der Richtlinie 2003/87 hinsichtlich des Ziels, ein einheitliches System von Zertifikaten einzurichten, eine objektive und angemessene Unterscheidung zwischen zum einen den Betreibern, die ihrer Abgabepflicht nachgekommen sind, und zum anderen jenen Betreibern, die sich dieser Pflicht entzogen haben.
39 Es dem nationalen Gericht zu erlauben, die Höhe der den Betreibern der zweiten Kategorie auferlegten Sanktion anzupassen und damit Betreiber, die sich alle objektiv in der gleichen Situation der Nichtbeachtung ihrer Abgabepflicht befinden, unterschiedlich zu behandeln, ergibt sich daher nicht nur keineswegs aus dem Grundsatz der Gleichheit vor dem Gesetz, sondern liefe diesem Grundsatz geradezu zuwider.
40 Was sodann Art. 47 der Charta anbetrifft, gesetzt den Fall, dass er es nach Ansicht des vorlegenden Gerichts ermöglichen sollte, die Gültigkeit der Richtlinie 2003/87 in Frage zu stellen, da sich nach ihr die betroffenen Personen nicht gegen die Höhe der ihnen auferlegten Sanktion wenden könnten, ist darauf hinzuweisen, dass sich der Gerichtshof im Beschluss vom 17. Dezember 2015, Bitter (C‑580/14, EU:C:2015:835), bereits zu dieser Frage geäußert und festgestellt hat, dass das mit Art. 16 dieser Richtlinie begründete Sanktionssystem nicht dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zuwiderläuft.
41 Schließlich genügt es auch hinsichtlich Art. 49 Abs. 3 der Charta, wonach das Strafmaß zur Straftat nicht unverhältnismäßig sein darf, jedenfalls auf die Würdigung zu verweisen, die der Gerichtshof im Urteil Billerud im Hinblick auf den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit vorgenommen hat.
42 Folglich ist auf die dritte Frage zu antworten, dass die Art. 20 und 47 sowie Art. 49 Abs. 3 der Charta dahin auszulegen sind, dass sie es nicht verbieten, dass die in Art. 16 Abs. 3 der Richtlinie 2003/87 vorgesehene pauschale Sanktion dem nationalen Gericht keine Möglichkeit einer Anpassung eröffnet.
Zur ersten Frage
43 Mit seiner ersten Frage will das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 41 der Charta dahin auszulegen ist, dass es nicht zulässig ist, wenn die Mitgliedstaaten lediglich dazu befugt, nicht aber verpflichtet sind, Mechanismen zur Mahnung, Aufforderung und vorzeitigen Abgabe einzurichten, durch die gutgläubige Betreiber umfassend über ihre Abgabepflicht informiert sind und so der Gefahr einer Sanktion nach Art. 16 Abs. 3 der Richtlinie 2003/87 entgehen können.
44 Nach Art. 41 („Recht auf eine gute Verwaltung“) Abs. 1 der Charta hat jede Person ein Recht darauf, dass ihre Angelegenheiten von den Organen, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union unparteilich, gerecht und innerhalb einer angemessenen Frist behandelt werden.
45 Aus dem Wortlaut dieses Artikels geht klar hervor, dass er sich nicht an die Mitgliedstaaten, sondern ausschließlich an die Organe, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union richtet (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 21. Dezember 2011, Cicala, C‑482/10, EU:C:2011:868, Rn. 28).
46 Daher kann der Betreiber, gegen den eine Sanktion nach Art. 16 Abs. 3 der Richtlinie 2003/87 verhängt wird, jedenfalls aus Art. 41 Abs. 2 der Charta nicht ein Recht ableiten, bei seinen Verfahrenshandlungen im Rahmen der jährlichen Abgabe der Zertifikate angeleitet zu werden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 17. Juli 2014, YS u. a., C‑141/12 und C‑372/12, EU:C:2014:2081, Rn. 67).
47 Zwar spiegelt das in dieser Bestimmung verbürgte Recht auf eine gute Verwaltung einen allgemeinen Grundsatz des Unionsrechts wider (Urteil vom 8. Mai 2014, N., C‑604/12, EU:C:2014:302, Rn. 49). Jedoch ersucht das vorlegende Gericht mit seiner ersten Frage nicht um eine Auslegung dieses allgemeinen Grundsatzes, sondern will in Erfahrung bringen, ob Art. 41 der Charta die zuständige Behörde eines Mitgliedstaats dazu verpflichten kann, eine individuelle Überwachung der Abgabepflichten einzuführen.
48 In Rn. 41 des Urteils Billerud wird jedoch klargestellt, dass es den Mitgliedstaaten freisteht, Mechanismen zur Mahnung, Aufforderung und vorzeitigen Abgabe einzuführen, durch die gutgläubige Betreiber umfassend über ihre Abgabepflicht informiert werden und so der Gefahr einer Sanktion entgehen können. Aus den Akten, die dem Gerichtshof in der Rechtssache, in der das Urteil Billerud ergangen ist, vorlagen, ergab sich, dass verschiedene nationale Rechtsvorschriften solche Mechanismen vorsehen und den zuständigen Behörden die Aufgabe übertragen, die Betreiber bei ihrem Vorgehen im Rahmen des Systems für den Handel mit Treibhausgaszertifikaten anzuleiten.
49 Daher ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 41 der Charta dahin auszulegen ist, dass er nicht auf den Fall anzuwenden ist, in dem zu bestimmen ist, ob die Mitgliedstaaten verpflichtet und nicht lediglich befugt sind, Mechanismen zur Mahnung, Aufforderung und vorzeitigen Abgabe einzurichten, durch die gutgläubige Betreiber umfassend über ihre Abgabepflicht informiert sind und so der Gefahr einer Sanktion nach Art. 16 Abs. 3 der Richtlinie 2003/87 entgehen können.
Zur zweiten Frage
50 Mit seiner zweiten Frage will das vorlegende Gericht sinngemäß wissen, ob der Grundsatz des Vertrauensschutzes dahin auszulegen ist, dass er der Verhängung der Sanktion des Art. 16 Abs. 3 der Richtlinie 2003/87 dann entgegensteht, wenn die zuständigen Behörden den Betreiber nicht vor Ablauf der Abgabefrist auf den Fristablauf hingewiesen haben, obwohl sie dies, ohne dazu verpflichtet zu sein, im vorangegangenen Jahr getan hatten.
51 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass sich der Grundsatz des Vertrauensschutzes aus dem Grundsatz der Rechtssicherheit ableitet, der insbesondere gebietet, dass Rechtsvorschriften – vor allem dann, wenn sie nachteilige Folgen für Einzelne und Unternehmen haben können – klar, bestimmt und in ihren Auswirkungen vorhersehbar sein müssen. Auf diesen abgeleiteten Grundsatz kann sich jeder berufen, bei dem eine zuständige Behörde durch bestimmte Zusicherungen begründete Erwartungen geweckt hat (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 17. Oktober 2018, Klohn, C‑167/17, EU:C:2018:833, Rn. 50 und 51).
52 Aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten geht jedoch nicht hervor, dass die luxemburgischen Behörden gegenüber dem Kläger des Ausgangsverfahrens bestimmte Zusicherungen im Sinne der in der vorstehenden Randnummer genannten Rechtsprechung gemacht hätten. Insoweit können in dem bloßen Umstand, dass diese Behörden im vorangegangenen Jahr den Betreiber zulässigerweise daran erinnert hatten, dass er seine Zertifikate noch nicht abgegeben habe, obwohl die Abgabefrist kurz davor sei, abzulaufen, keine solchen bestimmten Zusicherungen gesehen werden.
53 Daher ist auf die zweite Frage zu antworten, dass der Grundsatz des Vertrauensschutzes dahin auszulegen ist, dass er der Verhängung der Sanktion des Art. 16 Abs. 3 der Richtlinie 2003/87 nicht entgegensteht, wenn die zuständigen Behörden den Betreiber nicht vor Ablauf der Abgabefrist auf den Fristablauf hingewiesen haben, obwohl sie dies, ohne dazu verpflichtet zu sein, im vorangegangenen Jahr getan hatten.
Zur vierten Frage
54 Mit seiner vierten Frage will das vorlegende Gericht sinngemäß wissen, ob der Begriff „Fall höherer Gewalt“ im Sinne von Rn. 31 des Urteils Billerud einen Sachverhalt wie den im Ausgangsverfahren in Rede stehenden erfasst.
55 Insoweit ist zu beachten, dass auch bei Fehlen einer besonderen Bestimmung ein Fall von höherer Gewalt bejaht werden kann, wenn sich Rechtsuchende auf eine äußere Ursache berufen, deren Folgen so unvermeidbar und unausweichlich sind, dass den Betroffenen die Einhaltung ihrer Verpflichtungen objektiv unmöglich gemacht wird (Urteil Billerud, Rn. 31).
56 Der Gerichtshof hat in dieser Rn. 31 auch klargestellt, dass das vorlegende Gericht zu beurteilen hat, ob der Betreiber trotz aller möglicherweise unternommenen Anstrengungen, um die vorgeschriebenen Fristen einzuhalten, mit ungewöhnlichen und unvorhersehbaren Umständen konfrontiert war, auf die er keinen Einfluss hatte.
57 Es ist daher Sache des vorlegenden Gerichts, in der bei ihm anhängigen Rechtssache eine solche Beurteilung vorzunehmen. Um dem vorlegenden Gericht eine zweckdienliche Antwort zu geben, ist jedoch darauf hinzuweisen, dass die von Luxaviation vorgebrachten Umstände, die in Rn. 22 des vorliegenden Beschlusses wiedergegeben sind, für sich allein nicht ausreichen können, um einen Fall höherer Gewalt zu begründen.
58 Auf die vierte Frage ist daher zu antworten, dass es Sache des vorlegenden Gerichts ist, zu beurteilen, ob der Begriff „Fall höherer Gewalt“ im Sinne von Rn. 31 des Urteils Billerud einen Sachverhalt wie den im Ausgangsverfahren in Rede stehenden erfasst.
Kosten
59 Das Verfahren ist für die Parteien des Ausgangsverfahrens ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit. Die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Sechste Kammer) für Recht erkannt:
1. Die Art. 20 und 47 sowie Art. 49 Abs. 3 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union sind dahin auszulegen, dass sie es nicht verbieten, dass die in Art. 16 Abs. 3 der Richtlinie 2003/87/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Oktober 2003 über ein System für den Handel mit Treibhausgasemissionszertifikaten in der Gemeinschaft und zur Änderung der Richtlinie 96/61/EG des Rates in der durch die Richtlinie 2009/29/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23. April 2009 geänderten Fassung vorgesehene pauschale Sanktion dem nationalen Gericht keine Möglichkeit einer Anpassung eröffnet.
2. Art. 41 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union ist dahin auszulegen, dass er nicht auf den Fall anzuwenden ist, in dem zu bestimmen ist, ob die Mitgliedstaaten verpflichtet und nicht lediglich befugt sind, Mechanismen zur Mahnung, Aufforderung und vorzeitigen Abgabe einzurichten, durch die gutgläubige Betreiber umfassend über ihre Abgabepflicht informiert sind und so der Gefahr einer Sanktion nach Art. 16 Abs. 3 der Richtlinie 2003/87 in der durch die Richtlinie 2009/29 geänderten Fassung entgehen können.
3. Der Grundsatz des Vertrauensschutzes ist dahin auszulegen, dass er der Verhängung der Sanktion des Art. 16 Abs. 3 der Richtlinie 2003/87 in der durch die Richtlinie 2009/29 geänderten Fassung nicht entgegensteht, wenn die zuständigen Behörden den Betreiber nicht vor Ablauf der Abgabefrist auf den Fristablauf hingewiesen haben, obwohl sie dies, ohne dazu verpflichtet zu sein, im vorangegangenen Jahr getan hatten.
4. Es ist Sache des vorlegenden Gerichts, zu beurteilen, ob der Begriff „Fall höherer Gewalt“ im Sinne von Rn. 31 des Urteils vom 17. Oktober 2013, Billerud Karlsborg und Billerud Skärblacka (C‑203/12, EU:C:2013:664), einen Sachverhalt wie den im Ausgangsverfahren in Rede stehenden erfasst.
Unterschriften
(*1) Verfahrenssprache: Französisch.
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Urteil des Gerichtshofs (Große Kammer) vom 26. Februar 2013.#Åklagaren gegen Hans Åkerberg Fransson.#Vorabentscheidungsersuchen des Haparanda tingsrätt.#Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Anwendungsbereich – Art. 51 – Durchführung des Unionsrechts – Bekämpfung von die Eigenmittel der Union gefährdenden Verhaltensweisen – Art. 50 – Grundsatz ne bis in idem – Nationale Regelung, die bei der Ahndung ein und desselben Fehlverhaltens zu zwei getrennten Verfahren, einem verwaltungsrechtlichen und einem strafrechtlichen, führt – Vereinbarkeit.#Rechtssache C‑617/10.
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62010CJ0617
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ECLI:EU:C:2013:105
| 2013-02-26T00:00:00 |
Gerichtshof, Cruz Villalón
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Sammlung der Rechtsprechung – allgemein
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62010CJ0617
URTEIL DES GERICHTSHOFS (Große Kammer)
26. Februar 2013 (*1)
„Charta der Grundrechte der Europäischen Union — Anwendungsbereich — Art. 51 — Durchführung des Unionsrechts — Bekämpfung von die Eigenmittel der Union gefährdenden Verhaltensweisen — Art. 50 — Grundsatz ne bis in idem — Nationale Regelung, die bei der Ahndung ein und desselben Fehlverhaltens zu zwei getrennten Verfahren, einem verwaltungsrechtlichen und einem strafrechtlichen, führt — Vereinbarkeit“
In der Rechtssache C-617/10
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Haparanda tingsrätt (Schweden) mit Entscheidung vom 23. Dezember 2010, beim Gerichtshof eingegangen am 27. Dezember 2010, in dem Verfahren
Åklagare
gegen
Hans Åkerberg Fransson
erlässt
DER GERICHTSHOF (Große Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten V. Skouris, des Vizepräsidenten K. Lenaerts, der Kammerpräsidenten A. Tizzano, M. Ilešič, G. Arestis, J. Malenovský, der Richter A. Borg Barthet und J.-C. Bonichot, der Richterin C. Toader sowie der Richter J.-J. Kasel und M. Safjan (Berichterstatter),
Generalanwalt: P. Cruz Villalón,
Kanzler: C. Strömholm, Verwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 24. Januar 2012,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
—
von Herrn Åkerberg Fransson, Prozessbevollmächtigter: J. Sterner, advokat, und U. Bernitz, professor,
—
der schwedischen Regierung, vertreten durch A. Falk und S. Johannesson als Bevollmächtigte,
—
der tschechischen Regierung, vertreten durch M. Smolek und J. Vláčil als Bevollmächtigte,
—
der dänischen Regierung, vertreten durch C. Vang als Bevollmächtigten,
—
der deutschen Regierung, vertreten durch T. Henze als Bevollmächtigten,
—
Irlands, vertreten durch D. O’Hagan als Bevollmächtigten im Beistand von M. McDowell, SC,
—
der griechischen Regierung, vertreten durch K. Paraskevopoulou und Z. Chatzipavlou als Bevollmächtigte,
—
der französischen Regierung, vertreten durch N. Rouam als Bevollmächtigte,
—
der niederländischen Regierung, vertreten durch C. Wissels und J. Langer als Bevollmächtigte,
—
der österreichischen Regierung, vertreten durch C. Pesendorfer als Bevollmächtigte,
—
der Europäischen Kommission, vertreten durch R. Lyal und J. Enegren als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 12. Juni 2012
folgendes
Urteil
1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung des Grundsatzes ne bis in idem im Unionsrecht.
2 Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Strafverfahrens, das aufgrund einer vom Åklagare (Staatsanwalt) erhobenen Anklage wegen Steuerhinterziehung in einem schweren Fall gegen Herrn Åkerberg Fransson eingeleitet wurde.
Rechtlicher Rahmen
Europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten
3 Art. 4 des am 22. November 1984 in Straßburg unterzeichneten Protokolls Nr. 7 zur Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (im Folgenden: Protokoll Nr. 7) bestimmt unter der Überschrift „Recht, wegen derselben Strafsache nicht zweimal vor Gericht gestellt oder bestraft zu werden“:
„(1) Niemand darf wegen einer Straftat, wegen der er bereits nach dem Gesetz und dem Strafverfahrensrecht eines Staates rechtskräftig verurteilt oder freigesprochen worden ist, in einem Strafverfahren desselben Staates erneut verfolgt oder bestraft werden.
(2) Artikel 1 schließt die Wiederaufnahme des Verfahrens nach dem Gesetz und dem Strafverfahrensrecht des betreffenden Staates nicht aus, falls neue oder neu bekannt gewordene Tatsachen vorliegen oder das vorausgegangene Verfahren schwere, den Ausgang des Verfahrens berührende Mängel aufweist.
(3) Von diesem Artikel darf nicht nach Artikel 15 der [am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten, im Folgenden: EMRK] abgewichen werden.“
Unionsrecht
Charta der Grundrechte der Europäischen Union
4 Art. 50 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) mit der Überschrift „Recht, wegen derselben Straftat nicht zweimal strafrechtlich verfolgt oder bestraft zu werden“ hat folgenden Wortlaut:
„Niemand darf wegen einer Straftat, derentwegen er bereits in der Union nach dem Gesetz rechtskräftig verurteilt oder freigesprochen worden ist, in einem Strafverfahren erneut verfolgt oder bestraft werden.“
5 Art. 51 der Charta definiert deren Anwendungsbereich wie folgt:
„(1) Diese Charta gilt für die Organe, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union unter Wahrung des Subsidiaritätsprinzips und für die Mitgliedstaaten ausschließlich bei der Durchführung des Rechts der Union. Dementsprechend achten sie die Rechte, halten sie sich an die Grundsätze und fördern sie deren Anwendung entsprechend ihren jeweiligen Zuständigkeiten.
(2) Diese Charta dehnt den Geltungsbereich des Unionsrechts nicht über die Zuständigkeiten der Union hinaus aus und begründet weder neue Zuständigkeiten noch neue Aufgaben für die Union, noch ändert sie die in den Verträgen festgelegten Zuständigkeiten und Aufgaben.“
Sechste Richtlinie 77/388/EWG
6 Art. 22 der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage in der Fassung des Art. 28h dieser Richtlinie (ABl. L 145, S. 1, im Folgenden auch: Sechste Richtlinie) bestimmt:
„…
Jeder Steuerpflichtige hat innerhalb eines Zeitraums, der von den einzelnen Mitgliedstaaten festzulegen ist, eine Steuererklärung abzugeben. …
…
(8) … [D]ie Mitgliedstaaten [können] weitere Pflichten vorsehen, die sie als erforderlich erachten, um die genaue Erhebung der Steuer sicherzustellen und Steuerhinterziehungen zu vermeiden.
…“
Schwedisches Recht
7 § 2 des Gesetzes (1971:69) über Steuerstraftaten (Skattebrottslag [1971:69], im Folgenden: Skattebrottslag) lautet:
„Wer in anderer Weise als mündlich vorsätzlich falsche Angaben gegenüber einer Behörde macht oder es unterlässt, eine Steuererklärung, eine Kontrollmitteilung oder eine andere vorgeschriebene Mitteilung bei einer Behörde einzureichen und dadurch die Gefahr hervorruft, dass dem Fiskus Steuereinnahmen entgehen oder dem Täter oder einem Dritten Steuern zu Unrecht gutgeschrieben oder erstattet werden, wird wegen Steuerhinterziehung mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren bestraft.“
8 § 4 des Skattebrottslag bestimmt:
„In schweren Fällen wird die Steuerhinterziehung nach § 2 als Steuervergehen in einem schweren Fall mit Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu sechs Jahren bestraft.
Bei der Beurteilung, ob ein schwerer Fall vorliegt, ist insbesondere zu berücksichtigen, ob es um sehr hohe Beträge geht, ob der Täter falsche Belege verwendet oder eine irreführende Buchhaltung führt oder ob die Tat als Teil eines fortgesetzten kriminellen Handelns begangen worden ist, das planmäßig oder von erheblichem Umfang oder sonst besonders gefährlich gewesen ist.“
9 Das Gesetz (1990:324) über die Einkommensteuer (Taxeringslag [1990:324], im Folgenden: Taxeringslag) sieht in seinem Kapitel 5 § 1 Folgendes vor:
„Macht der Steuerpflichtige in einem Besteuerungsverfahren in anderer Weise als mündlich unrichtige Angaben im Hinblick auf seine Besteuerung, so wird eine besondere Abgabe (Steuerzuschlag) erhoben. Dies gilt auch, wenn der Steuerpflichtige derartige Angaben in einem gerichtlichen Steuerverfahren macht und diese Angaben nach Prüfung des Sachverhalts nicht akzeptiert werden.
Angaben sind unrichtig, wenn klar erkennbar ist, dass die Angaben, die der Steuerpflichtige macht, falsch sind oder dass der Steuerpflichtige es unterlassen hat, im Besteuerungsverfahren Angaben zu machen, zu denen er verpflichtet ist. Angaben sind jedoch nicht unrichtig, wenn sie zusammen mit anderen gemachten Angaben ausreichen, um einen richtigen Bescheid zu erlassen. Angaben sind auch dann nicht als unrichtig anzusehen, wenn sie so ungereimt sind, dass sie einem Bescheid offensichtlich nicht zugrunde gelegt werden können.“
10 Kapitel 5 § 4 des Taxeringslag bestimmt:
„Sind unrichtige Angaben gemacht worden, beträgt der Steuerzuschlag vierzig Prozent der in Kapitel 1 § 1 Abs. 1 bis 5 genannten Steuern, die, wenn die unrichtigen Angaben akzeptiert worden wären, dem Steuerpflichtigen oder dessen Ehegatten nicht auferlegt worden wären. Bei der Mehrwertsteuer beträgt der Steuerzuschlag zwanzig Prozent der Steuer, die dem Steuerpflichtigen zu Unrecht gutgeschrieben worden wäre.
Der Steuerzuschlag beträgt zehn Prozent bzw. bei der Mehrwertsteuer fünf Prozent, wenn die unrichtigen Angaben berichtigt worden sind oder mit Hilfe von Kontrollmitteilungen, die dem Skatteverk [schwedische Steuerverwaltung] normalerweise zugänglich sind und die ihm vor Ende November des fraglichen Steuerjahrs tatsächlich zugänglich waren, hätten berichtigt werden können.“
11 Nach Kapitel 5 § 14 des Taxeringslag gilt:
„Der Steuerpflichtige ist ganz oder teilweise von einer besonderen Abgabe zu befreien, wenn die Unrichtigkeiten oder das Unterlassen entschuldbar sind oder es aus anderen Gründen unbillig ist, die Abgabe in voller Höhe aufzuerlegen. Wenn der Steuerpflichtige teilweise von der besonderen Abgabe befreit wird, ist diese auf die Hälfte oder ein Viertel zu ermäßigen.
…
Bei der Beurteilung, ob es aus anderen Gründen unbillig ist, die Abgabe in voller Höhe aufzuerlegen, ist insbesondere zu berücksichtigten, ob:
…
3. der Steuerpflichtige wegen der Unrichtigkeiten oder Versäumnisse eines Vergehens nach dem Gesetz über Steuerstraftaten (1971:69) für schuldig erklärt worden ist oder der Verfall eines Vermögensvorteils aus einer rechtswidrigen Tat nach Kapitel 36 § 1b des Brottsbalk (Strafgesetzbuch) angeordnet worden ist.“
Ausgangsverfahren und Vorlagefragen
12 Herr Åkerberg Fransson wurde am 9. Juni 2009 vor dem Haparanda tingsrätt u. a. wegen Steuerhinterziehung in einem schweren Fall angeklagt. Ihm wurde vorgeworfen, in seinen Steuererklärungen für die Steuerjahre 2004 und 2005 falsche Angaben gemacht zu haben, wodurch dem Staat beinahe Einnahmen bei der Einkommensteuer und der Mehrwertsteuer in Höhe von 319143 SEK für das Steuerjahr 2004, davon 60000 SEK Mehrwertsteuer, und von 307633 SEK für das Steuerjahr 2005, davon 87550 SEK Mehrwertsteuer, entgangen wären. Herrn Åkerberg Fransson wurde auch vorgeworfen, er habe keine Erklärungen für die Arbeitgeberabgaben für die Erklärungszeiträume Oktober 2004 und Oktober 2005 eingereicht, wodurch den Sozialversicherungsträgern beinahe Einnahmen in Höhe von 35690 SEK und 35862 SEK entgangen wären. Diese Vergehen wurden gemäß der Anklageschrift als schwere Fälle bewertet, da die Beträge hoch seien und die Vergehen Teil eines planmäßigen fortgesetzten kriminellen Handelns in großem Stil gewesen seien.
13 Mit Bescheid vom 24. Mai 2007 wurden Herrn Åkerberg Fransson vom Skatteverk für das Steuerjahr 2004 Steuerzuschläge in Höhe von 35542 SEK für seine Einnahmen aus selbständiger Tätigkeit, 4872 SEK für Mehrwertsteuer und 7 138 SEK für Arbeitgeberabgaben auferlegt. Mit gleichem Bescheid wurden ihm für das Steuerjahr 2005 Steuerzuschläge in Höhe von 54240 SEK für seine Einnahmen aus selbständiger Tätigkeit, 3255 SEK für Mehrwertsteuer und 7172 SEK für Arbeitgeberabgaben auferlegt. Die Steuerzuschläge waren zu verzinsen. Sie wurden vor dem Verwaltungsgericht nicht angefochten. Die Anfechtungsfristen liefen für das Steuerjahr 2004 am 31. Dezember 2010 und für das Steuerjahr 2005 am 31. Dezember 2011 ab. Der Bescheid über die Festsetzung der Steuerzuschläge wurde mit derselben Tat der Abgabe unzutreffender Steuererklärungen begründet, die der Anklage der Staatsanwaltschaft zugrunde lag.
14 Dem vorlegenden Gericht stellt sich die Frage, ob die Anklage gegen Herrn Åkerberg Fransson unzulässig ist, weil er in einem anderen Verfahren bereits wegen derselben Tat bestraft wurde und ein Strafverfahren somit gegen das Verbot der Doppelbestrafung gemäß Art. 4 des Protokolls Nr. 7 und Art. 50 der Charta verstoßen würde.
15 Unter diesen Umständen hat das Haparanda tingsrätt beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
1. Nach schwedischem Recht muss eine klare Stütze in der EMRK oder in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vorhanden sein, damit ein nationales Gericht nationale Bestimmungen unangewendet lassen kann, von denen zu befürchten ist, dass sie gegen das Verbot der Doppelbestrafung nach Art. 4 des Protokolls Nr. 7 und damit auch gegen Art. 50 der Charta verstoßen. Ist eine solche Bedingung im nationalen Recht, um nationale Bestimmungen unangewendet zu lassen, mit dem Unionsrecht vereinbar, insbesondere mit dessen allgemeinen Rechtsgrundsätzen, u. a. denen des Vorrangs und der unmittelbaren Wirkung des Unionsrechts?
2. Verstößt die Prüfung der Zulassung der Anklage wegen eines Steuervergehens gegen das Verbot der Doppelbestrafung gemäß Art. 4 des Protokolls Nr. 7 zur EMRK und Art. 50 der Charta, wenn in einem früheren Verwaltungsverfahren gegen den Angeklagten wegen derselben von ihm gemachten unrichtigen Angaben eine wirtschaftliche Sanktion (Steuerzuschlag) festgesetzt worden ist?
3. Ist es für die Beantwortung der zweiten Vorlagefrage von Bedeutung, dass diese Sanktionen in der Weise aufeinander abzustimmen sind, dass das ordentliche Gericht die Strafe im Strafverfahren unter Berücksichtigung der Tatsache herabsetzen kann, dass gegen den Angeklagten wegen derselben von ihm gemachten unrichtigen Angaben auch ein Steuerzuschlag festgesetzt wurde?
4. Im Rahmen des in der zweiten Vorlagefrage genannten Verbots der Doppelbestrafung kann es zulässig sein, in einem neuen Verfahren wegen derselben Handlung, die schon untersucht worden ist und zu Sanktionen gegen den Einzelnen geführt hat, weitere Sanktionen zu verhängen. Sind für den Fall, dass die zweite Frage bejaht wird, die Bedingungen nach dem Verbot der Doppelbestrafung für die Festsetzung mehrerer Sanktionen in getrennten Verfahren erfüllt, wenn in dem späteren Verfahren eine gegenüber dem früheren Verfahren neuerliche und selbständige Untersuchung des Sachverhalts erfolgt?
5. Das schwedische System der Festsetzung von Steuerzuschlägen und der Prüfung der Verantwortlichkeit für Steuervergehen in getrennten Verfahren wird mit einer Reihe von im Allgemeininteresse liegenden Gründen gerechtfertigt. Ist für den Fall, dass die zweite Frage bejaht wird, ein System wie das schwedische mit dem Verbot der Doppelbestrafung vereinbar, wenn es möglich wäre, ein System einzuführen, das vom Verbot der Doppelbestrafung nicht erfasst würde, ohne dass auf die Festsetzung von Steuerzuschlägen und die Prüfung der Verantwortlichkeit für Steuervergehen verzichtet werden müsste, indem in den Fällen, in denen es um die Verantwortlichkeit für Steuervergehen geht, die Entscheidung über die Festsetzung eines Steuerzuschlags vom Skatteverk oder gegebenenfalls dem Verwaltungsgericht auf das ordentliche Gericht übertragen wird, das diese Entscheidung im Zusammenhang mit seiner Prüfung der Zulassung der Anklage wegen eines Steuervergehens trifft?
Zur Zuständigkeit des Gerichtshofs
16 Die schwedische, die tschechische und die dänische Regierung, Irland, die niederländische Regierung sowie die Europäische Kommission halten die Vorlagefragen für unzulässig. Der Gerichtshof sei nur für deren Beantwortung zuständig, wenn die gegen Herrn Åkerberg Fransson festgesetzten steuerlichen Sanktionen sowie das gegen ihn eingeleitete Strafverfahren, die Gegenstand des Ausgangsverfahrens seien, auf der Durchführung von Unionsrecht beruhten. Dies sei aber weder bei der nationalen Rechtsvorschrift, aufgrund deren die steuerlichen Sanktionen festgesetzt worden seien, noch bei der nationalen Rechtsvorschrift, die als Grundlage der Anklage diene, der Fall. Gemäß Art. 51 Abs. 1 der Charta fielen die Sanktionen und das Strafverfahren also nicht unter den in Art. 50 der Charta verbürgten Grundsatz ne bis in idem.
17 Insoweit ist daran zu erinnern, dass der Anwendungsbereich der Charta, was das Handeln der Mitgliedstaaten betrifft, in Art. 51 Abs. 1 der Charta definiert ist. Danach gilt diese für die Mitgliedstaaten ausschließlich bei der Durchführung des Rechts der Union.
18 Diese Bestimmung der Charta bestätigt also die Rechtsprechung des Gerichtshofs zu der Frage, inwieweit das Handeln der Mitgliedstaaten den Anforderungen genügen muss, die sich aus den in der Unionsrechtsordnung garantierten Grundrechten ergeben.
19 Aus der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs ergibt sich im Wesentlichen, dass die in der Unionsrechtsordnung garantierten Grundrechte in allen unionsrechtlich geregelten Fallgestaltungen, aber nicht außerhalb derselben Anwendung finden. Insoweit hat der Gerichtshof bereits festgestellt, dass er eine nationale Rechtsvorschrift nicht im Hinblick auf die Charta beurteilen kann, wenn sie nicht in den Geltungsbereich des Unionsrechts fällt. Sobald dagegen eine solche Vorschrift in den Geltungsbereich des Unionsrechts fällt, hat der im Rahmen eines Vorabentscheidungsersuchens angerufene Gerichtshof dem vorlegenden Gericht alle Auslegungshinweise zu geben, die es benötigt, um die Vereinbarkeit dieser Regelung mit den Grundrechten beurteilen zu können, deren Wahrung er sichert (vgl. in diesem Sinne u. a. Urteile vom 18. Juni 1991, ERT, C-260/89, Slg. 1991, I-2925, Randnr. 42, vom 29. Mai 1997, Kremzow, C-299/95, Slg. 1997, I-2629, Randnr. 15, vom 18. Dezember 1997, Annibaldi, C-309/96, Slg. 1997, I-7493, Randnr. 13, vom 22. Oktober 2002, Roquette Frères, C-94/00, Slg. 2002, I-9011, Randnr. 25, vom 18. Dezember 2008, Sopropé, C-349/07, Slg. 2008, I-10369, Randnr. 34, vom 15. November 2011, Dereci u. a., C-256/11, Slg. 2011, I-11315, Randnr. 72, sowie vom 7. Juni 2012, Vinkov, C-27/11, Randnr. 58).
20 Diese Definition des Anwendungsbereichs der Grundrechte der Union wird durch die Erläuterungen zu Art. 51 der Charta bestätigt, die gemäß Art. 6 Abs. 1 Unterabs. 3 EUV und Art. 52 Abs. 7 der Charta für deren Auslegung zu berücksichtigen sind (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 22. Dezember 2010, DEB, C-279/09, Slg. 2010, I-13849, Randnr. 32). Gemäß diesen Erläuterungen „[gilt d]ie Verpflichtung zur Einhaltung der im Rahmen der Union definierten Grundrechte für die Mitgliedstaaten … nur dann, wenn sie im Anwendungsbereich des Unionsrechts handeln“.
21 Da folglich die durch die Charta garantierten Grundrechte zu beachten sind, wenn eine nationale Rechtsvorschrift in den Geltungsbereich des Unionsrechts fällt, sind keine Fallgestaltungen denkbar, die vom Unionsrecht erfasst würden, ohne dass diese Grundrechte anwendbar wären. Die Anwendbarkeit des Unionsrechts umfasst die Anwendbarkeit der durch die Charta garantierten Grundrechte.
22 Wird dagegen eine rechtliche Situation nicht vom Unionsrecht erfasst, ist der Gerichtshof nicht zuständig, um über sie zu entscheiden, und die möglicherweise angeführten Bestimmungen der Charta können als solche keine neue Zuständigkeit begründen (vgl. in diesem Sinne Beschluss vom 12. Juli 2012, Currà u. a., C-466/11, Randnr. 26).
23 Diese Erwägungen entsprechen denen, die Art. 6 Abs. 1 EUV zugrunde liegen, wonach durch die Bestimmungen der Charta die in den Verträgen festgelegten Zuständigkeiten der Union in keiner Weise erweitert werden. Ebenso dehnt die Charta nach ihrem Art. 51 Abs. 2 den Geltungsbereich des Unionsrechts nicht über die Zuständigkeiten der Union hinaus aus und begründet weder neue Zuständigkeiten noch neue Aufgaben für die Union, noch ändert sie die in den Verträgen festgelegten Zuständigkeiten und Aufgaben (vgl. Urteil Dereci u. a., Randnr. 71).
24 Vorliegend ist zunächst festzustellen, dass die gegen Herrn Åkerberg Fransson festgesetzten steuerlichen Sanktionen und das gegen ihn eingeleitete Strafverfahren teilweise im Zusammenhang mit der Nichteinhaltung von Mitteilungspflichten auf dem Gebiet der Mehrwertsteuer stehen.
25 In Bezug auf die Mehrwertsteuer geht zum einen aus den Art. 2, 250 Abs. 1 und 273 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. L 347, S. 1), die den Wortlaut der Art. 2 und 22 Abs. 4 und 8 der Richtlinie 77/388 in der Fassung des Art. 28h dieser Richtlinie übernommen haben, und zum anderen aus Art. 4 Abs. 3 EUV hervor, dass jeder Mitgliedstaat verpflichtet ist, alle Rechts- und Verwaltungsvorschriften zu erlassen, die geeignet sind, die Erhebung der gesamten in seinem Hoheitsgebiet geschuldeten Mehrwertsteuer zu gewährleisten und den Betrug zu bekämpfen (vgl. Urteil vom 17. Juli 2008, Kommission/Italien, C-132/06, Slg. 2008, I-5457, Randnrn. 37 und 46).
26 Außerdem sind die Mitgliedstaaten nach Art. 325 AEUV verpflichtet, zur Bekämpfung von rechtswidrigen Handlungen, die sich gegen die finanziellen Interessen der Union richten, abschreckende und wirksame Maßnahmen zu ergreifen, insbesondere müssen sie zur Bekämpfung von Betrug, der sich gegen die finanziellen Interessen der Union richtet, dieselben Maßnahmen ergreifen wie zur Bekämpfung von Betrug, der sich gegen ihre eigenen finanziellen Interessen richtet (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 28. Oktober 2010, SGS Belgium u. a., C-367/09, Slg. 2010, I-10761, Randnrn. 40 bis 42). Da die Eigenmittel der Union gemäß dem Wortlaut von Art. 2 Abs. 1 des Beschlusses 2007/436/EG, Euratom des Rates vom 7. Juni 2007 über das System der Eigenmittel der Europäischen Gemeinschaften (ABl. L 163, S. 17) u. a. die Einnahmen umfassen, die sich aus der Anwendung eines einheitlichen Satzes auf die nach den Unionsvorschriften bestimmte einheitliche Mehrwertsteuer-Eigenmittelbemessungsgrundlage ergeben, besteht ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen der Erhebung der Mehrwertsteuereinnahmen unter Beachtung des einschlägigen Unionsrechts und der Zurverfügungstellung entsprechender Mehrwertsteuermittel für den Haushalt der Union, da jedes Versäumnis bei der Erhebung Ersterer potenziell zu einer Verringerung Letzterer führt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 15. November 2011, Kommission/Deutschland, C-539/09, Slg. 2011, I-11235, Randnr. 72).
27 Folglich sind steuerliche Sanktionen und ein Strafverfahren wegen Steuerhinterziehung wegen unrichtiger Angaben zur Mehrwertsteuer, wie im Fall des Angeklagten des Ausgangsverfahrens, als Durchführung von Art. 2, Art. 250 Abs. 1 und Art. 273 der Richtlinie 2006/112 (früher Art. 2 und 22 der Richtlinie 77/388) sowie von Art. 325 AEUV und somit als Durchführung des Unionsrechts im Sinne von Art. 51 Abs. 1 der Charta anzusehen.
28 Die Tatsache, dass die nationalen Rechtsvorschriften, die den steuerlichen Sanktionen und dem Strafverfahren zugrunde liegen, nicht zur Umsetzung der Richtlinie 2006/112 erlassen wurden, vermag dieses Ergebnis nicht in Frage zu stellen, da durch ihre Anwendung ein Verstoß gegen die Bestimmungen dieser Richtlinie geahndet und damit die den Mitgliedstaaten durch den Vertrag auferlegte Verpflichtung zur wirksamen Ahndung von die finanziellen Interessen der Union gefährdenden Verhaltensweisen erfüllt werden soll.
29 Hat das Gericht eines Mitgliedstaats zu prüfen, ob mit den Grundrechten eine nationale Vorschrift oder Maßnahme vereinbar ist, die in einer Situation, in der das Handeln eines Mitgliedstaats nicht vollständig durch das Unionsrecht bestimmt wird, das Unionsrecht im Sinne von Art. 51 Abs. 1 der Charta durchführt, steht es somit den nationalen Behörden und Gerichten weiterhin frei, nationale Schutzstandards für die Grundrechte anzuwenden, sofern durch diese Anwendung weder das Schutzniveau der Charta, wie sie vom Gerichtshof ausgelegt wird, noch der Vorrang, die Einheit und die Wirksamkeit des Unionsrechts beeinträchtigt werden (vgl. für diesen letzten Aspekt Urteil vom 26. Februar 2013, Melloni, C-399/11, Randnr. 60).
30 Dabei haben die nationalen Gerichte, wenn sie Bestimmungen der Charta auslegen sollen, die Möglichkeit und gegebenenfalls die Pflicht, den Gerichtshof um eine Vorabentscheidung nach Art. 267 AEUV zu ersuchen.
31 Aus diesen Erwägungen folgt, dass der Gerichtshof befugt ist, die Vorlagefragen zu beantworten und dem vorlegenden Gericht alle Auslegungshinweise zu geben, die es benötigt, um die Vereinbarkeit der nationalen Regelung mit dem in Art. 50 der Charta verankerten Grundsatz ne bis in idem beurteilen zu können.
Zu den Vorlagefragen
Zur zweiten, zur dritten und zur vierten Frage
32 Mit diesen Fragen, die zusammen zu beantworten sind, möchte das Haparanda tingsrätt im Wesentlichen vom Gerichtshof wissen, ob der in Art. 50 der Charta aufgestellte Grundsatz ne bis in idem dahin auszulegen ist, dass er der Einleitung eines Strafverfahrens wegen Steuerhinterziehung gegen einen Angeschuldigten entgegensteht, wenn gegen diesen wegen derselben Tat der Abgabe unrichtiger Erklärungen bereits eine steuerliche Sanktion verhängt wurde.
33 Die Anwendung des in Art. 50 der Charta aufgestellten Grundsatzes ne bis in idem auf ein Strafverfahren wegen Steuerhinterziehung wie das im Ausgangsverfahren fragliche setzt voraus, dass die gegen den Angeschuldigten bereits mittels einer unanfechtbar gewordenen Entscheidung getroffenen Maßnahmen strafrechtlichen Charakter haben.
34 Zunächst ist festzustellen, dass Art. 50 der Charta einen Mitgliedstaat nicht daran hindert, zur Ahndung derselben Tat der Nichtbeachtung von Erklärungspflichten im Bereich der Mehrwertsteuer steuerliche und strafrechtliche Sanktionen zu kombinieren. Die Mitgliedstaaten können, um die Erhebung der Einnahmen aus der Mehrwertsteuer in ihrer Gesamtheit und damit den Schutz der finanziellen Interessen der Union zu gewährleisten, die anwendbaren Sanktionen frei wählen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 21. September 1989, Kommission/Griechenland, 68/88, Slg. 1989, 2965, Randnr. 24, vom 7. Dezember 2000, de Andrade, C-213/99, Slg. 2000, I-11083, Randnr. 19, und vom 16. Oktober 2003, Hannl-Hofstetter, C-91/02, Slg. 2003, I-12077, Randnr. 17). Dabei kann es sich um verwaltungsrechtliche oder strafrechtliche Sanktionen oder um eine Kombination der beiden handeln. Nur wenn die verwaltungsrechtliche Sanktion strafrechtlichen Charakter im Sinne von Art. 50 der Charta hat und unanfechtbar geworden ist, steht diese Vorschrift der Einleitung eines Strafverfahrens gegen dieselbe Person wegen derselben Tat entgegen.
35 Sodann ist daran zu erinnern, dass für die Beurteilung der strafrechtlichen Natur von Steuerzuschlägen drei Kriterien maßgeblich sind: erstens die rechtliche Einordnung der Zuwiderhandlung im innerstaatlichen Recht, zweitens die Art der Zuwiderhandlung und drittens die Art und der Schweregrad der angedrohten Sanktion (Urteil vom 5. Juni 2012, Bonda, C-489/10, Randnr. 37).
36 Es ist Sache des vorlegenden Gerichts, im Licht dieser Kriterien zu beurteilen, ob die nach nationalem Recht vorgesehene Kumulierung von steuerlichen und strafrechtlichen Sanktionen anhand der nationalen Schutzstandards im Sinne von Randnr. 29 des vorliegenden Urteils zu prüfen ist, was das Gericht unter Umständen zu dem Ergebnis führen kann, dass diese Kumulierung gegen diese Standards verstößt, sofern die verbleibenden Sanktionen wirksam, angemessen und abschreckend sind (vgl. u. a. Urteil Kommission/Griechenland, Randnr. 24, vom 10. Juli 1990, Hansen, C-326/88, Slg. 1990, I-2911, Randnr. 17, vom 30. September 2003, Inspire Art, C-167/01, Slg. 2003, I-10155, Randnr. 62, vom 15. Januar 2004, Penycoed, C-230/01, Slg. 2004, I-937, Randnr. 36, und vom 3. Mai 2005, Berlusconi u. a., C-387/02, C-391/02 und C-403/02, Slg. 2005, I-3565 Randnr. 65).
37 Aufgrund der vorstehenden Erwägungen ist auf die zweite, die dritte und die vierte Frage zu antworten, dass der in Art. 50 der Charta aufgestellte Grundsatz ne bis in idem einen Mitgliedstaat nicht daran hindert, zur Ahndung derselben Tat der Nichtbeachtung von Erklärungspflichten im Bereich der Mehrwertsteuer eine steuerliche Sanktion und danach eine strafrechtliche Sanktion zu verhängen, sofern die erste Sanktion keinen strafrechtlichen Charakter hat, was vom nationalen Gericht zu prüfen ist.
Zur fünften Frage
38 Mit seiner fünften Frage möchte das Haparanda tingsrätt vom Gerichtshof im Wesentlichen wissen, ob mit dem in Art. 50 der Charta verbürgten Grundsatz ne bis in idem eine nationale Rechtsvorschrift vereinbar ist, die im Fall von Steuerhinterziehung die Kumulierung von steuerlichen und strafrechtlichen Sanktionen zulässt, die von ein und demselben Gericht verhängt worden sind.
39 Hierzu ist zunächst festzustellen, dass im Rahmen des Verfahrens nach Art. 267 AEUV nur das nationale Gericht, das mit dem Rechtsstreit befasst ist und in dessen Verantwortungsbereich die zu erlassende Entscheidung fällt, im Hinblick auf die Besonderheiten der Rechtssache sowohl die Erforderlichkeit einer Vorabentscheidung für den Erlass seines Urteils als auch die Erheblichkeit der dem Gerichtshof vorgelegten Fragen zu beurteilen hat. Daher ist der Gerichtshof grundsätzlich gehalten, über ihm vorgelegte Fragen zu befinden, wenn sie die Auslegung des Unionsrechts betreffen (vgl. u. a. Urteil vom 8. September 2011, Paint Graphos u. a., C-78/08 bis C-80/08, Slg. 2011, I-7611, Randnr. 30 und die dort angeführte Rechtsprechung).
40 Die Vermutung der Erheblichkeit der von den nationalen Gerichten zur Vorabentscheidung vorgelegten Fragen kann nur ausnahmsweise ausgeräumt werden, und zwar dann, wenn die erbetene Auslegung des Unionsrechts offensichtlich in keinem Zusammenhang mit der Realität oder dem Gegenstand des Ausgangsverfahrens steht, wenn das Problem hypothetischer Natur ist oder wenn der Gerichtshof nicht über die tatsächlichen und rechtlichen Angaben verfügt, die für eine zweckdienliche Beantwortung der ihm vorgelegten Fragen erforderlich sind (vgl. in diesem Sinne u. a. Urteil Paint Graphos u. a., Randnr. 31 und die dort angeführte Rechtsprechung).
41 Hier geht aus der Vorlageentscheidung hervor, dass die nationale Rechtsvorschrift, auf die das vorlegende Gericht Bezug nimmt, nicht die auf das Ausgangsverfahren anwendbare Bestimmung ist und dass sie derzeit im schwedischen Recht nicht existiert.
42 Somit ist die fünfte Frage für unzulässig zu erklären, da die dem Gerichtshof im Rahmen des Art. 267 AEUV übertragene Aufgabe darin besteht, zur Rechtspflege in den Mitgliedstaaten beizutragen, nicht aber darin, Gutachten zu allgemeinen oder hypothetischen Fragen abzugeben (vgl. u. a. Urteil Paint Graphos u. a., Randnr. 32 und die dort angeführte Rechtsprechung).
Zur ersten Frage
43 Mit seiner ersten Frage möchte das Haparanda tingsrätt vom Gerichtshof im Wesentlichen wissen, ob eine nationale Gerichtspraxis, die die Verpflichtung des nationalen Gerichts, Vorschriften, die gegen ein durch die EMRK oder die Charta garantiertes Grundrecht verstoßen, unangewendet zu lassen, davon abhängig macht, dass sich dieser Verstoß klar aus den betreffenden Rechtsvorschriften oder der entsprechenden Rechtsprechung ergibt, mit dem Unionsrecht vereinbar ist.
44 Was zunächst die Konsequenzen betrifft, die das nationale Gericht aus einem Widerspruch zwischen dem nationalen Recht und der EMRK zu ziehen hat, ist daran zu erinnern, dass die durch die EMRK anerkannten Grundrechte, wie Art. 6 Abs. 3 EUV bestätigt, als allgemeine Grundsätze zwar Teil des Unionsrechts sind, und dass nach Art. 52 Abs. 3 der Charta die in dieser enthaltenen Rechte, die den durch die EMRK garantierten Rechten entsprechen, die gleiche Bedeutung und Tragweite haben, wie sie ihnen in der genannten Konvention verliehen werden, doch stellt diese Konvention, solange die Union ihr nicht beigetreten ist, kein Rechtsinstrument dar, das formell in die Unionsrechtsordnung übernommen worden ist. Folglich regelt das Unionsrecht nicht das Verhältnis zwischen der EMRK und den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten und bestimmt auch nicht, welche Konsequenzen ein nationales Gericht aus einem Widerspruch zwischen den durch die EMRK gewährleisteten Rechten und einer nationalen Rechtsvorschrift zu ziehen hat (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 24. April 2012, Kamberaj, C-571/10, Randnr. 62).
45 Was sodann die Konsequenzen betrifft, die das nationale Gericht aus einem Widerspruch zwischen Bestimmungen seines innerstaatlichen Rechts und den durch die Charta verbürgten Rechten zu ziehen hat, so ist dieses Gericht, das im Rahmen seiner Zuständigkeit die Bestimmungen des Unionsrechts anzuwenden hat, nach ständiger Rechtsprechung gehalten, für die volle Wirksamkeit dieser Normen Sorge zu tragen, indem es erforderlichenfalls jede – auch spätere – entgegenstehende Bestimmung des nationalen Rechts aus eigener Entscheidungsbefugnis unangewandt lässt, ohne dass es die vorherige Beseitigung dieser Bestimmung auf gesetzgeberischem Wege oder durch irgendein anderes verfassungsrechtliches Verfahren beantragen oder abwarten müsste (Urteile vom 9. März 1978, Simmenthal, 106/77, Slg. 1978, 629, Randnrn. 21 und 24, vom 19. November 2009, Filipiak, C-314/08, Slg. 2009, I-11049, Randnr. 81, sowie vom 22. Juni 2010, Melki und Abdeli, C-188/10 und C-189/10, Slg. 2010, I-5667, Randnr. 43).
46 Mit den in der Natur des Unionsrechts liegenden Erfordernissen ist nämlich jede Bestimmung einer nationalen Rechtsordnung oder jede Gesetzgebungs-, Verwaltungs- oder Gerichtspraxis unvereinbar, die dadurch zu einer Schwächung der Wirksamkeit des Unionsrechts führt, dass dem für die Anwendung dieses Rechts zuständigen Gericht die Befugnis abgesprochen wird, bereits zum Zeitpunkt dieser Anwendung alles Erforderliche zu tun, um diejenigen innerstaatlichen Rechtsvorschriften auszuschalten, die unter Umständen ein Hindernis für die volle Wirksamkeit der Unionsnormen bilden (Urteil Melki und Abdeli, Randnr. 44 und die dort angeführte Rechtsprechung).
47 Außerdem hat gemäß Art. 267 AEUV ein innerstaatliches Gericht, bei dem ein Rechtsstreit über das Unionsrecht anhängig ist und dem dessen Sinn oder Reichweite nicht klar ist, das Recht oder gegebenenfalls die Pflicht, dem Gerichtshof Fragen nach der Auslegung der fraglichen Bestimmung des Unionsrechts vorzulegen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. Oktober 1982, Cilfit u. a., 283/81, Slg. 1982, 3415).
48 Daraus folgt, dass das Unionsrecht einer Gerichtspraxis entgegensteht, die die Verpflichtung des nationalen Gerichts, Vorschriften, die gegen ein durch die Charta garantiertes Grundrecht verstoßen, unangewendet zu lassen, davon abhängig macht, dass sich dieser Verstoß klar aus den Bestimmungen der Charta oder aus der entsprechenden Rechtsprechung ergibt, da sie dem nationalen Gericht die Befugnis abspricht – gegebenenfalls in Zusammenarbeit mit dem Gerichtshof – die Vereinbarkeit dieser Bestimmung mit der Charta umfassend zu beurteilen.
49 Aufgrund der vorstehenden Erwägungen ist die erste Frage wie folgt zu beantworten:
—
Das Unionsrecht regelt nicht das Verhältnis zwischen der EMRK und den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten und bestimmt auch nicht, welche Konsequenzen ein nationales Gericht aus einem Widerspruch zwischen den durch die EMRK gewährleisteten Rechten und einer nationalen Rechtsvorschrift zu ziehen hat.
—
Das Unionsrecht steht einer Gerichtspraxis entgegen, die die Verpflichtung des nationalen Gerichts, Vorschriften, die gegen ein durch die Charta garantiertes Grundrecht verstoßen, unangewendet zu lassen, davon abhängig macht, dass sich dieser Verstoß klar aus den betreffenden Rechtsvorschriften oder der entsprechenden Rechtsprechung ergibt, da sie dem nationalen Gericht die Befugnis abspricht – gegebenenfalls in Zusammenarbeit mit dem Gerichtshof – die Vereinbarkeit dieser Bestimmung mit der Charta umfassend zu beurteilen.
Kosten
50 Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Große Kammer) für Recht erkannt:
1. Der in Art. 50 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union aufgestellte Grundsatz ne bis in idem hindert einen Mitgliedstaat nicht daran, zur Ahndung derselben Tat der Nichtbeachtung von Erklärungspflichten im Bereich der Mehrwertsteuer eine steuerliche Sanktion und danach eine strafrechtliche Sanktion zu verhängen, sofern die erste Sanktion keinen strafrechtlichen Charakter hat, was vom nationalen Gericht zu prüfen ist.
2. Das Unionsrecht regelt nicht das Verhältnis zwischen der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten und den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten und bestimmt auch nicht, welche Konsequenzen ein nationales Gericht aus einem Widerspruch zwischen den durch diese Konvention gewährleisteten Rechten und einer nationalen Rechtsvorschrift zu ziehen hat.
Das Unionsrecht steht einer Gerichtspraxis entgegen, die die Verpflichtung des nationalen Gerichts, Vorschriften, die gegen ein durch die Charta der Grundrechte der Europäischen Union garantiertes Grundrecht verstoßen, unangewendet zu lassen, davon abhängig macht, dass sich dieser Verstoß klar aus den betreffenden Rechtsvorschriften oder der entsprechenden Rechtsprechung ergibt, da sie dem nationalen Gericht die Befugnis abspricht – gegebenenfalls in Zusammenarbeit mit dem Gerichtshof der Europäischen Union – die Vereinbarkeit dieser Bestimmung mit der Charta umfassend zu beurteilen.
Unterschriften
(*1) Verfahrenssprache: Schwedisch.
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Urteil des Gerichtshofs (Erste Kammer) vom 22. November 2018.#Swedish Match AB gegen Secretary of State for Health.#Vorabentscheidungsersuchen des High Court of Justice (England & Wales), Queen's Bench Division (Administrative Court).#Vorlage zur Vorabentscheidung – Rechtsangleichung – Herstellung, Aufmachung und Verkauf von Tabakerzeugnissen – Richtlinie 2014/40/EU – Art. 1 Buchst. c und Art. 17 – Verbot des Inverkehrbringens von Tabakerzeugnissen zum oralen Gebrauch – Gültigkeit.#Rechtssache C-151/17.
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62017CJ0151
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ECLI:EU:C:2018:938
| 2018-11-22T00:00:00 |
Saugmandsgaard Øe, Gerichtshof
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Sammlung der Rechtsprechung – allgemein – Abschnitt „Informationen über nicht veröffentlichte Entscheidungen“
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62017CJ0151
URTEIL DES GERICHTSHOFS (Erste Kammer)
22. November 2018 (*1)
„Vorlage zur Vorabentscheidung – Rechtsangleichung – Herstellung, Aufmachung und Verkauf von Tabakerzeugnissen – Richtlinie 2014/40/EU – Art. 1 Buchst. c und Art. 17 – Verbot des Inverkehrbringens von Tabakerzeugnissen zum oralen Gebrauch – Gültigkeit“
In der Rechtssache C‑151/17
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom High Court of Justice (England & Wales), Queen’s Bench Division (Administrative Court) (Hoher Gerichtshof [England und Wales], Abteilung Queen’s Bench [Verwaltungsrechtskammer], Vereinigtes Königreich) mit Entscheidung vom 9. März 2017, beim Gerichtshof eingegangen am 24. März 2017, in dem Verfahren
Swedish Match AB
gegen
Secretary of State for Health,
Beteiligte:
New Nicotine Alliance,
erlässt
DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)
unter Mitwirkung der Vizepräsidentin R. Silva de Lapuerta in Wahrnehmung der Aufgaben des Präsidenten der Ersten Kammer sowie der Richter J.‑C. Bonichot, E. Regan, C. G. Fernlund und S. Rodin (Berichterstatter),
Generalanwalt: H. Saugmandsgaard Øe,
Kanzler: M. Ferreira, Hauptverwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 25. Januar 2018,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
–
der Swedish Match AB, vertreten durch P. Tridimas, Barrister, und M. Johansson, advokat,
–
der New Nicotine Alliance, vertreten durch P. Diamond, Barrister,
–
der Regierung des Vereinigten Königreichs, vertreten durch S. Brandon als Bevollmächtigten im Beistand von I. Rogers, QC,
–
der ungarischen Regierung, vertreten durch M. Z. Fehér, G. Koós und M. M. Tátrai als Bevollmächtigte,
–
der finnischen Regierung, vertreten durch H. Leppo als Bevollmächtigte,
–
der norwegischen Regierung, vertreten durch M. Reinertsen Norum als Bevollmächtigte im Beistand von K. Moen, advocate,
–
des Europäischen Parlaments, vertreten durch A. Tamás und I. McDowell als Bevollmächtigte,
–
des Rates der Europäischen Union, vertreten durch M. Simm, E. Karlsson und A. Norberg als Bevollmächtigte,
–
der Europäischen Kommission, vertreten durch L. Flynn und J. Tomkin als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 12. April 2018
folgendes
Urteil
1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Gültigkeit von Art. 1 Buchst. c und Art. 17 der Richtlinie 2014/40/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 3. April 2014 zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Herstellung, die Aufmachung und den Verkauf von Tabakerzeugnissen und verwandten Erzeugnissen und zur Aufhebung der Richtlinie 2001/37/EG (ABl. 2014, L 127, S. 1).
2 Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Swedish Match AB und dem Secretary of State for Health (Minister für Gesundheit, Vereinigtes Königreich) betreffend die Rechtmäßigkeit des Verbots der Herstellung und Lieferung von Tabak zum oralen Gebrauch im Vereinigten Königreich.
Rechtlicher Rahmen
3 Im 32. Erwägungsgrund der Richtlinie 2014/40 heißt es:
„Gemäß der Richtlinie 89/622/EWG des Rates [vom 13. November 1989 zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Etikettierung von Tabakerzeugnissen (ABl. 1989, L 359, S. 1)] war der Verkauf bestimmter Tabake zum oralen Gebrauch in den Mitgliedstaaten verboten. Mit der Richtlinie 2001/37/EG [des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. Juni 2001 zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Herstellung, die Aufmachung und den Verkauf von Tabakerzeugnissen – Erklärung der Kommission (ABl. 2001, L 194, S. 26)] wurde dieses Verbot bestätigt. Artikel 151 [der Akte über die Bedingungen des Beitritts der Republik Österreich, der Republik Finnland und des Königreichs Schweden und die Anpassungen der die Europäische Union begründenden Verträge (ABl. 1994, C 241, S. 21, und ABl. 1995, L 1, S. 1)] sieht für Schweden eine Ausnahme von dem Verbot vor. Das Verkaufsverbot für Tabak zum oralen Gebrauch sollte beibehalten werden, damit verhindert wird, dass ein Produkt in die Union (abgesehen von Schweden) gelangt, das suchterzeugend ist und gesundheitsschädigende Wirkungen hat. Bei anderen rauchlosen Tabakerzeugnissen, die nicht für den Massenmarkt hergestellt werden, werden strenge Kennzeichnungsvorschriften und bestimmte Vorschriften in Bezug auf ihre Inhaltsstoffe als ausreichend angesehen, um eine über den herkömmlichen Konsum dieser Erzeugnisse hinausgehende Expansion auf den Märkten einzudämmen.“
4 Art. 1 der Richtlinie 2014/40 sieht vor:
„Ziel dieser Richtlinie ist die Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten für
…
c)
das Verbot des Inverkehrbringens von Tabak zum oralen Gebrauch;
…“
5 Art. 2 dieser Richtlinie bestimmt:
„Im Sinne dieser Richtlinie bezeichnet der Ausdruck
…
5. ‚rauchloses Tabakerzeugnis‘ ein Tabakerzeugnis, das nicht mittels eines Verbrennungsprozesses konsumiert wird, unter anderem Kautabak, Schnupftabak und Tabak zum oralen Gebrauch;
…
8. ‚Tabak zum oralen Gebrauch‘ alle Tabakerzeugnisse zum oralen Gebrauch – mit Ausnahme von Erzeugnissen, die zum Inhalieren oder Kauen bestimmt sind –, die ganz oder teilweise aus Tabak bestehen und die in Pulver- oder Granulatform oder in einer Kombination aus beiden Formen, insbesondere in Portionsbeuteln oder porösen Beuteln, angeboten werden;
9. ‚Rauchtabakerzeugnisse‘ Tabakerzeugnisse mit Ausnahme von rauchlosen Tabakerzeugnissen;
…
14. ‚neuartiges Tabakerzeugnis‘ ein Tabakerzeugnis, das
a)
nicht in eine der nachstehenden Kategorien fällt: Zigaretten, Tabak zum Selbstdrehen, Pfeifentabak, Wasserpfeifentabak, Zigarren, Zigarillos, Kautabak, Schnupftabak und Tabak zum oralen Gebrauch; und
b)
nach dem 19. Mai 2014 in Verkehr gebracht wird;
…“
6 Art. 17 („Tabak zum oralen Gebrauch“) der Richtlinie 2014/40 lautet:
„Die Mitgliedstaaten verbieten das Inverkehrbringen von Tabak zum oralen Gebrauch unbeschadet des Artikels 151 der Akte über den Beitritt Österreichs, Finnlands und Schwedens.“
7 In Art. 19 („Meldung neuartiger Tabakerzeugnisse“) Abs. 1 der Richtlinie 2014/40 heißt es:
„Die Mitgliedstaaten schreiben Herstellern und Importeuren von neuartigen Tabakerzeugnissen vor, bei den zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten jedes derartige Erzeugnis zu melden, das sie in dem Mitgliedstaat in den Verkehr zu bringen beabsichtigen. …“
8 Art. 24 Abs. 3 dieser Richtlinie lautet:
„Ein Mitgliedstaat kann ferner eine bestimmte Kategorie von Tabakerzeugnissen oder verwandten Erzeugnissen verbieten, wenn dies durch die spezifischen Gegebenheiten in dem betreffenden Mitgliedstaat und zum Schutz der öffentlichen Gesundheit unter Berücksichtigung des hohen mit dieser Richtlinie erzielten Schutzes der menschlichen Gesundheit gerechtfertigt ist. Solche nationalen Vorschriften sind der Kommission zusammen mit den Gründen für ihren Erlass mitzuteilen. Die Kommission hat nach Eingang einer Mitteilung nach diesem Absatz sechs Monate Zeit, um die nationalen Vorschriften zu billigen oder abzulehnen; hierzu prüft sie unter Berücksichtigung des hohen mit dieser Richtlinie erzielten Schutzes der menschlichen Gesundheit, ob die Vorschriften berechtigt und notwendig sind, ob sie in einem angemessenen Verhältnis zu ihrem Ziel stehen und ob sie ein Mittel zur willkürlichen Diskriminierung oder eine verschleierte Beschränkung des Handels zwischen den Mitgliedstaaten darstellen. Trifft die Kommission innerhalb des Zeitraums von sechs Monaten keine Entscheidung, so gelten die nationalen Vorschriften als gebilligt.“
Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefrage
9 Swedish Match ist eine Aktiengesellschaft schwedischen Rechts, die hauptsächlich rauchfreie Tabakerzeugnisse, u. a. „Snus“, vertreibt.
10 Am 30. Juni 2016 reichte Swedish Match bei den Gerichten des Vereinigten Königreichs eine Klage ein, mit der sie Art. 17 der Tobacco and Related Products Regulations 2016 (Verordnung von 2016 über Tabakerzeugnisse und verwandte Erzeugnisse) anficht, durch den Art. 1 Buchst. c und Art. 17 der Richtlinie 2014/40 in das Recht des Vereinigten Königreichs umgesetzt wurden und der vorsieht, dass „niemand Tabak … zum oralen Gebrauch herstellen oder liefern [darf]“.
11 Im Rahmen dieser Klage stellt Swedish Match die Gültigkeit von Art. 1 Buchst. c und Art. 17 der Richtlinie 2014/40 im Hinblick auf das Diskriminierungsverbot in Frage und macht geltend, dass Tabakerzeugnisse zum oralen Gebrauch, deren Inverkehrbringen verboten sei, anders behandelt würden als andere rauchlose Tabakerzeugnisse, neuartige Tabakerzeugnisse, Zigaretten und andere Rauchtabakerzeugnisse sowie elektronische Zigaretten, deren Konsum nicht verboten sei. Das Verbot von Tabakerzeugnissen zum oralen Gebrauch könne auch nicht mit Gesundheitserwägungen gerechtfertigt werden, da aktuelle wissenschaftliche Erkenntnisse, die bei Erlass der Richtlinie 92/41/EWG des Rates vom 15. Mai 1992 zur Änderung der Richtlinie 89/622 (ABl. 1992, L 158, S. 30) noch nicht verfügbar gewesen seien, belegten, dass sich diese Erzeugnisse im Vergleich zu anderen rauchlosen Tabakerzeugnissen bezüglich der gesundheitsschädigenden Wirkungen am unteren Ende der Risikoskala befänden. Außerdem fehle jeder Beweis dafür, dass der Konsum von Tabakerzeugnissen zum oralen Gebrauch ein „Einstieg“ zum Rauchen sei. Das Verbot lasse sich auch nicht mit der Neuartigkeit von „Snus“ rechtfertigen, da neuartige Tabakerzeugnisse im Sinne von Art. 2 Nr. 14 der Richtlinie 2014/40 nach dieser Richtlinie trotz fehlender wissenschaftlicher Erkenntnisse zu diesen Erzeugnissen und deren potenziell gesundheitsschädigender Wirkungen nicht verboten seien. Die Diskriminierung von Tabakerzeugnissen zum oralen Gebrauch könne auch nicht damit gerechtfertigt werden, dass sie für den Massenmarkt bestimmt seien, da andere unter diese Richtlinie fallende Erzeugnisse wie etwa andere rauchlose Tabakerzeugnisse, elektronische Zigaretten und neuartige Tabakerzeugnisse ebenfalls für den Massenmarkt bestimmt seien.
12 Außerdem macht Swedish Match geltend, dass das Verbot des Inverkehrbringens von Tabakerzeugnissen zum oralen Gebrauch gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verstoße, da sich weder aus den Erwägungsgründen der Richtlinie 2014/40 noch aus der dem Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Herstellung, die Aufmachung und den Verkauf von Tabakerzeugnissen und verwandten Erzeugnissen als Begleitunterlage beigefügten Folgenabschätzung der Kommission vom 19. Dezember 2012 (SWD[2012] 452 final, S. 49 ff.) (im Folgenden: Folgenabschätzung) noch aus irgendeinem anderen Dokument ergebe, aus welchem Grund ein derartiges Verbot im Hinblick auf ein legitimes Gemeinwohlziel erforderlich oder angemessen sei. Das Vorsorgeprinzip könne nicht als Begründung angeführt werden, da das fragliche Verbot nicht mit der Genehmigung des Inverkehrbringens der anderen Tabakerzeugnisse, deren Toxizität nach aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen höher sei, im Einklang stehe.
13 Des Weiteren stehe das uneingeschränkte Verbot von Tabakerzeugnissen zum oralen Gebrauch nicht im Einklang mit dem Subsidiaritätsprinzip, da es die Gegebenheiten in den einzelnen Mitgliedstaaten außer Acht lasse. Dieses Vorgehen sei nicht erforderlich, wie der Umstand, dass die Richtlinie 2014/40 den Mitgliedstaaten einen gewissen regulatorischen Spielraum bezüglich der anderen Tabakerzeugnisse zuerkenne, deutlich mache.
14 Darüber hinaus ergebe sich weder aus der Richtlinie 2014/40 noch aus ihrem Kontext eine Erklärung dafür, dass die Tabakerzeugnisse zum oralen Gebrauch gegenüber den anderen rauchlosen Tabakerzeugnissen, elektronischen Zigaretten, neuartigen Tabakerzeugnissen und Zigaretten schlechter behandelt würden. Somit sei der Unionsgesetzgeber seiner Begründungspflicht aus Art. 296 Abs. 2 AEUV nicht nachgekommen.
15 Das Verbot des Inverkehrbringens von Tabakerzeugnissen zum oralen Gebrauch stelle auch eine ungerechtfertigte Beschränkung des freien Warenverkehrs dar, da es nicht mit dem Diskriminierungsverbot, dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und der Begründungspflicht im Einklang stehe.
16 Neben dem Umstand, dass der Gerichtshof noch nicht die Gelegenheit gehabt habe, über die Gültigkeit von Art. 1 Buchst. c und Art. 17 der Richtlinie 2014/40 zu entscheiden, macht Swedish Match zudem geltend, dass das Urteil vom 14. Dezember 2004, Swedish Match (C‑210/03, EU:C:2004:802), für den Ausgangsrechtsstreit nicht einschlägig sei, da die neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse zu den behaupteten schädlichen Wirkungen von Tabakerzeugnissen zum oralen Gebrauch den Ausführungen in diesem Urteil widersprächen, die durch die Richtlinie 2014/40 geschaffenen Regelungen erhebliche Unterschiede zu den durch die Richtlinie 2001/37 geschaffenen aufwiesen und sich schließlich der Markt für Tabakerzeugnisse seit diesem Urteil tief greifend gewandelt habe.
17 Der Secretary of State for Health entgegnet, dass der Gerichtshof um Vorabentscheidung zur Gültigkeit von Art. 1 Buchst. c und Art. 17 der Richtlinie 2014/40 zu ersuchen sei. Insbesondere sei nur der Gerichtshof befugt, eine Richtlinie oder einen Teil davon für ungültig zu erklären.
18 Die im Ausgangsverfahren als Streithelferin zugelassene New Nicotine Alliance, eine eingetragene gemeinnützige Organisation mit dem Ziel, die öffentliche Gesundheit durch die Verringerung der durch Tabak verursachten Schäden zu fördern (im Folgenden: NNA), vertritt vor dem vorlegenden Gericht die Auffassung, dass das Verbot des Inverkehrbringens von Tabakerzeugnissen zum oralen Gebrauch dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zuwiderlaufe und gegen die Art. 1, 7 und 35 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) verstoße. Ein solches Verbot sei ein ungeeignetes Mittel, um die öffentliche Gesundheit zu schützen, weil es den Verbrauchern, die auf Zigaretten und andere brennbare Tabakerzeugnisse verzichten wollten, die Möglichkeit nehme, ein weniger toxisches Produkt zu verwenden, wie die Beliebtheit elektronischer Zigaretten und wissenschaftliche Erkenntnisse zu den schädlichen Wirkungen von Tabak in Schweden zeigten. „Snus“ sei zusammen mit anderen – im Vereinigten Königreich bereits verfügbaren – Produkten zur Verringerung der durch Tabak verursachten Schäden Teil einer kohärenten Strategie zur Verringerung dieser Schäden.
19 Vor diesem Hintergrund hat der High Court of Justice (England & Wales), Queen’s Bench Division (Administrative Court) (Hoher Gerichtshof [England und Wales], Abteilung Queen’s Bench [Verwaltungsrechtskammer], Vereinigtes Königreich) das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:
Sind Art. 1 Buchst. c und Art. 17 der Richtlinie 2014/40 ungültig wegen
i.
Verstoßes gegen das allgemeine unionsrechtliche Diskriminierungsverbot,
ii.
Verstoßes gegen den allgemeinen unionsrechtlichen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit,
iii.
Verstoßes gegen Art. 5 Abs. 3 EUV und das unionsrechtliche Subsidiaritätsprinzip,
iv.
Verstoßes gegen Art. 296 Abs. 2 AEUV,
v.
Verstoßes gegen die Art. 34 und 35 AEUV und
vi.
Verstoßes gegen die Art. 1, 7 und 35 der Charta?
Zur Vorlagefrage
20 Das vorlegende Gericht wirft die Frage nach der Gültigkeit von Art. 1 Buchst. c und Art. 17 der Richtlinie 2014/40 im Hinblick auf die Grundsätze der Gleichbehandlung, der Verhältnismäßigkeit und der Subsidiarität, die Begründungspflicht nach Art. 296 Abs. 2 AEUV, die Art. 34 und 35 AEUV sowie die Art. 1, 7 und 35 der Charta auf.
Zur Gültigkeit von Art. 1 Buchst. c und Art. 17 der Richtlinie 2014/40 im Hinblick auf den Gleichbehandlungsgrundsatz
21 Das vorlegende Gericht möchte wissen, ob die Richtlinie 2014/40 gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz verstößt, soweit sie das Inverkehrbringen von Tabakerzeugnissen zum oralen Gebrauch verbietet, während sie die Vermarktung von anderen rauchlosen Tabakerzeugnissen, Zigaretten, elektronischen Zigaretten und neuartigen Tabakerzeugnissen erlaubt.
22 Nach ständiger Rechtsprechung verlangt der Grundsatz der Gleichbehandlung, dass gleiche Sachverhalte nicht unterschiedlich und unterschiedliche Sachverhalte nicht gleich behandelt werden, es sei denn, eine solche Behandlung ist objektiv gerechtfertigt (Urteil vom 7. März 2017, RPO, C‑390/15, EU:C:2017:174, Rn. 41).
23 Die Frage des Verstoßes gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung durch das nach der Richtlinie 2001/37 vorgesehene Verbot des Inverkehrbringens von Tabakerzeugnissen zum oralen Gebrauch war bereits Gegenstand der Urteile vom 14. Dezember 2004, Swedish Match (C‑210/03, EU:C:2004:802), und vom 14. Dezember 2004, Arnold André (C‑434/02, EU:C:2004:800).
24 In diesen Urteilen hat der Gerichtshof entschieden, dass die besondere Situation, in der sich die von Art. 2 der Richtlinie 2001/37 erfassten Tabakerzeugnisse zum oralen Gebrauch befanden, es erlaubte, diese unterschiedlich zu behandeln, ohne dass ein Verstoß gegen das Diskriminierungsverbot erfolgreich geltend gemacht werden könnte. Die Tabakerzeugnisse zum oralen Gebrauch befanden sich nämlich, auch wenn sie sich nach ihrer Zusammensetzung oder sogar nach ihrer Bestimmung nicht grundlegend von den zum Kauen bestimmten Tabakerzeugnissen unterscheiden, nicht in der gleichen Situation wie diese Erzeugnisse, da die Tabakerzeugnisse zum oralen Gebrauch, die Gegenstand des in Art. 8a der Richtlinie 89/622 vorgesehenen und in Art. 8 der Richtlinie 2001/37 übernommenen Verbots waren, auf dem Markt der von dieser Maßnahme betroffenen Mitgliedstaaten neuartig waren (Urteile vom 14. Dezember 2004, Swedish Match, C‑210/03, EU:C:2004:802, Rn. 71, und vom 14. Dezember 2004, Arnold André, C‑434/02, EU:C:2004:800, Rn. 69).
25 Nach dem Erlass dieser Urteile hat der Unionsgesetzgeber keine Maßnahmen zur Genehmigung des Inverkehrbringens von Tabakerzeugnissen zum oralen Gebrauch auf dem Markt der von Art. 17 der Richtlinie 2014/40 erfassten Mitgliedstaaten erlassen.
26 Würden diese Erzeugnisse auf diesem Markt eingeführt, wären sie somit weiterhin neuartig gegenüber anderen rauchlosen Tabakerzeugnissen und Rauchtabakerzeugnissen einschließlich Zigaretten und damit für Jugendliche attraktiv.
27 Wie der Generalanwalt in Nr. 73 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, ergibt sich außerdem aus der – insoweit unwidersprochenen -Folgenabschätzung, dass die anderen rauchlosen Tabakerzeugnisse nur Nischenmärkte betreffen, deren Wachstumspotenzial aufgrund der teuren und teilweise handwerklichen Herstellungsweise beschränkt ist. Hingegen haben die Tabakerzeugnisse zum oralen Gebrauch großes Wachstumspotenzial, was die Hersteller dieser Erzeugnisse im Übrigen bestätigen.
28 Solche besonderen Umstände erlaubten es somit, Tabakerzeugnisse zum oralen Gebrauch anders zu behandeln als andere rauchlose Tabakerzeugnisse und Zigaretten, ohne dass ein Verstoß gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung erfolgreich geltend gemacht werden könnte.
29 Was den behaupteten Verstoß gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz durch eine Benachteiligung von Tabakerzeugnissen zum oralen Gebrauch gegenüber elektronischen Zigaretten betrifft, hat der Gerichtshof bereits festgestellt, dass elektronische Zigaretten andere objektive Merkmale aufweisen als Tabakerzeugnisse im Allgemeinen und die Sachverhalte bei elektronischen Zigaretten und Tabakerzeugnissen daher nicht gleich sind (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 4. Mai 2016, Pillbox 38, C‑477/14, EU:C:2016:324, Rn. 36 und 42).
30 Daraus folgt, dass der Grundsatz der Gleichbehandlung nicht dadurch verletzt sein kann, dass die besondere Kategorie der Tabakerzeugnisse zum oralen Gebrauch anders behandelt wird als diese andere Kategorie, in die elektronische Zigaretten fallen.
31 Zum behaupteten Verstoß gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung durch eine Benachteiligung der Tabakerzeugnisse zum oralen Gebrauch gegenüber neuartigen Tabakerzeugnissen ist darauf hinzuweisen, dass Art. 2 Nr. 14 der Richtlinie 2014/40 „neuartiges Tabakerzeugnis“ definiert als ein nach dem 19. Mai 2014 in Verkehr gebrachtes Tabakerzeugnis, das nicht in eine der nachstehenden Kategorien fällt, nämlich Zigaretten, Tabak zum Selbstdrehen, Pfeifentabak, Wasserpfeifentabak, Zigarren, Zigarillos, Kautabak, Schnupftabak und Tabak zum oralen Gebrauch.
32 Wie der Generalanwalt in Nr. 75 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, konnten somit die Auswirkungen der neuartigen Tabakerzeugnisse auf die öffentliche Gesundheit angesichts des Zeitpunkts des Inverkehrbringens dieser Erzeugnisse bei Erlass der Richtlinie 2014/40 per definitionem nicht beobachtet oder untersucht werden, während die Wirkungen der Tabakerzeugnisse zum oralen Gebrauch zu diesem Zeitpunkt wissenschaftlich ausreichend festgestellt und nachgewiesen waren. Zwar hat der Unionsgesetzgeber neuartige Tabakerzeugnisse in den Anwendungsbereich der Richtlinie aufgenommen, dies erfolgte jedoch zu dem Zweck, dass deren Auswirkungen auf die Gesundheit und die Konsumgewohnheiten gemäß Art. 19 der Richtlinie 2014/40 in Studien untersucht würden.
33 Somit konnten die Tabakerzeugnisse zum oralen Gebrauch, da sie Gegenstand mehrerer wissenschaftlicher Studien gewesen waren, zum Zeitpunkt des Erlasses der Richtlinie 2014/40 nicht in dem Maß als neuartig angesehen werden wie die neuartigen Tabakerzeugnisse im Sinne von Art. 2 Nr. 14 dieser Richtlinie.
34 Daher verstoßen Art. 1 Buchst. c und Art. 17 der Richtlinie 2014/40 nicht gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung.
Zur Gültigkeit von Art. 1 Buchst. c und Art. 17 der Richtlinie 2014/40 im Hinblick auf den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit
35 Einleitend ist darauf hinzuweisen, dass der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs verlangt, dass die Handlungen der Unionsorgane zur Erreichung der mit der betreffenden Regelung verfolgten legitimen Ziele geeignet sind und nicht über die Grenzen dessen hinausgehen, was zur Erreichung dieser Ziele erforderlich ist (Urteil vom 7. Februar 2018, American Express, C‑304/16, EU:C:2018:66, Rn. 85).
36 Was die gerichtliche Nachprüfbarkeit der Einhaltung dieser Voraussetzungen betrifft, hat der Gerichtshof dem Unionsgesetzgeber im Rahmen der Ausübung der diesem übertragenen Zuständigkeiten ein weites Ermessen in einem Bereich wie dem betroffenen zugebilligt, in dem dessen Tätigkeit sowohl politische als auch wirtschaftliche oder soziale Entscheidungen verlangt und in dem dieser komplexe Prüfungen und Beurteilungen vornehmen muss. Es geht somit nicht darum, ob eine in diesem Bereich erlassene Maßnahme die einzig mögliche oder die bestmögliche war; sie ist vielmehr nur dann rechtswidrig, wenn sie zur Erreichung des Ziels, das die zuständigen Organe verfolgen, offensichtlich ungeeignet ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 4. Mai 2016, Pillbox 38, C‑477/14, EU:C:2016:324, Rn. 49).
37 Hinsichtlich der Beurteilung hoch komplexer wissenschaftlicher und technischer Fakten, die erforderlich ist, um die Verhältnismäßigkeit des Verbots des Inverkehrbringens von Tabakerzeugnissen zum oralen Gebrauch zu bewerten, ist darauf hinzuweisen, dass der Unionsrichter nicht seine Beurteilung dieser Fakten an die Stelle derjenigen des Gesetzgebers setzen kann, dem allein der AEU-Vertrag diese Aufgabe anvertraut hat. Das weite Ermessen des Unionsgesetzgebers, das eine begrenzte gerichtliche Kontrolle seiner Ausübung impliziert, bezieht sich nicht ausschließlich auf die Art und die Tragweite der zu erlassenden Bestimmungen, sondern in bestimmtem Umfang auch auf die Feststellung der Grunddaten (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 21. Juni 2018, Polen/Parlament und Rat, C‑5/16, EU:C:2018:483, Rn. 150 und 151).
38 Des Weiteren muss der Unionsgesetzgeber das Vorsorgeprinzip berücksichtigen, nach dem bei Unsicherheiten hinsichtlich des Vorliegens oder des Umfangs von Risiken für die menschliche Gesundheit Schutzmaßnahmen getroffen werden können, ohne dass abgewartet werden müsste, dass das Bestehen und die Schwere dieser Risiken vollständig dargelegt werden. Wenn es sich als unmöglich erweist, das Vorliegen oder den Umfang des behaupteten Risikos mit Sicherheit festzustellen, weil die Ergebnisse der durchgeführten Studien unschlüssig sind, die Wahrscheinlichkeit eines tatsächlichen Schadens für die Gesundheit der Bevölkerung jedoch fortbesteht, falls das Risiko eintreten sollte, rechtfertigt das Vorsorgeprinzip den Erlass beschränkender Maßnahmen (Urteil vom 9. Juni 2016, Pesce u. a., C‑78/16 und C‑79/16, EU:C:2016:428, Rn. 47 und die dort angeführte Rechtsprechung).
39 Die Gültigkeit von Art. 1 Buchst. c und Art. 17 der Richtlinie 2014/40 im Hinblick auf den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ist im Licht dieser Erwägungen zu prüfen.
40 Im vorliegenden Fall ist darauf hinzuweisen, dass mit der Richtlinie 2014/40 nach deren Art. 1 ein zweifaches Ziel verfolgt wird, nämlich ausgehend von einem hohen Schutz der menschlichen Gesundheit, besonders für junge Menschen, das reibungslose Funktionieren des Binnenmarkts für Tabakerzeugnisse und verwandte Erzeugnisse zu erleichtern (Urteil vom 4. Mai 2016, Polen/Parlament und Rat, C‑358/14, EU:C:2016:323, Rn. 80).
41 Was das Ziel betrifft, einen hohen Schutz der menschlichen Gesundheit besonders für junge Menschen zu gewährleisten, ergibt sich aus der Folgenabschätzung (S. 62 ff.), dass die Kommission die verschiedenen politischen Optionen in Bezug auf die verschiedenen Tabakerzeugnisse, u. a. die Tabakerzeugnisse zum oralen Gebrauch, erwogen hat. Insbesondere hat sie die Möglichkeit, das Verbot des Inverkehrbringens von Tabakerzeugnissen zum oralen Gebrauch aufzuheben, im Licht der neuen wissenschaftlichen Studien zur Gesundheitsschädlichkeit dieser Erzeugnisse und der Erkenntnisse zu den Konsumgewohnheiten in Bezug auf Tabakerzeugnisse in den Ländern, die den Verkauf von Tabakerzeugnissen zum oralen Gebrauch erlauben, geprüft.
42 Hierzu hat die Kommission zunächst darauf hingewiesen, dass rauchlose Tabakerzeugnisse nach wissenschaftlichen Studien zwar weniger gesundheitsgefährdend seien als Rauchtabakerzeugnisse, sämtliche rauchlosen Tabakerzeugnisse jedoch Kanzerogene enthielten, nicht wissenschaftlich erwiesen sei, dass die in Tabakerzeugnissen zum oralen Gebrauch enthaltene Menge an Kanzerogenen das Krebsrisiko verringern könne, sie das Risiko eines tödlichen Herzinfarkts erhöhten und bestimmte Anzeichen dafür sprächen, dass ihr Gebrauch zu Schwangerschaftskomplikationen führen könne.
43 Des Weiteren hat die Kommission darauf hingewiesen, dass die Studien, die nahelegten, dass „Snus“ die Raucherentwöhnung erleichtern könne, überwiegend auf Erkenntnissen aus empirischer Beobachtung beruhten und daher nicht als schlüssig angesehen werden könnten.
44 Außerdem könne die Auswirkung der Entscheidung, das Verbot des Inverkehrbringens von Tabakerzeugnissen zum oralen Gebrauch aufzuheben, auf die Politik der Kontrolle des Konsums von Tabakerzeugnissen auswirken und Personen, die bis dahin keine Tabakerzeugnisse konsumiert hätten, insbesondere junge Menschen, dazu verleiten. Eine solche Entscheidung führe damit zu gewissen Gefahren für die Gesundheit der Bevölkerung.
45 Daher war die Kommission, die somit sämtliche in der Folgenabschätzung angeführten wissenschaftlichen Studien berücksichtigt hatte, der Auffassung, dass das Vorsorgeprinzip es rechtfertige, das Verbot des Inverkehrbringens von Tabakerzeugnissen zum oralen Gebrauch aufrechtzuerhalten.
46 Wie aus der Vorlageentscheidung hervorgeht, wenden Swedish Match und NNA gegen die Gültigkeit von Art. 1 Buchst. c und Art. 17 der Richtlinie 2014/40 im Hinblick auf den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit neueste wissenschaftliche Studien ein, die belegten, dass Tabakerzeugnisse zum oralen Gebrauch, insbesondere „Snus“, verglichen mit anderen Tabakerzeugnissen eine geringe Schädlichkeit aufwiesen, zu weniger Abhängigkeit führten und die Raucherentwöhnung erleichterten. Insbesondere machen sie, gestützt auf Beobachtungen in Schweden und Norwegen, geltend, dass der Konsum von „Snus“ eher an die Stelle des Konsums von Rauchtabakerzeugnissen trete als zu diesem hinzukomme und keinen Einstieg in den Konsum von Rauchtabakerzeugnissen darstelle.
47 In diesem Zusammenhang ist festzustellen, dass der Unionsgesetzgeber im Einklang mit der in den Rn. 36 und 38 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung auf der Grundlage wissenschaftlicher Studien und nach dem weiten Ermessen, über das er insoweit verfügt, sowie dem Vorsorgeprinzip zu dem Ergebnis gelangen durfte, dass die Wirksamkeit von Tabakerzeugnissen zum oralen Gebrauch als Hilfe zur Raucherentwöhnung im Fall der Aufhebung des Verbots des Inverkehrbringens dieser Erzeugnisse ungewiss ist und Gefahren für die Gesundheit der Bevölkerung bestehen, etwa – insbesondere wegen der Anziehungskraft dieser Erzeugnisse auf junge Menschen – die Gefahr des Einstiegs in den Konsum von Rauchtabakerzeugnissen.
48 Zur Geeignetheit des Verbots des Inverkehrbringens von Tabakerzeugnissen zum oralen Gebrauch, das Ziel der Gewährleistung eines hohen Schutzes der menschlichen Gesundheit zu erreichen, ist nämlich darauf hinzuweisen, dass diese nicht bloß im Hinblick auf eine einzige Kategorie von Verbrauchern beurteilt werden kann (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 4. Mai 2016, Philip Morris Brands u. a., C‑547/14, EU:C:2016:325, Rn. 176).
49 Da im Fall einer Aufhebung des Verbots des Inverkehrbringens von Tabakerzeugnissen zum oralen Gebrauch die positiven Wirkungen für die Gesundheit der Verbraucher, die diese Erzeugnisse als Hilfe bei der Entwöhnung verwenden möchten, ungewiss wären und darüber hinaus Gefahren für die Gesundheit der anderen Verbraucher, insbesondere junger Menschen, bestünden, die gemäß dem Vorsorgeprinzip den Erlass beschränkender Maßnahmen erfordern, können Art. 1 Buchst. c und Art. 17 der Richtlinie 2014/40 nicht als offensichtlich ungeeignet angesehen werden, um einen hohen Schutz der Gesundheit der Bevölkerung zu gewährleisten.
50 Dagegen erscheinen weniger einschränkende Maßnahmen wie die in der Richtlinie 2014/40 für die anderen Tabakerzeugnisse vorgesehenen, etwa die Verstärkung von Gesundheitswarnhinweisen und das Verbot von aromatisiertem Tabak, nicht als ebenso geeignet, das angestrebte Ziel zu erreichen.
51 Wegen des hohen Wachstumspotenzials des Markts für Tabakerzeugnisse zum oralen Gebrauch, das von den Herstellern dieser Erzeugnisse selbst bestätigt wird, wie auch der Einführung rauchfreier Zonen sind diese Erzeugnisse nämlich besonders geeignet, Personen, die bisher keine Tabakerzeugnisse konsumiert haben, vor allem junge Menschen, dazu zu verleiten.
52 Im Übrigen sind Tabakerzeugnisse zum oralen Gebrauch besonders gefährlich für Minderjährige, da ihr Konsum schwer zu bemerken ist. Gewöhnlich wird das Produkt nämlich zwischen Zahnfleisch und Oberlippe geschoben und dort behalten (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 14. Dezember 2004, Arnold André, C‑434/02, EU:C:2004:800, Rn. 19).
53 Somit geht das Verbot des Inverkehrbringens von Tabakerzeugnissen zum oralen Gebrauch offenkundig nicht über das hinaus, was zur Erreichung des Ziels, einen hohen Schutz der Gesundheit der Bevölkerung zu gewährleisten, erforderlich ist.
54 Außerdem ist nach ständiger Rechtsprechung dem Schutz der Gesundheit gegenüber wirtschaftlichen Erwägungen vorrangige Bedeutung beizumessen (Urteil vom 19. April 2012, Artegodan/Kommission, C‑221/10 P, EU:C:2012:216, Rn. 99 und die dort angeführte Rechtsprechung), die negative wirtschaftliche Folgen selbst beträchtlichen Ausmaßes rechtfertigen kann (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 23. Oktober 2012, Nelson u. a., C‑581/10 und C‑629/10, EU:C:2012:657, Rn. 81 sowie die dort angeführte Rechtsprechung). Selbst wenn man im vorliegenden Fall annimmt, das ein hohes Wachstumspotenzial des Markts für Tabakerzeugnisse zum oralen Gebrauch besteht, bleiben die wirtschaftlichen Folgen des Verbots des Inverkehrbringens dieser Erzeugnisse aber jedenfalls ungewiss, da sich diese Erzeugnisse zum Zeitpunkt des Erlasses der Richtlinie 2014/40 nicht auf dem Markt der von Art. 17 der Richtlinie 2014/40 erfassten Mitgliedstaaten befanden.
55 Das Verbot des Inverkehrbringens von Tabakerzeugnissen zum oralen Gebrauch ist auch geeignet, das reibungslose Funktionieren des Binnenmarkts für Tabakerzeugnisse und verwandte Erzeugnisse zu erleichtern.
56 Der Gerichtshof hat in Rn. 37 seines Urteils vom 14. Dezember 2004, Swedish Match (C‑210/03, EU:C:2004:802), darauf hingewiesen, dass sich die Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten, durch die die Ausbreitung des Konsums gesundheitsschädlicher Erzeugnisse, die auf dem Markt der Mitgliedstaaten neuartig waren und als besonders attraktiv für Kinder und Jugendliche galten, gestoppt werden sollte, zum Zeitpunkt des Erlasses der Richtlinie 92/41 unterschieden.
57 Ebenso wie der Gerichtshof in diesem Urteil ausgeführt hat, dass sich der Regelungskontext beim Erlass der Richtlinie 2001/37, die das Inverkehrbringen von Tabakerzeugnissen zum oralen Gebrauch ebenfalls untersagte, nicht geändert hatte (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 14. Dezember 2004, Swedish Match, C‑210/03, EU:C:2004:802, Rn. 40), war dieser Kontext auch beim Erlass der Richtlinie 2014/40 der gleiche.
58 Tabakerzeugnisse zum oralen Gebrauch bleiben nämlich gesundheitsschädlich, haben Suchtwirkung und sind attraktiv für junge Menschen. Außerdem wären sie, wie in Rn. 26 des vorliegenden Urteils festgestellt, im Fall ihres Inverkehrbringens für die Verbraucher neuartige Erzeugnisse. Ein solcher Kontext kann die Mitgliedstaaten weiterhin veranlassen, verschiedene Rechts- und Verwaltungsvorschriften zu erlassen, um die Ausbreitung des Konsums von Tabakerzeugnissen zum oralen Gebrauch zu beenden.
59 Was insbesondere das Vorbringen von Swedish Match betrifft, dass die Genehmigung der Vermarktung anderer Tabakerzeugnisse und verwandter Erzeugnisse die Unverhältnismäßigkeit des Verbots des Inverkehrbringens von Tabakerzeugnissen zum oralen Gebrauch belege, ist darauf hinzuweisen, dass eine Maßnahme der Union nur dann geeignet ist, die Verwirklichung des angestrebten Ziels zu gewährleisten, wenn sie tatsächlich dem Anliegen gerecht wird, es in kohärenter und systematischer Weise zu erreichen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 5. Juli 2017, Fries, C‑190/16, EU:C:2017:513, Rn. 48).
60 Hierzu ergibt sich aus Rn. 34 des vorliegenden Urteils, dass Art. 1 Buchst. c und Art. 17 der Richtlinie 2014/40 dadurch, dass Tabakerzeugnisse zum oralen Gebrauch anders behandelt werden als andere Tabakerzeugnisse und verwandte Erzeugnisse, nicht gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz verstoßen.
61 Somit bewirken Art. 1 Buchst. c und Art. 17 der Richtlinie 2014/40 keine Nachteile, die offensichtlich außer Verhältnis zu den angestrebten Zielen stehen.
62 Aus den vorstehenden Erwägungen folgt, dass diese Vorschriften keine Beschränkungen enthalten, die außer Verhältnis zu dem mit der Richtlinie 2014/40 verfolgten zweifachen Ziel stehen, das reibungslose Funktionieren des Binnenmarkts für Tabakerzeugnisse und verwandte Erzeugnisse zu erleichtern sowie einen hohen Schutz der menschlichen Gesundheit zu gewährleisten.
63 Daher ist festzustellen, dass diese Vorschriften nicht gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verstoßen.
Zur Gültigkeit von Art. 1 Buchst. c und Art. 17 der Richtlinie 2014/40 im Hinblick auf den Subsidiaritätsgrundsatz
64 Aus der Vorlageentscheidung geht hervor, dass Swedish Match die Gültigkeit von Art. 1 Buchst. c und Art. 17 der Richtlinie 2014/40 im Hinblick auf den Subsidiaritätsgrundsatz in Frage stellt, weil das allgemeine und absolute Verbot des Inverkehrbringens von Tabakerzeugnissen zum oralen Gebrauch den Mitgliedstaaten jeden regulatorischen Spielraum nehme und eine einheitliche Regelung anordne, die die besonderen Eigenheiten der Mitgliedstaaten mit Ausnahme des Königreichs Schweden außer Acht lasse. Eine solche Vorgehensweise sei außerdem nicht erforderlich, wie die den Mitgliedstaaten nach Art. 24 Abs. 3 der Richtlinie 2014/40 eingeräumte Möglichkeit, eine Kategorie von Tabakerzeugnissen oder verwandten Erzeugnissen zu verbieten, wenn dies durch ihre spezifischen Gegebenheiten gerechtfertigt sei, deutlich mache.
65 Es ist darauf hinzuweisen, dass das Subsidiaritätsprinzip in Art. 5 Abs. 3 EUV niedergelegt ist. Danach wird die Union in den Bereichen, die nicht in ihre ausschließliche Zuständigkeit fallen, nur tätig, sofern und soweit die Ziele der in Betracht gezogenen Maßnahmen von den Mitgliedstaaten nicht ausreichend verwirklicht werden können und daher wegen ihres Umfangs oder ihrer Wirkungen auf Unionsebene besser zu verwirklichen sind. Das Protokoll (Nr. 2) zum EU-Vertrag und zum AEU-Vertrag über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit stellt außerdem in seinem Art. 5 Leitlinien auf, nach denen zu bestimmen ist, ob diese Voraussetzungen erfüllt sind (Urteil vom 4. Mai 2016, Philip Morris Brands u. a., C‑547/14, EU:C:2016:325, Rn. 215).
66 Da es sich im vorliegenden Fall um einen Bereich handelt – die Verbesserung des Funktionierens des Binnenmarkts –, der nicht zu den Bereichen gehört, in denen die Union über eine ausschließliche Zuständigkeit verfügt, ist zu prüfen, ob das Ziel der Richtlinie 2014/40 auf Unionsebene besser erreicht werden konnte (Urteil vom 4. Mai 2016, Philip Morris Brands u. a., C‑547/14, EU:C:2016:325, Rn. 219).
67 Wie in Rn. 40 des vorliegenden Urteils ausgeführt, verfolgt die Richtlinie 2014/40 insoweit ein zweifaches Ziel, nämlich das reibungslose Funktionieren des Binnenmarkts für Tabakerzeugnisse und verwandte Erzeugnisse zu erleichtern und dabei einen hohen Schutz der menschlichen Gesundheit, besonders für junge Menschen, zu gewährleisten (Urteil vom 4. Mai 2016, Philip Morris Brands u. a., C‑547/14, EU:C:2016:325, Rn. 220).
68 Selbst unter der Annahme, dass der zweite Teil dieses Ziels auf Ebene der Mitgliedstaaten besser erreicht werden kann, ändert dies aber nichts daran, dass die Verfolgung dieses Ziels auf Ebene der Mitgliedstaaten Situationen verfestigen oder sogar hervorrufen kann, in denen, wie in Rn. 58 des vorliegenden Urteils ausgeführt, einige Mitgliedstaaten das Inverkehrbringen von Tabakerzeugnissen zum oralen Gebrauch erlauben, während andere es verbieten, womit genau das Gegenteil des ersten Ziels der Richtlinie 2014/40, nämlich der Verbesserung des Funktionierens des Binnenmarkts für Tabakerzeugnisse und verwandte Erzeugnisse, erreicht würde (Urteil vom 4. Mai 2016, Philip Morris Brands u. a., C‑547/14, EU:C:2016:325, Rn. 221).
69 Infolge der Wechselwirkung der beiden mit dieser Richtlinie angestrebten Ziele durfte der Unionsgesetzgeber davon ausgehen, dass sein Handeln die Einführung einer Regelung für das Inverkehrbringen von Tabakerzeugnissen zum oralen Gebrauch in der Union umfassen müsse und dass aufgrund dieser Wechselwirkung dieses zweifache Ziel auf Unionsebene besser erreicht werden könne (Urteil vom 4. Mai 2016, Philip Morris Brands u. a., C‑547/14, EU:C:2016:325, Rn. 222).
70 Zu dem Vorbringen, dass Art. 24 Abs. 3 der Richtlinie 2014/40 zeige, dass die Ziele dieser Richtlinie in hinreichender Weise durch die Mitgliedstaaten erreicht werden könnten, ist darauf hinzuweisen, dass diese Bestimmung den Mitgliedstaaten die Möglichkeit einräumt, eine bestimmte Kategorie von Tabakerzeugnissen oder verwandten Erzeugnissen zu verbieten, wenn dies durch die spezifischen Gegebenheiten in dem betreffenden Mitgliedstaat und zum Schutz der öffentlichen Gesundheit gerechtfertigt ist, und dass die Kommission aber die Befugnis hat, diese nationalen Vorschriften zu billigen oder abzulehnen, und hierzu unter Berücksichtigung des hohen mit dieser Richtlinie erzielten Schutzes der menschlichen Gesundheit prüft, ob die Vorschriften berechtigt und notwendig sind, ob sie in einem angemessenen Verhältnis zu ihrem Ziel stehen und ob sie ein Mittel zur willkürlichen Diskriminierung oder eine verschleierte Beschränkung des Handels zwischen den Mitgliedstaaten darstellen.
71 Die Verfasser des AEU-Vertrags wollten dem Unionsgesetzgeber nach Maßgabe des allgemeinen Kontexts und der speziellen Umstände der zu harmonisierenden Materie einen Ermessensspielraum hinsichtlich der zur Erreichung eines angestrebten Ergebnisses am besten geeigneten Angleichungstechnik insbesondere in den Bereichen einräumen, die durch komplexe technische Gegebenheiten gekennzeichnet sind. Der Unionsgesetzgeber könnte daher in Ausübung dieses Ermessens eine Harmonisierung nur in Etappen vornehmen und nur einen schrittweisen Abbau der einseitig von den Mitgliedstaaten getroffenen Maßnahmen verlangen (Urteil vom 4. Mai 2016, Philip Morris Brands u. a., C‑547/14, EU:C:2016:325, Rn. 63).
72 Je nach den Umständen können die in Art. 114 Abs. 1 AEUV genannten Maßnahmen darin bestehen, dass alle Mitgliedstaaten verpflichtet werden, die Vermarktung des oder der betreffenden Erzeugnisse zu genehmigen, eine solche Genehmigung an die Erfüllung bestimmter Bedingungen zu knüpfen oder sogar die Vermarktung eines oder einiger Erzeugnisse vorläufig oder endgültig zu verbieten (Urteil vom 4. Mai 2016, Philip Morris Brands u. a., C‑547/14, EU:C:2016:325, Rn. 64).
73 Da der Unionsgesetzgeber das Inverkehrbringen von Tabakerzeugnissen zum oralen Gebrauch verboten hat, während er die Vermarktung anderer Tabakerzeugnisse erlaubt, ist davon auszugehen, dass er in Bezug auf Tabakerzeugnisse eine Harmonisierung in Etappen vorgenommen hat.
74 Art. 24 Abs. 3 der Richtlinie 2014/40 betrifft somit einen Aspekt, der nicht Gegenstand der durch diese Richtlinie festgelegten Harmonisierungsmaßnahmen war (Urteil vom 4. Mai 2016, Philip Morris Brands u. a., C‑547/14, EU:C:2016:325, Rn. 90).
75 Daher kann diese Bestimmung als solche nicht belegen, dass die Ziele dieser Richtlinie in hinreichender Weise durch die Mitgliedstaaten erreicht werden könnten.
76 Daraus folgt, dass Art. 1 Buchst. c und Art. 17 der Richtlinie 2014/40 nicht gegen den Subsidiaritätsgrundsatz verstoßen.
Zur Gültigkeit von Art. 1 Buchst. c und Art. 17 der Richtlinie 2014/40 im Hinblick auf Art. 296 Abs. 2 AEUV
77 Der Vorlageentscheidung ist zu entnehmen, dass Swedish Match vorträgt, dass die Richtlinie 2014/40 keine spezifische und kohärente Erklärung für das selektive Verbot von Tabakerzeugnissen zum oralen Gebrauch enthalte und sich eine solche Erklärung auch nicht klar aus dem Kontext dieser Richtlinie ergebe.
78 Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass die nach Art. 296 Abs. 2 AEUV vorgeschriebene Begründung nach ständiger Rechtsprechung der Natur des betreffenden Rechtsakts angepasst sein und die Überlegungen des Unionsorgans, das den Rechtsakt erlassen hat, so klar und eindeutig zum Ausdruck bringen muss, dass die Betroffenen ihr die Gründe für die erlassene Maßnahme entnehmen können und das zuständige Gericht seine Kontrollaufgabe wahrnehmen kann. In der Begründung brauchen nicht alle tatsächlich oder rechtlich einschlägigen Gesichtspunkte genannt zu werden, da die Frage, ob die Begründung eines Rechtsakts den Erfordernissen des Art. 296 Abs. 2 AEUV genügt, nicht nur anhand seines Wortlauts zu beurteilen ist, sondern auch anhand seines Kontexts sowie sämtlicher Rechtsvorschriften auf dem betreffenden Gebiet (Urteil vom 17. März 2011, AJD Tuna, C‑221/09, EU:C:2011:153, Rn. 58).
79 Ferner hängt nach ständiger Rechtsprechung der Umfang der Begründungspflicht von der Rechtsnatur der betreffenden Maßnahme ab; bei generellen Rechtsakten kann sich die Begründung darauf beschränken, die Gesamtlage anzugeben, die zum Erlass der Maßnahme geführt hat, und die allgemeinen Ziele zu bezeichnen, die mit ihr erreicht werden sollen. In diesem Zusammenhang hat der Gerichtshof insbesondere festgestellt, dass es, wenn der angefochtene Rechtsakt den von dem Unionsorgan verfolgten Zweck in seinen wesentlichen Zügen erkennen lässt, zu weit ginge, eine besondere Begründung für die einzelnen technischen Entscheidungen zu verlangen (Urteil vom 17. März 2011, AJD Tuna, C‑221/09, EU:C:2011:153, Rn. 59).
80 Im vorliegenden Fall bringen der 32. Erwägungsgrund der Richtlinie 2014/40 und die Folgenabschätzung die Überlegungen der Kommission, die dem Verbot des Inverkehrbringens von Tabakerzeugnissen zum oralen Gebrauch zugrunde liegen, klar und eindeutig zum Ausdruck.
81 Insbesondere wird im 32. Erwägungsgrund der Richtlinie 2014/40 ausgeführt, dass das Verkaufsverbot für Tabak zum oralen Gebrauch beibehalten werden sollte, um zu verhindern, dass ein Produkt in die Union (abgesehen von Schweden) gelangt, das suchterzeugend ist und gesundheitsschädigende Wirkungen hat, und auf die Begründung der Richtlinien 89/622 und 2001/37 verwiesen, in denen, wie der Gerichtshof bereits festgestellt hat, die Gründe für dieses Verbot klar dargelegt werden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 14. Dezember 2004, Swedish Match, C‑210/03, EU:C:2004:802, Rn. 65).
82 Da sich diesen Erwägungen die Gründe für das Verbot des Inverkehrbringens von Tabakerzeugnissen zum oralen Gebrauch entnehmen lassen und sie dem zuständigen Gericht die Wahrnehmung seiner Kontrollaufgabe ermöglichen, genügt die Richtlinie 2014/40 der Begründungspflicht aus Art. 296 Abs. 2 AEUV.
Zur Gültigkeit von Art. 1 Buchst. c und Art. 17 der Richtlinie 2014/40 im Hinblick auf die Art. 34 und 35 AEUV
83 Der Vorlageentscheidung ist zu entnehmen, dass Swedish Match geltend macht, Art. 1 Buchst. c und Art. 17 der Richtlinie 2014/40 verstießen gegen die Art. 34 und 35 AEUV, da sie die Grundsätze der Gleichbehandlung und der Verhältnismäßigkeit sowie die Begründungspflicht missachteten.
84 Zwar trifft es zu, dass das Verbot des Inverkehrbringens von Tabakerzeugnissen zum oralen Gebrauch eine Beschränkung im Sinne der Art. 34 und 35 AEUV darstellt. Doch erweist sich diese Beschränkung, wie bereits festgestellt, als durch Gründe des Schutzes der Gesundheit der Bevölkerung gerechtfertigt, verstößt nicht gegen die Grundsätze der Gleichbehandlung und der Verhältnismäßigkeit und genügt der Begründungspflicht.
85 Folglich sind Art. 1 Buchst. c und Art. 17 der Richtlinie 2014/40 im Hinblick auf die Art. 34 und 35 AEUV nicht ungültig.
Zur Gültigkeit von Art. 1 Buchst. c und Art. 17 der Richtlinie 2014/40 im Hinblick auf die Art. 1, 7 und 35 der Charta
86 Aus der Vorlageentscheidung geht hervor, dass Swedish Match und NNA geltend machen, Art. 1 Buchst. c und Art. 17 der Richtlinie 2014/40 verstießen gegen die Art. 1, 7 und 35 der Charta, weil das Verbot des Inverkehrbringens von Tabakerzeugnissen zum oralen Gebrauch Einzelne, die mit dem Rauchen aufhören wollten, an der Verwendung von Produkten hindere, die ihrer Gesundheit förderlich seien.
87 Nach Art. 52 Abs. 1 der Charta muss jede Einschränkung der Ausübung der in der Charta anerkannten Rechte und Freiheiten gesetzlich vorgesehen sein und den Wesensgehalt dieser Rechte und Freiheiten achten. Unter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit dürfen Einschränkungen nur vorgenommen werden, wenn sie erforderlich sind und den von der Union anerkannten dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen oder den Erfordernissen des Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer tatsächlich entsprechen.
88 Selbst wenn im vorliegenden Fall, wie Swedish Match und NNA vortragen, Art. 1 Buchst. c und Art. 17 der Richtlinie 2014/40 Grundrechte einschränkten, wäre eine solche Einschränkung gesetzlich vorgesehen, achtete den Wesensgehalt dieser Rechte und stünde mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im Einklang.
89 Zur Achtung des Wesensgehalts der Grundrechte ist insoweit festzustellen, dass das in Art. 1 Buchst. c und Art. 17 der Richtlinie 2014/40 vorgesehene Verbot des Inverkehrbringens von Tabakerzeugnissen zum oralen Gebrauch nicht bezweckt, das Recht auf Gesundheit einzuschränken, sondern vielmehr dieses Recht zu konkretisieren und daher einen hohen Schutz der Gesundheit für alle Verbraucher zu gewährleisten. Dabei nimmt es den Personen, die mit dem Konsum aufhören wollen, nicht gänzlich die Wahlmöglichkeit in Bezug auf Produkte, die ihnen zu diesem Zweck nützlich sind.
90 Wie in Rn. 63 des vorliegenden Urteils festgestellt, verstoßen diese Bestimmungen auch nicht gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit.
91 Daher ist festzustellen, dass Art. 1 Buchst. c und Art. 17 der Richtlinie 2014/40 im Hinblick auf die Art. 1, 7 und 35 der Charta nicht ungültig sind.
92 Nach alledem hat die Prüfung der Vorlagefrage nichts ergeben, was die Gültigkeit von Art. 1 Buchst. c und Art. 17 der Richtlinie 2014/40 beeinträchtigen könnte.
Kosten
93 Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Erste Kammer) für Recht erkannt:
Die Prüfung der Vorlagefrage hat nichts ergeben, was die Gültigkeit von Art. 1 Buchst. c und Art. 17 der Richtlinie 2014/40/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 3. April 2014 zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Herstellung, die Aufmachung und den Verkauf von Tabakerzeugnissen und verwandten Erzeugnissen und zur Aufhebung der Richtlinie 2001/37/EG beeinträchtigen könnte.
Unterschriften
(*1) Verfahrenssprache: Englisch.
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Urteil des Gerichts (Achte Kammer) vom 17. März 2016.#Zoofachhandel Züpke GmbH u.a. gegen Europäische Kommission.#Außervertragliche Haftung – Tierseuchenrecht – Bekämpfung der Aviären Influenza – Einfuhrverbot für gefangene Wildvögel in die Union – Verordnung (EG) Nr. 318/2007 und Durchführungsverordnung (EU) Nr. 139/2013 – Hinreichend qualifizierter Verstoß gegen Rechtsnormen, die dem Einzelnen Rechte verleihen – Offenkundige und erhebliche Überschreitung der Grenzen des Ermessens – Verhältnismäßigkeit – Sorgfaltspflicht – Art. 15 bis 17 der Charta der Grundrechte.#Rechtssache T-817/14.
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62014TJ0817
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ECLI:EU:T:2016:157
| 2016-03-17T00:00:00 |
Gericht
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Sammlung der Rechtsprechung – allgemein
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62014TJ0817
URTEIL DES GERICHTS (Achte Kammer)
17. März 2016 (*1)
„Außervertragliche Haftung — Tierseuchenrecht — Bekämpfung der Aviären Influenza — Einfuhrverbot für gefangene Wildvögel in die Union — Verordnung (EG) Nr. 318/2007 und Durchführungsverordnung (EU) Nr. 139/2013 — Hinreichend qualifizierter Verstoß gegen Rechtsnormen, die dem Einzelnen Rechte verleihen — Offenkundige und erhebliche Überschreitung der Grenzen des Ermessens — Verhältnismäßigkeit — Sorgfaltspflicht — Art. 15 bis 17 der Charta der Grundrechte“
In der Rechtssache T‑817/14
Zoofachhandel Züpke GmbH mit Sitz in Wesel (Deutschland),
Zoohaus Bürstadt, Helmut Ofenloch GmbH & Co. KG mit Sitz in Bürstadt (Deutschland),
Zoofachgeschäft – Vogelgroßhandel Import-Export Heinz Marche mit Sitz in Heinsberg (Deutschland),
Rita Bürgel, wohnhaft in Uthleben (Deutschland),
Norbert Kass, wohnhaft in Altenbeken (Deutschland),
Prozessbevollmächtigte: Rechtsanwältin C. Correll,
Kläger,
gegen
Europäische Kommission, vertreten durch B. Eggers und H. Kranenborg als Bevollmächtigte,
Beklagte,
wegen Ersatz des Schadens, der den Klägern seit dem 1. Januar 2010 dadurch entstanden sein soll, dass zunächst durch die Verordnung (EG) Nr. 318/2007 der Kommission vom 23. März 2007 zur Festlegung der Veterinärbedingungen für die Einfuhr bestimmter Vogelarten in die Gemeinschaft sowie der dafür geltenden Quarantänebedingungen (ABl. L 84, S. 7) und anschließend durch die Durchführungsverordnung (EU) Nr. 139/2013 der Kommission vom 7. Januar 2013 zur Festlegung der Veterinärbedingungen für die Einfuhr bestimmter Vogelarten in die Union sowie der dafür geltenden Quarantänebedingungen (ABl. L 47, S. 1) ein Einfuhrverbot für gefangene Wildvögel in die Europäische Union erlassen wurde,
erlässt
DAS GERICHT (Achte Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten D. Gratsias, der Richterin M. Kancheva (Berichterstatterin) und des Richters C. Wetter,
Kanzler: E. Coulon,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens
folgendes
Urteil
Vorgeschichte des Rechtsstreits
Vorstellung der Kläger
1 Die Kläger, die Zoofachhandel Züpke GmbH, die Zoohaus Bürstadt, Helmut Ofenloch GmbH & Co. KG, das Zoofachgeschäft – Vogelgroßhandel Import-Export Heinz Marche, Frau Rita Bürgel und Herr Norbert Kass, sind Tierhandelsunternehmen bzw. Tierhändler mit Sitz bzw. Wohnsitz in Deutschland und führen bzw. führten u. a. gefangene und zur Zierde in Volieren bestimmte Wildvögel wie Papageien in die Europäische Union ein.
Zu den Richtlinien 91/496/EWG und 92/65/EWG
2 Am 15. Juli 1991 erließ der Rat der Europäischen Gemeinschaften auf der Grundlage von Art. 37 EG, der die Gemeinsame Agrarpolitik regelt, die Richtlinie 91/496/EWG zur Festlegung von Grundregeln für die Veterinärkontrollen von aus Drittländern in die Gemeinschaft eingeführten Tieren und zur Änderung der Richtlinien 89/662/EWG, 90/425/EWG und 90/675/EWG (ABl. L 268, S. 56). Art. 10 Abs. 3 der Richtlinie 91/496 verweist in Bezug auf die von den Quarantänestationen zu beachtenden allgemeinen Bedingungen auf Anhang B dieser Richtlinie.
3 Am 13. Juli 1992 erließ der Rat die Richtlinie 92/65/EWG über die tierseuchenrechtlichen Bedingungen für den Handel mit Tieren, Samen, Eizellen und Embryonen in der Gemeinschaft sowie für ihre Einfuhr in die Gemeinschaft, soweit sie diesbezüglich nicht den spezifischen Gemeinschaftsregelungen nach Anhang A Abschnitt I der Richtlinie 90/425/EWG unterliegen (ABl. L 268, S. 54). Diese Richtlinie legt besondere Anforderungen für das Ursprungsland und den Inhaber des Ursprungsbetriebs fest, sieht Vorschriften über Veterinärbescheinigungen vor, die mit den Tieren mitzuführen sind, und legt fest, welchen Untersuchungen die Tiere unterzogen werden müssen. Art. 17 Abs. 2 und 3 dieser Richtlinie sieht insbesondere vor, dass nur Tiere in die Union eingeführt werden dürfen, die aus einem Drittland stammen, das in einer Liste der Drittländer oder Teile von Drittländern aufgeführt ist, die Garantien bieten, die den für den Handel innerhalb der Union geltenden Anforderungen gleichwertig sind, insbesondere zum Schutz der Union gegen bestimmte exotische Krankheiten.
Zum EFSA-Gutachten von 2005
4 Am 14. und 15. September 2005 gab die Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA) auf ein Ersuchen der Kommission der Europäischen Gemeinschaften aus dem Jahr 2004 hin ein wissenschaftliches Gutachten über Tiergesundheits- und Tierschutzaspekte der Aviären Influenza (The EFSA Journal[2005] 266, S. 1 bis 21, im Folgenden: EFSA-Gutachten von 2005) ab. Unter Berücksichtigung des ihr erteilten Mandats äußerte sich die EFSA in diesem Gutachten ausschließlich zum Risiko einer Infektion des Geflügels der Union mit der Aviären Influenza.
5 In der Einleitung zu ihrem Gutachten wies die EFSA darauf hin, dass die Aviäre Influenza oder Vogelgrippe bei Geflügel in zwei verschiedenen klinischen Formen, der hoch pathogenen Aviären Influenza (im Folgenden: HPAI) und der gering pathogenen Aviären Influenza (im Folgenden: GPAI), auftrete. Die HPAI werde durch Viren der Subtypen H5 und H7 verursacht, die gewisse molekulare Eigenschaften aufwiesen, die eine systemische Infektion hervorrufen könnten und bei der GPAI fehlten. Das H5N1-Virus sei einer dieser die HPAI auslösenden Virensubtypen.
6 Die EFSA wies außerdem darauf hin, dass das H5N1-Virus infolge einer ungewöhnlichen Endemiesituation dieses Virus bei Geflügel in bestimmten asiatischen Ländern kurz vor Abgabe ihres Gutachtens die ansässige und die wandernde Wildvögelpopulation infiziert habe. Diese epidemiologische Situation, die bisher nie aufgetreten sei, könne der Ursprung eines Pandemievirus für den Menschen sein und unvorhersehbare Folgen haben. Unter Berücksichtigung fehlender Erkenntnisse über Infektionen von HPAI-Typen bei Wildvögeln könnten eine Lagebeurteilung und Prognosen über zukünftige Entwicklungen jedoch nicht durch zureichende wissenschaftliche Daten belegt werden.
7 Hinsichtlich des Risikos, das in Käfigen gehaltene Vögel, zu denen insbesondere Ziervögel und Heimvögel gehörten, für das Geflügel der Union darstellten, war die EFSA der Ansicht, diese Vögel könnten mit Vogelgrippe-Viren, einschließlich solchen der Subtypen H5 und H7, infiziert werden und im Fall einer Einfuhr daher ein Risiko für die Einschleppung dieser Viren in die Union darstellen.
Zur Entscheidung 2005/760/EG und zur Verlängerung der ergriffenen Maßnahmen
8 Am 27. Oktober 2005 erließ die Kommission die Entscheidung 2005/760/EG mit Maßnahmen zum Schutz gegen die Einschleppung der HPAI bei der Einfuhr von in Gefangenschaft gehaltenen Vögeln aus bestimmten Drittländern (ABl. L 285, S. 60), mit der die Einfuhr lebender Vögel, mit Ausnahme von Geflügel, in die Union ausgesetzt wurde. Diese Maßnahmen sollten bis zum 30. November 2005 gelten.
9 Die mit der Entscheidung 2005/760 erlassenen Maßnahmen wurden durch eine Reihe von Entscheidungen der Kommission geändert und bis zum 30. Juni 2007 verlängert. Die letzte Verlängerung war in der Entscheidung 2007/183/EG vom 23. März 2007 zur Änderung der Entscheidung 2005/760 (ABl. L 84, S. 44) vorgesehen.
Zum EFSA-Gutachten von 2006
10 Am 27. Oktober 2006 gab die EFSA auf ein Ersuchen der Kommission vom 25. April 2005 hin ein wissenschaftliches Gutachten bezüglich der Risiken für die Tiergesundheit und den Tierschutz im Zusammenhang mit der Einfuhr von Wildvögeln, mit Ausnahme von Geflügel, in die Europäische Union (The EFSA Journal [2006] 410, S. 1 bis 55, im Folgenden: EFSA-Gutachten von 2006) ab. Die EFSA gab in diesem Gutachten verschiedene Empfehlungen für die Gesundheit und den Schutz gefangener Wildvögel und untersuchte verschiedene Krankheitserreger für Vögel, darunter die Aviäre Influenza.
11 Hinsichtlich der Gesundheitsfragen war die EFSA der Auffassung, die Wahrscheinlichkeit, dass durch die Freilassung von in Gefangenschaft gehaltenen Wildvögeln Krankheitserreger in die Union eingeschleppt worden seien, variiere von „unbedeutend“ bis „sehr hoch“. Die Wahrscheinlichkeit, dass ein einzelner in Gefangenschaft gehaltener Wildvogel bei seiner Freilassung infektiös sei, variiere von einer Vogelart zur anderen und hänge von der Wahrscheinlichkeit einer präklinischen Infektion ab. Diese Feststellungen veranlassten die EFSA zu der Empfehlung, dass die Notwendigkeit weiterer Einfuhren gefangener Wildvögel sorgfältig geprüft werden sollte. Ferner wies sie darauf hin, dass Wildvögel durch eine laterale Kontamination von anderen infektiösen Wildvögeln, durch eine kontaminierte Umgebung oder durch infektiöses Geflügel infiziert worden sein könnten.
12 Weiter stellte die EFSA fest, dass 95 % der in die Union eingeführten Vögel zu einer der drei Familien gehörten, die sich aus den Passeriformes (64 %), den Psittaciformes (17 %) bzw. den Galliformes (14 %) zusammensetzten, dass im Jahr 2005 88 % der Einfuhren von Wildvögeln aus Afrika und 78 % aus fünf afrikanischen Staaten stammten und dass gefangene Wildvögel im Allgemeinen billiger als in Gefangenschaft gezüchtete Vögel seien.
13 Speziell im Hinblick auf die Aviäre Influenza war die EFSA der Auffassung, die in größerer Anzahl eingeführten Vogelarten, nämlich Passeriformes und Psittaciformes, spielten bei der Epidemiologie der Vogelgrippe keine wesentliche Rolle. Außerdem hätten alle bei Vögeln vorkommenden Viren des Typs HPAI ein begrenztes zoonotisches Potenzial. Da das Genom des Virus der Aviären Influenza oder ein Teil dieses Genoms in der Vergangenheit jedoch an großen Pandemien beteiligt gewesen sei und zum Zeitpunkt der Erstellung des Gutachtens an der des H5N1-Virus, könne ein gutes Überwachungsprogramm verhindern, dass Viren der Aviären Influenza über rechtmäßig eingeführte Vögel in die Union eingeschleppt würden.
14 Weiter stellte die EFSA fest, dass HPAI-Viren insbesondere bei Sperlings‑ und Hühnervögeln sehr kurze Inkubations‑ und klinische Zeiten hätten, was zu einer hohen Sterblichkeit innerhalb weniger Tage führe, während die Inkubationszeit bei Gänsevögeln sehr wohl länger sein könne. Im Übrigen zeige ein einzelner Vogel, der mit einem Virus der Aviären Influenza infiziert in Quarantäne genommen oder während der Quarantäne mit diesem Virus infiziert werde, unter Berücksichtigung der kurzen Inkubationszeit noch während der Quarantäne klinische Symptome. Daher sei die Wahrscheinlichkeit, dass ein solcher Vogel aus der Quarantäne entlassen werde, ohne untersucht worden zu sein, gering, ja sogar zu vernachlässigen. Gleichwohl bestehe ein Risiko, dass Vögel, die infraklinischen Infektionen ausgesetzt seien, infiziert freigelassen würden.
15 Schließlich empfahl die EFSA, dass die Notwendigkeit weiterer Einfuhren von Wildvögeln sorgfältig geprüft und angesichts des Risikos, in großer Zahl Krankheitserreger in die Union einzuschleppen, die Einfuhr von Eiern vorgezogen werden sollte. Sie empfahl ferner, eine regelmäßige Bewertung des Risikos einer Einschleppung von Infektionskrankheiten vorzunehmen, um hochgefährdete Gebiete und Länder und hochgefährdete Arten identifizieren zu können, da diese mit der Zeit variierten.
Zur Verordnung (EG) Nr. 318/2007
16 Am 23. März 2007 erließ die Kommission die Verordnung (EG) Nr. 318/2007 zur Festlegung der Veterinärbedingungen für die Einfuhr bestimmter Vogelarten in die Gemeinschaft sowie der dafür geltenden Quarantänebedingungen (ABl. L 84, S. 7). Rechtsgrundlage dieser Verordnung waren insbesondere Art. 10 Abs. 3 Unterabs. 2 und Abs. 4 Unterabs. 1 der Richtlinie 91/496 sowie Art. 17 Abs. 2 Buchst. b und Abs. 3 und Art. 18 Abs. 1 erster und vierter Gedankenstrich der Richtlinie 92/65. Die genannte Verordnung trat nach ihrem Art. 20 am 1. Juli 2007 in Kraft
17 Die Erwägungsgründe 4, 5 und 8 bis 10 der Verordnung Nr. 318/2007 sehen vor:
18 Art. 1 („Gegenstand“) der Verordnung Nr. 318/2007 sieht vor:
„Die vorliegende Verordnung dient der Festlegung der Veterinärbedingungen für die Einfuhr bestimmter Vogelarten aus den in Anhang I aufgeführten Drittländern und Drittlandgebieten in die [Union] sowie der dafür geltenden Quarantänebedingungen.“
19 Die Verordnung Nr. 318/2007 gilt gemäß ihrem Art. 2 („Anwendungsbereich“) für Tiere von Vogelarten, nicht jedoch für u. a. Geflügel.
20 Art. 4 („Zugelassene Zuchtbetriebe“) der Verordnung Nr. 318/2007 sieht im Wesentlichen vor, dass die Einfuhr von Vögeln aus von der zuständigen Behörde des Herkunftsdrittlands zugelassenen Zuchtbetrieben unter der Voraussetzung gestattet ist, dass diese Behörde die in Anhang II dieser Verordnung festgelegten Zulassungsbedingungen erfüllt und dass die Zulassungsnummer der Kommission von dieser Behörde gemeldet wurde.
21 In Art. 5 („Einfuhrbedingungen“) der geänderten Verordnung Nr. 318/2007 heißt es:
„Die Einfuhr von Vögeln ist nur dann gestattet, wenn diese folgende Voraussetzungen erfüllen:
a)
[D]ie Vögel wurden in Gefangenschaft gezüchtet [definiert in Art. 3 Buchst. c dieser Verordnung als ‚Vögel, die nicht als Wildvögel gefangen wurden, sondern in Gefangenschaft geboren und aufgezogen wurden und von Elterntieren stammen, die sich in Gefangenschaft gepaart haben oder denen auf andere Weise in Gefangenschaft Gameten übertragen wurden‘];
b)
die Vögel müssen aus den in Anhang I aufgeführten Drittländern oder Drittlandgebieten stammen;
ba)
die Vögel stammen aus zugelassenen Zuchtbetrieben, die die Voraussetzungen des Artikels 4 erfüllen;
c)
die Vögel wurden 7 bis 14 Tage vor dem Versand einer Laboruntersuchung auf das Virus der Aviären Influenza und der Newcastle-Krankheit mit negativen Ergebnissen unterzogen;
d)
die Vögel wurden nicht gegen Aviäre Influenza geimpft;
e)
den Vögeln liegt eine Veterinärbescheinigung nach dem Muster in Anhang III bei (im Folgenden ‚Veterinärbescheinigung‘ genannt);
f)
die Vögel sind durch eine individuelle Identifikationsnummer … gekennzeichnet …“
22 Art. 11 („Quarantänevorschriften“) Abs. 1 der Verordnung Nr. 318/2007 sieht vor:
„Die Vögel müssen mindestens 30 Tage in einer zugelassenen Quarantäneeinrichtung oder ‑station unter Quarantäne gestellt werden (‚Quarantäne‘).“
23 Anhang I („Liste der Drittländer, welche die Veterinärbescheinigung gemäß Anhang III verwenden dürfen“) der Verordnung Nr. 318/2007 lautet:
24 Die in Anhang I der Verordnung Nr. 318/2007 erwähnte Entscheidung 2006/696/EG der Kommission vom 28. August 2006 zur Erstellung der Liste von Drittländern, aus denen die Einfuhr von Hausgeflügel, Bruteiern und Eintagsküken, von Fleisch von Hausgeflügel, Laufvögeln und Wildgeflügel sowie von Eiern, Eiprodukten und spezifiziert pathogenfreien Eiern in die Gemeinschaft und die Durchfuhr dieser Tiere und Erzeugnisse durch die Gemeinschaft zugelassen ist, zur Festlegung der diesbezüglichen Veterinärbescheinigungen und zur Änderung der Entscheidungen 93/342/EWG, 2000/585/EG und 2003/812/EG (ABl. L 295, S. 1) ist durch die mehrfach geänderte Verordnung [EG] Nr. 798/2008 der Kommission vom 8. August 2008 zur Erstellung einer Liste von Drittländern, Gebieten, Zonen und Kompartimenten, aus denen die Einfuhr von Geflügel und Geflügelerzeugnissen in die Gemeinschaft und ihre Durchfuhr durch die Gemeinschaft zugelassen ist, und zur Festlegung der diesbezüglichen Veterinärbescheinigungen (ABl. L 226, S. 1) aufgehoben und ersetzt worden.
Zum EFSA-Gutachten von 2008
25 Auf ein Ersuchen der Kommission aus dem Jahr 2007 hin gab die EFSA am 7. Mai 2008 ein Gutachten ab über Tiergesundheits‑ und Tierschutzaspekte der Aviären Influenza und das Risiko ihrer Einschleppung in Geflügelbetriebe in der Europäischen Union (The EFSA Journal [2008] 715, S. 1 bis 161, im Folgenden: EFSA-Gutachten von 2008). Die Kommission hatte die EFSA beauftragt, die wesentlichen Schlussfolgerungen und Empfehlungen von früheren EFSA-Stellungnahmen zu konsolidieren und im Licht neuerer wissenschaftlicher Beweise das Risiko der Übertragung von Vogelgrippe auf europäische Geflügelfarmen neu zu bewerten. Angesichts des Erlasses der Verordnung Nr. 308/2007 wurde das Risiko der Einschleppung von GPAI‑ und HPAI-Viren durch nunmehr verbotene Einfuhren von Wildvögeln nicht nochmals spezifisch geprüft.
26 Zunächst wies die EFSA darauf hin, dass nach den in den Mitgliedstaaten der Union durchgeführten Analysen sämtliche seit 2006 bei Geflügel und Wildvögeln festgestellten Virenstämme eng miteinander verwandt seien. Hinsichtlich der Pathogenese und der Übertragung stellte sie fest, das H5N1-Virus könne bei Wildvögelpopulationen eine erhebliche Mortalität zur Folge haben, und experimentelle Studien hätten gezeigt, dass einige Arten sogar ohne klinische Symptome infiziert werden könnten.
27 Was die Gefahr einer Übertragung der Aviären Influenza durch Wildvögel angehe, seien diese Vögel an der Übertragung in Asien, im Mittleren Osten, Europa und Afrika beteiligt gewesen. Seit dem EFSA-Gutachten von 2006 seien zwar verhältnismäßig wenige Arten zu Versuchszwecken infiziert worden, doch seien an dieser Übertragung mehr Arten von Wildvögeln beteiligt gewesen als ursprünglich angenommen, insbesondere durch die Verbreitung infizierter Exkremente, sei es vor Auftreten der Symptome oder sogar ganz ohne Symptome. In Anbetracht der Zahl der bei Wildvögeln in der Zeit von 2006 bis 2008 festgestellten H5N1-Virusinfektionen sei die Gefahr einer HPAI-Übertragung durch Wildvögel offenbar als ein regelmäßiger und nicht als ein sehr seltener oder sehr häufiger Fall anzusehen. Es sei nicht auszuschließen, dass dieses Virus bei Wildvögelpopulationen seit 2006 konstant auftrete, denn es könne sich auf einem nicht nachweisbaren Niveau verbreiten. Es bestehe daher die „anhaltende“ Gefahr von Infektionen europäischen Geflügels durch infizierte Wildvögel.
28 Hinsichtlich der Gefahr einer Übertragung der Aviären Influenza durch die Einfuhr von Wildvögeln aus Drittländern stellte die EFSA Folgendes fest:
Zur Durchführungsverordnung (EU) Nr. 139/2013
29 Die Durchführungsverordnung (EU) Nr. 139/2013 der Kommission vom 7. Januar 2013 zur Festlegung der Veterinärbedingungen für die Einfuhr bestimmter Vogelarten in die Union sowie der dafür geltenden Quarantänebedingungen (ABl. L 47, S. 1) trat am 12. März 2013 in Kraft.
30 Die Durchführungsverordnung Nr. 139/2013, die die Verordnung Nr. 318/2007 ersetzt hat, stellt gemäß ihrem ersten Erwägungsgrund eine „Kodifizierung“ der letztgenannten Verordnung dar. Die Erwägungsgründe 4, 5 und 8 bis 10 der Verordnung Nr. 318/2007 wurden so zu den Erwägungsgründen 3 bis 7 der Durchführungsverordnung Nr. 139/2013. Die Nummerierung der Artikel blieb unverändert. Anhang I der Durchführungsverordnung Nr. 139/2013 verweist jetzt auf die in der Verordnung Nr. 798/2008 aufgestellte Liste der Drittländer (siehe oben, Rn. 24), unter Hinzufügung Argentiniens und einer Region der Philippinen.
Zum Urteil ATC u. a./Kommission von 2013
31 In seinem Urteil vom 16. September 2013, ATC u. a./Kommission (T‑333/10, Slg, im Folgenden: Urteil ATC u. a., EU:T:2013:451), hat das Gericht (Erste Kammer) durch Zwischenurteil für Recht erkannt und entschieden, dass die Kommission mit dem Erlass der Entscheidung 2005/760 und der nachfolgenden Entscheidungen zur Verlängerung dieser ersten Entscheidung mehrere Rechtsverstöße in Form von Verstößen gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und der Sorgfaltspflicht begangen hat, die geeignet sind, die Haftung der Union für die Schäden auszulösen, die die Kläger aufgrund der Aussetzung der Einfuhren von Wildvögeln aus Drittländern erlitten hatten, die den Regionalkommissionen des Internationalen Tierseuchenamts (OIE, jetzt Weltorganisation für Tiergesundheit) angehören (Urteil ATC u. a., EU:T:2013:451, Rn. 193).
32 Im Übrigen hat das Gericht die Klage abgewiesen, d. h., es hat in Bezug auf die Verordnung Nr. 318/2007 festgestellt, dass die Kommission mit dem Erlass dieser Verordnung im Hinblick auf die von den Klägern in der betreffenden Rechtssache geltend gemachten Rügen keinen hinreichend qualifizierten Verstoß gegen eine den Einzelnen schützende Rechtsnorm begangen hat, der geeignet wäre, die Haftung der Union auszulösen (Urteil ATC u. a., oben in Rn. 31 angeführt, EU:T:2013:451, Rn. 192). Hinsichtlich der Rechtmäßigkeit der Verordnung Nr. 318/2007 hat das Gericht festgestellt, dass die Kläger mit ihren Rügen keinen Verstoß gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gerade wegen der geografischen Reichweite des Einfuhrverbots für Wildvögel geltend machen, so dass es mit dieser Frage nicht befasst war und sich, um nicht ultra petita zu entscheiden, zu dieser Frage nicht zu äußern brauchte (Urteil ATC u. a., oben in Rn. 31 angeführt, EU:T:2013:451, Rn. 149 und 165).
33 In dem Beschluss vom 17. September 2014, ATC u. a./Kommission (T‑333/10, EU:T:2014:842), hat das Gericht (Achte Kammer) unter Berücksichtigung der von den Parteien erzielten Vereinbarung über die Höhe des den betreffenden Klägern wegen der Rechtswidrigkeit der Entscheidung 2005/760 und der entsprechenden Verlängerungsentscheidungen zu leistenden Schadensersatzes festgestellt, dass dieser Rechtsstreit in der Hauptsache erledigt ist.
Zum EFSA-Gutachten von 2014
34 Am 15. Dezember 2014 gab die EFSA auf ein erneutes Ersuchen der Kommission aus demselben Jahr hin ein Gutachten über den Subtyp H5N8 der hoch pathogenen Aviären Influenza ab (The EFSA Journal 2014;12(12):3941, S. 32, im Folgenden: EFSA-Gutachten von 2014).
35 In diesem neuen Gutachten wies die EFSA darauf hin, dass auf Geflügelfarmen in Asien und Europa seit Januar bzw. November 2014 Fälle aufgetaucht seien, in denen Geflügel vom H5N8-Virus infiziert worden sei. Die Herkunft des Virus sei zwar noch unklar, doch kämen für die Kontamination verschiedene Annahmen in Betracht, wie die mittelbare Übertragung durch den Menschen, durch Fahrzeuge oder lebende Tiere. Von diesen Annahmen sei ein unmittelbarer Kontakt mit Wildvögeln auf den Farmen nicht gerade die plausibelste. Angesichts der für einige Wildvögelarten offensichtlich geringen Pathogenität dieses Virus sei es jedoch möglich, durch eine stärkere aktive und passive Beobachtung dieser Vögel, lebend oder tot, das Risiko einer Übertragung auf Hausgeflügel besser zu verstehen und die Entwicklung gezielter Maßnahmen zu fördern. Außerdem berichtete die EFSA, dass dieses Virus bei Wildvögelpopulationen in Deutschland und in den Niederlanden festgestellt worden sei.
Verfahren und Anträge der Parteien
36 Die Kläger haben mit Klageschrift, die am 18. Dezember 2014 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangen ist, die vorliegende Schadensersatzklage erhoben.
37 Die Kläger beantragen,
—
die Kommission zum Ersatz des Schadens zu verurteilen, der ihnen durch Erlass des in der Verordnung Nr. 318/2007 und/oder durch Erlass des in der Durchführungsverordnung Nr. 139/2013 enthaltenen, nahezu weltweit geltenden Einfuhrverbots für gefangene Wildvögel in die Union seit dem 1. Januar 2010 bis heute entstanden ist;
—
der Kommission die Kosten aufzuerlegen.
38 Die Kommission beantragt,
—
die Klage abzuweisen;
—
den Klägern die Kosten aufzuerlegen.
Rechtliche Würdigung
39 Nach Art. 340 Abs. 2 AEUV ersetzt die Union im Bereich der außervertraglichen Haftung den durch ihre Organe oder Bediensteten in Ausübung ihrer Amtstätigkeit verursachten Schaden nach den allgemeinen Rechtsgrundsätzen, die den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten gemeinsam sind.
40 Nach ständiger Rechtsprechung wird die außervertragliche Haftung der Union im Sinne von Art. 340 Abs. 2 AEUV für ein rechtswidriges Verhalten ihrer Organe oder Einrichtungen nur dann ausgelöst, wenn mehrere kumulative Voraussetzungen erfüllt sind, und zwar muss das dem Organ oder der Einrichtung der Union vorgeworfene Verhalten rechtswidrig sein, es muss ein Schaden entstanden sein, und zwischen dem behaupteten Verhalten und dem geltend gemachten Schaden muss ein Kausalzusammenhang bestehen (vgl. Urteil ATC u. a., oben in Rn. 31 angeführt, EU:T:2013:451, Rn. 61 und die dort angeführte Rechtsprechung).
41 Insbesondere in Bezug auf die erste Voraussetzung, die sich auf das dem betreffenden Organ oder der betreffenden Einrichtung vorgeworfene rechtswidrige Verhalten bezieht, verlangt die Rechtsprechung den Nachweis eines hinreichend qualifizierten Verstoßes gegen eine Rechtsnorm, die bezweckt, dem Einzelnen Rechte zu verleihen. Das entscheidende Kriterium für die Beurteilung der Frage, ob ein Verstoß hinreichend qualifiziert ist, besteht darin, ob das betreffende Organ oder die betreffende Einrichtung der Union die Grenzen, die seinem bzw. ihrem Ermessen gesetzt sind, offenkundig und erheblich überschritten hat. Nur wenn dieses Organ oder diese Einrichtung lediglich über einen erheblich verringerten oder gar auf null reduzierten Ermessensspielraum verfügt, kann die bloße Verletzung des Unionsrechts ausreichen, um einen hinreichend qualifizierten Verstoß anzunehmen (vgl. Urteil ATC u. a., oben in Rn. 31 angeführt, EU:T:2013:451, Rn. 62 und die dort angeführte Rechtsprechung).
42 Zur Anwendung des Kriteriums des hinreichend qualifizierten Verstoßes im Kontext der vorliegenden Rechtssache ist festzustellen, dass ein etwaiger hinreichend qualifizierter Verstoß gegen die in Rede stehenden Rechtsnormen auf einer offenkundigen und erheblichen Überschreitung der Grenzen des weiten Ermessens beruhen muss, über das der Unionsgesetzgeber bei der Ausübung der Befugnisse im Bereich der Gemeinsamen Agrarpolitik gemäß Art. 43 AEUV verfügt. Bei der Ausübung dieses Ermessens geht es nämlich darum, dass der Unionsgesetzgeber komplexe und ungewisse ökologische, wissenschaftliche, technische und wirtschaftliche Entwicklungen vorhersehen und bewerten muss (vgl. in diesem Sinne Urteil ATC u. a., oben in Rn. 31 angeführt, EU:T:2013:451, Rn. 64 und die dort angeführte Rechtsprechung). Studien und wissenschaftliche Gutachten sind zwar von den Einrichtungen der Union zu berücksichtigen, doch steht es diesen Einrichtungen und nicht den Wissenschaftlern zu, das für die Gesellschaft angemessene Schutzniveau festzulegen (Urteil vom 12. April 2013, Du Pont de Nemours [Frankreich] u. a./Kommission, T‑31/07, EU:T:2013:167, Rn. 270).
43 Im Übrigen ist darauf hinzuweisen, dass mit dem Erfordernis eines hinreichend qualifizierten Verstoßes gegen das Unionsrecht unabhängig von der Natur der beanstandeten rechtswidrigen Handlung verhindert werden soll, dass durch das Risiko, die von den betroffenen Unternehmen behaupteten Schäden tragen zu müssen, die Fähigkeit des fraglichen Organs eingeschränkt wird, seine Befugnisse im Rahmen seiner normativen oder seiner wirtschaftliche Entscheidungen einschließenden Tätigkeit wie auch in der Sphäre seiner Verwaltungszuständigkeit in vollem Umfang im Allgemeininteresse auszuüben, ohne dass dabei allerdings die Folgen offenkundiger und unentschuldbarer Pflichtverletzungen Dritten aufgebürdet werden (vgl. Urteil ATC u. a., oben in Rn. 31 angeführt, EU:T:2013:451, Rn. 65 und die dort angeführte Rechtsprechung).
44 Im vorliegenden Fall machen die Kläger im Wesentlichen geltend, die Kommission habe einen hinreichend qualifizierten Verstoß gegen bestimmte Rechtsnormen begangen, die bezweckten, ihnen Rechte zu verleihen, wodurch ihnen ein tatsächlicher und sicherer Schaden entstanden sei, indem sie mit dem Erlass der Verordnung Nr. 318/2007 und der Durchführungsverordnung Nr. 139/2013 „de facto“ ein nahezu weltweit geltendes Einfuhrverbot für gefangene Wildvögel verankert habe.
45 Dazu ist festzustellen, dass die Kläger die Rechtswidrigkeit der Verordnung Nr. 318/2007 und der Durchführungsverordnung Nr. 139/2013 insgesamt geltend machen, ohne die konkreten Vorschriften anzugeben, aus denen sich ein Einfuhrverbot für gefangene Wildvögel in die Union ergeben soll. Nach Ansicht des Gerichts ist jedoch das Vorbringen der Kläger genügend klar, um es der Kommission und dem Unionsrichter zu ermöglichen, die genannten Vorschriften ohne Schwierigkeiten festzustellen (vgl. in diesem Zusammenhang Urteil vom 10. Mai 2006, Galileo International Technology u. a./Kommission, T‑279/03, Slg, EU:T:2006:121, Rn. 47).
46 Zunächst ist das Vorliegen eines rechtswidrigen Verhaltens der Kommission im Hinblick auf die oben in den Rn. 39 bis 43 dargelegten Grundsätze zu prüfen.
Zum Vorliegen eines rechtswidrigen Verhaltens
47 Um das Vorliegen eines rechtswidrigen Verhaltens der Kommission darzutun, machen die Kläger im Wesentlichen drei Klagegründe geltend: erstens eine qualifizierte Verletzung der unternehmerischen Freiheit, der Berufsfreiheit und des Eigentumsrechts, wie sie in den Art. 15 bis 17 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union verankert sind, zweitens einen qualifizierten Verstoß gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und drittens einen qualifizierten Verstoß gegen das Sorgfaltsprinzip.
48 Das Gericht hält es für zweckmäßig, den zweiten und den dritten Klagegrund vor dem ersten zu prüfen.
Zweiter Klagegrund: qualifizierter Verstoß gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit
49 Mit ihrem zweiten Klagegrund machen die Kläger geltend, die Kommission habe dadurch, dass sie die Verordnung Nr. 318/2007 und die Durchführungsverordnung Nr. 139/2013 erlassen und aufrechterhalten habe, in qualifizierter Weise gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verstoßen. Dazu tragen sie drei Rügen vor: Erstens sei die geografische Reichweite des Einfuhrverbots für gefangene Wildvögel in die Union zu weitgehend und verstoße dadurch auch gegen das Vorsorgeprinzip, zweitens sei eine Quarantänelösung als milderes Mittel zur Bekämpfung der Aviären Influenza nicht angewandt worden, und drittens seien die Zugvögel nicht einem intensiveren Monitoring als wirksameres Mittel zu dieser Bekämpfung unterzogen worden.
50 Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, der zu den allgemeinen Grundsätzen des Unionsrechts gehört und in Art. 5 Abs. 4 EUV verankert ist, die Handlungen der Unionsorgane nicht die Grenzen dessen überschreiten dürfen, was zur Erreichung der mit der fraglichen Regelung zulässigerweise verfolgten Ziele geeignet und erforderlich ist, wobei, wenn mehrere geeignete Maßnahmen zur Auswahl stehen, die am wenigsten belastende zu wählen ist und die dadurch bedingten Nachteile in angemessenem Verhältnis zu den angestrebten Zielen stehen müssen. Was die gerichtliche Kontrolle der Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit betrifft, kann aufgrund des weiten Ermessens, über das der Unionsgesetzgeber im Bereich der gemeinsamen Agrarpolitik verfügt, die Rechtmäßigkeit einer in diesem Bereich erlassenen Maßnahme nur dann beeinträchtigt sein, wenn diese Maßnahme zur Erreichung des von dem zuständigen Organ verfolgten Ziels offensichtlich ungeeignet ist. Es geht somit nicht darum, ob die vom Unionsgesetzgeber erlassenen Maßnahmen die einzig möglichen oder die bestmöglichen Maßnahmen sind, sondern darum, ob sie zur Erreichung des verfolgten Ziels offensichtlich ungeeignet sind oder nicht (vgl. Urteil ATC u. a., oben in Rn. 31 angeführt, EU:T:2013:451, Rn. 98 und 99 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).
51 Des Weiteren ist darauf hinzuweisen, dass der Vorsorgegrundsatz einen allgemeinen Grundsatz des Unionsrechts darstellt, der sich aus Art. 11 AEUV, Art. 168 Abs. 1 AEUV, Art. 169 Abs. 1 und 2 AEUV sowie Art. 191 Abs. 1 und 2 AEUV ergibt und der die betroffenen Behörden verpflichtet, im genauen Rahmen der Ausübung der ihnen durch die einschlägige Regelung zugewiesenen Befugnisse geeignete Maßnahmen zu treffen, um bestimmte potenzielle Risiken für die Gesundheit der Bevölkerung, die Sicherheit und die Umwelt auszuschließen, indem sie den mit dem Schutz dieser Interessen verbundenen Erfordernissen Vorrang vor wirtschaftlichen Interessen einräumen. Daher können die Organe, wenn wissenschaftliche Ungewissheiten bezüglich der Existenz oder des Umfangs von Risiken für die menschliche Gesundheit bestehen, nach dem Vorsorgegrundsatz Schutzmaßnahmen treffen, ohne abwarten zu müssen, bis das tatsächliche Vorliegen und die Schwere dieser Risiken in vollem Umfang nachgewiesen sind oder bis die nachteiligen Wirkungen für die Gesundheit eintreten. Wenn es sich als unmöglich erweist, das Bestehen oder den Umfang des behaupteten Risikos mit Sicherheit festzustellen, weil die Ergebnisse der durchgeführten Studien unzureichend, nicht schlüssig oder ungenau sind, die Wahrscheinlichkeit eines tatsächlichen Schadens für die öffentliche Gesundheit jedoch fortbesteht, falls das Risiko eintritt, rechtfertigt das Vorsorgeprinzip darüber hinaus den Erlass beschränkender Maßnahmen, wenn sie objektiv und nicht diskriminierend sind (vgl. in diesem Sinne Urteil ATC u. a., oben in Rn. 31 angeführt, EU:T:2013:451, Rn. 79 bis 81 und die dort angeführte Rechtsprechung).
52 Im vorliegenden Fall steht zunächst fest, dass das mit der Verordnung Nr. 318/2007 und der Durchführungsverordnung Nr. 139/2013 angestrebte Ziel, Veterinärbedingungen festzulegen, einen Bezug zum Schutz der Gesundheit von Mensch und Tier aufweist und dass dieses Ziel legitim ist.
– Erste Rüge: Die geografische Reichweite des Einfuhrverbots für gefangene Wildvögel geht zu weit
53 Mit ihrer ersten Rüge machen die Kläger geltend, die geografische Reichweite der Verordnung Nr. 318/2007 und der Durchführungsverordnung Nr. 139/2013 gehe zu weit, da diese Verordnungen für gefangene Wildvögel weltweit ein „absolutes Handelsverbot“ festschrieben, obwohl nach den seit 2010 gefestigten wissenschaftlichen Kenntnissen, insbesondere der OIE, einige Drittländer, vor allem in Südamerika und in Ozeanien, von der Aviären Influenza unberührt geblieben seien. Die Kläger tragen, hauptsächlich gestützt auf das Urteil ATC u. a. (oben in Rn. 31 angeführt, EU:T:2013:451), vor, dass der Verstoß gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit aufgrund der zu weitgehenden geografischen Reichweite des Einfuhrverbots für gefangene Wildvögel in die Union im Hinblick auf die genannten Verordnungen genauso beurteilt werden müsse wie in dem genannten Urteil des Gerichts hinsichtlich der Entscheidung 2005/760 und der Verlängerung der ergriffenen Maßnahmen (siehe oben, Rn. 8 und 9).
54 Im Übrigen hätten die Verordnung Nr. 318/2007 und die Durchführungsverordnung Nr. 139/2013 gemäß ihren Rechtsgrundlagen – den Richtlinien 91/496 und 92/65 – nicht, wie von der Kommission behauptet, gleichwertige Garantien in Drittländern zum Ziel, sondern das Vorsorgeprinzip und den Schutz der Gesundheit von Mensch und Tier vor einer Kontamination durch den Vogelgrippe-Virus. Aufgrund dieser Ziele des Gesundheitsschutzes dürfe nicht jeglicher räumliche Bezug und jede Gefahr einer Übertragung aus einem Drittland unter Hinweis auf eine undifferenzierte weltweite Verbreitung der Viren völlig außer Acht gelassen werden. Vielmehr sei nur eine Regelung, die die unterschiedliche Gefährdungslage in den jeweiligen Ländern und Kontinenten berücksichtige, mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und dem Vorsorgeprinzip vereinbar.
55 Die Kommission tritt dem Vorbringen der Kläger entgegen.
56 Im vorliegenden Fall ist an erster Stelle die rechtliche Bedeutung der in dem oben in Rn. 31 erwähnten Urteil ATC u. a. (EU:T:2013:451) festgestellten Rechtsverstöße näher zu bestimmen. An zweiter Stelle ist die Rechtmäßigkeit einer Regelung, die für die Einfuhr von Vögeln in die Union insbesondere auf die Züchtung in Gefangenschaft und auf ihre Herkunft aus Drittländern, die gleichwertige Garantien wie die in der Union geltenden geben können, abstellt, im Hinblick auf den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und das Vorsorgeprinzip zu prüfen. An dritter Stelle ist im vorliegenden Fall die Verhältnismäßigkeit der geografischen Reichweite des Einfuhrverbots für gefangene Wildvögel in die Union zu untersuchen, wie es sich insbesondere aus Art. 5 der Verordnung Nr. 318/2007 und der Durchführungsverordnung Nr. 139/2013 in Verbindung mit deren Art. 3 Buchst. c ergibt (siehe oben, Rn. 21 und 45).
57 An erster Stelle ist in Bezug auf die rechtliche Bedeutung der in dem oben in Rn. 31 erwähnten Urteil ATC u. a. (EU:T:2013:451) festgestellten Rechtsverstöße darauf hinzuweisen, dass sich das Gericht in diesem Urteil, was die Rechtmäßigkeit der Verordnung Nr. 318/2007 angeht, nicht zu einem etwaigen Verstoß gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit durch eine zu weitgehende geografische Reichweite des Einfuhrverbots für gefangene Wildvögel in die Union geäußert hat (siehe oben, Rn. 32).
58 Außerdem ist darauf hinzuweisen, dass es sich bei den Maßnahmen, die das Gericht in dem oben in Rn. 31 erwähnten Urteil ATC u. a. (EU:T:2013:451) wegen ihrer zu weitgehenden geografischen Reichweite für unverhältnismäßig und rechtswidrig erklärt hat, d. h. die in der Entscheidung 2005/760 vorgesehenen und in der Folge verlängerten Maßnahmen, um Schutzmaßnahmen nach Art. 18 Abs. 1 der Richtlinie 91/496 handelte.
59 Die Anwendung von Art. 18 Abs. 1 der Richtlinie 91/496 setzt jedoch u. a. voraus, dass „es im Gebiet eines Drittlandes zum Ausbruch oder zur Ausbreitung einer … Krankheit oder zu einer Zoonose [kommt] oder [dass] die Gefahr [besteht], dass die Tiere oder die menschliche Gesundheit aufgrund einer Krankheit oder aus einem anderen Grund ernsthaft gefährdet werden könnten“. In diesem Fall hat die Kommission unverzüglich entweder die „Aussetzung der Einfuhren aus dem gesamten Gebiet oder einem Teilgebiet des betreffenden Drittlandes und gegebenenfalls des Durchfuhrlandes [oder die] Festlegung besonderer Bedingungen für die Tiere aus dem gesamten Gebiet oder einem Teilgebiet des betreffenden Drittlandes“ zu verfügen. Diese Vorschrift bezieht sich demnach auf ein bestimmtes Drittland, in dem es anerkanntermaßen eine Gefahr für die Gesundheit gibt. Das Gericht hat daraus in dem oben in Rn. 31 erwähnten Urteil ATC u. a. (EU:T:2013:451) geschlossen, dass die fraglichen Sicherungsmaßnahmen einen hinreichend unmittelbaren Bezug zum „gesamten Gebiet oder einem Teilgebiet des betreffenden Drittlandes“ im Sinne der genannten Vorschrift haben müssen (Urteil ATC u. a., oben in Rn. 31 angeführt, EU:T:2013:451, Rn. 86).
60 Die Rechtsgrundlagen, auf die sich die Verordnung Nr. 318/2007 und die Durchführungsverordnung Nr. 139/2013 stützen, die im vorliegenden Fall einschlägig sind, enthalten hingegen keine Bezugnahme auf ein bestimmtes Drittland, in dem es anerkanntermaßen eine Gefahr für die Gesundheit gibt. Art. 17 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 92/65 ermächtigt die Kommission vielmehr, die allgemeinen Gesundheitsvorschriften zu erlassen, um sicherzustellen, dass die Einfuhren ausschließlich aus Drittländern kommen, die „in der Lage sind, den Mitgliedstaaten und der Kommission Garantien zu bieten, die den in Kapitel II für Tiere, Samen, Eizellen und Embryonen vorgesehenen Garantien gleichwertig sind“. Außerdem werden in Art. 17 Abs. 3 Buchst. c dieser Richtlinie zwar „die besonderen tierseuchenrechtlichen Anforderungen, vor allem zum Schutz der [Union] vor bestimmten exotischen Krankheiten, oder Garantien, die denen, die in dieser Richtlinie vorgesehen sind, gleichwertig sind“, erwähnt, doch sieht auch diese Vorschrift nur allgemeine Anforderungen geografischer Art vor, ohne auf ein bestimmtes Drittland Bezug zu nehmen. Auch in den übrigen Rechtsgrundlagen der genannten Verordnungen – Art. 18 Abs. 1 erster und vierter Gedankenstrich der Richtlinie 92/65 und Art. 10 Abs. 3 Unterabs. 2 und Abs. 4 Unterabs. 1 der Richtlinie 91/496 – wird nicht auf ein bestimmtes Drittland hingewiesen.
61 Die Verordnung Nr. 318/2007 und die Durchführungsverordnung Nr. 139/2013 stellen also keine Schutzmaßnahmen dar, sondern sehen gemäß ihren Rechtsgrundlagen für alle Drittländer allgemeine Gesundheitsvorschriften für die Einfuhr von Tieren in die Union vor.
62 Die vom Gericht im Urteil ATC u. a. (oben in Rn. 31 angeführt, EU:T:2013:451) getroffenen Feststellungen zur Rechtswidrigkeit sind demnach in dem besonderen Rahmen von Schutzmaßnahmen zu sehen und nicht ohne Weiteres auf die Verordnung Nr. 318/2007 und die Durchführungsverordnung Nr. 139/2013 übertragbar.
63 An zweiter Stelle ist hinsichtlich der Rechtmäßigkeit im Licht des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit und des Vorsorgeprinzips einer Regelung, die für die Einfuhr von Vögeln in die Union insbesondere vorsieht, dass sie in Gefangenschaft gezüchtet worden und aus Drittländern stammen müssen, die gleichwertige Garantien wie die in der Union geltenden geben können, zunächst festzustellen, dass ein Drittland gemäß Anhang II Kapitel 1 der Verordnung Nr. 318/2007 und der Durchführungsverordnung Nr. 139/2013 in die nach Art. 17 Abs. 3 Buchst. c der Richtlinie 92/65 vorgesehene Liste aufgenommen werden kann, wenn als wesentliche Voraussetzung eine zweifache Garantie gegeben ist. Zum einen muss das Herkunftsland über ein funktionierendes Veterinärsystem mit kompetenten Laboratorien verfügen, und zum anderen müssen die in die Union eingeführten Tiere von einem im Herkunftsland zugelassenen Zuchtbetrieb stammen und demzufolge dort in Gefangenschaft aufgezogen worden sein. Durch diese beiden Bedingungen soll eine engmaschige Überwachung von Tieren und eine rasche Durchführung von Seuchenbekämpfungsmaßnahmen sichergestellt werden.
64 In diesem Zusammenhang ist daran zu erinnern, dass das Gericht im Urteil ATC u. a. (oben in Rn. 31 angeführt, EU:T:2013:451) festgestellt hat, dass die Regelung, mit der die tierseuchenrechtlichen Bedingungen für den Handel mit und die Einfuhren von Tieren in die Union festgelegt werden und die u. a. durch die Richtlinie 92/65, insbesondere ihren Art. 17 Abs. 2 und 3 sowie ihren Art. 18 Abs. 1 erster und vierter Gedankenstrich, auf die die Verordnung Nr. 318/2007 gestützt wird, eingeführt worden ist, auf dem Grundsatz einer vorherigen Genehmigung beruht. Nach diesem Grundsatz ist jede Einfuhr von Tieren aus Drittländern aus tierseuchenrechtlichen und präventiven Gründen grundsätzlich verboten und nur vorbehaltlich einer mit der Erfüllung von Förmlichkeiten und der Durchführung obligatorischer Vorabkontrollen verknüpften ausdrücklichen Genehmigung erlaubt. Das hat zur Erstellung einer Liste von Drittländern geführt, aus denen die Einfuhr gestattet ist (vgl. in diesem Sinne Urteil ATC u. a., oben in Rn. 31 angeführt, EU:T:2013:451, Rn. 140 und 141). Auf der Grundlage von Art. 17 Abs. 2 der Richtlinie 92/65 ist die Kommission daher befugt, bestimmte Drittländer von dieser Liste auszuschließen oder zu streichen, was zur Folge hat, dass jede Einfuhr von Tieren aus den genannten Ländern automatisch verboten ist (Urteil ATC u. a., oben in Rn. 31 angeführt, EU:T:2013:451, Rn. 142 und 143).
65 Die Kommission verfügt beim Erlass „tierseuchenrechtliche[r] Vorschriften … für das Inverkehrbringen von … Tieren“ im Sinne des fünften Erwägungsgrundes der Richtlinie 92/65 über ein weites Ermessen, das zwangsläufig die Möglichkeit einschließt, die Einfuhr bestimmter Tierarten in die Union aus bestimmten Ländern, die die vorerwähnten Einfuhrbedingungen nicht erfüllen, nicht zu genehmigen (Urteil ATC u. a., oben in Rn. 31 angeführt, EU:T:2013:451, Rn. 146). Außerdem wird gemäß Art. 17 Abs. 3 Buchst. c der Richtlinie 92/65, der die Befugnis der Kommission zur Festlegung der „besonderen tierseuchenrechtlichen Bedingungen – insbesondere zum Schutz der [Union] gegen bestimmte exotische Krankheiten –“ erwähnt, dem Schutz- und Präventionszweck Genüge getan, der dem Vorsorgeprinzip innewohnt, bei dessen Umsetzung die Kommission in diesem Zusammenhang über ein weites Ermessen verfügt (vgl. in diesem Sinne Urteil ATC u. a., oben in Rn. 31 angeführt, EU:T:2013:451, Rn. 147).
66 So hat das Gericht im Urteil ATC u. a. (oben in Rn. 31 angeführt, EU:T:2013:451) im Wesentlichen festgestellt, dass eine Regelung wie die in der Verordnung Nr. 318/2007 enthaltene, die die Einfuhr von Vögeln in die Union von der Bedingung abhängig macht, dass sie aus Drittländern stammen, die gleichwertige Garantien wie die in der Union geltenden geben können, mit dem Zweck und den Anforderungen der Richtlinie 92/65 sowie mit dem Vorsorgeprinzip im Einklang steht, ohne unverhältnismäßig zu sein.
67 Unter den Umständen der vorliegenden Rechtssache gilt dieses grundsätzliche Ergebnis sowohl für die Verordnung Nr. 318/2007 als auch für die Durchführungsverordnung Nr. 139/2013, da Letztere eine „Kodifizierung“ der Verordnung Nr. 318/2007 darstellt und im Wesentlichen deren Inhalt wiedergibt (siehe oben, Rn. 30).
68 Im Übrigen ist festzustellen, dass das behauptete „absolute Einfuhrverbot“ für gefangene Wildvögel lediglich die logische Konsequenz der Anforderung ist, wonach die Tiere aus einem zugelassenen Zuchtbetrieb, in dem sie in Gefangenschaft aufgezogen wurden, und nicht aus ihrer natürlichen Umgebung stammen müssen.
69 Angesichts der Unsicherheiten hinsichtlich des Gesundheitszustands gefangener Wildvögel (vgl. in diesem Sinne Urteil ATC u. a., oben in Rn. 31 angeführt, EU:T:2013:451, Rn. 159) ergibt sich daher, dass das Erfordernis, wonach die Tiere aus einem zugelassenen Zuchtbetrieb stammen müssen, in dem sie in Gefangenschaft gezüchtet wurden, in Verbindung mit dem Erfordernis eines funktionierenden Veterinärsystems eine unerlässliche Voraussetzung für eine Seuchenüberwachung und eine vorbeugende Kontrolle im Herkunftsdrittland ist. Das setzt wiederum voraus, dass dieses Drittland gleichwertige Garantien wie die in der Union geltenden gibt und in die Liste der Drittländer aufgenommen wird, aus denen die Einfuhr von Tieren in die Union gestattet ist.
70 Der vorstehend in Rn. 64 beschriebene Grundsatz einer vorherigen Genehmigung, der auf den Rechtsgrundlagen der Verordnung Nr. 318/2007 und der Durchführungsverordnung Nr. 139/2013 sowie auf dem Vorsorgeprinzip beruht, ist daher gestützt auf den Erhalt von Garantien im Hinblick auf die Seuchenüberwachung von Vögeln anzuwenden, die in einem im Herkunftsdrittland zugelassenen Betrieb gezüchtet wurden, und nicht gestützt auf Vermutungen hinsichtlich der allgemeinen Gesundheitssituation in diesem Land. Insbesondere kann anhand dieser Garantien mit hinreichender wissenschaftlicher Gewissheit festgestellt werden, ob das fragliche Land unbeschadet seiner geografischen Lage und entsprechender Vermutungen seuchenfrei ist.
71 Da das behauptete „absolute Einfuhrverbot“ von gefangenen Wildvögeln in die Union die logische Konsequenz der Garantien ist, die nach dem Grundsatz der vorherigen Genehmigung in den Drittstaaten erforderlich sind, ergibt sich, dass die Kommission dadurch, dass sie in der Verordnung Nr. 318/2007 und der Durchführungsverordnung Nr. 139/2013 im Rahmen ihres weiten Ermessens (siehe oben, Rn. 42) derartige Garantien verlangt, keinen offensichtlichen Fehler und keinen qualifizierten Verstoß gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit oder gegen das Vorsorgeprinzip begangen hat.
72 An dritter Stelle ist in Bezug auf die Verhältnismäßigkeit der geografischen Reichweite des Einfuhrverbots für gefangene Wildvögel in die Union festzustellen, dass die Kommission nur dann ihr Ermessen hätte überschreiten und gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verstoßen können, wenn sie sich geweigert hätte, die Einfuhr derartiger Vögel aus Gebieten zuzulassen, die offensichtlich frei von Aviärer Influenza sind.
73 Gemäß den von den Parteien zu den Akten gegebenen wissenschaftlichen Daten kann die Aviäre Influenza jedoch bei Wildvögeln auf allen Kontinenten in Form der HPAI oder der GPAI auftreten.
74 Erstens heißt es in Art. 10.4.27 Abs. 2 des von der OIE erstellten Gesundheitskodex für Landtiere, 23. Ausgabe:
„Das Auftreten von Grippe-A-Viren bei Wildvögeln ist ein besonderes Problem. Im Grunde genommen kann sich [in Anbetracht der Grenzen, die für diese Vögel hinsichtlich der allgemeinen Mitteilungspflicht und des Informationsaustausches, wie er für Hausgeflügel vorgesehen ist, bestehen,] kein Mitgliedstaat von Grippe-A-Viren bei Wildvögeln frei erklären.“
75 Die OIE hat gemäß einer von der Kommission vorgelegten Mitteilung vom 19. Mai 2015 auch die Rolle von Wildvögeln als Reservoir und Überträger von Viren bei verschiedenen Epidemien der Aviären Influenza hervorgehoben, zugleich aber auch auf das Bestehen anderer Übertragungsfaktoren hingewiesen, insbesondere bei der Zucht von Geflügel ohne geeignete Vorsichtsmaßnahmen.
76 Zweitens ist festzustellen, dass das Virus der Aviären Influenza bereits in Südamerika und in Ozeanien aufgetreten ist und dort Wildvögel infiziert hat. Das gegenteilige Vorbringen der Kläger stützt sich auf ungenaue Karten der OIE, die sich nur auf beschränkte Zeiträume (2010, 2011 und 2013) und auf Dokumente beziehen, die lediglich das H5N1-Virus betreffen, obwohl die EFSA in ihren Gutachten von 2005, 2006 und 2008 die einzelnen Viren der Subtypen H5 und H7 geprüft hat.
77 Dazu ist zunächst darauf hinzuweisen, dass nach den von der Kommission vorgelegten wissenschaftlichen Daten, deren Zuverlässigkeit die Kläger nicht in Frage gestellt haben, die Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO) in ihrem Bericht über HPAI in Mexiko (Highly Pathogenic Avian Influenza in Mexico [H7N3], Empres Watch, Bd. 26, August 2012, S. 63 bis 71) bestätigt hat, dass das H7N3-Virus weltweit bei Wildvögeln anzutreffen ist. Dies hat sich gemäß der FAO bei einer in Nordamerika, Südamerika (insbesondere Peru) sowie in Europa und in Asien durchgeführten Kontrolle gezeigt, und den Beobachtungen zufolge sei die Migration der Wildvögel sowie der Kontakt mit Hausgeflügel am häufigsten ursächlich für die Einschleppung oder Verbreitung des Virus. Außerdem wurde gemäß einem von der Kommission vorgelegten wissenschaftlichen Artikel (Avian Influenza in wild birds from Chile, 2007-2009, Virus Research 199 [2015] S. 42 bis 45) das H5N9-Virus bei Wildvögeln zwischen 2007 und 2009 auch in Chile festgestellt. Auf der Homepage der OIE wird darauf hingewiesen, dass Epidemien des H7N7-Virus in den Jahren 2012 und 2013 auch aus Australien gemeldet wurden. Darüber hinaus wurden neue HPAI hervorrufende Viren, insbesondere das H5N8-Virus, im Jahr 2014 in den Vereinigten Staaten von Amerika und in Mexiko beobachtet und könnten sich nach Südamerika verbreiten und dort mit den bei Wildvögelpopulationen vorhandenen Viren rekombinieren. Schließlich ist das H7N9-Virus aufgetreten, ein niedrig pathogenes Virus, welches bei Vögeln kaum klinische Symptome aufweist, beim Menschen jedoch eine ernste Gefahr darstellt.
78 Zu dem Vorbringen der Kläger, wonach die in Südamerika aufgetretenen Fälle von Infektionen nur einzelne Wildvögel entlang der Flugrouten an der Pazifikküste betreffen und nicht Ausbrüche wie in Geflügelfarmen, ist festzustellen, dass dies darauf zurückzuführen sein mag, dass Wildvögel nicht genauso streng überwacht werden können wie Geflügel auf Geflügelfarmen, so dass derartige Beobachtungen zwangsläufig vereinzelt sind und die verfügbaren wissenschaftlichen Daten möglicherweise nicht die Gesamtzahl der infizierten Wildvögel wiedergeben.
79 Viele Drittländer haben nämlich nicht die Mittel, die notwendig sind, um das Virus bei Wildvögeln feststellen zu können. Dafür wären eine veterinärfachliche Überwachung im gesamten Gebiet und eine Diagnose durch kompetente Labore erforderlich. Da die Kommission jedoch nicht befugt ist, in Drittstaaten Überwachungsprogramme durchzuführen oder Testlabore einzurichten, ist es Sache des Herkunftslands, seine Infektionsfreiheit durch Garantien nachzuweisen, die den Anforderungen der Union, wie sie in Anhang II der Verordnung Nr. 318/2007 und der Durchführungsverordnung Nr. 139/2013 festgelegt sind, entsprechen. Dazu ist den Ausführungen der Kommission folgend festzustellen, dass bestimmte südamerikanische Länder (Bolivien, Guyana, Paraguay, Surinam und Venezuela) nicht einmal beantragt haben, in die nach der Verordnung Nr. 798/2008 vorgesehene Liste der Länder aufgenommen zu werden, aus denen Geflügel in die Union eingeführt werden darf (siehe oben, Rn. 24), wobei diese Liste gemäß Anhang I der Durchführungsverordnung Nr. 139/2013 (siehe oben, Rn. 30) auch für andere zur Einfuhr zugelassene Vögel gilt, z. B. für in Gefangenschaft gezüchtete Wildvögel.
80 Drittens ergibt sich aus mehreren von den Parteien zu den Akten gegebenen Dokumenten, dass die Einfuhr von gefangenen Wildvögeln aus Drittländern nach wie vor ein mit einem hohen Risiko behafteter Übertragungsweg ist, vor allem während der Zeiten des Vogelzugs, und dass diese Einfuhr insbesondere die Gefahr in sich birgt, neue HPAI- oder GPAI-Virenstämme einzuführen, die es bislang in der Union nicht gibt. Diese Virenstämme könnten sich in ein hoch pathogenes Virus rekombinieren und auf europäische Populationen von Wildvögeln oder Geflügel direkt oder indirekt übertragen werden.
81 Gemäß dem Gutachten des Friedrich-Loeffler-Instituts vom 25. November 2014, das die Kläger selbst vorgelegt haben, ist das Risiko einer Übertragung des HPAI-Virus auf Geflügel in Deutschland durch Wildvögel „hoch“, ebenso wie das Risiko bei illegalen Einfuhren aus Drittländern, während das Risiko bei legalen Einfuhren von in Gefangenschaft gezüchteten Vögeln aus Drittländern, d. h. seit Erlass der Verordnung Nr. 318/2007, oder beim Handel zwischen Mitgliedstaaten als „vernachlässigbar“ und das Risiko in Bezug auf den Personen- und Fahrzeugverkehr in der Union als „gering“ beurteilt wird.
82 In dem nächsten von der Kommission vorgelegten Gutachten des Friedrich-Loeffler-Instituts vom 3. Juni 2015 hat dieses vorab festgestellt, dass „[d]as von verschiedenen aviären Influenzaviren ausgelöste weltweite … (HPAI)-Geschehen eine bisher ungekannte Dimension angenommen [hat]“, dass „[w]echselseitige Übertragungen von HPAW H5N8 zwischen Wildvögeln und Geflügel durch direkten Kontakt oder durch Kontakt mit [mit] Fäzes kontaminierten Materialien möglich [sind]“ und dass „[d]ie hohe Reassortierungsfrequenz auf dem amerikanischen Kontinent vermuten lässt, dass [dieses Virus] bereits 2014 in der nordamerikanischen Wildvogelpopulation weit verbreitet gewesen sein muss“. Das mit Wildvögeln in Deutschland verbundene Risiko ist zwar auf „gering bis mäßig“ gesunken, jedoch nur bis zum August 2015, dem Migrationszeitraum dieser Vögel.
83 Insbesondere ergibt sich aus sämtlichen wissenschaftlichen Daten, die die Kommission vorgelegt hat und deren Zuverlässigkeit die Kläger nicht in Frage gestellt haben, dass erstens kein Land nach den zum entscheidungserheblichen Zeitpunkt geltenden Regeln der OIE behaupten konnte, im Hinblick auf Wildvögel vom GPAI- und HPAI-Virus frei zu sein, zweitens, dass Fälle einer Infektion mit dem Virus aus Südamerika und Ozeanien gemeldet wurden, andere mögliche Fälle jedoch mit den derzeitigen Mitteln nicht festgestellt werden konnten, und drittens, dass die Einfuhr gefangener Wildvögel in die Union nach wie vor ein mit einem hohen Risiko behafteter Übertragungsweg des Virus ist.
84 Die Kläger haben kein Dokument vorgelegt, aus dem sich klar und hinreichend schlüssig ergibt, dass bestimmte Länder oder bestimmte Kontinente, insbesondere Südamerika und Ozeanien, dauerhaft von der Aviären Influenza frei sind oder dass gefangene Wildvögel ganz allgemein keine Gefahr einer Verbreitung dieses Virus darstellen.
85 Deshalb ist festzustellen, dass die wissenschaftliche Ungewissheit in Bezug auf die Gefahr einer Verbreitung der Aviären Influenza in der Union durch die Einfuhr gefangener Wildvögel aus Drittländern der gesamten Welt in hohem Maße fortbesteht.
86 Die erste Rüge, mit der geltend gemacht wird, dass ein qualifizierter Verstoß gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit vorliege, weil die geografische Reichweite des Einfuhrverbots für gefangene Wildvögel in der Verordnung Nr. 318/2007 und der Durchführungsverordnung Nr. 139/2013 zu weitgehend sei, kann nach alledem keinen Erfolg haben.
– Zweite Rüge: Die unterlassene Anwendung einer Quarantänelösung wäre ein milderes Mittel gewesen
87 Mit ihrer zweiten Rüge machen die Kläger geltend, dass die Kommission die Quarantänelösung angesichts der nachlassenden Verbreitung der Infektionen in den von der Aviären Influenza nach wie vor betroffenen Ländern als milderes Mittel zur Bekämpfung dieser Verbreitung hätte vorziehen müssen, und sei es zweifach, d. h. sowohl in den Drittländern als auch im Einfuhrmitgliedstaat.
88 Die Kommission tritt dem Vorbringen der Kläger entgegen.
89 Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass diese Rüge einer Rüge entspricht, die das Gericht im Urteil ATC u. a. (oben in Rn. 31 angeführt, EU:T:2013:451) geprüft hat.
90 Deshalb ist daran zu erinnern, was das Gericht in jenem Urteil (Rn. 158 und 159) entschieden hat:
91 Im Übrigen hat das Gericht im Urteil ATC u. a. (oben in Rn. 31 angeführt, EU:T:2013:451) im Hinblick auf die Vermeidung von Risiken darauf hingewiesen, dass sich Wildvögel von in Gefangenschaft gezüchteten Vögeln unterscheiden. Bei Letzteren kann nämlich schon unmittelbar nach ihrer Geburt eine strenge Gesundheitskontrolle angeordnet werden, was gegenüber Geflügel bis zu ihrer Aufzucht in geschlossenen Räumen oder ihrer Einsperrung führen kann. Demzufolge hat das Gericht festgestellt, dass die Kläger in der Rechtssache, die zu jenem Urteil geführt hat, der Kommission nicht vorwerfen können, sie habe eine offensichtlich unverhältnismäßige Maßnahme getroffen, indem sie zwischen Wildvögeln und in Gefangenschaft gezüchteten Vögeln unterschieden habe (vgl. in diesem Sinne Urteil ATC u. a., oben in Rn. 31 angeführt, EU:T:2013:451, Rn. 162 und 163).
92 Im vorliegenden Fall haben die Kläger kein Dokument vorgelegt, das diese Auffassung des Gerichts – die mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, dem Vorsorgeprinzip sowie mit dem EFSA-Gutachten von 2006 ebenso wie mit dem EFSA-Gutachten von 2008 im Einklang steht – widerlegen könnte. Die von den Klägern geltend gemachte „nachlassende Verbreitung der Infektionen“ ist vielmehr in Anbetracht der von der Kommission vorgelegten wissenschaftlichen Daten zu bezweifeln (siehe oben, Rn. 74 bis 82).
93 Deshalb ist unter diesen Umständen festzustellen, dass die oben in Rn. 91 genannte Schlussfolgerung aus denselben Gründen sowohl für die Verordnung Nr. 318/2007 als auch für die Durchführungsverordnung Nr. 139/2013 gilt, da Letztere eine „Kodifizierung“ der Verordnung Nr. 318/2007 darstellt und im Wesentlichen deren Inhalt wiedergibt (siehe oben, Rn. 30).
94 Folglich kann die zweite Rüge, mit der ein qualifizierter Verstoß gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit durch die unterlassene Anwendung einer Quarantänelösung als milderes Mittel zur Bekämpfung der Aviären Influenza geltend gemacht wird, keinen Erfolg haben.
– Dritte Rüge: Die Zugvögel seien nicht einem intensiveren Monitoring als wirksameres Mittel zu dieser Bekämpfung unterzogen worden
95 Mit ihrer dritten Rüge machen die Kläger geltend, dass für die Kommission eine intensivere Überwachung der Zugvögel, gegebenenfalls in Verbindung mit einer präventiven Stallpflicht für Geflügel, das entlang dieser Flugrouten gehalten wird, ein wirksameres Mittel zur Bekämpfung der Verbreitung der Aviären Influenza gewesen wäre.
96 Die Kommission tritt dem Vorbringen der Kläger entgegen.
97 Zunächst genügt die Feststellung, dass es sich bei der Übertragung des Virus der Aviären Influenza durch Zugvögel um eine parallele Übertragungsart handelt, die eine Übertragung des Virus durch gefangene Wildvögel nicht ausschließt. Folglich kann eine intensivere Überwachung der Zugvögel – selbst wenn sie mit erhöhten Biosecurity-Maßnahmen, z. B. einer Stallpflicht für Geflügel entlang der Flugrouten der Zugvögel in der Union, einherginge – keine wirksamere Lösung sein als ein Einfuhrverbot für gefangene Wildvögel in die Union.
98 Im Übrigen ist davon auszugehen, dass die Überwachung von Zugvögeln in Verbindung mit Tests an Wildvögeln in Anbetracht ihrer Komplexität, ihrer hohen Kosten und ihrer geringen Repräsentativität keine realistische alternative Maßnahme darstellt. So hat die Kommission anerkannt, dass die im Jahr 2008 in der Union an ungefähr 50000 Wildvögeln unter einem erheblichen Aufwand von Ressourcen durchgeführten Tests eine so geringe Anzahl von Vögeln betrafen, dass das Ergebnis nicht als repräsentativ gelten kann.
99 Jedenfalls ist festzustellen, dass die Union Drittländern, darunter solchen in Südamerika und Afrika, nicht vorschreiben kann, eine intensivere Überwachung der Zugvögel vorzunehmen.
100 Der Gesundheitszustand von Wildvögeln kann daher nur sicher überwacht werden und mit hinreichender wissenschaftlicher Sicherheit bekannt sein, wenn sie in Gefangenschaft gezüchtet und in den hierfür zugelassenen Zuchtanstalten durch ein funktionierendes Veterinärsystem überwacht werden.
101 Daraus folgt, dass die dritte Rüge, mit der geltend gemacht wird, dass ein qualifizierter Verstoß gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit vorliege, da die Zugvögel nicht einem intensiveren Monitoring als wirksameres Mittel zur Bekämpfung der Aviären Influenza unterzogen worden seien, keinen Erfolg haben kann.
102 Nach alledem hat die Kommission dadurch, dass sie im Rahmen ihres weiten Ermessens die Verordnung Nr. 318/2007 und die Durchführungsverordnung Nr. 139/2013 erlassen hat, keinen offensichtlichen Fehler und keinen qualifizierten Verstoß gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit – namentlich in Bezug auf die geografische Reichweite des Einfuhrverbots für Wildvögel in die Union – oder das Vorsorgeprinzip begangen.
103 Der zweite Klagegrund ist daher zurückzuweisen.
Dritter Klagegrund: qualifizierter Verstoß gegen die Sorgfaltspflicht
104 Mit ihrem dritten Klagegrund machen die Kläger, insbesondere gestützt auf das Urteil ATC u. a. (oben in Rn. 31 angeführt, EU:T:2013:451), geltend, die Kommission habe im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens in qualifizierter Weise gegen ihre Sorgfaltspflicht verstoßen, indem sie das Einfuhrverbot für gefangene Wildvögel in die Union „unkritisch“ weiterhin auf die EFSA-Gutachten von 2005 und 2006 gestützt habe, ohne die EFSA um ein aktuelleres Gutachten zu ersuchen und ohne den aktuellen wissenschaftlichen Kenntnisstand zu berücksichtigen, wie er seit 2010 insbesondere von der OIE zusammengetragen und konsolidiert worden sei. Vor allem seien die Verbreitungswege und Ansteckungsgefahren der Aviären Influenza, als die Durchführungsverordnung Nr. 139/2013 erlassen worden sei, bereits seit nahezu zehn Jahren erforscht und beobachtet worden. Die Kommission hätte deshalb die Daten der OIE berücksichtigen müssen, die belegten, dass es bei Wildvögeln in Südamerika überhaupt keinen Fall einer Infektion mit der Aviären Influenza und keinerlei Kontakt zwischen Wildvögeln aus Südamerika oder Ozeanien und solchen aus den betroffenen asiatischen Ländern gegeben habe.
105 Angesichts dieses wissenschaftlichen Kenntnisstands hätten nach Ansicht der Kläger bestimmte „infektionsfreie“ Länder vom Einfuhrverbot für gefangene Wildvögel in die Union ausgenommen werden müssen und wäre eine Quarantänelösung in Verbindung mit einer intensiveren Überwachung der Zugvögel ein geeigneteres Mittel gewesen. Außerdem müssten die Verordnung Nr. 318/2007 und die Durchführungsverordnung Nr. 139/2013 nicht nur zum Zeitpunkt ihres Erlasses, sondern auch während ihres gesamten Geltungszeitraums die wissenschaftlichen Erkenntnisse korrekt widerspiegeln und folglich im Laufe der Zeit gegebenenfalls angepasst werden. Im Übrigen habe die Kommission es versäumt, die EFSA aufzufordern, speziell die Gefahren des internationalen Geflügelhandels zu untersuchen.
106 Die Kommission tritt dem Vorbringen der Kläger entgegen.
107 Wenn ein Unionsorgan über einen weiten Ermessensspielraum verfügt, kommt nach ständiger Rechtsprechung der Kontrolle der Einhaltung der Garantien, die die Unionsrechtsordnung für Verwaltungsverfahren vorsieht, wesentliche Bedeutung zu. Zu diesen Garantien gehört u. a. die Verpflichtung des zuständigen Organs, sorgfältig und unparteiisch alle relevanten Gesichtspunkte des Einzelfalls zu untersuchen und seine Entscheidung hinreichend zu begründen. Die Beachtung der Pflicht der Kommission, die für die Ausübung ihres weiten Ermessens unerlässlichen Fakten sorgfältig zusammenzutragen, und ihre Überprüfung durch den Unionsrichter sind nämlich umso wichtiger, als die Ausübung des genannten Ermessens nur einer eingeschränkten gerichtlichen Kontrolle der materiellen Rechtmäßigkeit unterliegt, die auf die Ermittlung eines offensichtlichen Fehlers beschränkt ist (vgl. Urteil ATC u. a., oben in Rn. 31 angeführt, EU:T:2013:451, Rn. 84 und die dort angeführte Rechtsprechung).
108 Im vorliegenden Fall ist zum einen die rechtliche Bedeutung der im Urteil ATC u. a. (oben in Rn. 31 angeführt, EU:T:2013:451) festgestellten Rechtsverstöße näher zu bestimmen und zum anderen zu entscheiden, ob die Kommission hier gegen ihre Sorgfaltspflicht verstoßen hat.
109 Erstens ist hinsichtlich der Bedeutung der im Urteil ATC u. a. (oben in Rn. 31 angeführt, EU:T:2013:451) festgestellten Rechtsverstöße gegen die Sorgfaltspflicht von vornherein der tatsächliche Zusammenhang des vorliegenden Falls von dem zu unterscheiden, der zu dem genannten Urteil geführt hat.
110 Im Urteil ATC u. a. (oben in Rn. 31 angeführt, EU:T:2013:451) hat das Gericht u. a. festgestellt, dass die Kommission zunächst die Entscheidung 2005/760 sachlich unzutreffend begründet hatte (siehe oben, Rn. 8) – aufgrund einer Vertauschung von Proben war nämlich ein mit dem H5N1-Virus infizierter und im Quarantänezentrum von Essex (Vereinigtes Königreich) untersuchter Vogel zu Unrecht ursprünglich als aus Surinam in Südamerika stammend katalogisiert worden, obwohl sich später ergab, dass er in Wirklichkeit aus Taiwan in Asien stammte – und sodann gegen ihre Sorgfaltspflicht verstoßen hatte, indem sie zur Verlängerung ihrer ursprünglichen Entscheidung mehrere Entscheidungen erließ (siehe oben, Rn. 9), ohne die Ergebnisse eines Berichts zu berücksichtigen, in dem auf diesen Irrtum hingewiesen wurde. Die Kommission hatte es also versäumt, zu erläutern, warum sie es gleichwohl für erforderlich hielt, die Einfuhraussetzung für Wildvögel aus Südamerika aufrechtzuerhalten und die Risikogebiete gemäß Art. 18 Abs. 1 der Richtlinie 91/496 zu bestimmen (vgl. in diesem Sinne Urteil ATC u. a., oben in Rn. 31 angeführt, EU:T:2013:451, Rn. 114).
111 Die Verordnung Nr. 318/2007 und die Durchführungsverordnung Nr. 139/2013, die im vorliegenden Fall beide einschlägig sind, unterscheiden sich jedoch dadurch, dass sie die allgemeinen Gesundheitsvorschriften nach Art. 17 der Richtlinie 92/65 festlegen, erheblich von der Entscheidung 2005/760 und deren entsprechenden Verlängerungsentscheidungen, die das Gericht im Urteil ATC u. a. (oben in Rn. 31 angeführt, EU:T:2013:451) für rechtswidrig erklärt hat. Zum einen nämlich handelt es sich bei diesen Verordnungen im Gegensatz zu den genannten Entscheidungen nicht um Schutzmaßnahmen für Risikogebiete im Sinne von Art. 18 Abs. 1 der Richtlinie 91/496, in denen die konkrete Gefahr in den betroffenen Drittländern sorgfältig geprüft werden sollte. Zum anderen gilt für die genannten Verordnungen im Gegensatz zu den fraglichen Entscheidungen keine Befristung, die bei Ablauf der Maßnahme zur Rechtfertigung einer etwaigen Verlängerung eine Überprüfung erfordert.
112 Außerdem hat sich die Kommission im vorliegenden Fall auf keinen erwiesenen Fehler gestützt und konnte deshalb nicht durch die Nichtberücksichtigung irgendeines Berichts, in dem ein solcher Fehler offengelegt wird, gegen ihre Sorgfaltspflicht verstoßen.
113 Demzufolge sind die vom Gericht im Urteil ATC u. a. (oben in Rn. 31 angeführt, EU:T:2013:451) festgestellten Rechtsverstöße in einem besonderen Kontext zu sehen, der Schutzmaßnahmen umfasst, die auf einem erwiesenen Fehler beruhen und nicht ohne Weiteres auf die Verordnung Nr. 318/2007 und die Durchführungsverordnung Nr. 139/2013 übertragbar sind.
114 Zweitens ist hier festzustellen, dass die Kommission dadurch, dass sie zunächst den Erlass der Verordnung Nr. 318/2007 vor allem auf die wissenschaftliche Ungewissheit gestützt hat, die sich aus dem EFSA-Gutachten von 2006 über die mit der Einfuhr gefangener Wildvögel verbundenen Risiken ergab (siehe oben, Rn. 17) und auch in den von der Kommission vorgelegten wissenschaftlichen Daten jüngeren Datums zum Ausdruck kommt, ihrer Sorgfaltspflicht in Bezug auf die wissenschaftliche Begründung eines Einfuhrverbots für gefangene Wildvögel in die Union, insbesondere in Anbetracht des Bestehens verschiedener anderer Subtypen des Virus als des H5N1-Virus, nachgekommen ist.
115 Außerdem hat die Kommission die EFSA im Jahr 2007 um ein neues konsolidiertes Gutachten ersucht (siehe oben, Rn. 25). Den Ausführungen der Kommission folgend ist jedoch festzustellen, dass das konsolidierte EFSA-Gutachten von 2008 über Tiergesundheits- und Tierschutzaspekte der Aviären Influenza und das Risiko ihrer Einschleppung in Geflügelbetriebe in der Europäischen Union die grundlegende Hypothese des EFSA-Gutachtens von 2006 bestätigt hat, wonach Wildvögel ein natürliches Reservoir für die Aviäre Influenza bilden und das Ausmaß ihrer Infektionen nur schwer zu bestimmen ist, da sie keine oder nur sehr geringe klinische Krankheitsanzeichen zeigen.
116 Bezüglich der Durchführungsverordnung Nr. 139/2013 ist ebenfalls festzustellen, dass die Kommission durch deren Erlass nicht gegen ihre Sorgfaltspflicht verstoßen hat. Die Kläger haben nämlich kein Dokument zum Nachweis dafür vorgelegt, dass die jüngsten wissenschaftlichen Daten in wesentlichen Punkten im Widerspruch zu den Schlussfolgerungen des EFSA-Gutachtens von 2006 stehen, auf dem der Erlass der Verordnung Nr. 318/2007 beruht, die durch die Durchführungsverordnung Nr. 139/2013 „kodifiziert“ wurde.
117 Außerdem hat die Kommission von der EFSA Anfang 2014, d. h. vor Erhebung der vorliegenden Klage, ein neues Gutachten erbeten (siehe oben, Rn. 34). Zwar bezog sich dieses nur auf den H5N8-Virus, doch weist ein solches Mandat darauf hin, dass die Kommission auf die Entwicklung der maßgeblichen Umstände angemessen reagiert hat, um ihre Maßnahmen zur Bekämpfung der Aviären Influenza neu zu bewerten.
118 Im Übrigen ergibt sich aus den Akten, dass die EFSA-Gutachten von 2008 und 2014 die mit – insbesondere gefangenen – Wildvögeln verbundenen Gefahren und die hinsichtlich der Übertragung der Aviären Influenza bestehende wissenschaftliche Ungewissheit bestätigt haben. Außerdem heißt es im Gesundheitskodex der OIE, dass „[i]m Grunde genommen … kein Mitgliedstaat [sich] von Grippe-A-Viren bei Wildvögeln frei erklären [kann]“ (siehe oben, Rn. 74).
119 Die Aufrechterhaltung des Einfuhrverbots für gefangene Wildvögel in die Union beruht daher nicht auf einem qualifizierten Verstoß gegen die Sorgfaltspflicht, sondern vielmehr auf dem Gesundheitskodex der OIE nicht zuwiderlaufenden wissenschaftlichen Gutachten der EFSA, und liegt im Rahmen des weiten Ermessens der Kommission, das diese ausgeübt hat, ohne einen offenkundigen Ermessensfehler zu begehen.
120 Das Vorbringen, die Kommission habe es versäumt, die EFSA aufzufordern, speziell die Gefahren des internationalen Geflügelhandels zu untersuchen, ist im Übrigen zum einen nicht stichhaltig, weil es sich dabei um eine parallele Art der Übertragung des Virus der Aviären Influenza handelt, die das Risiko im Zusammenhang mit gefangenen Wildvögeln nicht ausschließt. Zum anderen ist es unbegründet, denn die Kommission hat die EFSA seit dem Jahr 2000 um detaillierte wissenschaftliche Gutachten über die mit der Einfuhr von Geflügel verbundenen Gefahren ersucht und daraufhin mehrere Rechtsakte erlassen, darunter die Verordnung Nr. 798/2008 (siehe oben, Rn. 24). Außerdem ist der Übertragungsweg des genannten Virus durch Geflügel im EFSA-Gutachten von 2014 erneut geprüft worden.
121 Schließlich hat die Kommission von den Klägern unwidersprochen vorgetragen, dass sie die EFSA am 31. März 2015 in Anbetracht der in jüngster Zeit festgestellten massiven Ausbrüche der Aviären Influenza und Reassortierungen von H5N8 und anderen Viren des Subtyps H5 um eine neue Studie der Übertragungswege und insbesondere der Rolle von GPAI-Viren gebeten habe. Diese seien bei Wildvögeln schwer festzustellen, könnten jedoch für den Menschen gefährlich sein.
122 Aus den vorstehenden Erwägungen folgt, dass die Kommission dadurch, dass sie die Verordnung Nr. 318/2007 und die Durchführungsverordnung Nr. 139/2013 erlassen und aufrechterhalten hat, keinen offensichtlichen Fehler in Ausübung ihres weiten Ermessens und keinen qualifizierten Verstoß gegen ihre Sorgfaltspflicht begangen hat.
123 Der dritte Klagegrund ist daher zurückzuweisen.
Erster Klagegrund: qualifizierte Verletzung der Berufsfreiheit, der unternehmerischen Freiheit und des Eigentumsrechts (Art. 15 bis 17 der Charta der Grundrechte)
124 Mit ihrem ersten Klagegrund machen die Kläger geltend, dass das Einfuhrverbot für Wildvögel in die Union, wie es in der Verordnung Nr. 318/2007 und der Durchführungsverordnung Nr. 139/2013 vorgesehen sei, in qualifizierter Weise ihre Berufsfreiheit, ihre unternehmerische Freiheit und ihr Eigentumsrecht verletze. Diese Rechte seien nach den Art. 15 bis 17 der Charta der Grundrechte geschützt. Insbesondere tragen sie vor, dass dieses Verbot es ihnen unmöglich gemacht habe, ihren Handel mit der Einfuhr und dem Weiterverkauf gefangener Wildvögel auszuüben und die Quarantänestationen zu betreiben, die sie zu diesem Zweck vor 2005 errichtet hätten. Durch den Rückgang ihrer Umsätze und den Verlust ihrer Investitionen in diese Quarantänestationen habe sie dies „an den Rand des Existenzminimums“, ja sogar „an den Rand des wirtschaftlichen Ruins“ gedrängt. Darüber hinaus wiederholen sie im Rahmen dieses Klagegrundes ihre Rügen, wonach das genannte Verbot namentlich aufgrund seiner zu weitreichenden geografischen Reichweite unverhältnismäßig sei.
125 Die Kommission tritt dem Vorbringen der Kläger entgegen.
126 Nach ständiger Rechtsprechung handelt es sich bei der Berufsfreiheit, der unternehmerischen Freiheit und dem Eigentumsrecht um Grundrechte, die in den Art. 15 bis 17 der Charta der Grundrechte verankert sind. Diese Rechte können jedoch keine uneingeschränkte Geltung beanspruchen, sondern müssen im Hinblick auf ihre gesellschaftliche Funktion gesehen werden. Folglich kann die Ausübung Beschränkungen unterworfen werden, sofern diese Beschränkungen tatsächlich dem Gemeinwohl dienenden Zielen der Union entsprechen und nicht einen im Hinblick auf den verfolgten Zweck unverhältnismäßigen und nicht tragbaren Eingriff darstellen, der die so gewährleisteten Rechte in ihrem Wesensgehalt antasten würde (vgl. in diesem Sinne Urteil ATC u. a., oben in Rn. 31 angeführt, EU:T:2013:451, Rn. 188 und die dort angeführte Rechtsprechung).
127 Im vorliegenden Fall ist zunächst darauf hinzuweisen, dass der vorliegende Klagegrund einem vom Gericht im Urteil ATC u. a. (oben in Rn. 31 angeführt, EU:T:2013:451) geprüften Klagegrund entspricht.
128 In jenem Urteil hat das Gericht hierzu Folgendes festgestellt (Rn. 190):
129 Im vorliegenden Fall gilt die in Rn. 128 des vorliegenden Urteils gezogene Schlussfolgerung aus denselben Gründen sowohl für die Verordnung Nr. 318/2007 als auch für die Durchführungsverordnung Nr. 139/2013, die eine „Kodifizierung“ der Verordnung Nr. 318/2007 darstellt und deren Inhalt im Wesentlichen wiedergibt (siehe oben, Rn. 30).
130 Die Kläger haben nämlich in der vorliegenden Rechtssache weder nachgewiesen noch behauptet, dass ihre Grundrechte durch die Verordnung Nr. 318/2007 und die Durchführungsverordnung Nr. 139/2013 in ihrem Wesensgehalt angetastet würden.
131 Im Übrigen räumen die Kläger selbst ein, dass sie ihren Vogelhandel auch heute noch betreiben, und weisen darauf hin, dass sich dieser nunmehr auf in der Union gezüchtete Vögel bezieht, die entweder zugekauft oder „kostenaufwendig“ in ihrem eigenen Betrieb produziert werden.
132 Allerdings ist zu berücksichtigen, dass ein etwaiger Umsatzrückgang oder ein möglicherweise entgangener Gewinn in Verbindung mit dem Unterschied der Gestehungskosten zwischen in Gefangenschaft gezüchteten Vögeln und gefangenen Wildvögeln offenkundig keine über eine Geschäftschance weit hinausgehende Beeinträchtigung des Wesensgehalts von Grundrechten darstellen kann.
133 Insofern ist darauf hinzuweisen, dass es den Klägern als Tierhändlern nach wie vor völlig freisteht, in Gefangenschaft gezüchtete Ziervögel einzuführen, mit ihnen zu handeln und dazu ihre Quarantänestationen zu benutzen. Die Einfuhr von in Gefangenschaft gezüchteten Ziervögeln ist gemäß Art. 5 der Verordnung Nr. 318/2007 und der Durchführungsverordnung Nr. 139/2013 nach wie vor im Gegensatz zur Einfuhr gefangener Wildvögel zulässig, sofern bestimmte tierseuchenrechtliche Bedingungen eingehalten werden.
134 Nach den von der Kommission vorgelegten und von den Klägern nicht in Frage gestellten Statistiken über die Einfuhr von Wildvögeln in die Union hat es nach einem Rückgang in den Jahren 2005 bis 2006 in der Zeit von 2006 bis 2010 sogar eine Zunahme und zwischen 2010 und 2014 eine noch deutlichere Zunahme gegeben. Außerdem hat die Kommission eine Liste von 13 Betrieben in sechs Drittländern – Argentinien, Kanada, Chile, Vereinigte Staaten von Amerika, Israel und Philippinen – vorgelegt, die gemäß Art. 4 und Anhang II der Verordnung Nr. 318/2007 und anschließend der Durchführungsverordnung Nr. 139/2013 für die Ausfuhr von in Gefangenschaft gezüchteten Wildvögeln in die Union zugelassen sind (siehe oben, Rn. 20).
135 Ferner ist den Ausführungen der Kommission folgend und entgegen dem Vorbringen der Kläger darauf hinzuweisen, dass die Quarantänestationen in der Union nach wie vor von Nutzen sind. Für in Gefangenschaft gezüchtete Wildvögel und für bestimmte Wildvögel, deren Einfuhr gemäß den nach Art. 2 der Verordnung Nr. 318/2007 und der Durchführungsverordnung Nr. 139/2013 vorgesehenen Ausnahmeregeln zulässig ist, gilt die Quarantänepflicht nämlich in zweifacher Hinsicht, und zwar sowohl im Ausfuhrland als auch in der Union.
136 Demnach hat sich gemäß den von der Kommission vorgelegten und von den Klägern nicht in Frage gestellten Statistiken die Zahl der Quarantänestationen in der Union seit 2007 nicht erheblich verringert, denn es wurden sogar neue Quarantänestationen zugelassen. So waren z. B. in Deutschland im Jahr 2014 genauso wie schon im Jahr 2007 24 Quarantänestationen in Betrieb.
137 Nach alledem handelt es sich bei den in der Verordnung Nr. 318/2007 und der Durchführungsverordnung Nr. 139/2013 vorgesehenen Maßnahmen um Beschränkungen der Berufsfreiheit und der unternehmerischen Freiheit sowie des Eigentumsrechts der Kläger, die berechtigt und verhältnismäßig im Sinne der vorstehend in Rn. 126 angeführten Rechtsprechung sind und im Einklang mit Art. 52 Abs. 1 der Charta der Grundrechte stehen, und die Kommission hat dadurch, dass sie die genannten Verordnungen erlassen und aufrechterhalten hat, keinen offensichtlichen Fehler in Ausübung ihres weiten Ermessens und keinen qualifizierten Verstoß gegen diese Grundrechte begangen.
138 Der erste Klagegrund ist somit zurückzuweisen.
139 Da die Kommission mit dem Erlass und der Aufrechterhaltung der Verordnung Nr. 318/2007 und der Durchführungsverordnung Nr. 139/2013 keinen offensichtlichen Fehler in Ausübung ihres weiten Ermessens begangen hat und weder den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit unter Berücksichtigung des Vorsorgeprinzips noch ihre Sorgfaltspflicht oder die Grundrechte der Kläger gemäß den Art. 15 bis 17 der Charta der Grundrechte in hinreichend qualifizierter Weise verletzt hat, ist festzustellen, dass die Kläger im vorliegenden Fall den Nachweis eines rechtswidrigen Verhaltens der Kommission schuldig geblieben sind.
Zur Klage auf Schadensersatz
140 Die Feststellung, dass der Kommission im vorliegenden Fall kein rechtswidriges Verhalten vorzuwerfen ist, genügt, um ihre außervertragliche Haftung auszuschließen, ohne zum einen das Vorbringen der Kommission zur Unzulässigkeit und zur Unbegründetheit in Bezug auf den von den Klägern behaupteten Kausalzusammenhang und den geltend gemachten Schaden prüfen und zum anderen dem Antrag der Kläger folgen zu müssen, den Direktor der OIE, Herrn B. V., als Sachverständigen vorzuladen.
141 Damit ist die Klage auf Schadensersatz insgesamt abzuweisen.
Kosten
142 Nach Art. 134 Abs. 1 der Verfahrensordnung des Gerichts ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen.
143 Da die Kläger mit ihrem Vorbringen unterlegen sind, sind ihnen außer ihren eigenen Kosten die Kosten der Kommission gemäß deren Antrag aufzuerlegen.
Aus diesen Gründen hat
DAS GERICHT (Achte Kammer)
für Recht erkannt und entschieden:
1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Die Zoofachhandel Züpke GmbH, die Zoohaus Bürstadt, Helmut Ofenloch GmbH & Co. KG, das Zoofachgeschäft – Vogelgroßhandel Import-Export Heinz Marche, Frau Rita Bürgel und Herr Norbert Kass tragen neben ihren eigenen Kosten die Kosten der Europäischen Kommission.
Gratsias
Kancheva
Wetter
Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 17. März 2016.
Unterschriften
Inhaltsverzeichnis
Vorgeschichte des Rechtsstreits
Vorstellung der Kläger
Zu den Richtlinien 91/496/EWG und 92/65/EWG
Zum EFSA-Gutachten von 2005
Zur Entscheidung 2005/760/EG und zur Verlängerung der ergriffenen Maßnahmen
Zum EFSA-Gutachten von 2006
Zur Verordnung (EG) Nr. 318/2007
Zum EFSA-Gutachten von 2008
Zur Durchführungsverordnung (EU) Nr. 139/2013
Zum Urteil ATC u. a./Kommission von 2013
Zum EFSA-Gutachten von 2014
Verfahren und Anträge der Parteien
Rechtliche Würdigung
Zum Vorliegen eines rechtswidrigen Verhaltens
Zweiter Klagegrund: qualifizierter Verstoß gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit
– Erste Rüge: Die geografische Reichweite des Einfuhrverbots für gefangene Wildvögel geht zu weit
– Zweite Rüge: Die unterlassene Anwendung einer Quarantänelösung wäre ein milderes Mittel gewesen
– Dritte Rüge: Die Zugvögel seien nicht einem intensiveren Monitoring als wirksameres Mittel zu dieser Bekämpfung unterzogen worden
Dritter Klagegrund: qualifizierter Verstoß gegen die Sorgfaltspflicht
Erster Klagegrund: qualifizierte Verletzung der Berufsfreiheit, der unternehmerischen Freiheit und des Eigentumsrechts (Art. 15 bis 17 der Charta der Grundrechte)
Zur Klage auf Schadensersatz
Kosten
(*1) Verfahrenssprache: Deutsch.
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Arrêt du Tribunal (troisième chambre) du 22 novembre 2023.#José María Galván Fernández-Guillén contre Conseil de résolution unique.#Union économique et monétaire – Union bancaire – Mécanisme de résolution unique des établissements de crédit et de certaines entreprises d’investissement (MRU) – Résolution de Banco Popular Español – Décision du CRU refusant d’accorder un dédommagement aux actionnaires et aux créanciers concernés par les mesures de résolution – Droit de propriété – Droits de la défense – Valorisation de la différence de traitement – Indépendance de l’évaluateur.#Affaire T-340/20.
|
62020TJ0340
|
ECLI:EU:T:2023:732
| 2023-11-22T00:00:00 |
Gericht
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Beschluss des Gerichtshofs (Erste Kammer) vom 20. September 2024.#Strafverfahren gegen RT.#Vorabentscheidungsersuchen der Corte di Appello di Roma.#Vorlage zur Vorabentscheidung – Eilvorabentscheidungsverfahren – Art. 99 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs – Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen – Europäischer Haftbefehl – Rahmenbeschluss 2002/584/JI – Art. 1 Abs. 3 – Art. 4a – Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten – Gründe, aus denen die Vollstreckung abgelehnt werden kann – Art. 48 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Verteidigungsrechte – Richtlinie 2012/13/EU – Art. 6 – Recht auf Belehrung und Unterrichtung in Strafverfahren – Richtlinie 2013/48/EU – Art. 3 – Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand in Strafverfahren – Entscheidung, die im Anschluss an eine Verhandlung ergangen ist, zu der die beschuldigte Person weder erschienen ist noch durch einen Rechtsbeistand vertreten war – Nationale Vorschrift, die es nicht erlaubt, die Übergabe der betreffenden Person zu verweigern – Vereinbarkeit mit dem Unionsrecht.#Rechtssache C-504/24 PPU.
|
62024CO0504
|
ECLI:EU:C:2024:779
| 2024-09-20T00:00:00 |
Gerichtshof, Emiliou
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Sammlung der Rechtsprechung – allgemein – Abschnitt „Informationen über nicht veröffentlichte Entscheidungen“
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62024CO0504
BESCHLUSS DES GERICHTSHOFS (Erste Kammer)
20. September 2024 (*1)
„Vorlage zur Vorabentscheidung – Eilvorabentscheidungsverfahren – Art. 99 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs – Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen – Europäischer Haftbefehl – Rahmenbeschluss 2002/584/JI – Art. 1 Abs. 3 – Art. 4a – Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten – Gründe, aus denen die Vollstreckung abgelehnt werden kann – Art. 48 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Verteidigungsrechte – Richtlinie 2012/13/EU – Art. 6 – Recht auf Belehrung und Unterrichtung in Strafverfahren – Richtlinie 2013/48/EU – Art. 3 – Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand in Strafverfahren – Entscheidung, die im Anschluss an eine Verhandlung ergangen ist, zu der die beschuldigte Person weder erschienen ist noch durch einen Rechtsbeistand vertreten war – Nationale Vorschrift, die es nicht erlaubt, die Übergabe der betreffenden Person zu verweigern – Vereinbarkeit mit dem Unionsrecht“
In der Rechtssache C‑504/24 PPU [Anacco] (i
)
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Corte d’appello di Roma (Berufungsgericht Rom, Italien) mit Entscheidung vom 18. Juli 2024, beim Gerichtshof eingegangen am 19. Juli 2024, in dem Strafverfahren gegen
RT,
Beteiligte:
Procura Generale della Repubblica presso la Corte d’appello di Roma,
erlässt
DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten A. Arabadjiev, der Richter T. von Danwitz, P. G. Xuereb und A. Kumin (Berichterstatter) sowie der Richterin I. Ziemele,
Generalanwalt: N. Emiliou,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund der nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Entscheidung, gemäß Art. 99 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs durch mit Gründen versehenen Beschluss zu entscheiden,
folgenden
Beschluss
1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 6 EUV, von Art. 48 Abs. 2 sowie von Art. 52 Abs. 3 und 4 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta), von Art. 6 Abs. 3 Buchst. c der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (im Folgenden: EMRK), von Art. 1 Abs. 3 und Art. 4a des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten (ABl. 2002, L 190, S. 1) in der durch den Rahmenbeschluss 2009/299/JI des Rates vom 26. Februar 2009 (ABl. 2009, L 81, S. 24) geänderten Fassung (im Folgenden: Rahmenbeschluss 2002/584), von Art. 6 der Richtlinie 2012/13/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Mai 2012 über das Recht auf Belehrung und Unterrichtung in Strafverfahren (ABl. 2012, L 142, S. 1) sowie von Art. 3 der Richtlinie 2013/48/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Oktober 2013 über das Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand in Strafverfahren und in Verfahren zur Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls sowie über das Recht auf Benachrichtigung eines Dritten bei Freiheitsentzug und das Recht auf Kommunikation mit Dritten und mit Konsularbehörden während des Freiheitsentzugs (ABl. 2013, L 294, S. 1).
2 Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Verfahrens wegen der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls in Italien, der am 29. April 2024 vom Parquet du procureur du Roi de Bruxelles (Staatsanwaltschaft des Prokurators des Königs in Brüssel, Belgien) erlassen wurde, um eine vom Tribunal de première instance francophone de Bruxelles (französischsprachiges Gericht erster Instanz von Brüssel, Belgien) gegen RT verhängte Freiheitsstrafe zu vollstrecken.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Rahmenbeschluss 2002/584
3 In den Erwägungsgründen 6 und 12 des Rahmenbeschlusses 2002/584 heißt es:
„(6)
Der Europäische Haftbefehl im Sinne des vorliegenden Rahmenbeschlusses stellt im strafrechtlichen Bereich die erste konkrete Verwirklichung des vom Europäischen Rat als ‚Eckstein‘ der justiziellen Zusammenarbeit qualifizierten Prinzips der gegenseitigen Anerkennung dar.
…
(12) Der vorliegende Rahmenbeschluss achtet die Grundrechte und wahrt die in Artikel 6 [EUV] anerkannten Grundsätze, die auch in der Charta …, insbesondere in deren Kapitel VI, zum Ausdruck kommen. …“
4 Art. 1 („Definition des Europäischen Haftbefehls und Verpflichtung zu seiner Vollstreckung“) Abs. 2 und 3 des Rahmenbeschlusses bestimmt:
„(2) Die Mitgliedstaaten vollstrecken jeden Europäischen Haftbefehl nach dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung und gemäß den Bestimmungen dieses Rahmenbeschlusses.
(3) Dieser Rahmenbeschluss berührt nicht die Pflicht, die Grundrechte und die allgemeinen Rechtsgrundsätze, wie sie in Artikel 6 [EUV] niedergelegt sind, zu achten.“
5 Art. 4a („Entscheidungen, die im Anschluss an eine Verhandlung ergangen sind, zu der die Person nicht persönlich erschienen ist“) des Rahmenbeschlusses sieht vor:
„(1) Die vollstreckende Justizbehörde kann die Vollstreckung eines zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe oder freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung ausgestellten Europäischen Haftbefehls auch verweigern, wenn die Person nicht persönlich zu der Verhandlung erschienen ist, die zu der Entscheidung geführt hat, es sei denn, aus dem Europäischen Haftbefehl geht hervor, dass die Person im Einklang mit den weiteren verfahrensrechtlichen Vorschriften des einzelstaatlichen Rechts des Ausstellungsmitgliedstaats,
a)
rechtzeitig,
i)
entweder persönlich vorgeladen wurde und dabei von dem vorgesehenen Termin und Ort der Verhandlung in Kenntnis gesetzt wurde, die zu der Entscheidung geführt hat, oder auf andere Weise tatsächlich offiziell von dem vorgesehenen Termin und Ort dieser Verhandlung in Kenntnis gesetzt wurde, und zwar auf eine Weise, dass zweifelsfrei nachgewiesen wurde, dass sie von der anberaumten Verhandlung Kenntnis hatte,
und
ii)
davon in Kenntnis gesetzt wurde, dass eine Entscheidung auch dann ergehen kann, wenn sie zu der Verhandlung nicht erscheint,
oder
b)
in Kenntnis der anberaumten Verhandlung ein Mandat an einen Rechtsbeistand, der entweder von der betroffenen Person oder vom Staat bestellt wurde, erteilt hat, sie bei der Verhandlung zu verteidigen, und bei der Verhandlung von diesem Rechtsbeistand tatsächlich verteidigt worden ist;
oder
c)
nachdem ihr die Entscheidung zugestellt und sie ausdrücklich von ihrem Recht auf Wiederaufnahme des Verfahrens oder auf ein Berufungsverfahren in Kenntnis gesetzt worden ist, an dem die Person teilnehmen kann und bei dem der Sachverhalt, einschließlich neuer Beweismittel, erneut geprüft werden und die ursprünglich ergangene Entscheidung aufgehoben werden kann:
i)
ausdrücklich erklärt hat, dass sie die Entscheidung nicht anficht;
oder
ii)
innerhalb der geltenden Frist keine Wiederaufnahme des Verfahrens bzw. kein Berufungsverfahren beantragt hat;
oder
d)
die Entscheidung nicht persönlich zugestellt erhalten hat, aber
i)
sie unverzüglich nach der Übergabe persönlich zugestellt erhalten wird und ausdrücklich von ihrem Recht auf Wiederaufnahme des Verfahrens oder auf ein Berufungsverfahren in Kenntnis gesetzt werden wird, an dem die Person teilnehmen kann und bei dem der Sachverhalt, einschließlich neuer Beweismittel, erneut geprüft werden und die ursprünglich ergangene Entscheidung aufgehoben werden kann;
und
ii)
von der Frist in Kenntnis gesetzt werden wird, über die sie gemäß dem einschlägigen Europäischen Haftbefehl verfügt, um eine Wiederaufnahme des Verfahrens bzw. ein Berufungsverfahren zu beantragen.
(2) Wird der Europäische Haftbefehl zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe oder einer freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung nach Maßgabe des Absatzes 1 Buchstabe d ausgestellt und ist die betroffene Person zuvor nicht offiziell davon in Kenntnis gesetzt worden, dass gegen sie ein Strafverfahren eingeleitet wurde, so kann die Person, wenn sie von dem Inhalt des Europäischen Haftbefehls in Kenntnis gesetzt wird, beantragen, dass sie vor ihrer Übergabe eine Abschrift des Urteils erhält. Die Ausstellungsbehörde leitet der gesuchten Person die Abschrift des Urteils unverzüglich über die Vollstreckungsbehörde zu, sobald sie Kenntnis von dem Antrag erhalten hat. Der Antrag der gesuchten Person darf weder das Übergabeverfahren noch die Entscheidung über die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls verzögern. Das Urteil wird der betroffenen Person ausschließlich informationshalber zur Verfügung gestellt; die Zurverfügungstellung gilt weder als förmliche Zustellung des Urteils noch wirkt sie sich auf Fristen aus, die für einen Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens oder für ein Berufungsverfahren gelten.
(3) Wird eine Person nach Maßgabe des Absatzes 1 Buchstabe d übergeben und hat diese Person eine Wiederaufnahme des Verfahrens oder ein Berufungsverfahren beantragt, so wird die Haft der auf das entsprechende Verfahren wartenden Person bis zu dessen rechtskräftigem Abschluss im Einklang mit dem Recht des Ausstellungsmitgliedstaates entweder regelmäßig oder auf Antrag der betroffenen Person einer Überprüfung unterzogen. Eine solche Überprüfung umfasst insbesondere die Prüfung der Frage, ob die Haft aufgehoben oder ausgesetzt werden kann. Das Wiederaufnahmeverfahren oder Berufungsverfahren beginnt ohne unnötige Verzögerung nach der Übergabe.“
Rahmenbeschluss 2009/299
6 Die Erwägungsgründe 1, 14 und 15 des Rahmenbeschlusses 2009/299 lauten:
„(1)
Das Recht eines Angeklagten, persönlich zur Verhandlung zu erscheinen, ist Teil des Rechts auf ein faires Verfahren gemäß Artikel 6 [EMRK] in der Auslegung durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Der Gerichtshof hat aber auch darauf hingewiesen, dass das Recht des Angeklagten, persönlich zu der Verhandlung zu erscheinen, nicht absolut ist und dass der Angeklagte unter bestimmten Bedingungen aus freiem Willen ausdrücklich oder stillschweigend aber eindeutig auf das besagte Recht verzichten kann.
…
(14) Dieser Rahmenbeschluss beschränkt sich auf die Präzisierung der Definition der Gründe für die Nichtanerkennung in Rechtsakten zur Umsetzung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung. Dementsprechend haben Bestimmungen wie jene betreffend das Recht auf Wiederaufnahme des Verfahrens einen Anwendungsbereich, der auf die Definition dieser Gründe für die Nichtanerkennung beschränkt ist. Sie sind nicht zu einer Vereinheitlichung der einzelstaatlichen Rechtsvorschriften gedacht. Dieser Rahmenbeschluss lässt künftige Rechtsakte der Europäischen Union, die auf eine Angleichung der strafrechtlichen Vorschriften der Mitgliedstaaten abzielen, unberührt.
(15) Bei den Gründen für eine Nichtanerkennung von Entscheidungen handelt es sich um fakultative Gründe. Im Rahmen ihres Ermessensspielraums bei der Umsetzung dieser Gründe in einzelstaatliches Recht lassen sich die Mitgliedstaaten jedoch insbesondere von dem Recht auf ein faires Verfahren leiten und berücksichtigen dabei das Gesamtziel dieses Rahmenbeschlusses, d. h. die Stärkung der Verfahrensrechte von Personen und die Erleichterung der justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen“.
7 Art. 1 („Ziele und Anwendungsbereich“) Abs. 1 des Rahmenbeschlusses sieht vor:
„Die Ziele dieses Rahmenbeschlusses bestehen darin, die Verfahrensrechte von Personen, gegen die ein Strafverfahren anhängig ist, zu stärken, zugleich die justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen zu erleichtern und insbesondere die gegenseitige Anerkennung gerichtlicher Entscheidungen zwischen den Mitgliedstaaten zu verbessern.“
Richtlinie 2012/13
8 Art. 6 („Recht auf Unterrichtung über den Tatvorwurf“) der Richtlinie 2012/13 bestimmt:
„(1) Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass Verdächtige oder beschuldigte Personen über die strafbare Handlung unterrichtet werden, deren sie verdächtigt oder beschuldigt werden. Diese Unterrichtung erfolgt umgehend und so detailliert, dass ein faires Verfahren und eine wirksame Ausübung ihrer Verteidigungsrechte gewährleistet werden.
…
(3) Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass spätestens wenn einem Gericht die Anklageschrift vorgelegt wird, detaillierte Informationen über den Tatvorwurf, einschließlich der Art und der rechtlichen Beurteilung der Straftat sowie der Art der Beteiligung der beschuldigten Person, erteilt werden.
…“
Richtlinie 2013/48
9 In Art. 3 („Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand im Strafverfahren“) der Richtlinie 2013/48 heißt es:
„(1) Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass Verdächtigen und beschuldigten Personen das Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand so rechtzeitig und in einer solchen Art und Weise zukommt, dass die betroffenen Personen ihre Verteidigungsrechte praktisch und wirksam wahrnehmen können.
…
(4) Die Mitgliedstaaten bemühen sich, allgemeine Informationen zur Verfügung zu stellen, um es Verdächtigen oder beschuldigten Personen zu erleichtern, einen Rechtsbeistand zu erhalten.
Unbeschadet der Bestimmungen des nationalen Rechts über die zwingend vorgeschriebene Anwesenheit eines Rechtsbeistands treffen die Mitgliedstaaten die notwendigen Vorkehrungen, um sicherzustellen, dass Verdächtige oder beschuldigte Personen, denen die Freiheit entzogen ist, in der Lage sind, ihr Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand wirksam auszuüben, es sei denn, sie haben gemäß Artikel 9 auf dieses Recht verzichtet.
…“
Richtlinie (EU) 2016/343
10 Art. 8 („Recht auf Anwesenheit in der Verhandlung“) der Richtlinie (EU) 2016/343 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. März 2016 über die Stärkung bestimmter Aspekte der Unschuldsvermutung und des Rechts auf Anwesenheit in der Verhandlung in Strafverfahren (ABl. 2016, L 65, S. 1) sieht vor:
„…
(2) Die Mitgliedstaaten können vorsehen, dass eine Verhandlung, die zu einer Entscheidung über die Schuld oder Unschuld eines Verdächtigen oder einer beschuldigten Person führen kann, in seiner bzw. ihrer Abwesenheit durchgeführt werden kann, sofern
a)
der Verdächtige oder die beschuldigte Person rechtzeitig über die Verhandlung und über die Folgen des Nichterscheinens unterrichtet wurde oder
b)
der Verdächtige oder die beschuldigte Person, nachdem er bzw. sie über die Verhandlung unterrichtet wurde, von einem bevollmächtigten Rechtsanwalt vertreten wird, der entweder von dem Verdächtigen oder der beschuldigten Person oder vom Staat bestellt wurde.
…
(4) Wenn Mitgliedstaaten die Möglichkeit vorsehen, Verhandlungen in Abwesenheit des Verdächtigen oder der beschuldigten Person zu führen, es jedoch nicht möglich ist, die in Absatz 2 dieses Artikels genannten Voraussetzungen zu erfüllen, weil der Verdächtige oder die beschuldigte Person trotz angemessener Bemühungen nicht aufgefunden werden kann, so können die Mitgliedstaaten vorsehen, dass gleichwohl eine Entscheidung ergehen und vollstreckt werden kann. In einem solchen Fall stellen die Mitgliedstaaten sicher, dass Verdächtige oder beschuldigte Personen, wenn sie über die Entscheidung unterrichtet werden, insbesondere wenn sie festgenommen werden, auch über die Möglichkeit, die Entscheidung anzufechten, sowie über das Recht, gemäß Artikel 9 eine neue Verhandlung zu verlangen oder einen sonstigen Rechtsbehelf einzulegen, unterrichtet werden.
…“
11 Art. 9 („Recht auf eine neue Verhandlung“) der Richtlinie lautet:
„Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass Verdächtige oder beschuldigte Personen, wenn sie bei der sie betreffenden Verhandlung nicht anwesend waren und die in Artikel 8 Absatz 2 genannten Voraussetzungen nicht erfüllt wurden, das Recht auf eine neue Verhandlung oder auf Einlegung eines sonstigen Rechtsbehelfs haben, die bzw. der eine neue Prüfung des Sachverhalts, einschließlich neuer Beweismittel, ermöglicht und zur Aufhebung der ursprünglichen Entscheidung führen kann. In diesem Zusammenhang stellen die Mitgliedstaaten sicher, dass diese Verdächtigen und beschuldigten Personen das Recht haben, anwesend zu sein, im Einklang mit den Verfahren des nationalen Rechts effektiv mitzuwirken und ihre Verteidigungsrechte wahrzunehmen.“
Nationales Recht
Italienisches Recht
12 Art. 24 der italienischen Verfassung bestimmt:
„Jedermann darf zum Schutz der eigenen Rechte und der rechtmäßigen Interessen vor einem Gericht Klage erheben.
Die Verteidigung ist in jedem Stand und in jeder Stufe des Verfahrens ein unverletzliches Recht.
Den Mittellosen werden durch eigene Einrichtungen die Mittel zur Klage und Verteidigung bei jedem Gerichtsverfahren zugesichert.
…“
13 Art. 2 („Wahrung der Grundrechte und verfassungsrechtlichen Garantien“) der Legge n. 69 – Disposizioni per conformare il diritto interno alla decisione quadro 2002/584/GAI del Consiglio, del 13 giugno 2002, relativa al mandato d’arresto europeo e alle procedure di consegna tra Stati membri (Gesetz Nr. 69 – Bestimmungen zur Anpassung des innerstaatlichen Rechts an den Rahmenbeschluss 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten) vom 22. April 2005 (GURI Nr. 98 vom 29. April 2005, S. 6, im Folgenden: Gesetz Nr. 69/2005) bestimmt:
„Die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls darf unter keinen Umständen zu einer Verletzung der obersten Grundsätze der verfassungsmäßigen Ordnung des Staates oder der von der Verfassung anerkannten unveräußerlichen Rechte des Einzelnen, der in Art. 6 [EUV] niedergelegten Grundrechte und wesentlichen Rechtsgrundsätze oder der in der [EMRK] und ihren Zusatzprotokollen gewährleisteten Grundrechte führen“.
14 Art. 6 („Inhalt des Europäischen Haftbefehls im Übernahmeverfahren“) Abs. 1, 1bis und 2 des Gesetzes Nr. 69/2005 lautet:
„(1) Der Europäische Haftbefehl muss die folgenden Angaben enthalten:
a)
die Identität und die Staatsangehörigkeit der gesuchten Person;
b)
Name, Anschrift, Telefon- und Telefaxnummer sowie E‑Mail-Adresse der ausstellenden Justizbehörde;
c)
die Angabe, ob ein vollstreckbares Urteil, eine Sicherungsmaßnahme oder eine andere vollstreckbare justizielle Entscheidung mit gleicher Rechtswirkung nach den Art. 7 und 8 dieses Gesetzes vorliegt;
d)
die Art und rechtliche Würdigung der Straftat;
e)
die Beschreibung der Umstände, unter denen die Straftat begangen wurde, einschließlich der Tatzeit, des Tatortes und der Art der Tatbeteiligung der gesuchten Person;
f)
im Fall eines rechtskräftigen Urteils die verhängte Strafe oder der für die betreffende Straftat im Ausstellungsmitgliedstaat gesetzlich vorgeschriebene Strafrahmen;
g)
soweit möglich, die anderen Folgen der Straftat.
(1bis) Wurde der Europäische Haftbefehl zum Zwecke der Vollstreckung einer Freiheitsstrafe oder einer freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung nach Abschluss eines Verfahrens ausgestellt, zu dem die betreffende Person nicht persönlich erschienen ist, so muss er außerdem mindestens eine der folgenden Angaben enthalten:
a)
die betroffene Person wurde rechtzeitig persönlich oder auf eine Weise vorgeladen, die ohne Zweifel garantiert, dass sie vom Ort und Termin der Verhandlung, die zu der in ihrer Abwesenheit ergangenen Entscheidung geführt hat, sowie von der Tatsache Kenntnis hatte, dass diese Entscheidung auch in ihrer Abwesenheit würde ergehen können;
b)
die betroffene Person wurde, nachdem sie über das gegen sie eingeleitete Verfahren unterrichtet worden ist, in der Verhandlung, die zu der genannten Entscheidung geführt hat, von einem von ihr oder einem von Amts wegen bestellten Rechtsbeistand vertreten;
c)
die betroffene Person hat, nachdem ihr die Entscheidung, deren Vollstreckung beantragt wird, zugestellt und sie über das Recht auf ein neues Verfahren oder auf ein Berufungsverfahren, an dem sie teilnehmen kann und das eine erneute Prüfung der Entscheidung in der Sache und – auch mittels der Vorlage neuer Beweismittel – eine Abänderung dieser Entscheidung ermöglicht, in Kenntnis gesetzt worden ist, ausdrücklich erklärt, dass sie die Entscheidung nicht anficht, und innerhalb der geltenden Frist keine Wiederaufnahme des Verfahrens bzw. kein Berufungsverfahren beantragt;
d)
der betroffenen Person wurde die Entscheidung nicht persönlich zugestellt, wird ihr aber unverzüglich nach ihrer Übergabe im Ausstellungsmitgliedstaat persönlich zugestellt werden, und sie wird ausdrücklich über ihr Recht auf ein neues Verfahren oder auf ein Berufungsverfahren, an dem sie teilnehmen kann und das eine erneute Prüfung der Entscheidung in der Sache und – auch mittels der Vorlage neuer Beweismittel – eine Abänderung dieser Entscheidung ermöglicht, sowie von der Frist in Kenntnis gesetzt, innerhalb deren sie eine Wiederaufnahme des Verfahrens bzw. ein Berufungsverfahren beantragen kann.
(2) Enthält der Europäische Haftbefehl nicht die in Abs. 1 Buchst. a, c, d, e und f genannten Informationen oder die Angabe über das Vorliegen mindestens einer der in Abs. 1bis genannten Voraussetzungen, so handelt die Justizbehörde gemäß Art. 16. Das Gleiche gilt, wenn sie es für erforderlich erachtet, weitere Informationen zu beschaffen, um zu prüfen, ob einer der in den Art. 18, 18bis 18ter und 19 vorgesehenen Fälle vorliegt.“
15 Art. 18ter („In Abwesenheit der beschuldigten Person ergangene Entscheidungen“) dieses Gesetzes sieht vor:
„(1) Wurde der Europäische Haftbefehl zur Vollstreckung einer Strafe oder einer freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung erlassen, die im Anschluss an eine Verhandlung verhängt wurde, zu der die betreffende Person nicht persönlich erschienen ist, kann das Berufungsgericht die Übergabe auch dann ablehnen, wenn der Europäische Haftbefehl keine der in Art. 6 Abs. 1bis genannten Angaben enthält und der Ausstellungsstaat auch nach einem Ersuchen nach Art. 16 keine Informationen über diese Angaben erteilt hat.
(2) In den Fällen des Abs. 1 kann das Berufungsgericht die Übergabe jedoch vornehmen, wenn mit Sicherheit nachgewiesen ist, dass die betroffene Person von dem Verfahren Kenntnis hatte oder sich der Kenntnis des Verfahrens bewusst entzogen hat.
(3) Bei Vorliegen der Voraussetzungen des Art. 6 Abs. 1bis Buchst. d kann die Person, um deren Übergabe ersucht wird und die zuvor nicht über das gegen sie durchgeführte Strafverfahren in Kenntnis gesetzt worden ist, einen Antrag auf Übermittlung einer Abschrift des dem Europäischen Haftbefehl zugrunde liegenden Urteils stellen. Ein solcher Antrag stellt in keinem Fall einen Grund für eine Aussetzung des Übergabeverfahrens oder der Entscheidung über die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls dar. Das Berufungsgericht leitet den Antrag unverzüglich an die ausstellende Behörde weiter.“
Belgisches Recht
16 Art. 186 des Code d’instruction criminelle belge (belgisches Strafprozessgesetzbuch) lautet:
„Wenn die geladene Person oder der Rechtsanwalt, der sie vertritt, nicht an dem in der Ladung festgelegten Tag und zu der in der Ladung festgelegten Uhrzeit erscheint, ergeht gegen sie ein Urteil im Versäumniswege.“
17 Art. 187 § 1 des Strafprozessgesetzbuchs bestimmt:
„Der im Versäumniswege Verurteilte kann binnen fünfzehn Tagen nach dem Tag, an dem das Urteil zugestellt wurde, gegen dieses Urteil Einspruch einlegen.
Wenn das Urteil dem im Versäumniswege Verurteilten nicht persönlich zugestellt worden ist, kann dieser, was die strafrechtlichen Verurteilungen betrifft, binnen fünfzehn Tagen nach dem Tag, an dem er von der Zustellung Kenntnis erlangt hat, Einspruch einlegen.
Wenn er durch die Zustellung eines europäischen Haftbefehls oder eines Auslieferungsersuchens davon Kenntnis erlangt hat oder wenn die laufende Frist von fünfzehn Tagen zum Zeitpunkt seiner Festnahme im Ausland noch nicht abgelaufen ist, kann er binnen fünfzehn Tagen nach dem Tag seiner Übergabe oder seiner im Ausland erfolgten Freilassung Einspruch einlegen.
Wenn nicht erwiesen ist, dass der im Versäumniswege Verurteilte Kenntnis von der Zustellung erlangt hat, kann er bis zu dem Zeitpunkt, an dem die Fristen für die Verjährung der Strafe abgelaufen sind, Einspruch einlegen. Was die zivilrechtlichen Verurteilungen betrifft, kann der im Versäumniswege Verurteilte bis zur Vollstreckung des Urteils Einspruch einlegen.
…“
Ausgangsverfahren und Vorlagefrage
18 Am 29. April 2024 stellte der Parquet du procureur du Roi de Bruxelles (Staatsanwaltschaft des Prokurators des Königs in Brüssel) einen Europäischen Haftbefehl gegen RT (im Folgenden: in Rede stehender Europäischer Haftbefehl), die die französische und malische Staatsangehörigkeit besitzt und Inhaberin eines malischen Diplomatenpasses ist, zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren aus, zu der RT vom Tribunal de première instance francophone de Bruxelles (französischsprachiges Gericht erster Instanz von Brüssel) mit Urteil vom 18. Oktober 2023 verurteilt worden war. Die Verurteilung war auf Art. 100ter, Art. 432 Abs. 1 Unterabs. 1 und 2 sowie Abs. 3 und auf Art. 432 Abs. 2 Unterabs. 1 des Code pénal belge (belgisches Strafgesetzbuch) wegen Entziehung eines minderjährigen Kindes und Festhaltens im Ausland während mehr als fünf Tagen gestützt (im Folgenden: Urteil vom 18. Oktober 2023).
19 Ausweislich des Vorabentscheidungsersuchens erging das Urteil vom 18. Oktober 2023 im Versäumniswege im Anschluss an eine Verhandlung, die ablief, ohne dass RT die Anklageschrift tatsächlich zugestellt worden war, und mithin, ohne dass ein von RT beauftragter oder ein von Amts wegen bestellter Rechtsbeistand in der Sitzung, die im Rahmen dieses Verfahrens stattfand, anwesend war.
20 Der Sachverhalt, zu dem das Urteil vom 18. Oktober 2023 ergangen ist, lässt sich, wie er sich aus dem Vorabentscheidungsersuchen ergibt, wie folgt zusammenfassen. RT soll nach Auflösung ihrer Beziehung mit JG im Jahr 2018 mit ihrer am 3. November 2015 in Brüssel geborenen Tochter UMTG nach Mali umgezogen sein. Dadurch soll RT Urteilen des Tribunal de première instance de Bruxelles, tribunal de la famille (Gericht erster Instanz von Brüssel, Familiengericht, Belgien) vom 26. Juni und 24. September 2019 zuwidergehandelt haben, denen u. a. zu entnehmen ist, dass UMTG in erster Linie von JG in Belgien unterzubringen sei.
21 Am 20. Juni 2024 wurde RT bei ihrer Ankunft in Italien festgenommen und zur Vollstreckung des in Rede stehenden Europäischen Haftbefehls in Untersuchungshaft genommen. Am 22. Juni 2024 nahm die Corte d’appello di Roma (Berufungsgericht Rom, Italien), das vorlegende Gericht, die Anhörung von RT vor, die ihrer Übergabe an die belgischen Behörden nicht zustimmte. Sie machte insbesondere geltend, dass ihr die malischen Gerichte das Sorgerecht für UMTG zugesprochen hätten und dass JG sein Einverständnis mit deren Verbringung nach Mali erklärt habe. In einer Sitzung vom 2. Juli 2024 beantragte RT u. a., die Vollstreckung dieses Haftbefehls abzulehnen und die Aufhebung ihrer Untersuchungshaft anzuordnen.
22 Auf ein Ersuchen des vorlegenden Gerichts hin teilte das Ministère de la Justice (Justizministerium, Belgien) mit Schreiben vom 8. Juli 2024 mit, dass RT mit Einschreiben zum Erscheinen in der Sitzung des Tribunal de première instance francophone de Bruxelles (französischsprachiges Gericht erster Instanz von Brüssel) vom 4. Oktober 2023 im Rahmen des Verfahrens, in dem das Urteil vom 18. Oktober 2023 ergangen sei, geladen worden sei. Da sie zu dieser Sitzung weder erschienen noch dort durch einen Rechtsbeistand vertreten worden sei, sei dieses Urteil im Anschluss an ein nicht kontradiktorisches Verfahren im Versäumniswege ergangen. Ferner geht nach Angaben des vorlegenden Gerichts sowohl aus diesem Schreiben als auch aus dem in Rede stehenden Europäischen Haftbefehl hervor, dass RT im Fall ihrer Übergabe an die belgischen Behörden binnen 15 Tagen nach dem Tag, an dem das Urteil zugestellt wurde, beim Tribunal de première instance francophone de Bruxelles (französischsprachiges Gericht erster Instanz von Brüssel) gegen das Urteil vom 18. Oktober 2023 Einspruch einlegen könnte und dass dieser Einspruch, sollte er für zulässig erklärt werden, sowohl zur Aufhebung dieses Urteils als auch zur Anberaumung einer neuen Verhandlung führen könnte, in der ihr dieselben Rechte zustünden wie die, die ihr in der Verhandlung, die zu diesem Urteil geführt habe, zugestanden hätten. Außerdem habe RT binnen 30 Tagen nach dem Tag, an dem das Urteil zugestellt wurde, die Möglichkeit, bei der Cour d’appel de Bruxelles (Berufungsgericht Brüssel, Belgien) gegen das Urteil vom 18. Oktober 2023 Berufung einzulegen. In beiden Fällen erhielte RT zwingend Beistand durch einen von ihr bestellten oder einen vom Amt für Prozesskostenhilfe benannten Rechtsanwalt, sie verfügte über eine angemessene Frist zur Vorbereitung ihrer Verteidigung und könnte ihre Freilassung beantragen.
23 Mit Beschluss vom 11. Juli 2024 wies das vorlegende Gericht zum einen den Antrag von RT auf Aufhebung ihrer Untersuchungshaft zurück und teilte zum anderen mit, dass es für den 24. September 2024 eine Sitzung anberaumt habe, um eine Sachentscheidung über die Vollstreckung des in Rede stehenden Europäischen Haftbefehls zu fällen.
24 Da das Gesetz Nr. 69/2005, mit dem der Rahmenbeschluss 2002/584 umgesetzt werde, in einem Fall wie dem des Ausgangsverfahrens nicht die Möglichkeit vorsehe, die Übergabe von RT zu verweigern, hegt das vorlegende Gericht Zweifel an der Vereinbarkeit dieses Gesetzes sowohl mit dem italienischen Verfassungsrecht als auch mit dem Unionsrecht. Nach der Rechtsprechung der Corte costituzionale (Verfassungsgerichtshof, Italien) und der Corte suprema di cassazione (Kassationsgerichtshof, Italien) könne in Italien nämlich keine Verhandlung in Strafsachen stattfinden, ohne dass der Angeklagte durch einen Rechtsbeistand vertreten werde, und zwar auch dann nicht, wenn der Angeklagte nicht persönlich erscheine. Dabei handle es sich um einen verfassungsrechtlichen Grundsatz, der nach Auffassung des vorlegenden Gerichts durch Art. 48 der Charta und durch Art. 6 EMRK bestätigt wird und der im Licht von Art. 6 EUV und von Art. 1 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses 2002/584 der Vollstreckung eines zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe ausgestellten Europäischen Haftbefehls entgegenstehe, die ohne Vertretung des Angeklagten durch einen Rechtsbeistand und damit unter Verletzung seiner Verteidigungsrechte verhängt worden sei.
25 Das vorlegende Gericht erwähnt in diesem Zusammenhang das von der Corte suprema di cassazione (Kassationsgerichtshof) mit Entscheidung vom 19. Dezember 2023 eingereichte Vorabentscheidungsersuchen in der anhängigen Rechtssache C‑40/24, Derterti, das namentlich dasselbe Problem wie das im Ausgangsverfahren in Rede stehende betrifft.
26 Vor diesem Hintergrund hat die Corte d’appello di Roma (Berufungsgericht Rom) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:
Sind
a)
Art. 6 EUV, Art. 48 Abs. 2 und Art. 52 Abs. 3 und 4 der Charta,
b)
Art. 6 Abs. 3 Buchst. c EMRK,
c)
Art. 1 Abs. 3 und Art. 4a des Rahmenbeschlusses 2002/584,
d)
Art. 6 der Richtlinie 2012/13 und
e)
Art. 3 der Richtlinie 2013/48
in ihrer Gesamtheit dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Regelung wie der italienischen Regelung entgegenstehen, die in den Art. 2, 6 und 18ter des Gesetzes Nr. 69/2005 vorgesehen ist und es der Corte d’appello (Berufungsgericht, Italien) als zuständiger Justizbehörde des ersuchten Staates nicht erlaubt, die Übergabe einer Person an den Ausstellungsstaat in Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls zu verweigern, der auf der Grundlage einer Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe ausgestellt wurde, die im Ausstellungsmitgliedstaat nach Abschluss eines Strafverfahrens verhängt wurde, das in Abwesenheit eines vom Angeklagten ausgewählten oder eines vom Gericht von Amts wegen bestellten Rechtsbeistands und in jedem Fall ohne wirksame Verteidigung stattgefunden hat, und zwar auch dann, wenn die verurteilte Person nach Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls Anspruch auf die Zustellung des Urteils hat und gegen dieses Urteil Einspruch oder Berufung einlegen kann?
Zum Antrag auf Anwendung des Eilvorabentscheidungsverfahrens
27 Das vorlegende Gericht hat beantragt, das Vorabentscheidungsersuchen dem Eilvorabentscheidungsverfahren gemäß Art. 23a Abs. 1 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union und Art. 107 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs zu unterwerfen.
28 Es stützt seinen Antrag darauf, dass sich RT seit dem 20. Juni 2024 in Untersuchungshaft befinde.
29 Insoweit ist erstens darauf hinzuweisen, dass das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen die Auslegung u. a. des Rahmenbeschlusses 2002/584, der Richtlinie 2012/13 und der Richtlinie 2013/48 betrifft, die unter Titel V („Der Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“) des Dritten Teils des AEU-Vertrags fallen. Es kommt daher für ein Eilvorabentscheidungsverfahren in Betracht.
30 Was zweitens die Voraussetzung der Dringlichkeit anbelangt, so ist diese insbesondere dann erfüllt, wenn der im Ausgangsverfahren betroffenen Person gegenwärtig ihre Freiheit entzogen ist und ihre weitere Inhaftierung von der Entscheidung des Ausgangsverfahrens abhängt, wobei hinsichtlich der Lage dieser Person auf den Zeitpunkt der Prüfung des Antrags, die Vorlage zur Vorabentscheidung dem Eilverfahren zu unterwerfen, abzustellen ist (Urteil vom 14. Mai 2024, Stachev, C‑15/24 PPU, EU:C:2024:399, Rn. 42 und die dort angeführte Rechtsprechung).
31 Vorliegend ergibt sich aus der Vorlageentscheidung zum einen, dass RT in der Tat seit dem 20. Juni 2024 die Freiheit entzogen ist und dass sie sich zum Zeitpunkt der Prüfung des Antrags, die Vorlage zur Vorabentscheidung dem Eilverfahren zu unterwerfen, in dieser Lage befand.
32 Zum anderen hat das vorlegende Gericht sinngemäß angegeben, dass es nach Maßgabe der Antwort, die der Gerichtshof auf die Vorlagefrage geben werde, veranlasst sein könnte, die Vollstreckung des betreffenden Europäischen Haftbefehls abzulehnen und mithin die Freilassung von RT anordnen zu müssen.
33 Unter diesen Umständen hat die Erste Kammer des Gerichtshofs am 1. August 2024 auf Vorschlag des Berichterstatters und nach Anhörung des Generalanwalts beschlossen, dem Antrag des vorlegenden Gerichts, das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen dem Eilvorabentscheidungsverfahren zu unterwerfen, stattzugeben.
Zur Vorlagefrage
34 Nach Art. 99 seiner Verfahrensordnung kann der Gerichtshof, wenn die Antwort auf eine zur Vorabentscheidung vorgelegte Frage klar aus der Rechtsprechung abgeleitet werden kann oder wenn die Beantwortung einer solchen Frage keinen Raum für vernünftige Zweifel lässt, auf Vorschlag des Berichterstatters und nach Anhörung des Generalanwalts jederzeit die Entscheidung treffen, durch mit Gründen versehenen Beschluss zu entscheiden.
35 Diese Bestimmung ist in der vorliegenden Rechtssache anzuwenden.
36 Mit seiner einzigen Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 4a des Rahmenbeschlusses 2002/584 im Licht von Art. 6 EUV, Art. 48 Abs. 2 und Art. 52 Abs. 3 und 4 der Charta, Art. 6 Abs. 3 Buchst. c EMRK, Art. 1 Abs. 3 dieses Rahmenbeschlusses, Art. 6 der Richtlinie 2012/13 und Art. 3 der Richtlinie 2013/48 dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung entgegensteht, die es der vollstreckenden Justizbehörde nicht erlaubt, die Übergabe einer Person aufgrund eines Europäischen Haftbefehls zu verweigern, der zur Vollstreckung einer im Ausstellungsmitgliedstaat gegen diese Person verhängten Freiheitsstrafe ausgestellt wurde, wenn die Person zu der Verhandlung, die zu der Entscheidung geführt hat, nicht persönlich erschienen ist, ohne dass sie durch einen von ihr ausgewählten oder einen von Amts wegen bestellten Rechtsbeistand vertreten war und in jedem Fall ohne dass eine wirksame Verteidigung stattgefunden hat, in einer Situation, in der dieser Person nach dieser Übergabe das im Versäumniswege ergangene Urteil zugestellt wird und sie gegen dieses Urteil Einspruch oder Berufung einlegen kann.
37 Vorab ist darauf hinzuweisen, dass nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs sowohl der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens zwischen den Mitgliedstaaten als auch der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung, der seinerseits auf dem gegenseitigen Vertrauen zwischen den Mitgliedstaaten beruht, im Unionsrecht fundamentale Bedeutung haben, da sie die Schaffung und Aufrechterhaltung eines Raums ohne Binnengrenzen ermöglichen. Konkret verlangt der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens, namentlich in Bezug auf den Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, von jedem Mitgliedstaat, dass er, abgesehen von außergewöhnlichen Umständen, davon ausgeht, dass alle anderen Mitgliedstaaten das Unionsrecht und insbesondere die dort anerkannten Grundrechte beachten (Urteile vom 31. Januar 2023, Puig Gordi u. a., C‑158/21, EU:C:2023:57, Rn. 93, und vom 21. Dezember 2023, GN [Ablehnung aus Gründen des Kindeswohls], C‑261/22, EU:C:2023:1017, Rn. 33 und die dort angeführte Rechtsprechung).
38 Bei der Durchführung des Unionsrechts sind die Mitgliedstaaten somit verpflichtet, die Beachtung der Grundrechte durch die übrigen Mitgliedstaaten zu unterstellen, so dass sie weder von einem anderen Mitgliedstaat ein höheres nationales Schutzniveau der Grundrechte als das durch das Unionsrecht gewährleistete verlangen können noch – von Ausnahmefällen abgesehen – prüfen können, ob dieser andere Mitgliedstaat in einem konkreten Fall die durch die Union gewährleisteten Grundrechte tatsächlich beachtet hat (Gutachten 2/13 [Beitritt der Union zur EMRK] vom 18. Dezember 2014, EU:C:2014:2454, Rn. 192, sowie Urteil vom 21. Dezember 2023, GN [Ablehnung aus Gründen des Kindeswohls], C‑261/22, EU:C:2023:1017, Rn. 34 und die dort angeführte Rechtsprechung).
39 In diesem Zusammenhang zielt der Rahmenbeschluss 2002/584 darauf ab, durch die Einführung eines vereinfachten und wirksamen Systems der Übergabe von Personen, die wegen einer Straftat verurteilt worden sind oder einer Straftat verdächtigt werden, die justizielle Zusammenarbeit zu erleichtern und zu beschleunigen, um zur Verwirklichung des der Union gesteckten Ziels beizutragen, sich zu einem Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts zu entwickeln, beruhend auf dem hohen Maß an Vertrauen, das zwischen den Mitgliedstaaten bestehen muss (Urteil vom 21. Dezember 2023, GN [Ablehnung aus Gründen des Kindeswohls], C‑261/22, EU:C:2023:1017, Rn. 35 und die dort angeführte Rechtsprechung).
40 Der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung, der nach dem sechsten Erwägungsgrund des Rahmenbeschlusses 2002/584 seine erste konkrete Verwirklichung im Europäischen Haftbefehl im Sinne dieses Rahmenbeschlusses findet, stellt den „Eckstein“ der justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen dar. Dieser Grundsatz kommt in Art. 1 Abs. 2 dieses Rahmenbeschlusses zum Ausdruck, der die Regel aufstellt, dass die Mitgliedstaaten jeden Europäischen Haftbefehl auf der Grundlage dieses Grundsatzes und gemäß den Bestimmungen des Rahmenbeschlusses vollstrecken müssen (Urteile vom 21. Dezember 2023, GN [Ablehnung aus Gründen des Kindeswohls], C‑261/22, EU:C:2023:1017, Rn. 36 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie vom 21. Dezember 2023, G. K. u. a. [Europäische Staatsanwaltschaft], C‑281/22, EU:C:2023:1018, Rn. 59 und die dort angeführte Rechtsprechung).
41 Zum einen können die vollstreckenden Justizbehörden die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls demnach nur aus den Gründen verweigern, die im Rahmenbeschluss 2002/584, wie er vom Gerichtshof ausgelegt wird, genannt sind. Zum anderen stellt die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls den Grundsatz dar, während die Ablehnung der Vollstreckung als Ausnahme ausgestaltet und eng auszulegen ist (Urteil vom 21. Dezember 2023, GN [Ablehnung aus Gründen des Kindeswohls], C‑261/22, EU:C:2023:1017, Rn. 37 und die dort angeführte Rechtsprechung).
42 Insbesondere Art. 4a Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584 stellt eine Ausnahme von der Regel dar, wonach die vollstreckende Justizbehörde verpflichtet ist, die gesuchte Person an den Ausstellungsmitgliedstaat zu übergeben, und ist daher eng auszulegen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 23. März 2023, Minister for Justice and Equality [Widerruf der Strafaussetzung zur Bewährung], C‑514/21 und C‑515/21, EU:C:2023:235, Rn. 55).
43 Erstens geht aber schon aus dem Wortlaut dieser Bestimmung hervor, dass die vollstreckende Justizbehörde die Vollstreckung eines zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe oder einer freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung ausgestellten Europäischen Haftbefehls verweigern kann, wenn der Betroffene nicht persönlich zu der Verhandlung erschienen ist, die zu der Entscheidung geführt hat, es sei denn, aus dem Europäischen Haftbefehl geht hervor, dass die in Art. 4a Abs. 1 Buchst. a bis d genannten Voraussetzungen erfüllt sind (Urteil vom 23. März 2023, Minister for Justice and Equality [Widerruf der Strafaussetzung zur Bewährung], C‑514/21 und C‑515/21, EU:C:2023:235, Rn. 48 und die dort angeführte Rechtsprechung).
44 Art. 4a des Rahmenbeschlusses 2002/584 schränkt damit die Möglichkeit, die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls zu verweigern, ein, indem er in genauer und einheitlicher Weise aufzählt, unter welchen Voraussetzungen die Anerkennung und Vollstreckung einer Entscheidung, die im Anschluss an eine Verhandlung ergangen ist, zu der der Betroffene nicht persönlich erschienen war, nicht verweigert werden dürfen (Urteil vom 23. März 2023, Minister for Justice and Equality [Widerruf der Strafaussetzung zur Bewährung], C‑514/21 und C‑515/21, EU:C:2023:235, Rn. 49 und die dort angeführte Rechtsprechung).
45 Folglich ist die vollstreckende Justizbehörde verpflichtet, einen Europäischen Haftbefehl ungeachtet der Abwesenheit des Betroffenen in der Verhandlung, die zu der Entscheidung geführt hat, zu vollstrecken, wenn nachweislich einer der in Art. 4a Abs. 1 Buchst. a, b, c oder d des Rahmenbeschlusses 2002/584 genannten Fälle vorliegt (Urteil vom 17. Dezember 2020, Generalstaatsanwaltschaft Hamburg, C‑416/20 PPU, EU:C:2020:1042, Rn. 41).
46 Im vorliegenden Fall ist Art. 4a Abs. 1 Buchst. d des Rahmenbeschlusses 2002/584 einschlägig, da dem Vorabentscheidungsersuchen zu entnehmen ist, dass RT zu der Verhandlung, die zu der Entscheidung, nämlich dem Urteil vom 18. Oktober 2023, geführt hat, weder persönlich erschienen ist noch ihr dieses Urteil persönlich zugestellt wurde und dass in dem in Rede stehenden Europäischen Haftbefehl angegeben ist, dass sie binnen 15 bzw. 30 Tagen nach dem Tag, an dem das Urteil zugestellt wurde, die Möglichkeit habe, gegen dieses Urteil Einspruch bzw. Berufung einzulegen. In dieser Bestimmung ist keine Rede vom Beistand durch einen Rechtsanwalt in dieser Verhandlung.
47 Aus dem Wortlaut von Art. 4a Abs. 1 Buchst. d des Rahmenbeschlusses 2002/584 geht insbesondere nicht hervor, dass die vollstreckende Justizbehörde die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls dann, wenn er im Anschluss an eine Verhandlung ausgestellt wurde, zu der die von diesem Haftbefehl betroffene Person nicht persönlich erschienen ist, deshalb verweigern könnte, weil diese Person nicht durch einen von ihr ausgewählten oder einen von Amts wegen bestellten Rechtsbeistand vertreten war. Ein anderes Verständnis liefe somit darauf hinaus, eine zusätzliche Voraussetzung für die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls in den Rahmenbeschluss 2002/584 aufzunehmen, die der Unionsgesetzgeber nicht vorgesehen hat.
48 Zweitens hat der Gerichtshof, was die Entstehungsgeschichte und die Ziele von Art. 4a des Rahmenbeschlusses 2002/584 betrifft, bereits festgestellt, dass diese Bestimmung darauf abzielt, ein hohes Schutzniveau zu gewährleisten und es der vollstreckenden Behörde zu ermöglichen, den Betroffenen trotz seiner Abwesenheit bei der Verhandlung, die zu seiner Verurteilung geführt hat, unter uneingeschränkter Achtung seiner Verteidigungsrechte zu übergeben. Wie insbesondere aus Art. 1 des Rahmenbeschlusses 2009/299 im Licht seiner Erwägungsgründe 1 und 15 ausdrücklich hervorgeht, wurde Art. 4a in den Rahmenbeschluss 2002/584 eingefügt, um das Recht des Angeklagten zu schützen, persönlich zu dem gegen ihn eingeleiteten Strafverfahren zu erscheinen, und zugleich die gegenseitige Anerkennung gerichtlicher Entscheidungen zwischen den Mitgliedstaaten zu verbessern (Urteil vom 23. März 2023, Minister for Justice and Equality [Widerruf der Strafaussetzung zur Bewährung], C‑514/21 und C‑515/21, EU:C:2023:235, Rn. 50 und die dort angeführte Rechtsprechung).
49 Parallel dazu wurde durch den Rahmenbeschluss 2009/299 Art. 5 Nr. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584 aufgehoben, der es der vollstreckenden Justizbehörde erlaubte, dann, wenn ein Europäischer Haftbefehl zur Vollstreckung eines Abwesenheitsurteils ausgestellt worden war und die betroffene Person vom Termin und vom Ort der Verhandlung, die zum Abwesenheitsurteil geführt hat, nicht unterrichtet worden war, die Übergabe an die Bedingung zu knüpfen, dass die ausstellende Justizbehörde eine als ausreichend erachtete Zusicherung gibt, wonach diese Person die Möglichkeit haben werde, im Ausstellungsmitgliedstaat eine Wiederaufnahme des Verfahrens zu beantragen und bei der Gerichtsverhandlung anwesend zu sein.
50 Es dient daher der Gewährleistung des Schutzes der Verteidigungsrechte und des Rechts auf Zugang zu einem Rechtsbeistand, dass Art. 4a Abs. 1 Buchst. d Ziff. i des Rahmenbeschlusses 2002/584 verlangt, dass die im Versäumniswege verurteilte Person das Recht „auf Wiederaufnahme des Verfahrens oder auf ein Berufungsverfahren [hat], an dem [sie] teilnehmen kann und bei dem der Sachverhalt, einschließlich neuer Beweismittel, erneut geprüft werden und die ursprünglich ergangene Entscheidung aufgehoben werden kann“.
51 Im Übrigen ist zum einen festzustellen, dass der Rahmenbeschluss 2002/584 ein auf den Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens gegründetes System der gegenseitigen Anerkennung einführt und dass er dabei, wie es im 14. Erwägungsgrund des Rahmenbeschlusses 2009/299 heißt, nicht zu einer Vereinheitlichung der einzelstaatlichen Rechtsvorschriften gedacht ist.
52 Zum anderen ist darauf hinzuweisen, dass dieses Erfordernis eines Rechts auf Wiederaufnahme des Verfahrens oder auf ein Berufungsverfahren, bei dem der Sachverhalt erneut geprüft werden kann, dem in Art. 8 Abs. 4 und in Art. 9 der Richtlinie 2016/343 enthaltenen Erfordernis in dem Fall entspricht, in dem die Mitgliedstaaten die Möglichkeit vorsehen, Verhandlungen in Abwesenheit des Verdächtigen oder der beschuldigten Person zu führen, es jedoch nicht möglich ist, die in Art. 8 Abs. 2 dieser Richtlinie genannten Voraussetzungen zu erfüllen, insbesondere die, dass die beschuldigte Person über die Verhandlung unterrichtet wurde, weil sie trotz angemessener Bemühungen nicht aufgefunden werden kann.
53 Aus dem Vorstehenden ergibt sich, dass Art. 4a Abs. 1 Buchst. d des Rahmenbeschlusses 2002/584 nicht dahin ausgelegt werden kann, dass die vollstreckende Justizbehörde die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls aus dem Grund ablehnen könnte, dass die betreffende Person in der Verhandlung, die zu der Entscheidung geführt hat, nicht durch einen von ihr ausgewählten oder einen von Amts wegen bestellten Rechtsbeistand vertreten war, und erst recht nicht dahin, dass diese Bestimmung der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden italienischen Regelung entgegensteht, soweit sie eine solche Ablehnung nicht zulässt, und das, obwohl nach dieser Regelung in Italien ein Urteil im Versäumniswege nicht ergehen darf, wenn es an der Bestellung eines Rechtsbeistands von Amts wegen fehlt.
54 Drittens wird diese Auslegung weder durch die Richtlinie 2012/13 noch durch die Richtlinie 2013/48 entkräftet, die das vorlegende Gericht ebenfalls anführt, ohne jedoch zu erläutern, welche Zweifel es insoweit hegt. Soweit es die Frage aufwirft, ob diese Richtlinien die Mitgliedstaaten verpflichten, sich zu vergewissern, dass Verdächtige oder beschuldigte Personen in einer Verhandlung, die zu ihrer Verurteilung im Versäumniswege führen kann, den Beistand eines von Amts wegen bestellten Rechtsanwalts haben, ist diese Frage für die Feststellung, in welchen Fällen die Ablehnung der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls nach Art. 4a des Rahmenbeschlusses 2002/584 zulässig ist, nicht von Belang.
55 Es genügt der Hinweis, dass nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs eine etwaige Unvereinbarkeit des nationalen Rechts des Ausstellungsmitgliedstaats mit den Bestimmungen einer Richtlinie keinen Grund für die Verweigerung der Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls darstellen kann. Die Berufung auf die Bestimmungen einer Richtlinie, um die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls zu verhindern, würde es nämlich ermöglichen, das durch den Rahmenbeschluss 2002/584, in dem die Gründe für die Ablehnung der Vollstreckung abschließend aufgezählt werden, geschaffene System zu umgehen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 17. Dezember 2020, Generalstaatsanwaltschaft Hamburg, C‑416/20 PPU, EU:C:2020:1042, Rn. 46 und 47).
56 Viertens ist Art. 4a des Rahmenbeschlusses 2002/584 zudem im Einklang mit Art. 47 Abs. 2 und 3 sowie Art. 48 der Charta auszulegen und anzuwenden, die nach den Erläuterungen zur Charta der Grundrechte (ABl. 2007, C 303, S. 17) Art. 6 EMRK entsprechen. Der Gerichtshof hat daher darauf zu achten, dass seine Auslegung von Art. 47 Abs. 2 und 3 sowie von Art. 48 der Charta ein Schutzniveau gewährleistet, das nicht hinter dem durch Art. 6 EMRK in seiner Auslegung durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte garantierten Niveau zurückbleibt (Urteil vom 23. März 2023, Minister for Justice and Equality [Widerruf der Strafaussetzung zur Bewährung], C‑514/21 und C‑515/21, EU:C:2023:235, Rn. 51 und die dort angeführte Rechtsprechung).
57 Im Einklang mit dieser Rechtsprechung hat der Gerichtshof aber bereits entschieden, dass in allen in Art. 4a Abs. 1 Buchst. a bis d des Rahmenbeschlusses 2002/584 genannten Fällen die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls weder die Verteidigungsrechte der betroffenen Person noch ihre in Art. 47 und in Art. 48 Abs. 2 der Charta verankerten Rechte auf einen wirksamen Rechtsbehelf und auf ein faires Verfahren beeinträchtigt (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 26. Februar 2013, Melloni, C‑399/11, EU:C:2013:107, Rn. 47 bis 54, sowie vom 23. März 2023, Minister for Justice and Equality [Widerruf der Strafaussetzung zur Bewährung], C‑514/21 und C‑515/21, EU:C:2023:235, Rn. 73 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).
58 Der Gerichtshof hat ferner festgestellt, dass mit dem Erlass des Rahmenbeschlusses 2009/299, durch den diese Bestimmung in den Rahmenbeschluss 2002/584 eingefügt wurde, die Schwierigkeiten bei der gegenseitigen Anerkennung von Entscheidungen, die im Anschluss an eine Verhandlung ergangen sind, bei der die betroffene Person nicht anwesend war, beseitigt werden sollten, die sich daraus ergeben, dass in den Mitgliedstaaten Unterschiede im Grundrechtsschutz bestehen. Zu diesem Zweck wird in diesem Rahmenbeschluss eine Harmonisierung der Voraussetzungen für die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls bei einer Verurteilung in Abwesenheit bewirkt, die den Konsens widerspiegelt, zu dem alle Mitgliedstaaten gemeinsam in Bezug auf die Tragweite gelangt sind, die nach dem Unionsrecht den Verfahrensrechten der in Abwesenheit verurteilten Personen, gegen die ein Europäischer Haftbefehl ergangen ist, zuzumessen ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 26. Februar 2013, Melloni, C‑399/11, EU:C:2013:107, Rn. 62).
59 Daher ist das Argument des vorlegenden Gerichts zurückzuweisen, wonach die Pflicht zur Beachtung der Grundrechte, wie sie in Art. 6 EUV niedergelegt seien, die vollstreckenden Justizbehörden berechtige, die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls auch in dem in Art. 4a Abs. 1 Buchst. d des Rahmenbeschlusses 2002/584 angesprochenen Fall zu verweigern, wenn die betroffene Person in der Verhandlung, die zu dem Versäumnisurteil geführt habe, nicht durch einen Rechtsbeistand vertreten gewesen sei. Dieses Argument läuft in Wirklichkeit darauf hinaus, die Vereinbarkeit dieser Bestimmung mit den in der Unionsrechtsordnung geschützten Grundrechten in Frage zu stellen.
60 Schließlich ist, soweit das vorlegende Gericht der Auffassung zu sein scheint, das italienische Recht gewährleiste einen höheren Standard für den Schutz der Verteidigungsrechte, und insbesondere des Rechts, sich durch einen Rechtsbeistand unterstützen zu lassen, als denjenigen, der sich aus den unionsrechtlich definierten Grundrechten, insbesondere Art. 47 und Art. 48 Abs. 2 der Charta, ergibt, darauf hinzuweisen, dass eine vollstreckende Justizbehörde die Übergabe der von einem Europäischen Haftbefehl betroffenen Person an die ausstellende Justizbehörde nur von der Erfüllung der sich aus diesen letztgenannten Bestimmungen ergebenden Anforderungen abhängig machen darf und nicht von der Erfüllung der Anforderungen, die sich aus ihrem nationalen Recht ergeben. Die gegenteilige Herangehensweise würde nämlich, indem die Einheitlichkeit des Standards für den Schutz der unionsrechtlich definierten Grundrechte in Frage gestellt wird, zu einer Verletzung der Grundsätze des gegenseitigen Vertrauens und der gegenseitigen Anerkennung führen, die der Rahmenbeschluss 2002/584 stärken soll, und daher dessen Wirksamkeit beeinträchtigen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 26. Februar 2013, Melloni, C‑399/11, EU:C:2013:107, Rn. 63, und vom 15. Oktober 2019, Dorobantu, C‑128/18, EU:C:2019:857, Rn. 79).
61 Nach alledem ist auf die gestellte Frage zu antworten, dass Art. 4a des Rahmenbeschlusses 2002/584 im Licht von Art. 6 EUV sowie von Art. 47 und Art. 48 Abs. 2 Charta dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung nicht entgegensteht, die es der vollstreckenden Justizbehörde nicht erlaubt, die Übergabe einer Person aufgrund eines Europäischen Haftbefehls zu verweigern, der zur Vollstreckung einer im Ausstellungsmitgliedstaat gegen diese Person verhängten Freiheitsstrafe ausgestellt wurde, wenn die Person zu der Verhandlung, die zu der Entscheidung geführt hat, nicht persönlich erschienen ist und nicht durch einen von ihr ausgewählten oder einen von Amts wegen bestellten Rechtsbeistand vertreten war und wenn die in Art. 4a Abs. 1 Buchst. d vorgesehenen Bedingungen erfüllt sind.
Kosten
62 Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Erste Kammer) für Recht erkannt:
Art. 4a des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten in der durch den Rahmenbeschluss 2009/299/JI des Rates vom 26. Februar 2009 geänderten Fassung ist im Licht von Art. 6 EUV sowie von Art. 47 und Art. 48 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union
dahin auszulegen,
dass er einer nationalen Regelung nicht entgegensteht, die es der vollstreckenden Justizbehörde nicht erlaubt, die Übergabe einer Person aufgrund eines Europäischen Haftbefehls zu verweigern, der zur Vollstreckung einer im Ausstellungsmitgliedstaat gegen diese Person verhängten Freiheitsstrafe ausgestellt wurde, wenn die Person zu der Verhandlung, die zu der Entscheidung geführt hat, nicht persönlich erschienen ist und nicht durch einen von ihr ausgewählten oder einen von Amts wegen bestellten Rechtsbeistand vertreten war und wenn die in Art. 4a Abs. 1 Buchst. d vorgesehenen Bedingungen erfüllt sind.
Unterschriften
(*1) Verfahrenssprache: Italienisch.
(i
) Die vorliegende Rechtssache ist mit einem fiktiven Namen bezeichnet, der nicht dem echten Namen eines Verfahrensbeteiligten entspricht.
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Urteil des Gerichtshofs (Vierte Kammer) vom 14. September 2023.#„Vinal“ AD gegen Direktor na Agentsia „Mitnitsi“.#Vorabentscheidungsersuchen des Administrativen sad Sofia-grad.#Vorlage zur Vorabentscheidung – Verbrauchsteuern – Richtlinie 2008/118/EG – Art. 16 – Steuerlagerverfahren – Bedingungen für die Erteilung einer Zulassung für die Eröffnung und den Betrieb eines Steuerlagers durch einen zugelassenen Lagerinhaber – Nichteinhaltung dieser Bedingungen – Endgültiger Entzug der Zulassung, der zusätzlich zur Verhängung eines Bußgelds erfolgt – Art. 50 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Grundsatz ne bis in idem – Verhältnismäßigkeit.#Rechtssache C-820/21.
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62021CJ0820
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ECLI:EU:C:2023:667
| 2023-09-14T00:00:00 |
Gerichtshof, Ćapeta
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62021CJ0820
URTEIL DES GERICHTSHOFS (Vierte Kammer)
14. September 2023 (*1)
„Vorlage zur Vorabentscheidung – Verbrauchsteuern – Richtlinie 2008/118/EG – Art. 16 – Steuerlagerverfahren – Bedingungen für die Erteilung einer Zulassung für die Eröffnung und den Betrieb eines Steuerlagers durch einen zugelassenen Lagerinhaber – Nichteinhaltung dieser Bedingungen – Endgültiger Entzug der Zulassung, der zusätzlich zur Verhängung eines Bußgelds erfolgt – Art. 50 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Grundsatz ne bis in idem – Verhältnismäßigkeit“
In der Rechtssache C‑820/21
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Administrativen sad Sofia-grad (Verwaltungsgericht Sofia, Bulgarien) mit Entscheidung vom 9. Dezember 2021, beim Gerichtshof eingegangen am 28. Dezember 2021, in dem Verfahren
„Vinal“ AD
gegen
Direktor na Agentsia „Mitnitsi“
erlässt
DER GERICHTSHOF (Vierte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten C. Lycourgos, der Richterin L. S. Rossi, der Richter J.‑C. Bonichot (Berichterstatter) und S. Rodin sowie der Richterin O. Spineanu-Matei,
Generalanwältin: T. Ćapeta,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
–
der „Vinal“ AD, vertreten durch N. Boshnakova-Dimova, Advоkаt,
–
des Direktor na Agentsia „Mitnitsi“, vertreten durch P. Gerenski und P. Tonev,
–
der bulgarischen Regierung, vertreten durch M. Georgieva, T. Mitova, E. Petranova und L. Zaharieva als Bevollmächtigte,
–
der spanischen Regierung, vertreten durch I. Herranz Elizalde als Bevollmächtigten,
–
der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von A. Collabolletta, Avvocato dello Stato,
–
der Europäischen Kommission, vertreten durch M. Björkland und D. Drambozova als Bevollmächtigte,
aufgrund des nach Anhörung der Generalanwältin ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,
folgendes
Urteil
1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung des Grundsatzes der Gleichbehandlung sowie von Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie 2008/118/EG des Rates vom 16. Dezember 2008 über das allgemeine Verbrauchsteuersystem und zur Aufhebung der Richtlinie 92/12/EWG (ABl. 2009, L 9, S. 12).
2 Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der „Vinal“ AD, einer zugelassenen Lagerinhaberin, und dem Direktor na Agentsia „Mitnitsi“ (Direktor der Zollagentur, Bulgarien) über eine Entscheidung, mit der dieser die Zulassung für den Betrieb eines Steuerlagers im Sinne der Richtlinie 2008/118 wegen einer schweren Zuwiderhandlung gegen die Verbrauchsteuerregelung, die auch zu einem Bußgeld führte, entzog.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Richtlinie 2008/118
3 Die Erwägungsgründe 10, 15 und 16 der Richtlinie 2008/118 lauteten:
„(10)
Da sich die Verfahren für die Erhebung und die Erstattung der [Verbrauchs]teuer auf das reibungslose Funktionieren des Binnenmarkts auswirken, sollten sie sich nach nicht diskriminierenden Kriterien richten.
…
(15) Da in Herstellungs- und Lagerstätten Kontrollen durchgeführt werden müssen, um die Einziehung der Steuern sicherzustellen, sollte zur Erleichterung solcher Kontrollen ein System behördlich zugelassener Lager unterhalten werden.
(16) Es sollten auch die Verpflichtungen festgelegt werden, die zugelassene Lagerinhaber und Wirtschaftsbeteiligte zu erfüllen haben, denen keine Zulassung zum Betrieb eines Steuerlagers erteilt wurde.“
4 In Art. 4 der Richtlinie 2008/118 hieß es:
„Im Sinne dieser Richtlinie und ihrer Durchführungsbestimmungen gelten folgende Definitionen:
1. Ein ‚zugelassener Lagerinhaber‘ ist eine natürliche oder juristische Person, die von den zuständigen Behörden eines Mitgliedstaats ermächtigt wurde, in Ausübung ihres Berufs im Rahmen eines Verfahrens der Steueraussetzung verbrauchsteuerpflichtige Waren in einem Steuerlager herzustellen, zu verarbeiten, zu lagern, zu empfangen oder zu versenden.
…
11. Ein ‚Steuerlager‘ ist jeder Ort, an dem unter bestimmten von den zuständigen Behörden des Mitgliedstaats, in dem sich das Steuerlager befindet, festgelegten Voraussetzungen verbrauchsteuerpflichtige Waren im Rahmen eines Verfahrens der Steueraussetzung vom zugelassenen Lagerinhaber in Ausübung seines Berufs hergestellt, verarbeitet, gelagert, empfangen oder versandt werden.“
5 Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie sah vor, dass der Verbrauchsteueranspruch zum Zeitpunkt und im Mitgliedstaat der Überführung in den steuerrechtlich freien Verkehr entsteht.
6 In Art. 8 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie hieß es:
„Steuerschuldner eines entstandenen Verbrauchssteueranspruchs ist:
a)
im Zusammenhang mit der Entnahme verbrauchsteuerpflichtiger Waren aus dem Verfahren der Steueraussetzung nach Artikel 7 Absatz 2 Buchstabe a:
i)
der zugelassene Lagerinhaber, der registrierte Empfänger oder jede andere Person, die die verbrauchsteuerpflichtigen Waren aus dem Verfahren der Steueraussetzung entnimmt oder in deren Namen die Waren aus diesem Verfahren entnommen werden, und – im Falle der unrechtmäßigen Entnahme aus dem Steuerlager – jede Person, die an dieser Entnahme beteiligt war;
…“
7 Art. 15 der Richtlinie lautete:
(1) Jeder Mitgliedstaat erlässt die Vorschriften für die Herstellung, die Verarbeitung und die Lagerung verbrauchsteuerpflichtiger Waren vorbehaltlich der Bestimmungen dieser Richtlinie.
(2) Die Herstellung, die Verarbeitung und die Lagerung verbrauchsteuerpflichtiger und noch nicht versteuerter Waren erfolgen in einem Steuerlager.“
8 In Art. 16 der Richtlinie 2008/118 hieß es:
„(1) Die Eröffnung und der Betrieb eines Steuerlagers durch einen zugelassenen Lagerinhaber bedürfen der Zulassung durch die zuständigen Behörden des Mitgliedstaates, in dem das Steuerlager belegen ist.
Die Zulassung unterliegt den Bedingungen, die die Behörden zur Vorbeugung von Steuerhinterziehung oder ‑missbrauch festlegen können.
(2) Der zugelassene Lagerinhaber ist verpflichtet:
a)
erforderlichenfalls eine Sicherheit zur Abdeckung der mit der Herstellung, der Verarbeitung und der Lagerung der verbrauchsteuerpflichtigen Waren verbundenen Risiken zu leisten;
b)
den von dem Mitgliedstaat, in dessen Gebiet sich das Steuerlager befindet, vorgeschriebenen Verpflichtungen nachzukommen;
c)
eine nach Lagern getrennte Buchhaltung über die Bestände und Warenbewegungen verbrauchsteuerpflichtiger Waren zu führen;
d)
alle in einem Verfahren der Steueraussetzung beförderten verbrauchsteuerpflichtigen Waren nach Beendigung der Beförderung in sein Steuerlager zu verbringen und in seinen Büchern zu erfassen, sofern Artikel 17 Absatz 2 keine Anwendung findet;
e)
alle Maßnahmen zur Kontrolle oder zur amtlichen Bestandsaufnahme zu dulden.
…“
9 Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie (EU) 2020/262 des Rates vom 19. Dezember 2019 zur Festlegung des allgemeinen Verbrauchsteuersystems (ABl. 2020, L 58, S. 4), mit der die Richtlinie 2008/118 mit Wirkung vom 13. Februar 2023 aufgehoben wurde, enthält Bestimmungen, die mit denen von Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie 2008/118 übereinstimmen.
Empfehlung 2000/789/EG
10 Art. 2 Abs. 1 der Empfehlung 2000/789/EG der Kommission vom 29. November 2000 über Leitlinien für die Zulassung von Lagerinhabern gemäß Richtlinie 92/12/EWG des Rates in Bezug auf verbrauchsteuerpflichtige Waren (ABl. 2000, L 314, S. 29) lautet:
„Obwohl die Mitgliedstaaten bei der Erteilung der Zulassungen für die in Artikel 1 genannten Personen strenge Kriterien anlegen sollten, muss auch ein Ausgleich zwischen den Erfordernissen der Handelserleichterung und denen einer wirksamen Kontrolle hergestellt werden.“
11 In Art. 7 der Empfehlung heißt es:
„(1) Eine Zulassung sollte im Prinzip nur bei Vorliegen ernsthafter Gründe und nach sorgfältiger Prüfung der Verhältnisse des Lagerinhabers durch die zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten für nichtig erklärt oder entzogen werden.
(2) Eine Zulassung kann z. B. in folgenden Fällen für nichtig erklärt oder entzogen werden:
–
Nichterfüllung der mit der Zulassung verbundenen Pflichten;
–
unzureichende Deckung der verlangten Sicherheitsleistung;
–
wiederholter Verstoß gegen die geltenden Rechtsvorschriften;
–
Verwicklung in Straftaten;
–
Steuerumgehung und ‑hinterziehung.“
Bulgarisches Recht
12 Art. 3 Abs. 1 Nr. 1 des Zakon za aktsizite i danachnite skladove (Gesetz über Verbrauchsteuern und Steuerlager) in seiner auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren Fassung (im Folgenden: ZADS) bestimmt, dass zugelassene Lagerinhaber und nach diesem Gesetz registrierte Personen Steuerpflichtige im Sinne dieses Gesetzes sind.
13 Art. 4 Nr. 18 ZADS lautet:
„‚Schwer‘ ist eine Zuwiderhandlung, für die ein bestandskräftiger Bußgeldbescheid vorliegt, mit dem eine finanzielle Sanktion von mehr als 15000 [bulgarischen Lewa (BGN) (etwa 7600 Euro] verhängt wird.“
14 Art. 47 Abs. 1 ZADS bestimmt:
„Zugelassene Lagerinhaber können Personen sein, die
…
(5) keine schwere oder wiederholte Zuwiderhandlung im Sinne dieses Gesetzes begangen haben, hiervon ausgenommen sind die Fälle, in denen das Verwaltungsstrafverfahren mit einer Vereinbarung beendet wurde.“
15 Art. 53 Abs. 1 bis 4 ZADS sieht vor:
„(1) Die Zulassung für den Betrieb eines Steuerlagers erlischt:
…
3. bei Entzug der Zulassung;
…
(2) Die Zulassung für den Betrieb eines Steuerlagers wird entzogen, wenn
1. der zugelassene Steuerlagerinhaber die Voraussetzungen des Art. 47 nicht mehr erfüllt; …
…
(3) Die Zulassung wird durch Entscheidung des Direktors der Zollagentur entzogen, die ab ihrem Erlass vorläufig vollstreckbar ist, sofern das Gericht nichts anderes anordnet.
(4) Die Entscheidung nach Abs. 3 ist nach den Bestimmungen des Administrativnoprotsesualen kodeks [(Verwaltungsprozessordnung)] anfechtbar.“
16 Art. 107h Abs. 1 ZADS lautet:
„Vor Erlass des Bußgeldbescheids und spätestens 30 Tage nach Vorlage des Rechtsakts, mit dem eine Zuwiderhandlung im Sinne dieses Gesetzes festgestellt wird, können die Verwaltungsstrafbehörde und der Zuwiderhandelnde eine Vereinbarung schließen, mit der das Verwaltungsstrafverfahren beendet wird, es sei denn, die zur Last gelegte Handlung stellt eine Straftat dar.“
17 Art. 112 Abs. 1 ZADS bestimmt:
„Eine Person, die verbrauchsteuerpflichtig ist, aber keine Verbrauchsteuer entrichtet, wird mit einem Bußgeld in doppelter Höhe der nicht entrichteten Verbrauchsteuer belegt; das Bußgeld darf nicht niedriger als 500 BGN sein.“
Ausgangsverfahren und Vorlagefragen
18 Vinal ist eine Gesellschaft mit Sitz in Bulgarien. Sie verfügt über eine Zulassung für den Betrieb eines Steuerlagers, auf deren Grundlage sie verbrauchsteuerpflichtige alkoholische Waren herstellen, lagern, empfangen und versenden darf.
19 2017 wurde sie einer Steuerprüfung unterzogen.
20 Am 22. Dezember 2017 erließ die bulgarische Zollverwaltung einen Steuerprüfungsbescheid über 4261,89 BGN (etwa 2180 Euro) für den Zeitraum vom 1. Januar 2012 bis zum 3. Mai 2017. Er wurde nicht angefochten und am 5. Januar 2018 bestandskräftig.
21 Außerdem erließ die bulgarische Zollverwaltung für den Zeitraum vom 3. bis zum 10. Mai 2017 einen Bescheid, mit dem eine verwaltungsrechtliche Zuwiderhandlung dieser Gesellschaft gegen die Verpflichtung zur Zahlung der entstandenen Verbrauchsteuerschuld festgestellt wurde.
22 Sie verhängte daher am 24. Januar 2018 gemäß Art. 112 Abs. 1 ZADS gegen Vinal ein Bußgeld in doppelter Höhe der nicht entrichteten Verbrauchsteuer, d. h. in Höhe von 248978 BGN (etwa 128000 Euro).
23 Dieses Bußgeld wurde mit nunmehr rechtskräftigem Urteil vom 16. Januar 2020 bestätigt.
24 Aufgrund dieses rechtskräftigen Urteils entzog der Direktor der Zollagentur am 11. Februar 2020 Vinal die ihr erteilte Zulassung für den Betrieb eines Steuerlagers.
25 Dagegen klagte Vinal beim Administrativen sad Sofia-grad (Verwaltungsgericht Sofia, Bulgarien).
26 Diesem Gericht stellt sich die Frage, ob die einschlägigen nationalen Rechtsvorschriften mit dem Unionsrecht und insbesondere mit der Richtlinie 2008/118 vereinbar sind.
27 Vor diesem Hintergrund hat der Administrativen sad Sofia-grad (Verwaltungsgericht Sofia) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
1. Wie ist Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie 2008/118 in dem Teil auszulegen, in dem vorgesehen ist, dass die Zulassung für die Eröffnung und den Betrieb eines Steuerlagers den Bedingungen unterliegt, die die Behörden zur Vorbeugung von Steuerhinterziehung oder ‑missbrauch festlegen können, und wie haben diese Bedingungen inhaltlich auszusehen, damit die Ziele der Vorbeugung von Steuerhinterziehung oder ‑missbrauch verwirklicht werden können?
2. Wie ist das Verbot der Diskriminierung im Sinne des zehnten Erwägungsgrundes der Richtlinie 2008/118 auszulegen?
3. Wie sind die angeführten Bestimmungen auszulegen und sind sie dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Regelung wie jener von Art. 53 Abs. 1 Nr. 3 in Verbindung mit Art. 47 Abs. 1 Nr. 5 ZADS nicht entgegenstehen, wenn diese Regelung den zwingenden Entzug der Zulassung für die Zukunft, der fristlos und zeitlich unbegrenzt erfolgt, neben einer für dieselbe Tat bereits verhängten Sanktion vorsieht?
Zu den Vorlagefragen
Zur ersten und zur dritten Frage
28 Mit seiner ersten und seiner dritten Frage, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie 2008/118 dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung entgegensteht, die bei einer Zuwiderhandlung gegen die Verbrauchsteuerregelung, die nach dieser Regelung als schwer gilt, kumulativ zu einem wegen desselben Sachverhalts bereits verhängten Bußgeld den Entzug der Zulassung für den Betrieb eines Steuerlagers vorsieht.
29 Gemäß Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2008/118 erlässt jeder Mitgliedstaat die Vorschriften für die Herstellung, die Verarbeitung und die Lagerung verbrauchsteuerpflichtiger Waren vorbehaltlich der Bestimmungen der Richtlinie. Nach Art. 15 Abs. 2 der Richtlinie erfolgen die Herstellung, die Verarbeitung und die Lagerung verbrauchsteuerpflichtiger und noch nicht versteuerter Waren in einem Steuerlager.
30 In Bezug auf die Regelung für die Zulassung eines solchen Steuerlagers stellt Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie 2008/118 in seinem ersten Unterabsatz klar, dass die Eröffnung und der Betrieb eines Steuerlagers durch einen zugelassenen Lagerinhaber der Zulassung durch die zuständigen Behörden des Mitgliedstaats bedürfen, in dem das Steuerlager belegen ist, und in seinem zweiten Unterabsatz, dass diese Zulassung „den Bedingungen [unterliegt], die die Behörden zur Vorbeugung von Steuerhinterziehung oder ‑missbrauch festlegen können“.
31 Des Weiteren ergibt sich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs, dass im Anwendungsbereich der Richtlinie 2008/118 die Vorbeugung von Steuerhinterziehung und ‑missbrauch generell ein gemeinsames Ziel sowohl des Unionsrechts als auch des Rechts der Mitgliedstaaten ist. Denn zum einen haben die Mitgliedstaaten ein legitimes Interesse daran, geeignete Maßnahmen zum Schutz ihrer finanziellen Interessen zu ergreifen, und zum anderen ist die Bekämpfung von Steuerhinterziehungen, Steuerumgehungen und etwaigen Missbräuchen ein mit dieser Richtlinie verfolgtes Ziel, wie die Erwägungsgründe 15 und 16 sowie Art. 16 dieser Richtlinie bestätigen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 13. Januar 2022, MONO, C‑326/20, EU:C:2022:7, Rn. 28 und 32 sowie die dort angeführte Rechtsprechung, und vom 23. März 2023, Dual Prod, C‑412/21, EU:C:2023:234, Rn. 25).
32 Hier geht aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten hervor, dass Vinal das Bußgeld auferlegt und ihr die Zulassung für den Betrieb eines Steuerlagers entzogen wurde, weil sie eine Zuwiderhandlung gegen die Verbrauchsteuerregelung begangen hatte, die nach den nationalen Regelungen als schwer gilt. Das Verbot, eine solche Zuwiderhandlung zu begehen, entspricht naturgemäß einer der Bedingungen, die die Behörden festlegen können, um Steuerhinterziehung oder ‑missbrauch im Sinne von Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie 2008/118 vorzubeugen.
33 Ferner ergibt sich weder aus dem Wortlaut noch aus dem Zweck von Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie 2008/118 noch aus den anderen Bestimmungen der Richtlinie, dass ein solches Sanktionssystem mit der Richtlinie unvereinbar wäre.
34 Allerdings ist es auch ständige Rechtsprechung, dass die Mitgliedstaaten in Ermangelung einer Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Union auf dem Gebiet der Sanktionen bei Nichtbeachtung der Voraussetzungen, die eine nach dem Unionsrecht geschaffene Regelung vorsieht, zwar die ihnen sachgerecht erscheinenden Sanktionen wählen können, bei der Ausübung ihrer Befugnisse aber das Unionsrecht und seine allgemeinen Grundsätze beachten müssen, zu denen u. a. der Grundsatz ne bis in idem, der in Art. 50 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) verankert ist, und der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gehören (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 13. Januar 2022, MONO, C‑326/20, EU:C:2022:7, Rn. 34 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie vom 24. Februar 2022, Agenzia delle dogane e dei monopoli und Ministero dell’Economia e delle Finanze, C‑452/20, EU:C:2022:111, Rn. 36).
35 Auch wenn das vorlegende Gericht seine Frage formal auf die Auslegung von Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie 2008/118 beschränkt hat, hindert dies den Gerichtshof nicht daran, ihm alle Hinweise zur Auslegung des Unionsrechts zu geben, die für die Entscheidung der bei ihm anhängigen Rechtssache von Nutzen sein können, und zwar unabhängig davon, ob es bei seiner Fragestellung darauf Bezug genommen hat. Der Gerichtshof hat insoweit aus dem gesamten von dem nationalen Gericht vorgelegten Material, insbesondere aus der Begründung der Vorlageentscheidung, diejenigen Elemente des Unionsrechts herauszuarbeiten, die unter Berücksichtigung des Gegenstands des Rechtsstreits einer Auslegung bedürfen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 24. Februar 2022, Agenzia delle dogane e dei monopoli und Ministero dell’Economia e delle Finanze, C‑452/20, EU:C:2022:111, Rn. 19).
Zum Grundsatz ne bis in idem
36 Zur Anwendung von Art. 50 der Charta auf das Ausgangsverfahren ist darauf hinzuweisen, dass der Anwendungsbereich der Charta, was das Handeln der Mitgliedstaaten betrifft, in ihrem Art. 51 Abs. 1 definiert ist. Danach gilt sie für die Mitgliedstaaten ausschließlich bei der Durchführung des Rechts der Union; diese Bestimmung bestätigt die ständige Rechtsprechung des Gerichtshofs, nach der die in der Unionsrechtsordnung garantierten Grundrechte in allen unionsrechtlich geregelten Fallgestaltungen, aber nicht außerhalb derselben Anwendung finden (Urteil vom 19. November 2019, A. K. u. a. [Unabhängigkeit der Disziplinarkammer des Obersten Gerichts], C‑585/18, C‑624/18 und C‑625/18, EU:C:2019:982, Rn. 78 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).
37 Im vorliegenden Fall geht aus dem Vorabentscheidungsersuchen hervor, dass mit den beiden im Ausgangsverfahren fraglichen Maßnahmen eine Zuwiderhandlung gegen nationale Vorschriften geahndet wird, die Teil der Verbrauchsteuerregelung sind, mit denen die Richtlinie 2008/118 umgesetzt wird.
38 Folglich führt ein Mitgliedstaat, wenn er solche Maßnahmen erlässt, diese Richtlinie und damit das Recht der Union im Sinne von Art. 51 Abs. 1 der Charta durch. Er muss daher die Bestimmungen der Charta beachten (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 23. März 2023, Dual Prod, C‑412/21, EU:C:2023:234, Rn. 26).
39 Art. 50 der Charta bestimmt, dass „[n]iemand … wegen einer Straftat, derentwegen er bereits in der [Europäischen] Union nach dem Gesetz rechtskräftig verurteilt oder freigesprochen worden ist, in einem Strafverfahren erneut verfolgt oder bestraft werden [darf]“.
40 Der Grundsatz ne bis in idem, der in dieser Bestimmung Ausdruck findet, verbietet eine Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen, die strafrechtlicher Natur im Sinne dieses Artikels sind, gegenüber derselben Person wegen derselben Tat (Urteil vom 22. März 2022, bpost, C‑117/20, EU:C:2022:202, Rn. 24 und die dort angeführte Rechtsprechung).
41 Die Anwendung des Grundsatzes ne bis in idem setzt zweierlei voraus, nämlich zum einen, dass es eine frühere endgültige Entscheidung gibt (Voraussetzung „bis“), und zum anderen, dass bei der früheren Entscheidung und bei den späteren Verfolgungsmaßnahmen oder Entscheidungen auf denselben Sachverhalt abgestellt wird (Voraussetzung „idem“) (Urteile vom 22. März 2022, bpost, C‑117/20, EU:C:2022:202, Rn. 28, und vom 23. März 2023, Dual Prod, C‑412/21, EU:C:2023:234, Rn. 51).
42 Was die Voraussetzung „idem“ betrifft, so erfordert diese eine identische und nicht nur ähnliche materielle Tat. Die Identität der materiellen Tat ist als die Gesamtheit der konkreten Umstände zu verstehen, die sich aus Ereignissen ergeben, bei denen es sich im Wesentlichen um dieselben handelt, da dieselbe Person gehandelt hat und sie zeitlich sowie räumlich unlösbar miteinander verbunden sind (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 22. März 2022, bpost, C‑117/20, EU:C:2022:202, Rn. 36 und 37).
43 Vorliegend geht aus der Vorlageentscheidung hervor, dass die im Ausgangsverfahren fraglichen Maßnahmen gegenüber ein und derselben juristischen Person, nämlich Vinal, ergangen sind, und zwar wegen desselben Sachverhalts.
44 Was die Voraussetzung „bis“ anbelangt, ist es für die Annahme, dass eine gerichtliche Entscheidung über den einem zweiten Verfahren unterliegenden Sachverhalt endgültig entschieden hat, nicht nur erforderlich, dass diese Entscheidung rechtskräftig geworden ist, sondern auch, dass sie nach einer Prüfung in der Sache ergangen ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 22. März 2022, bpost, C‑117/20, EU:C:2022:202, Rn. 29).
45 Vorliegend scheint sich aus den Angaben des vorlegenden Gerichts zu ergeben, dass dies der Fall ist, da die Entscheidung über den Entzug der Zulassung für den Betrieb des Steuerlagers ergangen ist, nachdem die auf eine Prüfung in der Sache hin ergangene Entscheidung, mit der das Bußgeld verhängt wurde, rechtskräftig geworden war.
46 In diesem Kontext ist für die Feststellung der Anwendbarkeit von Art. 50 der Charta zu bestimmen, ob die im Ausgangsverfahren fraglichen Maßnahmen, nämlich die Verhängung des Bußgelds gemäß Art. 112 Abs. 1 ZADS und der Entzug der Zulassung für den Betrieb eines Steuerlagers nach Art. 53 Abs. 2 Nr. 1 in Verbindung mit Art. 47 ZADS, als „Sanktionen strafrechtlicher Natur“ im Sinne der Charta eingeordnet werden können.
47 Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs sind für die Frage, ob Sanktionen für die Zwecke der Anwendung des Grundsatzes ne bis in idem als strafrechtlich eingestuft werden können, drei Kriterien maßgebend, und zwar erstens die rechtliche Einordnung der Zuwiderhandlung im innerstaatlichen Recht, zweitens die Art der Zuwiderhandlung und drittens der Schweregrad der dem Betroffenen drohenden Sanktion (Urteile vom 23. März 2023, Dual Prod, C‑412/21, EU:C:2023:234, Rn. 27, und vom 4. Mai 2023, MV – 98, C‑97/21, EU:C:2023:371, Rn. 38).
48 Vorliegend geht in Bezug auf das erste Kriterium aus den Angaben des vorlegenden Gerichts hervor, dass die im Ausgangsverfahren fraglichen Maßnahmen nach bulgarischem Recht als Verwaltungssanktionen angesehen werden.
49 Die Anwendung von Art. 50 der Charta erstreckt sich jedoch unabhängig von der Einstufung strafrechtlicher Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen nach innerstaatlichem Recht auf Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen, die nach den beiden anderen in Rn. 47 des vorliegenden Urteils angeführten Kriterien strafrechtlicher Natur sind (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 23. März 2023, Dual Prod, C‑412/21, EU:C:2023:234, Rn. 29, und vom 4. Mai 2023, MV – 98, C‑97/21, EU:C:2023:371, Rn. 41).
50 Das zweite Kriterium, das sich auf die Art der Zuwiderhandlung bezieht, erfordert die Prüfung, ob mit der fraglichen Maßnahme eine repressive Zielsetzung verfolgt wird, ohne dass der bloße Umstand, dass mit ihr auch eine präventive Zielsetzung verfolgt wird, ihr ihre Einstufung als strafrechtliche Sanktion nehmen kann. Es liegt nämlich in der Natur strafrechtlicher Sanktionen, dass sie sowohl auf die Repression als auch auf die Prävention rechtswidriger Verhaltensweisen abzielen. Dagegen ist eine Maßnahme, die nur den durch die Zuwiderhandlung entstandenen Schaden ersetzen soll, nicht strafrechtlicher Natur (Urteile vom 22. Juni 2021, Latvijas Republikas Saeima [Strafpunkte], C‑439/19, EU:C:2021:504, Rn. 89, vom 23. März 2023, Dual Prod, C‑412/21, EU:C:2023:234, Rn. 30, und vom 4. Mai 2023, MV – 98, C‑97/21, EU:C:2023:371, Rn. 42).
51 Vorliegend scheinen das Bußgeld und die Entscheidung, die Zulassung für den Betrieb eines Steuerlagers zu entziehen, beide Ziele sowohl der Abschreckung als auch der Repression von Zuwiderhandlungen gegen die Verbrauchsteuerregelung zu verfolgen, und sind nicht dazu bestimmt, den durch diese Zuwiderhandlungen verursachten Schaden zu ersetzen.
52 Allerdings ist darauf hinzuweisen, dass die Entscheidung, die Zulassung für den Betrieb eines Steuerlagers zu entziehen, wie sie in Art. 53 Abs. 2 ZADS vorgesehen ist, speziell zu dem durch die Richtlinie 2008/118 eingeführten Verfahren der Beförderung verbrauchsteuerpflichtiger Waren unter Steueraussetzung gehören, in dem die zugelassenen Lagerinhaber eine zentrale Rolle spielen (vgl. entsprechend Urteil vom 2. Juni 2016, Kapnoviomichania Karelia, C‑81/15, EU:C:2016:398, Rn. 31). Aus der Vorlageentscheidung geht nämlich hervor, dass eine solche Entscheidung nur auf Wirtschaftsteilnehmer Anwendung finden soll, die zugelassene Lagerinhaber für verbrauchsteuerpflichtige Waren im Sinne dieser Richtlinie sind, indem ihnen die sich aus einer solchen Zulassung ergebenden Vorteile genommen werden (vgl. entsprechend Urteil vom 23. März 2023, Dual Prod, C‑412/21, EU:C:2023:234, Rn. 32).
53 Daher richtet sich eine Entscheidung, die Zulassung für den Betrieb eines Steuerlagers zu entziehen, nicht generell gegen die Allgemeinheit, sondern gegen eine bestimmte Kategorie von Adressaten, die, weil sie eine speziell durch das Unionsrecht geregelte Tätigkeit ausüben, verpflichtet sind, die Voraussetzungen für die Erteilung einer von den Mitgliedstaaten erteilten Zulassung zu erfüllen, die ihnen bestimmte Vorrechte verleiht. Es ist daher Sache des vorlegenden Gerichts, zu prüfen, ob Vinal durch eine solche Entscheidung von der Ausübung dieser Vorrechte ausgeschlossen wird, weil die zuständige Verwaltungsbehörde der Ansicht war, dass die Voraussetzungen für die Erteilung dieser Zulassung nicht mehr erfüllt sind, was dafür spräche, dass mit dieser Entscheidung keine repressive Zielsetzung verfolgt wird (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 23. März 2023, Dual Prod, C‑412/21, EU:C:2023:234, Rn. 33).
54 Dagegen geht aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten nicht hervor, dass das Vinal auferlegte Bußgeld nur gegen Wirtschaftsteilnehmer verhängt werden könnte, die zugelassene Lagerinhaber für verbrauchsteuerpflichtige Waren sind, so dass die vorstehenden Erwägungen in den Rn. 52 und 53 des vorliegenden Urteils nicht auf Vinal übertragbar wären.
55 Zum dritten Kriterium, dem Schweregrad der drohenden Sanktion, ist festzustellen, dass dieser Schweregrad nach Maßgabe der in den einschlägigen Bestimmungen vorgesehenen Höchststrafe beurteilt wird (Urteil vom 4. Mai 2023, MV – 98, C‑97/21, EU:C:2023:371, Rn. 46).
56 Was vorliegend zum einen das Bußgeld betrifft, so zeugt der Umstand, dass es nicht weniger als 500 BGN (etwa 250 Euro) betragen darf, es systematisch der doppelten Höhe des nicht entrichteten Betrags entspricht und in der im Ausgangsverfahren fraglichen Regelung kein Höchstbetrag vorgesehen ist, so dass hier ein Bußgeld in Höhe von umgerechnet etwa 128000 Euro verhängt wurde, vom schwerwiegenden Charakter dieser Sanktion (vgl. entsprechend Urteil vom 4. Mai 2023, MV – 98, C‑97/21, EU:C:2023:371, Rn. 48), was für ihre Einstufung als strafrechtliche Sanktion ausreichen könnte.
57 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass bei einer Geldbuße in Höhe von 30 % des Betrags der geschuldeten Mehrwertsteuer, die neben dieser Steuer zu zahlen war, davon ausgegangen werden konnte, dass sie einen hohen Schweregrad aufweist, der geeignet ist, die Einschätzung zu stützen, dass eine solche Sanktion strafrechtlicher Natur im Sinne von Art. 50 der Charta ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 20. März 2018, Menci, C‑524/15, EU:C:2018:197, Rn. 33).
58 Zum anderen hat der Entzug der Zulassung für den Betrieb eines Steuerlagers zwar nur zur Folge, dem betroffenen zugelassenen Lagerinhaber die mit dem Steuerlagerverfahren verbundenen Vorrechte zu entziehen, und hindert diesen nicht daran, weiterhin wirtschaftliche Tätigkeiten auszuüben, die keine solche Zulassung erfordern (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 23. März 2023, Dual Prod, C‑412/21, EU:C:2023:234, Rn. 37). Die Folgen eines solchen Entzugs bleiben für ihn aber insbesondere deshalb schwerwiegend, weil die Wirkungen dieser Maßnahme zeitlich nicht beschränkt sind (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 4. Mai 2023, MV – 98, C‑97/21, EU:C:2023:371, Rn. 47).
59 Aus dem Vorstehenden ergibt sich, dass die beiden im Ausgangsverfahren fraglichen Maßnahmen strafrechtliche Sanktionen darstellen können, was jedoch vom vorlegenden Gericht auf der Grundlage der vorstehenden Ausführungen zu prüfen ist.
60 Ist dies der Fall, führt ihre Kumulierung daher zu einer Einschränkung des in Art. 50 der Charta garantierten Grundrechts.
61 Sollte das vorlegende Gericht nach Prüfung der oben genannten Voraussetzungen der Auffassung sein, dass die Kumulierung der beiden im Ausgangsverfahren fraglichen Maßnahmen das in Art. 50 der Charta verankerte Grundrecht einschränkt, obliegt es ihm daher, festzustellen, ob diese Einschränkung gleichwohl auf der Grundlage von Art. 52 Abs. 1 der Charta als gerechtfertigt angesehen werden könnte (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 22. März 2022, bpost, C‑117/20, EU:C:2022:202, Rn. 40, und vom 23. März 2023, Dual Prod, C‑412/21, EU:C:2023:234, Rn. 58 und 59).
62 Nach Art. 52 Abs. 1 Satz 1 der Charta muss jede Einschränkung der Ausübung der in der Charta anerkannten Rechte und Freiheiten gesetzlich vorgesehen sein und den Wesensgehalt dieser Rechte und Freiheiten achten. Nach Art. 52 Abs. 1 Satz 2 der Charta dürfen Einschränkungen dieser Rechte und Freiheiten unter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit nur vorgenommen werden, wenn sie erforderlich sind und den von der Union anerkannten dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen oder den Erfordernissen des Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer tatsächlich entsprechen.
63 Vorliegend ist, was erstens die in Art. 52 Abs. 1 Satz 1 der Charta genannten Voraussetzungen betrifft, zum einen festzustellen, dass das Erfordernis, wonach die Möglichkeit der Kumulierung von Sanktionen gesetzlich vorgesehen sein muss, erfüllt erscheint, da das ZADS u. a. für den Fall einer als schwerwiegend angesehenen Zuwiderhandlung gegen die Verbrauchsteuerregelung ausdrücklich die kumulative Anwendung der beiden im Ausgangsverfahren fraglichen Maßnahmen vorsieht.
64 Zum anderen ergibt sich aus der Rechtsprechung außerdem, dass diese Möglichkeit, Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen zu kumulieren, den Wesensgehalt von Art. 50 der Charta nur wahrt, sofern die nationale Regelung es nicht ermöglicht, denselben Sachverhalt aufgrund desselben Verstoßes oder zur Verfolgung desselben Ziels zu verfolgen und zu ahnden, sondern nur die Möglichkeit einer Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen aufgrund unterschiedlicher Regelungen vorsieht (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 22. März 2022, bpost, C‑117/20, EU:C:2022:202, Rn. 43, und vom 23. März 2023, Dual Prod, C‑412/21, EU:C:2023:234, Rn. 63).
65 Diese Voraussetzung scheint hier erfüllt zu sein, da die beiden im Ausgangsverfahren fraglichen Maßnahmen nicht denselben Anwendungsbereich haben. Denn der Entzug einer Betriebszulassung betrifft nur einige der Verstöße, für die ein Bußgeld verhängt wurde, und jede der Maßnahmen verfolgt ihre eigenen Ziele.
66 Was zweitens die in Art. 52 Abs. 1 Satz 2 der Charta genannten Voraussetzungen betrifft, darunter die, dass ein Sanktionssystem dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen entsprechen muss, geht aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten hervor, dass das im Ausgangsverfahren fragliche System tatsächlich einem solchen Ziel entspricht. Denn es soll nicht nur das ordnungsgemäße Funktionieren des besonderen Verfahrens der Steueraussetzung gewährleisten, das auf einem hohen Maß an Vertrauen zwischen der Verwaltung und den Wirtschaftsbeteiligten beruht, sondern auch ganz allgemein u. a. der Bekämpfung der Steuerhinterziehung dienen, was im Übrigen einem mit der Richtlinie 2008/118 verfolgten Ziel entspricht (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 29. Juni 2017, Kommission/Portugal, C‑126/15, EU:C:2017:504, Rn. 59).
67 In Anbetracht der Bedeutung, die das Unionsrecht dieser dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzung beimisst, kann eine Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen strafrechtlicher Natur gerechtfertigt sein, wenn zur Erreichung des betreffenden Ziels mit diesen Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen komplementäre Zwecke verfolgt werden, die gegebenenfalls verschiedene Aspekte desselben rechtswidrigen Verhaltens betreffen (vgl. entsprechend Urteile vom 20. März 2018, Menci, C‑524/15, EU:C:2018:197, Rn. 44, vom 20. März 2018, Garlsson Real Estate u. a., C‑537/16, EU:C:2018:193, Rn. 46, vom 20. März 2018, Di Puma und Zecca, C‑596/16 und C‑597/16, EU:C:2018:192, Rn. 42, und vom 22. März 2022, Nordzucker u. a., C‑151/20, EU:C:2022:203, Rn. 52).
68 Dies ist bei der im Ausgangsverfahren fraglichen Regelung grundsätzlich der Fall. Es erscheint nämlich legitim, dass ein Mitgliedstaat zum einen von der Nichtzahlung der Verbrauchsteuern abschrecken und sie ahnden möchte, indem er die Verhängung eines ausreichend hohen Bußgelds vorsieht, und zum anderen von schweren Verstößen gegen die Regelungen dieses Systems abschrecken und sie ahnden möchte, indem er eine zusätzliche Sanktion verhängt, wie sie der Entzug der Betriebszulassung des zugelassenen Lagerinhabers, der diese Verstöße begangen hat, sein könnte (vgl. entsprechend Urteil vom 20. März 2018, Menci, C‑524/15, EU:C:2018:197, Rn. 45). Wie sich u. a. aus den Erklärungen der bulgarischen Regierung ergibt, spiegelt diese zweite Maßnahme den Verlust des Vertrauens der Zollverwaltung in die Einhaltung der den Betrieb eines Steuerlagers im Sinne der Richtlinie 2008/118 regelnden Vorschriften und ihren Willen wider, der Wiederholungsgefahr vorzubeugen.
69 Zur Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit ist schließlich festzustellen, dass nach diesem Grundsatz die in der nationalen Regelung vorgesehene Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen nicht die Grenzen dessen überschreiten darf, was zur Erreichung der mit dieser Regelung zulässigerweise verfolgten Ziele geeignet und erforderlich ist; stehen mehrere geeignete Maßnahmen zur Auswahl, ist die am wenigsten belastende zu wählen, und die durch sie bedingten Nachteile müssen in angemessenem Verhältnis zu den angestrebten Zielen stehen (Urteile vom 22. März 2022, bpost, C‑117/20, EU:C:2022:202, Rn. 48, vom 23. März 2023, Dual Prod, C‑412/21, EU:C:2023:234, Rn. 66, und vom 4. Mai 2023, MV – 98, C‑97/21, EU:C:2023:371, Rn. 56).
70 Zum einen ist in Bezug auf die Angemessenheit einer solchen Kumulierung darauf hinzuweisen, dass eine Sanktion nur dann eine wirklich abschreckende Wirkung gewährleistet, wenn den Zuwiderhandelnden die wirtschaftlichen Vorteile aus Verstößen gegen die Verbrauchsteuerregelung wirksam entzogen werden und die Sanktionen so beschaffen sind, dass ein der Schwere des Verstoßes angemessenes Ergebnis erzielt werden kann, um wirksam von weiteren Verstößen dieser Art abzuschrecken (vgl. entsprechend Urteil vom 24. Februar 2022, Agenzia delle dogane e dei monopoli und Ministero dell’Economia e delle Finanze, C‑452/20, EU:C:2022:111, Rn. 44).
71 Dies scheint bei einem System wie dem im Ausgangsverfahren fraglichen der Fall zu sein, das dem Betroffenen einen Betrag in doppelter Höhe der nicht entrichteten Verbrauchsteuer sowie die mit dem Steuerlager verbundenen Vorteile des Verfahrens der Steueraussetzung entzieht.
72 Des Weiteren ermöglicht ein solches System, die wirtschaftlichen Erwägungen, die zugelassene Lagerinhaber dazu veranlassen könnten, die Verbrauchsteuerregelung nicht einzuhalten, stark zu relativieren oder sogar hinfällig zu machen (vgl. entsprechend Urteil vom 24. Februar 2022, Agenzia delle dogane e dei monopoli und Ministero dell’Economia e delle Finanze, C‑452/20, EU:C:2022:111, Rn. 45).
73 Damit scheint dieses System so gestaltet zu sein, dass es zum einen den wirtschaftlichen Vorteil aus dem Verstoß aufhebt und zum anderen die zugelassenen Lagerinhaber dazu anhält, die Verbrauchsteuerregelung zu beachten (vgl. entsprechend Urteil vom 24. Februar 2022, Agenzia delle dogane e dei monopoli und Ministero dell’Economia e delle Finanze, C‑452/20, EU:C:2022:111, Rn. 46), aber auch die Wiederholungsgefahr begrenzt, die bei schweren Verstößen als größer angesehen werden kann.
74 Eine nationale Regelung wie die im Ausgangsverfahren fragliche scheint somit geeignet, das legitime Ziel der Bekämpfung von Steuerhinterziehungen und etwaigen Missbräuchen zu erreichen (vgl. entsprechend Urteil vom 24. Februar 2022, Agenzia delle dogane e dei monopoli und Ministero dell’Economia e delle Finanze, C‑452/20, EU:C:2022:111, Rn. 47).
75 Zum anderen ist hinsichtlich der zwingenden Erforderlichkeit einer solchen Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen konkret zu prüfen, ob es klare und präzise Regeln gibt, anhand deren die Steuerpflichtigen vorhersehen können, bei welchen Handlungen und Unterlassungen eine Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen in Frage kommt, und die eine Koordinierung zwischen den verschiedenen Behörden sicherstellen; weiter ist zu prüfen, ob die beiden Verfahren in hinreichend koordinierter Weise und in einem engen zeitlichen Zusammenhang geführt wurden und ob die gegebenenfalls im Rahmen des chronologisch zuerst geführten Verfahrens verhängte Sanktion bei der Bestimmung der zweiten Sanktion berücksichtigt wurde, so dass die Belastungen, die sich aus einer solchen Kumulierung für die Betroffenen ergeben, auf das zwingend Erforderliche beschränkt bleiben und die Gesamtheit der verhängten Sanktionen der Schwere der begangenen Straftaten entspricht (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 22. März 2022, bpost, C‑117/20, EU:C:2022:202, Rn. 51, und vom 23. März 2023, Dual Prod, C‑412/21, EU:C:2023:234, Rn. 67).
76 Hinzuweisen ist ferner darauf, dass das Erfordernis, dass die Behörde die erste Sanktion bei der Bestimmung der zweiten Sanktion berücksichtigt, ausnahmslos für alle kumulativ verhängten Sanktionen gilt, also sowohl für die Kumulierung gleichartiger Sanktionen als auch für die Kumulierung verschiedenartiger Sanktionen, wie etwa die Kumulierung von Geldbußen und Sanktionen, mit denen das Recht zur Ausübung bestimmter beruflicher Tätigkeiten eingeschränkt wird (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 5. Mai 2022, BV, C‑570/20, EU:C:2022:348, Rn. 50).
77 Hier scheint aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten hervorzugehen, dass die im Ausgangsverfahren fragliche nationale Regelung klar und deutlich bestimmt, unter welchen Umständen bei einem Verstoß gegen die Verbrauchsteuerregelung sowohl ein Bußgeld verhängt als auch die Zulassung für den Betrieb eines Steuerlagers entzogen werden kann; dies zu beurteilen ist jedoch Sache des vorlegenden Gerichts. Im Übrigen scheint sich aus den Akten nicht zu ergeben, dass diese beiden Maßnahmen von verschiedenen Behörden erlassen wurden, deren Koordinierung sicherzustellen wäre.
78 Aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten geht allerdings auch hervor, dass die Zollverwaltung gesetzlich verpflichtet ist, die Zulassung für den Betrieb eines Steuerlagers zu entziehen, wenn, wie im vorliegenden Fall, gegen den zugelassenen Lagerinhaber eine endgültige Entscheidung ergangen ist, mit der ihm ein Bußgeld von mehr als 15000 BGN (etwa 7600 Euro) auferlegt wurde, wobei dieser Betrag, wie in Rn. 56 des vorliegenden Urteils ausgeführt, automatisch auf die doppelte Höhe der nicht entrichteten Verbrauchsteuer festgesetzt wird.
79 Daraus folgt vorbehaltlich einer Prüfung durch das vorlegende Gericht, dass eine Regelung wie die im Ausgangsverfahren fragliche weder zu erlauben scheint, dass die Schwere der ersten Sanktion bei der Bestimmung der zweiten Sanktion berücksichtigt wird, noch, dass eine Behörde beurteilt, ob die Kumulierung dieser beiden Sanktionen in jedem Einzelfall auf das zwingend Erforderliche beschränkt ist.
80 Aus den vorstehenden Erwägungen ergibt sich, dass Art. 50 der Charta, wenn das Bußgeld und die Entscheidung, die Zulassung für den Betrieb eines Steuerlagers zu entziehen, als strafrechtliche Sanktionen anzusehen sind, einer Anwendung der Entscheidung, mit der Vinal die Zulassung für den Betrieb ihres Steuerlagers entzogen wurde und deren Rechtmäßigkeit vor dem vorlegenden Gericht bestritten wird, entgegenstehen kann, was zu prüfen Sache des vorlegenden Gerichts ist.
Zum Grundsatz der Verhältnismäßigkeit
81 Selbst wenn das Bußgeld oder die Entscheidung, die Zulassung für den Betrieb eines Steuerlagers zu entziehen, für die Zwecke der Anwendung von Art. 50 der Charta keine strafrechtliche Sanktion darstellen sollte und dieser Artikel somit in keinem Fall der Kumulierung dieser beiden Maßnahmen entgegenstehen könnte, müsste diese Entscheidung über den Entzug, die Gegenstand des beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreits ist, noch den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit als allgemeinen Grundsatz des Unionsrechts wahren.
82 Dieser Grundsatz verpflichtet die Mitgliedstaaten, sich solcher Mittel zu bedienen, die es zwar erlauben, das vom innerstaatlichen Recht verfolgte Ziel wirksam zu erreichen, die aber nicht über das erforderliche Maß hinausgehen und die Ziele und Grundsätze des einschlägigen Unionsrechts möglichst wenig beeinträchtigen. Der Gerichtshof stellt insoweit in seiner Rechtsprechung klar, dass, wenn mehrere geeignete Maßnahmen zur Auswahl stehen, die am wenigsten belastende zu wählen ist und die dadurch bedingten Nachteile in angemessenem Verhältnis zu den angestrebten Zielen stehen müssen (Urteile vom 13. November 1990, Fedesa u. a., C‑331/88, EU:C:1990:391, Rn. 13, und vom 23. März 2023, Dual Prod, C‑412/21, EU:C:2023:234, Rn. 71).
83 Bei der Beurteilung insbesondere der Frage, ob eine Sanktion mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit vereinbar ist, sind u. a. die Art und die Schwere des Verstoßes zu berücksichtigen, der mit dieser Sanktion geahndet werden soll (vgl. entsprechend Urteil vom 20. Juni 2013, Rodopi-M 91, C‑259/12, EU:C:2013:414, Rn. 38).
84 Insoweit geht aus der Vorlageentscheidung hervor, dass die Zollverwaltung die Zulassung für den Betrieb eines Steuerlagers entzieht, wenn der zugelassene Lagerinhaber die in der nationalen Regelung vorgesehenen Voraussetzungen für die Erteilung der Betriebszulassung nicht eingehalten hat, und dass dies u. a. dann der Fall ist, wenn dieser Lagerinhaber – wie hier – eine Zuwiderhandlung begangen hat, die nach nationalem Recht als „schwer“ eingestuft und bestandskräftig mit einem Bußgeld sanktioniert wurde.
85 Eine Zuwiderhandlung gegen die Verbrauchsteuerregelung wird gemäß Art. 4 Nr. 18 ZADS als „schwer“ eingestuft, wenn sie zu einem Bußgeld von mehr als 15000 BGN (etwa 7600 Euro) geführt hat.
86 Da gemäß Art. 112 Abs. 1 ZADS die im Ausgangsverfahren fragliche Geldbuße stets auf die doppelte Höhe der nicht entrichteten Verbrauchsteuer festgesetzt wird, scheint sich daraus zu ergeben, dass ein Verstoß gegen die Verbrauchsteuerregelung im nationalen Recht als „schwer“ gilt und damit automatisch zum Entzug der Betriebszulassung führt, wenn dieser Verstoß, der zu dem Bußgeld geführt hat, einen nicht entrichteten Verbrauchsteuerbetrag von mehr als 7500 BGN (ca. 3800 Euro) betrifft, was eine Steuerhinterziehung von gewisser Schwere kennzeichnet.
87 Allerdings sind auch die möglichen Auswirkungen einer Maßnahme wie der im Ausgangsverfahren fraglichen auf das legitime Recht des zugelassenen Lagerinhabers, eine wirtschaftliche Tätigkeit auszuüben, zu berücksichtigen (vgl. entsprechend Urteil vom 24. Februar 2022, Agenzia delle dogane e dei monopoli und Ministero dell’Economia e delle Finanze, C‑452/20, EU:C:2022:111, Rn. 48).
88 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass, wie in Rn. 58 des vorliegenden Urteils ausgeführt, die Folgen, die der Entzug der Betriebszulassung für die wirtschaftlichen Tätigkeiten des zugelassenen Lagerinhabers hat, schwerwiegend erscheinen, weil ein solcher Entzug zeitlich nicht beschränkt ist.
89 Vor allem geht aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten auch hervor, dass die im Ausgangsverfahren fragliche nationale Regelung es dem Betroffenen nicht ermöglicht, zu einem späteren Zeitpunkt eine neue Betriebszulassung zu erhalten.
90 Die bulgarische Regierung macht insoweit geltend, dass dieses Verbot durch die Notwendigkeit gerechtfertigt sei, die Wiederholungsgefahr auszuschließen. Zwar erscheint es nicht ungerechtfertigt, dass einem zugelassenen Lagerinhaber, der beispielsweise an einer groß angelegten Steuerhinterziehung beteiligt war, die mit dem Steuerlager verbundenen Vorteile des Verfahrens der Steueraussetzung dauerhaft entzogen werden. Bei weniger schweren Verstößen ist dies jedoch nicht zwangsläufig der Fall.
91 Daraus folgt, dass es, auch wenn der Entzug der mit dem Steuerlager verbundenen Vorteile des Verfahrens der Steueraussetzung eine Maßnahme zu sein scheint, die in einem angemessenen Verhältnis zur Schwere einer Zuwiderhandlung wie der in Art. 53 Abs. 2 Nr. 1 ZADS genannten steht, dennoch Sache des vorlegenden Gerichts ist, zu bestimmen, ob auch ein endgültiger Ausschluss von den Vorteilen eines solchen Verfahrens eine in Anbetracht der Schwere dieser Zuwiderhandlung verhältnismäßige Maßnahme ist.
92 Nach alledem ist auf die erste und die dritte Frage, die zusammen geprüft wurden, zu antworten, dass Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie 2008/118 in Verbindung mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung, die bei einer Zuwiderhandlung gegen die Verbrauchsteuerregelung, die nach dieser Regelung als schwer gilt, kumulativ zu einem wegen desselben Sachverhalts bereits verhängten Bußgeld den Entzug der Zulassung für den Betrieb eines Steuerlagers vorsieht, dann nicht entgegensteht, wenn dieser Entzug u. a. in Anbetracht seiner Endgültigkeit keine Maßnahme darstellt, die außer Verhältnis zur Schwere der Zuwiderhandlung steht.
93 Des Weiteren ist in dem Fall, dass diese beiden Sanktionen strafrechtlichen Charakter haben, Art. 50 der Charta dahin auszulegen, dass er einer solchen nationalen Regelung nicht entgegensteht, sofern folgende Voraussetzungen vorliegen:
–
Die Möglichkeit einer Kumulierung dieser beiden Sanktionen ist gesetzlich vorgesehen;
–
die nationale Regelung ermöglicht es nicht, denselben Sachverhalt aufgrund desselben Verstoßes oder zur Verfolgung desselben Ziels zu verfolgen und zu ahnden, sondern sieht nur die Möglichkeit einer Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen aufgrund unterschiedlicher Regelungen vor;
–
mit diesen Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen werden komplementäre Ziele verfolgt, die gegebenenfalls unterschiedliche Aspekte desselben rechtswidrigen Verhaltens betreffen;
–
es gibt klare und präzise Regeln, anhand deren sich vorhersehen lässt, bei welchen Handlungen und Unterlassungen eine Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen in Frage kommt, und die eine Koordinierung zwischen den verschiedenen Behörden ermöglichen; die beiden Verfahren wurden in hinreichend koordinierter Weise und in einem engen zeitlichen Zusammenhang geführt; die gegebenenfalls im Rahmen des chronologisch zuerst geführten Verfahrens verhängte Sanktion wurde bei der Bestimmung der zweiten Sanktion berücksichtigt, so dass die Belastungen, die sich aus einer solchen Kumulierung für die Betroffenen ergeben, auf das zwingend Erforderliche beschränkt bleiben und die Gesamtheit der verhängten Sanktionen der Schwere der begangenen Straftaten entspricht.
Zur zweiten Frage
94 Mit seiner zweiten Frage ersucht das vorlegende Gericht den Gerichtshof darum, den Grundsatz der Nichtdiskriminierung im Sinne des zehnten Erwägungsgrundes der Richtlinie 2008/118 auszulegen.
95 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass sich nach diesem Erwägungsgrund die Verfahren für die Erhebung und die Erstattung der Steuer, da sie sich auf das reibungslose Funktionieren des Binnenmarkts auswirken, nach nicht diskriminierenden Kriterien richten sollten.
96 Der Vorlageentscheidung und den dem Gerichtshof vorliegenden Akten lässt sich jedoch nicht entnehmen, dass der Ausgangsrechtsstreit die Modalitäten der Erhebung und Erstattung von Verbrauchsteuern betrifft.
97 Aus dieser Entscheidung und den Akten geht auch nicht hervor, dass die bulgarische Zollverwaltung Vinal anders behandelt hätte als andere Wirtschaftsbeteiligte in einer vergleichbaren Situation.
98 Das nationale Gericht muss in der Vorlageentscheidung selbst den tatsächlichen und rechtlichen Rahmen des Ausgangsverfahrens darlegen und die erforderlichen Erläuterungen zu den Gründen für die Wahl der Vorschriften des Unionsrechts, um deren Auslegung es ersucht, sowie zu dem Zusammenhang geben, den es zwischen diesen Vorschriften und der auf den bei ihm anhängigen Rechtsstreit anzuwendenden nationalen Regelung herstellt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 4. Juni 2020, C. F. [Steuerprüfung], C‑430/19, EU:C:2020:429, Rn. 23 und die dort angeführte Rechtsprechung).
99 Folglich genügt die Vorlageentscheidung in Bezug auf die zweite Frage offensichtlich nicht den Anforderungen von Art. 94 Buchst. c der Verfahrensordnung des Gerichtshofs, so dass diese Frage als unzulässig zurückzuweisen ist.
Kosten
100 Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Vierte Kammer) für Recht erkannt:
Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie 2008/118/EG des Rates vom 16. Dezember 2008 über das allgemeine Verbrauchsteuersystem und zur Aufhebung der Richtlinie 92/12/EWG in Verbindung mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ist dahin auszulegen, dass er einer nationalen Regelung, die bei einer Zuwiderhandlung gegen die Verbrauchsteuerregelung, die nach dieser Regelung als schwer gilt, kumulativ zu einem wegen desselben Sachverhalts bereits verhängten Bußgeld den Entzug der Zulassung für den Betrieb eines Steuerlagers vorsieht, dann nicht entgegensteht, wenn dieser Entzug u. a. in Anbetracht seiner Endgültigkeit keine Maßnahme darstellt, die außer Verhältnis zur Schwere der Zuwiderhandlung steht.
Sollten diese beiden Sanktionen strafrechtlichen Charakter haben, ist Art. 50 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union dahin auszulegen, dass er einer solchen nationalen Regelung nicht entgegensteht, sofern folgende Voraussetzungen vorliegen:
–
Die Möglichkeit einer Kumulierung dieser beiden Sanktionen ist gesetzlich vorgesehen;
–
die nationale Regelung ermöglicht es nicht, denselben Sachverhalt aufgrund desselben Verstoßes oder zur Verfolgung desselben Ziels zu verfolgen und zu ahnden, sondern sieht nur die Möglichkeit einer Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen aufgrund unterschiedlicher Regelungen vor;
–
mit diesen Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen werden komplementäre Ziele verfolgt, die gegebenenfalls unterschiedliche Aspekte desselben rechtswidrigen Verhaltens betreffen;
–
es gibt klare und präzise Regeln, anhand deren sich vorhersehen lässt, bei welchen Handlungen und Unterlassungen eine Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen in Frage kommt, und die eine Koordinierung zwischen den verschiedenen Behörden ermöglichen; die beiden Verfahren wurden in hinreichend koordinierter Weise und in einem engen zeitlichen Zusammenhang geführt; die gegebenenfalls im Rahmen des chronologisch zuerst geführten Verfahrens verhängte Sanktion wurde bei der Bestimmung der zweiten Sanktion berücksichtigt, so dass die Belastungen, die sich aus einer solchen Kumulierung für die Betroffenen ergeben, auf das zwingend Erforderliche beschränkt bleiben und die Gesamtheit der verhängten Sanktionen der Schwere der begangenen Straftaten entspricht.
Unterschriften
(*1) Verfahrenssprache: Bulgarisch.
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Urteil des Gerichts (Zweite Kammer) vom 26. Juli 2023.#Arctic Paper Grycksbo AB gegen Europäische Kommission.#Umwelt – Richtlinie 2003/87/EG – System für den Handel mit Treibhausgasemissionszertifikaten – Nationale Umsetzungsmaßnahmen – Übergangsweise kostenlose Zuteilung von Treibhausgasemissionszertifikaten – Beschluss, eine Anlage auszuschließen, die ausschließlich Biomasse nutzt – Sorgfaltspflicht – Recht auf Anhörung – Begründungspflicht – Offensichtlicher Beurteilungsfehler – Gleichbehandlung – Vertrauensschutz – Einrede der Rechtswidrigkeit – Anhang I Nr. 1 der Richtlinie 2003/87.#Rechtssache T-269/21.
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62021TJ0269
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ECLI:EU:T:2023:429
| 2023-07-26T00:00:00 |
Gericht
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Sammlung der Rechtsprechung – allgemein – Abschnitt „Informationen über nicht veröffentlichte Entscheidungen“
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62021TJ0269
URTEIL DES GERICHTS (Zweite Kammer)
26. Juli 2023 (*1) (i
)
„Umwelt – Richtlinie 2003/87/EG – System für den Handel mit Treibhausgasemissionszertifikaten – Nationale Umsetzungsmaßnahmen – Übergangsweise kostenlose Zuteilung von Treibhausgasemissionszertifikaten – Beschluss, eine Anlage auszuschließen, die ausschließlich Biomasse nutzt – Sorgfaltspflicht – Recht auf Anhörung – Begründungspflicht – Offensichtlicher Beurteilungsfehler – Gleichbehandlung – Vertrauensschutz – Einrede der Rechtswidrigkeit – Anhang I Nr. 1 der Richtlinie 2003/87“
In der Rechtssache T‑269/21,
Arctic Paper Grycksbo AB mit Sitz in Grycksbo (Schweden), vertreten durch Rechtsanwältin A. Bryngelsson sowie Rechtsanwälte A. Johansson und F. Sjövall,
Klägerin,
gegen
Europäische Kommission, vertreten durch G. Wils, B. De Meester und P. Carlin als Bevollmächtigte,
Beklagte,
unterstützt durch
Europäisches Parlament, vertreten durch C. Ionescu Dima, W. Kuzmienko und P. Biström als Bevollmächtigte,
und durch
Rat der Europäischen Union, vertreten durch A. Norberg und J. Himmanen als Bevollmächtigte,
Streithelfer,
erlässt
DAS GERICHT (Zweite Kammer)
unter Mitwirkung der Präsidentin A. Marcoulli sowie der Richter S. Frimodt Nielsen (Berichterstatter) und R. Norkus,
Kanzler: H. Eriksson, Verwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
auf die mündliche Verhandlung vom 2. Februar 2023
folgendes
Urteil
1 Mit ihrer Klage nach Art. 263 AEUV beantragt die Klägerin, die Arctic Paper Grycksbo AB, Art. 1 Abs. 1 und Anhang I des Beschlusses (EU) 2021/355 der Kommission vom 25. Februar 2021 über nationale Umsetzungsmaßnahmen für die übergangsweise kostenlose Zuteilung von Treibhausgasemissionszertifikaten gemäß Artikel 11 Absatz 3 der Richtlinie 2003/87/EG des Europäischen Parlaments und des Rates (ABl. 2021, L 68, S. 221, im Folgenden: angefochtener Beschluss), soweit er sie betrifft, für nichtig zu erklären.
Vorgeschichte des Rechtsstreits
2 Die vorliegende Klage betrifft eine von der Klägerin in Grycksbo (Schweden) betriebene Anlage zur Herstellung von gestrichenem grafischem Feinpapier. Die Klägerin ist seit 2005 im Besitz einer Genehmigung zur Emission von Treibhausgasen.
3 Der angefochtene Beschluss hat zur Folge, dass die in Rede stehende Anlage vom System für den Handel mit Treibhausgasemissionszertifikaten (im Folgenden: EHS) ausgeschlossen wird. Dieses System wurde durch die Richtlinie 2003/87/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Oktober 2003 über ein [EHS] in der Gemeinschaft und zur Änderung der Richtlinie 96/61/EG des Rates (ABl. 2003, L 275, S. 32) geschaffen und durch die Richtlinie (EU) 2018/410 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 14. März 2018 zur Änderung der Richtlinie 2003/87 zwecks Unterstützung kosteneffizienter Emissionsreduktionen und zur Förderung von Investitionen mit geringem CO2-Ausstoß und des Beschlusses (EU) 2015/1814 (ABl. 2018, L 76, S. 3) geändert. Der fragliche Ausschluss hat u. a. zur Konsequenz, dass der Klägerin die kostenlose Zuteilung von Emissionszertifikaten für die vierte Handelsperiode (2021–2025) verwehrt wird.
4 Um diese Zuteilung in Anspruch nehmen zu können, stellte die Klägerin am 7. Mai 2019 beim Naturvårdsverk (Agentur für Umweltschutz, Schweden) einen entsprechenden Antrag. In diesem Antrag rundete sie die Zahl der im Bezugszeitraum (von 2014 bis 2018) emittierten Tonnen Kohlendioxid aus fossilen Quellen auf null ab. Ihre tatsächlichen Emissionen hätten in den Jahren 2018 bis 2020 bei über 0 t und unter 0,5 t gelegen.
5 Am 27. September 2019 unterbreitete das Königreich Schweden der Kommission die in Art. 11 der Richtlinie 2003/87 vorgesehene nationale Umsetzungsmaßnahme (im Folgenden: NUM), d. h. das Verzeichnis der Anlagen, die für die vierte Handelsperiode unter das EHS fallen sollten. Die in Rede stehende Anlage war in diesem Verzeichnis mit der Kennung SE468 aufgeführt. Die für diese Anlage ausgewiesenen Mengen an Kohlendioxid aus fossilen Quellen beliefen sich für jedes Jahr des Bezugszeitraums (2014–2018) auf 0 t.
6 Mit Stellungnahme vom 19. Mai 2020 beanstandete die Kommission wie folgt die Einbeziehung von 49 Anlagen – darunter auch die in Rede stehende Anlage – in die NUM:
„In mindestens einem Jahr des Bezugszeitraums hat [die in Rede stehende Anlage] fast 100 % ihrer Emissionen aus Biomasse erzeugt. Solche Anlagen sollten nicht in das EHS einbezogen werden. Bitte erläutern Sie dies.“
7 Am 16. Juni 2020 antwortete die Agentur für Umweltschutz auf die Stellungnahme der Kommission und erklärte, dass die in Rede stehende Anlage unter eine von der Kommission genehmigte nationale Opt-in-Klausel falle, die die Einbeziehung von Anlagen vorsehe, die an ein Fernwärmenetz angeschlossen seien.
8 In einer E‑Mail an die Agentur für Umweltschutz vom 30. September 2020 bekräftigte die Kommission ihren Standpunkt, dass Anlagen, die im vorgenannten Bezugszeitraum (2014–2014) ausschließlich Biomasse genutzt hätten, vom EHS ausgeschlossen werden sollten.
9 Am 1. Oktober 2020 richtete die Agentur für Umweltschutz eine E‑Mail an die Kommission, in der sie einräumte, dass die in Rede stehende Anlage nicht an ein Fernwärmenetz angeschlossen und ihre Einbeziehung in das EHS zweifelhaft sei. Sie sei aber der Auffassung, sie könne die Anlage in diesem Stadium des Verfahrens nicht aus der NUM zurückziehen, da das nationale Verwaltungsrecht keine Möglichkeit vorsehe, die Genehmigung, über die die Klägerin verfüge, einseitig und ohne Rechtsgrundlage zurückzunehmen. Darüber hinaus wies sie darauf hin, dass nicht ausgeschlossen werden könne, dass die in Rede stehende Anlage in Zukunft Brennstoffe aus fossilen Quellen nutzen werde.
10 Mit E‑Mail vom 17. Dezember 2020 teilte die Agentur für Umweltschutz der Kommission mit, dass die Ermittlung der Anlagen, deren Ausschluss sie beabsichtige, aufgrund des Kriteriums der ausschließlichen Nutzung von Biomasse und des gewählten Bezugszeitraums (2014–2018) eine schwierige Aufgabe sei.
11 Am 14. Januar 2021 übermittelte die Kommission den Vertretern der Mitgliedstaaten im Ausschuss für Klimaänderung den Entwurf einer Verordnung zur Anpassung der Produkt-Benchmarkwerte für die Handelsperiode von 2021 bis 2025. Dieser Entwurf wurde am 26. Januar 2021 geändert, um am folgenden Tag durch diesen Ausschuss genehmigt zu werden.
12 Mit E‑Mail vom 26. Januar 2021 wies die Agentur für Umweltschutz die Kommission darauf hin, dass sie in den Berichten von Unternehmen, die im Bezugszeitraum weniger als 0,5 t Kohlendioxid aus fossilen Quellen emittiert hätten, Diskrepanzen festgestellt habe. Einige Unternehmen, die sie nicht namhaft machte, hätten diese Emissionen auf 0 t abgerundet, während andere ihre tatsächlichen Emissionen angegeben hätten, ohne eine solche Rundung vorzunehmen. Die Kommission habe nur die Einbeziehung von Anlagen beanstandet, die Emissionen von Kohlendioxid aus fossilen Quellen in Höhe von 0 t ausgewiesen hätten, während die Einbeziehung von Anlagen, die ihre Emissionen ohne Rundung ausgewiesen hätten, nicht beanstandet worden sei. Die Agentur forderte die Kommission auf, die Methoden zu erläutern, die sie auf alle Anlagen, die Biomasse nutzten, anwenden wolle.
13 Am 28. Januar 2021 teilte die Kommission der Agentur für Umweltschutz mit, dass die Prüfungsphase für die NUM abgeschlossen sei und sie nunmehr keine Änderungen mehr berücksichtigen könne, die sich auf das Verzeichnis der Anlagen und die Berechnung der Produkt-Benchmarkwerte auswirkten.
14 Am selben Tag wurde den Mitgliedstaaten der endgültige Text des oben in Rn. 11 genannten Verordnungsentwurfs zur Annahme im schriftlichen Verfahren übermittelt. Für die Einreichung von Stellungnahmen wurde eine Frist bis zum 11. Februar 2021 festgesetzt.
15 Am 1. Februar 2021 teilte die Agentur für Umweltschutz mit, dass das Anlagenverzeichnis in der NUM nicht als endgültig angesehen werden könne, solange die Kommission nicht zu den in der E‑Mail vom 26. Januar 2021 aufgeführten Fragen Stellung genommen habe (siehe oben, Rn. 12).
16 Mit E‑Mail vom selben Tag antwortete die Kommission wie folgt:
„Wir hatten alle Phasen für die Bewertung der NUM abgeschlossen, bevor wir dem Ausschuss für Klimaänderung die Benchmark-Verordnung zur Abgabe einer befürwortenden Stellungnahme und den Kommissionsbeschluss über die NUM zur Annahme vorgelegt haben.
Wie in einer früheren E‑Mail dargelegt, können wir, wenn ein Mitgliedstaat einen Fehler im Verzeichnis der [NUM] feststellt, der sich weder auf die Produkt-Benchmarkwerte noch auf die Entscheidungen über NUM, sondern nur auf die kostenlose Zuteilung von Zertifikaten auswirkt (oder der lediglich Daten aktualisiert, damit künftig die richtige Referenz angegeben und eine zukünftige Korrektur der NUM vermieden wird), in diesem Stadium ein aktualisiertes Verzeichnis der [NUM] akzeptieren, bevor die vorläufige jährliche Menge der kostenlosen Zertifikate vorgelegt wird.
Die von uns verwendete Methode für Anlagen, die ausschließlich Biomasse nutzen, stellte auf die Emissionen ab, und es wurden weder für direkte Emissionen noch für die Emissionen aus Biomasse Rundungen vorgenommen.“
17 Mit E‑Mail vom 4. Februar 2021 wies die Agentur für Umweltschutz die Kommission auf augenscheinliche Unstimmigkeiten in der Art und Weise hin, wie diese im Hinblick auf den Ausschluss von Anlagen, die ausschließlich Biomasse nutzten, Anlagen zu behandeln gedenke, deren Emissionen von Kohlendioxid aus fossilen Quellen ihrer Ansicht nach vergleichbar waren. In derselben E‑Mail machte sie die Kommission außerdem darauf aufmerksam, dass die Klägerin für das Jahr 2018 eine Emissionsmenge von 0,3727 t Kohlendioxid aus fossilen Quellen ausgewiesen habe. Schließlich fragte sie, ob sie die NUM aktualisieren könne, indem sie für jede Anlage, die nach Ansicht der Kommission ausschließlich Biomasse nutze, die im Bezugszeitraum tatsächlich emittierten Mengen an Kohlendioxid aus fossilen Quellen angebe, ohne diese zu runden.
18 Mit E‑Mail vom 16. Februar 2021 antwortete die Kommission der Agentur für Umweltschutz, dass es nicht mehr möglich sei, Änderungen vorzunehmen, die sich darauf bezögen, welche Anlagen in den NUM aufgeführt würden, oder die sich auf die Berechnung der Produkt-Benchmarkwerte auswirkten, da die diesbezüglichen Rechtsakte in Kürze erlassen würden.
19 Am 25. Februar 2021 erließ die Kommission den angefochtenen Beschluss.
20 Im angefochtenen Beschluss teilte die Kommission mit, in welchen Fällen sie Einwände gegen die ihr vorgeschlagenen NUM erheben wolle. In Bezug auf die Klägerin führte die Kommission im elften Erwägungsgrund dieses Beschlusses Folgendes aus:
„[Die Republik] Finnland und [das Königreich] Schweden schlugen die Einbeziehung von 51 Anlagen vor, die ausschließlich Biomasse nutzen. Einige dieser Anlagen unterlagen im Zeitraum 2004–2007 einer Klausel für die einseitige Einbeziehung dieser Anlagen (Opt-in-Klausel), die von der Kommission gemäß Artikel 24 der Richtlinie 2003/87… genehmigt wurde. Allerdings wurden danach Anlagen, die ausschließlich Biomasse nutzen, im Einklang mit einer neuen Bestimmung in Anhang I Nummer 1 der Richtlinie 2003/87… vom … EHS ausgeschlossen. Mit dieser mit der Richtlinie 2009/29… aufgenommenen und seit dem 1. Januar 2013 geltenden Bestimmung wurde für das … EHS ein neuer Anwendungsbereich festgelegt, der auch für frühere Opt-in-Klauseln gilt. Daher ist die Einbeziehung der Anlagen, die ausschließlich Biomasse nutzen, für alle Jahre des Bezugszeitraums abzulehnen, auch wenn sie gemäß Artikel 11 Absatz 1 der Richtlinie 2003/87… aufgeführt waren.“
21 Am 12. März 2021 erließ die Kommission die Durchführungsverordnung (EU) 2021/447 zur Festlegung angepasster Benchmarkwerte für die kostenlose Zuteilung von Emissionszertifikaten für den Zeitraum 2021–2025 gemäß Artikel 10a Absatz 2 der Richtlinie 2003/87 (ABl. 2021, L 87, S. 29).
22 Am 2. Juni 2021 übermittelte das Königreich Schweden der Kommission eine neue NUM, in der die Klägerin nicht mehr aufgeführt war.
Anträge der Parteien
23 Die Klägerin beantragt,
–
den angefochtenen Beschluss für nichtig zu erklären, soweit er sie betrifft;
–
der Kommission die Kosten aufzuerlegen.
24 Die Kommission beantragt,
–
die Klage abzuweisen;
–
der Klägerin die Kosten aufzuerlegen.
25 Das Europäische Parlament beantragt im Wesentlichen, die Klage abzuweisen.
26 Der Rat der Europäischen Union beantragt,
–
die Klage abzuweisen;
–
der Klägerin die Kosten aufzuerlegen.
Rechtliche Würdigung
27 Die Klägerin stützt ihre Klage auf sechs Klagegründe. Als ersten Klagegrund führt sie einen offensichtlichen Beurteilungsfehler an. Mit dem zweiten macht sie einen Verstoß gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung geltend. Der dritte betrifft die Verletzung wesentlicher Formvorschriften. Der vierte wird auf einen Verstoß gegen den Grundsatz des Vertrauensschutzes gestützt. Mit dem fünften Klagegrund wird ein Verstoß gegen die Richtlinie 2003/87, insbesondere gegen deren Art. 10a und Anhang I Nr. 1, gerügt. Mit dem sechsten Klagegrund wird schließlich die Rechtswidrigkeit dieser Nummer geltend gemacht.
28 Außerdem haben die Hauptparteien, ohne sie förmlich mit den sechs Klagegründen zu verknüpfen, Argumente zu dem für das Verfahren zum Erlass des angefochtenen Beschlusses geltenden rechtlichen Rahmen und zu den Verpflichtungen der Kommission ausgetauscht. Diese Argumente wirken sich u. a. auf die Würdigung des zweiten und des dritten Klagegrundes aus.
29 Daher ist zunächst auf den rechtlichen Rahmen, in den sich das EHS einfügt, sowie auf die Ziele der Richtlinie 2003/87 einzugehen, sodann das Vorbringen der Parteien zur Rechtmäßigkeit des Verfahrens zum Erlass des angefochtenen Beschlusses und schließlich das Vorbringen zu prüfen, mit dem die Begründetheit dieses Beschlusses in Frage gestellt wird.
Vorbemerkungen zum EHS und zu den mit der Richtlinie 2003/87 verfolgten Zielen
30 Das durch die Richtlinie 2003/87 geregelte EHS betrifft Anlagen, die die in ihrem Anhang I festgelegten Kriterien erfüllen und eines oder mehrere der in ihrem Anhang II aufgeführten Treibhausgase emittieren (Art. 2 dieser Richtlinie). Nach ihrem Art. 1 soll das EHS Unternehmen dazu bewegen, ihre Treibhausgasemissionen auf kosteneffiziente und wirtschaftlich effiziente Weise zu verringern. Wie aus dem achten Erwägungsgrund der Richtlinie hervorgeht, impliziert das EHS mithin, dass Tätigkeiten einbezogen werden, die ein gewisses Potenzial aufweisen, Treibhausgasemissionen zu verringern (vgl. Urteil vom 20. Juni 2019, ExxonMobil Production Deutschland, C‑682/17, EU:C:2019:518, Rn. 55 und 56 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).
31 Hierzu ist daran zu erinnern, dass das Ziel der Richtlinie 2003/87 darin besteht, ein EHS zu schaffen, das auf die Verringerung der Treibhausgasemissionen in die Atmosphäre auf ein Niveau abzielt, das eine gefährliche anthropogene Beeinträchtigung des Klimas verhindert und letztlich den Schutz der Umwelt bezweckt (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 8. März 2017, ArcelorMittal Rodange et Schifflange,C‑321/15, EU:C:2017:179, Rn. 24 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie vom 20. Juni 2019, ExxonMobil Production Deutschland, C‑682/17, EU:C:2019:518, Rn. 62 und die dort angeführte Rechtsprechung). So sollen mit dieser Richtlinie die Treibhausgasemissionen der Europäischen Union gegenüber 1990 in wirtschaftlich effizienter Weise reduziert werden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 20. Juni 2019, ExxonMobil Production Deutschland, C‑682/17, EU:C:2019:518, Rn. 64 und die dort angeführte Rechtsprechung).
32 Das EHS soll somit die internationalen Umweltverpflichtungen der Union und ihrer Mitgliedstaaten erfüllen und dabei zugleich mehrere Ziele verfolgen, wie die „möglichst [geringe] Beeinträchtigung der wirtschaftlichen Entwicklung und der Beschäftigungslage“ (fünfter Erwägungsgrund der Richtlinie), den „[Erhalt der] Integrität des Binnenmarktes“ (siebter Erwägungsgrund der Richtlinie), die „[Vermeidung von] Wettbewerbsverzerrungen“ (siebter Erwägungsgrund der Richtlinie) (vgl. Urteil vom 20. Juni 2019, ExxonMobil Production Deutschland, C‑682/17, EU:C:2019:518, Rn. 101 und die dort angeführte Rechtsprechung) und – u. a. gemäß Art. 10b der Richtlinie – die Verhinderung von Verlagerungseffekten („Carbon Leakage“), d. h. die Verlagerung von Herstellern, die Emissionen von Treibhausgasen verursachen, außerhalb des Binnenmarkts.
33 Zu diesem Zweck müssen die in das EHS einbezogenen Unternehmen zum einen eine Genehmigung zur Emission von Treibhausgasen einholen, die ihnen vorbehaltlich des Nachweises ihrer Fähigkeit, ihre Emissionen zu überwachen und darüber Bericht zu erstatten, von den Mitgliedstaaten erteilt wird, und zum anderen jedes Jahr Zertifikate abgeben, die innerhalb und außerhalb der Union übertragen werden können. Die Äquivalenz zwischen den von jeder Anlage abgegebenen Zertifikaten und ihren tatsächlichen, in Tonnen Kohlendioxidäquivalent gemessenen Treibhausgasemissionen wird von den Mitgliedstaaten überprüft und verbucht (Art. 3 Buchst. a, Art. 4 bis 6, 12, 15, 19 und 25 der Richtlinie 2003/87).
34 Das EHS schafft somit eine Reihe wirtschaftlicher Anreize für die Verringerung von Treibhausgasen durch die Anlagen selbst. Denn auch wenn das Endziel des EHS im Schutz der Umwelt besteht, verringert dieses System diese Emissionen nicht selbst. Dagegen dient es dem Anreiz und der Förderung des Strebens nach geringstmöglichen Kosten, um eine Verringerung dieser Emissionen auf ein mit den internationalen Verpflichtungen der Union und ihrer Mitgliedstaaten vereinbares Niveau zu erreichen, wobei diese Verringerung davon abhängt, wie streng die Gesamtmenge der zugeteilten Zertifikate festgesetzt wird (Urteile vom 16. Dezember 2008, Arcelor Atlantique et Lorraine u. a.,C‑127/07, EU:C:2008:728, Rn. 31, und vom 17. Oktober 2013, Billerud Karlsborg und Billerud Skärblacka, C‑203/12, EU:C:2013:664, Rn. 26).
35 Das EHS beruht somit auf einer wirtschaftlichen Logik, die darin besteht, dass jeder Teilnehmer dazu veranlasst wird, eine Treibhausgasmenge zu emittieren, die unter der Menge der ihm ursprünglich zugeteilten Zertifikate liegt, um die überschüssigen Zertifikate an einen anderen Teilnehmer abzugeben, der eine die ihm zugeteilten oder erworbenen Zertifikate übersteigende Emissionsmenge erzeugt hat. Die Emissionszertifikate haben daher einen Handelswert (vgl. Urteile vom 8. März 2017, ArcelorMittal Rodange et Schifflange,C‑321/15, EU:C:2017:179, Rn. 22 und die dort angeführte Rechtsprechung, und vom 20. Juni 2019, ExxonMobil Production Deutschland, C‑682/17, EU:C:2019:518, Rn. 63; vgl. auch Schlussanträge des Generalanwalts Campos Sánchez-Bordona in der Rechtssache ArcelorMittal Rodange et Schifflange, C‑321/15, EU:C:2016:516, Nrn. 48 bis 55).
36 Darüber hinaus sieht das EHS als vorübergehende Ausnahme von der Regel, dass Emissionszertifikate versteigert werden, die kostenlose Zuteilung bestimmter Zertifikate vor (Art. 9, 9a, 10, 10a und 10c der Richtlinie 2003/87), deren Anzahl seit 2013 linear abnimmt. Die Anzahl der kostenfrei zugeteilten Zertifikate wird nunmehr auf der Grundlage einer für jedes Produkt berechneten Benchmark bestimmt, die gemäß Art. 10a dieser Richtlinie grundsätzlich und so weit wie möglich der Durchschnittsleistung der 10 % ökologisch effizientesten Hersteller entspricht. Gemäß Art. 10a Abs. 2 Buchst. a und b der Richtlinie unterliegen die Benchmarkwerte für den Zeitraum 2021–2025 einer maximalen jährlichen Reduktionsrate von 1,6 %.
37 Um für die kostenlose Zuteilung von Zertifikaten in Betracht zu kommen, muss eine Anlage in die Umsetzungsmaßnahme einbezogen werden, die nach Art. 11 Abs. 1 der Richtlinie 2003/87 durch den Mitgliedstaat, in dessen Hoheitsgebiet sie sich befindet, erlassen wird. Gemäß Art. 11 Abs. 3 der Richtlinie dürfen die Mitgliedstaaten Anlagen, deren Eintrag von der Kommission abgelehnt wurde, keine kostenlosen Zertifikate zuteilen. Im Übrigen wird die Durchschnittsleistung für jede Produkt-Benchmark, von der die kostenlose Zuteilung von Zertifikaten abhängt, unter Berücksichtigung der Emissionen der einbezogenen Anlagen berechnet.
38 Die nicht kostenlos zugeteilten Zertifikate werden gemäß Art. 10 der Richtlinie 2003/87 versteigert. Für die Zuteilung von Emissionszertifikaten soll somit nach und nach allein die Versteigerung das Grundprinzip sein, die laut dem Unionsgesetzgeber das nach allgemeiner Auffassung wirtschaftlich effizienteste System ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 20. Juni 2019, ExxonMobil Production Deutschland, C‑682/17, EU:C:2019:518, Rn. 66).
39 Zu den in Anhang I der Richtlinie 2003/87 genannten Kategorien von Tätigkeiten gehört die Herstellung von Papier und Karton mit einer Produktionskapazität über 20 t pro Tag. Die betreffenden Anlagen fallen nach diesem Anhang im Hinblick auf ihre Kohlendioxidemissionen unter das EHS.
40 In Anhang I Nrn. 1 und 3 der Richtlinie 2003/87 heißt es jedoch:
„1. … Anlagen, die ausschließlich Biomasse nutzen, fallen nicht unter diese Richtlinie. …
3. … Einheiten, die ausschließlich Biomasse nutzen, werden bei [der] Berechnung [der Gesamtfeuerungswärmeleistung einer Anlage] nicht berücksichtigt. Als ‚Einheiten, die ausschließlich Biomasse nutzen‘ gelten auch Einheiten, die nur bei Inbetriebnahme und Abschaltung fossile Brennstoffe nutzen.“
41 Anhang IV Teil A der Richtlinie 2003/87 enthält einen Abschnitt mit der Überschrift „Berechnung“, dessen Abs. 4 letzter Satz bestimmt: „Der Emissionsfaktor für Biomasse ist Null.“
42 Die Richtlinie (EU) 2018/2001 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Dezember 2018 zur Förderung der Nutzung von Energie aus erneuerbaren Quellen (ABl. 2018, L 328, S. 82) zählt Biomasse zu den erneuerbaren Energiequellen. Art. 2 Nr. 24 dieser Richtlinie definiert Biomasse als „den biologisch abbaubaren Teil von Produkten, Abfällen und Reststoffen biologischen Ursprungs der Landwirtschaft, einschließlich pflanzlicher und tierischer Stoffe, der Forstwirtschaft und damit verbundener Wirtschaftszweige, einschließlich der Fischerei und der Aquakultur sowie den biologisch abbaubaren Teil von Abfällen, darunter auch Industrie- und Haushaltsabfälle biologischen Ursprungs“.
43 Zwischen den Parteien besteht Uneinigkeit über die Tragweite und die Rechtmäßigkeit der Ausnahme für Treibhausgasemissionen aus Biomasse, die, wie oben in den Rn. 2 bis 22 ausgeführt, die Kommission im angefochtenen Beschluss dazu veranlasst hat, die Einbeziehung der in Rede stehenden Anlage in das EHS abzulehnen, was u. a. zur Folge hat, dass ihr jede kostenlose Zuteilung von Treibhausgasemissionszertifikaten für die vierte Handelsperiode (2021–2025) verwehrt wird.
Zur Ordnungsmäßigkeit des Verfahrens zum Erlass des angefochtenen Beschlusses
44 Neben den Argumenten, die speziell die Ordnungsmäßigkeit des Verfahrens zum Erlass des angefochtenen Beschlusses betreffen, streiten die Parteien über zwei Fragen, die vorab zu prüfen sind.
45 Zum einen wirft die Klägerin der Kommission vor, die ihr am 26. Januar und 4. Februar 2021 unterbreiteten Gesichtspunkte (siehe oben, Rn. 12 und 17) nicht berücksichtigt zu haben, da es der Kommission in diesem Stadium der Annahme der in Art. 11 der Richtlinie 2003/87 vorgesehenen NUM und der in Art. 10a dieser Richtlinie vorgesehenen delegierten Verordnung über die Benchmarkwerte nicht mehr möglich gewesen sei, Änderungen zu berücksichtigen, die sich auf die Identifizierung der in das EHS einbezogenen und für eine kostenlose Zuteilung von Zertifikaten in Betracht kommenden Anlagen auswirkten. Diese eigenständig vorgetragenen Argumente überschneiden sich weitgehend mit denen, die die Klägerin zur Stützung des ersten Teils des dritten Klagegrundes vorgebracht hat, und werden in diesem Rahmen geprüft.
46 Zum anderen besteht zwischen den Parteien Uneinigkeit über die Tragweite der Rundungsregeln, die sich aus Art. 72 Abs. 1 Unterabs. 1 der Durchführungsverordnung (EU) 2018/2066 der Kommission vom 19. Dezember 2018 über die Überwachung von und die Berichterstattung über Treibhausgasemissionen gemäß der Richtlinie 2003/87 und zur Änderung der Verordnung (EU) Nr. 601/2012 der Kommission (ABl. 2018, L 334, S. 1) ergeben. Zunächst ist zu prüfen, ob sich die Klägerin, wie sie behauptet, darauf berufen konnte, dass die abgerundeten Daten, die sie der Agentur für Umweltschutz vorgelegt und die diese der Kommission übermittelt hat, trotzdem tatsächlichen Emissionen von Kohlendioxid aus fossilen Quellen entsprachen, die sich nicht auf null beliefen, sondern zwischen 0 t und 0,5 t lagen.
Zur Berücksichtigung der während des Verfahrens zum Erlass des angefochtenen Beschlusses gemeldeten gerundeten Daten
47 Wie in der E‑Mail der Agentur für Umweltschutz an die Kommission vom 4. Februar 2021 (siehe oben, Rn. 17) erwähnt, hat die Klägerin im Jahr 2018 nach eigenen Angaben 0,37 t Kohlendioxid aus fossilen Quellen emittiert. Weiterhin legt sie zertifizierte Berichte für die Jahre 2019 und 2020 vor, wonach sie in diesen beiden Jahren 0,29 t bzw. 0,46 t Kohlendioxid aus fossilen Quellen emittiert hat.
48 Sie macht geltend, dass sie, weil sie die von der Kommission erlassenen Rundungsregeln befolgt habe, indem sie für das Jahr 2018 Emissionen in Höhe von null gemeldet habe, allein dadurch schlechter gestellt sei als Unternehmen, die – sofern ihre Emissionen unter 0,5 t gelegen hätten – unter Verstoß gegen diese Regeln ihre tatsächlichen Emissionen gemeldet hätten. Diese Anlagen seien nämlich nicht aus dem EHS ausgeschlossen worden.
49 Schließlich trägt die Klägerin vor, dass der Standpunkt der Kommission, wonach alle Anlagen, die weniger als 0,5 t Kohlendioxid aus fossilen Quellen emittiert hätten, unabhängig davon, ob sie in ihren Berichten eine Rundung vorgenommen hätten, aus dem EHS ausgeschlossen werden sollten, eine nachträgliche Rationalisierung darstelle, über die die Agentur für Umweltschutz vor dem Erlass des angefochtenen Beschlusses offensichtlich nicht informiert worden sei.
50 Die Kommission tritt dem Vorbringen der Klägerin entgegen.
51 Nach Art. 72 Abs. 1 Unterabs. 1 Satz 1 der Durchführungsverordnung 2018/2066 werden „[d]ie gesamten Jahresemissionen der einzelnen Treibhausgase [Kohlendioxid, Distickstoffoxid und Perfluorkohlenwasserstoff] … jeweils in gerundeten Tonnen [Kohlendioxid oder Kohlendioxidäquivalent] mitgeteilt.“
52 Es steht fest und ergibt sich u. a. aus den Dokumenten, die die Kommission in Beantwortung der an sie gerichteten prozessleitenden Maßnahme des Gerichts vorgelegt hat, sowie aus den von der Klägerin unaufgefordert eingereichten Dokumenten, dass sich die von der Agentur für Umweltschutz an die Kommission übermittelten Emissionsdaten der Klägerin für den Bezugszeitraum 2014–2018 während des gesamten Verfahrens, das zum Erlass des angefochtenen Beschlusses geführt hat, auf null beliefen.
53 Die Klägerin bestreitet nicht, in den Jahren 2014 bis 2017 kein Kohlendioxid aus fossilen Quellen emittiert zu haben. Dagegen führt sie aus, dass der Wert von 0 t für das Jahr 2018 aus einer Abrundung ihrer tatsächlichen Emissionen, die sich auf 0,37 t belaufen hätten, auf die nächste ganze Einheit resultiere. Die Einhaltung der Rundungsregeln habe zu einem relativen Nachteil der Klägerin im Vergleich zu den Anlagen geführt, die – obwohl ihre tatsächlichen Emissionen unter 0,5 t gelegen hätten – keinen Wert in Höhe von null gemeldet hätten und nicht aus dem EHS ausgeschlossen worden seien, so dass sie weiterhin in den Genuss einer kostenlosen Zuteilung von Zertifikaten gekommen seien.
54 Ohne die Richtigkeit der Behauptungen der Klägerin zu bestreiten, macht die Kommission geltend, dass die Rundungsregeln zwingenden Charakter hätten und die Klägerin die sich aus ihrer Anwendung ergebenden Folgen nicht beanstanden könne.
55 Es besteht indes kaum ein Zweifel daran, dass zwar die Klägerin die Rundungsregeln der genannten Bestimmung eingehalten hat, dies jedoch nicht für alle in der NUM aufgeführten Anlagen der Fall ist. Die Kommission räumt im Übrigen ein, dass sie es irrtümlich versäumt habe, zwei Anlagen auszuschließen, deren gemeldete Emissionen unter 0,5 t lagen, aber nicht abgerundet worden seien.
56 Es ist zwar bedauerlich, dass die Kommission während des Verfahrens zum Erlass der angefochtenen Entscheidung in dieser Frage keinen konstanten Standpunkt eingenommen hat, was insbesondere durch die Fragen, die sie der Agentur für Umweltschutz gestellt hat, und die Identifizierung der Anlagen, die sie vom EHS auszuschließen gedachte, veranschaulicht wird. Dennoch verlangt Art. 72 Abs. 1 Unterabs. 1 der Durchführungsverordnung 2018/2066 die Anwendung der Rundungsregel. Diese Verpflichtung entspricht derjenigen, die zuvor in Art. 72 Abs. 1 Unterabs. 1 der Verordnung (EU) Nr. 601/2012 der Kommission vom 21. Juni 2012 über die Überwachung von und die Berichterstattung über Treibhausgasemissionen gemäß der Richtlinie 2003/87 (ABl. 2012, L 181, S. 30) vorgesehen war, an deren Stelle sie tritt. Daher war sie sowohl auf die jährlichen Emissionsberichte anwendbar, die von den unter das EHS fallenden Anlagen für jedes Jahr des Zeitraums 2014–2018 erstellt wurden, als auch auf den Emissionsbericht für den Bezugszeitraum, den die Mitgliedstaaten zur Stützung ihrer Entwürfe für NUM vorzulegen hatten.
57 Dem Vorbringen der Klägerin, dass diese Regel nicht angewendet werden könne, um zu beurteilen, ob eine Anlage als eine ausschließlich Biomasse nutzende Anlage im Sinne von Anhang I Nr. 1 der Richtlinie 2003/87 anzusehen sei, kann nicht gefolgt werden.
58 Wie sich nämlich aus den Art. 1 und 2 der Durchführungsverordnung 2018/2066 ergibt, gilt diese zwingende Vorschrift für alle Emissionsberichte im Zusammenhang mit den in Anhang I der Richtlinie 2003/87 genannten Tätigkeiten. Es handelt sich somit um eine objektive Methode, die – wie oben in Rn. 56 dargelegt – für alle in den Geltungsbereich der Richtlinie fallenden Anlagen für jedes Jahr des Berichtszeitraums anwendbar ist, um beurteilen zu können, ob eine Anlage, die Biomasse nutzt, unter den die ausschließliche Verwendung von Biomasse betreffenden Ausschluss im Sinne von Nr. 1 dieses Anhangs fällt oder nicht.
59 Dagegen verstieße die von der Klägerin vorgeschlagene Auslegung, wonach eine Anlage, die Biomasse nutzt und 0 t fossile Kohlendioxidemissionen meldet, als eine nicht ausschließlich Biomasse nutzende Anlage angesehen werden sollte, da sich ihre tatsächlichen Emissionen nicht auf null beliefen, gegen das Gebot der Kohärenz des EHS, das u. a. von der Harmonisierung der Berichterstattungs- und Überwachungsregeln abhängt, die mit der Durchführungsverordnung 2018/2066 gewährleistet werden soll. Darüber hinaus ist zu beachten, dass Anhang I Nr. 3 der Richtlinie 2003/87 durch die Gleichstellung von Anlagen, die Kohlendioxid aus fossilen Quellen nur für die Zwecke der Inbetriebnahme und Abschaltung des Produktionsprozesses emittieren, mit Anlagen, die ausschließlich Biomasse nutzen, ausdrücklich vorsieht, dass Anlagen, deren Kohlendioxidemissionen aus fossilen Quellen marginal, aber nicht notwendigerweise gleich null sind, nicht in das EHS einbezogen werden.
60 Folglich war die Klägerin verpflichtet, wie sie es getan hat, für jedes Jahr des Bezugszeitraums Kohlendioxidemissionen aus fossilen Quellen in Höhe von null zu melden und insbesondere ihren Emissionsbericht für 2018 auf null abzurunden. Unbeschadet der Folgen eines etwaigen Verstoßes gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz kann sie daher nicht mit Erfolg beanstanden, dass die Kommission die ihr von der Agentur für Umweltschutz übermittelten Berichte für die in Rede stehende Anlage berücksichtigt hat, aus denen hervorging, dass kein Kohlendioxid aus fossilen Quellen emittiert und folglich ausschließlich Biomasse genutzt worden war.
Zum dritten Klagegrund: Verletzung wesentlicher Formvorschriften
61 Der dritte Klagegrund, der auf eine Verletzung wesentlicher Formvorschriften gestützt wird, besteht aus drei Teilen: Mit dem ersten rügt die Klägerin eine Verletzung der Sorgfaltspflicht, mit dem zweiten eine Verletzung des Anhörungsrechts und mit dem dritten eine Verletzung der Begründungspflicht.
– Zum ersten Teil des dritten Klagegrundes: Verletzung der Sorgfaltspflicht
62 Die Klägerin macht geltend, dass die Kommission, hätte sie die von der Agentur für Umweltschutz übermittelten Informationen ordnungsgemäß gewürdigt, zu einer anderen Schlussfolgerung hinsichtlich der Einbeziehung der in Rede stehenden Anlage in das EHS gelangt wäre. Die Kommission habe daher ihre Sorgfaltspflicht verletzt.
63 Die Frage, ob die in Rede stehende Anlage Kohlendioxidemissionen aus fossilen Quellen erzeuge oder nicht, sei ein relevanter Gesichtspunkt für die Anwendung des in Anhang I Nr. 1 der Richtlinie 2003/87 vorgesehenen Ausschlusses von ausschließlich Biomasse nutzenden Anlagen. Die Kommission sei jedoch nicht ihrer Verpflichtung nachgekommen, ordnungsgemäß zu prüfen, ob diese Anlage ausschließlich Biomasse nutze. Darüber hinaus habe die Kommission eine Anfrage an die Agentur für Umweltschutz gerichtet, nach deren Wortlaut sie davon ausgegangen sei, dass diese Anlage „fast ausschließlich“ Biomasse nutze, was bedeute, dass ihr bekannt gewesen sei, dass die Anlage fossile Brennstoffe verwende. Mithin habe sie sich bewusst dafür entschieden, zertifizierte Daten von der Agentur für Umweltschutz, deren Unparteilichkeit nicht in Frage gestellt werden könne, ohne Grund außer Acht zu lassen.
64 Im Übrigen habe die Kommission die Agentur für Umweltschutz verspätet davon in Kenntnis gesetzt, dass sie der Ansicht sei, dass Anlagen wie die in Rede stehende, die Kohlendioxidemissionen in Höhe von null gemeldet hätten, aus dem EHS auszuschließen seien. Es sei irreführend, der Agentur für Umweltschutz eine angebliche Frist zu setzen, nach deren Ablauf neue, sogar relevante, Informationen nicht mehr berücksichtigt werden könnten.
65 In der Erwiderung wirft die Klägerin der Kommission darüber hinaus vor, dass sie der Agentur für Umweltschutz keine klare Frist gesetzt habe. Die Kommission könne sich daher nicht mit Erfolg darauf berufen, dass einige der ihr vorgelegten Informationen verspätet eingereicht worden seien. Die Kommission hätte die in Rede stehende Anlage jedoch nicht aus dem EHS ausschließen dürfen, wenn sie berücksichtigt hätte, dass die Klägerin ihre Emissionen gemäß den geltenden Vorschriften gerundet habe, obwohl sie sich in Wirklichkeit nicht auf null belaufen hätten.
66 Die Kommission könne sich nicht auf den Ablauf einer Frist berufen, die sie nicht gesetzt habe. Entgegen dem Vorbringen der Kommission seien die von der Agentur für Umweltschutz in der E‑Mail vom 26. Januar 2021 übermittelten Daten nicht zu spät mitgeteilt worden, um von ihr berücksichtigt werden zu können. Sie habe nämlich selbst Änderungen an den zum damaligen Zeitpunkt im Erlass befindlichen Rechtsakten vorgenommen, die u. a. den Emissionswert der 10 % effizientesten, unter andere Produkt-Benchmarks fallenden Anlagen betroffen hätten. Im Übrigen ergebe sich aus Anlage A 10 zur Klageschrift, dass es zwei Anlagen nach dem Erlass des angefochtenen Beschlusses und damit erst recht nach dem 26. Januar 2021 gestattet worden sei, aktualisierte Daten zur Verfügung zu stellen.
67 Darüber hinaus sei der angefochtene Beschluss mehr als einen Monat nach der Mitteilung der Agentur für Umweltschutz erlassen worden, dass es eine Ungleichbehandlung zwischen Anlagen gebe, die eine Abrundung vorgenommen hätten, und solchen, die keine solche Abrundung vorgenommen hätten, und die Verordnung über Produkt-Benchmarks sei fast eineinhalb Monate später erlassen worden. Die Berücksichtigung der in Rede stehenden Anlage bei der Berechnung der Produkt-Benchmarks hätte jedoch nur eine geringfügige Anpassung dargestellt. Zwar mache die Kommission geltend, das Verfahren zum Erlass des angefochtenen Beschlusses habe 15 Monate gedauert, doch sei festzustellen, dass das Problem im Zusammenhang mit der Berücksichtigung der Anlagen, die ihre Berichte auf null abgerundet hätten, von der Agentur für Umweltschutz erst nach zwölf Monaten habe aufgeworfen werden können und dass die von der Kommission behauptete Verspätung dieser Informationen in Wirklichkeit weitgehend ihr zuzurechnen sei.
68 Die Kommission tritt dem Vorbringen der Klägerin entgegen.
69 Nach der Rechtsprechung müssen die Organe und Einrichtungen der Union in einem Verwaltungsverfahren, das komplexe technische Beurteilungen zum Gegenstand hat, über einen Beurteilungsspielraum verfügen, um ihre Aufgaben erfüllen zu können. Soweit sie jedoch über einen solchen Beurteilungsspielraum verfügen, kommt eine umso größere Bedeutung der Beachtung der Garantien zu, die die Unionsrechtsordnung in Verwaltungsverfahren gewährt. Zu diesen Garantien gehören insbesondere die Verpflichtung, sorgfältig und unparteiisch alle relevanten Gesichtspunkte des Einzelfalls zu untersuchen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 21. November 1991, Technische Universität München,C‑269/90, EU:C:1991:438, Rn. 13 und 14).
70 Wie aus den Erwägungsgründen 2 bis 8 des angefochtenen Beschlusses hervorgeht, hat die Kommission die Vollständigkeit und Kohärenz der ihr von den zuständigen Dienststellen der Mitgliedstaaten übermittelten Informationen überprüft.
71 Anders als die Kommission geltend macht, wirft die Klägerin ihr weder vor, keine Vor-Ort-Kontrollen durchgeführt zu haben, noch, dass sie nicht die Richtigkeit der Berichte überprüft habe, die die Anlagen bei den zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten eingereicht hätten. Dagegen macht die Klägerin geltend, dass dieses Organ die ihr von der Agentur für Umweltschutz übermittelten Informationen, wonach sie zum einen ihre Emissionsberichte abgerundet habe und sich ihre tatsächlichen Kohlendioxidemissionen aus fossilen Quellen im Jahr 2018 zum anderen nicht auf null belaufen hätten, nicht als verspätet zurückweisen könne.
72 Nach Art. 11 Abs. 1 Unterabs. 2 der Richtlinie 2003/87 mussten die NUM für die vierte Handelsperiode (2021–2025) der Kommission bis zum 30. September 2019 mitgeteilt werden. Es ist unstreitig, dass die Agentur für Umweltschutz diese Frist im vorliegenden Fall eingehalten hat.
73 Aus den Akten geht hingegen hervor, dass der Agentur für Umweltschutz keine andere als die oben in Rn. 72 genannte Frist gesetzt wurde. Insoweit vermag die Behauptung der Kommission, dass eine Frist auf den 7. Dezember 2021 festgesetzt worden sei, nicht zu überzeugen. Diese in einer E‑Mail erwähnte Frist wurde nämlich unverzüglich von der Agentur für Umweltschutz beanstandet, wogegen die Dienststellen der Kommission keine Einwände erhoben haben.
74 Ferner ist unstreitig, dass die Änderungen der NUM in Bezug auf die von den Anlagen gemeldeten Werte, soweit sie unter das EHS fallen, auf den ersten Blick Auswirkungen auf die Definition der Produkt-Benchmark haben können. Dies gilt umso mehr für Anlagen, die Biomasse nutzen, da diese Emissionen nicht in die Berechnung der Anzahl der abzugebenden Zertifikate einbezogen werden. Zwischen den Parteien besteht jedoch Uneinigkeit über die Konsequenzen, die die Kommission im vorliegenden Fall aus den Informationen hätte ziehen müssen, die ihr von der Agentur für Umweltschutz zwischen dem 26. Januar und dem 4. Februar 2021 übermittelt wurden. Die Klägerin macht geltend, die Kommission sei verpflichtet gewesen, alle relevanten Daten unabhängig vom Zeitpunkt ihrer Übermittlung zu würdigen, während die Kommission der Ansicht ist, dass es ab dem Zeitpunkt, zu dem das Verfahren zum Erlass der Verordnung zur Festlegung der Produkt-Benchmarks begonnen habe, zu spät gewesen sei, ihr Änderungen vorzulegen, die die Entwürfe für die Benchmarks in Frage stellen könnten. Die Kommission macht geltend, dass sich der Erlass der für die kostenlose Zuteilung der Zertifikate unerlässlichen Rechtsakte erheblich verzögert hätte, wenn diese Änderungen damals hätten berücksichtigt werden müssen.
75 Es ist jedoch unstreitig, dass zu dem Zeitpunkt, zu dem die Agentur für Umweltschutz die Kommission auf Probleme im Zusammenhang mit Rundungsdifferenzen bei den gemeldeten Werten hinwies, und erst recht, als die Agentur für Umweltschutz die Kommission davon in Kenntnis setzte, dass sich der Emissionswert der fraglichen Anlage im Jahr 2018 nicht auf null, sondern auf 0,3727 t Kohlendioxid aus fossilen Quellen belaufen habe (siehe oben, Rn. 17), nämlich am 4. Februar 2021, der Entwurf einer Verordnung zur Festlegung von Produkt-Benchmarks dem Ausschuss für Klimaänderung bereits vorgelegt worden war. Mit E‑Mail vom 1. Februar 2021 (siehe oben, Rn. 16) hatte die Kommission der Agentur für Umweltschutz mitgeteilt, dass nur noch Änderungen berücksichtigt werden könnten, die keine Auswirkungen auf die Produkt-Benchmarks haben.
76 Die Kommission macht zwar zu Recht geltend, dass Art. 10a der Richtlinie 2003/87 vorsieht, dass die kostenlose Zuteilung von Zertifikaten die vorherige Festlegung der Benchmarks für die einzelnen Tätigkeitssektoren voraussetzt, und dass nach Art. 11 Abs. 2 dieser Richtlinie die kostenlose Zuteilung von Zertifikaten vor dem 28. Februar des laufenden Jahres erfolgen muss. Indem Art. 10a Abs. 2 dieser Richtlinie vorsieht, dass der Ausgangspunkt für die Ex-ante-Benchmarks die Durchschnittsleistung der 10 % effizientesten Anlagen eines Sektors ist, setzt er nämlich voraus, dass das Verzeichnis der in das EHS einbezogenen Anlagen erstellt wurde. Es steht der Kommission daher grundsätzlich frei, Maßnahmen zur Organisation des Verwaltungsverfahrens zu erlassen, die erforderlich sind, um die Einhaltung der in Art. 11 Abs. 2 der Richtlinie vorgesehenen Fristen zu gewährleisten, insbesondere indem sie den nationalen Behörden Fristen für die Übermittlung aller für die Erstellung des Verzeichnisses der einbezogenen Anlagen und ihrer Energieeffizienz erforderlichen Informationen setzt. Wie jedoch oben in Rn. 73 festgestellt, geht aus den Akten nicht hervor, dass die Kommission im vorliegenden Fall der Agentur für Umweltschutz eindeutig eine zwingende Frist gesetzt hat.
77 Unter diesen Umständen war die Kommission verpflichtet, die ihr übermittelten Informationen zu berücksichtigen.
78 Wie sich jedoch aus der E‑Mail der Kommission vom 1. Februar 2021 an die Agentur für Umweltschutz ergibt (siehe oben, Rn. 16) hat sich die Kommission im vorliegenden Fall grundsätzlich geweigert, jede neue Information zu berücksichtigen, die sich auf das Verzeichnis der einbezogenen Anlagen und auf die Berechnung der Benchmarkwerte auswirken könnte. Diese Weigerung wurde durch die E‑Mail der Kommission vom 16. Februar 2021 bestätigt (siehe oben, Rn. 18), in der diese der Agentur für Umweltschutz mitteilte, dass sie die von der Agentur am 4. Februar 2021 übermittelten Informationen, die zum einen die Einbeziehung zweier Anlagen betrafen, die Werte von mehr als null, aber weniger als 0,5 t Kohlendioxidemissionen aus fossilen Quellen gemeldet hätten, und zum anderen den Ausschluss der Anlage der Klägerin, obwohl diese ihre Emissionsberichte für das Jahr 2018 auf 0 t abgerundet habe, während sich ihre tatsächlichen, nicht gerundeten Emissionen auf über 0 t und unter 0,5 t belaufen hätten, nicht berücksichtigen könne. Die Kommission hat dadurch gegen ihre Verpflichtung aus der oben in Rn. [69] angeführten Rechtsprechung verstoßen, sorgfältig und unparteiisch alle relevanten Gesichtspunkte des Einzelfalls zu untersuchen.
79 Darüber hinaus ist, wie die Klägerin geltend macht, zu beachten, dass das Ausschlusskriterium, das in der an die Agentur für Umweltschutz gerichteten Stellungnahme der Kommission vom 19. Mai 2020 angeführt wird (siehe oben, Rn. [6]), die Nutzung von nahezu 100 % Biomasse, wenn auch nur in einem einzigen Jahr des Bezugszeitraums, betraf. Da dieses Kriterium strenger ist als das von der Kommission letztlich zugrunde gelegte, hatte diese fehlerhafte Information zur Folge, dass der Agentur für Umweltschutz während des Verfahrens zum Erlass des angefochtenen Beschlusses die Möglichkeit genommen wurde, genau in Erfahrung zu bringen, wie Anhang I Nr. 1 der Richtlinie 2003/87 durch die Kommission ausgelegt wird.
80 Aus den vorstehenden Rn. 51 bis 60 ergibt sich jedoch, dass die Berücksichtigung der am 4. Februar 2021 von der Agentur für Umweltschutz vorgelegten Informationen nicht die geringste Auswirkung auf den Ausschluss der Anlagen der Klägerin gehabt hätte, da, wie aus den vorstehenden Rn. 51 bis 60 hervorgeht, Anlagen, die weniger als 0,5 t Kohlendioxid aus fossilen Quellen emittieren, als ausschließlich Biomasse nutzende Anlagen im Sinne von Anhang I Nr. 1 der Richtlinie 2003/87 anzusehen waren. Außerdem ergibt sich aus den Ausführungen der Parteien in der mündlichen Verhandlung, dass die in Art. 10a Abs. 2 Buchst. b dieser Richtlinie vorgesehene maximale Verringerung der Benchmarkwerte (siehe oben, Rn. 36) erreicht worden war, so dass im vorliegenden Fall die Einbeziehung einer überdurchschnittlich effizienten Anlage oder der Ausschluss von zwei zu Unrecht einbezogenen Anlagen angesichts der großen Zahl von Anlagen, die unter diese Benchmark fallen, wahrscheinlich keine oder allenfalls sehr geringfügige Auswirkungen gehabt hätte.
81 Unter diesen Umständen ist davon auszugehen, dass der oben in Rn. 78 festgestellte Verstoß der Kommission gegen ihre Verpflichtung, sorgfältig und unparteiisch alle relevanten Gesichtspunkte des Einzelfalls zu untersuchen, keine Auswirkungen auf die Rechtmäßigkeit des Ausschlusses der fraglichen Anlage vom EHS hat. Ferner ist darauf hinzuweisen, dass das Gericht im Rahmen des vorliegenden Rechtsstreits nicht mit der Frage der Einbeziehung der beiden anderen in der E‑Mail vom 4. Februar 2021 genannten Anlagen, die Kohlendioxidemissionen aus fossilen Quellen – ohne diese zu runden – von weniger als 0,5 t gemeldet hatten, in die vom Königreich Schweden mitgeteilte NUM befasst ist.
82 Daraus folgt, dass trotz des Fehlers, den die Kommission begangen hat, indem sie sich grundsätzlich geweigert hat, die ihr am 4. Februar 2021 von der Agentur für Umweltschutz übermittelten Informationen zu berücksichtigen, der erste Teil des dritten Klagegrundes zurückzuweisen ist.
– Zum zweiten Teil des dritten Klagegrundes: Verletzung des Rechts auf Anhörung
83 Die Klägerin macht geltend, dass die Kommission ihr Recht auf Anhörung verletzt habe, weil sie ihr vor dem Erlass des angefochtenen Beschlusses keine Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben habe. Dieser Verstoß verletzte Art. 41 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, und ohne diesen Verstoß hätte sie nachweisen können, dass die in Rede stehende Anlage nicht ausschließlich Biomasse nutze, sondern dass ihre Kohlendioxidemissionen zum Teil aus fossilen Quellen stammten. Sie hätte sich somit besser verteidigen können, wenn ihr Recht auf Anhörung gewahrt worden wäre. Sie hätte der Kommission mitteilen können, dass sie ihre Kohlendioxidemissionen aus fossilen Quellen auf null gerundet habe, obwohl sich diese nicht auf null belaufen hätten, und dass sie beabsichtige, im Zeitraum 2021–2025 weiterhin Kohlendioxid aus fossilen Quellen zu emittieren.
84 Außerdem macht die Klägerin geltend, dass der angefochtene Beschluss sie sehr hart treffe. Zum einen entgehe ihr ein auf der Grundlage der kostenlosen Zuteilung von Emissionszertifikaten, die ihr für das Jahr 2020 gewährt worden sei, geschätzter jährlicher Gewinn von mehr als 3 Mio. Euro. Zum anderen nehme ihr der Ausschluss der in Rede stehenden Anlage aus dem EHS die Genehmigung zur Emission von Kohlendioxid aus fossilen Quellen und setze sie strafrechtlichen Sanktionen aus.
85 Schließlich führt die Klägerin aus, dass, da Anhang I Nr. 1 der Richtlinie 2003/87 in der Gegenwartsform verfasst sei, der etwaige Umstand, dass sie im Bezugszeitraum (2014–2018) nur Biomasse verwendet habe, nicht ausschlaggebend für die Frage sein dürfe, ob sie beabsichtige, in den Folgejahren Kohlendioxid aus fossilen Quellen zu emittieren. Hätte sie dieses Argument vorbringen können, so hätte sie das Recht der in Rede stehenden Anlage auf Verbleib im EHS nachweisen können.
86 Die Kommission tritt dem Vorbringen der Klägerin entgegen.
87 Nach Art. 41 Abs. 2 Buchst. a der Charta der Grundrechte hat jede Person das Recht, gehört zu werden, bevor ihr gegenüber eine für sie nachteilige individuelle Maßnahme getroffen wird.
88 Aus der Rechtsprechung ergibt sich, dass die Wahrung der Verteidigungsrechte in allen Verfahren, die zu einer beschwerenden Maßnahme führen können, ein elementarer Grundsatz des Unionsrechts ist, der auch dann zu beachten ist, wenn eine Regelung für das betreffende Verfahren fehlt. Das Recht auf Anhörung garantiert jeder Person die Möglichkeit, im Verwaltungsverfahren, bevor ihr gegenüber eine für ihre Interessen nachteilige Entscheidung erlassen wird, sachdienlich und wirksam ihren Standpunkt vorzutragen (vgl. Urteile vom 9. Juni 2005, Spanien/Kommission,C‑287/02, EU:C:2005:368, Rn. 37 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie vom 22. November 2012, M.,C‑277/11, EU:C:2012:744, Rn. 87 und die dort angeführte Rechtsprechung).
89 Im vorliegenden Fall wurde das Recht auf Anhörung nicht verletzt. Wie die Kommission vorträgt, wird das in Art. 11 Abs. 3 der Richtlinie 2003/87 vorgesehene Verfahren nämlich nur gegen den betreffenden Mitgliedstaat eingeleitet. Mit diesem Verfahren soll sich die Kommission vergewissern, dass die von dem betreffenden Mitgliedstaat unterbreitete NUM für die kostenlose Zuteilung von Emissionszertifikaten mit den in Art. 10a Abs. 1 dieser Richtlinie genannten Vorschriften in Einklang steht.
90 Im Hinblick auf dieses Verfahren ergibt sich aus Art. 14 der Delegierten Verordnung (EU) 2019/331 der Kommission vom 19. Dezember 2018 zur Festlegung EU‑weiter Übergangsvorschriften zur Harmonisierung der kostenlosen Zuteilung von Emissionszertifikaten gemäß Artikel 10a der Richtlinie 2003/87 (ABl. 2019, L 59, S. 8), dass die betroffenen Anlagenbetreiber über keine besonderen Verfahrensrechte verfügen. Nach den in dieser delegierten Verordnung vorgesehenen Vorschriften sind die betroffenen Anlagenbetreiber im Rahmen des nationalen Verfahrens zur Einreichung des Verzeichnisses der unter die Richtlinie 2003/87 fallenden Anlagen und der jeder Anlage kostenlos zugeteilten Zertifikate bei der Kommission anzuhören. Insoweit sieht Art. 3 dieser delegierten Verordnung vor, dass die Mitgliedstaaten für den geeigneten verwaltungstechnischen Rahmen zur Umsetzung dieser Verordnung sorgen müssen. Im Übrigen macht die Klägerin nicht geltend, dass sie nicht in der Lage gewesen sei, ihren Standpunkt vor der Agentur für Umweltschutz sachdienlich und wirksam vorzutragen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 26. September 2014, Arctic Paper Mochenwangen/Kommission, T‑634/13, nicht veröffentlicht, EU:T:2014:828, Rn. 105 und die dort angeführte Rechtsprechung).
91 Daraus folgt, dass der zweite Teil des dritten Klagegrundes zurückzuweisen ist.
– Zum dritten Teil des dritten Klagegrundes: Verletzung der Begründungspflicht
92 Die Klägerin trägt vor, dass der angefochtene Beschluss, um der Begründungspflicht nach Art. 296 AEUV zu genügen, zum einen die Gründe hätte angeben müssen, die die Auslegung der Kriterien für die Anwendung der Biomasse-Ausnahme durch die Kommission rechtfertigten, und zum anderen ausdrücklich hätte begründen müssen, warum erstens die Tatsache, dass sie Kohlendioxid aus fossilen Quellen emittiert habe, irrelevant gewesen sei, zweitens Anlagen mit vergleichbaren Emissionswerten unterschiedlich behandelt worden seien, drittens die Kommission die ihr von der Agentur für Umweltschutz übermittelten Informationen über die Kohlendioxidemissionen der Klägerin aus fossilen Quellen nicht berücksichtigt habe, viertens sie trotz der der Kommission vorliegenden Informationen nicht angehört worden sei und fünftens die Kommission bei der Beurteilung der Frage, ob die Biomasse-Ausnahme auf sie anwendbar sei, nur die früheren Kohlendioxidemissionen der betreffenden Anlage, nicht aber ihre aktuellen oder künftigen Emissionen berücksichtigt habe.
93 Die Kommission tritt dem Vorbringen der Klägerin entgegen.
94 Die nach Art. 296 AEUV vorgeschriebene Begründung muss die Überlegungen der Unionsbehörde, die den angefochtenen Rechtsakt erlassen hat, so klar und eindeutig zum Ausdruck bringen, dass die Betroffenen ihr die Gründe für die getroffene Maßnahme entnehmen können, damit sie ihre Rechte vertreten können, und die Unionsgerichte ihre Kontrollaufgabe wahrnehmen können (vgl. Urteil vom 23. September 2009, Polen/Kommission,T‑183/07, EU:T:2009:350, Rn. 136 und die dort angeführte Rechtsprechung).
95 Das Begründungserfordernis ist nach den Umständen des Einzelfalls, insbesondere nach dem Inhalt des Rechtsakts, der Art der angeführten Gründe und nach dem Interesse der Adressaten oder anderer von dem Rechtsakt unmittelbar und individuell betroffener Personen an Erläuterungen zu beurteilen. Die Begründung braucht nicht sämtliche tatsächlich oder rechtlich erheblichen Gesichtspunkte zu enthalten, da die Frage, ob die Begründung eines Rechtsakts den Anforderungen des Art. 296 AEUV genügt, nicht nur im Hinblick auf seinen Wortlaut, sondern auch anhand seines Kontexts sowie sämtlicher Rechtsvorschriften, die das betreffende Gebiet regeln, zu beurteilen ist (vgl. Urteil vom 23. September 2009, Polen/Kommission,T‑183/07, EU:T:2009:350, Rn. 137 und die dort angeführte Rechtsprechung).
96 Ferner ist festzustellen, dass der Beachtung der Begründungspflicht gemäß Art. 296 AEUV bei Entscheidungen über NUM für die übergangsweise kostenlose Zuteilung von Treibhausgasemissionszertifikaten gemäß Art. 11 Abs. 3 der Richtlinie 2003/87 eine umso größere Bedeutung zukommt, als die Kommission bei der Ausübung ihrer Kontrollbefugnis nach dieser Bestimmung komplexe wirtschaftliche und ökologische Bewertungen anzustellen hat und die Kontrolle der Rechtmäßigkeit und Begründetheit dieser Bewertungen durch die Unionsgerichte beschränkt ist (vgl. entsprechend Urteil vom 23. September 2009, Polen/Kommission,T‑183/07, EU:T:2009:350, Rn. 138 und die dort angeführte Rechtsprechung).
97 Im vorliegenden Fall bringt die Begründung im elften Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses (siehe oben, Rn. 20) die im angefochtenen Beschluss angestellten Erwägungen eindeutig zum Ausdruck. Aus diesem Erwägungsgrund ergibt sich nämlich, dass die Kommission davon ausging, dass die in Rede stehende Anlage gemäß Anhang I Nr. 1 der Richtlinie 2003/87 aus dem EHS auszuschließen sei, da sie ausschließlich Biomasse genutzt habe.
98 Da diese Angaben ausreichten, um der Klägerin eine sachgerechte Klageerhebung und dem Gericht die Beurteilung der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Beschlusses zu ermöglichen, war die Kommission daher entgegen dem Vorbringen der Klägerin nicht verpflichtet, eine spezifische Begründung zu den oben in Rn. 92 angeführten Fragen abzugeben.
99 Daher ist der dritte Teil des dritten Klagegrundes und folglich dieser Klagegrund insgesamt zurückzuweisen.
Zur Begründetheit des angefochtenen Beschlusses
100 Zunächst ist der fünfte Klagegrund zu prüfen, der die Rechtmäßigkeit der Auslegung der von der Kommission im angefochtenen Beschluss herangezogenen Ausschlusskriterien betrifft. Zur Stützung dieses Klagegrundes trägt die Klägerin nämlich vor, dass die Kommission gegen wesentliche Bestimmungen der Richtlinie 2003/87 verstoßen habe, indem sie davon ausgegangen sei, dass alle Anlagen, die Kohlendioxidemissionen aus fossilen Quellen in Höhe von null gemeldet hätten, einschließlich derjenigen, die ihre tatsächlichen Emissionen auf null abgerundet hätten, aus dem EHS auszuschließen seien.
Zum fünften Klagegrund: Verstoß gegen die Richtlinie 2003/87
101 Dieser Klagegrund gliedert sich in zwei Teile. Zur Stützung des ersten Teils macht die Klägerin geltend, die Kommission habe zur Beurteilung, ob die in Rede stehende Anlage unter das EHS fallen könne, zu Unrecht den in Art. 2 Nr. 14 der Delegierten Verordnung 2019/331 festgelegten Bezugszeitraum berücksichtigt. Zur Stützung des zweiten Teils macht sie geltend, dass die Auslegung der Richtlinie 2003/87 und insbesondere ihres Anhangs I Nr. 1 durch die Kommission mit mehreren Rechtsfehlern behaftet sei.
– Zum ersten Teil des fünften Klagegrundes: Fehlerhafte Berücksichtigung älterer Werte
102 Die Klägerin macht geltend, aus Art. 11 der Richtlinie 2003/87 ergebe sich, dass der in Art. 2 Nr. 14 der Delegierten Verordnung 2019/331 festgelegte Bezugszeitraum, nämlich der Zeitraum von 2014 bis 2018, nur für die Bestimmung der Anzahl der kostenlos zuzuteilenden Zertifikate relevant sei. Dagegen bestehe kein Zusammenhang zwischen diesem Bezugszeitraum und der in Anhang I Nr. 1 der Richtlinie vorgesehenen Ausnahme betreffend den Ausschluss von Anlagen, die ausschließlich Biomasse nutzten. Die Kommission habe daher einen Rechtsfehler begangen, als sie den Ausschluss der fraglichen Anlage aus dem EHS daraus abgeleitet habe, dass sie während des Bezugszeitraums keine Kohlendioxidemissionen aus fossilen Quellen gemeldet habe.
103 Nach Ansicht der Klägerin sollte die Frage, ob eine Anlage unter das EHS falle, hingegen nicht von ihren historischen, mehr als zwei Jahre zurückliegen Emissionen abhängen, sondern von den zum Zeitpunkt des Erlasses der NUM tatsächlich freigesetzten Emissionen sowie von der Absicht des Unternehmens, künftig solche Emissionen freizusetzen. Anderenfalls würde einem Unternehmen, das die Emission von Kohlendioxid aus fossilen Quellen beabsichtige, die Möglichkeit genommen, die erforderliche Genehmigung zu erhalten.
104 Die Kommission tritt dem Vorbringen der Klägerin entgegen.
105 Nach Art. 11 Abs. 1 Unterabs. 2 der Richtlinie 2003/87 wird ein Verzeichnis der Anlagen, die in den fünf Jahren beginnend mit dem 1. Januar 2021 unter diese Richtlinie fallen, bis zum 30. September 2019 übermittelt, Verzeichnisse für jeden der sich anschließenden Fünfjahreszeiträume alle fünf Jahre danach. Jedes Verzeichnis umfasst für die fünf Jahre vor seiner Übermittlung Informationen über Aktivitätsraten, Wärme- und Gasaustausch, Stromerzeugung und Emissionen auf Ebene von etwaigen Anlagenteilen. Kostenlose Zertifikate werden nur Anlagen zugeteilt, für die diese Informationen bereitgestellt werden.
106 Art. 2 Nr. 14 der Delegierten Verordnung 2019/331 definiert den „Bezugszeitraum“ als „die fünf Kalenderjahre vor der Frist für die Datenübermittlung an die Kommission gemäß Artikel 11 Absatz 1 der Richtlinie [2003/87]“.
107 Art. 11 Abs. 1 Unterabs. 1 der Richtlinie 2003/87 lautet wie folgt:
„Jeder Mitgliedstaat veröffentlicht und unterbreitet der Kommission … das Verzeichnis der in seinem Hoheitsgebiet unter [die] Richtlinie [2003/87] fallenden Anlagen und alle den einzelnen Anlagen in seinem Hoheitsgebiet kostenlos zugeteilten Zertifikate …“
108 Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass sich Art. 11 Abs. 1 der Richtlinie 2003/87 auf das „Verzeichnis der … unter diese Richtlinie fallenden Anlagen“ bezieht. Dagegen findet die Auslegung der Klägerin, wonach zu unterscheiden sei zwischen dem Bezugszeitraum, für den die historischen Daten jeder Anlage bei der Berechnung der Anzahl der Zertifikate, die ihr kostenlos zugeteilt werden könnten, zu berücksichtigen seien, und dem Zeitraum, der für die Anwendung des Ausschlusses von ausschließlich Biomasse nutzenden Anlagen zu berücksichtigen sei, keine Grundlage in den Bestimmungen dieser Richtlinie.
109 Der Begriff „unter [die Richtlinie 2003/87] fallende Anlagen“ kann nämlich nicht unabhängig von Art. 2 Abs. 1 dieser Richtlinie ausgelegt werden, der auf die in ihrem Anhang I aufgeführten Tätigkeiten verweist und in dessen Nr. 1 vorgesehen ist, dass Anlagen, die ausschließlich Biomasse nutzen, ausgeschlossen sind. Aus der Systematik dieser Bestimmungen in ihrer Gesamtheit ergibt sich somit, dass Anlagen, um für die kostenlose Zuteilung von Zertifikaten in Betracht zu kommen, in dem Verzeichnis der NUM aufgeführt sein müssen, was voraussetzt, dass sie eines der in diesem Anhang vorgesehenen Kriterien für die Einbeziehung in das EHS erfüllen.
110 Die von der Klägerin vorgebrachte Unterscheidung, wonach die künftigen Absichten des Betreibers berücksichtigt werden sollten, um in das Verzeichnis der NUM aufgenommen zu werden und somit in den Genuss einer kostenlosen Zuteilung von Zertifikaten zu kommen, steht daher im Widerspruch zu den eindeutigen Bestimmungen der Richtlinie 2003/87.
111 Der erste Teil des fünften Klagegrundes ist daher zurückzuweisen.
– Zum zweiten Teil des fünften Klagegrundes: Rechtsfehler
112 Erstens macht die Klägerin geltend, dass die Änderung von Anhang I Nr. 1 der Richtlinie 2003/87 durch die Richtlinie 2009/29/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23. April 2009 zur Änderung der Richtlinie 2003/87 zwecks Verbesserung und Ausweitung des EHS (ABl. 2009, L 140, S. 63) darauf abziele, die Belastung der Betreiber von Biomasse nutzenden Anlagen dadurch zu verringern, dass sie von den Berichten, die zum Erhalt der zur Abdeckung der Emissionen aus ihrem Produktionsprozess erforderlichen Zertifikate erforderlich seien, entbunden würden. Diese Ausnahme sei im Vergleich zu den anderen durch die Richtlinie 2009/29 eingeführten Änderungen von untergeordneter Bedeutung.
113 Zweitens macht die Klägerin geltend, das zentrale Element der Änderungen des EHS durch die Richtlinie 2009/29 bestehe hingegen in der Festlegung von Produkt-Benchmarks für die Berechnung der kostenlosen Zuteilungen von Emissionszertifikaten. Art. 10a der Richtlinie 2003/87, der durch die Richtlinie 2009/29 eingeführt worden sei, ermittle die zuzuteilenden Zertifikate auf der Grundlage der Emissionen der 10 % ökologisch effizientesten Anlagen und der von jeder Anlage erzeugten Mengen, unabhängig von ihren tatsächlichen Emissionen. Diese neue Bestimmung ziele somit darauf ab, jeden Betreiber zu veranlassen, das Verhältnis zwischen seinen Emissionen und seiner Produktion zu verringern, und eine der zu diesem Zweck ausdrücklich genannten Methoden bestehe darin, die Verwendung erneuerbarer Biomasse anstelle von Brennstoffen aus fossilen Quellen zu fördern. Jedenfalls zielten die eingeführten Änderungen ausdrücklich darauf ab, den Betreibern keinen Anreiz zur Emissionssteigerung zu bieten (Art. 10a der Richtlinie 2003/87 und 23. Erwägungsgrund der Richtlinie 2009/29).
114 Die Berücksichtigung der ökologischen Effizienz von Biomasse ergebe sich daraus, dass den von Biomasse freigesetzten Emissionen ein Faktor von null zugewiesen werde und bei der Berechnung der Emissionen, die von den 10 % effizientesten Anlagen freigesetzt würden, nur die Emissionen von Brennstoffen aus fossilen Quellen berücksichtigt würden. Nach dieser Logik wäre es jedoch absurd, wenn die Verringerung der Emissionen auf null, die eintreten würde, wenn es den Betreibern gelänge, Brennstoffe aus fossilen Quellen vollständig durch Biomasse zu ersetzen, nicht berücksichtigt werden könnte. In einer solchen Situation hätten die Betreiber einen Anreiz, nicht ausschließlich Biomasse zu nutzen, um weiterhin in den Genuss kostenloser Zuteilungen von Zertifikaten zu kommen. Die von der Kommission im angefochtenen Beschluss vorgenommene Auslegung der Biomasse-Ausnahme verstoße unmittelbar gegen den Wortlaut und die Systematik von Art. 10a der Richtlinie 2003/87, da sie zu dem paradoxen Ergebnis führe, dass die in Rede stehende Anlage, die eine der ökologisch effizientesten sei, von der Produkt-Benchmark ausgeschlossen werde.
115 Drittens ist die Klägerin aufgrund der vorstehenden Ausführungen der Ansicht, dass die im angefochtenen Beschluss vorgenommene Auslegung von Anhang I Nr. 1 der Richtlinie 2003/87 mit deren Art. 10a in Widerspruch stehe, der jedoch Vorrang vor dieser Nummer haben sollte.
116 Die Kommission tritt dem Vorbringen der Klägerin entgegen.
117 Erstens ist die Änderung von Anhang I Nr. 1 der Richtlinie 2003/87, durch die ausschließlich Biomasse nutzende Anlagen ausgeschlossen werden sollen – wie die Kommission zu Recht geltend macht – nicht von nebensächlicher Bedeutung, da sie den Anwendungsbereich des EHS festlegt. Art. 2 dieser Richtlinie definiert nämlich die unter das EHS fallenden Anlagen, indem er auf diesen Anhang und damit u. a. auf die betreffende Bestimmung verweist. Im Übrigen bringt die Klägerin nichts vor, was ihr Vorbringen stützen könnte, dass diese Bestimmung allein darauf abziele, den Verwaltungsaufwand zu verringern, den das EHS für die von ihm erfassten Anlagen mit sich bringe. Die Abgrenzung des Geltungsbereichs dieser Richtlinie durch den Ausschluss von Anlagen, die ausschließlich Biomasse nutzen, ist daher gegenüber Art. 10a dieser Richtlinie nicht von untergeordneter Bedeutung. Die darin festgelegten Ex-ante-Benchmarks sollen nämlich nur für Anlagen gelten, die unter das EHS fallen.
118 Zweitens verhindert der Ausschluss von ausschließlich Biomasse nutzenden Anlagen, wie die Klägerin vorträgt, dass die Umweltleistung dieser Anlagen bei der Berechnung der Benchmarks berücksichtigt wird. Diesem Ausschluss steht jedoch gegenüber, dass für die betroffenen Anlagen keine – bereits in Anhang IV der Richtlinie 2003/87 in ihrer ursprünglichen Fassung vorgesehene – Verpflichtung besteht, eine den Kohlendioxidemissionen dieser Anlagen entsprechende Anzahl von Zertifikaten abzugeben. Dieser Umstand erlaubt es zwar nicht, die Umweltleistung ausschließlich Biomasse nutzender Anlagen zu berücksichtigen, ermöglicht jedoch die Vermeidung von Mitnahmeeffekten, die sich daraus ergeben würden, dass eine Anlage, von der angenommen wird, dass sie kein Kohlendioxid emittiert, eine kostenlose Zuteilung von Emissionszertifikaten erhalten könnte. Der Umstand, dass sich die ausschließlich Biomasse nutzenden Anlagen nicht auf die Werte auswirken, kann jedoch nicht dazu führen, dass Anhang I Nr. 1 dieser Richtlinie unabhängig von deren Art. 11 ausgelegt werden dürfte. Wie sich indes aus der Prüfung des ersten Teils des vorliegenden Klagegrundes ergibt, ist die Teilnahme einer Biomasse nutzenden Anlage am EHS daran geknüpft, dass sie im Bezugszeitraum Kohlendioxid aus fossilen Quellen emittiert hat.
119 Drittens verstößt auch die Auslegung von Anhang I Nr. 1 der Richtlinie 2003/87, wonach Anlagen auszuschließen sind, deren Emissionen sich im Bezugszeitraum auf null belaufen, nicht gegen Art. 10a dieser Richtlinie. Diese Bestimmung verlangt nämlich nicht, dass die Umweltleistung von nicht unter das EHS fallenden Anlagen berücksichtigt wird, sondern sieht vielmehr vor, dass die Emissionen von Anlagen, die unter eine Ex-ante-Benchmark fallen, zu berücksichtigen sind. Aufgrund des Ausschlusses dieser Anlagen bei einer ausschließlichen Nutzung von Biomasse kann aber nicht davon ausgegangen werden, dass sie unter eine solche Benchmark fallen.
120 Viertens steht fest, dass Anlagen, die nicht unter das EHS fallen, nicht für kostenlose Zuteilungen von Zertifikaten in Betracht kommen. Daraus folgt, dass sich die Klägerin, da die in Rede stehende Anlage aus dem EHS ausgeschlossen wurde, nicht in einer Situation befindet, die mit der anderer Unternehmen vergleichbar ist, deren Anlagen für die Zwecke solcher Zuteilungen unter das EHS fallen und die verpflichtet sind, eine ihren Emissionen entsprechende Anzahl von Zertifikaten abzugeben. Damit entgeht die Klägerin auch dem Risiko, mit den Sanktionen belegt zu werden, die in Art. 16 der Richtlinie 2003/87 für den Fall vorgesehen sind, dass die in das EHS einbezogenen Anlagen gegen ihre Verpflichtungen verstoßen. Der Umstand, dass die im angefochtenen Beschluss vorgenommene Auslegung von Anhang I Nr. 1 dieser Richtlinie dazu führt, dass die Klägerin nicht mehr in den Genuss kostenloser Zuteilungen von Zertifikaten kommen kann, kann daher nicht gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung verstoßen.
121 Fünftens impliziert keine Bestimmung der Richtlinie 2003/87, dass die Einbeziehung einer Anlage in das EHS in Bezug auf die Wettbewerbssituation dieser Anlagen im Vergleich zu den nicht einbezogenen oder ausgeschlossenen Anlagen völlig neutral ist. Daraus folgt, dass die von der Klägerin behaupteten Wettbewerbsverzerrungen nicht geeignet sind, die Rechtswidrigkeit der von der Kommission im angefochtenen Beschluss vorgenommenen Auslegung von Anhang I Nr. 1 dieser Richtlinie zu belegen.
122 Sechstens kann entgegen dem Vorbringen der Klägerin der Umstand, dass die im angefochtenen Beschluss vorgenommene Auslegung von Anhang I Nr. 1 der Richtlinie 2003/87 dazu führen könne, dass die demnach ausgeschlossenen Anlagen die ausschließliche Nutzung von Biomasse einstellten, nicht die Rechtswidrigkeit dieser Auslegung belegen. Das mit dem EHS verfolgte Gesamtziel der Verringerung der Emissionen kann nämlich nicht dazu führen, dass der Ausschluss von ausschließlich Biomasse nutzenden Anlagen mit der Begründung für ungültig erklärt wird, dass bestimmte Betreiber veranlasst sein könnten, aus freien Stücken ökologisch weniger effiziente Entscheidungen zu treffen. Solche Eventualitäten sind nämlich jedem Schwelleneffekt inhärent und lassen sich nicht vermeiden, wenn der Anwendungsbereich einer Maßnahme wie des EHS begrenzt ist. Somit kann die Klägerin nicht mit Erfolg geltend machen, dass der Ausschluss von ausschließlich Biomasse nutzenden Anlagen von den Mechanismen zur kostenlosen Zuteilung von Zertifikaten den Zielen der Richtlinie 2003/87 zuwiderlaufe und gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verstoße.
123 Die Klägerin hat somit nicht nachgewiesen, dass die von der Kommission im angefochtenen Beschluss vorgenommene Auslegung von Anhang I Nr. 1 der Richtlinie 2003/87 rechtswidrig ist. Daher ist der zweite Teil des fünften Klagegrundes und mithin dieser Klagegrund insgesamt zurückzuweisen.
Zum ersten Klagegrund: Offensichtlicher Beurteilungsfehler
124 Die Klägerin macht geltend, die Kommission habe mit der Feststellung, dass die betreffende Anlage ausschließlich Biomasse nutze, einen offensichtlichen Beurteilungsfehler begangen. Die in Rede stehende Anlage habe im Bezugszeitraum – 2018 sowie 2019 und 2020 – Kohlendioxid aus fossilen Quellen emittiert, und die gemeldeten Werte von 0 t seien das Ergebnis einer Abrundung. Indem die Kommission es abgelehnt habe, diese Informationen, die ihr vor dem Erlass des angefochtenen Beschlusses von der Agentur für Umweltschutz übermittelt worden seien, zu berücksichtigen, habe sie nicht nur vergleichbare Anlagen unterschiedlich behandelt, da sie nicht beanstandet habe, dass in die schwedische NUM Anlagen einbezogen worden seien, die ähnliche tatsächliche Mengen an Kohlendioxid aus fossilen Quellen emittiert hätten, sondern sie habe sich auch zu Unrecht geweigert, relevante Informationen zu berücksichtigen. Sie habe daher einen offensichtlichen Beurteilungsfehler begangen, indem sie davon ausgegangen sei, dass die in Rede stehende Anlage ausschließlich Biomasse im Sinne von Anhang I Nr. 1 der Richtlinie 2003/87 nutze.
125 Darüber hinaus habe die Kommission keine einheitliche Praxis verfolgt. Die Kommission scheine ihre Auslegung der Ausnahme betreffend die ausschließliche Nutzung von Biomasse nunmehr darauf zu stützen, dass eine Anlage während des gesamten fünfjährigen Bezugszeitraums keine Kohlendioxidemissionen aus fossilen Quellen gemeldet habe, wobei eine positive Meldung für ein einziges Jahr in diesem Zeitraum ausreiche, um die Anlage vor dem Ausschluss aus dem EHS zu bewahren. In ihrer Stellungnahme vom 19. Mai 2020 habe die Kommission jedoch einen anderen Standpunkt vertreten, wonach die bloße Tatsache, dass eine Anlage in einem einzigen Jahr des Bezugszeitraums Emissionen in Höhe von fast null gemeldet habe, ausreiche, um ihren Ausschluss zu rechtfertigen. Nach diesen – von der Klägerin beanstandeten Kriterien – hätte sie auch für die dritte Handelsperiode von 2013 bis 2020 ausgeschlossen werden müssen.
126 Sie befinde sich somit aufgrund des angefochtenen Beschlusses in einer paradoxen Situation, da sie, um künftig in den Genuss kostenloser Zuteilungen von Zertifikaten zu kommen, ihre Kohlendioxidemissionen fossilen Ursprungs bereits auf mehr als eine Tonne pro Jahr hätte erhöhen müssen. Im Übrigen sei sie bereit, ihre Emissionen auf über fünf Tonnen pro Jahr zu erhöhen, falls eine Gesetzesänderung verabschiedet werden sollte, die den Ausschluss aufgrund der ausschließlichen Nutzung von Biomasse auf Anlagen ausdehne, die weniger als fünf Tonnen Kohlendioxid aus fossilen Quellen pro Jahr ausstießen.
127 Da außerdem die Nrn. 1 und 3 des Anhangs I der Richtlinie 2003/87 nicht genau wortgleich formuliert seien (siehe oben, Rn. 40), könnten sie sich nicht auf dieselben Anlagen beziehen. Es sei daher unlogisch, Anlagen mit geringen Kohlendioxidemissionen aus fossilen Quellen in allen Fällen mit Anlagen gleichzusetzen, die Brennstoffe aus fossilen Quellen nur bei Inbetriebnahme und Abschaltung der Einheit nutzten. Geringe Kohlendioxidemissionen aus fossilen Quellen bedeuteten daher entgegen der Behauptung der Kommission nicht, dass sie als für die Anwendung der Ausnahme nach Nr. 1 dieses Anhangs irrelevant angesehen werden könnten.
128 Schließlich verweist die Klägerin auf ihr Vorbringen, mit dem dargetan werden soll, dass die Informationen, die den Verbleib der fraglichen Anlage im EHS rechtfertigen könnten, der Kommission von der Agentur für Umweltschutz zu einem Zeitpunkt übermittelt worden seien, der ihrer Berücksichtigung nicht entgegengestanden habe (siehe oben, Rn. 66 und 67).
129 Die Kommission tritt dem Vorbringen der Klägerin entgegen.
130 Nach der Rechtsprechung verfügen die zuständigen Unionsbehörden in einem komplexen technischen, sich ständig weiterentwickelnden Rahmen wie im vorliegenden Fall über ein weites Ermessen insbesondere in Bezug auf die Beurteilung der hochkomplexen wissenschaftlichen und technischen tatsächlichen Umstände bei der Festlegung von Art und Umfang der Maßnahmen, die sie erlassen, während die Kontrolle durch die Unionsgerichte auf die Prüfung beschränkt ist, ob die Ausübung eines solchen Ermessens nicht offensichtlich fehlerhaft ist, einen Ermessensmissbrauch darstellt oder ob die Unionsbehörden die Grenzen ihres Ermessens offensichtlich überschritten haben. In einem solchen Kontext dürfen die Unionsgerichte nämlich nicht ihre Beurteilung der tatsächlichen Umstände wissenschaftlicher und technischer Art an die Stelle derjenigen der Unionsbehörden setzen, denen allein der AEU‑Vertrag diese Aufgabe anvertraut hat (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 21. Juli 2011, Etimine,C‑15/10, EU:C:2011:504, Rn. 60, und vom 21. Juni 2018, Polen/Parlament und Rat, C‑5/16, EU:C:2018:483, Rn. 150 und die dort angeführte Rechtsprechung).
131 Außerdem ist klarzustellen, dass sich das weite Ermessen der Unionsbehörden, das eine begrenzte gerichtliche Kontrolle ihrer Ausübung impliziert, nicht ausschließlich auf die Art und die Tragweite der zu erlassenden Bestimmungen, sondern in bestimmtem Umfang auch auf die Feststellung der Grunddaten bezieht. Für eine solche gerichtliche Kontrolle ist es aber, auch wenn sie begrenzt ist, erforderlich, dass die Unionsbehörden, die den in Rede stehenden Rechtsakt erlassen haben, in der Lage sind, vor den Unionsgerichten zu belegen, dass sie beim Erlass des Rechtsakts ihr Ermessen tatsächlich ausgeübt haben, was voraussetzt, dass alle erheblichen Faktoren und Umstände der Situation, die mit diesem Rechtsakt geregelt werden sollten, berücksichtigt worden sind (Urteil vom 8. Juli 2010, Afton Chemical,C‑343/09, EU:C:2010:419, Rn. 33 und 34; vgl. auch Urteil vom 30. April 2015, Polynt und Sitre/ECHA, T‑134/13, nicht veröffentlicht, EU:T:2015:254, Rn. 53 und die dort angeführte Rechtsprechung).
132 Die Unionsgerichte haben daher im Hinblick auf die von der klagenden Partei vorgetragenen Faktoren die sachliche Richtigkeit der angeführten Beweise, ihre Zuverlässigkeit und ihre Kohärenz zu prüfen sowie zu kontrollieren, ob diese Beweise alle relevanten Daten darstellen, die bei der Beurteilung einer komplexen Situation heranzuziehen waren, und ob sie die aus ihnen gezogenen Schlüsse zu stützen vermögen (Urteil vom 6. November 2008, Niederlande/Kommission, C‑405/07 P, EU:C:2008:613, Rn. 55; vgl. auch Urteil vom 9. September 2011, Frankreich/Kommission,T‑257/07, EU:T:2011:444, Rn. 87 und die dort angeführte Rechtsprechung).
133 Nach Auffassung der Kommission hat die Agentur für Umweltschutz im Verzeichnis der Anlagen, die unter die NUM fallen, in Bezug auf die Klägerin für alle Jahre des Bezugszeitraums Kohlendioxidemissionen aus fossilen Quellen in Höhe von null gemeldet. Die Klägerin trägt selbst vor, ihre Emissionsberichte in jedem Jahr des Bezugszeitraums auf null gerundet zu haben, um die Rundungsregeln einzuhalten. Anhand der dem Gericht vorliegenden Akten kann nicht mit Sicherheit festgestellt werden, ob die Daten in der am 4. Februar 2021 von der Agentur für Umweltschutz an die Kommission gerichteten E‑Mail (siehe oben, Rn. 17), wonach die Klägerin für das Jahr 2018 eine Emissionsmenge von 0,3727 t Kohlendioxid fossilen Ursprungs gemeldet habe, der Kommission vor dieser E‑Mail mitgeteilt worden sind. Insoweit geht aus den die Klägerin betreffenden Unterlagen, die die Parteien auf die prozessleitende Maßnahme des Gerichts hin vorgelegt haben, nicht hervor, dass die Kommission vor diesem Zeitpunkt über diese Informationen verfügt hätte.
134 Doch selbst wenn dies der Fall gewesen wäre, hätte die Berücksichtigung von Emissionen von weniger als 0,5 t Kohlendioxid fossilen Ursprungs jedenfalls gegen die Rundungsregeln verstoßen, die, wie oben in den Rn. 60 und 61 ausgeführt, allgemeinen und zwingenden Charakter hatten. Die einheitliche Anwendung der Regeln für die Funktionsweise des EHS soll aber eine Verzerrung des Marktes der Zertifikate verhindern, was unerlässlich ist, um mittelbar das Ziel des Umweltschutzes zu erreichen, dem dieser Markt dient (Schlussanträge des Generalanwalts Campos Sánchez-Bordona in der Rechtssache ArcelorMittal Rodange et Schifflange, C‑321/15, EU:C:2016:516, Nr. 78).
135 Daraus folgt, dass die Kommission keinen offensichtlichen Beurteilungsfehler begangen hat, als sie feststellte, dass die fragliche Anlage ausschließlich Biomasse nutze und dass folglich der in Anhang I Nr. 1 der Richtlinie 2003/87 vorgesehene Ausschluss auf diese Anlage anzuwenden sei.
136 Darüber hinaus ist erstens festzustellen, dass der behauptete Verstoß gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz, der sich nach Ansicht der Klägerin aus der unterschiedlichen Behandlung von Anlagen in vergleichbaren Situationen ergibt, für die Anwendung der Regeln über die Funktionsweise des EHS auf die fragliche Anlage unerheblich ist. Diese Frage wird im Übrigen weiter unten im Rahmen der Prüfung des zweiten Klagegrundes geprüft.
137 Zweitens hat der Umstand – selbst angenommen, er läge vor –, dass die in Rede stehende Anlage bei Anwendung des von der Kommission im angefochtenen Beschluss zugrunde gelegten Ausschlusskriteriums bereits im vorangegangenen Zeitraum hätte ausgeschlossen werden müssen, keinerlei Auswirkungen auf die Rechtmäßigkeit des angefochtenen Beschlusses, der sich nur auf den Zeitraum für die Zuteilung von Zertifikaten von 2021 bis 2025 bezieht.
138 Drittens ergibt sich sowohl aus Art. 11 Abs. 1 Unterabs. 2 der Richtlinie 2003/87 in ihrer durch die Richtlinie 2018/410 geänderten Fassung als auch aus Art. 2 Nr. 14 der Delegierten Verordnung 2019/331, dass der im angefochtenen Beschluss für die Bewertung der Emissionen zu berücksichtigende fünfjährige Bezugszeitraum die Jahre 2014 bis 2018 umfasste. Die Absicht der Klägerin, im Zeitraum 2021–2025 Kohlendioxid fossilen Ursprungs zu emittieren, hat daher keine Auswirkungen auf die Rechtmäßigkeit des angefochtenen Beschlusses.
139 Viertens besteht der Zweck des EHS, wie die Parteien in der mündlichen Verhandlung in Beantwortung einer Frage des Gerichts übereinstimmend erklärt haben, nicht in der Zuteilung kostenloser Zertifikate, sondern darin, die Anlagen zur Verringerung ihrer Treibhausgasemissionen zu veranlassen und insbesondere die Verwendung von Biomasse anstelle von Brennstoffen aus fossilen Quellen zu fördern. Wurde eine Anlage vom EHS ausgeschlossen, weil sie ausschließlich Biomasse nutzte, kann daher nicht mit Erfolg geltend gemacht werden, dass dieser Ausschluss mit einem offensichtlichen Beurteilungsfehler behaftet ist.
140 Fünftens schließlich genügt es, auf die vorstehenden Rn. 51 bis 60 und 69 bis 82 zu verweisen, soweit die Klägerin zur Stützung ihres ersten Klagegrundes die Ausführungen zu der in ihrer Berichterstattung über ihre Kohlendioxidemissionen aus fossilen Quellen für das Jahr 2018 vorgenommene Rundung und dazu, dass die Kommission die ihr von der Agentur für Umweltschutz am 26. Januar und am 4. Februar 2021 übermittelten Daten nicht berücksichtigt habe, aufgreift, die bereits im vorliegenden Urteil geprüft worden sind.
141 Nach alledem ist der erste Klagegrund zurückzuweisen.
Zum zweiten Klagegrund: Verstoß gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung
142 Nach Ansicht der Klägerin hat die Kommission im angefochtenen Beschluss in zweifacher Hinsicht gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung verstoßen.
143 Zum einen seien, wie die Agentur für Umweltschutz der Kommission in ihrer E‑Mail vom 4. Februar 2021 mitgeteilt habe, Anlagen mit vergleichbaren Kohlendioxidemissionen aus fossilen Quellen hinsichtlich ihrer Einbeziehung in das EHS allein deshalb unterschiedlich behandelt worden, weil einige dieser Anlagen ihre Berichte abgerundet hätten, andere dagegen nicht. Außerdem habe mindestens eine der Anlagen, deren Einbeziehung in das EHS nicht von der Kommission beanstandet worden sei, weniger Kohlendioxid aus fossilen Quellen emittiert als die in Rede stehende Anlage. Die Einhaltung des Gleichbehandlungsgrundsatzes hätte bedeutet, dass die Kommission, die vor dem Erlass des angefochtenen Beschlusses über die Situation informiert gewesen sei, es vermieden hätte, vergleichbare Situationen unterschiedlich zu behandeln. Entgegen dem Vorbringen der Kommission sei der bloße Unterschied in den Berichten, der sich daraus ergebe, dass für bestimmte Anlagen eine Rundung vorgenommen worden sei und für andere nicht, irrelevant und könne keine unterschiedliche Behandlung dieser beiden Kategorien von Betrieben rechtfertigen.
144 Zum anderen führe der von der Kommission im vorliegenden Fall begangene Verstoß gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz zu Wettbewerbsverzerrungen und belohne in ungerechtfertigter Weise Hersteller, die Brennstoffe aus fossilen Quellen nutzten, da diese im Gegensatz zur Klägerin Zugang zum EHS hätten und somit durch den Weiterverkauf ihrer ungenutzten kostenlosen Zertifikate einen Gewinn erzielen könnten. Die Klägerin ist der Ansicht, dass ihr Ausschluss somit unter den Herstellern, die unter dieselbe Produkt-Benchmark fielen, im Hinblick auf die mit dem EHS verfolgten Umweltziele zu einer ungerechtfertigten Ungleichbehandlung führe.
145 Die Kommission tritt dem Vorbringen der Klägerin entgegen.
146 Der Gleichbehandlungsgrundsatz, der zu den Grundprinzipien des Unionsrechts gehört, besagt, dass vergleichbare Sachverhalte nicht unterschiedlich und unterschiedliche Sachverhalte nicht gleichbehandelt werden dürfen, es sei denn, dass eine solche Behandlung objektiv gerechtfertigt ist (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 19. Oktober 1977, Ruckdeschel u. a., 117/76 und 16/77, EU:C:1977:160‚ Rn. 7, und vom 17. Dezember 2020, Centraal Israëlitisch Consistorie van België u. a.,C‑336/19, EU:C:2020:1031, Rn. 85 und die dort angeführte Rechtsprechung).
147 Aus den Akten, insbesondere aus der Gegenerwiderung und den Antworten der Kommission und der Klägerin im Anschluss an die vom Gericht erlassene prozessleitende Maßnahme, ergibt sich, dass die Kommission mit Ausnahme von zwei Fällen, in denen sie einräumte, dass es ein Fehler gewesen sei, die fraglichen Anlagen nicht auszuschließen, Anlagen vom EHS ausgeschlossen hat, die im Bezugszeitraum Kohlendioxidemissionen aus fossilen Quellen in Höhe von 0 t oder weniger als 0,5 t gemeldet hatten. Da sich die Klägerin in dieser Situation befindet, kann sie auf der Grundlage des Grundsatzes der Gleichbehandlung nicht mit Erfolg geltend machen, dass sie anders hätte behandelt werden müssen.
148 Zwar führt die Kommission aus, sie hätte zwei Anlagen ausschließen müssen, die weniger als 0,5 t Kohlendioxid aus fossilen Quellen emittiert hätten. Nach ständiger Rechtsprechung muss der Grundsatz der Gleichbehandlung jedoch mit der Beachtung des Gebots rechtmäßigen Handelns in Einklang gebracht werden, wonach sich niemand zu seinem Vorteil auf eine zugunsten eines anderen begangene Rechtsverletzung berufen kann. Eine solche Vorgehensweise liefe darauf hinaus, den Grundsatz der „Gleichbehandlung im Unrecht“ anzuerkennen (vgl. Urteil vom 16. November 2006, Peróxidos Orgánicos/Kommission,T‑120/04, EU:T:2006:350, Rn. 77 und die dort angeführte Rechtsprechung). In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass die Kommission in der mündlichen Verhandlung nicht ausgeschlossen hat, der rechtswidrigen Einbeziehung dieser beiden Anlagen nach Erlass des vorliegenden Urteils abzuhelfen.
149 Die Behauptung der Klägerin, sie sei schlechter gestellt als die Unternehmen, die unter dieselbe Produkt-Benchmark fielen, ist ebenfalls als unbegründet zurückzuweisen. Der Ausschluss von Anlagen, die ausschließlich Biomasse nutzen, steht nämlich dem entgegen, dass sie als unter eine Produkt-Benchmark fallende Anlagen angesehen werden können. Die Klägerin befindet sich daher nicht in der gleichen Situation wie Unternehmen, die unter eine Ex-ante-Benchmark fallen und in das EHS einbezogen sind. Wie sich aus der Würdigung des fünften Klagegrundes ergibt (siehe oben, Rn. 120), verstößt eine Auslegung des in Anhang I Nr. 1 der Richtlinie 2003/87 vorgesehenen Ausschlusskriteriums, wonach Anlagen, die kein Kohlendioxid aus fossilen Quellen emittiert haben oder Mengen emittiert haben, die auf null abzurunden waren, nicht in den Genuss einer kostenlosen Zuteilung von Zertifikaten kommen können, nicht gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung.
150 Die Klägerin kann daher nicht mit Erfolg geltend machen, dass der angefochtene Beschluss unmittelbar gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung verstoße. Dies gilt unbeschadet der den Gegenstand des sechsten Klagegrundes bildenden Frage, ob der Ausschluss von ausschließlich Biomasse nutzenden Anlagen als solcher einen Verstoß gegen diesen Grundsatz darstellt.
151 Folglich ist der zweite Klagegrund zurückzuweisen.
Zum vierten Klagegrund: Verstoß gegen den Grundsatz des Vertrauensschutzes
152 Die Klägerin macht geltend, sie habe freiwillig eine Umstellung vorgenommen, um ihre Anlage im Wesentlichen mit Biomasse zu betreiben, und sich somit unaufgefordert an die mit der Richtlinie 2003/87 verfolgten Ziele gehalten. Außerdem habe sie nicht vorhersehen können, dass dieses Verhalten zu ihrem Ausschluss aus dem EHS führen würde, mit der Folge, dass sie ihre Genehmigung zur Nutzung von Brennstoffen aus fossilen Quellen und die finanziellen Einnahmen aus dem Weiterverkauf der ihr kostenlos zugeteilten Emissionszertifikate verliere. Vielmehr habe sie aus dem Standpunkt der Kommission bei der Zuteilung von Zertifikaten für die dritte Handelsperiode (2013–2020) – obwohl ihre Umstellung auf Biomasse bereits stattgefunden habe – ableiten können, dass sie für den Zeitraum 2021–2025 mit einer für sie günstigen Entscheidung rechnen könne. Sie habe nämlich bereits im vorangegangenen Zeitraum Emissionen in Höhe von null gemeldet, was nicht zu ihrem Ausschluss aus dem EHS geführt habe. Somit habe sie eine bestimmte Zusicherung der Kommission erhalten und befinde sich in einer Situation, die mit der des Klägers in der Rechtssache, die zu dem Urteil vom 28. April 1988, Mulder (120/86, EU:C:1988:213), geführt habe, vergleichbar sei. Im vorliegenden Fall gebe es kein überwiegendes öffentliches Interesse, das einen Verstoß gegen den Grundsatz des Vertrauensschutzes rechtfertigen könnte.
153 Ohne dieses Vorbringen ausdrücklich mit dem vierten Klagegrund zu verknüpfen, macht die Klägerin außerdem geltend, dass sie über vertrauliche Informationen verfüge, wonach sowohl die Agentur für Umweltschutz als auch die für die Anwendung des EHS zuständigen Bediensteten der Kommission die Auffassung teilten, dass die in Rede stehende Anlage nicht aus dem EHS ausgeschlossen werden sollte.
154 Die Kommission tritt dem Vorbringen der Klägerin entgegen.
155 Als Ausfluss des Grundsatzes der Rechtssicherheit steht das Recht auf Vertrauensschutz jedem Einzelnen zu, wenn sich herausstellt, dass die Unionsverwaltung bei ihm begründete Erwartungen geweckt hat. Präzise, nicht an Bedingungen geknüpfte und übereinstimmende Auskünfte von zuständiger und zuverlässiger Seite stellen unabhängig von der Form ihrer Mitteilung Zusicherungen dar, die solche Erwartungen wecken können. Dagegen kann niemand eine Verletzung des Grundsatzes des Vertrauensschutzes geltend machen, dem die Verwaltung keine bestimmten Zusicherungen gegeben hat. Ist ferner ein umsichtiger und besonnener Wirtschaftsteilnehmer in der Lage, den Erlass einer Unionsmaßnahme, die seine Interessen berühren kann, vorherzusehen, so kann er sich im Fall ihres Erlasses nicht auf den genannten Grundsatz berufen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 21. Juni 2018, Polen/Parlament und Rat, C‑5/16, EU:C:2018:483, Rn. 110, 111 und 113 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).
156 Hierzu ist zum einen festzustellen, dass die Klägerin nicht nachgewiesen hat, dass die Kommission ihr im Sinne der vorstehend in Rn. 155 angeführten Rechtsprechung zugesichert hat, dass sie im Zeitraum 2021–2025 in den Genuss kostenloser Zuteilungen von Treibhausgasemissionszertifikaten kommen werde.
157 Es ist nämlich darauf hinzuweisen, dass der Umstand, dass die Kommission nicht entschieden hat, die in Rede stehende Anlage aus der vom Königreich Schweden für die dritte Handelsperiode (2013–2020) mitgeteilten NUM auszuschließen, nicht als unbedingte Stellungnahme der Kommission zum Recht der Klägerin angesehen werden kann, weiterhin unter das EHS zu fallen und infolgedessen für den folgenden Zeitraum in den Genuss kostenloser Zuteilungen zu kommen.
158 Darüber hinaus steht fest, dass die Klägerin „ihre Umstellung auf Biomasse im Jahr 2010 abgeschlossen“ hat. Aus Art. 10a Abs. 5 der Richtlinie 2003/87 in der seinerzeit geltenden Fassung ergibt sich aber, dass der Bezugszeitraum, der für die Berechnung der Anzahl der Zertifikate, die Anlagen wie der der Klägerin kostenlos zuzuteilen waren, zu berücksichtigen war, die Jahre 2005 bis 2007 umfasste. Die Klägerin weist jedoch nicht nach und trägt im Übrigen auch nicht vor, dass sich ihre Kohlendioxidemissionen aus fossilen Quellen in diesen drei Jahren auf null belaufen hätten oder auf null hätten abgerundet werden müssen.
159 Zum anderen war die Anwendung des in Anhang I Nr. 1 der Richtlinie 2003/87 vorgesehenen Ausschlusses zum Zeitpunkt des Erlasses des angefochtenen Beschlusses weitgehend vorhersehbar, da er sich aus der Richtlinie 2009/29 ergibt, deren Umsetzungsfrist am 31. Dezember 2012 ablief. Da diese Bestimmung in der Folge nicht geändert wurde, konnte ein umsichtiger Wirtschaftsteilnehmer im Sinne der oben in Rn. 155 angeführten Rechtsprechung daher nicht außer Acht lassen, dass der seit dem 1. Januar 2013 geltende Ausschluss von ausschließlich Biomasse nutzenden Anlagen für die vom angefochtenen Beschluss erfasste vierte Handelsperiode (2021–2025) noch in Kraft war.
160 Der vierte Klagegrund ist somit zurückzuweisen.
Zum sechsten Klagegrund: Rechtswidrigkeit von Anhang I Nr. 1 der Richtlinie 2003/87
161 Für den Fall, dass das Gericht einem der ersten fünf Klagegründe nicht stattgeben sollte, macht die Klägerin gemäß Art. 277 AEUV die Rechtswidrigkeit von Anhang I Nr. 1 der Richtlinie 2003/87 geltend. Wenn diese Bestimmung nicht im Einklang mit Art. 10a der Richtlinie und den Grundprinzipien des Primärrechts der Union ausgelegt werden könne, sei sie für rechtswidrig zu erklären. Die Klägerin verweist insoweit auf ihr Vorbringen zum fünften Klagegrund.
162 Der Ausschluss betreffend die ausschließliche Nutzung von Biomasse führe dazu, dass bei der Berechnung der Produkt-Benchmarks die ökologisch effizientesten Anlagen nicht berücksichtigt werden könnten. Ein solcher Ausschluss sei daher mit den mit der Richtlinie 2003/87 verfolgten Zielen und dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit unvereinbar.
163 Darüber hinaus verstoße dieser Ausschluss auch gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung. Erstens würden nämlich Anlagen, die ihre Berichte gerundet hätten, weniger günstig behandelt als Anlagen, die ihre Berichte nicht gerundet hätten. Zweitens würden Anlagen, die im Zeitraum 2014–2018 Kohlendioxid aus fossilen Quellen emittiert hätten, weniger günstig behandelt als Anlagen, die in den Jahren 2019 und 2020 Kohlendioxid aus fossilen Quellen emittiert hätten. Drittens würden Anlagen mit Kohlendioxidemissionen aus fossilen Quellen von weniger als 0,5 t weniger günstig behandelt als Anlagen, deren Emissionen diesen Schwellenwert überschritten. Viertens unterscheide sich die Situation von Anlagen, deren Emissionen zu 100 % aus Biomasse stammten, unter Wettbewerbsgesichtspunkten nicht von Anlagen, deren Emissionen vollständig oder teilweise fossilen Ursprungs seien.
164 Die Kommission, unterstützt durch das Parlament und den Rat, tritt dem Vorbringen der Klägerin entgegen.
165 Die Prüfung des fünften Klagegrundes hat ergeben, dass die von der Kommission im angefochtenen Beschluss vorgenommene Auslegung von Anhang I Nr. 1 der Richtlinie 2003/87 weder gegen die Bestimmungen und Ziele dieser Richtlinie noch gegen die Grundsätze der Gleichbehandlung und der Verhältnismäßigkeit verstößt. Im Rahmen des sechsten Klagegrundes macht die Klägerin nun aber geltend, dass, wenn dies der Fall sei, der Ausschluss von ausschließlich Biomasse nutzenden Anlagen vom EHS daher als solcher gegen diese Grundsätze und Bestimmungen verstoße.
166 Hierzu ist zunächst festzustellen, dass die Zulässigkeit der von der Klägerin erhobenen Einrede der Rechtswidrigkeit nicht bestritten wird und kaum zweifelhaft ist. Es ist nämlich nicht sicher, dass die Klägerin berechtigt gewesen wäre, die Nichtigerklärung der fraglichen, durch die Richtlinie 2009/29 eingeführten Änderung zu beantragen, und es steht fest, dass die Kommission durch die Anwendung von Anhang I Nr. 1 der Richtlinie 2003/87 im angefochtenen Beschluss die Auffassung vertreten hat, dass die Klägerin aus der NUM zu streichen sei.
167 Soweit die Klägerin dasselbe Vorbringen wie für den zweiten Teil des fünften Klagegrundes geltend macht, genügt jedoch der Hinweis, dass dieses Vorbringen oben in den Rn. 120 bis 122 zurückgewiesen worden ist.
168 Im Übrigen könnte in einem Bereich, in dem der Unionsgesetzgeber über ein weites Ermessen verfügt, nur ein offenkundiger Verstoß gegen diese Grundsätze die Rechtswidrigkeit des in der angefochtenen Bestimmung vorgesehenen Ausschlusses belegen.
169 Es lässt sich allerdings nicht bestreiten, dass das derzeitige System, so wie es festgelegt ist, dazu führt, dass die Klägerin dafür bestraft wird, dass sie ihre Kohlendioxidemissionen aus fossilen Quellen auf nahezu null reduziert hat. Zum einen führt die Klägerin an, ohne dass ihr ernsthaft widersprochen worden wäre, dass ihre Umstellung auf Biomasse äußerst kostspielige Investitionen erfordert habe, für die sie keine Gegenleistung mehr erhalte. Zum anderen geht aus den Erklärungen der Parteien in der mündlichen Verhandlung hervor, dass der von der Kommission vertretene Standpunkt, wonach die Klägerin selbst dann, wenn sie beschließen sollte, wieder Brennstoffe aus fossilen Quellen zu nutzen, nicht als „neuer Marktteilnehmer“ angesehen werden könne, ihr jede Möglichkeit nimmt, erneut in den Genuss einer kostenlosen Zuteilung von Zertifikaten zu kommen.
170 Wie oben in Rn. 122 festgestellt, sind solche Auswirkungen indes jedem System inhärent, das Schwellen für eine Einbeziehung und einen Ausschluss vorsieht. Der in Anhang I Nr. 1 der Richtlinie 2003/87 vorgesehene Ausschluss, um den es in der vorliegenden Rechtssache geht, bewirkt, dass Anlagen, die vollständig für ein Produktionsverfahren unter Einsatz erneuerbarer Energien optiert haben, von den mit dem EHS verbundenen Verpflichtungen ausgenommen werden, und Anlagen, die diese Option nicht vollständig ausgeübt haben, dazu veranlasst werden, Brennstoffe aus fossilen Quellen durch Biomasse zu ersetzen. Insoweit ist im Übrigen festzustellen, dass der von der Klägerin vertretene Standpunkt, wonach ihr im Fall einer Rückkehr zur Nutzung von Brennstoffen aus fossilen Quellen wieder kostenlos Zertifikate zugeteilt werden müssten, diesem Ziel unmittelbar zuwiderliefe.
171 Daher können der Ausschluss von ausschließlich Biomasse nutzenden Anlagen und die Gleichstellung von Anlagen, die im Bezugszeitraum weniger als 0,5 t Kohlendioxid aus fossilen Quellen emittiert haben, mit diesen Anlagen trotz der negativen Auswirkungen, die mit diesem Ausschluss für die Klägerin verbunden sind, keinen offenkundigen Verstoß des Unionsgesetzgebers gegen die Grundsätze der Verhältnismäßigkeit und der Gleichbehandlung darstellen.
172 Schließlich beruft sich die Klägerin auf einen von der Kommission an das Parlament und den Rat übermittelten Gesetzgebungsvorschlag, der darauf abziele, den Schwellenwert für die Emissionen von Kohlendioxid aus fossilen Quellen, unterhalb dessen davon auszugehen sei, dass Anlagen ausschließlich Biomasse nutzten, auf 5 % festzulegen. Nach Ansicht der Klägerin zeigt dieser Wille des Gesetzgebers, das System zu ändern, dessen Unzulänglichkeiten auf. Solche Erwägungen zu künftigem Recht können jedoch nicht dazu führen, dass die geltenden Vorschriften als rechtswidrig und folglich unanwendbar angesehen werden.
173 Folglich ist die von der Klägerin erhobene Einrede der Rechtswidrigkeit zurückzuweisen und die Klage nach alledem abzuweisen.
Kosten
174 Nach Art. 134 Abs. 1 der Verfahrensordnung des Gerichts ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Nach Art. 135 Abs. 1 der genannten Verordnung kann das Gericht jedoch, wenn es die Billigkeit gebietet, entscheiden, dass eine unterlegene Partei neben ihren eigenen Kosten nur einen Bruchteil der Kosten der anderen Partei trägt oder dass ihr diese Kosten nicht aufzuerlegen sind.
175 Art. 138 Abs. 1 der Verfahrensordnung, wonach die Organe, die dem Rechtsstreit als Streithelfer beigetreten sind, ihre eigenen Kosten tragen, steht dem Antrag des Rates entgegen, der Klägerin die Kosten aufzuerlegen.
176 Darüber hinaus ist unter Berücksichtigung der Umstände des vorliegenden Falles, insbesondere der oben in den Rn. 78 und 79 festgestellten Fehler, zu entscheiden, dass jede Partei ihre eigenen Kosten trägt.
Aus diesen Gründen hat
DAS GERICHT (Zweite Kammer)
für Recht erkannt und entschieden:
1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Jede Partei trägt ihre eigenen Kosten.
Marcoulli
Frimodt Nielsen
Norkus
Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 26. Juli 2023.
Unterschriften
Inhaltsverzeichnis
Vorgeschichte des Rechtsstreits
Anträge der Parteien
Rechtliche Würdigung
Vorbemerkungen zum EHS und zu den mit der Richtlinie 2003/87 verfolgten Zielen
Zur Ordnungsmäßigkeit des Verfahrens zum Erlass des angefochtenen Beschlusses
Zur Berücksichtigung der während des Verfahrens zum Erlass des angefochtenen Beschlusses gemeldeten gerundeten Daten
Zum dritten Klagegrund: Verletzung wesentlicher Formvorschriften
– Zum ersten Teil des dritten Klagegrundes: Verletzung der Sorgfaltspflicht
– Zum zweiten Teil des dritten Klagegrundes: Verletzung des Rechts auf Anhörung
– Zum dritten Teil des dritten Klagegrundes: Verletzung der Begründungspflicht
Zur Begründetheit des angefochtenen Beschlusses
Zum fünften Klagegrund: Verstoß gegen die Richtlinie 2003/87
– Zum ersten Teil des fünften Klagegrundes: Fehlerhafte Berücksichtigung älterer Werte
– Zum zweiten Teil des fünften Klagegrundes: Rechtsfehler
Zum ersten Klagegrund: Offensichtlicher Beurteilungsfehler
Zum zweiten Klagegrund: Verstoß gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung
Zum vierten Klagegrund: Verstoß gegen den Grundsatz des Vertrauensschutzes
Zum sechsten Klagegrund: Rechtswidrigkeit von Anhang I Nr. 1 der Richtlinie 2003/87
Kosten
(*1) Verfahrenssprache: Schwedisch.
(i
) Die vorliegende Sprachfassung ist im Rubrum sowie in den Rn. 4, 8, 56, 58, 81, 108, 117 und 139 gegenüber der ursprünglich online gestellten Fassung geändert worden.
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Urteil des Gerichtshofs (Vierte Kammer) vom 27. April 2023.#M. D. gegen Országos Idegenrendészeti Főigazgatóság
 Budapesti és Pest Megyei Regionális Igazgatósága
 .#Vorabentscheidungsersuchen des Fővárosi Törvényszék.#Vorlage zur Vorabentscheidung – Einwanderungspolitik – Art. 20 AEUV – Genuss des Kernbestands der Rechte, die der Unionsbürgerstatus verleiht – Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Richtlinie 2008/115/EG – Gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger – Art. 5, 11 und 13 – Unmittelbare Wirkung – Anspruch auf Gewährung effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes – Erlass eines Einreise- und Aufenthaltsverbots gegen einen Drittstaatsangehörigen, der Familienangehöriger eines minderjährigen Unionsbürgers ist – Gefahr für die nationale Sicherheit – Nichtberücksichtigung der individuellen Situation dieses Drittstaatsangehörigen – Weigerung, eine gerichtliche Entscheidung zu vollstrecken, mit der die Wirkungen des Einreise- und Aufenthaltsverbots ausgesetzt werden – Folgen.#Rechtssache C-528/21.
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62021CJ0528
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ECLI:EU:C:2023:341
| 2023-04-27T00:00:00 |
Gerichtshof, Campos Sánchez-Bordona
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Sammlung der Rechtsprechung – allgemein – Abschnitt „Informationen über nicht veröffentlichte Entscheidungen“
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62021CJ0528
URTEIL DES GERICHTSHOFS (Vierte Kammer)
27. April 2023 (*1)
„Vorlage zur Vorabentscheidung – Einwanderungspolitik – Art. 20 AEUV – Genuss des Kernbestands der Rechte, die der Unionsbürgerstatus verleiht – Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Richtlinie 2008/115/EG – Gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger – Art. 5, 11 und 13 – Unmittelbare Wirkung – Anspruch auf Gewährung effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes – Erlass eines Einreise- und Aufenthaltsverbots gegen einen Drittstaatsangehörigen, der Familienangehöriger eines minderjährigen Unionsbürgers ist – Gefahr für die nationale Sicherheit – Nichtberücksichtigung der individuellen Situation dieses Drittstaatsangehörigen – Weigerung, eine gerichtliche Entscheidung zu vollstrecken, mit der die Wirkungen des Einreise- und Aufenthaltsverbots ausgesetzt werden – Folgen“
In der Rechtssache C‑528/21
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Fővárosi Törvényszék (Hauptstädtisches Stuhlgericht, Ungarn) mit Entscheidung vom 19. Juli 2021, beim Gerichtshof eingegangen am 26. August 2021, in dem Verfahren
M. D.
gegen
Országos Idegenrendészeti Főigazgatóság Budapesti és Pest Megyei Regionális Igazgatósága
erlässt
DER GERICHTSHOF (Vierte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten C. Lycourgos (Berichterstatter), des Vizepräsidenten des Gerichtshofs L. Bay Larsen in Wahrnehmung der Aufgaben eines Richters der Vierten Kammer, der Richterin L. S. Rossi, des Richters S. Rodin und der Richterin O. Spineanu-Matei,
Generalanwalt: M. Campos Sánchez-Bordona,
Kanzler: I. Illéssy, Verwaltungsrat,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 21. September 2022,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
–
der ungarischen Regierung, vertreten durch M. Z. Fehér und M. M. Tátrai als Bevollmächtigte im Beistand von K. A. Jáger als Sachverständigen,
–
der tschechischen Regierung, vertreten durch M. Smolek und J. Vláčil als Bevollmächtigte,
–
der Europäischen Kommission, vertreten durch C. Cattabriga, A. Katsimerou, E. Montaguti, Zs. Teleki und A. Tokár, als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 24. November 2022
folgendes
Urteil
1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 20 AEUV, Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) sowie der Art. 5, 11 und 13 der Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger (ABl. 2008, L 348, S. 98).
2 Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen M. D. und der Országos Idegenrendészeti Főigazgatóság Budapesti és Pest Megyei Regionális Igazgatósága (Nationale Generaldirektion der Ausländerpolizei, Regionaldirektion Budapest und Komitat Pest, Ungarn) (im Folgenden: Ausländerbehörde) über die Rechtmäßigkeit einer Entscheidung, mit der diese Behörde ein Einreise- und Aufenthaltsverbot gegen M. D. erlassen hat.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
SDÜ
3 Art. 25 des am 19. Juni 1990 in Schengen unterzeichneten und am 26. März 1995 in Kraft getretenen Übereinkommens zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen vom 14. Juni 1985 zwischen den Regierungen der Staaten der Benelux-Wirtschaftsunion, der Bundesrepublik Deutschland und der Französischen Republik betreffend den schrittweisen Abbau der Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen (ABl. 2000, L 239, S. 19) in der durch die Verordnung (EU) Nr. 265/2010 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. März 2010 (ABl. 2010, L 85, S. 1) geänderten Fassung (im Folgenden: SDÜ) bestimmt:
„(1) Beabsichtigt ein Mitgliedstaat, einen Aufenthaltstitel zu erteilen, so ruft er systematisch die Daten im Schengener Informationssystem ab. Beabsichtigt ein Mitgliedstaat, einem zur Einreiseverweigerung ausgeschriebenen Drittausländer einen Aufenthaltstitel zu erteilen, so konsultiert er vorab den ausschreibenden Mitgliedstaat und berücksichtigt dessen Interessen; der Aufenthaltstitel wird nur bei Vorliegen gewichtiger Gründe erteilt, insbesondere aus humanitären Gründen oder aufgrund internationaler Verpflichtungen.
Wird der Aufenthaltstitel erteilt, so zieht der ausschreibende Mitgliedstaat die Ausschreibung zurück, wobei es ihm unbenommen bleibt, den betroffenen Drittausländer in die nationale Ausschreibungsliste aufzunehmen.
…
(2) Stellt sich heraus, dass der Drittausländer, der über einen von einer der Vertragsparteien erteilten gültigen Aufenthaltstitel verfügt, zum Zwecke der Einreiseverweigerung ausgeschrieben ist, konsultiert die ausschreibende Vertragspartei die Vertragspartei, die den Aufenthaltstitel erteilt hat, um zu prüfen, ob ausreichende Gründe für die Einziehung des Aufenthaltstitels vorliegen.
Wird der Aufenthaltstitel nicht eingezogen, so zieht die ausschreibende Vertragspartei die Ausschreibung zurück, wobei es ihr unbenommen bleibt, den betroffenen Drittausländer in die nationale Ausschreibungsliste aufzunehmen.
…“
Verordnung (EG) Nr. 1987/2006
4 Art. 34 der Verordnung (EG) Nr. 1987/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Dezember 2006 über die Einrichtung, den Betrieb und die Nutzung des Schengener Informationssystems der zweiten Generation (SIS II) (ABl. 2006, L 381, S. 4) bestimmt:
„1. Der ausschreibende Mitgliedstaat ist für die Richtigkeit und Aktualität der Daten sowie die Rechtmäßigkeit der Eingabe in das SIS II verantwortlich.
2. Die Änderung, Ergänzung, Berichtigung, Aktualisierung oder Löschung der Daten darf nur durch den ausschreibenden Mitgliedstaat vorgenommen werden.
…“
Richtlinie 2008/115
5 In den Erwägungsgründen 2, 22 und 24 der Richtlinie 2008/115 heißt es:
„(2)
Auf seiner Tagung am 4. und 5. November 2004 in Brüssel forderte der Europäische Rat zur Festlegung einer wirksamen Rückkehr- und Rückübernahmepolitik auf, die auf gemeinsamen Normen beruht, die gewährleisten, dass die betreffenden Personen unter vollständiger Achtung der Grundrechte auf menschenwürdige Weise zurückgeführt werden.
…
(22) In Übereinstimmung mit dem [am 20. November 1989 von der Generalversammlung der Vereinten Nationen angenommenen] Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte des Kindes von 1989 sollten die Mitgliedstaaten bei der Durchführung dieser Richtlinie insbesondere das ‚Wohl des Kindes‘ im Auge behalten. In Übereinstimmung mit der [am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten] Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und der Grundfreiheiten sollte bei der Umsetzung dieser Richtlinie der Schutz des Familienlebens besonders beachtet werden.
…
(24) Die Richtlinie wahrt die Grundrechte und Grundsätze, die vor allem in der Charta … verankert sind.“
6 Art. 2 Abs. 2 dieser Richtlinie bestimmt:
„Die Mitgliedstaaten können beschließen, diese Richtlinie nicht auf Drittstaatsangehörige anzuwenden:
a)
die einem Einreiseverbot nach Artikel 13 des Schengener Grenzkodex unterliegen oder die von den zuständigen Behörden in Verbindung mit dem illegalen Überschreiten der Außengrenze eines Mitgliedstaats auf dem Land‑, See- oder Luftwege aufgegriffen bzw. abgefangen werden und die nicht anschließend die Genehmigung oder das Recht erhalten haben, sich in diesem Mitgliedstaat aufzuhalten;
b)
die nach einzelstaatlichem Recht aufgrund einer strafrechtlichen Sanktion oder infolge einer strafrechtlichen Sanktion rückkehrpflichtig sind oder gegen die ein Auslieferungsverfahren anhängig ist.“
7 Art. 3 Nrn. 3 und 6 der Richtlinie sieht vor:
„Im Sinne dieser Richtlinie bezeichnen die Ausdrücke
…
3. ‚Rückkehr‘: die Rückreise von Drittstaatsangehörigen – in freiwilliger Erfüllung einer Rückkehrverpflichtung oder erzwungener Rückführung – in
–
deren Herkunftsland oder
–
ein Transitland gemäß gemeinschaftlichen oder bilateralen Rückübernahmeabkommen oder anderen Vereinbarungen oder
–
ein anderes Drittland, in das der betreffende Drittstaatsangehörige freiwillig zurückkehren will und in dem er aufgenommen wird;
…
6. ‚Einreiseverbot‘: die behördliche oder richterliche Entscheidung oder Maßnahme, mit der die Einreise in das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten und der dortige Aufenthalt für einen bestimmten Zeitraum untersagt wird und die mit einer Rückkehrentscheidung einhergeht“.
8 Art. 5 der Richtlinie lautet:
„Bei der Umsetzung dieser Richtlinie berücksichtigen die Mitgliedstaaten in gebührender Weise:
a)
das Wohl des Kindes,
b)
die familiären Bindungen,
c)
den Gesundheitszustand der betreffenden Drittstaatsangehörigen,
und halten den Grundsatz der Nichtzurückweisung ein.“
9 Art. 6 der Richtlinie 2008/115 bestimmt:
„(1) Unbeschadet der Ausnahmen nach den Absätzen 2 bis 5 erlassen die Mitgliedstaaten gegen alle illegal in ihrem Hoheitsgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen eine Rückkehrentscheidung.
(2) Drittstaatsangehörige, die sich illegal im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats aufhalten und Inhaber eines gültigen Aufenthaltstitels oder einer sonstigen Aufenthaltsberechtigung eines anderen Mitgliedstaats sind, sind zu verpflichten, sich unverzüglich in das Hoheitsgebiet dieses anderen Mitgliedstaats zu begeben. Kommen die betreffenden Drittstaatsangehörigen dieser Verpflichtung nicht nach, oder ist die sofortige Ausreise des Drittstaatsangehörigen aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder der nationalen Sicherheit geboten, so findet Absatz 1 Anwendung.
…
(6) Durch diese Richtlinie sollen die Mitgliedstaaten nicht daran gehindert werden, entsprechend ihren innerstaatlichen Rechtsvorschriften und unbeschadet der nach Kapitel III und nach anderen einschlägigen Bestimmungen des Gemeinschaftsrechts und des einzelstaatlichen Rechts verfügbaren Verfahrensgarantien mit einer einzigen behördlichen oder richterlichen Entscheidung eine Entscheidung über die Beendigung eines legalen Aufenthalts sowie eine Rückkehrentscheidung und/oder eine Entscheidung über eine Abschiebung und/oder ein Einreiseverbot zu erlassen.“
10 Art. 7 Abs. 4 dieser Richtlinie lautet:
„Besteht Fluchtgefahr oder ist der Antrag auf einen Aufenthaltstitel als offensichtlich unbegründet oder missbräuchlich abgelehnt worden oder stellt die betreffende Person eine Gefahr für die öffentliche Ordnung, die öffentliche Sicherheit oder die nationale Sicherheit dar, so können die Mitgliedstaaten davon absehen, eine Frist für die freiwillige Ausreise zu gewähren, oder sie können eine Ausreisefrist von weniger als sieben Tagen einräumen.“
11 Art. 8 Abs. 1 der Richtlinie lautet:
„Die Mitgliedstaaten ergreifen alle erforderlichen Maßnahmen zur Vollstreckung der Rückkehrentscheidung, wenn nach Artikel 7 Absatz 4 keine Frist für die freiwillige Ausreise eingeräumt wurde oder wenn die betreffende Person ihrer Rückkehrverpflichtung nicht innerhalb der nach Artikel 7 eingeräumten Frist für die freiwillige Ausreise nachgekommen ist.“
12 Art. 11 Abs. 1 der Richtlinie sieht vor:
„Rückkehrentscheidungen gehen mit einem Einreiseverbot einher,
a)
falls keine Frist für eine freiwillige Ausreise eingeräumt wurde oder
b)
falls der Rückkehrverpflichtung nicht nachgekommen wurde.
In anderen Fällen kann eine Rückkehrentscheidung mit einem Einreiseverbot einhergehen.“
13 Art. 13 Abs. 1 und 2 der Richtlinie 2008/115 lautet:
„(1) Die betreffenden Drittstaatsangehörigen haben das Recht, bei einer zuständigen Justiz- oder Verwaltungsbehörde oder einem zuständigen Gremium, dessen Mitglieder unparteiisch sind und deren Unabhängigkeit garantiert wird, einen wirksamen Rechtsbehelf gegen Entscheidungen in Bezug auf die Rückkehr nach Artikel 12 Absatz 1 einzulegen oder die Überprüfung solcher Entscheidungen zu beantragen.
(2) Die in Absatz 1 genannte Behörde oder dieses Gremium ist befugt, Entscheidungen in Bezug auf die Rückkehr nach Artikel 12 Absatz 1 zu überprüfen, und hat auch die Möglichkeit, ihre Vollstreckung einstweilig auszusetzen, sofern eine einstweilige Aussetzung nicht bereits im Rahmen der einzelstaatlichen Rechtsvorschriften anwendbar ist.“
Ungarisches Recht
Gesetz Nr. I
14 § 33 des 2007. évi I. törvény a szabad mozgás és tartózkodás jogával rendelkező személyek beutazásáról és tartózkodásáról (Gesetz Nr. I von 2007 über die Einreise und den Aufenthalt von Personen, die über das Recht auf Freizügigkeit und freien Aufenthalt verfügen) vom 18. Dezember 2006 (Magyar Közlöny 2007/1.) (im Folgenden: Gesetz Nr. I) bestimmt:
„Das Recht auf Einreise und Aufenthalt der in den Anwendungsbereich dieses Gesetzes fallenden Personen darf nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nur aufgrund eines persönlichen Verhaltens des Betroffenen beschränkt werden, das eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr für die öffentliche Ordnung, die öffentliche Sicherheit, die nationale Sicherheit oder die öffentliche Gesundheit darstellt.“
15 § 42 Abs. 1 dieses Gesetzes sieht vor:
„Die Ausweisung darf nicht gegen einen Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats des [Europäischen Wirtschaftsraums (EWR)] oder einen Familienangehörigen eines solchen Staatsangehörigen angeordnet werden, der
a)
sich seit mehr als zehn Jahren rechtmäßig im ungarischen Hoheitsgebiet aufhält oder
b)
minderjährig ist, es sei denn, die Ausweisung erfolgt im Interesse des Minderjährigen.“
Gesetz Nr. II
16 § 43 des A harmadik országbeli állampolgárok beutazásáról és tartózkodásáról szóló 2007. évi II. törvény (Gesetz Nr. II von 2007 über die Einreise und den Aufenthalt von Drittstaatsangehörigen) vom 18. Dezember 2006 (Magyar Közlöny 2007/1.) (im Folgenden: Gesetz Nr. II) sieht vor:
„(1) Die Ausländerbehörde erlässt ein eigenständiges Einreise- und Aufenthaltsverbot gegen einen sich an einem unbekannten Ort oder im Ausland aufhältigen Drittstaatsangehörigen,
a)
bezüglich dessen sich Ungarn völkerrechtlich verpflichtet hat, das Einreise- und Aufenthaltsverbot durchzusetzen;
b)
gegen den der Rat der Europäischen Union ein Einreise- oder Aufenthaltsverbot erlassen hat;
c)
dessen Einreise und Aufenthalt die nationale Sicherheit, die öffentliche Sicherheit oder die öffentliche Ordnung beeinträchtigen oder gefährden würde;
…
(3) Die Initiative für ein eigenständiges Einreise- und Aufenthaltsverbot aus dem in Abs. 1 Buchst. c … genannten Grund kann auch von den im Regierungsdekret bezeichneten Strafverfolgungsorganen in ihrem Zuständigkeitsbereich zur Erfüllung der Aufgaben ergriffen werden, die mit dem Schutz der gesetzlich festgelegten Interessen verbunden sind. Werden das eigenständige Einreise- und Aufenthaltsverbot sowie die Ausweisung aus den in Abs. 1 Buchst. c … genannten Gründen angeordnet, so schlagen die im Regierungsdekret bezeichneten Strafverfolgungsorgane in den Fällen, die ihre Aufgaben und Zuständigkeiten berühren, die Dauer des Einreise- und Aufenthaltsverbots vor. Die Ausländerbehörde darf vom Inhalt des Vorschlags nicht abweichen.“
17 § 44 Abs. 1 des Gesetzes bestimmt:
„Die Dauer des eigenständigen Einreise- und Aufenthaltsverbots nach § 43 Abs. 1 Buchst. a und b richtet sich nach der Dauer der Verpflichtung oder des Verbots, die bzw. das der Entscheidung zugrunde liegt. Die Dauer des eigenständigen Einreise- und Aufenthaltsverbots nach § 43 Abs. 1 Buchst. c bis f wird von der Ausländerbehörde, die die Entscheidung trifft, festgelegt, beträgt höchstens drei Jahre und kann gegebenenfalls um höchstens drei weitere Jahre verlängert werden. Das Einreise- und Aufenthaltsverbot wird unverzüglich aufgehoben, wenn der Grund für seinen Erlass weggefallen ist.“
18 § 45 Abs. 1 des Gesetzes lautet:
„(1) Bevor die Ausländerbehörde gegen einen Drittstaatsangehörigen, der aufgrund seiner familiären Bindungen über einen Aufenthaltstitel verfügt, die Ausweisung anordnet, berücksichtigt sie folgende Aspekte:
a)
die Dauer des Aufenthalts;
b)
das Alter und die familiäre Situation des Drittstaatsangehörigen sowie die etwaigen Folgen seiner Ausweisung für seine Familienangehörigen;
c)
die Bindungen des Drittstaatsangehörigen zu Ungarn und das Fehlen von Beziehungen zu seinem Herkunftsland.“
19 § 87/B Abs. 4 des Gesetzes lautet:
„Die mit der Sache befasste Ausländerbehörde ist in Bezug auf Fachfragen an die Stellungnahme der Fachbehörde gebunden.“
Änderungsgesetz
20 § 17 des 2018 évi CXXXIII. törvény az egyes migrációs tárgyú és kapcsolódó törvények módosításáról (Gesetz Nr. CXXXIII von 2018 zur Änderung einiger die Migration betreffender Gesetze und einiger ergänzender Gesetze) vom 21. Dezember 2018 (Magyar Közlöny 2018/208.) (im Folgenden: Änderungsgesetz) trat am 1. Januar 2019 in Kraft. Er lautet:
„Das Gesetz Nr. I wird durch folgenden § 94 ergänzt:
‚§ 94 (1) In Verfahren, die Drittstaatsangehörige, die Familienangehörige ungarischer Staatsbürger sind, betreffen und die nach dem Inkrafttreten des [Änderungsgesetzes] eingeleitet oder wiederholt werden, sind die Bestimmungen des Gesetzes Nr. II anzuwenden.
…
(4) Die Aufenthaltskarte oder Daueraufenthaltskarte eines Drittstaatsangehörigen, der als Familienangehöriger eines ungarischen Staatsangehörigen über eine gültige Aufenthaltskarte oder Daueraufenthaltskarte verfügt, wird eingezogen,
…
b)
wenn der Aufenthalt des Drittstaatsangehörigen die öffentliche Ordnung, die öffentliche Sicherheit oder die nationale Sicherheit Ungarns beeinträchtigt.
(5) Bei den in Abs. 4 Buchst. b genannten Fachfragen sind die benannten Fachbehörden nach den Vorschriften des Gesetzes Nr. II über die Erteilung einer Niederlassungserlaubnis zur Einholung einer fachlichen Stellungnahme zu kontaktieren.
…‘“
Ausgangsverfahren und Vorlagefragen
21 M. D. ist ein Drittstaatsangehöriger, der 2002 nach Ungarn eingereist ist. Er ließ sich mit seiner Mutter sowie mit seiner Lebensgefährtin und dem gemeinsamen im Jahr 2016 geborenen minderjährigen Kind, die beide ungarische Staatsangehörige sind, in diesem Mitgliedstaat nieder. M. D. sorgt für den Unterhalt dieser drei Personen. Er arbeitete in einer Bäckerei, die er selbst betrieb. Er besitzt vier weitere Bäckereien in Ungarn; der Sitz seines Unternehmens ist in der Slowakei.
22 Am 31. Mai 2003 wurde M. D. ein Aufenthaltstitel für das ungarische Hoheitsgebiet erteilt. Dieser Aufenthaltstitel wurde mehrfach verlängert.
23 Am 12. Juni 2018 stellte M. D. einen Antrag auf Ausstellung einer Daueraufenthaltskarte, der von der in erster Instanz entscheidenden Ausländerbehörde abgelehnt wurde. Da M. D. wegen der Straftat des Einschleusens von Personen durch Beihilfe zum nicht genehmigten Grenzübertritt zu einer Freiheitsstrafe verurteilt worden war, stellte diese Behörde einen Antrag unter dem Aspekt der nationalen Sicherheit, woraufhin das Alkotmányvédelmi Hivatal (Amt für Verfassungsschutz, Ungarn) in einer Stellungnahme die Ansicht vertrat, dass das Verhalten von M. D. als tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr für die nationale Sicherheit anzusehen sei.
24 Mit Entscheidung vom 27. August 2018 stellte die Ausländerbehörde fest, dass das Aufenthaltsrecht von M. D. erloschen sei. Diese Entscheidung wurde durch eine zweitinstanzliche Entscheidung derselben Behörde vom 26. November 2018 bestätigt. Beide Entscheidungen wurden auf die in der vorstehenden Randnummer angeführte Stellungnahme des Amtes für Verfassungsschutz gestützt.
25 Am 3. Januar 2019 erließ die Ausländerbehörde eine Rückkehrentscheidung gegen M. D. und verhängte gegen ihn ein Einreise- und Aufenthaltsverbot für die Dauer von fünf Jahren. Diese Entscheidung wurde jedoch am 18. Februar 2019 wegen Verstoßes gegen § 42 Abs. 1 des Gesetzes Nr. I zurückgenommen.
26 Mit Urteil vom 28. Mai 2019 hob das Fővárosi Közigazgatási és Munkaügyi Bíróság (Hauptstädtisches Verwaltungs- und Arbeitsgericht Budapest, Ungarn) die Entscheidung der Ausländerbehörde vom 26. November 2018 auf und erstreckte die Wirkungen dieser Aufhebung auf die Entscheidung dieser Behörde vom 27. August 2018, wobei es zur Begründung anführte, dass die Behörde nicht nachgewiesen habe, dass die kumulativen Voraussetzungen nach § 33 des Gesetzes Nr. I erfüllt gewesen seien, da sie ihre Entscheidung auf eine Stellungnahme des Amtes für Verfassungsschutz gestützt habe, die an dem in Rede stehenden Verfahren nicht als Fachbehörde beteiligt gewesen sei. Außerdem habe die Ausländerbehörde nicht alle Umstände des konkreten Falles gewürdigt, was sie hätte tun müssen, auch wenn M. D. eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder die öffentliche Ordnung dargestellt habe. Des Weiteren gab dieses Gericht der Ausländerbehörde auf, im Rahmen eines neuen Verfahrens sämtliche Umstände des konkreten Falles und insbesondere den Umstand zu prüfen, dass M. D. und seine Lebensgefährtin mit ihrem gemeinsamen minderjährigen Kind, einem ungarischen Staatsangehörigen, in Ungarn ein Familienleben begründet hätten.
27 Im Anschluss an dieses neue Verfahren zog die Ausländerbehörde mit Entscheidung vom 29. August 2019 die Aufenthaltskarte von M. D. ein, wobei sie sich auf eine Stellungnahme des Amtes für Verfassungsschutz und des Pest Megyei Rendőr-főkapitányság (Hauptkommissariat des Komitats Pest, Ungarn) stützte, wonach das persönliche Verhalten von M. D. eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr für die nationale Sicherheit darstelle. Die in zweiter Instanz entscheidende Ausländerbehörde bestätigte diese Entscheidung und wies u. a. darauf hin, dass sie nach § 87/B Abs. 4 des Gesetzes Nr. II, der seit dem Inkrafttreten des Änderungsgesetzes anwendbar sei, nicht von dieser Stellungnahme abweichen dürfe.
28 Das Fővárosi Törvényszék (Hauptstädtisches Stuhlgericht, Ungarn) wies die von M. D. gegen diese Entscheidung erhobene Klage ab.
29 Die Kúria (Oberster Gerichtshof, Ungarn) bestätigte dieses Urteil und vertrat die Auffassung, dass die vorgelegten Daten ausreichend gewesen seien für den Nachweis, dass der Aufenthalt von M. D. in Ungarn eine tatsächliche und gegenwärtige Gefahr für die nationale Sicherheit dieses Mitgliedstaats darstelle und dass angesichts des Vorliegens dieser Gefahr die Beurteilung der persönlichen Situation von M. D. nicht zu einer positiven Beurteilung von dessen Antrag habe führen können.
30 Am 14. Oktober 2020 erließ die Ausländerbehörde gegen M. D. ein Einreise- und Aufenthaltsverbot für die Dauer von drei Jahren und gab eine Ausschreibung in Bezug auf dieses Verbot in das Schengener Informationssystem (im Folgenden: SIS) ein.
31 Die Behörde vertrat die Auffassung, dass M. D. nach § 94 Abs. 1 des Gesetzes Nr. I, der durch das Änderungsgesetz in dieses Gesetz eingefügt worden sei, in den Anwendungsbereich des Gesetzes Nr. II falle. Außerdem wies sie darauf hin, dass das Amt für Verfassungsschutz die Ausweisung von M. D. sowie den Erlass eines Einreise- und Aufenthaltsverbots gegen ihn für die Dauer von zehn Jahren empfehle. Sie wies außerdem darauf hin, dass M. D. von den slowakischen Behörden eine Aufenthaltserlaubnis für die Dauer von zwei Jahren ab dem 26. Februar 2019 erteilt worden sei.
32 In Anbetracht dessen war die Ausländerbehörde der Ansicht, dass das Verhalten von M. D. eine Gefahr für die nationale Sicherheit Ungarns darstelle.
33 Dem in Rn. 30 des vorliegenden Urteils angeführten, gegen M. D. erlassenen Einreise- und Aufenthaltsverbot ging keine Rückkehrentscheidung voraus, da M. D. das ungarische Hoheitsgebiet am 24. September 2020 verlassen hatte.
34 Das vorlegende Gericht, das mit einer von M. D. gegen dieses Einreise- und Aufenthaltsverbot erhobenen Klage befasst ist, betont erstens, dass dieses Verbot, obwohl es erlassen worden sei, als M. D. sich nicht mehr in Ungarn aufgehalten habe, als Einreiseverbot im Sinne von Art. 11 der Richtlinie 2008/115 anzusehen sei.
35 Dieses Gericht weist zum einen darauf hin, dass die M. D. von den slowakischen Behörden erteilte Aufenthaltserlaubnis wegen des genannten Einreise- und Aufenthaltsverbots und der Ausschreibung von M. D. im SIS nicht habe verlängert werden können, und zum anderen darauf, dass M. D. zum Zeitpunkt der Einreichung des vorliegenden Vorabentscheidungsersuchens in Österreich gewohnt habe und nicht nach Ungarn habe zurückkehren können, da die Ausländerbehörde sich geweigert habe, der rechtskräftigen Anordnung, mit der dieses Gericht die Wirkungen des in Rede stehenden Einreise- und Aufenthaltsverbots ausgesetzt habe, zu befolgen.
36 Zweitens führt das vorlegende Gericht aus, dass mit dem Gesetz Nr. I zwar die Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 und zur Aufhebung der Richtlinien 64/221/EWG, 68/360/EWG, 72/194/EWG, 73/148/EWG, 75/34/EWG, 75/35/EWG, 90/364/EWG, 90/365/EWG und 93/96/EWG (ABl. 2004, L 158, S. 77, berichtigt in ABl. 2004, L 229, S. 35) umgesetzt worden sei, der Anwendungsbereich dieses Gesetzes sich aber u. a. auf Drittstaatsangehörige erstreckt habe, die Familienangehörige eines ungarischen Staatsangehörigen seien, der von seinem Recht auf Freizügigkeit keinen Gebrauch gemacht habe. So habe dieses Gesetz diesen Drittstaatsangehörigen erlaubt, sich in Ungarn unter denselben Bedingungen aufzuhalten wie Drittstaatsangehörige, die Familienangehörige von Staatsangehörigen von EWR‑Mitgliedstaaten seien, die von ihrem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch gemacht hätten. Mit dem am 1. Januar 2019 in Kraft getretenen Änderungsgesetz seien jedoch Drittstaatsangehörige, die Familienangehörige eines ungarischen Staatsangehörigen seien, vom Anwendungsbereich des Gesetzes Nr. I ausgenommen worden, und das Gesetz Nr. II – das bis dahin nur die Einreise und den Aufenthalt von Drittstaatsangehörigen geregelt habe, die nicht Familienangehörige eines Staatsangehörigen eines EWR-Mitgliedstaats seien – sei für ihre Einreise und ihren Aufenthalt anwendbar geworden.
37 Gemäß § 17 des Änderungsgesetzes gelte das Gesetz Nr. II auch für Verfahren, die, wie im vorliegenden Fall, nach dem Inkrafttreten des Änderungsgesetzes wiederholt worden seien. Gemäß dem Gesetz Nr. II könne die Aufenthalts- oder Daueraufenthaltskarte eines Drittstaatsangehörigen aber leichter eingezogen werden als unter der Geltung des Gesetzes Nr. I, insbesondere wenn das Verhalten des Drittstaatsangehörigen die öffentliche Ordnung, die öffentliche Sicherheit oder die nationale Sicherheit Ungarns beeinträchtige. Daher müsse in einem solchen Fall die Ausweisung des betreffenden Drittstaatsangehörigen angeordnet werden, ohne dass dessen familiäre oder persönliche Umstände berücksichtigt würden.
38 Das vorlegende Gericht weist u. a. darauf hin, dass der Gerichtshof in seinem Urteil vom 11. März 2021, État belge (Rückkehr des Elternteils eines Minderjährigen) (C‑112/20, EU:C:2021:197), entschieden habe, dass Art. 5 der Richtlinie 2008/115 in Verbindung mit Art. 24 der Charta die Mitgliedstaaten verpflichte, vor Erlass einer mit einem Einreiseverbot verbundenen Rückkehrentscheidung das Wohl des Kindes gebührend zu berücksichtigen, selbst wenn es sich beim Adressaten der Entscheidung nicht um einen Minderjährigen, sondern um dessen Vater handelt.
39 Drittens betont das vorlegende Gericht, dass die ungarischen Staatsangehörigen, die Familienangehörige von M. D. seien, ihr Recht auf Freizügigkeit innerhalb der Europäischen Union nicht ausgeübt hätten, so dass M. D. ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht weder auf die Richtlinie 2004/38 noch auf Art. 21 AEUV stützen könne.
40 Das vorlegende Gericht weist jedoch darauf hin, dass im Fall des sofortigen Vollzugs der aus Gründen der nationalen Sicherheit angeordneten Ausweisung eines Drittstaatsangehörigen auch die Familienangehörigen dieses Drittstaatsangehörigen, die, wie im vorliegenden Fall, über die Unionsbürgerschaft verfügten, das ungarische Hoheitsgebiet verlassen müssten, da andernfalls die Familieneinheit dauerhaft aufgelöst würde, da der Grund der nationalen Sicherheit auch der Erteilung eines Visums entgegenstehe. Die Weigerung, einem Drittstaatsangehörigen ein Aufenthaltsrecht zu gewähren, könne aber die praktische Wirksamkeit der Unionsbürgerschaft beeinträchtigen, wenn zwischen ihm und dem Unionsbürger, der sein Familienangehöriger sei, ein Abhängigkeitsverhältnis bestehe, das dazu führen würde, dass der Unionsbürger gezwungen wäre, den betreffenden Drittstaatsangehörigen, der ein Mitglied seiner Familie sei, zu begleiten und das Gebiet der Union zu verlassen.
41 Keine Bestimmung des ungarischen Rechts sehe vor, dass die persönlichen und familiären Umstände vor der Verhängung eines Einreise- und Aufenthaltsverbots gegen Drittstaatsangehörige, die nicht über einen Aufenthaltstitel verfügten, zu prüfen seien. M. D. befinde sich somit nicht nur in einer ungünstigeren Lage als Drittstaatsangehörige, die Familienangehörige eines Unionsbürgers seien, der von seinem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch gemacht habe, sondern auch in einer ungünstigeren Lage als Drittstaatsangehörige, die nicht Familienangehörige eines Unionsbürgers seien, da die Situation der letztgenannten Drittstaatsangehörigen durch die durch das Gesetz Nr. II umgesetzten Richtlinien geregelt werde, die aber nicht für Drittstaatsangehörige gälten, die wie M. D. Familienangehörige eines Unionsbürgers seien.
42 Viertens fragt sich das vorlegende Gericht, ob, falls die neue ungarische Regelung mit dem Unionsrecht unvereinbar sein sollte und es keine andere spezifische nationale Regelung gebe, § 42 Abs. 1 des Gesetzes Nr. I, der bis zum 1. Januar 2019 auf M. D. anwendbar gewesen sei, berücksichtigt werden könne, oder ob es das nationale Recht unangewendet lassen und seine Entscheidung unmittelbar auf die Richtlinie 2008/115 stützen könne.
43 Schließlich stellt das vorlegende Gericht fest, dass es keine Rechtsprechung des Gerichtshofs zur Weigerung der Ausländerbehörde gebe, einer Anordnung wie derjenigen nachzukommen, mit der es die Aussetzung des in Rn. 30 des vorliegenden Urteils angeführten Einreise- und Aufenthaltsverbots gegen M. D. angeordnet habe.
44 Unter diesen Umständen hat der Fővárosi Törvényszék (Hauptstädtisches Stuhlgericht) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof die folgenden Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
1. Sind die Art. 5 und 11 der Richtlinie 2008/115 und Art. 20 AEUV in Verbindung mit den Art. 7, 20, 24 und 47 der Charta dahin auszulegen, dass sie einer Praxis eines Mitgliedstaats entgegenstehen, die vorschreibt, die Änderung der Rechtsvorschrift, in deren Folge der drittstaatsangehörige Familienangehörige eines Unionsbürgers einer erheblich strengeren Verfahrensregelung unterworfen wird, auch auf in früher eingeleiteten Verfahren angeordnete wiederholte Verfahren anzuwenden, und zwar so weit, dass er seine bisherige, in Bezug auf die Dauer seines Aufenthalts erreichte Rechtsstellung, dass er nicht einmal aus Gründen der öffentlichen Ordnung, der öffentlichen Sicherheit oder der nationalen Sicherheit ausgewiesen werden kann, verliert, und daraufhin aufgrund desselben Sachverhalts und Gründen der nationalen Sicherheit sein Antrag auf eine Daueraufenthaltskarte abgelehnt wird, die ihm ausgestellte Aufenthaltskarte eingezogen wird, gegen ihn sodann ein Einreise- und Aufenthaltsverbot verhängt wird, ohne dass in einem Verfahren seine persönlichen und familiären Umstände abgewogen werden würden, damit zusammenhängend insbesondere der Umstand, dass es auch eine von ihm Unterhalt beziehende minderjährige Person ungarischer Staatsangehörigkeit gibt, für die infolge der Entscheidungen sich entweder der Familienverband auflöst oder die Familienangehörigen des Drittstaatsangehörigen mit Unionsbürgerschaft, unter ihnen ein minderjähriges Kind, verpflichtet wären, das Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats zu verlassen?
2. Sind die Art. 5 und 11 der Richtlinie 2008/115 und Art. 20 AEUV in Verbindung mit den Art. 7 und 24 der Charta dahin auszulegen, dass sie einer Praxis eines Mitgliedstaats entgegenstehen, in deren Rahmen vor Anordnung des Einreise- und Aufenthaltsverbots die persönlichen und familiären Umstände des Drittstaatsangehörigen unter Verweis darauf nicht geprüft werden, dass der Aufenthalt eines drittstaatsangehörigen Familienangehörigen eines Unionsbürgers eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr für die nationale Sicherheit darstelle?
Falls die erste oder die zweite Frage bejaht wird:
3. Sind Art. 20 AEUV sowie die Art. 5 und 13 der Richtlinie 2008/115 in Verbindung mit den Art. 20 und 47 der Charta sowie der 22. Erwägungsgrund der Richtlinie 2008/115, der die Verpflichtung, insbesondere das Wohl des Kindes im Auge zu behalten, vorschreibt, sowie der 24. Erwägungsgrund dieser Richtlinie, der die Wahrung der Grundrechte und Grundsätze, die in der Charta verankert sind, vorschreibt, dahin auszulegen, dass ein nationales Gericht, wenn es aufgrund einer Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union feststellt, dass das mitgliedstaatliche Recht bzw. die darauf aufbauende Praxis der Ausländerbehörde gegen Unionsrecht verstößt, bei der Prüfung der Rechtsgrundlage der Anordnung des Einreise- und Aufenthaltsverbots im vorliegenden Fall als erworbenes Recht des Klägers berücksichtigen kann, dass der Kläger während der Geltungsdauer des Gesetzes Nr. I die notwendige Bedingung für die Anwendung des § 42 dieses Gesetzes, d. h. den mehr als zehnjährigen rechtmäßigen Aufenthalt in Ungarn, erreichte, oder dass bei der Prüfung der Begründetheit der Anordnung des Einreise- und Aufenthaltsverbots wegen des Fehlens einer Regelung zur Abwägung der familiären und persönlichen Umstände im Gesetz Nr. II Art. 5 der Richtlinie 2008/115 unmittelbar anzuwenden ist?
4. Ist die Praxis eines Mitgliedstaats, nach der die Ausländerbehörde in einem Verfahren, in dem ein Drittstaatsangehöriger, der Familienangehöriger eines Unionsbürgers ist, von seinem Recht auf einen Rechtsbehelf Gebrauch macht, die rechtskräftige gerichtliche Entscheidung, mit der der sofortige Rechtsschutz gegen die Vollstreckung des Einreise- und Aufenthaltsverbots angeordnet wird, unter Verweis darauf nicht vollstreckt, dass eine Ausschreibung zur Einreise- und Aufenthaltsverweigerung im SIS bereits angeordnet worden sei, so dass der drittstaatsangehörige Familienangehörige eines Unionsbürgers sein Recht auf einen Rechtsbehelf nicht persönlich ausüben kann und vor der endgültigen Entscheidung in seinem Fall während des Verfahrens nicht nach Ungarn einreisen kann, mit dem Unionsrecht, insbesondere mit dem in Art. 13 der Richtlinie 2008/115 gewährleisteten Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf und dem in Art. 47 der Charta verankerten Recht auf ein unparteiisches Gericht, vereinbar?
Verfahren vor dem Gerichtshof
45 Das vorlegende Gericht hat beantragt, die vorliegende Rechtssache dem Eilvorabentscheidungsverfahren nach Art. 107 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs zu unterwerfen.
46 Mit Entscheidung vom 16. September 2021 hat die Fünfte Kammer auf Vorschlag des Berichterstatters und nach Anhörung des Generalanwalts entschieden, dass dem Antrag, die vorliegende Rechtssache dem Eilvorabentscheidungsverfahren zu unterwerfen, nicht stattzugeben ist.
47 Am 1. Oktober 2021 hat der Präsident des Gerichtshofs entschieden, dass die vorliegende Rechtssache gemäß Art. 53 Abs. 3 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs mit Vorrang entschieden wird.
Zu den Vorlagefragen
Zur Zulässigkeit
48 Nach Ansicht der ungarischen Regierung sind die Vorlagefragen für unzulässig zu erklären, da sie zum einen darauf abzielten, zu klären, ob das Unionsrecht dem entgegenstehe, dass M. D. das Recht auf Aufenthalt im ungarischen Hoheitsgebiet entzogen worden sei, obwohl dieser Entzug nicht Gegenstand des beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreits sei, und zum anderen darauf, die Richtlinie 2008/115 auszulegen, obwohl das im Ausgangsverfahren in Rede stehende Einreise- und Aufenthaltsverbot nicht in den Anwendungsbereich dieser Richtlinie falle, da es ergangen sei, nachdem M. D. das ungarische Hoheitsgebiet verlassen gehabt habe.
49 Insoweit ergibt sich aus der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs, dass eine Vermutung für die Entscheidungserheblichkeit der Vorlagefragen des nationalen Gerichts spricht, die es zur Auslegung des Unionsrechts in dem rechtlichen und sachlichen Rahmen stellt, den es in eigener Verantwortung festlegt und dessen Richtigkeit der Gerichtshof nicht zu prüfen hat. Der Gerichtshof kann die Entscheidung über ein Vorabentscheidungsersuchen eines nationalen Gerichts nur dann ablehnen, wenn die erbetene Auslegung des Unionsrechts offensichtlich in keinem Zusammenhang mit den Gegebenheiten oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits steht, wenn das Problem hypothetischer Natur ist oder wenn er nicht über die tatsächlichen und rechtlichen Angaben verfügt, die für eine zweckdienliche Beantwortung der ihm vorgelegten Fragen erforderlich sind (Urteil vom 8. November 2022, Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid [Von Amts wegen erfolgende Prüfung der Haft], C‑704/20 und C‑39/21, EU:C:2022:858, Rn. 61 und die dort angeführte Rechtsprechung).
50 Im vorliegenden Fall ergibt sich aus dem Vorabentscheidungsersuchen und der Antwort des vorlegenden Gerichts auf das ihm übermittelte Auskunftsersuchen zum einen, dass dieses Gericht nur die Rechtmäßigkeit des gegen M. D. verhängten Einreise- und Aufenthaltsverbots zu prüfen hat, da die Entscheidung, mit der diesem Drittstaatsangehörigen das Recht auf Aufenthalt im ungarischen Hoheitsgebiet entzogen wurde, bestandskräftig geworden ist, und zum anderen, dass dieses Einreise- und Aufenthaltsverbot für das gesamte Unionsgebiet gilt.
51 Daraus folgt, dass die Vorlagefragen, wie die ungarische Regierung geltend macht, für die Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits nur insoweit zweckdienlich sind, als sie das gegen M. D. verhängte Einreise- und Aufenthaltsverbot betreffen, und dass sie daher nur insoweit zulässig sind.
52 Was hingegen die Zweckdienlichkeit einer Auslegung der Richtlinie 2008/115 im Rahmen des Ausgangsrechtsstreits betrifft, ist darauf hinzuweisen, dass, wenn wie in der vorliegenden Rechtssache nicht offensichtlich ist, dass die Auslegung einer Bestimmung des Unionsrechts in keinem Zusammenhang mit den Gegebenheiten oder dem Gegenstand des Ausgangsverfahrens steht, der Einwand der Unanwendbarkeit dieser Bestimmung auf das Ausgangsverfahren nicht die Zulässigkeit des Vorabentscheidungsersuchens, sondern den Inhalt der Fragen betrifft (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 14. Juli 2022, ASADE,C‑436/20, EU:C:2022:559, Rn. 41 und die dort angeführte Rechtsprechung).
Zur Beantwortung der Vorlagefragen
Zur ersten und zur zweiten Frage
53 Mit seiner ersten und seiner zweiten Frage, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 20 AEUV sowie die Art. 5 und 11 der Richtlinie 2008/115 in Verbindung mit den Art. 7, 20, 24 und 47 der Charta dahin auszulegen sind, dass sie es einem Mitgliedstaat verwehren, gegen einen Drittstaatsangehörigen, der Familienangehöriger eines Unionsbürgers ist, der Staatsangehöriger dieses Mitgliedstaats ist und noch nie von seiner Freizügigkeit Gebrauch gemacht hat, ein Verbot der Einreise in das Unionsgebiet mit der Begründung zu erlassen, dass das Verhalten dieses Drittstaatsangehörigen eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr für die nationale Sicherheit dieses Mitgliedstaats darstelle, ohne dass die persönliche und familiäre Situation dieses Drittstaatsangehörigen geprüft würde.
54 Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass die ungarische Regierung der Ansicht ist, dass die anwendbare ungarische Regelung es erlaube, in einer Situation wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden die persönliche und familiäre Situation eines Drittstaatsangehörigen zu berücksichtigen, bevor gegen ihn ein Verbot der Einreise in das Unionsgebiet erlassen wird.
55 Das vorlegende Gericht stellt die Vorlagefragen zur Auslegung des Unionsrechts, wie in Rn. 49 des vorliegenden Urteils ausgeführt, jedoch in dem rechtlichen und sachlichen Rahmen, den es in eigener Verantwortung festlegt und dessen Richtigkeit der Gerichtshof nicht zu prüfen hat. Daher muss die Prüfung eines Vorabentscheidungsersuchens in Ansehung der vom vorlegenden Gericht vorgenommenen Auslegung des nationalen Rechts erfolgen und nicht derjenigen, auf die sich die Regierung eines Mitgliedstaats beruft (Urteil vom 20. Oktober 2022, Centre public d’action sociale de Liège [Rücknahme oder Aussetzung einer Rückkehrentscheidung], C‑825/21, EU:C:2022:810, Rn. 35).
56 Daraus folgt, dass bei der Beantwortung der ersten und der zweiten Frage von der – allerdings vom vorlegenden Gericht zu überprüfenden – Prämisse auszugehen ist, dass das nationale Recht es in einer Situation wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden nicht erlaubt, die persönliche und familiäre Situation des betreffenden Drittstaatsangehörigen zu berücksichtigen, bevor gegen ihn ein Verbot der Einreise in das Unionsgebiet erlassen wird.
– Zu Art. 20 AEUV
57 Erstens ist darauf hinzuweisen, dass Art. 20 AEUV nationalen Maßnahmen entgegensteht, die bewirken, dass den Unionsbürgern der tatsächliche Genuss der Rechte verwehrt wird, die ihnen dieser Status verleiht (Urteile vom 8. März 2011, Ruiz Zambrano, C‑34/09, EU:C:2011:124, Rn. 42, und vom 27. Februar 2020, Subdelegación del Gobierno en Ciudad Real (Ehegatte eines Unionsbürgers), C‑836/18, EU:C:2020:119, Rn. 37).
58 Insoweit hat der Gerichtshof bereits festgestellt, dass es ganz besondere Sachverhalte gibt, in denen einem Drittstaatsangehörigen, der Familienangehöriger eines Unionsbürgers ist, ein Aufenthaltsrecht eingeräumt werden muss, obwohl das für das Aufenthaltsrecht von Drittstaatsangehörigen geltende Sekundärrecht nicht anwendbar ist und der betreffende Unionsbürger sein Recht auf Freizügigkeit nicht ausgeübt hat, da sonst die Unionsbürgerschaft ihrer praktischen Wirksamkeit beraubt würde, wenn sich der Unionsbürger infolge der Verweigerung des Aufenthaltsrechts de facto gezwungen sähe, das Gebiet der Union als Ganzes zu verlassen, und ihm dadurch der tatsächliche Genuss des Kernbestands der Rechte, die ihm sein Status als Unionsbürger verleiht, verwehrt würde (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 8. März 2011, Ruiz Zambrano, C‑34/09, EU:C:2011:124, Rn. 43 und 44, sowie vom 5. Mai 2022, Subdelegación del Gobierno en Toledo [Aufenthalt eines Familienangehörigen – Unzureichende Existenzmittel], C‑451/19 und C‑532/19, EU:C:2022:354, Rn. 45).
59 Die Weigerung, einem Drittstaatsangehörigen ein Aufenthaltsrecht zu gewähren, kann die praktische Wirksamkeit der Unionsbürgerschaft jedoch nur dann beeinträchtigen, wenn zwischen ihm und dem Unionsbürger, der sein Familienangehöriger ist, ein Abhängigkeitsverhältnis besteht, das dazu führen würde, dass der Unionsbürger gezwungen wäre, den betreffenden Drittstaatsangehörigen zu begleiten und das Gebiet der Union als Ganzes zu verlassen (Urteile vom 8. Mai 2018, K.A. u. a. [Familienzusammenführung in Belgien], C‑82/16, EU:C:2018:308, Rn. 52, und vom 5. Mai 2022, Subdelegación del Gobierno en Toledo [Aufenthalt eines Familienangehörigen – Unzureichende Existenzmittel], C‑451/19 und C‑532/19, EU:C:2022:354, Rn. 46 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).
60 Zweitens kann ein Verbot der Einreise in das Unionsgebiet, das gegen einen Drittstaatsangehörigen, der Familienangehöriger eines Unionsbürgers ist, erlassen wird, ebenso wie die Verweigerung oder der Verlust eines Rechts zum Aufenthalt im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats dazu führen, dass dem Unionsbürger der tatsächliche Genuss des Kernbestands der Rechte, die ihm sein Status verleiht, verwehrt wird, wenn dieses Einreiseverbot den Unionsbürger aufgrund des zwischen diesen Personen bestehenden Abhängigkeitsverhältnisses de facto zwingt, das Gebiet der Union als Ganzes zu verlassen, um seinen Familienangehörigen – den Drittstaatsangehörigen, gegen den das Einreiseverbot erlassen wurde – zu begleiten (vgl. entsprechend Urteil vom 13. September 2016, CS, C‑304/14, EU:C:2016:674, Rn. 32).
61 Im vorliegenden Fall stehen dem minderjährigen Kind von M. D. ebenso wie der Mutter dieses Kindes als Unionsbürgern die in Art. 20 AEUV verankerten Rechte zu. Daher kann nicht von vornherein ausgeschlossen werden, dass das gegen M. D. erlassene Einreise- und Aufenthaltsverbot dazu führt, dass diesen Unionsbürgern de facto der tatsächliche Genuss des Kernbestands der Rechte, die ihnen ihr Unionsbürgerstatus verleiht, verwehrt wird. Dies wäre dann der Fall, wenn zwischen M. D. und seinem minderjährigen Kind oder seiner Lebensgefährtin für die Zwecke der Anwendung von Art. 20 AEUV in seiner Auslegung durch den Gerichtshof ein Abhängigkeitsverhältnis bestünde, das das minderjährige Kind oder die Lebensgefährtin de facto dazu zwingen würde, ebenfalls das Unionsgebiet zu verlassen (vgl. u. a. Urteile vom 8. Mai 2018, K.A. u. a. [Familienzusammenführung in Belgien], C‑82/16, EU:C:2018:308, Rn. 65 und 71 bis 75, sowie vom 5. Mai 2022, Subdelegación del Gobierno en Toledo [Aufenthalt eines Familienangehörigen – Unzureichende Existenzmittel], C‑451/19 und C‑532/19, EU:C:2022:354, Rn. 56 sowie 64 bis 69).
62 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass M. D. nach den Angaben des vorlegenden Gerichts zu dem Zeitpunkt, zu dem ihm sein Aufenthaltstitel für das ungarische Hoheitsgebiet entzogen wurde, über ein Recht auf Aufenthalt in der Slowakei verfügte. Diese Entziehung konnte daher das minderjährige Kind von M. D. und dessen Lebensgefährtin, die Mutter dieses Kindes, offenbar nicht de facto zwingen, das Gebiet der Union als Ganzes zu verlassen, da nichts darauf hindeutet, dass es diesen Unionsbürgern unmöglich gewesen wäre, sich rechtmäßig in der Slowakei aufzuhalten.
63 Auf der Grundlage der dem Gerichtshof vorliegenden Informationen ist daher nicht gewiss, dass der Entzug des Aufenthaltstitels von M. D. durch die ungarischen Behörden gegen Art. 20 AEUV verstoßen haben könnte (vgl. entsprechend Urteil vom 10. Oktober 2013, Alokpa und Moudoulou, C‑86/12, EU:C:2013:645, Rn. 34 und 35).
64 Dagegen haben die ungarischen Behörden M. D. durch den Erlass des im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Einreise- und Aufenthaltsverbots, dessen Wirkung einen europäischen Zuschnitt hat, jedes Recht auf Aufenthalt im Hoheitsgebiet sämtlicher Mitgliedstaaten genommen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 16. Januar 2018, E, C‑240/17, EU:C:2018:8, Rn. 42).
65 Aus den vorstehenden Erwägungen folgt, dass ein Mitgliedstaat einem Drittstaatsangehörigen, der einen Familienangehörigen hat, der Unionsbürger sowie Staatsangehöriger dieses Mitgliedstaats ist und noch nie von seiner Freizügigkeit Gebrauch gemacht hat, die Einreise in das Unionsgebiet nicht verbieten kann, ohne dass das Bestehen eines Abhängigkeitsverhältnisses der in Rn. 61 des vorliegenden Urteils beschriebenen Art zwischen dem Drittstaatsangehörigen und diesem Familienangehörigen geprüft wurde. Vielmehr haben die zuständigen nationalen Behörden u. a. auf der Grundlage der Informationen, die der betreffende Drittstaatsangehörige und der betreffende Unionsbürger nach freiem Ermessen beibringen können müssen, und – sofern notwendig – nach Vornahme der erforderlichen Ermittlungen zu beurteilen, ob zwischen diesen beiden Personen ein solches Abhängigkeitsverhältnis besteht (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 27. Februar 2020, Subdelegación del Gobierno en Ciudad Real (Ehegatte eines Unionsbürgers), C‑836/18, EU:C:2020:119, Rn. 53).
66 Drittens ist darauf hinzuweisen, dass M. D. sein Recht auf Aufenthalt im ungarischen Hoheitsgebiet mit der Begründung entzogen wurde, dass sein Verhalten eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr für die nationale Sicherheit darstelle, und dass der Erlass eines Verbots der Einreise in das und des Aufenthalts im Unionsgebiet gegen ihn auf denselben Grund gestützt wurde.
67 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass die Mitgliedstaaten unter bestimmten Voraussetzungen bei einem Familienangehörigen eines Unionsbürgers im Sinne von Rn. 58 des vorliegenden Urteils von dem sich aus Art. 20 AEUV ergebenden abgeleiteten Aufenthaltsrecht abweichen können, um die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung oder den Schutz der öffentlichen Sicherheit zu gewährleisten. Dies kann der Fall sein, wenn der Drittstaatsangehörige eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr für die öffentliche Ordnung oder die öffentliche oder nationale Sicherheit darstellt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 8. Mai 2018, K.A. u. a. [Familienzusammenführung in Belgien], C‑82/16, EU:C:2018:308, Rn. 92 und die dort angeführte Rechtsprechung).
68 Wie der Generalanwalt in Nr. 103 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, darf eine solche Abweichung jedoch nicht allein auf die Vorstrafen des betreffenden Drittstaatsangehörigen gestützt werden. Sie kann sich gegebenenfalls nur aus einer konkreten Beurteilung sämtlicher relevanter Umstände des konkreten Falles – im Licht des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit, der Grundrechte, deren Beachtung der Gerichtshof sichert, u. a. des Wohles des minderjährigen Kindes, das Unionsbürger ist – ergeben. So kann die zuständige nationale Behörde u. a. die Schwere der begangenen Straftaten und den Schweregrad der entsprechenden Verurteilungen sowie die Zeitspanne berücksichtigen, die zwischen diesen Verurteilungen und der von ihr getroffenen Entscheidung liegt. Ergibt sich das Abhängigkeitsverhältnis zwischen dem Drittstaatsangehörigen und einem minderjährigen Unionsbürger daraus, dass zwischen ihnen ein Eltern-Kind-Verhältnis besteht, sind auch das Alter und der Gesundheitszustand sowie die familiäre und wirtschaftliche Situation dieses minderjährigen Unionsbürgers zu berücksichtigen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 5. Mai 2022, Subdelegación del Gobierno en Toledo [Aufenthalt eines Familienangehörigen – Unzureichende Existenzmittel], C‑451/19 und C‑532/19, EU:C:2022:354, Rn. 53 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).
69 Steht fest, dass zwischen dem betroffenen Drittstaatsangehörigen und seinem Familienangehörigen, der Unionsbürger ist, ein Abhängigkeitsverhältnis der in Rn. 61 des vorliegenden Urteils beschriebenen Art besteht, so kann der betreffende Mitgliedstaat diesem Drittstaatsangehörigen die Einreise in das und den Aufenthalt im Unionsgebiet aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder der nationalen Sicherheit daher nur unter Berücksichtigung aller relevanten Umstände, darunter das Wohl von dessen minderjährigem Kind, das Unionsbürger ist, verbieten.
70 Nach alledem verwehrt es Art. 20 AEUV einem Mitgliedstaat, gegen einen Drittstaatsangehörigen, der Familienangehöriger eines Unionsbürgers ist, der Staatsangehöriger dieses Mitgliedstaats ist und noch nie von seiner Freizügigkeit Gebrauch gemacht hat, ein Verbot der Einreise in das Unionsgebiet zu erlassen, ohne zuvor geprüft zu haben, ob zwischen diesen Personen ein Abhängigkeitsverhältnis besteht, das den Unionsbürger de facto zwingen würde, das Gebiet der Union als Ganzes zu verlassen, um diesen Familienangehörigen zu begleiten, und, wenn dies bejaht wird, ob die Gründe, aus denen das Einreiseverbot erlassen wurde, es erlauben, vom abgeleiteten Aufenthaltsrecht dieses Drittstaatsangehörigen abzuweichen.
– Zur Richtlinie 2008/115
71 Erstens ist zu prüfen, ob ein Einreiseverbot für das gesamte Unionsgebiet, das ein Mitgliedstaat gegen einen Drittstaatsangehörigen erlässt, in den Anwendungsbereich der Richtlinie 2008/115 fällt, wenn es, wie im vorliegenden Fall, ergeht, nachdem der Drittstaatsangehörige das Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats verlassen hat, ohne dass eine ihn betreffende Rückkehrentscheidung erlassen worden wäre.
72 Insoweit geht erstens aus dem zweiten Erwägungsgrund der Richtlinie 2008/115 hervor, dass mit dieser eine wirksame Rückkehr- und Rückübernahmepolitik festgelegt werden soll, die auf gemeinsamen Normen beruht, die gewährleisten, dass die betreffenden Personen unter vollständiger Achtung der Grundrechte auf menschenwürdige Weise zurückgeführt werden. Wie sich sowohl aus ihrem Titel als auch aus ihrem Art. 1 ergibt, werden durch diese Richtlinie „gemeinsame Normen und Verfahren“ geschaffen, die von jedem Mitgliedstaat bei der Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger anzuwenden sind (Urteil vom 8. Mai 2018, K.A. u. a. [Familienzusammenführung in Belgien], C‑82/16, EU:C:2018:308, Rn. 100 und die dort angeführte Rechtsprechung).
73 Vorbehaltlich der in Art. 2 Abs. 2 der Richtlinie 2008/115 vorgesehenen Ausnahmen, die in einem Fall wie dem des Ausgangsverfahrens nicht anwendbar zu sein scheinen, findet diese Richtlinie auf alle illegal im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats aufhältigen Drittstaatsangehörigen Anwendung. Wenn ein Drittstaatsangehöriger in den Anwendungsbereich dieser Richtlinie fällt, ist er grundsätzlich den darin vorgesehenen gemeinsamen Normen und Verfahren im Hinblick auf seine Rückführung zu unterwerfen, sofern sein Aufenthalt nicht gegebenenfalls legalisiert wurde (Urteil vom 22. November 2022, Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid [Abschiebung – Medizinisches Cannabis], C‑69/21, EU:C:2022:913, Rn. 52 und die dort angeführte Rechtsprechung).
74 Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 wiederum sieht vor, dass dann, wenn die Illegalität des Aufenthalts erwiesen ist, gegenüber jedem Drittstaatsangehörigen unbeschadet der Ausnahmen nach Art. 6 Abs. 2 bis 5 unter strikter Einhaltung der in Art. 5 der Richtlinie festgelegten Anforderungen eine Rückkehrentscheidung ergehen muss, in der unter den in Art. 3 Nr. 3 der Richtlinie genannten Drittländern dasjenige anzugeben ist, in das dieser Drittstaatsangehörige abzuschieben ist (Urteil vom 22. November 2022, Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid [Abschiebung – Medizinisches Cannabis], C‑69/21, EU:C:2022:913, Rn. 53 und die dort angeführte Rechtsprechung).
75 Aus Art. 6 Abs. 2 der Richtlinie 2008/115 geht jedoch hervor, dass einem Drittstaatsangehörigen, der sich illegal im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats aufhält, aber über ein Recht auf Aufenthalt in einem anderen Mitgliedstaat verfügt, die Möglichkeit gegeben werden muss, sich in den zuletzt genannten Mitgliedstaat zu begeben, statt ihm gegenüber von vornherein eine Rückkehrentscheidung zu erlassen, es sei denn, die öffentliche Ordnung oder die nationale Sicherheit erfordern dies (Urteil vom 24. Februar 2021, M u. a. [Überstellung in einen Mitgliedstaat], C‑673/19, EU:C:2021:127, Rn. 35).
76 Schließlich müssen die Mitgliedstaaten nach Art. 11 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 ein Einreiseverbot erlassen, wenn der Drittstaatsangehörige, gegen den eine Rückkehrentscheidung ergangen ist, seiner Rückkehrverpflichtung nicht nachgekommen ist oder wenn ihm keine Frist für die freiwillige Ausreise eingeräumt worden ist, was nach Art. 7 Abs. 4 dieser Richtlinie der Fall sein kann, wenn die betreffende Person eine Gefahr für die öffentliche Ordnung, die öffentliche Sicherheit oder die nationale Sicherheit darstellt (Urteil vom 8. Mai 2018, K.A. u. a. [Familienzusammenführung in Belgien], C‑82/16, EU:C:2018:308, Rn. 86). Für andere Fälle ergibt sich aus Art. 11 Abs. 1, dass die Mitgliedstaaten eine Rückkehrentscheidung mit einem solchen Einreiseverbot verbinden können.
77 Aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs geht hervor, dass ein mögliches Einreiseverbot ein Mittel bildet, um die Effizienz der Rückkehrpolitik der Union zu erhöhen. Denn es gewährleistet, dass ein illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger nach seiner Abschiebung während eines bestimmten Zeitraums nicht legal in das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten zurückkehren kann (Urteil vom 17. September 2020, JZ [Freiheitsstrafe bei Verstoß gegen ein Einreiseverbot], C‑806/18, EU:C:2020:724, Rn. 32).
78 Zweitens bedeutet der Umstand, dass, wie im vorliegenden Fall, gegen einen Drittstaatsangehörigen ein Einreiseverbot erlassen worden ist, ohne dass er zuvor Adressat einer Rückkehrentscheidung gewesen wäre, nicht zwangsläufig, dass dieses Einreiseverbot nicht in den Anwendungsbereich der Richtlinie 2008/115 fällt.
79 Zwar ergibt sich aus Art. 3 Nr. 6 und Art. 11 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115, dass der Erlass eines Einreiseverbots gegen einen Drittstaatsangehörigen grundsätzlich nicht denkbar ist, ohne dass gegen diesen Drittstaatsangehörigen eine Rückkehrentscheidung ergangen ist.
80 Im vorliegenden Fall geht jedoch aus der Vorlageentscheidung hervor, dass die Entscheidung, mit der Ungarn M. D. die Einreise in das Unionsgebiet mit der Begründung untersagte, dass sein Verhalten eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr für die nationale Sicherheit dieses Mitgliedstaats darstelle, im Anschluss an die Entscheidung erlassen wurde, mit der dieser Mitgliedstaat ihm aus demselben Grund sein Recht zum Aufenthalt im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats entzogen hatte.
81 Aus dem Wortlaut von Art. 6 Abs. 2 der Richtlinie 2008/115 selbst ergibt sich aber, dass in einem solchen Fall der Mitgliedstaat, in dem sich der Drittstaatsangehörige illegal aufhält, verpflichtet ist, diesem gegenüber eine Rückkehrentscheidung zu erlassen, selbst wenn der Drittstaatsangehörige über ein Recht zum Aufenthalt in einem anderen Mitgliedstaat verfügt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 16. Januar 2018, E, C‑240/17, EU:C:2018:8, Rn. 48).
82 Insoweit ist unerheblich, dass, wie die ungarische Regierung geltend gemacht hat, das Fehlen einer solchen Rückkehrentscheidung im vorliegenden Fall durch die Komplexität des durch die nationale Regelung eingeführten Entscheidungsprozesses zu erklären ist. Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs kann sich ein Mitgliedstaat nämlich nicht auf Bestimmungen, Übungen oder Umstände seiner internen Rechtsordnung berufen, um die Nichteinhaltung seiner aus dem Unionsrecht folgenden Verpflichtungen zu rechtfertigen (Urteile vom 8. September 2010, Carmen Media Group, C‑46/08, EU:C:2010:505, Rn. 69, und vom 25. Februar 2021, Kommission/Spanien [Richtlinie über personenbezogene Daten – Strafrechtlicher Bereich], C‑658/19, EU:C:2021:138, Rn. 19 und die dort angeführte Rechtsprechung).
83 Daher liefe es dem Ziel und der allgemeinen Systematik der Richtlinie 2008/115 zuwider, nähme man an, dass ein gegen einen Drittstaatsangehörigen aus Gründen des Schutzes der nationalen Sicherheit erlassenes Verbot der Einreise in das Unionsgebiet deshalb nicht in den Anwendungsbereich dieser Richtlinie fällt, weil gegen diesen Drittstaatsangehörigen nicht zuvor eine Rückkehrentscheidung ergangen ist.
84 Ginge man in einem solchen Fall davon aus, dass die Richtlinie 2008/115 auf ein solches Einreiseverbot keine Anwendung findet, würden diesem Drittstaatsangehörigen in unzulässiger Weise die materiell- und verfahrensrechtlichen Garantien vorenthalten, die die Mitgliedstaaten nach dieser Richtlinie zu beachten haben, wenn sie beabsichtigen, ein solches Einreiseverbot zu erlassen.
85 Dieses Ergebnis wird durch das Urteil vom 3. Juni 2021, Westerwaldkreis (C‑546/19, EU:C:2021:432), nicht in Frage gestellt, da sich die Situation in der Rechtssache, in der jenes Urteil ergangen ist, von der hier im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Situation unterscheidet. Das in jenem Urteil in Rede stehende Einreiseverbot war nämlich aufrechterhalten worden, obwohl die damit einhergehende Rückkehrentscheidung aufgehoben worden war.
86 Drittens genügt auch der Umstand, dass ein Drittstaatsangehöriger zu dem Zeitpunkt, zu dem gegen ihn ein Einreise- und Aufenthaltsverbot erlassen wurde, nicht mehr illegal im Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats, der diese Entscheidung erlassen hat, aufhältig war, nicht, um dieses Einreiseverbot vom Anwendungsbereich der Richtlinie 2008/115 auszunehmen.
87 Zum einen soll nämlich, wie in Rn. 77 des vorliegenden Urteils ausgeführt, ein solches Verbot den betreffenden Drittstaatsangehörigen daran hindern, nach Verlassen des Unionsgebiets in dieses zurückzukehren. Zum anderen erlaubt Art. 6 Abs. 6 der Richtlinie 2008/115 zwar, dass gleichzeitig eine Rückkehrentscheidung ergeht und ein Einreiseverbot erlassen wird, doch verpflichtet er keineswegs dazu. Ein Einreiseverbot fällt somit nicht allein deshalb aus dem Anwendungsbereich dieser Richtlinie heraus, weil es nach der Ausreise des Drittstaatsangehörigen aus dem Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats erlassen wird.
88 Daher ist festzustellen, dass ein Einreiseverbot wie das im Ausgangsverfahren in Rede stehende als Einreiseverbot im Sinne von Art. 11 der Richtlinie 2008/115 anzusehen ist und dass beim Erlass eines solchen Einreiseverbots die in dieser Richtlinie vorgesehenen Garantien zu beachten sind.
89 Zweitens verpflichtet Art. 5 der Richtlinie 2008/115 – der eine allgemeine Regel darstellt, die für die Mitgliedstaaten verbindlich ist, sobald sie diese Richtlinie umsetzen (Urteil vom 22. November 2022, Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid [Abschiebung – Medizinisches Cannabis], C‑69/21, EU:C:2022:913, Rn. 55) – die Mitgliedstaaten, das Wohl des Kindes, die familiären Bindungen und den Gesundheitszustand des betreffenden Drittstaatsangehörigen gebührend zu berücksichtigen. Diese Verpflichtung besteht für die Mitgliedstaaten daher auch, wenn sie beabsichtigen, ein Einreiseverbot im Sinne von Art. 11 der Richtlinie zu erlassen.
90 Ferner ist klarzustellen, dass die Mitgliedstaaten gemäß diesem Art. 5 vor Erlass eines Einreiseverbots das Wohl des Kindes in gebührender Weise zu berücksichtigen haben, selbst wenn es sich beim Adressaten der Entscheidung nicht um einen Minderjährigen, sondern um dessen Vater handelt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 11. März 2021, État belge [Rückkehr des Elternteils eines Minderjährigen], C‑112/20, EU:C:2021:197, Rn. 43).
91 Folglich steht dieser Art. 5 dem Erlass eines Einreiseverbots im Sinne von Art. 11 der Richtlinie 2008/115 gegen einen Drittstaatsangehörigen entgegen, wenn nicht zuvor dessen Gesundheitszustand sowie gegebenenfalls seine familiären Bindungen und das Wohl seines minderjährigen Kindes berücksichtigt worden sind.
92 Nach alledem sind die erste und die zweite Frage wie folgt zu beantworten:
–
Art. 20 AEUV ist dahin auszulegen, dass er es einem Mitgliedstaat verwehrt, gegen einen Drittstaatsangehörigen, der Familienangehöriger eines Unionsbürgers ist, der Staatsangehöriger dieses Mitgliedstaats ist und noch nie von seiner Freizügigkeit Gebrauch gemacht hat, ein Verbot der Einreise in das Unionsgebiet zu erlassen, ohne zuvor geprüft zu haben, ob zwischen diesen Personen ein Abhängigkeitsverhältnis besteht, das den Unionsbürger de facto zwingen würde, das Gebiet der Union als Ganzes zu verlassen, um diesen Familienangehörigen zu begleiten, und, wenn dies bejaht wird, ob die Gründe, aus denen das Einreiseverbot erlassen wurde, es erlauben, vom abgeleiteten Aufenthaltsrecht dieses Drittstaatsangehörigen abzuweichen;
–
Art. 5 der Richtlinie 2008/115 ist dahin auszulegen, dass er dem entgegensteht, dass gegen einen Drittstaatsangehörigen, gegen den eine Rückkehrentscheidung hätte ergehen müssen, unmittelbar im Anschluss an die Entscheidung, mit der ihm aus Gründen der nationalen Sicherheit sein Recht auf Aufenthalt im Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats entzogen wurde, aus denselben Gründen ein Verbot der Einreise in das Unionsgebiet erlassen wird, ohne dass zuvor sein Gesundheitszustand sowie gegebenenfalls seine familiären Bindungen und das Wohl seines minderjährigen Kindes berücksichtigt worden wären.
Zur dritten Frage
93 Mit seiner dritten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 20 AEUV sowie die Art. 5 und 13 der Richtlinie 2008/115 in Verbindung mit den Art. 20 und 47 der Charta dahin auszulegen sind, dass sich ein nationales Gericht, wenn es mit einer Klage gegen ein Einreiseverbot befasst ist, das gemäß einer nationalen Regelung erlassen wurde, die mit diesem Art. 5 unvereinbar ist, auf eine frühere nationale Regelung stützen kann, oder ob es dann verpflichtet ist, diesen Art. 5 unmittelbar anzuwenden.
94 Erstens kann sich der Einzelne nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs in all den Fällen, in denen die Bestimmungen einer Richtlinie inhaltlich unbedingt und hinreichend genau sind, vor nationalen Gerichten gegenüber dem Staat auf diese Bestimmungen berufen, wenn dieser die Richtlinie nicht fristgemäß oder nur unzulänglich in das nationale Recht umgesetzt hat (Urteile vom 5. Oktober 2004, Pfeiffer u. a., C‑397/01 bis C‑403/01, EU:C:2004:584, Rn. 103, und vom 8. März 2022, Bezirkshauptmannschaft Hartberg-Fürstenfeld [Unmittelbare Wirkung], C‑205/20, EU:C:2022:168, Rn. 17 und die dort angeführte Rechtsprechung).
95 Eine Unionsvorschrift ist zum einen unbedingt, wenn sie eine Verpflichtung normiert, die an keine Bedingung geknüpft ist und zu ihrer Durchführung oder Wirksamkeit auch keiner weiteren Maßnahmen der Unionsorgane oder der Mitgliedstaaten bedarf, und zum anderen hinreichend genau, um von einem Einzelnen geltend gemacht und vom Gericht angewandt zu werden, wenn sie in unzweideutigen Worten eine Verpflichtung festlegt. Außerdem kann eine Bestimmung einer Richtlinie auch dann, wenn die Richtlinie den Mitgliedstaaten einen gewissen Gestaltungsspielraum beim Erlass der Durchführungsvorschriften lässt, als unbedingt und genau angesehen werden, wenn sie den Mitgliedstaaten unmissverständlich eine Verpflichtung zur Erreichung eines bestimmten Ergebnisses auferlegt, die im Hinblick auf die Anwendung der dort aufgestellten Regel durch keinerlei Bedingungen eingeschränkt ist (Urteile vom 19. Januar 1982, Becker, 8/81, EU:C:1982:7, Rn. 25, und vom 8. März 2022, Bezirkshauptmannschaft Hartberg-Fürstenfeld [Unmittelbare Wirkung], C‑205/20, EU:C:2022:168, Rn. 18 und 19 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).
96 Im vorliegenden Fall beruht die Frage des vorlegenden Gerichts auf der Prämisse, dass der ungarische Gesetzgeber die in Art. 5 der Richtlinie 2008/115 vorgesehenen Garantien verkannt hat, indem er von der zuständigen nationalen Behörde nicht verlangt, den Gesundheitszustand des betreffenden Drittstaatsangehörigen sowie gegebenenfalls dessen familiäre Bindungen und das Wohl seines Kindes in gebührender Weise zu berücksichtigen, bevor er gegen diesen Drittstaatsangehörigen aus Gründen der nationalen Sicherheit ein Einreiseverbot erlässt.
97 Hierzu ist festzustellen, dass Art. 5 der Richtlinie 2008/115, soweit er die Mitgliedstaaten verpflichtet, diese Gesichtspunkte bei der Umsetzung dieser Richtlinie in gebührender Weise zu berücksichtigen, hinreichend genau und unbedingt ist, um anzunehmen, dass ihm unmittelbare Wirkung zukommt. Ein Einzelner kann sich daher auf diese Bestimmung berufen, und sie kann von den Verwaltungsbehörden und Gerichten der Mitgliedstaaten angewandt werden.
98 Insbesondere wenn ein Mitgliedstaat sein Ermessen durch den Erlass einer Regelung überschreitet, die nicht gewährleistet, dass die zuständige nationale Behörde den Gesundheitszustand des betreffenden Drittstaatsangehörigen sowie gegebenenfalls dessen familiäre Bindungen und das Wohl seines Kindes in gebührender Weise berücksichtigt, muss sich dieser Drittstaatsangehörige gegenüber einer solchen Regelung unmittelbar auf Art. 5 der Richtlinie berufen können (vgl. entsprechend Urteil vom 8. März 2022, Bezirkshauptmannschaft Hartberg-Fürstenfeld [Unmittelbare Wirkung], C‑205/20, EU:C:2022:168, Rn. 30).
99 Zweitens ist darauf hinzuweisen, dass der Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts zur Gewährleistung der Wirksamkeit sämtlicher Bestimmungen des Unionsrechts u. a. den nationalen Gerichten auferlegt, ihr nationales Recht so weit wie möglich unionsrechtskonform auszulegen. Allerdings hat die Verpflichtung zur unionsrechtskonformen Auslegung des nationalen Rechts bestimmte Grenzen und darf insbesondere nicht als Grundlage für eine Auslegung contra legem des nationalen Rechts dienen (Urteile vom 16. Juni 2005, Pupino, C‑105/03, EU:C:2005:386, Rn. 47, und vom 8. März 2022, Bezirkshauptmannschaft Hartberg-Fürstenfeld [Unmittelbare Wirkung], C‑205/20, EU:C:2022:168, Rn. 35 und 36 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).
100 Es ist auch darauf hinzuweisen, dass ein nationales Gericht, das im Rahmen seiner Zuständigkeit die Bestimmungen des Unionsrechts anzuwenden hat und eine nationale Regelung nicht im Einklang mit den Anforderungen des Unionsrechts auslegen kann, nach dem Grundsatz des Vorrangs verpflichtet ist, für die volle Wirksamkeit der Anforderungen des Unionsrechts in dem bei ihm anhängigen Rechtsstreit Sorge zu tragen, indem es erforderlichenfalls jede – auch spätere – nationale Regelung oder Praxis, die einer Bestimmung des Unionsrechts mit unmittelbarer Wirkung entgegensteht, aus eigener Entscheidungsbefugnis unangewendet lässt, ohne dass es die vorherige Beseitigung dieser nationalen Regelung oder Praxis auf gesetzgeberischem Weg oder durch irgendein anderes verfassungsrechtliches Verfahren beantragen oder abwarten müsste (Urteile vom 24. Juni 2019, Popławski, C‑573/17, EU:C:2019:530, Rn. 58 und 61, sowie vom 8. März 2022, Bezirkshauptmannschaft Hartberg-Fürstenfeld [Unmittelbare Wirkung], C‑205/20, EU:C:2022:168, Rn. 37 und die dort angeführte Rechtsprechung).
101 Wenn sich ein Einzelner vor einem nationalen Gericht gegenüber einem Mitgliedstaat, der Art. 5 der Richtlinie 2008/115 nicht ordnungsgemäß umgesetzt hat, auf diese Bestimmung beruft, obliegt es diesem Gericht daher, für die volle Wirksamkeit dieser Bestimmung des Unionsrechts, der unmittelbare Wirkung zukommt, Sorge zu tragen und, wenn es die nationale Regelung nicht im Einklang mit diesem Art. 5 auslegen kann, diejenigen nationalen Bestimmungen, die mit diesem Art. 5 unvereinbar sind, aus eigener Entscheidungsbefugnis unangewendet zu lassen.
102 Um die volle Wirksamkeit der Verpflichtung zur gebührenden Berücksichtigung des Gesundheitszustands des betreffenden Drittstaatsangehörigen sowie gegebenenfalls seiner familiären Bindungen und des Kindeswohls zu gewährleisten, hat das nationale Gericht, das mit einer Klage gegen ein Einreiseverbot befasst ist, das auf der Grundlage einer nationalen Regelung erlassen wurde, die nicht in einer Weise ausgelegt werden kann, dass sie mit den Anforderungen von Art. 5 der Richtlinie 2008/115 in Einklang steht, zu prüfen, ob es sich darauf beschränken kann, nur den Teil dieser Regelung unangewendet zu lassen, aus dem die Unmöglichkeit folgen würde, diese Anforderungen gebührend zu berücksichtigen. Andernfalls wäre das nationale Gericht verpflichtet, diese Regelung insgesamt unangewendet zu lassen und seine Entscheidung unmittelbar auf Art. 5 zu stützen.
103 Dagegen kann die Art. 5 der Richtlinie 2008/115 zuerkannte unmittelbare Wirkung ein nationales Gericht, das eine gegen diesen Art. 5 verstoßende nationale Regelung unangewendet gelassen hat, nicht dazu verpflichten, eine frühere nationale Regelung anzuwenden, die zusätzliche Garantien zu den sich aus Art. 5 ergebenden Garantien gewähren würde.
104 Nach alledem ist Art. 5 der Richtlinie 2008/115 dahin auszulegen, dass ein nationales Gericht, wenn es mit einer Klage gegen ein Einreiseverbot befasst ist, das gemäß einer nationalen Regelung erlassen wurde, die mit diesem Art. 5 unvereinbar ist und die nicht richtlinienkonform ausgelegt werden kann, diese Regelung unangewendet lassen muss, soweit sie gegen diese Bestimmung verstößt, und, wenn dies zur Gewährleistung der vollen Wirksamkeit dieser Bestimmung erforderlich ist, diese unmittelbar auf den bei ihm anhängigen Rechtsstreit anwenden muss.
Zur vierten Frage
105 Mit seiner vierten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 13 der Richtlinie 2008/115 in Verbindung mit Art. 47 der Charta dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Praxis entgegensteht, nach der die Verwaltungsbehörden eines Mitgliedstaats die Anwendung einer rechtskräftigen gerichtlichen Entscheidung, mit der die Aussetzung der Vollstreckung eines Einreiseverbots angeordnet wird, mit der Begründung verweigern, dass bezüglich dieses Einreiseverbots bereits eine Ausschreibung in das SIS eingegeben worden sei.
106 Im vorliegenden Fall geht insbesondere aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten hervor, dass das vorlegende Gericht am 31. März 2021 die Aussetzung der Vollstreckung des im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Einreise- und Aufenthaltsverbots angeordnet hat, und zwar sowohl wegen seiner Absicht, dem Gerichtshof ein Vorabentscheidungsersuchen vorzulegen, als auch wegen der nachteiligen Folgen der Vollstreckung dieses Verbots für M. D. sowie für dessen minderjähriges Kind und seine Lebensgefährtin.
107 Nach dieser einleitenden Klarstellung ist erstens darauf hinzuweisen, dass der betroffene Drittstaatsangehörige nach Art. 13 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 über einen wirksamen Rechtsbehelf verfügt, um u. a. die Rechtmäßigkeit des gegen ihn erlassenen Einreiseverbots in Frage zu stellen. Nach Abs. 2 dieses Art. 13 muss es der zuständigen Behörde oder dem zuständigen Gremium, die bzw. das mit einem solchen Rechtsbehelf befasst ist, möglich sein, die Vollstreckung eines solchen Einreiseverbots einstweilig auszusetzen, sofern eine solche Aussetzung nicht bereits im Rahmen der einzelstaatlichen Rechtsvorschriften anwendbar ist.
108 Somit verlangt Art. 13 Abs. 2 der Richtlinie 2008/115 zwar nicht, dass ein Rechtsbehelf gegen ein Einreiseverbot aufschiebende Wirkung haben müsste, doch muss, wenn ein Mitgliedstaat eine solche Aussetzung kraft Gesetzes nicht vorsieht, die für die Prüfung dieses Rechtsbehelfs zuständige Behörde oder das dafür zuständige Gremium über die Möglichkeit verfügen, die Vollstreckung dieses Verbots auszusetzen (vgl. in diesem Sinne Beschluss vom 5. Mai 2021, CPAS de Liège, C‑641/20, nicht veröffentlicht, EU:C:2021:374, Rn. 22).
109 Es liefe der praktischen Wirksamkeit dieser Bestimmung zuwider, wenn es einer Verwaltungsbehörde gestattet wäre, die Anwendung einer Entscheidung zu verweigern, mit der ein Gericht, das mit einem Rechtsbehelf gegen ein Einreiseverbot befasst ist, die Vollstreckung dieses Verbots ausgesetzt hat (vgl. entsprechend Urteil vom 29. Juli 2019, Torubarov, C‑556/17, EU:C:2019:626, Rn. 55 bis 59 und 66). Im Übrigen wäre das in Art. 47 der Charta verankerte und in Art. 13 der Richtlinie 2008/115 konkretisierte Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf illusorisch, wenn die Rechtsordnung eines Mitgliedstaats es zuließe, dass eine endgültige und bindende gerichtliche Entscheidung zum Nachteil einer Partei wirkungslos bleibt (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 19. Juni 2018, Gnandi, C‑181/16, EU:C:2018:465, Rn. 52, und vom 19. Dezember 2019, Deutsche Umwelthilfe, C‑752/18, EU:C:2019:1114, Rn. 35 und 36).
110 Der Umstand, dass der betreffende Mitgliedstaat bezüglich des im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Einreise- und Aufenthaltsverbots bereits eine Ausschreibung in das SIS eingegeben hat, kann die in der vorstehenden Randnummer gezogene Schlussfolgerung nicht entkräften. Nach Art. 34 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1987/2006 steht es diesem Mitgliedstaat nämlich frei, in das SIS eingegebene Daten zu löschen, u. a. nachdem eine gerichtliche Entscheidung ergangen ist, mit der die Vollstreckung des Einreiseverbots, das die Ausschreibung rechtfertigte, ausgesetzt wurde.
111 Außerdem erfordert die volle Wirksamkeit des Unionsrechts nach ständiger Rechtsprechung, dass ein mit einem nach Unionsrecht zu beurteilenden Rechtsstreit befasstes Gericht einstweilige Anordnungen erlassen kann, um die volle Wirksamkeit der späteren Gerichtsentscheidung sicherzustellen, wenn es beschließt, den Gerichtshof um Vorabentscheidung zu ersuchen. Folglich wäre die Wirksamkeit des mit Art. 267 AEUV geschaffenen Systems beeinträchtigt, wenn die Verbindlichkeit dieser einstweiligen Anordnungen insbesondere von einer Behörde des Mitgliedstaats, in dem diese Anordnungen ergangen sind, missachtet werden könnte (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. Oktober 2021, W.Ż. [Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten des Obersten Gerichts – Ernennung], C‑487/19, EU:C:2021:798, Rn. 142).
112 Nach alledem ist Art. 13 der Richtlinie 2008/115 in Verbindung mit Art. 47 der Charta dahin auszulegen, dass er einer nationalen Praxis entgegensteht, nach der die Verwaltungsbehörden eines Mitgliedstaats die Anwendung einer rechtskräftigen gerichtlichen Entscheidung, mit der die Aussetzung der Vollstreckung eines Einreiseverbots angeordnet wird, mit der Begründung verweigern, dass bezüglich dieses Einreiseverbots bereits eine Ausschreibung in das SIS eingegeben worden sei.
Kosten
113 Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Vierte Kammer) für Recht erkannt:
1. Art. 20 AEUV ist dahin auszulegen, dass
er es einem Mitgliedstaat verwehrt, gegen einen Drittstaatsangehörigen, der Familienangehöriger eines Unionsbürgers ist, der Staatsangehöriger dieses Mitgliedstaats ist und noch nie von seiner Freizügigkeit Gebrauch gemacht hat, ein Verbot der Einreise in das Gebiet der Europäischen Union zu erlassen, ohne zuvor geprüft zu haben, ob zwischen diesen Personen ein Abhängigkeitsverhältnis besteht, das den Unionsbürger de facto zwingen würde, das Gebiet der Union als Ganzes zu verlassen, um diesen Familienangehörigen zu begleiten, und, wenn dies bejaht wird, ob die Gründe, aus denen das Einreiseverbot erlassen wurde, es erlauben, vom abgeleiteten Aufenthaltsrecht dieses Drittstaatsangehörigen abzuweichen.
2. Art. 5 der Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger
ist dahin auszulegen, dass
er dem entgegensteht, dass gegen einen Drittstaatsangehörigen, gegen den eine Rückkehrentscheidung hätte ergehen müssen, unmittelbar im Anschluss an die Entscheidung, mit der ihm aus Gründen der nationalen Sicherheit sein Recht auf Aufenthalt im Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats entzogen wurde, aus denselben Gründen ein Verbot der Einreise in das Gebiet der Europäischen Union erlassen wird, ohne dass zuvor sein Gesundheitszustand sowie gegebenenfalls seine familiären Bindungen und das Wohl seines minderjährigen Kindes berücksichtigt worden wären.
3. Art. 5 der Richtlinie 2008/115 ist dahin auszulegen, dass
ein nationales Gericht, wenn es mit einer Klage gegen ein Einreiseverbot befasst ist, das gemäß einer nationalen Regelung erlassen wurde, die mit diesem Art. 5 unvereinbar ist und die nicht richtlinienkonform ausgelegt werden kann, diese Regelung unangewendet lassen muss, soweit sie gegen diese Bestimmung verstößt, und, wenn dies zur Gewährleistung der vollen Wirksamkeit dieser Bestimmung erforderlich ist, diese unmittelbar auf den bei ihm anhängigen Rechtsstreit anwenden muss.
4. Art. 13 der Richtlinie 2008/115 in Verbindung mit Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union
ist dahin auszulegen, dass
er einer nationalen Praxis entgegensteht, nach der die Verwaltungsbehörden eines Mitgliedstaats die Anwendung einer rechtskräftigen gerichtlichen Entscheidung, mit der die Aussetzung der Vollstreckung eines Einreiseverbots angeordnet wird, mit der Begründung verweigern, dass bezüglich dieses Einreiseverbots bereits eine Ausschreibung in das Schengener Informationssystem eingegeben worden sei.
Unterschriften
(*1) Verfahrenssprache: Ungarisch.
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Urteil des Gerichtshofs (Große Kammer) vom 8. Dezember 2022.#Orde van Vlaamse Balies u. a. gegen Vlaamse Regering.#Vorabentscheidungsersuchen des Grondwettelijk Hof.#Vorlage zur Vorabentscheidung – Zusammenarbeit der Verwaltungsbehörden im Bereich der Besteuerung – Verpflichtender automatischer Informationsaustausch über meldepflichtige grenzüberschreitende Gestaltungen – Richtlinie 2011/16/EU in der durch die Richtlinie (EU) 2018/822 geänderten Fassung – Art. 8ab Abs. 5 – Gültigkeit – Anwaltliches Berufsgeheimnis – Befreiung des dem Berufsgeheimnis unterliegenden Rechtsanwalt‑Intermediärs von der Meldepflicht – Pflicht dieses Rechtsanwalt‑Intermediärs, andere Intermediäre, die nicht seine Mandanten sind, über die ihnen obliegenden Meldepflichten zu unterrichten – Art. 7 und 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union.#Rechtssache C-694/20.
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62020CJ0694
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ECLI:EU:C:2022:963
| 2022-12-08T00:00:00 |
Gerichtshof, Rantos
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Sammlung der Rechtsprechung – allgemein
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62020CJ0694
URTEIL DES GERICHTSHOFS (Große Kammer)
8. Dezember 2022 (*1) (i
)
„Vorlage zur Vorabentscheidung – Zusammenarbeit der Verwaltungsbehörden im Bereich der Besteuerung – Verpflichtender automatischer Informationsaustausch über meldepflichtige grenzüberschreitende Gestaltungen – Richtlinie 2011/16/EU in der durch die Richtlinie (EU) 2018/822 geänderten Fassung – Art. 8ab Abs. 5 – Gültigkeit – Anwaltliches Berufsgeheimnis – Befreiung des dem Berufsgeheimnis unterliegenden Rechtsanwalt‑Intermediärs von der Meldepflicht – Pflicht dieses Rechtsanwalt‑Intermediärs, andere Intermediäre, die nicht seine Mandanten sind, über die ihm obliegenden Meldepflichten zu unterrichten – Art. 7 und 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union“
In der Rechtssache C‑694/20
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Grondwettelijk Hof (Verfassungsgerichtshof, Belgien) mit Entscheidung vom 17. Dezember 2020, beim Gerichtshof eingegangen am 21. Dezember 2020, in dem Verfahren
Orde van Vlaamse Balies,
IG,
Belgian Association of Tax Lawyers,
CD,
JU
gegen
Vlaamse Regering
erlässt
DER GERICHTSHOF (Große Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten K. Lenaerts, des Vizepräsidenten L. Bay Larsen, des Kammerpräsidenten A. Arabadjiev, der Kammerpräsidentinnen A. Prechal und K. Jürimäe, des Kammerpräsidenten P. G. Xuereb, der Kammerpräsidentin L. S. Rossi und des Kammerpräsidenten D. Gratsias sowie der Richter F. Biltgen, N. Piçarra, I. Jarukaitis, N. Jääskinen und N. Wahl, der Richterin I. Ziemele und des Richters J. Passer (Berichterstatter),
Generalanwalt: A. Rantos,
Kanzler: M. Ferreira, Hauptverwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 25. Januar 2022,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
–
des Orde van Vlaamse Balies und IG, vertreten durch S. Eskenazi und P. Wouters, Advocaten,
–
der Belgian Association of Tax Lawyers, CD und JU, vertreten durch P. Malherbe, Avocat, und P. Verhaeghe, Advocaat,
–
der belgischen Regierung, vertreten durch S. Baeyens, J.‑C. Halleux und C. Pochet als Bevollmächtigte im Beistand von M. Delanote, Advocaat,
–
der tschechischen Regierung, vertreten durch J. Očková, M. Smolek und J. Vláčil als Bevollmächtigte,
–
der französischen Regierung, vertreten durch R. Bénard, A.‑L. Desjonquères, E. de Moustier und É. Toutain als Bevollmächtigte,
–
der lettischen Regierung, vertreten durch J. Davidoviča, I. Hūna und K. Pommere als Bevollmächtigte,
–
des Rates der Europäischen Union, vertreten durch E. Chatziioakeimidou, I. Gurov und S. Van Overmeire als Bevollmächtigte,
–
der Europäischen Kommission, vertreten durch W. Roels und P. Van Nuffel als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 5. April 2022
folgendes
Urteil
1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Gültigkeit von Art. 8ab Abs. 5 der Richtlinie 2011/16/EU des Rates vom 15. Februar 2011 über die Zusammenarbeit der Verwaltungsbehörden im Bereich der Besteuerung und zur Aufhebung der Richtlinie 77/799/EWG (ABl. 2011, L 64, S. 1) in der durch die Richtlinie (EU) 2018/822 des Rates vom 25. Mai 2018 (ABl. 2018, L 139, S. 1) geänderten Fassung (im Folgenden: geänderte Richtlinie 2011/16) im Hinblick auf die Art. 7 und 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta).
2 Es ergeht im Rahmen von Rechtsstreitigkeiten zwischen dem Orde van Vlaamse Balies (Kammer der flämischen Rechtsanwaltschaften), der Belgian Association of Tax Lawyers, einem Berufsverband von Rechtsanwälten, sowie von IG, CD und JU, drei Anwälten, auf der einen Seite und der Vlaamse Regering (Flämische Regierung, Belgien) auf der anderen Seite über die Gültigkeit einiger Bestimmungen der flämischen Regelung über die Zusammenarbeit der Verwaltungsbehörden im Bereich der Besteuerung.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Richtlinie 2011/16
3 Die Richtlinie 2011/16 führt ein System der Zusammenarbeit zwischen den nationalen Steuerbehörden der Mitgliedstaaten ein und legt die Regeln und Verfahren fest, die beim Informationsaustausch für steuerliche Zwecke anzuwenden sind.
Richtlinie 2018/822
4 Die Richtlinie 2011/16 wurde mehrfach geändert, u. a. durch die Richtlinie 2018/822. Mit dieser Richtlinie wurde eine Meldepflicht in Bezug auf potenziell aggressive grenzüberschreitende Steuerplanungsgestaltungen bei den zuständigen Behörden eingeführt. In den Erwägungsgründen 2, 4, 6, 8, 9 und 18 der Richtlinie 2018/822 heißt es:
„(2)
Für die Mitgliedstaaten wird es immer schwieriger, ihre nationalen Steuerbemessungsgrundlagen gegen Aushöhlung zu schützen, da die Steuerplanungsstrukturen immer ausgefeilter werden und sich häufig die höhere Mobilität von Kapital und Personen im Binnenmarkt zunutze machen. … Es ist daher von entscheidender Bedeutung, dass die Steuerbehörden der Mitgliedstaaten umfassende und relevante Informationen über potenziell aggressive Steuergestaltungen erhalten. Diese Informationen würden die Behörden in die Lage versetzen, zeitnah gegen schädliche Steuerpraktiken vorzugehen und Schlupflöcher durch den Erlass von Rechtsvorschriften oder durch die Durchführung geeigneter Risikoabschätzungen sowie durch Steuerprüfungen zu schließen. …
…
(4) In Anerkennung der Tatsache, dass ein transparenter Rahmen für die Entwicklung unternehmerischer Tätigkeit zur Bekämpfung von Steuervermeidung und Steuerhinterziehung im Binnenmarkt beitragen kann, wurde die [Europäische] Kommission ersucht, Initiativen zur verpflichtenden Offenlegung von Informationen zu potenziell aggressiven Steuerplanungsgestaltungen entsprechend dem Aktionspunkt 12 des [Projekts der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD)] zu Gewinnverkürzung und Gewinnverlagerung (BEPS) einzuleiten. In diesem Zusammenhang hat das Europäische Parlament zu strengeren Maßnahmen gegen Intermediäre aufgerufen, die an Gestaltungen mitwirken, die zu Steuervermeidung und Steuerhinterziehung führen können. Ferner ist darauf hinzuweisen, dass die OECD in der Erklärung der G7 von Bari vom 13. Mai 2017 über die Bekämpfung von Steuerkriminalität und sonstigen illegalen Finanzströmen aufgefordert wurde, mit der Erörterung der Möglichkeiten zur Bekämpfung von Gestaltungen zu beginnen, die dazu dienen, die Meldung im Rahmen des gemeinsamen Meldestandards zu umgehen, oder die darauf abzielen, wirtschaftlichen Eigentümern den Schutz durch nicht transparente Strukturen zu gewähren, auch unter Berücksichtigung von Mustervorschriften für verbindliche Offenlegungsregelungen auf Grundlage des Ansatzes zu Vermeidungsgestaltungen, der im Bericht über den Aktionspunkt 12 des BEPS-Projekts dargelegt ist.
…
(6) Die Meldung potenziell aggressiver grenzüberschreitender Steuerplanungsgestaltungen kann die Bemühungen zur Schaffung einer gerechten Besteuerung im Binnenmarkt nachhaltig unterstützen. Hier würde die Verpflichtung der Intermediäre, die Steuerbehörden … zu informieren, … einen Schritt in die richtige Richtung darstellen. …
…
(8) Um das reibungslose Funktionieren des Binnenmarkts zu gewährleisten und Schlupflöcher in den vorgeschlagenen Rahmenvorschriften zu vermeiden, sollten alle Akteure, die normalerweise an der Konzeption, Vermarktung, Organisation oder Verwaltung der Umsetzung einer meldepflichtigen grenzüberschreitenden Transaktion oder einer Reihe solcher Transaktionen beteiligt sind, sowie alle, die Unterstützung oder Beratung leisten, zur Meldung verpflichtet sein. Es darf auch nicht außer Acht gelassen werden, dass in bestimmten Fällen die Meldepflicht eines Intermediärs aufgrund einer gesetzlichen Verschwiegenheitspflicht nicht durchsetzbar ist oder gar kein Intermediär vorhanden ist, weil beispielsweise der Steuerpflichtige eine Steuerplanungsgestaltung selbst konzipiert und umsetzt. Es wäre äußerst wichtig, dass die Steuerbehörden in solchen Fällen weiterhin die Möglichkeit haben, Informationen über Steuergestaltungen zu erhalten, die potenziell mit aggressiver Steuerplanung verbunden sind. Hierfür müsste die Meldepflicht auf den Steuerpflichtigen verlagert werden, der in diesen Fällen von der Gestaltung profitiert.
(9) Aggressive Steuerplanungsgestaltungen haben sich über Jahre hinweg entwickelt, sind immer komplexer geworden und unterliegen ständigen Änderungen und Anpassungen, mit denen auf Gegenmaßnahmen der Steuerbehörden reagiert wird. Angesichts dessen wäre es wirksamer, potenziell aggressive Steuerplanungsgestaltungen durch die Zusammenstellung einer Liste von Merkmalen und Elementen von Transaktionen zu erfassen, die stark auf Steuervermeidung oder Steuermissbrauch hindeuten, anstatt den Begriff der aggressiven Steuerplanung zu definieren. Diese Merkmale werden als ‚Kennzeichen‘ bezeichnet.
…
(18) Diese Richtlinie steht im Einklang mit den Grundrechten und Grundsätzen, die insbesondere mit der Charta … anerkannt wurden.“
Die geänderte Richtlinie 2011/16
5 Art. 3 („Begriffsbestimmungen“) der geänderten Richtlinie 2011/16 bestimmt:
„Für die Zwecke dieser Richtlinie bezeichnet der Ausdruck:
1. ‚zuständige Behörde‘ eines Mitgliedstaats die Behörde, die als solche von diesem Mitgliedstaat benannt worden ist. Ein zentrales Verbindungsbüro, eine Verbindungsstelle oder ein zuständiger Bediensteter, die gemäß dieser Richtlinie tätig werden, gelten bei Bevollmächtigung gemäß Artikel 4 ebenfalls als zuständige Behörde;
…
18. ‚grenzüberschreitende Gestaltungen‘ eine Gestaltung, die entweder mehr als einen Mitgliedstaat oder einen Mitgliedstaat und ein Drittland betrifft, wobei mindestens eine der folgenden Bedingungen erfüllt ist:
a)
Nicht alle an der Gestaltung Beteiligten sind im selben Hoheitsgebiet steuerlich ansässig;
b)
einer oder mehrere der an der Gestaltung Beteiligten ist/sind gleichzeitig in mehreren Hoheitsgebieten steuerlich ansässig;
c)
einer oder mehrere der an der Gestaltung Beteiligten übt/üben in einem anderen Hoheitsgebiet über eine dort gelegene Betriebsstätte eine Geschäftstätigkeit aus, und die Gestaltung stellt teilweise oder ganz die durch die Betriebsstätte ausgeübte Geschäftstätigkeit dar;
d)
einer oder mehrere der an der Gestaltung Beteiligten übt/üben in einem anderen Hoheitsgebiet eine Tätigkeit aus, ohne dort steuerlich ansässig zu sein oder eine Betriebsstätte zu begründen;
e)
eine solche Gestaltung hat möglicherweise Auswirkungen auf den automatischen Informationsaustausch oder die Identifizierung der wirtschaftlichen Eigentümer.
…
19. ‚meldepflichtige grenzüberschreitende Gestaltungen‘ jede grenzüberschreitende Gestaltung, die mindestens eines der in Anhang IV aufgeführten Kennzeichen aufweist;
20. ‚Kennzeichen‘ ein Merkmal oder eine Eigenschaft einer grenzüberschreitenden Gestaltung gemäß Anhang IV, das bzw. die auf ein potenzielles Risiko der Steuervermeidung hindeutet;
21. ‚Intermediär‘ jede Person, die eine meldepflichtige grenzüberschreitende Gestaltung konzipiert, vermarktet, organisiert oder zur Umsetzung bereitstellt oder die die Umsetzung einer solchen Gestaltung verwaltet.
Dieser Ausdruck bezeichnet auch jede Person, die – unter Berücksichtigung der relevanten Fakten und Umstände und auf der Grundlage der verfügbaren Informationen sowie des einschlägigen Fachwissens und Verständnisses, die für die Erbringung solcher Dienstleistungen erforderlich sind, – weiß oder vernünftigerweise wissen müsste, dass sie unmittelbar oder über andere Personen Hilfe, Unterstützung oder Beratung im Hinblick auf Konzeption, Vermarktung, Organisation, Bereitstellung zur Umsetzung oder Verwaltung der Umsetzung einer meldepflichtigen grenzüberschreitenden Gestaltung geleistet hat. Jede Person hat das Recht, Beweise zu erbringen, wonach sie nicht wusste oder vernünftigerweise nicht wissen konnte, dass sie an einer meldepflichtigen grenzüberschreitenden Gestaltung beteiligt war. Die betreffende Person kann zu diesem Zweck alle relevanten Fakten und Umstände sowie verfügbaren Informationen und ihr einschlägiges Fachwissen und Verständnis geltend machen.
Damit eine Person als Intermediär fungieren kann, muss sie mindestens eine der folgenden zusätzlichen Bedingungen erfüllen:
a)
Sie ist in einem Mitgliedstaat steuerlich ansässig;
b)
sie hat eine Betriebsstätte in einem Mitgliedstaat, durch die die Dienstleistungen im Zusammenhang mit der Gestaltung erbracht werden;
c)
sie ist nach dem Recht eines Mitgliedstaats eingetragen oder unterliegt dem Recht eines Mitgliedstaats;
d)
sie ist in einem Mitgliedstaat Mitglied in einer Organisation für juristische, steuerliche oder beratende Dienstleistungen;
22. ‚relevanter Steuerpflichtiger‘ jede Person, der eine meldepflichtige grenzüberschreitende Gestaltung zur Umsetzung bereitgestellt wird oder die bereit ist, eine meldepflichtige grenzüberschreitende Gestaltung umzusetzen, oder die den ersten Schritt einer solchen Gestaltung umgesetzt hat;
…
24. ‚marktfähige Gestaltung‘ eine grenzüberschreitende Gestaltung, die konzipiert wird, vermarktet wird, umsetzungsbereit ist oder zur Umsetzung bereitgestellt wird, ohne dass sie individuell angepasst werden muss;
25. ‚maßgeschneiderte Gestaltung‘ jede grenzüberschreitende Gestaltung, bei der es sich nicht um eine marktfähige Gestaltung handelt.“
6 Art. 8ab („Umfang und Voraussetzungen des verpflichtenden automatischen Informationsaustauschs über meldepflichtige grenzüberschreitende Gestaltungen“) der geänderten Richtlinie 2011/16 wurde durch Art. 1 Nr. 2 der Richtlinie 2018/822 eingefügt und sieht vor:
„(1) Jeder Mitgliedstaat ergreift die erforderlichen Maßnahmen, um die Intermediäre zur Vorlage der ihnen bekannten, in ihrem Besitz oder unter ihrer Kontrolle befindlichen Informationen über meldepflichtige grenzüberschreitende Gestaltungen bei den zuständigen Steuerbehörden zu verpflichten, und zwar innerhalb von 30 Tagen beginnend
a)
an dem Tag, nach dem die meldepflichtige grenzüberschreitende Gestaltung zur Umsetzung bereitgestellt wird, oder
b)
an dem Tag, nach dem die meldepflichtige grenzüberschreitende Gestaltung umsetzungsbereit ist, oder
c)
wenn der erste Schritt der Umsetzung der meldepflichtigen grenzüberschreitenden Gestaltung gemacht wurde,
je nachdem, was früher eintritt.
Ungeachtet des Unterabsatzes 1 sind auch die in Artikel 3 Nummer 21 Absatz 2 genannten Intermediäre zur Vorlage der Informationen innerhalb von 30 Tagen, beginnend an dem Tag, nach dem sie unmittelbar oder über andere Personen Hilfe, Unterstützung oder Beratung geleistet haben, verpflichtet.
(2) Im Falle von marktfähigen Gestaltungen ergreifen die Mitgliedstaaten die erforderlichen Maßnahmen, um sicherzustellen, dass der Intermediär alle drei Monate einen regelmäßigen Bericht mit einer Aktualisierung vorlegt, der neue meldepflichtige Informationen gemäß Absatz 14 Buchstaben a, d, g und h enthält, die seit der Vorlage des letzten Berichts verfügbar geworden sind.
…
(5) Jeder Mitgliedstaat kann die erforderlichen Maßnahmen ergreifen, um den Intermediären das Recht auf Befreiung von der Pflicht zu gewähren, Informationen über eine meldepflichtige grenzüberschreitende Gestaltung vorzulegen, wenn mit der Meldepflicht nach dem nationalen Recht dieses Mitgliedstaats gegen eine gesetzliche Verschwiegenheitspflicht verstoßen würde. In solchen Fällen ergreift jeder Mitgliedstaat die erforderlichen Maßnahmen, um die Intermediäre zu verpflichten, andere Intermediäre oder, falls es keine solchen gibt, den relevanten Steuerpflichtigen unverzüglich über ihre Meldepflichten gemäß Absatz 6 zu unterrichten.
Intermediäre können die in Unterabsatz 1 genannte Befreiung nur insoweit in Anspruch nehmen, als sie ihre Tätigkeit im Rahmen der für ihren Beruf relevanten nationalen Rechtsvorschriften ausüben.
(6) Für den Fall, dass kein Intermediär existiert oder der Intermediär den relevanten Steuerpflichtigen oder einen anderen Intermediär über die Anwendung einer Befreiung gemäß Absatz 5 unterrichtet, ergreift jeder Mitgliedstaat die erforderlichen Maßnahmen, um sicherzustellen, dass die Pflicht zur Vorlage von Informationen über eine meldepflichtige grenzüberschreitende Gestaltung dem anderen unterrichteten Intermediär oder, falls kein solcher existiert, dem relevanten Steuerpflichtigen obliegt.
…
(9) Für den Fall, dass mehr als ein Intermediär existiert, ergreift jeder Mitgliedstaat die erforderlichen Maßnahmen, um sicherzustellen, dass die Verpflichtung zur Vorlage von Informationen über die meldepflichtige grenzüberschreitende Gestaltung allen Intermediären, die an derselben meldepflichtigen grenzüberschreitenden Gestaltung beteiligt sind, obliegt.
Ein Intermediär ist nur soweit von der Vorlage der Informationen befreit, als er im Einklang mit den nationalen Rechtsvorschriften nachweisen kann, dass dieselben Informationen gemäß Absatz 14 bereits durch einen anderen Intermediär vorgelegt wurden.
…
(13) Die zuständige Behörde eines Mitgliedstaats, in dem die Informationen gemäß den Absätzen 1 bis 12 vorgelegt wurden, übermittelt den zuständigen Behörden aller anderen Mitgliedstaaten die in Absatz 14 aufgeführten Informationen …
(14) Die von der zuständigen Behörde eines Mitgliedstaats gemäß Absatz 13 zu übermittelnden Informationen umfassen soweit anwendbar Folgendes:
a)
die Angaben zu den Intermediären und relevanten Steuerpflichtigen, einschließlich des Namens, des Geburtsdatums und ‑orts (bei natürlichen Personen), der Steueransässigkeit und der Steueridentifikationsnummer sowie gegebenenfalls der Personen, die als verbundene Unternehmen des relevanten Steuerpflichtigen gelten;
b)
Einzelheiten zu den in Anhang IV aufgeführten Kennzeichen, die bewirken, dass die grenzüberschreitende Gestaltung meldepflichtig ist;
c)
eine Zusammenfassung des Inhalts der meldepflichtigen grenzüberschreitenden Gestaltung, soweit vorhanden einschließlich eines Verweises auf die Bezeichnung, unter der es allgemein bekannt ist, und einer abstrakt gehaltenen Beschreibung der relevanten Geschäftstätigkeiten oder Gestaltungen, die nicht zur Preisgabe eines Handels‑, Gewerbe- oder Berufsgeheimnisses oder eines Geschäftsverfahrens oder von Informationen führt, deren Preisgabe die öffentliche Ordnung verletzen würde;
d)
das Datum, an dem der erste Schritt der Umsetzung der meldepflichtigen grenzüberschreitenden Gestaltung gemacht wurde oder gemacht werden wird;
e)
Einzelheiten zu den nationalen Vorschriften, die die Grundlage der meldepflichtigen grenzüberschreitenden Gestaltung bilden;
f)
den Wert der meldepflichtigen grenzüberschreitenden Gestaltung;
g)
die Angabe des Mitgliedstaats des/der relevanten Steuerpflichtigen und aller anderen Mitgliedstaaten, die wahrscheinlich von der meldepflichtigen grenzüberschreitenden Gestaltung betroffen sind;
h)
Angaben zu allen anderen Personen in einem Mitgliedstaat, die wahrscheinlich von der meldepflichtigen grenzüberschreitenden Gestaltung betroffen sind, einschließlich Angaben darüber, zu welchen Mitgliedstaaten sie in Beziehung stehen.
…“
Belgisches Recht
7 Mit dem Decreet betreffende de administratieve samenwerking op het gebied van belastingen (Dekret über die Zusammenarbeit der Verwaltungsbehörden im Bereich der Besteuerung) vom 21. Juni 2013 (Belgisch Staatsblad vom 26. Juni 2013, S. 40587, im Folgenden: Dekret vom 21. Juni 2013) wird die Richtlinie 2011/16 in der Flämischen Region (Belgien) umgesetzt.
8 Dieses Dekret wurde durch das Decreet tot wijziging van het decreet van 21 juni 2013, wat betreft de verplichte automatische uitwisseling van inlichtingen op belastinggebied met betrekking tot meldingsplichtige grensoverschrijdende constructies (Dekret zur Änderung des Dekrets vom 21. Juni 2013 über die Zusammenarbeit der Verwaltungsbehörden im Bereich der Besteuerung bezüglich des verpflichtenden automatischen Informationsaustauschs im Bereich der Besteuerung über meldepflichtige grenzüberschreitende Gestaltungen) vom 26. Juni 2020 (Belgisch Staatsblad vom 3. Juli 2020, S. 49170, im Folgenden: Dekret vom 26. Juni 2020) geändert, das die Richtlinie 2018/822 umsetzt.
9 Kapitel 2 Abschnitt 2 Unterabschnitt 2 des Dekrets vom 21. Juni 2013 regelt die Pflicht der Intermediäre und relevanten Steuerpflichtigen zur Übermittlung von Informationen über die meldepflichtigen grenzüberschreitenden Gestaltungen.
10 Art. 11/6 dieses Unterabschnitts, der durch Art. 14 des Dekrets vom 26. Juni 2020 in das Dekret vom 21. Juni 2013 eingefügt wurde, legt das Verhältnis zwischen der Meldepflicht und dem Berufsgeheimnis fest, das bestimmte Intermediäre zu beachten haben. Er setzt Art. 8ab Abs. 5 und 6 der geänderten Richtlinie 2011/16 um. § 1 dieses Art. 11/6 bestimmt:
„Ist ein Intermediär durch das Berufsgeheimnis gebunden, hat er
1° einen anderen Intermediär oder andere Intermediäre schriftlich und unter Angabe von Gründen davon zu unterrichten, dass er der Meldepflicht nicht nachkommen kann, so dass diese Meldepflicht automatisch dem anderen Intermediär oder den anderen Intermediären obliegt;
2° – in Ermangelung eines anderen Intermediärs – den oder die relevanten Steuerpflichtigen schriftlich und unter Angabe von Gründen über seine oder ihre Meldepflicht zu informieren.
Die Befreiung von der Meldepflicht wird erst zu dem Zeitpunkt wirksam, zu dem ein Intermediär der Verpflichtung nach Abs. 1 nachgekommen ist.“
11 Art. 11/7 des Dekrets vom 21. Juni 2013, eingefügt durch Art. 15 des Dekrets vom 26. Juni 2020, sieht vor:
„… wenn der Intermediär den relevanten Steuerpflichtigen oder einen anderen Intermediär über die Anwendung einer Befreiung nach Art. 11/6 Abs. 1 informiert, obliegt die Verpflichtung zur Erteilung von Informationen über eine meldepflichtige grenzüberschreitende Gestaltung dem anderen Intermediär, der informiert wurde, oder in Ermangelung eines solchen dem relevanten Steuerpflichtigen.“
Ausgangsverfahren und Vorlagefrage
12 Mit Klageschriften vom 31. August 2020 und vom 1. Oktober 2020 erhoben die Kläger des Ausgangsverfahrens beim Grondwettelijk Hof (Verfassungsgerichtshof, Belgien), dem vorlegenden Gericht, Klage auf Aussetzung des Dekrets vom 26. Juni 2020 sowie auf seine vollständige oder teilweise Nichtigerklärung.
13 Aus der Vorlageentscheidung geht hervor, dass die Kläger des Ausgangsverfahrens u. a. die Verpflichtung beanstanden, die durch Art. 11/6 § 1 Abs. 1 des Dekrets vom 21. Juni 2013, der durch Art. 14 des Dekrets vom 26. Juni 2020 in dieses Dekret eingefügt wurde, dem als Intermediär auftretenden Rechtsanwalt auferlegt wird und wonach dieser, wenn er an das Berufsgeheimnis gebunden ist, die anderen betroffenen Intermediäre schriftlich und unter Angabe von Gründen davon zu unterrichten hat, dass er seiner Meldepflicht nicht nachkommen kann. Nach Ansicht der Kläger des Ausgangsverfahrens ist es unmöglich, dieser Informationspflicht nachzukommen, ohne das Berufsgeheimnis zu verletzen, an das die Rechtsanwälte gebunden seien. Außerdem sei diese Informationspflicht nicht erforderlich, um die Meldung von grenzüberschreitenden Gestaltungen sicherzustellen, da der Mandant, im Beistand des Rechtsanwalts oder nicht, die anderen Intermediäre selbst unterrichten und von ihnen verlangen könne, ihrer Meldepflicht nachzukommen.
14 Das vorlegende Gericht führt aus, dass die Informationen, die die Rechtsanwälte der zuständigen Behörde über ihre Mandanten zu übermitteln hätten, durch das Berufsgeheimnis geschützt seien, wenn sich diese Informationen auf Tätigkeiten bezögen, die zu ihrer besonderen Aufgabe der Verteidigung oder der Vertretung vor Gericht und der Rechtsberatung gehörten. Der bloße Umstand, dass man einen Rechtsanwalt hinzugezogen habe, falle unter den Schutz des Berufsgeheimnisses, und dies gelte erst recht für die Identität der Mandanten eines Rechtsanwalts. Die Informationen, die gegenüber Behörden durch das Berufsgeheimnis geschützt würden, seien auch gegenüber anderen Akteuren, wie anderen Intermediären, geschützt.
15 Das vorlegende Gericht weist darauf hin, dass nach den Vorarbeiten zum Dekret vom 26. Juni 2020 die Verpflichtung eines Intermediärs, die anderen Intermediäre unter Angabe von Gründen darüber zu unterrichten, dass er dem Berufsgeheimnis unterliege und dass er daher der Meldepflicht nicht nachkommen werde, notwendig sei, um den Anforderungen der Richtlinie 2018/822 zu genügen und sicherzustellen, dass das Berufsgeheimnis die erforderlichen Meldungen nicht verhindere.
16 Das vorlegende Gericht stellt fest, dass die Klagen im Ausgangsverfahren somit die Frage nach der Gültigkeit der Richtlinie 2018/822 aufwerfen, soweit damit eine solche Verpflichtung eingeführt worden sei. Bevor über diese Klagen endgültig entschieden werden könne, müsse daher zuvor diese Frage geklärt werden.
17 Unter diesen Umständen hat der Grondwettelijk Hof (Verfassungsgerichtshof) zum einen u. a. Art. 11/6 § 1 Abs. 1 des Dekrets vom 21. Juni 2013, eingefügt durch Art. 14 des Dekrets vom 26. Juni 2020, bis zum Zeitpunkt der Veröffentlichung des Urteils über diese Klagen ausgesetzt, soweit diese Bestimmung dem als Intermediär auftretenden Rechtsanwalt eine Informationspflicht gegenüber einem anderen Intermediär, der nicht sein Mandant ist, auferlegt. Zum anderen hat dieses Gericht beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:
Verstößt Art. 1 Nr. 2 der Richtlinie 2018/822 gegen das Recht auf ein faires Verfahren, wie es in Art. 47 der Charta garantiert ist, und das Recht auf Achtung des Privatlebens, wie es in Art. 7 der Charta garantiert ist, soweit der neue Art. 8ab Abs. 5, der in die Richtlinie 2011/16 eingefügt wurde, vorsieht, dass, wenn ein Mitgliedstaat die erforderlichen Maßnahmen ergreift, um Intermediäre von der Verpflichtung zur Bereitstellung von Informationen über eine meldepflichtige grenzüberschreitende Gestaltung zu befreien, wenn die Meldepflicht gegen eine gesetzliche Verschwiegenheitspflicht nach dem nationalen Recht dieses Mitgliedstaats verstoßen würde, dieser Mitgliedstaat gehalten ist, die Intermediäre zu verpflichten, jeden anderen Intermediär oder, falls es keinen gibt, den relevanten Steuerpflichtigen unverzüglich über seine Meldepflichten zu unterrichten, sofern diese Verpflichtung dazu führt, dass ein Rechtsanwalt, der als Intermediär auftritt, verpflichtet ist, Informationen, die er im Rahmen der Ausübung wesentlicher Tätigkeiten seines Berufs, nämlich der Verteidigung oder Vertretung des Mandanten vor Gericht und der Rechtsberatung, auch außerhalb eines Rechtsstreits erfährt, einem anderen Intermediär, der nicht sein Mandant ist, mitzuteilen?
Zur Vorlagefrage
18 Vorab ist festzustellen, dass sich die Vorlagefrage zwar auf die in Art. 8ab Abs. 5 der geänderten Richtlinie 2011/16 vorgesehene Pflicht zur Unterrichtung bezieht, und zwar sowohl gegenüber den Intermediären als auch bei Fehlen eines Intermediärs gegenüber dem relevanten Steuerpflichtigen, doch ergibt sich aus dem Vorabentscheidungsersuchen insgesamt, dass sich das vorlegende Gericht in Wirklichkeit nur fragt, ob diese Verpflichtung gültig ist, sofern diese Unterrichtung durch einen Rechtsanwalt, der im Sinne von Art. 3 Abs. 21 dieser Richtlinie als Intermediär auftritt (im Folgenden: Rechtsanwalt‑Intermediär), an einen anderen Intermediär, der nicht sein Mandant ist, zu erfolgen hat.
19 Wenn nämlich die Unterrichtung nach Art. 8ab Abs. 5 der geänderten Richtlinie 2011/16 durch den Rechtsanwalt‑Intermediär an seinen Mandanten erfolgt, unabhängig davon, ob es sich bei diesem um einen anderen Intermediär oder um den relevanten Steuerpflichtigen handelt, kann diese Unterrichtung die Wahrung der durch die Art. 7 und 47 der Charta garantierten Rechte und Freiheiten nicht in Frage stellen, und zwar zum einen, weil der Rechtsanwalt‑Intermediär seinem Mandanten gegenüber keiner beruflichen Verschwiegenheitspflicht unterliegt, und zum anderen, weil die Vertraulichkeit der Beziehung zwischen dem Rechtsanwalt‑Intermediär und diesem Mandanten dem entgegensteht, dass von dem Mandanten verlangt werden kann, dass er Dritten und insbesondere der Steuerverwaltung gegenüber offenlegt, dass er einen Rechtsanwalt konsultiert hat.
20 Aus der Vorlageentscheidung geht somit hervor, dass das vorlegende Gericht mit seiner Frage im Wesentlichen wissen möchte, ob Art. 8ab Abs. 5 der geänderten Richtlinie 2011/16 im Licht der Art. 7 und 47 der Charta gültig ist, soweit seine Anwendung durch die Mitgliedstaaten dazu führt, dass dem Rechtsanwalt, der als Intermediär im Sinne von Art. 3 Nr. 21 dieser Richtlinie handelt, die Pflicht auferlegt wird, andere Intermediäre, die nicht seine Mandanten sind, unverzüglich über die Meldepflichten zu unterrichten, die ihnen nach Art. 8ab Abs. 6 dieser Richtlinie obliegen, wenn dieser Rechtsanwalt aufgrund der Verschwiegenheitspflicht, der er unterliegt, von der in Art. 8ab Abs. 1 dieser Richtlinie vorgesehenen Meldepflicht befreit ist.
21 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass nach Art. 8ab Abs. 1 der geänderten Richtlinie 2011/16 jeder Mitgliedstaat die erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen hat, um die Intermediäre zur Vorlage der ihnen bekannten, in ihrem Besitz oder unter ihrer Kontrolle befindlichen Informationen über meldepflichtige grenzüberschreitende Gestaltungen bei den zuständigen Steuerbehörden zu verpflichten, und zwar innerhalb von 30 Tagen. Die Meldepflicht nach dieser Bestimmung gilt für alle meldepflichtigen grenzüberschreitenden Gestaltungen und somit sowohl für die in Art. 3 Nr. 25 der geänderten Richtlinie 2011/16 definierten maßgeschneiderten Gestaltungen als auch für die in Art. 3 Nr. 24 definierten marktfähigen Gestaltungen.
22 Es ist festzustellen, dass Rechtsanwälte bei der Ausübung ihrer Tätigkeiten „Intermediäre“ im Sinne von Art. 3 Nr. 21 der geänderten Richtlinie 2011/16 sein können, weil sie selbst Konzeptions‑, Vermarktungs‑, Organisations- und Bereitstellungstätigkeiten zur Umsetzung oder Verwaltung der Umsetzung von meldepflichtigen grenzüberschreitenden Gestaltungen erbringen können oder falls dies nicht der Fall ist, aufgrund der Tatsache, dass sie bei solchen Tätigkeiten Unterstützung, Hilfe oder Beratung bieten können. Die Rechtsanwälte, die solche Tätigkeiten ausüben, unterliegen somit grundsätzlich der Meldepflicht nach Art. 8ab Abs. 1 dieser Richtlinie.
23 Nach Art. 8ab Abs. 5 Unterabs. 1 der geänderten Richtlinie 2011/16 kann jedoch jeder Mitgliedstaat die erforderlichen Maßnahmen ergreifen, um den Intermediären, insbesondere Rechtsanwalt‑Intermediären, eine Befreiung von der Pflicht zu gewähren, Informationen über eine meldepflichtige grenzüberschreitende Gestaltung vorzulegen, wenn mit der Meldepflicht nach dem nationalen Recht dieses Mitgliedstaats gegen eine gesetzliche Verschwiegenheitspflicht verstoßen würde. In solchen Fällen ergreift jeder Mitgliedstaat die erforderlichen Maßnahmen, um die Intermediäre zu verpflichten, andere Intermediäre oder, falls es keine solchen gibt, den relevanten Steuerpflichtigen unverzüglich über ihre Meldepflichten gemäß Abs. 6 dieses Artikels zu unterrichten. Dieser Abs. 6 sieht vor, dass in einem solchen Fall die Meldepflicht in die Verantwortung des anderen Intermediärs, der unterrichtet wurde, oder, falls es keinen anderen Intermediär gibt, in diejenige des relevanten Steuerpflichtigen fällt.
24 Es ist jedoch darauf hinzuweisen, dass nach Art. 8ab Abs. 5 Unterabs. 2 der geänderten Richtlinie 2011/16 Intermediären eine Befreiung nach Unterabs. 1 dieses Abs. 5 nur insoweit gewährt werden kann, als sie ihre Tätigkeit im Rahmen der für ihren Beruf relevanten nationalen Rechtsvorschriften ausüben, was gegebenenfalls von den nationalen Gerichten im Rahmen der Anwendung dieser Rechtsvorschriften zu prüfen ist. Demnach ist die Gültigkeit von Art. 8ab Abs. 5 dieser Richtlinie nur im Verhältnis zu Rechtsanwalt‑Intermediären, die tatsächlich im Rahmen solcher Grenzen tätig werden, im Hinblick auf Art. 7 und Art. 47 der Charta zu prüfen.
25 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass Art. 7 der Charta, der jeder Person das Recht auf Achtung ihres Privat- und Familienlebens, ihrer Wohnung sowie ihrer Kommunikation zuerkennt, Art. 8 Abs. 1 der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (im Folgenden: EMRK) entspricht, während Art. 47, der das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf und ein unparteiisches Gericht garantiert, Art. 6 Abs. 1 der EMRK entspricht.
26 Gemäß Art. 52 Abs. 3 der Charta, der die notwendige Kohärenz zwischen den in der Charta enthaltenen Rechten und den entsprechenden durch die EMRK garantierten Rechten gewährleisten soll, ohne dass dadurch die Eigenständigkeit des Unionsrechts und des Gerichtshofs berührt wird, muss der Gerichtshof daher bei seiner Auslegung der durch die Art. 7 und 47 der Charta garantierten Rechte die entsprechenden durch Art. 8 Abs. 1 und Art. 6 Abs. 1 EMRK in deren Auslegung durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (im Folgenden: EGMR) garantierten Rechte als Mindestschutzstandard berücksichtigen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 2. Februar 2021, Consob, C‑481/19, EU:C:2021:84, Rn. 36 und 37).
27 Zur Gültigkeit von Art. 8ab Abs. 5 der geänderten Richtlinie 2011/16 im Licht von Art. 7 der Charta ergibt sich aus der Rechtsprechung des EGMR, dass Art. 8 Abs. 1 EMRK die Vertraulichkeit jeder Korrespondenz zwischen Privatpersonen schützt, und weist dem Schriftwechsel zwischen Rechtsanwälten und ihren Mandanten einen verstärkten Schutz zu (vgl. in diesem Sinne EGMR, Urteil vom 6. Dezember 2012, Michaud/Frankreich, CE:ECHR:2012:1206JUD001232311, §§ 117 und 118). Ebenso wie diese Bestimmung, deren Schutz nicht nur die Verteidigungstätigkeit, sondern auch die Rechtsberatung umfasst, garantiert Art. 7 der Charta notwendigerweise das Geheimnis dieser Rechtsberatung, und zwar sowohl im Hinblick auf ihren Inhalt als auch im Hinblick auf ihre Existenz. Wie der EGMR ausgeführt hat, können nämlich Personen, die einen Rechtsanwalt konsultieren, vernünftigerweise erwarten, dass ihre Kommunikation privat und vertraulich bleibt (Urteil des EGMR vom 9. April 2019, Altay/Türkei [Nr. 2], CE:ECHR:2019:0409JUD001123609, § 49). Abgesehen von Ausnahmefällen müssen diese Personen daher mit Recht darauf vertrauen dürfen, dass ihr Anwalt ohne ihre Zustimmung niemandem offenlegen wird, dass sie ihn konsultieren.
28 Der besondere Schutz, den Art. 7 der Charta und Art. 8 Abs. 1 EMRK dem anwaltlichen Berufsgeheimnis gewähren, der vor allem in Pflichten besteht, die ihnen obliegen, wird dadurch gerechtfertigt, dass den Rechtsanwälten in einer demokratischen Gesellschaft eine grundlegende Aufgabe übertragen wird, nämlich die Verteidigung der Rechtsunterworfenen (vgl. EGMR, Urteil vom 6. Dezember 2012, Michaud/Frankreich, CE:ECHR:2012:1206JUD001232311, §§ 118 und 119). Diese grundlegende Aufgabe umfasst zum einen das Erfordernis, dessen Bedeutung in allen Mitgliedstaaten anerkannt wird, dass es dem Einzelnen möglich sein muss, sich völlig frei an seinen Rechtsanwalt zu wenden, zu dessen Beruf es schon seinem Wesen nach gehört, all denen unabhängig Rechtsberatung zu erteilen, die sie benötigen, und zum anderen die damit zusammenhängende Loyalität des Rechtsanwalts seinem Mandanten gegenüber (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 18. Mai 1982, AM & S Europe/Kommission, 155/79, EU:C:1982:157, Rn. 18).
29 Die in Art. 8ab Abs. 5 der geänderten Richtlinie 2011/16 vorgesehene Pflicht eines Rechtsanwalt‑Intermediärs, der aufgrund der Verschwiegenheitspflicht, der er nach nationalem Recht unterliegt, von der in Art. 8ab Abs. 1 dieser Richtlinie vorgesehenen Meldepflicht befreit ist, die anderen Intermediäre, die nicht seine Mandanten sind, unverzüglich über die Meldepflichten zu unterrichten, die ihnen nach Art. 8ab Abs. 6 dieser Richtlinie obliegen, hat aber zwangsläufig die Folge, dass diese anderen Intermediäre von der Identität des unterrichtenden Rechtsanwalt‑Intermediärs, von dessen Einschätzung, dass die in Rede stehende Gestaltung meldepflichtig ist, und von der Tatsache, dass er zu diesem Thema konsultiert wird, Kenntnis erlangen.
30 Unter diesen Umständen und da diese anderen Intermediäre nicht unbedingt Kenntnis von der Identität des Rechtsanwalt‑Intermediärs und der Tatsache haben, dass er in Bezug auf die meldepflichtige grenzüberschreitende Gestaltung konsultiert wurde, führt die in Art. 8ab Abs. 5 der geänderten Richtlinie 2011/16 vorgesehene Unterrichtungspflicht zu einem Eingriff in das in Art. 7 der Charta garantierte Recht auf Achtung der Kommunikation zwischen Rechtsanwalt und Mandant.
31 Außerdem ist darauf hinzuweisen, dass diese Unterrichtungspflicht mittelbar einen weiteren Eingriff in dieses Recht bewirkt, der sich daraus ergibt, dass die so unterrichteten Drittintermediäre der Steuerverwaltung die Identität und die Konsultierung des Rechtsanwalt‑Intermediärs offenlegen.
32 Aus Art. 8ab Abs. 1, 9, 13 und 14 der geänderten Richtlinie 2011/16 geht nämlich hervor, dass die Identifizierung der Intermediäre zu den Informationen gehört, die bei der Erfüllung der Meldepflicht vorzulegen sind, wobei diese Identifizierung Gegenstand eines Informationsaustauschs zwischen den zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten ist. Folglich müssen im Fall einer Unterrichtung nach Art. 8ab Abs. 5 dieser Richtlinie die unterrichteten Drittintermediäre, die auf diese Weise über die Identität des Rechtsanwalt‑Intermediärs und über seine Konsultierung in Bezug auf die meldepflichtige grenzüberschreitende Gestaltung informiert wurden und selbst nicht dem Berufsgeheimnis unterliegen, die in Art. 3 Abs. 1 dieser Richtlinie genannten zuständigen Behörden nicht nur über das Bestehen der grenzüberschreitenden Gestaltung und über die Identität des oder der betreffenden Steuerpflichtigen, sondern auch über die Identität und die Konsultierung des Rechtsanwalt‑Intermediärs informieren.
33 Folglich ist zu prüfen, ob diese Eingriffe in das in Art. 7 der Charta garantierte Recht auf Achtung der Kommunikation zwischen Rechtsanwalt und Mandant gerechtfertigt sein können.
34 In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass die in Art. 7 der Charta verankerten Rechte keine uneingeschränkte Geltung beanspruchen können, sondern im Hinblick auf ihre gesellschaftliche Funktion gesehen werden müssen. Nach Art. 52 Abs. 1 der Charta sind nämlich Einschränkungen der Ausübung dieser Rechte zulässig, sofern sie gesetzlich vorgesehen sind und den Wesensgehalt dieser Rechte achten. Unter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit müssen sie erforderlich sein und den von der Europäischen Union anerkannten dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen oder den Erfordernissen des Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer tatsächlich entsprechen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. Oktober 2020, Privacy International, C‑623/17, EU:C:2020:790, Rn. 63 und 64).
35 Was erstens das Erfordernis einer gesetzlichen Grundlage für jede Einschränkung der Ausübung der Grundrechte angeht, bedeutet dieses, dass der Rechtsakt, der den Eingriff in die Grundrechte ermöglicht, den Umfang der Einschränkung der Ausübung des betreffenden Rechts selbst festlegen muss. Dieses Erfordernis schließt zum einen aber nicht aus, dass die fragliche Einschränkung hinreichend offen formuliert ist, um Anpassungen an verschiedene Fallgruppen und an Änderungen der Lage zu erlauben. Zum anderen kann der Gerichtshof gegebenenfalls die konkrete Tragweite der Einschränkung im Wege der Auslegung präzisieren, und zwar anhand sowohl des Wortlauts als auch der Systematik und der Ziele der fraglichen Unionsregelung, wie sie im Licht der durch die Charta garantierten Grundrechte auszulegen sind (Urteil vom 21. Juni 2022, Ligue des droits humains, C‑817/19, EU:C:2022:491, Rn. 114 und die dort angeführte Rechtsprechung).
36 Insoweit ist festzustellen, dass zum einen Art. 8ab Abs. 5 der geänderten Richtlinie 2011/16 für den Rechtsanwalt‑Intermediär, der wegen einer Verschwiegenheitspflicht, an die er gebunden ist, von der Meldepflicht befreit ist, ausdrücklich die Verpflichtung vorsieht, die anderen Intermediäre über die ihnen nach Art. 8ab Abs. 6 dieser Richtlinie obliegenden Meldepflichten zu unterrichten. Zum anderen ist, wie in den Rn. 29 und 30 des vorliegenden Urteils festgestellt worden ist, der Eingriff in das in Art. 7 der Charta verankerte Recht auf Achtung der Kommunikation zwischen Rechtsanwalt und Mandant die unmittelbare Folge einer solchen Unterrichtung durch den Rechtsanwalt an einen anderen Intermediär, der nicht sein Mandant ist, insbesondere wenn dieser bis zum Zeitpunkt dieser Unterrichtung keine Kenntnis von der Identität dieses Rechtsanwalts und seiner Konsultierung in Bezug auf die meldepflichtige grenzübergreifende Gestaltung hatte.
37 Was ferner den Eingriff betrifft, der sich mittelbar aus dieser Unterrichtungspflicht ergibt, weil die unterrichteten Drittintermediäre die Identität und die Konsultierung des Rechtsanwalt‑Intermediärs gegenüber der Steuerverwaltung offenlegen, ist dieser, wie in den Rn. 31 und 32 des vorliegenden Urteils festgestellt worden ist, auf den Umfang der sich aus Art. 8ab Abs. 1, 9, 13 und 14 der geänderten Richtlinie 2011/16 ergebenden Informationspflichten zurückzuführen.
38 Unter diesen Umständen ist festzustellen, dass dem Grundsatz der Gesetzmäßigkeit Genüge getan wurde.
39 Was zweitens die Achtung des Wesensgehalts des in Art. 7 der Charta garantierten Rechts auf Achtung der Kommunikation zwischen Rechtsanwalt und Mandant betrifft, ist festzustellen, dass die in Art. 8ab Abs. 5 der geänderten Richtlinie 2011/16 vorgesehene Unterrichtungspflicht nur in beschränktem Maße dazu führt, dass die Vertraulichkeit der Kommunikation zwischen dem Rechtsanwalt‑Intermediär und seinem Mandanten gegenüber einem Drittintermediär und der Steuerverwaltung aufgehoben wird. Insbesondere sieht diese Bestimmung weder die Verpflichtung noch auch nur die Erlaubnis für den Rechtsanwalt‑Intermediär vor, ohne Zustimmung seines Mandanten Informationen über den Inhalt dieser Kommunikation mit anderen Intermediären zu teilen, und diese werden daher nicht in der Lage sein, solche Informationen der Steuerverwaltung zu übermitteln.
40 Unter diesen Umständen kann nicht davon ausgegangen werden, dass die in Art. 8ab Abs. 5 der geänderten Richtlinie 2011/16 vorgesehene Unterrichtungspflicht den Wesensgehalt des in Art. 7 der Charta verankerten Rechts auf Achtung der Kommunikation zwischen Rechtsanwalt und Mandant beeinträchtigt.
41 Was drittens die Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit angeht, so verlangt dieser Grundsatz, dass die Einschränkungen, die insbesondere durch Unionsrechtsakte an den in der Charta niedergelegten Rechten und Freiheiten vorgenommen werden können, nicht über die Grenzen dessen hinausgehen, was zur Erreichung der verfolgten legitimen Ziele oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer geeignet und erforderlich ist, wobei, wenn mehrere geeignete Maßnahmen zur Auswahl stehen, die am wenigsten belastende zu wählen ist. Außerdem kann eine dem Gemeinwohl dienende Zielsetzung nicht verfolgt werden, ohne dem Umstand Rechnung zu tragen, dass sie mit den von der Maßnahme betroffenen Grundrechten in Einklang gebracht werden muss, indem eine ausgewogene Gewichtung der dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzung und der fraglichen Rechte vorgenommen wird, damit die durch diese Maßnahme bedingten Nachteile nicht außer Verhältnis zu den angestrebten Zielen stehen. Daher ist die Möglichkeit, eine Einschränkung der durch Art. 7 der Charta garantierten Rechte zu rechtfertigen, zu beurteilen, indem die Schwere des mit einer solchen Einschränkung verbundenen Eingriffs bestimmt und geprüft wird, ob die mit ihr verfolgte dem Gemeinwohl dienende Zielsetzung in angemessenem Verhältnis zur Schwere des Eingriffs steht (Urteile vom 26. April 2022, Polen/Parlament und Rat, C‑401/19, EU:C:2022:297, Rn. 65, sowie vom 22. November 2022, Luxembourg Business Registers und Sovim, C‑37/20 und C‑601/20, EU:C:2022:912, Rn. 64).
42 Daher ist zunächst zu prüfen, ob die in Art. 8ab Abs. 5 der geänderten Richtlinie 2011/16 vorgesehene Unterrichtungspflicht eine von der Union anerkannte dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzung verfolgt. Wenn ja, ist erstens sicherzustellen, dass sie geeignet ist, diese Zielsetzung zu erreichen, zweitens, dass der Eingriff in das Grundrecht auf Achtung der Kommunikation zwischen Rechtsanwalt und Mandant, der sich aus dieser Unterrichtungspflicht ergeben kann, in dem Sinne auf das absolut Notwendige beschränkt ist, dass diese Zielsetzung vernünftigerweise nicht ebenso wirksam mit anderen Mitteln erreicht werden kann, die dieses Recht weniger beeinträchtigen, und drittens, sofern dies tatsächlich der Fall ist, dass dieser Eingriff nicht außer Verhältnis zu dieser Zielsetzung steht, was insbesondere eine Gewichtung der Bedeutung dieser Zielsetzung und der Schwere dieses Eingriffs impliziert (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 22. November 2022, Luxembourg Business Registers und Sovim, C‑37/20 und C‑601/20, EU:C:2022:912, Rn. 66).
43 Wie der Generalanwalt in Nr. 88 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, fügt sich die durch die Richtlinie 2018/822 vorgenommene Änderung der Richtlinie 2011/16 in den Rahmen einer internationalen steuerlichen Zusammenarbeit zur Bekämpfung der aggressiven Steuerplanung ein, die sich in einem Informationsaustausch zwischen Mitgliedstaaten konkretisiert. Insoweit geht u. a. aus den Erwägungsgründen 2, 4, 8 und 9 der Richtlinie 2018/822 hervor, dass die Melde- und Unterrichtungspflichten nach Art. 8ab der geänderten Richtlinie 2011/16 dazu beitragen sollen, Steuerhinterziehung und Steuerbetrug zu verhindern.
44 Die Bekämpfung der aggressiven Steuerplanung und die Verhinderung von Steuerhinterziehung und Steuerbetrug stellen von der Union anerkannte dem Gemeinwohl dienende Zielsetzungen im Sinne von Art. 52 Abs. 1 der Charta dar, die es erlauben, die Ausübung der durch Art. 7 der Charta garantierten Rechte einzuschränken (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. Oktober 2020, Luxemburgischer Staat [Rechtsbehelf gegen ein Auskunftsersuchen in Steuersachen], C‑245/19 und C‑246/19, EU:C:2020:795, Rn. 87).
45 Zu der Frage, ob die in Art. 8ab Abs. 5 der geänderten Richtlinie 2011/16 vorgesehene Unterrichtungspflicht zur Erreichung dieser Ziele geeignet und erforderlich ist, tragen die französische und die lettische Regierung im Wesentlichen vor, dass eine solche Unterrichtung es u. a. ermögliche, die anderen Intermediäre für ihre Pflicht zu sensibilisieren, der Meldepflicht nachzukommen und so zu verhindern, dass diese anderen Intermediäre nicht darüber informiert seien, dass die Verpflichtung zur Meldung der grenzüberschreitenden Gestaltung nach Art. 8ab Abs. 6 der geänderten Richtlinie 2011/16 auf sie übertragen worden sei. In Ermangelung einer Unterrichtungspflicht seitens des Rechtsanwalt‑Intermediärs bestünde nach Ansicht dieser Regierungen die Gefahr, dass eine grenzüberschreitende Gestaltung unter Missachtung der mit der Richtlinie verfolgten Ziele überhaupt nicht gemeldet werde.
46 Selbst wenn die Unterrichtungspflicht nach Art. 8ab Abs. 5 der geänderten Richtlinie 2011/16 tatsächlich geeignet wäre, zur Bekämpfung der aggressiven Steuerplanung und zur Verhinderung von Steuerhinterziehung und Steuerbetrug beizutragen, kann sie jedoch für die Erreichung dieser Ziele und insbesondere, um sicherzustellen, dass die Informationen über meldepflichtige grenzüberschreitende Gestaltungen den zuständigen Behörden übermittelt werden, nicht als unbedingt erforderlich angesehen werden.
47 Erstens sind nämlich die Meldepflichten der Intermediäre in der geänderten Richtlinie 2011/16, insbesondere in ihrem Art. 8ab Abs. 1, klar aufgeführt. Nach dieser Bestimmung sind alle Intermediäre zur Vorlage der ihnen bekannten, in ihrem Besitz oder unter ihrer Kontrolle befindlichen Informationen über meldepflichtige grenzüberschreitende Gestaltungen bei den zuständigen Steuerbehörden grundsätzlich verpflichtet. Außerdem ergreift nach Art. 8ab Abs. 9 Unterabs. 1 dieser Richtlinie jeder Mitgliedstaat die erforderlichen Maßnahmen, um für den Fall, dass mehr als ein Intermediär existiert, sicherzustellen, dass die Verpflichtung zur Vorlage von Informationen über die meldepflichtige grenzüberschreitende Gestaltung allen Intermediären, die an derselben meldepflichtigen grenzüberschreitenden Gestaltung beteiligt sind, obliegt. Kein Intermediär kann daher mit Erfolg geltend machen, dass er die Meldepflichten, denen er allein aufgrund seiner Eigenschaft als Intermediär unmittelbar und individuell unterliegt, nicht gekannt habe.
48 Zweitens ist zum Vorbringen der lettischen Regierung, die Unterrichtungspflicht verringere das Risiko, dass sich die anderen Intermediäre darauf verließen, dass der Rechtsanwalt‑Intermediär den zuständigen Behörden die erforderlichen Informationen melden werde, und dass sie aus diesem Grund davon absehen würden, selbst eine Meldung durchzuführen, zum einen festzustellen, dass, da die Konsultierung eines Rechtsanwalts dem Berufsgeheimnis unterliegt, die anderen Intermediäre, wie in Rn. 30 des vorliegenden Urteils ausgeführt, nicht unbedingt Kenntnis von der Identität des Rechtsanwalt‑Intermediärs haben und auch nicht davon, dass er zu einer meldepflichtigen grenzüberschreitenden Gestaltung konsultiert wurde, was in einem solchen Fall ein solches Risiko von vornherein ausschließt.
49 Zum anderen ist, selbst wenn die anderen Intermediäre eine solche Kenntnis haben, nicht zu befürchten, dass sie sich ohne Nachprüfung darauf verlassen, dass der Rechtsanwalt‑Intermediär die erforderliche Meldung durchführt, da Art. 8ab Abs. 9 Unterabs. 2 der geänderten Richtlinie 2011/16 klarstellt, dass ein Intermediär nur dann von der Verpflichtung zur Vorlage von Informationen befreit ist, wenn er nachweisen kann, dass diese Informationen bereits von einem anderen Intermediär vorgelegt wurden. Außerdem macht die geänderte Richtlinie 2011/16, indem sie in ihrem Art. 8ab Abs. 5 ausdrücklich vorsieht, dass die Verschwiegenheitspflicht zu einer Befreiung von der Meldepflicht führen kann, den Rechtsanwalt‑Intermediär zu einer Person, von der andere Intermediäre a priori keine Initiative erwarten können, die sie von ihren eigenen Meldepflichten entbinden könnte.
50 Drittens ist darauf hinzuweisen, dass jeder Intermediär, der wegen einer Verschwiegenheitspflicht, der er nach nationalem Recht unterliegt, von der Meldepflicht nach Art. 8ab Abs. 1 der geänderten Richtlinie 2011/16 befreit ist, gleichwohl verpflichtet bleibt, seinen Mandanten unverzüglich über die ihm nach Abs. 6 dieses Artikels obliegenden Meldepflichten zu unterrichten.
51 Viertens erscheint auch die Offenlegung der Identität und der Konsultierung des Rechtsanwalt‑Intermediärs an die Steuerverwaltung durch die unterrichteten Drittintermediäre nicht unbedingt erforderlich, um die Ziele der geänderten Richtlinie 2011/16, die Bekämpfung der aggressiven Steuerplanung und die Verhinderung der Steuerhinterziehung und des Steuerbetrugs, zu verfolgen.
52 Zum einen nämlich wird durch die Meldepflicht der anderen nicht unter die Verschwiegenheitspflicht fallenden Intermediäre und in Ermangelung solcher Intermediäre durch die dem relevanten Steuerpflichtigen obliegende Meldepflicht grundsätzlich gewährleistet, dass die Steuerverwaltung über meldepflichtige grenzüberschreitende Gestaltungen informiert wird. Außerdem kann die Steuerverwaltung, nachdem sie eine solche Information erhalten hat, bei Bedarf ergänzende Informationen zu der fraglichen Gestaltung unmittelbar vom relevanten Steuerpflichtigen verlangen, der sich dann für Beistand an seinen Rechtsanwalt wenden kann, oder eine Überprüfung der steuerlichen Situation dieses Steuerpflichtigen durchführen.
53 Zum anderen ermöglicht es die Offenlegung der Identität und der Konsultierung des Rechtsanwalt‑Intermediärs an die Steuerverwaltung in Anbetracht der in Art. 8ab Abs. 5 der geänderten Richtlinie 2011/16 vorgesehenen Befreiung von der Meldepflicht jedenfalls nicht, dass die Steuerverwaltung von dem Rechtsanwalt‑Intermediär ohne die Zustimmung seines Mandanten Auskünfte verlangt.
54 In der mündlichen Verhandlung vor dem Gerichtshof hat die Kommission jedoch im Wesentlichen vorgetragen, dass diese Offenlegung der Identität und der Konsultierung des Rechtsanwalt‑Intermediärs notwendig sei, damit die Steuerverwaltung prüfen könne, ob sich der Rechtsanwalt‑Intermediär zu Recht auf die Verschwiegenheitspflicht berufe.
55 Diesem Vorbringen kann nicht gefolgt werden.
56 Wie in Rn. 24 des vorliegenden Urteils ausgeführt, sieht Art. 8ab Abs. 5 Unterabs. 2 der geänderten Richtlinie 2011/16 zwar vor, dass Rechtsanwalt‑Intermediäre eine Befreiung nach Art. 8ab Abs. 5 Unterabs. 1 dieser Richtlinie nur insoweit in Anspruch nehmen können, als sie ihre Tätigkeit im Rahmen der für ihren Beruf relevanten nationalen Rechtsvorschriften ausüben. Das Ziel der in Art. 8ab dieser Richtlinie vorgesehenen Melde- und Unterrichtungspflichten besteht jedoch nicht darin, zu kontrollieren, ob die Rechtsanwalt‑Intermediäre innerhalb dieser Grenzen tätig werden, sondern darin, potenziell aggressive Steuerpraktiken zu bekämpfen und Steuerhinterziehung und Steuerbetrug zu verhindern, indem sichergestellt wird, dass die Informationen über meldepflichtige grenzüberschreitende Gestaltungen den zuständigen Behörden vorgelegt werden.
57 Wie sich aus den Rn. 47 bis 53 des vorliegenden Urteils ergibt, stellt diese Richtlinie eine solche Information der Steuerverwaltung sicher, ohne dass es hierfür erforderlich wäre, ihr die Identität und Konsultierung des Rechtsanwalt‑Intermediärs offenzulegen.
58 Unter diesen Umständen kann die Möglichkeit, dass sich Rechtsanwalt‑Intermediäre zu Unrecht auf die Verschwiegenheitspflicht berufen, um sich ihrer Meldepflicht zu entziehen, es nicht erlauben, die in Art. 8ab Abs. 5 dieser Richtlinie vorgesehene Unterrichtungspflicht und die damit einhergehende Offenlegung der Identität und der Konsultierung des unterrichtenden Rechtsanwalt‑Intermediärs an die Steuerverwaltung als unbedingt erforderlich anzusehen.
59 Aus den vorstehenden Erwägungen ergibt sich, dass Art. 8ab Abs. 5 der geänderten Richtlinie 2011/16 dadurch gegen das in Art. 7 der Charta garantierte Recht auf Achtung der Kommunikation zwischen Rechtsanwalt und Mandant verstößt, dass er im Wesentlichen vorsieht, dass der der Verschwiegenheitspflicht unterliegende Rechtsanwalt‑Intermediär verpflichtet ist, andere Intermediäre, die nicht seine Mandanten sind, über die ihnen obliegenden Meldepflichten zu unterrichten.
60 Was die Gültigkeit von Art. 8ab Abs. 5 der geänderten Richtlinie 2011/16 im Hinblick auf Art. 47 der Charta betrifft, ist darauf hinzuweisen, dass das in der letztgenannten Bestimmung garantierte Recht auf ein faires Verfahren aus verschiedenen Elementen besteht. Es umfasst u. a. die Verteidigungsrechte, den Grundsatz der Waffengleichheit, das Recht auf Zugang zu den Gerichten und das Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand sowohl in Zivil- als auch in Strafsachen. Wäre ein Rechtsanwalt im Rahmen eines Gerichtsverfahrens oder im Rahmen von dessen Vorbereitung verpflichtet, mit den öffentlichen Stellen zusammenzuarbeiten und ihnen Informationen zu übermitteln, die er anlässlich einer Rechtsberatung erlangt hat, die im Rahmen eines solchen Verfahrens stattfand, könnte er seinen Aufgaben bei der Beratung, der Verteidigung und der Vertretung seines Mandanten nicht in angemessener Weise gerecht werden, so dass dem Mandanten die ihm durch Art. 47 der Charta gewährten Rechte genommen wären (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 26. Juni 2007, Ordre des barreaux francophones et germanophone u. a., C‑305/05, EU:C:2007:383, Rn. 31 und 32).
61 Aus diesen Erwägungen ergibt sich, dass die Anforderungen, die aus dem Recht auf ein faires Verfahren folgen, definitionsgemäß einen Bezug zu einem Gerichtsverfahren voraussetzen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 26. Juni 2007, Ordre des barreaux francophones et germanophone u. a., C‑305/05, EU:C:2007:383, Rn. 35).
62 Ein solcher Bezug ist im vorliegenden Fall jedoch nicht nachgewiesen worden.
63 Aus Art. 8ab Abs. 1 und 5 der geänderten Richtlinie 2011/16 und insbesondere aus den in diesen Bestimmungen vorgesehenen Fristen ergibt sich nämlich, dass die Unterrichtungspflicht in einem frühen Stadium entsteht, spätestens dann, wenn die meldepflichtige grenzüberschreitende Gestaltung fertiggestellt wurde und umsetzungsbereit ist, also außerhalb des Rahmens eines Gerichtsverfahrens oder seiner Vorbereitung.
64 Wie der Generalanwalt in Nr. 41 seiner Schlussanträge im Wesentlichen ausgeführt hat, handelt der Rechtsanwalt‑Intermediär in diesem frühen Stadium nicht als Verteidiger seines Mandanten in einem Rechtsstreit, und der bloße Umstand, dass die Ratschläge des Rechtsanwalts oder die grenzüberschreitende Gestaltung, die Gegenstand seiner Konsultation ist, in einem späteren Stadium zu einem Rechtsstreit führen können, bedeutet nicht, dass das Tätigwerden des Rechtsanwalts im Rahmen oder im Interesse des Rechts auf Verteidigung seines Mandanten erfolgt.
65 Unter diesen Umständen ist davon auszugehen, dass die Unterrichtungspflicht, die für den unter die Verschwiegenheitspflicht fallenden Rechtsanwalt‑Intermediär an die Stelle der in Art. 8ab Abs. 1 der geänderten Richtlinie 2011/16 vorgesehenen Meldepflicht tritt, keinen Eingriff in das in Art. 47 der Charta garantierte Recht auf ein faires Verfahren mit sich bringt.
66 Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 8ab Abs. 5 der geänderten Richtlinie 2011/16 im Licht von Art. 7 der Charta ungültig ist, soweit seine Anwendung durch die Mitgliedstaaten dazu führt, dass dem Rechtsanwalt, der als Intermediär im Sinne von Art. 3 Nr. 21 dieser Richtlinie handelt, die Pflicht auferlegt wird, andere Intermediäre, die nicht seine Mandanten sind, unverzüglich über die Meldepflichten zu unterrichten, die ihnen nach Art. 8ab Abs. 6 dieser Richtlinie obliegen, wenn dieser Rechtsanwalt aufgrund der Verschwiegenheitspflicht, der er unterliegt, von der in Art. 8ab Abs. 1 dieser Richtlinie vorgesehenen Meldepflicht befreit ist.
Kosten
67 Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Große Kammer) für Recht erkannt:
Art. 8ab Abs. 5 der Richtlinie 2011/16/EU des Rates vom 15. Februar 2011 über die Zusammenarbeit der Verwaltungsbehörden im Bereich der Besteuerung und zur Aufhebung der Richtlinie 77/799/EWG in der durch die Richtlinie (EU) 2018/822 des Rates vom 25. Mai 2018 geänderten Fassung ist im Licht von Art. 7 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union ungültig, soweit seine Anwendung durch die Mitgliedstaaten dazu führt, dass dem Rechtsanwalt, der als Intermediär im Sinne von Art. 3 Nr. 21 dieser Richtlinie in geänderter Fassung handelt, die Pflicht auferlegt wird, andere Intermediäre, die nicht seine Mandanten sind, unverzüglich über die Meldepflichten zu unterrichten, die ihnen nach Art. 8ab Abs. 6 dieser Richtlinie in geänderter Fassung obliegen, wenn dieser Rechtsanwalt aufgrund der Verschwiegenheitspflicht, der er unterliegt, von der in Art. 8ab Abs. 1 dieser Richtlinie vorgesehenen Meldepflicht befreit ist.
Unterschriften
(*1) Verfahrenssprache: Niederländisch.
(i
) Die vorliegende Sprachfassung ist in Rn. 41 gegenüber der ursprünglich online gestellten Fassung geändert worden.
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Urteil des Gerichtshofs (Große Kammer) vom 22. November 2022.#X gegen Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid.#Vorabentscheidungsersuchen der Rechtbank Den Haag.#Vorlage zur Vorabentscheidung – Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts – Art. 4, 7 und 19 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Verbot unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung – Achtung des Privat- und Familienlebens – Schutz bei Abschiebung, Ausweisung und Auslieferung – Recht zum Aufenthalt aus medizinischen Gründen – Gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger – Richtlinie 2008/115/EG – An einer schweren Krankheit leidender Drittstaatsangehöriger – Medizinische Behandlung zur Schmerzlinderung – Im Herkunftsland nicht verfügbare Behandlung – Voraussetzungen, unter denen die Abschiebung aufgeschoben werden muss.#Rechtssache C-69/21.
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62021CJ0069
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ECLI:EU:C:2022:913
| 2022-11-22T00:00:00 |
Gerichtshof, Pikamäe
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Sammlung der Rechtsprechung – allgemein – Abschnitt „Informationen über nicht veröffentlichte Entscheidungen“
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62021CJ0069
URTEIL DES GERICHTSHOFS (Große Kammer)
22. November 2022 (*1)
„Vorlage zur Vorabentscheidung – Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts – Art. 4, 7 und 19 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Verbot unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung – Achtung des Privat- und Familienlebens – Schutz bei Abschiebung, Ausweisung und Auslieferung – Recht zum Aufenthalt aus medizinischen Gründen – Gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger – Richtlinie 2008/115/EG – An einer schweren Krankheit leidender Drittstaatsangehöriger – Medizinische Behandlung zur Schmerzlinderung – Im Herkunftsland nicht verfügbare Behandlung – Voraussetzungen, unter denen die Abschiebung aufgeschoben werden muss“
In der Rechtssache C‑69/21
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Rechtbank Den Haag (Bezirksgericht Den Haag, Niederlande) mit Entscheidung vom 4. Februar 2021, beim Gerichtshof eingegangen am 4. Februar 2021, in dem Verfahren
X
gegen
Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid
erlässt
DER GERICHTSHOF (Große Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten K. Lenaerts, des Vizepräsidenten L. Bay Larsen, der Kammerpräsidentin K. Jürimäe, der Kammerpräsidenten C. Lycourgos (Berichterstatter), E. Regan, M. Safjan, P. G. Xuereb und D. Gratsias, der Kammerpräsidentin M. L. Arastey Sahún, der Richter S. Rodin und F. Biltgen, der Richterin I. Ziemele sowie der Richter J. Passer, M. Gavalec und Z. Csehi,
Generalanwalt: P. Pikamäe,
Kanzler: M. Ferreira, Hauptverwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 7. März 2022,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
–
von X, vertreten durch J. W. F. Noot, Advocaat,
–
der niederländischen Regierung, vertreten durch M. K. Bulterman und C. S. Schillemans als Bevollmächtigte,
–
der Europäischen Kommission, vertreten durch P. J. O. Van Nuffel, C. Cattabriga und A. Katsimerou als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 9. Juni 2022
folgendes
Urteil
1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Art. 1, 4 und 7 sowie von Art. 19 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) und die Auslegung der Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger (ABl. 2008, L 348, S. 98).
2 Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen X und dem Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid (Staatssekretär für Justiz und Sicherheit, Niederlande) (im Folgenden: Staatssekretär) über die Rechtmäßigkeit eines von Letzterem gegen X eingeleiteten Rückkehrverfahrens.
Rechtlicher Rahmen
Völkerrecht
3 Das am 28. Juli 1951 in Genf unterzeichnete Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (United Nations Treaty Series, Bd. 189, S. 150, Nr. 2545 [1954]) in der durch das am 31. Januar 1967 in New York abgeschlossene Protokoll über die Rechtsstellung der Flüchtlinge geänderten Fassung enthält einen Art. 33 („Verbot der Ausweisung und Zurückweisung“), der in Abs. 1 vorsieht:
„Keiner der vertragschließenden Staaten wird einen Flüchtling auf irgendeine Weise über die Grenzen von Gebieten ausweisen oder zurückweisen, in denen sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht sein würde.“
Unionsrecht
4 Die Erwägungsgründe 2 und 4 der Richtlinie 2008/115 lauten:
„(2)
Auf seiner Tagung am 4. und 5. November 2004 in Brüssel forderte der Europäische Rat zur Festlegung einer wirksamen Rückkehr- und Rückübernahmepolitik auf, die auf gemeinsamen Normen beruht, die gewährleisten, dass die betreffenden Personen unter vollständiger Achtung der Grundrechte auf menschenwürdige Weise zurückgeführt werden.
…
(4) Eine wirksame Rückkehrpolitik als notwendiger Bestandteil einer gut geregelten Migrationspolitik muss mit klaren, transparenten und fairen Vorschriften unterlegt werden.“
5 Art. 2 Abs. 2 dieser Richtlinie sieht vor:
„Die Mitgliedstaaten können beschließen, diese Richtlinie nicht auf Drittstaatsangehörige anzuwenden:
a)
die einem Einreiseverbot nach Artikel 13 [der Verordnung (EG) Nr. 562/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. März 2006 über einen Gemeinschaftskodex für das Überschreiten der Grenzen durch Personen (Schengener Grenzkodex) (ABl. 2006, L 105, S. 1)] unterliegen oder die von den zuständigen Behörden in Verbindung mit dem illegalen Überschreiten der Außengrenze eines Mitgliedstaats auf dem Land‑, See- oder Luftwege aufgegriffen bzw. abgefangen werden und die nicht anschließend die Genehmigung oder das Recht erhalten haben, sich in diesem Mitgliedstaat aufzuhalten;
b)
die nach einzelstaatlichem Recht aufgrund einer strafrechtlichen Sanktion oder infolge einer strafrechtlichen Sanktion rückkehrpflichtig sind oder gegen die ein Auslieferungsverfahren anhängig ist.“
6 Art. 3 der Richtlinie bestimmt:
„Im Sinne dieser Richtlinie bezeichnen die Ausdrücke
…
3. ‚Rückkehr‘: die Rückreise von Drittstaatsangehörigen – in freiwilliger Erfüllung einer Rückkehrverpflichtung oder erzwungener Rückführung – in
–
deren Herkunftsland oder
–
ein Transitland gemäß gemeinschaftlichen oder bilateralen Rückübernahmeabkommen oder anderen Vereinbarungen oder
–
ein anderes Drittland, in das der betreffende Drittstaatsangehörige freiwillig zurückkehren will und in dem er aufgenommen wird;
…“
7 Art. 4 Abs. 3 der Richtlinie sieht vor:
„Diese Richtlinie berührt nicht das Recht der Mitgliedstaaten, Vorschriften zu erlassen oder beizubehalten, die für Personen, auf die die Richtlinie Anwendung findet, günstiger sind, sofern diese Vorschriften mit der Richtlinie im Einklang stehen.“
8 Art. 5 der Richtlinie 2008/115 bestimmt:
„Bei der Umsetzung dieser Richtlinie berücksichtigen die Mitgliedstaaten in gebührender Weise:
a)
das Wohl des Kindes,
b)
die familiären Bindungen,
c)
den Gesundheitszustand der betreffenden Drittstaatsangehörigen,
und halten den Grundsatz der Nichtzurückweisung ein.“
9 Art. 6 Abs. 1 und 4 dieser Richtlinie lautet:
„(1) Unbeschadet der Ausnahmen nach den Absätzen 2 bis 5 erlassen die Mitgliedstaaten gegen alle illegal in ihrem Hoheitsgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen eine Rückkehrentscheidung.
…
(4) Die Mitgliedstaaten können jederzeit beschließen, illegal in ihrem Hoheitsgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen wegen Vorliegen eines Härtefalls oder aus humanitären oder sonstigen Gründen einen eigenen Aufenthaltstitel oder eine sonstige Aufenthaltsberechtigung zu erteilen. In diesem Fall wird keine Rückkehrentscheidung erlassen. Ist bereits eine Rückkehrentscheidung ergangen, so ist diese zurückzunehmen oder für die Gültigkeitsdauer des Aufenthaltstitels oder der sonstigen Aufenthaltsberechtigung auszusetzen.“
10 Art. 8 („Abschiebung“) Abs. 1 dieser Richtlinie sieht vor:
„Die Mitgliedstaaten ergreifen alle erforderlichen Maßnahmen zur Vollstreckung der Rückkehrentscheidung, wenn nach Artikel 7 Absatz 4 keine Frist für die freiwillige Ausreise eingeräumt wurde oder wenn die betreffende Person ihrer Rückkehrverpflichtung nicht innerhalb der nach Artikel 7 eingeräumten Frist für die freiwillige Ausreise nachgekommen ist.“
11 In Art. 9 der Richtlinie heißt es:
„(1) Die Mitgliedstaaten schieben die Abschiebung auf,
a)
wenn diese gegen den Grundsatz der Nichtzurückweisung verstoßen würde oder
b)
solange nach Artikel 13 Absatz 2 aufschiebende Wirkung besteht.
(2) Die Mitgliedstaaten können die Abschiebung unter Berücksichtigung der besonderen Umstände des Einzelfalls um einen angemessenen Zeitraum aufschieben. Die Mitgliedstaaten berücksichtigen insbesondere
a)
die körperliche oder psychische Verfassung der betreffenden Drittstaatsangehörigen;
b)
technische Gründe wie fehlende Beförderungskapazitäten oder Scheitern der Abschiebung aufgrund von Unklarheit über die Identität.
…“
Niederländisches Recht
12 Art. 64 der Wet tot algehele herziening van de Vreemdelingenwet (Vreemdelingenwet 2000) (Gesetz über die vollständige Reform des Ausländergesetzes 2000) vom 23. November 2000 (Stb. 2000, Nr. 495) in der auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren Fassung (im Folgenden: Ausländergesetz) bestimmt:
„Die Abschiebung wird so lange aufgeschoben, wie der Gesundheitszustand des Ausländers oder eines seiner Familienangehörigen eine Reise nicht zulässt.“
13 Die Vreemdelingencirculaire 2000 (Ausländerrundverfügung von 2000) in seiner auf das Ausgangsverfahren anwendbaren Fassung (im Folgenden: Ausländerrundverfügung) sieht vor:
„…
7. Keine Abschiebung aus gesundheitlichen Gründen
7.1 Allgemeine Bestimmungen
Der [Immigratie- en Naturalisatiedienst (IND) (Behörde für Immigration und Einbürgerung, Niederlande] kann einen Aufschub der Ausreise nach Art. 64 des Ausländergesetzes gewähren, wenn
–
der Ausländer gesundheitlich nicht in der Lage ist, zu reisen; oder
–
aus gesundheitlichen Gründen die tatsächliche Gefahr eines Verstoßes gegen Art. 3 [der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten] besteht.
7.1.1 Der Ausländer ist nicht in der Lage, zu reisen
Dem Ausländer wird gemäß Art. 64 des Ausländergesetzes ein Aufschub gewährt, wenn das [Bureau Medische Advisering (BMA) (Büro für medizinische Beratung des Ministeriums für Sicherheit und Justiz, Niederlande)] angibt, dass der Gesundheitszustand des Ausländers oder eines seiner Familienangehörigen eine Reise nicht zulässt.
…
7.1.3 Tatsächliche Gefahr eines Verstoßes gegen Art. 3 der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten aus medizinischen Gründen
Dem Ausländer wird gemäß Art. 64 des Ausländergesetzes ein Aufschub der Ausreise gewährt, wenn aus gesundheitlichen Gründen die tatsächliche Gefahr eines Verstoßes gegen Art. 3 der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten besteht.
Eine tatsächliche Gefahr eines Verstoßes gegen Art. 3 der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten besteht nur:
–
wenn aus dem Gutachten des BMA hervorgeht, dass das Ausbleiben der medizinischen Behandlung aller Wahrscheinlichkeit nach zu einer medizinischen Notlage führen wird; und
–
wenn die erforderliche medizinische Behandlung in seinem Herkunfts- oder Wohnsitzland nicht verfügbar ist; oder
–
wenn die erforderliche medizinische Behandlung zwar verfügbar, aber nachweislich nicht zugänglich ist.
Medizinische Notlage
Unter einer medizinischen Notlage versteht der IND eine Situation, in der der Ausländer an einer Erkrankung leidet, von der nach dem aktuellen Stand der medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnisse feststeht, dass das Ausbleiben einer Behandlung innerhalb eines Zeitraums von drei Monaten zum Tod, zur Invalidität oder zu einer anderen Form schwerer psychischer oder physischer Schäden führen wird.
…“
Ausgangsverfahren und Vorlagefragen
14 Der 1988 geborene russische Staatsangehörige X erkrankte im Alter von 16 Jahren an einer seltenen Form von Blutkrebs, wegen der er sich derzeit in den Niederlanden in Behandlung befindet. Seine medizinische Behandlung besteht u. a. in Aderlässen und in der Verabreichung von medizinischem Cannabis zur Schmerzbekämpfung. Diese medizinische Behandlung auf der Basis von medizinischem Cannabis ist in Russland nicht erlaubt.
15 Am 31. Oktober 2013 stellte X einen ersten Asylantrag in den Niederlanden. Der Staatssekretär entschied jedoch, dass das Königreich Schweden der für die Prüfung dieses Antrags zuständige Mitgliedstaat sei.
16 Am 13. Dezember 2013 beantragte X auf der Grundlage von Art. 64 des Ausländergesetzes den Aufschub seiner Ausreise aufgrund seines Gesundheitszustands. Mit Bescheid vom 24. Dezember 2013 lehnte der Staatssekretär diesen Antrag ab.
17 Am 19. Mai 2016 stellte X erneut einen Asylantrag in den Niederlanden, da die Frist, innerhalb derer er nach Schweden hätte überstellt werden können, zwischenzeitlich abgelaufen war. Zur Stützung dieses neuen Antrags machte X geltend, dass die medizinische Behandlung, die er in Russland zur Bekämpfung der mit seiner Krankheit verbundenen Schmerzen erhalten habe, bei ihm Nebenwirkungen verursacht habe und dass er festgestellt habe, dass die Einnahme von medizinischem Cannabis in Anbetracht seines Gesundheitszustands für ihn besser sei. Da der Gebrauch von medizinischem Cannabis in seinem Herkunftsland nicht erlaubt sei, habe er in diesem Land Cannabispflanzen zu medizinischen Zwecken angebaut, was ihn dort in derartige Schwierigkeiten gebracht habe, dass er nunmehr um internationalen Schutz nachsuche. Anlässlich dieses Asylantrags beantragte X außerdem, seine Abschiebung nach Art. 64 des Ausländergesetzes aufzuschieben.
18 Mit Bescheid vom 29. März 2018 lehnte der Staatssekretär den Asylantrag von X nach Stellungnahme des BMA mit der Begründung ab, dass die Probleme, die er aufgrund des Cannabisanbaus zum persönlichen Gebrauch in Russland angeblich gehabt habe, nicht glaubhaft seien. Er entschied ferner, dass X keinen weiteren Aufenthaltstitel erhalten könne, und lehnte dessen Antrag nach Art. 64 des Ausländergesetzes auf Aussetzung der Vollziehung seiner Rückkehrverpflichtung ab.
19 Mit Urteil vom 20. Dezember 2018 hob die Rechtbank Den Haag (Bezirksgericht Den Haag, Niederlande) diesen Bescheid teilweise auf. Dieses Gericht bestätigte zwar, dass X weder die Flüchtlingseigenschaft noch den Status eines subsidiär Schutzberechtigten beanspruchen könne, wies den Staatssekretär jedoch an, sowohl das Vorbringen von X, er habe einen Anspruch auf Erteilung eines Aufenthaltstitels auf der Grundlage von Art. 8 der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (im Folgenden: EMRK), als auch seinen auf Art. 64 des Ausländergesetzes gestützten Antrag erneut zu prüfen. Dieses Urteil wurde mit Urteil des Raad van State (Staatsrat, Niederlande) vom 28. März 2019 bestätigt.
20 Am 19. Februar 2020 lehnte es der Staatssekretär erneut ab, X ein befristetes Aufenthaltsrecht gemäß Art. 8 EMRK zu erteilen und seine Abschiebung aufzuschieben. Außerdem erließ er eine Rückkehrentscheidung, mit der X angewiesen wurde, das niederländische Hoheitsgebiet binnen vier Wochen zu verlassen.
21 Gegen diese Rückkehrentscheidung legte X beim vorlegenden Gericht einen Rechtsbehelf ein. Er ist der Ansicht, dass ihm ein Aufenthaltstitel nach Art. 8 EMRK oder zumindest ein Aufschub der Abschiebung nach Art. 64 des Ausländergesetzes gewährt werden müsse. Insoweit macht er geltend, die schmerzlindernde Behandlung auf der Basis von medizinischem Cannabis, die er in den Niederlanden erhalte, sei für ihn so wesentlich, dass er bei Einstellung dieser Behandlung nicht mehr auf menschenwürdige Weise leben könne. Er weist insbesondere darauf hin, dass die Schmerzen im Fall eines Abbruchs dieser Behandlung so groß wären, dass er nicht mehr schlafen und sich nicht mehr ernähren könne, was erhebliche Auswirkungen nicht nur auf seinen physischen, sondern auch auf seinen psychischen Zustand hätte, da dies bei ihm Depressionen und Suizidgedanken auslösen würde.
22 Nach Ansicht des vorlegenden Gerichts geht aus dem Urteil vom 18. Dezember 2014, M’Bodj (C‑542/13, EU:C:2014:2452), hervor, dass der Gesundheitszustand eines Drittstaatsangehörigen die Gewährung subsidiären Schutzes nicht rechtfertigen kann. Außerdem stehe fest, dass X die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nicht mehr beantrage.
23 Allerdings weist das vorlegende Gericht erstens darauf hin, dass nach niederländischem Recht eine Abschiebung aufgeschoben werden könne, wenn der betroffene Ausländer aus medizinischer Sicht nicht in der Lage sei, zu reisen, oder aus medizinischen Gründen die tatsächliche Gefahr eines Verstoßes gegen Art. 3 EMRK bestehe.
24 Der zweite Fall würde voraussetzen, dass sich aus der Stellungnahme des BMA zum einen ergebe, dass der Abbruch der betreffenden medizinischen Behandlung für den Betroffenen aller Wahrscheinlichkeit nach zu einer „medizinischen Notlage“ im Sinne von Nr. 7.1.3 der Ausländerrundverfügung führen würde, und zum anderen, dass die geeignete medizinische Behandlung im Zielland nicht verfügbar sei oder dass sie dem betroffenen Ausländer nicht zugänglich sei.
25 In seiner auf Ersuchen des Staatssekretärs abgegebenen Stellungnahme wies das BMA u. a. darauf hin, dass zwar vorhersehbar sei, dass X ohne die Vornahme von Aderlässen kurzfristig in eine solche „medizinische Notlage“ geraten werde, doch sei eine solche Behandlung in Russland verfügbar. Hingegen sei es nicht möglich, sich zu den medizinischen Folgen für X zu äußern, die ein Abbruch seiner schmerzlindernden Behandlung auf der Basis von medizinischem Cannabis habe, da die medizinische Wirkung von Cannabis nicht nachgewiesen sei. Das BMA wies ferner darauf hin, dass keine schmerzbezogenen Störungen mitgeteilt worden seien, die befürchten ließen, dass X versterben oder bei der Verrichtung alltäglicher Tätigkeiten auf andere angewiesen sein könnte. Daher könne nicht behauptet werden, dass der Gebrauch von medizinischem Cannabis es ermögliche, den kurzfristigen Eintritt einer solchen „medizinische Notlage“ zu verhindern. Das BMA war ferner der Ansicht, dass es auf dem Markt genügend andere Schmerzmittel gebe, die X verabreicht werden könnten.
26 Nach Ansicht des vorlegenden Gerichts ergibt sich jedoch aus den von X vorgelegten Informationen, dass dessen behandelnde Ärzte der Ansicht sind, dass der Gebrauch von medizinischem Cannabis die einzige geeignete Behandlung des Betroffenen gegen die Schmerzen sei. Zudem ist das vorlegende Gericht der Ansicht, dass X dargetan habe, dass die Behandlung auf der Basis von medizinischem Cannabis nur verordnet und angewandt werde, wenn andere Methoden der Schmerzbekämpfung nicht nur unwirksam, sondern auch kontraindiziert seien.
27 Das vorlegende Gericht stellt im Übrigen fest, dass in Russland keine geeignete schmerzlindernde Behandlung zur Verfügung stehe. Würde die Abschiebung von X also nicht aufgeschoben, so würde die Schmerzbehandlung, die er erhalte, abgebrochen und die Intensität seiner Schmerzen nähme zu. Hingegen sei es nicht möglich, festzustellen, ob die Zunahme der Schmerzen von X aufgrund des Abbruchs seiner Behandlung zu einer Verschlimmerung seiner Krankheit führen würde, selbst wenn es in Anbetracht der dem vorlegenden Gericht vorliegenden Informationen wahrscheinlich sei, dass dies nicht der Fall sein werde. Das vorlegende Gericht ist der Ansicht, dass es, bevor es ein medizinisches Gutachten über die Zunahme der Schmerzen einhole, der X infolge der Einstellung der Behandlung auf der Basis von medizinischem Cannabis ausgesetzt sein könne, geboten sei, durch eine Auslegung des Unionsrechts zu bestimmen, wie ein solcher Parameter zu berücksichtigen sei.
28 Zweitens macht das vorlegende Gericht geltend, dass nach ständiger Rechtsprechung des Raad van State (Staatsrat), die sich auf das Erfordernis einer raschen Verschlechterung des Gesundheitszustands des Betroffenen im Sinne des Urteils des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom 13. Dezember 2016, Paposhvili/Belgien (CE:ECHR:2016:1213JUD004173810) (im Folgenden: Urteil Paposhvili) stütze, nur die medizinischen Folgen, die innerhalb von drei Monaten nach Abbruch der medizinischen Behandlung des Betroffenen einträten, bei der Feststellung zu berücksichtigen seien, ob ein solcher Abbruch zu einer „medizinischen Notlage“ im Sinne von Nr. 7.1.3 der Ausländerrundverfügung führe.
29 Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte habe im Urteil Paposhvili jedoch keine ausdrückliche Frist festgelegt. Daher sei zu bestimmen, ob die Folgen des Abbruchs der medizinischen Behandlung eines schwer kranken Drittstaatsangehörigen im Fall der Rückkehr in sein Herkunftsland nur dann unter Art. 4 der Charta fallen könnten, wenn sie innerhalb eines Zeitraums von drei Monaten einträten, und zwar unabhängig von der Erkrankung und unabhängig von den nach dem Abbruch der Behandlung wahrscheinlich eintretenden medizinischen Folgen.
30 Drittens weist das vorlegende Gericht darauf hin, dass der Raad van State (Staatsrat) entschieden habe, dass gemäß dem Urteil vom 16. Februar 2017, C. K. u. a. (C‑578/16 PPU, EU:C:2017:127), nach Art. 64 des Ausländergesetzes auch zu prüfen sei, ob die Abschiebung eines Drittstaatsangehörigen, der an einer besonders schweren physischen oder psychischen Erkrankung leide, als solche die tatsächliche Gefahr eines Verstoßes gegen Art. 3 EMRK begründen könne. Diese Beurteilung solle jedoch nur im Rahmen der Prüfung der Bedingungen erfolgen, unter denen der betreffende Ausländer reisen könne. Daraus folge zum einen, dass das BMA niemals darum ersucht werde, zu prüfen, ob das Prozedere zur Abschiebung dieses Drittstaatsangehörigen als solches medizinische Folgen haben könne, die aufträten, nachdem er in das Zielland abgeschoben worden sei, und zum anderen, dass diese Folgen bei der Bestimmung, ob eine „medizinische Notlage“ im Sinne von Nr. 7.1.3 der Ausländerrundverfügung einer solchen Abschiebung entgegenstehe, nicht berücksichtigt würden.
31 Eine solche Prüfung könne daher schwerlich dem entgegenstehen, dass die Abschiebung des Betroffenen auch dann aufgeschoben werde, wenn eine Verschlimmerung des Zustands seiner psychischen Gesundheit – wie etwa die Gefahr eines Suizids –, die durch die Abschiebung selbst hervorgerufen werde, zu befürchten sein könnte.
32 Das vorlegende Gericht hat jedoch Zweifel, ob es sich darauf beschränken kann, zu beurteilen, ob die medizinischen Folgen der Abschiebung des Betroffenen, mit bestimmten Anpassungen, während der Abschiebung begrenzt bleiben. Zudem weist es darauf hin, dass im Fall von X die Behandlung auf der Basis von medizinischem Cannabis nicht während der Abschiebung als solcher erfolgen könne, und dass X geltend gemacht habe, dass die Zunahme seiner Schmerzen bei ihm Depressionen und Suizidgedanken auslöse.
33 Viertens ist nach Ansicht des vorlegenden Gerichts zu bestimmen, ob die Schwere der Erkrankung eines Drittstaatsangehörigen und der Umstand, dass er in dem Mitgliedstaat, in dem er sich illegal aufhält, medizinisch behandelt wird, Aspekte seines Privatlebens darstellen können, dessen Achtung nach Art. 7 der Charta und Art. 8 EMRK zu gewährleisten ist.
34 Konkret fragt sich das vorlegende Gericht, ob die zuständigen Behörden eines Mitgliedstaats prüfen müssen, ob einem Drittstaatsangehörigen aufgrund des Rechts auf Achtung des Privatlebens ein Aufenthaltsrecht zu gewähren ist und ob die Achtung des Privatlebens des Betroffenen einen Aspekt darstellt, der bei der Entscheidung über seinen Antrag, den Vollzug der gegen ihn erlassenen aufenthaltsbeendenden Maßnahme aufzuschieben, zu berücksichtigen ist.
35 Vor diesem Hintergrund hat die Rechtbank Den Haag (Bezirksgericht Den Haag) das Verfahren ausgesetzt und folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:
1. Kann eine erhebliche Zunahme der Schmerzintensität durch das Fehlen einer medizinischen Behandlung bei unverändertem Krankheitsbild eine Situation darstellen, die Art. 19 Abs. 2 der Charta in Verbindung mit den Art. 1 und 4 der Charta zuwiderläuft, wenn die sich aus der Richtlinie 2008/115 ergebende Ausreisepflicht nicht ausgesetzt wird?
2. Ist die Festlegung einer starren Frist, innerhalb derer sich die Folgen des Fehlens einer medizinischen Behandlung zeigen müssen, um gesundheitliche Hindernisse für eine sich aus der Richtlinie 2008/115 ergebende Rückkehrpflicht anzunehmen, mit Art. 4 der Charta in Verbindung mit Art. 1 der Charta vereinbar? Falls die Festlegung einer starren Frist dem Unionsrecht nicht zuwiderläuft, ist es einem Mitgliedstaat dann erlaubt, eine allgemeine Frist festzulegen, die für alle möglichen Erkrankungen und alle möglichen gesundheitlichen Folgen gleich ist?
3. Ist eine Regelung, nach der die Folgen der Abschiebung ausschließlich im Rahmen der Frage zu beurteilen sind, ob und unter welchen Bedingungen der Ausländer reisen kann, mit Art. 19 Abs. 2 der Charta in Verbindung mit den Art. 1 und 4 der Charta sowie der Richtlinie 2008/115 vereinbar?
4. Verlangt Art. 7 der Charta in Verbindung mit den Art. 1 und 4 der Charta vor dem Hintergrund der Richtlinie 2008/115, dass der Gesundheitszustand des Ausländers und die Behandlung, die er insoweit im Mitgliedstaat erhält, im Rahmen der Frage beurteilt wird, ob der Aufenthalt auf der Grundlage des Privatlebens zu gestatten ist? Verlangt Art. 19 Abs. 2 der Charta in Verbindung mit den Art. 1 und 4 der Charta vor dem Hintergrund der Richtlinie 2008/115, dass bei der Beurteilung, ob gesundheitliche Probleme als Abschiebungshindernisse angesehen werden können, auf das Privat- und Familienleben im Sinne von Art. 7 der Charta abgestellt wird?
Zu den Vorlagefragen
Zur Zuständigkeit des Gerichtshofs und zur Zulässigkeit der Vorlagefragen
36 Die niederländische Regierung stellt erstens die Zulässigkeit der zur Vorabentscheidung vorgelegten Fragen in Abrede, da diese verfrüht seien. Vor einer Anrufung des Gerichtshofs hätte das vorlegende Gericht nämlich den Antrag von X, ihm ein Recht auf Aufenthalt im niederländischen Hoheitsgebiet zuzuerkennen, zurückweisen müssen, da die Richtlinie 2008/115 nur dann auf diesen Drittstaatsangehörigen anwendbar sei, wenn er sich illegal in diesem Hoheitsgebiet aufhalte.
37 Den nationalen Gerichten steht es jedoch frei, den Gerichtshof in jedem Moment des Verfahrens, den sie für geeignet halten, anzurufen, und zwar auch in einem frühen Stadium des Verfahrens (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 5. Oktober 2010, Elchinov,C‑173/09, EU:C:2010:581, Rn. 26, und vom 14. November 2018, Memoria und Dall’Antonia, C‑342/17, EU:C:2018:906, Rn. 33).
38 Im vorliegenden Fall geht aus der Vorlageentscheidung hervor, dass der Asylantrag von X vom Staatssekretär abgelehnt wurde, so dass er sich grundsätzlich illegal im niederländischen Hoheitsgebiet aufhält und folglich in den Anwendungsbereich der Richtlinie 2008/115 fällt, es sei denn, er hätte Anspruch auf Gewährung eines Rechts auf Aufenthalt in diesem Hoheitsgebiet, u. a. nach dem Unionsrecht, was genau Gegenstand der vierten Vorlagefrage ist.
39 Folglich ist das Vorbringen der niederländischen Regierung, die Vorlagefragen seien verfrüht, zurückzuweisen.
40 Zweitens ist die niederländische Regierung der Ansicht, dass die zweite Vorlagefrage für die Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits unerheblich sei, da sie im Wesentlichen darauf abziele, zu bestimmen, ob ein Mitgliedstaat verlangen könne, dass sich die im Fall der Rückkehr zu befürchtende Verschlechterung des Gesundheitszustands des betreffenden Drittstaatsangehörigen innerhalb einer bestimmten Frist nach der Rückkehr manifestiere. Eine solche Frist sei aber im Rahmen des Ausgangsrechtsstreits nicht entscheidend, da die Weigerung, die Abschiebung von X aufzuschieben, im Wesentlichen damit gerechtfertigt worden sei, dass in seinem Herkunftsland nicht kurzfristig eine „medizinische Notlage“ im Sinne von Nr. 7.1.3 der Ausländerrundverfügung zu befürchten gewesen sei, weil die Schmerzen von X nicht mit den Symptomen seiner Krankheit zusammenhingen und es in diesem Land alternative Behandlungsmöglichkeiten gebe.
41 Insoweit ist es nach ständiger Rechtsprechung allein Sache des nationalen Gerichts, das mit dem Rechtsstreit befasst ist und in dessen Verantwortungsbereich die zu erlassende Entscheidung fällt, anhand der Besonderheiten des Ausgangsverfahrens die Erheblichkeit der Frage zu beurteilen, die es dem Gerichtshof vorlegt. Daher ist der Gerichtshof grundsätzlich gehalten, über eine ihm vorgelegte Frage zu befinden, wenn sie die Auslegung oder die Gültigkeit einer unionsrechtlichen Regelung betrifft. Folglich spricht eine Vermutung für die Entscheidungserheblichkeit einer Vorlagefrage zum Unionsrecht. Der Gerichtshof kann es nur dann ablehnen, über eine solche Vorlagefrage zu befinden, wenn die erbetene Auslegung des Unionsrechts offensichtlich in keinem Zusammenhang mit den Gegebenheiten oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits steht, wenn das Problem hypothetischer Natur ist oder wenn der Gerichtshof nicht über die tatsächlichen und rechtlichen Angaben verfügt, die für eine zweckdienliche Beantwortung der ihm vorgelegten Fragen erforderlich sind (Urteil vom 7. September 2022, Cilevičs u. a.C‑391/20, EU:C:2022:638, Rn. 41 und 42).
42 Entgegen dem Vorbringen der niederländischen Regierung steht die mit der zweiten Vorlagefrage erbetene Auslegung des Unionsrechts jedoch nicht offensichtlich in keinem Zusammenhang mit dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits.
43 Wie der Generalanwalt in Nr. 35 seiner Schlussanträge im Kern ausgeführt hat, steht nämlich fest, dass die gegen X ergangene Rückkehrentscheidung u. a. darauf gestützt wurde, dass bei einer Rückkehr von X in sein Herkunftsland nicht kurzfristig eine „medizinische Notlage“ im Sinne von Nr. 7.1.3 der Ausländerrundverfügung eintreten würde. Aus der Vorlageentscheidung geht aber klar hervor, dass das Vorliegen einer solchen „medizinischen Notlage“ nach der niederländischen Regelung im Licht der in der Ausländerrundverfügung genannten Dreimonatsfrist zu beurteilen ist, und diese Frist ist gerade Gegenstand der zweiten Vorlagefrage.
44 Außerdem ergibt sich aus dem vom vorlegenden Gericht dargelegten Sachverhalt, dass die Schmerzen von X als durch die Krankheit, an der er leidet, verursacht anzusehen sind und dass für diese Schmerzen in seinem Herkunftsland keine alternative Behandlung zur Verfügung steht. Das vorlegende Gericht stellt die Vorlagefragen zur Auslegung des Unionsrechts in dem rechtlichen und sachlichen Rahmen, den es in eigener Verantwortung festlegt und dessen Richtigkeit der Gerichtshof nicht zu prüfen hat. Die zweite Vorlagefrage ist daher auf der Grundlage der Tatsachenwürdigung des vorlegenden Gerichts zu prüfen, und zwar unabhängig davon, welche Kritik die niederländische Regierung daran übt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 7. April 2022, Caixabank, C‑385/20, EU:C:2022:278, Rn. 34 und 38 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).
45 Folglich ist die zweite Vorlagefrage zulässig.
46 Was drittens die vierte Vorlagefrage anbelangt, ist zum einen festzustellen, dass diese Frage entgegen dem Vorbringen der niederländischen Regierung nicht die Auslegung von Art. 8 EMRK, sondern von Art. 7 der Charta in Verbindung mit anderen Bestimmungen der Charta sowie der Richtlinie 2008/115 betrifft.
47 Daraus folgt, dass der Gerichtshof für die Beantwortung dieser Frage zuständig ist.
48 Zum anderen macht die niederländische Regierung geltend, dass diese Frage unzulässig sei, weil das vorlegende Gericht wissen wolle, ob Art. 7 der Charta dahin auszulegen sei, dass X ein Recht zum Aufenthalt in den Niederlanden zuzuerkennen sei, obwohl keine materiell-rechtliche Bestimmung des Unionsrechts es erlaube, ihm ein solches Aufenthaltsrecht zu gewähren.
49 Insoweit genügt der Hinweis, dass die Frage, ob die Auslegung der Richtlinie 2008/115 in Verbindung mit Art. 7 der Charta dazu führen kann, dass einem Drittstaatsangehörigen in einer Situation wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden ein Recht zum Aufenthalt im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats zuerkannt wird, jedenfalls die inhaltliche Beurteilung dieser Frage betrifft.
50 Somit ist die vierte Vorlagefrage zulässig.
Zur ersten und zur zweiten Frage
51 Mit seiner ersten und seiner zweiten Frage, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob die Richtlinie 2008/115 in Verbindung mit den Art. 1 und 4 sowie mit Art. 19 Abs. 2 der Charta dahin auszulegen ist, dass sie dem Erlass einer Rückkehrentscheidung oder einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme gegen einen illegal im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats aufhältigen Drittstaatsangehörigen entgegensteht, der an einer schweren Krankheit leidet und in dem Drittstaat, in den er abgeschoben würde, der Gefahr einer erheblichen Zunahme der durch diese Krankheit verursachten Schmerzen ausgesetzt wäre, weil in diesem Staat die einzige wirksame schmerzlindernde Behandlung verboten ist. Außerdem möchte das vorlegende Gericht wissen, ob ein Mitgliedstaat eine enge Frist vorsehen kann, innerhalb derer der Eintritt einer solchen Zunahme wahrscheinlich sein muss, damit dies der Rückkehrentscheidung oder der aufenthaltsbeendenden Maßnahme entgegenstehen kann.
52 Erstens ist darauf hinzuweisen, dass die Richtlinie 2008/115 vorbehaltlich der in ihrem Art. 2 Abs. 2 vorgesehenen Ausnahmen auf alle illegal im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats aufhältigen Drittstaatsangehörigen Anwendung findet. Wenn ein Drittstaatsangehöriger in den Anwendungsbereich dieser Richtlinie fällt, ist er grundsätzlich den darin vorgesehenen gemeinsamen Normen und Verfahren im Hinblick auf seine Rückführung zu unterwerfen, sofern sein Aufenthalt nicht gegebenenfalls legalisiert wurde (Urteil vom 24. Februar 2021, M u. a. [Überstellung in einen Mitgliedstaat], C‑673/19, EU:C:2021:127, Rn. 29 und 31 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).
53 In dieser Hinsicht geht zum einen aus Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 hervor, dass dann, wenn die Illegalität des Aufenthalts erwiesen ist, gegenüber jedem Drittstaatsangehörigen unbeschadet der Ausnahmen nach Art. 6 Abs. 2 bis 5 unter strikter Einhaltung der in Art. 5 der Richtlinie festgelegten Anforderungen eine Rückkehrentscheidung ergehen muss, in der unter den in Art. 3 Nr. 3 der Richtlinie 2008/115 genannten Drittländern dasjenige anzugeben ist, in das dieser Drittstaatsangehörige abzuschieben ist (Urteil vom 24. Februar 2021, M u. a. [Überstellung in einen Mitgliedstaat], C‑673/19, EU:C:2021:127, Rn. 32 und 39 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).
54 Zum anderen darf ein Mitgliedstaat einen illegal aufhältigen Drittstaatsangehörigen nicht nach Art. 8 der Richtlinie 2008/115 abschieben, ohne dass zuvor eine Rückkehrentscheidung gegen diesen Drittstaatsangehörigen unter Beachtung der durch diese Richtlinie eingeführten materiellen und prozessualen Garantien erlassen wurde (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 17. Dezember 2020, Kommission/Ungarn [Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen], C‑808/18, EU:C:2020:1029, Rn. 253).
55 Zweitens verpflichtet Art. 5 der Richtlinie 2008/115, der eine für die Mitgliedstaaten bei der Umsetzung dieser Richtlinie geltende allgemeine Regel darstellt, die zuständige nationale Behörde, in jedem Stadium des Rückkehrverfahrens den Grundsatz der Nichtzurückweisung einzuhalten, der als Grundrecht in Art. 18 der Charta in Verbindung mit Art. 33 des am 28. Juli 1951 in Genf unterzeichneten Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge in der durch das Protokoll über die Rechtsstellung der Flüchtlinge geänderten Fassung sowie in Art. 19 Abs. 2 der Charta gewährleistet ist. Dies gilt, wie in Rn. 53 des vorliegenden Urteils ausgeführt worden ist, u. a. dann, wenn diese Behörde nach Anhörung des Betroffenen beabsichtigt, gegen ihn eine Rückkehrentscheidung zu erlassen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 17. Dezember 2020, Kommission/Ungarn [Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen], C‑808/18, EU:C:2020:1029, Rn. 250 und die dort angeführte Rechtsprechung).
56 Art. 5 der Richtlinie 2008/115 steht daher dem entgegen, dass gegen einen Drittstaatsangehörigen eine Rückkehrentscheidung ergeht, wenn in dieser Entscheidung als Zielland ein Land angegeben wird, bei dem es ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme gibt, dass der Drittstaatsangehörige im Fall der Vollstreckung der Entscheidung der tatsächlichen Gefahr einer gegen Art. 18 oder Art. 19 Abs. 2 der Charta verstoßenden Behandlung ausgesetzt wäre.
57 Nach Art. 19 Abs. 2 der Charta darf nicht nur niemand in einen Staat abgeschoben werden, in dem für sie oder ihn das ernsthafte Risiko der Todesstrafe besteht, vielmehr gilt dies auch für einen Staat, in dem das Risiko der Folter oder einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 der Charta besteht. Das in diesem Art. 4 aufgestellte Verbot unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung hat absoluten Charakter, da es eng mit der Achtung der Würde des Menschen verbunden ist, auf die sich Art. 1 der Charta bezieht (Urteil vom 5. April 2016, Aranyosi und Căldăraru, C‑404/15 und C‑659/15 PPU, EU:C:2016:198, Rn. 85).
58 Folglich darf gegen einen illegal im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats aufhältigen Drittstaatsangehörigen, wenn ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme vorliegen, dass er bei der Rückkehr in ein Drittland dem tatsächlichen Risiko unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung im Sinne von Art. 4 der Charta in Verbindung mit deren Art. 1 und Art. 19 Abs. 2 ausgesetzt wäre, keine Entscheidung über die Rückkehr in dieses Land ergehen, solange dieses Risiko fortbesteht.
59 Ebenso wenig darf während dieses Zeitraums gegen den Drittstaatsangehörigen eine aufenthaltsbeendende Maßnahme ergehen, was im Übrigen in Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 ausdrücklich vorgesehen ist.
60 Drittens haben die durch Art. 4 der Charta garantierten Rechte, da sie den durch Art. 3 EMRK garantierten Rechten entsprechen, gemäß Art. 52 Abs. 3 der Charta die gleiche Bedeutung und Tragweite, wie sie ihnen in Art. 3 EMRK verliehen wird (Urteil vom 24. April 2018, MP [Subsidiärer Schutz eines Opfers früherer Folterungen], C‑353/16, EU:C:2018:276, Rn. 37).
61 Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu Art. 3 EMRK können die durch eine natürlich auftretende physische oder psychische Erkrankung entstehenden Schmerzen aber unter diesen Art. 3 fallen, wenn sie durch eine von den Behörden zu verantwortende Behandlung – die sich aus Haftbedingungen, einer Ausweisung oder anderen Maßnahmen ergeben kann – verschlimmert werden oder zu werden drohen, sofern die dadurch entstehenden Schmerzen die nach diesem Art. 3 erforderliche Erheblichkeitsschwelle erreichen (vgl. in diesem Sinne Urteil Paposhvili, §§ 174 und 175, sowie Urteil vom 24. April 2018, MP [Subsidiärer Schutz eines Opfers früherer Folterungen], C‑353/16, EU:C:2018:276, Rn. 38).
62 Es ist nämlich darauf hinzuweisen, dass eine Behandlung nur dann unter Art. 3 EMRK fällt, wenn sie ein Mindestmaß an Schwere erreicht, wobei die Beurteilung dieses Mindestmaßes relativ ist und von sämtlichen Umständen des Falles abhängt (EGMR, Urteil vom 20. Oktober 2016, Muršić/Kroatien, CE:ECHR:2016:1020JUD000733413, § 97; EGMR, Urteil vom 7. Dezember 2021, Savran/Dänemark, CE:ECHR:2021:1207JUD005746715, § 122 und die dort angeführte Rechtsprechung).
63 Insoweit ergibt sich aus der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, dass Art. 3 EMRK der Abschiebung einer schwer kranken Person entgegensteht, für die unmittelbare Lebensgefahr besteht oder bei der es ernsthafte Gründe für die Annahme gibt, dass sie, obwohl sie nicht in unmittelbarer Lebensgefahr schwebt, mit der tatsächlichen Gefahr konfrontiert würde, wegen des Ausbleibens einer angemessenen Behandlung im Zielland oder des fehlenden Zugangs zu einer solchen Behandlung einer ernsten, raschen und unumkehrbaren Verschlechterung ihres Gesundheitszustands ausgesetzt zu werden, die zu starken Schmerzen oder einer erheblichen Verkürzung ihrer Lebenserwartung führt (vgl. in diesem Sinne Urteil Paposhvili, §§ 178 und 183, sowie Urteil vom 24. April 2018, MP [Subsidiärer Schutz eines Opfers früherer Folterungen], C‑353/16, EU:C:2018:276, Rn. 40).
64 Außerdem ergibt sich aus der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, dass das Urteil Paposhvili einen Standard aufstellt, der alle für die Zwecke von Art. 3 EMRK relevanten Erwägungen gebührend berücksichtigt, indem er das allgemeine Recht der Staaten wahrt, die Einreise, den Aufenthalt und die Abschiebung von Ausländern zu kontrollieren, und gleichzeitig die absolute Natur dieser Vorschrift anerkennt (EGMR, Urteil vom 7. Dezember 2021, Savran/Dänemark, CE:ECHR:2021:1207JUD005746715, § 133).
65 Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs entspricht die für die Anwendung von Art. 4 der Charta in diesem Bereich erforderliche Erheblichkeitsschwelle derjenigen, die unter denselben Umständen nach Art. 3 EMRK erforderlich ist (Urteile vom 16. Februar 2017, C. K. u. a., C‑578/16 PPU, EU:C:2017:127, Rn. 67, und vom 24. April 2018, MP [Subsidiärer Schutz eines Opfers früherer Folterungen], C‑353/16, EU:C:2018:276, Rn. 37).
66 Aus den Rn. 52 bis 65 des vorliegenden Urteils ergibt sich, dass Art. 5 der Richtlinie 2008/115 in Verbindung mit den Art. 1 und 4 sowie mit Art. 19 Abs. 2 der Charta es einem Mitgliedstaat verwehrt, gegen einen illegal im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats aufhältigen Drittstaatsangehörigen, der an einer schweren Krankheit leidet, eine Rückkehrentscheidung zu erlassen oder ihn abzuschieben, wenn ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme bestehen, dass die Rückkehr des Drittstaatsangehörigen diesen aufgrund der Nichtverfügbarkeit einer angemessenen Versorgung im Zielland der tatsächlichen Gefahr einer erheblichen Verkürzung seiner Lebenserwartung oder einer raschen, erheblichen und unumkehrbaren Verschlechterung seines Gesundheitszustands, die mit starken Schmerzen verbunden wäre, aussetzen würde.
67 Zweitens ist für die Zwecke des Ausgangsverfahrens zu prüfen, ob ein Mitgliedstaat davon absehen muss, eine Rückkehrentscheidung oder eine aufenthaltsbeendende Maßnahme gegen einen illegal im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats aufhältigen Drittstaatsangehörigen zu erlassen, der an einer schweren Krankheit leidet, wenn es ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme gibt, dass dieser Drittstaatsangehörige im Fall einer Rückkehr aufgrund des Verbots der einzigen wirksamen schmerzlindernden Behandlung im Zielland der tatsächlichen Gefahr einer Zunahme seiner Schmerzen ausgesetzt wäre, ohne dass er durch diese Rückkehr der Gefahr ausgesetzt würde, dass sich die Krankheit, an der er leidet, verschlimmert.
68 Insoweit kann ein Mitgliedstaat, wie in den Rn. 61, 63 und 65 des vorliegenden Urteils ausgeführt worden ist, gegen das in Art. 4 der Charta verankerte Verbot unmenschlicher und erniedrigender Behandlung verstoßen, wenn die Gefahr besteht, dass sich die Schmerzen, die einem Drittstaatsangehörigen durch eine natürlich aufgetretene Krankheit entstehen, durch die von den Behörden dieses Mitgliedstaats erlassene Rückkehrentscheidung oder aufenthaltsbeendende Maßnahme in einem solchen Maß verschlimmern, dass diese Schmerzen die in den genannten Randnummern angeführte Erheblichkeitsschwelle erreichen.
69 Folglich genügt der Umstand, dass die Gefahr besteht, dass sich im Fall der Rückkehr eines illegal im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats aufhältigen Drittstaatsangehörigen allein die mit der schweren Krankheit dieses Drittstaatsangehörigen verbundenen Schmerzen verschlimmern, nicht, um auszuschließen, dass diese Rückkehr mit Art. 4 der Charta unvereinbar sein kann. Dies gilt umso mehr, als eine Zunahme der mit einer Krankheit verbundenen Schmerzen selbst zu einer Verschlechterung des physischen oder psychischen Gesundheitszustands als solches der betroffenen Person führen kann.
70 Allerdings setzt nicht jede Gefahr einer Zunahme von Schmerzen, die sich aus der Rückkehr eines Drittstaatsangehörigen ergeben würde, diesen einer gegen Art. 4 der Charta verstoßenden Behandlung aus. Entsprechend den Ausführungen in Rn. 66 des vorliegenden Urteils müssen nämlich außerdem ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme bestehen, dass der Drittstaatsangehörige im Fall der Rückkehr der tatsächlichen Gefahr ausgesetzt wäre, dass seine Schmerzen rasch, erheblich und unumkehrbar zunehmen.
71 Insoweit ist erstens darauf hinzuweisen, dass u. a. dann ernsthafte Gründe für die Annahme vorliegen, dass die Gefahr besteht, dass ein Drittstaatsangehöriger im Fall seiner Rückkehr einer erheblichen und unumkehrbaren Zunahme der durch seine Krankheit verursachten Schmerzen ausgesetzt sein wird, wenn feststeht, dass die einzige wirksame schmerzlindernde Behandlung ihm im Zielland nicht rechtmäßig zuteilwerden kann und dass das Ausbleiben einer solchen Behandlung ihn Schmerzen von einer solchen Intensität aussetzen würde, dass es gegen die Menschenwürde verstoßen würde, weil bei ihm dadurch schwere und unumkehrbare psychische Störungen verursacht würden oder er sogar zum Selbstmord veranlasst werden könnte; es ist Sache des vorlegenden Gerichts, dies im Licht aller maßgeblichen, insbesondere medizinischen, Umstände zu prüfen. Konkret ist die Unumkehrbarkeit der Zunahme der Schmerzen unter Berücksichtigung einer Vielzahl von Faktoren, einschließlich der unmittelbaren Auswirkungen und der eher mittelbaren Folgen einer solchen Zunahme, zu beurteilen (vgl. entsprechend EGMR, Urteil vom 7. Dezember 2021, Savran/Dänemark, CE:ECHR:2021:1207JUD005746715, § 138).
72 Was zweitens das Erfordernis anbelangt, dass die Rückkehr des betroffenen Drittstaatsangehörigen für diesen die Gefahr einer raschen Zunahme seiner Schmerzen mit sich bringt, ist zu betonen, dass diese Voraussetzung nicht so eng ausgelegt werden darf, dass sie der Rückkehr eines schwerkranken Drittstaatsangehörigen nur in den Extremfällen entgegensteht, in denen dieser gleich bei seiner Ankunft im Hoheitsgebiet des Ziellandes oder unmittelbar danach eine erhebliche und nicht unumkehrbare Zunahme seiner Schmerzen erleiden würde. Vielmehr ist zu berücksichtigen, dass die Zunahme der Schmerzen der betroffenen Person, die durch ihre Rückkehr in ein Land verursacht wird, in dem keine geeigneten Behandlungen zur Verfügung stehen, allmählich erfolgen kann und dass es eine gewisse Zeit dauern kann, bis diese Zunahme erheblich und unumkehrbar wird.
73 Außerdem stehen sowohl die Notwendigkeit, bei der Beurteilung der insoweit nach Art. 4 der Charta erforderlichen Erheblichkeitsschwelle alle relevanten Gesichtspunkte zu berücksichtigen, als auch der spekulative Anteil, der einer solchen prospektiven Prüfung inhärent ist, dem entgegen, dass die Zunahme der Schmerzen eines Drittstaatsangehörigen im Fall der Rückkehr nur dann als rasch angesehen wird, wenn es wahrscheinlich ist, dass sie innerhalb einer im Recht des betreffenden Mitgliedstaats im Voraus absolut festgelegten Frist eintritt.
74 Die zuständige nationale Behörde muss nämlich die Frage, wie rasch eine solche Zunahme im Fall einer Rückkehr wahrscheinlich eintreten wird, auf der einen und den Grad der Intensität der Zunahme der Schmerzen, die in einem solchen Fall zu befürchten ist, auf der anderen Seite nach Maßgabe der Krankheit, an der der Drittstaatsangehörige leidet, vergleichend prüfen können.
75 Legen die Mitgliedstaaten eine Frist fest, so darf diese nur indikativ sein und entbindet die zuständige nationale Behörde nicht von einer konkreten Prüfung der Situation des betroffenen Drittstaatsangehörigen anhand aller relevanten Umstände, insbesondere der in der vorstehenden Randnummer genannten, unter Berücksichtigung der Krankheit, an der dieser Drittstaatsangehörige leidet.
76 Nach alledem ist Art. 5 der Richtlinie 2008/115 in Verbindung mit den Art. 1 und 4 der Charta sowie mit deren Art. 19 Abs. 2 dahin auszulegen, dass er dem Erlass einer Rückkehrentscheidung oder einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme gegen einen illegal im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats aufhältigen Drittstaatsangehörigen, der an einer schweren Krankheit leidet, entgegensteht, wenn ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme vorliegen, dass der Betroffene in dem Drittstaat, in den er abgeschoben würde, im Fall der Rückkehr der tatsächlichen Gefahr einer erheblichen, unumkehrbaren und raschen Zunahme seiner Schmerzen ausgesetzt wäre, weil in diesem Staat die einzige wirksame schmerzlindernde Behandlung verboten ist. Ein Mitgliedstaat darf keine enge Frist vorsehen, innerhalb derer der Eintritt einer solchen Zunahme wahrscheinlich sein muss, damit dies der Rückkehrentscheidung oder der aufenthaltsbeendenden Maßnahme entgegenstehen kann.
Zur dritten Vorlagefrage
77 Mit seiner dritten Vorlagefrage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob die Richtlinie 2008/115 in Verbindung mit den Art. 1, 4 und 19 der Charta dahin auszulegen ist, dass sie dem entgegensteht, dass die Folgen der aufenthaltsbeendenden Maßnahme als solcher für den Gesundheitszustand des Drittstaatsangehörigen von der zuständigen nationalen Behörde nur berücksichtigt werden, um zu prüfen, ob der Drittstaatsangehörige reisefähig ist.
78 Aus dem Vorabentscheidungsersuchen geht hervor, dass das vorlegende Gericht von der Prämisse ausgeht, dass die betreffende niederländische Regelung unterscheidet zwischen einerseits der Beurteilung der Gefahr, dass der durch die Rückkehr eines Drittstaatsangehörigen verursachte Abbruch von dessen Behandlung kurzfristig eine „medizinische Notlage“ im Sinne von Nr. 7.1.3 der Ausländerrundverfügung hervorruft, und andererseits der Beurteilung der Folgen der aufenthaltsbeendenden Maßnahme als solcher, die sich in den Rahmen der Prüfung der Reisefähigkeit des Drittstaatsangehörigen einfügen muss und die daher voraussetzt, dass nur diejenigen medizinischen Folgen berücksichtigt werden, die während der Abschiebung wahrscheinlich auftreten werden, unter Ausschluss derjenigen Folgen, die sich nach deren Beendigung im Zielland manifestieren können.
79 Die niederländische Regierung bestreitet, dass dies die Praxis der betreffenden zuständigen nationalen Behörde sei. Gemäß der in Rn. 44 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung ist die dritte Frage jedoch ausgehend von der Prämisse des vorlegenden Gerichts zu beantworten.
80 Unter Berücksichtigung dieser Klarstellung ergibt sich aus der Begründung der Antwort auf die erste und die zweite Frage, dass Art. 5 und Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2008/115 verlangen, dass die Mitgliedstaaten vor dem Erlass einer Rückkehrentscheidung gegen einen an einer schweren Krankheit leidenden Drittstaatsangehörigen bzw. vor der Abschiebung eines solchen Drittstaatsangehörigen jeden ernsthaften Zweifel hinsichtlich der Gefahr ausschließen können, dass die Rückkehr des Drittstaatsangehörigen zu einer raschen, erheblichen und unumkehrbaren Verschlimmerung dieser Krankheit oder der durch diese verursachten Schmerzen führt. Kann ein solcher Zweifel nicht ausgeräumt werden, darf die zuständige nationale Behörde weder eine Rückkehrentscheidung gegen den betreffenden Drittstaatsangehörigen erlassen noch diesen abschieben.
81 Dieses Verbot gilt zwar auch dann, wenn der betreffende Mitgliedstaat nicht in der Lage ist, die Abschiebung als solche des betreffenden Drittstaatsangehörigen so zu organisieren, dass namentlich gewährleistet ist, dass dieser während der Abschiebung nicht der Gefahr einer erheblichen und unumkehrbaren Verschlimmerung seiner Krankheit oder seiner Schmerzen ausgesetzt ist, jedoch kann daraus nicht geschlossen werden, dass es für den Erlass einer Rückkehrentscheidung gegen diesen Drittstaatsangehörigen oder dessen Abschiebung genügt, dass dieser Mitgliedstaat garantiert, dass der Drittstaatsangehörige während der Abschiebung eine angemessene Versorgung erhält. Der betreffende Mitgliedstaat muss sich nämlich vergewissern, dass die betroffene Person, wenn ihr Gesundheitszustand es erfordert, nicht nur während der Abschiebung als solcher eine medizinische Versorgung erhält, sondern auch nach Beendigung der Abschiebung im Zielland (vgl. entsprechend Urteil vom 16. Februar 2017, C. K. u. a., C‑578/16 PPU, EU:C:2017:127, Rn. 76 bis 82).
82 Nach alledem sind Art. 5 und Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2008/115 in Verbindung mit den Art. 1 und 4 der Charta sowie mit deren Art. 19 Abs. 2 dahin auszulegen, dass sie dem entgegenstehen, dass die Folgen der aufenthaltsbeendenden Maßnahme als solcher für den Gesundheitszustand eines Drittstaatsangehörigen von der zuständigen nationalen Behörde nur berücksichtigt werden, um zu prüfen, ob der Drittstaatsangehörige reisefähig ist.
Zur vierten Vorlagefrage
83 Mit seiner vierten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob die Richtlinie 2008/115 in Verbindung mit Art. 7 sowie mit den Art. 1 und 4 der Charta dahin auszulegen ist, dass der Gesundheitszustand eines illegal im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats aufhältigen Drittstaatsangehörigen und die Versorgung, die dieser aufgrund der schweren Krankheit, an der er leidet, in diesem Hoheitsgebiet erhält, von diesem Mitgliedstaat bei der Beurteilung berücksichtigt werden müssen, ob dem Betroffenen aufgrund des Rechts auf Achtung seines Privatlebens ein Recht zum Aufenthalt im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats zuzuerkennen ist oder der Zeitpunkt seiner Abschiebung zu verschieben ist.
84 Erstens ist darauf hinzuweisen, dass sich die mit der Richtlinie 2008/115 geschaffenen gemeinsamen Normen und Verfahren nur auf den Erlass von Rückkehrentscheidungen und deren Vollstreckung beziehen, da diese Richtlinie nicht zum Ziel hat, die Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über den Aufenthalt von Ausländern insgesamt zu harmonisieren. Folglich regelt diese Richtlinie weder die Art und Weise, in der Drittstaatsangehörigen ein Aufenthaltsrecht zuzuerkennen ist, noch die Folgen, die sich im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats aus dem illegalen Aufenthalt Drittstaatsangehöriger ergeben, gegenüber denen keine Entscheidung über die Rückführung in ein Drittland erlassen werden kann (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 8. Mai 2018, K. A. u. a. [Familienzusammenführung in Belgien], C‑82/16, EU:C:2018:308, Rn. 44 und 45, sowie vom 24. Februar 2021, M u. a. [Überstellung in einen Mitgliedstaat], C‑673/19, EU:C:2021:127, Rn. 43 und 44).
85 Daraus folgt, dass keine Bestimmung der Richtlinie 2008/115 dahin ausgelegt werden kann, dass sie verlangte, dass ein Mitgliedstaat einem illegal in seinem Hoheitsgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen einen Aufenthaltstitel gewährt, wenn gegen diesen Drittstaatsangehörigen weder eine Rückkehrentscheidung noch eine aufenthaltsbeendende Maßnahme ergehen kann, weil ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme vorliegen, dass der Betroffene im Zielland der tatsächlichen Gefahr einer raschen, erheblichen und unumkehrbaren Zunahme der durch seine Krankheit verursachten Schmerzen ausgesetzt wäre.
86 Was insbesondere Art. 6 Abs. 4 der Richtlinie 2008/115 anbelangt, so beschränkt sich diese Bestimmung darauf, den Mitgliedstaaten zu ermöglichen, illegal in ihrem Hoheitsgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen wegen Vorliegens eines Härtefalls oder aus humanitären Gründen ein Aufenthaltsrecht auf der Grundlage ihres nationalen Rechts und nicht des Unionsrechts zu gewähren.
87 Nach Art. 51 Abs. 2 der Charta erweitern deren Bestimmungen jedoch nicht den Geltungsbereich des Unionsrechts. Daher kann nicht angenommen werden, dass ein Mitgliedstaat nach Art. 7 der Charta verpflichtet sein könnte, einem Drittstaatsangehörigen, der in den Anwendungsbereich dieser Richtlinie fällt, ein Aufenthaltsrecht zu gewähren.
88 Allerdings ist zweitens darauf hinzuweisen, dass das Hauptziel der Richtlinie 2008/115 – wie aus ihren Erwägungsgründen 2 und 4 hervorgeht – in der Einführung einer wirksamen Rückkehr- und Rückübernahmepolitik unter vollständiger Achtung der Grundrechte und der Würde der Betroffenen besteht (Urteil vom 19. Juni 2018, Gnandi, C‑181/16, EU:C:2018:465, Rn. 48 und die dort angeführte Rechtsprechung).
89 Daraus folgt, dass die Mitgliedstaaten bei der Umsetzung der Richtlinie 2008/115 – einschließlich, wenn sie beabsichtigen, eine Rückkehrentscheidung oder eine aufenthaltsbeendende Maßnahme gegen einen illegal aufhältigen Drittstaatsangehörigen zu erlassen – die Grundrechte beachten müssen, die diesem Drittstaatsangehörigen durch die Charta zuerkannt sind (Urteil vom 11. Juni 2015, Zh. und O., C‑554/13, EU:C:2015:377, Rn. 69).
90 Dies gilt insbesondere für das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens des Drittstaatsangehörigen, wie es in Art. 7 der Charta garantiert wird. Dieses Recht, auf das das vorlegende Gericht in seiner vierten Frage konkret Bezug nimmt, entspricht dem in Art. 8 EMRK garantierten Recht, so dass ihm die gleiche Bedeutung und Tragweite zuzuerkennen ist (Urteil vom 18. Juni 2020, Kommission/Ungarn [Transparenz von Vereinigungen], C‑78/18, EU:C:2020:476, Rn. 122 und die dort angeführte Rechtsprechung).
91 Insoweit hat der Gerichtshof entschieden, dass Art. 5 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2008/115 es einem Mitgliedstaat verwehrt, eine Rückkehrentscheidung zu erlassen, ohne die relevanten Aspekte des Familienlebens des betreffenden Drittstaatsangehörigen zu berücksichtigen (Urteil vom 8. Mai 2018, K. A. u. a. [Familienzusammenführung in Belgien], C‑82/16, EU:C:2018:308, Rn. 104).
92 Ferner ergibt sich, auch wenn der genannte Art. 5 das Privatleben eines illegal aufhältigen Drittstaatsangehörigen unter den Gesichtspunkten, die die Mitgliedstaaten bei der Umsetzung der Richtlinie 2008/115 zu berücksichtigen haben, nicht erwähnt, gleichwohl aus den Rn. 88 bis 90 des vorliegenden Urteils, dass eine Rückkehrentscheidung oder eine aufenthaltsbeendende Maßnahme nicht ergehen darf, wenn sie gegen das Recht auf Achtung des Privatlebens des betreffenden Drittstaatsangehörigen verstoßen würde.
93 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass medizinische Behandlungen, die einem Drittstaatsangehörigen im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats zuteilwerden, auch wenn er sich dort illegal aufhält, Teil seines Privatlebens im Sinne von Art. 7 der Charta sind.
94 Wie der Generalanwalt in Nr. 114 seiner Schlussanträge im Kern ausgeführt hat, trägt nämlich die körperliche und geistige Unversehrtheit einer Person zu ihrer persönlichen Entfaltung und damit zum tatsächlichen Genuss ihres Rechts auf Achtung des Privatlebens bei, das zu einem gewissen Grad auch das Recht des Einzelnen umfasst, Beziehungen zu seinen Mitmenschen einzugehen und zu entwickeln (vgl. in diesem Sinne EGMR, Urteil vom 8. April 2021, Vavricka u. a./Tschechische Republik, CE:ECHR:2021:0408JUD004762113, § 261).
95 Folglich darf die zuständige nationale Behörde, wie durch Art. 5 Abs. 1 Buchst. c und Art. 9 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2008/115 bestätigt wird, eine Rückkehrentscheidung gegen den Drittstaatsangehörigen nur dann erlassen bzw. diesen nur dann abschieben, wenn sie dessen Gesundheitszustand berücksichtigt hat.
96 Allerdings ist darauf hinzuweisen, dass das in Art. 7 der Charta verankerte Recht auf Achtung des Privatlebens keine uneingeschränkte Geltung beanspruchen kann, sondern im Hinblick auf seine gesellschaftliche Funktion gesehen werden muss. Nach Art. 52 Abs. 1 der Charta sind nämlich Einschränkungen der Ausübung dieses Rechts zulässig, sofern sie gesetzlich vorgesehen sind und den Wesensgehalt dieses Rechts achten. Unter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit müssen sie erforderlich sein und den von der Union anerkannten, dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen oder den Erfordernissen des Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer tatsächlich entsprechen (Urteil vom 5. April 2022, Commissioner of An Garda Síochána u. a., C‑140/20, EU:C:2022:258, Rn. 48 und die dort angeführte Rechtsprechung).
97 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass die Festlegung einer wirksamen Rückkehr- und Rückübernahmepolitik, die mit der Richtlinie 2008/115 verfolgt wird, wie in deren zweiten Erwägungsgrund hervorgehoben wird, eine dem Gemeinwohl dienende Zielsetzung des Unionsrechts darstellt.
98 Allerdings verlangt Art. 52 Abs. 1 der Charta außerdem u. a. die Prüfung, ob der Erlass einer Rückkehrentscheidung oder einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme gegen einen an einer schweren Krankheit leidenden Drittstaatsangehörigen, dem im betreffenden Mitgliedstaat eine schmerzlindernde Behandlung zuteilwird, die im Zielland nicht verfügbar ist, nicht den Wesensgehalt seines Rechts auf Privatleben beeinträchtigt und den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit wahrt.
99 Diese Prüfung setzt die Berücksichtigung aller sozialen Bindungen voraus, die dieser Drittstaatsangehörige in dem Mitgliedstaat, in dem er sich illegal aufhält, geschaffen hat, wobei die Verletzlichkeit und der Zustand einer besonderen Abhängigkeit, hervorgerufen durch seinen Gesundheitszustand, gebührend zu berücksichtigen sind. Wie der Generalanwalt in Nr. 112 seiner Schlussanträge im Kern ausgeführt hat, können jedoch, wenn der Drittstaatsangehörige sein Privatleben in diesem Mitgliedstaat entwickelt hat, ohne dort über einen Aufenthaltstitel zu verfügen, nur außergewöhnliche Gründe dem entgegenstehen, dass gegen ihn ein Rückkehrverfahren durchgeführt wird (vgl. entsprechend EGMR, Urteil vom 28. Juli 2020, Pormes/Niederlande, CE:ECHR:2020:0728JUD002540214, §§ 53 und 58).
100 Zudem kann der Umstand, dass dem Drittstaatsangehörigen im Fall seiner Rückkehr nicht mehr die gleichen Behandlungen zur Verfügung stünden wie die, die er in dem Mitgliedstaat, in dessen Hoheitsgebiet er sich illegal aufhält, erhält, und dass daher u. a. die Entwicklung seiner sozialen Beziehungen im Zielland beeinträchtigt werden könnte, für sich genommen nicht nach Art. 7 der Charta dem Erlass einer Rückkehrentscheidung oder einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme gegen ihn entgegenstehen.
101 Wie in den Rn. 60 und 64 des vorliegenden Urteils ausgeführt worden ist, steht Art. 4 der Charta der Rückkehr eines illegal aufhältigen Drittstaatsangehörigen, der an einer schweren Krankheit leidet, nämlich nur unter strengen Voraussetzungen entgegen.
102 Daraus folgt, dass Art. 7 der Charta, soll diesen Voraussetzungen nicht ihre Wirksamkeit genommen werden, einen Mitgliedstaat nicht verpflichten kann, auf den Erlass einer Rückkehrentscheidung oder einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme gegen den Drittstaatsangehörigen allein aufgrund der Gefahr einer Verschlechterung von dessen Gesundheitszustand im Zielland zu verzichten, wenn diese Voraussetzungen nicht erfüllt sind.
103 Nach alledem ist die Richtlinie 2008/115 in Verbindung mit Art. 7 sowie den Art. 1 und 4 der Charta dahin auszulegen, dass
–
sie den Mitgliedstaat, in dessen Hoheitsgebiet ein Drittstaatsangehöriger illegal aufhältig ist, nicht dazu verpflichtet, diesem einen Aufenthaltstitel zu erteilen, wenn gegen ihn aus dem Grund weder eine Rückkehrentscheidung noch eine aufenthaltsbeendende Maßnahme ergehen kann, dass ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme vorliegen, dass er im Zielland der tatsächlichen Gefahr einer raschen, erheblichen und unumkehrbaren Zunahme der durch die schwere Krankheit, an der er leidet, verursachten Schmerzen ausgesetzt wäre,
–
der Gesundheitszustand des Drittstaatsangehörigen und die Versorgung, die er in diesem Hoheitsgebiet aufgrund dieser Krankheit erhält, zusammen mit den übrigen relevanten Gesichtspunkten von der zuständigen nationalen Behörde bei der Prüfung, ob das Recht auf Achtung des Privatlebens dieses Drittstaatsangehörigen dem entgegensteht, dass gegen ihn eine Rückkehrentscheidung oder eine aufenthaltsbeendende Maßnahme erlassen wird, zu berücksichtigen sind,
–
der Erlass einer solchen Entscheidung oder Maßnahme nicht allein deshalb gegen dieses Recht verstößt, weil der Drittstaatsangehörige im Fall seiner Rückkehr in das Zielland der Gefahr ausgesetzt wäre, dass sich sein Gesundheitszustand verschlechtert, sofern diese Gefahr nicht die nach Art. 4 der Charta erforderliche Erheblichkeitsschwelle erreicht.
Kosten
104 Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Große Kammer) für Recht erkannt:
1. Art. 5 der Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger in Verbindung mit den Art. 1 und 4 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union sowie mit deren Art. 19 Abs. 2
ist dahin auszulegen, dass
er dem Erlass einer Rückkehrentscheidung oder einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme gegen einen illegal im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats aufhältigen Drittstaatsangehörigen, der an einer schweren Krankheit leidet, entgegensteht, wenn ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme vorliegen, dass der Betroffene in dem Drittstaat, in den er abgeschoben würde, im Fall der Rückkehr der tatsächlichen Gefahr einer erheblichen, unumkehrbaren und raschen Zunahme seiner Schmerzen ausgesetzt wäre, weil in diesem Staat die einzige wirksame schmerzlindernde Behandlung verboten ist. Ein Mitgliedstaat darf keine enge Frist vorsehen, innerhalb derer der Eintritt einer solchen Zunahme wahrscheinlich sein muss, damit dies der Rückkehrentscheidung oder der aufenthaltsbeendenden Maßnahme entgegenstehen kann.
2. Art. 5 und Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2008/115 in Verbindung mit den Art. 1 und 4 der Charta der Grundrechte sowie mit deren Art. 19 Abs. 2
sind dahin auszulegen, dass
sie dem entgegenstehen, dass die Folgen der aufenthaltsbeendenden Maßnahme als solcher für den Gesundheitszustand eines Drittstaatsangehörigen von der zuständigen nationalen Behörde nur berücksichtigt werden, um zu prüfen, ob der Drittstaatsangehörige reisefähig ist.
3. Die Richtlinie 2008/115 in Verbindung mit Art. 7 sowie den Art. 1 und 4 der Charta der Grundrechte
ist dahin auszulegen, dass
–
sie den Mitgliedstaat, in dessen Hoheitsgebiet ein Drittstaatsangehöriger illegal aufhältig ist, nicht dazu verpflichtet, diesem einen Aufenthaltstitel zu erteilen, wenn gegen ihn aus dem Grund weder eine Rückkehrentscheidung noch eine aufenthaltsbeendende Maßnahme ergehen kann, dass ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme vorliegen, dass er im Zielland der tatsächlichen Gefahr einer raschen, erheblichen und unumkehrbaren Zunahme der durch die schwere Krankheit, an der er leidet, verursachten Schmerzen ausgesetzt wäre,
–
der Gesundheitszustand des Drittstaatsangehörigen und die Versorgung, die er in diesem Hoheitsgebiet aufgrund dieser Krankheit erhält, zusammen mit den übrigen relevanten Gesichtspunkten von der zuständigen nationalen Behörde bei der Prüfung, ob das Recht auf Achtung des Privatlebens dieses Drittstaatsangehörigen dem entgegensteht, dass gegen ihn eine Rückkehrentscheidung oder eine aufenthaltsbeendende Maßnahme erlassen wird, zu berücksichtigen sind,
–
der Erlass einer solchen Entscheidung oder Maßnahme nicht allein deshalb gegen dieses Recht verstößt, weil der Drittstaatsangehörige im Fall seiner Rückkehr in das Zielland der Gefahr ausgesetzt wäre, dass sich sein Gesundheitszustand verschlechtert, sofern diese Gefahr nicht die nach Art. 4 der Charta erforderliche Erheblichkeitsschwelle erreicht.
Unterschriften
(*1) Verfahrenssprache: Niederländisch.
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Urteil des Gerichtshofs (Vierte Kammer) vom 10. November 2022.#Strafverfahren gegen DELTA STROY 2003.#Vorabentscheidungsersuchen des Okrazhen sad - Burgas.#Vorlage zur Vorabentscheidung – Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen – Rahmenbeschluss 2005/212/JI – Anwendbarkeit – Verhängung einer Geldstrafe gegen eine juristische Person wegen der Nichtzahlung von Steuerschulden – Begriff ‚Einziehung‘ – Art. 48, 49 und 52 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Sanktionen strafrechtlicher Natur – Grundsätze der Unschuldsvermutung, der Gesetzmäßigkeit und der Verhältnismäßigkeit im Zusammenhang mit Straftaten und Strafen – Verteidigungsrechte – Verhängung einer strafrechtlichen Sanktion gegen eine juristische Person wegen einer vom Vertreter dieser juristischen Person begangenen Straftat – Nicht abgeschlossenes paralleles Strafverfahren gegen diesen Vertreter – Verhältnismäßigkeit.#Rechtssache C-203/21.
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62021CJ0203
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ECLI:EU:C:2022:865
| 2022-11-10T00:00:00 |
Pikamäe, Gerichtshof
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62021CJ0203
URTEIL DES GERICHTSHOFS (Vierte Kammer)
10. November 2022 (*1)
„Vorlage zur Vorabentscheidung – Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen – Rahmenbeschluss 2005/212/JI – Anwendbarkeit – Verhängung einer Geldstrafe gegen eine juristische Person wegen der Nichtzahlung von Steuerschulden – Begriff ‚Einziehung‘ – Art. 48, 49 und 52 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Sanktionen strafrechtlicher Natur – Grundsätze der Unschuldsvermutung, der Gesetzmäßigkeit und der Verhältnismäßigkeit im Zusammenhang mit Straftaten und Strafen – Verteidigungsrechte – Verhängung einer strafrechtlichen Sanktion gegen eine juristische Person wegen einer vom Vertreter dieser juristischen Person begangenen Straftat – Nicht abgeschlossenes paralleles Strafverfahren gegen diesen Vertreter – Verhältnismäßigkeit“
In der Rechtssache C‑203/21
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Okrazhen sad – Burgas (Regionalgericht Burgas, Bulgarien) mit Entscheidung vom 12. März 2021, beim Gerichtshof eingegangen am 31. März 2021, in dem Strafverfahren gegen
DELTA STROY 2003,
Beteiligte:
Okrazhna prokuratura – Burgas,
erlässt
DER GERICHTSHOF (Vierte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten C. Lycourgos (Berichterstatter), der Richterin L. S. Rossi, der Richter J.‑C. Bonichot und S. Rodin sowie der Richterin O. Spineanu-Matei,
Generalanwalt: P. Pikamäe,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen der Europäischen Kommission, vertreten durch M. Wasmeier und I. Zaloguin als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 9. Juni 2022
folgendes
Urteil
1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Art. 4 und 5 des Rahmenbeschlusses 2005/212/JI des Rates vom 24. Februar 2005 über die Einziehung von Erträgen, Tatwerkzeugen und Vermögensgegenständen aus Straftaten (ABl. 2005, L 68, S. 49) sowie von Art. 49 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta).
2 Es ergeht im Rahmen eines Verfahrens gegen die DELTA STROY 2003 EOOD (im Folgenden: Delta Stroy) zur Verhängung einer Geldstrafe gegen dieses Unternehmen wegen einer ihrer Geschäftsführerin und Vertreterin zur Last gelegten Straftat im Zusammenhang mit der Mehrwertsteuer.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Rahmenbeschluss 2005/212
3 Art. 1 („Begriffsbestimmungen“) des Rahmenbeschlusses 2005/212 sieht vor:
„Im Sinne dieses Rahmenbeschlusses bezeichnet der Ausdruck
–
‚Ertrag‘ jeden wirtschaftlichen Vorteil, der durch Straftaten erlangt wird. Dieser Vorteil kann aus Vermögensgegenständen aller Art gemäß der Begriffsbestimmung unter dem folgenden Gedankenstrich bestehen;
–
‚Vermögensgegenstände‘ Vermögensgegenstände jeder Art, körperliche oder nichtkörperliche, bewegliche oder unbewegliche, sowie rechtserhebliche Schriftstücke oder Urkunden, die das Recht auf solche Vermögensgegenstände oder Rechte daran belegen;
–
‚Tatwerkzeuge‘ alle Gegenstände, die in irgendeiner Weise ganz oder teilweise zur Begehung einer oder mehrerer Straftaten verwendet werden oder verwendet werden sollen;
–
‚Einziehung‘ eine Strafe oder Maßnahme, die von einem Gericht im Anschluss an ein eine Straftat oder mehrere Straftaten betreffendes Verfahren angeordnet wurde und die zur endgültigen Einziehung von Vermögensgegenständen führt;
…“
4 Art. 2 („Einziehung“) dieses Rahmenbeschlusses bestimmt:
„(1) Jeder Mitgliedstaat trifft die erforderlichen Maßnahmen, um sicherzustellen, dass Tatwerkzeuge und Erträge aus Straftaten, die mit einer Freiheitsstrafe von mehr als einem Jahr bedroht sind, oder Vermögensgegenstände, deren Wert diesen Erträgen entspricht, ganz oder teilweise eingezogen werden können.
(2) In Verbindung mit Steuerstraftaten können die Mitgliedstaaten andere Verfahren als Strafverfahren anwenden, um den Tätern die Erträge aus der Straftat zu entziehen.“
5 Art. 4 („Rechtsmittel“) des Rahmenbeschlusses lautet:
„Jeder Mitgliedstaat trifft die erforderlichen Maßnahmen, um sicherzustellen, dass alle von den Maßnahmen nach den Artikeln 2 und 3 betroffenen Parteien über wirksame Rechtsmittel zur Wahrung ihrer Rechte verfügen.“
6 Art. 5 („Garantien“) des Rahmenbeschlusses bestimmt:
„Dieser Rahmenbeschluss berührt nicht die Pflicht, die Grundrechte und die allgemeinen Rechtsgrundsätze, einschließlich insbesondere der Unschuldsvermutung, wie sie in Artikel 6 des Vertrags über die Europäische Union niedergelegt sind, zu achten.“
Rahmenbeschluss 2005/214/JI
7 Art. 1 („Begriffsbestimmungen“) des Rahmenbeschlusses 2005/214/JI des Rates vom 24. Februar 2005 über die Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung von Geldstrafen und Geldbußen (ABl. 2005, L 76, S. 16) bestimmt:
„Im Sinne dieses Rahmenbeschlusses bezeichnet der Ausdruck
…
b)
‚Geldstrafe oder Geldbuße‘ die Verpflichtung zur Zahlung
i)
eines in einer Entscheidung festgesetzten Geldbetrags aufgrund einer Verurteilung wegen einer Zuwiderhandlung;
…
Unter den Ausdruck ‚Geldstrafe oder Geldbuße‘ fallen nicht
–
Anordnungen über die Einziehung von Tatwerkzeugen oder von Erträgen aus Straftaten;
…“
Richtlinie 2014/42/EU
8 Art. 2 der Richtlinie 2014/42/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 3. April 2014 über die Sicherstellung und Einziehung von Tatwerkzeugen und Erträgen aus Straftaten in der Europäischen Union (ABl. 2014, L 127, S. 39) bestimmt:
„Im Sinne dieser Richtlinie bezeichnet der Ausdruck
1. ‚Ertrag‘ jeden wirtschaftlichen Vorteil, der direkt oder indirekt durch eine Straftat erlangt wird; dieser Vorteil kann aus Vermögensgegenständen aller Art bestehen und schließt eine spätere Reinvestition oder Umwandlung direkter Erträge sowie geldwerte Vorteile ein;
2. ‚Vermögensgegenstände‘ körperliche oder unkörperliche, bewegliche oder unbewegliche Vermögensgegenstände jeder Art sowie Urkunden oder rechtserhebliche Schriftstücke, die das Recht auf solche Vermögensgegenstände oder Rechte daran belegen;
…
4. ‚Einziehung‘ eine von einem Gericht in Bezug auf eine Straftat angeordnete endgültige Entziehung von Vermögensgegenständen;
…“
9 Art. 14 Abs. 1 dieser Richtlinie sieht vor:
„(1) Die Gemeinsame Maßnahme 98/699/JI [vom 3. Dezember 1998 – vom Rat aufgrund von Artikel K.3 des Vertrags über die Europäische Union angenommen – betreffend Geldwäsche, die Ermittlung, das Einfrieren, die Beschlagnahme und die Einziehung von Tatwerkzeugen und Erträgen aus Straftaten (ABl. 1998, L 333, S. 1)], Artikel 1 Buchstabe a sowie die Artikel 3 und 4 des Rahmenbeschlusses 2001/500/JI [des Rates vom 26. Juni 2001 über Geldwäsche sowie Ermittlung, Einfrieren, Beschlagnahme und Einziehung von Tatwerkzeugen und Erträgen aus Straftaten (ABl. 2001, L 182, S. 1)] und die Artikel 1 Gedankenstriche 1 bis 4 und Artikel 3 des Rahmenbeschlusses 2005/212/JI werden durch die vorliegende Richtlinie für die Mitgliedstaaten ersetzt, die durch die vorliegende Richtlinie gebunden sind, unbeschadet der Pflichten dieser Mitgliedstaaten im Zusammenhang mit den Fristen für die Umsetzung dieser Rahmenbeschlüsse in innerstaatliches Recht.“
Bulgarisches Recht
ZANN
10 Das Zakon za administrativnite narushenia i nakazania (Gesetz über verwaltungsrechtliche Zuwiderhandlungen und Verwaltungssanktionen) (DV Nr. 92 vom 28. November 1969) in seiner auf den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens anwendbaren Fassung (im Folgenden: ZANN) enthält ein Kapitel 4 („Verwaltungssanktionen strafrechtlicher Natur gegen juristische Personen und Einzelunternehmer“), das die Art. 83, 83a, 83b und 83d bis 83g dieses Gesetzes enthält.
11 Art. 83 dieses Gesetzes bestimmt:
„(1) In den in einem einschlägigen Gesetz oder einer einschlägigen Verordnung, Verordnung des Ministerrats oder Gemeindeverordnung vorgesehenen Fällen kann gegen juristische Personen und Einzelunternehmer wegen eines Verstoßes gegen ihre gegenüber dem Staat oder der Gemeinde bestehenden Pflichten bei der Ausübung ihrer Tätigkeit eine Geldstrafe verhängt werden.
(2) Die im vorstehenden Absatz genannte Strafe wird nach den in diesem Gesetz vorgesehenen Modalitäten verhängt, wenn im entsprechenden normativen Akt nichts anderes bestimmt ist.“
12 Art. 83a dieses Gesetzes sieht vor:
„(1) Gegen eine juristische Person, die sich bereichert hat oder bereichern könnte durch eine Straftat gemäß Art. 255 … des Strafgesetzbuchs sowie durch eine sonstige Straftat, die zugunsten oder im Auftrag einer organisierten kriminellen Vereinigung begangen wurde, durch
1. eine Person, die befugt ist, die juristische Person zu verpflichten,
2. eine Person, die die juristische Person vertritt,
3. eine Person, die in ein Kontroll- oder Aufsichtsorgan der juristischen Person gewählt wurde, oder
4. einen Arbeiter oder Angestellten, dem die juristische Person eine besondere Aufgabe übertragen hat, wenn die Straftat im Rahmen oder bei Gelegenheit dieser Aufgabe begangen wurde,
wird eine Geldstrafe von bis zu 1000000 [bulgarische Leva (BGN), ungefähr 511000 Euro] verhängt, mindestens jedoch in Höhe des erlangten Vorteils, wenn es sich um einen Vermögensvorteil handelt …
(2) Die Geldstrafe wird auch gegen juristische Personen verhängt, die ihren Sitz nicht im Hoheitsgebiet der Republik Bulgarien haben, wenn die in Abs. 1 genannte Straftat im Hoheitsgebiet der Republik Bulgarien begangen wurde.
(3) Die Geldstrafe wird gegen die juristische Person selbst dann verhängt, wenn die in Abs. 1 Nrn. 1, 2 und 3 genannten Personen zu den genannten Straftaten angestiftet oder dabei Beihilfe geleistet haben oder wenn die Straftat das Stadium des Versuchs nicht überschritten hat.
(4) Die Geldstrafe wird unabhängig von der tatsächlichen strafrechtlichen Verantwortlichkeit der an der Straftat nach Abs. 1 beteiligten Personen verhängt.
(5) Der unmittelbare oder mittelbare Vorteil, den die juristische Person aus der Straftat nach Abs. 1 erlangt hat, wird zugunsten des Staates eingezogen, sofern er nicht der Erstattung oder Rückgewähr oder der Einziehung nach dem Strafgesetzbuch unterliegt. Ist die Sache oder der Vermögensgegenstand, die bzw. der Gegenstand der Straftat ist, abhandengekommen oder veräußert worden, wird der Gegenwert in Leva [BGN] zugesprochen.
…“
13 Art. 83b ZANN bestimmt:
„(1) Das Verfahren nach Art. 83a wird auf den mit Gründen versehenen Antrag des Staatsanwalts, der für die Untersuchung des Falles oder der Akte der betreffenden Straftat zuständig ist, beim Okrazhen sad [Regionalgericht] des Sitzes der juristischen Person und in den Fällen nach Art. 83а Abs. 2 beim Sofiyski gradski sad [Stadtgericht Sofia] eingeleitet:
1. nach Einreichung bei Gericht der Anklageschrift, eines Beschlusses mit dem Antrag, den Täter von der strafrechtlichen Verantwortlichkeit freizustellen und gegen ihn eine Verwaltungssanktion zu verhängen, oder einer Vereinbarung zur Erledigung im Wege der Verständigung;
…
(2) Der Antrag muss enthalten:
1. eine Beschreibung der Straftat, Angaben zu den Umständen, unter denen sie begangen wurde, und eine Darlegung des Bestehens eines Kausalzusammenhangs zwischen der Straftat und dem Vorteil für die juristische Person;
2. Angaben zu Art und Höhe des Vorteils;
3. den Namen, den Gegenstand der Tätigkeit, den Sitz und die Anschrift der Geschäftsleitung der juristischen Person;
4. die personenbezogenen Daten des Vertreters der juristischen Person;
5. die personenbezogenen Daten der wegen der Straftat angeklagten oder verurteilten Personen;
6. ein Verzeichnis der schriftlichen Unterlagen, die die Umstände nach den Nrn. 1 und 2 belegen, oder beglaubigte Kopien dieser Unterlagen;
7. eine Liste der zu ladenden Personen;
8. das Datum und den Ort seiner Erstellung sowie den Namen, die Funktion und die Unterschrift des Staatsanwalts.
…“
14 Art. 83d dieses Gesetzes bestimmt:
„…
(2) Das Gericht, das in Einzelrichterbesetzung tagt, prüft den Antrag in öffentlicher Sitzung, an der die Staatsanwaltschaft teilnimmt und zu der die juristische Person geladen wird.
(3) Das Nichterscheinen des Vertreters der juristischen Person trotz ordnungsgemäßer Ladung steht einer Entscheidung des Gerichts in der Rechtssache nicht entgegen.
(4) Das Gericht führt die Beweisaufnahme von Amts wegen oder auf Antrag der Parteien durch.
(5) Das Gericht prüft die Rechtssache und beurteilt auf der Grundlage der Beweisaufnahme:
1. ob die betreffende juristische Person einen rechtswidrigen Vorteil erlangt hat;
2. ob zwischen dem Täter und der juristischen Person eine Verbindung besteht;
3. ob zwischen der Straftat und dem von der juristischen Person erlangten Vorteil ein Zusammenhang besteht;
4. die Art und Höhe des Vorteils, wenn es sich um einen Vermögensvorteil handelt.
(6) Das Gericht erlässt eine Entscheidung, mit der es
1. eine Geldstrafe verhängt, [oder]
2. die Verhängung einer Geldstrafe ablehnt.
(7) Die Entscheidung nach Abs. 6 Nr. 1 enthält:
1. Angaben zur juristischen Person;
2. Angaben zum Ursprung, zur Art und zur Höhe des Vorteils;
3. den Betrag der verhängten Geldbuße;
4. die Beschreibung des Vermögensgegenstands, der gegebenenfalls zugunsten des Staates eingezogen wird;
5. die Kostenfestsetzung.
…“
15 In Art. 83e des Gesetzes heißt es:
„…
(1) Gegen die Entscheidung des Okrazhen sad [Regionalgericht] nach Art. 83d Abs. 6 kann innerhalb einer Frist von 14 Tagen nach ihrer Zustellung an die Parteien beim Apelativen sad [Berufungsgericht] Berufung [durch die Person, gegen die eine Strafe verhängt wurde] oder Widerspruch [‚Protest‘] [durch die Staatsanwaltschaft] eingelegt werden.
(2) Die Sache wird in öffentlicher Sitzung unter Beteiligung der Staatsanwaltschaft erörtert. Die juristische Person wird ebenfalls zur Sitzung geladen.
(3) Im Verfahren … sind lediglich schriftliche Beweise zugelassen.
(4) Der Apelativen sad [(Berufungsgericht)] erlässt eine Entscheidung, mit der er
1. die Entscheidung des Okrazhen sad [(Regionalgericht)] aufheben und die Sache zur erneuten Prüfung zurückverweisen kann, wenn im erstinstanzlichen Verfahren wesentliche Verstöße gegen die Verfahrensvorschriften begangen wurden;
2. die Entscheidung des Okrazhen sad [(Regionalgericht)] aufheben und eine Geldstrafe verhängen kann;
3. die Entscheidung des Okrazhen sad [(Regionalgericht)] aufheben und die Verhängung einer Geldstrafe ablehnen kann;
4. die Entscheidung des Okrazhen sad [(Regionalgericht)] abändern kann;
5. die Entscheidung des Okrazhen sad [(Regionalgericht)] bestätigen kann.
(5) Die Entscheidung des Apelativen sad [(Berufungsgericht)] ist endgültig.“
16 Art. 83f ZANN lautet:
„…
(1) Ein Verfahren, in dem ein rechtskräftiges Urteil des Okrazhen sad [(Regionalgericht)] oder des Apelativen sad [(Berufungsgericht)] ergangen ist, kann wiederaufgenommen werden, wenn
1. durch ein rechtskräftiges Urteil oder eine rechtskräftige Entscheidung festgestellt wird, dass einige der schriftlichen Beweise, auf deren Grundlage die Entscheidung ergangen ist, falsch sind oder unzutreffende Informationen enthalten;
2. durch ein rechtskräftiges Urteil oder eine rechtskräftige Entscheidung festgestellt wird, dass der Richter, der Staatsanwalt, eine Partei oder ein Verfahrensbeteiligter im Zusammenhang mit seiner Teilnahme am Verfahren eine Straftat begangen hat;
3. nach Rechtskraft der Entscheidung, mit der gegen die juristische Person eine Geldstrafe verhängt wurde, die in Art. 83a Abs. 1 Nrn. 1 bis 4 genannte Person durch ein rechtskräftiges Gerichtsurteil freigesprochen wurde oder die Staatsanwaltschaft das ausgesetzte Ermittlungsverfahren in den in Art. 24 Abs. 1 Nr. 1 der Strafprozessordnung genannten Fällen eingestellt hat;
4. nach Rechtskraft der Entscheidung Umstände oder Beweismittel bekannt werden, die der Partei oder dem Gericht nicht bekannt waren und für die Rechtssache von wesentlicher Bedeutung sind;
5. durch eine Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte eine Verletzung der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten festgestellt wurde, die für die Rechtssache von wesentlicher Bedeutung ist;
6. im Laufe des Verfahrens ein wesentlicher Verstoß gegen Verfahrensvorschriften begangen wurde.
(2) Der Antrag auf Wiederaufnahme kann innerhalb einer Frist von sechs Monaten ab Kenntnis der begründenden Umstände und in den Fällen nach Abs. 1 Nr. 6 ab Rechtskraft der Entscheidung des Okrazhen sad [(Regionalgericht)] oder des Apelativen sad [(Berufungsgericht)] gestellt werden.
(3) Durch den Antrag auf Wiederaufnahme wird die Vollstreckung der rechtskräftig gewordenen Entscheidung nicht gehemmt, es sei denn, das Gericht ordnet etwas anderes an.
(4) Der Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens kann gestellt werden:
1. vom Staatsanwalt der Regionalstaatsanwaltschaft;
2. von der juristischen Person, gegen die eine Geldstrafe verhängt wurde.
(5) Der Wiederaufnahmeantrag wird vom Apelativen sad [(Berufungsgericht)] des Gerichtsbezirks geprüft, in dem sich die Stelle befindet, die die in Kraft getretene Entscheidung erlassen hat.
(6) Der Apelativen sad [(Berufungsgericht)] prüft den Antrag in einem mit drei Richtern besetzten Spruchkörper. Betrifft der Antrag eine Entscheidung des Apelativen sad [(Berufungsgericht)], so wird der Wiederaufnahmeantrag von einer anderen Kammer dieses Apelativen sad [(Berufungsgericht)] geprüft.
(7) Die Sache wird in öffentlicher Sitzung unter Beteiligung der Staatsanwaltschaft erörtert. Die juristische Person wird ebenfalls zur Sitzung geladen.
(8) Hält der Apelativen sad [(Berufungsgericht)] den Antrag für begründet, so hebt er die Entscheidung auf und verweist die Sache zur erneuten Verhandlung zurück, wobei er angibt, ab welchem Verfahrensschritt die Untersuchung erneut durchgeführt werden muss.“
17 Art. 83g dieses Gesetzes bestimmt:
„Für Fragestellungen, die nicht in den Art. 83b und 83d bis 83f geregelt sind, gelten die Bestimmungen der Strafprozessordnung.“
Strafgesetzbuch
18 Art. 255 Abs. 1 des Nakazatelen kodeks (Strafgesetzbuch) bestimmt:
„Wer sich der Festsetzung oder der Zahlung von Steuerschulden in großer Höhe entzieht, indem er
…
2. falsche Informationen vorlegt oder die Wahrheit in der von ihm vorgelegten Erklärung verschweigt,
3. es versäumt, eine Rechnung oder andere Buchhaltungsunterlagen vorzulegen,
…
wird mit Freiheitsstrafe von einem bis zu sechs Jahren und mit Geldstrafe von bis zu 2000 [BGN] bestraft“.
Ausgangsverfahren und Vorlagefragen
19 ZK ist Geschäftsführerin und Vertreterin der in Burgas (Bulgarien) ansässigen Delta Stroy. In dieser Eigenschaft wurde ZK am 5. August 2019 zur Last gelegt, durch eine fortgesetzte Straftat die Zahlung von Steuerverbindlichkeiten in Höhe von insgesamt 11388,98 BGN (ca. 5800 Euro) – der für die Besteuerungszeiträume März, April und Juli 2009 geschuldeten Mehrwertsteuer – vermieden zu haben, was eine Straftat nach Art. 255 Abs. 1 Nrn. 2 und 3 des Strafgesetzbuchs darstelle. Zum Zeitpunkt der Einreichung des vorliegenden Vorabentscheidungsersuchens war dieses Strafverfahren beim Okrazhen sad – Burgas (Regionalgericht Burgas, Bulgarien) anhängig.
20 Am 9. Dezember 2020 beantragte der Staatsanwalt der Okrazhna prokuratura – Burgas (Regionalstaatsanwaltschaft Burgas, Bulgarien) beim genannten Gericht in einem gesonderten Verfahren gemäß den Art. 83a ff. ZANN die Verhängung einer Geldstrafe gegen Delta Stroy wegen Erlangung eines Vermögensvorteils aus der von ZK begangenen Straftat. Dem Antrag war die ZK betreffende Anklageschrift beigefügt.
21 Der Okrazhen sad – Burgas (Regionalgericht Burgas) hegt Zweifel an der Vereinbarkeit der Art. 83a ff. ZANN mit dem Rahmenbeschluss 2005/212 und dem in Art. 49 der Charta verankerten Grundsatz der Gesetzmäßigkeit im Zusammenhang mit Straftaten und Strafen, da sie es dem Strafgericht ermöglichten, gegen eine juristische Person wegen einer Straftat, die Gegenstand eines parallelen, noch nicht endgültig abgeschlossenen Strafverfahrens sei, eine Geldstrafe zu verhängen.
22 Das vorlegende Gericht weist zunächst darauf hin, dass nach einer früheren Fassung der einschlägigen Bestimmungen des ZANN eine Geldstrafe gegen eine juristische Person wegen einer von einer natürlichen Person im Zusammenhang mit der Tätigkeit dieser juristischen Person begangenen Straftat erst dann habe verhängt werden dürfen, wenn die gerichtliche Entscheidung, mit der diese natürliche Person verurteilt worden sei, rechtskräftig geworden sei. Nach der Änderung dieser Bestimmungen sei dieses Erfordernis jedoch aufgegeben worden.
23 In der vorliegenden Rechtssache seien zwei parallele Verfahren eingeleitet worden, eines gegen ZK, nach Art. 255 Abs. 1 des Strafgesetzbuchs, wegen einer Steuerstraftat, die sie begangen haben solle, und ein anderes gegen Delta Stroy, nach den Art. 83a ff. ZANN, das darauf gerichtet sei, gegen diese Gesellschaft eine Geldstrafe in Höhe des sich aus dieser Straftat ergebenden Vermögensvorteils zu verhängen. Das vorlegende Gericht weist darauf hin, dass das ZANN nicht die Möglichkeit vorsehe, das Verfahren nach seinen Art. 83a ff. auszusetzen, bis das Strafverfahren gegen ZK abgeschlossen sei.
24 Sodann stellt nach Ansicht des vorlegenden Gerichts die Verhängung einer Geldstrafe gegen eine juristische Person wegen der Begehung einer Straftat durch eine natürliche Person in Höhe des Vorteils, den diese juristische Person aus dieser Straftat erlangt habe oder erlangen könnte, eine vollständige oder teilweise Einziehung der Erträge aus der Straftat im Sinne von Art. 2 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2005/212 dar.
25 Schließlich weist das vorlegende Gericht darauf hin, dass in Art. 49 der Charta der Grundsatz der Gesetzmäßigkeit im Zusammenhang mit Straftaten und Strafen verankert sei, der es verbiete, eine Strafe zu verhängen, bevor das Vorliegen einer Straftat festgestellt worden sei. Was das ZANN angehe, gehöre jedoch die Frage, ob von der natürlichen Person tatsächlich eine Straftat begangen worden sei, nicht zu den Punkten, die das Strafgericht nach Art. 83d Abs. 5 dieses Gesetzes im Hinblick auf die Verhängung einer etwaigen Geldstrafe gegen die juristische Person beurteilen müsse.
26 So erlaube es das Verfahren nach den Art. 83a ff. ZANN in der Praxis, gegen eine juristische Person eine Strafe zu verhängen, die allein auf den in der Anklage gegen den Geschäftsführer und Vertreter dieser juristischen Person enthaltenen Angaben zu einer bestimmten Straftat beruhe, deren Vorliegen noch nicht durch eine rechtskräftige gerichtliche Entscheidung festgestellt worden sei.
27 Unter diesen Umständen hat der Okrazhen sad – Burgas (Regionalgericht Burgas) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
1. Sind die Art. 4 und 5 des Rahmenbeschlusses 2005/212 sowie Art. 49 der Charta dahin auszulegen, dass sie eine Regelung eines Mitgliedstaats zulassen, nach der das nationale Gericht in einem Verfahren wie dem Ausgangsverfahren gegen eine juristische Person wegen einer konkreten Straftat, deren Begehung noch nicht festgestellt wurde, weil sie Gegenstand eines nicht endgültig abgeschlossenen parallelen Strafverfahrens ist, eine Strafe verhängen kann?
2. Sind die Art. 4 und 5 des Rahmenbeschlusses 2005/212 sowie Art. 49 der Charta dahin auszulegen, dass sie eine Regelung eines Mitgliedstaats zulassen, nach der das nationale Gericht in einem Verfahren wie dem Ausgangsverfahren gegen eine juristische Person eine Strafe verhängen kann, indem es die Höhe dieser Strafe auf den Betrag des Ertrags festsetzt, der durch eine konkrete Straftat erlangt worden wäre, deren Begehung noch nicht festgestellt wurde, weil sie Gegenstand eines nicht endgültig abgeschlossenen parallelen Strafverfahrens ist?
Zu den Vorlagefragen
Zur ersten Frage
Vorbemerkungen
28 Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs ist es im Rahmen des durch Art. 267 AEUV eingeführten Verfahrens der Zusammenarbeit zwischen den nationalen Gerichten und dem Gerichtshof dessen Aufgabe, dem nationalen Gericht eine für die Entscheidung des bei ihm anhängigen Verfahrens sachdienliche Antwort zu geben. Hierzu hat er die ihm vorgelegten Fragen gegebenenfalls umzuformulieren. Es ist nämlich Aufgabe des Gerichtshofs, alle Bestimmungen des Unionsrechts auszulegen, die die nationalen Gerichte benötigen, um in den bei ihnen anhängigen Verfahren zu entscheiden, auch wenn diese Bestimmungen in den dem Gerichtshof vorgelegten Fragen nicht ausdrücklich genannt sind (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 7. Juli 2022, Pensionsversicherungsanstalt [Kindererziehungszeiten im Ausland], C‑576/20, EU:C:2022:525, Rn. 35 und die dort angeführte Rechtsprechung).
29 Hierzu ist als Erstes festzustellen, dass das vorlegende Gericht mit seiner ersten Frage zwar wissen möchte, wie die Art. 4 und 5 des Rahmenbeschlusses 2005/212, der die Einziehung von Erträgen, Tatwerkzeugen und Vermögensgegenständen aus Straftaten betrifft, auszulegen sind, es im Ausgangsverfahren jedoch nicht um ein solches Einziehungsverfahren geht.
30 Was zunächst den Begriff „Einziehung“ angeht, ist nämlich nicht auf die Definition in Art. 1 vierter Gedankenstrich des Rahmenbeschlusses 2005/212 abzustellen, sondern auf die Definition in Art. 2 Nr. 4 der Richtlinie 2014/42, da diese Richtlinie nach ihrem Art. 14 Abs. 1 u. a. Art. 1 Gedankenstriche 1 bis 4 dieses Rahmenbeschlusses ersetzt hat. Nach der letztgenannten Definition ist eine Einziehung „eine von einem Gericht in Bezug auf eine Straftat angeordnete endgültige Entziehung von Vermögensgegenständen“.
31 Sodann verlangt Art. 2 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2005/212, dass jeder Mitgliedstaat die erforderlichen Maßnahmen trifft, um sicherzustellen, dass Tatwerkzeuge und Erträge aus Straftaten, die mit einer Freiheitsstrafe von mehr als einem Jahr bedroht sind, oder Vermögensgegenstände, deren Wert diesen Erträgen entspricht, ganz oder teilweise eingezogen werden können.
32 Schließlich ergibt sich aus Art. 2 Nr. 1 der Richtlinie 2014/42, dass ein „Ertrag“ jeder wirtschaftliche Vorteil ist, der durch eine Straftat erlangt wird, und dass dieser Vorteil aus Vermögensgegenständen aller Art bestehen kann.
33 In diesem Rahmen stellt ein Geldbetrag zwar einen „Vermögensgegenstand“ dar, der eingezogen werden kann (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 21. Oktober 2021, Okrazhna prokuratura – Varna, C‑845/19 und C‑863/19, EU:C:2021:864, Rn. 58), doch kann ein solcher Vermögensgegenstand nur dann Gegenstand einer Einziehungsmaßnahme nach Art. 2 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2005/212 sein, wenn er dem aus einer Straftat stammenden Vorteil, d. h. dem Ertrag dieser Straftat, oder dem Tatwerkzeug dieser Straftat, d. h. dem Gegenstand, der zur Begehung dieser Straftat verwendet wurde oder verwendet werden sollte, entspricht.
34 Dagegen bezeichnet der Begriff „Geldstrafe oder Geldbuße“ nach der Definition in Art. 1 Buchst. b Ziff. i des Rahmenbeschlusses 2005/214 die Verpflichtung zur Zahlung eines in einer Entscheidung in Strafsachen festgesetzten Geldbetrags aufgrund einer Verurteilung wegen einer Zuwiderhandlung. Diese Bestimmung stellt klar, dass dieser Begriff u. a. Entscheidungen über die Einziehung von Tatwerkzeugen oder Erträgen aus Straftaten nicht umfasst.
35 Hierzu ist festzustellen, dass die Höhe der Geldstrafe oder Geldbuße nicht notwendig dem Wert des wirtschaftlichen Vorteils entsprechen wird, der aus der Straftat gezogen wurde, die mit dieser Strafe oder Buße geahndet wird. Diese kann nämlich auf einen Betrag festgesetzt werden, der unter dem Wert dieses Vorteils liegt, diesem Wert entspricht oder diesen übersteigt, und sogar verhängt werden, wenn kein solcher Vorteil vorliegt, oder mit der Einziehung der Erträge aus der Straftat einhergehen. Im Übrigen kann eine solche Geldstrafe oder Geldbuße auch nicht mit der Einziehung des Tatwerkzeugs, mit dem die betreffende Straftat begangen wurde, gleichgesetzt werden.
36 Somit zeigt sich, dass der Unionsgesetzgeber mit dem Erlass der Rahmenbeschlüsse 2005/212 und 2005/214 zwischen Maßnahmen betreffend die Einziehung von Vermögensgegenständen, die den Ertrag aus Straftaten oder das hierfür verwendete Tatwerkzeug darstellen, und Maßnahmen, die die mit solchen Straftaten verbundene Geldstrafe oder Geldbuße betreffen, unterscheiden wollte.
37 Im vorliegenden Fall ist das vorlegende Gericht der Ansicht, dass die Verhängung einer Geldstrafe gegen eine juristische Person wegen der Begehung einer Straftat durch eine natürliche Person in Höhe des Vorteils, den diese juristische Person aus dieser Straftat erlangt hat oder erlangen könnte, eine vollständige oder teilweise Einziehung der Erträge aus der Straftat im Sinne von Art. 2 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2005/212 darstelle. Es erklärt jedoch, dass das bulgarische Recht die Verhängung einer solchen Geldstrafe auch dann erlaube, wenn tatsächlich kein Vorteil erlangt worden sei oder der Vorteil nicht vermögensrechtlicher Art sei. Ferner konzentriere sich das Verfahren nach den Art. 83a ff. ZANN nicht ausschließlich auf rechtswidrig erworbene Vermögensgegenstände. Außerdem ergibt sich aus Art. 83a Abs. 1 ZANN, dass die Höhe der Geldstrafe, die verhängt werden kann, den Wert des erlangten Vorteils übersteigen kann.
38 Nach alledem stellt eine Geldstrafe wie die in Art. 83a Abs. 1 ZANN vorgesehene keine Einziehungsmaßnahme im Sinne des Rahmenbeschlusses 2005/212 und der Richtlinie 2014/42 dar, selbst wenn die Höhe dieser Strafe dem Wert des aus der Straftat gezogenen Vermögensvorteils entspricht.
39 Folglich ist dieser Rahmenbeschluss auf den Ausgangsrechtsstreit nicht anwendbar, so dass seine Art. 4 und 5 im Rahmen des vorliegenden Vorabentscheidungsersuchens nicht auszulegen sind.
40 Als Zweites ist zu den Zweifeln des vorlegenden Gerichts hinsichtlich der Vereinbarkeit der Art. 83a ff. ZANN mit Art. 49 der Charta erstens festzustellen, dass Gegenstand des Ausgangsverfahrens die Verhängung einer Geldstrafe gegen eine Gesellschaft wegen eines rechtswidrigen Vermögensvorteils ist, den diese aufgrund einer Straftat erlangt hat, die ihre Vertreterin und Geschäftsführerin im Bereich der Mehrwertsteuererklärung begangen haben soll.
41 Der Gerichtshof hat bereits entschieden, dass von den nationalen Steuerbehörden verhängte Verwaltungssanktionen und wegen Mehrwertsteuerstraftaten eingeleitete Strafverfahren als Durchführung des Unionsrechts im Sinne von Art. 51 Abs. 1 der Charta anzusehen sind, da sie die genaue Erhebung der Mehrwertsteuer sicherstellen und Betrug bekämpfen sollen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 26. Februar 2013, Åkerberg Fransson, C‑617/10, EU:C:2013:105, Rn. 26 und 27, sowie vom 5. Mai 2022, BV, C‑570/20, EU:C:2022:348, Rn. 26). Dies gilt auch für von einem Gericht im Kontext solcher Strafverfahren verhängte Strafen. Die Charta ist folglich auf das Ausgangsverfahren anwendbar.
42 Zweitens steht fest, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Sanktionsregelung strafrechtlicher Natur ist. Das vorlegende Gericht weist insbesondere darauf hin, dass das Verfahren nach den Art. 83a ff. ZANN alle Merkmale eines Strafverfahrens aufweise.
43 Drittens ist in Art. 49 der Charta u. a. der Grundsatz der Gesetzmäßigkeit im Zusammenhang mit Straftaten und Strafen verankert, und dieser Artikel entspricht, wie sich aus den Erläuterungen zur Charta der Grundrechte (ABl. 2007, C 303, S. 17) ergibt, Art. 7 der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (im Folgenden: EMRK).
44 Soweit die Charta Rechte enthält, die den durch die EMRK garantierten Rechten entsprechen, haben diese nach Art. 52 Abs. 3 der Charta die gleiche Bedeutung und Tragweite, wie sie ihnen in dieser Konvention verliehen werden. Der Gerichtshof muss daher darauf achten, dass seine Auslegung von Art. 49 der Charta ein Schutzniveau gewährleistet, das nicht hinter dem in Art. 7 EMRK in seiner Auslegung durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte garantierten Schutzniveau zurückbleibt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 23. November 2021, IS [Rechtswidrigkeit des Vorlagebeschlusses], C‑564/19, EU:C:2021:949, Rn. 101 und die dort angeführte Rechtsprechung).
45 Wie das vorlegende Gericht selbst ausgeführt hat, hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte entschieden, dass Art. 7 EMRK die Verhängung einer strafrechtlichen Sanktion gegen eine Person ausschließt, wenn nicht ihre persönliche strafrechtliche Verantwortlichkeit zuvor festgestellt und erklärt wurde, da andernfalls auch die von Art. 6 Abs. 2 EMRK garantierte Unschuldsvermutung verletzt würde (EGMR, Urteil vom 28. Juni 2018, G.I.E.M. s.r.l. u. a./Italien, CE:ECHR:2018:0628JUD000182806, § 251).
46 Da Art. 49 der Charta dahin auszulegen ist, dass er dieselben Vorgaben enthält wie die, die sich aus Art. 7 EMRK ergeben und in der vorstehenden Randnummer genannt sind, ist Art. 49 der Charta für die Beantwortung der ersten Vorlagefrage relevant.
47 Allerdings entsprechen, wie die in Rn. 45 des vorliegenden Urteils angeführte Rechtsprechung bestätigt, diese Vorgaben auch denen, die sich aus dem in Art. 6 Abs. 2 EMRK verankerten Grundsatz der Unschuldsvermutung ergeben, der in Art. 48 Abs. 1 der Charta ausdrücklich niedergelegt ist.
48 In Anbetracht des Gegenstands des vorliegenden Vorabentscheidungsersuchens, das im Wesentlichen die über eine Vermutung erfolgende Zuweisung einer strafrechtlichen Verantwortlichkeit an eine juristische Person wegen des Verhaltens ihres Vertreters und Geschäftsführers betrifft, genügt es im Rahmen der Beantwortung dieser Frage somit, nicht auf Art. 49, sondern auf Art. 48 Abs. 1 der Charta Bezug zu nehmen, der – in Übereinstimmung mit der in Rn. 44 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung – so auszulegen ist, dass ein Schutzniveau gewährleistet wird, das nicht hinter dem in Art. 6 EMRK garantierten Schutzniveau zurückbleibt.
49 Art. 48 Abs. 2 der Charta, in dem der Grundsatz der Wahrung der Verteidigungsrechte verankert ist, erscheint für die Erteilung einer sachdienlichen Antwort an das vorlegende Gericht ebenfalls relevant.
50 Daher ist die erste Frage dahin umzuformulieren, dass mit ihr geklärt werden soll, ob Art. 48 der Charta dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung entgegensteht, nach der ein nationales Gericht gegen eine juristische Person eine strafrechtliche Sanktion wegen einer Straftat verhängen kann, für die eine natürliche Person, die befugt ist, diese juristische Person zu verpflichten oder zu vertreten, verantwortlich sein soll, wenn diese Verantwortlichkeit noch nicht endgültig festgestellt wurde.
Zur Begründetheit
51 Nach Art. 48 Abs. 1 der Charta gilt jeder Angeklagte bis zum rechtsförmlich erbrachten Beweis seiner Schuld als unschuldig. Dieser Grundsatz ist anwendbar, wenn es darum geht, die objektiven Tatbestandsmerkmale eines Verstoßes zu bestimmen, der zur Verhängung von Verwaltungssanktionen strafrechtlicher Natur führen kann (Urteil vom 9. September 2021, Adler Real Estate u. a., C‑546/18, EU:C:2021:711, Rn. 46 und die dort angeführte Rechtsprechung). Wie in Rn. 42 des vorliegenden Urteils festgestellt, ist dies hier der Fall.
52 Außerdem bestimmt Art. 48 Abs. 2 der Charta, dass jedem Angeklagten die Achtung der Verteidigungsrechte gewährleistet wird. Der Gerichtshof hat bereits entschieden, dass die Achtung der Verteidigungsrechte in allen Verfahren, die zu Sanktionen führen können, einen tragenden Grundsatz des Unionsrechts darstellt (Urteile vom 14. September 2010, Akzo Nobel Chemicals und Akcros Chemicals/Kommission u. a., C‑550/07 P, EU:C:2010:512, Rn. 92, sowie vom 15. Juli 2021, Kommission/Polen [Disziplinarordnung für Richter], C‑791/19, EU:C:2021:596, Rn. 204).
53 Nach Ansicht des vorlegenden Gerichts ergibt sich aus Art. 83a Abs. 1 in Verbindung mit den Art. 83b und 83f ZANN, dass gegen eine juristische Person eine Strafe verhängt werden kann, wenn sie sich infolge einer Straftat bereichert hat oder bereichern kann, die einer natürlichen Person zugerechnet wird, die befugt ist, diese juristische Person zu verpflichten, oder diese vertritt, und zwar noch bevor diese natürliche Person wegen dieser Straftat rechtskräftig verurteilt worden ist.
54 Im Übrigen ergibt sich aus dem Vorlagebeschluss, dass ein Gericht, bei dem der zuständige Staatsanwalt beantragt, gemäß Art. 83a Abs. 1 ZANN eine Geldstrafe gegen eine juristische Person zu verhängen, gemäß Art. 83d Abs. 5 dieses Gesetzes die Sache allein anhand der in dieser Vorschrift genannten Punkte prüfen muss, d. h. des Erlangens eines rechtswidrigen Vorteils durch die fragliche juristische Person, des Bestehens einer Verbindung zwischen dem Täter und der juristischen Person, des Bestehens eines Zusammenhangs zwischen der Straftat und dem erlangten Vorteil sowie der Art und Höhe des Vorteils, wenn es sich um einen Vermögensvorteil handelt. Das vorlegende Gericht führt aus, dass alle diese Punkte auf der Prämisse beruhten, dass eine Straftat begangen wurde. Das mit dem Antrag des zuständigen Staatsanwalts befasste Gericht sei nicht befugt, das Zutreffen dieser Prämisse in Frage zu stellen, da die Frage, ob eine Straftat begangen wurde, nur im Rahmen des Strafverfahrens gegen die natürliche Person behandelt werden könne.
55 Schließlich geht aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten nicht hervor, dass die juristische Person über einen Rechtsbehelf mit unbeschränkter Nachprüfung verfügen würde, der es ihr ermöglichen würde, in einem späteren Stadium des gegen sie eröffneten Verfahrens das Vorliegen einer Straftat zu bestreiten.
56 Zwar kann diese juristische Person gemäß Art. 83e ZANN Berufung gegen ihre Verurteilung einlegen, doch scheint auch das Berufungsgericht nicht in der Lage zu sein, zu beurteilen, ob diese Prämisse zutrifft.
57 Außerdem kann das Verfahren, das zur Verhängung einer strafrechtlichen Sanktion gegen die juristische Person geführt hat, gemäß Art. 83f ZANN nur unter bestimmten ganz besonderen Umständen wiederaufgenommen werden. Ohne dass über die Frage entschieden zu werden braucht, ob diese Wiederaufnahmegründe dem mit der Rechtssache befassten Gericht weiterreichende Befugnisse einräumen als die, über die es bei der Entscheidung in erster Instanz oder in der Berufungsinstanz verfügte, genügt daher die Feststellung, dass es sich um einen außerordentlichen Rechtsbehelf handelt, der der nach den Art. 83a ff. ZANN strafrechtlich verurteilten juristischen Person nicht ohne Weiteres zur Verfügung steht.
58 Daraus folgt, wie der Generalanwalt in den Nrn. 50 und 52 seiner Schlussanträge im Wesentlichen ausgeführt hat, dass die juristische Person infolge einer Straftat, die der natürlichen Person zugerechnet wird, die befugt ist, sie zu verpflichten oder zu vertreten, rechtskräftig strafrechtlich belangt werden kann, ohne dass das zuständige Gericht beurteilen kann, ob die Straftat tatsächlich begangen wurde, und ohne dass die juristische Person hierzu in sachdienlicher Weise ihren Standpunkt vortragen kann.
59 Eine solche Situation kann den Grundsatz der Unschuldsvermutung und die Verteidigungsrechte, die dieser juristischen Person durch Art. 48 der Charta garantiert werden, in offensichtlich unverhältnismäßiger Weise verletzen.
60 Es trifft zwar zu, dass Art. 48 der Charta einen Mitgliedstaat nicht daran hindert, Vermutungen tatsächlicher oder rechtlicher Art einzuführen, doch ist es Sache dieses Mitgliedstaats, die in Strafgesetzen enthaltenen Vermutungen angemessen einzugrenzen, wobei das Gewicht der betroffenen Belange zu berücksichtigen ist und die Verteidigungsrechte zu wahren sind, da andernfalls der in Abs. 1 dieses Artikels verankerte Grundsatz der Unschuldsvermutung in unverhältnismäßiger Weise verletzt würde (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 9. September 2021, Adler Real Estate u. a., C‑546/18, EU:C:2021:711, Rn. 47).
61 Desgleichen hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte entschieden, dass die Mitgliedstaaten unter bestimmten Voraussetzungen eine einfache oder objektive Tatsache als solche bestrafen können. Soweit es um das Strafrecht geht, verpflichtet der EGMR die Mitgliedstaaten jedoch, gewisse Grenzen zu achten. Diese werden überschritten, wenn eine Vermutung es dem Einzelnen unmöglich macht, sich von den gegen ihn erhobenen Vorwürfen zu entlasten, und ihn damit des Schutzes von Art. 6 Abs. 2 EMRK beraubt (vgl. in diesem Sinne EGMR, Urteil vom 28. Juni 2018, G.I.E.M. s.r.l. u. a./Italien, CE:ECHR:2018:0628JUD000182806, § 243 und die dort angeführte Rechtsprechung).
62 Wie in Rn. 54 des vorliegenden Urteils ausgeführt, ist das Gericht, das mit der Verhängung einer Strafe gegen die juristische Person befasst ist, nur befugt, über ganz bestimmte Punkte zu entscheiden, ohne beurteilen zu können, ob die Straftat vorliegt, die eine solche Strafe begründen kann. Daraus folgt, dass diese juristische Person nicht in der Lage ist, ihre Verteidigungsrechte sachgerecht auszuüben, da sie das Vorliegen dieser Straftat nicht bestreiten kann und letztlich die Folgen des Bestehens eines gesonderten Verfahrens gegen die natürliche Person, die befugt ist, sie zu verpflichten oder zu vertreten, zu tragen hat.
63 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass die Verteidigungsrechte subjektiven Charakter haben, so dass die betroffenen Parteien selbst in der Lage sein müssen, sie wirksam auszuüben (Urteil vom 9. September 2021, Adler Real Estate u. a., C‑546/18, EU:C:2021:711, Rn. 59 und die dort angeführte Rechtsprechung). Im Übrigen kann keineswegs ausgeschlossen werden, dass die Interessen der juristischen Person und die Interessen der natürlichen Person, die befugt ist, sie zu verpflichten oder zu vertreten, unterschiedlich sind.
64 Dieses Ergebnis wird nicht dadurch in Frage gestellt, dass die juristische Person nach Art. 83f ZANN die Wiederaufnahme des Verfahrens beantragen kann, um die Aufhebung der gegen sie verhängten Geldstrafe zu erwirken, insbesondere wenn die natürliche Person, die befugt ist, diese juristische Person zu verpflichten oder zu vertreten, von den gegen sie erhobenen Vorwürfen freigesprochen wird. Wie in Rn. 55 des vorliegenden Urteils ausgeführt, kann ein solcher Rechtsbehelf nämlich nicht einem Rechtsbehelf mit unbeschränkter Nachprüfung gleichgestellt werden, der von dieser juristischen Person ohne Weiteres eingelegt werden könnte.
65 Im Übrigen ist es zwar richtig, dass das durch die Art. 83a ff. ZANN eingeführte Verfahren den Schutz der finanziellen Interessen der Union ermöglicht, indem eine korrekte Erhebung der Mehrwertsteuer gewährleistet wird, doch kann ein solches Ziel keinen unverhältnismäßigen Verstoß gegen die in Art. 48 der Charta enthaltenen Garantien rechtfertigen (vgl. entsprechend EGMR, Urteil vom 23. November 2006, Jussila/Finnland, CE:ECHR:2006:1123JUD007305301, § 36). Im Übrigen steht nicht fest, dass ein Verfahren wie das im Ausgangsverfahren in Rede stehende erforderlich wäre, um eine systemische Gefahr der Straflosigkeit zu vermeiden.
66 Daraus folgt, dass ein Verfahren wie das in den Art. 83a ff. ZANN vorgesehene einen offensichtlich unverhältnismäßigen Eingriff in die in Art. 48 der Charta verankerten Rechte darstellt.
67 Aus den vorstehenden Erwägungen ergibt sich, dass Art. 48 der Charta dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung entgegensteht, nach der ein nationales Gericht gegen eine juristische Person eine strafrechtliche Sanktion wegen einer Straftat verhängen kann, für die eine natürliche Person, die befugt ist, diese juristische Person zu verpflichten oder zu vertreten, verantwortlich sein soll, wenn dieser juristischen Person keine Gelegenheit gegeben wurde, das Vorliegen dieser Straftat zu bestreiten.
Zur zweiten Frage
68 Angesichts der Antwort auf die erste Frage ist die zweite Frage nicht zu beantworten.
Kosten
69 Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Vierte Kammer) für Recht erkannt:
Art. 48 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union ist dahin auszulegen, dass er einer nationalen Regelung entgegensteht, nach der ein nationales Gericht gegen eine juristische Person eine strafrechtliche Sanktion wegen einer Straftat verhängen kann, für die eine natürliche Person, die befugt ist, diese juristische Person zu verpflichten oder zu vertreten, verantwortlich sein soll, wenn dieser juristischen Person keine Gelegenheit gegeben wurde, das Vorliegen dieser Straftat zu bestreiten.
Unterschriften
(*1) Verfahrenssprache: Bulgarisch.
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Urteil des Gerichts (Siebte Kammer) vom 9. Februar 2022.#AMVAC Netherlands BV gegen Europäische Kommission.#Pflanzenschutzmittel – Wirkstoff Ethoprophos – Nichterneuerung der Genehmigung – Verordnung (EG) Nr. 1107/2009 und Durchführungsverordnung (EU) Nr. 844/2012 – Verteidigungsrechte – Offensichtlicher Beurteilungsfehler – Rechtssicherheit – Verhältnismäßigkeit – Vorsorgeprinzip.#Rechtssache T-317/19.
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62019TJ0317
|
ECLI:EU:T:2022:62
| 2022-02-09T00:00:00 |
Gericht
|
EUR-Lex - CELEX:62019TJ0317 - EN - EUR-Lex
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Urteil des Gerichtshofs (Fünfte Kammer) vom 10. März 2022.#Verfahren auf Betreiben von K.#Vorabentscheidungsersuchen des Amtsgerichts Hannover.#Vorlage zur Vorabentscheidung – Einwanderungspolitik – Richtlinie 2008/115/EG – Inhaftnahme für die Zwecke der Abschiebung – Art. 16 Abs. 1 – Unmittelbare Wirkung – Spezielle Hafteinrichtung – Begriff – Inhaftierung in einer gewöhnlichen Haftanstalt – Voraussetzungen – Art. 18 – Notlage – Begriff – Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Effektiver gerichtlicher Rechtsschutz.#Rechtssache C-519/20.
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62020CJ0519
|
ECLI:EU:C:2022:178
| 2022-03-10T00:00:00 |
Richard de la Tour, Gerichtshof
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62020CJ0519
URTEIL DES GERICHTSHOFS (Fünfte Kammer)
10. März 2022 (*1)
„Vorlage zur Vorabentscheidung – Einwanderungspolitik – Richtlinie 2008/115/EG – Inhaftnahme für die Zwecke der Abschiebung – Art. 16 Abs. 1 – Unmittelbare Wirkung – Spezielle Hafteinrichtung – Begriff – Inhaftierung in einer gewöhnlichen Haftanstalt – Voraussetzungen – Art. 18 – Notlage – Begriff – Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Effektiver gerichtlicher Rechtsschutz“
In der Rechtssache C‑519/20
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Amtsgericht Hannover (Deutschland) mit Entscheidung vom 12. Oktober 2020, beim Gerichtshof eingegangen am 15. Oktober 2020, in dem Verfahren gegen
K,
Beteiligter:
Landkreis Gifhorn,
erlässt
DER GERICHTSHOF (Fünfte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten E. Regan, der Präsidentin der Dritten Kammer K. Jürimäe in Wahrnehmung der Aufgaben einer Richterin der Fünften Kammer, des Präsidenten der Vierten Kammer C. Lycourgos (Berichterstatter) sowie der Richter I. Jarukaitis und M. Ilešič,
Generalanwalt: J. Richard de la Tour,
Kanzler: D. Dittert, Referatsleiter,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 16. September 2021,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
–
von K, vertreten durch Rechtsanwalt P. Fahlbusch und Rechtsanwältin B. Böhlo,
–
der deutschen Regierung, vertreten durch J. Möller und R. Kanitz als Bevollmächtigte,
–
der niederländischen Regierung, vertreten durch M. K. Bulterman und M. H. S. Gijzen als Bevollmächtigte,
–
der Europäischen Kommission, vertreten durch C. Cattabriga und H. Leupold als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 25. November 2021
folgendes
Urteil
1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 16 Abs. 1 und Art. 18 der Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger (ABl. 2008, L 348, S. 98).
2 Es ergeht im Rahmen eines Abschiebungsverfahrens gegen K über die Rechtmäßigkeit seiner Inhaftnahme in der Justizvollzugsanstalt Hannover, Abteilung Langenhagen (Deutschland).
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
3 In den Erwägungsgründen 3, 13 und 16 der Richtlinie 2008/115 heißt es:
„(3)
Das Ministerkomitee des Europarates hat am 4. Mai 2005‚20 Leitlinien zur Frage der erzwungenen Rückkehr‘ angenommen.
…
(13) Der Rückgriff auf Zwangsmaßnahmen sollte im Hinblick auf die eingesetzten Mittel und die angestrebten Ziele ausdrücklich den Grundsätzen der Verhältnismäßigkeit und der Wirksamkeit unterliegen. Für den Fall einer Rückführung sollten Mindestverhaltensregeln aufgestellt werden; dabei ist die Entscheidung 2004/573/EG des Rates vom 29. April 2004 betreffend die Organisation von Sammelflügen zur Rückführung von Drittstaatsangehörigen, die individuellen Rückführungsmaßnahmen unterliegen, aus dem Hoheitsgebiet von zwei oder mehr Mitgliedstaaten [(ABl. 2004, L 261, S. 8)] zu berücksichtigen. Die Mitgliedstaaten sollten über verschiedene Möglichkeiten verfügen, Rückführungen zu überwachen.
…
(16) Das Mittel der Inhaftnahme für die Zwecke der Abschiebung sollte nur begrenzt zum Einsatz kommen und sollte im Hinblick auf die eingesetzten Mittel und die angestrebten Ziele dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit unterliegen. Eine Inhaftnahme ist nur gerechtfertigt, um die Rückkehr vorzubereiten oder die Abschiebung durchzuführen und wenn weniger intensive Zwangsmaßnahmen ihren Zweck nicht erfüllen.“
4 Art. 15 Abs. 1 dieser Richtlinie sieht vor:
„Sofern in dem konkreten Fall keine anderen ausreichenden, jedoch weniger intensiven Zwangsmaßnahmen wirksam angewandt werden können, dürfen die Mitgliedstaaten Drittstaatsangehörige, gegen die ein Rückkehrverfahren anhängig ist, nur in Haft nehmen, um deren Rückkehr vorzubereiten und/oder die Abschiebung durchzuführen, und zwar insbesondere dann, wenn
a)
Fluchtgefahr besteht oder
b)
die betreffenden Drittstaatsangehörigen die Vorbereitung der Rückkehr oder das Abschiebungsverfahren umgehen oder behindern.
Die Haftdauer hat so kurz wie möglich zu sein und sich nur auf die Dauer der laufenden Abschiebungsvorkehrungen [zu] erstrecken, solange diese mit der gebotenen Sorgfalt durchgeführt werden.“
5 Art. 16 der Richtlinie bestimmt:
„(1) Die Inhaftierung erfolgt grundsätzlich in speziellen Hafteinrichtungen. Sind in einem Mitgliedstaat solche speziellen Hafteinrichtungen nicht vorhanden und muss die Unterbringung in gewöhnlichen Haftanstalten erfolgen, so werden in Haft genommene Drittstaatsangehörige gesondert von den gewöhnlichen Strafgefangenen untergebracht.
(2) In Haft genommenen Drittstaatsangehörigen wird auf Wunsch gestattet, zu gegebener Zeit mit Rechtsvertretern, Familienangehörigen und den zuständigen Konsularbehörden Kontakt aufzunehmen.
(3) Besondere Aufmerksamkeit gilt der Situation schutzbedürftiger Personen. Medizinische Notfallversorgung und die unbedingt erforderliche Behandlung von Krankheiten wird gewährt.
(4) Einschlägig tätigen zuständigen nationalen und internationalen Organisationen sowie nicht-staatlichen Organisationen wird ermöglicht, in Absatz 1 genannte Hafteinrichtungen zu besuchen, soweit diese Einrichtungen für die Inhaftnahme von Drittstaatsangehörigen gemäß diesem Kapitel genutzt werden. Solche Besuche können von einer Genehmigung abhängig gemacht werden.
(5) In Haft genommene Drittstaatsangehörige müssen systematisch Informationen erhalten, in denen die in der Einrichtung geltenden Regeln erläutert und ihre Rechte und Pflichten dargelegt werden. Diese Information schließt eine Unterrichtung über ihren nach einzelstaatlichem Recht geltenden Anspruch auf Kontaktaufnahme mit den in Absatz 4 genannten Organisationen und Stellen ein.“
6 Art. 17 der Richtlinie lautet:
„(1) Bei unbegleiteten Minderjährigen und Familien mit Minderjährigen wird Haft nur im äußersten Falle und für die kürzestmögliche angemessene Dauer eingesetzt.
(2) Bis zur Abschiebung in Haft genommene Familien müssen eine gesonderte Unterbringung erhalten, die ein angemessenes Maß an Privatsphäre gewährleistet.
(3) In Haft genommene Minderjährige müssen die Gelegenheit zu Freizeitbeschäftigungen einschließlich altersgerechter Spiel- und Erholungsmöglichkeiten und, je nach Dauer ihres Aufenthalts, Zugang zur Bildung erhalten.
(4) Unbegleitete Minderjährige müssen so weit wie möglich in Einrichtungen untergebracht werden, die personell und materiell zur Berücksichtigung ihrer altersgemäßen Bedürfnisse in der Lage sind.
(5) Dem Wohl des Kindes ist im Zusammenhang mit der Abschiebehaft bei Minderjährigen Vorrang einzuräumen.“
7 In Art. 18 („Notlagen“) der Richtlinie heißt es:
„(1) Führt eine außergewöhnlich große Zahl von Drittstaatsangehörigen, deren Rückkehr sicherzustellen ist, zu einer unvorhersehbaren Überlastung der Kapazitäten der Hafteinrichtungen eines Mitgliedstaats oder seines Verwaltungs- oder Justizpersonals, so kann der betreffende Mitgliedstaat, solange diese außergewöhnliche Situation anhält, die für die gerichtliche Überprüfung festgelegten Fristen über die in Artikel 15 Absatz 2 Unterabsatz 3 genannten Fristen hinaus verlängern und dringliche Maßnahmen in Bezug auf die Haftbedingungen ergreifen, die von den Haftbedingungen nach den Artikeln 16 Absatz 1 und 17 Absatz 2 abweichen.
(2) Ein Mitgliedstaat, der auf diese außergewöhnlichen Maßnahmen zurückgreift, setzt die Kommission davon in Kenntnis. Er unterrichtet die Kommission ebenfalls, sobald die Gründe für die Anwendung dieser außergewöhnlichen Maßnahmen nicht mehr vorliegen.
(3) Dieser Artikel ist nicht so auszulegen, als gestatte er den Mitgliedstaaten eine Abweichung von ihrer allgemeinen Verpflichtung, alle geeigneten – sowohl allgemeinen als auch besonderen – Maßnahmen zu ergreifen, um zu gewährleisten, dass sie ihren aus dieser Richtlinie hervorgehenden Verpflichtungen nachkommen.“
Deutsches Recht
8 § 62a Abs. 1 des Gesetzes über den Aufenthalt, die Erwerbstätigkeit und die Integration von Ausländern im Bundesgebiet vom 30. Juli 2004 (BGBl. 2008 I S. 162) lautete in seiner vom 29. Juli 2017 bis zum 20. August 2019 anwendbaren Fassung (im Folgenden: AufenthaltsG):
„Die Abschiebungshaft wird grundsätzlich in speziellen Hafteinrichtungen vollzogen. Sind spezielle Hafteinrichtungen im Bundesgebiet nicht vorhanden oder geht von dem Ausländer eine erhebliche Gefahr für Leib und Leben Dritter oder bedeutende Rechtsgüter der inneren Sicherheit aus, kann sie in sonstigen Haftanstalten vollzogen werden; die Abschiebungsgefangenen sind in diesem Fall getrennt von Strafgefangenen unterzubringen.“
9 Art. 1 Nr. 22 des Zweiten Gesetzes zur besseren Durchsetzung der Ausreisepflicht vom 15. August 2019 (BGBl. 2019 I S. 1294, im Folgenden: Gesetz vom 15. August 2019) sieht vor:
„§ 62a Absatz 1 [AufenhaltsG] wird wie folgt gefasst:
‚Abschiebungsgefangene sind getrennt von Strafgefangenen unterzubringen. Werden mehrere Angehörige einer Familie inhaftiert, so sind diese getrennt von den übrigen Abschiebungsgefangenen unterzubringen. Ihnen ist ein angemessenes Maß an Privatsphäre zu gewährleisten.‘“
10 Art. 6 dieses Gesetzes bestimmt:
„Weitere Änderung des Aufenthaltsgesetzes zum 1. Juli 2022
§62a Absatz 1 des Aufenthaltsgesetzes … wird wie folgt gefasst:
‚Die Abschiebungshaft wird grundsätzlich in speziellen Hafteinrichtungen vollzogen. Sind spezielle Hafteinrichtungen im Bundesgebiet nicht vorhanden oder geht von dem Ausländer eine erhebliche Gefahr für Leib und Leben Dritter oder bedeutende Rechtsgüter der inneren Sicherheit aus, kann sie in sonstigen Haftanstalten vollzogen werden; die Abschiebungsgefangenen sind in diesem Fall getrennt von Strafgefangenen unterzubringen. Werden mehrere Angehörige einer Familie inhaftiert, so sind diese getrennt von den übrigen Abschiebungsgefangenen unterzubringen. Ihnen ist ein angemessenes Maß an Privatsphäre zu gewährleisten.‘“
11 In Art. 8 des Gesetzes vom 15. August 2019 heißt es:
„Inkrafttreten
(1) Dieses Gesetz tritt vorbehaltlich des Absatzes 2 am Tag nach der Verkündung in Kraft.
(2) Artikel 6 tritt am 1. Juli 2022 in Kraft.“
12 In der Begründung des Entwurfs zum Gesetz vom 15. August 2019 wurde u. a. ausgeführt:
„Durch die Änderung des § 62a Absatz 1 sind Abschiebungshaftgefangene vorübergehend nach Maßgabe des Artikels 18 Absatz 1 der Rückführungsrichtlinie nicht mehr in speziellen Hafteinrichtungen unterzubringen. Demnach kann Abschiebungshaft in sämtlichen Hafteinrichtungen vorübergehend und mit bis zu 500 Haftplätzen in Justizvollzugsanstalten vollzogen werden. Eine getrennte Unterbringung der Abschiebungsgefangenen von Strafgefangenen innerhalb von Haftanstalten ist weiterhin vorgeschrieben. Zudem gilt die bisherige Maßgabe zur Unterbringung von mehreren Angehörigen einer Familie nach § 62a Absatz 1 Satz 3 und 4 sowie die Vorgaben der Artikel 16 und 17 der Richtlinie … 2008/115. Auch die Prüfung und Entscheidung, ob eine Unterbringung in einer Haftanstalt in einem konkreten Einzelfall beispielsweise bei vulnerablen Gruppen zumutbar beziehungsweise zulässig ist, muss weiterhin erfolgen. Es ist vorgesehen, dass die Justizbehörden der Länder bis zu 500 Haftplätze für Abschiebungshaftgefangene bereitstellen, damit in Zusammenschau mit dem vorgesehenen Aufwuchs von Abschiebungshaftplätzen in den Haftanstalten der Länder insgesamt circa 1000 Abschiebungshaftplätze zur Verfügung stehen. … Artikel 18 Absatz 1 der Rückführungsrichtlinie eröffnet für Notlagen die Möglichkeit, vom Trennungsgebot nach Artikel 16 Absatz 1 sowie von der Vorgabe des Artikels 17 Absatz 2, nach der Familien gesonderte Unterbringung erhalten müssen, abzuweichen. … Die Voraussetzung für die Abweichungsmöglichkeit nach Artikel 18 Absatz 1 ist, dass eine außergewöhnlich große Zahl von Drittstaatsangehörigen, deren Rückkehr sicherzustellen ist, zu einer Überlastung der Kapazitäten der Hafteinrichtungen oder des Verwaltungs- oder Justizpersonals führt. Diese Voraussetzung ist für Deutschland erfüllt. In Deutschland besteht nur eine Kapazität von bundesweit etwa 487 (Stand 27. März 2019) Abschiebungshaftplätzen. Aufgrund des Missverhältnisses von vollziehbar Ausreisepflichtigen und Abschiebungshaftplätzen ist diese bestehende Kapazität deutlich überlastet. Diese Überlastung ist in der Praxis ein wesentlicher Engpass, der der Durchsetzung der vollziehbaren Ausreisepflicht entgegensteht. Die bestehenden Abschiebungshaftplätze werden bereits bundesweit durch Koordination der Länder bestmöglich genutzt. Zur Verbesserung der Vermittlung von Abschiebungshaftplätzen dient auch das im Jahr 2017 eingerichtete Gemeinsame Zentrum zur Unterstützung der Rückkehr (ZUR). Die Vermittlungsquote von Haftplätzen bundesweit aus dem ZUR liegt im unteren zweistelligen Prozentbereich. Damit können in der Praxis trotz Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen zahlreiche Haftanträge nicht gestellt werden. Die Überlastung der Kapazitäten war auch unvorhersehbar. Nachdem die Zahl der neu-ankommenden Schutzsuchenden vor 2015 über Jahre gesunken war, hatten die Länder entsprechend des zu diesem Zeitpunkt geringeren Bedarfs Kapazitäten an Abschiebungshaftplätzen in den Jahren zuvor nach unten angepasst. Mit der veränderten Situation im Jahr 2015 und dem sprunghaften Anstieg der Zahl der Schutzsuchenden waren Bund und Länder primär verpflichtet, Kapazitäten für die Versorgung der Menschen aufzubauen. Diese Verpflichtung ergibt sich unter anderem aus europäischem Recht, insbesondere der Richtlinie 2013/33/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung von Normen für die Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen (Aufnahmerichtlinie) [(ABl. 2013, L 180, S. 96)] sowie der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit internationalem Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (Qualifikations-Richtlinie) [(ABl. 2011, L 337, S. 9)] und darüber hinaus aus der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (Europäische Menschenrechtskonvention). Die Versorgung der neuankommenden Menschen in dieser Situation hatte Vorrang vor dem Ausbau der Haftkapazitäten, mit dem Zweck, zu einem späteren Zeitpunkt (nach Abschluss des Asyl- und Rechtsmittelverfahrens) die Regelanforderungen der Rückführungsrichtlinie erfüllen zu können. Denn Sinn und Zweck der Ausnahmeregelung des Artikels 18 [dieser Richtlinie] ist gerade, in dieser Situation den Behörden die Möglichkeit zu geben, die Versorgung der Neuankommenden prioritär zu bearbeiten, ohne absehbar Rechtspflichten in der Zukunft zu verletzen. … Nach Beendigung der Ausnahmesituation haben die Länder den Ausbau der Haftkapazitäten unmittelbar begonnen und bereits eine Steigerung der Zahl auf bundesweit 487 (Stand 27. März 2019) Haftplätze erreicht. Entsprechend des üblichen Zeitaufwandes, der für Bauvorhaben beziehungsweise die Errichtung von Abschiebungshaftanstalten besteht, ist eine vollständige Anpassung der Zahl der Abschiebungshaftplätze an den gegenwärtigen Bedarf noch nicht erreicht. Eine den Bedarf deckende Zahl an Abschiebungshaftplätzen ist aufgrund der eingeleiteten Maßnahmen zum 30. Juni 2022 zu erwarten. Bis zu diesem Zeitpunkt liegt ein Anhalten der außergewöhnlichen Situation vor, so dass § 62a Absatz 1 bis zu diesem Zeitpunkt außer Kraft zu setzen ist. Danach tritt wieder die derzeit geltende Rechtslage ein.“
Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefragen
13 K, ein pakistanischer Staatsangehöriger, reiste nach eigenen Angaben am 9. Oktober 2015 in das Hoheitsgebiet der Bundesrepublik Deutschland ein. Sein Asylantrag wurde am 24. Mai 2017 als offensichtlich unbegründet abgelehnt.
14 Die danach ihm gegenüber ergangene Abschiebungsandrohung ist seit dem 7. Juni 2017 vollziehbar.
15 Am 11. August 2020 wurde K in einem Reisebus auf der Route Berlin-Brüssel festgenommen. Das Amtsgericht Meppen (Deutschland) ordnete am gleichen Tag Abschiebehaft bis einschließlich zum 25. September 2020 an, und er wurde in der Justizvollzugsanstalt Hannover, Abteilung Langenhagen, in Haft genommen.
16 Am 24. September 2020 beantragte der Landkreis Gifhorn (Deutschland) beim Amtsgericht Hannover (Deutschland) eine Verlängerung der Abschiebehaft bis zum 12. November 2020. In seinem Antrag führte der Landkreis Gifhorn aus, es sei vorgesehen, K weiter in der Justizvollzugsanstalt Hannover, Abteilung Langenhagen, in Haft zu behalten.
17 Nach Anhörung von K ordnete das Amtsgericht Hannover mit Beschluss vom 25. September 2020 Abschiebehaft in dieser Abteilung bis zum 12. November 2020 an.
18 Am 28. September 2020 legte K bei demselben Gericht Beschwerde gegen diesen Beschluss ein und wurde im Rahmen dieses neuen Verfahrens am 7. Oktober 2020 angehört.
19 Das vorlegende Gericht, das seine Zuständigkeit für eine Entscheidung über die von K eingelegte Beschwerde nur in Bezug auf dessen Inhaftierung zwischen dem 25. September und dem 2. Oktober 2020 als gegeben ansieht, führt erstens aus, dass die Abteilung Langenhagen im Mai 2000 eröffnet worden sei und von einer im Justizvollzugsdienst tätigen Beamtin geleitet werde. Die Justizvollzugsanstalt Hannover, an die die Abteilung administrativ angebunden sei, verfüge über insgesamt etwa 600 Haftplätze und werde von einem Anstaltsleiter geleitet, der auch die Verantwortung für die Abteilung Langenhagen trage. Die Justizvollzugsanstalt Hannover insgesamt werde durch das Justizministerium beaufsichtigt.
20 Das vorlegende Gericht weist auch darauf hin, dass die Belegungskapazität der Abteilung Langenhagen, die ursprünglich bei maximal 171 Haftplätzen für Abschiebungsgefangene gelegen habe, deutlich reduziert worden sei. Gegenwärtig könnten 48 Abschiebungsgefangene untergebracht werden. Der Komplex sei mit einem hohen Maschendrahtzaun umzäunt und umfasse drei etwa gleich große zweigeschossige Gebäude mit vergitterten Fenstern sowie ein weiteres kleines Gebäude und eine Kfz-Schleuse, die als Eingang für Besucher und Anstaltspersonal sowie für Ein- und Ausfahrten von Fahrzeugen verwendet werde.
21 In dem ersten dieser drei Gebäude würden männliche Abschiebungsgefangene aus Drittstaaten untergebracht. Im zweiten Gebäude würden weibliche und je nach Belegung männliche Abschiebungsgefangene aus Drittstaaten aufgenommen. Für die so Inhaftierten sei ein täglicher Besuch, mehrstündiger Aufenthalt im Freien, Internetzugang und Besitz eines Mobiltelefons möglich. Ein Verschluss der Unterkunftsräume erfolge nicht, und die Räume würden nur einzeln belegt. Auf Wunsch könne allerdings eine Gemeinschaftsunterbringung erfolgen. Auf den Fluren befänden sich Gemeinschaftsduschräume und Toiletten, die ganztägig frei zugänglich seien.
22 Das dritte Gebäude, das seit 2013 vorübergehend geschlossen gewesen sei, sei jedenfalls seit Erlass des Beschlusses vom 25. September 2020 und bis zum 2. Oktober 2020 für die Inhaftierung von Strafgefangenen genutzt worden, die eine Ersatzfreiheitsstrafe oder eine kurze Freiheitsstrafe von bis zu drei Monaten verbüßten. Von der Justizvollzugsanstalt sei auf eine Trennung der Abschiebungsgefangenen von diesen Gefangenen geachtet worden. Zwischen den mit Abschiebungsgefangenen belegten Gebäuden und den mit Strafgefangenen belegten Gebäuden habe kein direkter Zugang bestanden.
23 Das vorlegende Gericht bezweifelt, dass die Abteilung Langenhagen während dieses Zeitraums eine „spezielle Hafteinrichtung“ im Sinne von Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 darstellte, da in dieser Abteilung neben Abschiebungsgefangenen auch Strafgefangene untergebracht gewesen seien und eine räumliche und organisatorische Trennung nicht sichergestellt gewesen sei. Die Häuser der Abteilung hätten sich nämlich in unmittelbarer Nähe zueinander befunden und seien – insbesondere für das Personal der Justizvollzugsanstalt – nur durch einen gemeinsamen Eingangsbereich erreichbar gewesen.
24 Auch wenn die Abschiebehaftabteilung Langenhagen eine eigene Leiterin habe, so sei dort sowohl für Strafgefangene und für Abschiebungsgefangene dasselbe Justizvollzugspersonal eingesetzt worden.
25 Zweitens geht das vorlegende Gericht davon aus, dass die Änderung von § 62a Abs. 1 AufenthaltsG durch das Gesetz vom 15. August 2019, die bis zum 1. Juli 2022 eine Ausnahme von der sich aus Art. 16 Abs. 1 Satz 1 der Richtlinie 2008/115 ergebenden Pflicht zulasse, illegal aufhältige Drittstaatsangehörige in speziellen Hafteinrichtungen in Haft zu nehmen, gegen Unionsrecht verstößt.
26 Obgleich sich der deutsche Gesetzgeber für die Abweichung von Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie zwar auf das Vorliegen einer Notlage im Sinne von Art. 18 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 berufen habe, sei unabhängig von der Frage, ob zum Zeitpunkt des Erlasses des Gesetzes vom 15. August 2019 die von diesem Art. 18 verlangten Voraussetzungen vorgelegen hätten, jedenfalls festzustellen, dass diese Voraussetzungen nicht mehr erfüllt seien. Auch wenn sich die speziellen Hafteinrichtungen wegen des Abstandsbedarfs aufgrund der Covid-19-Pandemie möglicherweise einer hohen Belastung ausgesetzt sähen, stehe diese Belastung jedoch nicht – wie von Art. 18 Abs. 1 verlangt werde – im Zusammenhang mit einer außergewöhnlich großen Zahl von Drittstaatsangehörigen. Der deutsche Gesetzgeber habe zudem weder Angaben zur Auslastung der Hafteinrichtungen gemacht, noch die erwartete Zahl vollziehbar ausreisepflichtiger Drittstaatsangehöriger oder die Zahl illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger genannt, bei denen Haftgründe gegeben sein könnten.
27 Unter diesen Umständen wirft das vorlegende Gericht zunächst die Frage auf, ob ein nationales Gericht das Vorliegen einer Notlage im Sinne von Art. 18 in jedem Verfahren über die Anordnung von Abschiebehaft selbst feststellen muss oder ob es im Gegenteil die Feststellung des nationalen Gesetzgebers ohne eigene Prüfung im Einzelfall hinnehmen muss.
28 Falls das die Haft anordnende Gericht sich selbst von einer Notlage im Sinne von Art. 18 überzeugen müsste, vertritt das vorlegende Gericht die Auffassung, dass zu prüfen sei, ob Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 von ihm verlange, das Gesetz vom 15. August 2019 unangewendet zu lassen, soweit eine solche Notlage nicht dargetan sei.
29 Soweit diese Frage zu bejahen sei, sei noch zu prüfen, ob eine lediglich organisatorische Eingliederung der Hafteinrichtung in die Justizverwaltung für die Annahme ausreiche, dass die Einrichtung nicht als „spezielle Hafteinrichtung“ im Sinne von Art. 16 der Richtlinie 2008/115 angesehen werden könne, und soweit die Frage zu verneinen sei, ob eine Einstufung als „spezielle Hafteinrichtung“ aufgrund des Umstands ausgeschlossen sei, dass eines der Gebäude der Einrichtung für die Inhaftierung von Strafgefangenen verwendet werde.
30 Unter diesen Umständen hat das Amtsgericht Hannover beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof die folgenden Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
1. Ist Unionsrecht, insbesondere Art. 18 Abs. 1 und 3 der Richtlinie 2008/115, dahin gehend auszulegen, dass ein nationales Gericht, das über die Inhaftnahme für die Zwecke der Abschiebung entscheidet, in jedem Einzelfall die Voraussetzungen der Vorschrift, insbesondere, dass die außergewöhnliche Situation noch anhält, überprüfen muss, wenn der nationale Gesetzgeber unter Berufung auf Art. 18 Abs. 1 im nationalen Recht von den Voraussetzungen des Art. 16 Abs. 1 abgewichen ist?
2. Ist Unionsrecht, insbesondere Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115, dahin gehend auszulegen, dass es einer nationalen Regelung entgegensteht, welche vorübergehend bis zum 1. Juli 2022 die Unterbringung von Abschiebungsgefangenen in einer Justizvollzugsanstalt erlaubt, obwohl spezielle Hafteinrichtungen in dem Mitgliedstaat vorhanden sind und keine Notlage im Sinne von Art. 18 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 dies zwingend erfordert?
3. Ist Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 dahin gehend auszulegen, dass eine „spezielle Hafteinrichtung“ für die Inhaftierung von Abschiebungsgefangenen allein schon deshalb nicht vorliegt, wenn:
–
die „spezielle Hafteinrichtung“ mittelbar demselben Regierungsmitglied wie Hafteinrichtungen für Strafgefangene, nämlich der Justizministerin, untersteht,
–
die „spezielle Hafteinrichtung“ als Abteilung einer Justizvollzugsanstalt organisiert ist und damit zwar eine eigene Leiterin hat, aber als eine von mehreren Abteilungen der Justizvollzugsanstalt insgesamt der Leitung der Justizvollzugsanstalt untersteht?
4. Falls die Frage 3 mit Nein beantwortet wird:
Ist Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 dahin gehend auszulegen, dass eine Unterbringung in einer „speziellen Hafteinrichtung“ für Abschiebungsgefangene vorliegt, wenn eine Justizvollzugsanstalt eine spezielle Abteilung für ein Abschiebungsgefängnis einrichtet, diese Abteilung ein spezielles Gelände mit drei Gebäuden innerhalb der Umzäunung für Abschiebungsgefangene betreibt und von diesen drei Gebäuden ein Gebäude vorübergehend ausschließlich mit Strafgefangenen belegt wird, die Ersatzfreiheitsstrafen oder kurze Freiheitsstrafen verbüßen, wobei von der Justizvollzugsanstalt auf eine Trennung der Abschiebungsgefangenen und Strafgefangenen geachtet wird, insbesondere jedes Haus über eigene Einrichtungen (eigene Kleiderkammer, eigene Krankenstation, eigener Sportraum) verfügt und der Hof/Außenbereich zwar von allen Häusern sichtbar ist, aber für jedes Haus ein eigener, mit Maschendrahtzaun umzäunter Bereich für die Gefangenen besteht und so zwischen den Häusern kein direkter Zugang besteht?
Verfahren vor dem Gerichtshof
31 Am 18. November 2020 hat der Präsident des Gerichtshofs entschieden, die vorliegende Rechtssache gemäß Art. 53 Abs. 3 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs mit Vorrang zu behandeln.
Zu den Vorlagefragen
Zur dritten und zur vierten Frage
32 Mit seiner dritten und seiner vierten Frage, die an erster Stelle und zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 dahin auszulegen ist, dass eine spezielle Abteilung einer Justizvollzugsanstalt, die zum einen, obwohl sie über einen eigenen Leiter verfügt, der Leitung der Anstalt untersteht und der Aufsicht des für Justizvollzugsanstalten zuständigen Ministeriums unterliegt, und in der zum anderen in speziellen Gebäuden, die über eine eigene Ausstattung verfügen und von den übrigen Gebäuden der Einrichtung, in denen Strafgefangene inhaftiert sind, getrennt sind, Drittstaatsangehörige in Abschiebehaft gehalten werden, als „spezielle Hafteinrichtung“ im Sinne dieser Bestimmung angesehen werden kann.
33 Zur Beantwortung dieser Frage ist in einem ersten Schritt der Begriff „spezielle Hafteinrichtung“ im Sinne von Art. 16 der Richtlinie 2008/115 auszulegen. Hierzu ist festzustellen, dass weder in Art. 16 noch in irgendeiner anderen Bestimmung der Richtlinie 2008/115 definiert wird, was unter diesem Begriff zu verstehen ist. Folglich ist er entsprechend dem Sinn der Worte, aus denen er gebildet ist, nach dem gewöhnlichen Sprachgebrauch zu bestimmen. Dabei ist zu berücksichtigen, in welchem Zusammenhang diese Worte verwendet werden und welche Ziele mit der Regelung verfolgt werden, zu der sie gehören (Urteil vom 1. Oktober 2020, Staatssecretaris van Financiën [Ermäßigter Mehrwertsteuersatz für Aphrodisiaka], C‑331/19, EU:C:2020:786, Rn. 24 und die dort angeführte Rechtsprechung).
34 Insoweit ist erstens darauf hinzuweisen, dass Art. 16 Abs. 1 Satz 1 der Richtlinie den Grundsatz aufstellt, dass die Inhaftierung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger zur Sicherung der Abschiebung in speziellen Hafteinrichtungen erfolgt (Urteil vom 2. Juli 2020, Stadt Frankfurt am Main, C‑18/19, EU:C:2020:511, Rn. 31 und die dort angeführte Rechtsprechung).
35 Folglich sollen es spezielle Hafteinrichtungen im Sinne dieser Bestimmung den Mitgliedstaaten ermöglichen, eine Entscheidung zu vollstrecken, mit der die Inhaftnahme eines illegal aufhältigen Drittstaatsangehörigen im Sinne von Art. 15 der Richtlinie angeordnet wird, d. h. eine Zwangsmaßnahme, mit der der betreffenden Person ihre Bewegungsfreiheit entzogen und sie von der übrigen Bevölkerung isoliert wird, indem sie dazu gezwungen wird, sich ständig in einem eingegrenzten, geschlossenen Bereich aufzuhalten (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 14. Mai 2020, Országos Idegenrendészeti Főigazgatóság Dél-alföldi Regionális Igazgatóság, C‑924/19 PPU und C‑925/19 PPU, EU:C:2020:367, Rn. 223 und 225).
36 Aus dem Wortlaut von Art. 16 Abs. 1 ergibt sich auch, dass sich spezielle Hafteinrichtungen von gewöhnlichen Haftanstalten unterscheiden, was impliziert, dass die Haftbedingungen in diesen Einrichtungen gewisse Besonderheiten gegenüber normalen Bedingungen der Vollstreckung von Freiheitsstrafen in gewöhnlichen Haftanstalten aufweisen müssen.
37 Zweitens ist festzustellen, dass Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 ausdrücklich bestimmt, dass die Haft eines in dem Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats illegal aufhältigen Drittstaatsangehörigen, bei dem keine anderen ausreichenden, jedoch weniger intensiven Zwangsmaßnahmen wirksam angewandt werden können, nur in Betracht kommt, um die Rückkehr dieser Person vorzubereiten und/oder ihre Abschiebung durchzuführen, und zwar insbesondere dann, wenn Fluchtgefahr besteht oder die Person die Vorbereitung der Rückkehr oder das Abschiebungsverfahren umgeht oder behindert. Die Mitgliedstaaten dürfen der betreffenden Person folglich nur dann durch Inhaftnahme die Freiheit entziehen, wenn die Vollstreckung der Rückkehrentscheidung mittels Abschiebung durch das Verhalten des Betroffenen gefährdet zu werden droht, was für den konkreten Einzelfall zu beurteilen ist (Urteil vom 14. Mai 2020, Országos Idegenrendészeti Főigazgatóság Dél-alföldi Regionális Igazgatóság, C‑924/19 PPU und C‑925/19 PPU, EU:C:2020:367, Rn. 268 und 269 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).
38 Daraus ergibt sich, dass die zur Abschiebung angeordnete Inhaftnahme eines illegal aufhältigen Drittstaatsangehörigen, wie der Generalanwalt in Nr. 104 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, nur zur Gewährleistung der Wirksamkeit des Rückkehrverfahrens dient und keinerlei auf Bestrafung gerichtete Zielsetzung verfolgt.
39 Drittens ist darauf hinzuweisen, dass mit der Richtlinie 2008/115 eine wirksame Rückkehr- und Rückübernahmepolitik unter vollständiger Wahrung der Grundrechte und der Würde der betroffenen Personen eingeführt werden soll (Urteil vom 14. Januar 2021, Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid [Rückkehr eines unbegleiteten Minderjährigen], C‑441/19, EU:C:2021:9, Rn. 70 und die dort angeführte Rechtsprechung).
40 Hierzu ist insbesondere hervorzuheben, dass jede angeordnete Inhaftnahme, die unter die Richtlinie 2008/115 fällt, in den Bestimmungen ihres Kapitels IV streng geregelt ist, damit zum einen die Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit im Hinblick auf die eingesetzten Mittel und die angestrebten Ziele und zum anderen die Wahrung der Grundrechte der betreffenden Drittstaatsangehörigen gewährleistet sind (Urteil vom 14. Mai 2020, Országos Idegenrendészeti Főigazgatóság Dél-alföldi Regionális Igazgatóság, C‑924/19 PPU und C‑925/19 PPU, EU:C:2020:367, Rn. 274 und die dort angeführte Rechtsprechung).
41 Somit dürfen nach dem Kapitel IV der Richtlinie 2008/115 getroffene Inhaftierungsmaßnahmen insbesondere nicht gegen das Recht auf Freiheit – wie es in Art. 6 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) garantiert wird – der Drittstaatsangehörigen verstoßen, gegen die solche Maßnahmen verhängt werden.
42 Hierzu ist daran zu erinnern, dass gemäß Art. 52 Abs. 3 der Charta die Rechte der Charta, soweit sie den durch die am 4. November 1950 in Rom unterzeichnete Europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (im Folgenden: EMRK) garantierten Rechten entsprechen, die gleiche Bedeutung und Tragweite haben, wie sie ihnen in dieser Konvention verliehen werden, wobei aber klargestellt wird, dass das Recht der Union einen weiter gehenden Schutz gewähren kann. Bei der Auslegung von Art. 6 der Charta ist somit Art. 5 EMRK als Mindestschutzstandard zu berücksichtigen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 15. März 2017, Al Chodor, C‑528/15, EU:C:2017:213, Rn. 37).
43 Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte verlangt Art. 5 Abs. 1 EMRK, dass „der Ort der Unterbringung und ihre Bedingungen angemessen sein [müssen]“ und dass „zwischen dem Grund für die zulässige [Freiheitsentziehung] und dem Ort und den Umständen der Unterbringung eine Beziehung bestehen [muss]“, wobei der Umstand zu berücksichtigen ist, dass eine solche Unterbringung auf Personen Anwendung finden kann, „die gegebenenfalls keine anderen Straftaten als die in Verbindung mit dem Aufenthalt stehenden begangen haben“ (EGMR, 13. Dezember 2011, Kanagaratnam u. a./Belgien, CE:ECHR:2011:1213JUD001529709, § 84, und EGMR, 28. Februar 2019, H. A. u. a./Griechenland, CE:ECHR:2019:0228JUD001995116, § 196).
44 Viertens ist darauf hinzuweisen, dass der dritte Erwägungsgrund der Richtlinie 2008/115 auf die „Leitlinien zur Frage der erzwungenen Rückkehr“ verweist, die das Ministerkomitee des Europarats angenommen hat. Gemäß der zehnten Leitlinie sollten in Abschiebehaft genommene Drittstaatsangehörige „normalerweise so kurz wie möglich in speziell diesem Zweck gewidmeten Räumlichkeiten untergebracht werden, die materielle Bedingungen und eine Regelung bieten, die ihrem rechtlichen Status angemessen sind und mit Personal ausgestattet sind, das die erforderlichen Qualifikationen besitzt“.
45 Aus den Rn. 34 bis 44 des vorliegenden Urteils ergibt sich, dass eine „spezielle Hafteinrichtung“ im Sinne von Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 durch eine Gestaltung und Ausstattung ihrer Räumlichkeiten sowie durch Organisations- und Funktionsmodalitäten gekennzeichnet ist, die dazu geeignet sind, den dort untergebrachten illegal aufhältigen Drittstaatsangehörigen zu zwingen, sich ständig in einem eingegrenzten, geschlossenen Bereich aufzuhalten, gleichzeitig aber diese Zwangsmaßnahme auf das beschränken, was für die wirksame Vorbereitung seiner Abschiebung unbedingt erforderlich ist. Folglich müssen die in einer solchen Einrichtung geltenden Haftbedingungen so gestaltet sein, dass mit ihnen so weit wie möglich verhindert wird, dass die Unterbringung des Drittstaatsangehörigen einer Inhaftierung in einer Gefängnisumgebung gleichkommt, wie sie für eine Strafhaft kennzeichnend ist.
46 Die Bedingungen der Unterbringung müssen außerdem so ausgestaltet sein, dass sowohl die von der Charta garantierten Grundrechte als auch die in Art. 16 Abs. 2 bis 5 und Art. 17 der Richtlinie 2008/115 verankerten Rechte beachtet werden.
47 In einem zweiten Schritt ist festzustellen, dass der Gerichtshof im Rahmen von Art. 267 AEUV nicht befugt ist, die Normen des Unionsrechts auf einen Einzelfall anzuwenden. Es ist daher Aufgabe des vorlegenden Gerichts, die für die Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits erforderlichen rechtlichen Qualifizierungen vorzunehmen. Dagegen hat der Gerichtshof dem vorlegenden Gericht alle erforderlichen Hinweise zu geben, um es bei dieser Beurteilung zu leiten (Urteil vom 3. Juli 2019, UniCredit Leasing, C‑242/18, EU:C:2019:558, Rn. 48 und die dort angeführte Rechtsprechung).
48 Vor diesem Hintergrund ist darauf hinzuweisen, dass dem vorlegenden Gericht unter Berücksichtigung aller maßgeblichen Aspekte und nach deren Gesamtwürdigung die Feststellung obliegt, ob Ort und Bedingungen der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Inhaftnahme in ihrer Gesamtheit betrachtet für eine nach Art. 15 der Richtlinie 2008/115 angeordnete Inhaftnahme geeignet sind.
49 Hierzu ist erstens festzustellen, dass mehrere maßgebliche Aspekte, die die von diesem Gericht vorzunehmende Gesamtwürdigung leiten können, insbesondere in der zehnten und der elften der vom Ministerkomitee des Europarats angenommenen Leitlinien zur erzwungenen Rückkehr enthalten sind, auf die der dritte Erwägungsgrund der Richtlinie Bezug nimmt.
50 Wie der Generalanwalt in Nr. 124 seiner Schlussanträge hervorgehoben hat, reicht zweitens der bloße Umstand, dass eine Hafteinrichtung, die über ihre eigene Leitungsstruktur verfügt, administrativ an eine Behörde angebunden ist, die auch Zuständigkeiten im Hinblick auf Justizvollzugsanstalten innehat, nicht aus, um dieser Einrichtung eine Einstufung als „spezielle Hafteinrichtung“ im Sinne von Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 zu versagen. Eine solche rein administrative Anbindung ist nämlich insoweit grundsätzlich unerheblich. Etwas anderes würde nur dann gelten, wenn an eine entsprechende Anbindung bestimmte Haftbedingungen geknüpft wären.
51 Drittens sind in Abschiebehaft genommene Drittstaatsangehörige, wenn ein Mitgliedstaat sie nicht in speziellen Hafteinrichtungen unterbringen kann und sie in gewöhnlichen Haftanstalten unterbringen muss, gemäß Art. 16 Abs. 1 Satz 2 der Richtlinie 2008/115 von gewöhnlichen Strafgefangenen gesondert unterzubringen.
52 Folglich reicht die bloße Trennung von illegal aufhältigen Drittstaatsangehörigen und gewöhnlichen Strafgefangenen innerhalb ein und derselben Haftanstalt nicht aus, um davon ausgehen zu können, dass der Teil dieser Anstalt, in dem die Drittstaatsangehörigen in Abschiebehaft untergebracht sind, eine „spezielle Hafteinrichtung“ im Sinne von Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 darstellt.
53 Die Einstufung einer solchen Einrichtung als „spezielle Hafteinrichtung“ ist aber, sofern eine solche Trennung tatsächlich sichergestellt ist, nicht automatisch deshalb ausgeschlossen, weil – wie im vorliegenden Fall – ein separater Teil eines Komplexes, in dem Drittstaatsangehörige in Abschiebehaft untergebracht sind, der Inhaftierung von verurteilten Straftätern dient.
54 Auch wenn eine solche Konstellation sicherlich mit in die Würdigung des vorlegenden Gerichts einfließen muss, hat dieses nämlich auch der Ausstattung der speziell zur Inhaftierung von Drittstaatsangehörigen bestimmten Räumlichkeiten, den Regelungen über deren Haftbedingungen sowie der besonderen Qualifikation und den Aufgaben des Personals, das für die Einrichtung, in der diese Inhaftierung erfolgt, zuständig ist, besondere Aufmerksamkeit zu widmen und festzustellen, ob sich der Zwang, dem die betreffenden Drittstaatsangehörigen ausgesetzt sind, in Anbetracht all dieser Umstände auf das Maß beschränkt, das unbedingt erforderlich ist, um ein wirksames Rückkehrverfahren zu gewährleisten, und es so weit wie möglich vermeidet, dass die Unterbringung einer Inhaftierung in einer Gefängnisumgebung gleichkommt, wie sie für eine Strafhaft kennzeichnend ist.
55 Unter diesem Blickwinkel stellt der Umstand, dass die nationalen Regelungen über die Strafvollstreckung – und sei es auch nur entsprechend – auf die Unterbringung von Drittstaatsangehörigen in Abschiebehaft anwendbar sind, ein gewichtiges Indiz dafür dar, dass eine solche Unterbringung nicht in einer „speziellen Hafteinrichtung“ im Sinne von Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 stattfindet.
56 Umgekehrt stellt die Tatsache, dass zumindest der größte Teil des mit der Betreuung von Drittstaatsangehörigen in Abschiebehaft betrauten Personals sowie die Hauptverantwortlichen für das Funktionieren der Einrichtung, in der die Inhaftierung stattfindet, über eine besondere Ausbildung für eine solche Betreuung verfügen, einen Anhaltspunkt dar, der für eine Einstufung der Einrichtung als „spezielle Hafteinrichtung“ spricht. Dies gilt auch für den Umstand, dass das Personal in unmittelbarem Kontakt mit den Drittstaatsangehörigen ausschließlich der Einrichtung zugeordnet ist, in der ihre Unterbringung erfolgt, und nicht gleichzeitig einer Einrichtung, die zur Inhaftierung von Strafgefangenen dient.
57 Nach alledem ist auf die dritte und die vierte Frage zu antworten, dass Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 dahin auszulegen ist, dass eine spezielle Abteilung einer Justizvollzugsanstalt, die zum einen, obwohl sie über einen eigenen Leiter verfügt, der Leitung der Anstalt untersteht und der Aufsicht des für Justizvollzugsanstalten zuständigen Ministeriums unterliegt, und in der zum anderen in speziellen Gebäuden, die über eine eigene Ausstattung verfügen und von den übrigen Gebäuden der Einrichtung, in denen Strafgefangene inhaftiert sind, getrennt sind, Drittstaatsangehörige in Abschiebehaft gehalten werden, als „spezielle Hafteinrichtung“ im Sinne dieser Bestimmung angesehen werden kann, sofern die Bedingungen der Unterbringung dieser Drittstaatsangehörigen so weit wie möglich verhindern, dass diese Unterbringung einer Inhaftierung in einer Gefängnisumgebung gleichkommt, und sie so ausgestaltet sind, dass sowohl die von der Charta garantierten Grundrechte als auch die in Art. 16 Abs. 2 bis 5 und Art. 17 der Richtlinie verankerten Rechte beachtet werden.
Zur ersten Frage
58 Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob das Unionsrecht und insbesondere Art. 18 Abs. 1 und 3 der Richtlinie 2008/115 dahin auszulegen sind, dass ein nationales Gericht, das über die Anordnung der Inhaftnahme oder die Haftverlängerung eines Drittstaatsangehörigen für die Zwecke der Abschiebung in einer gewöhnlichen Haftanstalt zu entscheiden hat, prüfen können muss, ob die Voraussetzungen eingehalten sind, unter die Art. 18 die Möglichkeit für einen Mitgliedstaat stellt, diesen Drittstaatsangehörigen in einer gewöhnlichen Haftanstalt zu inhaftieren.
59 Zunächst ist festzustellen, dass Inhaftnahme und Haftverlängerung vergleichbar sind, weil dem betreffenden Drittstaatsangehörigen durch beide zur Vorbereitung seiner Rückführung und/oder zur Durchführung seiner Abschiebung die Freiheit entzogen wird (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 5. Juni 2014, Mahdi, C‑146/14 PPU, EU:C:2014:1320, Rn. 44).
60 Sodann ist darauf hinzuweisen, dass es Art. 18 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 einem Mitgliedstaat ermöglicht, dringliche Maßnahmen in Bezug auf die Haftbedingungen eines Drittstaatsangehörigen zu ergreifen, die von den Haftbedingungen nach Art. 16 Abs. 1 und Art. 17 Abs. 2 der Richtlinie abweichen, wenn eine außergewöhnlich große Zahl von Drittstaatsangehörigen, deren Rückkehr sicherzustellen ist, zu einer unvorhergesehenen Überlastung der Kapazitäten seiner Hafteinrichtungen führt, und zwar solange diese außergewöhnliche Situation anhält. In Art. 18 Abs. 3 wird noch präzisiert, dass Art. 18 Abs. 1 den Mitgliedstaaten keine Abweichung von ihrer allgemeinen Verpflichtung gestattet, alle geeigneten – sowohl allgemeinen als auch besonderen – Maßnahmen zu ergreifen, um zu gewährleisten, dass sie ihren aus der Richtlinie 2008/115 hervorgehenden Verpflichtungen nachkommen.
61 Daraus ergibt sich, dass ein Mitgliedstaat, der Rechtsvorschriften wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden erlässt, in Anwendung von Art. 18 Abs. 1 der Richtlinie verpflichtet bleibt, die übrigen Regelungen – außer den in Art. 16 Abs. 1 und Art. 17 Abs. 2 der Richtlinie vorgesehenen – zu beachten, die den Rahmen für die Inhaftnahme und die Haftverlängerung eines illegal aufhältigen Drittstaatsangehörigen bilden.
62 Schließlich ist zu betonen, dass bei einer Entscheidung, mit der die Inhaftnahme oder die Haftverlängerung des betreffenden Drittstaatsangehörigen angeordnet wird, insoweit strenge Garantien, nämlich insbesondere der Schutz vor Willkür, einzuhalten sind, als diese Entscheidung sein in Art. 6 der Charta verankertes Recht auf Freiheit verletzen kann (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 15. März 2017, Al Chodor, C‑528/15, EU:C:2017:213, Rn. 40). Ein solcher Schutz impliziert aber u. a., dass eine Inhaftierung nur unter Beachtung allgemeiner und abstrakter Regeln, die deren Voraussetzungen und Modalitäten festlegen, angeordnet oder verlängert werden kann.
63 Es liefe zudem dem Wesensgehalt des in Art. 47 der Charta garantierten Anspruchs auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz zuwider, wenn kein Gericht prüfen dürfte, ob eine Entscheidung über die Anordnung von Abschiebehaft gemäß der Richtlinie 2008/115 im Einklang mit den Rechten und Freiheiten steht, die das Unionsrecht einem in einem Mitgliedstaat illegal aufhältigen Drittstaatsangehörigen garantiert (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 14. Mai 2020, Országos Idegenrendészeti Főigazgatóság Dél-alföldi Regionális Igazgatóság, C‑924/19 PPU und C‑925/19 PPU, EU:C:2020:367, Rn. 290).
64 Daraus ergibt sich, dass ein Gericht, wenn es im Rahmen seiner Zuständigkeiten auf Grundlage von Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats zur Umsetzung von Art. 18 der Richtlinie 2008/115 über die Anordnung zu befinden hat, einen Drittstaatsangehörigen in einer gewöhnlichen Haftanstalt in Haft zu nehmen oder die Inhaftierung dieses Drittstaatsangehörigen in einer solchen Haftanstalt zu verlängern, in der Lage sein muss, vor seiner Entscheidung eine Prüfung der Vereinbarkeit solcher Rechtsvorschriften mit dem Unionsrecht vorzunehmen und folglich zu kontrollieren, ob sie mit dem von Art. 18 Erlaubten in Einklang stehen (vgl. entsprechend Urteil vom 28. Januar 2021, Spetsializirana prokuratura [Erklärung der Rechte], C‑649/19, EU:C:2021:75, Rn. 74 und die dort angeführte Rechtsprechung).
65 Hierzu muss dieses Gericht über alle tatsächlichen und rechtlichen Umstände befinden können, die für die Feststellung relevant sind, ob – über den eigentlichen Grundsatz der Inhaftnahme des betreffenden Drittstaatsangehörigen hinaus – die abweichenden Modalitäten, unter denen sie vollstreckt wird, nach Art. 18 der Richtlinie 2008/115 gerechtfertigt sind. Das Gericht muss somit in der Lage sein, sowohl die tatsächlichen Umstände und Beweise, die von der die Inhaftnahme in einer gewöhnlichen Haftanstalt beantragenden Verwaltungsbehörde angeführt werden, als auch jede etwaige Stellungnahme des betreffenden Drittstaatsangehörigen zu berücksichtigen. Außerdem muss es ihm möglich sein, jeden anderen für seine Entscheidung relevanten Umstand zu ermitteln, falls es dies für erforderlich hält. Folglich können die Befugnisse des Gerichts keinesfalls auf die von der betreffenden Verwaltungsbehörde angeführten Umstände und Beweise beschränkt werden (vgl. entsprechend Urteil vom 5. Juni 2014, Mahdi, C‑146/14 PPU, EU:C:2014:1320, Rn. 62).
66 Schließlich vermag, entgegen dem Vorbringen der deutschen Regierung, die Pflicht des betreffenden Mitgliedstaats, nach Art. 18 Abs. 2 der Richtlinie 2008/115 die Kommission sowohl darüber in Kenntnis zu setzen, dass er auf die von Art. 18 Abs. 1 gestatteten außergewöhnlichen Maßnahmen zurückgreift, als auch darüber, dass die Gründe für die Anwendung dieser Maßnahmen nicht mehr vorliegen, an dieser Schlussfolgerung nichts zu ändern. Dieses einfache Notifizierungsverfahren steht nämlich keiner gerichtlichen Überprüfung der Rechtmäßigkeit der Haftmaßnahmen gleich, die auf Grundlage der zuletzt genannten Bestimmung angeordnet werden können.
67 Nach alledem ist auf die erste Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 18 der Richtlinie 2008/115 in Verbindung mit Art. 47 der Charta dahin auszulegen ist, dass ein nationales Gericht, das im Rahmen seiner Zuständigkeiten über die Anordnung der Inhaftnahme oder der Haftverlängerung eines Drittstaatsangehörigen für die Zwecke der Abschiebung in einer gewöhnlichen Haftanstalt zu entscheiden hat, prüfen können muss, ob die Voraussetzungen eingehalten sind, unter die Art. 18 die Möglichkeit für einen Mitgliedstaat stellt, diesen Drittstaatsangehörigen in einer gewöhnlichen Haftanstalt zu inhaftieren.
Zur zweiten Frage
68 Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 dahin auszulegen ist, dass ein nationales Gericht Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats, die es erlauben, illegal aufhältige Drittstaatsangehörige für ihre Abschiebung getrennt von Strafgefangenen vorübergehend in gewöhnlichen Haftanstalten unterzubringen, unangewendet lassen darf, wenn die Voraussetzungen, die Art. 18 Abs. 1 der Richtlinie für die Vereinbarkeit solcher Rechtsvorschriften mit dem Unionsrecht aufstellt, nicht oder nicht mehr erfüllt sind.
69 Einleitend ist darauf hinzuweisen, dass die Mitgliedstaaten von dem in Art. 16 Abs. 1 Satz 1 der Richtlinie 2008/115 aufgestellten Grundsatz, nach dem Drittstaatsangehörige in speziellen Hafteinrichtungen in Abschiebehaft unterzubringen sind, sowohl gemäß Art. 16 Abs. 1 Satz 2 als auch gemäß Art. 18 der Richtlinie abweichen dürfen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 2. Juli 2020, Stadt Frankfurt am Main, C‑18/19, EU:C:2020:511, Rn. 36 und 39).
70 Zur Beantwortung der zweiten Vorlagefrage und unabhängig von dem Umstand, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Rechtsvorschriften nach Art. 18 der Richtlinie 2008/115 erlassen wurden, sind daher die Voraussetzungen, unter denen ein Mitgliedstaat von der Pflicht abweichen darf, eine Abschiebehaftmaßnahme in einer speziellen Hafteinrichtung zu vollstrecken, nicht nur anhand dieses Art. 18, sondern auch anhand von Art. 16 Abs. 1 Satz 2 der Richtlinie 2008/115 zu bestimmen, bevor geprüft wird, ob ein Gericht eines Mitgliedstaats dessen Rechtsvorschriften, die es gestatten, Drittstaatsangehörige zur Abschiebung vorübergehend und getrennt von gewöhnlichen Strafgefangenen in gewöhnlichen Haftanstalten in Haft zu nehmen, unangewendet lassen darf, wenn keine dieser beiden Bestimmungen anwendbar ist.
71 Als Erstes ist zu Art. 18 der Richtlinie 2008/115 zunächst darauf hinzuweisen, dass diese Bestimmung, soweit sie den Mitgliedstaaten eine Abweichung von bestimmten in der Richtlinie aufgestellten Grundsätzen gestattet, wenn in ihrem Hoheitsgebiet eine außergewöhnlich große Zahl von Drittstaatsangehörigen, deren Rückkehr sicherzustellen ist, zu einer unvorhersehbaren Überlastung der Kapazitäten ihrer speziellen Hafteinrichtungen führt, eng auszulegen ist.
72 Hierzu ist aber festzustellen, dass die bloße Anwesenheit einer außergewöhnlich großen Zahl von Drittstaatsangehörigen, deren Rückkehr sicherzustellen ist, im Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats nicht für den Nachweis genügt, dass die von Art. 18 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 aufgestellten Voraussetzungen erfüllt sind. Gemäß Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie kann nämlich nur ein Teil dieser Drittstaatsangehörigen in Abschiebungshaft genommen werden und folglich zu einer unvorhergesehenen Überlastung der Kapazitäten der speziellen Hafteinrichtungen des betreffenden Mitgliedstaats führen.
73 Dass ein Mitgliedstaat von der ihm in Art. 18 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 eröffneten Möglichkeit zur Abweichung Gebrauch macht, impliziert daher, dass dieser Mitgliedstaat nachweisen kann, dass die Zahl der in Abschiebehaft genommenen Drittstaatsangehörigen derartig hoch ist, dass sie zu einer unvorhergesehenen Überlastung der Kapazitäten der speziellen Hafteinrichtungen in seinem gesamten Hoheitsgebiet führt.
74 Insoweit ist erstens zur besonderen Voraussetzung der Schwere der Belastung, der die Hafteinrichtungen des betreffenden Mitgliedstaats ausgesetzt sein müssen, festzustellen, dass – wie der Generalanwalt sinngemäß in Nr. 59 seiner Schlussanträge ausgeführt hat – Art. 18 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 nicht verlangt, dass die Kapazitäten dieser speziellen Hafteinrichtungen dauerhaft und vollständig ausgelastet sind, sondern lediglich, dass die Kapazitäten strukturell nahe an der Auslastung sind.
75 Der Umstand, dass sich einige Sprachfassungen dieser Bestimmung, wie die deutsche Sprachfassung, auf eine „Überlastung“ dieser Einrichtungen beziehen, ändert nichts an dieser Feststellung. Andere Sprachfassungen der Bestimmung, wie die Fassungen in französischer und in niederländischer Sprache (lourde und zwaar worden belast), beschränken sich nämlich darauf, von einer „schweren“ Belastung zu sprechen, oder, wie die Fassungen in spanischer, in italienischer und in litauischer Sprache (importante, notevole und didelė), von einer „bedeutenden“, „erheblichen“ oder „großen“ Belastung.
76 Nach ständiger Rechtsprechung kann jedoch eine rein wörtliche Auslegung einer oder mehrerer Sprachfassungen eines Unionsrechtsakts unter Ausschluss der anderen Sprachfassungen nicht ausschlaggebend sein, da die einheitliche Anwendung der Unionsvorschriften es gebietet, sie u. a. im Licht aller Sprachfassungen auszulegen. Weichen die verschiedenen Sprachfassungen eines Unionstexts voneinander ab, muss die fragliche Vorschrift anhand der allgemeinen Systematik und des Zwecks der Regelung ausgelegt werden, zu der sie gehört (Urteil vom 27. September 2017, Nintendo, C‑24/16 und C‑25/16, EU:C:2017:724, Rn. 72).
77 Insoweit ist Art. 18 der Richtlinie 2008/115, wie in Rn. 71 des vorliegenden Urteils festgestellt, zwar eng auszulegen, wobei diese Auslegung allerdings mit den von diesem Artikel verfolgten Zielen in Einklang stehen muss und ihm nicht seine Wirkung nehmen darf (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 11. September 2014, Fastweb, C‑19/13, EU:C:2014:2194, Rn. 40). Die Möglichkeit, von bestimmten Vorschriften der Richtlinie 2008/115 abzuweichen, die deren Art. 18 den Mitgliedstaaten einräumt, um die Wirksamkeit des Rückkehrverfahrens trotz der Notlage sicherzustellen, mit der sie konfrontiert sind, bliebe jedoch weitestgehend wirkungslos, wenn ein Mitgliedstaat allein deshalb daran gehindert wäre, Rechtsvorschriften zu erlassen, mit denen für einen bestimmten Zeitraum die Unterbringung von Drittstaatsangehörigen in Abschiebehaft in einer gewöhnlichen Haftanstalt ermöglicht wird, weil in diesem Zeitraum in bestimmten speziellen Hafteinrichtungen in seinem Hoheitsgebiet Plätze – wenn auch nur für kurze Zeit und in sehr geringer Menge – frei wären oder frei werden könnten.
78 Daher darf ein Mitgliedstaat nach Art. 18 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 Rechtsvorschriften erlassen, die eine Unterbringung in Abschiebehaft in gewöhnlichen Haftanstalten auch dann gestatten, wenn nicht ausgeschlossen ist, dass in dem Zeitraum, in dem dieser Mitgliedstaat auf diese Möglichkeit zurückgreift, in bestimmten speziellen Hafteinrichtungen in seinem Hoheitsgebiet vorübergehend Plätze verfügbar sind.
79 Zweitens ist zur besonderen Voraussetzung der Unvorhersehbarkeit der Belastung, der die Kapazitäten der Hafteinrichtungen des betreffenden Mitgliedstaats ausgesetzt sein müssen, darauf hinzuweisen, dass die Maßnahmen, die von Art. 16 Abs. 1 und Art. 17 Abs. 2 der Richtlinie 2008/115 abweichen und von einem Mitgliedstaat gemäß Art. 18 Abs. 1 und 2 der Richtlinie erlassen werden können, nach Art. 18 Notfallmaßnahmen außergewöhnlicher Art sind. Der Gerichtshof hat zudem entschieden, dass die nationalen Behörden, die die zur Umsetzung von Art. 16 der Richtlinie 2008/115 erlassenen nationalen Rechtsvorschriften anzuwenden haben, grundsätzlich in der Lage sein müssen, die Haft in speziellen Hafteinrichtungen zu vollziehen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 17. Juli 2014, Bero und Bouzalmate, C‑473/13 und C‑514/13, EU:C:2014:2095, Rn. 29).
80 Der betreffende Mitgliedstaat muss daher nachweisen können, dass ihm zu dem Zeitpunkt, zu dem er die abweichenden Maßnahmen erlassen hat, vernünftigerweise nicht vorgehalten werden konnte, die schwere Belastung nicht besser vorhergesehen zu haben, die die Zahl an in Haft zu nehmenden Drittstaatsangehörigen zu diesem Zeitpunkt den speziellen Hafteinrichtungen in seinem Hoheitsgebiet aufbürdet, oder zumindest, dass ihm vernünftigerweise nicht vorgehalten werden kann, zu diesem Zeitpunkt keine ausreichenden strukturellen Maßnahmen getroffen zu haben, um eine solche Belastung der Kapazitäten der speziellen Hafteinrichtungen abzumildern.
81 Somit kann sich ein Mitgliedstaat insbesondere dann nicht auf Art. 18 der Richtlinie 2008/115 berufen, wenn die schwere Belastung seiner speziellen Hafteinrichtungen nicht die Folge eines unerwarteten Anstiegs der Zahl der in Haft zu nehmenden Drittstaatsangehörigen ist, sondern lediglich durch die Reduzierung der in speziellen Hafteinrichtungen verfügbaren Plätze oder durch mangelnde Voraussicht der nationalen Behörden verursacht wird.
82 Drittens muss der Mitgliedstaat auch darlegen können, dass eine schwere Belastung im Sinne der Rn. 74 des vorliegenden Urteils während des gesamten Zeitraums fortbesteht, in dem er sich auf Art. 18 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 stützt, um von dem in Art. 16 Abs. 1 Satz 1 der Richtlinie aufgestellten Grundsatz abzuweichen. Aus Art. 18 Abs. 1 der Richtlinie geht nämlich unmissverständlich hervor, dass derartige Maßnahmen ihre Wirkungen verlieren müssen, sobald die in dieser Bestimmung beschriebene Notlage nicht mehr besteht.
83 Der Mitgliedstaat muss außerdem während des gesamten Zeitraums, in dem er Art. 18 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 anwendet, nachweisen können, dass es ihm noch nicht möglich war, hinreichende strukturelle Maßnahmen zu ergreifen, um die schwere Belastung der Kapazitäten der speziellen Hafteinrichtungen abzumildern.
84 Art. 18 der Richtlinie 2008/115 gestattet daher einem Mitgliedstaat die Beibehaltung von Rechtsvorschriften, die es vorübergehend ermöglichen, Drittstaatsangehörige in gewöhnlichen Haftanstalten in Abschiebehaft zu nehmen, soweit von diesem Mitgliedstaat vernünftigerweise nicht erwartet werden kann, dass er die schwere, aufgrund der außergewöhnlich großen Zahl von Drittstaatsangehörigen, gegen die Abschiebehaft angeordnet wurde, unerwartet aufgetretene und weiterhin andauernde Belastung der Kapazitäten aller seiner speziellen Hafteinrichtungen abstellt.
85 Die Einhaltung dieser Voraussetzungen kann es erforderlich machen, dass die zuständigen Behörden des betreffenden Mitgliedstaats gesetzlich verpflichtet werden, das Fortbestehen einer solchen Notlage regelmäßig zu überprüfen, zumindest dann, wenn die von diesem Mitgliedstaat nach Art. 18 der Richtlinie 2008/115 erlassenen Rechtsvorschriften ihre Wirkung nicht nur über einen kurzen, gegebenenfalls verlängerbaren Zeitraum entfalten sollen.
86 Viertens ist darauf hinzuweisen, dass ein Mitgliedstaat, wie in Rn. 61 des vorliegenden Urteils ausgeführt, auf der Grundlage von Art. 18 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 einem illegal aufhältigen Drittstaatsangehörigen keine anderen Rechte entziehen darf als die, die ihm in Art. 16 Abs. 1 und Art. 17 Abs. 2 der Richtlinie zuerkannt werden.
87 Wie ihre Erwägungsgründe 13 und 16 bestätigen, macht die Richtlinie 2008/115 den Rückgriff auf Zwangsmaßnahmen und insbesondere auf Inhaftierungsmaßnahmen von der Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes hinsichtlich der eingesetzten Mittel und der angestrebten Ziele abhängig.
88 Somit müssen die nationalen Rechtsvorschriften zur Umsetzung von Art. 18 vorsehen, dass die Inhaftierung eines Drittstaatsangehörigen zur Abschiebung in einer gewöhnlichen Haftanstalt nur angeordnet oder verlängert werden darf, nachdem in jedem Einzelfall zum einen überprüft wurde, ob gegenwärtig kein Platz in einer der speziellen Hafteinrichtungen verfügbar ist, und zum anderen, ob keine weniger intensive Zwangsmaßnahme in Betracht kommt.
89 Ein Mitgliedstaat, der Art. 18 der Richtlinie anwendet, bleibt zudem nach Art. 16 Abs. 3 und Art. 17 Abs. 3 bis 5 der Richtlinie verpflichtet, der Situation inhaftierter schutzbedürftiger Personen und speziell der Situation Minderjähriger, deren Wohl Vorrang einzuräumen ist, besondere Aufmerksamkeit zu widmen.
90 Daher darf ein schutzbedürftiger Drittstaatsangehöriger, wie der Generalanwalt sinngemäß in Nr. 70 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, nicht nach Art. 18 der Richtlinie 2008/115 in einer gewöhnlichen Haftanstalt in Abschiebehaft genommen werden, wenn eine solche Inhaftierung mit der Berücksichtigung der besonderen Bedürfnisse, die sich aus seiner Situation der Schutzbedürftigkeit ergeben, unvereinbar ist.
91 Der betreffende Mitgliedstaat muss schließlich, wenn er von der ihm in Art. 18 der Richtlinie 2008/115 eingeräumten Möglichkeit Gebrauch macht, auch die in der Charta, insbesondere ihrem Art. 6, verankerten Grundrechte beachten. Dieser Mitgliedstaat muss folglich – im Einklang mit den Feststellungen in den Rn. 41 bis 43 des vorliegenden Urteils – sicherstellen, dass sich die Haftbedingungen von in gewöhnlichen Haftanstalten in Abschiebehaft untergebrachten Drittstaatsangehörigen so weit wie möglich von den Haftbedingungen der dort inhaftierten Strafgefangenen unterscheiden. Hierbei ist u. a. wichtig, dass der betreffende Mitgliedstaat darauf achtet, dass ein Kontakt zwischen diesen Drittstaatsangehörigen und Strafgefangenen so weit wie möglich vermieden wird.
92 Als Zweites ist darauf hinzuweisen, dass die Mitgliedstaaten nach Art. 16 Abs. 1 Satz 2 der Richtlinie 2008/115 ausnahmsweise und über die in deren Art. 18 Abs. 1 ausdrücklich genannten Fälle hinaus illegal aufhältige Drittstaatsangehörige, soweit sie von gewöhnlichen Strafgefangenen getrennt sind, zur Sicherung der Abschiebung in einer gewöhnlichen Haftanstalt unterbringen dürfen, wenn diese Mitgliedstaaten die Inhaftierung in speziellen Hafteinrichtungen aufgrund besonderer Umstände des Einzelfalls nicht sicherstellen und dadurch die mit der Richtlinie verfolgten Ziele nicht einhalten können (Urteil vom 2. Juli 2020, Stadt Frankfurt am Main, C‑18/19, EU:C:2020:511, Rn. 39).
93 Der Gerichtshof hat somit entschieden, dass eine solche, eng auszulegende Bestimmung insbesondere die Inhaftierung eines Drittstaatsangehörigen zur Sicherung der Abschiebung in einer gewöhnlichen Haftanstalt erlaubt, wenn von ihm eine tatsächliche, gegenwärtige und hinreichend erhebliche Gefahr für ein Grundinteresse der Gesellschaft oder für die innere oder äußere Sicherheit des betreffenden Mitgliedstaats ausgeht, soweit dieser Drittstaatsangehörige von Strafgefangenen getrennt wird (Urteil vom 2. Juli 2020, Stadt Frankfurt am Main, C‑18/19, EU:C:2020:511, Rn. 31 und 48).
94 In gleicher Weise könnte eine vollständige, plötzliche und momentane Auslastung der Kapazitäten sämtlicher spezieller Hafteinrichtungen im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats, die sich von der in Art. 18 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 genannten unvorhersehbaren Überlastung unterscheidet, ebenfalls dazu führen, dass es für diesen Mitgliedstaat unmöglich wäre, die mit der Richtlinie 2008/115 verfolgten Ziele zu beachten und dabei gleichzeitig sicherzustellen, dass alle Drittstaatsangehörigen in Abschiebehaft in speziellen Hafteinrichtungen untergebracht werden.
95 Dies wäre der Fall, wenn ein Mitgliedstaat mit einer Auslastung seiner speziellen Hafteinrichtungen, wie sie in der vorstehenden Randnummer beschrieben ist, konfrontiert wäre und keine weniger intensive Zwangsmaßnahme als die Unterbringung eines bestimmten Drittstaatsangehörigen in Abschiebehaft ausreichen würde, um in Bezug auf diesen Drittstaatsangehörigen die Wirksamkeit des Rückkehrverfahrens zu gewährleisten.
96 Bei einer solchen Fallgestaltung ist davon auszugehen, dass Art. 16 Abs. 1 Satz 2 der Richtlinie 2008/115 grundsätzlich eine vorübergehende, von Strafgefangenen getrennte Unterbringung dieses Drittstaatsangehörigen in einer gewöhnlichen Haftanstalt gestattet.
97 Unter Berücksichtigung des Umstands, dass dieser Bestimmung eine Auslegung zu geben ist, die gleichzeitig eng, aber auch mit dem Anwendungsbereich von Art. 18 der Richtlinie 2008/115 vereinbar ist, darf eine Unterbringung in einer gewöhnlichen Haftanstalt in einer Situation wie der in Rn. 95 des vorliegenden Urteils geschilderten gleichwohl zunächst nur für eine kurze Dauer angeordnet werden, die einige Tage nicht überschreiten darf und nur dem Zweck dient, dem betreffenden Mitgliedstaat die Möglichkeit zu geben, dringlich Maßnahmen zu ergreifen, um gegenüber dem Betroffenen sicherzustellen, dass seine Inhaftierung schnellstmöglich in einer spezialisierten Hafteinrichtung fortgeführt wird. Eine solche Unterbringung ist außerdem dann nicht mehr nach Art. 16 Abs. 1 Satz 2 der Richtlinie gerechtfertigt, wenn die Auslastung der speziellen Hafteinrichtungen im betreffenden Mitgliedstaat über einige Tage hinaus fortbesteht oder sich systematisch und in kurzen Abständen wiederholt.
98 Es ist ferner darauf hinzuweisen, dass eine solche Unterbringung in einer gewöhnlichen Haftanstalt sowohl die von der Charta garantierten Grundrechte als auch die in Art. 16 Abs. 2 bis 5 und in Art. 17 der Richtlinie 2008/115 verankerten Rechte beachten muss.
99 Als Drittes ist hervorzuheben, dass Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats, die die Unterbringung eines Drittstaatsangehörigen in Abschiebehaft in einer gewöhnlichen Haftanstalt erlauben, obgleich die Voraussetzungen, unter die Art. 16 Abs. 1 Satz 2 und Art. 18 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 eine solche Möglichkeit stellen, nicht erfüllt sind, gegen das Recht von zur Abschiebung in Haft genommenen Drittstaatsangehörigen aus Art. 16 Abs. 1 Satz 1 der Richtlinie verstoßen, nur in speziellen Hafteinrichtungen untergebracht zu werden.
100 Die zuletzt genannte Bestimmung ist zum einen unbedingt und hinreichend genau, um unmittelbare Wirkung zu haben (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 28. April 2011, El Dridi, C‑61/11 PPU, EU:C:2011:268, Rn. 47).
101 Zum anderen ist nach dem Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts jedes im Rahmen seiner Zuständigkeit angerufene nationale Gericht, sofern es eine nationale Regelung nicht den Anforderungen des Unionsrechts entsprechend auslegen kann, als Organ eines Mitgliedstaats verpflichtet, eine nationale Bestimmung, die einer Bestimmung des Unionsrechts, die in dem bei ihm anhängigen Rechtsstreit unmittelbare Wirkung hat, entgegensteht, unangewendet zu lassen (Urteil vom 14. Mai 2020, Országos Idegenrendészeti Főigazgatóság Dél-alföldi Regionális Igazgatóság, C‑924/19 PPU und C‑925/19 PPU, EU:C:2020:367, Rn. 139).
102 Soweit es nationale Rechtsvorschriften wie die in Rn. 99 des vorliegenden Urteils genannten nicht unionsrechtskonform auslegen kann, muss daher jedes nationale Gericht im Rahmen seiner Zuständigkeit die Anwendung solcher Rechtsvorschriften in dem ihm vorliegenden Rechtsstreit ablehnen.
103 Nach alledem ist Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 in Verbindung mit dem Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts dahin auszulegen, dass ein nationales Gericht Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats, die es erlauben, illegal aufhältige Drittstaatsangehörige für ihre Abschiebung getrennt von Strafgefangenen vorübergehend in gewöhnlichen Haftanstalten unterzubringen, unangewendet lassen muss, wenn die Voraussetzungen, die Art. 18 Abs. 1 und Art. 16 Abs. 1 Satz 2 der Richtlinie für die Vereinbarkeit solcher Rechtsvorschriften mit dem Unionsrecht aufstellen, nicht oder nicht mehr erfüllt sind.
Kosten
104 Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Fünfte Kammer) für Recht erkannt:
1. Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger ist dahin auszulegen, dass eine spezielle Abteilung einer Justizvollzugsanstalt, die zum einen, obwohl sie über einen eigenen Leiter verfügt, der Leitung der Anstalt untersteht und der Aufsicht des für Justizvollzugsanstalten zuständigen Ministeriums unterliegt, und in der zum anderen in speziellen Gebäuden, die über eine eigene Ausstattung verfügen und von den übrigen Gebäuden der Einrichtung, in denen Strafgefangene inhaftiert sind, getrennt sind, Drittstaatsangehörige in Abschiebehaft gehalten werden, als „spezielle Hafteinrichtung“ im Sinne dieser Bestimmung angesehen werden kann, sofern die Bedingungen der Unterbringung dieser Drittstaatsangehörigen so weit wie möglich verhindern, dass diese Unterbringung einer Inhaftierung in einer Gefängnisumgebung gleichkommt, und sie so ausgestaltet sind, dass sowohl die von der Charta der Grundrechte der Europäischen Union garantierten Rechte als auch die in Art. 16 Abs. 2 bis 5 und Art. 17 der Richtlinie verankerten Rechte beachtet werden.
2. Art. 18 der Richtlinie 2008/115 in Verbindung mit Art. 47 der Charta der Grundrechte ist dahin auszulegen, dass ein nationales Gericht, das im Rahmen seiner Zuständigkeiten über die Anordnung der Inhaftnahme oder die Haftverlängerung eines Drittstaatsangehörigen für die Zwecke der Abschiebung in einer gewöhnlichen Haftanstalt zu entscheiden hat, prüfen können muss, ob die Voraussetzungen eingehalten sind, unter die Art. 18 die Möglichkeit für einen Mitgliedstaat stellt, diesen Drittstaatsangehörigen in einer gewöhnlichen Haftanstalt zu inhaftieren.
3. Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 in Verbindung mit dem Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts ist dahin auszulegen, dass ein nationales Gericht Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats, die es erlauben, illegal aufhältige Drittstaatsangehörige für ihre Abschiebung getrennt von Strafgefangenen vorübergehend in gewöhnlichen Haftanstalten unterzubringen, unangewendet lassen muss, wenn die Voraussetzungen, die Art. 18 Abs. 1 und Art. 16 Abs. 1 Satz 2 der Richtlinie für die Vereinbarkeit solcher Rechtsvorschriften mit dem Unionsrecht aufstellen, nicht oder nicht mehr erfüllt sind.
Regan
Jürimäe
Lycourgos
Jarukaitis
Ilešič
Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 10. März 2022.
Der Kanzler
A. Calot Escobar
Der Präsident
K. Lenaerts
(*1) Verfahrenssprache: Deutsch.
|
||||||||||||
Beschluss des Gerichtshofs (Zehnte Kammer) vom 1. März 2022.#Milis Energy SpA u. a. gegen Presidenza del Consiglio dei Ministri u. a.#Vorabentscheidungsersuchen des Tribunale amministrativo regionale per il Lazio.#Vorlage zur Vorabentscheidung – Art. 99 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs – Umwelt – Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Art. 16 und 17 – Grundsätze der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes – Vertrag über die Energiecharta – Art. 10 – Anwendbarkeit – Richtlinie 2009/28/EG – Art. 3 Abs. 3 Buchst. a – Förderung der Nutzung von Energie aus erneuerbaren Quellen – Erzeugung elektrischer Energie aus Fotovoltaikanlagen – Änderung einer Beihilferegelung.#Verbundene Rechtssachen C-306/19, C-512/19, C-595/19 und C-608/20 bis C-611/20.
|
62019CO0306
|
ECLI:EU:C:2022:164
| 2022-03-01T00:00:00 |
Gerichtshof, Kokott
|
EUR-Lex - CELEX:62019CO0306 - EN - EUR-Lex
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Urteil des Gerichtshofs (Große Kammer) vom 18. Mai 2021.#Asociaţia “Forumul Judecătorilor din România” u. a. gegen Inspecţia Judiciară u. a.#Vorabentscheidungsersuchen des Tribunalul Olt u. a.#Vorlage zur Vorabentscheidung – Vertrag über den Beitritt der Republik Bulgarien und Rumäniens zur Europäischen Union – Akte über die Bedingungen des Beitritts der Republik Bulgarien und Rumäniens zur Union – Art. 37 und 38 – Geeignete Maßnahmen – Verfahren für die Zusammenarbeit und die Überprüfung der Fortschritte Rumäniens bei der Erfüllung bestimmter Vorgaben in den Bereichen Justizreform und Korruptionsbekämpfung – Entscheidung 2006/928/EG – Natur und Rechtswirkungen des Verfahrens für die Zusammenarbeit und die Überprüfung sowie der von der Kommission auf dessen Grundlage erstellten Berichte – Rechtsstaatlichkeit – Unabhängigkeit der Justiz – Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV – Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Gesetze und Dringlichkeitsverordnungen der Regierung, die in Rumänien in den Jahren 2018 und 2019 im Bereich der Organisation des Justizwesens und der Haftung der Richter erlassen wurden – Vorläufige Ernennung auf Leitungsstellen bei der Justizinspektion – Errichtung einer Abteilung innerhalb der Staatsanwaltschaft für die Untersuchung von Straftaten innerhalb der Justiz – Vermögensrechtliche Haftung des Staates und persönliche Haftung von Richtern für Justizirrtümer.#Verbundene Rechtssachen C-83/19, C-127/19, C-195/19, C-291/19, C-355/19 und C-397/19.
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62019CJ0083
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ECLI:EU:C:2021:393
| 2021-05-18T00:00:00 |
Bobek, Gerichtshof
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62019CJ0083
URTEIL DES GERICHTSHOFS (Große Kammer)
18. Mai 2021 (*1)
Inhaltsverzeichnis
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Beitrittsvertrag
Beitrittsakte
Entscheidung 2006/928
Rumänisches Recht
Verfassung Rumäniens
Zivilgesetzbuch
Zivilprozessordnung
Strafprozessordnung
Justizgesetze
– Gesetz Nr. 303/2004
– Gesetz Nr. 304/2004
– Gesetz Nr. 317/2004
Ausgangsrechtsstreitigkeiten und Vorlagefragen
Den Ausgangsrechtsstreitigkeiten gemeinsame Gesichtspunkte
Rechtssache C‑83/19
Rechtssache C‑127/19
Rechtssache C‑195/19
Rechtssache C‑291/19
Rechtssache C‑355/19
Rechtssache C‑397/19
Verfahren vor dem Gerichtshof
Zu den Vorlagefragen
Zur Zuständigkeit des Gerichtshofs
Zur einer etwaigen Erledigung der Hauptsache und zur Zulässigkeit
Rechtssache C‑83/19
Rechtssachen C‑127/19 und C‑355/19
Rechtssachen C‑195/19 und C‑291/19
Rechtssache C‑397/19
Zur Beantwortung der Fragen
Zur ersten Frage in den Rechtssachen C‑83/19, C‑127/19, C‑355/19, C‑291/19 und C‑397/19
Zur ersten Frage in der Rechtssache C‑195/19, zur zweiten Frage in den Rechtssachen C‑83/19, C‑127/19, C‑291/19, C‑355/19 und C‑397/19 sowie zur dritten Frage in den Rechtssachen C‑127/19, C‑291/19 und C‑397/19
– Zur Rechtsnatur, zum Inhalt und zu den zeitlichen Wirkungen der Entscheidung 2006/928
– Zu den Rechtswirkungen der Entscheidung 2006/928 und der auf der Grundlage dieser Entscheidung erstellten Berichten der Kommission
Zur vierten Frage in der Rechtssache C‑83/19 und zur dritten Frage in der Rechtssache C‑355/19
Zur dritten Frage in der Rechtssache C‑83/19
Zur vierten und zur fünften Frage in der Rechtssache C‑127/19, zur zweiten Frage in der Rechtssache C‑195/19, zur vierten und zur fünften Frage in der Rechtssache C‑291/19 sowie zur dritten und zur vierten Frage in der Rechtssache C‑355/19
Zur vierten bis zur sechsten Frage in der Rechtssache C‑397/19
Zur dritten Frage in der Rechtssache C‑195/19
Kosten
„Vorlage zur Vorabentscheidung – Vertrag über den Beitritt der Republik Bulgarien und Rumäniens zur Europäischen Union – Akte über die Bedingungen des Beitritts der Republik Bulgarien und Rumäniens zur Union – Art. 37 und 38 – Geeignete Maßnahmen – Verfahren für die Zusammenarbeit und die Überprüfung der Fortschritte Rumäniens bei der Erfüllung bestimmter Vorgaben in den Bereichen Justizreform und Korruptionsbekämpfung – Entscheidung 2006/928/EG – Natur und Rechtswirkungen des Verfahrens für die Zusammenarbeit und die Überprüfung sowie der von der Kommission auf dessen Grundlage erstellten Berichte – Rechtsstaatlichkeit – Unabhängigkeit der Justiz – Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV – Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Gesetze und Dringlichkeitsverordnungen der Regierung, die in Rumänien in den Jahren 2018 und 2019 im Bereich der Organisation des Justizwesens und der Haftung der Richter erlassen wurden – Vorläufige Ernennung auf Leitungsstellen bei der Justizinspektion – Errichtung einer Abteilung innerhalb der Staatsanwaltschaft für die Untersuchung von Straftaten innerhalb der Justiz – Vermögensrechtliche Haftung des Staates und persönliche Haftung von Richtern für Justizirrtümer“
In den verbundenen Rechtssachen C‑83/19, C‑127/19, C‑195/19, C‑291/19, C‑355/19 und C‑397/19
betreffend sechs Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Tribunalul Olt (Landgericht Olt, Rumänien) mit Entscheidung vom 5. Februar 2019, beim Gerichtshof eingegangen am 5. Februar 2019 (C‑83/19), von der Curtea de Apel Piteşti (Berufungsgericht Piteşti, Rumänien) mit Entscheidung vom 18. Februar 2019, beim Gerichtshof eingegangen am 18. Februar 2019 (C‑127/19), von der Curtea de Apel Bucureşti (Berufungsgericht Bukarest, Rumänien) mit Entscheidung vom 28. Februar 2019, beim Gerichtshof eingegangen am 28. Februar 2019 (C‑195/19), von der Curtea de Apel Braşov (Berufungsgericht Braşov, Rumänien) mit Entscheidung vom 28. März 2019, beim Gerichtshof eingegangen am 9. April 2019 (C‑291/19), von der Curtea de Apel Piteşti (Berufungsgericht Piteşti, Rumänien) mit Entscheidung vom 29. März 2019, beim Gerichtshof eingegangen am 6. Mai 2019 (C‑355/19) und vom Tribunalul Bucureşti (Landgericht Bukarest, Rumänien) mit Entscheidung vom 22. Mai 2019, beim Gerichtshof eingegangen am 22. Mai 2019 (C‑397/19), in den Verfahren
Asociația „Forumul Judecătorilor din România“
gegen
Inspecţia Judiciară (C‑83/19),
Asociația „Forumul Judecătorilor din România“,
Asociația „Mișcarea pentru Apărarea Statutului Procurorilor“
gegen
Consiliul Superior al Magistraturii (C‑127/19),
PJ
gegen
QK (C‑195/19),
SO
gegen
TP u. a.,
GD,
HE,
IF,
JG (C‑291/19),
Asociația „Forumul Judecătorilor din România“,
Asociația „Mișcarea pentru Apărarea Statutului Procurorilor“,
OL
gegen
Parchetul de pe lângă Înalta Curte de Casaţie şi Justiţie – Procurorul General al României (C‑355/19),
und
AX
gegen
Statul Român – Ministerul Finanţelor Publice (C‑397/19)
erlässt
DER GERICHTSHOF (Große Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten K. Lenaerts, der Vizepräsidentin R. Silva de Lapuerta, des Kammerpräsidenten A. Arabadjiev, der Kammerpräsidentin A. Prechal, der Kammerpräsidenten M. Vilaras, L. Bay Larsen, N. Piçarra und A. Kumin, der Richter T. von Danwitz (Berichterstatter), M. Safjan und D. Šváby sowie der Richterin K. Jürimäe, des Richters P. G. Xuereb, der Richterin L. S. Rossi und des Richters I. Jarukaitis,
Generalanwalt: M. Bobek,
Kanzler: R. Şereş und V. Giacobbo, Verwaltungsrätinnen, sowie R. Schiano, Verwaltungsrat,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 20. und 21. Januar 2020,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
–
der Asociaţia „Forumul Judecătorilor din România“, vertreten durch D. Călin, A. Codreanu und L. Zaharia,
–
für die Asociaţia „Mişcarea pentru Apărarea Statutului Procurorilor“, vertreten durch A. Diaconu, A. C. Lăncrănjan und A. C. Iordache,
–
von OL, vertreten durch B. C. Pîrlog,
–
der Inspecția Judiciară, vertreten durch L. Netejoru als Bevollmächtigten,
–
des Consiliul Superior al Magistraturii, vertreten durch L. Savonea als Bevollmächtigte im Beistand von R. Chiriță und Ş.‑N. Alexandru, avocaţi,
–
des Parchetul de pe lângă Înalta Curte de Casaţie şi Justiţie – Procurorul General al României, vertreten durch B. D. Licu und R. H. Radu als Bevollmächtigte,
–
der rumänischen Regierung, zunächst durch C.‑R. Canţăr, C. T. Băcanu, E. Gane und R. I. Haţieganu, dann durch C. T. Băcanu, E. Gane und R. I. Haţieganu als Bevollmächtigte,
–
der belgischen Regierung, vertreten durch M. Jacobs, L. Van den Broeck und C. Pochet als Bevollmächtigte,
–
der dänischen Regierung, vertreten durch L. B. Kirketerp Lund und J. Nymann-Lindegren als Bevollmächtigte,
–
der niederländischen Regierung, vertreten durch M. K. Bulterman, M. L. Noort und C. S. Schillemans als Bevollmächtigte,
–
der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna als Bevollmächtigten,
–
der schwedischen Regierung, zunächst vertreten durch H. Shev, H. Eklinder, C. Meyer-Seitz, J. Lundberg und A. Falk, dann durch H. Shev, H. Eklinder und C. Meyer-Seitz als Bevollmächtigte,
–
der Europäischen Kommission, zunächst vertreten durch H. Krämer, M. Wasmeier und I. Rogalski, dann durch M. Wasmeier und I. Rogalski, als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 23. September 2020
folgendes
Urteil
1 Die Vorabentscheidungsersuchen betreffen im Wesentlichen die Auslegung von Art. 2, Art. 4 Abs. 3, Art. 9 und Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV, Art. 67 Abs. 1 und Art. 267 AEUV, Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) sowie der Entscheidung 2006/928/EG der Kommission vom 13. Dezember 2006 zur Einrichtung eines Verfahrens für die Zusammenarbeit und die Überprüfung der Fortschritte Rumäniens bei der Erfüllung bestimmter Vorgaben in den Bereichen Justizreform und Korruptionsbekämpfung (ABl. 2006, L 354, S. 56).
2 Diese Ersuchen ergehen in Rechtsstreitigkeiten zwischen
–
der Asociaţia „Forumul Judecătorilor din România“ (Verein „Forum der Richter Rumäniens“) (im Folgenden: Forum der Richter Rumäniens) und der Inspecţia Judiciară (Justizinspektion, Rumänien) wegen deren Weigerung, Informationen von öffentlichem Interesse in Bezug auf ihre Tätigkeit zu erteilen (Rechtssache C‑83/19);
–
dem Forum der Richter Rumäniens und der Asociația „Mișcarea pentru Apărarea Statutului Procurorilor“ (Vereinigung „Bewegung für den Schutz des Status der Staatsanwälte“) (im Folgenden: Bewegung für den Schutz des Status der Staatsanwälte) auf der einen und dem Consiliul Superior al Magistraturii (Oberster Richterrat, Rumänien) auf der anderen Seite über die Rechtmäßigkeit zweier Entscheidungen zur Genehmigung von Verordnungen über die Ernennung und Entlassung von Staatsanwälten, die Leitungs‑ oder Exekutivaufgaben innerhalb der mit der Untersuchung von Straftaten im Justizsystem betrauten Abteilung der Staatsanwaltschaft (im Folgenden: AUSJ) wahrnehmen (Rechtssache C‑127/19);
–
PJ und QK wegen einer Anzeige gegen einen Richter wegen Amtsmissbrauchs (Rechtssache C‑195/19);
–
SO auf der einen und TP u. a., GD, HE, IF bzw. JG auf der anderen Seite wegen Anzeigen gegen Staatsanwälte und Richter wegen Amtsmissbrauchs und Zugehörigkeit zu einer kriminellen Vereinigung (Rechtssache C‑291/19);
–
dem Forum der Richter Rumäniens, der Bewegung für den Schutz des Status der Staatsanwälte auf der einen und dem Parchetul de pe lângă Înalta Curte de Casație și Justiție – Procurorul General al României (Staatsanwaltschaft beim Obersten Kassations- und Gerichtshof – Generalstaatsanwalt Rumäniens) auf der anderen Seite über die Rechtmäßigkeit eines Erlasses des Procurorul General al României (Generalstaatsanwalt Rumäniens) (im Folgenden: Generalstaatsanwalt) über die Organisation und die Arbeitsweise der AUSJ (Rechtssache C‑355/19);
–
AX und dem Statul Român – Ministerul Finanţelor Publice (Rumänischer Staat – Ministerium für öffentliche Finanzen, Rumänien) über einen Antrag auf Ersatz materiellen und immateriellen Schadens infolge eines angeblichen Justizirrtums (Rechtssache C‑397/19).
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Beitrittsvertrag
3 Art. 2 Abs. 2 und 3 des am 25. April 2005 unterzeichneten und am 1. Januar 2007 in Kraft getretenen Vertrags zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union und der Republik Bulgarien und Rumänien über den Beitritt der Republik Bulgarien und Rumäniens zur Europäischen Union (ABl. 2005, L 157, S. 11, im Folgenden: Beitrittsvertrag) bestimmt:
„(2) Die Aufnahmebedingungen und die aufgrund der Aufnahme erforderlichen Anpassungen der Verträge, auf denen die Union beruht, sind in der diesem Vertag beigefügten Akte festgelegt; sie gelten ab dem Tag des Beitritts bis zum Tag des Inkrafttretens des Vertrags über eine Verfassung für Europa. Die Bestimmungen der Akte sind Bestandteil dieses Vertrags.
(3) …
Rechtsakte, die vor dem Inkrafttreten des in Artikel 1 Absatz 3 genannten Protokolls auf der Grundlage dieses Vertrags oder der in Absatz 2 genannten Akte erlassen wurden, bleiben in Kraft; ihre Rechtswirkungen bleiben erhalten, bis diese Rechtsakte geändert oder aufgehoben werden.“
4 Art. 3 dieses Vertrags lautet:
„Die Bestimmungen über die Rechte und Pflichten der Mitgliedstaaten sowie über die Befugnisse und Zuständigkeiten der Organe der Union, wie sie in den Verträgen festgelegt sind, denen die Republik Bulgarien und Rumänien beitreten, gelten auch für diesen Vertrag.“
5 Art. 4 Abs. 2 und 3 des Vertrags sieht vor:
„(2) Dieser Vertrag tritt am 1. Januar 2007 in Kraft, sofern alle Ratifikationsurkunden vor diesem Tag hinterlegt worden sind.
…
(3) Ungeachtet des Absatzes 2 können die Organe der Union vor dem Beitritt die Maßnahmen erlassen, die in den Artikeln … 37 [und] 38 … des in Artikel 1 Absatz 3 genannten Protokolls vorgesehen sind. Diese Maßnahmen werden vor Inkrafttreten des Vertrags über eine Verfassung für Europa nach den entsprechenden Bestimmungen in [den] Artikel[n] … 37 [und] 38 … der in Artikel 2 Absatz 2 genannten Akte erlassen.
Diese Maßnahmen treten nur vorbehaltlich des Inkrafttretens dieses Vertrags und zum Zeitpunkt seines Inkrafttretens in Kraft.“
Beitrittsakte
6 Art. 2 der am 1. Januar 2007 in Kraft getretenen Akte über die Bedingungen des Beitritts der Republik Bulgarien und Rumäniens und die Anpassungen der Verträge, auf denen die Europäische Union beruht (ABl. 2005, L 157, S. 203, im Folgenden: Beitrittsakte), sieht vor:
„Ab dem Tag des Beitritts sind die ursprünglichen Verträge und die vor dem Beitritt erlassenen Rechtsakte der Organe und der Europäischen Zentralbank für Bulgarien und Rumänien verbindlich und gelten in diesen Staaten nach Maßgabe der genannten Verträge und dieser Akte.“
7 Art. 37 der Beitrittsakte lautet:
„Hat Bulgarien oder Rumänien seine im Rahmen der Beitrittsverhandlungen eingegangenen Verpflichtungen nicht erfüllt und dadurch eine ernste Beeinträchtigung des Funktionierens des Binnenmarkts hervorgerufen, einschließlich der Verpflichtungen in allen sektorbezogenen Politiken, die wirtschaftliche Tätigkeiten mit grenzüberschreitender Wirkung betreffen, oder besteht die unmittelbare Gefahr einer solchen Beeinträchtigung, so kann die Kommission für einen Zeitraum von bis zu drei Jahren nach dem Beitritt auf begründeten Antrag eines Mitgliedstaats oder auf eigene Initiative geeignete Maßnahmen erlassen.
Diese Maßnahmen müssen verhältnismäßig sein, wobei vorrangig Maßnahmen, die das Funktionieren des Binnenmarkts am wenigsten stören, zu wählen und gegebenenfalls bestehende sektorale Schutzmechanismen anzuwenden sind. Solche Schutzmaßnahmen dürfen nicht als willkürliche Diskriminierung oder als versteckte Beschränkung des Handels zwischen den Mitgliedstaaten angewandt werden. Die Schutzklausel kann schon vor dem Beitritt aufgrund der Ergebnisse der Überwachung geltend gemacht werden, und die Maßnahmen treten am ersten Tag der Mitgliedschaft in Kraft, sofern nicht ein späterer Zeitpunkt vorgesehen ist. Die Maßnahmen werden nicht länger als unbedingt nötig aufrechterhalten und werden auf jeden Fall aufgehoben, sobald die einschlägige Verpflichtung erfüllt ist. Sie können jedoch über den in Absatz 1 genannten Zeitraum hinaus angewandt werden, solange die einschlägigen Verpflichtungen nicht erfüllt sind. Aufgrund von Fortschritten der betreffenden neuen Mitgliedstaaten bei der Erfüllung ihrer Verpflichtungen kann die Kommission die Maßnahmen in geeigneter Weise anpassen. Die Kommission unterrichtet den Rat rechtzeitig, bevor sie die Schutzmaßnahmen aufhebt, und trägt allen Bemerkungen des Rates in dieser Hinsicht gebührend Rechnung.“
8 Art. 38 der Beitrittsakte bestimmt:
„Treten bei der Umsetzung, der Durchführung oder der Anwendung von Rahmenbeschlüssen oder anderen einschlägigen Verpflichtungen, Instrumenten der Zusammenarbeit oder Beschlüssen in Bezug auf die gegenseitige Anerkennung im Bereich des Strafrechts im Rahmen des Titels VI des EU-Vertrags und von Richtlinien und Verordnungen in Bezug auf die gegenseitige Anerkennung im Bereich des Zivilrechts im Rahmen des Titels IV des EG-Vertrags in Bulgarien oder Rumänien ernste Mängel auf oder besteht die Gefahr ernster Mängel, so kann die Kommission für einen Zeitraum von bis zu drei Jahren nach dem Beitritt auf begründeten Antrag eines Mitgliedstaats oder auf eigene Initiative und nach Konsultation der Mitgliedstaaten angemessene Maßnahmen treffen und die Bedingungen und Einzelheiten ihrer Anwendung festlegen.
Diese Maßnahmen können in Form einer vorübergehenden Aussetzung der Anwendung einschlägiger Bestimmungen und Beschlüsse in den Beziehungen zwischen Bulgarien oder Rumänien und einem oder mehreren anderen Mitgliedstaat(en) erfolgen; die Fortsetzung einer engen justiziellen Zusammenarbeit bleibt hiervon unberührt. Die Schutzklausel kann schon vor dem Beitritt aufgrund der Ergebnisse der Überwachung geltend gemacht werden und die Maßnahmen treten am ersten Tag der Mitgliedschaft in Kraft, sofern nicht ein späterer Zeitpunkt vorgesehen ist. Die Maßnahmen werden nicht länger als unbedingt nötig aufrechterhalten und werden auf jeden Fall aufgehoben, sobald die Mängel beseitigt sind. Sie können jedoch über den in Absatz 1 genannten Zeitraum hinaus angewandt werden, solange die Mängel weiter bestehen. Aufgrund von Fortschritten des betreffenden neuen Mitgliedstaats bei der Beseitigung der festgestellten Mängel kann die Kommission die Maßnahmen nach Konsultation der Mitgliedstaaten in geeigneter Weise anpassen. Die Kommission unterrichtet den Rat rechtzeitig, bevor sie die Schutzmaßnahmen aufhebt, und trägt allen Bemerkungen des Rates in dieser Hinsicht gebührend Rechnung.“
9 Art. 39 Abs. 1 bis 3 der Beitrittsakte sieht vor:
„(1) Falls auf der Grundlage der von der Kommission sichergestellten kontinuierlichen Überwachung der Verpflichtungen, die Bulgarien und Rumänien im Rahmen der Beitrittsverhandlungen eingegangen sind, und insbesondere auf der Grundlage der Überwachungsberichte der Kommission eindeutig nachgewiesen ist, dass sich die Vorbereitungen im Hinblick auf die Übernahme und Umsetzung des Besitzstands in Bulgarien oder Rumänien auf einem Stand befinden, der die ernste Gefahr mit sich bringt, dass einer dieser Staaten in einigen wichtigen Bereichen offenbar nicht in der Lage ist, die Anforderungen der Mitgliedschaft bis zum Beitrittstermin 1. Januar 2007 zu erfüllen, so kann der Rat auf Empfehlung der Kommission einstimmig beschließen, den Zeitpunkt des Beitritts des betreffenden Staates um ein Jahr auf den 1. Januar 2008 zu verschieben.
(2) Werden bei der Erfüllung einer oder mehrerer der in Anhang IX Nummer I aufgeführten Verpflichtungen und Anforderungen durch Rumänien ernste Mängel festgestellt, so kann der Rat ungeachtet des Absatzes 1 mit qualifizierter Mehrheit auf Empfehlung der Kommission in Bezug auf Rumänien einen Beschluss gemäß Absatz 1 fassen.
(3) Ungeachtet des Absatzes 1 und unbeschadet des Artikels 37 kann der Rat mit qualifizierter Mehrheit auf Empfehlung der Kommission nach einer im Herbst 2005 vorzunehmenden eingehenden Bewertung der Fortschritte Rumäniens auf dem Gebiet der Wettbewerbspolitik den in Absatz 1 genannten Beschluss in Bezug auf Rumänien fassen, wenn bei der Erfüllung der Verpflichtungen im Rahmen des Europa-Abkommens oder bei der Erfüllung einer oder mehrerer der in Anhang IX Nummer II aufgeführten Verpflichtungen und Anforderungen durch Rumänien ernste Mängel festgestellt werden.“
10 Anhang IX („Besondere Verpflichtungen und Anforderungen, die Rumänien beim Abschluss der Beitrittsverhandlungen am 14. Dezember 2004 übernommen bzw. akzeptiert hat [gemäß Artikel 39 der Beitrittsakte]“) enthält folgende Passage:
„I. In Bezug auf Artikel 39 Absatz 2
…
3. Ausarbeitung und Umsetzung eines aktualisierten integrierten Aktionsplans und einer Strategie für die Justizreform, die die wesentlichen Maßnahmen zur Durchführung der Gesetze über den Aufbau des Gerichtswesens, den Status der Justizangehörigen und den Obersten Rat der Magistratur, die am 30. September 2004 in Kraft getreten sind, beinhalten. Die aktualisierten Fassungen von Aktionsplan und Strategie müssen der Union spätestens im März 2005 übermittelt werden; für die Durchführung des Aktionsplans muss eine angemessene Ausstattung mit finanziellen und personellen Mitteln sichergestellt werden, und der Aktionsplan muss unverzüglich entsprechend dem vereinbarten Zeitplan durchgeführt werden. Rumänien muss ebenfalls bis März 2005 nachweisen, dass das neue System für die zufallsgesteuerte Zuweisung von Rechtssachen vollständig einsatzbereit ist.
4. Wesentlich verschärftes Vorgehen gegen Korruption und insbesondere gegen Korruption auf hoher Ebene, indem die Korruptionsbekämpfungsgesetze rigoros durchgesetzt werden und die effektive Unabhängigkeit der Landesstaatsanwaltschaft für die Bekämpfung der Korruption (Parchet[u]l Na[ț]tional Anticorup[ț]ie (PNA)) sichergestellt wird und indem ab November 2005 einmal jährlich ein überzeugender Bericht über die Tätigkeit der PNA im Bereich der Bekämpfung der Korruption auf hoher Ebene vorgelegt wird. Die PNA muss mit allen personellen und finanziellen Mitteln sowie allen Schulungsmöglichkeiten und technischen Mitteln ausgestattet werden, die für die Wahrnehmung ihrer unerlässlichen Aufgabe erforderlich sind.
5. Durchführung einer unabhängigen Prüfung der Ergebnisse und der Auswirkungen der derzeitigen nationalen Strategie zur Korruptionsbekämpfung; Berücksichtigung der Schlussfolgerungen und Empfehlungen dieser Prüfung in der neuen mehrjährigen Strategie zur Korruptionsbekämpfung, die aus einem einzigen umfassenden Dokument bestehen und spätestens bis März 2005 vorliegen muss, parallel dazu Vorlage eines Aktionsplans, in dem die Benchmarks und die zu erzielenden Ergebnisse klar vorgegeben und angemessene Haushaltsvorschriften festgelegt werden; die Umsetzung der Strategie und die Durchführung des Aktionsplans müssen durch ein bestehendes Gremium überwacht werden, das klar definiert und unabhängig ist; in die Strategie muss die Verpflichtung aufgenommen werden, die schwerfällige Strafprozessordnung bis Ende 2005 zu überarbeiten, um sicherzustellen, dass Korruptionsfälle rasch und auf transparente Weise bearbeitet und angemessene Sanktionen mit abschreckender Wirkung vorgesehen werden; ferner muss die Strategie Maßnahmen vorsehen, um die Zahl der mit der Verhütung oder der Untersuchung von Korruptionsfällen befassten Stellen bis Ende 2005 erheblich zu verringern, damit Kompetenzüberschneidungen vermieden werden.“
Entscheidung 2006/928
11 Die Entscheidung 2006/928 wurde, wie sich aus ihrer Präambel ergibt, auf der Grundlage des Beitrittsvertrags, „insbesondere [dessen] Artikel 4 Absatz 3“, sowie der Beitrittsakte, „insbesondere [deren] Artikel 37 und 38“, erlassen.
12 Die Erwägungsgründe 1 bis 6 und 9 dieser Entscheidung lauten:
„(1)
Die Europäische Union gründet auf dem Rechtsstaatsprinzip, das allen Mitgliedstaaten gemeinsam ist.
(2) Der Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts und der Binnenmarkt, die mit dem Vertrag über die Europäische Union bzw. dem Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft geschaffen wurden, beruhen auf dem gegenseitigen Vertrauen, dass die Verwaltungs- und Gerichtsentscheidungen und die Verwaltungs- und Gerichtspraxis aller Mitgliedstaaten in jeder Hinsicht mit dem Rechtsstaatsprinzip im Einklang stehen.
(3) Dies bedeutet, dass alle Mitgliedstaaten über ein unparteiisches, unabhängiges und effizientes Justiz- und Verwaltungssystem verfügen müssen, das ausreichend dafür ausgestattet ist, unter anderem Korruption zu bekämpfen.
(4) Am 1. Januar 2007 tritt Rumänien der Europäischen Union bei. Die Kommission nimmt zur Kenntnis, dass Rumänien erhebliche Anstrengungen unternimmt, um die Vorbereitungen auf die Mitgliedschaft zum Abschluss zu bringen, hat jedoch in ihrem Bericht vom 26. September 2006 noch unerledigte Fragen insbesondere im Zusammenhang mit Rechenschaftspflicht und Effizienz der Justiz und der Vollzugsbehörden ermittelt, bei denen es weiterer Fortschritte bedarf, um zu gewährleisten, dass sie die Maßnahmen zur Verwirklichung des Binnenmarkts und des Raumes der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts umsetzen und anwenden können.
(5) Nach Artikel 37 der Beitrittsakte kann die Kommission geeignete Maßnahmen erlassen, wenn die unmittelbare Gefahr besteht, dass Rumänien die eingegangenen Verpflichtungen nicht erfüllt und dadurch eine Beeinträchtigung des Funktionierens des Binnenmarkts hervorruft. Nach Artikel 38 der Beitrittsakte kann die Kommission geeignete Maßnahmen erlassen, wenn die unmittelbare Gefahr besteht, dass in Rumänien ernste Mängel bei der Umsetzung, der Durchführung oder der Anwendung von Rechtsakten auftreten, die auf der Grundlage des Titels VI des EU-Vertrags oder des Titels IV des EG-Vertrags erlassen wurden.
(6) Die noch unerledigten Fragen im Zusammenhang mit Rechenschaftspflicht und Effizienz der Justiz und der Vollzugsbehörden erfordern die Einrichtung eines Verfahrens für die Zusammenarbeit und die Überprüfung der Fortschritte Rumäniens bei der Erfüllung bestimmter Vorgaben in den Bereichen Justizreform und Bekämpfung der Korruption.
…
(9) Diese Entscheidung ist zu ändern, wenn die Bewertung durch die Kommission ergibt, dass die Vorgaben angepasst werden müssen. Diese Entscheidung ist aufzuheben, wenn alle Vorgaben zufriedenstellend erfüllt sind“.
13 Art. 1 der Entscheidung 2006/928 sieht vor:
„Bis zum 31. März jedes Jahres und zum ersten Mal bis zum 31. März 2007 erstattet Rumänien der Kommission Bericht über die Fortschritte bei der Erfüllung der im Anhang aufgeführten Vorgaben.
Die Kommission kann jederzeit mit verschiedenen Maßnahmen technische Hilfe leisten oder Informationen zu den Vorgaben sammeln und austauschen. Ferner kann die Kommission zu diesem Zweck jederzeit Fachleute nach Rumänien entsenden. Die rumänischen Behörden leisten in diesem Zusammenhang die erforderliche Unterstützung.“
14 Art. 2 dieser Entscheidung bestimmt:
„Die Kommission übermittelt dem Europäischen Parlament und dem Rat ihre Stellungnahme und ihre Feststellungen zum Bericht Rumäniens zum ersten Mal im Juni 2007.
Danach erstattet die Kommission nach Bedarf, mindestens jedoch alle sechs Monate erneut Bericht.“
15 Art. 3 der Entscheidung sieht vor:
„Diese Entscheidung tritt nur vorbehaltlich des Inkrafttretens des Beitrittsvertrags am Tag seines Inkrafttretens in Kraft.“
16 Art. 4 der Entscheidung lautet:
„Diese Entscheidung ist an alle Mitgliedstaaten gerichtet.“
17 Der Anhang der Entscheidung 2006/928 hat folgenden Wortlaut:
„Vorgaben für Rumänien nach Artikel 1:
1. Gewährleistung transparenterer und leistungsfähigerer Gerichtsverfahren durch Stärkung der Kapazitäten und Rechenschaftspflicht des Obersten Richterrats, Berichterstattung und Kontrolle der Auswirkungen neuer Zivil- und Strafprozessordnungen,
2. Einrichtung einer Behörde für Integrität mit folgenden Zuständigkeiten: Überprüfung von Vermögensverhältnissen, Unvereinbarkeiten und möglichen Interessenskonflikten und Verabschiedung verbindlicher Beschlüsse als Grundlage für abschreckende Sanktionen,
3. Konsolidierung bereits erreichter Fortschritte bei der Durchführung fachmännischer und unparteiischer Untersuchungen bei Korruptionsverdacht auf höchster Ebene,
4. Ergreifung weiterer Maßnahmen zur Prävention und Bekämpfung von Korruption, insbesondere in den Kommunalverwaltungen.“
Rumänisches Recht
Verfassung Rumäniens
18 Art. 115 Abs. 4 der Constituția României (Verfassung Rumäniens) sieht vor:
„Die Regierung kann Dringlichkeitsverordnungen nur in Ausnahmefällen erlassen, deren Regelung nicht aufgeschoben werden kann, und hat die Verpflichtung, in ihrem Inhalt die Gründe für ihre Dringlichkeit anzugeben“.
19 Art. 133 Abs. 1 und 2 der Verfassung bestimmt:
„(1) Der Oberste Richterrat ist der Garant für die Unabhängigkeit der Justiz.
(2) Der Oberste Richterrat setzt sich aus 19 Mitgliedern zusammen, von denen
a)
14 werden in den Generalversammlungen der Richter und Staatsanwälte gewählt und vom Senat bestätigt; diese gehören zu zwei Abteilungen, eine für Richter und eine für Staatsanwälte; die erste Abteilung besteht aus neun Richtern und die zweite aus fünf Staatsanwälten;
b)
zwei vom Senat gewählten Vertretern der Zivilgesellschaft, die Experten auf dem Gebiet des Rechts sind und über ein hohes berufliches und moralisches Ansehen verfügen; diese nehmen nur an den Plenarsitzungen teil;
c)
der Justizminister, der Präsident des Obersten Kassations- und Gerichtshofhofs und der [Generalstaatsanwalt].“
20 Art. 134 der Verfassung lautet:
„(1) Der Oberste Richterrat schlägt dem Präsidenten Rumäniens die Ernennung von Richtern und Staatsanwälten, mit Ausnahme von Referendaren, unter den gesetzlich festgelegten Bedingungen vor.
(2) Der Oberste Richterrat erfüllt über seine Abteilungen die Rolle eines Rechtsprechungsorgans im Bereich der disziplinarrechtlichen Haftung von Richtern und Staatsanwälten gemäß dem durch sein Organisationsgesetz geregelten Verfahren. In diesen Fällen haben der Justizminister, der Präsident des Obersten Kassations- und Gerichtshofhofs und der [Generalstaatsanwalt] kein Stimmrecht.“
(3) Die disziplinarrechtlichen Entscheidungen des Obersten Richterrats können beim Obersten Kassations- und Gerichtshof angefochten werden.
(4) Der Oberste Richterrat erfüllt bei der Wahrnehmung seiner Rolle als Garant für die Unabhängigkeit der Justiz auch andere Aufgaben, die durch sein Organisationsgesetz festgelegt sind.“
21 Art. 148 Abs. 2 bis 4 der Verfassung sieht vor:
„(2) Die Vorschriften der Gründungsverträge der Europäischen Union sowie die anderen zwingenden Vorschriften des Gemeinschaftsrechts gehen entgegenstehenden Bestimmungen des nationalen Rechts nach Maßgabe der Beitrittsakte vor.
(3) Die Bestimmungen der Abs. 1 und 2 gelten entsprechend für den Beitritt zu den Änderungsakten der Gründungsverträge der Europäischen Union.
(4) Das Parlament, der Präsident Rumäniens, die Regierung und die rechtsprechende Gewalt gewährleisten die Erfüllung der sich aus der Beitrittsakte und den Bestimmungen in Abs. 2 ergebenden Pflichten.“
Zivilgesetzbuch
22 Art. 1381 des Codul civil (Zivilgesetzbuch) bestimmt, dass „[j]eder Schaden … einen Anspruch auf Entschädigung begründet.“
Zivilprozessordnung
23 Art. 82 Abs. 1 des Codul de procedură civilă (Zivilprozessordnung) bestimmt:
„Fehlt ein Nachweis für die Vertretereigenschaft dessen, der im Namen einer Partei gehandelt hat, so setzt das Gericht eine kurze Frist zur Behebung des Mangels. Wird der Mangel nicht behoben, so wird die Klage für nichtig erklärt. …“
24 Art. 208 der Zivilprozessordnung lautet:
„(1) Die Klageerwiderung ist mit Ausnahme der Fälle, in denen das Gesetz etwas anderes bestimmt, obligatorisch.
(2) Wird innerhalb der gesetzlich vorgesehenen Frist keine Klageerwiderung eingereicht, so ist der Beklagte nicht mehr berechtigt, Beweise vorzubringen oder Einreden – ausgenommen solche der öffentlichen Ordnung – geltend zu machen, soweit gesetzlich nichts anderes bestimmt ist.“
25 Art. 248 Abs. 1 der Zivilprozessordnung hat folgenden Wortlaut:
„Das Gericht entscheidet zunächst über die prozessualen und die materiellen Einreden, die eine Beweiserhebung oder gegebenenfalls eine Untersuchung in der Sache ganz oder teilweise entbehrlich machen.“
Strafprozessordnung
26 Art. 539 des Codul de procedură penală (Strafprozessordnung) bestimmt:
„(1) Jede Person, der während des Strafverfahrens rechtswidrig die Freiheit entzogen wurde, hat ebenfalls einen Anspruch auf Entschädigung.
(2) Die rechtswidrige Freiheitsentziehung muss auf einer Anordnung eines Staatsanwalts, einem endgültigen Beschluss eines für Sachen mit Bezug auf Rechte und Freiheiten zuständigen Richters oder eines Ermittlungsrichters oder einem endgültigen Beschluss oder Urteil des Gerichts, das zur Entscheidung über die Rechtssache berufen ist, beruhen.“
27 Art. 541 Abs. 1 und 2 der Strafprozessordnung sieht vor:
„(1) Die Schadensersatzklage kann von der Person erhoben werden, die nach den Art. 538 und 539 dazu berechtigt ist, sowie – nach dem Tod dieser Person – von Dritten, wenn sie zum Zeitpunkt des Todes gegenüber der Person unterhaltsberechtigt sind.
(2) Die Klage kann binnen sechs Monaten nach dem Tag eingereicht werden, an dem die Entscheidung des Gerichts, Anordnung der Staatsanwaltschaft oder Anordnung der Justizbehörden, mit der der Justizirrtum oder die rechtswidrige Freiheitsentziehung festgestellt wird, rechts- bzw. bestandskräftig wird.“
Justizgesetze
28 Mit dem Ziel, die Unabhängigkeit und Effizienz der Justiz zu verbessern, verabschiedete Rumänien im Lauf des Jahres 2004 im Rahmen der Verhandlungen über den Beitritt zur Union drei als „Justizgesetze“ bezeichnete Gesetze, nämlich die Legea nr. 303/2004 privind Statutul judecătorilor și procurorilor (Gesetz Nr. 303/2004 über den Status von Richtern und Staatsanwälten) vom 28. Juni 2004 (Monitorul Oficial al României, Teil I, Nr. 826 vom 13. September 2005), die Legea nr. 304/2004 privind organizarea judiciară (Gesetz Nr. 304/2004 über die Organisation des Justizwesens) vom 28. Juni 2004 (Monitorul Oficial al României, Teil I, Nr. 827 vom 13. September 2005) und die Legea nr. 317/2004 privind Consiliul Superior al Magistraturii (Gesetz Nr. 317/2004 über den Obersten Richterrat) vom 1. Juli 2004 (Monitorul Oficial al României, Teil I, Nr. 827 vom 13. September 2005). In den Jahren 2017 bis 2019 wurden diese Gesetze durch auf der Grundlage von Art. 115 Abs. 4 der rumänischen Verfassung erlassene Gesetze und Dringlichkeitsverordnungen der Regierung geändert.
– Gesetz Nr. 303/2004
29 Das Gesetz Nr. 303/2004 wurde u. a. geändert durch
–
die Legea nr. 242/2018 (Gesetz Nr. 242/2018) vom 12. Oktober 2018 (Monitorul Oficial al României, Teil I, Nr. 868 vom 15. Oktober 2018);
–
die Ordonanța de urgență a Guvernului nr. 7/2019 (Dringlichkeitsverordnung Nr. 7/2019 der Regierung) vom 19. Februar 2019 (Monitorul Oficial al României, Teil I, Nr. 137 vom 20. Februar 2019, im Folgenden: Dringlichkeitsverordnung Nr. 7/2019).
30 Art. 96 des Gesetzes Nr. 303/2004 in der so geänderten Fassung (im Folgenden: Gesetz Nr. 303/2004 in geänderter Fassung) lautet wie folgt:
„(1) Der Staat haftet mit seinem Vermögen für Schäden, die durch Justizirrtümer verursacht werden.
(2) Die Haftung des Staates wird gemäß den gesetzlichen Vorgaben begründet und schließt die Haftung von Richtern und Staatsanwälten (auch wenn sie nicht mehr im Dienst sind), die ihr Amt in bösem Glauben oder grob fahrlässig im Sinne von Art. 991 ausgeübt haben, nicht aus.
(3) Ein Justizirrtum liegt vor, wenn
a)
im Rahmen des Prozesses die Durchführung von Prozesshandlungen unter offensichtlichem Verstoß gegen gesetzliche Vorschriften des materiellen und des Verfahrensrechts angeordnet wurde, wodurch die Rechte, Freiheiten und berechtigten Interessen der Person schwerwiegend verletzt wurden, und dadurch ein Schaden verursacht wurde, der nicht durch einen ordentlichen oder außerordentlichen Rechtsbehelf wiedergutgemacht werden konnte;
b)
eine endgültige gerichtliche Entscheidung erlassen wurde, die offensichtlich mit dem Gesetz oder dem Sachverhalt, wie er sich aus der Beweiserhebung in der Rechtssache ergibt, in Widerspruch steht, wodurch die Rechte, Freiheiten und berechtigten Interessen der Person schwerwiegend beeinträchtigt wurden, und der Schaden nicht durch einen ordentlichen oder außerordentlichen Rechtsbehelf wiedergutgemacht werden konnte.
(4) Durch die Zivilprozessordnung und die Strafprozessordnung sowie durch andere Sondergesetze können spezielle Fälle geregelt werden, in denen ein Justizirrtum vorliegt.
(5) Um Schadensersatz zu erlangen, kann der Geschädigte nur gegen den Staat, vertreten durch das Ministerium für öffentliche Finanzen, Klage erheben. Die Zuständigkeit für die Entscheidung über die zivilrechtliche Klage liegt bei dem Gericht, in dessen Bezirk der Kläger seinen Wohnsitz hat.
(6) Die Zahlung der als Schadensersatz geschuldeten Beträge durch den Staat erfolgt innerhalb eines Zeitraums von höchstens einem Jahr ab dem Tag der Bekanntgabe der endgültigen Gerichtsentscheidung.
(7) Innerhalb von zwei Monaten nach der in Abs. 6 genannten Bekanntgabe der endgültigen Entscheidung über die Klage ruft das Ministerium für öffentliche Finanzen die Justizinspektion an, damit diese gemäß dem in Art. 741 des Gesetzes Nr. 317/2004 in der neu bekannt gemachten Fassung mit späteren Änderungen vorgesehenen Verfahren prüft, ob der Justizirrtum vom Richter oder Staatsanwalt in Ausübung seines Amts in bösem Glauben oder grob fahrlässig verursacht wurde.
(8) Der Staat, vertreten durch das Ministerium für öffentliche Finanzen, erhebt gegen den Richter oder Staatsanwalt Regressklage, wenn er nach dem beratenden Bericht der Justizinspektion gemäß Abs. 7 und nach eigener Beurteilung der Ansicht ist, dass der Justizirrtum von dem Richter oder Staatsanwalt in Ausübung seines Amts in bösem Glauben oder grob fahrlässig verursacht wurde. Die Frist für die Erhebung der Regressklage beträgt sechs Monate ab dem Zeitpunkt der Übermittlung des Berichts der Justizinspektion.
(9) Die Zuständigkeit für die Entscheidung über die Regressklage liegt in erster Instanz bei der Zivilkammer der Curtea de Apel [(Berufungsgericht)] in dem Gerichtsbezirk, in dem der Beklagte seinen Wohnsitz hat. Ist der beklagte Richter bzw. Staatsanwalt bei dem Berufungsgericht bzw. bei der dem Berufungsgericht angegliederten Staatsanwaltschaft tätig, ist die Regressklage nach Wahl des Klägers bei dem Berufungsgericht eines angrenzenden Gerichtsbezirks zu erheben.
(10) Gegen die in dem Verfahren gemäß Abs. 9 ergangene Entscheidung kann bei der zuständigen Kammer der Înalta Curte de Casație și Justiție [(Oberster Kassations- und Gerichtshof), Rumänien] Rechtsmittel eingelegt werden.
(11) Der Oberste Richterrat legt innerhalb von sechs Monaten nach Inkrafttreten dieses Gesetzes die Bedingungen, Fristen und Verfahren für die Berufshaftpflichtversicherung der Richter und Staatsanwälte fest. Die Versicherung wird vollständig vom Richter bzw. Staatsanwalt getragen und ihr Fehlen kann die zivilrechtliche Haftung des Richters oder Staatsanwalts für den in Ausübung seines Amts in bösem Glauben oder grob fahrlässig verursachten Justizirrtum nicht verzögern, verringern oder beseitigen.“
31 Art. 991 des Gesetzes Nr. 303/2004 in geänderter Fassung bestimmt:
„(1) Ein Richter bzw. Staatsanwalt handelt in bösem Glauben, wenn er Bestimmungen des materiellen oder des Verfahrensrechts wissentlich verletzt und dabei beabsichtigt oder in Kauf nimmt, einer Person Schaden zuzufügen.
(2) Ein Richter oder Staatsanwalt handelt grob fahrlässig, wenn er die Bestimmungen des materiellen oder des Verfahrensrechts in fahrlässiger, schwerwiegender, unbestreitbarer und unentschuldbarer Weise missachtet.“
– Gesetz Nr. 304/2004
32 Das Gesetz Nr. 304/2004 wurde u. a. geändert durch
–
die Legea nr. 207/2018 (Gesetz Nr. 207/2018) vom 20. Juli 2018 (Monitorul Oficial al României, Teil I, Nr. 636 vom 20. Juli 2018), die gemäß ihrem Art. III am 23. Oktober 2018 in Kraft getreten ist und mit der in Titel III („Staatsanwaltschaft“) Kapitel 2 des Gesetzes Nr. 304/2004 ein Abschnitt 21 betreffend die „AUSJ“ eingefügt wurde, der die Art. 881 bis 8811 des letztgenannten Gesetzes enthält;
–
die Ordonanța de urgență a Guvernului nr. 90/2018 (Dringlichkeitsverordnung Nr. 90/2018 der Regierung) vom 10. Oktober 2018 (Monitorul Oficial al României, Teil I, Nr. 862 vom 10. Oktober 2018, im Folgenden: Dringlichkeitsverordnung Nr. 90/2018 der Regierung), mit der u. a. Art. 882 Abs. 3 des Gesetzes Nr. 304/2004 geändert und ein von den Art. 883 bis 885 dieses Gesetzes abweichendes Verfahren für die vorläufige Ernennung des leitenden Staatsanwalts, des stellvertretenden leitenden Staatsanwalts und mindestens eines Drittels der Staatsanwälte des AUSJ eingeführt wurde;
–
die Ordonanța de urgență a Guvernului nr. 92/2018 (Dringlichkeitsverordnung Nr. 92/2018 der Regierung) vom 15. Oktober 2018 (Monitorul Oficial al României, Teil I, Nr. 874 vom 16. Oktober 2018), mit der u. a. in Art. 882 des Gesetzes Nr. 304/2004 ein neuer Abs. 5 eingefügt und Art. 885 Abs. 5 dieses Gesetzes geändert wurde;
–
die Dringlichkeitsverordnung Nr. 7/2019, mit der u. a. ein Abs. 6 in Art. 881 des Gesetzes Nr. 304/2004, ein Abs. 111 und ein Abs. 112 in Art. 885 dieses Gesetzes sowie ein Buchst. e in Art. 888 Abs. 1 des Gesetzes eingefügt und Buchst. d von Art. 888 Abs. 1 des Gesetzes geändert wurde;
–
die Ordonanța de urgență a Guvernului nr. 12/2019 pentru modificarea şi completarea unor acte normative în domeniul justiţiei (Dringlichkeitsverordnung Nr. 12/2019 der Regierung zur Änderung und Ergänzung von Gesetzgebungsakten im Bereich der Justiz) vom 5. März 2019 (Monitorul Oficial al României, Teil I, Nr. 185 vom 7. März 2019), mit der u. a. die Art. 8810 und 8811 in das Gesetz Nr. 304/2004 eingefügt wurden, die sich u. a. auf die Abordnung von Beamten der Kriminalpolizei an die AUSJ beziehen.
33 Art. 881 des Gesetzes Nr. 304/2004 in der so geänderten Fassung (im Folgenden: Gesetz Nr. 304/2004 in geänderter Fassung) lautet:
„(1) Innerhalb [der Staatsanwaltschaft beim Obersten Kassations- und Gerichtshof] wird [die AUSJ] eingerichtet, die dort tätig ist und ausschließlich für die Strafverfolgung bei von Richtern und Staatsanwälten – einschließlich Militärrichtern und Militärstaatsanwälten und solchen, die Mitglieder des Obersten Richterrats sind – begangenen Straftaten zuständig ist.
(2) Die [AUSJ] behält ihre Zuständigkeit für die Strafverfolgung auch dann, wenn neben den in Abs. 1 genannten Personen auch gegen andere Personen ermittelt wird.
…
(4) Die [AUSJ] wird von einem leitenden Staatsanwalt der [AUSJ], dem ein stellvertretender leitender Staatsanwalt zur Seite steht, geleitet, die vom Plenum des Obersten Richterrats nach Maßgabe dieses Gesetzes in ihr Amt ernannt werden.
(5) Der [Generalstaatsanwalt] entscheidet bei Zuständigkeitskonflikten, die zwischen der [AUSJ] und den anderen Strukturen und Einheiten der Staatsanwaltschaft auftreten.
(6) Wird in der Strafprozessordnung oder anderen Spezialgesetzen in Sachen, die Straftaten in der Zuständigkeit der [AUSJ] betreffen, auf den „hierarchisch vorgesetzten Staatsanwalt“ verwiesen, so ist dies dahin zu verstehen, dass dieser Ausdruck auf den leitenden Staatsanwalt der Abteilung verweist, und zwar auch dann, wenn es um Entscheidungen geht, die getroffen wurden, bevor die Abteilung einsatzfähig wurde.“
34 Art. 882 dieses Gesetzes bestimmt:
„(1) Die [AUSJ] arbeitet nach den Grundsätzen der Rechtmäßigkeit, Unparteilichkeit und hierarchischen Kontrolle.
(2) Die Delegierung oder Abordnung von Staatsanwälten an die [AUSJ] ist untersagt.
(3) Die [AUSJ] arbeitet mit höchstens 15 Staatsanwälten.
(4) Die Zahl der Stellen der [AUSJ] kann entsprechend dem Umfang der Tätigkeit durch Beschluss des [Generalstaatsanwalts] auf Antrag des leitenden Staatsanwalts der [AUSJ] mit Zustimmung des Plenums des Obersten Richterrats geändert werden.
(5) Während der Dauer ihres Dienstes in der [AUSJ] stehen den Staatsanwälten … die Rechte abgeordneter Staatsanwälte nach Maßgabe des Gesetzes zu.“
35 Art. 883 Abs. 1 dieses Gesetzes sieht vor:
„Der leitende Staatsanwalt der [AUSJ] wird vom Plenum des Obersten Richterrats nach einem Auswahlverfahren in sein Amt ernannt; das Auswahlverfahren besteht in der Vorstellung eines Projekts bezüglich der Wahrnehmung der spezifischen Aufgaben der entsprechenden Leitungsfunktion zur Feststellung der Managementfähigkeiten, der effizienten Verwaltung von Ressourcen, der Fähigkeit, Entscheidungen zu treffen und Verantwortung zu übernehmen, der Kommunikationsfähigkeiten und der Stressresistenz sowie der Integrität des Bewerbers, der Bewertung seiner Tätigkeit als Staatsanwalt und seiner Einstellung zu spezifischen Werten des Berufs sowie zur Unabhängigkeit der Justiz oder zur Wahrung der Grundrechte und Grundfreiheiten.“
36 In Art. 884 Abs. 1 des Gesetzes heißt es:
„Der stellvertretende leitende Staatsanwalt der [AUSJ] wird vom Plenum des Obersten Richterrats auf mit Gründen versehenen Vorschlag des leitenden Staatsanwalts der [AUSJ] aus den bereits in die Abteilung ernannten Staatsanwälten ernannt.“
37 In Art. 885 des Gesetzes Nr. 304/2004 heißt es:
„(1) Die [AUSJ] wird mit Staatsanwälten besetzt, die vom Plenum des Obersten Richterrats nach einem Auswahlverfahren in den Grenzen der im nach Maßgabe des Gesetzes genehmigten Stellenplan vorgesehenen Stellen für einen Zeitraum von drei Jahren mit der Möglichkeit der Fortführung der Tätigkeit innerhalb der Abteilung für einen Zeitraum von insgesamt höchstens neun Jahren ernannt werden.
(2) Das Auswahlverfahren wird vor dem Auswahlausschuss, dessen Zusammensetzung in Art. 883 Abs. 2 geregelt ist und dem von Rechts wegen der leitende Staatsanwalt der [AUSJ] angehört, durchgeführt.
…
(11) Die Ernennung in das Amt als Staatsanwalt bei der [AUSJ] erfolgt durch das Plenum des Obersten Richterrats im Rahmen der freien Stellen und in der Reihenfolge der erzielten Punkte.
(111) Die Mitglieder der in diesem Artikel vorgesehenen Auswahlausschüsse unterliegen nicht der Unvereinbarkeit und stimmen im Plenum des Obersten Richterrats ab.
(112) Die in Art. 883 bzw. Art. 885 vorgesehenen Auswahlausschüsse nehmen ihre Aufgaben rechtmäßig in Anwesenheit von mindestens drei Mitgliedern wahr.
(12) Die Verfahren für die Ernennung, die Fortführung der Tätigkeit bei der [AUSJ] und die Abberufung aus Leitungs- und Exekutivfunktionen werden in einer vom Plenum des Obersten Richterrats genehmigten Verordnung festgelegt.“
38 Art. 887 dieses Gesetzes sieht vor:
„(1) Staatsanwälte, die in die [AUSJ] ernannt worden sind, können vom Plenum des Obersten Richterrats auf mit Gründen versehenen Antrag des leitenden Staatsanwalts der [AUSJ] im Fall der Nichterfüllung der spezifischen Aufgaben ihres Amts abberufen werden, wenn sie mit Sanktionen belegt worden sind.
(2) Im Falle der Abberufung kehrt der Staatsanwalt zu der Staatsanwaltschaft zurück, von der er kam, und erhält den Rang und die entsprechende Besoldung zurück, die ihm zuvor zustand oder die er nach Maßgabe des Gesetzes während der Tätigkeit in der [AUSJ] infolge von Beförderungen erworben hat.“
39 Art. 888 Abs. 1 dieses Gesetzes bestimmt:
„Die [AUSJ] hat folgende Aufgaben:
a)
die strafrechtliche Verfolgung nach Maßgabe [der Strafprozessordnung] von Straftaten, die in ihre Zuständigkeit fallen;
b)
die Anrufung der Gerichte zum Zweck des Erlasses gesetzlich vorgesehener Maßnahmen und zur Entscheidung in Sachen betreffend Straftaten nach Buchst. a;
c)
die Einrichtung und Aktualisierung der Datenbank im Bereich der in ihren Zuständigkeitsbereich fallenden Straftaten;
…
e)
die Wahrnehmung sonstiger gesetzlich vorgesehener Aufgaben.“
40 In Art. II der Dringlichkeitsverordnung Nr. 90/2018 heißt es:
„(1) Abweichend von den Bestimmungen der Art. 883 bis 885 des Gesetzes Nr. 304/2004 über die Organisation des Justizwesens in der geänderten und ergänzten Fassung werden bis zum Abschluss der Auswahlverfahren für die Ernennung des leitenden Staatsanwalts der [AUSJ] und der ausführenden Staatsanwälte der [AUSJ] sowie der Bewertung der Ergebnisse dieser Auswahlverfahren die Ämter des leitenden Staatsanwalts und mindestens eines Drittels der ausführenden Staatsanwälte vorläufig von Staatsanwälten wahrgenommen, die die gesetzlichen Voraussetzungen für die Ernennung in dieses Amt erfüllen und von dem nach Art. 883 Abs. 2 des Gesetzes Nr. 304/2004 in der neu bekannt gemachten Fassung mit späteren Änderungen errichteten Auswahlausschuss ausgewählt werden.
(2) Die Bewerber werden von dem nach Abs. 1 vorgesehenen Auswahlausschuss in einem Verfahren ausgewählt, das in höchstens fünf Kalendertagen ab dem Tag der Einleitung durch den Präsidenten des Obersten Richterrats durchgeführt wird. Der Auswahlausschuss übt seine Tätigkeit in Anwesenheit von mindestens drei Mitgliedern aus.
…
(10) Zur Herstellung der Einsatzfähigkeit der [AUSJ] innerhalb von fünf Kalendertagen nach dem Inkrafttreten dieser Dringlichkeitsverordnung gewährleistet der [Generalstaatsanwalt] die Bereitstellung der personellen und materiellen Ressourcen, die für das Funktionieren der Abteilung erforderlich sind, einschließlich spezialisierten Hilfspersonals, Beamter und Bediensteter der Kriminalpolizei, Fachleuten und sonstigen Personals.
(11) Ab dem Zeitpunkt der Herstellung der Einsatzfähigkeit der [AUSJ] werden in deren Zuständigkeit fallende Sachen, die bei der Nationalen Antikorruptionsdirektion und anderen Einheiten der Staatsanwaltschaft bearbeitet werden, sowie Akten der Sachen betreffend Straftaten nach Art. 881 Abs. 1 des Gesetzes Nr. 304/2004 in neu bekannt gemachter Fassung mit späteren Änderungen, über die bis zum Zeitpunkt dieser Herstellung der Einsatzfähigkeit bereits entschieden wurde, von der [AUSJ] übernommen.“
41 Die Einführung dieses Ausnahmeverfahrens wurde gemäß den Erwägungsgründen der Dringlichkeitsverordnung Nr. 90/2018 wie folgt begründet:
„In Anbetracht dessen, dass gemäß Artikel III Absatz 1 des Gesetzes Nr. 207/2018 zur Änderung und Ergänzung des Gesetzes Nr. 304/2004 über die Organisation des Justizwesens ‚[d]ie [AUSJ] ihre Arbeit innerhalb von drei Monaten nach Inkrafttreten dieses Gesetzes auf[nimmt]‘, also am 23. Oktober 2018,
unter Berücksichtigung dessen, dass der Oberste Richterrat bisher das Verfahren zur Herstellung der Einsatzfähigkeit der [AUSJ] nicht innerhalb der gesetzlichen Frist abgeschlossen hat,
in Anbetracht dessen, dass das Gesetz ausdrücklich die Zuständigkeit dieser Abteilung für die Strafverfolgung bei von Richtern und Staatsanwälten – einschließlich Militärrichtern und Militärstaatsanwälten und solchen, die Mitglieder des Obersten Richterrats sind – begangenen Straftaten vorsieht und dass ab dem 23. Oktober 2018, dem gesetzlich festgelegten Datum für die Herstellung der Einsatzfähigkeit der Abteilung, die Nationale Antikorruptionsdirektion und die übrigen Staatsanwaltschaften nicht mehr für die strafrechtliche Verfolgung von durch diese Personen begangene Straftaten zuständig sein werden, was die gerichtlichen Verfahren in den Fällen, die in die Zuständigkeit der Abteilung fallen, schwerwiegend beeinträchtigen würde und einen institutionellen Stillstand verursachen könnte,
unter Berücksichtigung dessen, dass das geltende Gesetz keine Übergangsbestimmungen hinsichtlich der Herstellung der Einsatzfähigkeit der [AUSJ] für den Fall vorsieht, dass die im Gesetz Nr. 207/2018 bestimmte Frist überschritten wird, so dass der Erlass gesetzlicher Maßnahmen dringend erforderlich ist, die ein einfaches, von den Art. 883 bis 885 des Gesetzes Nr. 304/2004 in der neu bekannt gemachten Fassung mit späteren Änderungen abweichendes Verfahren zur vorläufigen Ernennung des leitenden Staatsanwalts, des stellvertretenden leitenden Staatsanwalts und mindestens eines Drittels der Staatsanwälte der Abteilung regelt, wodurch die Herstellung der Einsatzfähigkeit der Abteilung innerhalb der gesetzlich bestimmten Frist, d. h. bis zum 23. Oktober 2018, ermöglicht wird,
in der Erwägung, dass es sich bei der oben dargestellten Situation um eine außergewöhnliche Situation handelt, deren Regelung keinen Aufschub duldet“.
– Gesetz Nr. 317/2004
42 Das Gesetz Nr. 317/2004 wurde u. a. geändert durch
–
die Ordonanța de Urgență a Guvernului nr. 77/2018 (Dringlichkeitsverordnung Nr. 77/2018 der Regierung) vom 5. September 2018 (Monitorul Oficial al României Nr. 767 vom 5. September 2018, im Folgenden: Dringlichkeitsverordnung Nr. 77/2018), mit der gemäß ihrem Art. I ein Abs. 7 und ein Abs. 8 in Art. 67 des Gesetzes Nr. 317/2004 eingefügt wurden;
–
die Legea nr. 234/2018 (Gesetz Nr. 234/2018) vom 4. Oktober 2018 (Monitorul Oficial al României, Teil I, Nr. 850 vom 8. Oktober 2018), mit der u. a. die Art. 65 und 67 des Gesetzes Nr. 317/2004 geändert und in dieses ein Art. 741 eingefügt wurde;
–
die Dringlichkeitsverordnung Nr. 7/2019.
43 Art. 65 Abs. 1 bis 3 des Gesetzes Nr. 317/2004 bestimmte in der Fassung vor dem Inkrafttreten des Gesetzes Nr. 234/2018:
„(1) Durch die Umstrukturierung der Justizinspektion wird die Justizinspektion als Einrichtung mit Rechtspersönlichkeit innerhalb des Obersten Richterrats mit Sitz in Bukarest errichtet.
(2) Die Justizinspektion wird von einem Chefinspekteur geleitet, der von einem stellvertretenden Chefinspekteur unterstützt wird, die beide nach einem Auswahlverfahren ernannt werden, das vom Obersten Richterrat ausgerichtet wird.
(3) Die Justizinspektion handelt im Einklang mit dem Grundsatz der operativen Unabhängigkeit und führt durch nach gesetzlich festgelegten Bedingungen ernannte Justizinspekteure Analyse‑, Überprüfungs- und Kontrollaufgaben in bestimmten Tätigkeitsbereichen durch.“
44 Art. 67 des Gesetzes Nr. 317/2004 lautete:
„(1) Der Chefinspekteur und der stellvertretende Chefinspekteur werden vom Plenum des Obersten Richterrats unter den im Amt befindlichen Justizinspekteuren nach einem Auswahlverfahren ernannt, das in der Vorstellung eines Projekts bezüglich der Wahrnehmung der spezifischen Aufgaben der betreffenden Leitungsposition sowie in einer schriftlichen Prüfung im Hinblick auf das Management, die Kommunikation, das Personalwesen, die Fähigkeit des Bewerbers, Entscheidungen zu treffen und Verantwortung zu übernehmen, und die Stressresistenz sowie in einer psychologischen Prüfung besteht.
(2) Das Auswahlverfahren wird vom Obersten Richterrat gemäß der durch Beschluss des Plenums des Obersten Richterrats … genehmigten Verordnung organisiert.
(3) Die Organisation der Auswahlverfahren zur Besetzung der Ämter des Chefinspekteurs und des stellvertretenden Chefinspekteurs wird mindestens drei Monate im Voraus angekündigt.
(4) Die Dauer des Mandats des Chefinspekteurs und des stellvertretenden Chefinspekteurs beträgt drei Jahre und kann unter Beachtung der Bestimmungen des Abs. 1 einmal verlängert werden.
(5) Der Chefinspekteur und der stellvertretende Chefinspekteur können im Fall der Nichterfüllung oder der unzureichenden Erfüllung ihrer Leitungsaufgaben vom Plenum des Obersten Richterrats abberufen werden. Die Abberufung aus dem Amt wird auf der Grundlage des jährlichen Prüfberichts gemäß Art. 68 angeordnet.
(6) Gegen den Beschluss des Plenums des Obersten Richterrats, mit dem die Abberufung angeordnet wird, kann innerhalb von 15 Tagen nach Bekanntgabe beim Senat für Verwaltungs- und Abgabenstreitsachen der Înalta Curte de Casație și Justiție (Oberster Kassations- und Justizgerichtshof) Klage erhoben werden. Die Klage hat hinsichtlich der Vollstreckung des Beschlusses des Obersten Richterrats aufschiebende Wirkung. Die Entscheidung, mit der über die Klage entschieden wird, ist unwiderruflich.
(7) Im Fall einer Vakanz des Amts des Chefinspekteurs oder gegebenenfalls des stellvertretenden Chefinspekteurs der Justizinspektion infolge des Ablaufs des Mandats wird das Amt vorläufig bis zum Zeitpunkt der Besetzung dieses Amts nach Maßgabe des Gesetzes vom Chefinspekteur oder gegebenenfalls vom stellvertretenden Chefinspekteur, deren Mandate abgelaufen sind, besetzt.
(8) Endet die Amtszeit des Chefinspekteurs aus einem anderen Grund als dem Ablauf des Mandats, so wird das Amt vorläufig bis zum Zeitpunkt der Besetzung dieses Amts nach Maßgabe des Gesetzes vom stellvertretenden Chefinspekteur besetzt. Endet die Amtszeit des stellvertretenden Chefinspekteurs aus einem anderen Grund als dem Ablauf des Mandats, so wird das Amt vorläufig bis zum Zeitpunkt der Besetzung dieses Amts nach Maßgabe des Gesetzes von einem vom Chefinspekteur ernannten Justizinspekteur besetzt.“
45 In Art. 741 des Gesetzes Nr. 317/2004, der aus dem Gesetz Nr. 234/2018 hervorgegangen ist, heißt es:
„(1) Auf Ersuchen des Ministeriums für öffentliche Finanzen prüft die Justizinspektion in den Fällen und innerhalb der Fristen, die in Art. 96 des Gesetzes Nr. 303/2004 in der neu bekannt gemachten, später geänderten und ergänzten Fassung vorgesehen sind, ob der vom Richter oder Staatsanwalt verursachte Justizirrtum darauf beruht, dass er sein Amt in bösem Glauben oder grob fahrlässig ausgeübt hat.
(2) Die Prüfung nach Abs. 1 ist innerhalb von 30 Tagen nach Stellung des Ersuchens abzuschließen. Der Chefinspekteur kann eine Fristverlängerung um bis zu 30 Tagen anordnen, wenn berechtigte Gründe dies rechtfertigen. Die maximale Prüfungsfrist darf 120 Tage nicht überschreiten.
(3) Die Prüfung wird von einem Ausschuss durchgeführt, der entsprechend der Eigenschaft der betroffenen Person aus drei Richtern – Justizinspekteuren – oder drei Staatsanwälten – Justizinspekteuren – besteht. Betrifft eine Sache zugleich Richter und Staatsanwälte, werden zwei Ausschüsse eingesetzt, um den Sachverhalt entsprechend der Eigenschaft der betroffenen Personen getrennt zu ermitteln.
(4) Betroffene Richter und Staatsanwälte sind im Rahmen der Ermittlungen anzuhören. Die Weigerung des Richters oder des Staatsanwalts, Angaben zu machen, wird im Protokoll ordnungsgemäß vermerkt und hindert nicht den Abschluss der Prüfungen. Der betroffene Richter oder Staatsanwalt ist berechtigt, von allen Handlungen des Prüfungsverfahrens Kenntnis zu nehmen und Entlastungsbeweise zu verlangen. Die Inspekteure können sämtliche Personen anhören, die an der Sache, die diese Prüfungen erfordert, beteiligt waren.
(5) Über die durchgeführten Prüfungen wird auf der Grundlage der erhobenen Beweise ein Bericht erstellt, so dass die Justizinspektion beurteilen kann, ob der Richter oder Staatsanwalt den Justizirrtum in bösem Glauben oder grob fahrlässig begangen hat.
(6) Die Prüfungen nach Abs. 1 werden auch dann durchgeführt, wenn der Richter oder Staatsanwalt nicht mehr im Amt ist.
(7) Der Bericht wird dem Ministerium für öffentliche Finanzen und dem betroffenen Richter oder Staatsanwalt übermittelt.
(8) Der Bericht nach Abs. 5 muss vom Chefinspekteur bestätigt werden. Dieser kann einmalig unter Angabe von Gründen eine Ergänzung der Prüfungen anordnen. Die Ergänzung hat der Ausschuss innerhalb von höchstens 30 Tagen ab dem Tag der Anordnung durch den Chefinspekteur vorzunehmen.“
46 In Art. II der Dringlichkeitsverordnung Nr. 77/2018 heißt es:
„Art. 67 Abs. 7 des Gesetzes Nr. 317/2004 über den Obersten Richterrat in der neu bekannt gemachten Fassung mit späteren Änderungen sowie mit den durch die vorliegende Dringlichkeitsverordnung vorgenommenen Ergänzungen gilt auch für die Fälle, in denen das Amt des Chefinspekteurs oder gegebenenfalls des stellvertretenden Chefinspekteurs der Justizinspektion zum Zeitpunkt des Inkrafttretens dieser Dringlichkeitsverordnung vakant ist.“
Ausgangsrechtsstreitigkeiten und Vorlagefragen
Den Ausgangsrechtsstreitigkeiten gemeinsame Gesichtspunkte
47 Die Ausgangsrechtsstreitigkeiten haben sich aus einer umfangreichen Reform im Bereich Justiz und Korruptionsbekämpfung in Rumänien ergeben, die seit 2007 auf Unionsebene gemäß dem durch die Entscheidung 2006/928 anlässlich des Beitritts Rumäniens zur Europäischen Union eingeführten Verfahren für Zusammenarbeit und Überprüfung (im Folgenden: VZÜ) überwacht wird.
48 In den Jahren 2017 bis 2019 änderte der rumänische Gesetzgeber mehrfach die Gesetze Nrn. 303/2004, 304/2004 und 317/2004. Die Kläger der Ausgangsverfahren stellen die Vereinbarkeit einiger dieser Änderungen, insbesondere der Änderungen betreffend die Organisation der Justizinspektion (Rechtssache C‑83/19), die Errichtung der AUSJ innerhalb der Staatsanwaltschaft (Rechtssachen C‑127/19, C‑195/19, C‑291/19 und C‑355/19) sowie die Regelung der persönlichen Haftung der Richter und Staatsanwälte (Rechtssache C‑397/19) mit dem Unionsrecht in Abrede.
49 Zur Stützung ihrer Klagen verweisen die Kläger der Ausgangsverfahren auf die Berichte der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat über Rumäniens Fortschritte im Rahmen des Kooperations- und Kontrollverfahrens vom 25. Januar 2017 (COM[2017] 44 final, im Folgenden: VZÜ-Bericht vom Januar 2017), vom 15. November 2017 (COM[2017] 751 final) und vom 13. November 2018 (COM[2018] 851 final, im Folgenden: VZÜ-Bericht vom November 2018), auf die Stellungnahme Nr. 924/2018 der Europäischen Kommission für Demokratie durch Recht (Venedig-Kommission) vom 20. Oktober 2018 zu den Änderungsentwürfen zum Gesetz Nr. 303/2004 über den Status von Richtern und Staatsanwälten, zum Gesetz Nr. 304/2004 über die Organisation des Justizwesens und zum Gesetz Nr. 317/2004 über den Obersten Richterrat (CDL-AD[2018]017) sowie auf den Bericht der Gruppe der Staaten gegen Korruption (GRECO) über Rumänien, angenommen am 23. März 2018 (Greco-AdHocRep[2018]2), die Stellungnahme des Beirats Europäischer Richter (CCJE) vom 25. April 2019 (CCJE‑BU[2019]4) und die Stellungnahme des Beirats Europäischer Staatsanwälte vom 16. Mai 2019 (CCPE‑BU[2019]3). Nach Ansicht der Kläger enthalten diese Berichte und Stellungnahmen nämlich Kritik an den von Rumänien in den Jahren 2017 bis 2019 erlassenen Vorschriften, was die Wirksamkeit der Korruptionsbekämpfung und die Gewährleistung der Unabhängigkeit der Justiz anbelangt, und geben Empfehlungen für eine Änderung, Aussetzung oder Aufhebung dieser Vorschriften.
50 Die vorlegenden Gerichte fragen insoweit nach der Natur und den Rechtswirkungen des VZÜ sowie nach der Tragweite der von der Kommission im Rahmen des VZÜ erstellten Berichte. Sie weisen im Wesentlichen darauf hin, dass das auf der Grundlage der Art. 37 und 38 der Beitrittsakte eingerichtete VZÜ die Unzulänglichkeiten der in Rumänien durchgeführten Reformen im Bereich der Organisation des Justizwesens und der Korruptionsbekämpfung beheben solle, um diesen Staat in die Lage zu versetzen, die sich aus dem Status eines Mitgliedstaats ergebenden Verpflichtungen zu erfüllen. Außerdem hätten die Berichte, die die Kommission im Rahmen des VZÜ erstellt habe, u. a. den Zweck, die von den rumänischen Behörden unternommenen Anstrengungen zu lenken, und enthielten spezifische Anforderungen und Empfehlungen. Nach Ansicht dieser Gerichte sind Inhalt, Rechtsnatur und Dauer dieses Verfahrens als in den Anwendungsbereich des Beitrittsvertrags fallend anzusehen, so dass die in diesen Berichten aufgestellten Anforderungen für Rumänien verbindlich sein müssten.
51 In diesem Zusammenhang verweisen die vorlegenden Gerichte auf mehrere Urteile der Curtea Constituțională (Verfassungsgerichtshof, Rumänien), in denen auf diese Frage eingegangen wurde, darunter das Urteil Nr. 104 vom 6. März 2018. Nach diesem Urteil habe das Unionsrecht keinen Vorrang vor der rumänischen Verfassungsordnung, und die Entscheidung 2006/928 könne keine Bezugsnorm im Rahmen einer Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit nach Art. 148 der Verfassung darstellen, da diese Entscheidung vor dem Beitritt Rumäniens zur Union erlassen worden sei und in Bezug auf die Frage, ob ihr Inhalt, ihre Rechtsnatur und ihre Dauer in den Anwendungsbereich des Beitrittsvertrags fielen, nicht Gegenstand einer Auslegung durch den Gerichtshof gewesen sei.
Rechtssache C‑83/19
52 Mit am 27. August 2018 bei der Justizinspektion eingegangenem Antrag ersuchte das Forum der Richter Rumäniens die Justizinspektion um Übermittlung statistischer Informationen über deren Tätigkeit im Zeitraum 2014-2018, insbesondere über die Zahl der eingeleiteten Disziplinarverfahren, über die Gründe für die Einleitung dieser Verfahren und über deren Ausgang sowie über eine Kooperationsvereinbarung zwischen der Justizinspektion und dem Serviciul Român de Informaţii (Rumänischer Nachrichtendienst) und die Beteiligung des Letzteren an den durchgeführten Ermittlungen.
53 Da das Forum der Richter Rumäniens der Ansicht war, dass die Justizinspektion dadurch, dass sie diesem Antrag, der Informationen von öffentlichem Interesse betroffen habe, nur teilweise entsprochen habe, ihren rechtlichen Verpflichtungen nicht nachgekommen sei, erhob sie am 24. September 2018 beim Tribunalul Olt (Landgericht Olt, Rumänien) Klage mit dem Antrag, der Justizinspektion aufzugeben, die betreffenden Informationen zu übermitteln.
54 Am 26. Oktober 2018 reichte die Justizinspektion bei diesem Gericht eine Klageerwiderung ein, in der sie ausführte, dass die subjektiven Rechte des Forums der Richter Rumäniens aus der Legea nr. 544/2001 privind liberul acces la informațiile de interes public (Gesetz Nr. 544/2001 über den freien Zugang zu Informationen von öffentlichem Interesse) vom 12. Oktober 2001 (Monitorul Oficial al României, Teil I, Nr. 663 vom 23. Oktober 2001) nicht verletzt worden seien und dass die Klage daher abzuweisen sei. Die Klageerwiderung war von Herrn Lucian Netejoru, der als Chefinspekteur der Justizinspektion vorgestellt wurde, unterzeichnet.
55 In seiner Replik erhob das Forum der Richter Rumäniens eine Einrede, die darauf gestützt war, dass der Unterzeichner der Klageerwiderung seine Befugnis zur Vertretung der Justizinspektion nicht nachgewiesen habe. Herr Netejoru sei zwar durch einen Beschluss des Plenums des Obersten Richterrats vom 30. Juni 2015 mit Wirkung vom 1. September 2015 tatsächlich zum Chefinspekteur der Justizinspektion ernannt worden, doch sei seine dreijährige Amtszeit am 31. August 2018, also vor Einreichung der Klageerwiderung, abgelaufen gewesen.
56 Nach Ansicht des Forums der Richter Rumäniens sehen die Bestimmungen des Art. 67 Abs. 7 des Gesetzes Nr. 317/2004 zwar vor, dass für den Fall, dass das Amt des Chefinspekteurs nach Ablauf des Mandats vakant werde, das Amt vorläufig bis zum Zeitpunkt der Besetzung nach Maßgabe des Gesetzes mit dem Chefinspekteur besetzt werde, dessen Mandat abgelaufen sei. Jedoch seien diese Bestimmungen, die sich aus der Dringlichkeitsverordnung Nr. 77/2018 ergäben, verfassungswidrig, da sie die sich aus der in Art. 133 Abs. 1 der Verfassung verankerten Rolle des Oberste Richterrats als Garant für die Unabhängigkeit der Justiz für den Obersten Richterrat ergebenden Befugnisse beeinträchtigten, den Chefinspekteur und den stellvertretenden Chefinspekteur der Justizinspektion zu ernennen und, falls diese Ämter vakant würden, Personen zu benennen, um die vorläufige Besetzung dieser Ämter zu gewährleisten. Außerdem sei diese Dringlichkeitsverordnung zu dem Zweck erlassen worden, die Ernennung bestimmter Personen zu ermöglichen, wie sich aus der Begründung dieser Verordnung ergebe.
57 Das Forum der Richter Rumäniens führte weiter aus, dass die Dringlichkeitsverordnung Nr. 77/2018 in Anbetracht der umfangreichen Befugnisse des Chefinspekteurs und des stellvertretenden Chefinspekteurs der Justizinspektion gegen den Grundsatz der Unabhängigkeit der Richter verstoße, dessen Gewährleistung nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs ihrem Auftrag inhärent und nach Art. 19 EUV erforderlich sei, was durch den VZÜ-Bericht vom November 2018 bestätigt werde. Der Chefinspekteur und der stellvertretende Chefinspekteur seien nämlich für die Kontrolle der Auswahl der Justizinspekteure, die Ernennung der mit Leitungsfunktionen betrauten Justizinspekteure, der Kontrolle der Inspektionstätigkeit und die Erhebung der Disziplinarklage zuständig.
58 Das Forum der Richter Rumäniens schloss daraus, dass die Klageerwiderung, da sie von einer Person unterzeichnet worden sei, die auf der Grundlage verfassungswidriger und unionsrechtswidriger Bestimmungen in das Amt des Chefinspekteurs der Justizinspektion ernannt worden sei, nach den einschlägigen Bestimmungen der Zivilprozessordnung aus den Akten zu entfernen sei.
59 Die Justizinspektion erwiderte darauf, dass Herr Netejoru gemäß dem Beschluss des Plenums des Obersten Richterrats vom 30. Juni 2015 und Art. 67 Abs. 7 des Gesetzes Nr. 317/2004 rechtlich befugt gewesen sei, sie zu vertreten.
60 Das Tribunalul Olt (Landgericht Olt) weist darauf hin, dass die Erwägungen des Forums der Richter Rumäniens die Frage aufwürfen, ob das Erfordernis der Unabhängigkeit der Justiz die Mitgliedstaaten verpflichte, die Maßnahmen, die für einen wirksamen Rechtsschutz in den durch das Unionsrecht erfassten Bereichen erforderlich seien, festzulegen, insbesondere die Unabhängigkeit des Disziplinarverfahren betreffend Richter zu gewährleisten, indem jegliche Gefahren beseitigt würden, die mit dem politischen Einfluss auf die Durchführung eines solchen Verfahrens verbunden seien, wie diejenigen, die sich aus der unmittelbaren Ernennung der leitenden Mitglieder des mit der Durchführung dieses Verfahrens betrauten Organs durch die Regierung ergeben könnten, selbst wenn diese Ernennung nur vorübergehend erfolge.
61 In diesem Zusammenhang seien der Status und die rechtlichen Wirkungen der von der Kommission im Rahmen des VZÜ erstellten Berichte zu klären, damit das vorlegende Gericht über die prozessuale Einrede, die darauf gestützt werde, dass der Unterzeichner der Klageerwiderung nicht befugt sei, die Beklagte des Ausgangsverfahrens zu vertreten, sowie über das Schicksal dieser Klageerwiderung und die von dieser Partei vorgelegten Beweise und vorgebrachten Einwände entscheiden könne. Sollte der Gerichtshof entscheiden, dass das VZÜ verbindlich sei und dass das Primärrecht der Union dem Erlass von Bestimmungen wie der Dringlichkeitsverordnung Nr. 77/2018 entgegenstehe, wäre die Vertretung der Justizinspektion zum Zeitpunkt der Einreichung der Klageerwiderung ohne rechtliche Grundlage gewesen, und zwar ungeachtet des späteren Erlasses eines Beschlusses des Plenums des Obersten Richterrats über die Ernennung von Herrn Netejoru in das Amt des Chefinspekteurs der Justizinspektion.
62 Unter diesen Umständen hat das Tribunalul Olt (Landgericht Olt) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
1. Ist das mit der Entscheidung 2006/928 eingeführte VZÜ als Handlung eines Organs der Europäischen Union im Sinne von Art. 267 AEUV anzusehen, die dem Gerichtshof zur Auslegung vorgelegt werden kann?
2. Fallen Inhalt, Charakter und zeitlicher Geltungsbereich des mit der Entscheidung 2006/928 eingeführten VZÜ unter den Beitrittsvertrag? Sind die in den im Rahmen dieses Verfahrens erstellten Berichten aufgestellten Anforderungen für den rumänischen Staat verbindlich?
3. Ist Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV dahin auszulegen, dass die Mitgliedstaaten verpflichtet sind, die Maßnahmen, die für einen wirksamen Rechtsschutz in den durch das Unionsrecht erfassten Bereichen erforderlich sind, festzulegen, d. h. Garantien für ein unabhängiges Disziplinarverfahren für Richter in Rumänien, indem jegliche Gefahr, die mit dem politischen Einfluss auf die Durchführung von Disziplinarverfahren verbunden ist, wie etwa die unmittelbare Ernennung, sei es auch nur vorläufig, der Leitung der Justizinspektion durch die Regierung, beseitigt wird?
4. Ist Art. 2 EUV dahin auszulegen, dass die Mitgliedstaaten verpflichtet sind, im Fall von Verfahren zur unmittelbaren Ernennung, sei es auch nur vorläufig, der Leitung der Justizinspektion durch die Regierung die Kriterien der Rechtsstaatlichkeit zu wahren, die auch in den Berichten im Rahmen des mit der Entscheidung 2006/928 eingeführten VZÜ gefordert werden?
63 Mit Beschluss vom 8. Februar 2019 verwies die Curtea de Apel Craiova (Berufungsgericht Craiova, Rumänien) das Ausgangsverfahren auf Antrag der Justizinspektion unter Aufrechterhaltung der vorgenommenen Verfahrenshandlungen an das Tribunalul Mehedinţi (Landgericht Mehedinţi, Rumänien).
64 Unter diesen Umständen hat das Tribunalul Olt (Landgericht Olt) mit Beschluss vom 12. Februar 2019 entschieden, sich im Ausgangsverfahren für unzuständig zu erklären, die Akte an das Tribunalul Mehedinţi (Landgericht Mehedinţi) zu übermitteln und den Gerichtshof darüber in Kenntnis zu setzen, wobei es klargestellt hat, dass das Vorabentscheidungsersuchen beim Gerichtshof aufrechterhalte werde.
Rechtssache C‑127/19
65 Am 13. Dezember 2018 erhoben das Forum der Richter Rumäniens und die Bewegung für den Schutz des Status der Staatsanwälte bei der Curtea de Apel Piteşti (Berufungsgericht Piteşti, Rumänien) Klage auf Nichtigerklärung der Beschlüsse Nrn. 910 und 911 des Plenums des Obersten Richterrats vom 19. September 2018 zur Genehmigung der Verordnung über die Ernennung und Abberufung von Staatsanwälten mit Leitungsaufgaben innerhalb der AUSJ bzw. der Verordnung über die Ernennung, Fortführung der Tätigkeit und Abberufung von Staatsanwälten mit Exekutivaufgaben innerhalb der AUSJ. Zur Stützung ihrer Klage machten diese Vereinigungen geltend, dass diese Entscheidungen u. a. gegen Art. 148 der rumänischen Verfassung verstießen, wonach Rumänien verpflichtet sei, den Verpflichtungen aus den Verträgen, bei denen es Partei sei, nachzukommen.
66 Das vorlegende Gericht weist darauf hin, dass es sich bei den im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Beschlüssen um Verwaltungshandlungen mit normativem Charakter handele und dass sie auf der Grundlage von Art. 885 Abs. 12 des Gesetzes Nr. 304/2004 in geänderter Fassung erlassen worden seien, der aus dem Gesetz Nr. 207/2018 hervorgegangen sei. Was die Errichtung der AUSJ anbelangt, habe die Curtea Constituțională (Verfassungsgerichtshof) in ihrem Urteil Nr. 33 vom 23. Januar 2018 die Rügen zurückgewiesen, die auf die Feststellung gerichtet gewesen seien, dass diese Errichtung gegen das Unionsrecht und damit gegen die Verpflichtungen aus Art. 148 der rumänischen Verfassung verstoße, da zur Stützung dieser Rügen kein verbindlicher Rechtsakt der Union wirksam habe geltend gemacht werden können.
67 Die Kläger des Ausgangsverfahrens, die sich auf die in Rn. 49 des vorliegenden Urteils genannten Berichte und Stellungnahmen beziehen, sind jedoch der Ansicht, dass die Errichtung der AUSJ als solche ebenso wie die Modalitäten ihrer Arbeitsweise sowie der Ernennung und Entlassung der Staatsanwälte gegen das Unionsrecht, insbesondere gegen die sich aus dem VZÜ ergebenden Anforderungen, verstießen.
68 Das vorlegende Gericht weist darauf hin, dass zwar das VZÜ und die von der Kommission im Rahmen dieses Verfahrens erstellten Berichte eine Verpflichtung begründeten, der der rumänische Staat nachkommen müsse, eine solche Verpflichtung aber auch den Verwaltungsbehörden wie dem Obersten Richterrat, wenn er eine abgeleitete Regelung wie die in Rn. 65 des vorliegenden Urteils genannte erlasse, sowie den nationalen Gerichten obliege. Insbesondere unter Berücksichtigung der Entwicklung der in Rn. 66 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung der Curtea Constituțională (Verfassungsgerichtshof) würde die Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits jedoch eine Klärung der Natur und der Rechtswirkungen des VZÜ und der auf dessen Grundlage angenommenen Berichte erfordern.
69 Außerdem hegt das vorlegende Gericht Zweifel, ob die Grundsätze des Unionsrechts – insbesondere die Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit, der loyalen Zusammenarbeit und der richterlichen Unabhängigkeit – der nationalen Regelung über die AUSJ entgegenstehen. Diese Abteilung könnte nämlich zu dem Zweck missbraucht werden, den spezialisierten Staatsanwaltschaften bestimmte laufende sensible Fälle im Bereich der Bekämpfung der Korruption zu entziehen und so die Wirksamkeit dieser Bekämpfung zu beeinträchtigen.
70 Unter diesen Umständen hat die Curtea de Apel Piteşti (Berufungsgericht Piteşti) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
1. Ist das mit der Entscheidung 2006/928 eingeführte VZÜ als Handlung eines Organs der Europäischen Union im Sinne von Art. 267 AEUV anzusehen, die dem Gerichtshof zur Auslegung vorgelegt werden kann?
2. Fallen Inhalt, Charakter und zeitlicher Geltungsbereich des mit der Entscheidung 2006/928 eingeführten VZÜ unter den Beitrittsvertrag? Sind die in den im Rahmen dieses Verfahrens erstellten Berichten aufgestellten Anforderungen für den rumänischen Staat verbindlich?
3. Ist Art. 2 in Verbindung mit Art. 4 Abs. 3 EUV dahin auszulegen, dass die Verpflichtung des Mitgliedstaats, die Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit zu wahren, auch das Erfordernis umfasst, dass Rumänien die mit den Berichten im Rahmen des mit der Entscheidung 2006/928 eingeführten VZÜ aufgestellten Anforderungen erfüllt?
4. Steht Art. 2 EUV, insbesondere das Erfordernis, die Werte der Rechtsstaatlichkeit zu wahren, Rechtsvorschriften entgegen, mit denen die AUSJ im Rahmen der Staatsanwaltschaft beim Obersten Kassations- und Gerichtshof eingerichtet und organisiert wird, da die Möglichkeit besteht, dass mittelbar Druck auf Richter und Staatsanwälte ausgeübt wird?
5. Steht der Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit, der in Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV und Art. 47 der Charta verankert ist, in der Auslegung durch die Rechtsprechung des Gerichtshofs (Urteil vom 27. Februar 2018, Associação Sindical dos Juízes Portugueses, C‑64/16, EU:C:2018:117) der Errichtung der AUSJ im Rahmen der Staatsanwaltschaft beim Obersten Kassations- und Gerichtshof) entgegen, wenn man die Modalitäten der Ernennung/Abberufung der Staatsanwälte, die dieser Abteilung angehören, die Modalitäten der Ausübung der Tätigkeit in deren Rahmen und die Art und Weise der Festlegung der Zuständigkeit bezogen auf die geringe Anzahl von Stellen dieser Abteilung berücksichtigt?
71 Mit Schreiben vom 15. Juni 2020, das am 1. Juli 2020 beim Gerichtshof eingegangen ist, hat die Curtea de Apel Piteşti (Berufungsgericht Piteşti) dem Gerichtshof mitgeteilt, dass die Înalta Curte de Casație și Justiție (Oberster Kassations- und Gerichtshof) das Ausgangsverfahren auf Ersuchen des Obersten Richterrats mit Beschluss vom 10. Juni 2019 an die Curtea de Apel Alba Iulia (Berufungsgericht Alba Iulia) verwiesen habe. In diesem Schreiben wurde darauf hingewiesen, dass die von der Curtea de Apel Piteşti (Berufungsgericht Piteşti) vorgenommenen Verfahrenshandlungen aufrechterhalten blieben.
Rechtssache C‑195/19
72 PJ erstattete bei der Staatsanwaltschaft bei der Curtea de Apel Bucureşti (Berufungsgericht Bukarest, Rumänien) gegen QK Anzeige wegen Amtsmissbrauchs. Zur Stützung dieser Anzeige machte PJ geltend, QK habe diese Straftat im Rahmen seiner richterlichen Tätigkeit begangen, indem er einen Antrag in Bezug auf eine Steuerstreitigkeit mit der Verwaltung für öffentliche Finanzen als unbegründet zurückgewiesen habe, ohne seiner gesetzlichen Verpflichtung nachgekommen zu sein, seine Entscheidung innerhalb von 30 Tagen nach deren Verkündung zu begründen. PJ brachte ferner vor, der Begründungsmangel habe ihn daran gehindert, Rechtsmittel gegen diese Entscheidung einzulegen.
73 Nachdem der für die Bearbeitung der Anzeige zuständige Staatsanwalt zunächst mit Beschluss vom 28. September 2018 entschieden hatte, gegen QK ein Strafverfahren einzuleiten, stellte er schließlich mit Beschluss vom 1. Oktober 2018 das Verfahren mit der Begründung ein, dass der behauptete Amtsmissbrauch nicht nachgewiesen sei.
74 Gegen diesen Beschluss legte PJ am 18. Oktober 2018 Beschwerde ein.
75 Am 24. Oktober 2018 verwies die Staatsanwaltschaft bei der Curtea de Apel București (Berufungsgericht Bukarest) die Beschwerde gemäß Art. 881 des Gesetzes Nr. 304/2004 in geänderter Fassung in Verbindung mit Art. III des Gesetzes Nr. 207/2018 an die AUSJ, da diese Beschwerde eine Person in ihrer Eigenschaft als Richter betraf.
76 Nachdem der stellvertretende leitende Staatsanwalt dieser Abteilung die Beschwerde als unbegründet zurückgewiesen hatte, erhob PJ Klage bei der Curtea de Apel București (Berufungsgericht Bukarest).
77 Das vorlegende Gericht führt aus, dass es, sollte es der Klage von PJ stattgeben, die Sache an die AUSJ zurückverweisen müsste, so dass sich die Frage stelle, ob die nationale Regelung, durch die diese Abteilung errichtet worden sei, mit dem Unionsrecht vereinbar sei. Sollte diese Frage verneint werden, wäre die Nichtigkeit aller von der AUSJ im Ausgangsverfahren vorgenommenen Handlungen festzustellen. Die Auslegung des Gerichtshofs wäre auch bei der Bestimmung derjenigen Einheit der Staatsanwaltschaft zu berücksichtigen, die künftig für die Entscheidung über die Anzeige von PJ zuständig sei.
78 In diesem Zusammenhang sei in Anbetracht der Schlussfolgerungen im VZÜ-Bericht von November 2018 die Frage nach den Rechtswirkungen des VZÜ zu stellen, da die Bestimmungen des nationalen Rechts über die Errichtung der AUSJ in dem Fall, dass dieses Verfahren für Rumänien verbindlich sei, auszusetzen seien. Ganz allgemein und unabhängig von der Verbindlichkeit des genannten Verfahrens stelle sich die Frage, ob Art. 67 Abs. 1 AEUV, Art. 2 Satz 1 und Art. 9 Satz 1 EUV der Errichtung einer Abteilung wie der AUSJ entgegenstünden, die ausschließlich für die Ermittlung jeder Art von Straftaten zuständig sei, die von Staatsanwälten oder Richtern begangen würden. Das vorlegende Gericht weist insoweit darauf hin, dass es die in der – in Rn. 49 des vorliegenden Urteils genannten – Stellungnahme der Venedig-Kommission enthaltenen Beurteilungen in vollem Umfang teile.
79 Schließlich weist das vorlegende Gericht darauf hin, dass in Anbetracht der in Rn. 51 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung der Curtea Constituțională (Verfassungsgerichtshof) die ernsthafte Gefahr bestehe, dass den Antworten des Gerichtshofs auf diese Fragen im innerstaatlichen Recht keine Wirkung zukommen werde.
80 Unter diesen Umständen hat die Curtea de Apel București (Berufungsgericht Bukarest) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
1. Sind das mit der Entscheidung 2006/928 eingeführte VZÜ und die in den im Rahmen dieses Verfahrens erstellten Berichten aufgestellten Anforderungen für den rumänischen Staat verbindlich?
2. Stehen Art. 67 Abs. 1 AEUV, Art. 2 Satz 1 und Art. 9 Satz 1 EUV einer innerstaatlichen Regelung entgegen, mit der eine staatsanwaltschaftliche Abteilung eingerichtet wird, die ausschließlich für die Ermittlung jeder Art von Straftaten zuständig ist, die von Richtern oder Staatsanwälten begangen werden?
3. Steht der Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts, wie er im Urteil vom 15. Juli 1964, Costa (6/64, EU:C:1964:66), und der späteren ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs verankert ist, einer innerstaatlichen Regelung entgegen, die es einer politisch-rechtsprechenden Institution wie der Curtea Constituțională a României (Verfassungsgerichtshof Rumäniens) erlaubt, durch Entscheidungen, gegen die kein Rechtsweg eröffnet ist, gegen den vorgenannten Grundsatz zu verstoßen?
Rechtssache C‑291/19
81 Im Dezember 2015 und Februar 2016 erstattete SO gegen mehrere Staatsanwälte und Richter Anzeige wegen Amtsmissbrauchs und Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung. Diese Anzeigen wurden bei der Abteilung für die Bekämpfung von Korruptionsdelikten gleichgestellten Straftaten der Direcția Națională Anticorupție (DNA) (Nationale Antikorruptionsdirektion, Rumänien) registriert, die der Staatsanwaltschaft bei der Înalta Curte de Casație și Justiție (Oberster Kassations- und Gerichtshof) untersteht.
82 Mit Beschluss vom 8. September 2017 ordnete der zuständige Staatsanwalt dieser Abteilung die Einstellung des Verfahrens bezüglich dieser Anzeigen an. Die gegen diesen Beschluss eingelegte Beschwerde wurde mit Beschluss des leitenden Staatsanwalts dieser Abteilung vom 20. Oktober 2017 zurückgewiesen.
83 SO erhob gegen diese Beschlüsse Klage bei der Curtea de Apel Constanța (Berufungsgericht Constanța, Rumänien). Nachdem diese sich für unzuständig erklärt hatte, wurde die Klage der Curtea de Apel Brașov (Berufungsgericht Brașov, Rumänien) übermittelt.
84 Im Rahmen dieses Verfahrens wurde die Staatsanwaltschaft zunächst durch einen Staatsanwalt der Dienststelle Braşov der DNA vertreten. Beginnend zum 1. März 2019 wurde die Staatsanwaltschaft aufgrund der Gesetzesänderungen im Zusammenhang mit der Zuständigkeit für Straftaten innerhalb der Justiz von einem Staatsanwalt der Staatsanwaltschaft bei der Curtea de Apel Brașov (Berufungsgericht Brașov) vertreten.
85 Dieses Gericht führt aus, dass die Fortführung des Ausgangsverfahrens sowohl im Stadium der Strafverfolgung als auch im gerichtlichen Stadium die Beteiligung von Staatsanwälten der AUSJ voraussetze, da es, sollte es die von SO erhobene Klage für begründet erachten, verpflichtet wäre, die Sache zum Zweck der Strafverfolgung an diese Abteilung zu verweisen. Daher hält es das vorlegende Gericht für erforderlich, die Vereinbarkeit der nationalen Bestimmungen über die Errichtung der AUSJ mit den Bestimmungen des Unionsrechts zu prüfen.
86 Insoweit wirft das vorlegende Gericht jedoch zunächst die Frage nach der rechtlichen Tragweite der Entscheidung 2006/928 und des durch diese Entscheidung eingeführten VZÜ auf. Außerdem weist es darauf hin, dass in den VZÜ-Berichten von Januar 2017 und November 2018 sowie in den weiteren Berichten und Stellungnahmen, auf die darin Bezug genommen werde, starke Kritik an der Errichtung der AUSJ geäußert werde. Sollte das VZÜ für Rumänien verbindlich sein, müsste das vorlegende Gericht feststellen, dass die nationalen Bestimmungen, mit denen diese Abteilung errichtet worden sei, ausgesetzt seien oder ausgesetzt werden müssten.
87 Sodann fragt sich das vorlegende Gericht jedenfalls, ob die Errichtung der AUSJ mit den Grundsätzen, auf denen die Rechtsordnung der Union beruht, wie den Grundsätzen der Rechtsstaatlichkeit, der loyalen Zusammenarbeit und der richterlichen Unabhängigkeit im Einklang steht. Bezüglich des letztgenannten Aspekts weist es darauf hin, dass, da die Einleitung eines Strafverfahrens gegen einen Richter oder Staatsanwalt zu dessen Suspendierung führen könne, die Existenz der AUSJ angesichts ihrer Organisation und ihrer Arbeitsweise als ein Druckfaktor angesehen werden könnte, der geeignet sei, die richterliche Unabhängigkeit zu beeinträchtigen.
88 Außerdem wiesen die Modalitäten für die Ernennung des leitenden Staatsanwalts und der 14 übrigen Staatsanwälte der AUSJ im Hinblick auf das Erfordernis der Unparteilichkeit keine hinreichenden Garantien auf, was sich auf die Ausübung der Tätigkeit der AUSJ auswirken könne. Insoweit hätten die letzten, durch die Dringlichkeitsverordnung Nr. 7/2019 erfolgten Änderungen des Gesetzes Nr. 304/2004 praktisch zur Folge, dass die AUSJ der Amtsgewalt des Generalstaatsanwalts entzogen werde.
89 Das vorlegende Gericht führt weiter aus, dass die AUSJ zwar nur aus 15 Staatsanwälten bestehe, aber über die ausschließliche Zuständigkeit für die Strafverfolgung nicht nur von Richtern und Staatsanwälten, sondern auch aller Personen in Fällen verfüge, in denen ein Richter oder Staatsanwalt beschuldigt werde, was eine große Zahl von Fällen darstelle, die ein Mindestmaß an Ermittlungen erforderten. Bis zur Errichtung der AUSJ seien die Anzeigen, die zu einer solchen Strafverfolgung führen könnten, von mehr als 150 Staatsanwälten, die mehreren Zweigen der Staatsanwaltschaft angehörten, wie den Staatsanwaltschaften bei den verschiedenen Berufungsgerichten und der Înalta Curte de Casație și Justiție (Oberster Kassations- und Gerichtshof), der DNA und der Direcția de Investigare a Infracțiunilor de Criminalitate Organizată și Terorism (DIICOT) (Direktion für die Ermittlung von Straftaten der organisierten Kriminalität und des Terrorismus) geprüft worden. Daher stelle sich die Frage, ob diese Abteilung die bei ihr anhängigen Fälle in angemessener Weise und innerhalb angemessenen Frist bearbeiten könne.
90 Unter diesen Umständen hat die Curtea de Apel Brașov (Berufungsgericht Brașov) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
1. Ist das mit der Entscheidung 2006/928 eingeführte VZÜ als Handlung eines Organs der Europäischen Union im Sinne von Art. 267 AEUV anzusehen, die dem Gerichtshof zur Auslegung vorgelegt werden kann?
2. Sind die in den im Rahmen dieses Verfahrens erstellten Berichten aufgestellten Anforderungen für den rumänischen Staat verbindlich, insbesondere (aber nicht nur) hinsichtlich der Notwendigkeit legislativer Änderungen im Einklang mit den Schlussfolgerungen des VZÜ sowie den Empfehlungen der Venedig-Kommission und der GRECO?
3. Ist Art. 2 in Verbindung mit Art. 4 Abs. 3 EUV dahin auszulegen, dass die Verpflichtung des Mitgliedstaats, die Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit zu wahren, auch das Erfordernis umfasst, dass Rumänien die mit den Berichten im Rahmen des mit der Entscheidung 2006/928 eingeführten VZÜ aufgestellten Anforderungen erfüllt?
4. Steht der Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit, der in Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV und Art. 47 der Charta verankert ist, in der Auslegung durch die Rechtsprechung des Gerichtshofs (Urteil vom 27. Februar 2018, Associação Sindical dos Juízes Portugueses, C‑64/16, EU:C:2018:117) der Errichtung der AUSJ im Rahmen der Staatsanwaltschaft bei der Înalta Curte de Casație și Justiție (Oberster Kassations- und Gerichtshof) entgegen, wenn man die Modalitäten der Ernennung/Abberufung der Staatsanwälte, die dieser Abteilung angehören, die Modalitäten der Ausübung der Tätigkeit in deren Rahmen und die Art und Weise der Festlegung der Zuständigkeit bezogen auf die geringe Anzahl von Stellen dieser Abteilung berücksichtigt?
5. Steht Art. 47 Abs. 2 der Charta betreffend das Recht auf ein faires Verfahren durch Verhandlung der Sache innerhalb einer angemessenen Frist der Errichtung der AUSJ im Rahmen der Staatsanwaltschaft bei der Înalta Curte de Casație și Justiție (Staatsanwaltschaft beim Obersten Kassations- und Gerichtshof) entgegen, wenn man die Modalitäten der Ausübung der Tätigkeit im Rahmen dieser Abteilung und die Art und Weise der Festlegung der Zuständigkeit bezogen auf die geringe Anzahl von Stellen dieser Abteilung berücksichtigt?
Rechtssache C‑355/19
91 Am 23. Januar 2019 erhoben das Forum der Richter Rumäniens, die Bewegung für den Schutz des Status der Staatsanwälte und OL bei der Curtea de Apel Piteşti (Berufungsgericht Piteşti) Klage auf Nichtigerklärung eines Erlasses des Generalstaatsanwalts vom 23. Oktober 2018 über die Organisation und Arbeitsweise der AUSJ. Dieser Erlass wurde zur Durchführung des Gesetzes Nr. 207/2018 und der Dringlichkeitsverordnung Nr. 90/2018 verabschiedet und betrifft die Organisation und die Arbeitsweise dieser Abteilung.
92 Zur Stützung ihrer Klage machen die Kläger des Ausgangsverfahrens, die sich auf die in Rn. 49 des vorliegenden Urteils genannten Berichte und Stellungnahmen berufen, geltend, dass die Errichtung der AUSJ, da sie die Bekämpfung der Korruption behindern könne und ein Instrument der Einschüchterung von Richtern und Staatsanwälten darstelle, den sich aus dem VZÜ ergebenden Anforderungen, die die Achtung der Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit, der loyalen Zusammenarbeit und der richterlichen Unabhängigkeit beträfen, sowie allgemeiner Art. 2 und Art. 19 Abs. 1 EUV zuwiderlaufe.
93 Die Kläger des Ausgangsverfahrens weisen zunächst darauf hin, dass die DNA bedeutende Ergebnisse im Bereich der Korruptionsbekämpfung erzielt habe, und machen sodann darauf aufmerksam, dass die Errichtung der AUSJ diese Ergebnisse in Frage stellen könne, da nunmehr alle Korruptionsfälle, in die ein Richter oder Staatsanwalt verwickelt sei, auf diese Abteilung übertragen würden, ohne dass die Staatsanwälte, aus denen diese Abteilung bestehe, über eine spezielle Kompetenz in diesem Bereich verfügten. Außerdem könnten diese Übertragungen Kompetenzkonflikte mit den auf diesen Bereich spezialisierten Abteilungen, d. h. der DNA und der DIICOT, hervorrufen. Schließlich sei es der AUSJ aufgrund dessen, dass die Zahl der Staatsanwälte innerhalb dieser Abteilung auf 15 beschränkt sei, nicht möglich, alle jährlich registrierten Anzeigen gegen Richter und Staatsanwälte zu bearbeiten. Der rumänische Gesetzgeber habe somit eine Struktur geschaffen, die im Verhältnis zu den ihr übertragenen Zuständigkeiten und der Bedeutung der von ihr bearbeiteten Fälle besonders schlecht ausgestattet sei, wodurch das ordnungsgemäße Funktionieren und die funktionale Unabhängigkeit dieser Struktur untergraben würden.
94 Unter diesen Umständen hat die Curtea de Apel Pitești (Berufungsgericht Pitești) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
1. Ist das mit der Entscheidung 2006/928 eingeführte VZÜ als Handlung eines Organs der Europäischen Union im Sinne von Art. 267 AEUV anzusehen, die dem Gerichtshof zur Auslegung vorgelegt werden kann?
2. Fallen Inhalt, Charakter und zeitlicher Geltungsbereich des mit der Entscheidung 2006/928 eingeführten VZÜ unter den Beitrittsvertrag? Sind die in den im Rahmen dieses Verfahrens erstellten Berichten aufgestellten Anforderungen für den rumänischen Staat verbindlich?
3. Ist Art. 2 EUV dahin auszulegen, dass die Mitgliedstaaten verpflichtet sind, im Fall der dringlichen Errichtung einer Abteilung der Staatsanwaltschaft zur ausschließlichen Ermittlung von Straftaten, die von Richtern oder Staatsanwälten begangen worden sind – was mit Blick auf die Korruptionsbekämpfung besondere Besorgnis auslöst und als zusätzliches Instrument dienen könnte, um Richter und Staatsanwälte einzuschüchtern und unter Druck zu setzen –, die Kriterien der Rechtsstaatlichkeit zu wahren, die auch in den im Rahmen des mit der Entscheidung 2006/928 eingeführten VZÜ erstellten Berichten gefordert werden?
4. Ist Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV dahin auszulegen, dass die Mitgliedstaaten verpflichtet sind, im Fall der dringlichen Errichtung einer Abteilung der Staatsanwaltschaft zur ausschließlichen Ermittlung von Straftaten, die von Richtern oder Staatsanwälten begangen worden sind – was mit Blick auf die Korruptionsbekämpfung besondere Besorgnis auslöst und als zusätzliches Instrument dienen könnte, um Richter und Staatsanwälte einzuschüchtern und unter Druck zu setzen –, die Maßnahmen, die für einen wirksamen Rechtsschutz in den durch das Unionsrecht erfassten Bereichen erforderlich sind, festzulegen, indem jegliche Gefahr einer politischen Einflussnahme auf strafrechtliche Ermittlungen gegen Richter ausgeschlossen wird?
Rechtssache C‑397/19
95 Am 3. Januar 2019 erhob AX beim Tribunalul București (Landgericht Bukarest, Rumänien) u. a. gestützt auf Art. 1381 des Zivilgesetzbuchs sowie auf die Art. 9 und 539 der Strafprozessordnung Klage mit dem Antrag, den rumänischen Staat zu verurteilen, ihm Ersatz für den materiellen und immateriellen Schaden zu leisten, der ihm durch eine strafrechtliche Verurteilung sowie durch rechtswidrige Haft- und freiheitsentziehende Maßnahmen entstanden sei.
96 Zur Begründung seiner Klage führte AX aus, das Tribunalul București (Landgericht Bukarest) habe ihn mit Urteil vom 13. Juni 2017 wegen fortgesetzter Steuerhinterziehung zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt worden sei, sowie zu einer ergänzenden Strafe, die auf 1642970 rumänische Lei (RON) (ungefähr 336000 Euro), den Betrag des gesamtschuldnerisch an den Nebenkläger zu zahlenden Schadensersatzes, festgesetzt worden sei, verurteilt und eine Sicherungsbeschlagnahme seines gesamten beweglichen und unbeweglichen, derzeitigen und künftigen Vermögens angeordnet. Außerdem befand sich AX vom 21. Januar 2015 bis zum 21. Oktober 2015 in Polizeigewahrsam, Untersuchungshaft und sodann unter Hausarrest. In der Folge stellte die Curtea de Apel București (Berufungsgericht Bukarest) jedoch fest, dass er die Straftat, derentwegen er verurteilt worden sei, nicht begangen habe, und hob die Sicherungsbeschlagnahme seines Vermögens auf.
97 Das vorlegende Gericht ist der Ansicht, dass die Klage Fragen nach dem Status und den Rechtswirkungen der von der Kommission im Rahmen des VZÜ erstellten Berichte sowie die Frage aufwerfe, ob das Primärrecht der Union nationalen Rechtsvorschriften wie den im Ausgangsverfahren in Rede stehenden, die die Unabhängigkeit der Richter und Staatsanwälte beeinträchtigen könnten, entgegenstehe.
98 Bezüglich der Unabhängigkeit der nationalen Richter weist das vorlegende Gericht darauf hin, dass diese Unabhängigkeit gemäß Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV zu gewährleisten sei. Die Bestimmungen über den Ersatz von Schäden, die durch Justizirrtümer verursacht worden seien, könnten aber aufgrund der Modalitäten des Entschädigungsverfahrens den Grundsatz des kontradiktorischen Verfahrens und die Verteidigungsrechte des betreffenden Richters oder Staatsanwalts beeinträchtigen, soweit das Vorliegen eines Justizirrtums im Rahmen eines ersten Verfahrens wie des im Ausgangsverfahren in Rede stehenden festgestellt werden könne, ohne dass dieser Richter oder Staatsanwalt angehört werde oder berechtigt sei, das Vorliegen eines solchen Irrtums im Rahmen des später durch die gegen ihn angestrengte Regressklage eingeleiteten Verfahrens in Frage zu stellen. Außerdem werde die Frage, ob dieser Richter oder Staatsanwalt diesen Irrtum in bösem Glauben oder grob fahrlässig begangen habe, der Beurteilung des Staates anheimgestellt, da dieser Richter oder Staatsanwalt nur eine begrenzte Möglichkeit habe, gegen die Vorwürfe des Staates oder der Justizinspektion vorzugehen, was u. a. den Grundsatz der Unabhängigkeit der Justiz, der eine der Grundlagen der Rechtsstaatlichkeit darstelle, untergraben könne.
99 Unter diesen Umständen hat das Tribunalul București (Landgericht Bukarest) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
1. Ist das mit der Entscheidung 2006/928 eingeführte VZÜ als Handlung eines Organs der Europäischen Union im Sinne von Art. 267 AEUV anzusehen, die dem Gerichtshof zur Auslegung vorgelegt werden kann?
2. Ist das mit der Entscheidung 2006/928 eingeführte VZÜ integraler Bestandteil des Beitrittsvertrags und ist es nach Maßgabe von dessen Bestimmungen auszulegen und anzuwenden? Sind die in den im Rahmen dieses Verfahrens erstellten Berichten aufgestellten Anforderungen für den rumänischen Staat verbindlich, und ist, falls dies bejaht wird, das nationale Gericht, das damit betraut ist, im Rahmen seiner Zuständigkeit die Bestimmungen des Unionsrechts anzuwenden, verpflichtet, die Anwendung dieser Normen sicherzustellen, indem es erforderlichenfalls von Amts wegen die Anwendung der Bestimmungen des nationalen Rechts verweigert, die mit den Anforderungen unvereinbar sind, die in den in Anwendung dieses Verfahrens erstellten Berichten aufgestellt wurden?
3. Ist Art. 2 in Verbindung mit Art. 4 Abs. 3 EUV dahin auszulegen, dass die Verpflichtung des Mitgliedstaats, die Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit zu wahren, auch das Erfordernis umfasst, dass Rumänien die mit den Berichten im Rahmen des mit der Entscheidung 2006/928 eingeführten VZÜ aufgestellten Anforderungen erfüllt?
4. Steht Art. 2 in Verbindung mit Art. 4 Abs. 3 EUV, insbesondere das Erfordernis, die Werte der Rechtsstaatlichkeit zu wahren, nationalen Rechtsvorschriften wie der Bestimmung des Art. 96 Abs. 3 Buchst. a des Gesetzes Nr. 303/2004 in geänderter Fassung entgegen, mit der der Justizirrtum lapidar und abstrakt als die Durchführung von Prozesshandlungen unter offensichtlichem Verstoß gegen gesetzliche Vorschriften des materiellen und des Verfahrensrechts definiert wird, ohne nähere Umschreibung der Art der Rechtsvorschriften, gegen die verstoßen wird, des sachlichen und zeitlichen Anwendungsbereichs dieser Bestimmung im Prozess, der Modalitäten, der Frist und des Verfahrens zur Feststellung eines Verstoßes gegen die gesetzlichen Vorschriften sowie der für die Feststellung eines Verstoßes gegen diese Rechtsvorschriften zuständigen Stelle, wodurch die Möglichkeit geschaffen wird, mittelbar Druck auf Richter bzw. Staatsanwälte auszuüben?
5. Steht Art. 2 in Verbindung mit Art. 4 Abs. 3 EUV, insbesondere das Erfordernis, die Werte der Rechtsstaatlichkeit zu wahren, nationalen Rechtsvorschriften wie der Bestimmung des Art. 96 Abs. 3 Buchst. b des Gesetzes Nr. 303/2004 in geänderter Fassung entgegen, mit der der Justizirrtum definiert wird als Erlass einer endgültigen gerichtlichen Entscheidung, die offensichtlich mit dem Gesetz oder dem Sachverhalt, wie er sich aus der Beweiserhebung in der Rechtssache ergibt, in Widerspruch steht, ohne Festlegung des Verfahrens zur Feststellung dieses Widerspruchs und ohne konkrete Definition der Bedeutung dieses Widerspruchs, in dem die gerichtliche Entscheidung mit den anwendbaren gesetzlichen Vorschriften und dem Sachverhalt stehen muss, wodurch die Möglichkeit geschaffen wird, die Auslegung der Gesetze und die Beweisaufnahme durch Richter und Staatsanwälte zu blockieren?
6. Steht Art. 2 in Verbindung mit Art. 4 Abs. 3 EUV, insbesondere das Erfordernis, die Werte der Rechtsstaatlichkeit zu wahren, nationalen Rechtsvorschriften wie der Bestimmung des Art. 96 Abs. 3 des Gesetzes Nr. 303/2004 in geänderter Fassung entgegen, mit der die zivilrechtliche Haftung des Richters oder Staatsanwalts gegenüber dem Staat ausschließlich aufgrund des eigenen Ermessens des Staates sowie unter Umständen auf der Grundlage des beratenden Berichts der Justizinspektion bezüglich der Absicht oder der groben Fahrlässigkeit des Richters oder Staatsanwalts hinsichtlich der Begehung des materiellen Irrtums begründet wird, ohne dass der Richter oder Staatsanwalt die Möglichkeit hätte, sein Verteidigungsrecht in vollem Umfang wahrzunehmen, wodurch die Möglichkeit geschaffen wird, die materielle Haftung des Richters bzw. Staatsanwalts gegenüber dem Staat willkürlich auszulösen oder zu beenden?
7. Steht Art. 2 EUV, insbesondere das Erfordernis, die Werte der Rechtsstaatlichkeit zu wahren, nationalen Rechtsvorschriften wie den Bestimmungen des Art. 539 Abs. 2 in Verbindung mit Art. 541 Abs. 2 und 3 der Strafprozessordnung entgegen, mit denen dem Beschuldigten zeitlich unbegrenzt und implizit ein außerordentlicher Rechtsbehelf sui generis gegen eine endgültige gerichtliche Entscheidung bezüglich der Rechtmäßigkeit der Maßnahme der Untersuchungshaft in dem Fall eröffnet wird, dass er in der Sache freigesprochen wird, wobei über diesen Rechtsbehelf ausschließlich vor den Zivilgerichten verhandelt wird, während die Rechtswidrigkeit der Untersuchungshaft nicht durch eine strafgerichtliche Entscheidung festgestellt worden ist, so dass gegen den Grundsatz der Vorhersehbarkeit und Zugänglichkeit der Rechtsvorschrift, den Grundsatz der Spezialisierung des Richters und den Grundsatz der Rechtssicherheit verstoßen wird?
Verfahren vor dem Gerichtshof
100 Mit Beschluss des Präsidenten des Gerichtshofs vom 21. März 2019 sind die Rechtssachen C‑83/19, C‑127/19 und C‑195/19 zu gemeinsamem schriftlichen und mündlichen Verfahren und zu gemeinsamer Entscheidung verbunden worden. Mit Beschluss des Präsidenten des Gerichtshofs vom 27. November 2020 sind die Rechtssachen C‑291/19, C‑355/19 und C‑397/19 mit diesen Rechtssachen zu gemeinsamer Entscheidung verbunden worden.
101 Die vorlegenden Gerichte in den Rechtssachen C‑83/19, C‑127/19, C‑195/19, C‑355/19 und C‑397/19 haben beantragt, die Vorabentscheidungsersuchen in diesen Rechtssachen gemäß Art. 105 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs einem beschleunigten Verfahren zu unterwerfen. Zur Begründung ihrer Anträge haben diese Gerichte angeführt, dass die Erfordernisse der Rechtsstaatlichkeit eine rasche Erledigung der Ausgangsrechtsstreitigkeiten verlangten.
102 Art. 105 Abs. 1 der Verfahrensordnung sieht vor, dass der Präsident des Gerichtshofs auf Antrag des vorlegenden Gerichts oder ausnahmsweise von Amts wegen, nach Anhörung des Berichterstatters und des Generalanwalts, entscheiden kann, eine Vorlage zur Vorabentscheidung einem beschleunigten Verfahren unter Abweichung von den Bestimmungen dieser Verfahrensordnung zu unterwerfen, wenn die Art der Rechtssache ihre rasche Erledigung erfordert.
103 Insoweit ist daran zu erinnern, dass ein solches beschleunigtes Verfahren ein Verfahrensinstrument ist, mit dem auf eine außerordentliche Dringlichkeitssituation reagiert werden soll. Außerdem geht aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs hervor, dass das beschleunigte Verfahren keine Anwendung finden kann, wenn die Sensibilität und die Komplexität der durch einen Fall aufgeworfenen rechtlichen Fragen kaum mit der Anwendung des beschleunigten Verfahrens zu vereinbaren sind, insbesondere, wenn es nicht angebracht erscheint, das schriftliche Verfahren vor dem Gerichtshof zu verkürzen (Urteil vom 2. März 2021, A. B. u. a. [Ernennung von Richtern am Obersten Gericht – Rechtsbehelf], C‑824/18, EU:C:2021:153, Rn. 48 und 49 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).
104 Im vorliegenden Fall hat der Präsident des Gerichtshofs mit Beschlüssen vom 21. März 2019 (Rechtssachen C‑83/19, C‑127/19 und C‑195/19), vom 26. Juni 2019 (Rechtssache C‑397/19) und vom 27. Juni 2019 (Rechtssache C‑355/19) nach Anhörung des Berichterstatters und des Generalanwalts entschieden, die in Rn. 101 des vorliegenden Urteils genannten Anträge der vorlegenden Gerichte zurückzuweisen.
105 Auch wenn zunächst davon auszugehen ist, dass Vorlagefragen, die sich auf grundlegende Bestimmungen des Unionsrechts beziehen, von überragender Bedeutung für das ordnungsgemäße Funktionieren des Gerichtssystems der Union sind, für das die Unabhängigkeit der nationalen Gerichte wesentlich ist (vgl. in diesem Sinne Beschluss des Präsidenten des Gerichtshofs vom 11. Dezember 2018, Uniparts, C‑668/18, nicht veröffentlicht, EU:C:2018:1003, Rn. 12), eignete sich der sensible und komplexe Charakter dieser Fragen, die sich in den Rahmen einer umfangreichen Justizreform und der Korruptionsbekämpfung in Rumänien einfügen, nämlich schwerlich für die Anwendung des beschleunigten Verfahrens.
106 In Anbetracht der Art der vorgelegten Fragen hat der Präsident des Gerichtshofs jedoch mit Entscheidung vom 18. September 2019 allen in Rn. 100 des vorliegenden Urteils genannten Rechtssachen gemäß Art. 53 Abs. 3 der Verfahrensordnung eine vorrangige Behandlung gewährt.
Zu den Vorlagefragen
Zur Zuständigkeit des Gerichtshofs
107 Die polnische und die rumänische Regierung sind der Ansicht, dass der Gerichtshof für die Beantwortung bestimmter Fragen der vorlegenden Gerichte nicht zuständig sei.
108 Die polnische Regierung, die sich darauf beschränkt hat, Erklärungen zur dritten Frage in der Rechtssache C‑83/19, zur vierten und zur fünften Frage in der Rechtssache C‑127/19, zur zweiten Frage in der Rechtssache C‑195/19, zur vierten und zur fünften Frage in der Rechtssache C‑291/19, zur vierten Frage in der Rechtssache C‑355/19 sowie zu den Fragen 4 bis 6 in der Rechtssache C‑397/19 abzugeben, stellt die Zuständigkeit des Gerichtshofs für die Beantwortung dieser Fragen in Abrede. Die von den vorlegenden Gerichten aufgeworfenen Fragen zur Vereinbarkeit der rumänischen Rechtsvorschriften mit dem Unionsrecht beträfen nämlich zum einen die Organisation der Justiz, insbesondere das Verfahren zur Ernennung der Mitglieder der Justizinspektion und die interne Organisation der Staatsanwaltschaft, und zum anderen die Regelung der Haftung des Staates für Schäden, die Richter dem Einzelnen durch einen Verstoß gegen innerstaatliches Recht verursacht hätten. Diese beiden Bereiche fielen aber in die ausschließliche Zuständigkeit der Mitgliedstaaten und lägen daher außerhalb des Anwendungsbereichs des Unionsrechts.
109 Die rumänische Regierung macht geltend, der Gerichtshof sei für die Beantwortung der vierten Frage in der Rechtssache C‑83/19, der vierten und der fünften Frage in der Rechtssache C‑127/19, der zweiten Frage in der Rechtssache C‑195/19, der vierten und der fünften Frage in der Rechtssache C‑291/19, der dritten und der vierten Frage in der Rechtssache C‑355/19 sowie der Fragen 3 bis 6 in der Rechtssache C‑397/19 nicht zuständig, soweit diese Fragen die Auslegung von Art. 2 und Art. 4 Abs. 3 EUV, von Art. 67 AEUV und von Art. 47 der Charta beträfen. Diese Bestimmungen hätten nämlich für ihre Anwendbarkeit auf die Ausgangsrechtsstreitigkeiten erfordert, dass Rumänien Unionsrecht durchgeführt hätte, jedoch gebe es keinen Unionsrechtsakt, der für die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Maßnahmen gelten würde. Lediglich Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV könne in Anbetracht der Rechtsprechung, die auf das Urteil vom 27. Februar 2018, Associação Sindical dos Juízes Portugueses (C‑64/16, EU:C:2018:117) zurückgehe, für die von den vorlegenden Gerichten aufgeworfenen Fragen von Bedeutung sein. Jedenfalls bezögen sich diese Fragen auf die Organisation der Justiz, die nicht in die Zuständigkeitsbereiche der Union falle.
110 Hierzu ist festzustellen, dass die Vorabentscheidungsersuchen die Auslegung des Unionsrechts betreffen, sei es von Bestimmungen des Primärrechts, hier von Art. 2, Art. 4 Abs. 3, Art. 9 und Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV, Art. 67 AEUV und Art. 47 der Charta, sei es von Bestimmungen des abgeleiteten Rechts, nämlich der Entscheidung 2006/928.
111 Außerdem bezieht sich das Vorbringen der polnischen und der rumänischen Regierung zur fehlenden Zuständigkeit der Union im Bereich der Organisation der Justiz und der Haftung des Staates bei Justizirrtümern in Wirklichkeit auf die Tragweite und damit auf die Auslegung der Bestimmungen des Primärrechts der Union, auf die sich die Vorlagefragen beziehen und die offenkundig in die Zuständigkeit des Gerichtshofs nach Art. 267 AEUV fällt. Der Gerichtshof hat nämlich bereits entschieden, dass zwar die Organisation der Justiz in den Mitgliedstaaten in deren Zuständigkeit fällt, diese bei der Ausübung dieser Zuständigkeit jedoch die Verpflichtungen einzuhalten haben, die sich für sie aus dem Unionsrecht ergeben (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 2. März 2021, A. B. u. a. [Ernennung von Richtern am Obersten Gericht – Rechtsbehelf], C‑824/18, EU:C:2021:153, Rn. 68 und 69 sowie die dort angeführte Rechtsprechung). Diese Verpflichtung gilt auch im Bereich der in der Rechtssache C‑397/19 in Rede stehenden vermögensrechtlichen Haftung der Mitgliedstaaten und der persönlichen Haftung der Richter im Fall eines Justizirrtums.
112 Nach alledem ist der Gerichtshof für die Beantwortung der in den vorliegenden Rechtssachen gestellten Fragen, einschließlich der in den Rn. 108 und 109 des vorliegenden Urteils genannten, zuständig.
Zur einer etwaigen Erledigung der Hauptsache und zur Zulässigkeit
Rechtssache C‑83/19
113 Die Justizinspektion und die rumänische Regierung halten das Vorabentscheidungsersuchen in der Rechtssache C‑83/19 für unzulässig, da zwischen den Vorlagefragen und dem Ausgangsrechtsstreit kein Zusammenhang bestehe. Insbesondere habe die in dieser Rechtssache erbetene Auslegung des Unionsrechts keine unmittelbare Auswirkung auf den Ausgang dieses Rechtsstreits, da dieser allein auf der Grundlage des nationalen Rechts zu entscheiden sei.
114 Die Kommission bringt ihrerseits in ihren schriftlichen Erklärungen vor, die gestellten Fragen hätten offenbar ihre Bedeutung für den Ausgangsrechtsstreit verloren, da das Plenum des Obersten Richterrats Herrn Netejoru am 15. Mai 2019, also nach Anrufung des Gerichtshofs, auf der Grundlage des Gesetzes Nr. 317/2004 für eine weitere Amtszeit von drei Jahren zum Chefinspekteur der Justizinspektion ernannt habe. Da durch diese Ernennung der sich aus der Dringlichkeitsverordnung Nr. 77/2018 ergebende Eingriff der Exekutive in die Unabhängigkeit der Justiz beendet worden sei, sei Herr Netejoru nunmehr in der Lage, seine Eigenschaft als Vertreter der Justizinspektion nachzuweisen, so dass sich die Fragen zur Auslegung des Unionsrechts grundsätzlich nicht mehr stellten und somit keine Veranlassung für eine Beantwortung derselben durch den Gerichtshof mehr bestehe. In der mündlichen Verhandlung hat die Kommission klargestellt, dass Verfahrensfehler der vom Kläger des Ausgangsverfahrens geltend gemachten Art nach nationalem Recht im Lauf des Verfahrens behoben werden könnten, was zu prüfen jedoch Sache des vorlegenden Gerichts sei.
115 Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs ist es im Rahmen der durch Art. 267 AEUV geschaffenen Zusammenarbeit zwischen ihm und den nationalen Gerichten allein Sache des mit dem Rechtsstreit befassten nationalen Gerichts, in dessen Verantwortungsbereich die zu erlassende gerichtliche Entscheidung fällt, anhand der Besonderheiten der Rechtssache sowohl die Erforderlichkeit einer Vorabentscheidung zum Erlass seines Urteils als auch die Erheblichkeit der dem Gerichtshof von ihm vorgelegten Fragen zu beurteilen. Daher ist der Gerichtshof grundsätzlich gehalten, über die ihm vorgelegten Fragen zu befinden, wenn sie die Auslegung des Unionsrechts betreffen (Urteil vom 24. November 2020, Openbaar Ministerie [Urkundenfälschung], C‑510/19, EU:C:2020:953, Rn. 25 und die dort angeführte Rechtsprechung).
116 Folglich gilt für Fragen, die das Unionsrecht betreffen, eine Vermutung der Entscheidungserheblichkeit. Der Gerichtshof kann die Beantwortung einer Vorlagefrage eines nationalen Gerichts nur ablehnen, wenn die erbetene Auslegung des Unionsrechts offensichtlich in keinem Zusammenhang mit der Realität oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits steht, wenn das Problem hypothetischer Natur ist oder wenn der Gerichtshof nicht über die tatsächlichen und rechtlichen Angaben verfügt, die für eine zweckdienliche Beantwortung der ihm vorgelegten Fragen erforderlich sind (Urteil vom 24. November 2020, Openbaar Ministerie [Urkundenfälschung], C‑510/19, EU:C:2020:953, Rn. 26 und die dort angeführte Rechtsprechung).
117 Wie sich bereits aus dem Wortlaut von Art. 267 AEUV ergibt, muss die beantragte Vorabentscheidung insbesondere „erforderlich“ sein, um dem vorlegenden Gericht den „Erlass seines Urteils“ in der bei ihm anhängigen Rechtssache zu ermöglichen. Das Vorabentscheidungsverfahren setzt daher insbesondere voraus, dass bei den nationalen Gerichten tatsächlich ein Rechtsstreit anhängig ist, in dem sie eine Entscheidung erlassen müssen, bei der das im Vorabentscheidungsverfahren ergangene Urteil berücksichtigt werden kann (Urteil vom 24. November 2020, Openbaar Ministerie [Urkundenfälschung], C‑510/19, EU:C:2020:953, Rn. 27 und die dort angeführte Rechtsprechung).
118 Im vorliegenden Fall geht aus der Vorlageentscheidung eindeutig hervor, dass das nationale Gericht eine Vorabentscheidung für erforderlich hält, um a limine über die vom Forum der Richter Rumäniens erhobene prozessuale Einrede entscheiden zu können, mit der geltend gemacht wird, dass Herr Netejoru, der die Klageerwiderung unterzeichnet habe, seine Eigenschaft als Vertreter der Justizinspektion nicht nachgewiesen habe. Das vorlegende Gericht führt nämlich aus, dass es insbesondere gemäß Art. 248 Abs. 1 der Zivilprozessordnung zunächst über diese Einrede zu entscheiden habe und dass dann, wenn ihr stattgegeben würde, die Klageerwiderung sowie die von der Justizinspektion vorgebrachten Beweise und erhobenen Einreden aus den Akten entfernt werden müssten.
119 Daraus folgt, dass die erbetene Auslegung des Unionsrechts für die vom vorlegenden Gericht zu erlassende Entscheidung objektiv erforderlich ist.
120 Wie der Generalanwalt in Nr. 95 seiner Schlussanträge in den Rechtssachen C‑83/19, C‑127/19, C‑195/19, C‑291/19 und C‑355/19 im Wesentlichen ausgeführt hat, bleibt diese Auslegung ungeachtet dessen erforderlich, dass Herr Netejoru zwischenzeitlich vom Obersten Richterrat zum Chefinspekteur der Justizinspektion ernannt wurde. In der vorliegenden Rechtssache ergeben sich nämlich zum einen aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten keine Anhaltspunkte dafür, dass entweder die prozessuale Einrede im Ausgangsverfahren oder das Ausgangsverfahren selbst gegenstandslos geworden wäre. Zum anderen ist nach dem anwendbaren nationalen Recht, wie es das vorlegende Gericht dargelegt hat, die Fähigkeit des Betroffenen, die Justizinspektion rechtmäßig zu vertreten, zum Zeitpunkt der Einreichung der Klageerwiderung zu beurteilen, wohingegen feststeht, dass diese Ernennung erst nach diesem Zeitpunkt erfolgte. Unter diesen Umständen können die von der Kommission aufgeworfenen Fragen dazu, ob die aufgrund dieser späteren Ernennung vorgelegten Fragen weiterhin erheblich sind, nicht die Vermutung der Erheblichkeit dieser Fragen in Frage stellen und damit auch nicht zu deren Erledigung in der Hauptsache führen.
121 Nach alledem ist das Vorabentscheidungsersuchen in der Rechtssache C‑83/19 zulässig und sind die damit vorgelegten Fragen zu beantworten.
Rechtssachen C‑127/19 und C‑355/19
122 Der Oberste Richterrat ist der Ansicht, dass das Vorabentscheidungsersuchen in der Rechtssache C‑127/19 u. a. deshalb unzulässig sei, weil die Entscheidung 2006/928 keinen für Rumänien verbindlichen Gesetzgebungsakt der Union darstelle, der dem Gerichtshof gemäß Art. 267 AEUV zur Auslegung vorgelegt werden könnte. Jedenfalls bezögen sich die in dieser Rechtssache vorgelegten Fragen nicht auf die einheitliche Anwendung einer Bestimmung des Unionsrechts, sondern auf die Anwendbarkeit der in diesen Fragen genannten Bestimmungen des Unionsrechts auf den Ausgangsrechtsstreit und könnten daher so formuliert nicht Gegenstand eines Vorabentscheidungsersuchens sein.
123 Die rumänische Regierung hält ihrerseits die Fragen 1 bis 3 in der Rechtssache C‑127/19 und sämtliche Fragen in der Rechtssache C‑355/19 für unzulässig, da die vorlegenden Gerichte keinen Zusammenhang zwischen diesen Fragen und den Ausgangsrechtsstreitigkeiten dargetan hätten. Die erbetene Auslegung stehe daher in keinem Zusammenhang mit der Realität oder dem Gegenstand dieser Rechtsstreitigkeiten.
124 Erstens ist festzustellen, dass die in Rn. 122 des vorliegenden Urteils angeführten Erwägungen des Obersten Richterrats zur Natur und zu den Wirkungen der Entscheidung 2006/928 sowie zur Anwendbarkeit dieser Entscheidung im Kontext des Ausgangsrechtsstreits in Wirklichkeit die inhaltliche Prüfung der in der Rechtssache C‑127/19 vorgelegten Fragen und nicht die Prüfung der Zulässigkeit dieser Fragen betreffen.
125 Was zweitens die Einwände der rumänischen Regierung betrifft, genügt der Hinweis, dass die Ausgangsrechtsstreitigkeiten in den Rechtssachen C‑127/19 und C‑355/19 die Rechtmäßigkeit von zwei Beschlüssen des Obersten Richterrats bzw. eines Erlasses des Generalstaatsanwalts zur Durchführung bestimmter sich aus dem Gesetz Nr. 207/2018 ergebender Änderungen betreffen, deren Vereinbarkeit mit dem Unionsrecht, insbesondere mit der Entscheidung 2006/928, mit Art. 2, Art. 4 Abs. 3 und Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV sowie mit Art. 47 der Charta, vor den vorlegenden Gerichten in Abrede gestellt wird. In Anbetracht der insoweit von den vorlegenden Gerichten gemachten Angaben kann daher nicht davon ausgegangen werden, dass die in diesen Rechtssachen gestellten Fragen offensichtlich in keinem Zusammenhang mit der Realität oder dem Gegenstand der Ausgangsrechtsstreitigkeiten stehen.
126 Unter diesen Umständen sind die Vorabentscheidungsersuchen in den Rechtssachen C‑127/19 und C‑355/19 zulässig.
Rechtssachen C‑195/19 und C‑291/19
127 Die rumänische Regierung macht geltend, dass die in den Rechtssachen C‑195/19 und C‑291/19 gestellten Fragen unzulässig seien, da die vorlegenden Gerichte keinen Zusammenhang zwischen den gestellten Fragen und den Ausgangsverfahren dargetan hätten. Was insbesondere den Verweis auf Art. 9 Satz 1 EUV und Art. 67 Abs. 1 AEUV in der zweiten Vorlagefrage in der Rechtssache C‑195/19 betrifft, weist die rumänische Regierung darauf hin, dass das Vorabentscheidungsersuchen nichts enthalte, was erklären würde, inwiefern diese Bestimmungen in irgendeinem Zusammenhang mit der Realität des Ausgangsrechtsstreits stünden. Bezüglich der dritten Vorlagefrage in dieser Rechtssache führt diese Regierung weiter aus, dass diese Frage und insbesondere die Verweise auf die Rechtsprechung der Curtea Constituțională (Verfassungsgerichtshof) und den Wirkungen dieser Rechtsprechung zu allgemein formuliert seien und in keinem Zusammenhang mit der Realität dieses Rechtsstreits stünden.
128 Hierzu ist festzustellen, dass an den Ausgangsverfahren in den Rechtssachen C‑195/19 und C‑291/19, in denen es um die strafrechtliche Verfolgung von Richtern und Staatsanwälten geht, Staatsanwälte des AUSJ beteiligt sind. In Anbetracht der in Rn. 49 des vorliegenden Urteils genannten Berichte und Stellungnahmen zweifeln die vorlegenden Gerichte an der Vereinbarkeit der Regelung über die Errichtung der AUSJ mit den Bestimmungen des Unionsrechts, auf die sich die Vorlagefragen beziehen. Außerdem ergibt sich aus den Angaben dieser Gerichte, dass sie über diese Frage inzident zu entscheiden haben, bevor sie über die bei ihnen anhängigen Klagen entscheiden können.
129 Es kann daher nicht davon ausgegangen werden, dass die Vorlagefragen, soweit sie die Entscheidung 2006/928, Art. 2, Art. 4 Abs. 3 und Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV sowie Art. 47 der Charta betreffen, in keinem Zusammenhang mit der Realität oder dem Gegenstand der Ausgangsrechtsstreitigkeiten stünden oder ein Problem hypothetischer Natur beträfen.
130 Was hingegen die Bezugnahme auf Art. 9 Satz 1 EUV und Art. 67 Abs. 1 AEUV in der zweiten Vorlagefrage in der Rechtssache C‑195/19 betrifft, enthält das Vorabentscheidungsersuchen keine Angaben dazu, inwiefern die Auslegung dieser Bestimmungen dem vorlegenden Gericht für die Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits dienlich sein könnte. Unter diesen Umständen ist die zweite Frage unzulässig, soweit sie Art. 9 Satz 1 EUV und Art. 67 Abs. 1 AEUV betrifft.
131 Zur Zulässigkeit der dritten Frage in der Rechtssache C‑195/19 ist darauf hinzuweisen, dass es im Rahmen der durch Art. 267 AEUV begründeten Zusammenarbeit zwischen den nationalen Gerichten und dem Gerichtshof Aufgabe des Gerichtshofs ist, dem nationalen Gericht eine für die Entscheidung des bei diesem anhängigen Rechtsstreit sachdienliche Antwort zu geben. Hierzu hat er die ihm vorgelegten Fragen gegebenenfalls umzuformulieren (Urteil vom 14. Mai 2020, Országos Idegenrendeszeti Főigazgatóság Dél-alföldi Regionális Igazgatóság, C‑924/19 PPU und C‑925/19 PPU, EU:C:2020:367, Rn. 179 und die dort angeführte Rechtsprechung). Somit hindert der Umstand, dass die betreffende Frage ihrer Form nach allgemein formuliert ist, den Gerichtshof nicht daran, diesem Gericht unabhängig davon, worauf es in seinen Fragen Bezug genommen hat, alle Hinweise zur Auslegung des Unionsrechts zu geben, die ihm bei der Entscheidung des bei ihm anhängigen Verfahrens von Nutzen sein können. Der Gerichtshof hat insoweit aus dem gesamten von dem einzelstaatlichen Gericht vorgelegten Material, insbesondere der Begründung der Vorlageentscheidung, diejenigen Elemente des Unionsrechts herauszuarbeiten, die unter Berücksichtigung des Gegenstands des Rechtsstreits einer Auslegung bedürfen (Urteil vom 16. Juli 2020, Caixabank und Banco Bilbao Vizcaya Argentaria, C‑224/19 und C‑259/19, EU:C:2020:578, Rn. 47 und die dort angeführte Rechtsprechung).
132 Im vorliegenden Fall genügt der Hinweis, dass die Ausführungen im Vorabentscheidungsersuchen in der Rechtssache C‑195/19 es ermöglichen, die Tragweite der dritten Frage nachzuvollziehen, mit der das vorlegende Gericht wissen möchte, ob der Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts einer nationalen Bestimmung mit Verfassungsrang in der Auslegung durch die Curtea Constituțională (Verfassungsgerichtshof) entgegensteht, wonach das nationale Gericht nicht befugt wäre, die Erkenntnisse aus dem in der vorliegenden Rechtssache ergehenden Urteil des Gerichtshofs anzuwenden und gegebenenfalls die im Ausgangsverfahren streitige nationale Regelung, die dem Unionsrecht widerspräche, unangewendet zu lassen.
133 Art. 267 AEUV verleiht den nationalen Gerichten nach ständiger Rechtsprechung ein unbeschränktes Recht zur Vorlage an den Gerichtshof, wenn sie der Auffassung sind, dass eine bei ihnen anhängige Rechtssache Fragen nach der Auslegung unionsrechtlicher Bestimmungen aufwirft, deren Beantwortung für die Entscheidung des ihnen unterbreiteten Rechtsstreits erforderlich ist (Urteil vom 24. Oktober 2018, XC u. a., C‑234/17, EU:C:2018:853, Rn. 42). So muss es insbesondere einem Gericht, das nicht in letzter Instanz entscheidet, freistehen, dem Gerichtshof die Fragen vorzulegen, bei denen es Zweifel hat, wenn es der Ansicht ist, dass es aufgrund der rechtlichen Beurteilung eines übergeordneten Gerichts, selbst wenn es Verfassungsrang hat, zu einem unionsrechtswidrigen Urteil gelangen könnte (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 5. März 2019, Eesti Pagar, C‑349/17, EU:C:2019:172, Rn. 52 und die dort angeführte Rechtsprechung).
134 Unter diesen Umständen sind in der Rechtssache C‑195/19 die erste Frage, die zweite Frage, soweit sie Art. 2 EUV betrifft, und die dritte Frage zulässig. In der Rechtssache C‑291/19 sind alle vorgelegten Fragen zulässig.
Rechtssache C‑397/19
135 Die rumänische Regierung macht geltend, die ersten drei in der Rechtssache C‑397/19 vorgelegten Fragen seien unzulässig, da sie in keinem Zusammenhang mit der Realität oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits stünden, dessen Sachverhalt nicht in den Anwendungsbereich des Unionsrechts falle. Der Zusammenhang zwischen diesem Rechtsstreit und dem VZÜ sei nur mittelbar, so dass eine Beantwortung dieser Fragen keinen Einfluss auf den Ausgang dieses Rechtsstreits hätte. In Bezug auf die Fragen 4 bis 6 macht die rumänische Regierung geltend, dass die in diesen Fragen genannten Bestimmungen des Unionsrechts in keinem Zusammenhang mit dem Ausgangsrechtsstreit stünden. Im Hinblick auf die sechste Frage ist diese Regierung insbesondere der Ansicht, dass die damit aufgeworfene Rechtsfrage außerhalb des Gegenstands dieses Rechtsstreits liege, da das vorlegende Gericht mit einer Haftungsklage gegen den rumänischen Staat und nicht mit einer Regressklage gegen einen Richter befasst sei. Die siebte Frage sei unzulässig, da die darin angeführten Behauptungen nicht nur unsubstantiiert seien, sondern damit auch ein Problem einer hypothetischen Auslegung aufgeworfen würde.
136 Die Kommission äußert ihrerseits Zweifel an der Zulässigkeit der Fragen 1 bis 6. Zwar seien die Änderungen, die durch das Gesetz Nr. 242/2018 an der Regelung der persönlichen Haftung von Richtern und Staatsanwälten vorgenommen worden seien, im VZÜ-Bericht vom November 2018 und in weiteren Berichten und Stellungnahmen, auf die in Rn. 49 des vorliegenden Urteils Bezug genommen wird, hinsichtlich ihrer Vereinbarkeit mit dem Unionsrecht als problematisch eingestuft worden, jedoch sei Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits die Frage der Haftung des Staates für einen angeblichen Justizirrtum und nicht die Frage der persönlichen Haftung des Richters, der diesen Irrtum begangen habe, im Rahmen einer Regressklage. Allerdings hat die Kommission in der mündlichen Verhandlung insoweit klargestellt, dass die Zulässigkeit dieser Fragen bejaht werden könnte, sofern diese dahin umformuliert würden, dass sie darauf abzielten, eine Prüfung der Regelung der Haftung für einen Justizirrtum in ihrer Gesamtheit in Anbetracht der zwischen den beiden betreffenden Verfahren bestehenden verfahrensrechtlichen Zusammenhänge und insbesondere des Umstands vorzunehmen, dass das erste Verfahren das Ergebnis des zweiten Verfahrens beeinflussen könne, obgleich der betroffene Richter erst im zweiten Verfahren angehört werde.
137 Die siebte Frage hält die Kommission hingegen für unzulässig. Es sei grundsätzlich Sache der Mitgliedstaaten, die Voraussetzungen festzulegen, unter denen eine Klage auf Anfechtung der Rechtmäßigkeit einer Maßnahme der Untersuchungshaft in einem Strafverfahren erhoben werden könne, um eine Entschädigung für den erlittenen Schaden zu erlangen, da dieser Aspekt nicht durch das Unionsrecht geregelt sei. Außerdem habe das vorlegende Gericht keinerlei Erläuterung gegeben, die es ermöglichen würde, die Vereinbarkeit der in der siebten Frage genannten Bestimmungen der Art. 539 und 541 der Strafprozessordnung mit dem Unionsrecht in Frage zu stellen.
138 Insoweit genügt, was zunächst die Zulässigkeit der Fragen 1 bis 3 betreffend die Natur und die Tragweite des mit der Entscheidung 2006/928 eingeführten VZÜ anbelangt, die Feststellung, dass die Regelung der persönlichen Haftung der Richter, wie die Kommission ausgeführt hat, Teil der Gesetze ist, die die Organisation der Justiz in Rumänien regeln, und Gegenstand der auf Unionsebene auf der Grundlage dieses Verfahrens gewährleisteten Überwachung war. Somit ist nicht offensichtlich, dass die Auslegung des Unionsrechts, um die mit diesen Fragen ersucht wird, in keinem Zusammenhang mit der Realität oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits steht.
139 Sodann ist zur Zulässigkeit der Fragen 4 bis 6 darauf hinzuweisen, dass es nach der in Rn. 131 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung Sache des Gerichtshofs ist, gegebenenfalls aus dem gesamten vom nationalen Gericht vorgelegten Material, insbesondere der Begründung der Vorlageentscheidung, diejenigen Elemente des Unionsrechts herauszuarbeiten, die unter Berücksichtigung des Gegenstands des Rechtsstreits einer Auslegung bedürfen.
140 Aus dem Wortlaut dieser Fragen und den darin angeführten Gründen geht aber hervor, dass das vorlegende Gericht Zweifel daran hat, ob nationale Vorschriften zur Regelung der vermögensrechtlichen Haftung des Staates für durch Justizirrtümer verursachte Schäden und der persönlichen Haftung der Richter, deren Amtsführung diesen Irrtümern zugrunde liegt, mit dem Unionsrecht, insbesondere mit dem Wert der Rechtsstaatlichkeit und dem Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit, die in Art. 2 und Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV verankert sind, vereinbar sind, insbesondere wegen des allgemeinen und abstrakten Charakters der Definition des Begriffs „Justizirrtum“ und bestimmter vorgesehener Verfahrensmodalitäten.
141 Insoweit geht aus dem Vorabentscheidungsersuchen hervor, dass das Vorliegen eines Justizirrtums im Rahmen eines gegen den Staat eingeleiteten Verfahrens wie des im Ausgangsverfahren in Rede stehenden, an dem der Richter, dessen Amtsführung dem behaupteten Justizirrtum zugrunde liegt, nicht beteiligt ist, endgültig festgestellt wird. Wird am Ende dieses Verfahrens das Vorliegen eines Justizirrtums festgestellt, so kann das zuständige Ministerium den Angaben des vorlegenden Gerichts zufolge auf der bloßen Grundlage seiner eigenen Beurteilung entscheiden, ob es eine Regressklage gegen den betreffenden Richter erhebt oder nicht, wobei dieser dann nur über eine begrenzte Möglichkeit verfügt, den vom Staat erhobenen Rügen entgegenzutreten.
142 In Anbetracht der substanziellen und inhärenten Zusammenhänge zwischen den materiell- und verfahrensrechtlichen Vorschriften, die das System der vermögensrechtlichen Haftung des Staates regeln, und den Vorschriften, die das System der persönlichen Haftung der Richter regeln, möchte das vorlegende Gericht mit den Fragen 4 bis 6 wissen, ob diese Vorschriften in ihrer Gesamtheit ab dem Stadium des Verfahrens gegen den Staat gegen Grundsätze des Unionsrechts verstoßen können, da die Feststellung eines Justizirrtums in diesem Verfahren für das Verfahren gegen den betreffenden Richter bindend ist, obwohl dieser am ersten Verfahren nicht beteiligt war.
143 Unter diesen Umständen ist nicht offensichtlich, dass die Auslegung des Unionsrechts, um die mit den Fragen 4 bis 6 ersucht wird, in keinem Zusammenhang mit der Realität oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits steht oder dass das mit diesen Fragen aufgeworfene Problem hypothetischer Natur wäre.
144 Zur Zulässigkeit der siebten Frage ist schließlich darauf hinzuweisen, dass das Vorabentscheidungsersuchen weder die genaue Tragweite dieser Frage noch die Gründe erkennen lässt, aus denen das vorlegende Gericht Zweifel an der Vereinbarkeit der in dieser Frage genannten nationalen Bestimmungen mit Art. 2 EUV äußert. Da der Gerichtshof somit nicht über die Angaben verfügt, die für eine zweckdienliche Beantwortung der siebten Frage erforderlich sind, ist diese für unzulässig zu erklären.
145 Daraus folgt, dass das Vorabentscheidungsersuchen in der Rechtssache C‑397/19 mit Ausnahme der siebten Frage zulässig ist.
Zur Beantwortung der Fragen
146 Die Vorabentscheidungsersuchen betreffen, soweit sie zulässig sind,
–
die Frage, ob die Entscheidung 2006/928 und die von der Kommission auf der Grundlage dieser Entscheidung erstellten Berichte Handlungen eines Unionsorgans darstellen, die dem Gerichtshof nach Art. 267 AEUV zur Auslegung vorgelegt werden können (erste Frage in den Rechtssachen C‑83/19, C‑127/19, C‑291/19, C‑355/19 und C‑397/19),
–
die Frage, ob die Entscheidung 2006/928 in den Anwendungsbereich des Beitrittsvertrags fällt und, wenn ja, welche Rechtsfolgen sich daraus für Rumänien ergeben (erste Frage in der Rechtssache C‑195/19, zweite Frage in den Rechtssachen C‑83/19, C‑127/19, C‑291/19, C‑355/19 und C‑397/19 sowie dritte Frage in den Rechtssachen C‑127/19, C‑291/19 und C‑397/19),
–
die Frage, ob die Regelungen über die Organisation der Justiz in Rumänien in den Anwendungsbereich der Entscheidung 2006/928 fallen (vierte Frage in der Rechtssache C‑83/19 und dritte Frage in der Rechtssache C‑355/19),
–
die Vereinbarkeit der rumänischen Regelung über die vorläufige Ernennung auf die Leitungsstellen bei der Justizinspektion mit dem Unionsrecht (dritte Frage in der Rechtssache C‑83/19),
–
die Vereinbarkeit der rumänischen Regelung über die Errichtung der AUSJ mit dem Unionsrecht (vierte und fünfte Frage in der Rechtssache C‑127/19, zweite Frage in der Rechtssache C‑195/19, vierte und fünfte Frage in der Rechtssache C‑291/19 sowie dritte und vierte Frage in der Rechtssache C‑355/19),
–
die Vereinbarkeit der rumänischen Regelung der vermögensrechtlichen Haftung des Staates und der persönlichen Haftung der Richter im Fall eines Justizirrtums mit dem Unionsrecht (Fragen 4 bis 6 in der Rechtssache C‑397/19),
–
den Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts (dritte Frage in der Rechtssache C‑195/19).
Zur ersten Frage in den Rechtssachen C‑83/19, C‑127/19, C‑355/19, C‑291/19 und C‑397/19
147 Mit der jeweils ersten Frage in den Rechtssachen C‑83/19, C‑127/19, C‑291/19, C‑355/19 und C‑397/19, die zusammen zu prüfen sind, möchten die vorlegenden Gerichte wissen, ob die Entscheidung 2006/928 und die von der Kommission auf deren Grundlage erstellten Berichte Handlungen eines Organs der Union darstellen, die vom Gerichtshof nach Art. 267 AEUV ausgelegt werden können.
148 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass Art. 267 AEUV dem Gerichtshof nach ständiger Rechtsprechung die Befugnis verleiht, im Wege der Vorabentscheidung über die Gültigkeit und die Auslegung der Handlungen der Organe der Union ohne jede Ausnahme zu entscheiden (Urteile vom 13. Juni 2017, Florescu u. a., C‑258/14, EU:C:2017:448, Rn. 30, und vom 20. Februar 2018, Belgien/Kommission, C‑16/16 P, EU:C:2018:79, Rn. 44 und die dort angeführte Rechtsprechung).
149 Die Entscheidung 2006/928 ist eine Handlung eines Organs der Union, nämlich der Kommission, die auf der Grundlage der Beitrittsakte, die zum Primärrecht der Union gehört, ergangen ist, und stellt insbesondere einen Beschluss im Sinne von Art. 288 Abs. 4 AEUV dar. Die Berichte der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat, die im Rahmen des mit der genannten Entscheidung geschaffenen VZÜ erstellt werden, sind ebenfalls als Handlungen eines Organs der Union anzusehen, deren Rechtsgrundlage das Unionsrecht ist, nämlich Art. 2 dieser Entscheidung.
150 Daraus folgt, dass die Entscheidung 2006/928 und die auf der Grundlage dieser Entscheidung erstellten Berichte der Kommission dem Gerichtshof nach Art. 267 AEUV zur Auslegung vorgelegt werden können, ohne dass es dafür darauf ankäme, ob diese Handlungen bindende Wirkung haben.
151 Auf die jeweils erste Frage in den Rechtssachen C‑83/19, C‑127/19, C‑291/19, C‑355/19 und C‑397/19 ist daher zu antworten, dass die Entscheidung 2006/928 und die von der Kommission auf der Grundlage dieser Entscheidung erstellten Berichte Handlungen eines Organs der Union darstellen, die vom Gerichtshof nach Art. 267 AEUV ausgelegt werden können.
Zur ersten Frage in der Rechtssache C‑195/19, zur zweiten Frage in den Rechtssachen C‑83/19, C‑127/19, C‑291/19, C‑355/19 und C‑397/19 sowie zur dritten Frage in den Rechtssachen C‑127/19, C‑291/19 und C‑397/19
152 Mit der ersten Frage in der Rechtssache C‑195/19, der zweiten Frage in den Rechtssachen C‑83/19, C‑127/19, C‑291/19, C‑355/19 und C‑397/19 sowie der dritten Frage in den Rechtssachen C‑127/19, C‑291/19 und C‑397/19, die zusammen zu prüfen sind, möchten die vorlegenden Gerichte wissen, ob die Art. 2, 37 und 38 der Beitrittsakte in Verbindung mit den Art. 2 und 49 EUV dahin auszulegen sind, dass die Entscheidung 2006/928, was ihre Rechtsnatur, ihren Inhalt und ihre zeitlichen Wirkungen anbelangt, in den Anwendungsbereich des Beitrittsvertrags fällt und, falls dies bejaht wird, welche Rechtsfolgen sich daraus für Rumänien ergeben. Insbesondere stellen sich die vorlegenden Gerichte die Frage, ob und inwieweit die Anforderungen und Empfehlungen in den auf der Grundlage der Entscheidung 2006/928 erstellten Berichten der Kommission für Rumänien verbindlich sind.
– Zur Rechtsnatur, zum Inhalt und zu den zeitlichen Wirkungen der Entscheidung 2006/928
153 Wie aus den Erwägungsgründen 4 und 5 der Entscheidung 2006/928 hervorgeht, wurde diese im Zusammenhang mit dem Beitritt Rumäniens zur Union erlassen, der am 1. Januar 2007 auf der Grundlage der Art. 37 und 38 der Beitrittsakte erfolgte.
154 Nach Art. 2 Abs. 2 des Beitrittsvertrags ist die Beitrittsakte, die die Bedingungen für den Beitritt Rumäniens zur Union und die mit diesem Beitritt verbundenen Anpassungen der Verträge festlegt, Bestandteil dieses Vertrags.
155 Somit fällt die Entscheidung 2006/928 als auf der Grundlage der Beitrittsakte erlassene Maßnahme in den Anwendungsbereich des Beitrittsvertrags. Der Umstand, dass diese Entscheidung vor dem Beitritt Rumäniens zur Union erlassen wurde, steht dieser Feststellung nicht entgegen, da Art. 4 Abs. 3 dieses Vertrags, der am 25. April 2005 unterzeichnet wurde, die Organe der Union ausdrücklich ermächtigte, vor dem Beitritt die dort aufgeführten Maßnahmen zu erlassen, zu denen die in den Art. 37 und 38 der Beitrittsakte genannten Maßnahmen gehören.
156 Die Art. 37 und 38 der Beitrittsakte ermächtigen die Kommission, geeignete Maßnahmen zu erlassen, wenn die unmittelbare Gefahr, dass Rumänien die im Rahmen der Beitrittsverhandlungen eingegangenen Verpflichtungen nicht erfüllt und dadurch eine schwere Beeinträchtigung des Funktionierens des Binnenmarkts hervorruft bzw. die unmittelbare Gefahr ernster Mängel in Rumänien hinsichtlich der Beachtung des Unionsrechts betreffend den Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts besteht.
157 Wie der Generalanwalt in den Nrn. 134 und 135 seiner Schlussanträge in den Rechtssachen C‑83/19, C‑127/19, C‑195/19, C‑291/19 und C‑355/19 ausgeführt hat, wurde die Entscheidung 2006/928 wegen des Bestehens unmittelbarer Gefahren der in den Art. 37 und 38 der Beitrittsakte genannten Art erlassen.
158 Wie nämlich aus dem Monitoring-Bericht der Kommission vom 26. September 2006 über den Stand der Beitrittsvorbereitungen Bulgariens und Rumäniens (KOM[2006] 549 endgültig) hervorgeht, auf den im vierten Erwägungsgrund der Entscheidung 2006/928 Bezug genommen wird, stellte die Kommission fest, dass in Rumänien Mängel u. a. in den Bereichen Justiz und Korruption fortbestanden, und schlug dem Rat vor, den Beitritt dieses Staates zur Union von der Einführung eines Verfahrens für die Zusammenarbeit und die Überprüfung zur Behebung dieser Mängel abhängig zu machen. Wie u. a. aus den Erwägungsgründen 4 und 6 dieser Entscheidung hervorgeht und wie die Kommission betont hat, wurden mit dieser Entscheidung das VZÜ eingeführt und die in Art. 1 und im Anhang dieser Entscheidung genannten Vorgaben in den Bereichen Justizreform und Korruptionsbekämpfung festgelegt, um genau diese Mängel zu beheben und sicherzustellen, dass Justiz und Vollzugsbehörden in der Lage sind, die Maßnahmen umzusetzen und anzuwenden, die erlassen wurden, um zum Funktionieren des Binnenmarkts und des Raumes der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts beizutragen.
159 Dieser Markt und dieser Raum beruhen insoweit – wie es in den Erwägungsgründen 2 und 3 der Entscheidung 2006/928 heißt – auf dem gegenseitigen Vertrauen zwischen den Mitgliedstaaten, dass ihre Verwaltungs- und Gerichtsentscheidungen und ihre Verwaltungs- und Gerichtspraxis in jeder Hinsicht mit dem Rechtsstaatsprinzip im Einklang stehen, was bedeutet, dass alle Mitgliedstaaten über ein unparteiisches, unabhängiges und effizientes Justiz- und Verwaltungssystem verfügen müssen, das ausreichend dafür ausgestattet ist, u. a. Korruption zu bekämpfen.
160 Nach Art. 49 EUV, wonach jeder europäische Staat beantragen kann, Mitglied der Union zu werden, besteht die Union aber aus Staaten, die die in Art. 2 EUV genannten Werte von sich aus und freiwillig übernommen haben, diese achten und sich für deren Förderung einsetzen. Aus Art. 2 EUV geht insbesondere hervor, dass sich die Union auf Werte wie die Rechtsstaatlichkeit gründet, die allen Mitgliedstaaten in einer Gesellschaft, die sich u. a. durch Gerechtigkeit auszeichnet, gemeinsam sind. Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass das gegenseitige Vertrauen zwischen den Mitgliedstaaten und insbesondere zwischen deren Gerichten auf der Prämisse beruht, dass die Mitgliedstaaten eine Reihe gemeinsamer Werte teilen, auf die sich, wie es im genannten Artikel heißt, die Union gründet (Urteil vom 20. April 2021, Repubblika, C‑896/19, EU:C:2021:311, Rn. 61 und 62 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).
161 Somit stellt die Wahrung der in Art. 2 EUV genannten Werte, wie die Kommission sowie die belgische, die dänische und die schwedische Regierung betont haben, eine Vorbedingung für den Beitritt jedes europäischen Staates, der Mitglied der Union werden möchte, zur Union dar. In diesem Kontext wurde das VZÜ mit der Entscheidung 2006/928 eingeführt, um die Wahrung des Wertes der Rechtsstaatlichkeit in Rumänien zu gewährleisten.
162 Außerdem ist die Achtung der in Art. 2 EUV verankerten Werte durch einen Mitgliedstaat eine Voraussetzung für den Genuss aller Rechte, die sich aus der Anwendung der Verträge auf diesen Mitgliedstaat ergeben. Ein Mitgliedstaat darf daher seine Rechtsvorschriften nicht dergestalt ändern, dass der Schutz des Wertes der Rechtsstaatlichkeit vermindert wird, eines Wertes, der namentlich durch Art. 19 EUV konkretisiert wird. Die Mitgliedstaaten müssen somit dafür Sorge tragen, dass sie jeden nach Maßgabe dieses Wertes eintretenden Rückschritt in ihren Rechtsvorschriften über die Organisation der Justiz vermeiden, indem sie davon absehen, Regeln zu erlassen, die die richterliche Unabhängigkeit untergraben würden (Urteil vom 20. April 2021, Repubblika, C‑896/19, EU:C:2021:311, Rn. 63 und 64 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).
163 In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass die vor dem Beitritt von den Organen der Union erlassenen Rechtsakte, zu denen die Entscheidung 2006/928 zählt, für Rumänien nach Art. 2 der Beitrittsakte seit seinem Beitritt zur Union bindend sind und gemäß Art. 2 Abs. 3 des Beitrittsvertrags bis zu ihrer Aufhebung in Kraft bleiben.
164 Was insbesondere die auf der Grundlage der Art. 37 und 38 der Beitrittsakte erlassenen Maßnahmen anbelangt, ermächtigte zwar der jeweilige Abs. 1 dieser Artikel die Kommission, die in diesen Artikeln genannten Maßnahmen „für einen Zeitraum von bis zu drei Jahren nach dem Beitritt“ zu erlassen, jedoch ist im jeweiligen Abs. 2 dieser Artikel ausdrücklich vorgesehen worden, dass die so erlassenen Maßnahmen über diesen Zeitraum hinaus angewandt werden könnten, solange die einschlägigen Verpflichtungen nicht erfüllt wären oder die festgestellten Mängel fortbestünden, und dass sie erst aufgehoben würden, wenn die einschlägige Verpflichtung erfüllt oder der betreffende Mangel beseitigt wäre. Außerdem wird im neunten Erwägungsgrund der Entscheidung 2006/928 selbst klargestellt, dass diese „aufzuheben [ist], wenn alle Vorgaben zufriedenstellend erfüllt sind“.
165 Die Entscheidung 2006/928 fällt somit, was ihre Rechtsnatur, ihren Inhalt und ihre zeitlichen Wirkungen anbelangt, in den Anwendungsbereich des Beitrittsvertrags und entfaltet weiterhin ihre Wirkungen, solange sie nicht aufgehoben worden ist.
– Zu den Rechtswirkungen der Entscheidung 2006/928 und der auf der Grundlage dieser Entscheidung erstellten Berichte der Kommission
166 Art. 288 Abs. 4 AEUV sieht wie Art. 249 Abs. 4 EG vor, dass eine Entscheidung „in allen ihren Teilen“ für diejenigen „verbindlich“ ist, die sie bezeichnet.
167 Gemäß ihrem Art. 4 ist die Entscheidung 2006/928 an alle Mitgliedstaaten gerichtet, was Rumänien seit seinem Beitritt einschließt. Diese Entscheidung ist daher für diesen Mitgliedstaat seit seinem Beitritt zur Union in allen ihren Teilen verbindlich.
168 Mit dieser Entscheidung wird Rumänien somit verpflichtet, die in ihrem Anhang aufgeführten Vorgaben zu erfüllen und der Kommission gemäß Art. 1 Abs. 1 jährlich über die insoweit erzielten Fortschritte zu berichten.
169 Insbesondere bezüglich dieser Vorgaben ist hinzuzufügen, dass diese, wie sich aus den Rn. 158 bis 162 des vorliegenden Urteils ergibt, aufgrund der von der Kommission vor dem Beitritt Rumäniens zur Union u. a. in den Bereichen Justizreform und Korruptionsbekämpfung festgestellten Mängel festgelegt wurden und bezwecken, die Achtung des in Art. 2 EUV verankerten Wertes der Rechtsstaatlichkeit durch diesen Mitgliedstaat zu gewährleisten, was Voraussetzung für die Wahrnehmung aller Rechte ist, die sich aus der Anwendung der Verträge auf diesen Mitgliedstaat ergeben.
170 Außerdem konkretisieren diese Vorgaben, wie der Generalanwalt in Nr. 152 seiner Schlussanträge in den Rechtssachen C‑83/19, C‑127/19, C‑195/19, C‑291/19 und C‑355/19 ausgeführt hat und wie die Kommission und die belgische Regierung vorgebracht haben, die von Rumänien beim Abschluss der Beitrittsverhandlungen am 14. Dezember 2004 übernommenen bzw. akzeptierten besonderen Verpflichtungen und Anforderungen, die in Anhang IX der Beitrittsakte aufgeführt sind, betreffend u. a. die Bereiche Justiz und Korruptionsbekämpfung.
171 So bestand, wie u. a. die Kommission betont hat und wie sich aus den Erwägungsgründen 4 und 6 der Entscheidung 2006/928 ergibt, der Zweck der Einführung des VZÜ und der Festlegung der Vorgaben darin, den Beitritt Rumäniens zur Union zu vollenden, um die von der Kommission vor dem Beitritt in diesen Bereichen festgestellten Mängel zu beheben.
172 Daraus folgt, dass die Vorgaben für Rumänien verbindlich sind, so dass dieser Mitgliedstaat der besonderen Verpflichtung unterliegt, diese Vorgaben zu erreichen und alsbald die zu deren Erreichung geeigneten Maßnahmen zu ergreifen. Ebenso ist dieser Mitgliedstaat verpflichtet, von der Durchführung aller Maßnahmen abzusehen, die die Erreichung dieser Vorgaben gefährden könnten.
173 Zu den von der Kommission auf der Grundlage der Entscheidung 2006/928 erstellten Berichten ist darauf hinzuweisen, dass für die Feststellung, ob eine Handlung der Union verbindliche Wirkungen erzeugt, auf das Wesen dieser Handlung abzustellen ist und ihre Wirkungen anhand objektiver Kriterien wie z. B. des Inhalts der Handlung zu beurteilen sind, wobei gegebenenfalls der Zusammenhang ihres Erlasses und die Befugnisse des die Handlung vornehmenden Organs zu berücksichtigen sind (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 20. Februar 2018, Belgien/Kommission, C‑16/16 P, EU:C:2018:79, Rn. 32).
174 Im vorliegenden Fall sind die auf der Grundlage der Entscheidung 2006/928 erstellten Berichte gemäß deren Art. 2 Abs. 1 zwar nicht an Rumänien, sondern an das Parlament und den Rat gerichtet. Außerdem enthalten diese Berichte zwar eine Analyse der Situation in Rumänien und werden darin Anforderungen in Bezug auf diesen Mitgliedstaat formuliert, doch werden mit den darin enthaltenen Schlussfolgerungen unter Bezugnahme auf diese Anforderungen „Empfehlungen“ an diesen Mitgliedstaat gerichtet.
175 Allerdings sind diese Berichte, wie sich aus Art. 1 in Verbindung mit Art. 2 der genannten Entscheidung ergibt, dazu bestimmt, die Fortschritte, die Rumänien im Hinblick auf die von diesem Mitgliedstaat zu erreichenden Vorgaben erzielt hat, zu analysieren und zu bewerten. Was insbesondere die Empfehlungen in diesen Berichten anbelangt, so werden diese, wie auch die Kommission ausgeführt hat, im Hinblick auf die Verwirklichung dieser Ziele formuliert, um die Reformen dieses Mitgliedstaats in dieser Hinsicht zu leiten.
176 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass die Mitgliedstaaten nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs gemäß dem in Art. 4 Abs. 3 EUV verankerten Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit verpflichtet sind, alle geeigneten Maßnahmen zu treffen, um die Geltung und die Wirksamkeit des Unionsrechts zu gewährleisten, sowie die rechtswidrigen Folgen eines Verstoßes gegen das Unionsrecht zu beheben; diese Verpflichtung obliegt im Rahmen seiner Zuständigkeiten jedem Organ des betreffenden Mitgliedstaats (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 17. Dezember 2020, Kommission/Slowenien (Archive der EZB), C‑316/19, EU:C:2020:1030, Rn. 119 und 124 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).
177 Unter diesen Umständen muss Rumänien, um den im Anhang der Entscheidung 2006/928 aufgeführten Vorgaben zu entsprechen, den in den von der Kommission aufgrund dieser Entscheidung erstellten Berichten formulierten Anforderungen und Empfehlungen gebührend Rechnung tragen. Insbesondere darf dieser Mitgliedstaat keine Maßnahmen in den von den Vorgaben erfassten Bereichen erlassen oder beibehalten, die das von diesen Vorgaben vorgeschriebene Ergebnis gefährden könnten. In dem Fall, dass die Kommission in einem solchen Bericht Zweifel an der Vereinbarkeit einer nationalen Maßnahme mit einer der Vorgaben äußert, obliegt es Rumänien, redlich mit diesem Organ zusammenzuarbeiten, um unter vollständiger Beachtung dieser Vorgaben und der Bestimmungen der Verträge die bei der Erfüllung dieser Vorgaben aufgetretenen Schwierigkeiten zu überwinden.
178 Nach alledem ist auf die erste Frage in der Rechtssache C‑195/19, die zweite Frage in den Rechtssachen C‑83/19, C‑127/19, C‑291/19, C‑355/19 und C‑397/19 sowie die dritte Frage in den Rechtssachen C‑127/19, C‑291/19 und C‑397/19 zu antworten, dass die Art. 2, 37 und 38 der Beitrittsakte in Verbindung mit den Art. 2 und 49 EUV dahin auszulegen sind, dass die Entscheidung 2006/928, was ihre Rechtsnatur, ihren Inhalt und ihre zeitlichen Wirkungen anbelangt, in den Anwendungsbereich des Beitrittsvertrags fällt. Diese Entscheidung ist, solange sie nicht aufgehoben worden ist, für Rumänien in allen ihren Teilen verbindlich. Die in ihrem Anhang aufgeführten Vorgaben sollen sicherstellen, dass dieser Mitgliedstaat den in Art. 2 EUV genannten Wert der Rechtsstaatlichkeit beachtet, und sind für diesen Mitgliedstaat in dem Sinne verbindlich, dass er verpflichtet ist, die zur Erreichung dieser Vorgaben geeigneten Maßnahmen zu ergreifen, wobei er gemäß dem in Art. 4 Abs. 3 EUV genannten Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit die von der Kommission auf der Grundlage dieser Entscheidung erstellten Berichte, insbesondere die in diesen Berichten formulierten Empfehlungen, gebührend zu berücksichtigen hat.
Zur vierten Frage in der Rechtssache C‑83/19 und zur dritten Frage in der Rechtssache C‑355/19
179 Mit der vierten Frage in der Rechtssache C‑83/19 und der dritten Frage in der Rechtssache C‑355/19, die zusammen zu prüfen sind, möchten die vorlegenden Gerichte wissen, ob die Regelungen über die Organisation der Justiz in Rumänien wie die über die vorläufige Ernennung auf Leitungsstellen der Justizinspektion und die Errichtung der AUSJ in den Anwendungsbereich der Entscheidung 2006/928 fallen und ob sie die Anforderungen erfüllen müssen, die sich aus dem in Art. 2 EUV genannten Wert der Rechtsstaatlichkeit ergeben.
180 Hierzu ist festzustellen, dass die Entscheidung 2006/928, wie aus ihrem sechsten Erwägungsgrund sowie dem außerordentlich weit gefassten Wortlaut der Vorgaben 1, 3 und 4 in deren Anhang hervorgeht und wie der in Rn. 158 des vorliegenden Urteils angeführte Bericht der Kommission bestätigt, das gesamte Justizsystem in Rumänien sowie die Korruptionsbekämpfung in diesem Mitgliedstaat erfasst. Insoweit stellte die Kommission in Rz. 3.1 ihres Berichts an das Europäische Parlament und den Rat vom 27. Juni 2007 über Rumäniens Fortschritte bei den Begleitmaßnahmen nach dem Beitritt (KOM[2007] 378 endgültig), der nach Art. 2 dieser Entscheidung vorgesehen ist, fest, dass die Vorgaben aufgrund dessen, dass jede einzelne von ihnen dazu beitrage, ein unabhängiges, unparteiisches Justiz- und Verwaltungssystem aufzubauen, nicht getrennt voneinander betrachtet werden könnten, sondern als Teil jeder angestrebten Justizreform und der Korruptionsbekämpfung betrachtet werden müssten, solange diese Vorgaben noch nicht erreicht seien.
181 Im vorliegenden Fall wurden jedoch, wie der Generalanwalt in den Nrn. 178 und 250 seiner Schlussanträge in den Rechtssachen C‑83/19, C‑127/19, C‑195/19, C‑291/19 und C‑355/19 im Wesentlichen ausgeführt hat, durch die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden nationalen Regelungen, die aus den in den Jahren 2018 und 2019 durchgeführten Reformen hervorgegangen sind, Änderungen an den verschiedenen Justizgesetzen vorgenommen, die im Rahmen der Verhandlungen über den Beitritt Rumäniens zur Union mit dem Ziel erlassen wurden, die Unabhängigkeit und die Effektivität der Justiz zu verbessern, und den legislativen Rahmen der Organisation des Justizsystems in diesem Mitgliedstaat bilden.
182 Was konkret die in der Rechtssache C‑83/19 streitige nationale Regelung anbelangt, so betrifft diese die vorläufige Ernennung auf Leitungsstellen der Justizinspektion, bei der es sich um eine Einrichtung mit Rechtspersönlichkeit innerhalb des Obersten Richterrats handelt, dessen Rechenschaftspflicht – als Garantie transparenterer und leistungsfähigerer Gerichtsverfahren – ausdrücklich Gegenstand der ersten Vorgabe im Anhang der Entscheidung 2006/928 ist. Diese Einrichtung verfügt über wesentliche Zuständigkeiten im Rahmen von Disziplinarverfahren innerhalb der Justiz sowie im Rahmen von Verfahren betreffend die persönliche Haftung von Richtern und Staatsanwälten. Ihre institutionelle Struktur und ihre Tätigkeit sowie die in der Rechtssache C‑83/19 in Rede stehende Regelung waren im Übrigen Gegenstand von gemäß Art. 2 der Entscheidung 2006/928 erstellten Berichten der Kommission, und zwar insbesondere der in den Jahren 2010, 2011 und 2017 bis 2019 erstellten Berichte.
183 Die in den Rechtssachen C‑127/19, C‑195/19, C‑291/19 und C‑355/19 in Rede stehende nationale Regelung betrifft hingegen die Errichtung der AUSJ und die Modalitäten der Bestimmung der Staatsanwälte, die dort ihr Amt ausüben sollen. Wie der Generalanwalt in den Nrn. 180 und 181 seiner Schlussanträge in diesen Rechtssachen ausgeführt hat, fällt die Errichtung einer solchen Abteilung unter die Vorgaben 1, 3 und 4 im Anhang der Entscheidung 2006/928, die die Organisation des Justizsystems und die Korruptionsbekämpfung betreffen, und war im Übrigen Gegenstand der in den Jahren 2018 und 2019 gemäß Art. 2 dieser Entscheidung erstellten Berichte der Kommission.
184 Daraus folgt, dass solche Regelungen in den Anwendungsbereich der Entscheidung 2006/928 fallen und dass sie, wie sich aus Rn. 178 des vorliegenden Urteils ergibt, den Anforderungen genügen müssen, die sich aus dem Unionsrecht und insbesondere aus dem in Art. 2 EUV genannten Wert der Rechtsstaatlichkeit ergeben.
185 Daher ist auf die vierte Frage in der Rechtssache C‑83/19 und auf die dritte Frage in der Rechtssache C‑355/19 zu antworten, dass die Regelungen über die Organisation der Justiz in Rumänien wie die über die vorläufige Ernennung auf Leitungsstellen der Justizinspektion und die Errichtung einer mit der Untersuchung von Straftaten innerhalb der Justiz betrauten Abteilung der Staatsanwaltschaft in den Anwendungsbereich der Entscheidung 2006/928 fallen, so dass sie die Anforderungen erfüllen müssen, die sich aus dem Unionsrecht und insbesondere aus dem in Art. 2 EUV genannten Wert der Rechtsstaatlichkeit ergeben.
Zur dritten Frage in der Rechtssache C‑83/19
186 Mit seiner dritten Frage in der Rechtssache C‑83/19 möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 2 und Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV sowie die Entscheidung 2006/928 dahin auszulegen sind, dass sie einer von der Regierung eines Mitgliedstaats erlassenen nationalen Regelung entgegenstehen, die es diesem erlaubt, Leitungsstellen derjenigen Einrichtung der Justiz, die für die Durchführung von Disziplinarermittlungen und die Erhebung von Disziplinarklagen gegen Richter und Staatsanwälte zuständig ist, ohne Einhaltung des für solche Stellen im nationalen Recht vorgesehenen ordentlichen Ernennungsverfahrens vorläufig zu besetzen.
187 Wie aus dem Vorabentscheidungsersuchen hervorgeht, stellt das vorlegende Gericht diese Frage deshalb, weil die Aufgaben, mit denen eine Einrichtung der Justiz wie die von der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden nationalen Regelung erfasste betraut ist, und insbesondere der Umfang der Befugnisse, über die die leitenden Mitglieder dieser Einrichtung im Rahmen dieser Aufgaben verfügen, Fragen im Hinblick auf das Erfordernis der richterlichen Unabhängigkeit aufwerfen können.
188 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass Art. 19 EUV, mit dem der in Art. 2 EUV proklamierte Wert der Rechtsstaatlichkeit konkretisiert wird, den nationalen Gerichten und dem Gerichtshof die Aufgabe überträgt, die volle Anwendung des Unionsrechts in allen Mitgliedstaaten und den gerichtlichen Schutz, der den Einzelnen aus diesem Recht erwächst, zu gewährleisten (Urteile vom 25. Juli 2018, Minister for Justice and Equality [Mängel des Justizsystems], C‑216/18 PPU, EU:C:2018:586‚ Rn. 50, vom 24. Juni 2019, Kommission/Polen [Unabhängigkeit des Obersten Gerichts], C‑619/18, EU:C:2019:531, Rn. 47, und vom 5. November 2019, Kommission/Polen [Unabhängigkeit der ordentlichen Gerichte], C‑192/18, EU:C:2019:924, Rn. 98).
189 Schon das Vorhandensein einer wirksamen gerichtlichen Kontrolle, die der Gewährleistung der Einhaltung des Unionsrechts dient, ist einem Rechtsstaat inhärent (Urteil vom 27. Februar 2018, Associação Sindical dos Juízes Portugueses, C‑64/16, EU:C:2018:117, Rn. 36, und vom 25. Juli 2018, Minister for Justice and Equality [Mängel des Justizsystems], C‑216/18 PPU, EU:C:2018:586, Rn. 51).
190 Insoweit ist es, wie in Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV vorgesehen, Sache der Mitgliedstaaten, ein System von Rechtsbehelfen und Verfahren vorzusehen, das den Einzelnen die Wahrung ihres Rechts auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen gewährleistet. Der Grundsatz des wirksamen gerichtlichen Schutzes der dem Einzelnen aus dem Unionsrecht erwachsenden Rechte, von dem in Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV die Rede ist, ist ein allgemeiner Grundsatz des Unionsrechts, der sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten ergibt; er ist in den Art. 6 und 13 der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten und nun auch in Art. 47 der Charta verankert (Urteil vom 2. März 2021, A. B. u. a. [Ernennung von Richtern am Obersten Gericht – Rechtsbehelf], C‑824/18, EU:C:2021:153, Rn. 109 und 110 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).
191 Folglich hat jeder Mitgliedstaat dafür zu sorgen, dass Einrichtungen, die als „Gerichte“ im Sinne des Unionsrechts Bestandteil seines Rechtsbehelfssystems in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen sind, den Anforderungen an einen wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz gerecht werden (Urteile vom 27. Februar 2018, Associação Sindical dos Juízes Portugueses, C‑64/16, EU:C:2018:117, Rn. 37, und vom 25. Juli 2018, Minister for Justice and Equality [Mängel des Justizsystems], C‑216/18 PPU, EU:C:2018:586‚ Rn. 52).
192 Hinsichtlich des sachlichen Anwendungsbereichs von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV ist darauf hinzuweisen, dass diese Bestimmung in „den vom Unionsrecht erfassten Bereichen“ Anwendung findet, ohne dass es insoweit darauf ankäme, in welchem Kontext die Mitgliedstaaten Unionsrecht im Sinne von Art. 51 Abs. 1 der Charta durchführen (Urteil vom 2. März 2021, A. B. u. a. [Ernennung von Richtern am Obersten Gericht – Rechtsbehelf], C‑824/18, EU:C:2021:153, Rn. 111 und die dort angeführte Rechtsprechung).
193 Nationale Regelungen wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden gelten für alle Richter und Staatsanwälte und damit für Richter der ordentlichen Gerichte, die in dieser Eigenschaft über Fragen im Zusammenhang mit der Anwendung oder der Auslegung des Unionsrechts zu entscheiden haben. Da letztere somit als „Gerichte“ im Sinne des Unionsrechts Bestandteil des rumänischen Rechtsbehelfssystems in den „vom Unionsrecht erfassten Bereichen“ im Sinne von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV sind, müssen sie den Anforderungen an einen wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz gerecht werden.
194 Um sicherzustellen, dass Einrichtungen, die zur Entscheidung über Fragen im Zusammenhang mit der Anwendung oder der Auslegung des Unionsrechts angerufen werden können, in der Lage sind, den nach dieser Bestimmung erforderlichen wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz sicherzustellen, ist es von grundlegender Bedeutung, dass die Unabhängigkeit der betreffenden Einrichtungen gewahrt ist, wie Art. 47 Abs. 2 der Charta bestätigt, wonach zu den Anforderungen im Zusammenhang mit dem Grundrecht auf einen wirksamen Rechtsbehelf u. a. der Zugang zu einem „unabhängigen“ Gericht gehört (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 2. März 2021, A. B. u. a. [Ernennung von Richtern am Obersten Gericht – Rechtsbehelf], C‑824/18, EU:C:2021:153, Rn. 115 und die dort angeführte Rechtsprechung).
195 Dieses Erfordernis der Unabhängigkeit der Gerichte, das dem Auftrag des Richters inhärent ist, gehört zum Wesensgehalt des Rechts auf wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz und des Grundrechts auf ein faires Verfahren, dem als Garant für den Schutz sämtlicher dem Einzelnen aus dem Unionsrecht erwachsender Rechte und für die Wahrung der in Art. 2 EUV genannten Werte, die den Mitgliedstaaten gemeinsam sind, u. a. des Wertes der Rechtsstaatlichkeit, grundlegende Bedeutung zukommt. Nach dem für einen Rechtsstaat kennzeichnenden Grundsatz der Gewaltenteilung ist die Unabhängigkeit der Gerichte u. a. gegenüber der Legislative und der Exekutive zu gewährleisten (Urteil vom 2. März 2021, A. B. u. a. [Ernennung von Richtern am Obersten Gericht – Rechtsbehelf], C‑824/18, EU:C:2021:153, Rn. 116 und 118 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).
196 Nach ständiger Rechtsprechung setzen die nach dem Unionsrecht erforderlichen Garantien der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit voraus, dass es Regeln gibt, die es ermöglichen, bei den Rechtsunterworfenen jeden berechtigten Zweifel an der Unempfänglichkeit der betreffenden Einrichtung für äußere Faktoren und an ihrer Neutralität in Bezug auf die widerstreitenden Interessen auszuräumen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 19. September 2006, Wilson, C‑506/04, EU:C:2006:587, Rn. 53 und die dort angeführte Rechtsprechung, vom 2. März 2021, A. B. u. a. [Ernennung von Richtern am Obersten Gericht – Rechtsbehelf], C‑824/18, EU:C:2021:153, Rn. 117, und vom 20. April 2021, Repubblika, C‑896/19, EU:C:2021:311, Rn. 53).
197 Insoweit sind die betreffenden Richter vor Interventionen oder Druck von außen, die ihre Unabhängigkeit gefährden könnten, zu schützen. Die für den Status der Richter und die Ausübung ihres Richteramts geltenden Vorschriften müssen es insbesondere ermöglichen, nicht nur jede Form der unmittelbaren Einflussnahme in Form von Weisungen, sondern auch die Formen der mittelbaren Einflussnahme, die zur Steuerung der Entscheidungen der betreffenden Richter geeignet sein könnten, auszuschließen, und damit auszuschließen, dass diese Richter den Eindruck vermitteln, nicht unabhängig und unparteiisch zu sein, wodurch das Vertrauen beeinträchtigt werden könnte, das die Justiz in einer demokratischen Gesellschaft und in einem Rechtsstaat bei den Rechtsunterworfenen schaffen muss (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 2. März 2021, A. B. u. a. [Ernennung von Richtern am Obersten Gericht – Rechtsbehelf], C‑824/18, EU:C:2021:153, Rn. 119 und 139 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).
198 Was insbesondere die Vorschriften über die Disziplinarregelung betrifft, so verlangt das Erfordernis der Unabhängigkeit nach ständiger Rechtsprechung, dass diese Regelung die erforderlichen Garantien aufweist, damit jegliche Gefahr verhindert wird, dass eine solche Regelung als System zur politischen Kontrolle des Inhalts justizieller Entscheidungen eingesetzt wird. Insoweit bilden Regeln, die insbesondere festlegen, welche Verhaltensweisen Disziplinarvergehen begründen und welche Sanktionen konkret anwendbar sind, die die Einschaltung einer unabhängigen Instanz gemäß einem Verfahren vorsehen, das die in den Art. 47 und 48 der Charta niedergelegten Rechte, namentlich die Verteidigungsrechte, in vollem Umfang sicherstellt, und die die Möglichkeit festschreiben, die Entscheidungen der Disziplinarorgane vor Gericht anzufechten, eine Reihe von Garantien, die wesentlich sind, um die Unabhängigkeit der Justiz zu wahren (Urteile vom 25. Juli 2018, Minister for Justice and Equality [Mängel des Justizsystems], C‑216/18 PPU, EU:C:2018:586, Rn. 67, vom 24. Juni 2019, Kommission/Polen [Unabhängigkeit des Obersten Gerichts], C‑619/18, EU:C:2019:531‚ Rn. 77, und vom 5. November 2019, Kommission/Polen [Unabhängigkeit der ordentlichen Gerichte], C‑192/18, EU:C:2019:924, Rn. 114).
199 Da zudem, wie der Generalanwalt in Nr. 268 seiner Schlussanträge in den Rechtssachen C‑83/19, C‑127/19, C‑195/19, C‑291/19 und C‑355/19 im Wesentlichen ausgeführt hat, die Aussicht auf die Einleitung einer Disziplinaruntersuchung als solche geeignet ist, Druck auf diejenigen auszuüben, deren Aufgabe es ist, zu entscheiden, ist es wesentlich, dass die für die Durchführung von Untersuchungen und die Erhebung von Disziplinarklagen zuständige Einrichtung bei der Erfüllung ihrer Aufgaben objektiv und unparteiisch handelt und zu diesem Zweck frei von jeder äußeren Beeinflussung ist.
200 Deshalb und weil die Personen, die die Leitungsstellen in einer solchen Einrichtung besetzen, einen entscheidenden Einfluss auf die Tätigkeit der Einrichtung ausüben können, müssen die Regeln für das Verfahren zu ihrer Ernennung auf diese Stellen, wie der Generalanwalt in Nr. 269 seiner Schlussanträge in den Rechtssachen C‑83/19, C‑127/19, C‑195/19, C‑291/19 und C‑355/19 im Wesentlichen ausgeführt hat, so gestaltet sein, dass sie keinen berechtigten Zweifel daran aufkommen lassen können, dass die Befugnisse und Aufgaben dieser Einrichtung als Instrument zur Ausübung von Druck auf die Rechtsprechungstätigkeit oder zur Ausübung politischer Kontrolle über diese Tätigkeit benutzt werden.
201 Die Entscheidung hierüber ist letztlich Sache des vorlegenden Gerichts, nachdem es die dafür erforderliche Würdigung vorgenommen hat. Art. 267 AEUV gibt dem Gerichtshof nämlich nicht die Befugnis, die Normen des Unionsrechts auf einen Einzelfall anzuwenden, sondern nur die, sich zur Auslegung der Verträge und der Rechtsakte der Unionsorgane zu äußern. Nach ständiger Rechtsprechung kann der Gerichtshof aber das Unionsrecht im Rahmen der durch diesen Art. 267 AEUV begründeten Zusammenarbeit zwischen den Gerichten unter Berücksichtigung der Akten auslegen, soweit dies dem innerstaatlichen Gericht bei der Beurteilung der Wirkungen einer unionsrechtlichen Bestimmung dienlich sein könnte (Urteil vom 19. November 2019, A. K. u. a. [Unabhängigkeit der Disziplinarkammer des Obersten Gerichts], C‑585/18, C‑624/18 und C‑625/18, EU:C:2019:982, Rn. 132, und vom 2. März 2021, A. B. u. a. [Ernennung von Richtern am Obersten Gericht – Rechtsbehelf], C‑824/18, EU:C:2021:153, Rn. 96).
202 Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass der Umstand, dass die Leiter der Einrichtung, deren Aufgabe die Durchführung von Disziplinaruntersuchungen und die Erhebung von Disziplinarklagen gegen Richter und Staatsanwälte ist, von der Regierung eines Mitgliedstaats ernannt werden, für sich genommen nicht geeignet ist, Zweifel wie die in Rn. 200 des vorliegenden Urteils genannten aufkommen zu lassen.
203 Das Gleiche gilt für nationale Bestimmungen, die vorsehen, dass einer Leitungsstelle einer solchen Einrichtung im Fall der Vakanz dieser Stelle nach Ablauf der betreffenden Amtszeit vorläufig mit dem Leiter besetzt wird, dessen Amtszeit abgelaufen ist, bis die Stelle nach Maßgabe des Gesetzes besetzt wird.
204 Gleichwohl ist weiterhin erforderlich, dass die materiellen Voraussetzungen und die Verfahrensmodalitäten für den Erlass von Entscheidungen über die Ernennung solcher Leitungspersonen so gestaltet sind, dass sie den in Rn. 199 dieses Urteils genannten Anforderungen genügen.
205 Insbesondere kann eine nationale Regelung Zweifel wie die in Rn. 200 des vorliegenden Urteils genannten hervorrufen, wenn sie, sei es auch nur vorübergehend, zur Folge hat, dass es der Regierung des betreffenden Mitgliedstaats erlaubt ist, unter Außerachtlassung des im nationalen Recht vorgesehenen ordentlichen Ernennungsverfahrens die Leitungsstellen der Einrichtung zu besetzen, deren Aufgabe die Durchführung von Disziplinaruntersuchungen und die Erhebung von Disziplinarklagen gegen Richter und Staatsanwälte ist.
206 Es ist Sache des vorlegenden Gerichts, unter Berücksichtigung aller relevanten Gesichtspunkte des nationalen rechtlichen und tatsächlichen Kontexts zu prüfen, ob die im Ausgangsverfahren in Rede stehende nationale Regelung zur Folge hatte, dass der nationalen Regierung eine unmittelbare Befugnis zur Besetzung dieser Stellen verliehen wurde und berechtigte Zweifel hinsichtlich einer Verwendung der Befugnisse und Aufgaben der Justizinspektion als Instrument zur Ausübung von Druck auf die Tätigkeit der Richter und Staatsanwälte oder zur Ausübung politischer Kontrolle über diese Tätigkeit hervorrufen konnte.
207 Nach alledem ist auf die dritte Frage in der Rechtssache C‑83/19 zu antworten, dass Art. 2 und Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV sowie die Entscheidung 2006/928 dahin auszulegen sind, dass sie einer von der Regierung eines Mitgliedstaats erlassenen nationalen Regelung, die es diesem erlaubt, Leitungsstellen derjenigen Einrichtung der Justiz, die für die Durchführung von Disziplinarermittlungen und die Erhebung von Disziplinarklagen gegen Richter und Staatsanwälte zuständig ist, ohne Einhaltung des im nationalen Recht vorgesehenen ordentlichen Ernennungsverfahrens vorläufig zu besetzen, entgegenstehen, wenn diese Regelung geeignet ist, berechtigte Zweifel hinsichtlich einer Verwendung der Befugnisse und Aufgaben dieser Einrichtung als Instrument zur Ausübung von Druck auf die Tätigkeit dieser Richter und Staatsanwälte oder zur Ausübung politischer Kontrolle über diese Tätigkeit hervorzurufen.
Zur vierten und zur fünften Frage in der Rechtssache C‑127/19, zur zweiten Frage in der Rechtssache C‑195/19, zur vierten und zur fünften Frage in der Rechtssache C‑291/19 sowie zur dritten und zur vierten Frage in der Rechtssache C‑355/19
208 Mit der vierten und der fünften Frage in der Rechtssache C‑127/19, der zweiten Frage in der Rechtssache C‑195/19, der vierten und der fünften Frage in der Rechtssache C‑291/19 sowie der dritten und der vierten Frage in der Rechtssache C‑355/19, die zusammen zu prüfen sind, möchten die vorlegenden Gerichte wissen, ob Art. 2 und Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV sowie die Entscheidung 2006/928 dahin auszulegen sind, dass sie einer nationalen Regelung entgegenstehen, die die Errichtung einer spezialisierten Abteilung der Staatsanwaltschaft mit ausschließlicher Zuständigkeit für die Untersuchung von durch Richter und Staatsanwälte begangenen Straftaten vorsieht.
209 Die vorlegenden Gerichte sind der Ansicht, dass die Errichtung in Rumänien einer solchen Abteilung, d. h. der AUSJ, der diese ausschließliche Zuständigkeit zugewiesen wird, geeignet sei, einen Druck auf Richter auszuüben, der mit den Garantien nach Art. 2 und Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV sowie Art. 47 der Charta unvereinbar sei. Außerdem verstärkten die Vorschriften über die Zuständigkeit und die Organisation der AUSJ, die Arbeitsweise der AUSJ sowie die Ernennung und Entlassung der dieser zugewiesenen Staatsanwälte diese Befürchtung und seien im Übrigen geeignet, die Bekämpfung von Korruptionsdelikten zu behindern. Schließlich sei die AUSJ in Anbetracht der begrenzten Zahl ihrer Staatsanwälte nicht in der Lage, die bei ihr anhängigen Fälle innerhalb einer angemessenen Frist zu bearbeiten.
210 Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass, wie aus der in Rn. 111 des vorliegenden Urteils angeführten ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs hervorgeht, die Organisation der Justiz, einschließlich der Staatsanwaltschaft, in den Mitgliedstaaten in deren Zuständigkeit unter Beachtung des Unionsrechts fällt.
211 Daher ist, wie in den Rn. 191, 194 und 195 des vorliegenden Urteils ausgeführt, weiterhin wesentlich, dass diese Einrichtung so gestaltet ist, dass die Beachtung der sich aus dem Unionsrecht ergebenden Anforderungen, insbesondere derjenigen der Unabhängigkeit der Gerichte, die über Fragen im Zusammenhang mit der Anwendung oder Auslegung des Unionsrechts zu entscheiden haben, gewährleistet wird, um den Rechtsunterworfenen einen effektiven gerichtlichen Schutz für ihre aus dem Unionsrecht abgeleiteten Rechte zu gewährleisten.
212 Nach der in den Rn. 196 und 197 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung verlangt der Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit die Ausarbeitung von Regeln, die es ermöglichen, bei den Rechtsunterworfenen jeden berechtigten Zweifel an der Unempfänglichkeit von Richtern für äußere Faktoren, insbesondere für unmittelbare oder mittelbare Einflussnahmen durch die Legislative und die Exekutive, die ihre Entscheidungen leiten könnten, auszuräumen, und somit auszuschließen, dass diese Richter den Eindruck vermitteln, nicht unabhängig und unparteiisch zu sein, wodurch das Vertrauen beeinträchtigt werden könnte, das die Justiz in einer demokratischen Gesellschaft und in einem Rechtsstaat bei den Rechtsunterworfenen schaffen muss.
213 Sieht ein Mitgliedstaat spezifische Vorschriften für Strafverfahren gegen Richter und Staatsanwälte vor, wie z. B. die Vorschriften über die Errichtung einer besonderen Abteilung der Staatsanwaltschaft mit ausschließlicher Zuständigkeit für die Untersuchung von durch Richter und Staatsanwälte begangenen Straftaten, so gebietet das Erfordernis der Unabhängigkeit, um bei den Rechtsunterworfenen jeden berechtigten Zweifel im Sinne der vorstehenden Randnummer auszuräumen, dass diese spezifische Vorschriften durch objektive und überprüfbare Erfordernisse einer geordneten Rechtspflege gerechtfertigt sind und dass sie ebenso wie die Vorschriften über die disziplinarische Haftung von Richtern und Staatsanwälten die notwendigen Garantien dafür vorsehen, dass diese Strafverfahren nicht als System der politischen Kontrolle der Tätigkeit dieser Richter und Staatsanwälte verwendet werden können und dass sie die in den Art. 47 und 48 der Charta verankerten Rechte in vollem Umfang gewährleisten.
214 Solche spezifischen Vorschriften dürfen insbesondere nicht dazu führen, dass Richter und Staatsanwälte, die mit Korruptionsfällen betraut sind, äußeren Faktoren, auf die in Rn. 212 des vorliegenden Urteils hingewiesen worden ist, ausgesetzt sind, da andernfalls nicht nur gegen die Anforderungen aus Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV verstoßen würde, sondern im vorliegenden Fall auch gegen die spezifischen Verpflichtungen, die Rumänien nach der Entscheidung 2006/928 im Bereich der Korruptionsbekämpfung obliegen. Des Weiteren dürfen sie nicht dazu führen, dass sich die Dauer der Ermittlungen bei Korruptionsdelikten verlängert oder in irgendeiner anderen Weise die Bekämpfung der Korruption geschwächt wird.
215 Im vorliegenden Fall ist erstens festzustellen, dass der Oberste Richterrat vor dem Gerichtshof zwar geltend gemacht, dass die Errichtung der AUSJ durch die Notwendigkeit gerechtfertigt sei, Richter und Staatsanwälte vor willkürlichen Strafanzeigen zu schützen, doch ergibt sich aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten, dass die Begründung dieses Gesetzes keine Rechtfertigung im Zusammenhang mit zwingenden Erfordernissen der geordneten Rechtspflege erkennen lässt, was jedoch die vorlegenden Gerichte unter Berücksichtigung aller relevanten Gesichtspunkte zu prüfen haben werden.
216 Zweitens ist eine autonome Struktur innerhalb der Staatsanwaltschaft wie die AUSJ, die mit der Untersuchung von durch Richter und Staatsanwälte begangenen Straftaten betraut ist, aufgrund dessen, dass sie nach Maßgabe der Vorschriften über die Zuständigkeit, die Zusammensetzung und die Arbeitsweise einer solchen Struktur sowie des einschlägigen nationalen Kontexts so wahrgenommen werden könnte, dass damit ein Instrument zur Ausübung von Druck auf und zur Einschüchterung von Richtern eingeführt werden soll, und damit der Eindruck erweckt werden könnte, dass diese Richter nicht unabhängig und unparteiisch sind, geeignet, das Vertrauen zu beeinträchtigen, das die Justiz in einer demokratischen Gesellschaft und in einem Rechtsstaat bei den Rechtsunterworfenen schaffen muss.
217 Insoweit geht aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten hervor, dass es genügt, dass bei der AUSJ eine Strafanzeige gegen einen Richter oder einen Staatsanwalt gestellt wird, damit die AUSJ ein Verfahren einleitet, und zwar auch dann, wenn die Anzeige im Rahmen eines laufenden strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens gestellt wird, das eine andere Person als einen Richter oder einen Staatsanwalt betrifft, wobei dieses Verfahren dann unabhängig von der Art der dem Richter oder Staatsanwalt zur Last gelegten Straftat und den gegen ihn angeführten Beweisen auf die AUSJ übertragen wird. Selbst in dem Fall, dass sich die laufende Untersuchung auf eine Straftat bezieht, die in die Zuständigkeit einer anderen spezialisierten Abteilung der Staatsanwaltschaft wie der DNA fällt, wird der Fall ebenfalls auf die AUSJ übertragen, wenn ein Richter oder Staatsanwalt Beschuldigter ist. Schließlich kann die AUSJ gegen Entscheidungen, die vor ihrer Errichtung ergangen sind, Klage erheben oder eine von der DNA, der DIICOT oder dem Generalstaatsanwalt bei einem Obergericht erhobene Klage zurücknehmen.
218 Nach Angaben der vorlegenden Gerichte würde das auf diese Weise geschaffene System es ermöglichen, dass Anzeigen missbräuchlich gestellt werden, u. a. um in sensiblen laufenden Verfahren, insbesondere komplexen und medialisierten Fällen im Zusammenhang mit Korruption auf hoher Ebene oder organisierter Kriminalität, einzugreifen, da die Akte in dem Fall, dass eine solche Anzeige gestellt wird, automatisch in die Zuständigkeit der AUSJ fiele.
219 Aus den dem Gerichtshof vorliegenden Unterlagen und dem Bericht der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat vom 22. Oktober 2019 über Rumäniens Fortschritte im Rahmen des Kooperations- und Kontrollverfahrens (COM[2019] 499 final, S. 5), geht hervor, dass praktische Beispiele aus der Tätigkeit der AUSJ die Verwirklichung der in Rn. 216 des vorliegenden Urteils genannten Gefahr bestätigen, dass diese Abteilung einem Instrument zur Ausübung politischen Drucks gleichkommt und ihre Befugnisse zur Änderung des Ablaufs bestimmter strafrechtlicher Ermittlungen oder gerichtlicher Verfahren, die u. a. Fälle von Korruption auf hoher Ebene betreffen, in einer Weise ausübt, die Zweifel an ihrer Objektivität aufkommen lässt, was die vorlegenden Gerichte gemäß der in Rn. 201 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung zu beurteilen haben werden.
220 In diesem Rahmen werden diese Gerichte außerdem zu prüfen haben, ob die Vorschriften über die Organisation und die Arbeitsweise der AUSJ sowie über die Ernennung und Abberufung der dieser Abteilung zugewiesenen Staatsanwälte nicht – insbesondere unter Berücksichtigung der Änderungen dieser Vorschriften durch Dringlichkeitsverordnungen, mit denen von dem im nationalen Recht vorgesehenen ordentlichen Verfahren abgewichen wird – geeignet sind, diese Abteilung für äußere Einflüsse durchlässig zu machen.
221 Was drittens die in den Art. 47 und 48 der Charta verankerten Rechte betrifft, ist es insbesondere wichtig, dass die Vorschriften über die Organisation und die Arbeitsweise einer spezialisierten Abteilung der Staatsanwaltschaft wie der AUSJ so gestaltet sind, dass sie nicht verhindern, dass die Fälle betroffener Richter und Staatsanwälte innerhalb einer angemessenen Frist verhandelt werden können.
222 Vorbehaltlich einer Überprüfung durch die vorlegenden Gerichte ergibt sich jedoch aus den Angaben dieser Gerichte, dass dies bei der AUSJ möglicherweise nicht der Fall ist, insbesondere aufgrund der kombinierten Wirkung der offenbar sehr geringen Zahl der dieser Abteilung zugewiesenen Staatsanwälte, die im Übrigen wohl weder über die Mittel noch über das Fachwissen verfügen, um Ermittlungen in komplexen Korruptionsfällen durchzuführen, auf der einen und der Arbeitsbelastung, die sich für diese Staatsanwälte aus der Übertragung solcher Fälle von den für deren Behandlung zuständigen Abteilungen ergibt, auf der anderen Seite.
223 Nach alledem ist auf die vierte und die fünfte Frage in der Rechtssache C‑127/19, die zweite Frage in der Rechtssache C‑195/19, die vierte und die fünfte Frage in der Rechtssache C‑291/19 sowie die dritte und die vierte Frage in der Rechtssache C‑355/19, zu antworten, dass Art. 2 und Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV sowie die Entscheidung 2006/928 dahin auszulegen sind, dass sie einer nationalen Regelung entgegenstehen, die die Errichtung einer spezialisierten Abteilung der Staatsanwaltschaft mit ausschließlicher Zuständigkeit für die Untersuchung von durch Richter und Staatsanwälte begangenen Straftaten vorsieht, ohne dass die Errichtung einer solchen Abteilung
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durch objektive und überprüfbare Erfordernisse einer geordneten Rechtspflege gerechtfertigt ist und
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mit besonderen Garantien einhergeht, die es zum einen ermöglichen, jede Gefahr auszuschließen, dass diese Abteilung als ein Instrument zur politischen Kontrolle der Tätigkeit dieser Richter und Staatsanwälte verwendet wird, das deren Unabhängigkeit beeinträchtigen könnte, und zum anderen, sicherzustellen, dass diese Zuständigkeit gegenüber Letztgenannten unter vollumfänglicher Beachtung der sich aus den Art. 47 und 48 der Charta ergebenden Anforderungen wahrgenommen werden kann.
Zur vierten bis zur sechsten Frage in der Rechtssache C‑397/19
224 Mit den Fragen 4 bis 6 in der Rechtssache C‑397/19, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 2 und Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV dahin auszulegen sind, dass sie einer nationalen Regelung entgegenstehen, die die vermögensrechtliche Haftung des Staates und die persönliche Haftung von Richtern für durch einen Justizirrtum verursachte Schäden regelt, wenn diese Regelung
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erstens den Begriff „Justizirrtum“ abstrakt und allgemein definiert;
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zweitens vorsieht, dass die Feststellung des Vorliegens eines Justizirrtums, die im Rahmen des Verfahrens zur Prüfung der vermögensrechtlichen Haftung des Staates ohne Anhörung des betreffenden Richters getroffen worden ist, für das Verfahren zur Prüfung von dessen persönlicher Haftung bindend ist;
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drittens einem Ministerium die Zuständigkeit für die Einleitung der Untersuchung, mit der überprüft werden soll, ob gegen den Richter eine Regressklage zu erheben ist, sowie für die Erhebung dieser Klage auf der Grundlage seiner eigenen Beurteilung zuweist.
225 Insoweit ist zunächst darauf hinzuweisen, dass nach der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden nationalen Regelung das Vorliegen eines Justizirrtums eine der Voraussetzungen sowohl für die vermögensrechtliche Haftung des Staates als auch für die persönliche Haftung des betreffenden Richters darstellt. In Anbetracht der Erfordernisse, die sich aus den Grundsätzen der Rechtsstaatlichkeit und insbesondere der Garantie der richterlichen Unabhängigkeit ergeben, sind die Regelung, die es den Rechtsunterworfenen ermöglicht, den Staat für den ihnen durch einen Justizirrtum entstandenen Schaden haftbar zu machen, und die Regelung über die persönliche Haftung von Richtern wegen eines solchen Justizirrtums im Rahmen einer Regressklage getrennt zu prüfen.
226 Was zum einen die Haftung des Staates für unionsrechtswidrige Gerichtsentscheidungen betrifft, hat der Gerichtshof bereits entschieden, dass nicht ersichtlich ist, dass die Unabhängigkeit eines letztinstanzlichen Gerichts durch die Möglichkeit, diese Haftung unter bestimmten Voraussetzungen feststellen zu lassen, gefährdet würde (Urteil vom 30. September 2003, Köbler, C‑224/01, EU:C:2003:513, Rn. 42).
227 Diese Beurteilung lässt sich entsprechend auf die Möglichkeit übertragen, die Haftung des Staates für Gerichtsentscheidungen feststellen zu lassen, die nach nationalem Recht mit einem Justizirrtum behaftet sind.
228 Der vom vorlegenden Gericht angeführte Umstand, dass die materiellen Voraussetzungen für die Feststellung der Haftung des Staates, insbesondere hinsichtlich der Definition des Begriffs „Justizirrtum“, in der in Rede stehenden nationalen Regelung abstrakt und allgemein formuliert sind, ist für sich genommen ebenfalls nicht geeignet, die richterliche Unabhängigkeit zu gefährden, da eine Regelung dieser Haftung bereits ihrem Wesen nach bei einer solchen Definition abstrakte und allgemeine Kriterien vorsehen muss, die durch die nationale Rechtsprechung zu konkretisieren sind.
229 Was zum anderen die persönliche Haftung von Richtern für Schäden aufgrund eines von ihnen begangenen Justizirrtums betrifft, so ist zu betonen, dass diese Haftungsregelung zur Organisation der Justiz gehört und damit in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten fällt. Insbesondere kann die Möglichkeit für die Behörden eines Mitgliedstaats, diese Haftung im Wege einer Regressklage geltend zu machen, je nach der von den Mitgliedstaaten getroffenen Entscheidung einen Aspekt darstellen, der einen Beitrag zur Verantwortlichkeit und zur Effizienz der Justiz leisten kann. Bei der Ausübung dieser Befugnis müssen die Mitgliedstaaten jedoch das Unionsrecht beachten.
230 Daher ist es, wie in den Rn. 191, 194 und 195 des vorliegenden Urteils ausgeführt, weiterhin wesentlich, dass die Regelung der persönlichen Haftung von Richtern so gestaltet ist, dass die Beachtung der sich aus dem Unionsrecht ergebenden Anforderungen, insbesondere derjenigen der Unabhängigkeit der Gerichte, die über Fragen im Zusammenhang mit der Anwendung oder Auslegung des Unionsrechts zu entscheiden haben, gewährleistet wird, um den Rechtsunterworfenen den nach Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV erforderlichen effektiven gerichtlichen Rechtsschutz zu gewährleisten.
231 So verlangt der Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit nach der in den Rn. 196 und 197 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung das Vorliegen von Garantien, die es ermöglichen, bei den Rechtsunterworfenen jeden berechtigten Zweifel an der Unempfänglichkeit von Richtern für äußere Faktoren, insbesondere für unmittelbare oder mittelbare Einflussnahmen durch die Legislative und die Exekutiven, die ihre Entscheidungen leiten könnten, auszuräumen, und somit auszuschließen, dass diese Richter den Eindruck vermitteln, nicht unabhängig und unparteiisch zu sein, wodurch das Vertrauen beeinträchtigt werden könnte, das die Justiz in einer demokratischen Gesellschaft und in einem Rechtsstaat bei den Rechtsunterworfenen schaffen muss.
232 Insoweit birgt die Anerkennung eines Grundsatzes der persönlichen Haftung von Richtern für die von ihnen begangenen Justizirrtümer die Gefahr eines Eingriffs in die richterliche Unabhängigkeit, da sie die Entscheidungsfindung durch die mit der Aufgabe des Richtens Betrauten beeinflussen kann.
233 Folglich muss die Geltendmachung der persönlichen Haftung eines Richters wegen eines Justizirrtums im Rahmen einer Regressklage auf Ausnahmefälle beschränkt bleiben und durch objektive und überprüfbare Kriterien, die sich aus Erfordernissen einer geordneten Rechtspflege ergeben, sowie durch Garantien beschränkt sein, die darauf abzielen, jegliche Gefahr eines Drucks von außen bezüglich des Inhalts gerichtlicher Entscheidungen zu vermeiden und damit bei den Rechtsunterworfenen jeden berechtigten Zweifel im Sinne von Rn. 231 des vorliegenden Urteils auszuräumen.
234 Hierzu ist es wesentlich, dass Regeln vorgesehen werden, die u. a. die Verhaltensweisen, die die persönliche Haftung von Richtern begründen können, klar und präzise definieren, um die dem Auftrag des Richters inhärente Unabhängigkeit zu gewährleisten und zu verhindern, dass Richter der Gefahr ausgesetzt werden, dass ihre persönliche Haftung allein aufgrund ihrer Entscheidung eintreten kann. Wie der Generalanwalt in den Nrn. 95 und 100 seiner Schlussanträge in der Rechtssache C‑397/19 im Wesentlichen ausgeführt hat, verlangt die Gewährleistung der Unabhängigkeit zwar nicht, dass Richtern eine absolute Immunität bezüglich der in Ausübung ihrer richterlichen Aufgaben vorgenommenen Handlungen gewährt wird, doch darf die persönliche Haftung eines Richters für in Ausübung seiner Amtstätigkeit verursachte Schäden nur in Ausnahmefällen eintreten, in denen seine schwere individuelle Schuld festgestellt worden ist. Insoweit genügt der Umstand, dass eine Entscheidung einen Justizirrtum enthält, für sich allein nicht für den Eintritt der persönlichen Haftung des betreffenden Richters.
235 Was die Modalitäten der Geltendmachung der persönlichen Haftung von Richtern im Rahmen einer Regressklage betrifft, so muss die nationale Regelung klar und präzise die erforderlichen Garantien vorsehen, die gewährleisten, dass weder die Untersuchung, mit der das Vorliegen von Voraussetzungen und Umständen geprüft werden soll, aufgrund deren diese Haftung eintreten kann, noch die Regressklage sich zu Instrumenten zur Ausübung von Druck auf die Rechtsprechungstätigkeit wandeln können.
236 Um zu verhindern, dass diese Modalitäten eine abschreckende Wirkung auf Richter bezüglich der Wahrnehmung ihrer Aufgabe, in völliger Unabhängigkeit zu richten, entfalten können, insbesondere in sensiblen Bereichen wie dem der Korruptionsbekämpfung, ist es, wie die Kommission im Wesentlichen ausgeführt hat, unerlässlich, dass die Behörden, die für die Einleitung und Durchführung der Untersuchung zur Feststellung des Vorliegens der Voraussetzungen und Umstände, die die persönliche Haftung des Richters begründen können, und für die Erhebung der Regressklage zuständig sind, ihrerseits Behörden sind, die bei der Wahrnehmung ihrer Aufgaben objektiv und unparteiisch handeln, und dass die materiellen Voraussetzungen und Verfahrensmodalitäten für die Ausübung dieser Befugnisse so geartet sind, dass sie keine berechtigten Zweifel an der Unparteilichkeit dieser Behörden aufkommen lassen können.
237 Außerdem ist es wichtig, dass die in Art. 47 der Charta verankerten Rechte, insbesondere die Verteidigungsrechte des Richters, in vollem Umfang gewahrt werden, und die Stelle, die für die Entscheidung über die persönliche Haftung des Richters zuständig ist, ein Gericht ist.
238 Im vorliegenden Fall ist es Sache des vorlegenden Gerichts, unter Berücksichtigung aller relevanten Umstände zu prüfen, ob die in den Rn. 233 bis 237 des vorliegenden Urteils genannten Anforderungen erfüllt sind.
239 Von diesen Aspekten kommt, wie sich aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten ergibt, dem Umstand besondere Bedeutung zu, dass im vorliegenden Fall das Vorliegen eines Justizirrtums im Rahmen des gegen den Staat angestrengten Haftungsverfahrens endgültig festgestellt wird und dass diese Feststellung für das durch die Regressklage eingeleitete Verfahren zur Geltendmachung der persönlichen Haftung des betreffenden Richters bindend ist, obwohl dieser im Rahmen des ersten Verfahrens nicht angehört wurde. Eine solche Regel ist nicht nur geeignet, die Gefahr von Druck von außen auf die Tätigkeit von Richtern zu begründen, sondern kann auch deren Verteidigungsrechte beeinträchtigen, was das vorlegende Gericht zu prüfen haben wird.
240 Was im Übrigen die Behörden betrifft, die für die Einleitung und Durchführung des Untersuchungsverfahrens, mit dem überprüft werden soll, ob die Voraussetzungen und Umstände vorliegen, die die persönliche Haftung des betreffenden Richters begründen können, und für die Erhebung einer Regressklage gegen diesen zuständig sind, geht aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten hervor, dass der zu diesem Zweck von der Justizinspektion erstellte Bericht nach der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden nationalen Regelung keine bindende Wirkung hat und es letztlich allein dem Ministerium für öffentliche Finanzen zukommt, auf der Grundlage seiner eigenen Beurteilung zu entscheiden, ob diese Voraussetzungen und Umstände für die Erhebung dieser Regressklage erfüllt sind. Es ist Sache des vorlegenden Gerichts, unter Berücksichtigung aller relevanten Aspekte des nationalen rechtlichen und tatsächlichen Kontexts zu prüfen, ob solche Aspekte, insbesondere in Anbetracht dieses Ermessensspielraums, es ermöglichen können, dass die Regressklage als Instrument zur Ausübung von Druck auf die Rechtsprechungstätigkeit verwendet wird.
241 Nach alledem ist auf die Fragen 4 bis 6 in der Rechtssache C‑397/19 zu antworten, dass Art. 2 und Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV dahin auszulegen sind, dass sie einer nationalen Regelung, die die vermögensrechtliche Haftung des Staates und die persönliche Haftung von Richtern für durch einen Justizirrtum verursachte Schäden regelt und den Begriff „Justizirrtum“ abstrakt und allgemein definiert, nicht entgegenstehen. Allerdings sind diese Bestimmungen auch dahin auszulegen, dass sie einer solchen Regelung entgegenstehen, wenn diese vorsieht, dass die Feststellung des Vorliegens eines Justizirrtums, die im Rahmen des Verfahrens zur Prüfung der vermögensrechtlichen Haftung des Staates ohne Anhörung des betreffenden Richters getroffen worden ist, für das nachfolgende Verfahren im Zusammenhang mit einer Regressklage zur Prüfung von dessen persönlicher Haftung bindend ist, und wenn sie nicht allgemein die Garantien umfasst, die zum einen erforderlich sind, um zu verhindern, dass eine solche Regressklage als Instrument zur Ausübung von Druck auf die Rechtsprechungstätigkeit verwendet wird, und zum anderen, um die Wahrung der Verteidigungsrechte des betreffenden Richters zu gewährleisten, damit bei den Rechtsunterworfenen jeder berechtigte Zweifel an der Unempfänglichkeit von Richtern für äußere Faktoren, die deren Entscheidungen leiten könnten, ausgeräumt wird, und ausgeschlossen ist, dass diese Richter den Eindruck vermitteln, nicht unabhängig und unparteiisch zu sein, wodurch das Vertrauen beeinträchtigt werden könnte, das die Justiz in einer demokratischen Gesellschaft und in einem Rechtsstaat bei den Rechtsunterworfenen schaffen muss.
Zur dritten Frage in der Rechtssache C‑195/19
242 Mit seiner dritten Frage in der Rechtssache C‑195/19 möchte das vorlegende Gericht wissen, ob der Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts dahin auszulegen ist, dass er einer Regelung mit Verfassungsrang eines Mitgliedstaats in der Auslegung durch das Verfassungsgericht dieses Staates entgegensteht, wonach ein untergeordnetes Gericht nicht berechtigt ist, eine in den Anwendungsbereich der Entscheidung 2006/928 fallende nationale Bestimmung, die es im Licht eines Urteils des Gerichtshofs als mit dieser Entscheidung oder mit Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV unvereinbar ansieht, aus eigener Entscheidungsbefugnis unangewendet zu lassen.
243 Das vorlegende Gericht führt aus, dass diese Frage mit der jüngsten Rechtsprechung der Curtea Constituțională (Verfassungsgerichtshof) zusammenhänge, wonach das Unionsrecht, insbesondere die Entscheidung 2006/928, keinen Vorrang vor dem nationalen Verfassungsrecht beanspruchen könne. Nach Ansicht des vorlegenden Gerichts besteht die Gefahr, dass das so von der Curtea Constituțională (Verfassungsgerichtshof) ausgelegte Verfassungsrecht die Anwendung der Erkenntnisse aus dem zu erlassenden Urteil des Gerichtshofs in der Rechtssache C‑195/19 verhindere.
244 Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs besagt der Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts, dass das Unionsrecht dem Recht der Mitgliedstaaten vorgeht. Dieser Grundsatz verpflichtet daher alle mitgliedstaatlichen Stellen, den verschiedenen unionsrechtlichen Vorschriften volle Wirksamkeit zu verschaffen, wobei das Recht der Mitgliedstaaten die diesen verschiedenen Vorschriften zuerkannte Wirkung in ihrem Hoheitsgebiet nicht beeinträchtigen darf (Urteil vom 6. Oktober 2020, La Quadrature du Net u. a., C‑511/18, C‑512/18 und C‑520/18, EU:C:2020:791, Rn. 214 und die dort angeführte Rechtsprechung).
245 Somit kann nach dem Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts die Einheit und die Wirksamkeit des Unionsrechts nicht dadurch beeinträchtigt werden, dass sich ein Mitgliedstaat auf Bestimmungen des nationalen Rechts beruft, auch wenn sie Verfassungsrang haben. Nach ständiger Rechtsprechung sind die Wirkungen des Grundsatzes des Vorrangs des Unionsrechts für alle Einrichtungen eines Mitgliedstaats verbindlich, ohne dass dem insbesondere die innerstaatlichen Bestimmungen über die Verteilung der gerichtlichen Zuständigkeiten, auch wenn sie Verfassungsrang haben, entgegenstehen könnten (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 26. Februar 2013, Melloni, C‑399/11, EU:C:2013:107, Rn. 59, und vom 2. März 2021, A. B. u. a. [Ernennung von Richtern am Obersten Gericht – Rechtsbehelf], C‑824/18, EU:C:2021:153, Rn. 148 und die dort angeführte Rechtsprechung).
246 Hierzu ist insbesondere darauf hinzuweisen, dass der Grundsatz der unionsrechtskonformen Auslegung des innerstaatlichen Rechts, wonach es dem nationalen Gericht obliegt, das nationale Recht so weit wie möglich in Übereinstimmung mit dem Unionsrecht auszulegen, dem System der Verträge immanent ist, da dem nationalen Gericht dadurch ermöglicht wird, im Rahmen seiner Zuständigkeit die volle Wirksamkeit des Unionsrechts sicherzustellen, wenn es über den bei ihm anhängigen Rechtsstreit entscheidet (Urteil vom 24. Juni 2019, Popławski, C‑573/17, EU:C:2019:530, Rn. 55 und die dort angeführte Rechtsprechung).
247 Ebenfalls nach dem Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts ist ein nationales Gericht, das im Rahmen seiner Zuständigkeit die Bestimmungen des Unionsrechts anzuwenden hat und eine nationale Regelung nicht im Einklang mit den Anforderungen des Unionsrechts auslegen kann, verpflichtet, für die volle Wirksamkeit dieser Bestimmungen Sorge zu tragen, indem es erforderlichenfalls jede – auch spätere – entgegenstehende Bestimmung des nationalen Rechts aus eigener Entscheidungsbefugnis unangewendet lässt, ohne dass es ihre vorherige Beseitigung auf gesetzgeberischem Weg oder durch irgendein anderes verfassungsrechtliches Verfahren beantragen oder abwarten müsste (Urteil vom 6. Oktober 2020, La Quadrature du Net u. a., C‑511/18, C‑512/18 und C‑520/18, EU:C:2020:791, Rn. 215 und die dort angeführte Rechtsprechung).
248 Insoweit ist jedes im Rahmen seiner Zuständigkeit angerufene nationale Gericht als Organ eines Mitgliedstaats verpflichtet, jede nationale Bestimmung, die einer Bestimmung des Unionsrechts, die in dem bei ihm anhängigen Rechtsstreit unmittelbare Wirkung hat, entgegensteht, unangewendet zu lassen (Urteile vom 24. Juni 2019, Popławski, C‑573/17, EU:C:2019:530, Rn. 61, und vom 19. November 2019, A. K. u. a. [Unabhängigkeit der Disziplinarkammer des Obersten Gerichtshofs], C‑585/18, C‑624/18 und C‑625/18, EU:C:2019:982, Rn. 161).
249 Im vorliegenden Fall verpflichtet die Entscheidung 2006/928, die konkret Gegenstand der Erwägungen der Curtea Constituțională (Verfassungsgerichtshof) ist, auf die das vorlegende Gericht Bezug nimmt, Rumänien, wie in Rn. 172 des vorliegenden Urteils ausgeführt, die darin genannten Vorgaben alsbald zu erreichen. Da diese Ziele klar und präzise formuliert und an keine Bedingung geknüpft sind, haben sie unmittelbare Wirkung.
250 Außerdem ist das vorlegende Gericht in Anbetracht dessen, dass Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV den Mitgliedstaaten eine klare und präzise Ergebnispflicht auferlegt, die in Bezug auf die Unabhängigkeit, die die zur Auslegung und Anwendung des Unionsrechts berufenen Gerichte aufweisen müssen, unbedingt ist (Urteil vom 2. März 2021, A. B. u. a. [Ernennung von Richtern am Obersten Gericht – Rechtsbehelf], C‑824/18, EU:C:2021:153, Rn. 146), auch verpflichtet, im Rahmen seiner Zuständigkeiten in Anbetracht der Erwägungen in den Rn. 208 bis 223 des vorliegenden Urteils die volle Wirksamkeit dieser Bestimmung zu gewährleisten, indem es erforderlichenfalls jede dieser entgegenstehende nationale Bestimmung unangewendet lässt.
251 Somit verlangt der Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts im Fall eines erwiesenen Verstoßes gegen Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV oder die Entscheidung 2006/928, dass das vorlegende Gericht die betreffenden Bestimmungen unabhängig davon, ob sie gesetzlicher oder verfassungsrechtlicher Natur sind, unangewendet lässt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 2. März 2021, A. B. u. a. [Ernennung von Richtern am Obersten Gericht – Rechtsbehelf], C‑824/18, EU:C:2021:153, Rn. 150 und die dort angeführte Rechtsprechung).
252 Nach alledem ist auf die dritte Frage in der Rechtssache C‑195/19 zu antworten, dass der Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts dahin auszulegen ist, dass er einer Regelung mit Verfassungsrang eines Mitgliedstaats in der Auslegung durch das Verfassungsgericht dieses Staates entgegensteht, wonach ein untergeordnetes Gericht nicht berechtigt ist, eine in den Anwendungsbereich der Entscheidung 2006/928 fallende nationale Bestimmung, die es im Licht eines Urteils des Gerichtshofs als mit dieser Entscheidung oder mit Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV unvereinbar ansieht, aus eigener Entscheidungsbefugnis unangewendet zu lassen.
Kosten
253 Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in den bei den vorlegenden Gerichten anhängigen Verfahren; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieser Gerichte. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Große Kammer) für Recht erkannt:
1. Die Entscheidung 2006/928/EG der Kommission vom 13. Dezember 2006 zur Einrichtung eines Verfahrens für die Zusammenarbeit und die Überprüfung der Fortschritte Rumäniens bei der Erfüllung bestimmter Vorgaben in den Bereichen Justizreform und Korruptionsbekämpfung sowie die von der Europäischen Kommission auf der Grundlage dieser Entscheidung erstellten Berichte stellen Handlungen eines Organs der Union dar, die vom Gerichtshof nach Art. 267 AEUV ausgelegt werden können.
2. Die Art. 2, 37 und 38 der Akte über die Bedingungen des Beitritts der Republik Bulgarien und Rumäniens und die Anpassungen der Verträge, auf denen die Europäische Union beruht in Verbindung mit den Art. 2 und 49 EUV sind dahin auszulegen, dass die Entscheidung 2006/928, was ihre Rechtsnatur, ihren Inhalt und ihre zeitlichen Wirkungen anbelangt, in den Anwendungsbereich des Vertrags zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union und der Republik Bulgarien und Rumänien über den Beitritt der Republik Bulgarien und Rumäniens zur Europäischen Union fällt. Diese Entscheidung ist, solange sie nicht aufgehoben worden ist, für Rumänien in allen ihren Teilen verbindlich. Die in ihrem Anhang aufgeführten Vorgaben sollen sicherstellen, dass dieser Mitgliedstaat den in Art. 2 EUV genannten Wert der Rechtsstaatlichkeit beachtet, und sind für diesen Mitgliedstaat in dem Sinne verbindlich, dass er verpflichtet ist, die zur Erreichung dieser Vorgaben geeigneten Maßnahmen zu ergreifen, wobei er gemäß dem in Art. 4 Abs. 3 EUV genannten Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit die von der Kommission auf der Grundlage dieser Entscheidung erstellten Berichte, insbesondere die in diesen Berichten formulierten Empfehlungen, gebührend zu berücksichtigen hat.
3. Die Regelungen über die Organisation der Justiz in Rumänien wie die über die vorläufige Ernennung auf Leitungsstellen der Justizinspektion und die Errichtung einer mit der Untersuchung von Straftaten innerhalb der Justiz betrauten Abteilung der Staatsanwaltschaft fallen in den Anwendungsbereich der Entscheidung 2006/928, so dass sie die Anforderungen erfüllen müssen, die sich aus dem Unionsrecht und insbesondere aus dem in Art. 2 EUV genannten Wert der Rechtsstaatlichkeit ergeben.
4. Art. 2 und Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV sowie die Entscheidung 2006/928 sind dahin auszulegen, dass sie einer von der Regierung eines Mitgliedstaats erlassenen nationalen Regelung, die es diesem erlaubt, Leitungsstellen derjenigen Einrichtung der Justiz, die für die Durchführung von Disziplinarermittlungen und die Erhebung von Disziplinarklagen gegen Richter und Staatsanwälte zuständig ist, ohne Einhaltung des im nationalen Recht vorgesehenen ordentlichen Ernennungsverfahrens vorläufig zu besetzen, entgegenstehen, wenn diese Regelung geeignet ist, berechtigte Zweifel hinsichtlich einer Verwendung der Befugnisse und Aufgaben dieser Einrichtung als Instrument zur Ausübung von Druck auf die Tätigkeit dieser Richter und Staatsanwälte oder zur Ausübung politischer Kontrolle über diese Tätigkeit hervorzurufen.
5. Art. 2 und Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV sowie die Entscheidung 2006/928 sind dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Regelung entgegenstehen, die die Errichtung einer spezialisierten Abteilung der Staatsanwaltschaft mit ausschließlicher Zuständigkeit für die Untersuchung von durch Richter und Staatsanwälten begangenen Straftaten vorsieht, ohne dass die Errichtung einer solchen Abteilung
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durch objektive und überprüfbare Erfordernisse einer geordneten Rechtspflege gerechtfertigt ist und
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mit besonderen Garantien einhergeht, die es zum einen ermöglichen, jede Gefahr auszuschließen, dass diese Abteilung als ein Instrument zur politischen Kontrolle der Tätigkeit dieser Richter und Staatsanwälte verwendet wird, das deren Unabhängigkeit beeinträchtigen könnte, und zum anderen, sicherzustellen, dass diese Zuständigkeit gegenüber Letztgenannten unter vollumfänglicher Beachtung der sich aus den Art. 47 und 48 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union ergebenden Anforderungen wahrgenommen werden kann.
6. Art. 2 und Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV sind dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Regelung, die die vermögensrechtliche Haftung des Staates und die persönliche Haftung von Richtern für durch einen Justizirrtum verursachte Schäden regelt und den Begriff „Justizirrtum“ abstrakt und allgemein definiert, nicht entgegenstehen. Allerdings sind diese Bestimmungen auch dahin auszulegen, dass sie einer solchen Regelung entgegenstehen, wenn diese vorsieht, dass die Feststellung des Vorliegens eines Justizirrtums, die im Rahmen des Verfahrens zur Prüfung der vermögensrechtlichen Haftung des Staates ohne Anhörung des betreffenden Richters getroffen worden ist, für das nachfolgende Verfahren im Zusammenhang mit einer Regressklage zur Prüfung von dessen persönlicher Haftung bindend ist, und wenn sie nicht allgemein die Garantien umfasst, die zum einen erforderlich sind, um zu verhindern, dass eine solche Regressklage als Instrument zur Ausübung von Druck auf die Rechtsprechungstätigkeit verwendet wird, und zum anderen, um die Wahrung der Verteidigungsrechte des betreffenden Richters zu gewährleisten, damit bei den Rechtsunterworfenen jeder berechtigte Zweifel an der Unempfänglichkeit von Richtern für äußere Faktoren, die deren Entscheidungen leiten könnten, ausgeräumt wird, und ausgeschlossen ist, dass diese Richter den Eindruck vermitteln, nicht unabhängig und unparteiisch zu sein, wodurch das Vertrauen beeinträchtigt werden könnte, das die Justiz in einer demokratischen Gesellschaft und in einem Rechtsstaat bei den Rechtsunterworfenen schaffen muss.
7. Der Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts ist dahin auszulegen, dass er einer Regelung mit Verfassungsrang eines Mitgliedstaats in der Auslegung durch das Verfassungsgericht dieses Staates entgegensteht, wonach ein untergeordnetes Gericht nicht berechtigt ist, eine in den Anwendungsbereich der Entscheidung 2006/928 fallende nationale Bestimmung, die es im Licht eines Urteils des Gerichtshofs als mit dieser Entscheidung oder mit Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV unvereinbar ansieht, aus eigener Entscheidungsbefugnis unangewendet zu lassen.
Unterschriften
(*1) Verfahrenssprache: Rumänisch.
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Urteil des Gerichtshofs (Große Kammer) vom 20. April 2021.#Repubblika gegen Il-Prim Ministru.#Vorabentscheidungsersuchen der Prim’Awla tal-Qorti Ċivili - Ġurisdizzjoni Kostituzzjonali.#Vorlage zur Vorabentscheidung – Art. 2 EUV – Werte der Europäischen Union – Rechtsstaatlichkeit – Art. 49 EUV – Beitritt zur Union – Nichtabsenkung des Schutzniveaus für die Werte der Union – Wirksamer gerichtlicher Rechtsschutz – Art. 19 EUV – Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Anwendungsbereich – Unabhängigkeit der Richter eines Mitgliedstaats – Ernennungsverfahren – Befugnisse des Premierministers – Mitwirkung eines Ausschusses für Ernennungen im Justizwesen.#Rechtssache C-896/19.
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62019CJ0896
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ECLI:EU:C:2021:311
| 2021-04-20T00:00:00 |
Gerichtshof, Hogan
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Sammlung der Rechtsprechung – allgemein – Abschnitt „Informationen über nicht veröffentlichte Entscheidungen“
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62019CJ0896
URTEIL DES GERICHTSHOFS (Große Kammer)
20. April 2021 (*1)
„Vorlage zur Vorabentscheidung – Art. 2 EUV – Werte der Europäischen Union – Rechtsstaatlichkeit – Art. 49 EUV – Beitritt zur Union – Nichtabsenkung des Schutzniveaus für die Werte der Union – Wirksamer gerichtlicher Rechtsschutz – Art. 19 EUV – Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Anwendungsbereich – Unabhängigkeit der Richter eines Mitgliedstaats – Ernennungsverfahren – Befugnisse des Premierministers – Mitwirkung eines Ausschusses für Ernennungen im Justizwesen“
In der Rechtssache C‑896/19
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Prim’Awla tal-Qorti Ċivili – Ġurisdizzjoni Kostituzzjonali (Erste Kammer des Zivilgerichts als Verfassungsgericht, Malta) mit Entscheidung vom 25. November 2019, beim Gerichtshof eingegangen am 5. Dezember 2019, in dem Verfahren
Repubblika
gegen
Il-Prim Ministru,
Beteiligter:
WY,
erlässt
DER GERICHTSHOF (Große Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten K. Lenaerts, der Vizepräsidentin R. Silva de Lapuerta, des Kammerpräsidenten A. Arabadjiev, der Kammerpräsidentin A. Prechal, der Kammerpräsidenten M. Vilaras, M. Ilešič und N. Piçarra, der Richterin C. Toader, der Richter M. Safjan, S. Rodin und F. Biltgen, der Richterin K. Jürimäe, der Richter C. Lycourgos und P. G. Xuereb sowie der Richterin L. S. Rossi (Berichterstatterin),
Generalanwalt: G. Hogan,
Kanzler: C. Strömholm, Verwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 27. Oktober 2020,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
–
von Repubblika, vertreten durch J. Azzopardi, avukat, S. Busuttil, advocate, und T. Comodini Cachia, avukat,
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der maltesischen Regierung, vertreten durch V. Buttigieg und A. Buhagiar als Bevollmächtigte im Beistand von D. Sarmiento Ramirez-Escudero und V. Ferreres Comella, abogados,
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der belgischen Regierung, vertreten durch C. Pochet, M. Jacobs und L. Van den Broeck als Bevollmächtigte,
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der niederländischen Regierung, vertreten durch M. K. Bulterman und C. S. Schillemans als Bevollmächtigte,
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der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna und S. Żyrek als Bevollmächtigte,
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der schwedischen Regierung, vertreten durch C. Meyer-Seitz, H. Shev, H. Eklinder, R. Shahsavan Eriksson, A. M. Runeskjöld, M. Salborn Hodgson, O. Simonsson und J. Lundberg als Bevollmächtigte,
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der Europäischen Kommission, zunächst vertreten durch K. Mifsud-Bonnici, P. J. O. Van Nuffel, H. Krämer und J. Aquilina, dann durch K. Mifsud-Bonnici, P. J. O. Van Nuffel und J. Aquilina als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 17. Dezember 2020
folgendes
Urteil
1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 19 EUV und Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta).
2 Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Repubblika, einem in Malta als juristische Person eingetragenen Verein, dessen Ziel es ist, den Schutz von Gerechtigkeit und Rechtsstaatlichkeit in diesem Mitgliedstaat zu fördern, und Il-Prim Ministru (Premierminister, Malta) bezüglich einer Popularklage, mit der insbesondere in Frage gestellt wird, ob die Bestimmungen der maltesischen Verfassung (im Folgenden: Verfassung) über das Richterernennungsverfahren mit dem Unionsrecht vereinbar sind.
Rechtlicher Rahmen
3 Die Verfassung enthält in Kapitel VIII Vorschriften über das Richteramt, darunter solche über das Richterernennungsverfahren.
4 In diesem Kapitel VIII sieht Art. 96 der Verfassung vor:
„(1) Die Imħallfin (Richter an den Obergerichten) werden vom Präsidenten der Republik entsprechend dem Rat des Premierministers ernannt.
(2) Zur Ernennung als Richter an den Obergerichten ist nur qualifiziert, wer über einen Zeitraum von mindestens zwölf Jahren oder über mehrere Zeiträume von insgesamt mindestens zwölf Jahren in Malta eine Tätigkeit als Rechtsanwalt oder das Amt eines Maġistrat (Richter an den Untergerichten) oder auch beide Berufe nacheinander ausgeübt hat.
(3) Unbeschadet der Bestimmungen in Abs. 4 muss die von dem durch Art. 96A der Verfassung eingerichteten Ausschuss für Ernennungen im Justizwesen vorzunehmende Beurteilung gemäß Art. 96A Abs. 6 Buchst. c, d oder e vorgenommen worden sein, bevor der Premierminister gemäß Abs. 1 seinen Rat bezüglich der Ernennung eines Richters an den Obergerichten (mit Ausnahme des Prim Imħallef [Oberster Richter]) erteilt.
(4) Ungeachtet der Bestimmungen in Abs. 3 ist der Premierminister berechtigt, sich dafür zu entscheiden, sich nicht an das Ergebnis der in Abs. 3 genannten Beurteilung zu halten:
Sofern der Premierminister von der ihm durch diesen Absatz eingeräumten Befugnis Gebrauch gemacht hat, hat der Premierminister oder der Ministru responsabbli għall-ġustizzja (Justizminister):
a)
innerhalb von fünf Tagen in der Gazzetta tal-Gvern ta’ Malta eine Erklärung zu veröffentlichen, die die Bekanntgabe der Entscheidung, von dieser Befugnis Gebrauch zu machen, und die Gründe für diese Entscheidung enthält, sowie
b)
in der Kamra tad-Deputati (Repräsentantenhaus) eine Erklärung zu der betreffenden Entscheidung abzugeben, in der die Gründe, auf denen die Entscheidung beruht, erläutert werden, und zwar spätestens in der zweiten Sitzung des Repräsentantenhauses nach dem Zeitpunkt, zu dem dem Präsidenten der Republik der Rat gemäß Abs. 1 erteilt wurde:
Die erste Bedingung dieses Absatzes findet jedoch im Fall der Ernennung des Obersten Richters keine Anwendung.“
5 In Art. 96A der Verfassung heißt es:
„(1) Es wird ein Ausschuss für Ernennungen im Justizwesen eingerichtet, in diesem Artikel als ‚Ausschuss‘ bezeichnet, der als Unterausschuss der durch Art. 101A der Verfassung eingerichteten Kummissjoni għall-Amministrazzjoni tal-ġustizzja (höherer Justizrat) aus folgenden Mitgliedern besteht:
a)
dem Obersten Richter;
b)
dem Avukat Ġenerali (Generalstaatsanwalt);
c)
dem Awditur Ġenerali (Generalrechnungsprüfer);
d)
dem Kummissarju għall-Investigazzjonijiet Amministrattivi (Kommissar für Verwaltungsuntersuchungen) (Bürgerbeauftragter) sowie
e)
dem Präsidenten der Kamra tal-Avukati (Rechtsanwaltskammer):
…
(2) Der Vorsitz im Ausschuss wird vom Obersten Richter oder, in dessen Abwesenheit, von dem Richter geführt, der ihn gemäß Abs. 3 Buchst. d vertritt.
(3) a)
Eine Person kann nicht zum Mitglied des Ausschusses bestellt werden oder ihr Amt als Mitglied des Ausschusses weiter innehaben, wenn sie Minister, Parlamentarischer Staatssekretär, Mitglied des Repräsentantenhauses, Mitglied eines Gemeinderats oder Funktionär oder Kandidat einer politischen Partei ist:
…
(4) Bei der Wahrnehmung ihrer Aufgaben handeln die Mitglieder des Ausschusses nach ihrem eigenen Urteil und unterliegen dabei keinerlei Weisung oder Kontrolle durch irgendeine Person oder Stelle.
…
(6) Die Aufgaben des Ausschusses sind:
a)
Interessensbekundungen von Personen entgegenzunehmen und zu prüfen, die daran interessiert sind, zum Richter an den Obergerichten (mit Ausnahme des Amtes des Obersten Richters) oder zum Richter an den Untergerichten ernannt zu werden, mit Ausnahme der Personen, auf die Buchst. e Anwendung findet;
b)
ein ständiges Register der in Buchst. a genannten Interessensbekundungen und der hierauf bezogenen Handlungen zu führen, das geheim zu halten ist und nur den Mitgliedern des Ausschusses, dem Premierminister und dem Justizminister zugänglich sein darf;
c)
Bewerbungsgespräche zu führen und Beurteilungen der Kandidaten für die vorgenannten Ämter vorzunehmen, so wie er dies für angemessen hält, sowie zu diesem Zweck Informationen bei staatlichen Stellen anzufordern, die er für nach vernünftigem Ermessen erforderlich hält;
d)
den Premierminister über den Justizminister bezüglich der von ihm vorgenommenen Beurteilung der Befähigung und Eignung der Kandidaten für die vorgenannten Ämter zu beraten;
e)
den Premierminister auf dessen Verlangen über die Befähigung und Eignung von Personen, die bereits das Amt des Generalstaatsanwalts, des Generalrechnungsprüfers, des Kommissars für Verwaltungsuntersuchungen oder eines Richters an den Untergerichten innehaben, im Hinblick auf die Ernennung in ein Richteramt zu beraten;
f)
den Justizminister auf dessen jederzeit mögliche Anforderung bezüglich der Ernennung in jedes sonstige Richteramt oder Amt bei den Gerichten zu beraten:
Die in Buchst. d genannte Beurteilung ist nicht später als sechzig Tage nach Zugang der Interessensbekundung beim Ausschuss vorzunehmen, und die in den Buchst. e und f genannte Beratung ist nicht später als dreißig Tage nach ihrer Anforderung oder innerhalb der Fristen zu tätigen, die vom Justizminister im Einvernehmen mit dem Ausschuss durch Anordnung in der Gazzetta tal-Gvern ta’ Malta gesetzt werden können.
(7) Die Tätigkeit des Ausschusses ist vertraulich und findet unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt; kein Mitglied oder Sekretär des Ausschusses darf geladen werden, um als Zeuge vor einem Gericht oder einer sonstigen Stelle über Dokumente, die dem Ausschuss zugegangen sind, oder Angelegenheiten, die von ihm erörtert wurden oder an ihn oder von ihm mitgeteilt wurden, auszusagen.
(8) Der Ausschuss regelt sein eigenes Verfahren und ist verpflichtet, im Einvernehmen mit dem Justizminister die Kriterien zu veröffentlichen, nach denen er seine Beurteilungen vornimmt.“
6 Art. 97 der Verfassung bestimmt:
„(1) Vorbehaltlich der Bestimmungen dieses Artikels scheidet ein Richter an den Obergerichten mit Vollendung des 65. Lebensjahrs aus dem Amt aus.
(2) Ein Richter an den Obergerichten kann nur durch den Präsidenten der Republik seines Amtes enthoben werden, sofern dies mit einem Antrag des Repräsentantenhauses, dem mindestens zwei Drittel aller seiner Mitglieder zugestimmt haben, gefordert wird, weil der Richter (wegen körperlicher oder geistiger Gebrechen oder anderer Ursachen) erwiesenermaßen unfähig ist, die Aufgaben seines Amtes wahrzunehmen, oder weil erwiesenermaßen ein Fehlverhalten seinerseits vorliegt.
(3) Das Parlament kann durch Gesetz das Verfahren für die Vorlage eines Antrags sowie für die Untersuchung und den Nachweis der Amtsunfähigkeit oder des Fehlverhaltens eines Richters an den Obergerichten gemäß den Bestimmungen des vorstehenden Absatzes festlegen.“
7 Art. 100 der Verfassung sieht vor:
„(1) Die Richter an den Untergerichten werden vom Präsidenten der Republik entsprechend dem Rat des Premierministers ernannt.
(2) Für eine Ernennung zum Richter an den Untergerichten ist nur qualifiziert, wer über einen Zeitraum von mindestens sieben Jahren oder über mehrere Zeiträume von insgesamt mindestens sieben Jahren eine Tätigkeit als Rechtsanwalt in Malta ausgeübt hat.
(3) Vorbehaltlich der Bestimmungen von Abs. 4 scheidet ein Richter an den Untergerichten mit Vollendung des 65. Lebensjahrs aus dem Amt aus.
(4) Die Bestimmungen von Art. 97 Abs. 2 und 3 der Verfassung finden auf die Richter an den Untergerichten entsprechende Anwendung.
(5) Unbeschadet der Bestimmungen in Abs. 6 muss die von dem durch Art. 96A der Verfassung eingerichteten Ausschuss für Ernennungen im Justizwesen vorzunehmende Beurteilung gemäß Art. 96A Abs. 6 Buchst. c, d oder e vorgenommen worden sein, bevor der Premierminister gemäß Abs. 1 seinen Rat bezüglich der Ernennung eines Richters an den Untergerichten erteilt.
(6) Ungeachtet der Bestimmungen in Abs. 5 ist der Premierminister berechtigt, sich dafür zu entscheiden, sich nicht an das Ergebnis der in Abs. 5 genannten Beurteilung zu halten:
Sofern der Premierminister von der ihm durch diesen Absatz eingeräumten Befugnis Gebrauch gemacht hat, hat der Premierminister oder der Justizminister:
a)
innerhalb von fünf Tagen in der Gazzetta tal-Gvern ta’ Malta eine Erklärung zu veröffentlichen, die die Bekanntgabe der Entscheidung, von dieser Befugnis Gebrauch zu machen, und die Gründe für diese Entscheidung enthält, sowie
b)
im Repräsentantenhaus eine Erklärung zu der betreffenden Entscheidung abzugeben, in der die Gründe, auf denen die Entscheidung beruht, erläutert werden, und zwar spätestens in der zweiten Sitzung des Repräsentantenhauses nach dem Zeitpunkt, zu dem dem Präsidenten der Republik der Rat gemäß Abs. 1 erteilt wurde.“
8 Art. 101B Abs. 1 der Verfassung bestimmt:
„Es wird ein Ausschuss für die Richter an den Obergerichten und den Untergerichten … eingerichtet, der als Unterausschuss des höheren Justizrats aus drei Mitgliedern der Richterschaft besteht, die nicht Mitglied des höheren Justizrats sind und die gemäß den vom höheren Justizrat erlassenen Regeln aus der Mitte der Richter an den Obergerichten und den Untergerichten gewählt werden, wobei jedoch in Disziplinarverfahren gegen einen Richter an den Untergerichten zwei der drei Mitglieder Richter an den Untergerichten und in Disziplinarverfahren gegen einen Richter an den Obergerichten zwei der drei Mitglieder Richter an den Obergerichten sein müssen.“
Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefragen
9 Repubblika erhob am 25. April 2019 gemäß Art. 116 der Verfassung beim vorlegenden Gericht eine als Popularklage eingestufte Klage mit dem Antrag, festzustellen, dass die Republik Malta mit ihrem derzeitigen System der Richterernennung, wie es in den Art. 96, 96A und 100 der Verfassung geregelt ist, gegen ihre Verpflichtungen insbesondere aus Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV in Verbindung mit Art. 47 der Charta verstößt. Ferner beantragt Repubblika, dass jede Richterernennung, die nach dem derzeitigen System und während des mit der Popularklage eingeleiteten Verfahrens erfolgt, für nichtig und unwirksam erklärt wird und keine weiteren Richterernennungen vorgenommen werden, es sei denn, diese stehen mit den Empfehlungen in der Stellungnahme Nr. 940/2018 der Europäischen Kommission für Demokratie durch Recht (im Folgenden: Venedig-Kommission) vom 17. Dezember 2018 zu den verfassungsrechtlichen Bestimmungen, der Gewaltenteilung, der Unabhängigkeit der Justiz und der Strafverfolgung in Malta (CDL-AD [2018]028) sowie mit Art. 19 Abs. 1 EUV und Art. 47 der Charta im Einklang.
10 Zur Stützung ihres Antrags macht Repubblika geltend, das dem Premierminister nach den Art. 96, 96A und 100 der Verfassung bei der Richterernennung zustehende Ermessen werfe Zweifel an der richterlichen Unabhängigkeit auf. Insoweit sei hervorzuheben, dass etliche der seit 2013 ernannten Richter sehr aktiv im gegenwärtig regierenden Partit laburista (Arbeiterpartei) gewesen seien oder auf solche Weise ernannt worden seien, dass der Verdacht einer politischen Einflussnahme auf die Justiz bestehe.
11 Repubblika stellt klar, sie wende sich konkret gegen alle Ernennungen vom 25. April 2019, mit denen drei Richter an den Untergerichten zu Richtern an den Obergerichten sowie drei neue Richter an den Untergerichten ernannt worden seien (im Folgenden: Ernennungen vom 25. April 2019), und gegen jede etwaige spätere Ernennung. Diese Ernennungen seien unter Missachtung der Stellungnahme Nr. 940/2018 der Venedig-Kommission vom 17. Dezember 2018 erfolgt.
12 Der Premierminister ist dagegen der Ansicht, dass die Ernennungen vom 25. April 2019 mit der Verfassung und dem Unionsrecht vereinbar seien. Es bestehe kein Unterschied zwischen diesen Ernennungen und jeder anderen Richterernennung, die seit der Verkündung der Verfassung im Jahr 1964 erfolgt sei, mit Ausnahme der Tatsache, dass im Unterschied zu den vor 2016 erfolgten Ernennungen die Eignung der 2019 vorgeschlagenen Kandidaten für die fraglichen Ämter von dem durch Art. 96A der Verfassung eingerichteten Ausschuss für Ernennungen im Justizwesen geprüft worden sei. Somit beträfen die von Repubblika vorgebrachten Argumente letztlich jede bislang erfolgte Richterernennung.
13 Nach Auffassung des Premierministers genügt das fragliche Ernennungsverfahren den Anforderungen von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV und Art. 47 der Charta in der Auslegung durch den Gerichtshof.
14 Das vorlegende Gericht führt aus, dass im vorliegenden Fall der Aspekt, der vom Gerichtshof unter dem Blickwinkel von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV und Art. 47 der Charta geprüft werden sollte, das dem Premierminister durch die Art. 96, 96A und 100 der Verfassung eingeräumte Ermessen im Richterernennungsverfahren betreffe. Außerdem stelle sich die Frage, ob die Verfassungsänderung von 2016 zu einer Verbesserung des fraglichen Verfahrens geführt habe.
15 Unter diesen Umständen hat die Prim’Awla tal-Qorti Ċivili – Ġurisdizzjoni Kostituzzjonali (Erste Kammer des Zivilgerichts als Verfassungsgericht, Malta) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
1. Ist davon auszugehen, dass Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV und Art. 47 der Charta, sei es separat oder in Verbindung miteinander gelesen, in Bezug auf die Rechtsgültigkeit der Art. 96, 96A und 100 der Verfassung anwendbar sind?
2. Falls die erste Frage bejaht wird: Ist davon auszugehen, dass die Befugnisse des Premierministers im Verfahren zur Ernennung der Mitglieder der Richterschaft in Malta mit Art. 19 Abs. 1 EUV und Art. 47 der Charta, auch unter Berücksichtigung des 2016 in Kraft getretenen Art. 96A der Verfassung, im Einklang stehen?
3. Falls die Befugnisse des Premierministers für nicht vereinbar befunden werden: Ist diese Tatsache bei künftigen Ernennungen zu berücksichtigen oder betrifft sie auch bisherige Ernennungen?
Antrag auf beschleunigtes Verfahren und Verfahren vor dem Gerichtshof
16 In ihrer Vorlageentscheidung hat die Prim’Awla tal-Qorti Ċivili – Ġurisdizzjoni Kostituzzjonali (Erste Kammer des Zivilgerichts als Verfassungsgericht) beantragt, das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen gemäß Art. 105 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs einem beschleunigten Verfahren zu unterwerfen.
17 Zur Stützung seines Antrags hat das vorlegende Gericht im Wesentlichen geltend gemacht, dass die Fragen, um die es in der vorliegenden Rechtssache gehe, von nationalem Interesse seien, da ihre Beantwortung sowohl die Rechtssicherheit in Bezug auf gerichtliche Entscheidungen, die bereits von verschiedenen maltesischen Gerichten, darunter auch von den im April 2019 ernannten Richtern, erlassen worden seien, als auch die Grundlagen und die Kontinuität des maltesischen Gerichtssystems beeinträchtigen könne. Hinzu komme, dass in naher Zukunft mehrere Richter das Ruhestandsalter erreichten und während des vorliegenden Verfahrens, wenn diese Richter nicht durch andere ersetzt würden, der aus dieser Situation entstehende Druck auf die Tätigkeit der im Amt verbleibenden Richter sich als nachteilig für das Grundrecht auf ein faires Verfahren innerhalb angemessener Frist erweisen könnte.
18 Art. 105 Abs. 1 der Verfahrensordnung sieht vor, dass der Präsident des Gerichtshofs auf Antrag des vorlegenden Gerichts oder ausnahmsweise von Amts wegen, nach Anhörung des Berichterstatters und des Generalanwalts, entscheiden kann, eine Vorlage zur Vorabentscheidung einem beschleunigten Verfahren zu unterwerfen, wenn die Art der Rechtssache ihre rasche Erledigung erfordert.
19 Insoweit ist daran zu erinnern, dass ein solches beschleunigtes Verfahren ein Verfahrensinstrument ist, mit dem auf eine außerordentliche Dringlichkeitssituation reagiert werden soll (Urteil vom 2. März 2021, A.B. u. a. [Ernennung von Richtern am Obersten Gericht – Rechtsbehelf], C‑824/18, EU:C:2021:153, Rn. 48).
20 Außerdem geht aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs auch hervor, dass das beschleunigte Verfahren keine Anwendung finden kann, wenn die Sensibilität und die Komplexität der durch einen Fall aufgeworfenen rechtlichen Fragen kaum mit der Anwendung des beschleunigten Verfahrens zu vereinbaren sind, insbesondere, wenn es nicht angebracht erscheint, das schriftliche Verfahren vor dem Gerichtshof zu verkürzen (Urteil vom 2. März 2021, A.B. u. a. [Ernennung von Richtern am Obersten Gericht – Rechtsbehelf], C‑824/18, EU:C:2021:153, Rn. 49).
21 Im vorliegenden Fall hat der Präsident des Gerichtshofs am 19. Dezember 2019 nach Anhörung der Berichterstatterin und des Generalanwalts entschieden, den in Rn. 16 des vorliegenden Urteils genannten Antrag des vorlegenden Gerichts zurückzuweisen.
22 Erstens ist das vorlegende Gericht nämlich selbst davon ausgegangen, dass das Ausgangsverfahren nicht so dringlich sei, dass es den Erlass einstweiliger Anordnungen rechtfertige. Zweitens ist die Erheblichkeit der Auswirkungen auf das maltesische Justizsystem, die das Urteil des Gerichtshofs in der vorliegenden Rechtssache haben könnte, als solche kein Grund, aus dem sich die für eine beschleunigte Behandlung erforderliche Dringlichkeit ergibt. Drittens wirft die vorliegende Rechtssache sensible und komplexe Fragen auf, die es gerechtfertigt haben, nicht von den gewöhnlichen Verfahrensvorschriften über Vorabentscheidungsersuchen abzuweichen.
23 Am selben Tag hat der Präsident des Gerichtshofs auch entschieden, die vorliegende Rechtssache gemäß Art. 53 Abs. 3 der Verfahrensordnung mit Vorrang zu behandeln.
24 In der mündlichen Verhandlung am 27. Oktober 2020 ist dem Gerichtshof mitgeteilt worden, dass im Juli 2020 im Anschluss an die von der Venedig-Kommission in der Stellungnahme Nr. 940/2018 vom 17. Dezember 2018 formulierten Empfehlungen zum System der Ernennungen im Justizwesen bestimmte Verfassungsänderungen erfolgt seien und diese Änderungen Gegenstand der Stellungnahme Nr. 993/2020 dieser Kommission vom 8. Oktober 2020 über die zehn Gesetze und Gesetzentwürfe zur Umsetzung der in der Stellungnahme der Venedig-Kommission vom 17. Dezember 2018 genannten Legislativvorschläge (CDL-AD [2020]019) gewesen seien.
Zu den Vorlagefragen
Zur Zulässigkeit
25 Die polnische Regierung hält die Vorlagefragen aus zwei Gründen für unzulässig.
26 Als Erstes gibt sie zu bedenken, dass das vorlegende Gericht seine Vorlagefragen dem Gerichtshof unterbreitet habe, damit es nach Maßgabe der Antworten auf diese Fragen über die Vereinbarkeit der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Bestimmungen des maltesischen Rechts mit dem Unionsrecht entscheiden könne. Für die Beurteilung der Vereinbarkeit nationaler Rechtsvorschriften mit dem Unionsrecht nach den Art. 258 und 259 AEUV sei jedoch allein der Gerichtshof zuständig, nicht die nationalen Gerichte, und nur die Europäische Kommission oder ein Mitgliedstaat könnten nach diesen unionsrechtlichen Bestimmungen ein Verfahren anstrengen. Folglich dürfe ein nationales Gericht, da andernfalls das in den Art. 258 und 259 AEUV vorgesehene Verfahren umgangen würde, nicht über die Vereinbarkeit nationalen Rechts mit dem Unionsrecht entscheiden, indem es sich auf die im Rahmen des Vorabentscheidungsverfahrens vorgenommene Auslegung des Unionsrechts stütze, da sich ja der Gerichtshof selbst nicht als zuständig ansehe, im Vorabentscheidungsverfahren eine solche Konformitätskontrolle vorzunehmen. Die Auslegung des Unionsrechts durch den Gerichtshof im Rahmen des vorliegenden Verfahrens könne daher nicht als für die Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits erforderlich im Sinne von Art. 267 AEUV angesehen werden.
27 Hierzu ist festzustellen, dass das vorlegende Gericht, wie sich aus dem Vorabentscheidungsersuchen ergibt, eine Auslegung von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV und Art. 47 der Charta durch den Gerichtshof für geboten hält, und zwar im Hinblick auf seine im Rahmen einer Popularklage, die bei ihm nach nationalem Recht erhoben wurde, bestehenden Zweifel daran, ob die nationalen Vorschriften über das Richterernennungsverfahren mit diesen Bestimmungen des Unionsrechts vereinbar sind.
28 Das durch Art. 267 AEUV eingerichtete Vorabentscheidungsverfahren stellt aber gerade ein Verfahren des unmittelbaren Zusammenwirkens des Gerichtshofs und der Gerichte der Mitgliedstaaten dar. Im Rahmen dieses Verfahrens, das auf einer klaren Aufgabentrennung zwischen den nationalen Gerichten und dem Gerichtshof beruht, fällt jede Beurteilung des Sachverhalts in die Zuständigkeit des nationalen Gerichts, das im Hinblick auf die Besonderheiten der Rechtssache sowohl die Erforderlichkeit einer Vorabentscheidung für den Erlass seines Urteils als auch die Erheblichkeit der dem Gerichtshof vorzulegenden Fragen zu beurteilen hat, während der Gerichtshof nur befugt ist, sich auf der Grundlage des ihm vom nationalen Gericht unterbreiteten Sachverhalts zur Auslegung oder zur Gültigkeit einer Unionsvorschrift zu äußern (Urteile vom 25. Oktober 2017, Polbud – Wykonawstwo, C‑106/16, EU:C:2017:804, Rn. 27, und vom 30. Mai 2018, Dell’Acqua,C‑370/16, EU:C:2018:344, Rn. 31).
29 Insoweit ist die Aufgabe des Gerichtshofs danach zu unterscheiden, ob er mit einem Vorabentscheidungsersuchen, wie im vorliegenden Fall, oder mit einer Vertragsverletzungsklage befasst ist. Während der Gerichtshof nämlich im Rahmen einer Vertragsverletzungsklage prüfen muss, ob die von der Kommission oder einem anderen als dem betroffenen Mitgliedstaat beanstandete nationale Maßnahme oder Praxis allgemein und ohne dass diesbezüglich ein Rechtsstreit vor die nationalen Gerichte gebracht zu werden braucht, dem Unionsrecht zuwiderläuft, besteht die Aufgabe des Gerichtshofs in einem Vorabentscheidungsverfahren dagegen darin, das vorlegende Gericht bei der Entscheidung des konkret bei ihm anhängigen Rechtsstreits zu unterstützen (Urteil vom 26. März 2020, Miasto Łowicz und Prokurator Generalny, C‑558/18 und C‑563/18, EU:C:2020:234, Rn. 47).
30 Ferner ist darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof, auch wenn es nicht seine Sache ist, im Rahmen des Vorabentscheidungsverfahrens die Vereinbarkeit nationalen Rechts mit dem Unionsrecht zu beurteilen, gleichwohl befugt ist, dem vorlegenden Gericht alle Hinweise zur Auslegung des Unionsrechts zu geben, die es diesem ermöglichen, für die Entscheidung der bei ihm anhängigen Rechtssache über die Frage der Vereinbarkeit zu befinden (Urteil vom 26. Januar 2010, Transportes Urbanos y Servicios Generales,C‑118/08, EU:C:2010:39, Rn. 23 und die dort angeführte Rechtsprechung). Es ist Sache des vorlegenden Gerichts, eine solche Beurteilung im Licht der vom Gerichtshof gegebenen Auslegungshinweise vorzunehmen.
31 Folglich ist der in Rn. 26 des vorliegenden Urteils dargelegte Einwand der polnischen Regierung, dass eine nach Art. 267 AEUV erfolgende Beantwortung der vom vorlegenden Gericht in der vorliegenden Rechtssache gestellten Fragen die Art. 258 und 259 AEUV umginge, zurückzuweisen.
32 Als Zweites führt die polnische Regierung aus, dass Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV, wonach die Mitgliedstaaten wirksame Rechtsbehelfe in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen schaffen müssten, weder die Substanz des Grundsatzes der begrenzten Einzelermächtigung noch den Umfang der Zuständigkeiten der Union modifiziere. Dieser Bestimmung liege vielmehr die Prämisse zugrunde, dass es, mangels einer Kompetenz der Union für die Organisation der Justizsysteme, Sache der Mitgliedstaaten sei, die zuständigen Gerichte zu benennen und angemessene Verfahrensregeln vorzusehen, die den Schutz der aus der Unionsrechtsordnung abgeleiteten Individualrechte bezweckten. Folglich ließen sich aus Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV keine spezifischen Regeln für die Ernennung von Richtern oder die Organisation der nationalen Gerichtsbarkeit ableiten. Art. 47 der Charta wiederum sei im vorliegenden Fall unanwendbar. Repubblika habe nämlich eine Popularklage erhoben, ohne sich auf ein aus dem Unionsrecht abgeleitetes subjektives Recht zu berufen. Daher liege keine „Durchführung“ des Unionsrechts im Sinne von Art. 51 Abs. 1 der Charta vor.
33 Hierzu genügt der Hinweis, dass diese von der polnischen Regierung vorgebrachten Einwände im Wesentlichen die Tragweite des Unionsrechts, insbesondere von Art. 19 EUV und Art. 47 der Charta, und damit die Auslegung dieser Bestimmungen betreffen. Ein solches Vorbringen bezieht sich also auf die inhaltliche Prüfung der vorgelegten Fragen und kann daher schon seinem Wesen nach nicht dazu führen, dass die Fragen als unzulässig anzusehen wären (Urteil vom 2. März 2021, A.B. u. a. [Ernennung von Richtern am Obersten Gericht – Rechtsbehelf], C‑824/18, EU:C:2021:153, Rn. 80).
34 Folglich sind die Vorlagefragen zulässig.
Zur ersten Frage
35 Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV und Art. 47 der Charta dahin auszulegen sind, dass sie in einer Rechtssache Anwendung finden können, in der ein nationales Gericht mit einer im nationalen Recht vorgesehenen Klage befasst ist, die darauf gerichtet ist, dass dieses Gericht darüber entscheidet, ob bestimmte nationale Vorschriften über das Verfahren zur Ernennung der Richter des Mitgliedstaats, dem dieses Gericht angehört, mit dem Unionsrecht vereinbar sind.
36 Zunächst ist zum sachlichen Anwendungsbereich von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV darauf hinzuweisen, dass diese Bestimmung „in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen“ Anwendung findet, ohne dass es insoweit darauf ankäme, in welchem Kontext die Mitgliedstaaten Unionsrecht im Sinne von Art. 51 Abs. 1 der Charta durchführen (Urteile vom 27. Februar 2018, Associação Sindical dos Juízes Portugueses,C‑64/16, EU:C:2018:117, Rn. 29, sowie vom 2. März 2021, A.B. u. a. [Ernennung von Richtern am Obersten Gericht – Rechtsbehelf], C‑824/18, EU:C:2021:153, Rn. 111 und die dort angeführte Rechtsprechung).
37 Somit hat jeder Mitgliedstaat gemäß Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV u. a. dafür zu sorgen, dass Einrichtungen, die als „Gerichte“ im Sinne des Unionsrechts Bestandteil seines Rechtsbehelfssystems in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen sind und daher möglicherweise in dieser Eigenschaft über die Anwendung oder Auslegung des Unionsrechts entscheiden, den Anforderungen an einen wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz gerecht werden (Urteil vom 2. März 2021, A.B. u. a. [Ernennung von Richtern am Obersten Gericht – Rechtsbehelf], C‑824/18, EU:C:2021:153, Rn. 112 und die dort angeführte Rechtsprechung).
38 Insoweit steht außer Frage, dass die maltesischen Richter zur Entscheidung über Fragen im Zusammenhang mit der Anwendung oder der Auslegung des Unionsrechts angerufen werden können und dass sie als „Gerichte“ im Sinne des Unionsrechts Bestandteil des maltesischen Rechtsbehelfssystems in den „vom Unionsrecht erfassten Bereichen“ im Sinne von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV sind, so dass sie den Anforderungen an einen wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz gerecht werden müssen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 2. März 2021, A.B. u. a. [Ernennung von Richtern am Obersten Gericht – Rechtsbehelf], C‑824/18, EU:C:2021:153, Rn. 114 und die dort angeführte Rechtsprechung).
39 Im Übrigen geht aus dem Vorabentscheidungsersuchen und den Rn. 9 bis 11 des vorliegenden Urteils hervor, dass das vorlegende Gericht mit einer im nationalen Recht vorgesehenen Klage befasst ist, mit der Repubblika in Frage stellt, ob bestimmte Vorschriften über das Verfahren zur Ernennung maltesischer Richter insbesondere mit den unionsrechtlichen Erfordernissen der Unabhängigkeit der Justizsysteme der Mitgliedstaaten vereinbar sind. Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV ist aber im Zusammenhang mit einer Klage anwendbar, mit der auf diese Weise die Unionsrechtskonformität nationaler Rechtsvorschriften in Frage gestellt wird, bezüglich deren geltend gemacht wird, sie seien geeignet, die richterliche Unabhängigkeit zu beeinträchtigen (vgl. entsprechend Urteil vom 27. Februar 2018, Associação Sindical dos Juízes Portugueses,C‑64/16, EU:C:2018:117, Rn. 11 bis 13 und 46 bis 52).
40 Sodann ist in Bezug auf Art. 47 der Charta darauf hinzuweisen, dass nach dieser Bestimmung, die eine Bekräftigung des Grundsatzes des effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes darstellt, jede Person, deren durch das Recht der Union garantierte Rechte oder Freiheiten verletzt worden sind, das Recht hat, bei einem Gericht einen wirksamen Rechtsbehelf einzulegen (Urteile vom 27. Juni 2013, Agrokonsulting-04, C‑93/12, EU:C:2013:432, Rn. 59, sowie vom 2. März 2021, A.B. u. a. [Ernennung von Richtern am Obersten Gericht – Rechtsbehelf], C‑824/18, EU:C:2021:153, Rn. 87 und die dort angeführte Rechtsprechung).
41 Somit setzt die Anerkennung dieses Rechts in einem bestimmten Einzelfall nach Art. 47 Abs. 1 der Charta voraus, dass sich die Person, die es geltend macht, auf durch das Recht der Union garantierte Rechte oder Freiheiten beruft (Urteile vom 6. Oktober 2020, Luxemburgischer Staat [Rechtsbehelf gegen ein Auskunftsersuchen in Steuersachen], C‑245/19 und C‑246/19, EU:C:2020:795, Rn. 55, sowie vom 2. März 2021, A.B. u. a. [Ernennung von Richtern am Obersten Gericht – Rechtsbehelf], C‑824/18, EU:C:2021:153, Rn. 88).
42 Aus den Angaben in der Vorlageentscheidung geht jedoch nicht hervor, dass sich Repubblika im Ausgangsrechtsstreit auf ein Recht beriefe, das ihr selbst aufgrund einer Bestimmung des Unionsrechts zustünde. Vielmehr geht es in diesem Rechtsstreit darum, ob die Verfassungsbestimmungen über die Ernennung von Richtern mit dem Unionsrecht vereinbar sind.
43 Zwar stellt Repubblika auch die Rechtmäßigkeit der Ernennungen vom 25. April 2019 sowie jeder etwaigen späteren Ernennung in Abrede, die mit den Empfehlungen in der Stellungnahme Nr. 940/2018 der Venedig-Kommission vom 17. Dezember 2018 sowie mit Art. 19 Abs. 1 EUV und Art. 47 der Charta unvereinbar sein sollte. Jedoch sind die Beanstandungen von Repubblika insoweit nur darauf gestützt, dass die genannten Verfassungsbestimmungen, auf deren Grundlage diese Ernennungen beschlossen wurden, mit dem Unionsrecht unvereinbar seien, ohne dass Repubblika irgendeine aus diesen Ernennungen resultierende Verletzung eines Rechts geltend machte, das ihr selbst aufgrund einer Bestimmung des Unionsrechts zustünde.
44 Unter diesen Umständen ist gemäß Art. 51 Abs. 1 der Charta deren Art. 47 als solcher auf den Ausgangsrechtsstreit nicht anwendbar.
45 Da Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV jedoch alle Mitgliedstaaten verpflichtet, die erforderlichen Rechtsbehelfe zu schaffen, damit in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen ein wirksamer Rechtsschutz insbesondere im Sinne von Art. 47 der Charta gewährleistet ist, ist letztere Bestimmung bei der Auslegung von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV gebührend zu berücksichtigen (Urteile vom 14. Juni 2017, Online Games u. a., C‑685/15, EU:C:2017:452, Rn. 54, sowie vom 2. März 2021, A.B. u. a. [Ernennung von Richtern am Obersten Gericht – Rechtsbehelf], C‑824/18, EU:C:2021:153, Rn. 143 und die dort angeführte Rechtsprechung).
46 Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV dahin auszulegen ist, dass er in einer Rechtssache Anwendung finden kann, in der ein nationales Gericht mit einer im nationalen Recht vorgesehenen Klage befasst ist, die darauf gerichtet ist, dass dieses Gericht darüber entscheidet, ob bestimmte nationale Vorschriften über das Verfahren zur Ernennung der Richter des Mitgliedstaats, dem dieses Gericht angehört, mit dem Unionsrecht vereinbar sind. Bei der Auslegung dieser Bestimmung ist Art. 47 der Charta gebührend zu berücksichtigen.
Zur zweiten Frage
47 Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV dahin auszulegen ist, dass er nationalen Bestimmungen entgegensteht, die dem Premierminister des betreffenden Mitgliedstaats eine entscheidende Befugnis im Richterernennungsverfahren einräumen, aber auch vorsehen, dass in diesem Verfahren ein Gremium tätig wird, das namentlich damit betraut ist, die Richteramtskandidaten zu beurteilen und dem Premierminister eine Stellungnahme zu übermitteln.
48 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass zwar die Organisation der Justiz in den Mitgliedstaaten in deren Zuständigkeit fällt, die Mitgliedstaaten bei der Ausübung dieser Zuständigkeit jedoch die Verpflichtungen einzuhalten haben, die sich für sie aus dem Unionsrecht ergeben. Dies kann insbesondere dann der Fall sein, wenn es sich um nationale Vorschriften über den Erlass von Entscheidungen über die Ernennung von Richtern handelt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 2. März 2021, A.B. u. a. [Ernennung von Richtern am Obersten Gericht – Rechtsbehelf], C‑824/18, EU:C:2021:153, Rn. 68 und die dort angeführte Rechtsprechung sowie Rn. 79).
49 Art. 19 EUV überträgt den nationalen Gerichten und dem Gerichtshof die Aufgabe, die volle Anwendung des Unionsrechts in allen Mitgliedstaaten sowie den gerichtlichen Schutz, der den Einzelnen aus diesem Recht erwächst, zu gewährleisten (Urteil vom 2. März 2021, A.B. u. a. [Ernennung von Richtern am Obersten Gericht – Rechtsbehelf], C‑824/18, EU:C:2021:153, Rn. 108).
50 Insoweit ist es, wie in Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV vorgesehen, Sache der Mitgliedstaaten, ein System von Rechtsbehelfen und Verfahren vorzusehen, das eine wirksame gerichtliche Kontrolle in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen gewährleistet, und dafür zu sorgen, dass die zu diesem System gehörenden Gerichte, die möglicherweise über die Anwendung oder Auslegung des Unionsrechts entscheiden, den Anforderungen an einen wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz gerecht werden (Urteil vom 2. März 2021, A.B. u. a. [Ernennung von Richtern am Obersten Gericht – Rechtsbehelf], C‑824/18, EU:C:2021:153, Rn. 109 und 112 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).
51 In diesem Zusammenhang ist die Unabhängigkeit der Richter der Mitgliedstaaten aus verschiedenen Gründen für die Rechtsordnung der Union von fundamentaler Bedeutung (Urteil vom 9. Juli 2020, Land Hessen,C‑272/19, EU:C:2020:535, Rn. 45). So ist sie essenziell für das reibungslose Funktionieren des Systems der justiziellen Zusammenarbeit, das durch den Mechanismus des Vorabentscheidungsersuchens gemäß Art. 267 AEUV verkörpert wird, da die Vorlageberechtigung von Einrichtungen, die mit der Anwendung des Unionsrechts betraut sind, u. a. daran geknüpft ist, dass sie unabhängig sind (vgl. u. a. Urteil vom 21. Januar 2020, Banco de Santander, C‑274/14, EU:C:2020:17, Rn. 56 und die dort angeführte Rechtsprechung). Im Übrigen gehört das Erfordernis der Unabhängigkeit der Gerichte, das dem Auftrag des Richters inhärent ist, zum Wesensgehalt des in Art. 47 der Charta vorgesehenen Grundrechts auf wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz und auf ein faires Verfahren, dem als Garant für den Schutz sämtlicher dem Einzelnen aus dem Unionsrecht erwachsender Rechte und für die Wahrung der in Art. 2 EUV genannten Werte, die den Mitgliedstaaten gemeinsam sind, u. a. des Wertes der Rechtsstaatlichkeit, grundlegende Bedeutung zukommt (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 26. März 2020, Überprüfung Simpson/Rat und HG/Kommission, C‑542/18 RX‑II und C‑543/18 RX‑II, EU:C:2020:232, Rn. 70 und 71, sowie vom 2. März 2021, A.B. u. a. [Ernennung von Richtern am Obersten Gericht – Rechtsbehelf], C‑824/18, EU:C:2021:153, Rn. 116 und die dort angeführte Rechtsprechung).
52 Während also Art. 47 der Charta zur Wahrung des Rechts auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz jedes Einzelnen beiträgt, der sich in einem bestimmten Fall auf ein Recht beruft, das er aus dem Unionsrecht herleitet, soll Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV seinerseits sicherstellen, dass das von jedem Mitgliedstaat eingerichtete Rechtsbehelfssystem einen wirksamen Rechtsschutz in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen gewährleistet.
53 Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs setzen die nach dem Unionsrecht erforderlichen Garantien der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit voraus, dass es Regeln insbesondere für die Zusammensetzung der Einrichtung, die Ernennung, die Amtsdauer und die Gründe für Enthaltung, Ablehnung und Abberufung ihrer Mitglieder gibt, die es ermöglichen, bei den Rechtsunterworfenen jeden berechtigten Zweifel an der Unempfänglichkeit dieser Einrichtung für äußere Faktoren und an ihrer Neutralität in Bezug auf die widerstreitenden Interessen auszuräumen (Urteile vom 19. September 2006, Wilson, C‑506/04, EU:C:2006:587, Rn. 53, vom 25. Juli 2018, Minister for Justice and Equality [Mängel des Justizsystems], C‑216/18 PPU, EU:C:2018:586, Rn. 66, sowie vom 2. März 2021, A.B. u. a. [Ernennung von Richtern am Obersten Gericht – Rechtsbehelf], C‑824/18, EU:C:2021:153, Rn. 117 und die dort angeführte Rechtsprechung).
54 Nach dem für einen Rechtsstaat kennzeichnenden Grundsatz der Gewaltenteilung ist die Unabhängigkeit der Gerichte insbesondere gegenüber der Legislative und der Exekutive zu gewährleisten (Urteile vom 19. November 2019, A. K. u. a. [Unabhängigkeit der Disziplinarkammer des Obersten Gerichts], C‑585/18, C‑624/18 und C‑625/18, EU:C:2019:982, Rn. 124, sowie vom 2. März 2021, A.B. u. a. [Ernennung von Richtern am Obersten Gericht – Rechtsbehelf], C‑824/18, EU:C:2021:153, Rn. 118).
55 Dafür sind die Richter vor Interventionen oder Druck von außen, die ihre Unabhängigkeit gefährden könnten, zu schützen. Die in Rn. 53 des vorliegenden Urteils angeführten Regeln müssen es insbesondere ermöglichen, nicht nur jede Form der unmittelbaren Einflussnahme in Form von Weisungen auszuschließen, sondern auch die Formen der mittelbaren Einflussnahme, die zur Steuerung der Entscheidungen der betreffenden Richter geeignet sein könnten (Urteile vom 24. Juni 2019, Kommission/Polen [Unabhängigkeit des Obersten Gerichts], C‑619/18, EU:C:2019:531, Rn. 112, sowie vom 2. März 2021, A.B. u. a. [Ernennung von Richtern am Obersten Gericht – Rechtsbehelf], C‑824/18, EU:C:2021:153, Rn. 119).
56 Was speziell die Bedingungen betrifft, unter denen Entscheidungen über die Ernennung von Richtern ergehen, hat der Gerichtshof bereits klarstellen können, dass der bloße Umstand, dass die betreffenden Richter vom Präsidenten eines Mitgliedstaats ernannt werden, keine Abhängigkeit dieser Richter von ihm schaffen oder Zweifel an ihrer Unparteilichkeit aufkommen lassen kann, wenn sie nach ihrer Ernennung keinem Druck ausgesetzt sind und bei der Ausübung ihres Amtes keinen Weisungen unterliegen (Urteile vom 19. November 2019, A. K. u. a. [Unabhängigkeit der Disziplinarkammer des Obersten Gerichts], C‑585/18, C‑624/18 und C‑625/18, EU:C:2019:982, Rn. 133, sowie vom 2. März 2021, A.B. u. a. [Ernennung von Richtern am Obersten Gericht – Rechtsbehelf], C‑824/18, EU:C:2021:153, Rn. 122).
57 Der Gerichtshof hat jedoch auch darauf hingewiesen, dass sicherzustellen ist, dass die materiellen Voraussetzungen und die Verfahrensmodalitäten für den Erlass der Ernennungsentscheidungen so beschaffen sind, dass sie bei den Rechtsunterworfenen, sind die betreffenden Richter erst einmal ernannt, keine berechtigten Zweifel an deren Unempfänglichkeit für äußere Faktoren und an ihrer Neutralität in Bezug auf die widerstreitenden Interessen aufkommen lassen, und dass dafür die genannten Voraussetzungen und Modalitäten u. a. so ausgestaltet sein müssen, dass sie den in Rn. 55 des vorliegenden Urteils genannten Anforderungen genügen (Urteile vom 19. November 2019, A. K. u. a. [Unabhängigkeit der Disziplinarkammer des Obersten Gerichts], C‑585/18, C‑624/18 und C‑625/18, EU:C:2019:982, Rn. 134 und 135, sowie vom 2. März 2021, A.B. u. a. [Ernennung von Richtern am Obersten Gericht – Rechtsbehelf], C‑824/18, EU:C:2021:153, Rn. 123).
58 Im vorliegenden Fall betreffen die Zweifel, die das vorlegende Gericht im Hinblick auf Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV hegt, im Wesentlichen die nationalen Vorschriften, die dem Premierminister des betreffenden Mitgliedstaats eine entscheidende Befugnis im Richterernennungsverfahren einräumen, aber auch vorsehen, dass in diesem Verfahren ein Gremium tätig wird, das namentlich damit betraut ist, die Richteramtskandidaten zu beurteilen und dem Premierminister eine Stellungnahme zu übermitteln.
59 Hierzu ist als Erstes festzustellen, dass die Verfassungsbestimmungen über die Richterernennung, wie sich aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten ergibt, von ihrem Erlass im Jahr 1964 bis zur Verfassungsreform von 2016, mit der der in Art. 96A der Verfassung genannte Ausschuss für Ernennungen im Justizwesen eingerichtet wurde, unverändert geblieben sind. Vor dieser Reform waren die Befugnisse des Premierministers nur durch das Erfordernis beschränkt, dass die Richteramtskandidaten die in der Verfassung vorgesehenen Voraussetzungen erfüllen mussten, um für ein solches Amt in Betracht zu kommen.
60 Auf der Grundlage der vor dieser Reform geltenden Verfassungsbestimmungen ist die Republik Malta gemäß Art. 49 EUV der Union beigetreten.
61 Nach diesem Art. 49, wonach jeder europäische Staat beantragen kann, Mitglied der Union zu werden, besteht die Union aus Staaten, die die in Art. 2 EUV genannten Werte von sich aus und freiwillig übernommen haben, diese achten und sich für deren Förderung einsetzen.
62 Aus Art. 2 EUV geht insbesondere hervor, dass sich die Union auf Werte wie die Rechtsstaatlichkeit gründet, die allen Mitgliedstaaten in einer Gesellschaft, die sich u. a. durch Gerechtigkeit auszeichnet, gemeinsam sind. Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass das gegenseitige Vertrauen zwischen den Mitgliedstaaten und insbesondere zwischen deren Gerichten auf der Prämisse beruht, dass die Mitgliedstaaten eine Reihe gemeinsamer Werte teilen, auf die sich, wie es im genannten Artikel heißt, die Union gründet (vgl. in diesem Sinne Gutachten 2/13 [Beitritt der Union zur EMRK] vom 18. Dezember 2014, EU:C:2014:2454, Rn. 168, und Urteil vom 27. Februar 2018, Associação Sindical dos Juízes Portugueses, C‑64/16, EU:C:2018:117, Rn. 30).
63 Daraus folgt, dass die Achtung der in Art. 2 EUV verankerten Werte durch einen Mitgliedstaat eine Voraussetzung für den Genuss aller Rechte ist, die sich aus der Anwendung der Verträge auf diesen Mitgliedstaat ergeben. Ein Mitgliedstaat darf daher seine Rechtsvorschriften nicht dergestalt ändern, dass der Schutz des Wertes der Rechtsstaatlichkeit vermindert wird, eines Wertes, der namentlich durch Art. 19 EUV konkretisiert wird (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 2. März 2021, A.B. u. a. [Ernennung von Richtern am Obersten Gericht – Rechtsbehelf], C‑824/18, EU:C:2021:153, Rn. 108).
64 Die Mitgliedstaaten müssen somit dafür Sorge tragen, dass sie jeden nach Maßgabe dieses Wertes eintretenden Rückschritt in ihren Rechtsvorschriften über die Organisation der Justiz vermeiden, indem sie davon absehen, Regeln zu erlassen, die die richterliche Unabhängigkeit untergraben würden (vgl. entsprechend Urteil vom 17. Dezember 2020, Openbaar Ministerie [Unabhängigkeit der ausstellenden Justizbehörde], C‑354/20 PPU und C‑412/20 PPU, EU:C:2020:1033, Rn. 40).
65 In diesem Zusammenhang hat der Gerichtshof bereits der Sache nach entschieden, dass Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV dahin auszulegen ist, dass er nationalen Vorschriften über die Organisation der Justiz entgegensteht, die eine Verminderung des Schutzes des Wertes der Rechtsstaatlichkeit im betreffenden Mitgliedstaat, insbesondere eine Verminderung der Garantien für die richterliche Unabhängigkeit, darstellen können (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 19. November 2019, A. K. u. a. [Unabhängigkeit der Disziplinarkammer des Obersten Gerichts], C‑585/18, C‑624/18 und C‑625/18, EU:C:2019:982, sowie vom 2. März 2021, A.B. u. a. [Ernennung von Richtern am Obersten Gericht – Rechtsbehelf], C‑824/18, EU:C:2021:153).
66 Dagegen kann die Beteiligung eines Gremiums wie des Ausschusses für Ernennungen im Justizwesen, der im Zuge der Verfassungsreform von 2016 durch Art. 96A der Verfassung eingerichtet wurde, im Richterernennungsverfahren grundsätzlich zur Objektivierung dieses Verfahrens beitragen, indem sie den Handlungsspielraum des Premierministers bei der Ausübung der ihm in diesem Bereich übertragenen Befugnisse einschränkt. Allerdings muss ein solches Gremium selbst von der Legislative und der Exekutive sowie von dem Organ, dem es eine Stellungnahme über die Beurteilung der Richteramtskandidaten übermitteln soll, hinreichend unabhängig sein (vgl. entsprechend Urteile vom 19. November 2019, A. K. u. a. [Unabhängigkeit der Disziplinarkammer des Obersten Gerichts], C‑585/18, C‑624/18 und C‑625/18, EU:C:2019:982, Rn. 137 und 138, sowie vom 2. März 2021, A.B. u. a. [Ernennung von Richtern am Obersten Gericht – Rechtsbehelf], C‑824/18, EU:C:2021:153, Rn. 124 und 125).
67 Im vorliegenden Fall erscheint eine Reihe von Vorschriften, die das vorlegende Gericht anführt, geeignet, die Unabhängigkeit des Ausschusses für Ernennungen im Justizwesen gegenüber der Legislative und der Exekutive zu gewährleisten. Dies gilt für die in Art. 96A Abs. 1 bis 3 der Verfassung enthaltenen Vorschriften über die Zusammensetzung dieses Ausschusses und das Verbot für politisch aktive Personen, dem Ausschuss anzugehören, sowie für die den Ausschussmitgliedern durch Art. 96A Abs. 4 der Verfassung auferlegte Pflicht, vollkommen unabhängig und ohne Weisung oder Kontrolle durch irgendeine Person oder Stelle zu handeln, und für die Pflicht des Ausschusses, im Einvernehmen mit dem Justizminister die Kriterien, nach denen er seine Beurteilungen vornimmt, zu veröffentlichen, was im Übrigen geschehen ist, wie der Generalanwalt in Nr. 91 seiner Schlussanträge festgestellt hat.
68 Im Übrigen hat das vorlegende Gericht in der vorliegenden Rechtssache hinsichtlich der Voraussetzungen, unter denen die Mitglieder des durch Art. 96A der Verfassung eingerichteten Ausschusses für Ernennungen im Justizwesen bestellt wurden, oder hinsichtlich der Art und Weise, in der dieser Ausschuss seine Rolle konkret erfüllt, keine Zweifel geäußert.
69 Somit ist davon auszugehen, dass die durch Art. 96A der Verfassung erfolgte Einrichtung des Ausschusses für Ernennungen im Justizwesen die Garantie der richterlichen Unabhängigkeit stärkt.
70 Als Zweites ist festzustellen, dass, wie insbesondere die Kommission hervorhebt, der Premierminister zwar nach den im Ausgangsverfahren in Rede stehenden nationalen Bestimmungen über eine ihm fest zugeschriebene Befugnis bei der Richterernennung verfügt, die Ausübung dieser Befugnis jedoch durch die von den Richteramtskandidaten zu erfüllenden Voraussetzungen in Bezug auf Berufserfahrung eingegrenzt wird; diese Voraussetzungen sind in Art. 96 Abs. 2 und Art. 100 Abs. 2 der Verfassung vorgesehen.
71 Im Übrigen trifft es zwar zu, dass der Premierminister beschließen kann, dem Präsidenten der Republik die Ernennung eines Kandidaten zu unterbreiten, der nicht von dem durch Art. 96A der Verfassung eingerichteten Ausschuss für Ernennungen im Justizwesen vorgeschlagen wurde, doch ist er in einem solchen Fall gemäß Art. 96 Abs. 4 und Art. 100 Abs. 6 der Verfassung verpflichtet, seine Gründe dem Repräsentantenhaus und, außer in Bezug auf die Ernennung des Obersten Richters, mittels einer Erklärung in der Gazzetta tal-Gvern ta’ Malta der Öffentlichkeit mitzuteilen. Soweit der Premierminister von dieser Befugnis nur ganz ausnahmsweise Gebrauch macht und die Begründungspflicht strikt und effektiv einhält, ist diese Befugnis nicht geeignet, berechtigte Zweifel an der Unabhängigkeit der ausgewählten Kandidaten zu wecken.
72 Unter Berücksichtigung all dieser Gesichtspunkte ist nicht ersichtlich, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden nationalen Bestimmungen über die Richterernennung als solche geeignet wären, bei den Rechtsunterworfenen berechtigte Zweifel an der Unempfänglichkeit der ernannten Richter für äußere Faktoren, insbesondere für unmittelbare oder mittelbare Einflussnahmen durch die Legislative und die Exekutive, und an ihrer Neutralität in Bezug auf die widerstreitenden Interessen aufkommen zu lassen, und dass diese Bestimmungen daher dazu führen könnten, dass diese Richter nicht den Eindruck vermitteln, unabhängig und unparteiisch zu sein, wodurch das Vertrauen beeinträchtigt werden könnte, das die Justiz in einer demokratischen Gesellschaft und in einem Rechtsstaat bei den Rechtsunterworfenen schaffen muss.
73 Nach alledem ist auf die zweite Frage zu antworten, dass Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV dahin auszulegen ist, dass er nationalen Bestimmungen, die dem Premierminister des betreffenden Mitgliedstaats eine entscheidende Befugnis im Richterernennungsverfahren einräumen, aber auch vorsehen, dass in diesem Verfahren ein unabhängiges Gremium tätig wird, das namentlich damit betraut ist, die Richteramtskandidaten zu beurteilen und dem Premierminister eine Stellungnahme zu übermitteln, nicht entgegensteht.
Zur dritten Frage
74 Angesichts der Antwort auf die zweite Frage ist die dritte Frage nicht zu beantworten.
Kosten
75 Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Große Kammer) für Recht erkannt:
1. Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV ist dahin auszulegen, dass er in einer Rechtssache Anwendung finden kann, in der ein nationales Gericht mit einer im nationalen Recht vorgesehenen Klage befasst ist, die darauf gerichtet ist, dass dieses Gericht darüber entscheidet, ob bestimmte nationale Vorschriften über das Verfahren zur Ernennung der Richter des Mitgliedstaats, dem dieses Gericht angehört, mit dem Unionsrecht vereinbar sind. Bei der Auslegung dieser Bestimmung ist Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union gebührend zu berücksichtigen.
2. Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV ist dahin auszulegen, dass er nationalen Bestimmungen, die dem Premierminister des betreffenden Mitgliedstaats eine entscheidende Befugnis im Richterernennungsverfahren einräumen, aber auch vorsehen, dass in diesem Verfahren ein unabhängiges Gremium tätig wird, das namentlich damit betraut ist, die Richteramtskandidaten zu beurteilen und dem Premierminister eine Stellungnahme zu übermitteln, nicht entgegensteht.
Unterschriften
(*1) Verfahrenssprache: Maltesisch.
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Urteil des Gerichtshofs (Fünfte Kammer) vom 15. April 2021.#Federazione nazionale delle imprese elettrotecniche ed elettroniche (Anie) u. a. und Athesia Energy Srl u. a. gegen Ministero dello Sviluppo Economico und Gestore dei servizi energetici (GSE) SpA.#Vorabentscheidungsersuchen des Tribunale Amministrativo Regionale per il Lazio.#Vorlage zur Vorabentscheidung – Umwelt – Art. 16 und 17 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Grundsätze der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes – Vertrag über die Energiecharta – Art. 10 – Anwendbarkeit – Richtlinie 2009/28/EG – Art. 3 Abs. 3 Buchst. a – Förderung der Nutzung von Energie aus erneuerbaren Quellen – Erzeugung elektrischer Energie aus Fotovoltaikanlagen – Änderung einer Beihilferegelung.#Verbundene Rechtssachen C-798/18 und C-799/18.
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62018CJ0798
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ECLI:EU:C:2021:280
| 2021-04-15T00:00:00 |
Saugmandsgaard Øe, Gerichtshof
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62018CJ0798
URTEIL DES GERICHTSHOFS (Fünfte Kammer)
15. April 2021 (*1)
„Vorlage zur Vorabentscheidung – Umwelt – Art. 16 und 17 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Grundsätze der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes – Vertrag über die Energiecharta – Art. 10 – Anwendbarkeit – Richtlinie 2009/28/EG – Art. 3 Abs. 3 Buchst. a – Förderung der Nutzung von Energie aus erneuerbaren Quellen – Erzeugung elektrischer Energie aus Fotovoltaikanlagen – Änderung einer Beihilferegelung“
In den verbundenen Rechtssachen C‑798/18 und C‑799/18
betreffend zwei Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Tribunale amministrativo regionale per il Lazio (Regionales Verwaltungsgericht Latium, Italien) mit Entscheidungen vom 28. September 2018, beim Gerichtshof eingegangen am 17. Dezember 2018, in den Verfahren
Federazione nazionale delle imprese elletrotecniche ed elettroniche (Anie) u. a. (C‑798/18),
Athesia Energy Srl u. a. (C‑799/18)
gegen
Ministero dello Sviluppo economico,
Gestore dei servizi energetici (GSE) SpA,
Beteiligte:
Elettricità Futura Unione delle imprese elettriche italiane,
Confederazione generale dell’agricoltura italiana – Confagricoltura,
erlässt
DER GERICHTSHOF (Fünfte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten E. Regan sowie der Richter M. Ilešič, E. Juhász, C. Lycourgos und I. Jarukaitis (Berichterstatter),
Generalanwalt: H. Saugmandsgaard Øe,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
–
der Federazione nazionale delle imprese elettrotecniche ed elettroniche (Anie) u. a., vertreten durch V. Onida, C. Montella und B. Randazzo, avvocati,
–
der Elettricità Futura Unione delle imprese elettriche italiane und der Confederazione generale dell’agricoltura italiana – Confagricoltura, vertreten durch V. Onida und B. Randazzo, avvocati,
–
der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von F. Varrone und G. Aiello, avvocati dello Stato,
–
der tschechischen Regierung, vertreten durch M. Smolek und J. Vláčil als Bevollmächtigte,
–
der deutschen Regierung, vertreten durch S. Eisenberg und D. Klebs als Bevollmächtigte,
–
der griechischen Regierung, vertreten durch K. Boskovits, S. Charitaki und A. Magrippi als Bevollmächtigte,
–
der spanischen Regierung, vertreten durch S. Centeno Huerta, J. Ruiz Sánchez und A. Rubio González als Bevollmächtigte,
–
der Europäischen Kommission, vertreten durch O. Beynet, K. Talabér-Ritz, Y. Marinova, G. Gattinara und T. Maxian Rusche als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 29. Oktober 2020
folgendes
Urteil
1 Die Vorabentscheidungsersuchen betreffen die Auslegung von Art. 216 Abs. 2 AEUV in Verbindung mit dem im Namen der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl, der Europäischen Gemeinschaft und der Europäischen Atomgemeinschaft durch den Beschluss 98/181/EG, EGKS, Euratom des Rates und der Kommission vom 23. September 1997 über den Abschluss des Vertrags über die Energiecharta und des Energiechartaprotokolls über Energieeffizienz und damit verbundene Umweltaspekte durch die Europäischen Gemeinschaften (ABl. 1998, L 69, S. 1) genehmigten Vertrag über die Energiecharta (im Folgenden: Energiecharta), der Art. 16 und 17 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) und der Richtlinie 2009/28/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23. April 2009 zur Förderung der Nutzung von Energie aus erneuerbaren Quellen und zur Änderung und anschließenden Aufhebung der Richtlinien 2001/77/EG und 2003/30/EG (ABl. 2009, L 140, S. 16) im Licht der Grundsätze der Rechtssicherheit, des Vertrauensschutzes, der loyalen Zusammenarbeit und des Effet utile.
2 Diese Ersuchen ergehen im Rahmen von Rechtsstreitigkeiten zwischen der Federazione nazionale delle imprese elettrotecniche ed elettroniche (Nationaler Verband der Elektrotechnik- und Elektronikunternehmen) (Anie) sowie 159 Unternehmen, die elektrische Energie aus Fotovoltaikanlagen erzeugen, auf der einen Seite und dem Ministero dello Sviluppo economico (Ministerium für wirtschaftliche Entwicklung, Italien) und der Gestore dei servizi energetici (GSE) SpA auf der anderen Seite (Rechtssache C‑798/18) bzw. der Athesia Energy Srl sowie 15 weiteren Unternehmen aus derselben Branche auf der einen Seite und dem Ministero dello Sviluppo economico (Ministerium für wirtschaftliche Entwicklung, Italien) und der Gestore dei servizi energetici (GSE) SpA auf der anderen Seite (Rechtssache C‑799/18) über die Nichtigerklärung von Dekreten zur Durchführung von nationalen Rechtsvorschriften, die eine Anpassung der Förderleistungen für die Stromerzeugung aus Fotovoltaikanlagen und die Modalitäten der entsprechenden Zahlungen vorsehen.
Rechtlicher Rahmen
Völkerrecht
3 In Art. 10 („Förderung, Schutz und Behandlung von Investitionen“) Abs. 1 der Energiecharta heißt es:
„Jede Vertragspartei fördert und schafft im Einklang mit diesem Vertrag dauerhafte, gerechte, günstige und transparente Bedingungen für Investoren anderer Vertragsparteien, in ihrem Gebiet Investitionen vorzunehmen. Diese Bedingungen umfassen die Verpflichtung, den Investitionen von Investoren anderer Vertragsparteien stets eine faire und gerechte Behandlung zu gewähren. Diese Investitionen genießen auch auf Dauer Schutz und Sicherheit, und keine Vertragspartei darf deren Verwaltung, Aufrechterhaltung, Verwendung, Nutzung oder Veräußerung in irgendeiner Weise durch unangemessene oder diskriminierende Maßnahmen behindern. …“
Unionsrecht
4 In den Erwägungsgründen 14 und 25 der Richtlinie 2009/28 heißt es:
„(14)
Mit den verbindlichen nationalen Zielen wird in erster Linie der Zweck verfolgt, Investitionssicherheit zu schaffen und die kontinuierliche Entwicklung von Technologien für die Erzeugung von Energie aus allen Arten erneuerbarer Quellen zu fördern. …
…
(25) Die Mitgliedstaaten haben unterschiedliche Potenziale im Bereich der erneuerbaren Energie und wenden auf nationaler Ebene unterschiedliche Regelungen zur Förderung von Energie aus erneuerbaren Quellen an. … Damit nationale Förderregelungen ungestört funktionieren können, müssen die Mitgliedstaaten deren Wirkung und Kosten entsprechend ihrem jeweiligen Potenzial kontrollieren können. Ein wichtiger Faktor bei der Verwirklichung des Ziels dieser Richtlinie besteht darin, das ungestörte Funktionieren der nationalen Förderregelungen, wie nach der Richtlinie 2001/77/EG [des Europäischen Parlaments und des Rates vom 27. September 2001 zur Förderung der Stromerzeugung aus erneuerbaren Energiequellen im Elektrizitätsbinnenmarkt (ABl. 2001, L 283, S. 33)], zu gewährleisten, damit das Vertrauen der Investoren erhalten bleibt und die Mitgliedstaaten wirksame nationale Maßnahmen im Hinblick auf die Erfüllung der Ziele konzipieren können. …“
5 Art. 1 („Gegenstand und Anwendungsbereich“) der Richtlinie 2009/28 sieht vor:
„Mit dieser Richtlinie wird ein gemeinsamer Rahmen für die Förderung von Energie aus erneuerbaren Quellen vorgeschrieben. In ihr werden verbindliche nationale Ziele für den Gesamtanteil von Energie aus erneuerbaren Quellen am Bruttoendenergieverbrauch und für den Anteil von Energie aus erneuerbaren Quellen im Verkehrssektor festgelegt. …“
6 Art. 3 („Verbindliche nationale Gesamtziele und Maßnahmen auf dem Gebiet der Nutzung von Energie aus erneuerbaren Quellen“) dieser Richtlinie bestimmt:
„(1) Jeder Mitgliedstaat sorgt dafür, dass sein … Anteil von Energie aus erneuerbaren Quellen am Bruttoendenergieverbrauch im Jahr 2020 mindestens seinem nationalen Gesamtziel für den Anteil von Energie aus erneuerbaren Quellen in diesem Jahr gemäß der dritten Spalte der Tabelle in Anhang I Teil A entspricht. …
(2) Die Mitgliedstaaten treffen Maßnahmen, um effektiv zu gewährleisten, dass ihr Anteil von Energie aus erneuerbaren Quellen den im indikativen Zielpfad in Anhang I Teil B angegebenen Anteil erreicht oder übersteigt.
(3) Zur Erfüllung der in den Absätzen 1 und 2 genannten Ziele können die Mitgliedstaaten unter anderem folgende Maßnahmen anwenden:
a)
Förderregelungen;
…“
Italienisches Recht
7 Art. 7 des Decreto legislativo n. 387 – Attuazione della direttiva 2001/77/CE relativa alla promozione dell’energia elettrica prodotta da fonti energetiche rinnovabili nel mercato interno dell’elletricità (gesetzesvertretendes Dekret Nr. 387 zur Umsetzung der Richtlinie 2001/77/EG zur Förderung der Stromerzeugung aus erneuerbaren Energiequellen im Elektrizitätsbinnenmarkt) vom 29. Dezember 2003 (Supplemento ordinario zur GURI Nr. 25 vom 31. Januar 2004, S. 5, im Folgenden: gesetzesvertretendes Dekret Nr. 387/2003), bestimmte:
„(1) Innerhalb von sechs Monaten nach dem Inkrafttreten des vorliegenden Dekrets erlässt der Ministro delle Attività produttive [(Minister für Produktionstätigkeiten)] im Einvernehmen mit dem Ministro dell’Ambiente e della Tutela del territorio [(Minister für Umwelt und Schutz des Territoriums)], in Abstimmung mit der Conferenza unificata [(Vereinigte Konferenz)], ein oder mehrere Dekrete, mit denen die Kriterien für die Förderung der Erzeugung elektrischer Energie aus Sonnenenergie festgelegt werden.
(2) Ohne Kosten für den Staatshaushalt und unter Beachtung der geltenden gemeinschaftsrechtlichen Vorschriften legen die in Abs. 1 genannten Kriterien fest,
a)
welche Voraussetzungen eine Person erfüllen muss, um Förderleistungen erhalten zu können;
…
d)
wie die Höhe der Förderung bestimmt wird. Für Strom, der aus der fotovoltaischen Umwandlung von Sonnenenergie erzeugt wird, sehen sie einen besonderen, degressiven Fördertarif vor, dessen Höhe und Laufzeit so bemessen sind, dass eine angemessene Vergütung für die Investitions- und Betriebskosten gewährleistet ist;
e)
welche Nennleistung installiert werden soll;
f)
wo die Obergrenze für die elektrische Gesamtleistung aller Fotovoltaikanlagen liegt, die Förderleistungen erhalten können;
…“
8 Art. 24 („Anreizmechanismen“) des Decreto legislativo n. 28 – Attuazione della direttiva 2009/28/CE sulla promozione dell’uso dell’energia da fonti rinnovabili, recante modifica e successiva abrogazione delle direttive 2001/77/CE e 2003/30/CE (gesetzesvertretendes Dekret Nr. 28 zur Umsetzung der Richtlinie 2009/28/EG zur Förderung der Nutzung von Energie aus erneuerbaren Quellen und zur Änderung und anschließenden Aufhebung der Richtlinien 2001/77/EG und 2003/30/EG) vom 3. März 2011 (Supplemento ordinario zur GURI Nr. 71 vom 28. März 2011, S. 1, im Folgenden: gesetzesvertretendes Dekret Nr. 28/2011) sah vor:
„(1) Die Erzeugung elektrischer Energie aus Anlagen, die aus erneuerbaren Energien gespeist werden und nach dem 31. Dezember 2012 in Betrieb genommen werden, wird über die Instrumente und auf der Grundlage der in Abs. 2 genannten allgemeinen Kriterien gefördert …
(2) Für die Erzeugung elektrischer Energie aus den in Abs. 1 genannten Anlagen werden Anreizmaßnahmen auf der Grundlage der folgenden allgemeinen Kriterien gewährt:
a)
Die Förderleistung hat zum Ziel, eine angemessene Vergütung der Investitions- und Betriebskosten zu gewährleisten.
b)
Der Zeitraum, in dem Anspruch auf die Förderung besteht, entspricht der durchschnittlichen vertraglichen Lebensdauer des betreffenden Anlagentyps und beginnt mit der Inbetriebnahme dieser Anlage.
c)
Die Förderleistung bleibt während des gesamten Anspruchszeitraums konstant und kann den wirtschaftlichen Wert der erzeugten Energie berücksichtigen.
d)
Die Förderleistungen werden über privatrechtliche Verträge gewährt, die zwischen GSE und der für die Anlage verantwortlichen Person auf der Grundlage eines von der Autorità per l’energia elettrica e il gas [(Strom- und Gasbehörde)] festgelegten Mustervertrags geschlossen werden …
…“
9 In Art. 25 dieses gesetzesvertretenden Dekrets heißt es:
„(1) Die Erzeugung elektrischer Energie durch Anlagen, die erneuerbare Quellen nutzen und bis spätestens zum 31. Dezember 2012 in Betrieb genommen werden, wird mit den bei Inkrafttreten dieses Dekrets bestehenden Mechanismen gefördert …
…
(10) … [Die] Förderung der Erzeugung elektrischer Energie durch Fotovoltaikanlagen, die nach [dem 31. Mai 2011] in Betrieb genommen werden, [wird] durch Dekret des [Ministers für wirtschaftliche Entwicklung] geregelt, das in Abstimmung mit dem Ministro dell’Ambiente e della Tutela del [territorio e del] Mare [(Minister für Umwelt und Landschafts- und Meeresschutz)] nach Anhörung der in Art. 8 des Decreto legislativo n. 281 [(gesetzesvertretendes Dekret Nr. 281)] vom 28. August 1997 genannten Conferenza unificata [(Vereinigte Konferenz)] auf der Grundlage der folgenden Prinzipien zum 30. April 2011 zu erlassen ist:
a)
Festlegung einer jährlichen Obergrenze für die elektrische Gesamtleistung der Fotovoltaikanlagen, die Förderleistungen erhalten können;
b)
Festlegung der Fördertarife unter Berücksichtigung der Senkung der Kosten für Technologie und Anlagen sowie der in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union angewandten Fördermaßnahmen …
c)
Bestimmung der Fördertarife und abgestuften Anteile unter Berücksichtigung der Art des Anlagenstandorts;
d)
Anwendung der Bestimmungen von Art. 7 des Decreto legislativo [n. 387/2003] [(gesetzesvertretendes Dekret Nr. 387/2003)] …, soweit diese mit dem vorliegenden Absatz vereinbar sind.“
10 Art. 26 des Decreto legge n. 91 – Disposizioni urgenti per il settore agricolo, la tutela ambientale e l’efficientamento energetico dell’edilizia scolastica e universitaria, il rilancio e lo sviluppo delle imprese, il contenimento dei costi gravanti sulle tariffe elettriche, nonché per la definizione immediata di adempimenti derivanti dalla normativa europea (Gesetzesdekret Nr. 91 mit Sofortmaßnahmen für den Agrarsektor, den Umweltschutz sowie die Energieeffizienz von Schul- und Hochschulgebäuden, die Sanierung und Entwicklung von Unternehmen, die Begrenzung der Stromtarifkosten und zur unmittelbaren Bestimmung der Anforderungen aus der europäischen Gesetzgebung) vom 24. Juni 2014 (GURI Nr. 144 vom 24. Juni 2014), mit Änderungen in Gesetz umgewandelt durch das Gesetz Nr. 116 vom 11. August 2014 (Supplemento ordinario zur GURI Nr. 192 vom 20. August 2014, im Folgenden: Gesetzesdekret Nr. 91/2014) bestimmt:
„(1) Um das Management der Zeiten für Beschaffung und Auszahlung der Förderleistungen zu optimieren und die Politik der Förderung erneuerbarer Energien nachhaltiger zu gestalten, werden die gemäß Art. 7 des [gesetzesvertretenden Dekrets Nr. 387/2003] und Art. 25 Abs. 10 des [gesetzesvertretenden Dekrets Nr. 28/2011] anerkannten Fördertarife für elektrischen Strom aus Fotovoltaik-Solaranlagen nach Maßgabe dieses Artikels gewährt.
(2) Ab dem zweiten Halbjahr 2014 gewährt [GSE] die in Absatz 1 genannten Fördertarife in konstanten monatlichen Raten in Höhe von 90 % der geschätzten durchschnittlichen jährlichen Produktionskapazität jeder Anlage im Erzeugungskalenderjahr und nimmt bis zum 30. Juni des folgenden Jahres die Abrechnung anhand der tatsächlichen Produktion vor. Die Durchführungsmodalitäten werden von GSE binnen zwei Wochen nach der Veröffentlichung dieses Dekrets festgelegt und durch Dekret des Ministers für wirtschaftliche Entwicklung genehmigt.
(3) Ab dem 1. Januar 2015 wird der Fördertarif für Strom aus Anlagen mit einer Nennleistung von mehr als 200 kW nach Wahl des Betreibers auf der Grundlage einer der folgenden Optionen, die bis zum 30. November 2014 GSE mitzuteilen sind, umgestaltet:
a)
Der Tarif wird für einen Zeitraum von 24 Jahren ab der Inbetriebnahme der Anlagen gewährt und infolgedessen nach dem Senkungsprozentsatz in der Tabelle in Anhang 2 dieses Dekrets neu berechnet;
b)
unbeschadet des zwanzigjährigen Gewährungszeitraums wird der Tarif umgestaltet, indem ein erster Zeitraum der Gewährung einer gegenüber der derzeitigen Förderung herabgesetzten Förderung und ein zweiter Zeitraum der Gewährung einer im selben Umfang erhöhten Förderung vorgesehen wird. Die Prozentsätze der Umgestaltung werden mit Dekret des Ministro dello sviluppo economico [(Minister für wirtschaftliche Entwicklung)], nach Anhörung der Autorità per l’energia elettrica, il gas e il sistema idrico [(Behörde für Strom, Gas und das Wassersystem)], festgesetzt, das bis zum 1. Oktober 2014 zu erlassen ist, so dass im Fall der Zustimmung aller zur Wahrnehmung der Option Berechtigten eine Einsparung von mindestens 600 Millionen Euro pro Jahr für den Zeitraum 2015 bis 2019 gegenüber der nach den geltenden Tarifen vorgesehenen Gewährung ermöglicht wird;
c)
unbeschadet des zwanzigjährigen Gewährungszeitraums wird der Tarif um einen Prozentanteil der zum Zeitpunkt des Inkrafttretens dieses Dekrets zuerkannten Förderung für die restliche Dauer des Förderzeitraums in folgendem Umfang herabgesetzt:
1. 6 % für Anlagen mit einer Nennleistung von mehr als 200 kW und bis zu einer Nennleistung von 500 kW;
2. 7 % für Anlagen mit einer Nennleistung von mehr als 500 kW und bis zu einer Nennleistung von 900 kW;
3. 8 % für Anlagen mit einer Nennleistung von mehr als 900 kW.
In Ermangelung einer Mitteilung durch den Betreiber wendet GSE die Option nach Buchst. c an.
…
(5) Der Empfänger des in den Abs. 3 und 4 genannten Fördertarifs hat die Möglichkeit, Zugang zu Bankfinanzierungen maximal in Höhe des Betrags zu erhalten, der der Differenz zwischen der zum 31. Dezember 2014 bereits erhaltenen Förderung und dem neu organisierten Fördertarif im Sinne der Abs. 3 und 4 entspricht. Für solche Finanzierungen können kumulativ oder alternativ auf der Grundlage entsprechender Vereinbarungen mit dem Bankensystem spezielle Provisionen oder von der Cassa Depositi e Prestiti SpA … gestellte Bürgschaften gewährt werden.“
Ausgangsrechtsstreitigkeiten und Vorlagefrage
11 Anie vertritt Unternehmen, die in Italien auf die Herstellung von Gütern und/oder die Erbringung von Dienstleistungen im Bereich der Elektrotechnik und der Elektronik oder in ähnlichen Bereichen gerichtete Tätigkeiten ausüben. Sie ist ein „Verband der ersten Stufe“, der bereichsspezifische Vereinigungen umfasst, darunter die Vereinigung Anie Energie Rinnovabili, deren Ziel der Schutz der Industrie im Bereich der erneuerbaren Energie ist. Die anderen Kläger des Ausgangsverfahrens sind Gesellschaften und Einzelunternehmer, die Eigentümer und Verantwortliche einer oder mehrerer sich an verschiedenen Orten des italienischen Staatsgebiets befindender Fotovoltaikanlagen mit einer Nennleistung von mehr als 200 kW sind und die mit GSE als privatrechtliche Verträge im Sinne des italienischen Rechts eingestufte Vereinbarungen mit einer Laufzeit von 20 Jahren geschlossen haben, um für den Fördertarif für die Erzeugung von elektrischem Strom aus fotovoltaischer Umwandlung zugelassen zu werden. Diese Kläger erhielten so die in Art. 7 des gesetzesvertretenden Dekrets Nr. 387/2003 und in Art. 25 des gesetzesvertretenden Dekrets Nr. 28/2011 vorgesehenen Fördermaßnahmen. GSE ist eine vollständig vom Ministero dell’Economia e delle Finanze (Wirtschafts- und Finanzministerium, Italien) kontrollierte öffentliche Gesellschaft, der zahlreiche Funktionen öffentlicher Art im Energiebereich übertragen sind.
12 Die italienische Regelung zur Förderung der Erzeugung elektrischer Energie aus Fotovoltaikanlagen wurde durch Art. 26 des Gesetzesdekrets Nr. 91/2014 geändert, das durch Ministerialdekrete vom 16. und 17. Oktober 2014, deren Nichtigerklärung die Kläger vor dem Tribunale amministrativo regionale per il Lazio (Regionales Verwaltungsgericht Latium, Italien) beantragen, umgesetzt wurde.
13 Das vorlegende Gericht stellt im Wesentlichen fest, dass Art. 26 des Gesetzesdekrets Nr. 91/2014 eine Reorganisation der Förderleistungen für Anlagen mit einer Nennleistung von mehr als 200 kW vorgesehen habe, um das Management der Zeiten für Beschaffung und Auszahlung der Förderleistungen zu optimieren und die Politik der Förderung erneuerbarer Energien nachhaltiger zu gestalten. Mit dieser Bestimmung habe der italienische Gesetzgeber den in der betreffenden Branche Tätigen den Übergang zu einem anderen Tarifsystem gemäß einer der in Abs. 3 dieser Bestimmung vorgesehenen Optionen vorgeschrieben. Die Situation dieser Betreiber, wie sie in den zwischen ihnen und GSE abgeschlossenen Fördervereinbarungen vereinbart sei, werde durch jede einzelne dieser Optionen unbestreitbar negativ beeinträchtigt, indem neue Elemente in diese Vereinbarungen aufgenommen würden, was die Laufzeit oder die Höhe der Fördertarife betreffe.
14 Insbesondere erklärt das vorlegende Gericht, dass gemäß Art. 26 des Gesetzesdekrets Nr. 91/2014 für das zweite Halbjahr 2014 die Fördertarife in konstanten monatlichen Raten in Höhe von 90 % der geschätzten durchschnittlichen jährlichen Produktionskapazität jeder Anlage im Erzeugungskalenderjahr gezahlt werden sollten und dann die Abrechnung anhand der tatsächlichen Produktion vorgenommen werden sollte. Die geltenden Vertragsbedingungen seien somit durch diese Bestimmung geändert worden, indem das Kriterium der „tatsächlichen Produktion“ durch das Kriterium der „durchschnittlichen jährlichen Produktionskapazität“ ersetzt worden sei, ohne zu berücksichtigen, dass die Empfänger der in Rede stehenden Förderleistungen der Förderregelung unter anderen Bedingungen beigetreten seien.
15 Die Kläger des Ausgangsverfahrens machen vor diesem Gericht geltend, dass die Ministerialdekrete vom 16. und 17. Oktober 2014 laufende Beziehungen negativ beeinträchtigt hätten, die bereits den jeweiligen Entscheidungen über die Zulassung zu den Förderregelungen und den in der Folge mit GSE abgeschlossenen Vereinbarungen unterlegen hätten, und ihr berechtigtes Vertrauen schwer beeinträchtigt hätten. Sie machen auch einen Verstoß gegen den Grundsatz der Rechtssicherheit und die Richtlinie 2009/28 geltend, da Art. 26 des Gesetzesdekrets Nr. 91/2014 rückwirkend weniger vorteilhafte Förderregelungen eingeführt habe, die geeignet seien, die ursprünglichen Bedingungen bereits getätigter Investitionen völlig zu verändern, und daher unangewendet bleiben müsse, da er gegen das Primärrecht und das abgeleitete Unionsrecht verstoße. Der Minister für wirtschaftliche Entwicklung beantragt die Abweisung der gegen die Ministerialdekrete gerichteten Klagen.
16 Das vorlegende Gericht stellt fest, dass die Ausgangsrechtsstreitigkeiten Teil umfangreicher gerichtlicher Auseinandersetzungen seien, in deren Rahmen Unternehmen, die sich in ähnlichen Situationen wie die Kläger des Ausgangsverfahrens befänden, dieselben Fragen aufgeworfen hätten wie die, die sich in den Ausgangsverfahren stellten. Das vorlegende Gericht hatte daher die Frage der Verfassungsmäßigkeit von Art. 26 Abs. 3 des Gesetzesdekrets Nr. 91/2014 der Corte costituzionale (Verfassungsgerichtshof, Italien) vorgelegt. Diese entschied mit Urteil vom 24. Januar 2017, dass diese Bestimmung nicht gegen die italienische Verfassung verstoße. Sie stelle einen Eingriff dar, der, was einen gerechten Ausgleich der betroffenen gegensätzlichen Interessen angehe, einem öffentlichen Interesse entspreche, das darin bestehe, die Politik der Förderung der Energieerzeugung aus erneuerbaren Quellen mit einer bestmöglichen Tragbarkeit der damit verbundenen Kosten für die Stromendverbraucher zu verbinden. Außerdem sei die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Änderung der Förderregelung weder unvorhersehbar noch plötzlich gewesen, so dass ein umsichtiger und besonnener Wirtschaftsteilnehmer in Anbetracht des temporären und veränderlichen Charakters von Förderregelungen die mögliche gesetzliche Entwicklung hätte berücksichtigen können.
17 Das vorlegende Gericht ist jedoch der Ansicht, dass mit diesem Urteil der Corte costituzionale (Verfassungsgerichtshof) bestimmte Fragen, die für die Entscheidung der Ausgangsrechtsstreitigkeiten von Belang seien, nicht entschieden worden seien und dass dem Gerichtshof eine Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt werden müsse, um zu ermitteln, ob es dem nationalen Gesetzgeber nach dem Unionsrecht gestattet ist, in einer Art und Weise tätig zu werden, die nicht nur die allgemeine Förderregelung, die auf die Unternehmen des betreffenden Sektors anwendbar ist, sondern auch die Vereinbarungen negativ beeinträchtigt, die von diesen Unternehmen mit einer öffentlichen Gesellschaft, im vorliegenden Fall GSE, zur Festlegung der konkreten Fördermaßnahmen für einen Zeitraum von 20 Jahren individuell geschlossen wurden.
18 Es fragt sich insbesondere, ob die betreffenden nationalen Bestimmungen mit den allgemeinen Grundsätzen der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes vereinbar sind. Denn der im Ausgangsverfahren in Rede stehende Eingriff des Gesetzgebers habe die rechtlichen Voraussetzungen, auf deren Grundlage die Kläger des Ausgangsverfahrens ihre wirtschaftliche Tätigkeit begonnen hätten, einseitig geändert, und zwar ohne dass besondere Umstände vorlägen, die eine solche Änderung gerechtfertigt hätten. Aus denselben Gründen hat es auch Zweifel an der Vereinbarkeit dieser Bestimmungen mit den Art. 16 und 17 der Charta, die die unternehmerische Freiheit bzw. das Eigentumsrecht betreffen, sowie mit Art. 10 der Energiecharta.
19 Ferner könnten nach Ansicht des vorlegenden Gerichts die betreffenden nationalen Bestimmungen mit Art. 3 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2009/28 unvereinbar sein, da sie die Förderregelungen für die Erzeugung elektrischer Energie aus Fotovoltaikanlagen, die gemäß dieser Richtlinie stabil und konstant sein sollten, negativ beeinträchtigen könnten. Auch könnten diese Bestimmungen die Ziele der Energiepolitik im Sinne dieser Richtlinie beeinträchtigen.
20 Unter diesen Umständen hat das Tribunale amministrativo regionale per il Lazio (Regionales Verwaltungsgericht Latium) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof in jeder der verbundenen Rechtssachen die folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:
Steht das Unionsrecht der Anwendung einer nationalen Bestimmung wie Art. 26 Abs. 2 und 3 des Gesetzesdekrets Nr. 91/2014 entgegen, die die Zahlung von Förderungen erheblich senkt oder verzögert, die bereits gesetzlich gewährt und auf der Grundlage entsprechender Verträge festgelegt wurden, die die Erzeuger von Strom aus fotovoltaischer Umwandlung mit der für diese Aufgabe zuständigen GSE, einer Gesellschaft öffentlichen Rechts, geschlossen haben?
Ist eine solche nationale Bestimmung insbesondere mit den allgemeinen unionsrechtlichen Grundsätzen des Vertrauensschutzes, der Rechtssicherheit, der loyalen Zusammenarbeit und der praktischen Wirksamkeit, mit den Art. 16 und 17 der Charta, mit der Richtlinie 2009/28 und den darin enthaltenen Bestimmungen über Förderregelungen sowie mit Art. 216 Abs. 2 AEUV, insbesondere im Hinblick auf die Energiecharta, vereinbar?
21 Mit Entscheidung des Präsidenten des Gerichtshofs vom 5. Februar 2019 sind die Rechtssachen C‑798/18 und C‑799/18 zu gemeinsamem schriftlichen und mündlichen Verfahren und zu gemeinsamer Entscheidung verbunden worden.
Zur Vorlagefrage
22 Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 3 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2009/28 und die Art. 16 und 17 der Charta im Licht der Grundsätze der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes sowie Art. 10 der Energiecharta dahin auszulegen sind, dass sie einer nationalen Regelung entgegenstehen, die die Kürzung oder die Aufschiebung der Zahlung von Förderleistungen für von Fotovoltaikanlagen erzeugten Strom vorsehen, die zuvor durch Verwaltungsentscheidungen bewilligt wurden und durch entsprechende, zwischen den Betreibern dieser Anlagen und einer öffentlichen Gesellschaft geschlossene Vereinbarungen bestätigt wurden.
23 Dieses Gericht stellt fest, dass Art. 26 des Gesetzesdekrets Nr. 91/2014 die gemäß Art. 7 des gesetzesvertretenden Dekrets Nr. 387/2003 oder Art. 25 des gesetzesvertretenden Dekrets Nr. 28/2011 gewährten Förderungen für Anlagen mit einer Nennleistung von mehr als 200 kW neu organisiert habe, um das Management der Zeiten für Beschaffung und Auszahlung der Förderleistungen zu optimieren und die Politik der Förderung erneuerbarer Energien nachhaltiger zu gestalten. So sah dieser Art. 26 in seinem Abs. 2 vor, dass die Fördertarife ab dem zweiten Halbjahr 2014 in konstanten monatlichen Raten in Höhe von 90 % der geschätzten durchschnittlichen jährlichen Produktionskapazität jeder Anlage im Erzeugungskalenderjahr gezahlt werden sollten und anschließend die Abrechnung anhand der tatsächlichen Produktion vorgenommen werden sollte. Außerdem wurde mit ihm der Übergang zu einem anderen Tarifsystem gemäß einer der in seinem Abs. 3 genannten Optionen festgelegt, und zwar die Verlängerung der Förderdauer auf 24 Jahre mit einer proportionalen Senkung der jährlichen Zahlungen um einen bestimmten Prozentsatz, die Senkung der Beträge für den Zeitraum 2015 bis 2019, die durch eine Erhöhung für den späteren Zeitraum ausgeglichen wird, oder eine Senkung des Tarifs um einen Prozentsatz, der im Verhältnis zur Nennleistung der Anlagen zu ermitteln ist.
24 Das vorlegende Gericht ist der Auffassung, dass dieser Art. 26 gegen das Unionsrecht verstoßen könnte, da mit ihm die Fördertarife gesenkt worden seien und die Modalitäten für die Zahlung der Förderleistungen geändert worden seien, die in Anwendung von Art. 7 des gesetzesvertretenden Dekrets Nr. 387/2003 sowie Art. 25 Abs. 10 des gesetzesvertretenden Dekrets Nr. 28/2011 bereits gewährt und durch Vereinbarungen bestätigt worden seien, die von GSE mit den Betreibern der Fotovoltaikanlagen individuell geschlossenen worden seien und in denen die konkreten Fördertarife und die speziellen Modalitäten ihrer Zahlung für einen Zeitraum von 20 Jahren angegeben worden seien.
25 Was erstens die Richtlinie 2009/28 betrifft, die mit der in den Ausgangsverfahren in Rede stehenden Förderregelung umgesetzt werden soll, hat diese zum Ziel, wie aus ihrem Art. 1 hervorgeht, einen gemeinsamen Rahmen für die Förderung von Energie aus erneuerbaren Quellen vorzuschreiben, indem in ihr u. a. verbindliche nationale Ziele für den Gesamtanteil von Energie aus solchen Quellen am Bruttoendenergieverbrauch festgelegt werden.
26 Art. 3 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2009/28 sieht vor, dass die Mitgliedstaaten u. a. Förderregelungen anwenden können, um die in Art. 3 Abs. 1 und 2 dieser Richtlinie vorgesehenen Ziele zu erreichen, nach denen zum einen jeder Mitgliedstaat dafür sorgt, dass sein Anteil von Energie aus erneuerbaren Quellen am Bruttoendenergieverbrauch im Jahr 2020 mindestens seinem nationalen Gesamtziel gemäß Anhang I Teil A der Richtlinie entspricht, und zum anderen die Mitgliedstaaten Maßnahmen treffen, um effektiv zu gewährleisten, dass ihr Anteil von Energie aus erneuerbaren Quellen den im indikativen Zielpfad in Anhang I Teil B der Richtlinie angegebenen Anteil erreicht oder übersteigt.
27 Außerdem haben nach dem 25. Erwägungsgrund der Richtlinie 2009/28 „[d]ie Mitgliedstaaten … unterschiedliche Potenziale im Bereich der erneuerbaren Energie“ und müssen Wirkung und Kosten ihrer nationalen Förderregelungen entsprechend ihrem jeweiligen Potenzial kontrollieren können, damit diese Regelungen ungestört funktionieren können.
28 Wie sich aus dem Wortlaut von Art. 3 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2009/28, insbesondere dem Wort „können“, entnehmen lässt, sind die Mitgliedstaaten keineswegs verpflichtet, im Hinblick auf die Förderung der Nutzung von Energie aus erneuerbaren Quellen Förderregelungen zu erlassen. Sie verfügen nämlich hinsichtlich der Maßnahmen, die sie für geeignet halten, die sich aus Art. 3 Abs. 1 und 2 in Verbindung mit Anhang I dieser Richtlinie ergebenden verbindlichen nationalen Gesamtziele zu erfüllen, über einen Wertungsspielraum. Ein solcher Wertungsspielraum bedeutet, dass es den Mitgliedstaaten freisteht, Förderregelungen zu erlassen, zu ändern oder zu streichen, sofern – u. a. – diese Ziele erreicht werden (Urteil vom 11. Juli 2019, Agrenergy und Fusignano Due, C‑180/18, C‑286/18 und C‑287/18, EU:C:2019:605, Rn. 27).
29 Ferner ist hervorzuheben, dass die Mitgliedstaaten nach ständiger Rechtsprechung, wenn sie in dieser Weise Maßnahmen zur Umsetzung des Unionsrechts erlassen, die allgemeinen Rechtsgrundsätze einzuhalten haben, zu denen insbesondere die Grundsätze der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes zählen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 11. Juli 2019, Agrenergy und Fusignano Due, C‑180/18, C‑286/18 und C‑287/18, EU:C:2019:605, Rn. 28 und die dort angeführte Rechtsprechung).
30 Daraus folgt, dass Art. 3 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2009/28 einer nationalen Regelung wie Art. 26 Abs. 2 und 3 des Gesetzesdekrets Nr. 91/2014, mit der eine Förderregelung dadurch geändert wird, dass die Tarife gesenkt werden und die Modalitäten für die Zahlung der Förderungen zur Stromerzeugung aus Fotovoltaikanlagen gesenkt werden, nicht entgegensteht, sofern sie diese Grundsätze beachtet.
31 Was zweitens die Art. 16 und 17 der Charta betrifft, ist festzustellen, dass, wie aus ihren jeweiligen Überschriften und ihrem jeweiligen Inhalt hervorgeht, mit dem gesetzesvertretenden Dekret Nr. 387/2003 die Richtlinie 2001/77 und mit dem gesetzesvertretenden Dekret Nr. 28/2011 die Richtlinie 2009/28, mit der die erstgenannte Richtlinie aufgehoben wurde, in italienisches Recht umgesetzt wird. Daraus folgt, dass mit den Bestimmungen dieser gesetzesvertretenden Dekrete das Unionsrecht im Sinne von Art. 51 Abs. 1 der Charta umgesetzt wird, so dass sie auf die Ausgangsrechtsstreitigkeiten anwendbar ist. Infolgedessen muss bei einer solchen Umsetzung das in der Charta vorgesehene grundrechtliche Schutzniveau unabhängig von dem Umsetzungsspielraum, über den die Mitgliedstaaten bei einer solchen Umsetzung verfügen, erreicht werden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 29. Juli 2019, Pelham u. a., C‑476/17, EU:C:2019:624, Rn. 79).
32 Was erstens Art. 17 der Charta betrifft, bestimmt dieser in Abs. 1, dass jede Person das Recht hat, ihr rechtmäßig erworbenes Eigentum zu besitzen, zu nutzen, darüber zu verfügen und es zu vererben. Niemandem darf sein Eigentum entzogen werden, es sei denn aus Gründen des öffentlichen Interesses in den Fällen und unter den Bedingungen, die in einem Gesetz vorgesehen sind, sowie gegen eine rechtzeitige angemessene Entschädigung für den Verlust des Eigentums. Außerdem kann die Nutzung des Eigentums gesetzlich geregelt werden, soweit dies für das Wohl der Allgemeinheit erforderlich ist.
33 Aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs geht hervor, dass sich der in diesem Artikel gewährte Schutz nicht auf bloße kaufmännische Interessen oder Aussichten bezieht, deren Ungewissheit zum Wesen der wirtschaftlichen Tätigkeiten gehört, sondern auf vermögenswerte Rechte, aus denen sich im Hinblick auf die Rechtsordnung eine gesicherte Rechtsposition ergibt, die eine selbständige Ausübung dieser Rechte durch und zugunsten ihres Inhabers ermöglicht (Urteile vom 22. Januar 2013, Sky Österreich, C‑283/11, EU:C:2013:28, Rn. 34, und vom 21. Mai 2019, Kommission/Ungarn [Nießbrauchsrechte an landwirtschaftlichen Flächen], C‑235/17, EU:C:2019:432, Rn. 69).
34 Somit ist im vorliegenden Fall zu prüfen, ob sich die in Art. 17 Abs. 1 der Charta gewährten Garantien auf Förderungen von Solarstromerzeugung wie die in den Ausgangsverfahren in Rede stehenden erstreckt, die noch nicht ausgezahlt worden sind, aber im Rahmen einer bestehenden Förderregelung bewilligt wurden.
35 Was die Frage betrifft, ob davon ausgegangen werden kann, dass diese Förderleistungen einen Vermögenswert haben, geht aus der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu Art. 1 des Protokolls Nr. 1 der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten, die nach Art. 52 Abs. 3 der Charta zu berücksichtigen ist, hervor, dass der Begriff „Eigentum“ im ersten Teil dieses Art. 1 eine autonome Bedeutung hat, die nicht auf das Eigentum an körperlichen Gegenständen beschränkt ist, und dass bestimmte andere Rechte und Interessen, die Vermögenswerte darstellen, auch als „Vermögensrechte“ angesehen werden können (EGMR, 22. Juni 2004, Broniowski/Polen, CE:ECHR:2004:0622JUD003144396, § 129).
36 So hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte entschieden, dass der Begriff „Eigentum“ unter bestimmten Voraussetzungen Vermögenswerte, u. a. Forderungen, einschließen kann (vgl. in diesem Sinne EGMR, 28. September 2004, Kopecký/Slowakei, CE:ECHR:2004:0928JUD004491298, § 35).
37 Vorliegend geht aus den dem Gerichtshof vorgelegten Akten hervor, dass die Vereinbarungen, die von GSE mit den betreffenden Betreibern von Fotovoltaikanlagen in Anwendung von Art. 7 des gesetzesvertretenden Dekrets Nr. 387/2003 sowie Art. 25 Abs. 10 des gesetzesvertretenden Dekrets Nr. 28/2011 geschlossen wurden, ad hoc und individuell geschlossen wurden und dass in diesen Vereinbarungen die konkreten Fördertarife und ihre Laufzeit angegeben wurden. Die auf der Grundlage dieser Bestimmungen gewährten und mit diesen Vereinbarungen bestätigten Förderungen stellten daher offenbar keine bloßen kaufmännischen Interessen oder Aussichten dar, sondern hatten einen Vermögenswert.
38 Damit das Recht, Förderleistungen wie die in den Ausgangsverfahren in Rede stehenden zu erhalten, unter den von Art. 17 der Charta gewährten Schutz fallen kann, ist in Anbetracht der in Rn. 33 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung aber noch zu prüfen, ob dieses Recht eine gesicherte Rechtsposition im Sinne dieser Rechtsprechung darstellt (vgl. entsprechend Urteil vom 22. Januar 2013, Sky Österreich, C‑283/11, EU:C:2013:28, Rn. 36).
39 Der Gerichtshof hat in Rn. 61 des Urteils vom 3. September 2015, Inuit Tapiriit Kanatami u. a./Kommission (C‑398/13 P, EU:C:2015:535), darauf hingewiesen, dass aus der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu Art. 1 des Protokolls Nr. 1 zur Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten hervorgeht, dass künftige Einnahmen nur dann als unter den Schutz von Art. 17 der Charta fallendes „Eigentum“ angesehen werden können, wenn sie bereits erzielt wurden, wenn sie Gegenstand einer einredefreien Forderung waren oder wenn besondere Umstände vorliegen, die beim Betroffenen ein berechtigtes Vertrauen darauf begründen konnten, einen Vermögenswert zu erhalten.
40 In Anbetracht der Rn. 30 und 39 des vorliegenden Urteils ist daher die Tragweite der Grundsätze der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes in Bezug auf die in den Ausgangsverfahren in Rede stehende nationale Regelung zu prüfen.
41 Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs gebietet der Grundsatz der Rechtssicherheit, von dem sich der Grundsatz des Vertrauensschutzes ableitet, dass Rechtsvorschriften – vor allem dann, wenn sie nachteilige Folgen für Einzelne und Unternehmen haben können – klar und bestimmt sowie in ihrer Anwendung für den Einzelnen vorhersehbar sind. Insbesondere verlangt dieser Grundsatz, dass eine Regelung es den Betroffenen ermöglicht, den Umfang der ihnen damit auferlegten Verpflichtungen genau zu erkennen, und dass sie ihre Rechte und Pflichten eindeutig erkennen und sich darauf einstellen können (Urteil vom 11. Juli 2019, Agrenergy und Fusignano Due, C‑180/18, C‑286/18 und C‑287/18, EU:C:2019:605, Rn. 29 und 30 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).
42 Nach ebenfalls ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs steht die Möglichkeit, sich auf den Grundsatz des Vertrauensschutzes zu berufen, jedem Wirtschaftsteilnehmer offen, bei dem eine nationale Behörde begründete Erwartungen geweckt hat. Ist jedoch ein umsichtiger und besonnener Wirtschaftsteilnehmer in der Lage, den Erlass einer Maßnahme, die seine Interessen berühren kann, vorherzusehen, so kann er sich im Fall ihres Erlasses nicht auf diesen Grundsatz berufen. Zudem sind die Wirtschaftsteilnehmer nicht berechtigt, auf die Beibehaltung einer bestehenden Situation zu vertrauen, die die nationalen Behörden im Rahmen ihres Ermessens ändern können (Urteil vom 11. Juli 2019, Agrenergy und Fusignano Due, C‑180/18, C‑286/18 und C‑287/18, EU:C:2019:605, Rn. 31 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).
43 Es ist Sache des vorlegenden Gerichts, zu prüfen, ob eine nationale Regelung wie die in den Ausgangsverfahren in Rede stehende mit diesen Grundsätzen vereinbar ist, da der Gerichtshof, wenn er im Rahmen eines Vorabentscheidungsersuchens nach Art. 267 AEUV entscheidet, darauf beschränkt ist, dem vorlegenden Gericht alle unionsrechtlichen Auslegungshinweise zu geben, die es diesem ermöglichen können, die Frage der Vereinbarkeit zu beurteilen. Das vorlegende Gericht kann zu diesem Zweck alle relevanten Gesichtspunkte berücksichtigen, die u. a. aus Wortlaut, Zweck oder Aufbau der betreffenden Rechtsvorschriften hervorgehen (Urteil vom 11. Juli 2019, Agrenergy und Fusignano Due, C‑180/18, C‑286/18 und C‑287/18, EU:C:2019:605, Rn. 33 und 34 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).
44 Um dem vorlegenden Gericht eine zweckdienliche Antwort zu geben, ist insbesondere auf folgende Gesichtspunkte hinzuweisen, die sich aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten ergeben.
45 Was zunächst das gesetzesvertretende Dekret Nr. 387/2003 anbelangt, mit dem die Regelung zur Förderung der Stromerzeugung mit Fotovoltaikanlagen in Italien durch Umsetzung der Richtlinie 2001/77 eingeführt wurde, geht aus Art. 7 Abs. 2 dieses gesetzesvertretenden Dekrets hervor, dass, was den von Fotovoltaikanlagen erzeugten Strom betrifft, mit den Ministerialdekreten über die Anwendung dieses gesetzesvertretenden Dekrets ein besonderer, degressiver Fördertarif festgelegt wurde, dessen Höhe und Laufzeit so bemessen sind, dass eine angemessene Vergütung für die Investitionskosten gewährleistet ist. Mit diesen Dekreten wurde auch eine Obergrenze für die elektrische Gesamtleistung aller Anlagen festgelegt, die Förderleistungen erhalten können.
46 Im Hinblick auf den Wortlaut dieses Art. 7 kann daher vorbehaltlich der vom vorlegenden Gericht vorzunehmenden Überprüfungen davon ausgegangen werden, dass ihm ein umsichtiger und besonnener Wirtschaftsteilnehmer im Sinne der in Rn. 42 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung entnehmen konnte, dass die in Rede stehenden Förderleistungen insbesondere unter Berücksichtigung des Verweises auf die Degressivität der Fördertarife sowie auf die begrenzte Laufzeit der Förderung und der Festlegung einer Obergrenze für die dafür in Frage kommende elektrische Gesamtleistung nicht allen betroffenen Wirtschaftsteilnehmern in einem bestimmten Zeitraum garantiert wurden.
47 Was sodann das gesetzesvertretende Dekret Nr. 28/2011 betrifft, mit dem das gesetzesvertretende Dekret Nr. 387/2003 aufgehoben wurde, hat der Gerichtshof im Wesentlichen bereits dieselbe Feststellung getroffen, indem er in Rn. 44 des Urteils vom 11. Juli 2019, Agrenergy und Fusignano Due (C‑180/18, C‑286/18 und C‑287/18, EU:C:2019:605), entschieden hat, dass die aufgrund dieses Dekrets erlassenen Bestimmungen des nationalen Rechts geeignet waren, umsichtige und besonnene Wirtschaftsteilnehmer von Anfang an darauf hinzuweisen, dass die für Fotovoltaikanlagen geltende Förderregelung von den nationalen Behörden möglicherweise angepasst oder sogar aufgehoben werden würde, um der Entwicklung bestimmter Umstände Rechnung zu tragen.
48 Das gesetzesvertretende Dekret Nr. 28/2011 bestimmte nämlich in seinem Art. 25, dass die Förderung der Erzeugung elektrischer Energie durch Fotovoltaikanlagen durch ein Ministerialdekret geregelt wird, in dem eine jährliche Obergrenze für die elektrische Gesamtleistung solcher Anlagen, die Förderleistungen erhalten können, unter Berücksichtigung der Senkung der Kosten für Technologie und Anlagen sowie der in den anderen Mitgliedstaaten angewandten Fördermaßnahmen und der Art des Anlagenstandorts festgelegt wird.
49 Was schließlich die mit GSE geschlossenen Vereinbarungen betrifft, geht aus den dem Gerichtshof vorgelegten Akten hervor, dass zum einen die mit den Eigentümern der betreffenden, vor dem 31. Dezember 2012 in Betrieb genommenen Fotovoltaikanlagen geschlossenen Vereinbarungen nur die praktischen Voraussetzungen für die Zahlung der Förderleistungen vorsahen, die in Form einer früheren von GSE getroffenen Verwaltungsentscheidung bewilligt worden waren. Nach Angaben der italienischen Regierung wurden diese Vereinbarungen von der Corte costituzionale (Verfassungsgerichtshof) als auf einen Verwaltungsakt folgende öffentlich-rechtliche Verträge eingestuft.
50 Was zum anderen die Förderleistungen für die nach dem 31. Dezember 2012 in Betrieb genommenen Anlagen betrifft, wurden diese Förderleistungen, wie aus dem Wortlaut von Art. 24 Abs. 2 Buchst. d des gesetzesvertretenden Dekrets Nr. 28/2011 hervorgeht, auf der Grundlage eines von der Strom- und Gasbehörde entworfenen Mustervertrags durch privatrechtliche Verträge „gewährt“, die zwischen GSE und den für die betreffenden Anlagen Verantwortlichen geschlossen wurden.
51 Wie die italienische Regierung in ihren schriftlichen Erklärungen ausgeführt hat, wurden die zwischen den Betreibern der betreffenden Fotovoltaikanlagen und GSE geschlossenen Vereinbarungen folglich auf der Grundlage von Musterverträgen geschlossen, wurden mit ihnen als solche keine Förderleistungen für diese Anlagen gewährt, sondern nur die Modalitäten ihrer Zahlung festgelegt, und behielt sich GSE zumindest, was die nach dem 31. Dezember 2012 geschlossenen Vereinbarungen betrifft, das Recht vor, deren Bedingungen wegen etwaiger rechtlicher Entwicklungen einseitig zu ändern, worauf in diesen Vereinbarungen ausdrücklich hingewiesen wurde. Diese Gesichtspunkte stellten somit einen hinreichend klaren Hinweis an die Wirtschaftsteilnehmer dar, dass die betreffenden Förderungen geändert oder aufgehoben werden könnten.
52 Außerdem betreffen die in Art. 26 Abs. 2 und 3 des Gesetzesdekrets Nr. 91/2014 vorgesehenen Maßnahmen nicht die bereits gezahlten Förderleistungen, sondern sind nur ab dem Inkrafttreten dieses Gesetzesdekrets und nur auf die vorgesehenen, aber noch nicht fälligen Förderleistungen anwendbar. Diese Maßnahmen sind daher entgegen dem Vorbringen der Kläger der Ausgangsverfahren nicht rückwirkend.
53 Alle diese Umstände scheinen – wiederum vorbehaltlich der vom vorlegenden Gericht vorzunehmenden Überprüfungen – eindeutig aus der in den Ausgangsverfahren in Rede stehenden nationalen Regelung hervorzugehen, so dass ihre Anwendung grundsätzlich vorhersehbar war. Aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten geht nämlich hervor, dass die in den Ausgangsverfahren in Rede stehenden Rechtsvorschriften ordnungsgemäß bekannt gemacht wurden, dass sie hinreichend klar waren und dass die Kläger der Ausgangsverfahren von ihrem Inhalt Kenntnis erlangt hatten. Ein umsichtiger und besonnener Wirtschaftsteilnehmer kann sich daher nicht auf eine Beeinträchtigung der Grundsätze der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes mit dem Argument berufen, dass diese Regelung geändert worden sei.
54 Folglich ist festzustellen, wie auch der Generalanwalt in Nr. 48 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, dass das von den betreffenden Fotovoltaikanlagenbetreibern geltend gemachte Recht, für die gesamte Laufzeit der Vereinbarungen, die sie mit GSE geschlossen haben, unverändert in den Genuss der in den Ausgangsverfahren in Rede stehenden Förderleistungen zu kommen, keine gesicherte Rechtsposition darstellt und nicht unter den in Art. 17 der Charta vorgesehenen Schutz fällt und dass infolgedessen die Änderung der Höhe dieser Förderleistungen oder der Modalitäten ihrer Zahlung durch eine nationale Bestimmung wie Art. 26 des Gesetzesdekrets Nr. 91/2014 nicht mit einem Eingriff in das Eigentumsrecht, wie es von diesem Art. 17 anerkannt wird, gleichgestellt werden kann.
55 Was zweitens Art. 16 der Charta betrifft, ist darauf hinzuweisen, dass dieser die unternehmerische Freiheit schützt und vorsieht, dass sie nach dem Unionsrecht und den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten anerkannt wird.
56 Hierzu geht aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs hervor, dass der durch Art. 16 gewährte Schutz die Freiheit, eine Wirtschafts- oder Geschäftstätigkeit auszuüben, die Vertragsfreiheit und den freien Wettbewerb umfasst, wie aus den Erläuterungen zu diesem Artikel hervorgeht, die gemäß Art. 6 Abs. 1 Unterabs. 3 EUV und Art. 52 Abs. 7 der Charta für deren Auslegung zu berücksichtigen sind (Urteil vom 22. Januar 2013, Sky Österreich, C‑283/11, EU:C:2013:28, Rn. 42 und die dort angeführte Rechtsprechung).
57 Die Vertragsfreiheit im Sinne von Art. 16 der Charta umfasst u. a. die freie Wahl des Geschäftspartners sowie die Freiheit, den Preis für eine Leistung festzulegen (Urteil vom 20. Dezember 2017, Polkomtel, C‑277/16, EU:C:2017:989, Rn. 50).
58 Im vorliegenden Fall machen die Kläger der Ausgangsverfahren geltend, dass Art. 26 Abs. 2 und 3 des Gesetzesdekrets Nr. 91/2014 einen Eingriff in die Vertragsfreiheit der Empfänger der von den mit GSE geschlossenen Vereinbarungen vorgesehenen Förderleistungen sowie in ihr Recht, frei über ihre wirtschaftlichen und finanziellen Ressourcen zu verfügen, darstelle, da mit diesem Gesetzesdekret die Voraussetzungen für die Gewährung dieser Förderleistungen geändert worden seien.
59 Wie in den Rn. 49 und 50 des vorliegenden Urteils festgestellt wurde, geht aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten jedoch zum einen hervor, dass die mit den Eigentümern der vor dem 31. Dezember 2012 in Betrieb genommenen Anlagen geschlossenen Vereinbarungen nur die praktischen Voraussetzungen für die Zahlung der durch vorherige Verwaltungsentscheidungen bewilligten Förderleistungen vorsahen und dass zum anderen die Förderungen für die nach diesem Datum in Betrieb genommenen Anlagen mittels Musterverträgen bestätigt wurden, die zwischen GSE und den betreffenden Betreibern der Anlagen geschlossen wurden und in denen nur die Modalitäten für die Zahlung dieser Förderleistungen festgelegt wurden.
60 Die Kläger der Ausgangsverfahren verfügten folglich offenbar über keine Verhandlungsmacht bezüglich des Inhalts der mit GSE geschlossenen Vereinbarungen. Wie der Generalanwalt in Nr. 70 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, besteht nämlich, wenn es sich um einen von einer Vertragspartei aufgesetzten Mustervertrag handelt, die Vertragsfreiheit der anderen Partei im Wesentlichen darin, zu entscheiden, ob sie die Bedingungen eines solchen Vertrags akzeptiert oder nicht. Wie in Rn. 51 des vorliegenden Urteils ausgeführt wurde, behielt sich GSE außerdem, zumindest was die nach dem 31. Dezember 2012 geschlossenen Vereinbarungen betrifft, das Recht vor, die Bedingungen dieser Vereinbarungen einseitig zu ändern.
61 Daher kann die in den Ausgangsverfahren in Rede stehende nationale Regelung vorbehaltlich der vom vorlegenden Gericht durchzuführenden Überprüfungen nicht als Eingriff in die Vertragsfreiheit der Parteien der in den Ausgangsverfahren in Rede stehenden Vereinbarungen im Sinne von Art. 16 der Charta angesehen werden.
62 Außerdem umfasst die in der letztgenannten Bestimmung verbürgte unternehmerische Freiheit auch das Recht jedes Unternehmens, in den Grenzen seiner Verantwortlichkeit für seine eigenen Handlungen frei über seine wirtschaftlichen, technischen und finanziellen Ressourcen verfügen zu können (Urteile vom 27. März 2014, UPC Telekabel Wien, C‑314/12, EU:C:2014:192, Rn. 49, und vom 30. Juni 2016, Lidl, C‑134/15, EU:C:2016:498, Rn. 27).
63 Eine Beschränkung dieses Rechts stellt u. a. die Pflicht dar, Maßnahmen zu ergreifen, die für einen Wirtschaftsteilnehmer unter Umständen mit erheblichen Kosten verbunden sind, beträchtliche Auswirkungen auf die Ausgestaltung seiner Tätigkeiten haben oder schwierige und komplexe technische Lösungen erfordern (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 27. März 2014, UPC Telekabel Wien, C‑314/12, EU:C:2014:192, Rn. 50).
64 Im vorliegenden Fall erweist sich allerdings nicht, dass Art. 26 des Gesetzesdekrets Nr. 91/2014 das Recht der Betreiber der betreffenden Fotovoltaikanlagen im Sinne der in den Rn. 62 und 63 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung beschränkt hätte, frei über Ressourcen zu verfügen, die sie besitzen. Denn die Fördertarife, wie sie durch die Verwaltungsakte bewilligt und in den zwischen diesen Betreibern und GSE geschlossenen Vereinbarungen bestätigt wurden, können nicht als solche Ressourcen angesehen werden, da es sich, wie im Wesentlichen aus den Rn. 51 bis 53 des vorliegenden Urteils hervorgeht, nur um vorgesehene, aber noch nicht fällige Förderleistungen handelt, und diese Betreiber können sich nicht auf ein berechtigtes Vertrauen, solche Förderleistungen unverändert zu erhalten, berufen.
65 Demzufolge geht aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten nicht hervor, dass Art. 26 Abs. 2 und 3 des Gesetzesdekrets Nr. 91/2014 die Betreiber von Fotovoltaikanlagen Zwängen wie denen unterworfen hätte, die in der in Rn. 63 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung genannt werden.
66 Folglich ist festzustellen, dass eine nationale Bestimmung wie Art. 26 des Gesetzesdekrets Nr. 91/2014 nicht als ein Eingriff in die in Art. 16 der Charta verbürgte unternehmerische Freiheit angesehen werden kann.
67 Soweit sich das vorlegende Gericht Fragen zur Vereinbarkeit von Art. 26 Abs. 2 und 3 des Gesetzesdekrets Nr. 91/2014 mit Art. 10 der Energiecharta stellt, ist drittens festzustellen, dass diese Charta in Anbetracht von Art. 216 Abs. 2 AEUV die Organe der Europäischen Union und die Mitgliedstaaten bindet, da sie ein gemischtes Abkommen ist.
68 Nach Art. 10 der Energiecharta fördert und schafft jede Vertragspartei im Einklang mit diesem Vertrag dauerhafte, gerechte, günstige und transparente Bedingungen für Investoren „anderer Vertragsparteien“, in ihrem Gebiet Investitionen vorzunehmen.
69 Dem Wortlaut von Art. 10 der Energiecharta ist zu entnehmen, dass die in diesem Artikel festgelegten Bedingungen für die Investoren anderer Vertragsparteien sichergestellt werden müssen.
70 Im vorliegenden Fall geht aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten jedoch nicht hervor, dass es sich bei einem oder mehreren der betreffenden Investoren um Investoren anderer Vertragsparteien im Sinne von Art. 10 der Energiecharta handelt oder dass sie einen Verstoß gegen diesen Artikel in einer solchen Investoreneigenschaft geltend gemacht haben. Folglich ist Art. 10 der Energiecharta auf die Ausgangsverfahren nicht anwendbar, so dass die Vereinbarkeit der nationalen Regelung mit dieser Bestimmung nicht zu prüfen ist.
71 Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass vorbehaltlich der Überprüfungen, die das vorlegende Gericht unter Berücksichtigung aller maßgeblichen Gesichtspunkte durchführen muss, Art. 3 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2009/28 und die Art. 16 und 17 der Charta im Licht der Grundsätze der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes dahin auszulegen sind, dass sie einer nationalen Regelung, die die Kürzung oder die Aufschiebung der Zahlung von Förderleistungen für von Fotovoltaikanlagen erzeugten Strom vorsieht, die zuvor durch Verwaltungsentscheidungen bewilligt wurden und durch entsprechende, zwischen den Betreibern dieser Anlagen und einer öffentlichen Gesellschaft geschlossene Vereinbarungen bestätigt wurden, nicht entgegenstehen, wenn diese Regelung die bereits vorgesehenen, aber noch nicht fälligen Förderleistungen betrifft.
Kosten
72 Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Fünfte Kammer) für Recht erkannt:
Vorbehaltlich der Überprüfungen, die das vorlegende Gericht unter Berücksichtigung aller maßgeblichen Gesichtspunkte durchführen muss, sind Art. 3 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2009/28/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23. April 2009 zur Förderung der Nutzung von Energie aus erneuerbaren Quellen und zur Änderung und anschließenden Aufhebung der Richtlinien 2001/77/EG und 2003/30/EG und die Art. 16 und 17 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union im Licht der Grundsätze der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Regelung, die die Kürzung oder die Aufschiebung der Zahlung von Förderleistungen für von Fotovoltaikanlagen erzeugten Strom vorsieht, die zuvor durch Verwaltungsentscheidungen bewilligt wurden und durch entsprechende, zwischen den Betreibern dieser Anlagen und einer öffentlichen Gesellschaft geschlossene Vereinbarungen bestätigt wurden, nicht entgegenstehen, wenn diese Regelung die bereits vorgesehenen, aber noch nicht fälligen Förderleistungen betrifft.
Unterschriften
(*1) Verfahrenssprache: Italienisch.
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Urteil des Gerichtshofs (Große Kammer) vom 17. Dezember 2020.#Centraal Israëlitisch Consistorie van België u. a.#Vorabentscheidungsersuchen des Grondwettelijk Hof.#Vorlage zur Vorabentscheidung – Schutz von Tieren zum Zeitpunkt der Tötung – Verordnung (EG) Nr. 1099/2009 – Art. 4 Abs. 1 – Pflicht, Tiere vor der Tötung zu betäuben – Art. 4 Abs. 4 – Ausnahme im Rahmen der rituellen Schlachtung – Art. 26 Abs. 2 – Möglichkeit für die Mitgliedstaaten, nationale Vorschriften zu erlassen, die einen umfassenderen Schutz von Tieren bei der rituellen Schlachtung bezwecken – Auslegung – Nationale Regelung, die für die rituelle Schlachtung eine Betäubung vorschreibt, die umkehrbar und nicht geeignet ist, den Tod herbeizuführen – Art. 13 AEUV – Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Art. 10 – Religionsfreiheit – Freiheit, seine Religion zu bekennen – Beschränkung – Verhältnismäßigkeit – Fehlender Konsens zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union – Den Mitgliedstaaten zuerkannter Wertungsspielraum – Subsidiaritätsprinzip – Gültigkeit – Unterschiedliche Behandlung der rituellen Schlachtung und der Tötung von Tieren bei der Jagd oder bei der Fischerei sowie bei kulturellen oder Sportveranstaltungen – Keine Diskriminierung – Art. 20, 21 und 22 der Charta der Grundrechte.#Rechtssache C-336/19.
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62019CJ0336
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ECLI:EU:C:2020:1031
| 2020-12-17T00:00:00 |
Hogan, Gerichtshof
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62019CJ0336
URTEIL DES GERICHTSHOFS (Große Kammer)
17. Dezember 2020 (*1)
„Vorlage zur Vorabentscheidung – Schutz von Tieren zum Zeitpunkt der Tötung – Verordnung (EG) Nr. 1099/2009 – Art. 4 Abs. 1 – Pflicht, Tiere vor der Tötung zu betäuben – Art. 4 Abs. 4 – Ausnahme im Rahmen der rituellen Schlachtung – Art. 26 Abs. 2 – Möglichkeit für die Mitgliedstaaten, nationale Vorschriften zu erlassen, die einen umfassenderen Schutz von Tieren bei der rituellen Schlachtung bezwecken – Auslegung – Nationale Regelung, die für die rituelle Schlachtung eine Betäubung vorschreibt, die umkehrbar und nicht geeignet ist, den Tod herbeizuführen – Art. 13 AEUV – Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Art. 10 – Religionsfreiheit – Freiheit, seine Religion zu bekennen – Beschränkung – Verhältnismäßigkeit – Fehlender Konsens zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union – Den Mitgliedstaaten zuerkannter Wertungsspielraum – Subsidiaritätsprinzip – Gültigkeit – Unterschiedliche Behandlung der rituellen Schlachtung und der Tötung von Tieren bei der Jagd oder bei der Fischerei sowie bei kulturellen oder Sportveranstaltungen – Keine Diskriminierung – Art. 20, 21 und 22 der Charta der Grundrechte“
In der Rechtssache C‑336/19
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Grondwettelijk Hof (Verfassungsgerichtshof, Belgien) mit Entscheidung vom 4. April 2019, beim Gerichtshof eingegangen am 18. April 2019, in dem Verfahren
Centraal Israëlitisch Consistorie van België u. a.,
Unie Moskeeën Antwerpen VZW,
Islamitisch Offerfeest Antwerpen VZW,
JG,
KH,
Executief van de Moslims van België u. a.,
Coördinatie Comité van Joodse Organisaties van België – Section belge du Congrès juif mondial et Congrès juif européen VZW u. a.
gegen
Vlaamse Regering,
Beteiligte:
LI,
Waalse Regering,
Kosher Poultry BVBA u. a.,
Global Action in the Interest of Animals VZW (GAIA),
erlässt
DER GERICHTSHOF (Große Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten K. Lenaerts, der Vizepräsidentin R. Silva de Lapuerta, des Kammerpräsidenten A. Arabadjiev, der Kammerpräsidentin A. Prechal, der Kammerpräsidenten E. Regan, M. Ilešič, L. Bay Larsen und A. Kumin, des Richters T. von Danwitz, der Richterin C. Toader, der Richter M. Safjan und D. Šváby (Berichterstatter), der Richterin L. S. Rossi sowie der Richter I. Jarukaitis und N. Jääskinen,
Generalanwalt: G. Hogan,
Kanzler: M. Ferreira, Hauptverwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 8. Juli 2020,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
–
des Centraal Israëlitisch Consistorie van België u. a. sowie der Kosher Poultry BVBA u. a., vertreten durch E. Maes und C. Caillet, advocaten, sowie durch E. Jacubowitz, avocat,
–
der Unie Moskeeën Antwerpen VZW und der Islamitisch Offerfeest Antwerpen VZW, vertreten durch I. Akrouh, advocaat,
–
des Executief van de Moslims van België u. a., vertreten durch J. Roets, advocaat,
–
des Coördinatie Comité van Joodse Organisaties van België – Section belge du Congrès juif mondial et Congrès juif européen VZW u. a., vertreten durch E. Cloots, advocaat,
–
von LI, vertreten durch sich selbst,
–
der Vlaamse Regering, vertreten durch V. De Schepper und J.‑F. De Bock, advocaten,
–
der Waalse Regering, vertreten durch X. Drion, advocaat,
–
der Global Action in the Interest of Animals VZW (GAIA), vertreten durch A. Godfroid, advocaat,
–
der dänischen Regierung, vertreten durch J. Nymann-Lindegren, M. P. Jespersen, P. Ngo und M. Wolff als Bevollmächtigte,
–
der finnischen Regierung, vertreten durch J. Heliskoski und H. Leppo als Bevollmächtigte,
–
der schwedischen Regierung, vertreten durch H. Eklinder, C. Meyer-Seitz, H. Shev, J. Lundberg und A. Falk als Bevollmächtigte,
–
des Rates der Europäischen Union, vertreten durch F. Naert und E. Karlsson als Bevollmächtigte,
–
der Europäischen Kommission, vertreten durch H. Krämer, A. Bouquet und B. Eggers als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 10. September 2020
folgendes
Urteil
1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 26 Abs. 2 Unterabs. 1 Buchst. c der Verordnung (EG) Nr. 1099/2009 des Rates vom 24. September 2009 über den Schutz von Tieren zum Zeitpunkt der Tötung (ABl. 2009, L 303, S. 1) sowie die Gültigkeit dieser Bestimmung im Hinblick auf die Art. 10 sowie 20, 21 und 22 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta).
2 Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen dem Centraal Israëlitisch Consistorie van België u. a. (im Folgenden zusammen: CICB u. a.), der Unie Moskeeën Antwerpen VZW und der Islamitisch Offerfeest Antwerpen VZW, JG und KH, dem Executief van de Moslims van België u. a. sowie dem Coördinatie Comité van Joodse Organisaties van België – Section belge du Congrès juif mondial et Congrès juif européen VZW u. a. auf der einen und der Vlaamse Regering (Flämische Regierung, Belgien) auf der anderen Seite über die Gültigkeit des Decreet houdende wijziging van de wet van 14 augustus 1986 betreffende de bescherming en het welzijn der dieren, wat de toegelaten methodes voor het slachten van dieren betreft (Dekret zur Änderung des Gesetzes vom 14. August 1986 über den Schutz und das Wohlbefinden der Tiere, was die zugelassenen Methoden für die Schlachtung von Tieren betrifft) vom 7. Juli 2017 (Belgisch Staatsblad vom 18. Juli 2017, S. 73318).
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
3 In den Erwägungsgründen 2, 4, 6, 11, 14 bis 16, 18, 20, 21, 43, 57 und 58 der Verordnung Nr. 1099/2009 heißt es:
„(2)
Die Tötung kann selbst unter den besten technischen Bedingungen Schmerzen, Stress, Angst oder andere Formen des Leidens bei den Tieren verursachen. Bestimmte Tätigkeiten im Zusammenhang mit der Tötung können Stress auslösen, und jedes Betäubungsverfahren hat Nachteile. Die Unternehmer oder jede an der Tötung von Tieren beteiligte Person sollten die erforderlichen Maßnahmen ergreifen, um Schmerzen zu vermeiden und den Stress und das Leiden für die Tiere beim Schlachten und bei der Tötung so gering wie möglich zu halten, wobei sie einschlägige bewährte Verfahren und die gemäß dieser Verordnung erlaubten Methoden beachten. Daher sollten Schmerzen, Stress oder Leiden als vermeidbar gelten, wenn ein Unternehmer oder eine an der Tötung von Tieren beteiligte Person gegen diese Verordnung verstößt oder erlaubte Verfahren einsetzt, sich aber keine Gedanken darüber macht, ob diese dem Stand der Wissenschaft entsprechen, und dadurch fahrlässig oder vorsätzlich Schmerzen, Stress oder Leiden für die Tiere verursacht.
…
(4) Der Tierschutz ist ein [Wert der Europäischen Union], der im Protokoll (Nr. 33) über den Tierschutz und das Wohlergehen der Tiere festgeschrieben wurde, das dem [EG‑]Vertrag beigefügt ist. Der Schutz von Tieren zum Zeitpunkt der Schlachtung bzw. Tötung ist im Interesse der Allgemeinheit und wirkt sich auf die Einstellung der Verbraucher gegenüber landwirtschaftlichen Erzeugnissen aus. Darüber hinaus trägt die Verbesserung des Schutzes von Tieren zum Zeitpunkt der Schlachtung zu einer besseren Fleischqualität bei und hat indirekt einen positiven Einfluss auf die Sicherheit am Arbeitsplatz im Schlachthof.
…
(6) Die durch die Verordnung (EG) Nr. 178/2002 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 28. Januar 2002 zur Festlegung der allgemeinen Grundsätze und Anforderungen des Lebensmittelrechts, zur Errichtung der Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit und zur Festlegung von Verfahren zur Lebensmittelsicherheit [(ABl. 2002, L 31, S. 1)] errichtete Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA) hat zwei Gutachten über die Tierschutzaspekte der wichtigsten Systeme zur Betäubung und Tötung bestimmter Tierarten angenommen: ein Gutachten über die Tierschutzaspekte der wichtigsten Systeme zur Betäubung und Tötung der bedeutendsten Nutztierarten (2004) und ein Gutachten über die Tierschutzaspekte der wichtigsten Systeme zur Betäubung und Tötung kommerziell genutzter Hirsche, Ziegen, Kaninchen, Strauße, Enten, Gänse und Feldhühner (2006). Damit diesen wissenschaftlichen Gutachten Rechnung getragen wird, sollten die [Unions]vorschriften auf diesem Gebiet auf den neuesten Stand gebracht werden. … Empfehlungen zu Zuchtfischen werden nicht in diese Verordnung aufgenommen, da weitere wissenschaftliche Gutachten und eine Bewertung aus wirtschaftlicher Sicht erforderlich sind.
…
(11) Fische unterscheiden sich in physiologischer Hinsicht wesentlich von Landtieren; die Schlachtung und Tötung von Zuchtfischen läuft ebenfalls ganz anders ab, insbesondere deren Kontrolle. Außerdem ist die Betäubung von Fischen viel weniger erforscht als diejenige anderer Nutztierarten. Für den Schutz von Fischen zum Zeitpunkt der Tötung sollten eigene Vorschriften festgelegt werden. Daher sollten die für Fische geltenden Vorschriften vorerst auf den zentralen Grundsatz beschränkt werden. Weitere Initiativen der [Union] sollten sich auf eine wissenschaftliche Bewertung der EFSA zur Schlachtung und Tötung von Fischen stützen und die sozialen, wirtschaftlichen und verwaltungstechnischen Auswirkungen berücksichtigen.
…
(14) Bei der Jagd oder bei der Freizeitfischerei sind die Umstände der Tötung ganz anders als im Fall von Nutztieren, und für die Jagd gelten eigene Rechtsvorschriften. Daher ist es angebracht, die Tötung im Rahmen der Jagd oder der Freizeitfischerei vom Anwendungsbereich dieser Verordnung auszunehmen.
(15) Das Protokoll (Nr. 33) besagt, dass bei der Festlegung und Durchführung der Politik der [Union], unter anderem in den Bereichen Landwirtschaft und Binnenmarkt, die Rechts- und Verwaltungsvorschriften und die Gepflogenheiten der Mitgliedstaaten insbesondere in Bezug auf religiöse Riten, kulturelle Traditionen und das regionale Erbe zu berücksichtigen sind. Daher ist es angebracht, kulturelle Veranstaltungen vom Anwendungsbereich dieser Verordnung auszunehmen, wenn sich die Einhaltung von Tierschutzvorschriften negativ auf die besonderen Merkmale der jeweiligen Veranstaltung auswirken würde.
(16) Darüber hinaus beruhen kulturelle Traditionen auf überlieferten, akzeptierten oder gewohnheitsmäßigen Denk‑, Handlungs- und Verhaltensmustern, die auch das von Vorfahren Weitergegebene oder Erlernte umfassen. Sie tragen zu nachhaltigen sozialen Bindungen zwischen den Generationen bei. Vorausgesetzt, dass diese Tätigkeiten weder den Markt für Erzeugnisse tierischen Ursprungs beeinflussen noch kommerzielle Gründe haben, ist es angebracht, die Tötung von Tieren im Rahmen solcher Veranstaltungen vom Anwendungsbereich dieser Verordnung auszunehmen.
…
(18) Die Richtlinie 93/119/EG [des Rates vom 22. Dezember 1993 über den Schutz von Tieren zum Zeitpunkt der Schlachtung oder Tötung (ABl. 1993, L 340, S. 21)] sah im Fall der rituellen Schlachtung in einem Schlachthof eine Ausnahme von der Verpflichtung zur Betäubung vor. Die [Unions]vorschriften über die rituelle Schlachtung wurden je nach den einzelstaatlichen Bedingungen unterschiedlich umgesetzt, und die einzelstaatlichen Rechtsvorschriften berücksichtigen Faktoren, die über den Anwendungsbereich dieser Verordnung hinausgehen; daher ist es wichtig, dass die Ausnahme von der Verpflichtung zur Betäubung von Tieren vor der Schlachtung aufrechterhalten wird, wobei den Mitgliedstaaten jedoch ein gewisses Maß an Subsidiarität eingeräumt wird. Folglich wird mit dieser Verordnung die Religionsfreiheit sowie die Freiheit, seine Religion durch Gottesdienst, Unterricht, Bräuche und Riten zu bekennen, geachtet, wie dies in Artikel 10 der Charta … verankert ist.
…
(20) Viele Tötungsverfahren sind für die Tiere schmerzvoll. Daher ist eine Betäubung erforderlich, mit der vor oder während der Tötung eine Wahrnehmungs- und Empfindungslosigkeit herbeigeführt wird. Die Messung der Wahrnehmungs- und Empfindungslosigkeit ist komplex und muss nach einer wissenschaftlich anerkannten Methodik erfolgen. Die Wahrnehmungs- und Empfindungslosigkeit sollte jedoch mittels Indikatoren überwacht werden, damit sich die praktische Effizienz der Methodik bewerten lässt.
(21) Die Überwachung der Betäubung auf ihre Wirksamkeit stützt sich hauptsächlich auf die Bewertung des Wahrnehmungs- und Empfindungsvermögens der Tiere. Das Wahrnehmungsvermögen eines Tieres besteht im Wesentlichen in seiner Fähigkeit, Gefühle zu empfinden und seine Bewegungen zu kontrollieren. Außer in Ausnahmefällen, etwa bei der Elektroimmobilisation oder einer anderen Art der bewusst herbeigeführten Lähmung, ist davon auszugehen, dass ein Tier dann wahrnehmungslos ist, wenn es seine natürliche stehende Haltung verliert, nicht wach ist und keine Anzeichen dafür vorliegen, dass es positive oder negative Gefühle wie Angst oder Aufregung spürt. Das Empfindungsvermögen eines Tieres besteht im Wesentlichen in seiner Fähigkeit, Schmerzen zu fühlen. Im Allgemeinen ist davon auszugehen, dass ein Tier dann empfindungslos ist, wenn es auf Reize wie Schall, Geruch, Licht oder physischen Kontakt nicht reagiert oder keine entsprechenden Reflexe zeigt.
…
(43) Bei der Schlachtung ohne Betäubung ist ein präziser Halsschnitt mit einem scharfen Messer erforderlich, damit das Tier nicht so lange leiden muss. Ferner ist bei Tieren, die nach dem Halsschnitt nicht mit mechanischen Mitteln ruhig gestellt werden, zu erwarten, dass sich die Entblutung verlangsamt, wodurch die Tiere unnötigerweise länger leiden müssen. Rinder, Schafe und Ziegen sind die Tierarten, die am häufigsten nach diesem Verfahren geschlachtet werden. Wiederkäuer, die ohne Betäubung geschlachtet werden, sollten daher einzeln und mit mechanischen Mitteln ruhig gestellt werden.
…
(57) Die Europäischen Bürger erwarten, dass bei der Schlachtung von Tieren Mindestvorschriften für den Tierschutz eingehalten werden. In bestimmten Bereichen hängt die Einstellung zu Tieren auch von der Wahrnehmung in dem jeweiligen Mitgliedstaat ab, und in einigen Mitgliedstaaten wird die Beibehaltung oder die Annahme umfassenderer Tierschutzvorschriften als die in der [Union] festgelegten gefordert. Im Interesse der Tiere ist es unter der Voraussetzung, dass das Funktionieren des Binnenmarktes nicht beeinträchtigt wird, angebracht, den Mitgliedstaaten eine gewisse Flexibilität einzuräumen, was die Beibehaltung oder in bestimmten spezifischen Bereichen den Erlass umfassenderer nationaler Vorschriften anbelangt.
Dabei ist sicherzustellen, dass entsprechende nationale Vorschriften von den Mitgliedstaaten nicht in einer Weise genutzt werden, die ein ordnungsgemäßes Funktionieren des Binnenmarkts beeinträchtigen würde.
(58) Der Rat benötigt vor der Festlegung eingehender Bestimmungen in einigen unter diese Verordnung fallenden Bereichen weitere wissenschaftliche, soziale und wirtschaftliche Informationen; dies gilt insbesondere für Zuchtfische und die Ruhigstellung von Rindern durch Umdrehen. Deshalb ist es notwendig, dass die Kommission dem Rat diese Informationen liefert, bevor sie in diesen Bereichen der Verordnung Änderungen vorschlägt.“
4 Art. 1 („Gegenstand und Anwendungsbereich“) dieser Verordnung bestimmt:
„(1) Diese Verordnung enthält Vorschriften über die Tötung von Tieren, die zur Herstellung von Lebensmitteln, Wolle, Häuten, Pelzen oder anderen Erzeugnissen gezüchtet oder gehalten werden sowie über die Tötung von Tieren zum Zwecke der Bestandsräumung und damit zusammenhängende Tätigkeiten.
Für Fische gelten jedoch nur die in Artikel 3 Absatz 1 festgelegten Anforderungen.
…
(3) Diese Verordnung gilt nicht für
a)
die Tötung von Tieren
i)
im Rahmen wissenschaftlicher Versuche, die unter Aufsicht einer zuständigen Behörde durchgeführt werden;
ii)
bei der Jagd oder bei der Freizeitfischerei;
iii)
bei kulturellen oder Sportveranstaltungen.
b)
Geflügel, Kaninchen und Hasen, die von ihrem Besitzer außerhalb eines Schlachthofs für den privaten häuslichen Verbrauch geschlachtet werden.“
5 Art. 2 („Definitionen“) der Verordnung sieht vor:
„Im Sinne dieser Verordnung bezeichnet der Ausdruck
…
b)
‚damit zusammenhängende Tätigkeiten‘ Tätigkeiten, die zeitlich und örtlich mit der Tötung von Tieren in Zusammenhang stehen, wie etwa ihre Handhabung, Unterbringung, Ruhigstellung, Betäubung und Entblutung;
…
f)
‚Betäubung‘ jedes bewusst eingesetzte Verfahren, das ein Tier ohne Schmerzen in eine Wahrnehmungs- und Empfindungslosigkeit versetzt, einschließlich jedes Verfahrens, das zum sofortigen Tod führt;
g)
‚religiöser Ritus‘ eine Reihe von Handlungen im Zusammenhang mit der Schlachtung von Tieren, die in bestimmten Religionen vorgeschrieben sind;
h)
‚kulturelle oder Sportveranstaltungen‘ Veranstaltungen in Verbindung mit lange bestehenden kulturellen Traditionen oder Sportereignisse, einschließlich Rennen oder anderer Wettbewerbe, bei denen weder Fleisch noch andere tierische Erzeugnisse hergestellt werden oder deren Herstellung im Vergleich zur Veranstaltung selbst unwichtig und wirtschaftlich unbedeutend ist;
…
j)
‚Schlachtung‘ die Tötung von Tieren zum Zweck des menschlichen Verzehrs;
…“
6 Art. 3 („Allgemeine Anforderungen in Bezug auf die Tötung und damit zusammenhängende Tätigkeiten“) der Verordnung bestimmt in Abs. 1:
„Bei der Tötung und damit zusammenhängenden Tätigkeiten werden die Tiere von jedem vermeidbarem Schmerz, Stress und Leiden verschont.“
7 Art. 4 („Betäubungsverfahren“) der Verordnung Nr. 1099/2009 sieht vor:
„(1) Tiere werden nur nach einer Betäubung im Einklang mit den Verfahren und den speziellen Anforderungen in Bezug auf die Anwendung dieser Verfahren gemäß Anhang I getötet. Die Wahrnehmungs- und Empfindungslosigkeit muss bis zum Tod des Tieres anhalten.
Im Anschluss an die in Anhang I genannten Verfahren, die nicht zum sofortigen Tod führen …, wird so rasch wie möglich ein den Tod herbeiführendes Verfahren, wie z. B. Entblutung, Rückenmarkszerstörung, Tötung durch elektrischen Strom oder längerer Sauerstoffentzug, angewandt.
…
(4) Für Tiere, die speziellen Schlachtmethoden unterliegen, die durch bestimmte religiöse Riten vorgeschrieben sind, gelten die Anforderungen gemäß Absatz 1 nicht, sofern die Schlachtung in einem Schlachthof erfolgt.“
8 Art. 5 („Betäubungskontrollen“) der Verordnung sieht in Abs. 2 vor:
„Werden Tiere für die Zwecke des Artikels 4 Absatz 4 ohne vorherige Betäubung getötet, so müssen die für die Schlachtung zuständigen Personen systematische Kontrollen durchführen, um sicherzustellen, dass die Tiere keine Anzeichen von Wahrnehmung oder Empfindung aufweisen, bevor ihre Ruhigstellung beendet wird, und kein Lebenszeichen aufweisen, bevor sie zugerichtet oder gebrüht werden.“
9 Art. 26 („Strengere nationale Vorschriften“) der Verordnung Nr. 1099/2009 bestimmt:
„(1) Diese Verordnung hindert die Mitgliedstaaten nicht daran, zum Zeitpunkt des Inkrafttretens dieser Verordnung geltende nationale Vorschriften beizubehalten, mit denen ein umfassenderer Schutz von Tieren zum Zeitpunkt der Tötung sichergestellt werden soll.
Die Mitgliedstaaten teilen der Kommission die entsprechenden nationalen Vorschriften vor dem 1. Januar 2013 mit. Die Kommission unterrichtet die anderen Mitgliedstaaten hiervon.
(2) Die Mitgliedstaaten können nationale Vorschriften, mit denen ein umfassenderer Schutz von Tieren zum Zeitpunkt der Tötung als in dieser Verordnung vorgesehen sichergestellt werden soll, in folgenden Bereichen erlassen:
…
c)
die Schlachtung von Tieren gemäß Artikel 4 Absatz 4 und damit zusammenhängende Tätigkeiten.
Die Mitgliedstaaten teilen der Kommission die entsprechenden nationalen Vorschriften mit. Die Kommission unterrichtet die anderen Mitgliedstaaten hiervon.
…
(4) Ein Mitgliedstaat kann jedoch das Inverkehrbringen von Erzeugnissen tierischen Ursprungs, die von in anderen Mitgliedstaaten getöteten Tieren stammen, in seinem Hoheitsgebiet nicht mit der Begründung verbieten oder behindern, dass die betreffenden Tiere nicht nach seinen nationalen Vorschriften, mit denen ein umfassenderer Schutz von Tieren zum Zeitpunkt der Tötung sichergestellt werden soll, getötet wurden.“
10 Art. 27 („Berichterstattung“) Abs. 1 dieser Verordnung lautet:
„Spätestens bis 8. Dezember 2014 unterbreitet die Kommission dem Europäischen Parlament und dem Rat einen Bericht, in dem sie unter Berücksichtigung der Tierschutzaspekte sowie der sozioökonomischen und ökologischen Auswirkungen der Frage nachgeht, ob gewisse Anforderungen für den Schutz von Fischen zum Zeitpunkt der Tötung eingeführt werden können. Diesem Bericht fügt sie gegebenenfalls Legislativvorschläge bei, mit denen diese Verordnung durch die Aufnahme besonderer Vorschriften für den Schutz von Fischen zum Zeitpunkt der Tötung geändert werden soll.
Bis zur Annahme dieser Rechtsakte können die Mitgliedstaaten nationale Vorschriften für den Schutz von Fischen zum Zeitpunkt der Schlachtung oder Tötung erlassen bzw. beibehalten; sie teilen der Kommission diese Vorschriften mit.“
Belgisches Recht
11 Art. 16 § 1 der Wet betreffende de bescherming en het welzijn der dieren (Gesetz über den Schutz und das Wohlbefinden der Tiere) vom 14. August 1986 (Belgisch Staatsblad vom 3. Dezember 1986, S. 16382) in der Fassung vor Erlass des im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Dekrets sah in Unterabs. 1 die Verpflichtung vor, das Tier erst nach erfolgter Betäubung oder im Fall höherer Gewalt nach der schmerzlosesten Methode zu schlachten. In Art. 16 § 1 Unterabs. 2 wurde jedoch klargestellt, dass diese Verpflichtung ausnahmsweise keine Anwendung fand „auf Schlachtungen, die durch einen religiösen Ritus vorgeschrieben sind“.
12 Mit dem im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Dekret, das am 1. Januar 2019 in Kraft getreten ist, wurde diese Ausnahme für die Flämische Region aufgehoben. Art. 15 § 2 des Gesetzes über den Schutz und das Wohlbefinden der Tiere in der durch Art. 3 dieses Dekrets geänderten Fassung sieht nämlich vor, dass „[wenn] Tiere nach besonderen, durch religiöse Riten vorgeschriebenen Methoden geschlachtet [werden], … die Betäubung umkehrbar sein [muss] und … nicht den Tod des Tieres herbeiführen [darf]“.
13 In den Vorarbeiten zu diesem Dekret heißt es:
„Flandern misst dem Wohlbefinden der Tiere große Bedeutung bei. Ziel ist es daher, alles vermeidbare Tierleid in Flandern zu bannen. Das Schlachten von Tieren ohne Betäubung ist mit diesem Grundsatz unvereinbar. Zwar könnten andere Maßnahmen, die weniger eingreifend sind als ein Verbot der Schlachtung ohne vorherige Betäubung, die negativen Auswirkungen dieser Schlachtmethode auf das Wohlbefinden der Tiere etwas begrenzen, jedoch können solche Maßnahmen nicht verhindern, dass das Wohlbefinden der Tiere weiterhin sehr schwerwiegend beeinträchtigt wird. Die Diskrepanz zwischen der Beseitigung vermeidbaren Tierleids auf der einen und der Schlachtung ohne vorherige Betäubung auf der anderen Seite wird immer noch sehr groß sein, selbst wenn weniger einschneidende Maßnahmen ergriffen werden, um die Beeinträchtigung des Wohlbefindens der Tiere größtmöglich zu beschränken.
Gleichwohl wird ein Gleichgewicht zwischen dem Schutz des Wohlbefindens der Tiere und der Religionsfreiheit angestrebt.
Sowohl der jüdische als auch der islamische Ritus verlangen ein maximales Entbluten des Tieres. Wissenschaftliche Untersuchungen haben gezeigt, dass die Befürchtung, die Betäubung würde sich negativ auf das Entbluten auswirken, unbegründet ist.
Darüber hinaus verlangen beide Riten, dass das Tier zum Zeitpunkt des Schlachtens unversehrt und gesund ist und am Blutverlust stirbt. … [Die] Elektronarkose ist eine umkehrbare (nicht tödliche) Betäubung, bei der das Tier, wenn ihm nicht zwischenzeitlich die Kehle durchtrennt wird, nach kurzer Zeit das Bewusstsein wiedererlangt und keine negativen Auswirkungen der Betäubung erfährt. Wird dem Tier unmittelbar nach der Betäubung die Kehle durchtrennt, so ist sein Tod allein auf das Entbluten zurückzuführen. In Anbetracht dessen kann der Schlussfolgerung im Bericht von Herrn Vanthemsche gefolgt werden. Nach dieser Schlussfolgerung stellt die Anwendung der umkehrbaren, nicht tödlichen Betäubung bei der Praxis der rituellen Schlachtung eine verhältnismäßige Maßnahme dar, die den Geist der rituellen Schlachtung im Rahmen der Religionsfreiheit achtet und dem Wohlbefinden der betroffenen Tiere maximal Rechnung trägt. Die Verpflichtung zur Verwendung der Elektronarkose für Schlachtungen nach besonderen, von religiösen Riten vorgeschriebenen Methoden greift daher zumindest nicht in unverhältnismäßiger Weise in die Religionsfreiheit ein.“
Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefragen
14 Mit Klageschriften, die am 17. und am 18. Januar 2018 eingereicht wurden, erhoben die Kläger des Ausgangsverfahrens beim Grondwettelijk Hof (Verfassungsgerichtshof, Belgien), dem vorlegenden Gericht, Klagen auf Nichtigerklärung des im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Dekrets mit der Begründung, dass dieses u. a. gegen Art. 4 Abs. 4 und Art. 26 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1099/2009 verstoße, da es den jüdischen und muslimischen Gläubigen die Garantie nehme, dass rituelle Schlachtungen nicht von der Bedingung der vorherigen Betäubung abhängig gemacht werden könnten. Dieses Dekret hindere nämlich alle und nicht nur eine Minderheit dieser Gläubigen daran, ihre Religion auszuüben, indem es ihnen durch dieses Dekret unmöglich gemacht werde, sich mit Fleisch zu versorgen, das von Tieren stamme, die gemäß ihren religiösen Geboten geschlachtet worden seien, da diese Gebote der Technik der umkehrbaren Betäubung entgegenstünden.
15 Wie aus der Vorlageentscheidung hervorgeht, führen die Kläger des Ausgangsverfahrens aus, dass Tiere nach Art. 4 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1099/2009 in Verbindung mit deren 20. Erwägungsgrund vor der Schlachtung grundsätzlich betäubt werden müssten, wobei die Wahrnehmungs- und Empfindungslosigkeit bis zum Tod des Tieres anhalten müsse.
16 Nach Art. 4 Abs. 4 dieser Verordnung gelte die Verpflichtung zur Betäubung jedoch nicht für die Schlachtung von Tieren, die nach speziellen, durch religiöse Riten vorgeschriebenen Methoden durchgeführt werde. Nach dem 18. Erwägungsgrund dieser Verordnung sei diese Ausnahme durch das Ziel der Achtung der in Art. 10 Abs. 1 der Charta garantierten Religionsfreiheit vorgegeben, wie der Gerichtshof im Urteil vom 29. Mai 2018, Liga van Moskeeën en Islamitische Organisaties Provincie Antwerpen u. a. (C‑426/16, EU:C:2018:335, Rn. 56 und 57), festgestellt habe.
17 Der Grondwettelijk Hof (Verfassungsgerichtshof) weist insoweit darauf hin, dass das in Art. 10 Abs. 1 der Charta garantierte Recht dem in Art. 9 der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (im Folgenden: EMRK) verbürgten Recht entspreche, und der Gerichtshof daraus abgeleitet habe, dass der Begriff „Religion“ sowohl das forum internum, d. h. den Umstand, Überzeugungen zu haben, als auch das forum externum, d. h. die Bekundung des religiösen Glaubens in der Öffentlichkeit, umfassen könne.
18 Die durch religiöse Riten vorgeschriebenen speziellen Schlachtmethoden und die Achtung religiöser Lebensmittelgebote fielen in den Anwendungsbereich der Religionsfreiheit und könnten als öffentliches Bekennen einer religiösen Überzeugung im Sinne von Art. 9 EMRK und Art. 10 Abs. 1 der Charta angesehen werden. Insbesondere habe die rituelle Schlachtung zum Ziel, die betroffenen Gläubigen mit Fleisch zu versorgen, das von Tieren stamme, die gemäß ihren religiösen Überzeugungen geschlachtet worden seien. Zwar habe der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte insoweit im Urteil vom 27. Juni 2000, Cha’are Shalom Ve Tsedek/Frankreich (CE:ECHR:2000:0627JUD002741795‚ § 82), entschieden, dass, wenn es den Gläubigen nicht unmöglich sei, sich mit Fleisch, das von Tieren stamme, die gemäß ihren religiösen Überzeugungen geschlachtet worden seien, zu versorgen und solches Fleisch zu verzehren, das Recht auf Religionsfreiheit nicht so weit reiche, dass es auch das Recht umfassen würde, eine rituelle Schlachtung persönlich vorzunehmen.
19 Die Kläger des Ausgangsverfahrens machen geltend, dass die Mitgliedstaaten Art. 26 Abs. 2 Unterabs. 1 Buchst. c der Verordnung Nr. 1099/2009 jedoch nicht anwenden könnten, um die in Art. 4 Abs. 4 dieser Verordnung geregelte Ausnahme von der Pflicht einer Betäubung bei der rituellen Schlachtung auszuhöhlen.
20 Außerdem machen die Kläger des Ausgangsverfahrens geltend, das im Ausgangsverfahren in Rede stehende Dekret beschränke die Religionsfreiheit unverhältnismäßig, zumal Fleisch von Rindern, die gemäß religiösen Geboten geschlachtet worden seien, nur 0,1 % der gesamten in Belgien erzeugten Fleischmenge ausmache und die Fälle, in denen keine vorherige Betäubung erfolge, über diesem Prozentsatz lägen. Außerdem habe die jüdische Gemeinschaft keine Gewissheit, sich ausreichend mit Fleisch von Tieren versorgen zu können, die gemäß den Geboten der jüdischen Religion geschlachtet worden seien. Die Gesetzgebungsabteilung des Raad van State (Staatsrat, Belgien) habe daraus im Übrigen abgeleitet, dass das Verbot der Schlachtung ohne Betäubung einen unverhältnismäßigen Eingriff in die Religionsfreiheit darstelle.
21 Das im Ausgangsverfahren in Rede stehende Dekret stelle auch einen Eingriff in die Religionsfreiheit dar, da es die Anhänger der jüdischen Religion daran hindere, Tiere gemäß der Schechita, d. h. dem dieser Religion eigenen Schlachtritus, zu töten. Insoweit könne der Umstand, dass Fleisch von Tieren, die gemäß den religiösen Geboten geschlachtet würden, aus dem Ausland eingeführt werden könne, nicht berücksichtigt werden.
22 Schließlich stellen die Kläger des Ausgangsverfahrens die Prämisse des flämischen Gesetzgebers in Frage, wonach das Verfahren einer umkehrbaren Betäubung, die nicht den Tod des Tieres herbeiführe, den religiösen Anforderungen an die Schlachtung entspreche.
23 Die flämische und die wallonische Regierung sind hingegen der Auffassung, dass Art. 26 Abs. 2 Unterabs. 1 Buchst. c der Verordnung Nr. 1099/2009 die Mitgliedstaaten ausdrücklich dazu ermächtige, von Art. 4 Abs. 4 dieser Verordnung abzuweichen.
24 Das vorlegende Gericht weist zum einen darauf hin, dass die in Art. 4 Abs. 4 der Verordnung Nr. 1099/2009 vorgesehene Ausnahme von der grundsätzlichen Verpflichtung zur Betäubung vor der Tötung zum Ziel habe, die in Art. 10 Abs. 1 der Charta garantierte Religionsfreiheit zu wahren, und zum anderen darauf, dass Art. 26 Abs. 2 Unterabs. 1 Buchst. c dieser Verordnung in Verbindung mit deren Erwägungsgründen 18 und 57 die Mitgliedstaaten ermächtige, zur Förderung des Tierschutzes von diesem Art. 4 Abs. 4 abzuweichen, ohne dass jedoch die Grenzen konkretisiert würden, die die Mitgliedstaaten dabei zu beachten hätten.
25 Folglich stelle sich die Frage, ob Art. 26 Abs. 2 Unterabs. 1 Buchst. c der Verordnung Nr. 1099/2009 dahin ausgelegt werden könne, dass es den Mitgliedstaaten erlaubt sei, nationale Vorschriften wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden zu erlassen, und, bejahendenfalls, ob diese Bestimmung mit der in Art. 10 Abs. 1 der Charta garantierten Religionsfreiheit vereinbar sei.
26 Insoweit weist das vorlegende Gericht darauf hin, dass die Ausnahme für die rituelle Schlachtung von der Verpflichtung zur vorherigen Betäubung durch das im Ausgangsverfahren in Rede stehende Dekret mit Wirkung vom 1. Januar 2019 aufgehoben worden sei. Aus den Vorarbeiten zu diesem Dekret gehe außerdem hervor, dass der flämische Gesetzgeber davon ausgegangen sei, dass die Schlachtung ohne Betäubung dem Tier vermeidbares Leiden zufüge. Er habe daher versucht, das Wohlbefinden der Tiere zu fördern und ein Gleichgewicht zwischen dem Ziel der Förderung des Wohlbefindens der Tiere einerseits und dem Ziel der Gewährleistung der Religionsfreiheit andererseits herzustellen.
27 Um den Wünschen der betroffenen Religionsgemeinschaften so weit wie möglich zu entsprechen, schreibe Art. 15 Abs. 2 des Gesetzes vom 14. August 1986 in der durch das im Ausgangsverfahren in Rede stehende Dekret geänderten Fassung im Rahmen der rituellen Schlachtung nunmehr eine Betäubung vor, die umkehrbar und nicht geeignet sei, den Tod des Tieres herbeizuführen. Den Vorarbeiten zu diesem Dekret lasse sich somit entnehmen, dass der flämische Gesetzgeber der Ansicht gewesen sei, dass diese Bestimmung den Wünschen der betroffenen Religionsgemeinschaften entgegenkomme, weil durch die Anwendung der Technik der umkehrbaren Betäubung die religiösen Gebote, nach denen das Tier zum Zeitpunkt der Schlachtung nicht tot sein dürfe und vollständig ausbluten müsse, geachtet würden.
28 Die erfolgte Gesetzesänderung könne jedoch nicht dahin ausgelegt werden, dass sie alle Religionsgemeinschaften verpflichte, die Technik der umkehrbaren Betäubung zu akzeptieren. Außerdem wirke sich das im Ausgangsverfahren in Rede stehende Dekret, wie aus den Vorarbeiten dazu hervorgehe, nicht auf die Möglichkeit für die Gläubigen aus, sich mit Fleisch zu versorgen, das von Tieren stamme, die ohne vorherige Betäubung geschlachtet worden seien, da keine Bestimmung die Einfuhr solchen Fleisches in die Flämische Region verbiete. Ein solches Einfuhrverbot verstieße jedenfalls gegen Art. 26 Abs. 4 der Verordnung Nr. 1099/2009.
29 Die Kläger des Ausgangsverfahrens machen hingegen geltend, dass immer mehr Mitgliedstaaten, wie die Flämische Region, die Schlachtung von Tieren ohne Betäubung oder zumindest die Ausfuhr von Fleisch von Tieren, die gemäß religiösen Geboten geschlachtet worden seien, untersagten, was die Versorgung mit solchem Fleisch in der Flämischen Region gefährde. Außerdem sei anhand der Zertifizierung von eingeführtem Fleisch nicht mit Sicherheit festzustellen, ob das Fleisch tatsächlich von Tieren stamme, die gemäß den religiösen Geboten geschlachtet worden seien.
30 Die flämische und die wallonische Regierung wenden ein, dass eine Reihe von Mitgliedstaaten ein solches generelles Verbot der Tötung ohne vorherige Betäubung nicht kennten und dass der Handel mit Fleisch nicht an den Grenzen der Union ende.
31 Schließlich machen die Kläger des Ausgangsverfahrens geltend, dass Art. 26 Abs. 2 Unterabs. 1 Buchst. c der Verordnung Nr. 1099/2009, sollte er dahin auszulegen sein, dass er es den Mitgliedstaaten gestatte, Maßnahmen wie die in dem im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Dekret vorgesehenen zu erlassen, gegen die Grundsätze der Gleichheit, der Nichtdiskriminierung und der Vielfalt der Religionen verstoße, die in den Art. 20, 21 bzw. 22 der Charta garantiert seien. In diesem Zusammenhang weisen sie darauf hin, dass dieses Dekret, das in Anwendung dieser Verordnung erlassen worden sei, ohne sachliche Rechtfertigung Personen, die Tiere bei der Jagd oder der Fischerei oder bei der Schädlingsbekämpfung töteten, auf der einen und Personen, die Tiere gemäß den speziellen Schlachtmethoden töteten, die durch einen religiösen Ritus vorgeschrieben seien, auf der anderen Seite unterschiedlich behandle.
32 Unter diesen Umständen hat der Grondwettelijk Hof (Verfassungsgerichtshof, Belgien) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
1. Ist Art. 26 Abs. 2 Unterabs. 1 Buchst. c der Verordnung Nr. 1099/2009 dahin auszulegen, dass es den Mitgliedstaaten erlaubt ist, in Abweichung von Art. 4 Abs. 4 dieser Verordnung und zum Zweck der Verbesserung des Tierschutzes Vorschriften wie die in dem im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Dekret vorgesehenen zu erlassen, die zum einen ein Verbot der Schlachtung von Tieren ohne Betäubung vorsehen, das auch für die im Rahmen eines religiösen Ritus vorgenommene Schlachtung gilt, und zum anderen ein alternatives Betäubungsverfahren für die im Rahmen eines religiösen Ritus vorgenommene Schlachtung einführen, das so gestaltet ist, dass die Betäubung umkehrbar sein muss und den Tod des Tieres nicht herbeiführen darf?
2. Falls die erste Vorlagefrage zu bejahen ist: Verletzt Art. 26 Abs. 2 Unterabs. 1 Buchst. c der Verordnung Nr. 1099/2009 im Fall der Auslegung im Sinne der ersten Vorlagefrage Art. 10 Abs. 1 der Charta?
3. Falls die erste Vorlagefrage zu bejahen ist: Verletzt Art. 26 Abs. 2 Unterabs. 1 Buchst. c in Verbindung mit Art. 4 Abs. 4 der Verordnung Nr. 1099/2009 im Fall der Auslegung im Sinne der ersten Vorlagefrage die Art. 20, 21 und 22 der Charta, weil für die Schlachtung von Tieren gemäß speziellen Methoden, die durch bestimmte religiöse Riten vorgeschrieben sind, lediglich eine an Bedingungen geknüpfte Ausnahme von der Pflicht zur Betäubung des Tieres vorgesehen ist (Art. 4 Abs. 4 in Verbindung mit Art. 26 Abs. 2 dieser Verordnung), während für die Tötung von Tieren bei der Jagd, der Fischerei und bei kulturellen oder Sportveranstaltungen aus den in den Erwägungsgründen der Verordnung angegebenen Gründen Regelungen vorgesehen sind, nach denen diese Tätigkeiten nicht in den Anwendungsbereich der Verordnung fallen bzw. nicht der Pflicht zur Betäubung des Tieres bei der Tötung unterliegen (Art. 1 Abs. 1 Unterabs. 2 und Abs. 3 der genannten Verordnung)?
Zum Antrag auf Wiedereröffnung des mündlichen Verfahrens
33 Mit Schriftsatz, der am 2. Oktober 2020 bei der Kanzlei des Gerichtshofs eingegangen ist, haben CICB u. a. sowie Kosher Poultry u. a. beantragt, nach Art. 83 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs die Wiedereröffnung des mündlichen Verfahrens zu beschließen.
34 Zur Stützung ihres Antrags machen CICB u. a. sowie Kosher Poultry u. a. im Wesentlichen geltend, dass der Sejm (Unterhaus des Parlaments, Polen) am 18. September 2020 einen Gesetzentwurf angenommen habe, der die Ausfuhr von Fleisch von Tieren, die im Rahmen der rituellen Schlachtung getötet worden seien, untersage. Da dieser Mitgliedstaat für die jüdische Gemeinschaft Belgiens der wichtigste Lieferant von koscherem Fleisch sei und es keine konkrete Ersatzlösung gebe, verstärke die Annahme eines solchen Gesetzentwurfs die Unverhältnismäßigkeit des im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Dekrets noch und stelle daher eine neue Tatsache dar, die von entscheidender Bedeutung für die Entscheidung des Gerichtshofs sei.
35 Nach Art. 83 seiner Verfahrensordnung kann der Gerichtshof jederzeit nach Anhörung des Generalanwalts die Wiedereröffnung des mündlichen Verfahrens beschließen, insbesondere wenn eine Partei nach Abschluss des mündlichen Verfahrens eine neue Tatsache unterbreitet hat, die von entscheidender Bedeutung für die Entscheidung des Gerichtshofs ist, oder wenn ein nicht erörtertes Vorbringen entscheidungserheblich ist.
36 Dies ist hier nicht der Fall.
37 In der mündlichen Verhandlung hat der Gerichtshof nämlich durch eine an die Flämische Region gerichtete Frage, auf die alle teilnehmenden Parteien reagieren konnten, die Situation in Betracht gezogen, die über die von CICB u. a. sowie Kosher Poultry u. a. in ihrem Antrag auf Wiedereröffnung des mündlichen Verfahrens geltend gemachte Situation hinausgeht, dass nämlich in allen Mitgliedstaaten eine Maßnahme erlassen würde, die wie das im Ausgangsverfahren in Rede stehende Dekret die Tötung von Tieren ohne vorherige Betäubung im Rahmen der rituellen Schlachtung verböte.
38 In Anbetracht des Vorstehenden ist der Gerichtshof aufgrund dessen, dass der in Rn. 34 des vorliegenden Urteils genannte Gesetzentwurf weder eine neue Tatsache im Sinne von Art. 83 der Verfahrensordnung darstellen kann, die von entscheidender Bedeutung für die Entscheidung des Gerichtshofs wäre, noch eine Tatsache in Bezug auf ein Vorbringen, das im Sinne der genannten Vorschrift zwischen den beteiligten Parteien nicht erörtert worden wäre, nach Anhörung des Generalanwalts der Auffassung, dass kein Anlass besteht, die Wiedereröffnung des mündlichen Verfahrens zu beschließen.
Zu den Vorlagefragen
Zur ersten und zur zweiten Frage
39 Mit seiner ersten und seiner zweiten Frage, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 26 Abs. 2 Unterabs. 1 Buchst. c der Verordnung Nr. 1099/2009 im Licht von Art. 13 AEUV und Art. 10 Abs. 1 der Charta dahin auszulegen ist, dass er der Regelung eines Mitgliedstaats entgegensteht, die im Rahmen der rituellen Schlachtung ein Verfahren einer Betäubung vorschreibt, die umkehrbar und nicht geeignet ist, den Tod des Tieres herbeizuführen.
40 Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass die Verordnung Nr. 1099/2009, die ihre Rechtsgrundlage in Art. 37 EG (jetzt Art. 43 AEUV) hat und Teil des Aktionsplans der Gemeinschaft für den Schutz und das Wohlbefinden von Tieren 2006-2010 (KOM[2006] 13 endg. vom 23. Januar 2006) ist, darauf abzielt, gemeinsame Regeln für den Schutz des Tierwohls zum Zeitpunkt der Schlachtung bzw. Tötung von Tieren in der Union festzulegen, und, wie es in ihrem vierten Erwägungsgrund heißt, auf dem Gedanken beruht, dass der Schutz von Tieren zum Zeitpunkt der Schlachtung im Interesse der Allgemeinheit ist.
41 Hierzu ist zunächst darauf hinzuweisen, dass Art. 4 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1099/2009 in Verbindung mit dem 20. Erwägungsgrund dieser Verordnung den Grundsatz der Betäubung des Tieres vor seiner Tötung aufstellt und ihn sogar zur Pflicht erhebt, da wissenschaftliche Studien gezeigt haben, dass die Betäubung die Technik darstellt, die das Tierwohl zum Zeitpunkt der Schlachtung am wenigsten beeinträchtigt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 26. Februar 2019, Œuvre d’assistance aux bêtes d’abattoirs, C‑497/17, EU:C:2019:137, Rn. 47). Wie sich aus dem vierten Erwägungsgrund der genannten Verordnung ergibt, spiegelt der in dieser Bestimmung vorgesehene Grundsatz der vorherigen Betäubung diesen Wert der Union, das Tierwohl, wider, wie er nunmehr in Art. 13 AEUV verankert ist, wonach die Union und die Mitgliedstaaten bei der Festlegung und Durchführung der Politik der Union den Erfordernissen des Wohlergehens der Tiere in vollem Umfang Rechnung tragen müssen.
42 Dieser Grundsatz entspricht dem Tierschutz als Hauptziel, das mit der Verordnung Nr. 1099/2009 verfolgt wird und das bereits aus dem Titel dieser Verordnung und ihrem zweiten Erwägungsgrund hervorgeht, und zwar im Einklang mit Art. 13 AEUV (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 29. Mai 2018, Liga van Moskeeën en Islamitische Organisaties Provincie Antwerpen u. a., C‑426/16, EU:C:2018:335‚ Rn. 63 und 64).
43 Sodann bestimmt Art. 4 Abs. 4 der Verordnung Nr. 1099/2009, dass der Grundsatz der vorherigen Betäubung nicht für Tiere gilt, die speziellen, durch religiöse Riten vorgeschriebenen Schlachtmethoden unterliegen, sofern die Schlachtung in einem Schlachthof erfolgt. Zwar lässt die letztgenannte Bestimmung in Verbindung mit dem 18. Erwägungsgrund der Verordnung die Praxis der rituellen Schlachtung zu, in deren Rahmen das Tier ohne vorherige Betäubung getötet werden kann, jedoch ist diese Form der Schlachtung, die in der Union nur ausnahmsweise erlaubt ist, um die Beachtung der Religionsfreiheit sicherzustellen, nicht geeignet, Schmerzen, Stress oder Leiden des Tieres genauso wirksam zu mildern wie eine Schlachtung, der eine Betäubung vorausgeht, die gemäß Art. 2 Buchst. f der genannten Verordnung in Verbindung mit ihrem 20. Erwägungsgrund erforderlich ist, um beim Tier eine Wahrnehmungs- und Empfindungslosigkeit herbeizuführen, mit der sein Leiden erheblich verringert werden kann (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 26. Februar 2019, Œuvre d’assistance aux bêtes d’abattoirs, C‑497/17, EU:C:2019:137, Rn. 48).
44 Diese Ausnahme beruht, wie aus dem 15. Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 1099/2009 hervorgeht, darauf, dass bei der Festlegung und Durchführung der Politik der Gemeinschaft, unter anderem in den Bereichen Landwirtschaft und Binnenmarkt, die Rechts- und Verwaltungsvorschriften und die Gepflogenheiten der Mitgliedstaaten insbesondere in Bezug auf religiöse Riten, kulturelle Traditionen und das regionale Erbe zu berücksichtigen sind. Damit konkretisiert sie gemäß Art. 10 Abs. 1 der Charta das Bestreben des Unionsgesetzgebers, die effektive Wahrung der Religionsfreiheit und des Rechts, seine Religion oder Weltanschauung durch Bräuche und Riten zu bekennen, insbesondere zugunsten von praktizierenden Muslimen und Juden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 29. Mai 2018, Liga van Moskeeën en Islamitische Organisaties Provincie Antwerpen u. a., C‑426/16, EU:C:2018:335‚ Rn. 56 und 57).
45 Des Weiteren geht aus dem 18. Erwägungsgrund der genannten Verordnung hervor, dass der Unionsgesetzgeber in Anbetracht dessen, dass „[d]ie [Unions]vorschriften über die rituelle Schlachtung [die aus der Richtlinie 93/119 hervorgegangen sind] je nach den einzelstaatlichen Bedingungen unterschiedlich umgesetzt [wurden], und die einzelstaatlichen Rechtsvorschriften … Faktoren [berücksichtigen], die über den Anwendungsbereich dieser Verordnung hinausgehen“, entschieden hat, „dass die Ausnahme von der Verpflichtung zur Betäubung von Tieren vor der Schlachtung aufrechterhalten wird, wobei den Mitgliedstaaten jedoch ein gewisses Maß an Subsidiarität eingeräumt wird“. Zu diesem Zweck ermächtigt Art. 26 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1099/2009 die Mitgliedstaaten, zum Zeitpunkt des Inkrafttretens dieser Verordnung geltende nationale Vorschriften beizubehalten, mit denen ein umfassenderer Schutz von Tieren zum Zeitpunkt der Tötung sichergestellt werden soll, während Art. 26 Abs. 2 Unterabs. 1 Buchst. c der genannten Verordnung bestimmt, dass die Mitgliedstaaten nationale Vorschriften erlassen können, mit denen ein umfassenderer Schutz von Tieren zum Zeitpunkt der Tötung als in dieser Verordnung vorgesehen sichergestellt werden soll, insbesondere im Bereich der „Schlachtung von Tieren gemäß Artikel 4 Absatz 4 und damit zusammenhängende[n] Tätigkeiten“, wobei klarstellend darauf hinzuweisen ist, dass diese damit zusammenhängenden Tätigkeiten nach Art. 2 Buchst. b der Verordnung die Betäubung umfassen.
46 Art. 26 Abs. 4 der Verordnung Nr. 1099/2009 schließlich stellt klar, dass ein Mitgliedstaat das Inverkehrbringen von Erzeugnissen tierischen Ursprungs, die von in anderen Mitgliedstaaten getöteten Tieren stammen, in seinem Hoheitsgebiet nicht mit der Begründung verbieten oder behindern kann, dass die betreffenden Tiere nicht nach seinen nationalen Vorschriften, mit denen ein umfassenderer Schutz von Tieren zum Zeitpunkt der Tötung sichergestellt werden soll, getötet wurden.
47 Somit spiegelt der durch die Verordnung Nr. 1099/2009 geschaffene Rahmen die Vorgabe des Art. 13 AEUV wider, wonach „die Mitgliedstaaten den Erfordernissen des Wohlergehens der Tiere als fühlende Wesen in vollem Umfang Rechnung [tragen und hierbei] die Rechts- und Verwaltungsvorschriften und die Gepflogenheiten der Mitgliedstaaten insbesondere in Bezug auf religiöse Riten, kulturelle Traditionen und das regionale Erbe [berücksichtigen]“. Dieser Rahmen zeigt, dass diese Verordnung nicht selbst den erforderlichen Einklang zwischen dem Wohlergehen der Tiere und der Freiheit, seine Religion zu bekennen, herstellt, sondern sich darauf beschränkt, den Rahmen für den Einklang vorzugeben, den die Mitgliedstaaten zwischen diesen beiden Werten herzustellen haben.
48 Aus den Erwägungen in den Rn. 44 bis 47 des vorliegenden Urteils ergibt sich, dass zum einen Art. 26 Abs. 2 Unterabs. 1 Buchst. c der Verordnung Nr. 1099/2009 nicht gegen die Freiheit verstößt, seine Religion zu bekennen, wie sie in Art. 10 Abs. 1 der Charta gewährleistet ist, und dass zum anderen die Mitgliedstaaten im Rahmen der ihnen nach dieser Bestimmung eingeräumten Möglichkeit, zusätzliche Vorschriften zu erlassen, mit denen ein umfassenderer Schutz von Tieren als in dieser Verordnung vorgesehen sichergestellt werden soll, u. a. eine Verpflichtung zur Betäubung der Tiere vor der Tötung auferlegen können, die auch im Rahmen einer durch religiöse Riten vorgeschriebenen Schlachtung gilt, allerdings vorbehaltlich der Achtung der in der Charta verankerten Grundrechte.
49 Nach Art. 51 Abs. 1 der Charta sind die Mitgliedstaaten nämlich verpflichtet, die in der Charta verankerten Grundrechte zu beachten, wenn sie von dieser Möglichkeit Gebrauch machen.
50 Was die Vereinbarkeit von auf der Grundlage von Art. 26 Abs. 2 Unterabs. 1 Buchst. c der Verordnung Nr. 1099/2009 erlassenen nationalen Maßnahmen mit der Freiheit, seine Religion zu bekennen, anbelangt, ist darauf hinzuweisen, dass Art. 10 Abs. 1 der Charta vorsieht, dass jede Person das Recht auf Gedanken‑, Gewissens- und Religionsfreiheit hat, und klarstellt, dass dieses Recht die Freiheit umfasst, die Religion oder Weltanschauung zu wechseln, und die Freiheit, seine Religion oder Weltanschauung einzeln oder gemeinsam mit anderen öffentlich oder privat durch Gottesdienst, Unterricht, Bräuche und Riten zu bekennen.
51 Insoweit fällt eine nationale Regelung, die auf der Grundlage von Art. 26 Abs. 2 Unterabs. 1 Buchst. c dieser Verordnung erlassen wurde und im Rahmen einer rituellen Schlachtung eine Betäubung vorschreibt, die umkehrbar und nicht geeignet ist, den Tod des Tieres herbeizuführen, in den Anwendungsbereich der in Art. 10 Abs. 1 der Charta garantierten Freiheit, seine Religion zu bekennen.
52 Die Charta legt dem in dieser Vorschrift genannten Begriff „Religion“ nämlich eine weite Bedeutung bei, die sowohl das forum internum, d. h. den Umstand, Überzeugungen zu haben, als auch das forum externum, d. h. die Bekundung des religiösen Glaubens in der Öffentlichkeit, umfassen kann, und der Gerichtshof hat bereits entschieden, dass die rituelle Schlachtung unter die in Art. 10 Abs. 1 der Charta garantierte Freiheit, seine Religion zu bekennen, fällt (Urteil vom 29. Mai 2018, Liga van Moskeeën en Islamitische Organisaties Provincie Antwerpen u. a., C‑426/16, EU:C:2018:335‚ Rn. 44 und 49).
53 Wie die Kläger des Ausgangsverfahrens vortragen, scheint das im Ausgangsverfahren in Rede stehende, auf der Grundlage von Art. 26 Abs. 2 Unterabs. 1 Buchst. c der Verordnung Nr. 1099/2009 erlassene Dekret, indem es die Verpflichtung zur vorherigen Betäubung des Tieres bei der rituellen Schlachtung auferlegt, dabei aber zugleich vorschreibt, dass diese Betäubung umkehrbar sein muss und nicht den Tod des Tieres herbeiführen darf, mit bestimmten jüdischen und islamischen religiösen Geboten unvereinbar zu sein.
54 Insoweit geht aus dem Vorabentscheidungsersuchen hervor, dass für die Kläger des Ausgangsverfahrens die rituelle Schlachtung bestimmten religiösen Geboten entspricht, die im Wesentlichen vorsehen, dass die Gläubigen nur Fleisch von Tieren verzehren dürfen, die ohne vorherige Betäubung geschlachtet wurden, um sicherzustellen, dass diese keinem Verfahren unterzogen werden, das vor der Schlachtung zum Tod führen kann, und dass sie ausbluten.
55 Folglich bringt dieses Dekret für jüdische und muslimische Gläubige eine Einschränkung der Ausübung des Rechts auf die Freiheit mit sich, ihre Religion zu bekennen, wie es in Art. 10 Abs. 1 der Charta garantiert ist.
56 Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass mit Art. 52 Abs. 3 der Charta die notwendige Kohärenz zwischen den in der Charta enthaltenen Rechten und den entsprechenden durch die EMRK garantierten Rechten gewährleistet werden soll, ohne dass dadurch die Eigenständigkeit des Unionsrechts und des Gerichtshofs der Europäischen Union berührt wird. Bei der Auslegung der Charta sind somit die entsprechenden Rechte der EMRK als Mindestschutzstandard zu berücksichtigen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 21. Mai 2019, Kommission/Ungarn [Nießbrauchsrechte an landwirtschaftlichen Flächen], C‑235/17, EU:C:2019:432‚ Rn. 72 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie vom 6. Oktober 2020, La Quadrature du Net u. a., C‑511/18, C‑512/18 und C‑520/18, EU:C:2020:791‚ Rn. 124). Da aus den Erläuterungen zu Art. 10 der Charta hervorgeht, dass die in Abs. 1 dieser Vorschrift garantierte Freiheit der durch Art. 9 EMRK garantierten Freiheit entspricht, ist jene Freiheit bei der Auslegung von Art. 10 Abs. 1 der Charta zu berücksichtigen.
57 Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte ist die durch Art. 9 EMRK geschützte Gedanken‑, Gewissens- und Religionsfreiheit aber eine der Grundfesten einer „demokratischen Gesellschaft“ im Sinne dieser Konvention, da der Pluralismus, der mit einer solchen Gesellschaft untrennbar verbunden ist, von dieser Freiheit abhängt (vgl. in diesem Sinne EGMR, 18. Februar 1999, Buscarini u. a./San Marino, CE:ECHR:1999:0218JUD002464594‚ § 34 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie vom 17. Februar 2011, Wasmuth/Deutschland, CE:ECHR:2011:0217JUD001288403‚ § 50). So bestimmt Art. 9 Abs. 2 EMRK, dass „[d]ie Freiheit, seine Religion oder Weltanschauung zu bekennen, … nur Einschränkungen unterworfen werden [darf], die gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig sind für die öffentliche Sicherheit, zum Schutz der öffentlichen Ordnung, Gesundheit oder Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer“.
58 Im gleichen Sinne muss gemäß Art. 52 Abs. 1 Satz 1 der Charta jede Einschränkung der Ausübung der in der Charta anerkannten Rechte und Freiheiten gesetzlich vorgesehen sein und den Wesensgehalt dieser Rechte und Freiheiten achten. Art. 52 Abs. 1 Satz 2 der Charta bestimmt sodann, dass Einschränkungen dieser Rechte und Freiheiten unter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit nur vorgenommen werden dürfen, wenn sie erforderlich sind und den von der Union anerkannten dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen oder den Erfordernissen des Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer tatsächlich entsprechen.
59 Im Licht dieser Erwägungen ist zu prüfen, ob eine nationale Regelung, die eine Verpflichtung zur vorherigen Betäubung des Tieres bei der rituellen Schlachtung vorsieht, dabei aber zugleich vorschreibt, dass diese Betäubung umkehrbar sein muss und nicht den Tod dieses Tieres herbeiführen darf, die Voraussetzungen des Art. 52 Abs. 1 und 3 der Charta in Verbindung mit Art. 13 AEUV erfüllt.
60 Erstens ist die Beschränkung der Ausübung des in Rn. 55 des vorliegenden Urteils genannten Rechts auf die Freiheit, seine Religion zu bekennen, gesetzlich im Sinne von Art. 52 Abs. 1 der Charta vorgesehen, da sie sich aus dem im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Dekret ergibt.
61 Zweitens achtet eine nationale Regelung, die die Verpflichtung zur vorherigen Betäubung des Tieres bei der rituellen Schlachtung auferlegt, dabei aber zugleich vorschreibt, dass diese Betäubung umkehrbar sein muss und nicht den Tod des Tieres herbeiführen darf, den Wesensgehalt von Art. 10 der Charta, da nach den in Rn. 54 des vorliegenden Urteils angeführten Angaben in der dem Gerichtshof vorliegenden Akte der Eingriff, der sich aus einer solchen Regelung ergibt, auf einen Aspekt der spezifischen rituellen Handlung, die diese Schlachtung darstellt, beschränkt ist, die jedoch als solche nicht verboten ist.
62 Was drittens die Frage anbelangt, ob die Beschränkung des durch Art. 10 der Charta garantierten Rechts, die sich aus einer nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden ergibt, einer dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzung entspricht, ergibt sich aus den Angaben im Vorabentscheidungsersuchen, dass der flämische Gesetzgeber das Wohlbefinden der Tiere fördern wollte. So heißt es in den Vorarbeiten zu dem im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Dekret, dass „Flandern … dem Wohlbefinden der Tiere große Bedeutung bei[misst]“, dass „Ziel … daher [ist], alles vermeidbare Tierleid in Flandern zu bannen“, dass „[d]as Schlachten von Tieren ohne Betäubung … mit diesem Grundsatz unvereinbar [ist]“ und dass „[z]war … andere Maßnahmen, die weniger eingreifend sind als ein Verbot der Schlachtung ohne vorherige Betäubung, die negativen Auswirkungen dieser Schlachtmethode auf das Wohlbefinden der Tiere etwas begrenzen [könnten], … solche Maßnahmen [jedoch] nicht verhindern [können], dass das Wohlbefinden der Tiere weiterhin sehr schwerwiegend beeinträchtigt wird“.
63 Sowohl aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 17. Januar 2008, Viamex Agrar Handel und ZVK, C‑37/06 und C‑58/06, EU:C:2008:18, Rn. 22, vom 19. Juni 2008, Nationale Raad van Dierenkwekers en Liefhebbers und Andibel, C‑219/07, EU:C:2008:353‚ Rn. 27, vom 10. September 2009, Kommission/Belgien, C‑100/08, nicht veröffentlicht, EU:C:2009:537‚ Rn. 91, und vom 23. April 2015, Zuchtvieh-Export, C‑424/13, EU:C:2015:259‚ Rn. 35) als auch aus Art. 13 AEUV ergibt sich aber, dass der Schutz des Wohlergehens der Tiere eine von der Union anerkannte dem Gemeinwohl dienende Zielsetzung darstellt.
64 Viertens ist, was die Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit anbelangt, festzustellen, dass dieser Grundsatz verlangt, dass die Beschränkungen, die durch das im Ausgangsverfahren in Rede stehende Dekret an der Freiheit, seine Religion zu bekennen, vorgenommen werden, nicht die Grenzen dessen überschreiten, was zur Erreichung der mit dieser Regelung zulässigerweise verfolgten Ziele geeignet und erforderlich ist; stehen mehrere geeignete Maßnahmen zur Auswahl, ist die am wenigsten belastende zu wählen, und die durch sie bedingten Nachteile müssen in angemessenem Verhältnis zu den angestrebten Zielen stehen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 20. März 2018, Menci, C‑524/15, EU:C:2018:197‚ Rn. 46 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie vom 30. April 2019, Italien/Rat [Fangquoten für Schwertfisch im Mittelmeer], C‑611/17, EU:C:2019:332‚ Rn. 55).
65 Sind mehrere in den Verträgen verankerte Grundrechte und Grundsätze betroffen, wie im vorliegenden Fall das in Art. 10 der Charta garantierte Recht und das in Art. 13 AEUV verankerte Wohlergehen der Tiere, so ist bei der Beurteilung der Einhaltung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit darauf zu achten, dass die mit dem Schutz der verschiedenen Rechte und Grundsätze verbundenen Erfordernisse miteinander in Einklang gebracht werden und dass zwischen ihnen ein angemessenes Gleichgewicht besteht (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 19. Dezember 2019, Deutsche Umwelthilfe, C‑752/18, EU:C:2019:1114‚ Rn. 50 und die dort angeführte Rechtsprechung).
66 Hierzu ist festzustellen, dass eine nationale Regelung, die die Verpflichtung zur vorherigen Betäubung des Tieres bei der rituellen Schlachtung auferlegt, dabei aber zugleich vorschreibt, dass diese Betäubung umkehrbar sein muss und nicht den Tod dieses Tieres herbeiführen darf, geeignet ist, das in Rn. 62 des vorliegenden Urteils genannte Ziel der Förderung des Wohlbefindens der Tiere zu erreichen.
67 Aus der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte geht hervor, dass der Rolle des nationalen Entscheidungsträgers besondere Bedeutung beizumessen ist, wenn es um allgemeine politische Fragen wie die Bestimmung der Beziehungen zwischen Staat und Religion geht, über die in einem demokratischen Staat vernünftigerweise erhebliche Meinungsunterschiede bestehen können. Daher ist dem Staat im Anwendungsbereich des Art. 9 EMRK grundsätzlich ein weiter Wertungsspielraum bei der Entscheidung zuzuerkennen, ob und inwieweit eine Beschränkung des Rechts, seine Religion oder Weltanschauung zu bekennen, „notwendig“ ist. Der den Mitgliedstaaten damit zuerkannte Wertungsspielraum bei fehlendem Konsens auf Unionsebene muss jedoch mit einer europäischen Kontrolle einhergehen, die insbesondere darin besteht, zu prüfen, ob die auf nationaler Ebene getroffenen Maßnahmen grundsätzlich gerechtfertigt sind und ob sie verhältnismäßig sind (vgl. in diesem Sinne EGMR, 1. Juli 2014, S.A.S./Frankreich, CE:ECHR:2014:0701JUD004383511‚ §§ 129 und 131 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).
68 Wie sich aus den Erwägungsgründen 18 und 57 der Verordnung Nr. 1099/2009 ergibt, war es gerade der fehlende Konsens zwischen den Mitgliedstaaten hinsichtlich ihres Vorgehens bezüglich der rituellen Schlachtung, der zur Annahme der Art. 4 und 26 dieser Verordnung führte.
69 Im 18. Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 1099/2009 heißt es nämlich, wie in Rn. 45 des vorliegenden Urteils ausgeführt, dass es wichtig ist, dass die Ausnahme von der Verpflichtung zur Betäubung von Tieren vor der Schlachtung aufrechterhalten wird, wobei den Mitgliedstaaten jedoch ein gewisses Maß an Subsidiarität eingeräumt wird.
70 Was den 57. Erwägungsgrund dieser Verordnung anbelangt, so wird darin zunächst darauf hingewiesen, dass die Europäischen Bürger erwarten, dass bei der Schlachtung von Tieren Mindestvorschriften für den Tierschutz eingehalten werden, und sodann betont, dass in bestimmten Bereichen die Einstellung zu Tieren auch von der Wahrnehmung in dem jeweiligen Mitgliedstaat abhängt, und in einigen Mitgliedstaaten die Beibehaltung oder die Annahme umfassenderer Tierschutzvorschriften als die in der Union festgelegten gefordert wird. Weiter heißt es in diesem Erwägungsgrund, dass es im Interesse der Tiere unter der Voraussetzung, dass das Funktionieren des Binnenmarktes nicht beeinträchtigt wird, angebracht ist, den Mitgliedstaaten eine gewisse Flexibilität einzuräumen, was die Beibehaltung oder in bestimmten spezifischen Bereichen den Erlass umfassenderer nationaler Vorschriften anbelangt.
71 Mit dem Hinweis auf die „Wahrnehmung in dem jeweiligen Mitgliedstaat“, was Tiere anbelangt, und auf die Notwendigkeit, den Mitgliedstaaten „eine gewisse Flexibilität“ oder „ein gewisses Maß an Subsidiarität“ einzuräumen, wollte der Unionsgesetzgeber daher den insoweit jedem Mitgliedstaat eigenen sozialen Kontext wahren und jedem Mitgliedstaat im Rahmen des notwendigen Einklangs von Art. 13 AEUV und Art. 10 der Charta einen weiten Wertungsspielraum einräumen, um ein angemessenes Gleichgewicht zwischen dem Schutz des Tierwohls bei der Tötung der Tiere auf der einen und der Wahrung der Freiheit, seine Religion zu bekennen, auf der anderen Seite herzustellen.
72 Was insbesondere die Erforderlichkeit des Eingriffs in die Freiheit, seine Religion zu bekennen, anbelangt, die sich aus dem im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Dekret ergibt, ist darauf hinzuweisen, dass aus den im sechsten Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 1099/2009 angeführten wissenschaftlichen Gutachten der Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA) hervorgeht, dass ein wissenschaftlicher Konsens darüber entstanden ist, dass die vorherige Betäubung das beste Mittel ist, um das Leiden des Tieres zum Zeitpunkt seiner Tötung zu verringern.
73 Unter diesem Blickwinkel hat der flämische Gesetzgeber in den Vorarbeiten zu dem im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Dekret ausgeführt, dass „[d]ie Diskrepanz zwischen der Beseitigung vermeidbaren Tierleids auf der einen und der Schlachtung ohne vorherige Betäubung auf der anderen Seite … immer noch sehr groß sein [wird], selbst wenn weniger einschneidende Maßnahmen ergriffen werden, um die Beeinträchtigung des Wohlbefindens der Tiere größtmöglich zu beschränken“.
74 Folglich konnte der flämische Gesetzgeber, ohne den in Rn. 67 des vorliegenden Urteils genannten Wertungsspielraum zu überschreiten, davon ausgehen, dass die Beschränkungen, die durch das im Ausgangsverfahren in Rede stehende Dekret an der Freiheit, seine Religion zu bekennen, vorgenommen werden, indem es eine vorherige Betäubung vorschreibt, die umkehrbar und nicht geeignet ist, den Tod des Tieres herbeizuführen, die Voraussetzung der Erforderlichkeit erfüllen.
75 Was schließlich die Verhältnismäßigkeit des Eingriffs in die Freiheit, seine Religion zu bekennen, anbelangt, der sich aus dem im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Dekret ergibt, ist erstens festzustellen, dass sich der flämische Gesetzgeber, wie aus den in Rn. 13 des vorliegenden Urteils angeführten Vorarbeiten zu diesem Dekret hervorgeht, auf wissenschaftliche Untersuchungen gestützt hat, die gezeigt haben, dass die Befürchtung, dass die Betäubung die Entblutung negativ beeinflussen würde, unbegründet ist. Außerdem geht aus diesen Vorarbeiten hervor, dass die Elektronarkose eine nicht tödliche und umkehrbare Betäubungsmethode ist, so dass der Tod des Tieres, wenn ihm unmittelbar nach der Betäubung die Kehle durchtrennt wird, allein auf das Entbluten zurückzuführen ist.
76 Zudem wollte sich der flämische Gesetzgeber, indem er im Rahmen der rituellen Schlachtung eine vorherige Betäubung vorschreibt, die umkehrbar und nicht geeignet ist, den Tod des Tieres herbeizuführen, auch am zweiten Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 1099/2009 orientieren, in dessen Licht Art. 4 dieser Verordnung in seiner Gesamtheit zu lesen ist und der im Wesentlichen besagt, dass, um die Tiere bei der Tötung von vermeidbaren Schmerzen, vermeidbarem Stress oder vermeidbarem Leiden zu verschonen, dem modernsten erlaubten Tötungsverfahren der Vorzug zu geben ist, wenn bedeutende wissenschaftliche Fortschritte es ermöglichen, ihr Leiden zum Zeitpunkt der Tötung zu verringern.
77 Zweitens ist die Charta, wie die EMRK, ein lebendiges Instrument, das im Licht der gegenwärtigen Lebensbedingungen und der heute in demokratischen Staaten vorherrschenden Vorstellungen auszulegen ist (vgl. entsprechend EGMR, 7. Juli 2011, Bayatyan/Armenien [GC], CE:ECHR:2011:0707JUD002345903‚ § 102 und die dort angeführte Rechtsprechung), so dass die Entwicklung der Werte und Vorstellungen, sowohl in gesellschaftlicher als auch in normativer Hinsicht, in den Mitgliedstaaten zu berücksichtigen ist. Der Tierschutz als Wert, dem die heutigen demokratischen Gesellschaften seit einigen Jahren größere Bedeutung beimessen, kann aber in Anbetracht der Entwicklung der Gesellschaft im Rahmen der rituellen Schlachtung stärker berücksichtigt werden und somit dazu beitragen, die Verhältnismäßigkeit einer Regelung wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden zu rechtfertigen.
78 Drittens verbietet oder behindert dieses Dekret nach der in Art. 26 Abs. 4 der Verordnung Nr. 1099/2009 festgelegten Regel in seinem räumlichen Geltungsbereich nicht das Inverkehrbringen von Erzeugnissen tierischen Ursprungs, die von in anderen Mitgliedstaaten rituell und ohne vorherige Betäubung geschlachteten Tieren stammen. Die Kommission hat hierzu im Übrigen in ihren beim Gerichtshof eingereichten schriftlichen Erklärungen darauf hingewiesen, dass die Mehrheit der Mitgliedstaaten die Schlachtung ohne vorherige Betäubung nach Art. 4 Abs. 4 dieser Verordnung erlaube. Darüber hinaus verbietet oder behindert eine nationale Regelung wie das im Ausgangsverfahren in Rede stehende Dekret, wie die flämische und die wallonische Regierung im Wesentlichen geltend gemacht haben, nicht das Inverkehrbringen von Erzeugnissen tierischen Ursprungs, die von rituell geschlachteten Tieren stammen, wenn diese Erzeugnisse ihren Ursprung in einem Drittstaat haben.
79 Somit konnte der flämische Gesetzgeber in einem sich sowohl in gesellschaftlicher als auch in normativer Hinsicht entwickelnden Kontext, der, wie in Rn. 77 des vorliegenden Urteils ausgeführt, durch eine zunehmende Sensibilisierung für die Problematik des Tierschutzes gekennzeichnet ist, nach einer auf der Ebene der Flämischen Region organisierten umfassenden Debatte das im Ausgangsverfahren in Rede stehende Dekret erlassen, ohne den Wertungsspielraum zu überschreiten, den das Unionsrecht den Mitgliedstaaten hinsichtlich des erforderlichen Einklangs von Art. 10 Abs. 1 der Charta und Art. 13 AEUV einräumt.
80 Somit ist davon auszugehen, dass die Maßnahmen, die das im Ausgangsverfahren in Rede stehende Dekret umfasst, es ermöglichen, ein angemessenes Gleichgewicht zwischen der Bedeutung, die dem Tierschutz beigemessen wird, und der Freiheit der jüdischen und muslimischen Gläubigen, ihre Religion zu bekennen, zu gewährleisten, und daher verhältnismäßig sind.
81 Unter diesen Umständen ist auf die erste und die zweite Frage zu antworten, dass Art. 26 Abs. 2 Unterabs. 1 Buchst. c der Verordnung Nr. 1099/2009 im Licht von Art. 13 AEUV und Art. 10 Abs. 1 der Charta dahin auszulegen ist, dass er der Regelung eines Mitgliedstaats, die im Rahmen der rituellen Schlachtung ein Verfahren einer Betäubung vorschreibt, die umkehrbar und nicht geeignet ist, den Tod des Tieres herbeizuführen, nicht entgegensteht.
Zur dritten Frage
82 Mit seiner dritten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 26 Abs. 2 Unterabs. 1 Buchst. c der Verordnung Nr. 1099/2009 im Hinblick auf die Grundsätze der Gleichheit, der Nichtdiskriminierung sowie der Vielfalt der Kulturen, Religionen und Sprachen, wie sie in den Art. 20, 21 und 22 der Charta garantiert sind, gültig ist. Sollte diese Bestimmung die Mitgliedstaaten nämlich ermächtigen, Maßnahmen wie die verpflichtende Betäubung bei der Tötung von Tieren im Rahmen der rituellen Schlachtung zu treffen, so enthielte diese Verordnung keine vergleichbare Bestimmung für die Tötung von Tieren bei der Jagd oder der Fischerei oder bei kulturellen oder Sportveranstaltungen.
83 Aus dem Wortlaut dieser Frage ergibt sich, dass das vorlegende Gericht Zweifel hinsichtlich der Vereinbarkeit dieser Bestimmung der Verordnung Nr. 1099/2009 mit den Art. 20, 21 und 22 der Charta hat, da diese Verordnung nur eine an Bedingungen geknüpfte Ausnahme von der vorherigen Betäubung des Tieres im Rahmen der rituellen Schlachtung vorsieht, die Tötung von Tieren bei der Jagd oder der Fischerei oder bei kulturellen oder Sportveranstaltungen aber von ihrem Anwendungsbereich ausnimmt oder von der Pflicht zur vorherigen Betäubung befreit.
84 Insoweit ist erstens das Argument zu würdigen, mit dem geltend gemacht wird, die rituelle Schlachtung werde in der Verordnung Nr. 1099/2009 gegenüber der Tötung von Tieren im Rahmen von kulturellen oder Sportveranstaltungen diskriminierend behandelt.
85 Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass das Diskriminierungsverbot lediglich ein besonderer Ausdruck des allgemeinen Gleichheitsgrundsatzes ist, und dass dieser Grundsatz besagt, dass vergleichbare Sachverhalte nicht unterschiedlich und unterschiedliche Sachverhalte nicht gleich behandelt werden dürfen, es sei denn, dass eine solche Behandlung objektiv gerechtfertigt ist (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 19. Oktober 1977, Ruckdeschel u. a., 117/76 und 16/77, EU:C:1977:160‚ Rn. 7, und vom 16. Dezember 2008, Arcelor Atlantique et Lorraine u. a., C‑127/07, EU:C:2008:728‚ Rn. 23).
86 Im vorliegenden Fall bestimmt die Verordnung Nr. 1099/2009 in ihrem Art. 1 Abs. 1 Unterabs. 1, dass mit ihr „Vorschriften über die Tötung von Tieren, die zur Herstellung von Lebensmitteln, Wolle, Häuten, Pelzen oder anderen Erzeugnissen gezüchtet oder gehalten werden[,] sowie über die Tötung von Tieren zum Zwecke der Bestandsräumung und damit zusammenhängende Tätigkeiten“ festgelegt werden sollen, und stellt in Art. 1 Abs. 3 Buchst. a Ziff. iii klar, dass sie nicht gilt für eine bestimmte Anzahl von Tätigkeiten, zu denen die Tötung von Tieren bei kulturellen oder Sportveranstaltungen gehört.
87 Art. 2 Buchst. h dieser Verordnung definiert „kulturelle oder Sportveranstaltungen“ als „Veranstaltungen in Verbindung mit lange bestehenden kulturellen Traditionen oder Sportereignisse, einschließlich Rennen oder anderer Wettbewerbe, bei denen weder Fleisch noch andere tierische Erzeugnisse hergestellt werden oder deren Herstellung im Vergleich zur Veranstaltung selbst unwichtig und wirtschaftlich unbedeutend ist“.
88 Aus dieser Definition geht hervor, dass kulturelle und Sportveranstaltungen im Sinne von Art. 2 Buchst. h der genannten Verordnung allenfalls zu einer im Vergleich zur Veranstaltung selbst unwichtigen Erzeugung von Fleisch oder Erzeugnissen tierischen Ursprungs führen, und dass diese Erzeugung wirtschaftlich unbedeutend ist.
89 Diese Auslegung wird durch den 16. Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 1099/2009 bestätigt, wonach der Umstand, dass diese Veranstaltungen weder den Markt für Erzeugnisse tierischen Ursprungs beeinflussen noch kommerzielle Gründe haben, es rechtfertigt, sie vom Anwendungsbereich dieser Verordnung auszunehmen.
90 Unter diesen Umständen kann eine kulturelle Veranstaltung oder eine Sportveranstaltung vernünftigerweise nicht als eine Tätigkeit der Herstellung von Lebensmitteln im Sinne von Art. 1 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1099/2009 angesehen werden. Der Unionsgesetzgeber hat somit in Anbetracht dieses Unterschieds kulturelle oder Sportveranstaltungen ohne gegen das Diskriminierungsverbot zu verstoßen nicht einer Schlachtung gleichgestellt, für die als solche eine Betäubung vorgeschrieben ist, und diese Sachverhalte damit unterschiedlich behandelt.
91 Zweitens kann nicht ohne die Begriffe „Jagd“ und „Freizeitfischerei“ ihres Sinns zu entleeren geltend gemacht werden, dass diese Tätigkeiten an zuvor betäubten Tieren ausgeübt werden können. Wie im 14. Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 1099/2009 ausgeführt wird, sind die Umstände der Tötung bei diesen Tätigkeiten nämlich ganz anders als im Fall von Nutztieren.
92 Unter diesen Umständen hat der Unionsgesetzgeber auch nicht gegen den Grundsatz der Nichtdiskriminierung verstoßen, indem er die in der vorstehenden Randnummer angeführten nicht vergleichbaren Tötungssachverhalte vom Anwendungsbereich dieser Verordnung ausgenommen hat.
93 Drittens hat der Unionsgesetzgeber sowohl in Art. 27 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1099/2009 als auch in den Erwägungsgründen 6, 11 und 58 dieser Verordnung ausführlich dargelegt, dass die wissenschaftlichen Gutachten in Bezug auf Zuchtfische unzureichend waren und dass außerdem eine Bewertung aus wirtschaftlicher Sicht in diesem Bereich erforderlich war, was es rechtfertigte, über die Behandlung von Zuchtfischen gesondert zu entscheiden.
94 Viertens ist in Anbetracht der Erwägungen in den Rn. 84 bis 93 des vorliegenden Urteils festzustellen, dass die Verordnung Nr. 1099/2009 ohne die durch Art. 22 der Charta garantierte Vielfalt der Kulturen, Religionen und Sprachen zu verkennen nur eine an Bedingungen geknüpfte Ausnahme von der vorherigen Betäubung des Tieres im Rahmen der rituellen Schlachtung vorsieht, die Tötung von Tieren bei der Jagd und der Fischerei sowie bei kulturellen oder Sportveranstaltungen aber von ihrem Anwendungsbereich ausnimmt oder von der Pflicht zur vorherigen Betäubung befreit.
95 Die Prüfung der dritten Vorlagefrage hat somit nichts ergeben, was die Gültigkeit von Art. 26 Abs. 2 Unterabs. 1 Buchst. c der Verordnung Nr. 1099/2009 beeinträchtigen könnte.
Kosten
96 Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Große Kammer) für Recht erkannt:
1. Art. 26 Abs. 2 Unterabs. 1 Buchst. c der Verordnung (EG) Nr. 1099/2009 des Rates vom 24. September 2009 über den Schutz von Tieren zum Zeitpunkt der Tötung ist im Licht von Art. 13 AEUV und Art. 10 Abs. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union dahin auszulegen, dass er der Regelung eines Mitgliedstaats, die im Rahmen der rituellen Schlachtung ein Verfahren einer Betäubung vorschreibt, die umkehrbar und nicht geeignet ist, den Tod des Tieres herbeizuführen, nicht entgegensteht.
2. Die Prüfung der dritten Vorlagefrage hat nichts ergeben, was die Gültigkeit von Art. 26 Abs. 2 Unterabs. 1 Buchst. c der Verordnung Nr. 1099/2009 in Frage stellen könnte.
Unterschriften
(*1) Verfahrenssprache: Niederländisch.
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Urteil des Gerichts (Achte erweiterte Kammer) vom 7. November 2019.#Alliance for Direct Democracy in Europe ASBL (ADDE) gegen Europäisches Parlament.#Institutionelles Recht – Europäisches Parlament – Beschluss, mit dem bestimmte Ausgaben einer politischen Partei für die Zwecke einer Finanzhilfe für das Jahr 2015 für nicht erstattungsfähig erklärt werden – Beschluss, mit dem eine Finanzhilfe für das Jahr 2017 gewährt wird und eine Vorfinanzierung in Höhe von 33 % des Höchstbetrags der Finanzhilfe und die Obliegenheit zur Stellung einer Bankbürgschaft vorgesehen werden – Pflicht zur Unparteilichkeit – Verteidigungsrechte – Haushaltsordnung – Anwendungsbestimmungen für die Haushaltsordnung – Verordnung (EG) Nr. 2004/2003 – Verhältnismäßigkeit – Gleichbehandlung.#Rechtssache T-48/17.
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62017TJ0048
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ECLI:EU:T:2019:780
| 2019-11-07T00:00:00 |
Gericht
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Sammlung der Rechtsprechung – allgemein
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62017TJ0048
URTEIL DES GERICHTS (Achte erweiterte Kammer)
7. November 2019 (*1)
„Institutionelles Recht – Europäisches Parlament – Beschluss, mit dem bestimmte Ausgaben einer politischen Partei für die Zwecke einer Finanzhilfe für das Jahr 2015 für nicht erstattungsfähig erklärt werden – Beschluss, mit dem eine Finanzhilfe für das Jahr 2017 gewährt wird und eine Vorfinanzierung in Höhe von 33 % des Höchstbetrags der Finanzhilfe und die Obliegenheit zur Stellung einer Bankbürgschaft vorgesehen werden – Pflicht zur Unparteilichkeit – Verteidigungsrechte – Haushaltsordnung – Anwendungsbestimmungen für die Haushaltsordnung – Verordnung (EG) Nr. 2004/2003 – Verhältnismäßigkeit – Gleichbehandlung“
In der Rechtssache T‑48/17,
Alliance for Direct Democracy in Europe ASBL (ADDE) mit Sitz in Brüssel (Belgien), Prozessbevollmächtigte: zunächst Rechtsanwälte L. Defalque und L. Ruessmann, dann Rechtsanwalt M. Modrikanen und schließlich Rechtsanwalt Y. Rimokh,
Klägerin,
gegen
Europäisches Parlament, vertreten durch C. Burgos und S. Alves als Bevollmächtigte,
Beklagter,
betreffend eine Klage nach Art. 263 AEUV auf Nichtigerklärung zum einen des Beschlusses des Parlaments vom 21. November 2016, mit dem bestimmte Ausgaben für die Zwecke einer Finanzhilfe für das Jahr 2015 für nicht erstattungsfähig erklärt werden, und zum anderen des Beschlusses FINS‑2017‑13 des Parlaments vom 12. Dezember 2016 über die Gewährung einer Finanzhilfe an die Klägerin für das Jahr 2017, soweit mit diesem Beschluss die Vorfinanzierung auf 33 % des Höchstbetrags der Finanzhilfe begrenzt und von der Stellung einer Bankbürgschaft abhängig gemacht wird,
erlässt
DAS GERICHT (Achte erweiterte Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten A. M. Collins (Berichterstatter), der Richterin M. Kancheva sowie der Richter R. Barents, J. Passer und G. De Baere,
Kanzler: F. Oller, Verwaltungsrat,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 8. Mai 2019
folgendes
Urteil
Vorgeschichte des Rechtsstreits
1 Die Klägerin, Alliance for Direct Democracy in Europe ASBL (ADDE), ist eine politische Partei auf europäischer Ebene im Sinne von Art. 2 Nr. 3 der Verordnung (EG) Nr. 2004/2003 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4. November 2003 über die Regelungen für die politischen Parteien auf europäischer Ebene und ihre Finanzierung (ABl. 2003, L 297, S. 1).
2 Am 30. September 2014 stellte die Klägerin gemäß Art. 4 der Verordnung Nr. 2004/2003 einen Antrag auf Finanzierung aus dem Gesamthaushaltsplan der Europäischen Union für das Haushaltsjahr 2015.
3 Das Präsidium des Europäischen Parlaments verabschiedete auf seiner Sitzung am 15. Dezember 2014 den Beschluss FINS‑2015‑14, in dem der Klägerin für das Haushaltsjahr 2015 eine Finanzhilfe von höchstens 1241725 Euro gewährt wird.
4 Am 18. April 2016 verabschiedete der externe Prüfer seinen Prüfbericht, in dem Ausgaben in Höhe von 157935,05 Euro für das Haushaltsjahr 2015 als nicht erstattungsfähig angesehen werden.
5 Ab Mai 2016 führten die Dienststellen des Parlaments zusätzliche Kontrollen durch. Infolge dieser Kontrollen sandte das Parlament am 23. Mai 2016 ein Schreiben an die Klägerin, in dem diese über einen Beschluss seines Präsidiums vom 9. Mai 2016 informiert wurde, der die Auslegungskriterien für das Verbot der Finanzierung von Kampagnen für Referenden festlegte.
6 Am 26. und 27. September 2016 führten die Dienststellen des Parlaments in den Büroräumen der Klägerin einen Kontrollbesuch durch.
7 Am 30. September 2016 stellte die Klägerin einen Antrag auf Finanzierung aus dem Gesamthaushaltsplan der Europäischen Union für das Haushaltsjahr 2017.
8 Mit Schreiben vom 14. Oktober 2016 teilte der Generaldirektor Finanzen des Parlaments der Klägerin mit, dass infolge des externen Prüfberichts und der von den Dienststellen des Parlaments durchgeführten zusätzlichen Kontrollen eine Reihe von Ausgaben für das Haushaltsjahr 2015 als nicht erstattungsfähig bewertet worden seien. Die Klägerin wurde aufgefordert, sich bis spätestens 4. November 2016 zu äußern.
9 Am 2. November 2016 nahm die Klägerin zu dem Schreiben des Generaldirektors Finanzen des Parlaments vom 14. Oktober 2016 Stellung. Sie beantragte zudem, in der Sitzung des Präsidiums des Parlaments, in der der Beschluss über den von ihr für das Haushaltsjahr 2015 vorgelegten Abschlussbericht erlassen werden sollte, gehört zu werden.
10 Am 10. November 2016 ersuchte der Generalsekretär des Parlaments das Präsidium des Parlaments, den Beschluss über den von der Klägerin für das Haushaltsjahr 2015 vorgelegten Abschlussbericht anzunehmen und dabei bestimmte Ausgaben für nicht erstattungsfähig zu erklären.
11 In seiner Sitzung vom 21. November 2016 prüfte das Präsidium des Parlaments den Abschlussbericht, den die Klägerin für das Haushaltsjahr 2015 nach ihrem Rechnungsabschluss für dieses Haushaltsjahr vorgelegt hatte. Es erklärte einen Betrag von 500615,55 Euro für nicht erstattungsfähig und setzte den Betrag der der Klägerin endgültig zugewiesenen Finanzhilfe auf 820725,08 Euro fest. Es verlangte daher von der Klägerin die Rückzahlung eines Betrags von 172654,92 Euro (im Folgenden: angefochtener Beschluss zum Haushaltsjahr 2015).
12 Am 5. Dezember 2016 ersuchte der Generalsekretär des Parlaments das Präsidium, seinen Beschluss über die Anträge auf Finanzierung aus dem Gesamthaushaltsplan der Europäischen Union für das Haushaltsjahr 2017, die von einer Reihe politischer Parteien und politischer Stiftungen auf europäischer Ebene, darunter die Klägerin, eingereicht worden waren, anzunehmen.
13 In seiner Sitzung vom 12. Dezember 2016 nahm das Präsidium des Europäischen Parlaments seinen Beschluss FINS‑2017‑13 an, mit dem der Klägerin eine Finanzhilfe von höchstens 1102642,71 Euro für das Haushaltsjahr 2017 zugesprochen wurde und der vorsah, dass die Vorfinanzierung auf 33 % des Höchstbetrags der Finanzhilfe begrenzt und von der Stellung einer Bankbürgschaft auf erstes Anfordern abhängig gemacht wird (im Folgenden: angefochtener Beschluss zum Haushaltsjahr 2017). Dieser Beschluss wurde unterzeichnet und der Klägerin am 15. Dezember 2016 übermittelt.
Verfahren und Anträge der Parteien
14 Mit Klageschrift, die am 27. Januar 2017 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangen ist, hat die Klägerin die vorliegende Klage erhoben.
15 Mit gesondertem Schriftsatz, der am selben Tag bei der Kanzlei des Gerichts eingegangen ist, hat die Klägerin einen Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz gestellt. Dieser Antrag ist mit Beschluss vom 14. März 2017, ADDE/Europäisches Parlament (T‑48/17 R, nicht veröffentlicht, EU:T:2017:170), zurückgewiesen worden. Die Kostenentscheidung ist vorbehalten worden.
16 Nach Abschluss des schriftlichen Verfahrens ist die Klägerin zu einem ursprünglich auf den 6. Juni 2018 festgesetzten Termin geladen worden, der wegen Verhinderung des Prozessbevollmächtigten der Klägerin verschoben worden ist.
17 Mit Schriftsatz, der am 30. Juli 2018 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangen ist, hat die Klägerin nach Art. 147 der Verfahrensordnung des Gerichts die Bewilligung von Prozesskostenhilfe beantragt. Im Licht der Stellungnahme des Parlaments und nach verschiedenen Fragen an die Klägerin sowie der Aufforderung an sie zur Vorlage bestimmter Dokumente im Rahmen prozessleitender Maßnahmen nach Art. 89 der Verfahrensordnung hat das Gericht den Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe mit Beschluss vom 5. Februar 2019, ADDE/Europäisches Parlament (T‑48/17 AJ, nicht veröffentlicht), abgelehnt.
18 Nach der Bestimmung eines neuen Prozessbevollmächtigten durch die Klägerin haben die Parteien in der Sitzung vom 8. Mai 2019 mündlich verhandelt und mündliche Fragen des Gerichts beantwortet.
19 Die Klägerin beantragt,
–
den angefochtenen Beschluss zum Haushaltsjahr 2015 für nichtig zu erklären;
–
den angefochtenen Beschluss zum Haushaltsjahr 2017 für nichtig zu erklären, soweit mit ihm die Vorfinanzierung auf 33 % des Höchstbetrags der Finanzhilfe begrenzt und von der Stellung einer Bankbürgschaft abhängig gemacht wird;
–
dem Parlament die Kosten aufzuerlegen.
20 Das Parlament beantragt,
–
die Klage als unbegründet abzuweisen;
–
der Klägerin die Kosten einschließlich der im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes entstandenen Kosten aufzuerlegen.
Rechtliche Würdigung
Zum Antrag auf Nichtigerklärung des angefochtenen Beschlusses zum Haushaltsjahr 2015
21 Zur Begründung des Antrags auf Nichtigerklärung des Beschlusses, mit dem bestimmte Ausgaben für das Haushaltsjahr 2015 für nicht erstattungsfähig erklärt werden, macht die Klägerin drei Klagegründe geltend. Mit dem ersten Klagegrund rügt sie einen Verstoß gegen den Grundsatz der guten Verwaltung und gegen die Verteidigungsrechte, mit dem zweiten einen Verstoß gegen die Art. 7 bis 9 der Verordnung Nr. 2004/2003 und mit dem dritten einen Verstoß gegen die Grundsätze der Verhältnismäßigkeit und der Gleichbehandlung.
22 Da die Klageschrift keine Darlegungen zum dritten Klagegrund enthält, der somit abstrakt formuliert ist, ist dieser Klagegrund unzulässig, da eine bloße Berufung auf den Grundsatz des Unionsrechts, dessen Verletzung behauptet wird, ohne Angabe, auf welche tatsächlichen und rechtlichen Gesichtspunkte diese Behauptung gestützt ist, den Anforderungen des Art. 76 Buchst. d der Verfahrensordnung nicht genügt (Urteil vom 3. Mai 2007, Spanien/Kommission, T‑219/04, EU:T:2007:121, Rn. 89).
Zum behaupteten Verstoß gegen den Grundsatz der guten Verwaltung und gegen die Verteidigungsrechte
23 Der erste Klagegrund, der zur Begründung des Antrags auf Nichtigerklärung des angefochtenen Beschlusses zum Haushaltsjahr 2015 geltend gemacht wird, untergliedert sich in zwei Teile. Mit dem ersten Teil dieses Klagegrundes macht die Klägerin geltend, das Parlament habe gegen den Grundsatz der guten Verwaltung sowie gegen Art. 41 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) verstoßen, da der angefochtene Beschluss zum Haushaltsjahr 2015 angesichts der Zusammensetzung des Präsidiums des Parlaments weder gerecht noch unparteiisch sei. Insbesondere trägt sie vor, zu diesem Präsidium, das aus dem Präsidenten und den 14 Vizepräsidenten des Parlaments bestehe, zähle kein einziger Vertreter der sogenannten „euroskeptischen“ Parteien. In Anbetracht seiner Zusammensetzung sei das Präsidium somit nicht in der Lage, eine unparteiische und objektive Kontrolle über die den europäischen politischen Parteien und den mit ihnen verbundenen politischen Stiftungen gewährten Mittel zu gewährleisten. Dies werde im Übrigen durch die zu diesem Zweck erfolgte Schaffung einer unabhängigen Behörde gemäß Art. 6 der Verordnung (EU, Euratom) Nr. 1141/2014 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Oktober 2014 über das Statut und die Finanzierung europäischer politischer Parteien und europäischer politischer Stiftungen (ABl. 2014, L 317, S. 1) bestätigt.
24 Die Klägerin trägt ferner vor, Frau Ulrike Lunacek, Vizepräsidentin des Parlaments, die der Fraktion der Grünen/Freie Europäische Allianz angehöre und Mitglied des Präsidiums des Parlaments sei, habe vor der Sitzung, in der der angefochtene Beschluss zum Haushaltsjahr 2015 angenommen worden sei, öffentlich Äußerungen von sich gegeben, die ein Zeugnis ihrer Feindseligkeit und fehlenden Unparteilichkeit der Klägerin gegenüber seien.
25 Mit dem zweiten Teil des ersten Klagegrundes, der zur Begründung des Antrags auf Nichtigerklärung des angefochtenen Beschlusses zum Haushaltsjahr 2015 geltend gemacht wird, beruft sich die Klägerin auf einen Verstoß gegen die Verteidigungsrechte, insbesondere gegen das in Art. 41 Abs. 2 Buchst. a der Charta und Art. 224 der damals geltenden Geschäftsordnung des Parlaments verankerte Recht auf Anhörung. Sie trägt vor, ihre schriftliche Stellungnahme vom 2. November 2016 sei dem Präsidium nicht übermittelt worden. Der an das Präsidium gerichtete Vermerk des Generalsekretärs des Parlaments habe nur die Mitteilung enthalten, dass die genannte Stellungnahme auf Anfrage zur Verfügung stehe. Auch sei sie trotz einer entsprechenden Anfrage nicht zur Anhörung vor dem Präsidium in der Sitzung geladen worden, in der der angefochtene Beschluss zum Haushaltsjahr 2015 angenommen worden sei. Der angefochtene Beschluss zum Haushaltsjahr 2015 sei bereits vor der Sitzung des Präsidiums des Parlaments vom 21. November 2016 angenommen und unterzeichnet worden, da er ihr mit E‑Mail vor dem geplanten Ende der genannten Sitzung zugesandt worden sei.
26 In ihrer Erwiderung fügt die Klägerin hinzu, ihre schriftliche Stellungnahme vom 2. November 2016 sei weder vom Generaldirektor Finanzen des Parlaments noch vom Generalsekretär des Parlaments in dessen Vermerk an das Präsidium des Parlaments berücksichtigt, kommentiert oder zurückgewiesen worden. Das Schreiben des Generaldirektors Finanzen vom 14. Oktober 2016, das an sie gerichtet gewesen sei, und der Vermerk des Generalsekretärs vom 10. November 2016, der an das Präsidium gerichtet gewesen sei, seien identisch. Daher sei gegen ihr Recht verstoßen worden, von der zuständigen Stelle, d. h. dem Präsidium des Parlaments, gehört zu werden.
27 Das Parlament tritt dem Vorbringen der Klägerin entgegen.
28 Was den Verstoß gegen den Grundsatz der guten Verwaltung betrifft, führt das Parlament aus, die Klägerin lege keinen Beweis für die angebliche Parteilichkeit seines Präsidiums vor. Die Zuständigkeit des Präsidiums für die Beschlussfassung über die Finanzierung der politischen Parteien auf europäischer Ebene ergebe sich aus Art. 224 der damals geltenden Geschäftsordnung des Parlaments und aus Art. 4 des Beschlusses des Präsidiums des Parlaments vom 29. März 2004 mit Durchführungsbestimmungen zu der Verordnung Nr. 2004/2003 in geänderter Fassung (ABl. 2014, C 63, S. 1, im Folgenden: Beschluss des Präsidiums vom 29. März 2004), gegen die die Klägerin keine Einrede der Rechtswidrigkeit erhoben habe. Das Parlament weist außerdem darauf hin, dass die Verordnung Nr. 1141/2014 im vorliegenden Fall nicht anwendbar sei und dass in jedem Fall die Zuständigkeit für die Beschlussfassung über die Finanzierungsanträge weiterhin beim Parlament liege und nicht bei der durch die genannte Verordnung geschaffenen unabhängigen Behörde.
29 Das Parlament macht in der Gegenerwiderung geltend, dass die Äußerungen der Klägerin über die mangelnde Unparteilichkeit eines Mitglieds seines Präsidiums lediglich ein Mitglied dieses Organs beträfen. Außerdem zeugten diese Erklärungen nicht von fehlender Unparteilichkeit, sondern zeigten nur, dass das betreffende Mitglied die Frage bereits geprüft und sich entschieden habe, wie es in der Sitzung des Präsidiums abstimmen werde.
30 Was den angeblichen Verstoß gegen die Verteidigungsrechte und das Recht auf Anhörung betrifft, trägt das Parlament vor, dass die Klägerin aufgefordert worden sei, zu der Tatsache Stellung zu nehmen, dass eine Reihe von Ausgaben möglicherweise als nicht erstattungsfähig für das Haushaltsjahr 2015 angesehen werden könne, was die Klägerin am 2. November 2016 auch getan habe. Diese Stellungnahme sei vom Generaldirektor Finanzen geprüft worden, der zu dem Ergebnis gekommen sei, dass sie nicht geeignet sei, die Feststellung der Nichterstattungsfähigkeit der betreffenden Ausgaben zu erschüttern. Zudem habe sich der Vermerk des Generalsekretärs vom 10. November 2016, mit dem das Präsidium ersucht worden sei, den angefochtenen Beschluss zum Haushaltsjahr 2015 anzunehmen, ausdrücklich auf die genannte Stellungnahme bezogen. In dem Vermerk sei außerdem darauf hingewiesen worden, dass diese Stellungnahme im Generalsekretariat auf Anfrage zur Verfügung stehe. Bezüglich der Behauptung, dass der genannte Beschluss vor der Sitzung des Präsidiums angenommen und unterzeichnet worden sei, führt das Parlament schließlich aus, dass der Beschluss zwar vor der genannten Sitzung ausgearbeitet worden sei, der Klägerin aber erst zugesandt worden sei, nachdem das Präsidium ihn geprüft und angenommen habe.
31 Das Gericht hält es für sachgerecht, zunächst den zweiten Teil des ersten Klagegrundes zu prüfen, der zur Begründung des Antrags auf Nichtigerklärung des angefochtenen Beschlusses zum Haushaltsjahr 2015 vorgebracht worden ist.
32 Nach Art. 41 Abs. 2 Buchst. a der Charta umfasst das Recht auf eine gute Verwaltung insbesondere das Recht jeder Person, gehört zu werden, bevor ihr gegenüber eine für sie nachteilige individuelle Maßnahme getroffen wird.
33 Nach Art. 224 Abs. 3 der damals geltenden Geschäftsordnung des Parlaments billigt das Präsidium nach Ende des Haushaltsjahrs den endgültigen Tätigkeitsbericht und die Endabrechnung der begünstigten politischen Partei. Nach Abs. 5 dieses Artikels handelt das Präsidium auf der Grundlage eines Vorschlags des Generalsekretärs. Außer in den in den Abs. 1 und 4 des Artikels genannten Fällen hört das Präsidium vor der Beschlussfassung die Vertreter der betreffenden politischen Partei.
34 Die Wahrung der Verteidigungsrechte stellt ferner einen allgemeinen Grundsatz des Unionsrechts dar, der anwendbar ist, wann immer die Verwaltung beabsichtigt, gegenüber einer Person eine sie beschwerende Maßnahme zu erlassen. Nach diesem Grundsatz müssen die Adressaten von Entscheidungen, die ihre Interessen spürbar beeinträchtigen, in die Lage versetzt werden, ihren Standpunkt zu den Aspekten, auf die die Verwaltung ihre Entscheidung zu stützen beabsichtigt, sachdienlich vorzutragen. Zu diesem Zweck müssen sie eine ausreichende Frist erhalten (Urteil vom 18. Dezember 2008, Sopropé, C-349/07, EU:C:2008:746, Rn. 36 und 37).
35 Was erstens die Rüge der Klägerin betrifft, wonach diese nicht speziell im Rahmen einer Anhörung in der Sitzung des Präsidiums des Parlaments gehört worden sei, die zur Annahme des angefochtenen Beschlusses zum Haushaltsjahr 2015 geführt habe, genügt die Feststellung, dass weder die fragliche Regelung noch der allgemeine Grundsatz der Wahrung der Verteidigungsrechte für sie einen Anspruch auf förmliche Anhörung begründen, da die Möglichkeit, schriftliche Erklärungen einzureichen, genügt, um die Wahrung des Anhörungsrechts zu gewährleisten (vgl. entsprechend Urteile vom 27. September 2005, Common Market Fertilizers/Kommission, T‑134/03 und T‑135/03, EU:T:2005:339, Rn. 108, und vom 6. September 2013, Bank Melli Iran/Rat, T‑35/10 und T‑7/11, EU:T:2013:397, Rn. 105). Es steht auch fest, dass die Klägerin ihre schriftliche Stellungnahme am 2. November 2016 abgeben konnte.
36 Was zweitens die Rüge der Klägerin betrifft, wonach ihre schriftliche Stellungnahme vom 2. November 2016 dem Präsidium des Parlaments nicht übermittelt worden sei, ist festzustellen, dass die Punkte 5 und 6 des Vermerks des Generalsekretärs des Parlaments vom 10. November 2016, mit dem das Präsidium des Parlaments ersucht wurde, den angefochtenen Beschluss zum Haushaltsjahr 2015 anzunehmen, auf diese Stellungnahme Bezug nehmen und darauf hinweisen, dass sie berücksichtigt wurde, sowie hinzufügen, dass die Originaldokumente beim Generalsekretariat des Parlaments auf Anfrage zur Verfügung stehen. Die Rüge ist daher zurückzuweisen.
37 Drittens ist die Behauptung der Klägerin zurückzuweisen, wonach der angefochtene Beschluss zum Haushaltsjahr 2015 vor der Sitzung des Präsidiums des Parlaments angenommen und unterzeichnet worden sei, da er der Klägerin am 21. November 2016 um 19.16 Uhr per E‑Mail übersandt worden sei, d. h. vor dem Ende der genannten Sitzung. Wie das Parlament zu Recht ausführt, spricht nichts dagegen, dass, wie im vorliegenden Fall, ein Beschlussentwurf vor dieser Sitzung ausgearbeitet worden war. Zudem stellt das Parlament klar, dass der Beschluss an die Klägerin erst übersandt worden sei, nachdem das Präsidium die Frage geprüft habe und den betreffenden Beschluss angenommen habe. Die Klägerin hat keinen Beweis vorgelegt, der die Annahme zuließe, dass diese Aussage unzutreffend wäre. Die Rüge ist daher zurückzuweisen.
38 Was viertens das Vorbringen der Klägerin betrifft, ihre schriftliche Stellungnahme vom 2. November 2016 sei weder vom Generaldirektor Finanzen des Parlaments noch vom Generalsekretär des Parlaments in dessen Vermerk vom 10. November 2016 berücksichtigt, kommentiert oder zurückgewiesen worden, ist festzustellen, dass der genannte Vermerk ausdrücklich auf diese Stellungnahme Bezug nimmt und darauf hinweist, dass sie bei dem betreffenden Vorschlag berücksichtigt wurde. Folglich kann dem Parlament insoweit kein Verstoß gegen die Verteidigungsrechte der Klägerin zur Last gelegt werden. Soweit die Klägerin der Ansicht ist, dass der angefochtene Beschluss zum Haushaltsjahr 2015 den in ihrer Stellungnahme vorgetragenen Argumenten nicht gerecht werde, obliegt es ihr, die Begründetheit dieses Beschlusses in Frage zu stellen, wie sie es im Übrigen im Rahmen des zweiten Klagegrundes, der zur Begründung des Antrags auf Nichtigerklärung des angefochtenen Beschlusses zum Haushaltsjahr 2015 geltend gemacht wird, getan hat.
39 Somit ist der zweite Teil des ersten Klagegrundes, der zur Begründung des Antrags auf Nichtigerklärung des angefochtenen Beschlusses zum Haushaltsjahr 2015 geltend gemacht wird, als unbegründet zurückzuweisen.
40 Was den ersten Teil des ersten Klagegrundes betrifft, der zur Begründung des Antrags auf Nichtigerklärung des angefochtenen Beschlusses zum Haushaltsjahr 2015 geltend gemacht wird, ist festzustellen, dass nach Art. 41 Abs. 1 der Charta („Recht auf eine gute Verwaltung“) jede Person ein Recht darauf hat, dass ihre Angelegenheiten von den Organen und Einrichtungen der Union unparteiisch, gerecht und innerhalb einer angemessenen Frist behandelt werden.
41 Insoweit ist daran zu erinnern, dass das in Art. 41 Abs. 1 der Charta garantierte Recht einer Person darauf, dass ihre Angelegenheiten von den Organen der Union unparteiisch behandelt werden, einen allgemeinen Grundsatz des Unionsrechts widerspiegelt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 20. Dezember 2017, Spanien/Rat, C‑521/15, EU:C:2017:982, Rn. 88 und 89).
42 Nach der Rechtsprechung umfasst der Grundsatz der ordnungsmäßigen Verwaltung insbesondere die Verpflichtung des zuständigen Organs, sorgfältig und unparteiisch alle relevanten Aspekte des betreffenden Falls zu prüfen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 8. Juni 2017, Schniga/CPVO, C‑625/15 P, EU:C:2017:435, Rn. 47).
43 Das Unparteilichkeitsgebot umfasst zum einen die subjektive Unparteilichkeit in dem Sinne, dass kein Mitglied des betroffenen Organs, das mit der Sache befasst ist, Voreingenommenheit oder persönliche Vorurteile an den Tag legen darf, und zum anderen die objektive Unparteilichkeit in dem Sinne, dass das Organ hinreichende Garantien bieten muss, um jeden berechtigten Zweifel in dieser Hinsicht auszuschließen (Urteile vom 11. Juli 2013, Ziegler/Kommission, C‑439/11 P, EU:C:2013:513, Rn. 155, vom 20. Dezember 2017, Spanien/Rat, C‑521/15, EU:C:2017:982, Rn. 91, und vom 27. März 2019, August Wolff und Remedia/Kommission, C‑680/16 P, EU:C:2019:257, Rn. 27).
44 Was genauer Erklärungen angeht, die geeignet sind, die Erfordernisse der Unparteilichkeit in Frage zu stellen, ist daran zu erinnern, dass es auf deren wahre Bedeutung, nicht aber auf deren wörtlichen Ausdruck ankommt. Die Frage, ob die Erklärungen einen Verstoß gegen das Recht auf eine gute Verwaltung, insbesondere das Recht auf eine unparteiische Behandlung eigener Angelegenheiten, darstellen können, ist zudem im Kontext der besonderen Umstände zu beurteilen, unter denen die streitige Erklärung abgegeben wurde. Insbesondere ist zu prüfen, ob die Erklärungen nur auf die Gefahr eines Verstoßes gegen die geltenden Vorschriften hinweisen oder insoweit eine endgültige Entscheidung vorwegnehmen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 30. September 2003, Atlantic Container Line u. a./Kommission, T‑191/98 und T‑212/98 bis T‑214/98, EU:T:2003:245, Rn. 445 und 448).
45 Wenn ferner das Parlament über einen weiten Beurteilungsspielraum verfügt, ist die gerichtliche Kontrolle hinsichtlich der Wahrnehmung dieses Spielraums auf die Prüfung beschränkt, ob die Verfahrens- und Begründungsvorschriften eingehalten worden sind, der Sachverhalt zutrifft und kein offensichtlicher Beurteilungsfehler oder ein Ermessensmissbrauch vorliegt (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 20. Mai 2009, VIP Car Solutions/Parlament, T‑89/07, EU:T:2009:163, Rn. 56, und vom 10. November 2015, GSA und SGI/Parlament, T‑321/15, nicht veröffentlicht, EU:T:2015:834, Rn. 33). Soweit jedoch die Organe der Union über einen solchen Beurteilungsspielraum verfügen, kommt der Beachtung der Garantien, die die Unionsrechtsordnung in Verwaltungsverfahren gewährt, darunter die Grundsätze der guten Verwaltung und insbesondere die Pflicht zur Unparteilichkeit, eine umso größere Bedeutung zu (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 21. November 1991, Technische Universität München, C‑269/90, EU:C:1991:438, Rn. 14). Da es sich im vorliegenden Fall um ein Verwaltungsverfahren handelt, bei dem es um komplexe rechtliche und buchhaltungstechnische Feststellungen geht, verfügt das Parlament bei der Beschlussfassung zur Erstattungsfähigkeit der Ausgaben der Klägerin für das Haushaltsjahr 2015 vor allem aufgrund der Art. 7 und 8 der Verordnung Nr. 2004/2003 über einen bestimmten Beurteilungsspielraum.
46 Der vorliegende Fall ist im Licht dieser Erwägungen zu prüfen.
47 An erster Stelle ist die Klägerin der Auffassung, dass die Zusammensetzung des Präsidiums des Parlaments ihrer Art nach für sich allein ausreiche, um die Unparteilichkeit dieses Organs in Frage zu stellen. Diesem Vorbringen ist aus drei Gründen nicht zu folgen.
48 Zunächst ist festzustellen, dass es sich bei dem Präsidium des Parlaments um ein Kollegialorgan handelt, das aus dem Präsidenten und 14 Vizepräsidenten des Parlaments besteht, die nach den Art. 16 und 17 der damals geltenden Geschäftsordnung des Parlaments sämtlich von den Mitgliedern des Parlaments gewählt wurden. Die Zusammensetzung dieses Organs soll somit die im Parlament selbst vorhandene Pluralität widerspiegeln.
49 Sodann ist es unerheblich, dass die Verordnung Nr. 1141/2014 eine unabhängige Behörde schuf, um bestimmte Aufgaben bezüglich der politischen Stiftungen auf europäischer Ebene zu übernehmen, da die genannte Verordnung auf den Sachverhalt, der dem vorliegenden Rechtsstreit zugrunde liegt, keine Anwendung findet. Nach ihrem Art. 41 gilt die Verordnung nämlich erst ab dem 1. Januar 2017. Jedenfalls verbleibt nach ihrem Art. 18 Abs. 4 in Verbindung mit Art. 5 Abs. 1 des Beschlusses des Präsidiums des Europäischen Parlaments vom 12. Juni 2017 mit Durchführungsbestimmungen zu der Verordnung Nr. 1141/2014 (ABl. 2017, C 205, S. 2) die Zuständigkeit für Entscheidungen über Finanzierungsanträge beim Präsidium.
50 Schließlich ist, wie das Parlament zu Recht ausführt, festzustellen, dass die Klägerin keine Einrede der Rechtswidrigkeit nach Art. 277 AEUV gegen die Bestimmungen über die Zusammensetzung des Präsidiums des Parlaments und seine Zuständigkeit für die Entscheidungen über die Finanzierung der politischen Parteien und Stiftungen auf europäischer Ebene erhoben hat, namentlich die Art. 24 und 25 der damals geltenden Geschäftsordnung des Parlaments sowie Art. 4 des Beschlusses des Präsidiums vom 29. März 2004.
51 Was an zweiter Stelle das Verhalten eines Mitglieds des Präsidiums des Parlaments angeht, macht die Klägerin geltend, das Mitglied habe vor der Sitzung des Präsidiums vom 21. November 2016 öffentlich Äußerungen von sich gegeben, die ein Zeugnis seiner fehlenden Unparteilichkeit ihr gegenüber seien.
52 Um die Begründetheit der Rüge der Klägerin in Bezug auf Erklärungen eines Mitglieds des Präsidiums des Parlaments zu prüfen, ist eine Reihe von Gesichtspunkten zu berücksichtigen wie z. B. der Inhalt der streitigen Erklärungen, die Aufgaben der Person, die diese Erklärungen abgegeben hat, sowie die von dieser Person im Entscheidungsverfahren tatsächlich ausgeübte Rolle.
53 Bezüglich der streitigen Erklärungen ist im vorliegenden Fall festzustellen, dass am 17. November 2016 die Fraktion, der das betreffende Mitglied des Präsidiums des Parlaments angehörte, eine Pressemitteilung herausgab, die eine vom genannten Mitglied verfasste Erklärung enthielt, wonach „[w]ir erwarten, dass der Prüfbericht in der Sitzung des Präsidiums des Europäischen Parlaments an diesem Montag bestätigt wird und dass die Behörden des Parlaments eine klare und eindeutige Antwort geben“ und dass „[d]ie Gelder … zurückerstattet werden [müssen] und die UKIP … für ihre betrügerische Manipulation der britischen Wähler geradestehen [muss]“. In dieser Pressemitteilung hieß es ferner, dass die Klägerin eine politische Partei auf europäischer Ebene sei, die von der UKIP, also der UK Independence Party, beherrscht werde.
54 Am 18. November 2016 veröffentlichte das betreffende Mitglied des Präsidiums des Parlaments außerdem in den sozialen Netzwerken einen Kommentar, wonach „[e]s … einer ungeheuren Unverfrorenheit [bedarf], einerseits die [Union] bei jeder Gelegenheit herabzusetzen und andererseits Gelder der [Union] rechtswidrig einzustreichen“. In Beantwortung des Kommentars eines Dritten in den sozialen Netzwerken fügte das Präsidiumsmitglied Folgendes an: „Ich rede hier über die betrügerische Verwendung von Geldern!“
55 Das auf der Website des Parlaments abrufbare Protokoll der Sitzung seines Präsidiums vom 21. November 2016, zu dem das Gericht das Parlament in der mündlichen Verhandlung befragt hat, hält fest, dass das genannte Präsidiumsmitglied an der Sitzung teilnahm und sich an den Debatten, die zur Annahme des angefochtenen Beschlusses zum Haushaltsjahr 2015 führten, beteiligte. Ausweislich dieses Protokolls kam ferner die einzige Wortmeldung eines Präsidiumsmitglieds bei der Erörterung dieses Tagesordnungspunkts von dem betreffenden Mitglied, was die Feststellung erlaubt, dass sich diese Person bei den Debatten aktiv einbrachte, obwohl der Beschluss auf Vorschlag des Generalsekretärs des Parlaments gefasst wurde.
56 Somit ist festzustellen, dass das Mitglied des Präsidiums des Parlaments Äußerungen von sich gegeben hat, die aus der Sicht eines Außenstehenden die Annahme erlaubten, dass das genannte Mitglied die Frage im Vorgriff entschieden hatte, bevor der angefochtene Beschluss zum Haushaltsjahr 2015 angenommen wurde. Die betreffenden Äußerungen beschränkten sich nämlich nicht auf die Feststellung, dass nur die Gefahr eines Verstoßes gegen die geltenden Vorschriften im Raum stand, sondern beinhalteten auch, dass die Entgegennahme der Gelder „rechtswidrig“ und „betrügerisch“ sei. Zwar bekleidete dieses Mitglied nicht die Funktion des Berichterstatters oder Präsidenten, doch hat das Parlament in der mündlichen Verhandlung zudem eingeräumt, dass das betreffende Mitglied zusammen mit einem weiteren Mitglied innerhalb des Präsidiums für die Überwachung der Vorgänge verantwortlich war, die die Finanzierung der politischen Parteien auf europäischer Ebene betrafen.
57 Die Ausführungen des Parlaments in der Gegenerwiderung, wonach die besagten Kommentare von einem einzigen Mitglied des Präsidiums stammten und nur zeigten, dass das fragliche Mitglied die Frage geprüft und für sich bereits entscheiden habe, wie es abstimmen werde, sind überdies nicht überzeugend.
58 Erstens ist der Umstand, dass die Zweifel hinsichtlich des äußeren Eindrucks von Unparteilichkeit nur eine einzige Person innerhalb eines aus 15 Mitgliedern bestehenden Kollegialorgans betreffen, nicht unbedingt entscheidend, da diese Person bei den Beratungen möglicherweise einen entscheidenden Einfluss hatte (vgl. in diesem Sinne entsprechend EGMR, 23. April 2015, Morice/Frankreich, CE:ECHR:2015:0423JUD 002936910, Rn. 89). Insoweit ist an die aktive Rolle zu erinnern, die, wie aus dem Protokoll hervorgeht, das betreffende Mitglied bei der Präsidiumssitzung spielte (vgl. oben, Rn. 55).
59 Was zweitens das Vorbringen des Parlaments betrifft, wonach die streitigen Erklärungen nur einen Hinweis gäben, wie das betreffende Mitglied des Präsidiums abstimmen werde, ist festzustellen, dass es nicht allein darauf ankommt, dass das Präsidium seine Entscheidungen unparteiisch trifft, sondern nach der oben in Rn. 43 angeführten Rechtsprechung auch darauf, dass es hinreichende Garantien bietet, um jeden berechtigten Zweifel in dieser Hinsicht auszuschließen. In Anbetracht des kategorischen und eindeutigen Inhalts der besagten Erklärungen, die vor der Annahme des angefochtenen Beschlusses zum Haushaltsjahr 2015 formuliert wurden, ist festzustellen, dass der äußere Eindruck von Unparteilichkeit im vorliegenden Fall ernsthaft in Frage gestellt wurde.
60 Vor diesem Hintergrund kann das Parlament nicht damit durchdringen, dass das Mitglied seines Präsidiums, das Urheber der streitigen Erklärungen ist, seinen persönlichen Standpunkt zum Ausdruck habe bringen dürfen, denn die Mitglieder eines kollegialen Entscheidungsorgans dürfen ihre persönliche Meinung zu einer laufenden Sache grundsätzlich nicht öffentlich äußern, da sonst das Erfordernis der Unparteilichkeit ausgehebelt würde.
61 Das Parlament muss nämlich hinreichende Garantien bieten, um jeden Zweifel an der Unparteilichkeit seiner Mitglieder bei der Beschlussfassung in Verwaltungsangelegenheiten auszuschließen, was bedeutet, dass sich die Mitglieder, solange die Vorgänge in Bearbeitung sind, öffentlicher Äußerungen, die sich auf eine gute oder schlechte Verwaltung der überlassenen Mittel durch die politischen Parteien auf europäischer Ebene beziehen, enthalten müssen.
62 Nach alledem ist dem ersten Teil des ersten Klagegrundes, der zur Begründung des Antrags auf Nichtigerklärung des angefochtenen Beschlusses zum Haushaltsjahr 2015 geltend gemacht wird, stattzugeben.
Zum behaupteten Verstoß gegen die Art. 7 bis 9 der Verordnung Nr. 2004/2003
63 Mit dem zweiten Klagegrund, der zur Begründung des Antrags auf Nichtigerklärung des angefochtenen Beschlusses zum Haushaltsjahr 2015 geltend gemacht wird, trägt die Klägerin vor, das Parlament habe gegen die Art. 7 bis 9 der Verordnung Nr. 2004/2003 verstoßen, als es davon ausging, dass bestimmte Ausgaben nicht erstattungsfähig seien, soweit sie zur Finanzierung nationaler politischer Parteien und einer Referendumskampagne verwendet worden seien. Sie rügt insbesondere die Feststellung der Nichterstattungsfähigkeit bezüglich erstens der Finanzierung einer Reihe von Meinungsumfragen im Vereinigten Königreich, zweitens der an drei Berater im Vereinigten Königreich geleisteten Zahlungen und drittens einer Reihe von Zahlungen im Zusammenhang mit der Volkspartei in Belgien. Viertens stellt sie die Begründetheit des genannten Beschlusses in Frage, soweit in diesem die Zahlungen an einen Lieferanten wegen eines angeblichen Interessenkonflikts für nicht erstattungsfähig angesehen werden.
64 Angesichts des Ergebnisses der Prüfung des ersten Klagegrundes, der zur Begründung des Antrags auf Nichtigerklärung des angefochtenen Beschlusses zum Haushaltsjahr 2015 geltend gemacht wird, hält es das Gericht vorliegend für angebracht, sich im Rahmen des zweiten Klagegrundes nur zu der Rüge bezüglich der Erklärung der mit einer Meinungsumfrage in sieben Mitgliedstaaten im Dezember 2015 verbundenen Ausgaben für nicht erstattungsfähig zu äußern.
65 Die Klägerin widerspricht der Auslegung des Parlaments, wonach die Finanzierung der in sieben Mitgliedstaaten durchgeführten Meinungsumfrage gegen Art. 7 Abs. 1 der Verordnung Nr. 2004/2003 bezüglich des Verbots der mittelbaren Finanzierung einer nationalen politischen Partei verstoße. Sie stellt ferner in Abrede, dass die Ausgaben für diese Meinungsumfrage wegen des in Art. 8 Abs. 4 der genannten Verordnung verankerten Verbots der Finanzierung von Kampagnen für Referenden für nicht erstattungsfähig erklärt werden könnten.
66 Das Parlament widerspricht den Ausführungen der Klägerin.
67 Es macht geltend, die nach den Wahlen im Vereinigten Königreich zwischen Juni und Dezember 2015 durchgeführten Meinungsumfragen hätten teilweise Belange der nationalen Politik betroffen, vor allem aber Fragen zum Brexit-Referendum. In der Gegenerwiderung trägt sie vor, die in sieben Mitgliedstaaten durchgeführte Meinungsumfrage habe Fragen zur Zugehörigkeit des Vereinigten Königreichs zur Union und nach der Meinung der Befragten zum Brexit-Referendum enthalten.
68 Auf Fragen des Gerichts in der mündlichen Verhandlung hat das Parlament erklärt, dass die in sieben Mitgliedstaaten durchgeführte Meinungsumfrage zum Nutzen der UKIP auf das Vereinigte Königreich ausgerichtet gewesen sei und im Wesentlichen das Brexit-Referendum betroffen habe.
69 Was die nach den Wahlen im Vereinigten Königreich zwischen Juni und Dezember 2015 durchgeführten Meinungsumfragen betrifft, ergibt sich aus dem angefochtenen Beschluss zum Haushaltsjahr 2015, dass die mit ihnen zusammenhängenden Ausgaben aus zwei Gründen für nicht erstattungsfähig gehalten wurden, nämlich aufgrund des in Art. 7 Abs. 1 der Verordnung Nr. 2004/2003 verankerten Verbots der mittelbaren Finanzierung einer nationalen politischen Partei sowie aufgrund des in Art. 8 Abs. 4 der Verordnung geregelten Verbots der Finanzierung von Kampagnen für Referenden. Nach dem genannten Beschluss betrafen die Meinungsumfragen nämlich vor allem das Referendum zum Brexit und einige von ihnen zum Teil auch Belange der nationalen Politik.
70 Nach Art. 7 Abs. 1 der Verordnung Nr. 2004/2003 dürfen die Mittel, die politische Parteien auf europäischer Ebene aus dem Gesamthaushaltsplan der Union oder aus anderen Quellen erhalten, nicht der unmittelbaren oder mittelbaren Finanzierung anderer politischer Parteien und insbesondere nicht von nationalen politischen Parteien oder Kandidaten dienen.
71 Es ist daran zu erinnern, dass eine mittelbare Finanzierung einer nationalen Partei vorliegt, wenn diese einen finanziellen Vorteil z. B. dadurch erhält, dass sie bestimmte sonst fällige Ausgaben vermeidet, auch wenn kein direkter Transfer von Mitteln stattgefunden hat (Urteil vom 27. November 2018, Mouvement pour une Europe des nations et des libertés/Parlament, T‑829/16, Rechtsmittel anhängig, EU:T:2018:840, Rn. 72). Für die Zwecke dieser Prüfung ist ein Bündel von Indizien heranzuziehen, wie insbesondere zeitliche und geografische Indizien sowie solche betreffend den Inhalt der finanzierten Maßnahme (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 27. November 2018, Mouvement pour une Europe des nations et des libertés/Parlament, T‑829/16, Rechtsmittel anhängig, EU:T:2018:840, Rn. 83).
72 Was das Verbot der Finanzierung von Kampagnen für Referenden betrifft, ist festzustellen, dass Art. 8 Abs. 4 der Verordnung Nr. 2004/2003 bestimmt, dass die erstattungsfähigen Ausgaben nicht zur Finanzierung von Kampagnen für Referenden verwendet werden dürfen.
73 Mit seinem Beschluss vom 9. Mai 2016 stellte das Präsidium des Parlaments ferner klar, dass die Frage, ob die Tätigkeit einer politischen Partei auf europäischer Ebene eine Kampagne für Referenden darstellt, vor allem von bestimmten Voraussetzungen abhängt, nämlich davon, ob erstens die mögliche Durchführung eines solchen Referendums der Öffentlichkeit bereits bekannt gegeben wurde, obwohl sie noch nicht offiziell angekündigt wurde, ob zweitens zwischen der betreffenden Tätigkeit der politischen Partei und der mit dem Referendum vorgelegten Frage ein unmittelbarer und offenkundiger Zusammenhang bestand und ob drittens eine zeitliche Nähe zwischen der betreffenden Tätigkeit der politischen Partei und dem für das Referendum vorgesehenen Datum bestand, selbst wenn dieses inoffiziell war. Insoweit ist festzustellen, dass das Parlament nicht bestreitet, dass der angefochtene Beschluss zum Haushaltsjahr 2015 die im Beschluss des Präsidiums vom 9. Mai 2016 festlegten Kriterien anwendet.
74 Im Licht dieser Erwägungen ist die Begründetheit des angefochtenen Beschlusses zum Haushaltsjahr 2015 zu prüfen, soweit dieser Ausgaben, die im Zusammenhang mit der in sieben Mitgliedstaaten durchgeführten Meinungsumfrage stehen, für nicht erstattungsfähig erklärt.
75 Die Prüfung des Dokuments mit den Ergebnissen der in sieben Mitgliedstaaten durchgeführten Meinungsumfrage ergibt, dass diese in Belgien, in Frankreich, in Ungarn, in den Niederlanden, in Polen, in Schweden und im Vereinigten Königreich anhand einer Stichprobe von ungefähr 1000 Personen pro Mitgliedstaat erfolgte. Die Fragen, die in den sieben Mitgliedstaaten gleichlautend waren, betrafen die Zugehörigkeit dieser Mitgliedstaaten zur Union, das Votum der Befragten bei einem eventuellen Referendum über die Zugehörigkeit zur Union, die Reform der Bedingungen der Unionszugehörigkeit, den Umgang mit der Flüchtlingskrise in der Bundesrepublik Deutschland, die Aufnahme von Flüchtlingen in den sieben Mitgliedstaaten, die Bedrohungen der Sicherheit der sieben Mitgliedstaaten, die Beteiligung der sieben Mitgliedstaaten an einer europäischen Streitmacht und den Schengen-Raum.
76 Erstens ist festzustellen, dass der Teil der in den sieben Mitgliedstaaten durchgeführten Meinungsumfrage, der das Vereinigte Königreich betraf, in den Anwendungsbereich des Verbots der Finanzierung von Kampagnen für Referenden nach Art. 8 Abs. 4 der Verordnung Nr. 2004/2003 fällt, da die Rechtsvorschriften über die Durchführung des Referendums im Vereinigten Königreich im Dezember 2015 endgültig verabschiedet wurden, d. h. im Zeitpunkt der genannten Meinungsumfrage, und der Inhalt dieses Teils der Umfrage größtenteils eng mit diesem Referendum zusammenhing.
77 Dagegen ist festzustellen, dass diese Erwägungen nicht für den Teil der Meinungsumfrage in den sechs anderen Mitgliedstaaten gelten, in denen zu der Zeit kein Referendum beabsichtigt war. Zudem hat das Parlament nicht vorgetragen und erst recht nicht nachgewiesen, dass der genannte Teil der Umfrage von irgendeinem Nutzen für die Kampagne für das Brexit-Referendum im Vereinigten Königreich sein konnte. Unter diesem Gesichtspunkt kann somit in Bezug auf diesen Teil der Meinungsumfrage nicht von der Finanzierung einer Kampagne für Referenden ausgegangen werden.
78 Was zweitens das Verbot der mittelbaren Finanzierung einer nationalen politischen Partei betrifft, ist das Vorbringen des Parlaments zurückzuweisen, wonach der Teil der Meinungsumfrage, der die anderen sechs Mitgliedstaaten betrifft, für die UKIP von Nutzen sei. Es ist nämlich nicht nachgewiesen worden, dass der Inhalt des genannten Teils für die UKIP von irgendeinem Nutzen sein könnte. Außerdem wurde dieser Teil der Meinungsumfrage in sechs Mitgliedstaaten durchgeführt, in denen, anders als im Vereinigten Königreich, die UKIP nicht vertreten ist.
79 Nach alledem ist der vorliegenden Rüge stattzugeben.
80 In Anbetracht der oben in den Rn. 62 und 79 getroffenen Feststelllungen ist der angefochtene Beschluss zum Haushaltsjahr 2015 für nichtig zu erklären.
Zum Antrag auf Nichtigerklärung des angefochtenen Beschlusses zum Haushaltsjahr 2017
81 Zur Begründung des Antrags auf Nichtigerklärung des angefochtenen Beschlusses zum Haushaltsjahr 2017 macht die Klägerin drei Klagegründe geltend. Mit dem ersten rügt sie einen Verstoß gegen den Grundsatz der guten Verwaltung und gegen die Verteidigungsrechte, mit dem zweiten einen Verstoß gegen Art. 134 der Verordnung (EU, Euratom) Nr. 966/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. Oktober 2012 über die Haushaltsordnung für den Gesamthaushaltsplan der Union und zur Aufhebung der Verordnung (EG, Euratom) Nr. 1605/2002 des Rates (ABl. 2012, L 298, S. 1, im Folgenden: Haushaltsordnung) sowie Art. 206 der delegierten Verordnung (EU) Nr. 1268/2012 der Kommission vom 29. Oktober 2012 über die Anwendungsbestimmungen für die Verordnung Nr. 966/2012 (ABl. 2012, L 362, S. 1, im Folgenden: Anwendungsbestimmungen für die Haushaltsordnung) und mit dem dritten einen Verstoß gegen die Grundsätze der Verhältnismäßigkeit und der Gleichbehandlung.
Zum behaupteten Verstoß gegen den Grundsatz der guten Verwaltung und gegen die Verteidigungsrechte
82 Der erste Klagegrund, der zur Begründung des Antrags auf Nichtigerklärung des angefochtenen Beschlusses zum Haushaltsjahr 2017 vorgebracht wird, untergliedert sich in zwei Teile. Mit dem ersten Teil macht die Klägerin geltend, das Parlament habe gegen den Grundsatz der guten Verwaltung sowie gegen Art. 41 der Charta verstoßen. Sie bezieht sich insoweit auf ihre Argumente im Rahmen des ersten Teils des ersten Klagegrundes, der zur Begründung des Antrags auf Nichtigerklärung des Beschlusses zum Haushaltsjahr 2015 geltend gemacht wird (vgl. oben, Rn. 23).
83 Mit dem zweiten Teil des ersten Klagegrundes, der zur Begründung des Antrags auf Nichtigerklärung des angefochtenen Beschlusses zum Haushaltsjahr 2017 geltend gemacht wird, beruft sich die Klägerin auf einen Verstoß gegen die Verteidigungsrechte, insbesondere gegen das in Art. 41 Abs. 2 Buchst. a der Charta und Art. 224 der damals geltenden Geschäftsordnung des Parlaments verankerte Recht auf Anhörung. Zur Begründung dieses Teils bezieht sich die Klägerin erstens auf ihre Argumente im Rahmen des zweiten Teils des ersten Klagegrundes, der zur Begründung des Antrags auf Nichtigerklärung des Beschlusses zum Haushaltsjahr 2015 geltend gemacht wird (vgl. oben, Rn. 25). Zweitens trägt sie vor, der angefochtene Beschluss zum Haushaltsjahr 2017 beruhe auf einer „ergänzenden Stellungnahme“ der externen Prüfer zu ihrer finanziellen Lebensfähigkeit, die ihr nicht übermittelt worden sei und zu der sie nicht habe Stellung nehmen können. Drittens macht sie geltend, der letztgenannte angefochtene Beschluss habe sich negativ auf sie ausgewirkt, da es ihr unmöglich gewesen sei, die verlangte Bankgarantie zu erhalten, und dies letztlich zu ihrer Liquidation am 26. April 2017 geführt habe.
84 Das Parlament widerspricht dem Vortrag der Klägerin.
85 In Bezug auf den ersten Teil des ersten Klagegrundes, der zur Begründung des Antrags auf Nichtigerklärung des Beschlusses zum Haushaltsjahr 2017 geltend gemacht wird, bezieht sich die Klägerin auf ihre Argumente im Rahmen des Antrags auf Nichtigerklärung des Beschlusses zum Haushaltsjahr 2015, ohne sich dabei jedoch auf eine fehlende Unparteilichkeit zu berufen, die sich aus vor der Annahme des angefochtenen Beschlusses zum Haushaltsjahr 2017 abgegebenen Äußerungen eines Mitglieds des Präsidiums des Parlaments ergäbe.
86 Da sich die Klägerin auf eine fehlende Unparteilichkeit des Präsidiums des Parlaments wegen dessen Zusammensetzung beruft, ist der erste Teil des ersten Klagegrundes, der zur Begründung des Antrags auf Nichtigerklärung des Beschlusses zum Haushaltsjahr 2017 geltend gemacht wird, aus den gleichen Gründen, wie sie oben in den Rn. 40 bis 50 dargelegt worden sind, als unbegründet zurückzuweisen.
87 Bezüglich des zweiten Teils des ersten Klagegrundes, der zur Begründung des Antrags auf Nichtigerklärung des angefochtenen Beschlusses zum Haushaltsjahr 2017 in Bezug auf einen Verstoß gegen das Recht auf Anhörung geltend gemacht wird, ist zunächst festzustellen, dass nach Art. 224 Abs. 1 der damals geltenden Geschäftsordnung des Parlaments dessen Präsidium über den von einer politischen Partei auf europäischer Ebene eingereichten Antrag auf Finanzierung beschließt. Zudem hört das Präsidium nach Abs. 5 dieses Artikels außer in den in dessen Abs. 1 und 4 genannten Fällen vor der Beschlussfassung die Vertreter der betreffenden politischen Partei.
88 Somit ist festzustellen, dass Art. 224 der damals geltenden Geschäftsordnung des Parlaments den politischen Parteien kein spezifisches Recht einräumt, gehört zu werden, bevor das Präsidium des Parlaments einen Beschluss über ihre Anträge auf Finanzierung annimmt.
89 Trotz dieser Feststellung zu Art. 224 der damals geltenden Geschäftsordnung des Parlaments ist aber zu prüfen, ob die Klägerin unter den Umständen des vorliegenden Falles mit Erfolg ein unmittelbar aus Art. 41 Abs. 2 der Charta hergeleitetes Recht auf Anhörung geltend machen kann. Nach der Rechtsprechung ist nämlich die Beachtung der Verteidigungsrechte ein fundamentaler Grundsatz des Unionsrechts und muss auch dann sichergestellt werden, wenn eine Regelung fehlt oder die anwendbare Regelung ein solches Verfahrensrecht nicht ausdrücklich vorsieht (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 22. November 2012, M., C‑277/11, EU:C:2012:744, Rn. 86, und vom 9. Juli 1999, New Europe Consulting und Brown/Kommission, T‑231/97, EU:T:1999:146, Rn. 42).
90 Wird bei einem Unionsorgan ein Antrag gestellt, insbesondere ein Antrag auf Finanzierung, so ist grundsätzlich davon auszugehen, dass das Recht auf Anhörung gewahrt wurde, wenn das Organ seine Entscheidung am Ende des Verfahrens aufgrund der vom Antragsteller vorgelegten Nachweise trifft, ohne diesem eine zusätzliche Gelegenheit zu verschaffen, über die Argumente hinaus, die er bei Stellung seines Antrags vorbringen konnte, gehört zu werden (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 13. Dezember 1995, Windpark Groothusen/Kommission, T‑109/94, EU:T:1995:211, Rn. 48, und vom 15. September 2016, AEDEC/Kommission, T‑91/15, nicht veröffentlicht, EU:T:2016:477, Rn. 24; vgl. ebenfalls in diesem Sinne und entsprechend Urteil vom 30. April 2014, Euris Consult/Parlament, T‑637/11, EU:T:2014:237, Rn. 119).
91 Ausnahmsweise ist jedoch die Berufung auf einen Verstoß gegen das Recht auf Anhörung möglich, wenn sich das Unionsorgan auf dem Antragsteller nicht bekannte tatsächliche oder rechtliche Erwägungen oder auf andere als die von ihm vorgelegten Beweise stützt (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 13. Dezember 1995, Windpark Groothusen/Kommission, T‑109/94, EU:T:1995:211, Rn. 48, vom 30. April 2014, Euris Consult/Parlament, T‑637/11, EU:T:2014:237, Rn. 119, und vom 15. September 2016, AEDEC/Kommission, T‑91/15, nicht veröffentlicht, EU:T:2016:477, Rn. 24) oder wenn es dem Antragsteller ein bestimmtes Verhalten zur Last legt, ohne ihm Gelegenheit zu geben, sich in sachdienlicher Weise zu äußern (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 9. Juli 1999, New Europe Consulting und Brown/Kommission, T‑231/97, EU:T:1999:146, Rn. 5 und 42 bis 44). Ferner ist darauf hinzuweisen, dass im Rahmen von Verfahren über die Zahlung von Zollabgaben ein Verstoß gegen die Verteidigungsrechte bejaht worden ist, wenn der Kläger zur Relevanz der im angefochtenen Rechtsakt zugrunde gelegten Sachumstände oder Unterlagen nicht Stellung nehmen konnte (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 21. November 1991, Technische Universität München, C‑269/90, EU:C:1991:438, Rn. 25, vom 19. Februar 1998, Eyckeler & Malt/Kommission, T‑42/96, EU:T:1998:40, Rn. 86 bis 88, und vom 17. September 1998, Primex Produkte Import-Export u. a./Kommission, T‑50/96, EU:T:1998:223, R. 63 bis 71).
92 Die von der Klägerin vorgebrachte Rüge ist im Licht dieser Erwägungen zu prüfen.
93 Im vorliegenden Fall ist erstens der angefochtene Beschluss zum Haushaltsjahr 2017 unbestreitbar eine individuelle Maßnahme gegenüber der Klägerin im Sinne von Art. 41 Abs. 2 der Charta.
94 Zweitens handelt es sich entgegen den Ausführungen des Parlaments um eine für die Klägerin nachteilige Maßnahme, da der Beschluss über die Gewährung der Finanzierung Bedingungen enthält, die mit nicht unerheblichen Belastungen verbunden sind, nämlich die Pflicht zur Stellung einer Bankbürgschaft und die Begrenzung der Vorfinanzierung auf 33 % des Höchstbetrags der Finanzhilfe (vgl. in diesem Sinne und entsprechend Urteil vom 23. Oktober 1974, Transocean Marine Paint Association/Kommission, 17/74, EU:C:1974:106, Rn. 15 bis 17, zu einem Verstoß gegen das Recht auf Anhörung im Rahmen der Gewährung einer Ausnahme unter Auflagen gemäß der Vorschrift, die jetzt Art. 101 Abs. 3 AEUV ist).
95 Drittens macht die Klägerin geltend, dass der angefochtene Beschluss zum Haushaltsjahr 2017 auf einer „ergänzenden Stellungnahme“ der externen Prüfer zu ihrer finanziellen Lebensfähigkeit beruhe, die ihr nicht übermittelt worden sei und zu der sie nicht habe Stellung nehmen können.
96 Auch wenn insoweit das Parlament einräumt, dass es der Klägerin die in Rede stehende „ergänzende Stellungnahme“ als solche vor der Annahme des angefochtenen Beschlusses zum Haushaltsjahr 2017 nicht übermittelt habe, ist festzustellen, dass die Vermerke des Generalsekretärs des Parlaments vom 10. November und 5. Dezember 2016, mit denen das Präsidium um Annahme der angefochtenen Beschlüsse ersucht wurde und die von der Klägerin selbst vorgelegt worden sind, auf Zweifel der externen Prüfer an der finanziellen Lebensfähigkeit der Klägerin hinwiesen. Auf Fragen in der mündlichen Verhandlung bestätigt die Klägerin, eine Kopie des Vermerks des Generalsekretärs vom 10. November 2016 im selben Monat erhalten zu haben. Die Zweifel an der finanziellen Lebensfähigkeit der Klägerin wurden zudem auch im Prüfbericht der externen Prüfer vom 18. April 2016 geäußert, dessen Kenntnis die Klägerin in einem Schreiben vom 10. Mai 2016 an die externen Prüfer bestätigte.
97 Angesichts der Tatsache, dass der Klägerin die Zweifel an ihrer finanziellen Lebensfähigkeit, auf denen der angefochtene Beschluss zum Haushaltsjahr 2017 beruhte, bereits bekannt waren, kann sie sich somit nicht auf einen Verstoß gegen das Recht berufen, zu Sachumständen gehört zu werden, die ihr bereits vor der Annahme des angefochtenen Beschlusses zum Haushaltsjahr 2017 bekannt waren.
98 Nach alledem ist der erste Klagegrund, der zur Begründung des Antrags auf Nichtigerklärung des angefochtenen Beschlusses zum Haushaltsjahr 2017 geltend gemacht wird, als unbegründet zurückzuweisen.
Zum behaupteten Verstoß gegen Art. 134 der Haushaltsordnung und Art. 206 der Anwendungsbestimmungen für die Haushaltsordnung
99 Mit dem zweiten Klagegrund, der zur Begründung des Antrags auf Nichtigerklärung des angefochtenen Beschlusses zum Haushaltsjahr 2017 geltend gemacht wird, beruft sich die Klägerin darauf, dass es gegen Art. 134 der Haushaltsordnung und Art. 206 der Anwendungsbestimmungen für die Haushaltsordnung verstoße, die Vorfinanzierung auf 33 % des Höchstbetrags der Finanzhilfe zu begrenzen und von der Stellung einer Bankbürgschaft abhängig zu machen.
100 Die Klägerin trägt insoweit vor, Art. 134 der Haushaltsordnung und Art. 206 der Anwendungsbestimmungen für die Haushaltsordnung seien im Licht des Art. 204j der Haushaltsordnung auszulegen, der durch die Verordnung (EU, Euratom) Nr. 1142/2014 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Oktober 2014 zur Änderung der Verordnung (EU, Euratom) Nr. 966/2012 im Hinblick auf die Finanzierung europäischer politischer Parteien (ABl. 2014, L 317, S. 28) eingefügt worden sei. Sie ist der Auffassung, dass sie sich in keiner der Situationen befunden habe, für die nach dieser Vorschrift die Stellung einer Bankgarantie verlangt werden könne.
101 Es sei offensichtlich fehlerhaft, die Vorfinanzierung auf 33 % des Höchstbetrags der Finanzhilfe zu begrenzen und von der Stellung einer Bankbürgschaft abhängig zu machen, da der angefochtene Beschluss zum Haushaltsjahr 2017 unter Berücksichtigung ihrer finanziellen Lage gefasst worden sei, die am Ende des Jahres 2015 und nicht im Zeitpunkt der Annahme der betreffenden Maßnahmen, d. h. im Dezember 2016, bestanden habe. Dies sei vom externen Prüfer bestätigt worden. Ihre finanzielle Lage sei im Dezember 2016 gesund gewesen. Sie habe insbesondere Zusagen potenzieller Spender erhalten, und mehrere nationale Delegationen hätten sich bereit erklärt, ihre Beiträge um einen Betrag zwischen 30000 und 100000 Euro zu erhöhen.
102 Schließlich macht die Klägerin erneut geltend, es stelle einen Verstoß gegen die Verteidigungsrechte dar, dass das Parlament eine externe Überprüfung ihrer finanziellen Lebensfähigkeit berücksichtigt habe, die ihr nicht übermittelt worden sei.
103 Das Parlament widerspricht dem Vorbringen der Klägerin.
104 Gemäß Art. 134 Abs. 1 der Haushaltsordnung („Sicherheitsleistung für die Vorfinanzierung“) kann der zuständige Anweisungsbefugte, wenn dies zweckmäßig und verhältnismäßig ist, von Fall zu Fall und vorbehaltlich einer Risikoanalyse vorab vom Begünstigten eine Sicherheitsleistung verlangen, um die mit den Vorfinanzierungen verbundenen finanziellen Risiken zu begrenzen.
105 Nach Art. 206 Abs. 1 der Anwendungsbestimmungen für die Haushaltsordnung kann der zuständige Anweisungsbefugte außer im Fall von Finanzhilfen mit geringem Wert nach Maßgabe einer Risikobewertung vom Empfänger eine vorherige Sicherheitsleistung bis zur Höhe der Vorfinanzierung verlangen oder die Vorfinanzierung in mehreren Teilbeträgen auszahlen, um die mit der Auszahlung der Vorfinanzierungen verbundenen finanziellen Risiken zu begrenzen.
106 Ferner wird nach Art. 6 des Beschlusses des Präsidiums vom 29. März 2004 die Finanzhilfe den Empfängern als Vorfinanzierung in einer einzigen Tranche in Höhe von 80 % des Höchstbetrags innerhalb von 15 Tagen, nachdem der Beschluss über die Gewährung der Finanzhilfe gefasst wurde, überwiesen, es sei denn, das Präsidium des Parlaments fasst einen anderslautenden Beschluss. Eine Vorfinanzierung des Höchstbetrags der Finanzhilfe in Höhe von 100 % ist möglich, wenn der Empfänger gemäß Art. 206 der Anwendungsbestimmungen für die Haushaltsordnung eine Sicherheitsleistung bis zur Höhe von 40 % der Vorfinanzierung erbringt.
107 Aus einer Zusammenschau der vorstehend in den Rn. 104 bis 106 genannten Bestimmungen folgt, dass das Parlament befugt ist, zum einen die Stellung einer Bankbürgschaft zu verlangen und zum anderen die Höhe der Vorfinanzierung zu begrenzen, um für die Union das mit der Auszahlung der Vorfinanzierung verbundene finanzielle Risiko zu begrenzen.
108 Die Analyse dieser Bestimmungen ergibt, dass das Parlament zum einen bei der Feststellung, ob für die Union ein finanzielles Risiko besteht, und zum anderen bei der Entscheidung, welche Maßnahmen geeignet und erforderlich sind, um die Union vor diesem Risiko zu schützen, über einen Beurteilungsspielraum verfügt. Insbesondere verfügt das Parlament über einen Beurteilungsspielraum bei der Entscheidung, ob beide Arten der vorstehend in Rn. 107 genannten Maßnahmen kombiniert werden, sowie gegebenenfalls bei der Festlegung der Höhe der Vorfinanzierung.
109 Im Licht dieser Grundsätze sind die Argumente zu prüfen, die die Klägerin im Rahmen des zweiten Klagegrundes zur Stützung des Antrags auf Nichtigerklärung des angefochtenen Beschlusses zum Haushaltsjahr 2017 vorbringt.
110 Erstens ist, wie das Parlament zu Recht geltend macht, Art. 204j der Haushaltsordnung, der mit der Verordnung Nr. 1142/2014 eingefügt wurde, auf den dem vorliegenden Rechtsstreit zugrunde liegenden Sachverhalt nicht anwendbar. Gemäß ihrem Art. 2 gilt diese Verordnung nämlich erst ab dem 1. Januar 2017. Jedenfalls ist die von der Klägerin vorgebrachte Auslegung der genannten Bestimmung unzutreffend, da aus deren Wortlaut hervorgeht, dass das Parlament die Stellung einer Sicherheitsleistung vorab verlangen kann, wenn die unmittelbare Gefahr besteht, dass die betreffende politische Partei in Insolvenz oder in Liquidation gerät, und nicht erst, wenn sie sich bereits in einer solchen Situation befindet.
111 Zweitens hat das Parlament am 12. Dezember 2016, als es den angefochtenen Beschluss zum Haushaltsjahr 2017 annahm, ohne einen Fehler zu begehen, den angefochtenen Beschluss zum Haushaltsjahr 2015 berücksichtigt, der nur einige Tage zuvor, nämlich am 21. November 2016, angenommen worden war und 500615,55 Euro für nicht erstattungsfähig erklärte sowie die Rückzahlung von 172654,92 Euro verlangte. Auch beging das Parlament keinen Fehler, als es auf der Grundlage der verfügbaren Informationen die „ergänzende Stellungnahme“ des externen Prüfers berücksichtigt hat, die die finanzielle Lebensfähigkeit der Klägerin mangels zusätzlicher Eigenmittel in Frage stellte.
112 Zwar wurde ferner auf den Sitzungen des Verwaltungsrats der Klägerin vom 6. Dezember 2016 und der Generalversammlung am selben Tag über die Notwendigkeit gesprochen, zusätzliche Mittel in Höhe von 100000 Euro zu erhalten, doch enthält das Protokoll dieser Sitzungen keine Angaben, anhand deren sich der Erhalt dieses Betrags vernünftigerweise absehen ließ.
113 Aufgrund des Vorstehenden ist festzustellen, dass das Parlament, ohne einen offensichtlichen Beurteilungsfehler zu begehen, davon ausgehen durfte, dass die im Raum stehende Zurverfügungstellung der Finanzhilfe für das Haushaltsjahr 2017 an die Klägerin für die Union mit einem finanziellen Risiko verbunden war.
114 Was den Vortrag der Klägerin angeht, der sich auf den Verstoß gegen die Verteidigungsrechte hinsichtlich der „ergänzenden Stellungnahme“ bezieht und bei dem es sich um eine Wiederholung des zweiten Teils des ersten Klagegrundes handelt, der zur Begründung des Antrags auf Nichtigerklärung des angefochtenen Beschlusses zum Haushaltsjahr 2017 geltend gemacht wird, so ist dieser Vortrag aus den gleichen Gründen zurückzuweisen, wie sie oben in den Rn. 87 bis 95 dargelegt worden sind.
115 Nach alledem ist der zweite Klagegrund, der zur Begründung des Antrags auf Nichtigerklärung des angefochtenen Beschlusses zum Haushaltsjahr 2017 geltend gemacht wird, als unbegründet zurückzuweisen.
Zum behaupteten Verstoß gegen die Grundsätze der Verhältnismäßigkeit und der Gleichbehandlung
116 Im Rahmen des dritten Klagegrundes, der zur Begründung des Antrags auf Nichtigerklärung des angefochtenen Beschlusses zum Haushaltsjahr 2017 geltend gemacht wird, beruft sich die Klägerin zum einen auf einen Verstoß gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und zum anderen auf einen Verstoß gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung.
117 Erstens macht die Klägerin geltend, der angefochtene Beschluss zum Haushaltsjahr 2017 verstoße gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, da das Parlament alternative Maßnahmen hätte in Betracht ziehen können, z. B. die Einstellung der Finanzhilfe bei Eröffnung eines Insolvenz- oder Liquidationsverfahrens über das Vermögen der Begünstigten oder alternativ die bloße Begrenzung der Vorfinanzierung auf 33 % des Betrags der Finanzhilfe ohne Forderung einer Bankbürgschaft.
118 Zweitens beruft sich die Klägerin auf einen Verstoß gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz insoweit, als das Parlament andere Begünstigte, deren finanzielle Lebensfähigkeit ebenfalls fraglich gewesen sei, aufgefordert habe, Vorschläge für Maßnahmen zur Verbesserung ihrer finanziellen Situation vorzulegen. Obwohl dies in Betracht gezogen worden sei, habe das Parlament ihr diese Möglichkeit nicht geboten und unmittelbar beschlossen, den Betrag ihrer Vorfinanzierung zu begrenzen und dessen Auszahlung von der Stellung einer Bankbürgschaft abhängig zu machen.
119 Das Parlament widerspricht dem Vorbringen der Klägerin.
120 Zum einen ist daran zu erinnern, dass nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, der zu den allgemeinen Grundsätzen des Unionsrechts gehört, die Handlungen der Unionsorgane nicht die Grenzen dessen überschreiten dürfen, was zur Erreichung der mit der fraglichen Regelung zulässigerweise verfolgten Ziele geeignet und erforderlich ist, wobei zu beachten ist, dass dann, wenn mehrere geeignete Maßnahmen zur Auswahl stehen, die am wenigsten belastende zu wählen ist (Urteil vom 11. Juni 2009, Agrana Zucker, C‑33/08, EU:C:2009:367, Rn. 31).
121 Wie oben in den Rn. 107 und 108 ausgeführt, ergibt sich aus den vorliegend anwendbaren Vorschriften, dass das Parlament zunächst bei der Feststellung, ob für die Union ein finanzielles Risiko besteht, und sodann bei der Entscheidung, welche Maßnahmen geeignet und erforderlich sind, um die Union vor diesem Risiko zu schützen, über einen Beurteilungsspielraum verfügt.
122 Im Rahmen des vorliegenden Klagegrundes bestreitet die Klägerin, dass die Maßnahmen des Parlaments, d. h. die Begrenzung der Vorfinanzierung auf 33 % des Betrags der gesamten Finanzhilfe in Verbindung mit dem Erfordernis einer Bankbürgschaft, erforderlich seien.
123 Festzustellen ist aber, dass die von der Klägerin angeführten alternativen Maßnahmen die finanziellen Interessen der Union nicht in derselben Weise wie die vom Parlament erlassenen Maßnahmen hätten schützen können. Die Einstellung der Finanzhilfe bei Eröffnung eines Insolvenz- oder Liquidationsverfahrens über das Vermögen der Begünstigten kann nämlich nicht sicherstellen, dass das Parlament die aufgewandten Beträge gegebenenfalls zurückerhalten kann. Das Gleiche gilt für eine bloße Begrenzung der Vorfinanzierung auf 33 % des Betrags der Finanzhilfe ohne Forderung einer Bankbürgschaft, die einen etwaigen Rückfluss der vom Parlament aufgewandten Beträge nicht gewährleisten könnte.
124 Angesichts des Beurteilungsspielraums des Parlaments bei der Entscheidung, welche Maßnahmen geeignet und erforderlich sind, um die Union vor einem finanziellen Risiko zu schützen, ist daher die von der Klägerin geltend gemachte Rüge eines Verstoßes gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zurückzuweisen.
125 Zum anderen ist der Grundsatz der Gleichbehandlung ein allgemeiner Grundsatz des Unionsrechts, wobei das Diskriminierungsverbot eine besondere Ausprägung dieses Grundsatzes darstellt. Dieser Grundsatz verlangt, dass vergleichbare Sachverhalte nicht unterschiedlich und unterschiedliche Sachverhalte nicht gleich behandelt werden, es sei denn, dass eine solche Behandlung objektiv gerechtfertigt ist (Urteil vom 5. Juli 2017, Fries, C‑190/16, EU:C:2017:513, Rn. 29 und 30).
126 Insoweit ist zum einen festzustellen, dass aus dem Protokoll der Sitzung des Präsidiums des Parlaments vom 12. Dezember 2016, in der der angefochtene Beschluss zum Haushaltsjahr 2017 angenommen wurde, hervorgeht, dass das Präsidium entsprechende Maßnahmen zur Verringerung des finanziellen Risikos in Bezug auf sieben Begünstigte beschloss, unter ihnen die Klägerin.
127 Ferner trifft es zwar zu, dass sich das Parlament ausweislich der Vermerke des Generalsekretärs an das Präsidium des Parlaments vom 5. September 2016 betreffend andere Begünstigte und vom 10. November 2016 betreffend die Klägerin mit dem Gedanken trug, von bestimmten Begünstigten Maßnahmen zur Verbesserung ihrer finanziellen Situation zu verlangen. Diese Möglichkeit wurde jedoch für alle im Rahmen der Anträge auf Finanzhilfe für den Haushalt 2017 in Betracht gezogen. Es gibt zudem keinen Hinweis darauf, dass das Parlament diese Möglichkeit bestimmten Begünstigten, nicht aber der Klägerin tatsächlich geboten hätte.
128 Nach alledem ist die von der Klägerin geltend gemachte Rüge eines Verstoßes gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz und mit ihr der dritte Klagegrund, der zur Begründung des Antrags auf Nichtigerklärung des angefochtenen Beschlusses zum Haushaltsjahr 2017 geltend gemacht wird, insgesamt als unbegründet zurückzuweisen.
129 Folglich ist der Antrag auf Nichtigerklärung des angefochtenen Beschlusses zum Haushaltsjahr 2017 als unbegründet zurückzuwiesen.
Kosten
130 Nach Art. 134 Abs. 3 der Verfahrensordnung trägt, wenn jede Partei teils obsiegt, teils unterliegt, jede Partei ihre eigenen Kosten. Da im vorliegenden Fall nur dem Antrag auf Nichtigerklärung des angefochtenen Beschlusses zum Haushaltsjahr 2015 stattzugeben ist, während der Antrag auf Nichtigerklärung des angefochtenen Beschlusses zum Haushaltsjahr 2017 zurückzuweisen ist, ist zu entscheiden, dass jede Partei ihre eigenen Kosten einschließlich der Kosten des Verfahrens des vorläufigen Rechtsschutzes trägt.
Aus diesen Gründen hat
DAS GERICHT (Achte erweiterte Kammer)
für Recht erkannt und entschieden:
1. Der Beschluss des Parlaments vom 21. November 2016, mit dem bestimmte Ausgaben für die Zwecke einer Finanzhilfe für das Haushaltsjahr 2015 für nicht erstattungsfähig erklärt werden, wird für nichtig erklärt.
2. Der Antrag auf Nichtigerklärung des Beschlusses FINS‑2017‑13 des Parlaments vom 12. Dezember 2016 über die Gewährung einer Finanzhilfe an die Klägerin für das Haushaltsjahr 2017 wird zurückgewiesen.
3. Die Alliance for Direct Democracy in Europe ASBL und das Europäische Parlament tragen ihre eigenen Kosten einschließlich jener des Verfahrens des vorläufigen Rechtsschutzes.
Collins
Kancheva
Barents
Passer
De Baere
Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 7. November 2019.
Unterschriften
(*1) Verfahrenssprache: Englisch.
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Urteil des Gerichtshofs (Große Kammer) vom 24. September 2019.#GC u. a. gegen Commission nationale de l'informatique et des libertés (CNIL).#Vorabentscheidungsersuchen des Conseil d'État (Frankreich).#Vorlage zur Vorabentscheidung – Personenbezogene Daten – Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten, die sich auf Websites befinden – Richtlinie 95/46/EG – Verordnung (EU) 2016/679 – Suchmaschinen im Internet – Verarbeitung von Daten, die sich auf Websites befinden – In Art. 8 der Richtlinie und den Art. 9 und 10 der Verordnung genannte besondere Datenkategorien – Anwendbarkeit dieser Artikel auf den Suchmaschinenbetreiber – Umfang der Verpflichtungen des Suchmaschinenbetreibers im Hinblick auf diese Artikel – Veröffentlichung von Daten auf Websites allein zu journalistischen, künstlerischen oder literarischen Zwecken – Auswirkung auf die Bearbeitung eines Auslistungsantrags – Art. 7, 8 und 11 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union.#Rechtssache C-136/17.
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62017CJ0136
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ECLI:EU:C:2019:773
| 2019-09-24T00:00:00 |
Gerichtshof, Szpunar
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Sammlung der Rechtsprechung – allgemein – Abschnitt „Informationen über nicht veröffentlichte Entscheidungen“
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62017CJ0136
URTEIL DES GERICHTSHOFS (Große Kammer)
24. September 2019 (*1)
„Vorlage zur Vorabentscheidung – Personenbezogene Daten – Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten, die sich auf Websites befinden – Richtlinie 95/46/EG – Verordnung (EU) 2016/679 – Suchmaschinen im Internet – Verarbeitung von Daten, die sich auf Websites befinden – In Art. 8 der Richtlinie und Art. 9 und 10 der Verordnung genannte besondere Datenkategorien – Anwendbarkeit dieser Artikel auf den Suchmaschinenbetreiber – Umfang der Verpflichtungen des Suchmaschinenbetreibers im Hinblick auf diese Artikel – Veröffentlichung von Daten auf Websites allein zu journalistischen, künstlerischen oder literarischen Zwecken – Auswirkung auf die Bearbeitung eines Auslistungsantrags – Art. 7, 8 und 11 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union“
In der Rechtssache C‑136/17
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Conseil d’État (Staatsrat, Frankreich) mit Entscheidung vom 24. Februar 2017, beim Gerichtshof eingegangen am 15. März 2017, in dem Verfahren
GC,
AF,
BH,
ED
gegen
Commission nationale de l’informatique et des libertés (CNIL),
Beteiligte:
Premier ministre,
Google LLC, Rechtsnachfolgerin der Google Inc.,
erlässt
DER GERICHTSHOF (Große Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten K. Lenaerts, des Kammerpräsidenten A. Arabadjiev, der Kammerpräsidentin A. Prechal, des Kammerpräsidenten T. von Danwitz, der Kammerpräsidentin C. Toader, des Kammerpräsidenten F. Biltgen sowie der Richter M. Ilešič (Berichterstatter), L. Bay Larsen, M. Safjan, D. Šváby, C. G. Fernlund, C. Vajda und S. Rodin,
Generalanwalt: M. Szpunar,
Kanzler: V. Giacobbo-Peyronnel, Verwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 11. September 2018,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
–
von AF,
–
von BH, vertreten durch L. Boré, avocat,
–
der Commission nationale de l’informatique et des libertés (CNIL), vertreten durch I. Falque-Pierrotin, J. Lessi und G. Le Grand als Bevollmächtigte,
–
der Google LLC, vertreten durch P. Spinosi, Y. Pelosi und W. Maxwell, avocats,
–
der französischen Regierung, vertreten durch D. Colas, R. Coesme, E. de Moustier und S. Ghiandoni als Bevollmächtigte,
–
von Irland, vertreten durch M. Browne, G. Hodge, J. Quaney und A. Joyce als Bevollmächtigte im Beistand von M. Gray, BL,
–
der griechischen Regierung, vertreten durch E.‑M. Mamouna, G. Papadaki, E. Zisi und S. Papaioannou als Bevollmächtigte,
–
der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von F. De Luca und P. Gentili, avvocati dello Stato,
–
der österreichischen Regierung, vertreten durch G. Eberhard und G. Kunnert als Bevollmächtigte,
–
der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna, M. Pawlicka und J. Sawicka als Bevollmächtigte,
–
der Regierung des Vereinigten Königreichs, vertreten durch S. Brandon als Bevollmächtigter im Beistand von C. Knight, Barrister,
–
der Europäischen Kommission, vertreten durch A. Buchet, H. Kranenborg und D. Nardi als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 10. Januar 2019
folgendes
Urteil
1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Richtlinie 95/46/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 24. Oktober 1995 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten und zum freien Datenverkehr (ABl. 1995, L 281, S. 31).
2 Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen GC, AF, BH und ED auf der einen Seite und der Commission nationale de l’informatique et des libertés (CNIL, Nationaler Ausschuss für Informatik und Freiheitsrechte, Frankreich) auf der anderen Seite wegen vier Beschlüssen der CNIL, mit denen diese es ablehnt, Google Inc., jetzt Google LLC, aufzufordern, verschiedene Links zu Websites Dritter aus der Ergebnisliste auszulisten, die im Anschluss an eine Suche anhand der Namen der Kläger des Ausgangsverfahrens angezeigt wird.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Richtlinie 95/46
3 Gegenstand der Richtlinie 95/46 ist nach ihrem Art. 1 Abs. 1 der Schutz der Grundrechte und Grundfreiheiten und insbesondere der Schutz der Privatsphäre natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten sowie die Beseitigung der Hemmnisse für den freien Verkehr dieser Daten.
4 In den Erwägungsgründen 33 und 34 der Richtlinie 95/46 heißt es:
„(33)
Daten, die aufgrund ihrer Art geeignet sind, die Grundfreiheiten oder die Privatsphäre zu beeinträchtigen, dürfen nicht ohne ausdrückliche Einwilligung der betroffenen Person verarbeitet werden. Ausnahmen von diesem Verbot müssen ausdrücklich vorgesehen werden bei spezifischen Notwendigkeiten …
(34) Die Mitgliedstaaten können, wenn dies durch ein wichtiges öffentliches Interesse gerechtfertigt ist, Ausnahmen vom Verbot der Verarbeitung sensibler Datenkategorien vorsehen … Die Mitgliedstaaten müssen jedoch geeignete besondere Garantien zum Schutz der Grundrechte und der Privatsphäre von Personen vorsehen.“
5 Art. 2 dieser Richtlinie bestimmt:
„Im Sinne dieser Richtlinie bezeichnet der Ausdruck
a)
‚personenbezogene Daten‘ alle Informationen über eine bestimmte oder bestimmbare natürliche Person (‚betroffene Person‘) …
b)
‚Verarbeitung personenbezogener Daten‘ (‚Verarbeitung‘) jeden mit oder ohne Hilfe automatisierter Verfahren ausgeführten Vorgang oder jede Vorgangsreihe im Zusammenhang mit personenbezogenen Daten wie das Erheben, das Speichern, die Organisation, die Aufbewahrung, die Anpassung oder Veränderung, das Auslesen, das Abfragen, die Benutzung, die Weitergabe durch Übermittlung, Verbreitung oder jede andere Form der Bereitstellung, die Kombination oder die Verknüpfung sowie das Sperren, Löschen oder Vernichten;
…
d)
‚für die Verarbeitung Verantwortlicher‘ die natürliche oder juristische Person, Behörde, Einrichtung oder jede andere Stelle, die allein oder gemeinsam mit anderen über die Zwecke und Mittel der Verarbeitung von personenbezogenen Daten entscheidet …
…
h)
‚Einwilligung der betroffenen Person‘ jede Willensbekundung, die ohne Zwang, für den konkreten Fall und in Kenntnis der Sachlage erfolgt und mit der die betroffene Person akzeptiert, dass personenbezogene Daten, die sie betreffen, verarbeitet werden.“
6 In Art. 6 in Kapitel II Abschnitt I („Grundsätze in Bezug auf die Qualität der Daten“) der Richtlinie 95/46 heißt es:
„(1) Die Mitgliedstaaten sehen vor, dass personenbezogene Daten
a)
nach Treu und Glauben und auf rechtmäßige Weise verarbeitet werden;
b)
für festgelegte, eindeutige und rechtmäßige Zwecke erhoben und nicht in einer mit diesen Zwecken nicht zu vereinbarenden Weise weiterverarbeitet werden. …
c)
den Zwecken entsprechen, für die sie erhoben und/oder weiterverarbeitet werden, dafür erheblich sind und nicht darüber hinausgehen;
d)
sachlich richtig und, wenn nötig, auf den neuesten Stand gebracht sind; es sind alle angemessenen Maßnahmen zu treffen, damit im Hinblick auf die Zwecke, für die sie erhoben oder weiterverarbeitet werden, nichtzutreffende oder unvollständige Daten gelöscht oder berichtigt werden;
e)
nicht länger, als es für die Realisierung der Zwecke, für die sie erhoben oder weiterverarbeitet werden, erforderlich ist, in einer Form aufbewahrt werden, die die Identifizierung der betroffenen Personen ermöglicht. Die Mitgliedstaaten sehen geeignete Garantien für personenbezogene Daten vor, die über die vorgenannte Dauer hinaus für historische, statistische oder wissenschaftliche Zwecke aufbewahrt werden.
(2) Der für die Verarbeitung Verantwortliche hat für die Einhaltung des Absatzes 1 zu sorgen.“
7 Art. 7 in Kapitel II Abschnitt II („Grundsätze in Bezug auf die Zulässigkeit der Verarbeitung von Daten“) der Richtlinie 95/46 bestimmt:
„Die Mitgliedstaaten sehen vor, dass die Verarbeitung personenbezogener Daten lediglich erfolgen darf, wenn eine der folgenden Voraussetzungen erfüllt ist:
…
f)
die Verarbeitung ist erforderlich zur Verwirklichung des berechtigten Interesses, das von dem für die Verarbeitung Verantwortlichen oder von dem bzw. den Dritten wahrgenommen wird, denen die Daten übermittelt werden, sofern nicht das Interesse oder die Grundrechte und Grundfreiheiten der betroffenen Person, die gemäß Artikel 1 Absatz 1 geschützt sind, überwiegen.“
8 In Kapitel II Abschnitt III („Besondere Kategorien der Verarbeitung“) der Richtlinie sind die Art. 8 und 9 dieser Richtlinie enthalten. Art. 8 („Verarbeitung besonderer Kategorien personenbezogener Daten“) sieht vor:
„(1) Die Mitgliedstaaten untersagen die Verarbeitung personenbezogener Daten, aus denen die rassische und ethnische Herkunft, politische Meinungen, religiöse oder philosophische Überzeugungen oder die Gewerkschaftszugehörigkeit hervorgehen, sowie von Daten über Gesundheit oder Sexualleben.
(2) Absatz 1 findet in folgenden Fällen keine Anwendung:
a)
Die betroffene Person hat ausdrücklich in die Verarbeitung der genannten Daten eingewilligt, es sei denn, nach den Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats kann das Verbot nach Absatz 1 durch die Einwilligung der betroffenen Person nicht aufgehoben werden;
oder
…
e)
die Verarbeitung bezieht sich auf Daten, die die betroffene Person offenkundig öffentlich gemacht hat, oder ist zur Geltendmachung, Ausübung oder Verteidigung rechtlicher Ansprüche vor Gericht erforderlich.
…
(4) Die Mitgliedstaaten können vorbehaltlich angemessener Garantien aus Gründen eines wichtigen öffentlichen Interesses entweder im Wege einer nationalen Rechtsvorschrift oder im Wege einer Entscheidung der Kontrollstelle andere als die in Absatz 2 genannten Ausnahmen vorsehen.
(5) Die Verarbeitung von Daten, die Straftaten, strafrechtliche Verurteilungen oder Sicherungsmaßregeln betreffen, darf nur unter behördlicher Aufsicht oder aufgrund von einzelstaatlichem Recht, das angemessene Garantien vorsieht, erfolgen, wobei ein Mitgliedstaat jedoch Ausnahmen aufgrund innerstaatlicher Rechtsvorschriften, die geeignete besondere Garantien vorsehen, festlegen kann. Ein vollständiges Register der strafrechtlichen Verurteilungen darf allerdings nur unter behördlicher Aufsicht geführt werden.
Die Mitgliedstaaten können vorsehen, dass Daten, die administrative Strafen oder zivilrechtliche Urteile betreffen, ebenfalls unter behördlicher Aufsicht verarbeitet werden müssen.
…“
9 In Art. 9 („Verarbeitung personenbezogener Daten und Meinungsfreiheit“) der Richtlinie 95/46 heißt es:
„Die Mitgliedstaaten sehen für die Verarbeitung personenbezogener Daten, die allein zu journalistischen, künstlerischen oder literarischen Zwecken erfolgt, Abweichungen und Ausnahmen von diesem Kapitel sowie von den Kapiteln IV und VI nur insofern vor, als sich dies als notwendig erweist, um das Recht auf Privatsphäre mit den für die Freiheit der Meinungsäußerung geltenden Vorschriften in Einklang zu bringen.“
10 Art. 12 („Auskunftsrecht“) der Richtlinie 95/46 sieht vor:
„Die Mitgliedstaaten garantieren jeder betroffenen Person das Recht, vom für die Verarbeitung Verantwortlichen folgendes zu erhalten:
…
b)
je nach Fall die Berichtigung, Löschung oder Sperrung von Daten, deren Verarbeitung nicht den Bestimmungen dieser Richtlinie entspricht, insbesondere wenn diese Daten unvollständig oder unrichtig sind;
…“
11 Art. 14 („Widerspruchsrecht der betroffenen Person“) der Richtlinie 95/46 bestimmt:
„Die Mitgliedstaaten erkennen das Recht der betroffenen Person an,
a)
zumindest in den Fällen von Artikel 7 Buchstaben e) und f) jederzeit aus überwiegenden, schutzwürdigen, sich aus ihrer besonderen Situation ergebenden Gründen dagegen Widerspruch einlegen zu können, dass sie betreffende Daten verarbeitet werden; dies gilt nicht bei einer im einzelstaatlichen Recht vorgesehenen entgegenstehenden Bestimmung. Im Fall eines berechtigten Widerspruchs kann sich die vom für die Verarbeitung Verantwortlichen vorgenommene Verarbeitung nicht mehr auf diese Daten beziehen;
…“
12 In Art. 28 („Kontrollstelle“) der Richtlinie heißt es:
„(1) Die Mitgliedstaaten sehen vor, dass eine oder mehrere öffentliche Stellen beauftragt werden, die Anwendung der von den Mitgliedstaaten zur Umsetzung dieser Richtlinie erlassenen einzelstaatlichen Vorschriften in ihrem Hoheitsgebiet zu überwachen.
…
(3) Jede Kontrollstelle verfügt insbesondere über:
–
Untersuchungsbefugnisse, wie das Recht auf Zugang zu Daten, die Gegenstand von Verarbeitungen sind, und das Recht auf Einholung aller für die Erfüllung ihres Kontrollauftrags erforderlichen Informationen;
–
wirksame Einwirkungsbefugnisse, wie beispielsweise … die Befugnis, die Sperrung, Löschung oder Vernichtung von Daten oder das vorläufige oder endgültige Verbot einer Verarbeitung anzuordnen …
…
Gegen beschwerende Entscheidungen der Kontrollstelle steht der Rechtsweg offen.
(4) Jede Person oder ein sie vertretender Verband kann sich zum Schutz der die Person betreffenden Rechte und Freiheiten bei der Verarbeitung personenbezogener Daten an jede Kontrollstelle mit einer Eingabe wenden. Die betroffene Person ist darüber zu informieren, wie mit der Eingabe verfahren wurde.
…
(6) Jede Kontrollstelle ist im Hoheitsgebiet ihres Mitgliedstaats für die Ausübung der ihr gemäß Absatz 3 übertragenen Befugnisse zuständig, unabhängig vom einzelstaatlichen Recht, das auf die jeweilige Verarbeitung anwendbar ist. Jede Kontrollstelle kann von einer Kontrollstelle eines anderen Mitgliedstaats um die Ausübung ihrer Befugnisse ersucht werden.
Die Kontrollstellen sorgen für die zur Erfüllung ihrer Kontrollaufgaben notwendige gegenseitige Zusammenarbeit, insbesondere durch den Austausch sachdienlicher Informationen.
…“
Verordnung (EU) 2016/679
13 Die Verordnung (EU) 2016/679 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 27. April 2016 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten, zum freien Datenverkehr und zur Aufhebung der Richtlinie 95/46 (Datenschutz-Grundverordnung) (ABl. 2016, L 119, S. 1, und Berichtigungen im ABl. 2016, L 314, S. 72, und ABl. 2018, L 127, S. 2) gilt ausweislich ihres Art. 99 Abs. 2 seit dem 25. Mai 2018. Gemäß Art. 94 Abs. 1 dieser Verordnung wird die Richtlinie 95/46 mit Wirkung von diesem Datum aufgehoben.
14 In den Erwägungsgründen 1, 4, 51, 52 und 65 der Verordnung heißt es:
„(1)
Der Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten ist ein Grundrecht. Gemäß Artikel 8 Absatz 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden ‚Charta‘) sowie Artikel 16 Absatz 1 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) hat jede Person das Recht auf Schutz der sie betreffenden personenbezogenen Daten.
…
(4) Die Verarbeitung personenbezogener Daten sollte im Dienste der Menschheit stehen. Das Recht auf Schutz der personenbezogenen Daten ist kein uneingeschränktes Recht; es muss im Hinblick auf seine gesellschaftliche Funktion gesehen und unter Wahrung des Verhältnismäßigkeitsprinzips gegen andere Grundrechte abgewogen werden. Diese Verordnung steht im Einklang mit allen Grundrechten und achtet alle Freiheiten und Grundsätze, die mit der Charta anerkannt wurden und in den Europäischen Verträgen verankert sind, insbesondere Achtung des Privat- und Familienlebens, … Schutz personenbezogener Daten, Gedanken‑, Gewissens- und Religionsfreiheit, Freiheit der Meinungsäußerung und Informationsfreiheit, unternehmerische Freiheit, …
…
(51) Personenbezogene Daten, die ihrem Wesen nach hinsichtlich der Grundrechte und Grundfreiheiten besonders sensibel sind, verdienen einen besonderen Schutz, da im Zusammenhang mit ihrer Verarbeitung erhebliche Risiken für die Grundrechte und Grundfreiheiten auftreten können. …
(52) Ausnahmen vom Verbot der Verarbeitung besonderer Kategorien von personenbezogenen Daten sollten auch erlaubt sein, wenn sie im Unionsrecht oder dem Recht der Mitgliedstaaten vorgesehen sind, und – vorbehaltlich angemessener Garantien zum Schutz der personenbezogenen Daten und anderer Grundrechte – …
…
(65) Eine betroffene Person sollte … ein ‚Recht auf Vergessenwerden‘ [besitzen], wenn die Speicherung ihrer Daten gegen diese Verordnung oder gegen das Unionsrecht oder das Recht der Mitgliedstaaten, dem der Verantwortliche unterliegt, verstößt. … Die weitere Speicherung der personenbezogenen Daten sollte jedoch rechtmäßig sein, wenn dies für die Ausübung des Rechts auf freie Meinungsäußerung und Information … erforderlich ist.“
15 In Art. 4 Nr. 11 der Verordnung 2016/679 wird der Begriff „Einwilligung“ definiert als „jede freiwillig für den bestimmten Fall, in informierter Weise und unmissverständlich abgegebene Willensbekundung in Form einer Erklärung oder einer sonstigen eindeutigen bestätigenden Handlung, mit der die betroffene Person zu verstehen gibt, dass sie mit der Verarbeitung der sie betreffenden personenbezogenen Daten einverstanden ist“.
16 Art. 5 („Grundsätze für die Verarbeitung personenbezogener Daten“) dieser Verordnung bestimmt in Abs. 1 Buchst. c bis e:
„Personenbezogene Daten müssen
…
c)
dem Zweck angemessen und erheblich sowie auf das für die Zwecke der Verarbeitung notwendige Maß beschränkt sein (‚Datenminimierung‘);
d)
sachlich richtig und erforderlichenfalls auf dem neuesten Stand sein; es sind alle angemessenen Maßnahmen zu treffen, damit personenbezogene Daten, die im Hinblick auf die Zwecke ihrer Verarbeitung unrichtig sind, unverzüglich gelöscht oder berichtigt werden (‚Richtigkeit‘);
e)
in einer Form gespeichert werden, die die Identifizierung der betroffenen Personen nur so lange ermöglicht, wie es für die Zwecke, für die sie verarbeitet werden, erforderlich ist … (‚Speicherbegrenzung‘).“
17 Art. 9 („Verarbeitung besonderer Kategorien personenbezogener Daten“) der Verordnung bestimmt:
„(1) Die Verarbeitung personenbezogener Daten, aus denen die rassische und ethnische Herkunft, politische Meinungen, religiöse oder weltanschauliche Überzeugungen oder die Gewerkschaftszugehörigkeit hervorgehen, sowie die Verarbeitung von genetischen Daten, biometrischen Daten zur eindeutigen Identifizierung einer natürlichen Person, Gesundheitsdaten oder Daten zum Sexualleben oder der sexuellen Orientierung einer natürlichen Person ist untersagt.
(2) Absatz 1 gilt nicht in folgenden Fällen:
a)
Die betroffene Person hat in die Verarbeitung der genannten personenbezogenen Daten für einen oder mehrere festgelegte Zwecke ausdrücklich eingewilligt, es sei denn, nach Unionsrecht oder dem Recht der Mitgliedstaaten kann das Verbot nach Absatz 1 durch die Einwilligung der betroffenen Person nicht aufgehoben werden,
…
e)
die Verarbeitung bezieht sich auf personenbezogene Daten, die die betroffene Person offensichtlich öffentlich gemacht hat,
…
g)
die Verarbeitung ist auf der Grundlage des Unionsrechts oder des Rechts eines Mitgliedstaats, das in angemessenem Verhältnis zu dem verfolgten Ziel steht, den Wesensgehalt des Rechts auf Datenschutz wahrt und angemessene und spezifische Maßnahmen zur Wahrung der Grundrechte und Interessen der betroffenen Person vorsieht, aus Gründen eines erheblichen öffentlichen Interesses erforderlich,
…“
18 Art. 10 („Verarbeitung von personenbezogenen Daten über strafrechtliche Verurteilungen und Straftaten“) der Verordnung lautet:
„Die Verarbeitung personenbezogener Daten über strafrechtliche Verurteilungen und Straftaten oder damit zusammenhängende Sicherungsmaßregeln aufgrund von Artikel 6 Absatz 1 darf nur unter behördlicher Aufsicht vorgenommen werden oder wenn dies nach dem Unionsrecht oder dem Recht der Mitgliedstaaten, das geeignete Garantien für die Rechte und Freiheiten der betroffenen Personen vorsieht, zulässig ist. Ein umfassendes Register der strafrechtlichen Verurteilungen darf nur unter behördlicher Aufsicht geführt werden.“
19 Art. 17 („Recht auf Löschung [‚Recht auf Vergessenwerden‘]“) der Verordnung 2016/679 sieht vor:
„(1) Die betroffene Person hat das Recht, von dem Verantwortlichen zu verlangen, dass sie betreffende personenbezogene Daten unverzüglich gelöscht werden, und der Verantwortliche ist verpflichtet, personenbezogene Daten unverzüglich zu löschen, sofern einer der folgenden Gründe zutrifft:
a)
Die personenbezogenen Daten sind für die Zwecke, für die sie erhoben oder auf sonstige Weise verarbeitet wurden, nicht mehr notwendig.
b)
Die betroffene Person widerruft ihre Einwilligung, auf die sich die Verarbeitung gemäß Artikel 6 Absatz 1 Buchstabe a oder Artikel 9 Absatz 2 Buchstabe a stützte, und es fehlt an einer anderweitigen Rechtsgrundlage für die Verarbeitung.
c)
Die betroffene Person legt gemäß Artikel 21 Absatz 1 Widerspruch gegen die Verarbeitung ein und es liegen keine vorrangigen berechtigten Gründe für die Verarbeitung vor, oder die betroffene Person legt gemäß Artikel 21 Absatz 2 Widerspruch gegen die Verarbeitung ein.
d)
Die personenbezogenen Daten wurden unrechtmäßig verarbeitet.
e)
Die Löschung der personenbezogenen Daten ist zur Erfüllung einer rechtlichen Verpflichtung nach dem Unionsrecht oder dem Recht der Mitgliedstaaten erforderlich, dem der Verantwortliche unterliegt.
f)
Die personenbezogenen Daten wurden in Bezug auf angebotene Dienste der Informationsgesellschaft gemäß Artikel 8 Absatz 1 erhoben.
(2) Hat der Verantwortliche die personenbezogenen Daten öffentlich gemacht und ist er gemäß Absatz 1 zu deren Löschung verpflichtet, so trifft er unter Berücksichtigung der verfügbaren Technologie und der Implementierungskosten angemessene Maßnahmen, auch technischer Art, um für die Datenverarbeitung Verantwortliche, die die personenbezogenen Daten verarbeiten, darüber zu informieren, dass eine betroffene Person von ihnen die Löschung aller Links zu diesen personenbezogenen Daten oder von Kopien oder Replikationen dieser personenbezogenen Daten verlangt hat.
(3) Die Absätze 1 und 2 gelten nicht, soweit die Verarbeitung erforderlich ist:
a)
zur Ausübung des Rechts auf freie Meinungsäußerung und Information;
…“
20 Art. 21 („Widerspruchsrecht“) dieser Verordnung sieht in Abs. 1 vor:
„Die betroffene Person hat das Recht, aus Gründen, die sich aus ihrer besonderen Situation ergeben, jederzeit gegen die Verarbeitung sie betreffender personenbezogener Daten, die aufgrund von Artikel 6 Absatz 1 Buchstaben e oder f erfolgt, Widerspruch einzulegen; dies gilt auch für ein auf diese Bestimmungen gestütztes Profiling. Der Verantwortliche verarbeitet die personenbezogenen Daten nicht mehr, es sei denn, er kann zwingende schutzwürdige Gründe für die Verarbeitung nachweisen, die die Interessen, Rechte und Freiheiten der betroffenen Person überwiegen, oder die Verarbeitung dient der Geltendmachung, Ausübung oder Verteidigung von Rechtsansprüchen.“
21 Art. 85 („Verarbeitung und Freiheit der Meinungsäußerung und Informationsfreiheit“) der Verordnung bestimmt:
„(1) Die Mitgliedstaaten bringen durch Rechtsvorschriften das Recht auf den Schutz personenbezogener Daten gemäß dieser Verordnung mit dem Recht auf freie Meinungsäußerung und Informationsfreiheit, einschließlich der Verarbeitung zu journalistischen Zwecken und zu wissenschaftlichen, künstlerischen oder literarischen Zwecken, in Einklang.
(2) Für die Verarbeitung, die zu journalistischen Zwecken oder zu wissenschaftlichen, künstlerischen oder literarischen Zwecken erfolgt, sehen die Mitgliedstaaten Abweichungen oder Ausnahmen von Kapitel II (Grundsätze), Kapitel III (Rechte der betroffenen Person), Kapitel IV (Verantwortlicher und Auftragsverarbeiter), Kapitel V (Übermittlung personenbezogener Daten an Drittländer oder an internationale Organisationen), Kapitel VI (Unabhängige Aufsichtsbehörden), Kapitel VII (Zusammenarbeit und Kohärenz) und Kapitel IX (Vorschriften für besondere Verarbeitungssituationen) vor, wenn dies erforderlich ist, um das Recht auf Schutz der personenbezogenen Daten mit der Freiheit der Meinungsäußerung und der Informationsfreiheit in Einklang zu bringen.
…“
Französisches Recht
22 Die Richtlinie 95/46 ist mit der Loi no 78‑17 du 6 janvier 1978 relative à l’informatique, aux fichiers et aux libertés (Gesetz Nr. 78‑17 vom 6. Januar 1978 über Informatik, Dateien und Freiheiten) in der auf den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens anwendbaren Fassung in französisches Recht umgesetzt worden.
23 Nach Art. 11 dieses Gesetzes gehört zu den Aufgaben der CNIL, darüber zu wachen, dass die Verarbeitung personenbezogener Daten im Einklang mit den Bestimmungen dieses Gesetzes erfolgt. In dieser Eigenschaft nimmt sie die Widersprüche, Petitionen und Beschwerden gegen die Verarbeitung personenbezogener Daten entgegen und informiert ihre Urheber darüber, wie damit weiter verfahren wurde.
Ausgangsverfahren und Vorlagefragen
24 GC, AF, BH und ED beantragten jeweils bei Google, verschiedene Links zu Websites Dritter aus der Liste der Suchergebnisse auszulisten, die im Anschluss an eine Suche anhand ihrer Namen mit der von Google betriebenen Suchmaschine angezeigt werden, was Google jedoch ablehnte.
25 Im Einzelnen beantragte GC die Auslistung eines Links, der auf eine satirische Fotomontage verweist, die am 18. Februar 2011 auf Youtube unter einem Pseudonym online gestellt worden war. Darin wird sie neben dem Gemeindebürgermeister, dessen Kabinettsdirektorin sie war, dargestellt, und es werden explizit ihre angebliche intime Beziehung zu ihm sowie die Auswirkungen dieser Beziehung auf ihren eigenen politischen Werdegang geschildert. Die Fotomontage wurde anlässlich des Wahlkampfs für die Kantonalwahlen online gestellt, bei denen die Klägerin kandidierte. Zum Zeitpunkt der Ablehnung ihres Auslistungsantrags war die Betroffene weder in ein Amt gewählt worden noch Kandidatin für ein lokales Wahlmandat. Auch übte sie die Aufgaben der Kabinettsdirektorin des Gemeindebürgermeisters nicht mehr aus.
26 AF beantragte die Auslistung von Links, die auf einen Artikel in der Tageszeitung Libération vom 9. September 2008 verweisen, der auf der Website des Centre contre les manipulations mentales (CCMM) (Frankreich) wiedergegeben ist und in dem es um den Selbstmord eines Anhängers der Scientology-Kirche im Dezember 2006 geht. AF wird in dem Artikel als Verantwortlicher für die Öffentlichkeitsarbeit der Scientology-Kirche genannt, eine Tätigkeit, der er mittlerweile nicht mehr nachgeht. Darüber hinaus erwähnt der Verfasser des streitigen Artikels, dass er AF kontaktiert habe, um seine Darstellung der Vorgänge zu erfahren, und gibt seine Ausführungen wieder.
27 BH beantragte die Auslistung von Links, die auf Artikel, hauptsächlich in der Presse, über die im Juni 1995 eingeleitete gerichtliche Voruntersuchung zur Finanzierung der Parti républicain (PR) (französische Republikanische Partei) verweisen, bei der gegen ihn sowie gegen mehrere Geschäftsleute und Personen des politischen Lebens Anklage erhoben wurde. Das ihn betreffende Verfahren endete mit einem Einstellungsbeschluss vom 26. Februar 2010. Die meisten der streitigen Links führen zu Artikeln aus der Zeit, in der die Ermittlungen eingeleitet wurden, und schildern folglich nicht den Ausgang des Verfahrens.
28 ED beantragte die Auslistung von Links, die auf zwei in Nice-Matin und Le Figaro erschienene Artikel mit Berichten über die Strafverhandlung verweisen, in der er wegen sexueller Übergriffe auf 15‑jährige Jugendliche zu einer Freiheitsstrafe von sieben Jahren und einer Nebenstrafe von zehn Jahren Führungsaufsicht verurteilt wurde. In einer dieser Gerichtsreportagen werden u. a. mehrere ED betreffende intime Details erwähnt, die in der Verhandlung zur Sprache kamen.
29 Nachdem Google die Auslistungsanträge der Kläger des Ausgangsverfahrens abgelehnt hatte, legten sie bei der CNIL mit dem Ziel Beschwerden ein, dass Google aufgegeben werde, die betreffenden Links auszulisten. Mit Schreiben vom 24. April 2015, 28. August 2015, 21. März 2016 bzw. 9. Mai 2016 wurde ihnen von der Vorsitzenden der CNIL mitgeteilt, dass ihre Beschwerden zu den Akten gelegt worden seien.
30 Die Kläger des Ausgangsverfahrens erhoben daraufhin beim vorlegenden Gericht, dem Conseil d’État (Staatsrat, Frankreich), Klagen gegen die Weigerung der CNIL, Google zur begehrten Auslistung der Links aufzufordern. Die Klagen wurden vom vorlegenden Gericht verbunden.
31 Nachdem der Conseil d’État (Staatsrat) festgestellt hat, dass die Klagen mehrere ernste Schwierigkeiten bei der Auslegung der Richtlinie 95/46 aufwerfen, hat er beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
1. Ist in Anbetracht des speziellen Verantwortungsbereichs, der speziellen Befugnisse und der speziellen Möglichkeiten des Betreibers einer Suchmaschine das den anderen für die Verarbeitung Verantwortlichen auferlegte Verbot, unter Art. 8 Abs. 1 und 5 der Richtlinie 95/46 fallende Daten – vorbehaltlich der darin vorgesehenen Ausnahmen – zu verarbeiten, auch auf einen solchen Betreiber als Verantwortlichen für die Verarbeitung, die diese Suchmaschine darstellt, anwendbar?
2. Im Fall der Bejahung der ersten Frage:
a)
Sind die Bestimmungen von Art. 8 Abs. 1 und 5 der Richtlinie 95/46 dahin auszulegen, dass das somit für den Betreiber einer Suchmaschine, vorbehaltlich der in der Richtlinie vorgesehenen Ausnahmen, geltende Verbot, unter die genannten Bestimmungen fallende Daten zu verarbeiten, ihn verpflichtet, Anträgen auf Auslistung von Links zu Websites, die solche Daten verarbeiten, systematisch stattzugeben?
b)
Wie sind im Hinblick hierauf in Anbetracht des speziellen Verantwortungsbereichs, der speziellen Befugnisse und der speziellen Möglichkeiten des Betreibers einer Suchmaschine die in Art. 8 Abs. 2 Buchst. a und e der Richtlinie 95/46 vorgesehenen Ausnahmen auszulegen, wenn sie auf einen solchen Betreiber angewendet werden? Kann ein solcher Betreiber insbesondere einen Auslistungsantrag ablehnen, wenn er feststellt, dass die betreffenden Links zu Inhalten führen, die zwar Daten der in Art. 8 Abs. 1 aufgeführten Kategorien enthalten, aber auch unter die in Art. 8 Abs. 2, insbesondere dessen Buchst. a und e, vorgesehenen Ausnahmen fallen?
c)
Sind die Bestimmungen der Richtlinie 95/46 ferner dahin auszulegen, dass der Betreiber einer Suchmaschine, wenn die Links, deren Auslistung verlangt wird, zu einer allein zu journalistischen, künstlerischen oder literarischen Zwecken erfolgten Verarbeitung personenbezogener Daten führen, bei der nach Art. 9 der Richtlinie 95/46 Daten der in Art. 8 Abs. 1 und 5 der Richtlinie genannten Kategorien erhoben und verarbeitet werden dürfen, einen Auslistungsantrag aus diesem Grund ablehnen kann?
3. Im Fall der Verneinung der ersten Frage:
a)
Welche speziellen Anforderungen der Richtlinie 95/46 muss der Betreiber einer Suchmaschine in Anbetracht seines Verantwortungsbereichs, seiner Befugnisse und seiner Möglichkeiten erfüllen?
b)
Wenn der Betreiber einer Suchmaschine feststellt, dass die Websites, zu denen die Links, deren Auslistung verlangt wird, führen, Daten enthalten, deren Veröffentlichung auf diesen Seiten rechtswidrig ist, sind die Bestimmungen der Richtlinie 95/46 dann dahin auszulegen,
–
dass sie den Betreiber der Suchmaschine verpflichten, diese Links aus der Liste der im Anschluss an eine anhand des Namens des Antragstellers durchgeführte Suche angezeigten Ergebnisse zu entfernen, oder
–
dass sie lediglich implizieren, dass er diesen Umstand bei der Beurteilung der Begründetheit des Antrags auf Auslistung der Links zu berücksichtigen hat, oder
–
dass sich dieser Umstand nicht auf die von ihm vorzunehmende Beurteilung auswirkt?
Wie ist darüber hinaus – sollte der genannte Umstand nicht unerheblich sein – die Rechtmäßigkeit der Veröffentlichung der streitigen Daten auf Websites, die von Verarbeitungen außerhalb des räumlichen Anwendungsbereichs der Richtlinie 95/46 und folglich der nationalen Rechtsvorschriften zu ihrer Umsetzung stammen, zu beurteilen?
4. Ungeachtet der Antwort auf die erste Frage:
a)
Sind die Bestimmungen der Richtlinie 95/46, unabhängig von der Rechtmäßigkeit der Veröffentlichung personenbezogener Daten auf der Website, zu der der streitige Link führt, dahin auszulegen, dass
–
der Betreiber einer Suchmaschine, wenn der Antragsteller dartut, dass diese Daten unvollständig oder unrichtig geworden oder nicht mehr aktuell sind, dem entsprechenden Auslistungsantrag stattgeben muss?
–
insbesondere der Betreiber einer Suchmaschine, wenn der Antragsteller nachweist, dass in Anbetracht des Verlaufs eines Gerichtsverfahrens die Informationen zu einem früheren Abschnitt dieses Verfahrens nicht mehr seiner aktuellen Situation entsprechen, verpflichtet ist, die Links zu Websites, die solche Informationen enthalten, auszulisten?
b)
Sind die Bestimmungen von Art. 8 Abs. 5 der Richtlinie 95/46 dahin auszulegen, dass die Informationen über die Anklageerhebung gegen eine Person oder die Berichterstattung über einen Prozess und die sich daraus ergebende Verurteilung Daten zu Straftaten und strafrechtlichen Verurteilungen darstellen? Fällt allgemein eine Website, die Daten zu Verurteilungen oder Gerichtsverfahren in Bezug auf eine natürliche Person enthält, unter diese Bestimmungen?
Zu den Vorlagefragen
32 Die vorgelegten Fragen betreffen die Auslegung der Richtlinie 95/46, die zum Zeitpunkt der Einreichung des Vorabentscheidungsersuchens anwendbar war. Die Richtlinie wurde mit Wirkung vom 25. Mai 2018 aufgehoben. Seitdem gilt die Verordnung 2016/679.
33 Der Gerichtshof wird die Vorlagefragen im Hinblick auf die Richtlinie 95/46 prüfen, dabei jedoch auch die Verordnung 2016/679 berücksichtigen, um sicherzustellen, dass seine Antworten dem vorlegenden Gericht auf jeden Fall von Nutzen sein werden.
Zur ersten Frage
34 Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die Bestimmungen von Art. 8 Abs. 1 und 5 der Richtlinie 95/46 dahin auszulegen sind, dass das darin enthaltene Verbot oder die darin enthaltenen Beschränkungen der Verarbeitung besonderer Kategorien personenbezogener Daten – vorbehaltlich der in dieser Richtlinie vorgesehenen Ausnahmen – auch auf den Betreiber einer Suchmaschine als den für die Datenverarbeitung zum Zweck des Betriebs der Suchmaschine Verantwortlichen in seinem Verantwortungsbereich im Rahmen seiner Befugnisse und Möglichkeiten anwendbar sind.
35 Insoweit ist zum einen darauf hinzuweisen, dass die Tätigkeit einer Suchmaschine, die darin besteht, von Dritten ins Internet gestellte oder dort veröffentlichte Informationen zu finden, automatisch zu indexieren, vorübergehend zu speichern und schließlich den Internetnutzern in einer bestimmten Rangfolge zur Verfügung zu stellen, sofern die Informationen personenbezogene Daten enthalten, als „Verarbeitung personenbezogener Daten“ im Sinne von Art. 2 Buchst. b der Richtlinie 95/46 einzustufen ist und dass der Betreiber dieser Suchmaschine als für diese Verarbeitung „Verantwortlicher“ im Sinne von Art. 2 Buchst. d der Richtlinie 95/46 anzusehen ist (Urteil vom 13. Mai 2014, Google Spain und Google, C‑131/12, EU:C:2014:317‚ Rn. 41).
36 Die Verarbeitung personenbezogener Daten im Rahmen der Tätigkeit einer Suchmaschine unterscheidet sich von der, die von den Herausgebern von Websites, die diese Daten auf einer Website einstellen, vorgenommen wird, und erfolgt zusätzlich zu dieser. Die Tätigkeit von Suchmaschinen hat maßgeblichen Anteil an der weltweiten Verbreitung personenbezogener Daten, da sie diese jedem Internetnutzer zugänglich macht, der eine Suche anhand des Namens der betreffenden Person durchführt, und zwar auch denjenigen, die die Website, auf der diese Daten veröffentlicht sind, sonst nicht gefunden hätten. Zudem können die Organisation und Aggregation der im Internet veröffentlichten Informationen, die von den Suchmaschinen mit dem Ziel durchgeführt werden, ihren Nutzern den Zugang zu diesen Informationen zu erleichtern, bei einer anhand des Namens einer natürlichen Person durchgeführten Suche dazu führen, dass die Nutzer der Suchmaschinen mit der Ergebnisliste einen strukturierten Überblick über die zu der betreffenden Person im Internet zu findenden Informationen erhalten, anhand dessen sie ein mehr oder weniger detailliertes Profil der Person erstellen können (Urteil vom 13. Mai 2014, Google Spain und Google, C‑131/12, EU:C:2014:317‚ Rn. 35 bis 37).
37 Durch die Tätigkeit einer Suchmaschine können die Grundrechte auf Achtung des Privatlebens und auf Schutz personenbezogener Daten somit erheblich beeinträchtigt werden, und zwar zusätzlich zur Tätigkeit der Herausgeber von Websites; als derjenige, der über die Zwecke und Mittel dieser Tätigkeit entscheidet, hat der Suchmaschinenbetreiber daher in seinem Verantwortungsbereich im Rahmen seiner Befugnisse und Möglichkeiten dafür zu sorgen, dass die Tätigkeit der Suchmaschine den Anforderungen der Richtlinie 95/46 entspricht, damit die darin vorgesehenen Garantien ihre volle Wirksamkeit entfalten können und ein wirksamer und umfassender Schutz der betroffenen Personen, insbesondere ihres Rechts auf Achtung ihres Privatlebens, tatsächlich verwirklicht werden kann (Urteil vom 13. Mai 2014, Google Spain und Google, C‑131/12, EU:C:2014:317‚ Rn. 38).
38 Mit der ersten Vorlagefrage soll geklärt werden, ob der Suchmaschinenbetreiber in seinem Verantwortungsbereich im Rahmen seiner Befugnisse und Möglichkeiten auch den Anforderungen der Richtlinie 95/46 an die besonderen Kategorien personenbezogener Daten genügen muss, die in Art. 8 Abs. 1 und 5 genannt werden, wenn solche Daten zu von Dritten ins Internet gestellten oder dort veröffentlichten Informationen gehören und von diesem Betreiber zum Zweck des Betriebs seiner Suchmaschine verarbeitet werden.
39 Für diese besonderen Kategorien personenbezogener Daten bestimmt Art. 8 Abs. 1 der Richtlinie 95/46, dass die Mitgliedstaaten die Verarbeitung personenbezogener Daten, aus denen die rassische und ethnische Herkunft, politische Meinungen, religiöse oder philosophische Überzeugungen oder die Gewerkschaftszugehörigkeit hervorgehen, sowie von Daten über Gesundheit oder Sexualleben untersagen. Einige Abweichungen und Ausnahmen von diesem Verbot sind u. a. in Art. 8 Abs. 2 dieser Richtlinie vorgesehen.
40 Nach Art. 8 Abs. 5 der Richtlinie 95/46 darf die Verarbeitung von Daten, die Straftaten, strafrechtliche Verurteilungen oder Sicherungsmaßregeln betreffen, nur unter behördlicher Aufsicht oder aufgrund von einzelstaatlichem Recht, das angemessene Garantien vorsieht, erfolgen, wobei ein Mitgliedstaat jedoch Ausnahmen aufgrund innerstaatlicher Rechtsvorschriften, die geeignete besondere Garantien vorsehen, festlegen kann. Ein vollständiges Register der strafrechtlichen Verurteilungen darf allerdings nur unter behördlicher Aufsicht geführt werden. Die Mitgliedstaaten können vorsehen, dass Daten, die administrative Strafen oder zivilrechtliche Urteile betreffen, ebenfalls unter behördlicher Aufsicht verarbeitet werden müssen.
41 Art. 8 Abs. 1 und 5 der Richtlinie 95/46 wurde inhaltlich mit einigen Änderungen in Art. 9 Abs. 1 und Art. 10 der Verordnung 2016/679 übernommen.
42 Zunächst ist festzustellen, dass nach dem Wortlaut der genannten Bestimmungen der Richtlinie 95/46 und der Verordnung 2016/679 das Verbot und die Beschränkungen, die in ihnen festgelegt sind, vorbehaltlich der in der Richtlinie und der Verordnung vorgesehenen Ausnahmen für jede Art der Verarbeitung der in diesen Bestimmungen genannten besonderen Datenkategorien und für sämtliche Verantwortliche gelten, die solche Verarbeitungen vornehmen.
43 Sodann sieht keine andere Bestimmung der Richtlinie oder Verordnung eine allgemeine Ausnahme von diesem Verbot oder diesen Beschränkungen für eine Datenverarbeitung wie die im Rahmen der Suchmaschinentätigkeit erfolgende vor. Wie bereits aus Rn. 37 des vorliegenden Urteils hervorgeht, ergibt sich im Gegenteil aus der allgemeinen Systematik dieser Vorschriften, dass der Suchmaschinenbetreiber ebenso wie jeder andere für die Verarbeitung Verantwortliche in seinem Verantwortungsbereich im Rahmen seiner Befugnisse und Möglichkeiten dafür sorgen muss, dass die von ihm vorgenommene Verarbeitung personenbezogener Daten den Anforderungen der Richtlinie 95/46 oder der Verordnung 2016/679 genügt.
44 Schließlich liefe eine Auslegung von Art. 8 Abs. 1 und 5 der Richtlinie 95/46 oder Art. 9 Abs. 1 und Art. 10 der Verordnung 2016/679, die von vornherein und allgemein die Suchmaschinentätigkeit von den in diesen Bestimmungen vorgesehenen spezifischen Anforderungen an die Verarbeitung der darin genannten besonderen Kategorien personenbezogener Daten befreien würde, dem Zweck dieser Bestimmungen zuwider, einen erhöhten Schutz gegen eine solche Datenverarbeitung zu gewährleisten, die aufgrund der besonderen Sensibilität dieser Daten einen besonders schweren Eingriff in die durch die Art. 7 und 8 der Charta garantierten Grundrechte auf Achtung des Privatlebens und auf Schutz personenbezogener Daten darstellen kann, wie sich auch aus dem 33. Erwägungsgrund der Richtlinie und dem 51. Erwägungsgrund der Verordnung ergibt.
45 Zwar können somit entgegen dem Vorbringen u. a. von Google die Besonderheiten der vom Suchmaschinenbetreiber im Rahmen seiner Tätigkeit vorgenommenen Datenverarbeitung nicht rechtfertigen, dass dieser davon freigestellt wird, Art. 8 Abs. 1 und 5 der Richtlinie 95/46 sowie Art. 9 Abs. 1 und Art. 10 der Verordnung 2016/679 einhalten zu müssen. Sie können sich jedoch auf den Umfang der Verantwortlichkeit und der konkreten Verpflichtungen des Suchmaschinenbetreibers im Hinblick auf diese Bestimmungen auswirken.
46 Wie die Europäische Kommission hervorhebt, ist der Suchmaschinenbetreiber insoweit nicht dafür verantwortlich, dass die in diesen Bestimmungen genannten personenbezogenen Daten auf der Website eines Dritten vorhanden sind, wohl aber für die Listung dieser Website und insbesondere für die Anzeige des auf sie führenden Links in der Ergebnisliste, die den Internetnutzern im Anschluss an eine Suche anhand des Namens einer natürlichen Person angezeigt wird. Die Anzeige des betreffenden Links in einer solchen Ergebnisliste kann nämlich die Grundrechte der betroffenen Person auf Achtung ihres Privatlebens und auf Schutz der sie betreffenden personenbezogenen Daten erheblich beeinträchtigen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 13. Mai 2014, Google Spain und Google, C‑131/12, EU:C:2014:317, Rn. 80).
47 Daher können, wie der Generalanwalt in Nr. 56 seiner Schlussanträge ausgeführt hat und alle Beteiligten, die zu dieser Frage Stellung genommen haben, im Wesentlichen vorgetragen haben, in Anbetracht des Verantwortungsbereichs, der Befugnisse und der Möglichkeiten des Suchmaschinenbetreibers als des für die Datenverarbeitung im Rahmen der Suchmaschinentätigkeit Verantwortlichen die in Art. 8 Abs. 1 und 5 der Richtlinie 95/46 sowie in Art. 9 Abs. 1 und Art. 10 der Verordnung 2016/679 vorgesehenen Verbote und Beschränkungen auf den Suchmaschinenbetreiber nur aufgrund der Listung der Website und somit über eine Prüfung anwendbar sein, die auf der Grundlage eines Antrags der betroffenen Person unter der Aufsicht der zuständigen nationalen Behörden vorzunehmen ist.
48 Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass die Bestimmungen von Art. 8 Abs. 1 und 5 der Richtlinie 95/46 dahin auszulegen sind, dass das darin enthaltene Verbot oder die darin enthaltenen Beschränkungen der Verarbeitung besonderer Kategorien personenbezogener Daten – vorbehaltlich der in dieser Richtlinie vorgesehenen Ausnahmen – auch auf den Betreiber einer Suchmaschine als den für die Datenverarbeitung bei der Tätigkeit dieser Suchmaschine Verantwortlichen in seinem Verantwortungsbereich im Rahmen seiner Befugnisse und Möglichkeiten bei Gelegenheit einer Prüfung anwendbar sind, die der Suchmaschinenbetreiber auf Antrag der betroffenen Person unter Aufsicht der zuständigen nationalen Behörden vornimmt.
Zur zweiten Frage
49 Mit seiner zweiten Frage, die drei Teile umfasst, möchte das vorlegende Gericht wissen,
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ob die Bestimmungen von Art. 8 Abs. 1 und 5 der Richtlinie 95/46 dahin auszulegen sind, dass der Suchmaschinenbetreiber auf ihrer Grundlage – vorbehaltlich der in dieser Richtlinie vorgesehenen Ausnahmen – verpflichtet ist, Anträgen auf Auslistung von Links zu Websites stattzugeben, auf denen sich personenbezogene Daten befinden, die zu den in diesen Bestimmungen genannten besonderen Kategorien personenbezogener Daten gehören,
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ob Art. 8 Abs. 2 Buchst. a und e der Richtlinie 95/46 dahin auszulegen ist, dass ein Suchmaschinenbetreiber in Anwendung dieser Bestimmung einen Antrag auf Auslistung von Links ablehnen kann, wenn er feststellt, dass die Links zu Inhalten führen, die personenbezogene Daten der in Art. 8 Abs. 1 genannten besonderen Kategorien enthalten, deren Verarbeitung aber unter eine der in Art. 8 Abs. 2 Buchst. a und e vorgesehenen Ausnahmen fällt und
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ob die Bestimmungen der Richtlinie 95/46 dahin auszulegen sind, dass der Suchmaschinenbetreiber einen Antrag auf Auslistung von Links auch aus dem Grund ablehnen kann, dass die Links, deren Auslistung beantragt wird, zu Websites führen, auf denen die personenbezogenen Daten der in Art. 8 Abs. 1 oder 5 der Richtlinie genannten besonderen Kategorien allein zu journalistischen, künstlerischen oder literarischen Zwecken veröffentlicht werden, und dass die Veröffentlichung daher unter die in Art. 9 der Richtlinie vorgesehene Ausnahme fällt.
50 Vorab ist festzustellen, dass im Rahmen der Richtlinie 95/46 Anträge auf Auslistung von Links wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden ihre Grundlage insbesondere in Art. 12 Buchst. b der Richtlinie finden, wonach die Mitgliedstaaten den betroffenen Personen das Recht garantieren, von dem für die Verarbeitung Verantwortlichen die Löschung von Daten zu erhalten, deren Verarbeitung nicht den Bestimmungen dieser Richtlinie entspricht.
51 Zudem erkennen die Mitgliedstaaten nach Art. 14 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 95/46 das Recht der betroffenen Person an, zumindest in den Fällen von Art. 7 Buchst. e und f der Richtlinie jederzeit aus überwiegenden, schutzwürdigen, sich aus ihrer besonderen Situation ergebenden Gründen dagegen Widerspruch einlegen zu können, dass sie betreffende Daten verarbeitet werden; dies gilt nicht bei einer im nationalen Recht vorgesehenen entgegenstehenden Bestimmung.
52 Der Gerichtshof hat insoweit entschieden, dass Art. 12 Buchst. b und Art. 14 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 95/46 dahin auszulegen sind, dass der Suchmaschinenbetreiber zur Wahrung der in diesen Bestimmungen vorgesehenen Rechte, sofern deren Voraussetzungen erfüllt sind, dazu verpflichtet ist, von der Ergebnisliste, die im Anschluss an eine anhand des Namens einer Person durchgeführte Suche angezeigt wird, Links zu von Dritten veröffentlichten Websites mit Informationen zu dieser Person zu entfernen, auch wenn der Name oder die Informationen auf diesen Websites nicht vorher oder gleichzeitig gelöscht werden und gegebenenfalls auch dann, wenn ihre Veröffentlichung auf den Websites als solche rechtmäßig ist (Urteil vom 13. Mai 2014, Google Spain und Google, C‑131/12, EU:C:2014:317, Rn. 88).
53 Der Gerichtshof hat ferner klargestellt, dass im Rahmen der Beurteilung der Anwendungsvoraussetzungen der genannten Bestimmungen u. a. zu prüfen ist, ob die betroffene Person ein Recht darauf hat, dass die Information über sie zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht mehr durch eine Ergebnisliste, die im Anschluss an eine anhand ihres Namens durchgeführte Suche angezeigt wird, mit ihrem Namen in Verbindung gebracht wird, wobei die Feststellung eines solchen Rechts nicht voraussetzt, dass der betroffenen Person durch die Einbeziehung der betreffenden Information in die Ergebnisliste ein Schaden entsteht. Da die betroffene Person in Anbetracht ihrer Grundrechte aus den Art. 7 und 8 der Charta verlangen kann, dass die betreffende Information der breiten Öffentlichkeit nicht mehr durch Einbeziehung in eine derartige Ergebnisliste zur Verfügung gestellt wird, überwiegen diese Rechte grundsätzlich nicht nur gegenüber dem wirtschaftlichen Interesse des Suchmaschinenbetreibers, sondern auch gegenüber dem Interesse der breiten Öffentlichkeit am Zugang zu der Information bei einer anhand des Namens der betroffenen Person durchgeführten Suche. Dies wäre jedoch nicht der Fall, wenn sich aus besonderen Gründen – wie der Rolle der betreffenden Person im öffentlichen Leben – ergeben sollte, dass der Eingriff in die Grundrechte dieser Person durch das überwiegende Interesse der breiten Öffentlichkeit daran, über die Einbeziehung in eine derartige Ergebnisliste Zugang zu der betreffenden Information zu haben, gerechtfertigt ist (Urteil vom 13. Mai 2014, Google Spain und Google, C‑131/12, EU:C:2014:317, Rn. 99).
54 In der Verordnung 2016/679 hat der Gesetzgeber der Europäischen Union mit Art. 17 eine Bestimmung vorgesehen, die speziell das „Recht auf Löschung“ regelt, das in der Überschrift dieses Artikels auch als „Recht auf Vergessenwerden“ bezeichnet wird.
55 Nach Art. 17 Abs. 1 dieser Verordnung hat die betroffene Person das Recht, von dem für die Datenverarbeitung Verantwortlichen zu verlangen, dass sie betreffende personenbezogene Daten unverzüglich gelöscht werden, und der für die Datenverarbeitung Verantwortliche ist verpflichtet, personenbezogene Daten unverzüglich zu löschen, sofern einer der in dieser Bestimmung genannten Gründe zutrifft. Als Gründe werden in dieser Bestimmung genannt, dass die personenbezogenen Daten für die Zwecke der Datenverarbeitung nicht mehr notwendig sind, dass die betroffene Person ihre Einwilligung, auf die sich die Verarbeitung stützte, widerruft und dass es an einer anderweitigen Rechtsgrundlage für die Verarbeitung fehlt, dass die betroffene Person gemäß Art. 21 Abs. 1 oder 2 der Verordnung 2016/679, der an die Stelle von Art. 14 der Richtlinie 95/46 getreten ist, Widerspruch gegen die Verarbeitung einlegt, dass die Daten unrechtmäßig verarbeitet wurden, dass ihre Löschung zur Erfüllung einer rechtlichen Verpflichtung erforderlich ist oder dass sie in Bezug auf Kindern angebotene Dienste der Informationsgesellschaft erhoben wurden.
56 Nach Art. 17 Abs. 3 der Verordnung 2016/679 gilt Art. 17 Abs. 1 dieser Verordnung jedoch nicht, soweit die Verarbeitung aus einem der in Abs. 3 angeführten Gründe erforderlich ist. Zu diesen Gründen gehört nach Art. 17 Abs. 3 Buchst. a der Verordnung u. a. die Ausübung des Rechts auf freie Information.
57 Der Umstand, dass Art. 17 Abs. 3 Buchst. a der Verordnung 2016/679 nunmehr ausdrücklich vorsieht, dass das der betroffenen Person zustehende Recht auf Löschung ausgeschlossen ist, wenn die Verarbeitung u. a. für die Ausübung des in Art. 11 der Charta garantierten Rechts auf freie Information erforderlich ist, ist Ausdruck der Tatsache, dass das Recht auf Schutz personenbezogener Daten kein uneingeschränktes Recht ist, sondern, wie im vierten Erwägungsgrund dieser Verordnung ausgeführt, im Hinblick auf seine gesellschaftliche Funktion gesehen und unter Wahrung des Verhältnismäßigkeitsprinzips gegen andere Grundrechte abgewogen werden muss (vgl. auch Urteil vom 9. November 2010, Volker und Markus Schecke und Eifert, C‑92/09 und C‑93/09, EU:C:2010:662, Rn. 48, sowie Gutachten 1/15 [PNR-Abkommen EU–Kanada] vom 26. Juli 2017, EU:C:2017:592, Rn. 136).
58 Art. 52 Abs. 1 der Charta lässt insoweit Einschränkungen der Ausübung von Rechten wie derjenigen zu, die in ihren Art. 7 und 8 verankert sind, sofern diese Einschränkungen gesetzlich vorgesehen sind, den Wesensgehalt dieser Rechte und Freiheiten achten und unter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit erforderlich sind und den von der Union anerkannten dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen oder den Erfordernissen des Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer tatsächlich entsprechen (Urteil vom 9. November 2010, Volker und Markus Schecke und Eifert, C‑92/09 und C‑93/09, EU:C:2010:662, Rn. 50).
59 Die Verordnung 2016/679 und insbesondere Art. 17 Abs. 3 Buchst. a verlangen somit ausdrücklich eine Abwägung zwischen den in den Art. 7 und 8 der Charta verankerten Grundrechten auf Achtung des Privatlebens und auf Schutz personenbezogener Daten und dem durch Art. 11 der Charta gewährleisteten Grundrecht auf freie Information.
60 In Anbetracht dieser Erwägungen ist zu prüfen, unter welchen Voraussetzungen der Suchmaschinenbetreiber verpflichtet ist, einem Antrag auf Auslistung von Links stattzugeben und daher aus der im Anschluss an eine Suche anhand des Namens der betroffenen Person angezeigten Ergebnisliste den Link zu einer Website zu löschen, auf der sich personenbezogene Daten der in Art. 8 Abs. 1 und 5 der Richtlinie 95/46 genannten besonderen Kategorien befinden.
61 Insoweit ist zunächst festzustellen, dass die Verarbeitung der in Art. 8 Abs. 1 der Richtlinie 95/46 genannten besonderen Datenkategorien durch einen Suchmaschinenbetreiber grundsätzlich unter die Ausnahmen in Art. 8 Abs. 2 Buchst. a und e dieser Richtlinie fallen kann. Diese Bestimmung, auf die das vorlegende Gericht Bezug nimmt, sieht vor, dass das Verbot der Verarbeitung dieser besonderen Datenkategorien nicht gilt, wenn die betroffene Person ausdrücklich in die Verarbeitung eingewilligt hat, es sei denn, die Rechtsvorschriften des betreffenden Mitgliedstaats verbieten eine solche Einwilligung, oder wenn sich die Verarbeitung u. a. auf Daten bezieht, die die betroffene Person offenkundig öffentlich gemacht hat. Diese Ausnahmen sind nun in Art. 9 Abs. 2 Buchst. a und e der Verordnung 2016/679 übernommen worden. Außerdem erlaubt Art. 9 Abs. 2 Buchst. g dieser Verordnung, der im Wesentlichen Art. 8 Abs. 4 der Richtlinie 95/46 entspricht, die Verarbeitung der genannten besonderen Datenkategorien, wenn sie aus Gründen eines erheblichen öffentlichen Interesses erforderlich ist, und zwar auf der Grundlage des Unionsrechts oder des Rechts eines Mitgliedstaats, das in angemessenem Verhältnis zu dem verfolgten Ziel steht, den Wesensgehalt des Rechts auf Datenschutz wahrt und angemessene und spezifische Maßnahmen zur Wahrung der Grundrechte und Interessen der betroffenen Person vorsieht.
62 Was die Ausnahme in Art. 8 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 95/46 und Art. 9 Abs. 2 Buchst. a der Verordnung 2016/679 anbelangt, ergibt sich aus der Definition des Begriffs „Einwilligung“ in Art. 2 Buchst. h der Richtlinie und Art. 4 Nr. 11 der Verordnung, dass die Einwilligung „für den bestimmten Fall“ abgegeben sein muss und sich somit konkret auf die Datenverarbeitung im Rahmen der Suchmaschinentätigkeit und damit auf die Tatsache beziehen muss, dass die Verarbeitung es Dritten ermöglicht, mittels einer Suche anhand des Namens der betroffenen Person eine Ergebnisliste mit Links zu Websites zu erhalten, auf denen sich diese Person betreffende sensible Daten befinden. Es ist aber in der Praxis kaum vorstellbar, und aus den dem Gerichtshof in der vorliegenden Rechtssache vorgelegten Akten geht auch nicht hervor, dass der Suchmaschinenbetreiber um die ausdrückliche Einwilligung der betroffenen Personen ersucht, bevor er sie betreffende personenbezogene Daten zum Zweck seiner Tätigkeit verarbeitet. Wie insbesondere die französische und die polnische Regierung sowie die Kommission ausgeführt haben, bedeutet jedenfalls der Umstand, dass eine Person einen Antrag auf Auslistung von Links stellt, grundsätzlich, dass sie der Datenverarbeitung durch den Suchmaschinenbetreiber – zumindest zum Zeitpunkt der Antragstellung – nicht mehr zustimmt. Insofern ist auch darauf hinzuweisen, dass Art. 17 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung 2016/679 als einen der Gründe, die das „Recht auf Vergessenwerden“ rechtfertigen, den Umstand nennt, dass die betroffene Person ihre Einwilligung, auf die sich die Verarbeitung gemäß Art. 9 Abs. 2 Buchst. a dieser Verordnung stützte, widerruft und es an einer anderweitigen Rechtsgrundlage für die Verarbeitung fehlt.
63 Dagegen lässt sich der in Art. 8 Abs. 2 Buchst. e der Richtlinie 95/46 und in Art. 9 Abs. 2 Buchst. e der Verordnung 2016/679 genannte Umstand, dass die Daten von der betroffenen Person offenkundig gemacht worden sind, sowohl auf den Suchmaschinenbetreiber als auch auf den Herausgeber der betreffenden Website anwenden, wie dies alle Beteiligten ausführen, die sich zu dieser Frage geäußert haben.
64 Daher steht in einem solchen Fall, obwohl auf der verlinkten Website personenbezogene Daten der in Art. 8 Abs. 1 der Richtlinie 95/46 und Art. 9 Abs. 1 der Verordnung 2016/679 genannten besonderen Kategorien vorhanden sind, die Verarbeitung dieser Daten durch den Suchmaschinenbetreiber im Rahmen seiner Tätigkeit mit diesen Vorschriften im Einklang, sofern sie auch die übrigen, insbesondere in Art. 6 der Richtlinie oder Art. 5 der Verordnung aufgestellten Voraussetzungen erfüllt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 13. Mai 2014, Google Spain und Google, C‑131/12, EU:C:2014:317, Rn. 72).
65 Selbst in diesem Fall kann die betroffene Person jedoch nach Art. 14 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 95/46 oder Art. 17 Abs. 1 Buchst. c und Art. 21 Abs. 1 der Verordnung 2016/679 aus sich aus ihrer besonderen Situation ergebenden Gründen ein Recht auf Auslistung des betreffenden Links haben.
66 In jedem Fall muss der Suchmaschinenbetreiber, wenn er mit einem Antrag auf Auslistung von Links befasst ist, anhand der in Art. 8 Abs. 4 der Richtlinie 95/46 oder Art. 9 Abs. 2 Buchst. g der Verordnung 2016/679 angeführten Gründe eines wichtigen bzw. erheblichen öffentlichen Interesses und nach Maßgabe der in diesen Bestimmungen vorgesehenen Voraussetzungen prüfen, ob die Aufnahme des Links zu der fraglichen Website in die Liste, die im Anschluss an eine Suche anhand des Namens der betroffenen Person angezeigt wird, erforderlich ist, um das durch Art. 11 der Charta geschützte Recht auf freie Information auszuüben, das den Internetnutzern zusteht, die potenziell Interesse an einem Zugang zu dieser Website mittels einer solchen Suche haben. Zwar überwiegen die durch die Art. 7 und 8 der Charta geschützten Rechte der betroffenen Person im Allgemeinen gegenüber dem Recht der Internetnutzer auf freie Information; der Ausgleich kann in besonders gelagerten Fällen aber von der Art der betreffenden Information, von deren Sensibilität für das Privatleben der betroffenen Person und vom Interesse der Öffentlichkeit am Zugang zu der Information abhängen, das u. a. je nach der Rolle, die die Person im öffentlichen Leben spielt, variieren kann (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 13. Mai 2014, Google Spain und Google, C‑131/12, EU:C:2014:317, Rn. 81).
67 Hinzu kommt, dass, wenn die Verarbeitung die in Art. 8 Abs. 1 und 5 der Richtlinie 95/46 oder Art. 9 Abs. 1 und Art. 10 der Verordnung 2016/679 genannten besonderen Datenkategorien betrifft, der Eingriff in die Grundrechte der betroffenen Person auf Achtung des Privatlebens und auf Schutz personenbezogener Daten, wie in Rn. 44 des vorliegenden Urteils ausgeführt, aufgrund der Sensibilität dieser Daten besonders schwer sein kann.
68 Ist der Suchmaschinenbetreiber mit einem Antrag auf Auslistung eines Links zu einer Website befasst, auf der solche sensiblen Daten veröffentlicht sind, muss er daher auf der Grundlage aller relevanten Umstände des Einzelfalls und unter Berücksichtigung der Schwere des Eingriffs in die Grundrechte der betroffenen Person auf Achtung des Privatlebens und auf Schutz personenbezogener Daten aus den Art. 7 und 8 der Charta anhand der in Art. 8 Abs. 4 der Richtlinie 95/46 oder Art. 9 Abs. 2 Buchst. g der Verordnung 2016/679 angeführten Gründe eines wichtigen bzw. erheblichen öffentlichen Interesses nach Maßgabe der in diesen Bestimmungen vorgesehenen Voraussetzungen prüfen, ob sich die Aufnahme dieses Links in die im Anschluss an eine Suche anhand des Namens dieser Person angezeigte Ergebnisliste als unbedingt erforderlich erweist, um die in Art. 11 der Charta verankerte Informationsfreiheit von Internetnutzern zu schützen, die potenziell daran interessiert sind, mittels einer solchen Suche Zugang zu der betreffenden Website zu erhalten.
69 Nach alledem ist auf die zweite Frage zu antworten:
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Die Bestimmungen von Art. 8 Abs. 1 und 5 der Richtlinie 95/46 sind dahin auszulegen, dass der Suchmaschinenbetreiber auf ihrer Grundlage – vorbehaltlich der in dieser Richtlinie vorgesehenen Ausnahmen – grundsätzlich verpflichtet ist, Anträgen auf Auslistung von Links zu Websites stattzugeben, auf denen sich personenbezogene Daten der in dieser Bestimmung genannten besonderen Kategorien personenbezogener Daten befinden.
–
Art. 8 Abs. 2 Buchst. e der Richtlinie 95/46 ist dahin auszulegen, dass der Suchmaschinenbetreiber in Anwendung dieser Bestimmung einen Antrag auf Auslistung von Links ablehnen kann, wenn er feststellt, dass die Links zu Inhalten führen, die personenbezogene Daten der in Art. 8 Abs. 1 dieser Richtlinie genannten besonderen Kategorien enthalten, deren Verarbeitung aber unter eine der Ausnahmen in Art. 8 Abs. 2 Buchst. e der Richtlinie fällt, sofern die Verarbeitung alle sonstigen von der Richtlinie aufgestellten Voraussetzungen für die Zulässigkeit erfüllt und die betroffene Person nicht nach Art. 14 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie das Recht hat, aus überwiegenden, schutzwürdigen, sich aus ihrer besonderen Situation ergebenden Gründen gegen die Datenverarbeitung Widerspruch einzulegen.
–
Die Bestimmungen der Richtlinie 95/46 sind dahin auszulegen, dass der Suchmaschinenbetreiber, wenn er mit einem Antrag auf Auslistung eines Links zu einer Website befasst ist, auf der personenbezogene Daten der in Art. 8 Abs. 1 oder 5 dieser Richtlinie genannten besonderen Kategorien veröffentlicht sind, auf der Grundlage aller relevanten Umstände des Einzelfalls und unter Berücksichtigung der Schwere des Eingriffs in die Grundrechte der betroffenen Person auf Achtung des Privatlebens und auf Schutz personenbezogener Daten aus den Art. 7 und 8 der Charta anhand der in Art. 8 Abs. 4 der Richtlinie angeführten Gründe eines wichtigen öffentlichen Interesses nach Maßgabe der in dieser Bestimmung vorgesehenen Voraussetzungen prüfen muss, ob sich die Aufnahme dieses Links in die im Anschluss an eine Suche anhand des Namens dieser Person angezeigte Ergebnisliste als unbedingt erforderlich erweist, um die in Art. 11 der Charta verankerte Informationsfreiheit von Internetnutzern zu schützen, die potenziell daran interessiert sind, mittels einer solchen Suche Zugang zu der betreffenden Website zu erhalten.
Zur dritten Frage
70 Da diese Frage nur für den Fall gestellt worden ist, dass die erste Frage verneint wird, ist sie angesichts der Bejahung der ersten Frage nicht zu beantworten.
Zur vierten Frage
71 Mit seiner vierten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die Bestimmungen der Richtlinie 95/46 dahin auszulegen sind, dass
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zum einen Informationen über ein Gerichtsverfahren, das eine natürliche Person betraf, sowie gegebenenfalls Informationen über die sich daraus ergebende Verurteilung Daten zu „Straftaten“ und „strafrechtlichen Verurteilungen“ im Sinne von Art. 8 Abs. 5 der Richtlinie 95/46 sind und
–
zum anderen der Suchmaschinenbetreiber verpflichtet ist, einem Antrag auf Auslistung von Links zu Websites, auf denen sich solche Informationen befinden, stattzugeben, wenn sich die Informationen auf einen früheren Abschnitt des Gerichtsverfahrens beziehen und angesichts des Verlaufs dieses Verfahrens nicht mehr der aktuellen Situation entsprechen.
72 Wie der Generalanwalt in Nr. 100 seiner Schlussanträge und u. a. die französische Regierung, Irland, die italienische und die polnische Regierung sowie die Kommission ausgeführt haben, sind insoweit Informationen über ein Gerichtsverfahren gegen eine natürliche Person – wie z. B. Informationen über die Anklageerhebung gegen sie oder die Berichterstattung über den Prozess – und gegebenenfalls die sich daraus ergebende Verurteilung Daten zu „Straftaten“ und „strafrechtlichen Verurteilungen“ im Sinne von Art. 8 Abs. 5 Unterabs. 1 der Richtlinie 95/46 und Art. 10 der Verordnung 2016/679, und zwar unabhängig davon, ob die Begehung der Straftat, derentwegen die Person verfolgt wurde, in diesem Gerichtsverfahren tatsächlich festgestellt wurde.
73 Somit nimmt der Suchmaschinenbetreiber, indem er Links zu Websites, auf denen solche Daten veröffentlicht sind, in die im Anschluss an eine Suche anhand des Namens der betroffenen Person angezeigte Ergebnisliste aufnimmt, eine Verarbeitung dieser Daten vor, die gemäß Art. 8 Abs. 5 Unterabs. 1 der Richtlinie 95/46 und Art. 10 der Verordnung 2016/679 besonderen Beschränkungen unterliegt. Wie die Kommission ausgeführt hat, kann eine solche Verarbeitung nach diesen Bestimmungen unter der Voraussetzung, dass die übrigen von der Richtlinie und der Verordnung aufgestellten Voraussetzungen für die Zulässigkeit erfüllt sind, insbesondere dann zulässig sein, wenn im nationalen Recht geeignete besondere Garantien vorgesehen sind, was der Fall sein kann, wenn die betreffenden Informationen von den Behörden im Einklang mit dem anwendbaren nationalen Recht öffentlich zugänglich gemacht wurden.
74 Was die angesprochenen übrigen Voraussetzungen für die Zulässigkeit der Datenverarbeitung betrifft, ergibt sich aus den Anforderungen von Art. 6 Abs. 1 Buchst. c bis e der Richtlinie 95/46, die nunmehr in Art. 5 Abs. 1 Buchst. c bis e der Verordnung 2016/679 übernommen wurden, dass selbst eine ursprünglich zulässige Verarbeitung korrekter Daten im Laufe der Zeit mit dieser Richtlinie oder Verordnung unvereinbar werden kann, wenn die Daten im Hinblick auf die Zwecke, für die sie erhoben oder verarbeitet wurden, nicht mehr erforderlich sind. Das ist insbesondere der Fall, wenn sie diesen Zwecken in Anbetracht der verstrichenen Zeit nicht entsprechen, dafür nicht oder nicht mehr erheblich sind oder darüber hinausgehen (Urteil vom 13. Mai 2014, Google Spain und Google, C‑131/12, EU:C:2014:317‚ Rn. 93).
75 Wie in Rn. 66 des vorliegenden Urteils festgestellt, muss der Suchmaschinenbetreiber jedoch, selbst für den Fall, dass die Datenverarbeitung im Sinne von Art. 8 Abs. 5 der Richtlinie 95/46 und Art. 10 der Verordnung 2016/679 nicht den in diesen Bestimmungen vorgesehenen Beschränkungen oder den übrigen Voraussetzungen für die Zulässigkeit wie den in Art. 6 Abs. 1 Buchst. c bis e der Richtlinie und Art. 5 Abs. 1 Buchst. c bis e der Verordnung aufgestellten entspricht, anhand der in Art. 8 Abs. 4 der Richtlinie oder Art. 9 Abs. 2 Buchst. g der Verordnung angeführten Gründe eines wichtigen bzw. erheblichen öffentlichen Interesses nach Maßgabe der in diesen Bestimmungen vorgesehenen Voraussetzungen noch prüfen, ob die Aufnahme des Links zu der betreffenden Website in die im Anschluss an eine Suche anhand des Namens der betroffenen Person angezeigte Ergebnisliste für die Ausübung des in Art. 11 der Charta verankerten Rechts auf freie Information der Internetnutzer erforderlich ist, die potenziell daran interessiert sind, mittels einer solchen Suche Zugang zu dieser Website zu erhalten.
76 Insoweit ergibt sich aus der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, dass Anträge betroffener Personen im Hinblick auf das aus Art. 8 der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten folgende Verbot, wonach verschiedene Medien ältere Reportagen über ein Strafverfahren gegen diese Personen im Internet nicht zur Verfügung stellen dürfen, eine Prüfung des angemessenen Ausgleichs zwischen dem Recht auf Achtung des Privatlebens dieser Personen und z. B. der Informationsfreiheit der Öffentlichkeit erfordern. Bei der Suche nach diesem angemessenen Ausgleich ist der wesentlichen Rolle Rechnung zu tragen, die der Presse in einer demokratischen Gesellschaft zukommt und zu der das Verfassen von Berichten und Kommentaren zu Gerichtsverfahren gehört. Ferner tritt zu der Funktion der Medien, solche Informationen und Ideen zu vermitteln, das Recht der Öffentlichkeit, diese zu erhalten. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat in diesem Zusammenhang anerkannt, dass die Öffentlichkeit nicht nur ein Interesse daran hat, über ein aktuelles Ereignis informiert zu werden, sondern auch, Recherchen zu vergangenen Ereignissen durchführen zu können, wobei der Umfang des öffentlichen Interesses bei Strafverfahren jedoch variabel ist und sich mit der Zeit insbesondere nach Maßgabe der Umstände der Rechtssache ändern kann (EGMR, 28. Juni 2018, M. L. und W.W./Deutschland, CE:ECHR:2018:0628JUD006079810‚ §§ 89 und 100 bis 102).
77 Es ist somit Sache des Suchmaschinenbetreibers, im Rahmen eines Antrags auf Auslistung von Links zu Websites, auf denen Informationen zu einem Strafverfahren gegen die betroffene Person veröffentlicht sind, die sich auf einen früheren Verfahrensabschnitt beziehen und nicht mehr der aktuellen Situation entsprechen, zu beurteilen, ob unter Berücksichtigung sämtlicher Umstände des Einzelfalls wie z. B. der Art und Schwere der Straftat, des Verlaufs und Ausgangs des Verfahrens, der verstrichenen Zeit, der Rolle der betroffenen Person im öffentlichen Leben und ihres Verhaltens in der Vergangenheit, des Interesses der Öffentlichkeit zum Zeitpunkt der Antragstellung, des Inhalts und der Form der Veröffentlichung sowie der Auswirkungen der Veröffentlichung für die betroffene Person diese ein Recht darauf hat, dass die betreffenden Informationen aktuell nicht mehr durch die Anzeige einer Ergebnisliste im Anschluss an eine Suche anhand ihres Namens mit ihrem Namen in Verbindung gebracht werden.
78 Hinzuzufügen ist jedoch, dass der Suchmaschinenbetreiber, selbst wenn er feststellen sollte, dass dies nicht der Fall ist, weil sich die Einbeziehung des betreffenden Links als absolut erforderlich erweist, um die Rechte der betroffenen Person auf Achtung des Privatlebens und auf Schutz ihrer Daten mit der Informationsfreiheit potenziell interessierter Internetnutzer in Einklang zu bringen, jedenfalls verpflichtet ist, spätestens anlässlich des Antrags auf Auslistung von Links die Ergebnisliste so auszugestalten, dass das daraus für den Internetnutzer entstehende Gesamtbild die aktuelle Rechtslage widerspiegelt, was insbesondere voraussetzt, dass Links zu Websites mit entsprechenden Informationen auf dieser Liste an erster Stelle stehen.
79 Nach alledem ist auf die vierte Frage zu antworten, dass die Bestimmungen der Richtlinie 95/46 dahin auszulegen sind, dass
–
zum einen Informationen über ein Gerichtsverfahren, das eine natürliche Person betraf, sowie gegebenenfalls Informationen über die sich daraus ergebende Verurteilung Daten zu „Straftaten“ und „strafrechtlichen Verurteilungen“ im Sinne von Art. 8 Abs. 5 dieser Richtlinie sind und
–
zum anderen der Suchmaschinenbetreiber verpflichtet ist, einem Antrag auf Auslistung von Links zu Websites, auf denen sich solche Informationen befinden, stattzugeben, wenn sich diese Informationen auf einen früheren Abschnitt des Gerichtsverfahrens beziehen und angesichts des Verlaufs dieses Verfahrens nicht mehr der aktuellen Situation entsprechen, sofern im Rahmen der Prüfung der in Art. 8 Abs. 4 der Richtlinie 95/46 angeführten Gründe eines wichtigen öffentlichen Interesses festgestellt wird, dass unter Berücksichtigung sämtlicher Umstände des Einzelfalls die Grundrechte der betroffenen Person aus den Art. 7 und 8 der Charta gegenüber den Grundrechten der potenziell interessierten Internetnutzer aus Art. 11 der Charta überwiegen.
Kosten
80 Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Große Kammer) für Recht erkannt:
1. Die Bestimmungen von Art. 8 Abs. 1 und 5 der Richtlinie 95/46/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 24. Oktober 1995 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten und zum freien Datenverkehr sind dahin auszulegen, dass das darin enthaltene Verbot oder die darin enthaltenen Beschränkungen der Verarbeitung besonderer Kategorien personenbezogener Daten – vorbehaltlich der in dieser Richtlinie vorgesehenen Ausnahmen – auch auf den Betreiber einer Suchmaschine als den für die Datenverarbeitung bei der Tätigkeit dieser Suchmaschine Verantwortlichen in seinem Verantwortungsbereich im Rahmen seiner Befugnisse und Möglichkeiten bei Gelegenheit einer Prüfung anwendbar sind, die der Suchmaschinenbetreiber auf Antrag der betroffenen Person unter Aufsicht der zuständigen nationalen Behörden vornimmt.
2. Die Bestimmungen von Art. 8 Abs. 1 und 5 der Richtlinie 95/46 sind dahin auszulegen, dass der Suchmaschinenbetreiber auf ihrer Grundlage – vorbehaltlich der in dieser Richtlinie vorgesehenen Ausnahmen – grundsätzlich verpflichtet ist, Anträgen auf Auslistung von Links zu Websites stattzugeben, auf denen sich personenbezogene Daten der in dieser Bestimmung genannten besonderen Kategorien personenbezogener Daten befinden.
Art. 8 Abs. 2 Buchst. e der Richtlinie 95/46 ist dahin auszulegen, dass der Suchmaschinenbetreiber in Anwendung dieser Bestimmung einen Antrag auf Auslistung von Links ablehnen kann, wenn er feststellt, dass die Links zu Inhalten führen, die personenbezogene Daten der in Art. 8 Abs. 1 dieser Richtlinie genannten besonderen Kategorien enthalten, deren Verarbeitung aber unter eine der Ausnahmen in Art. 8 Abs. 2 Buchst. e der Richtlinie fällt, sofern die Verarbeitung alle sonstigen von der Richtlinie aufgestellten Voraussetzungen für die Zulässigkeit erfüllt und die betroffene Person nicht nach Art. 14 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie das Recht hat, aus überwiegenden, schutzwürdigen, sich aus ihrer besonderen Situation ergebenden Gründen gegen die Datenverarbeitung Widerspruch einzulegen.
Die Bestimmungen der Richtlinie 95/46 sind dahin auszulegen, dass der Suchmaschinenbetreiber, wenn er mit einem Antrag auf Auslistung eines Links zu einer Website befasst ist, auf der personenbezogene Daten der in Art. 8 Abs. 1 oder 5 dieser Richtlinie genannten besonderen Kategorien veröffentlicht sind, auf der Grundlage aller relevanten Umstände des Einzelfalls und unter Berücksichtigung der Schwere des Eingriffs in die Grundrechte der betroffenen Person auf Achtung des Privatlebens und auf Schutz personenbezogener Daten aus den Art. 7 und 8 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union anhand der in Art. 8 Abs. 4 der Richtlinie angeführten Gründe eines wichtigen öffentlichen Interesses nach Maßgabe der in dieser Bestimmung vorgesehenen Voraussetzungen prüfen muss, ob sich die Aufnahme dieses Links in die im Anschluss an eine Suche anhand des Namens dieser Person angezeigte Ergebnisliste als unbedingt erforderlich erweist, um die in Art. 11 der Charta verankerte Informationsfreiheit von Internetnutzern zu schützen, die potenziell daran interessiert sind, mittels einer solchen Suche Zugang zu der betreffenden Website zu erhalten.
3. Die Bestimmungen der Richtlinie 95/46 sind dahin auszulegen, dass
–
zum einen Informationen über ein Gerichtsverfahren, das eine natürliche Person betraf, sowie gegebenenfalls Informationen über die sich daraus ergebende Verurteilung Daten zu „Straftaten“ und „strafrechtlichen Verurteilungen“ im Sinne von Art. 8 Abs. 5 dieser Richtlinie sind und
–
zum anderen der Suchmaschinenbetreiber verpflichtet ist, einem Antrag auf Auslistung von Links zu Websites, auf denen sich solche Informationen befinden, stattzugeben, wenn sich diese Informationen auf einen früheren Abschnitt des Gerichtsverfahrens beziehen und angesichts des Verlaufs dieses Verfahrens nicht mehr der aktuellen Situation entsprechen, sofern im Rahmen der Prüfung der in Art. 8 Abs. 4 der Richtlinie 95/46 angeführten Gründe eines wichtigen öffentlichen Interesses festgestellt wird, dass unter Berücksichtigung sämtlicher Umstände des Einzelfalls die Grundrechte der betroffenen Person aus den Art. 7 und 8 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union gegenüber den Grundrechten der potenziell interessierten Internetnutzer aus Art. 11 der Charta überwiegen.
Unterschriften
(*1) Verfahrenssprache: Französisch.
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Urteil des Gerichtshofs (Große Kammer) vom 13. September 2016.#Alfredo Rendón Marín gegen Administración del Estado.#Vorabentscheidungsersuchen des Tribunal Supremo.#Vorlage zur Vorabentscheidung – Unionsbürgerschaft – Art. 20 und 21 AEUV – Richtlinie 2004/38/EG – Recht eines vorbestraften Drittstaatsangehörigen auf Aufenthalt in einem Mitgliedstaat – Elternteil mit alleinigem Sorgerecht für zwei minderjährige Kinder, die Unionsbürger sind – Erstes Kind, das die Staatsangehörigkeit des Wohnmitgliedstaats besitzt – Zweites Kind, das die Staatsangehörigkeit eines anderen Mitgliedstaats besitzt – Nationale Regelung, nach der die Erteilung eines Aufenthaltstitels an einen solchen Verwandten in aufsteigender Linie bei Vorstrafen ausgeschlossen ist – Verweigerung des Aufenthalts, der zur Folge haben kann, dass die Kinder das Gebiet der Union verlassen müssen.#Rechtssache C-165/14.
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62014CJ0165
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ECLI:EU:C:2016:675
| 2016-09-13T00:00:00 |
Gerichtshof, Szpunar
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Sammlung der Rechtsprechung – allgemein
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62014CJ0165
URTEIL DES GERICHTSHOFS (Große Kammer)
13. September 2016 (*1)
„Vorlage zur Vorabentscheidung — Unionsbürgerschaft — Art. 20 und 21 AEUV — Richtlinie 2004/38/EG — Recht eines vorbestraften Drittstaatsangehörigen auf Aufenthalt in einem Mitgliedstaat — Elternteil mit alleinigem Sorgerecht für zwei minderjährige Kinder, die Unionsbürger sind — Erstes Kind, das die Staatsangehörigkeit des Wohnmitgliedstaats besitzt — Zweites Kind, das die Staatsangehörigkeit eines anderen Mitgliedstaats besitzt — Nationale Regelung, nach der die Erteilung eines Aufenthaltstitels an einen solchen Verwandten in aufsteigender Linie bei Vorstrafen ausgeschlossen ist — Verweigerung des Aufenthalts, der zur Folge haben kann, dass die Kinder das Gebiet der Union verlassen müssen“
In der Rechtssache C‑165/14
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Tribunal Supremo (Oberster Gerichtshof, Spanien) mit Entscheidung vom 20. März 2014, beim Gerichtshof eingegangen am 7. April 2014, in dem Verfahren
Alfredo Rendón Marín
gegen
Administración del Estado
erlässt
DER GERICHTSHOF (Große Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten K. Lenaerts, der Kammerpräsidentin R. Silva de Lapuerta, der Kammerpräsidenten M. Ilešič und L. Bay Larsen, der Kammerpräsidentin C. Toader, der Kammerpräsidenten D. Šváby, F. Biltgen und C. Lycourgos, der Richter A. Rosas (Berichterstatter), E. Juhász, A. Borg Barthet und M. Safjan sowie der Richterinnen M. Berger, A. Prechal und K. Jürimäe,
Generalanwalt: M. Szpunar,
Kanzler: M. Ferreira, Hauptverwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 30. Juni 2015,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
—
von Herrn Rendón Marín, vertreten durch I. Aránzazu Triguero Hernández und L. De Rossi, abogadas,
—
der spanischen Regierung, vertreten durch A. Rubio González und L. Banciella Rodríguez-Miñón als Bevollmächtigte,
—
der dänischen Regierung, vertreten durch C. Thorning und M. Wolff als Bevollmächtigte,
—
der hellenischen Regierung, vertreten durch T. Papadopoulou als Bevollmächtigte,
—
der französischen Regierung, vertreten durch D. Colas und R. Coesme als Bevollmächtigte,
—
der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von L. D’Ascia, avvocato dello Stato,
—
der niederländischen Regierung, vertreten durch M. Bulterman und B. Koopman als Bevollmächtigte,
—
der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna, K. Pawłowska und M. Pawlicka als Bevollmächtigte,
—
der Regierung des Vereinigten Königreichs, vertreten durch M. Holt und J. Beeko als Bevollmächtigte im Beistand von D. Blundell, Barrister,
—
der Europäischen Kommission, vertreten durch I. Martínez del Peral, C. Tufvesson, F. Castillo de la Torre und M. Wilderspin als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 4. Februar 2016
folgendes
Urteil
1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 20 AEUV.
2 Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen dem Drittstaatsangehörigen Alfredo Rendón Marín, dem allein sorgeberechtigten Vater zweier minderjähriger Unionsbürger, die seit ihrer Geburt in Spanien leben, und der Administración del Estado (staatliche Verwaltung, Spanien) wegen der Entscheidung des Director General de Inmigración del Ministerio de Trabajo e Inmigración (Generaldirektor für Einwanderung des Ministeriums für Arbeit und Einwanderung, Spanien), Herrn Rendón Marín aufgrund seiner Vorstrafen keine Aufenthaltserlaubnis wegen außergewöhnlicher Umstände zu erteilen.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
3 Die Erwägungsgründe 23 und 24 der Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 und zur Aufhebung der Richtlinien 64/221/EWG, 68/360/EWG, 72/194/EWG, 73/148/EWG, 75/34/EWG, 75/35/EWG, 90/364/EWG, 90/365/EWG und 93/96/EWG (ABl. 2004, L 158, S. 77, berichtigt im ABl. 2004, L 229, S. 35) lauten:
„(23)
Die Ausweisung von Unionsbürgern und ihren Familienangehörigen aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit ist eine Maßnahme, die Personen, die ihre Rechte und Freiheiten aus dem [EG-]Vertrag in Anspruch genommen haben und vollständig in den Aufnahmemitgliedstaat integriert sind, sehr schaden kann. Die Wirkung derartiger Maßnahmen sollte daher gemäß dem Verhältnismäßigkeitsprinzip begrenzt werden, damit der Grad der Integration der Betroffenen, die Dauer des Aufenthalts im Aufnahmemitgliedstaat, ihr Alter, ihr Gesundheitszustand, die familiäre und wirtschaftliche Situation und die Bindungen zum Herkunftsstaat berücksichtigt werden.
(24) Daher sollte der Schutz vor Ausweisung in dem Maße zunehmen, wie die Unionsbürger und ihre Familienangehörigen in den Aufnahmemitgliedstaat stärker integriert sind. Gegen Unionsbürger, die sich viele Jahre im Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats aufgehalten haben, insbesondere in Fällen, in denen sie dort geboren sind und dort ihr ganzes Leben lang ihren Aufenthalt gehabt haben, sollte nur unter außergewöhnlichen Umständen aus zwingenden Gründen der öffentlichen Sicherheit eine Ausweisung verfügt werden. Gemäß dem Übereinkommen der Vereinten Nationen vom 20. November 1989 über die Rechte des Kindes sollten solche außergewöhnlichen Umstände zudem auch für Ausweisungsmaßnahmen gegen Minderjährige gelten, damit die familiären Bande unter Schutz stehen.“
4 In Art. 2 („Begriffsbestimmungen“) der Richtlinie 2004/38 heißt es:
„Im Sinne dieser Richtlinie bezeichnet der Ausdruck
1. ‚Unionsbürger‘ jede Person, die die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzt;
2. ‚Familienangehöriger‘
…
d)
die Verwandten in gerader aufsteigender Linie des Unionsbürgers und des Ehegatten oder des Lebenspartners im Sinne von Buchstabe b), denen von diesen Unterhalt gewährt wird;
3. ‚Aufnahmemitgliedstaat‘ den Mitgliedstaat, in den sich der Unionsbürger begibt, um dort sein Recht auf Freizügigkeit oder Aufenthalt auszuüben.“
5 Art. 3 („Berechtigte“) der Richtlinie 2004/38 bestimmt:
„(1) Diese Richtlinie gilt für jeden Unionsbürger, der sich in einen anderen als den Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, begibt oder sich dort aufhält, sowie für seine Familienangehörigen im Sinne von Artikel 2 Nummer 2, die ihn begleiten oder ihm nachziehen.
(2) Unbeschadet eines etwaigen persönlichen Rechts auf Freizügigkeit und Aufenthalt der Betroffenen erleichtert der Aufnahmemitgliedstaat nach Maßgabe seiner innerstaatlichen Rechtsvorschriften die Einreise und den Aufenthalt der folgenden Personen:
a)
jedes nicht unter die Definition in Artikel 2 Nummer 2 fallenden Familienangehörigen ungeachtet seiner Staatsangehörigkeit, dem der primär aufenthaltsberechtigte Unionsbürger im Herkunftsland Unterhalt gewährt oder der mit ihm im Herkunftsland in häuslicher Gemeinschaft gelebt hat …;
…
Der Aufnahmemitgliedstaat führt eine eingehende Untersuchung der persönlichen Umstände durch und begründet eine etwaige Verweigerung der Einreise oder des Aufenthalts dieser Personen.“
6 Art. 7 („Recht auf Aufenthalt für mehr als drei Monate“) der Richtlinie 2004/38 sieht in den Abs. 1 und 2 vor:
„(1) Jeder Unionsbürger hat das Recht auf Aufenthalt im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats für einen Zeitraum von über drei Monaten, wenn er
a)
Arbeitnehmer oder Selbstständiger im Aufnahmemitgliedstaat ist oder
b)
für sich und seine Familienangehörigen über ausreichende Existenzmittel verfügt, so dass sie während ihres Aufenthalts keine Sozialhilfeleistungen des Aufnahmemitgliedstaats in Anspruch nehmen müssen, und er und seine Familienangehörigen über einen umfassenden Krankenversicherungsschutz im Aufnahmemitgliedstaat verfügen oder
…
d)
ein Familienangehöriger ist, der den Unionsbürger, der die Voraussetzungen des Buchstabens a), b) oder c) erfüllt, begleitet oder ihm nachzieht.
(2) Das Aufenthaltsrecht nach Absatz 1 gilt auch für Familienangehörige, die nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzen und die den Unionsbürger in den Aufnahmemitgliedstaat begleiten oder ihm nachziehen, sofern der Unionsbürger die Voraussetzungen des Absatzes 1 Buchstabe a), b) oder c) erfüllt.“
7 Der zu Kapitel IV („Recht auf Daueraufenthalt“) der Richtlinie 2004/38 gehörende Art. 16 („Allgemeine Regel für Unionsbürger und ihre Familienangehörigen“) bestimmt in den Abs. 1 und 2:
„(1) Jeder Unionsbürger, der sich rechtmäßig fünf Jahre lang ununterbrochen im Aufnahmemitgliedstaat aufgehalten hat, hat das Recht, sich dort auf Dauer aufzuhalten. Dieses Recht ist nicht an die Voraussetzungen des Kapitels III geknüpft.
(2) Absatz 1 gilt auch für Familienangehörige, die nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzen und die sich rechtmäßig fünf Jahre lang ununterbrochen mit dem Unionsbürger im Aufnahmemitgliedstaat aufgehalten haben.“
8 In Kapitel VI („Beschränkungen des Einreise- und Aufenthaltsrechts aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit“) der Richtlinie 2004/38 bestimmt Art. 27 Abs. 1 und 2:
„(1) Vorbehaltlich der Bestimmungen dieses Kapitels dürfen die Mitgliedstaaten die Freizügigkeit und das Aufenthaltsrecht eines Unionsbürgers oder seiner Familienangehörigen, ungeachtet ihrer Staatsangehörigkeit, aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit beschränken. Diese Gründe dürfen nicht zu wirtschaftlichen Zwecken geltend gemacht werden.
(2) Bei Maßnahmen aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit ist der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu wahren und darf ausschließlich das persönliche Verhalten des Betroffenen ausschlaggebend sein. Strafrechtliche Verurteilungen allein können ohne Weiteres diese Maßnahmen nicht begründen.
Das persönliche Verhalten muss eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr darstellen, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt. Vom Einzelfall losgelöste oder auf Generalprävention verweisende Begründungen sind nicht zulässig.“
9 Art. 28 („Schutz vor Ausweisung“) der Richtlinie 2004/38 lautet:
„(1) Bevor der Aufnahmemitgliedstaat eine Ausweisung aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit verfügt, berücksichtigt er insbesondere die Dauer des Aufenthalts des Betroffenen im Hoheitsgebiet, sein Alter, seinen Gesundheitszustand, seine familiäre und wirtschaftliche Lage, seine soziale und kulturelle Integration im Aufnahmemitgliedstaat und das Ausmaß seiner Bindungen zum Herkunftsstaat.
(2) Der Aufnahmemitgliedstaat darf gegen Unionsbürger oder ihre Familienangehörigen, ungeachtet ihrer Staatsangehörigkeit, die das Recht auf Daueraufenthalt in seinem Hoheitsgebiet genießen, eine Ausweisung nur aus schwerwiegenden Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit verfügen.
(3) Gegen Unionsbürger darf eine Ausweisung nicht verfügt werden, es sei denn, die Entscheidung beruht auf zwingenden Gründen der öffentlichen Sicherheit, die von den Mitgliedstaaten festgelegt wurden, wenn sie
a)
ihren Aufenthalt in den letzten zehn Jahren im Aufnahmemitgliedstaat gehabt haben oder
b)
minderjährig sind, es sei denn, die Ausweisung ist zum Wohl des Kindes notwendig, wie es im Übereinkommen der Vereinten Nationen vom 20. November 1989 über die Rechte des Kindes vorgesehen ist.“
Spanisches Recht
10 Art. 31 Abs. 3 der Ley Orgánica 4/2000 sobre derechos y libertades de los extranjeros en España y su integración social (verfassungsergänzendes Gesetz 4/2000 betreffend die Rechte und Freiheiten sowie die soziale Integration von Ausländern in Spanien) vom 11. Januar 2000 (BOE Nr. 10 vom 12. Januar 2000, S. 1139) sieht die Möglichkeit vor, einem Drittstaatsangehörigen aus außergewöhnlichen Gründen auch ohne vorheriges Visum einen vorläufigen Aufenthaltstitel zu erteilen.
11 Art. 31 Abs. 5 und 7 der Ley Orgánica 4/2000 bestimmt:
„(5) Einem Ausländer wird eine befristete Aufenthaltserlaubnis nur erteilt, wenn er keine Vorstrafen in Spanien oder in seinen vorherigen Aufenthaltsländern wegen Taten hat, die in der spanischen Rechtsordnung mit Strafe bedroht sind, und für ihn in den Staaten, mit denen Spanien ein entsprechendes Abkommen geschlossen hat, kein Einreiseverbot besteht.
…
(7) Bei der Verlängerung der befristeten Aufenthaltserlaubnisse werden gegebenenfalls berücksichtigt:
a)
die Vorstrafen, wobei Begnadigungen, bedingte Straferlasse und die Aussetzung der Freiheitsstrafe zu berücksichtigen sind;
b)
die Nichteinhaltung der Verpflichtungen des Ausländers in Steuersachen und Angelegenheiten der sozialen Sicherheit.
Bei der Verlängerung werden insbesondere die für die Verlängerung sprechenden Integrationsanstrengungen des Ausländers berücksichtigt, die durch einen positiven Bericht der Autonomen Gemeinschaft nachgewiesen werden müssen, der bescheinigt, dass der Betreffende die in Art. 2ter dieses Gesetzes vorgesehenen Schulungen besucht hat.“
12 Abs. 4 der Ersten Zusatzbestimmung des Real Decreto 2393/2004 por el que se aprueba el Reglamento de la Ley Orgánica 4/2000 (Königlicher Erlass 2393/2004 über die Genehmigung der Verordnung zur Durchführung der Ley Orgánica 4/2000) vom 30. Dezember 2004 (BOE Nr. 6 vom 7. Januar 2005, S. 485) sah vor:
„… [D]er Staatssekretär für Ein- und Auswanderung kann bei Vorliegen außergewöhnlicher, in dieser Regelung nicht vorgesehener Umstände auf vorherigen Bericht des Staatssekretärs für Sicherheit individuelle befristete Aufenthaltserlaubnisse erteilen.“
13 Nach den Art. 124 und 128 des Real Decreto 557/2011 por el que se aprueba el Reglamento de la Ley Orgánica 4/2000, tras su reforma por Ley Orgánica 2/2009 (Königlicher Erlass 557/2011 zur Genehmigung der Verordnung über die Ley Orgánica 4/2000 nach ihrer Neufassung durch die Ley Orgánica 2/2009) vom 20. April 2011 (BOE Nr. 103 vom 30. April 2011, S. 43821) kann wegen außergewöhnlicher, auf familiären Bindungen („arraigo familiar“) beruhender Umstände eine vorübergehende Aufenthaltserlaubnis beantragt werden, sofern der Antragsteller in Spanien und in den Ländern, in denen er sich zuvor aufgehalten hat, nicht wegen Taten, die in der spanischen Rechtsordnung mit Strafe bedroht sind, vorbestraft ist.
Ausgangsverfahren und Vorlagefrage
14 Herr Rendón Marín, ein kolumbianischer Staatsangehöriger, ist Vater zweier minderjähriger, in Málaga (Spanien) geborener Kinder – eines Jungen spanischer Staatsangehörigkeit und eines Mädchens polnischer Staatsangehörigkeit. Die Kinder haben sich durchgehend in Spanien aufgehalten.
15 Aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten ergibt sich, dass Herr Rendón Marín mit Entscheidung des Juzgado de Primera Instancia de Málaga (Erstinstanzliches Gericht von Málaga, Spanien) vom 13. Mai 2009 das Recht zugesprochen wurde, allein für die Kinder zu sorgen und diese bei sich unterzubringen. Der Wohnsitz der Mutter der Kinder, einer polnischen Staatsangehörigen, ist unbekannt. Dem Vorlagebeschluss zufolge wird ausreichend für die Kinder gesorgt, und sie erhalten eine angemessene Schulausbildung.
16 Herr Rendón Marín ist vorbestraft. Er wurde u. a. in Spanien zu einer Freiheitsstrafe von neun Monaten verurteilt. Deren Vollstreckung wurde jedoch ab dem 13. Februar 2009 für zwei Jahre vorläufig ausgesetzt. Zum Zeitpunkt der Vorlageentscheidung (20. März 2014) wartete Herr Rendón Marín auf eine Entscheidung über einen Antrag auf Löschung seiner Vorstrafen im Strafregister („cancelación“).
17 Am 18. Februar 2010 beantragte Herr Rendón Marín beim Generaldirektor für Einwanderung des Ministeriums für Arbeit und Einwanderung eine befristete Aufenthaltserlaubnis wegen außergewöhnlicher Umstände gemäß Abs. 4 der Ersten Zusatzbestimmung des Königlichen Erlasses 2393/2004.
18 Der Antrag wurde mit Bescheid vom 13. Juli 2010 gemäß Art. 31 Abs. 5 der Ley Orgánica 4/2000 wegen des Vorliegens von Vorstrafen abgelehnt.
19 Die von Herrn Rendón Marín dagegen erhobene Klage wurde von der Audiencia Nacional (Nationaler Gerichtshof, Spanien) mit Urteil vom 21. März 2012 abgewiesen, gegen das Herr Rendón Marín beim Tribunal Supremo (Oberster Gerichtshof, Spanien) ein Rechtsmittel einlegte.
20 Herr Rendón Marín stützte sein Rechtsmittel auf ein einziges rechtliches Vorbringen, nämlich eine falsche Auslegung der Urteile vom 19. Oktober 2004, Zhu und Chen (C‑200/02, EU:C:2004:639), und vom 8. März 2011, Ruiz Zambrano (C‑34/09, EU:C:2011:124), denen er entnimmt, dass die beantragte Aufenthaltserlaubnis hätte erteilt werden müssen, sowie auf einen Verstoß gegen Art. 31 Abs. 3 und 7 der Ley Orgánica 4/2000.
21 Das vorlegende Gericht führt aus, unabhängig von den konkreten Umständen des Ausgangsverfahrens müsse der Betreffende hier – wie in den Fällen, die den Urteilen vom 19. Oktober 2004, Zhu und Chen (C‑200/02, EU:C:2004:639), und vom 8. März 2011, Ruiz Zambrano (C‑34/09, EU:C:2011:124), zugrunde gelegen hätten – wegen der Weigerung, ihm in Spanien eine Aufenthaltserlaubnis zu erteilen, aus dem spanischen Hoheitsgebiet und daher auch aus dem Gebiet der Europäischen Union ausreisen, so dass auch die beiden von ihm abhängigen minderjährigen Kinder das Unionsgebiet verlassen müssten. Im Unterschied zu den Sachverhalten, die Gegenstand der Urteile vom 19. Oktober 2004, Zhu und Chen (C‑200/02, EU:C:2004:639), und vom 8. März 2011, Ruiz Zambrano (C‑34/09, EU:C:2011:124), gewesen seien, dürfe im vorliegenden Fall nach den einschlägigen nationalen Rechtsvorschriften bei Vorstrafen des Antragstellers in Spanien aber keine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden.
22 Folglich fragt sich das vorlegende Gericht, ob nationale Rechtsvorschriften, die die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis bei Vorstrafen im Antragsland ausnahmslos verbieten, auch wenn das unweigerlich bedeutet, dass einem minderjährigen, vom Antragsteller abhängigen Familienangehörigen, der Unionsbürger ist, sein Recht auf Aufenthalt im Unionsgebiet genommen wird, mit der im vorliegenden Fall angeführten Rechtsprechung des Gerichtshofs zu Art. 20 AEUV vereinbar ist.
23 Das Tribunal Supremo (Oberster Gerichtshof) hat das Verfahren daher ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:
Sind nationale Rechtsvorschriften, die die Möglichkeit, einem Elternteil eines von ihm abhängigen minderjährigen Unionsbürgers eine Aufenthaltserlaubnis zu erteilen, wegen des Vorliegens von Vorstrafen im Antragsland ausschließen, auch wenn das den Minderjährigen zur Ausreise aus dem Unionsgebiet zwingt, weil er den Elternteil begleiten muss, mit Art. 20 AEUV in dessen Auslegung durch die Urteile vom 19. Oktober 2004, Zhu und Chen (C‑200/02, EU:C:2004:639), und vom 8. März 2011, Ruiz Zambrano (C‑34/09, EU:C:2011:124), vereinbar?
Zum Fortbestand des Ausgangsrechtsstreits
24 Sowohl aus dem Wortlaut als auch aus dem Aufbau des Art. 267 AEUV folgt, dass das Vorabentscheidungsverfahren voraussetzt, dass bei den nationalen Gerichten tatsächlich ein Rechtsstreit anhängig ist, in dessen Rahmen sie eine Entscheidung erlassen müssen, bei der das Vorabentscheidungsurteil des Gerichtshofs berücksichtigt werden kann (Urteil vom 11. September 2008, UGT‑Rioja u. a., C‑428/06 bis C‑434/06, EU:C:2008:488, Rn. 39 und die dort angeführte Rechtsprechung). Folglich ist der Gerichtshof befugt, von Amts wegen zu prüfen, ob der Ausgangsrechtsstreit fortbesteht.
25 Im vorliegenden Fall ist Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits die Entscheidung, Herrn Rendón Marín keine befristete Erlaubnis zum Aufenthalt in Spanien zu erteilen. Beim Tribunal Supremo (Oberster Gerichtshof) ist nämlich ein Rechtsmittel gegen das Urteil der Audiencia Nacional (Nationaler Gerichtshof) vom 21. März 2012 eingelegt worden, mit dem die Klage gegen die Entscheidung, den Antrag von Herrn Rendón Marín auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis abzulehnen, abgewiesen worden war.
26 Aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten und den Angaben, die Herr Rendón Marín und die spanische Regierung in der mündlichen Verhandlung gemacht haben, ergibt sich jedoch, dass der Kläger des Ausgangsverfahrens, nachdem das Tribunal Supremo (Oberster Gerichtshof) das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen eingereicht hatte, bei der Vertretung der Regierung in Málaga zwei neue Anträge auf Erteilung einer befristeten Aufenthaltserlaubnis wegen außergewöhnlicher Umstände gestellt hat und dass dem zweiten Antrag stattgegeben wurde.
27 In der mündlichen Verhandlung hat die spanische Regierung nämlich mitgeteilt, dass Herrn Rendón Marín am 18. Februar 2015 von der Subdelegación del Gobierno en Málaga (Vertretung der Regierung in der Provinz Málaga, Spanien) eine befristete Aufenthaltserlaubnis erteilt worden sei. Wie Herr Rendón Marín hierzu mündlich erläutert hat, hat er diese befristete Aufenthaltserlaubnis gemäß den Art. 124 und 128 des Königlichen Erlasses 557/2011 wegen außergewöhnlicher, auf familiären Bindungen beruhender Umstände erhalten, weil seine Vorstrafen im Strafregister von der zuständigen spanischen Behörde getilgt worden waren („cancelación“).
28 Das vorlegende Gericht wurde daher darum ersucht, dem Gerichtshof mitzuteilen, ob es für seine Entscheidung eine Antwort des Gerichtshofs noch für notwendig erachte.
29 Mit Schreiben vom 9. März 2016 hat das vorlegende Gericht festgestellt, dass dem in der Verwaltungsklage gestellten Antrag auf Erteilung einer befristeten Aufenthaltserlaubnis durch die am 18. Februar 2015 ergangene Entscheidung der Vertretung der Regierung in der Provinz Málaga stattgegeben worden sei. Das vorlegende Gericht hat jedoch erklärt, dass es sein Vorabentscheidungsersuchen aufrechterhalte.
30 Die im Rahmen des Ausgangsverfahrens gestellten Anträge seien dadurch, dass Herrn Rendón Marín im Februar 2015 eine Aufenthaltserlaubnis erteilt worden sei, nämlich nicht in vollem Umfang erledigt. Wäre der Verwaltungsklage des Ausgangsverfahrens stattgegeben worden, wäre die angefochtene Entscheidung vom 13. Juli 2010, den Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis abzulehnen, für rechtswidrig erklärt worden, und eine daraufhin erteilte Aufenthaltserlaubnis hätte ab dem 13. Juli 2010 gegolten. Die Nichtigkeit der angefochtenen Entscheidung und die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis mit Wirkung ab dem 13. Juli 2010 könnten für den Kläger des Ausgangsverfahrens aber Folgen haben, die über die Erteilung der Aufenthaltserlaubnis als solche hinausgingen. Zu denken sei etwa an eine Entschädigung wegen des Verlusts von Arbeitsverträgen, Sozialleistungen oder Beiträgen zur Sozialversicherung oder unter Umständen auch des Rechts, die spanische Staatsangehörigkeit zu erwerben.
31 Somit ist festzustellen, dass der Ausgangsrechtsstreit beim vorlegenden Gericht nach wie vor anhängig ist und dass eine Antwort des Gerichtshofs auf die Vorlagefrage für die Entscheidung dieses Rechtsstreits nach wie vor von Nutzen ist.
32 Folglich ist über das Vorabentscheidungsersuchen zu entscheiden.
Zur Vorlagefrage
33 Im Rahmen des durch Art. 267 AEUV eingeführten Verfahrens der Zusammenarbeit zwischen den nationalen Gerichten und dem Gerichtshof ist es Sache des Gerichtshofs, dem nationalen Gericht eine für die Entscheidung des bei diesem anhängigen Verfahrens sachdienliche Antwort zu geben. Hierzu hat er die ihm vorgelegten Fragen gegebenenfalls umzuformulieren. Es ist nämlich Aufgabe des Gerichtshofs, alle Bestimmungen des Unionsrechts auszulegen, die die nationalen Gerichte benötigen, um die bei ihnen anhängigen Verfahren zu entscheiden, auch wenn die Bestimmungen in den dem Gerichtshof von diesen Gerichten vorgelegten Fragen nicht ausdrücklich genannt sind (vgl. u. a. Urteile vom 14. Oktober 2010, Fuß, C‑243/09, EU:C:2010:609, Rn. 39, vom 30. Mai 2013, Worten, C‑342/12, EU:C:2013:355, Rn. 30, und vom 19. September 2013, Betriu Montull, C‑5/12, EU:C:2013:571, Rn. 40).
34 Auch wenn das vorlegende Gericht seine Frage auf die Auslegung von Art. 20 AEUV beschränkt hat, hindert dies demnach den Gerichtshof nicht daran, dem Gericht alle Hinweise zur Auslegung des Unionsrechts zu geben, die für die Entscheidung des bei ihm anhängigen Verfahrens von Nutzen sein können, und zwar unabhängig davon, ob es bei seiner Fragestellung darauf Bezug genommen hat. Der Gerichtshof hat insoweit aus dem gesamten vom nationalen Gericht vorgelegten Material, insbesondere aus der Begründung der Vorlageentscheidung, diejenigen Elemente des Unionsrechts herauszuarbeiten, die unter Berücksichtigung des Gegenstands des Rechtsstreits einer Auslegung bedürfen (vgl. u. a. Urteile vom 14. Oktober 2010, Fuß, C‑243/09, EU:C:2010:609, Rn. 40, vom 30. Mai 2013, Worten, C‑342/12, EU:C:2013:355, Rn. 31, und vom 19. September 2013, Betriu Montull, C‑5/12, EU:C:2013:571, Rn. 41).
35 Die Vorlagefrage ist im Licht dieser Rechtsprechung und angesichts der Angaben im Vorlagebeschluss dahin umzuformulieren, dass das vorlegende Gericht wissen möchte, ob Art. 21 AEUV und die Richtlinie 2004/38 einerseits sowie Art. 20 AEUV andererseits dahin auszulegen sind, dass sie einer nationalen Regelung entgegenstehen, nach der einem vorbestraften Drittstaatsangehörigen eine Erlaubnis zum Aufenthalt im Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats automatisch zu verweigern ist, und zwar auch dann, wenn der Drittstaatsangehörige alleine für den Unterhalt von zwei minderjährigen Kindern aufkommt, die Unionsbürger sind und mit ihm seit ihrer Geburt in diesem Mitgliedstaat leben, ohne von ihrem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch gemacht zu haben, und die Verweigerung der Aufenthaltserlaubnis zur Folge hätte, dass die Kinder das Unionsgebiet verlassen müssen.
36 Insoweit ist zunächst darauf hinzuweisen, dass die etwaigen Rechte, die Drittstaatsangehörigen durch die unionsrechtlichen Bestimmungen über die Unionsbürgerschaft verliehen werden, keine eigenständigen Rechte sind, sondern Rechte, die sich daraus ableiten, dass ein Unionsbürger sein Recht auf Freizügigkeit und Aufenthalt ausgeübt hat (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 8. Mai 2013, Ymeraga u. a., C‑87/12, EU:C:2013:291, Rn. 35, vom 10. Oktober 2013, Alokpa und Moudoulou, C‑86/12, EU:C:2013:645, Rn. 22, und vom 12. März 2014, O. und B., C‑456/12, EU:C:2014:135, Rn. 36 und die dort angeführte Rechtsprechung). Ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht eines Drittstaatsangehörigen besteht grundsätzlich also nur dann, wenn es erforderlich ist, damit ein Unionsbürger seine Rechte auf Freizügigkeit und freien Aufenthalt in der Union effektiv ausüben kann.
37 Somit ist zu prüfen, ob einem Drittstaatsangehörigen wie Herrn Rendón Marín auf der Grundlage von Art. 21 AEUV und der Richtlinie 2004/38 oder auf der Grundlage von Art. 20 AEUV ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht zustehen kann und, wenn ja, ob seine Vorstrafen eine Einschränkung dieses Rechts rechtfertigen können.
Zu Art. 21 AEUV und der Richtlinie 2004/38
Zum Bestehen eines abgeleiteten Aufenthaltsrechts auf der Grundlage von Art. 21 AEUV und der Richtlinie 2004/38
38 Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 definiert als „Berechtigte“ der durch die Richtlinie gewährten Rechte „jeden Unionsbürger, der sich in einen anderen als den Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, begibt oder sich dort aufhält, sowie … seine Familienangehörigen im Sinne von Artikel 2 Nummer 2, die ihn begleiten oder ihm nachziehen“.
39 Herr Rendón Marín ist ein Drittstaatsangehöriger, der Vater von minderjährigen Unionsbürgern ist, für die er allein sorgeberechtigt ist und die sich durchgehend im selben Mitgliedstaat, dem Königreich Spanien, aufgehalten haben.
40 Der minderjährige Sohn von Herrn Rendón Marín hat nie von seinem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch gemacht. Er hat sich durchgehend in dem Mitgliedstaat aufgehalten, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt. Er fällt daher nicht unter den Begriff „Berechtigter“ im Sinne von Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38, so dass diese auf ihn keine Anwendung findet (Urteile vom 15. November 2011, Dereci u. a., C‑256/11, EU:C:2011:734, Rn. 57, und vom 6. Dezember 2012, O u. a., C‑356/11 und C‑357/11, EU:C:2012:776, Rn. 42).
41 Die minderjährige Tochter von Herrn Rendón Marín, die die polnische Staatsangehörigkeit besitzt und sich seit ihrer Geburt in Spanien aufhält, fällt hingegen unter den Begriff „Berechtigte“ im Sinne von Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38, wie die spanische, die hellenische, die italienische und die polnische Regierung sowie die Kommission geltend gemacht haben.
42 Der Gerichtshof hat nämlich entschieden, dass die Situation, in der sich im Aufnahmemitgliedstaat der Angehörige eines anderen Mitgliedstaats befindet, der im Aufnahmemitgliedstaat geboren wurde und vom Recht auf Freizügigkeit keinen Gebrauch gemacht hat, nicht allein aufgrund dieser Tatsache einer rein internen Situation gleichgestellt werden kann, in der dieser Staatsangehörige im Aufnahmemitgliedstaat die unionsrechtlichen Vorschriften über die Freizügigkeit und den Aufenthalt nicht geltend machen kann (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 19. Oktober 2004, Zhu und Chen, C‑200/02, EU:C:2004:639, Rn. 19).
43 Folglich kann sich die Tochter von Herrn Rendón Marín auf Art. 21 Abs. 1 AEUV und die zu seiner Durchführung erlassenen Vorschriften berufen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 19. Oktober 2004, Zhu und Chen, C‑200/02, EU:C:2004:639, Rn. 26).
44 Art. 21 Abs. 1 AEUV und die Richtlinie 2004/38 verleihen der Tochter von Herrn Rendón Marín also grundsätzlich ein Recht auf Aufenthalt in Spanien.
45 Dieses Recht der Unionsbürger zum Aufenthalt im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats als desjenigen, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzen, besteht nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs aber vorbehaltlich der im AEU-Vertrag und in dessen Durchführungsvorschriften vorgesehenen Beschränkungen und Bedingungen (Urteil vom 19. Oktober 2004, Zhu und Chen, C‑200/02, EU:C:2004:639, Rn. 26). Diese sind unter Einhaltung der unionsrechtlichen Grenzen und im Einklang mit den allgemeinen Grundsätzen des Unionsrechts, u. a. dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, anzuwenden (vgl. in diesem Sinne u. a. Urteile vom 17. September 2002, Baumbast und R, C‑413/99, EU:C:2002:493, Rn. 91, und vom 19. Oktober 2004, Zhu und Chen, C‑200/02, EU:C:2004:639, Rn. 32).
46 Zu den genannten Bedingungen ist festzustellen, dass jeder Unionsbürger das Recht auf Aufenthalt im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats als desjenigen, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, für einen Zeitraum von mehr als drei Monaten hat, wenn er insbesondere, im Einklang mit Art. 7 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2004/38, für sich und seine Familienangehörigen über ausreichende Existenzmittel verfügt, so dass sie während ihres Aufenthalts keine Sozialhilfeleistungen des Aufnahmemitgliedstaats in Anspruch nehmen müssen, und er und seine Familienangehörigen über einen umfassenden Krankenversicherungsschutz im Aufnahmemitgliedstaat verfügen.
47 Sofern die Tochter von Herrn Rendón Marín nicht gemäß Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 das Recht, sich auf Dauer in Spanien aufzuhalten, erworben hat, das dann nicht an die Voraussetzungen des Kapitels III und insbesondere von Art. 7 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie geknüpft wäre, kann ihr ein Recht auf Aufenthalt nur gewährt werden, wenn sie die Voraussetzungen von Art. 7 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie erfüllt.
48 Insoweit hat der Gerichtshof bereits entschieden, dass dem Unionsbürger zwar ausreichende Existenzmittel zur Verfügung stehen müssen, doch enthält das Unionsrecht in Bezug auf die Herkunft der Mittel keine Anforderungen, so dass sie auch von einem Drittstaatsangehörigen, der Elternteil der betreffenden minderjährigen Unionsbürger ist, stammen können (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 19. Oktober 2004, Zhu und Chen, C‑200/02, EU:C:2004:639, Rn. 30, und vom 10. Oktober 2013, Alokpa und Moudoulou, C‑86/12, EU:C:2013:645, Rn. 27).
49 Im vorliegenden Fall geht aus dem Vorlagebeschluss hervor, dass für die Kinder von Herrn Rendón Marín ausreichend gesorgt wird und dass sie eine angemessene Schulausbildung erhalten. Die spanische Regierung hat darüber hinaus in der mündlichen Verhandlung angegeben, dass Herr Rendón Marín gemäß den spanischen Rechtsvorschriften über eine Krankenversicherung für sich und seine Kinder verfüge. Dennoch wird das vorlegende Gericht festzustellen haben, ob die Tochter von Herrn Rendón Marín – entweder selbst oder über ihren Vater – über ausreichende Existenzmittel und einen umfassenden Krankenversicherungsschutz im Sinne von Art. 7 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2004/38 verfügt.
50 In Bezug auf die Frage, ob Herrn Rendón Marín, einem Drittstaatsangehörigen, als Verwandtem in gerader aufsteigender Linie einer nach der Richtlinie 2004/38 über ein Aufenthaltsrecht verfügenden Unionsbürgerin ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht zusteht, ist der Rechtsprechung des Gerichtshofs zu entnehmen, dass sich die Eigenschaft als Familienangehöriger, dem der aufenthaltsberechtigte Unionsbürger „Unterhalt gewährt“, aus einer tatsächlichen Situation ergibt, die dadurch gekennzeichnet ist, dass der Familienangehörige vom Aufenthaltsberechtigten materiell unterstützt wird, so dass sich bei der hier vorliegenden umgekehrten Situation, in der dem Aufenthaltsberechtigten von einem Drittstaatsangehörigen Unterhalt gewährt wird, Letzterer nicht auf die Eigenschaft als Verwandter in aufsteigender Linie, dem der Aufenthaltsberechtigte „Unterhalt gewährt“, im Sinne der Richtlinie 2004/38 berufen kann, um in den Genuss eines Aufenthaltsrechts im Aufnahmemitgliedstaat zu gelangen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 10. Oktober 2013, Alokpa und Moudoulou, C‑86/12, EU:C:2013:645, Rn. 25).
51 Würde aber dem für einen minderjährigen Unionsbürger tatsächlich das Sorgerecht wahrnehmenden Elternteil, der Staatsangehöriger eines Drittstaats ist, nicht erlaubt, sich mit dem Unionsbürger im Aufnahmemitgliedstaat aufzuhalten, so würde dem Aufenthaltsrecht des Unionsbürgers jede praktische Wirksamkeit genommen, da der Genuss des Aufenthaltsrechts durch ein minderjähriges Kind notwendigerweise voraussetzt, dass sich die für das Kind tatsächlich sorgende Person bei ihm aufhalten darf und dass es demgemäß dieser Person ermöglicht wird, während des Aufenthalts mit dem Kind zusammen im Aufnahmemitgliedstaat zu wohnen (vgl. Urteile vom 19. Oktober 2004, Zhu und Chen, C‑200/02, EU:C:2004:639, Rn. 45, und vom 10. Oktober 2013, Alokpa und Moudoulou, C‑86/12, EU:C:2013:645, Rn. 28).
52 Verleihen Art. 21 AEUV und die Richtlinie 2004/38 dem minderjährigen Angehörigen eines anderen Mitgliedstaats, der die in Art. 7 Abs. 1 Buchst. b dieser Richtlinie aufgestellten Voraussetzungen erfüllt, ein Aufenthaltsrecht im Aufnahmemitgliedstaat, erlauben dieselben Vorschriften es somit dem Elternteil, der für diesen Staatsangehörigen tatsächlich sorgt, sich mit ihm im Aufnahmemitgliedstaat aufzuhalten (Urteile vom 19. Oktober 2004, Zhu und Chen, C‑200/02, EU:C:2004:639, Rn. 46 und 47, und vom 10. Oktober 2013, Alokpa und Moudoulou, C‑86/12, EU:C:2013:645, Rn. 29).
53 Sofern nicht der oben in Rn. 47 angesprochene Fall vorliegt, wird das vorlegende Gericht – wie oben in Rn. 49 ausgeführt – zu prüfen haben, ob die Tochter von Herrn Rendón Marín die Voraussetzungen von Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 für ein Recht auf Aufenthalt in Spanien auf der Grundlage von Art. 21 AEUV und der Richtlinie erfüllt. Wenn ja, wären Art. 21 AEUV und die Richtlinie dahin auszulegen, dass es grundsätzlich nicht mit ihnen vereinbar ist, Herrn Rendón Marín ein abgeleitetes Recht auf Aufenthalt im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats zu verwehren.
Zu den Auswirkungen der Vorstrafen auf die Anerkennung eines abgeleiteten Aufenthaltsrechts im Hinblick auf die Art. 27 und 28 der Richtlinie 2004/38
54 Es bleibt zu prüfen, ob ein etwaiges abgeleitetes Aufenthaltsrecht von Herrn Rendón Marín durch eine nationale Regelung wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende eingeschränkt werden kann.
55 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen auf Aufenthalt in der Union nicht uneingeschränkt besteht, sondern den im Vertrag und in den Bestimmungen zu seiner Durchführung vorgesehenen Beschränkungen und Bedingungen unterworfen werden darf (vgl. u. a. Urteil vom 10. Juli 2008, Jipa, C‑33/07, EU:C:2008:396, Rn. 21 und die dort angeführte Rechtsprechung).
56 Nach dem 23. Erwägungsgrund der Richtlinie 2004/38 ist die Ausweisung von Unionsbürgern und ihren Familienangehörigen aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit eine Maßnahme, die Personen, die ihre Rechte und Freiheiten aus dem Vertrag in Anspruch genommen haben und vollständig in den Aufnahmemitgliedstaat integriert sind, sehr schaden kann. Aus diesem Grund wird mit der Richtlinie 2004/38, wie aus ihrem 24. Erwägungsgrund hervorgeht, eine auf das Maß der Integration der betreffenden Personen im Aufnahmemitgliedstaat abstellende Regelung zum Schutz vor Ausweisungsmaßnahmen geschaffen; dieser ist umso stärker, je besser die Unionsbürger und ihre Familienangehörigen in den Aufnahmemitgliedstaat integriert sind (Urteil vom 23. November 2010, Tsakouridis, C‑145/09, EU:C:2010:708, Rn. 24 und 25).
57 In Bezug auf das Ausgangsverfahren ergeben sich die Beschränkungen des Aufenthaltsrechts insbesondere aus Art. 27 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38, wonach die Mitgliedstaaten das Aufenthaltsrecht der Unionsbürger oder ihrer Familienangehörigen ungeachtet ihrer Staatsangehörigkeit insbesondere aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit beschränken dürfen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 10. Juli 2008, Jipa, C‑33/07, EU:C:2008:396, Rn. 22).
58 Nach ständiger Rechtsprechung stellt die Ausnahme der öffentlichen Ordnung eine Abweichung vom Aufenthaltsrecht der Unionsbürger oder ihrer Familienangehörigen dar, die eng auszulegen ist und deren Tragweite nicht einseitig von den Mitgliedstaaten bestimmt werden darf (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 4. Dezember 1974, van Duyn, 41/74, EU:C:1974:133, Rn. 18, vom 27. Oktober 1977, Bouchereau, 30/77, EU:C:1977:172, Rn. 33, vom 29. April 2004, Orfanopoulos und Oliveri, C‑482/01 und C‑493/01, EU:C:2004:262, Rn. 65, vom 27. April 2006, Kommission/Deutschland, C‑441/02, EU:C:2006:253, Rn. 34, und vom 7. Juni 2007, Kommission/Niederlande, C‑50/06, EU:C:2007:325, Rn. 42).
59 Nach Art. 27 Abs. 2 Unterabs. 1 der Richtlinie 2004/38 muss bei Maßnahmen, mit denen das Aufenthaltsrecht eines Unionsbürgers oder eines seiner Familienangehörigen eingeschränkt wird, insbesondere solchen aus Gründen der öffentlichen Ordnung, der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gewahrt werden und darf ausschließlich das persönliche Verhalten des Betroffenen ausschlaggebend sein.
60 Hinzu kommt, dass in Art. 27 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38 hervorgehoben wird, dass vorangegangene strafrechtliche Verurteilungen allein Maßnahmen aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit nicht begründen können, dass das Verhalten der betreffenden Person eine tatsächliche, gegenwärtige Gefahr darstellen muss, die ein Grundinteresse der Gesellschaft oder des betroffenen Mitgliedstaats berührt, und dass vom Einzelfall losgelöste oder auf Generalprävention verweisende Begründungen nicht zulässig sind (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 10. Juli 2008, Jipa, C‑33/07, EU:C:2008:396, Rn. 23 und 24, und vom 23. November 2010, Tsakouridis, C‑145/09, EU:C:2010:708, Rn. 48).
61 Folglich steht das Unionsrecht einer Einschränkung des Aufenthaltsrechts entgegen, die auf generalpräventive Gesichtspunkte gestützt und zur Abschreckung anderer Ausländer verfügt wird, zumal wenn diese Maßnahme im Anschluss an eine strafrechtliche Verurteilung automatisch verfügt wird, ohne das persönliche Verhalten des Täters oder die von ihm ausgehende Gefährdung der öffentlichen Ordnung zu berücksichtigen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 27. April 2006, Kommission/Deutschland, C‑441/02, EU:C:2006:253, Rn. 93 und die dort angeführte Rechtsprechung).
62 Bei der Beurteilung der Frage, ob eine Ausweisung in angemessenem Verhältnis zu dem verfolgten Ziel, hier dem Schutz der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit, steht, sind also die in Art. 28 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 genannten Kriterien zu berücksichtigen: die Dauer des Aufenthalts des Betroffenen im Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats, sein Alter, sein Gesundheitszustand, seine familiäre und wirtschaftliche Lage, seine soziale und kulturelle Integration im Aufnahmemitgliedstaat und das Ausmaß seiner Bindungen zum Herkunftsstaat. Im Rahmen des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit ist ferner der Schweregrad der Zuwiderhandlung zu berücksichtigen.
63 Die Regelung, um die es im Ausgangsverfahren geht, macht die Erteilung einer ersten Aufenthaltserlaubnis aber automatisch und ausnahmslos vom Fehlen von Vorstrafen in Spanien oder in den Ländern, in denen sich der Betreffende zuvor aufgehalten hat, abhängig.
64 Im konkreten Fall wurde der Antrag von Herrn Rendón Marín vom 18. Februar 2010 auf Erteilung einer befristeten Aufenthaltserlaubnis wegen außergewöhnlicher Umstände nach den Angaben im Vorlagebeschluss aufgrund des Vorliegens von Vorstrafen zurückgewiesen. Die beantragte Aufenthaltserlaubnis wurde demnach automatisch abgelehnt, ohne die besondere Lage des Klägers des Ausgangsverfahrens zu berücksichtigen, d. h. ohne Bewertung seines persönlichen Verhaltens oder der etwaigen aktuellen Gefahr, die er für die öffentliche Ordnung oder Sicherheit darstellen könnte.
65 Was die Beurteilung der relevanten Umstände des vorliegenden Falls angeht, ergibt sich aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten, dass Herr Rendón Marín wegen eines 2005 begangenen Vergehens verurteilt wurde. Eine solche strafrechtliche Verurteilung kann allein nicht die Verweigerung einer Aufenthaltserlaubnis begründen. Das Verhalten des Betroffenen muss eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr darstellen, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt. Der Gerichtshof hat hervorgehoben, dass die Voraussetzung des Vorliegens einer gegenwärtigen Gefahr grundsätzlich zu dem Zeitpunkt erfüllt sein muss, zu dem die fragliche Maßnahme erfolgt (vgl. u. a. Urteil vom 27. Oktober 1977, Bouchereau, 30/77, EU:C:1977:172, Rn. 28). Dies ist hier offenbar nicht der Fall, da die gegen Herrn Rendón Marín verhängte Freiheitsstrafe ausgesetzt wurde und nicht vollzogen worden zu sein scheint.
66 Was im Übrigen die etwaige Ausweisung von Herrn Rendón Marín angeht, ist den Grundrechten Rechnung zu tragen, deren Beachtung der Gerichtshof sichert, insbesondere dem in Art. 7 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) niedergelegten Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 23. November 2010, Tsakouridis, C‑145/09, EU:C:2010:708, Rn. 52), und der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu beachten. Art. 7 der Charta ist in Verbindung mit der Verpflichtung zu sehen, das Wohl des Kindes zu berücksichtigen, wie es in Art. 24 Abs. 2 der Charta anerkannt ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 23. Dezember 2009, Detiček, C‑403/09 PPU, EU:C:2009:810, Rn. 53 und 54).
67 Nach alledem ist festzustellen, dass Art. 21 AEUV und die Richtlinie 2004/38 dahin auszulegen sind, dass sie einer nationalen Regelung entgegenstehen, nach der einem Drittstaatsangehörigen, der Elternteil eines minderjährigen Kindes ist, das Unionsbürger ist, dem er Unterhalt gewährt und das mit ihm im Aufnahmemitgliedstaat lebt, allein wegen des Vorliegens von Vorstrafen eine Aufenthaltserlaubnis automatisch zu verweigern ist.
Zu Art. 20 AEUV
Zum Bestehen eines abgeleiteten Aufenthaltsrechts gemäß Art. 20 AEUV
68 Für den Fall, dass das vorlegende Gericht bei der Prüfung der Voraussetzungen von Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 zu dem Schluss gelangen sollte, dass diese nicht erfüllt sind, und jedenfalls in Bezug auf den Sohn von Herrn Rendón Marín, einen Minderjährigen, der durchgehend in dem Mitgliedstaat gelebt hat, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, ist zu prüfen, ob Art. 20 AEUV gegebenenfalls ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht für Herrn Rendón Marín zu begründen vermag.
69 Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs verleiht Art. 20 AEUV jeder Person, die die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzt, den Status eines Unionsbürgers, der dazu bestimmt ist, der grundlegende Status der Angehörigen der Mitgliedstaaten zu sein (vgl. Urteil vom 30. Juni 2016, NA, C‑115/15, EU:C:2016:487, Rn. 70 und die dort angeführte Rechtsprechung).
70 Die Unionsbürgerschaft verleiht jedem Unionsbürger das elementare, persönliche Recht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten vorbehaltlich der im Vertrag vorgesehenen Beschränkungen und Bedingungen und der Maßnahmen zu ihrer Durchführung frei zu bewegen und aufzuhalten (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 7. Oktober 2010, Lassal, C‑162/09, EU:C:2010:592, Rn. 29, und vom 16. Oktober 2012, Ungarn/Slowakei, C‑364/10, EU:C:2012:630, Rn. 43).
71 Wie der Gerichtshof in Rn. 42 des Urteils vom 8. März 2011, Ruiz Zambrano (C‑34/09, EU:C:2011:124), festgestellt hat, steht Art. 20 AEUV nationalen Maßnahmen entgegen, die bewirken, dass den Unionsbürgern der tatsächliche Genuss des Kernbestands der Rechte, die ihnen der Unionsbürgerstatus verleiht, verwehrt wird.
72 Die Vertragsbestimmungen über die Unionsbürgerschaft verleihen Drittstaatsangehörigen dagegen keine eigenständigen Rechte (Urteile vom 8. November 2012, Iida, C‑40/11, EU:C:2012:691, Rn. 66, und vom 8. Mai 2013, Ymeraga u. a., C‑87/12, EU:C:2013:291, Rn. 34).
73 Wie bereits oben in Rn. 36 ausgeführt, sind nämlich die etwaigen Rechte, die die Vertragsbestimmungen über die Unionsbürgerschaft den Drittstaatsangehörigen verleihen, nicht deren eigene Rechte, sondern aus den Rechten des Unionsbürgers abgeleitete. Ihr Zweck und ihre Rechtfertigung beruhen auf der Feststellung, dass ihre Nichtanerkennung den Unionsbürger insbesondere in seiner Freizügigkeit beeinträchtigen könnte (Urteile vom 8. November 2012, Iida, C‑40/11, EU:C:2012:691, Rn. 67 und 68, und vom 8. Mai 2013, Ymeraga u. a., C‑87/12, EU:C:2013:291, Rn. 35).
74 Insoweit hat der Gerichtshof bereits entschieden, dass es ganz besondere Sachverhalte gibt, in denen – obwohl das für das Aufenthaltsrecht von Drittstaatsangehörigen geltende Sekundärrecht nicht anwendbar ist und der betreffende Unionsbürger sein Recht auf Freizügigkeit nicht ausgeübt hat – einem Drittstaatsangehörigen, der Familienangehöriger des Unionsbürgers ist, dennoch ein Aufenthaltsrecht eingeräumt werden muss, da sonst die Unionsbürgerschaft ihrer praktischen Wirksamkeit beraubt würde, wenn sich der Unionsbürger infolge der Verweigerung des Aufenthaltsrechts de facto gezwungen sähe, das Gebiet der Union als Ganzes zu verlassen, und ihm dadurch der tatsächliche Genuss des Kernbestands der Rechte, die ihm dieser Status verleiht, verwehrt würde (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 8. März 2011, Ruiz Zambrano, C‑34/09, EU:C:2011:124, Rn. 43 und 44, vom 15. November 2011, Dereci u. a., C‑256/11, EU:C:2011:734, Rn. 66 und 67, vom 8. November 2012, Iida, C‑40/11, EU:C:2012:691, Rn. 71, vom 8. Mai 2013, Ymeraga u. a., C‑87/12, EU:C:2013:291, Rn. 36, und vom 10. Oktober 2013, Alokpa und Moudoulou, C‑86/12, EU:C:2013:645, Rn. 32).
75 Kennzeichnend für die genannten Fälle ist, dass sie, auch wenn sie durch Rechtsvorschriften geregelt sind, die a priori in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten fallen, und zwar durch die Rechtsvorschriften über das Einreise- und Aufenthaltsrecht von Drittstaatsangehörigen außerhalb des Anwendungsbereichs des Sekundärrechts, die unter bestimmten Voraussetzungen die Verleihung eines Einreise- und Aufenthaltsrechts vorsehen, in einem inneren Zusammenhang mit der Freizügigkeit und dem Aufenthaltsrecht eines Unionsbürgers stehen, die beeinträchtigt würden, wenn den Drittstaatsangehörigen das Recht verweigert würde, in den Mitgliedstaat, in dem der Unionsbürger wohnt, einzureisen und sich dort aufzuhalten, und die daher der Versagung dieses Rechts entgegenstehen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 8. November 2012, Iida, C‑40/11, EU:C:2012:691, Rn. 72, und vom 8. Mai 2013, Ymeraga u. a., C‑87/12, EU:C:2013:291, Rn. 37).
76 Im vorliegenden Fall haben die Kinder von Herrn Rendón Marín, da sie die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzen, nämlich die spanische bzw. polnische, den Status von Unionsbürgern (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 2. Oktober 2003, Garcia Avello, C‑148/02, EU:C:2003:539, Rn. 21, und vom 19. Oktober 2004, Zhu und Chen, C‑200/02, EU:C:2004:639, Rn. 25).
77 Als Unionsbürger haben sie mithin das Recht, sich im Unionsgebiet frei zu bewegen und aufzuhalten, und alle Beschränkungen dieses Rechts fallen in den Anwendungsbereich des Unionsrechts.
78 Müsste Herr Rendón Marín, dem das alleinige Sorgerecht für die Kinder übertragen wurde, das Unionsgebiet als Drittstaatsangehöriger wegen der Verweigerung seines Aufenthalts verlassen, was das vorlegende Gericht zu prüfen haben wird, könnte sich daraus eine Beschränkung des genannten Rechts und insbesondere des Aufenthaltsrechts ergeben, da die Kinder gezwungen sein könnten, Herrn Rendón Marín zu begleiten und damit das Unionsgebiet als Ganzes zu verlassen. Durch die etwaige Verpflichtung ihres Vaters, das Unionsgebiet zu verlassen, würde den Kindern also der tatsächliche Genuss des Kernbestands der Rechte, die ihnen der Status als Unionsbürger verleiht, verwehrt (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 15. November 2011, Dereci u. a., C‑256/11, EU:C:2011:734, Rn. 67, vom 8. November 2012, Iida, C‑40/11, EU:C:2012:691, Rn. 71, vom 8. Mai 2013, Ymeraga u. a., C‑87/12, EU:C:2013:291, Rn. 36, und vom 10. Oktober 2013, Alokpa und Moudoulou, C‑86/12, EU:C:2013:645, Rn. 32).
79 Mehrere Mitgliedstaaten, die Erklärungen eingereicht haben, haben geltend gemacht, Herr Rendón Marín und seine Kinder könnten sich nach Polen, den Mitgliedstaat der Staatsangehörigkeit seiner Tochter, begeben. Herr Rendón Marín hat in der mündlichen Verhandlung erklärt, dass er zur Familie der Mutter seiner Tochter, die nicht in Polen lebe, keinen Kontakt habe und dass weder er noch seine Kinder Polnisch könnten. Insoweit wird das vorlegende Gericht zu prüfen haben, ob in Anbetracht sämtlicher Umstände des Ausgangsverfahrens Herrn Rendón Marín als dem Elternteil, der allein tatsächlich für die Kinder sorgt, gegebenenfalls ein abgeleitetes Recht zusteht, die Kinder in das polnische Hoheitsgebiet zu begleiten und sich mit ihnen dort aufzuhalten, so dass die Weigerung der spanischen Behörden, ihm ein Aufenthaltsrecht zu gewähren, nicht zur Folge hätte, dass die Kinder gezwungen wären, das Gebiet der Union als Ganzes zu verlassen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 10. Oktober 2013, Alokpa und Moudoulou, C‑86/12, EU:C:2013:645, Rn. 34 und 35).
80 Vorbehaltlich der oben in den Rn. 78 und 79 genannten Überprüfungen kann die Situation, die Gegenstand des Ausgangsverfahrens ist, nach den Informationen, über die der Gerichtshof verfügt, dazu führen, dass den Kindern von Herrn Rendón Marín der tatsächliche Genuss des Kernbestands der Rechte, die ihnen der Status als Unionsbürger verleiht, verwehrt wird, so dass sie in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fällt.
Zur Möglichkeit der Beschränkung eines aus Art. 20 AEUV abgeleiteten Aufenthaltsrechts
81 Art. 20 AEUV lässt die Möglichkeit der Mitgliedstaaten unberührt, sich u. a. auf eine Ausnahme wegen der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit zu berufen. Da die Situation von Herrn Rendón Marín aber in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fällt, ist bei ihrer Beurteilung das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens gemäß Art. 7 der Charta zu berücksichtigen, wobei dieser Artikel im Zusammenhang mit der Verpflichtung zu sehen ist, das Wohl des Kindes, wie es in Art. 24 Abs. 2 der Charta anerkannt ist, zu berücksichtigen (siehe oben, Rn. 66).
82 Im Übrigen sind die Begriffe „öffentliche Ordnung“ und „öffentliche Sicherheit“ als Rechtfertigung für eine Abweichung vom Aufenthaltsrecht der Unionsbürger oder ihrer Familienangehörigen eng auszulegen, so dass ihre Tragweite nicht ohne Kontrolle durch die Organe der Union einseitig von den Mitgliedstaaten bestimmt werden darf (siehe oben, Rn. 58).
83 Dabei hat der Gerichtshof entschieden, dass der Begriff „öffentliche Ordnung“ jedenfalls voraussetzt, dass außer der Störung der sozialen Ordnung, die jeder Gesetzesverstoß darstellt, eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr vorliegt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt. Zum Begriff „öffentliche Sicherheit“ geht aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs hervor, dass er sowohl die innere als auch die äußere Sicherheit eines Mitgliedstaats umfasst, so dass die Beeinträchtigung des Funktionierens der Einrichtungen des Staates und seiner wichtigen öffentlichen Dienste sowie das Überleben der Bevölkerung ebenso wie die Gefahr einer erheblichen Störung der auswärtigen Beziehungen oder des friedlichen Zusammenlebens der Völker oder eine Beeinträchtigung der militärischen Interessen die öffentliche Sicherheit berühren können (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 23. November 2010, Tsakouridis, C‑145/09, EU:C:2010:708, Rn. 43 und 44, und vom 15. Februar 2016, N., C‑601/15 PPU, EU:C:2016:84, Rn. 65 und 66).
84 In diesem Kontext ist davon auszugehen, dass die Verweigerung des Aufenthaltsrechts wegen des Vorliegens einer tatsächlichen, gegenwärtigen und erheblichen Gefahr für die öffentliche Ordnung oder Sicherheit aufgrund der Straftaten, die ein für Kinder, die Unionsbürger sind, allein sorgeberechtigter Drittstaatsangehöriger begangen hat, mit dem Unionsrecht vereinbar ist.
85 Ein solcher Schluss kann jedoch nicht automatisch allein auf der Grundlage der Vorstrafen des Betroffenen gezogen werden. Vorausgehen muss stets eine konkrete Beurteilung sämtlicher aktuellen, relevanten Umstände des Einzelfalls durch das vorlegende Gericht unter Berücksichtigung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit, des Wohls des Kindes und der Grundrechte, deren Beachtung der Gerichtshof sichert.
86 Bei dieser Beurteilung sind daher u. a. das persönliche Verhalten des Betroffenen, die Dauer und Rechtmäßigkeit seines Aufenthalts im Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats, die Art und Schwere der begangenen Straftat, der Grad der gegenwärtigen Gefährlichkeit des Betroffenen für die Gesellschaft, das Alter der Kinder und ihr Gesundheitszustand sowie ihre familiäre und wirtschaftliche Situation zu berücksichtigen.
87 Folglich ist Art. 20 AEUV dahin auszulegen, dass er einer nationalen Regelung entgegensteht, nach der einem Drittstaatsangehörigen, der Vater von minderjährigen Kindern ist, die Unionsbürger sind und für die er allein sorgt, allein wegen des Vorliegens von Vorstrafen eine Aufenthaltserlaubnis automatisch zu verweigern ist, sofern die Verweigerung der Aufenthaltserlaubnis zur Folge hat, dass die Kinder das Unionsgebiet verlassen müssen.
88 Nach alledem ist auf die Vorlagefrage wie folgt zu antworten:
—
Art. 21 AEUV und die Richtlinie 2004/38 sind dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Regelung entgegenstehen, nach der einem Drittstaatsangehörigen, der Elternteil eines minderjährigen Kindes ist, das Unionsbürger mit der Staatsangehörigkeit eines anderen Mitgliedstaats als des Aufnahmemitgliedstaats ist, dem er Unterhalt gewährt und das mit ihm im Aufnahmemitgliedstaat lebt, allein wegen des Vorliegens von Vorstrafen eine Aufenthaltserlaubnis automatisch zu verweigern ist.
—
Art. 20 AEUV ist dahin auszulegen, dass er einer solchen nationalen Regelung, nach der einem Drittstaatsangehörigen, der Vater von minderjährigen Kindern ist, die Unionsbürger sind und für die er allein sorgt, allein wegen des Vorliegens von Vorstrafen eine Aufenthaltserlaubnis automatisch zu verweigern ist, entgegensteht, sofern die Verweigerung der Aufenthaltserlaubnis zur Folge hat, dass die Kinder das Unionsgebiet verlassen müssen.
Kosten
89 Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Große Kammer) für Recht erkannt:
Art. 21 AEUV und die Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 und zur Aufhebung der Richtlinien 64/221/EWG, 68/360/EWG, 72/194/EWG, 73/148/EWG, 75/34/EWG, 75/35/EWG, 90/364/EWG, 90/365/EWG und 93/96/EWG sind dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Regelung entgegenstehen, nach der einem Drittstaatsangehörigen, der Elternteil eines minderjährigen Kindes ist, das Unionsbürger mit der Staatsangehörigkeit eines anderen Mitgliedstaats als des Aufnahmemitgliedstaats ist, dem er Unterhalt gewährt und das mit ihm im Aufnahmemitgliedstaat lebt, allein wegen des Vorliegens von Vorstrafen eine Aufenthaltserlaubnis automatisch zu verweigern ist.
Art. 20 AEUV ist dahin auszulegen, dass er einer solchen nationalen Regelung, nach der einem Drittstaatsangehörigen, der Vater von minderjährigen Kindern ist, die Unionsbürger sind und für die er allein sorgt, allein wegen des Vorliegens von Vorstrafen eine Aufenthaltserlaubnis automatisch zu verweigern ist, entgegensteht, sofern die Verweigerung der Aufenthaltserlaubnis zur Folge hat, dass die Kinder das Unionsgebiet verlassen müssen.
Unterschriften
(*1) Verfahrenssprache: Spanisch.
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Urteil des Gerichtshofs (Große Kammer) vom 6. Oktober 2015.#Dragoș Constantin Târșia gegen Statul român und Serviciul public comunitar regim permise de conducere si inmatriculare a autovehiculelor.#Vorabentscheidungsersuchen des Tribunalul Sibiu.#Vorlage zur Vorabentscheidung – Grundsätze der Äquivalenz und der Effektivität – Rechtskraft – Rückforderung zu viel gezahlter Beträge – Erstattung der von einem Mitgliedstaat unter Verstoß gegen das Unionsrecht erhobenen Steuern – Rechtskräftige gerichtliche Entscheidung, mit der die Zahlung einer mit dem Unionsrecht unvereinbaren Steuer auferlegt wird – Antrag auf Wiederaufnahme bezüglich einer solchen gerichtlichen Entscheidung – Nationale Rechtsvorschriften, die die Wiederaufnahme im Hinblick auf in Vorabentscheidungsverfahren ergangene spätere Urteile des Gerichtshofs ausschließlich für in Verwaltungssachen ergangene rechtskräftige gerichtliche Entscheidungen ermöglichen.#Rechtssache C-69/14.
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62014CJ0069
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ECLI:EU:C:2015:662
| 2015-10-06T00:00:00 |
Gerichtshof, Jääskinen
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Sammlung der Rechtsprechung – allgemein
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62014CJ0069
URTEIL DES GERICHTSHOFS (Große Kammer)
6. Oktober 2015 (*
)
„Vorlage zur Vorabentscheidung — Grundsätze der Äquivalenz und der Effektivität — Rechtskraft — Rückforderung zu viel gezahlter Beträge — Erstattung der von einem Mitgliedstaat unter Verstoß gegen das Unionsrecht erhobenen Steuern — Rechtskräftige gerichtliche Entscheidung, mit der die Zahlung einer mit dem Unionsrecht unvereinbaren Steuer auferlegt wird — Antrag auf Wiederaufnahme bezüglich einer solchen gerichtlichen Entscheidung — Nationale Rechtsvorschriften, die die Wiederaufnahme im Hinblick auf in Vorabentscheidungsverfahren ergangene spätere Urteile des Gerichtshofs ausschließlich für in Verwaltungssachen ergangene rechtskräftige gerichtliche Entscheidungen ermöglichen“
In der Rechtssache C‑69/14
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Tribunal Sibiu (Landgericht Sibiu, Rumänien) mit Entscheidung vom 16. Januar 2014, beim Gerichtshof eingegangen am 10. Februar 2014, in dem Verfahren
Dragoș Constantin Târșia
gegen
Statul român,
Serviciul public comunitar regim permise de conducere și înmatriculare a autovehiculelor
erlässt
DER GERICHTSHOF (Große Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten V. Skouris, des Vizepräsidenten K. Lenaerts, der Kammerpräsidenten M. Ilešič (Berichterstatter), L. Bay Larsen, T. von Danwitz, A. Ó Caoimh und J.‑C. Bonichot, des Richters A. Arabadjiev, der Richterinnen C. Toader, M. Berger und A. Prechal sowie der Richter E. Jarašiūnas und C. G. Fernlund,
Generalanwalt: N. Jääskinen,
Kanzler: L. Carrasco Marco, Verwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 27. Januar 2015,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
—
von Herrn Târșia, vertreten durch sich selbst,
—
der rumänischen Regierung, vertreten durch R. Radu, V. Angelescu und D. Bulancea als Bevollmächtigte,
—
der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna, B. Czech und K. Pawłowska als Bevollmächtigte,
—
der Europäischen Kommission, vertreten durch R. Lyal und G.‑D. Bălan als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 23. April 2015
folgendes
Urteil
1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 110 AEUV, von Art. 6 EUV, der Art. 17, 20, 21 und 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union sowie allgemeiner Grundsätze des Unionsrechts.
2 Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Herrn Târşia auf der einen und dem Statul român (rumänischer Staat), vertreten durch das Ministerul Finanţelor şi Economiei (Ministerium für Finanzen und Wirtschaft), sowie dem Serviciul public comunitar regim permise de conducere şi înmatriculare a autovehiculelor (Amt für öffentliche Angelegenheiten, Referat Fahrerlaubnisse und Fahrzeugzulassungen) auf der anderen Seite wegen eines Antrags auf Wiederaufnahme bezüglich einer rechtskräftigen Entscheidung eines nationalen Gerichts, mit der Herrn Târşia die Zahlung einer Steuer auferlegt wurde, die später für mit dem Unionsrecht unvereinbar erklärt wurde.
Rumänisches Recht
3 Art. 21 des Gesetzes Nr. 554/2004 über das verwaltungsgerichtliche Verfahren (Legea contenciosului administrativ nr. 554/2004) vom 2. Dezember 2004 (Monitorul Oficial al României, Teil I, Nr. 1154 vom 7. Dezember 2004, im Folgenden: Gesetz über das verwaltungsgerichtliche Verfahren) in der zum Zeitpunkt der Stellung des Wiederaufnahmeantrags geltenden Fassung sah vor:
„(1) Gegen rechtskräftige und unwiderrufliche Entscheidungen der Verwaltungsgerichte sind die nach der Zivilprozessordnung vorgesehenen Rechtsbehelfe statthaft.
(2) Die Verkündung rechtskräftiger und unwiderruflicher Entscheidungen unter Verstoß gegen den in Art. 148 Abs. 2 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 2 der neu bekannt gemachten Verfassung Rumäniens normierten Grundsatz des Vorrangs des [Unions]rechts stellt einen Wiederaufnahmegrund dar, der neben die in der Zivilprozessordnung geregelten Wiederaufnahmegründe tritt. Der Wiederaufnahmeantrag ist innerhalb von 15 Tagen ab Übermittlung der Entscheidung einzureichen, die abweichend von der in Art. 17 Abs. 3 festgelegten Regel auf gebührend begründeten Antrag der betroffenen Partei innerhalb von 15 Tagen ab Verkündung erfolgt. Über den Wiederaufnahmeantrag ist dringlich und vorrangig innerhalb von 60 Tagen nach seiner Eintragung in das Gerichtsregister zu entscheiden.“
Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefrage
4 Herr Târşia, ein rumänischer Staatsangehöriger, erwarb am 3. Mai 2007 in Frankreich ein Gebrauchtfahrzeug. Für die Zulassung dieses Fahrzeugs in Rumänien musste er am 5. Juni 2007 nach Art. 2141 und Art. 2142 des Steuergesetzbuchs in der zum Zeitpunkt der Zulassung des Fahrzeugs geltenden Fassung einen Betrag von 6899,51 RON (ungefähr 1560 Euro) als Sondersteuer für Pkw entrichten.
5 Da Herr Târşia der Auffassung war, dass diese Steuer mit Art. 110 AEUV unvereinbar sei, erhob er bei der Judecătorie Sibiu (Amtsgericht Sibiu) eine zivilrechtliche Klage auf Erstattung der genannten Steuer. Dieses Gericht gab der Klage mit Urteil vom 13. Dezember 2007 mit der Begründung statt, dass die Steuer gegen Art. 110 AEUV verstoße.
6 Der rumänische Staat, vertreten durch den Minister für Finanzen und Wirtschaft, erhob gegen dieses Urteil Kassationsbeschwerde. Mit der Entscheidung Nr. 401/2008 begrenzte die Zivilkammer des Tribunal Sibiu (Landgericht Sibiu) die Erstattung der von Herrn Târşia entrichteten Sondersteuer für Pkw auf einen Betrag in Höhe der Differenz zwischen dieser Steuer und der nach der Dringlichkeitsverordnung Nr. 50/2008 der Regierung zur Einführung einer Umweltsteuer für Kraftfahrzeuge (Ordonanţă de urgenţă a Guvernului nr. 50/2008 pentru instituirea taxei pe poluare pentru autovehicule) vom 21. April 2008 (Monitorul Oficial al României, Teil I, Nr. 327 vom 25. April 2008) geschuldeten späteren Umweltsteuer.
7 Diese Entscheidung ist Gegenstand eines Wiederaufnahmeantrags, den Herr Târşia am 29. September 2011 beim Tribunal Sibiu einreichte. Herr Târşia beantragt nach Art. 21 Abs. 2 des Gesetzes über das verwaltungsgerichtliche Verfahren zum einen die Aufhebung der Entscheidung Nr. 401/2008 dieses Gerichts und zum anderen eine erneute Entscheidung. Zur Begründung führt er an, der Gerichtshof habe im Urteil Tatu (C‑402/09, EU:C:2011:219) für Recht erkannt, dass Art. 110 AEUV eine Steuer wie die Umweltsteuer nach der genannten Dringlichkeitsverordnung Nr. 50/2008 der Regierung verbiete. Daher sei der Kassationsbeschwerde des rumänischen Staates unter Verstoß gegen den Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts stattgegeben worden, so dass ihm die Sondersteuer für Pkw in voller Höhe erstattet werden müsse.
8 Das vorlegende Gericht weist insoweit darauf hin, dass die für zivilrechtliche Streitsachen geltenden Verfahrensvorschriften keine Möglichkeit vorsähen, bezüglich einer rechtskräftigen gerichtlichen Entscheidung einen Wideraufnahmeantrag wegen Verstoßes gegen das Unionsrecht zu stellen, während nach den für verwaltungsrechtliche Streitsachen geltenden Vorschriften ein solcher Antrag gestellt werden könne.
9 Unter diesen Umständen hat das Tribunal Sibiu beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:
Können die Art. 17, 20, 21 und 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 6 EUV, Art. 110 AEUV und der sich aus dem Unionsrecht und der Rechtsprechung des Gerichtshofs ergebende Grundsatz der Rechtssicherheit dahin ausgelegt werden, dass sie einer Regelung wie Art. 21 Abs. 2 des Gesetzes über das verwaltungsgerichtliche Verfahren entgegenstehen, die bei einem Verstoß gegen den Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts ausschließlich für in verwaltungsrechtlichen Streitsachen ergangene nationale gerichtliche Entscheidungen die Möglichkeit der Wiederaufnahme des Verfahrens vorsieht, diese Möglichkeit für gerichtliche Entscheidungen, die in anderen Bereichen als verwaltungsrechtlichen Streitsachen (Zivil- oder Strafsachen) ergangen sind und gegen den genannten Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts verstoßen, jedoch nicht eröffnet?
Zur Vorlagefrage
Zur Zulässigkeit des Vorabentscheidungsersuchens
10 Nach Ansicht der rumänischen Regierung ist das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen unzulässig. Sie trägt insoweit erstens vor, dass das Rechtsverhältnis zwischen Herrn Târşia und dem rumänischen Staat unter das Steuerrecht falle. Daher gelte für den Antrag von Herrn Târşia das Steuerverfahrensrecht, das unter das Verwaltungsgerichtsverfahrensrecht falle. Unter diesen Umständen sei das vorlegende Gericht – obgleich der Antrag auf Wiederaufnahme bezüglich dieser Entscheidung beim für Zivilsachen zuständigen Spruchkörper dieses Gerichts, der die Entscheidung Nr. 401/2008 erlassen habe, gestellt worden sei – verpflichtet, das Verwaltungsgerichtsverfahrensrecht einschließlich der Bestimmungen über den Wiederaufnahmegrund in Art. 21 Abs. 2 des Gesetzes über das verwaltungsgerichtliche Verfahren anzuwenden.
11 Zweitens hätte Herr Târşia einen außerordentlichen Antrag auf Aufhebung der genannten Entscheidung stellen können. Dieser Rechtsbehelf hätte es ermöglicht, die betreffende Rechtssache an den für verwaltungsgerichtliche Streitigkeiten zuständigen Spruchkörper zu verweisen, der Art. 21 Abs. 2 des Gesetzes über das verwaltungsgerichtliche Verfahren hätte anwenden können. Da die rumänische Rechtsordnung einen effektiven Rechtsbehelf vorsehe, mit dem die Vereinbarkeit der Situation von Herrn Târşia mit dem Unionsrecht gewährleistet werden könne, sei die Beantwortung der Frage für die Entscheidung des beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreits nicht zweckdienlich.
12 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs eine Vermutung für die Entscheidungserheblichkeit der Fragen des nationalen Gerichts spricht, die es zur Auslegung des Unionsrechts in dem rechtlichen und sachlichen Rahmen stellt, den es in eigener Verantwortung festgelegt und dessen Richtigkeit der Gerichtshof nicht zu prüfen hat (Urteile Fish Legal und Shirley, C‑279/12, EU:C:2013:853, Rn. 30, und Verder LabTec, C‑657/13, EU:C:2015:331, Rn. 29).
13 Insbesondere ist es nicht Sache des Gerichtshofs, im Rahmen des in Art. 267 AEUV vorgesehenen Systems der justiziellen Zusammenarbeit die Richtigkeit der Auslegung des nationalen Rechts durch das nationale Gericht zu überprüfen oder in Frage zu stellen, da diese Auslegung in die ausschließliche Zuständigkeit dieses Gerichts fällt. Der Gerichtshof hat demnach, wenn ihm ein nationales Gericht ein Vorabentscheidungsersuchen vorlegt, von der Auslegung des nationalen Rechts auszugehen, die ihm dieses Gericht vorgetragen hat (vgl. in diesem Sinne Urteile Winner Wetten, C‑409/06, EU:C:2010:503, Rn. 35, Padawan, C‑467/08, EU:C:2010:620, Rn. 22, und Logstor ROR Polska, C‑212/10, EU:C:2011:404, Rn. 30).
14 Im Übrigen darf der Gerichtshof die Entscheidung über ein Ersuchen eines nationalen Gerichts nur dann verweigern, wenn die erbetene Auslegung des Unionsrechts offensichtlich in keinem Zusammenhang mit der Realität oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits steht, wenn das Problem hypothetischer Natur ist oder wenn er nicht über die tatsächlichen und rechtlichen Angaben verfügt, die für eine zweckdienliche Beantwortung der ihm vorgelegten Fragen erforderlich sind (Urteile Nicula, C‑331/13, EU:C:2014:2285, Rn. 23, und Verder LabTec, C‑657/13, EU:C:2015:331, Rn. 29).
15 Folgte man dem Vorbringen der rumänischen Regierung, wonach das vorlegende Gericht verpflichtet sei, die verwaltungsgerichtlichen Verfahrensvorschriften anzuwenden, obwohl es mit einem Antrag auf Wiederaufnahme bezüglich einer gerichtlichen Entscheidung befasst sei, die im Rahmen einer Klage zivilrechtlicher Natur ergangen sei, liefe dies im vorliegenden Fall auf eine Auslegung des nationalen Rechts hinaus, die jedoch allein in die Zuständigkeit des vorlegenden Gerichts fällt.
16 Nach Ansicht des vorlegenden Gerichts ist Art. 21 Abs. 2 des Gesetzes über das verwaltungsgerichtliche Verfahren – der die Möglichkeit der Wiederaufnahme bezüglich rechtskräftiger, im Rahmen einer Verwaltungsklage ergangener gerichtlicher Entscheidungen vorsieht – aber im Ausgangsverfahren nicht anwendbar, da dieses zivilrechtlicher Natur ist.
17 Im Übrigen ergibt sich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs, dass sich die Qualifizierung der Rechtsbeziehungen, die durch eine gegen das Unionsrecht verstoßende Erhebung einer Abgabe zwischen der Finanzverwaltung eines Mitgliedstaats und den Steuerpflichtigen entstehen, zum Zweck der Festsetzung der Modalitäten für die Erstattung dieser Abgabe nach nationalem Recht bestimmt (vgl. in diesem Sinne Urteil IN. CO. GE.’90 u. a., C‑10/97 bis C‑22/97, EU:C:1998:498, Rn. 26).
18 Die erste von der rumänischen Regierung erhobene Einrede der Unzulässigkeit ist daher zurückzuweisen.
19 Was die Einrede der Unzulässigkeit betrifft, die darauf gestützt wird, dass die nationale Rechtsordnung effektive Rechtsbehelfe vorsehe, die es Herrn Târşia in jedem Fall ermöglicht hätten, seinen Anspruch durchzusetzen, genügt der Hinweis, dass allein das nationale Gericht – das im Ausgangsverfahren die Frage nach der Möglichkeit einer Wideraufnahme bezüglich einer im Rahmen einer Klage zivilrechtlicher Natur ergangenen rechtskräftigen gerichtlichen Entscheidung aufwirft – im Hinblick auf die Besonderheiten der Rechtssache sowohl die Erforderlichkeit einer Vorabentscheidung für den Erlass seines Urteils als auch die Erheblichkeit der dem Gerichtshof vorgelegten Fragen zu beurteilen hat. Der Gerichtshof ist nämlich grundsätzlich gehalten, über ihm vorgelegte Fragen zu befinden, wenn sie die Auslegung des Unionsrechts betreffen (vgl. in diesem Sinne Urteile Transportes Urbanos y Servicios Generales, C‑118/08, EU:C:2010:39, Rn. 25, und Nicula, C‑331/13, EU:C:2014:2285, Rn. 21).
20 Da die dem Gerichtshof vorgelegten Akten keine Angaben enthalten, die den Schluss zuließen, dass die erbetene Auslegung des Unionsrechts für das vorlegende Gericht nicht zweckdienlich wäre, kann die zweite Einrede der Unzulässigkeit der rumänischen Regierung nicht durchgreifen.
21 Nach der in Rn. 14 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung muss die erbetene Auslegung des Unionsrechts jedoch mit dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits in Zusammenhang stehen. Das vorlegende Gericht ersucht den Gerichtshof mit seiner Frage aber um die Auslegung des Unionsrechts im Hinblick auf eine nationale Regelung, nach der die Wiederaufnahme bezüglich rechtskräftiger, in Zivil- und Strafsachen ergangener Entscheidungen, die mit dem Unionsrecht unvereinbar sind, nicht möglich ist. Da aus den Akten eindeutig hervorgeht, dass das Ausgangsverfahren keinen strafrechtlichen Charakter hat, ist, wie die rumänische und die polnische Regierung vorgetragen haben, festzustellen, dass eine Antwort des Gerichtshofs insoweit offensichtlich in keinem Zusammenhang mit dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits stünde.
22 Nach alledem ist festzustellen, dass das Vorabentscheidungsersuchen zulässig ist, soweit es sich nicht auf die Unmöglichkeit der Wiederaufnahme bezüglich rechtskräftiger gerichtlicher Entscheidungen in Strafsachen bezieht, die mit dem Unionsrecht unvereinbar sind.
Zur Beantwortung der Frage
23 Einleitend ist darauf hinzuweisen, dass aus den Akten hervorgeht, dass Herr Târşia mit einer gerichtlichen Entscheidung, die im Rahmen einer Klage zivilrechtlicher Natur erging, zur Zahlung der Umweltsteuer für Kraftfahrzeuge verurteilt wurde, die der Gerichtshof im Urteil Tatu (C‑402/09, EU:C:2011:219) – das nach dem Zeitpunkt erging, zu dem diese gerichtliche Entscheidung rechtskräftig wurde – im Wesentlichen für mit Art. 110 AEUV unvereinbar erklärt hat.
24 Nach ständiger Rechtsprechung stellt der Anspruch auf Erstattung von Abgaben, die ein Mitgliedstaat unter Verstoß gegen Vorschriften des Unionsrechts erhoben hat, eine Folge und eine Ergänzung der Rechte dar, die dem Einzelnen aus den diesen Abgaben entgegenstehenden Bestimmungen des Unionsrechts in ihrer Auslegung durch den Gerichtshof erwachsen. Die Mitgliedstaaten sind also grundsätzlich verpflichtet, unionsrechtswidrig erhobene Abgaben zu erstatten (Urteile Littlewoods Retail u. a., C‑591/10, EU:C:2012:478, Rn. 24, Irimie, C‑565/11, EU:C:2013:250, Rn. 20, und Nicula, C‑331/13, EU:C:2014:2285, Rn. 27).
25 Außerdem hat der Einzelne, wenn ein Mitgliedstaat unter Verstoß gegen Vorschriften des Unionsrechts Steuern erhoben hat, Anspruch auf Erstattung nicht nur der zu Unrecht erhobenen Steuer, sondern auch der Beträge, die in unmittelbarem Zusammenhang mit dieser Steuer an diesen Staat gezahlt oder von ihm einbehalten wurden. Daraus folgt, dass sich der Grundsatz, dass die Mitgliedstaaten verpflichtet sind, die unter Verstoß gegen das Unionsrecht erhobenen Steuerbeträge zuzüglich Zinsen zu erstatten, aus dem Unionsrecht ergibt (vgl. in diesem Sinne Urteile Littlewoods Retail u. a., C‑591/10, EU:C:2012:478, Rn. 25 und 26, sowie Irimie, C‑565/11, EU:C:2013:250, Rn. 21 und 22).
26 In Ermangelung einer Unionsregelung zur Erstattung zu Unrecht erhobener nationaler Steuern ist es nach dem Grundsatz der Verfahrensautonomie Sache jedes Mitgliedstaats, die zuständigen Gerichte zu bestimmen und die Verfahrensmodalitäten für Klagen zu regeln, die den Schutz der den Steuerpflichtigen aus dem Unionsrecht erwachsenden Rechte gewährleisten sollen (vgl. in diesem Sinne Urteile Rewe-Zentralfinanz und Rewe-Zentral, 33/76, EU:C:1976:188, Rn. 5, Aprile, C‑228/96, EU:C:1998:544, Rn. 18, und Test Claimants in the Franked Investment Income Group Litigation, C‑362/12, EU:C:2013:834, Rn. 31).
27 Die Verfahrensmodalitäten für Klagen, die den Schutz der den Steuerpflichtigen aus dem Unionsrecht erwachsenden Rechte gewährleisten sollen, dürfen jedoch nicht weniger günstig ausgestaltet sein als die für entsprechende innerstaatliche Klagen (Grundsatz der Äquivalenz) und die Ausübung der durch die Unionsrechtsordnung verliehenen Rechte nicht praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren (Grundsatz der Effektivität) (vgl. in diesem Sinne u. a. Urteile Rewe-Zentralfinanz und Rewe-Zentral, 33/76, EU:C:1976:188, Rn. 5, Transportes Urbanos y Servicios Generales, C‑118/08, EU:C:2010:39, Rn. 31, und Test Claimants in the Franked Investment Income Group Litigation, C‑362/12, EU:C:2013:834, Rn. 32).
28 Soweit der Erstattung einer für mit dem Unionsrecht unvereinbar erklärten Steuer im vorliegenden Fall eine rechtskräftige, zur Zahlung dieser Steuer verpflichtende gerichtliche Entscheidung entgegensteht, ist auf die Bedeutung hinzuweisen, die die Rechtskraft sowohl in der Unionsrechtsordnung als auch in den nationalen Rechtsordnungen hat. Zur Gewährleistung des Rechtsfriedens und der Beständigkeit rechtlicher Beziehungen sowie einer geordneten Rechtspflege sollen nämlich nach Ausschöpfung des Rechtswegs oder nach Ablauf der entsprechenden Rechtsmittelfristen unanfechtbar gewordene Gerichtsentscheidungen nicht mehr in Frage gestellt werden können (Urteil Impresa Pizzarotti, C‑213/13, EU:C:2014:2067, Rn. 58 und die dort angeführte Rechtsprechung).
29 Daher gebietet es das Unionsrecht einem nationalen Gericht nicht, von der Anwendung innerstaatlicher Verfahrensvorschriften, aufgrund deren eine Gerichtsentscheidung Rechtskraft erlangt, abzusehen, selbst wenn dadurch einer mit dem Unionsrecht unvereinbaren nationalen Situation abgeholfen werden könnte (Urteil Impresa Pizzarotti, C‑213/13, EU:C:2014:2067, Rn. 59 und die dort angeführte Rechtsprechung).
30 Besteht für das nationale Gericht nach den anwendbaren innerstaatlichen Verfahrensvorschriften unter bestimmten Voraussetzungen die Möglichkeit, eine rechtskräftig gewordene Entscheidung rückgängig zu machen, um die Situation mit dem nationalen Recht in Einklang zu bringen, muss jedoch, sofern diese Voraussetzungen erfüllt sind, nach den Grundsätzen der Äquivalenz und der Effektivität von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht werden, damit die Vereinbarkeit der in Rede stehenden Situation mit dem Unionsrecht wiederhergestellt wird (vgl. in diesem Sinne Urteil Impresa Pizzarotti, C‑213/13, EU:C:2014:2067, Rn. 62).
31 In Anbetracht der vorstehenden einleitenden Erwägungen ist davon auszugehen, dass das vorlegende Gericht wissen möchte, ob das Unionsrecht – insbesondere die Grundsätze der Äquivalenz und der Effektivität – dahin auszulegen ist, dass es der Tatsache entgegensteht, dass ein nationales Gericht keine Möglichkeit zur Wiederaufnahme bezüglich einer rechtskräftigen gerichtlichen Entscheidung hat, die im Rahmen einer Klage zivilrechtlicher Natur ergangen ist, wenn sich diese Entscheidung als unvereinbar mit einer Auslegung des Unionsrechts erweist, die der Gerichtshof nach dem Zeitpunkt vorgenommen hat, zu dem die genannte Entscheidung rechtskräftig geworden ist, während bei rechtskräftigen, mit dem Unionsrecht unvereinbaren gerichtlichen Entscheidungen, die im Rahmen von Klagen verwaltungsrechtlicher Natur ergangen sind, eine solche Möglichkeit besteht.
Zum Grundsatz der Äquivalenz
32 Aus der in Rn. 27 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung geht hervor, dass der Grundsatz der Äquivalenz den Mitgliedstaaten verbietet, die Verfahrensmodalitäten für Klagen auf Erstattung einer unter Verstoß gegen das Unionsrecht erhobenen Abgabe weniger günstig auszugestalten als die für entsprechende Klagen, mit denen ein Verstoß gegen innerstaatliches Recht gerügt wird (vgl. auch Urteil Weber’s Wine World u. a., C‑147/01, EU:C:2003:533, Rn. 104).
33 Das vorlegende Gericht ersucht den Gerichtshof mit seiner Frage jedoch, zum Zweck der Anwendung des genannten Grundsatzes auf die Nichtbeachtung des Unionsrechts gestützte gerichtliche Rechtsbehelfe verwaltungsrechtlicher Natur einerseits und auf die Nichtbeachtung des Unionsrechts gestützte gerichtliche Rechtsbehelfe zivilrechtlicher Natur andererseits zu vergleichen.
34 Wie der Generalanwalt in Nr. 49 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, verlangt der Grundsatz der Äquivalenz die Gleichbehandlung auf einen Verstoß gegen das nationale Recht gestützter Rechtsbehelfe und entsprechender, auf einen Verstoß gegen das Unionsrecht gestützter Rechtsbehelfe, nicht aber die Gleichwertigkeit nationaler Verfahrensvorschriften, die für Streitsachen unterschiedlicher Natur gelten, z. B. – wie im Ausgangsverfahren – zivilrechtliche Streitsachen auf der einen und verwaltungsrechtliche Streitsachen auf der anderen Seite. Außerdem kommt dem Grundsatz der Äquivalenz in einer Situation, die wie im Ausgangsverfahren zwei Arten von Rechtsbehelfen betrifft, die beide auf einem Verstoß gegen das Unionsrecht beruhen, keine Bedeutung zu (Urteil ÖBB Personenverkehr, C‑417/13, EU:C:2015:38, Rn. 74).
35 Folglich steht der Grundsatz der Äquivalenz der Tatsache nicht entgegen, dass ein nationales Gericht keine Möglichkeit zur Wiederaufnahme bezüglich einer rechtskräftigen gerichtlichen Entscheidung hat, die im Rahmen einer Klage zivilrechtlicher Natur ergangen ist, wenn sich diese Entscheidung als unvereinbar mit einer Auslegung des Unionsrechts erweist, die der Gerichtshof nach dem Zeitpunkt vorgenommen hat, zu dem die genannte Entscheidung rechtskräftig geworden ist, während bei rechtskräftigen, mit dem Unionsrecht unvereinbaren gerichtlichen Entscheidungen, die im Rahmen von Klagen verwaltungsrechtlicher Natur ergangen sind, eine solche Möglichkeit besteht.
Zum Grundsatz der Effektivität
36 Bezüglich des Grundsatzes der Effektivität ist darauf hinzuweisen, dass jeder Fall, in dem sich die Frage stellt, ob eine nationale Verfahrensvorschrift die Ausübung der den Bürgern durch die Unionsrechtsordnung verliehenen Rechte praktisch unmöglich macht oder übermäßig erschwert, unter Berücksichtigung der Stellung der betreffenden Vorschriften im gesamten Verfahren, des Ablaufs dieses Verfahrens und der Besonderheiten dieser Vorschriften vor den verschiedenen nationalen Stellen zu prüfen ist (vgl. in diesem Sinne Urteil Asturcom Telecomunicaciones, C‑40/08, EU:C:2009:615, Rn. 39 und die dort angeführte Rechtsprechung).
37 Im Hinblick darauf sind gegebenenfalls Grundsätze zu berücksichtigen, die dem betreffenden nationalen Rechtsschutzsystem zugrunde liegen, wie z. B. der Schutz der Verteidigungsrechte, der Grundsatz der Rechtssicherheit und der ordnungsgemäße Ablauf des Verfahrens (vgl. u. a. Urteile Fallimento Olimpiclub, C‑2/08, EU:C:2009:506, Rn. 27, sowie Agrokonsulting-04, C‑93/12, EU:C:2013:432, Rn. 48 und die dort angeführte Rechtsprechung).
38 Wie aus Rn. 28 des vorliegenden Urteils hervorgeht, hat der Gerichtshof jedoch mehrfach auf die Bedeutung des Grundsatzes der Rechtskraft hingewiesen (vgl. in diesem Sinne auch Urteil Köbler, C‑224/01, EU:C:2003:513, Rn. 38). So ist entschieden worden, dass das Unionsrecht nicht verlangt, dass ein Rechtsprechungsorgan eine in Rechtskraft erwachsene Entscheidung nach einer späteren Auslegung einer einschlägigen unionsrechtlichen Bestimmung durch den Gerichtshof grundsätzlich rückgängig zu machen hat, um dieser Auslegung Rechnung zu tragen (Urteil Impresa Pizzarotti, C‑213/13, EU:C:2014:2067, Rn. 60).
39 Im vorliegenden Fall ergeben sich aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten keine besonderen Umstände des Ausgangsverfahrens, die es rechtfertigen würden, von dem Ansatz abzuweichen, den der Gerichtshof in der in den Rn. 28 und 29 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung verfolgt hat und der dahin geht, dass das Unionsrecht es einem nationalen Gericht nicht gebietet, von der Anwendung innerstaatlicher Verfahrensvorschriften, aufgrund deren eine Gerichtsentscheidung Rechtskraft erlangt, abzusehen, selbst wenn dadurch einer mit dem Unionsrecht unvereinbaren nationalen Situation abgeholfen werden könnte.
40 Da die rechtskräftige gerichtliche Entscheidung, mit der Herr Târşia die Zahlung einer Steuer auferlegt wurde, die später im Wesentlichen für mit dem Unionsrecht unvereinbar erklärt wurde, von einem letztinstanzlichen nationalen Gericht erlassen wurde, ist allerdings darauf hinzuweisen, dass nach ständiger Rechtsprechung dem Einzelnen insbesondere aufgrund des Umstands, dass eine Verletzung aus dem Unionsrecht erwachsender Rechte durch eine solche Entscheidung regelmäßig nicht mehr rückgängig gemacht werden kann, nicht die Befugnis genommen werden darf, den Staat haftbar zu machen, um auf diesem Weg einen gerichtlichen Schutz seiner Rechte zu erlangen (vgl. in diesem Sinne Urteile Köbler, C‑224/01, EU:C:2003:513, Rn. 34, und Traghetti del Mediterraneo, C‑173/03, EU:C:2006:391, Rn. 31).
41 Nach alledem ist auf die Frage zu antworten, dass das Unionsrecht – insbesondere die Grundsätze der Äquivalenz und der Effektivität – dahin auszulegen ist, dass es unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens der Tatsache nicht entgegensteht, dass ein nationales Gericht keine Möglichkeit zur Wiederaufnahme bezüglich einer rechtskräftigen gerichtlichen Entscheidung hat, die im Rahmen einer Klage zivilrechtlicher Natur ergangen ist, wenn sich diese Entscheidung als unvereinbar mit einer Auslegung des Unionsrechts erweist, die der Gerichtshof nach dem Zeitpunkt vorgenommen hat, zu dem die genannte Entscheidung rechtskräftig geworden ist, während bei rechtskräftigen, mit dem Unionsrecht unvereinbaren gerichtlichen Entscheidungen, die im Rahmen von Klagen verwaltungsrechtlicher Natur ergangen sind, eine solche Möglichkeit besteht.
Kosten
42 Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Große Kammer) für Recht erkannt:
Das Unionsrecht – insbesondere die Grundsätze der Äquivalenz und der Effektivität – ist dahin auszulegen, dass es unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens dem nicht entgegensteht, dass ein nationales Gericht keine Möglichkeit zur Wiederaufnahme bezüglich einer rechtskräftigen gerichtlichen Entscheidung hat, die im Rahmen einer Klage zivilrechtlicher Natur ergangen ist, wenn sich diese Entscheidung als unvereinbar mit einer Auslegung des Unionsrechts erweist, die der Gerichtshof der Europäischen Union nach dem Zeitpunkt vorgenommen hat, zu dem die genannte Entscheidung rechtskräftig geworden ist, während bei rechtskräftigen, mit dem Unionsrecht unvereinbaren gerichtlichen Entscheidungen, die im Rahmen von Klagen verwaltungsrechtlicher Natur ergangen sind, eine solche Möglichkeit besteht.
Unterschriften
(*
) Verfahrenssprache: Rumänisch.
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Urteil des Gerichts (Vierte Kammer) vom 18. Juni 2014.#Königreich Spanien gegen Europäische Kommission.#Fischerei – Erhaltung der Fischereiressourcen – Überschreitung der für das Jahr 2010 zugeteilten Fangquoten für Makrele in den Gebieten VIIIc, IX und X sowie in den EU‑Gewässern des Gebiets CECAF 34.1.1 durch Spanien – Abzüge von den für die Jahre 2011 bis 2015 zugeteilten Fangquoten – Verteidigungsrechte – Rechtssicherheit – Vertrauensschutz – Gleichbehandlung.#Rechtssache T‑260/11.
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62011TJ0260
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ECLI:EU:T:2014:555
| 2014-06-18T00:00:00 |
Gericht
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Sammlung der Rechtsprechung – allgemein
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62011TJ0260
URTEIL DES GERICHTS (Vierte Kammer)
18. Juni 2014 (*1)
„Fischerei — Erhaltung der Fischereiressourcen — Überschreitung der für das Jahr 2010 zugeteilten Fangquoten für Makrele in den Gebieten VIIIc, IX und X sowie in den EU-Gewässern des Gebiets CECAF 34.1.1 durch Spanien — Abzüge von den für die Jahre 2011 bis 2015 zugeteilten Fangquoten — Verteidigungsrechte — Rechtssicherheit — Vertrauensschutz — Gleichbehandlung“
In der Rechtssache T‑260/11
Königreich Spanien, zunächst vertreten durch N. Díaz Abad und L. Banciella Rodríguez‑Miñón, dann durch M. Sampoll Pucurull und L. Banciella Rodríguez‑Miñón, abogados del Estado,
Kläger,
gegen
Europäische Kommission, vertreten durch A. Bouquet, F. Jimeno Fernández und D. Nardi als Bevollmächtigte,
Beklagte,
wegen Nichtigerklärung der Verordnung (EU) Nr. 165/2011 der Kommission vom 22. Februar 2011 über Abzüge von bestimmten, Spanien für 2011 und die darauf folgenden Jahre zugeteilten Fangquoten für Makrele wegen Überfischung im Jahr 2010 (ABl. L 48, S. 11)
erlässt
DAS GERICHT (Vierte Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten M. Prek sowie der Richterin I. Labucka und des Richters V. Kreuschitz (Berichterstatter),
Kanzler: K. Andová, Verwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 11. Dezember 2013
folgendes
Urteil
Vorgeschichte des Rechtsstreits
1 Die Dienststellen der Kommission führten im Jahr 2010 mehrere Überprüfungen des von den spanischen Behörden bewirtschafteten Fang- und Kontrollsystems durch, darunter eine Überprüfung vom 15. bis zum 19. März 2010 in Kantabrien und im Baskenland (Spanien).
2 Aufgrund der in Rede stehenden Überprüfung und im Hinblick auf die von den spanischen Behörden betreffend die Makrelenfischerei im Jahr 2010 übermittelten Daten gelangte die Kommission zu dem Ergebnis, dass das Königreich Spanien die ihm für diese Art für das Jahr 2010 zugeteilten Quoten um 19621 Tonnen überschritten hatte. Aus Nr. 3.8 des Berichts ergibt sich, dass die jährlichen Fangquoten für Makrele von 24604 Tonnen ab März 2010 mit 39693 Tonnen gefangenen Makrelen um 61 % überschritten worden waren.
3 Mit Schreiben vom 12. Juli 2010 übermittelte die Kommission den Bericht an die spanischen Behörden und forderte sie zur Stellungnahme auf.
4 Mit Schreiben vom 20. Juli 2010 kamen die spanischen Behörden dieser Aufforderung nach. Im Rahmen ihrer Stellungnahme bestritten diese Behörden die von der Kommission angeführten Zahlen nicht.
5 Mit an das spanische Ministerium für Landwirtschaft, Fischerei und Ernährung gerichtetem Schreiben vom 20. Juli 2010 wies Frau D., das für maritime Angelegenheiten und Fischerei zuständige Kommissionsmitglied, zum einen auf die Bedeutung der Makrelenfischerei nicht nur für das Königreich Spanien, sondern auch für die gesamte Europäische Union, sowie darauf hin, dass ihre Überwachung und Kontrolle für die Kommission vorrangig seien. Zum anderen führte sie aus, dass die Kontrollen, die an der die Makrelenfischerei betreibenden spanischen Flotte durchgeführt würden, unzureichend seien und es schwierig sei, von den zuständigen spanischen Behörden, die mangelnde Kooperationsbereitschaft gezeigt hätten, die zur Beurteilung der Situation unerlässlichen Informationen zu erhalten.
6 Mit an das spanische Ministerium für Landwirtschaft, Fischerei und Ernährung gerichtetem Schreiben vom 30. September 2010 äußerte Frau D. im Wesentlichen nochmals ihre Besorgnis angesichts der Überfischung der Makrele und wies darauf hin, dass sich die Kommission das Recht vorbehalte, die ihr zur Verfügung stehenden Rechtsinstrumente zu nutzen, um die strikte Beachtung des Unionsrechts sicherzustellen.
7 Am 28. November 2010 fand ein Treffen zwischen Frau D. und Frau A., der spanischen Ministerin für Umwelt, ländlichen Raum und Meeresumwelt, statt, bei dem die Frage der Überfischung der Makrele erörtert wurde. Bei dieser Gelegenheit erkannte Frau A. den Grundsatz an, nach dem die überfischten Mengen an Makrelen ausgeglichen werden müssten, brachte aber ihren Wunsch zum Ausdruck, die Bedingungen eines solchen Ausgleichs zu verhandeln.
8 Am 30. November 2010 fand zwischen den Dienststellen der Kommission und Vertretern der spanischen Behörden ein Treffen statt, dessen Tagesordnung in Punkt 4 Folgendes vorsah:
„Makrelen- und Seehechtfischerei – Ausgleich der geschätzten Überfischung seit 2009
Zu diesem Punkt wird die Direktion MARE C ihre Schätzungen der spanischen Überfischung dieser beiden Ressourcen seit 2009 darlegen und auch auf die Frage des zur Verfügung stehenden Fischereiaufwands eingehen. Diese Überfischung stellt signifikante Mengen der beiden Ressourcen dar. Unter diesen Umständen haben die Dienststellen der Kommission keine andere Wahl, als die Bestimmungen der Verordnung [(EG) Nr. 1224/2009] über den Quotenabzug, nämlich Art. 105 dieser Verordnung …, anzuwenden. Unsere Dienststellen sind bereit, die Bedingungen des Abzugs mit den spanischen Behörden auf der Grundlage dieser Bestimmungen zu erörtern.“
9 Im Protokoll dieses Treffens, wie es den spanischen Behörden übermittelt wurde, hieß es insbesondere wie folgt:
„Die Kommission weist darauf hin, dass, soweit [das Königreich] Spanien der Auffassung sei, dass es keine Rechtsgrundlage für den Ausgleich der Überfischung vor dem Jahr 2010 gebe, diese Erörterungen gegenstandslos seien. Die Kommission betont, dass sie nach den anwendbaren Verordnungen ermächtigt sei, im Jahr 2011 Abzüge wegen der Überfischung im Jahr 2010 vorzunehmen, deren Volumen auf ungefähr 19000 [Tonnen] geschätzt werde; der Multiplikationsfaktor nach Art. 105 [der Verordnung Nr. 1224/2009] würde angewandt. [Das Königreich] Spanien gibt an, dass [es] die von der Kommission verwendeten Zahlen über die Überfischung anerkenne. Die Kommission legt außerdem dar, dass sie [das Königreich] Spanien hinsichtlich der Form der vorgenommenen Abzüge wegen Überfischung nicht anhören müsse (solange sie nicht die Absicht habe, Abzüge auf andere Ressourcen als Makrele vorzunehmen). Hingegen sei das Anhörungsverfahren in der Kontrollverordnung in allen Fällen für den aufgrund einer ‚historischen‘ Überfischung geforderten Ausgleich vorgesehen. Die Kommission ist der Auffassung, dass die neue Kontrollverordnung anwendbar sei, da der Ausgangspunkt des Ausgleichsverfahrens die Tatsache sei, dass die Kommission eine historische Überfischung auf der Grundlage verlässlicher Daten feststelle, und dies sei im Jahr 2010 geschehen.“
10 Mit an Frau A. gerichtetem Schreiben vom 14. Dezember 2010 forderte Frau D. die spanischen Behörden im Wesentlichen auf, sich dringend mit der Frage der Überfischung zu befassen. Sie wies auch darauf hin, dass die Dienststellen der Kommission und diese Behörden zusammenarbeiteten, um das tatsächliche Volumen der Überfischung zu bestimmen, anschließend einen Ausgleichsmechanismus zu erarbeiten und einen Aktionsplan zu erstellen, der das spanische Kontrollsystem verstärke. Insoweit empfahl Frau D. dringend, die Makrelenfischerei für das Jahr 2011 nur im Umfang von 50 % der dem Königreich Spanien für dieses Jahr zugeteilten Quote zuzulassen.
11 Am 21. Dezember 2010 erließ das Königreich Spanien die Orden ARM/3315/2010, de 21 de diciembre, por la que se modifica la Orden ARM/271/2010, de 10 de febrero, por la que se establecen los criterios para el reparto y la gestión de la cuota de caballa, y se regula su captura y desembarque (Verordnung ARM 3315/2010 zur Änderung der Verordnung ARM 271/2010 vom 10. Februar 2010 zur Festlegung der Kriterien der Verteilung und Bewirtschaftung der Makrelenquote und zur Regelung ihres Fangs und ihrer Anlandung, BOE Nr. 310 vom 22. Dezember 2010, S. 105 675, im Folgenden: Verordnung ARM 3315/2010). Gemäß Art. 2 Abs. 2 der Verordnung ARM 3315/2010 sollte die Makrelenfischerei am 15. Februar 2011 beginnen.
12 Am 11. Januar 2011 fand ein Treffen zwischen den Dienststellen der Kommission und den spanischen Behörden statt. Laut seiner Tagesordnung betraf dieses Treffen die Prüfung der Fangdaten der spanischen Flotte in Bezug auf Makrelen im Nordostatlantik im Zeitraum von 2002 bis 2010, da dieser Bestand wahrscheinlich Gegenstand einer Überfischung gewesen sei. Punkt 1 dieser Tagesordnung lautete:
„Makrelen- und Seehechtfischerei – Ausgleich der geschätzten Überfischung seit 2009
Zu diesem Punkt wird die Direktion MARE C ihre Schätzungen der spanischen Überfischung dieser beiden Ressourcen ab 2009 darlegen und auch auf das Problem der Zuteilung des zur Verfügung stehenden Fischereiaufwands eingehen. Diese Überfischung stellt signifikante Mengen der beiden Ressourcen dar. Unter diesen Umständen haben die Dienststellen der Kommission keine andere Wahl, als die Bestimmungen der Kontrollverordnung über den Quotenabzug, nämlich Art. 105 d[ies]er Verordnung, anzuwenden. Unsere Dienststellen sind bereit, die Bedingungen des Ausgleichs mit den spanischen Behörden auf der Grundlage dieser Bestimmungen zu erörtern.“
13 Im Protokoll des Treffens vom 11. Januar 2011, wie es den spanischen Behörden übermittelt wurde, heißt es insbesondere:
„Die Kommission weist darauf hin, dass, soweit [das Königreich] Spanien der Auffassung sei, dass es keine Rechtsgrundlage für die Abzüge wegen Überfischung vor dem Jahr 2010 gebe, diese Erörterungen gegenstandslos seien. Die Kommission betont, dass sie nach den anwendbaren Verordnungen ermächtigt sei, im Jahr 2011 Abzüge wegen der Überfischung im Jahr 2010 vorzunehmen, deren Volumen auf ungefähr 19000 [Tonnen] geschätzt werde; der Multiplikationsfaktor nach Art. 105 [der Kontrollverordnung] würde angewandt. [Das Königreich] Spanien gibt an, dass [es] die von der Kommission verwendeten Zahlen über die Überfischung anerkenne. Die Kommission legt außerdem dar, dass sie [das Königreich] Spanien hinsichtlich der Form der vorgenommenen Abzüge wegen Überfischung nicht anhören müsse (solange sie nicht die Absicht habe, Abzüge auf andere Ressourcen als Makrele vorzunehmen). Hingegen sei das Anhörungsverfahren in der Kontrollverordnung in allen Fällen für den aufgrund einer ‚historischen‘ Überfischung geforderten Ausgleich vorgesehen. Die Kommission ist der Auffassung, dass die neue Kontrollverordnung anwendbar sei, da der Ausgangspunkt des Ausgleichsverfahrens die Tatsache sei, dass die Kommission eine historische Überfischung auf der Grundlage verlässlicher Daten feststelle, und dies sei im Jahr 2010 geschehen.“
14 Am 24. Januar 2011 fand zwischen Frau E., Generaldirektorin der Generaldirektion Maritime Angelegenheiten und Fischerei der Kommission, und Frau V. I., Generalsekretärin für Meeresangelegenheiten im spanischen Ministerium für Umwelt, ländlichen Raum und Meeresumwelt, auf Ersuchen Letzterer ein Treffen zur Überfischung der Makrele statt. Nach diesem Treffen schlug Frau V. I. mit E‑Mail vom 8. Februar 2011 Frau E. erstens vor, dass die Gesamtmenge der Abzüge festgesetzt werde, zweitens, dass nach dem „britischen Beispiel“ ein Abzugskoeffizient von 0,7 bestimmt werde, drittens, dass ein angemessener Zeitraum von 15 Jahren vorgesehen werde, viertens, dass unter Berücksichtigung sozialer und wirtschaftlicher Gründe ein Kürzungsprozentsatz zwischen 15 und 18 % nicht überschritten werde, fünftens, dass eine Überprüfungsklausel eingeführt werde, um die Lage nach der Hälfte der Zeit, nämlich nach sieben oder acht Jahren, zu prüfen, und sechstens, dass die erforderlichen Anpassungen erfolgten, um die Einhaltung der Gesamtmenge sicherzustellen.
15 Am 4. Februar 2011 fand ein bilaterales Treffen zwischen Frau D. und Frau A. statt, bei dem Letzterer mitgeteilt wurde, dass die Kommission beabsichtige, die Abzüge während eines Zeitraums von zwei Jahren anzuwenden. Frau A. ersuchte jedoch um einen längeren Zeitraum, um bestimmte wirtschaftliche Umstände und die Interessen der spanischen Fischereiflotte zu berücksichtigen, die für die Anpassung an die möglichen Folgen der Überfischung und den anschließenden Abzug eine gewisse Zeit benötigen würde.
16 Sodann leiteten die zuständigen Dienststellen der Kommission die diensteübergreifende Konsultation über den Entwurf der angefochtenen Verordnung ein und schlugen vor, die Abzüge auf vier Jahre aufzuteilen und den Betrag dieser Abzüge schrittweise zu erhöhen.
17 In einem Telefongespräch zwischen Frau K., Mitglied des Kabinetts von Frau D., und Frau A. am 17. oder 18. Februar 2011 ersuchte Letztere darum, dass die geplanten Abzüge auf fünf oder sechs Jahre aufgeteilt würden. Da Frau D. mit dem Ersuchen um Aufteilung dieser Abzüge auf fünf Jahre einverstanden war, wurde die oben in Rn. 16 angeführte diensteübergreifende Konsultation am 18. Februar ausgesetzt und am 22. Februar 2011 zur erforderlichen Änderung des Anhangs des Entwurfs der angefochtenen Verordnung wiedereröffnet.
18 Am 22. Februar 2011 erließ die Kommission die Verordnung (EU) Nr. 165/2011 über Abzüge von bestimmten, Spanien für 2011 und die darauf folgenden Jahre zugeteilten Fangquoten für Makrele wegen Überfischung im Jahr 2010 (ABl. L 48, S. 11, im Folgenden: angefochtene Verordnung) auf der Grundlage von Art. 105 Abs. 1 und 2 der Verordnung (EG) Nr. 1224/2009 des Rates vom 20. November 2009 zur Einführung einer gemeinschaftlichen Kontrollregelung zur Sicherstellung der Einhaltung der Vorschriften der gemeinsamen Fischereipolitik und zur Änderung der Verordnungen (EG) Nr. 847/96, (EG) Nr. 2371/2002, (EG) Nr. 811/2004, (EG) Nr. 768/2005, (EG) Nr. 2115/2005, (EG) Nr. 2166/2005, (EG) Nr. 388/2006, (EG) Nr. 509/2007, (EG) Nr. 676/2007, (EG) Nr. 1098/2007, (EG) Nr. 1300/2008, (EG) Nr. 1342/2008 sowie zur Aufhebung der Verordnungen (EWG) Nr. 2847/93, (EG) Nr. 1627/94 und (EG) Nr. 1966/2006 (ABl. L 343, S. 1, im Folgenden: Kontrollverordnung).
19 Im ersten Erwägungsgrund der angefochtenen Verordnung heißt es: „Mit der Verordnung (EU) Nr. 53/2010 des Rates [ABl. 2010, L 21, S. 1] bzw. der Verordnung (EU) Nr. 57/2011 des Rates [ABl. 2011, L 24, S. 1] wurde Spanien eine Fangquote für Makrele in den Gebieten VIIIc, IX und X und in den [Unionsg]ewässern des Gebiets CECAF 34.1.1 für 2010 bzw. 2011 zugeteilt.“
20 Der dritte Erwägungsgrund der angefochtenen Verordnung lautet: „Die Kommission stellte bei den [vom Königreich Spanien] übermittelten Daten zur Makrelenfischerei im Jahr 2010 Widersprüche fest, als sie diese Daten, die in unterschiedlichen Stadien der Wertschöpfungskette, vom Fang bis zum Erstverkauf, aufgezeichnet und übermittelt worden waren, einer Gegenprüfung unterzog“, dass „[d]iese Widersprüche … bei verschiedenen Audits, Überprüfungen und Inspektionen erneut bestätigt [wurden], die in Spanien gemäß der [Kontrollv]erordnung … durchgeführt wurden“, und dass „[d]ie im Laufe dieser Untersuchungen gesammelten Informationen … die Kommission zu der Feststellung [veranlassen], dass dieser Mitgliedstaat seine Makrelenquote im Jahr 2010 um 19621 Tonnen überschritten hat“.
21 Die Erwägungsgründe 4 und 5 der angefochtenen Verordnung lauten zum einen: „Gemäß Artikel 105 Absatz 1 der [Kontrollv]erordnung kürzt die Kommission die künftigen Fangquoten eines Mitgliedstaats, wenn sie feststellt, dass dieser Mitgliedstaat die ihm zugeteilten Fangquoten überschritten hat“, und zum anderen: „Gemäß Artikel 105 Absatz 2 der [Kontrollv]erordnung werden Fangquoten im folgenden Jahr oder in den folgenden Jahren unter Anwendung von Multiplikationsfaktoren gekürzt, die in dem vorgenannten Absatz festgelegt sind.“
22 Nach dem sechsten Erwägungsgrund der angefochtenen Verordnung „[waren d]ie Abzüge wegen Überfischung im Jahr 2010 … höher als die [dem Königreich Spanien] 2011 für den betreffenden Bestand zugeteilte Quote“.
23 Schließlich heißt es im siebten Erwägungsgrund der angefochtenen Verordnung wie folgt:
„Der betreffende Makrelenbestand befindet sich derzeit innerhalb sicherer biologischer Grenzen, und aus wissenschaftlichen Gutachten geht hervor, dass sich hieran auch in absehbarer Zeit nichts ändern dürfte. Eine unmittelbare und umfassende Kürzung der Makrelenquote [des Königreichs Spanien] für 2011 würde eine vollständige Einstellung dieser Fischerei im Jahr 2011 bewirken. Angesichts der besonderen Umstände in diesem Fall könnte eine vollständige Einstellung der Fischerei unverhältnismäßige sozioökonomische Folgen für den Fischereisektor und die betreffende Verarbeitungsindustrie haben. Daher und unter Berücksichtigung der Ziele der Gemeinsamen Fischereipolitik wird es in diesem besonderen Fall als angemessen erachtet, die erforderlichen Abzüge wegen Überfischung auf fünf Jahre, nämlich 2011 bis 2015, zu verteilen und danach gegebenenfalls noch erforderliche Abzüge bei der Makrelenquote für die unmittelbar darauf folgenden Jahre vorzunehmen.“
24 Art. 1 der angefochtenen Verordnung bestimmt: „Die Fangquote für Makrele (Scomber scombrus) in den Gebieten VIIIc, IX und X sowie in den [Unionsg]ewässern des Gebiets CECAF 34.1.1, die Spanien 2011 mit der Verordnung (EU) Nr. 57/2011 zugeteilt wurde, wird nach den Angaben im Anhang gekürzt.“ Ebenso bestimmt Art. 2 dieser Verordnung: „Die Fangquote für Makrele (Scomber scombrus) in den Gebieten VIIIc, IX und X sowie in den [Unionsg]ewässern des Gebiets CECAF 34.1.1, die Spanien für die Jahre 2012 bis 2015 zugeteilt werden könnte, sowie gegebenenfalls die Fangquote für denselben Bestand, der Spanien in den darauf folgenden Jahren zugeteilt werden könnte, werden nach den Angaben im Anhang gekürzt.“
25 Der Anhang der angefochtenen Verordnung enthält eine Tabelle mit einer Spalte „Differenz Quote-Fänge (Überfischung)“, in der „– 19621 [Tonnen] (79,7 % der Quote 2010)“ angegeben werden, gefolgt von einer Spalte, in der ein „Multiplikationsfaktor gemäß Artikel 105 Absatz 2 der [Kontrollv]erordnung … (Überfischung * 2)“ von „– 39242 [Tonnen]“ genannt wird, sowie von Spalten, die die Abzüge für die Jahre 2011 bis 2015 enthalten, nämlich jeweils 4500 Tonnen für das Jahr 2011, 5500 Tonnen für das Jahr 2012, 9748 Tonnen für das Jahr 2013, 9747 Tonnen für das Jahr 2014 und 9 747 Tonnen für das Jahr 2015 „und ggf. [für] darauf folgende Jahre“.
Verfahren und Anträge der Parteien
26 Mit Klageschrift, die am 19. Mai 2011 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangen ist, hat das Königreich Spanien die vorliegende Klage erhoben.
27 Das Königreich Spanien beantragt,
—
die angefochtene Verordnung für nichtig zu erklären;
—
der Kommission die Kosten aufzuerlegen.
28 Die Kommission beantragt,
—
die Klage als unbegründet abzuweisen;
—
dem Königreich Spanien die Kosten aufzuerlegen.
29 Infolge der Änderung der Zusammensetzung der Kammern des Gerichts ist der Berichterstatter der Vierten Kammer zugeteilt worden, an die die vorliegende Rechtssache deshalb verwiesen worden ist.
30 Das Gericht (Vierte Kammer) hat auf Bericht des Berichterstatters beschlossen, die mündliche Verhandlung zu eröffnen.
31 Die Parteien haben in der Sitzung vom 11. Dezember 2013 mündlich verhandelt und mündliche Fragen des Gerichts beantwortet. In der Sitzung hat das Gericht beschlossen, die mündliche Verhandlung fortzusetzen, damit die Kommission alle einschlägigen Informationen vorlegen kann, die belegen könnten, dass die spanischen Behörden vor dem Erlass der angefochtenen Verordnung zu der Art, in der diese Verordnung die Abzüge von den Makrelenfangquoten vorzunehmen beabsichtigte, gehört worden waren, was im Sitzungsprotokoll vermerkt worden ist.
32 Mit Schreiben vom 9. Januar 2014 hat die Kommission insoweit zusätzliche Erklärungen und Informationen vorgelegt.
33 Mit Schreiben vom 28. Januar 2014 hat das Königreich Spanien zu diesem Schreiben der Kommission Stellung genommen.
34 Am 4. Februar 2014 hat das Gericht die mündliche Verhandlung geschlossen.
Rechtliche Würdigung
Zusammenfassung der Nichtigkeitsgründe
35 Zur Stützung seiner Klage macht das Königreich Spanien sechs Klagegründe geltend, nämlich erstens einen Verstoß gegen Art. 105 Abs. 6 der Kontrollverordnung, zweitens eine Verletzung wesentlicher Formvorschriften, da keine vorherige Stellungnahme des Verwaltungsausschusses im Sinne von Art. 119 dieser Verordnung eingeholt worden sei, drittens eine Verletzung seiner Verteidigungsrechte, viertens einen Verstoß gegen den Grundsatz der Rechtssicherheit, fünftens einen Verstoß gegen den Grundsatz des Vertrauensschutzes und sechstens einen Verstoß gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz.
Zum ersten Klagegrund: Verstoß gegen Art. 105 Abs. 6 der Kontrollverordnung
36 Das Königreich Spanien bringt vor, die angefochtene Verordnung sei rechtswidrig, da sie erlassen worden sei, bevor die Kommission Durchführungsbestimmungen nach Art. 105 Abs. 6 der Kontrollverordnung, der den Erlass von Regeln zur Festsetzung der betreffenden Mengen verlange, festgelegt habe. Außerdem bestreitet es, dass Art. 105 Abs. 1 dieser Verordnung hinreichend klar und deutlich sei und keine Durchführungsmaßnahme erfordere. Die Tatsache, dass nach Art. 105 Abs. 6 dieser Verordnung Durchführungsbestimmungen erlassen werden „können“, bedeute nicht, dass die Kommission im Hinblick auf deren Erlass oder eine diesbezügliche Wahl zwischen dem Verfahren nach Art. 119 dieser Verordnung oder einem anderen Verfahren über ein Ermessen verfüge.
37 Die Kommission tritt dem Vorbringen des Königreichs Spanien entgegen und beantragt, den vorliegenden Klagegrund zurückzuweisen.
38 Art. 105 Abs. 6 der Kontrollverordnung sieht Folgendes vor: „Die Durchführungsbestimmungen zu diesem Artikel und insbesondere zur Festsetzung der betreffenden Mengen können nach dem Verfahren gemäß Artikel 119 erlassen werden“, d. h. dem Verfahren nach Art. 119 Abs. 2 dieser Verordnung in Verbindung mit den Art. 4 bis 7 des Beschlusses 1999/468/EG des Rates vom 28. Juni 1999 zur Festlegung der Modalitäten für die Ausübung der der Kommission übertragenen Durchführungsbefugnisse (ABl. L 184, S. 23) in der durch den Beschluss 2006/512/EG des Rates vom 17. Juli 2006 (ABl. L 200, S. 11) geänderten Fassung.
39 Außerdem bestimmt Art. 119 („Ausschussverfahren“) der Kontrollverordnung u. a.:
„(1) Die Kommission wird von dem durch Artikel 30 der Verordnung (EG) Nr. 2371/2002 eingesetzten Ausschuss unterstützt.
(2) Wird auf diesen Artikel Bezug genommen, so gelten die Artikel 4 und 7 des Beschlusses 1999/468/EG.
…“
40 Insbesondere zeigt die Verwendung des Begriffs „können“ in Art. 105 Abs. 6 der Kontrollverordnung, dass zum einen die Kommission hinsichtlich der Grundsatzfrage, ob dem zuständigen Ausschuss ein Vorschlag für den Erlass von Durchführungsbestimmungen in diesem Sinn unterbreitet werden soll (vgl. insbesondere Art. 4 Abs. 2 erster Satz des Beschlusses 1999/468), über ein Ermessen verfügt und zum anderen dieses Ermessen auch die Möglichkeit der Kommission beinhaltet, dazu zwischen den verschiedenen von dieser Verordnung abgedeckten Bereichen und Instrumenten zu wählen. Nur diese Auslegung ist nämlich mit der Tatsache vereinbar, dass Art. 105 Abs. 6 beispielhaft („insbesondere“) die Möglichkeit – und nicht die Verpflichtung – nennt, Durchführungsbestimmungen „zur Festsetzung der betreffenden Mengen“ zu erlassen.
41 Daher geht das Königreich Spanien von einer unrichtigen Annahme aus, wenn es vorbringt, dass die Kommission zum Erlass von Durchführungsbestimmungen verpflichtet gewesen sei, um die Instrumente, die ihr nach Art. 105 Abs. 1 und 2 der Kontrollverordnung zur Verfügung stehen, umsetzen zu können, da der Umfang der Befugnis der Kommission und die Kriterien für die Umsetzung dieser Instrumente vielmehr vom Wortlaut dieser Bestimmungen abhängt.
42 Es ist daher zu prüfen, ob diese Bestimmungen hinreichend klar, genau und unbedingt sind, damit sie die Kommission unmittelbar gegenüber den betreffenden Mitgliedstaaten durchführen kann.
43 Art. 105 Abs. 1 und 2 der Kontrollverordnung lautet:
„(1) Stellt die Kommission fest, dass ein Mitgliedstaat die ihm zugeteilten Quoten überschritten hat, so kürzt sie die künftigen Quoten dieses Mitgliedstaats.
(2) Hat ein Mitgliedstaat über die ihm für einen Bestand oder eine Bestandsgruppe in einem bestimmten Jahr zugewiesene Quote oder Zuteilung bzw. seinen Anteil hinaus gefischt, so kürzt die Kommission im folgenden Jahr oder in den folgenden Jahren die jährliche Quote oder Zuteilung oder den jährlichen Anteil des betreffenden Mitgliedstaats unter Anwendung nachstehender Multiplikationsfaktoren:
Umfang der Überschreitung im Vergleich zu den zulässigen Anlandungen
Multiplikationsfaktor
bis zu 5 %
Überschreitung * 1,0
über 5 % bis zu 10 %
Überschreitung* 1,1
über 10 % bis zu 20 %
Überschreitung * 1,2
über 20 % bis zu 40 %
Überschreitung * 1,4
über 40 % bis zu 50 %
Überschreitung * 1,8
Überschreitung von mehr als 50 %
Überschreitung * 2,0
Bei jeder Überschreitung der zulässigen Anlandung von bis zu 100 Tonnen wird jedoch ein Abzug vorgenommen, der der Höhe der Überschreitung * 1,00 entspricht.“
44 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass entgegen dem Vorbringen des Königreichs Spanien der Wortlaut von Art. 105 Abs. 1 der Kontrollverordnung eine gebundene Zuständigkeit der Kommission in dem Sinn enthält, dass diese verpflichtet ist, die künftigen Quoten dieses Mitgliedstaats zu kürzen, wenn sie das Vorliegen einer Überschreitung der Fangquoten durch einen Mitgliedstaat feststellt („kürzt“). Ebenso wenig überträgt Art. 105 Abs. 2 dieser Verordnung der Kommission im Hinblick darauf, welche Folgen eine solche Überschreitung „in einem bestimmten Jahr“ nach sich zu ziehen hat, ein Ermessen, sondern verpflichtet sie, „im folgenden Jahr oder in den folgenden Jahren die jährliche Quote … des betreffenden Mitgliedstaats [zu kürzen]“ („kürzt“), wobei sie je nach Höhe der festgestellten Überschreitung einen im Vorhinein festgelegten Multiplikationsfaktor anzuwenden hat („unter Anwendung“). Außerdem ergibt sich daraus, wie die Kommission geltend macht, dass die Gesamtmenge der durchzuführenden Abzüge das Ergebnis einer genauen Berechnung ist, deren Parameter – nämlich die Höhe der Überschreitung und der Multiplikationsfaktor – von dieser Bestimmung selbst konkret vorgeschrieben sind, so dass die Kommission über keinen Ermessensspielraum zur Festlegung ihrer Obergrenze verfügt. In diesem Kontext verfügt die Kommission nur über ein Ermessen hinsichtlich der Art, in der sie diese Abzüge „im folgenden Jahr oder in den folgenden Jahren [auf] die jährliche Quote oder Zuteilung oder den jährlichen Anteil des betreffenden Mitgliedstaats“ aufteilen will, nämlich für ihre zeitliche Aufteilung sowie die Festlegung des Zeitraums, in dem diese Abzüge durchgeführt werden müssen, um die vorgeschriebene Obergrenze zu erreichen.
45 Daraus folgt, dass Art. 105 Abs. 1 und 2 der Kontrollverordnung, insbesondere hinsichtlich der Berechnung des Gesamtbetrags der durchzuführenden Abzüge, hinreichend klar, genau und unbedingt ist, und daher von der Kommission unmittelbar angewandt werden kann.
46 Folglich macht das Königreich Spanien zu Unrecht einen Verstoß gegen eine der Kommission angeblich obliegende unbedingte Verpflichtung zum Erlass von Durchführungsbestimmungen einschließlich der Festsetzung der betreffenden Mengen als Vorbedingung der Rechtmäßigkeit des Erlasses von Abzugsmaßnahmen nach Art. 105 Abs. 1 und 2 der Kontrollverordnung geltend.
47 Daher ist der erste Klagegrund als unbegründet zurückzuweisen, ohne dass zum weiteren Vorbringen der Parteien in diesem Zusammenhang Stellung genommen zu werden brauchte.
Zum zweiten Klagegrund: Verletzung wesentlicher Formvorschriften
48 Mit dem vorliegenden Klagegrund macht das Königreich Spanien im Wesentlichen geltend, die angefochtene Verordnung sei mit einem Verfahrensfehler behaftet, da die Kommission vor ihrem Erlass keine Stellungnahme des Verwaltungsausschusses gemäß dem Verfahren nach Art. 119 der Kontrollverordnung eingeholt habe.
49 Das Königreich Spanien rügt im Wesentlichen, dass die Kommission von dem Verfahren abgewichen sei, das sie gewöhnlich auf dem Gebiet von Sanktionen gegen einen Mitgliedstaat wegen Überfischung befolgt habe. Entgegen dieser Praxis habe sie die angefochtene Verordnung erlassen, ohne vorher eine Stellungnahme des Verwaltungsausschusses ‐ eines Organs, in dem die betreffenden Mitgliedstaaten Stellung nehmen und ihre Interessen verteidigen könnten ‐ eingeholt zu haben, was eine Verletzung wesentlicher Formvorschriften sei. Außerdem stellt das Königreich Spanien die Relevanz der von der Kommission getroffenen Unterscheidung zwischen zwei unterschiedlichen Systemen des Abzugs nach Art. 105 der Kontrollverordnung, nämlich zum einen dem „ordentlichen“ Verfahren (Abs. 2, 3 und 5 dieses Artikels) und zum anderen dem „historischen“ Verfahren (Abs. 4 dieses Artikels), das allein dem Ausschussverfahren unterliege und eine Anhörung des betreffenden Mitgliedstaats verlange, in Abrede. Ebenso sei die Auffassung unrichtig, dass Art. 105 Abs. 6 der Kontrollverordnung nur Abs. 4 dieses Artikels betreffe. Die Tatsache, dass Durchführungsbestimmungen „insbesondere zur Festsetzung der … Mengen“ erlassen werden könnten, zeige, dass Abs. 6 sich auf die Festsetzung dieser Mengen nach jedem Absatz dieses Artikels beziehe.
50 Die Kommission tritt dem Vorbringen des Königreichs Spanien entgegen und beantragt, den vorliegenden Klagegrund zurückzuweisen.
51 Dazu genügt der Hinweis, dass Art. 105 Abs. 1 und 2 der Kontrollverordnung, auf die sich die angefochtene Verordnung ausschließlich gründet, keine Konsultation des Verwaltungsausschusses im Sinne von Abs. 6 in Verbindung mit Art. 119 dieser Verordnung vorsieht. Wie die Kommission zutreffend ausführt, sieht nur Art. 105 Abs. 4 ein solches Verfahren sowie eine vorherige Anhörung des betreffenden Mitgliedstaats vor, und zwar bei „Quotenabzüge[n] von künftigen Quoten dieses Mitgliedstaats“, wenn dieser „in früheren Jahren über die ihm … zugewiesene Quote … hinaus gefischt [hat]“, was die Kommission als „historische“ Abzüge bezeichnet, die mehrere Jahre umfassen. Hingegen beziehen sich die Abzüge nach Art. 105 Abs. 2 der Kontrollverordnung nur auf die Überschreitung der Quote „in einem bestimmten Jahr“ und können daher nicht als in diesem Sinne „historisch“ eingestuft werden.
52 Im Übrigen sieht das im vorliegenden Fall nicht angewandte, besondere Verfahren nach Art. 105 Abs. 5 der Kontrollverordnung, das die Kommission ermächtigt, „im folgenden Jahr oder in den folgenden Jahren … Quotenabzüge für andere Bestände oder Bestandsgruppen in demselben geografischen Gebiet oder für Bestände oder Bestandsgruppen von gleichem Marktwert vor[zu]nehmen, für die [einem] Mitgliedstaat Quoten zugewiesen wurden“, wenn dieser Mitgliedstaat „nicht mehr oder nicht in ausreichendem Maße über eine Quote [der überfischten Ressource] verfügt“, auch keine Inanspruchnahme des Verfahrens nach Art. 119 dieser Verordnung und daher keine vorherige Konsultation des Verwaltungsausschusses vor, sondern nur die Anhörung des betreffenden Mitgliedstaats.
53 In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass selbst Art. 140 der Durchführungsverordnung (EU) Nr. 404/2011 der Kommission vom 8. April 2011 mit Durchführungsbestimmungen zu der Verordnung (EG) Nr. 1224/2009 (ABl. L 112, S. 1), die nach dem Erlass der angefochtenen Verordnung in Kraft getreten und folglich auf den vorliegenden Fall nicht anwendbar ist, nur die Verpflichtung der Kommission vorsieht, sich mit dem betreffenden Mitgliedstaat zu beratschlagen, wenn sie beabsichtigt, Abzüge nach Art. 105 Abs. 4 und 5 der Kontrollverordnung vorzunehmen, ohne jedoch das Ausschussverfahren nach ihrem Art. 119 zu erwähnen.
54 Folglich findet das Vorbringen des Königreichs Spanien, wonach das Konsultationsverfahren nach Art. 119 der Kontrollverordnung im Rahmen jedes Verfahrens befolgt werden muss, das zum Erlass von Abzugsmaßnahmen nach Art. 105 dieser Verordnung führt, weder im Wortlaut dieses Artikels noch in seinem Regelungskontext eine Stütze. Das Königreich Spanien kann auch nicht geltend machen, dass Abs. 6 des letztgenannten Artikels sich auf die „Festsetzung der betreffenden Mengen“ nach jedem Absatz dieses Artikels beziehe, so dass Durchführungsbestimmungen von der Kommission in allen dort genannten Fällen erlassen werden müssten. Wie oben in den Rn. 38 bis 47 ausgeführt, räumt zum einen Art. 105 Abs. 6 dieser Verordnung der Kommission ein Ermessen hinsichtlich des Erlasses solcher Durchführungsbestimmungen ein und ist zum anderen Art. 105 Abs. 1 und 2 dieser Verordnung, insbesondere hinsichtlich der Berechnung des Gesamtbetrags der durchzuführenden Abzüge, hinreichend klar, genau und unbedingt und kann daher unmittelbar angewandt werden.
55 Soweit schließlich das Königreich Spanien rügt, die Kommission sei vom Verfahren abgewichen, das sie gewöhnlich befolge, insbesondere dem, das dem Erlass der Verordnung (EU) Nr. 1004/2010 vom 8. November 2010 über Abzüge von bestimmten Fangquoten für 2010 wegen Überfischung im vorangegangenen Jahr (ABl. L 291, S. 31) vorausgegangen sei, so ist dieses Argument im vorliegenden Kontext als ins Leere gehend zurückzuweisen, da diese Rüge höchstens im Rahmen des vierten bis sechsten Klagegrundes relevant sein kann, die jeweils einen Verstoß gegen den Grundsatz der Rechtssicherheit, den Grundsatz des Vertrauensschutzes und den Gleichbehandlungsgrundsatz betreffen. Im Übrigen ergibt sich, wie die Kommission vorbringt, weder aus dem verfügenden Teil noch aus den Gründen dieser Verordnung, dass ihrem Erlass eine Konsultation des Verwaltungsausschusses vorangegangen wäre.
56 Der zweite Klagegrund ist deshalb als unbegründet zurückzuweisen.
Zum dritten Klagegrund: Verletzung der Verteidigungsrechte
57 Das Königreich Spanien trägt im Wesentlichen vor, die Abzugsmaßnahmen seien unter Beachtung aller Verfahrensgarantien zu erlassen, die dem betreffenden Mitgliedstaat erlaubten, sich zu verteidigen, darunter das Recht auf Anhörung, das normalerweise über den Verwaltungsausschuss ausgeübt werde. Dazu hat das Königreich Spanien in der mündlichen Verhandlung unter Verweisung auf das Urteil des Gerichts vom 21. November 2012, Spanien/Kommission (T‑76/11), ausgeführt, seine Argumentation betreffend den „Sanktions“-charakter der Abzugsmaßnahmen nicht weiter aufrechtzuerhalten. Die spanischen Behörden seien jedoch nie zu den Bedingungen der Umsetzung des Abzugs, wie den jährlichen Höchstsätzen des Abzugs, den Zeitraum für die Abzüge und den bestehenden sozioökonomischen Bedingungen, konsultiert worden, um die Zweckmäßigkeit eines progressiven oder linearen Abzugs zu prüfen. Der bloße Umstand, dass das Königreich Spanien die Zahlen, die die Makrelenüberfischung im Jahr 2010 belegten, nicht bestreite, bedeute nämlich nicht, dass es die Abzüge unter jeglicher Bedingung anerkenne.
58 Schließlich hat das Königreich Spanien seine erstmals in der Erwiderung vorgetragene Rüge fallen gelassen, wonach die Kommission seine Verteidigungsrechte verletzt habe, indem sie es unterlassen habe, ihm die Anrechnung der Abzüge auf die Quoten anderer Bestände oder Bestandsgruppen nach Art. 105 Abs. 5 der Kontrollverordnung vorzuschlagen, was im Sitzungsprotokoll vermerkt worden ist.
59 Die Kommission tritt dem Vorbringen des Königreichs Spanien entgegen und beantragt, den vorliegenden Klagegrund zurückzuweisen.
60 Mit dem vorliegenden Klagegrund macht das Königreich Spanien eine Verletzung seiner Verteidigungsrechte geltend, da die spanischen Behörden vor dem Erlass der angefochtenen Verordnung zu den Modalitäten der Umsetzung der vorgeschriebenen Abzüge, nämlich zur Anwendung des Kriteriums nach Art. 105 Abs. 2 der Kontrollverordnung, wonach „im folgenden Jahr oder in den folgenden Jahren die jährliche Quote [gekürzt wird]“, nicht angemessen gehört worden seien. Das Königreich Spanien bestreitet hingegen nicht, hinsichtlich der Anwendung der anderen Kriterien nach Art. 105 Abs. 1 und 2 dieser Verordnung angemessen unterrichtet und angehört worden zu sein.
61 Wie oben in Rn. 44 ausgeführt, verfügt die Kommission bei der Frage, ob und auf welche Art sie diese Abzüge „im folgenden Jahr oder in den folgenden Jahren [auf] die … Quote“ gemäß Art. 105 Abs. 2 der Kontrollverordnung aufteilen will, über ein Ermessen, nämlich betreffend die zeitliche Aufteilung dieser Abzüge sowie die Festlegung des Zeitraums, in dem sie durchgeführt werden müssen, um die vorgeschriebene Obergrenze zu erreichen. Aus dem siebten Erwägungsgrund der angefochtenen Verordnung ergibt sich, dass die Kommission im vorliegenden Fall von diesem Ermessen Gebrauch machte, indem sie mehrere Kriterien berücksichtigte, darunter insbesondere die Tatsache, dass der betreffende Makrelenbestand „sich … innerhalb sicherer biologischer Grenzen [befand]“ und laut wissenschaftlichen Gutachten „sich hieran auch in absehbarer Zeit nichts ändern dürfte“, sowie die Unangemessenheit einer „unmittelbare[n] und umfassende[n] Kürzung der Makrelenquote [des Königreichs Spanien] für 2011“, da sie „eine vollständige Einstellung dieser Fischerei im Jahr 2011 bewirken [würde]“ und folglich „unverhältnismäßige sozioökonomische Folgen für den Fischereisektor und die betreffende Verarbeitungsindustrie haben [könnte]“.
62 Nach ständiger Rechtsprechung kommen, wie die Art. 41, 47 und 48 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union bestätigen, den Verteidigungsrechten, die auch das Recht auf Anhörung umfassen, sehr große Bedeutung und sehr weiter Geltungsumfang in der Unionsrechtsordnung zu, wobei diese Rechte in allen Verfahren gelten müssen, die zu einer beschwerenden Maßnahme führen können. Außerdem sind diese Rechte auch dann zu wahren, wenn die anwendbare Regelung ein solches Verfahrensrecht nicht ausdrücklich vorsieht. Das Recht auf Anhörung garantiert daher jeder Person die Möglichkeit, im Verwaltungsverfahren, bevor ihr gegenüber eine für ihre Interessen nachteilige Entscheidung erlassen wird, sachdienlich und wirksam ihren Standpunkt vorzutragen (vgl. in diesem Sinne Urteil des Gerichtshofs vom 22. November 2012, M. M., C‑277/11, Rn. 81 bis 87 und die dort angeführte Rechtsprechung, vgl. auch Urteile des Gerichtshofs vom 29. Juni 1994, Fiskano/Kommission, C-135/92, Slg. 1994, I-2885, Rn. 39 und 40, vom 24. Oktober 1996, Kommission/Lisrestal u. a., C-32/95 P, Slg. 1996, I-5373, Rn. 21, und vom 9. Juni 2005, Spanien/Kommission, C-287/02, Slg. 2005, I-5093, Rn. 37). Daher kann im Hinblick auf seine Eigenschaft als fundamentaler und allgemeiner Rechtsgrundsatz des Unionsrechts der Grundsatz der Beachtung der Verteidigungsrechte durch eine Verordnung weder ausgeschlossen noch eingeschränkt werden, und diese Rechte sind daher sowohl bei völligem Fehlen einer Sonderregelung als auch bei Vorliegen einer Regelung, die ihnen nicht selbst Rechnung trägt, zu beachten (vgl. in diesem Sinne Urteil des Gerichts vom 19. Juni 1997, Air Inter/Kommission, T-260/94, Slg. 1997, II-997, Rn. 60).
63 Außerdem kommt in Fällen, in denen die Unionsorgane über ein Ermessen verfügen – wie die Kommission nach Art. 105 Abs. 2 der Kontrollverordnung (siehe oben, Rn. 61) –, der Einhaltung der Garantien, die die Unionsrechtsordnung für Verwaltungsverfahren vorsieht, noch wesentlichere Bedeutung zu. Zu diesen Garantien gehören insbesondere die Verpflichtung des zuständigen Organs, sorgfältig und unparteiisch alle relevanten Gesichtspunkte des Einzelfalls zu untersuchen, das Recht des Betroffenen, seinen Standpunkt zu Gehör zu bringen, und das Recht auf eine ausreichende Begründung der Entscheidung. Nur so kann der Unionsrichter überprüfen, ob die für die Ausübung des Ermessens maßgeblichen sachlichen und rechtlichen Umstände vorgelegen haben (vgl. Urteile des Gerichtshofs vom 21. November 1991, Technische Universität München, C-269/90, Slg. 1991, I-5469, Rn. 14, vom 22. November 2007, Spanien/Lenzing, C-525/04 P, Slg. 2007, I-9947, Rn. 58, und vom 6. November 2008, Niederlande/Kommission, C-405/07 P, Slg. 2008, I-8301, Rn. 56).
64 Folglich ist der Anwendungsbereich des Rechts auf Anhörung als Grundsatz und Grundrecht der Unionsrechtsordnung eröffnet, wenn die Verwaltung eine beschwerende Maßnahme erlassen will, nämlich eine für die Interessen der betroffenen Person oder des betroffenen Mitgliedstaats nachteilige Maßnahme, wobei seine Anwendung nicht davon abhängt, dass es dafür eine vom Sekundärrecht vorgesehene ausdrückliche Regel gibt. Es ist festzustellen, dass die mit der angefochtenen Verordnung vorgeschriebenen Abzüge solche das Königreich Spanien beschwerende Maßnahmen darstellen, da sie beträchtliche Kürzungen der jährlichen Fangquoten darstellen, die diesem im Zeitraum von 2011 bis zumindest 2015 zugewiesen wurden. Außerdem hat die Kommission im vorliegenden Fall die jeweiligen Beträge dieser Abzüge sowie den Zeitraum, in dem sie angewandt werden müssen, im Rahmen ihres Ermessens nach Art. 105 Abs. 2 der Kontrollverordnung festgesetzt.
65 Im Licht dieser Rechtsprechung ist zu beurteilen, ob die Kommission im vorliegenden Fall dieses Recht auf Anhörung der spanischen Behörden zu den Modalitäten der Umsetzung der beabsichtigten Abzüge, einschließlich der Festsetzung ihres jährlichen Betrags und ihrer zeitlichen Aufteilung, gewahrt hat.
66 Erstens steht fest, dass die Kommission die spanischen Behörden im Anschluss an die in Spanien durchgeführten Überprüfungen betreffend die Makrelenfischerei im Jahr 2010 zum einen angemessen über ihre Feststellungen unterrichtete, nach denen das Königreich Spanien die ihm für diese Art für das Jahr 2010 zugeteilten Quoten um 19621 Tonnen überschritten habe und dass ab März 2010 mit 39693 Tonnen gefangenen Makrelen die jährlichen Fangquoten für Makrele von 24604 Tonnen um 61 % überschritten worden seien, und diese Behörden zum anderen zur Stellungnahme aufforderte, in deren Rahmen diese es unterließen, die von der Kommission festgestellten Zahlen zu bestreiten (siehe oben, Rn. 2 und 3). Ebenso beschwerte sich die Kommission im Hinblick auf diese Situation spätestens ab Juli 2010 über die mangelnde Kooperationsbereitschaft der spanischen Behörden in dieser Hinsicht und verlangte die Übermittlung der unerlässlichen Informationen zur Beurteilung der Situation (siehe oben, Rn. 5).
67 Zweitens ergibt sich sowohl aus Punkt 4 der Tagesordnung des Treffens vom 30. November 2010 als auch aus Punkt 1 der Tagesordnung des Treffens vom 11. Januar 2011, dass die Dienststellen der Kommission „bereit [waren], die Bedingungen des Abzugs auf der Grundlage [von Art. 105 der Kontrollverordnung] mit den spanischen Behörden zu erörtern“ (siehe oben, Rn. 8 und 12).
68 Drittens ergibt sich, obwohl die Kommission in den Protokollen der angeführten Treffen dargelegt hat, dass sie die spanischen Behörden „hinsichtlich der Form der vorgenommenen Abzüge wegen Überfischung“ nicht anhören müsse (siehe oben, Rn. 9 und 13), insbesondere aus den von der Kommission nach der mündlichen Verhandlung vorgelegten Informationen und Dokumenten, deren Inhalt vom Königreich Spanien nicht als solcher bestritten wird, dass die Dienststellen der Kommission und diese Behörden im Zeitraum von Ende November 2010 bis ungefähr Mitte Februar 2011, und daher vor dem Erlass der angefochtenen Verordnung, bezüglich der konkreten Umsetzung der Gesamtmenge der Abzüge, wie sie von der Kommission bestimmt und vom Königreich Spanien anerkannt worden war, in ständigem Kontakt waren (siehe oben, Rn. 7 bis 17). Insbesondere hat im Anschluss an ein Treffen vom 24. Januar 2011 zwischen Frau E. und Frau V. I. Letztere mehrere Vorschläge gemacht, u. a. hinsichtlich des Abzugskoeffizienten, des angemessenen Zeitraums für die Verteilung der Abzüge und des anzuwendenden Prozentsatzes der Kürzung (siehe oben, Rn. 14). Außerdem hat Frau A., der am 4. Februar 2011 bei einem bilateralen Treffen mit Frau D. mitgeteilt worden war, dass die Kommission beabsichtige, die Abzüge während eines Zeitraums von zwei Jahren anzuwenden, um einen längeren Zeitraum ersucht, um bestimmte wirtschaftliche Umstände und die Interessen der spanischen Fischereiflotte zu berücksichtigen, die zur Anpassung an die möglichen Folgen der Überfischung und der anschließenden Abzüge eine gewisse Zeit benötigen würde (siehe oben, Rn. 15). Überdies hat Frau A. im Anschluss an die Entscheidung der zuständigen Dienststellen der Kommission, vorzuschlagen, die Abzüge im Anhang der angefochtenen Verordnung auf vier Jahre aufzuteilen und den Betrag dieser Abzüge schrittweise zu erhöhen, darum ersucht, dass die geplanten Abzüge auf fünf oder sechs Jahre aufgeteilt würden. Dieses Ersuchen hat zu einer Aussetzung der diensteübergreifenden Konsultation der Kommission zwischen dem 18. und dem 22. Februar 2011 und zu einer Ausweitung des betreffenden Zeitraums auf fünf Jahre geführt, wie im Anhang der angefochtenen Verordnung festgelegt (siehe oben, Rn. 16 und 17).
69 Aus alledem ergibt sich daher, dass die spanischen Behörden wiederholt die Gelegenheit hatten und nutzten, angemessen Stellung zu nehmen, und dass sie im Zeitraum von Juli 2010 bis Februar 2011 tatsächlich in der Lage waren, alle einschlägigen Informationen vorzulegen, insbesondere zur sozioökonomischen Situation des spanischen Fischereisektors, um der Kommission zu erlauben, ihr Ermessen nach Art. 105 Abs. 2 der Kontrollverordnung auszuüben, und dass diese Behörden sogar in der Lage waren, das Ergebnis zu beeinflussen.
70 Daraus folgt, dass das Recht der spanischen Behörden auf Anhörung im vorliegenden Fall gewahrt wurde.
71 Insoweit kann das Vorbringen des Königreichs Spanien, die Kommission hätte eine förmliche Anhörung der spanischen Behörden zu den Abzugsmaßnahmen, wie sie von der angefochtenen Verordnung vorgesehen sind, durchführen müssen, nicht durchgreifen.
72 Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass, wie die Kommission vorträgt, im Unterschied zu den Abs. 4 und 5 von Art. 105 der Kontrollverordnung in Verbindung mit Art. 140 der Durchführungsverordnung Nr. 404/2011 (siehe oben, Rn. 53) die Abs. 1 und 2 von Art. 105 der Kontrollverordnung nicht ausdrücklich die Verpflichtung der Kommission vorsehen, sich mit dem betreffenden Mitgliedstaat in einer förmlichen Anhörung zu den beabsichtigten Abzugsmaßnahmen vor ihrem Erlass zu beratschlagen, und daher erst recht keine Verpflichtung der Kommission, sich mit dem betreffenden Mitgliedstaat in einer förmlichen Anhörung zu den Modalitäten ihrer Durchführung zu beratschlagen.
73 Sodann kann das Vorbringen des Königreichs Spanien, es sei mangels einer förmlichen Anhörung durch die Kommission, gegebenenfalls nach Konsultation des Fischereisektors, nicht in der Lage gewesen, angemessene Vorschläge zu unterbreiten, die den Inhalt der angefochtenen Verordnung hätten beeinflussen können, unter Berücksichtigung der oben in den Rn. 66 bis 69 dargelegten Umstände nicht durchgreifen. Zum einen verlangt nämlich in einem Fall wie dem vorliegenden das Recht auf Anhörung nicht, dass die Kommission, wenn die Gesamtmenge der vorzunehmenden Abzüge vom betreffenden Mitgliedstaat nicht bestritten wird, diesem Mitgliedstaat Gelegenheit gibt, sich zu den genauen Zahlen der Abzüge zu äußern, die sie im angefochtenen Rechtsakt festlegen und auf mehrere Jahre aufteilen will, um die vorgeschriebene Obergrenze zu erreichen. Zum anderen war das Königreich Spanien im vorliegenden Fall aufgrund seiner Anerkennung seiner Verpflichtung, diese Quotengesamtmenge auszugleichen, und aufgrund seiner Pflicht zur loyalen Zusammenarbeit nach Art. 4 Abs. 3 EUV gehalten, von sich aus und rechtzeitig alle hierzu einschlägigen Informationen vorzulegen, um der Kommission zu erlauben, ihr Ermessen nach Art. 105 Abs. 2 der Kontrollverordnung angemessen und in voller Sachkenntnis auszuüben. Die spanischen Behörden haben jedoch nicht nachgewiesen, dass sie die wiederholten Gelegenheiten während des Verwaltungsverfahrens genutzt haben, um ihrer Pflicht zur loyalen Zusammenarbeit nachzukommen und solche einschlägigen Informationen vorzulegen, und dies ungeachtet der Tatsache, dass sie darüber Bescheid wussten, wie viel für den Fischereisektor auf dem Spiel stand, und dass die Kommission ursprünglich die Aufteilung der erforderlichen Abzüge auf einen viel kürzeren Zeitraum als fünf Jahre beabsichtigt hatte. Schließlich hat das Königreich Spanien nicht dargelegt, ob und in welchem Umfang es den spanischen Fischereisektor zur Art und Weise, in der die Gesamtmenge der verhängten Abzüge zeitlich aufzuteilen war, konsultiert hat, obwohl es seit Juli 2010 Kenntnis von ihr hatte (siehe oben, Rn. 3).
74 Unter diesen Umständen kann das Königreich Spanien der Kommission nicht vorwerfen, sie habe seine Verteidigungsrechte verletzt, da sie keine förmliche Anhörung der spanischen Behörden zu den letztlich in der angefochtenen Verordnung festgesetzten Abzügen durchgeführt habe.
75 Folglich ist der vorliegende Klagegrund als unbegründet zurückzuweisen.
Zum vierten Klagegrund: Verstoß gegen den Grundsatz der Rechtssicherheit
76 Das Königreich Spanien trägt im Wesentlichen vor, die ihm gegenüber mit der angefochtenen Verordnung, insbesondere ihrem Art. 2, verhängten Abzugsmaßnahmen würden den Erfordernissen der Klarheit, der Genauigkeit und der Bestimmtheit nicht gerecht. Die Kommission habe sich nämlich, indem sie sich ein sehr weites Ermessen angemaßt und den Ausdruck „gegebenenfalls“ verwendet habe, die Möglichkeit vorbehalten, die Abzüge in Zukunft nach Belieben zu erhöhen und sie auf einen unbestimmten Zeitraum zu verteilen, statt vorhersehbare Kriterien festzulegen, die insbesondere sicherstellten, dass die Abzüge auf die jährlich verfügbaren Quoten eine bestimmte Obergrenze nicht überschritten. Für ein solches Ermessen gebe es keine Rechtsgrundlage, und es sei ohne Durchführungsbestimmungen, die im Rahmen des Ausschussverfahrens gebilligt worden seien, und folglich ohne die Beteiligung aller Mitgliedstaaten ausgeübt worden. Dies verstoße gegen den Grundsatz der Rechtssicherheit.
77 Die Kommission tritt dem Vorbringen des Königreichs Spanien entgegen und beantragt, den vorliegenden Klagegrund zurückzuweisen.
78 Wie die Kommission ausgeführt hat, genügt die Feststellung, dass der Anhang der angefochtenen Verordnung im Einklang mit Art. 105 Abs. 1 und 2 der Kontrollverordnung auf der Grundlage von Daten, die von den spanischen Behörden nicht bestritten wurden, und nach Maßgabe des relevanten Multiplikationsfaktors eine genaue Berechnung der anzuwendenden Abzüge enthält, deren Gesamtobergrenze von 39242 Tonnen in der sechsten Spalte der Tabelle klar angegeben ist. Außerdem wird dieser Gesamtbetrag der Abzüge, wie sich ausdrücklich aus der siebten bis elften Spalte dieser Tabelle ergibt, auf fünf Beträge aufgeteilt (4500 + 5 500 + 9 748 + 9 747 + 9 747 = 39 242), die jeweils den Jahren 2011 bis 2015 zugeordnet werden. Schließlich kann, wie der siebte Erwägungsgrund der angefochtenen Verordnung und die Kommission in ihren Schriftsätzen darlegen, der in der Spalte für das Jahr 2015 verwendete Ausdruck „gegebenenfalls“ keine Erhöhung dieses Gesamtbetrags der von dieser Verordnung verhängten Abzüge bewirken, sondern dient nur dazu, der Kommission die Möglichkeit vorzubehalten, die so vorgeschriebenen Abzüge in späteren Jahren zu ergänzen, falls die (noch unbekannten) Quoten, die dem Königreich Spanien für die Jahre 2011 bis 2015 zugewiesen werden müssen, für den vorgesehenen Abzug nicht ausreichen sollten. Mit anderen Worten beabsichtigt die Kommission, einen Abzug von 9747 Tonnen, wie er für das Jahr 2015 vorgesehen ist, „darauf folgende[n] Jahre[n]“ nur zuzurechnen, soweit sich herausstellt, dass ein solcher Abzug zumindest teilweise erforderlich ist, um die Obergrenze der verhängten Abzüge von 39242 Tonnen zu erreichen.
79 Folglich kann dem Vorbringen des Königreichs Spanien, dass die Kommission sich die Befugnis vorbehalte, die Obergrenze des Betrags der vorgesehenen Abzüge nach Belieben zu erhöhen, nicht gefolgt werden.
80 Im Hinblick auf den oben in Rn. 78 beschriebenen Regulierungsansatz, der hinreichend klar, bestimmt und in seinen Auswirkungen voraussehbar ist (vgl. in diesem Sinne Urteil des Gerichtshofs vom 7. Juni 2005, VEMW u. a., C-17/03, Slg. 2005, I-4983, Rn. 80 und die dort angeführte Rechtsprechung) und der den spanischen Behörden erlaubt, den Umfang der ihnen damit hinsichtlich der Abzüge auferlegten Verpflichtungen hinreichend zu erkennen (vgl. in diesem Sinne und entsprechend Urteil des Gerichtshofs vom 29. April 2004, Sudholz, C-17/01, Slg. 2004, I-4243, Rn. 34 und die dort angeführte Rechtsprechung), kann daher der Klagegrund eines Verstoßes gegen den Grundsatz der Rechtssicherheit keinen Erfolg haben.
81 Folglich ist der vorliegende Klagegrund als unbegründet zurückzuweisen.
Zum fünften Klagegrund: Verstoß gegen den Grundsatz des Vertrauensschutzes
82 Laut dem Königreich Spanien beeinträchtigte die angefochtene Verordnung, die am 22. Februar 2013 erlassen wurde und am 23. Februar 2013 in Kraft trat, die Durchführung der Verordnung ARM 271/2010, nach der die Makrelenfischerei bereits am 15. Februar 2011 begonnen hatte, stark (siehe oben, Rn. 11). Die Ausarbeitung dieser innerstaatlichen Verordnung habe einen langen Zeitraum an Konsultationen mit dem betroffenen Sektor erfordert, und ihr Entwurf sei schließlich der Kommission gemäß Art. 46 der Verordnung (EG) Nr. 850/98 des Rates vom 30. März 1998 zur Erhaltung der Fischereiressourcen durch technische Maßnahmen zum Schutz von jungen Meerestieren (ABl. L 125, S. 1) mitgeteilt worden. Ein solcher Ansatz widerspreche jedoch insbesondere dem Grundsatz des Vertrauensschutzes. Im Wesentlichen stellten, auch wenn die Fangquoten oder Fangmöglichkeiten keine unveränderlichen subjektiven Rechte seien, diese Quoten jedoch bereits spezielle Genehmigungen zur Ausübung der Fischereitätigkeit zu einem bestimmten Zeitpunkt dar, und diese Möglichkeiten seien für einen konkreten Zeitraum real, bestimmbar und quantifizierbar, so dass „sie konkrete Rechte werden, die für einen bestimmten Zeitraum zugewiesen sind“. Diese Fangrechte oder ‑möglichkeiten seien aber nachträglich von der angefochtenen Verordnung abgeändert worden, was u. a. zu einem Verstoß gegen den Grundsatz des Vertrauensschutzes in Bezug auf die Inhaber dieser Rechte oder Möglichkeiten geführt habe.
83 Die Kommission tritt dem Vorbringen des Königreichs Spanien entgegen und beantragt, den vorliegenden Klagegrund zurückzuweisen.
84 Nach ständiger Rechtsprechung kann sich jeder auf den Grundsatz des Vertrauensschutzes berufen, bei dem ein Unionsorgan begründete Erwartungen geweckt hat. Das Recht, sich auf diesen Grundsatz zu berufen, ist jedoch an drei kumulative Voraussetzungen gebunden. Erstens muss die Unionsverwaltung dem Betroffenen präzise, nicht an Bedingungen geknüpfte und übereinstimmende Zusicherungen von zuständiger und zuverlässiger Seite gegeben haben. Zweitens müssen diese Zusicherungen geeignet sein, begründete Erwartungen beim Adressaten zu wecken. Drittens müssen die gegebenen Zusicherungen den geltenden Vorschriften entsprechen (vgl. Urteile des Gerichts vom 18. Juni 2010, Luxemburg/Kommission, T-549/08, Slg. 2010, II-2477, Rn. 71 und die dort angeführte Rechtsprechung, und vom 27. September 2012, Applied Microengineering/Kommission, T‑387/09, Rn. 57 und 58 und die dort angeführte Rechtsprechung; vgl. in diesem Sinne auch Urteil des Gerichtshofs vom 17. März 2011, AJD Tuna, C-221/09, Slg. 2011, I-1655, Rn. 71 und 72).
85 Im vorliegenden Fall ist festzustellen, dass sich das Königreich Spanien auf keine präzisen, nicht an Bedingungen geknüpfte und übereinstimmenden Zusicherungen im Sinne dieser Rechtsprechung berufen hat, die ihm gegenüber die Feststellung eines Verstoßes gegen den Grundsatz des Vertrauensschutzes rechtfertigen könnten. Im Gegenteil steht fest, dass die spanischen Behörden in einem sehr frühen Stadium des Verwaltungsverfahrens unterrichtet wurden, dass die Kommission aufgrund der Überschreitung der in Rede stehenden Fangquote im Jahr 2010 Abzüge nach Art. 105 der Kontrollverordnung vornehmen wolle (siehe oben, Rn. 6 bis 9) und dass ihre Dienststellen die spanischen Behörden sogar mit Schreiben vom 14. Dezember 2010, d. h. vor dem Erlass der Verordnung ARM 271/2010, auf den unmittelbar bevorstehenden Erlass von Abzugsmaßnahmen hingewiesen und ihnen empfohlen hatten, die Fischerei im Jahr 2011 nur bis zu höchstens 50 % der zugeteilten Quote zu genehmigen (siehe oben, Rn. 10 und 11). Unter diesen Umständen kann das Königreich Spanien daher der Kommission nicht vorwerfen, bei ihm begründete Erwartungen hinsichtlich der Beibehaltung der Makrelenfangquoten ab dem Jahr 2011 geweckt zu haben, ohne dass darüber befunden werden muss, ob diese Quoten „wohlerworbene Rechte“ zugunsten der betroffenen Fischer bewirkten.
86 Außerdem kann selbst unter der Annahme, dass das Königreich Spanien im vorliegenden Fall eine Beeinträchtigung des berechtigten Vertrauens der Fischer geltend machen möchte und ein solcher Klagegrund zulässig ist, dieser nicht durchgreifen.
87 Insoweit ist nämlich darauf hinzuweisen, dass zwar die Möglichkeit, sich auf den Vertrauensschutz als fundamentalen Grundsatz des Unionsrechts zu berufen, jedem Wirtschaftsteilnehmer offensteht, bei dem ein Organ begründete Erwartungen geweckt hat, dass jedoch ein umsichtiger und besonnener Wirtschaftsteilnehmer, wenn er in der Lage ist, den Erlass einer Maßnahme der Union, die seine Interessen berühren kann, vorherzusehen, sich im Fall ihres Erlasses nicht auf diesen Grundsatz berufen kann. Zudem können die Wirtschaftsteilnehmer nicht auf die Beibehaltung einer bestehenden Situation vertrauen, die die Unionsorgane im Rahmen ihres Ermessens ändern können, was insbesondere auf einem Gebiet wie dem der gemeinsamen Fischereipolitik gilt, deren Zweck eine ständige Anpassung an die Veränderungen der wirtschaftlichen Lage mit sich bringt (vgl. in diesem Sinne Urteile des Gerichtshofs vom 10. September 2009, Plantanol, C-201/08, Slg. 2009, I-8343, Rn. 53 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie AJD Tuna, oben in Rn. 84 angeführt, Rn. 73; Urteil des Gerichts vom 19. Oktober 2005, Cofradía de pescadores „San Pedro de Bermeo“ u. a./Rat, T-415/03, Slg. 2005, II-4355, Rn. 78).
88 Schließlich kann nach ständiger Rechtsprechung eine Verletzung des Grundsatzes des Vertrauensschutzes nicht von einer Person geltend gemacht werden, die sich einer offensichtlichen Verletzung der geltenden Bestimmungen schuldig gemacht hat (vgl. in diesem Sinne Urteil des Gerichtshofs vom 12. Dezember 1985, Sideradria/Kommission, 67/84, Slg. 1985, 3983, Rn. 21, und Beschluss des Gerichtshofs vom 25. November 2004, Vela und Tecnagrind/Kommission, C‑18/03 P, nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, Rn. 117 bis 119; vgl. Urteil des Gerichts vom 9. April 2003, Forum des migrants/Kommission, T-217/01, Slg. 2003, II-1563, Rn. 76 und die dort angeführte Rechtsprechung). Es ist jedoch festzustellen, dass im vorliegenden Fall die von den spanischen Behörden nicht bestrittene Überschreitung der dem Königreich Spanien für das Jahr 2010 mit der Verordnung (EU) Nr. 23/2010 des Rates vom 14. Januar 2010 zur Festsetzung der Fangmöglichkeiten für bestimmte Fischbestände und Bestandsgruppen in den EU-Gewässern sowie für EU-Schiffe in Gewässern mit Fangbeschränkungen und zur Änderung der Verordnungen (EG) Nr. 1359/2008, (EG) Nr. 754/2009, (EG) Nr. 1226/2009 und (EG) Nr. 1287/2009 (ABl. L 21, S. 1 und 55) zugewiesenen Makrelenfangquoten durch die spanischen Fischer eine solche offensichtliche Verletzung darstellt.
89 Nach alledem ist der vorliegende Klagegrund als unbegründet zurückzuweisen.
Zum sechsten Klagegrund: Verstoß gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz
90 Das Königreich Spanien beanstandet, die Kommission habe es gegenüber Irland und dem Vereinigten Königreich Großbritannien und Nordirland, trotz des Vorliegens vergleichbarer Sachverhalte, ungleich behandelt. Der siebte Erwägungsgrund der angefochtenen Verordnung weise zum einen auf die Gefahr unverhältnismäßiger sozioökonomischer Folgen für den Fischereisektor und die betreffende Verarbeitungsindustrie und zum anderen auf das sich daraus ergebende Erfordernis, die Abzüge auf fünf Jahre, nämlich 2011 bis 2015, zu verteilen, sowie auf die Möglichkeit hin, danach gegebenenfalls noch erforderliche Abzüge für folgende Jahre vorzunehmen. Das Kriterium der Gefahr sozioökonomischer Folgen sei auch zuvor, beim Erlass der Verordnung (EG) Nr. 147/2007 der Kommission vom 15. Februar 2007 zur Anpassung bestimmter Fangquoten für den Zeitraum 2007 bis 2012 gemäß Artikel 23 Absatz 4 der Verordnung (EG) Nr. 2371/2002 des Rates über die Erhaltung und nachhaltige Nutzung der Fischereiressourcen im Rahmen der gemeinsamen Fischereipolitik (ABl. L 46, S. 10) bei Abzügen von den Irland und dem Vereinigten Königreich zugewiesenen Makrelenquoten, die mit 15 % der Jahresquote begrenzt worden seien, berücksichtigt worden. In der angefochtenen Verordnung habe die Kommission jedoch, trotz einer entsprechenden Begründung und des Vorliegens eines vergleichbaren Sachverhalts nicht diese Obergrenze, sondern einen prozentualen jährlichen Abzug von mehr als 15 % angewandt, was eine ungerechtfertigte Diskriminierung darstelle. Im Unterschied zur angefochtenen Verordnung sei die Verordnung Nr. 147/2007 im Rahmen des Ausschussverfahrens erlassen worden, und die betroffenen Mitgliedstaaten hätten, obwohl dieser Ausschuss nicht fristgerecht Stellung genommen habe, Gelegenheit gehabt, wie der 13. Erwägungsgrund dieser Verordnung bestätige, sich zu den Kriterien des Abzugs zu äußern. Mangels einer Anhörung der spanischen Behörden habe die Kommission kein einziges für die spanische Fischerei spezifisches Kriterium berücksichtigt, das erlaubt hätte, den für die Zwecke einer ordnungsgemäßen Anwendung des Gleichbehandlungsgrundsatzes maßgeblichen Sachverhalt zu bestimmen. Jedenfalls sei das Kriterium der Gefahr sozioökonomischer Folgen auf die jeweiligen Situationen Irlands und des Vereinigten Königreichs zum einen und des Königreichs Spanien zum anderen in gleicher Weise anwendbar. Folglich wäre die Kommission nach Ansicht des Königreichs Spanien verpflichtet gewesen, in der angefochtenen Verordnung insbesondere dieselbe Obergrenze der jährlichen Kürzung von 15 % anzuwenden.
91 Die Kommission stellt in Abrede, gegenüber dem Königreich Spanien gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz verstoßen zu haben, da die von diesem geltend gemachten Sachverhalte offensichtlich in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht unterschiedlich seien.
92 Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass der erste bis dritte Klagegrund, mit denen Verletzungen wesentlicher Formvorschriften gerügt werden, als unbegründet zurückgewiesen worden sind, so dass das entsprechende Vorbringen des Königreichs Spanien, wie es zur Stützung des vorliegenden Klagegrundes wiederholt wird, ebenfalls zurückzuweisen ist.
93 Was insbesondere den angeblichen Verstoß gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz angeht, ist darauf hinzuweisen, dass dieser allgemeine Grundsatz des Unionsrechts verlangt, dass vergleichbare Sachverhalte nicht unterschiedlich und unterschiedliche Sachverhalte nicht gleich behandelt werden dürfen, es sei denn, dass eine solche Behandlung objektiv gerechtfertigt ist. Außerdem setzt der Verstoß gegen den Gleichheitsgrundsatz durch eine unterschiedliche Behandlung voraus, dass die betreffenden Sachverhalte im Hinblick auf alle Merkmale, die sie kennzeichnen, vergleichbar sind. Die Merkmale unterschiedlicher Sachverhalte und somit deren Vergleichbarkeit sind u. a. im Licht des Ziels und des Zwecks der Unionsmaßnahme, die die fragliche Unterscheidung einführt, zu bestimmen und zu beurteilen. Außerdem sind die Grundsätze und Ziele des Regelungsbereichs zu berücksichtigen, dem die in Rede stehende Maßnahme unterfällt (vgl. in diesem Sinne Urteile des Gerichtshofs vom 16. Dezember 2008, Arcelor Atlantique et Lorraine u. a., C-127/07, Slg. 2008, I-9895, Rn. 23, 25 und 26 sowie die dort angeführte Rechtsprechung, und vom 12. Mai 2011, Luxemburg/Parlament und Rat, C-176/09, Slg. 2011, I-3727, Rn. 31 und 32).
94 Im vorliegenden Fall ist festzustellen, dass die dem Erlass der angefochtenen Verordnung und dem Erlass der Verordnung Nr. 147/2007 zugrunde liegenden Sachverhalte in rechtlicher sowie tatsächlicher Hinsicht weder identisch noch so ähnlich waren, dass ihre Gleichbehandlung durch die Kommission gerechtfertigt gewesen wäre.
95 In rechtlicher Hinsicht gründete sich nämlich die Verordnung Nr. 147/2007 auf Art. 23 Abs. 4 der Verordnung (EG) Nr. 2371/2002 des Rates vom 20. Dezember 2002 über die Erhaltung und nachhaltige Nutzung der Fischereiressourcen im Rahmen der gemeinsamen Fischereipolitik (ABl. L 358, S. 59), der durch Art. 105 der Kontrollverordnung ersetzt wurde (vgl. ihren Art. 121 Abs. 2 Buchst. b), und betraf die Durchführung sogenannter „historischer“ Abzüge aufgrund einer Überschreitung der Makrelenfangquoten in den Jahren 2001 bis 2005, insbesondere durch das Vereinigte Königreich, ein Sachverhalt, der derzeit von Art. 105 Abs. 4 dieser Verordnung geregelt wird, der im vorliegenden Fall nicht anwendbar ist. Im vorliegenden Fall hingegen war die Kommission nicht einmal befugt, diese Bestimmung anzuwenden, da die festgestellte Überfischung in den Anwendungsbereich von Art. 105 Abs. 2 dieser Verordnung fiel, der die Überschreitung der Quote nur in einem „bestimmten Jahr“ betrifft.
96 Im Gegensatz zu den genauen Kriterien des Art. 105 Abs. 2 der Kontrollverordnung, nach denen eine gebundene Zuständigkeit der Kommission bei der Berechnung des genauen Betrags der durchzuführenden Abzüge besteht (siehe oben, Rn. 44), erforderte außerdem Art. 23 Abs. 4 Unterabs. 1 der Verordnung Nr. 2371/2002 – seiner allgemeinen Natur nach und mangels zusätzlicher Klarstellungen in anderen Bestimmungen der Verordnung Nr. 2371/2002 –, dessen Wortlaut im Wesentlichen dem von Art. 105 Abs. 1 der Kontrollverordnung entspricht, die Einräumung eines weiten Ermessens an die Kommission bei der Festsetzung dieses Betrags und der Art seiner Berechnung. Überdies hielt es die Kommission in Ausübung dieses Ermessens für angebracht, den anwendbaren Korrekturfaktor zu ändern und die beabsichtigten Abzüge im Zeitraum von 2007 bis 2012 auf 15 % der dem betreffenden Mitgliedstaat zugewiesenen jährlichen Fangquote zu beschränken (vgl. Erwägungsgründe 7 und 11 der Verordnung Nr. 147/2007). Auf der Grundlage von Art. 105 Abs. 2 der Kontrollverordnung, den die Kommission im vorliegenden Fall anwandte, wäre jedoch ein solcher Ansatz rechtlich nicht möglich gewesen.
97 Daher bringt das Königreich Spanien, zumindest aus diesen rechtlichen Gründen, zu Unrecht vor, dass die jeweils von der angefochtenen Verordnung und der Verordnung Nr. 147/2007 geregelten Sachverhalte zumindest vergleichbar seien und die Kommission im vorliegenden Fall aufgrund des Gleichbehandlungsgrundsatzes ihm gegenüber dieselbe prozentuale Verringerung von 15 % hätte anwenden müssen.
98 Selbst wenn, wie das Königreich Spanien vorträgt, die sozioökonomische Situation der Fischindustrie in den jeweiligen Mitgliedstaaten zumindest vergleichbar gewesen wäre, ein Vorbringen, für das das Königreich Spanien keinen aussagekräftigen Beweis beibringt, wäre die Kommission unter diesen Umständen im Hinblick auf die verbindlichen Kriterien von Art. 105 Abs. 2 der Kontrollverordnung nicht berechtigt gewesen, dieselbe Berechnungsmethode für die Abzüge wie im Rahmen der Verordnung Nr. 147/2007 anzuwenden, die sich auf Art. 23 Abs. 4 Unterabs. 1 der Verordnung Nr. 2371/2002 stützte.
99 Da die in Rede stehenden Sachverhalte nicht vergleichbar sind und unterschiedlich behandelt wurden, ist folglich der Klagegrund eines Verstoßes gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz als unbegründet zurückzuweisen, ohne dass zu dem weiteren Vorbringen der Parteien in diesem Zusammenhang Stellung genommen zu werden brauchte.
100 Nach alledem ist die Klage insgesamt abzuweisen.
Kosten
101 Nach Art. 87 § 2 der Verfahrensordnung des Gerichts ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen.
102 Da das Königreich Spanien mit seinem gesamten Vorbringen unterlegen ist, ist es entsprechend dem Antrag der Kommission zur Tragung seiner eigenen Kosten sowie der Kosten der Kommission zu verurteilen.
Aus diesen Gründen hat
DAS GERICHT (Vierte Kammer)
für Recht erkannt und entschieden:
1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Das Königreich Spanien trägt seine eigenen Kosten und die Kosten der Europäischen Kommission.
Prek
Labucka
Kreuschitz
Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 18. Juni 2014.
Unterschriften
Inhaltsverzeichnis
Vorgeschichte des Rechtsstreits
Verfahren und Anträge der Parteien
Rechtliche Würdigung
Zusammenfassung der Nichtigkeitsgründe
Zum ersten Klagegrund: Verstoß gegen Art. 105 Abs. 6 der Kontrollverordnung
Zum zweiten Klagegrund: Verletzung wesentlicher Formvorschriften
Zum dritten Klagegrund: Verletzung der Verteidigungsrechte
Zum vierten Klagegrund: Verstoß gegen den Grundsatz der Rechtssicherheit
Zum fünften Klagegrund: Verstoß gegen den Grundsatz des Vertrauensschutzes
Zum sechsten Klagegrund: Verstoß gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz
Kosten
(*1) Verfahrenssprache: Spanisch.
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Urteil des Gerichtshofs (Zweite Kammer) vom 4. Oktober 2012.#Hristo Byankov gegen Glaven sekretar na Ministerstvo na vatreshnite raboti.#Vorabentscheidungsersuchen des Administrativen sad Sofia-grad.#Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten – Richtlinie 2004/38/EG – Art. 27 – Verwaltungsmaßnahme eines Ausreiseverbots wegen Nichtbegleichung einer Schuld gegenüber einer juristischen Person des Privatrechts – Grundsatz der Rechtssicherheit hinsichtlich bestandskräftig gewordener Verwaltungsakte – Grundsätze der Äquivalenz und der Effektivität.#Rechtssache C‑249/11.
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62011CJ0249
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ECLI:EU:C:2012:608
| 2012-10-04T00:00:00 |
Mengozzi, Gerichtshof
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Sammlung der Rechtsprechung – allgemein
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62011CJ0249
URTEIL DES GERICHTSHOFS (Zweite Kammer)
4. Oktober 2012 (*1)
„Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten — Richtlinie 2004/38/EG — Art. 27 — Verwaltungsmaßnahme eines Ausreiseverbots wegen Nichtbegleichung einer Schuld gegenüber einer juristischen Person des Privatrechts — Grundsatz der Rechtssicherheit hinsichtlich bestandskräftig gewordener Verwaltungsakte — Grundsätze der Äquivalenz und der Effektivität“
In der Rechtssache C-249/11
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Administrativen sad Sofia-grad (Bulgarien) mit Entscheidung vom 9. Mai 2011, beim Gerichtshof eingegangen am 19. Mai 2011, in dem Verfahren
Hristo Byankov
gegen
Glaven sekretar na Ministerstvo na vatreshnite raboti
erlässt
DER GERICHTSHOF (Zweite Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten J. N. Cunha Rodrigues sowie der Richter U. Lõhmus, A. Ó Caoimh (Berichterstatter), A. Arabadjiev und C. G. Fernlund,
Generalanwalt: P. Mengozzi,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
—
der Europäischen Kommission, vertreten durch C. Tufvesson und V. Savov als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 21. Juni 2012
folgendes
Urteil
1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 4 Abs. 3 EUV in Verbindung mit den Art. 20 AEUV und 21 AEUV, von Art. 52 Abs. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) und von Art. 27 Abs. 1 sowie Art. 31 Abs. 1 und 3 der Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 und zur Aufhebung der Richtlinien 64/221/EWG, 68/360/EWG, 72/194/EWG, 73/148/EWG, 75/34/EWG, 75/35/EWG, 90/364/EWG, 90/365/EWG und 93/96/EWG (ABl. L 158, S. 77, Berichtigung in ABl. L 229, S. 35).
2 Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Herrn Byankov und dem Glaven sekretar na Ministerstvo na vatreshnite raboti (Hauptsekretär des Innenministeriums) wegen der Weigerung, ein Verwaltungsverfahren wiederaufzunehmen und die gegen Herrn Byankov erlassene Verwaltungsmaßnahme eines Ausreiseverbots wegen Nichtbegleichung einer privaten Verbindlichkeit aufzuheben.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
3 Im 31. Erwägungsgrund der Richtlinie 2004/38 heißt es, dass diese Richtlinie mit den Grundrechten und -freiheiten und den Grundsätzen, die mit der Charta anerkannt wurden, in Einklang steht.
4 Nach ihrem Art. 3 Abs. 1 gilt die Richtlinie 2004/38 für jeden Unionsbürger, der sich in einen anderen als den Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, begibt oder sich dort aufhält, sowie für seine Familienangehörigen, die ihn begleiten oder ihm nachziehen.
5 Art. 4 Abs. 1 dieser Richtlinie lautet:
„Unbeschadet der für die Kontrollen von Reisedokumenten an den nationalen Grenzen geltenden Vorschriften haben alle Unionsbürger, die einen gültigen Personalausweis oder Reisepass mit sich führen, … das Recht, das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats zu verlassen und sich in einen anderen Mitgliedstaat zu begeben.“
6 Art. 27 Abs. 1 und 2 in Kapitel VI („Beschränkungen des Einreise- und Aufenthaltsrechts aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit“) dieser Richtlinie bestimmt:
„(1) Vorbehaltlich der Bestimmungen dieses Kapitels dürfen die Mitgliedstaaten die Freizügigkeit und das Aufenthaltsrecht eines Unionsbürgers oder seiner Familienangehörigen, ungeachtet ihrer Staatsangehörigkeit, aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit beschränken. Diese Gründe dürfen nicht zu wirtschaftlichen Zwecken geltend gemacht werden.
(2) Bei Maßnahmen aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit ist der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu wahren und darf ausschließlich das persönliche Verhalten des Betroffenen ausschlaggebend sein. Strafrechtliche Verurteilungen allein können ohne weiteres diese Maßnahmen nicht begründen.
Das persönliche Verhalten muss eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr darstellen, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt. Vom Einzelfall losgelöste oder auf Generalprävention verweisende Begründungen sind nicht zulässig.“
7 Im selben Kapitel sieht Art. 31 („Verfahrensgarantien“) der Richtlinie 2004/38 vor:
„(1) Gegen eine Entscheidung aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit müssen die Betroffenen einen Rechtsbehelf bei einem Gericht und gegebenenfalls bei einer Behörde des Aufnahmemitgliedstaats einlegen können.
…
(3) Im Rechtsbehelfsverfahren sind die Rechtmäßigkeit der Entscheidung sowie die Tatsachen und die Umstände, auf denen die Entscheidung beruht, zu überprüfen. Es gewährleistet, dass die Entscheidung … nicht unverhältnismäßig ist.
…“
8 Art. 32 Abs. 1 dieser Richtlinie, der ebenfalls zu Kapitel VI gehört, lautet:
„Personen, gegen die aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit ein Aufenthaltsverbot verhängt worden ist, können nach einem entsprechend den Umständen angemessenen Zeitraum, in jedem Fall aber drei Jahre nach Vollstreckung des nach dem Gemeinschaftsrecht ordnungsgemäß erlassenen endgültigen Aufenthaltsverbots einen Antrag auf Aufhebung des Aufenthaltsverbots unter Hinweis darauf einreichen, dass eine materielle Änderung der Umstände eingetreten ist, die das Aufenthaltsverbot gerechtfertigt haben.
Der betreffende Mitgliedstaat muss binnen sechs Monaten nach Einreichung des Antrags eine Entscheidung treffen.“
Bulgarisches Recht
9 Nach Art. 23 Abs. 2 des Zakon za balgarskite lichni dokumenti (Gesetz über die bulgarischen Personaldokumente) (DV Nr. 93 vom 11. August 1998) in seiner für das Ausgangsverfahren geltenden Fassung (DV Nr. 105 vom 22. Dezember 2006, im Folgenden: ZBLD) „[hat] [j]eder bulgarische Staatsbürger … das Recht, über die Binnengrenzen zwischen der Republik Bulgarien und den Mitgliedstaaten der Europäischen Union sowie in den in völkerrechtlichen Verträgen vorgesehenen Fällen das Land auch mit einem Personalausweis zu verlassen und dorthin zurückzukehren“.
10 Nach Art. 23 Abs. 3 ZBLD „[darf] [d]as Recht nach Abs. 2 … nur Einschränkungen unterworfen werden, die gesetzlich vorgesehen sind und den Schutz der nationalen Sicherheit, der öffentlichen Ordnung, der Gesundheit der Staatsbürger oder der Rechte und Freiheiten der anderen Staatsbürger zum Ziel haben“.
11 Art. 76 Nr. 3 ZBLD bestimmt:
„Es ist möglich, folgenden Personen das Verlassen des Landes nicht zu gestatten und Pässe oder Ersatzdokumente nicht auszustellen:
…
3. Personen, die erhebliche Geldschulden gegenüber bulgarischen natürlichen oder juristischen Personen oder ausländischen natürlichen oder juristischen Personen haben, die gerichtlich festgestellt worden sind, es sei denn, ihr persönliches Vermögen deckt die Schuld oder sie stellen eine angemessene Sicherheit“.
12 Nach den Zusatzbestimmungen zum ZBLD gilt ein Betrag von mehr als 5000 BGN als „erheblich“ im Sinne von Art. 76 Nr. 3 ZBLD.
13 Art. 76 Nr. 3 ZBLD wurde durch § 62 Nr. 3 des am 20. Oktober 2009 in Kraft getretenen Gesetzes zur Änderung und Ergänzung des Gesetzes über die bulgarischen Personaldokumente (DV Nr. 82 vom 16. Oktober 2009) aufgehoben. Der bulgarische Gesetzgeber hat jedoch keine Aufhebung von Amts wegen der nach Art. 76 Nr. 3 ZBLD verhängten Verwaltungszwangsmaßnahmen vorgesehen.
14 Der in Kapitel 7 („Wiederaufnahme des Verfahrens zum Erlass von Verwaltungsakten“) des Administrativnoprotsesualen kodeks (Verwaltungsverfahrensordnung) (im Folgenden: APK) enthaltene Art. 99 sieht vor:
„Ein bestandskräftig gewordener individueller oder allgemeiner Verwaltungsakt, der nicht vor Gericht angefochten worden ist, kann von der unmittelbar höherrangigen Verwaltungsbehörde oder, wenn der Verwaltungsakt nicht im Verwaltungsweg anfechtbar war, von der Behörde, die ihn erlassen hat, aufgehoben oder geändert werden, sofern:
1. ein wesentlicher Verstoß gegen eine der Voraussetzungen für seine Rechtmäßigkeit vorliegt;
…
7. durch eine Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte ein Verstoß gegen [die am 4. November 1950 in Rom unterzeichnete] Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten festgestellt worden ist.“
15 Nach der Vorlageentscheidung gibt Art. 99 Nr. 1 APK der Verwaltungsbehörde die Befugnis, einen bestandskräftig gewordenen Verwaltungsakt aufzuheben, sofern ein wesentlicher Verstoß gegen eine der Voraussetzungen für seine Rechtmäßigkeit vorliegt. Nach Art. 100 und Art. 102 Abs. 1 APK kann diese Befugnis jedoch nur binnen einer Frist von einem Monat ab dem Zeitpunkt des Erlasses des fraglichen Verwaltungsakts und auf Initiative der Verwaltungsbehörde, die den Verwaltungsakt erlassen hat, oder auf Vorschlag des betreffenden Staatsanwalts oder des Bürgerbeauftragten ausgeübt werden.
16 Nach Art. 102 Abs. 2 APK dagegen kann in den Fällen des Art. 99 Nr. 7 APK auf Antrag des Adressaten einer Verwaltungsmaßnahme, die nicht vor Gericht angefochten wurde und bestandskräftig geworden ist, das Verfahren wieder aufgenommen werden.
17 Der Vorlageentscheidung ist zu entnehmen, dass der Adressat einer solchen Maßnahme auch in den Fällen des Art. 99 Nrn. 2 bis 6 APK einen Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens stellen kann.
18 Der Vorlageentscheidung ist ferner zu entnehmen, dass Art. 99 Nr. 2 APK insbesondere den Fall neuer schriftlicher Beweise betrifft.
Ausgangsverfahren und Vorlagefragen
19 Mit einer Verfügung des Direktors der Regionaldirektion des Innenministeriums vom 17. April 2007 (im Folgenden: Verfügung von 2007) wurde gegen Herrn Byankov, einen bulgarischen Staatsangehörigen, nach Art. 76 Nr. 3 ZBLD eine Verwaltungszwangsmaßnahme erlassen, mit der ihm verboten wurde, das bulgarische Hoheitsgebiet zu verlassen, und untersagt wurde, ihm Pässe oder als Passersatz dienende Identitätsdokumente auszustellen (im Folgenden: im Ausgangsverfahren fragliches Ausreiseverbot).
20 Die Verfügung von 2007 wurde auf Antrag eines Gerichtsvollziehers wegen einer Schuld gegenüber einer juristischen Person des bulgarischen Privatrechts erlassen. In der Verfügung wird ausgeführt, dass diese Schuld in Höhe von 200000 BGN zuzüglich Kosten und Zinsen „erheblich“ im Sinne der Zusatzbestimmungen zum ZBLD sei und dass Herr Byankov keine angemessene Sicherheit geleistet habe.
21 Die fragliche Verfügung wurde nicht angefochten und ist bestandskräftig geworden.
22 Am 6. Juli 2010, also mehr als drei Jahre nach dem Erlass der Verfügung von 2007, beantragte Herr Byankov, das im Ausgangsverfahren fragliche Ausreiseverbot aufzuheben, und berief sich auf seine Unionsbürgerschaft sowie auf sein Recht, sich in der Union frei zu bewegen und aufzuhalten. Herr Byankov stützte sich außerdem auf Art. 27 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38, das Urteil vom 10. Juli 2008, Jipa (C-33/07, Slg. 2008, I-5157), sowie das Urteil Nr. 3909 des Varhoven administrativen sad (Oberster Verwaltungsgerichtshof) vom 24. März 2010. Er machte geltend, dass die beschränkende Maßnahme, die nach Art. 76 Nr. 3 ZBLD erlassen werden könne, nicht unter den Begriff „öffentliche Ordnung“ fallen könne.
23 Der Glaven sekretar na Ministerstvo na vatreshnite raboti, an den der Antrag von Herrn Byankov übermittelt wurde, prüfte diesen Antrag als Antrag auf Aufhebung eines bestandskräftig gewordenen Verwaltungsakts im Verfahren nach Art. 99 APK.
24 Mit Verfügung vom 20. Juli 2010 wurde der Antrag mit der Begründung zurückgewiesen, die in Art. 99 APK aufgestellten rechtlichen Voraussetzungen für die Aufhebung eines „beständigen Verwaltungsakts“ seien nicht erfüllt. Es sei nämlich keiner der in Art. 99 Nrn. 2 bis 7 APK vorgesehenen Aufhebungsgründe – Fälle, in denen ein Einzelner berechtigt sei, einen Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens zu stellen –, nachgewiesen worden. Insbesondere sei das in Randnr. 22 des vorliegenden Urteils angeführte Urteil des Varhoven administrativen sad kein neuer schriftlicher Beweis im Sinne von Art. 99 Nr. 2 APK, da es eine andere Person als Herrn Byankov betreffe. Auch der Aufhebungsgrund nach Art. 99 Nr. 1 APK sei nicht nachgewiesen worden, da nicht innerhalb der vorgesehenen Frist ein Antrag von einer hierzu berechtigten Person gestellt worden sei.
25 Herr Byankov erhob beim vorlegenden Gericht Klage, mit der er beantragt, die Verfügung vom 20. Juli 2010 aufzuheben und seinem Antrag auf Aufhebung der Verfügung von 2007 stattzugeben.
26 Der Beklagte des Ausgangsverfahrens beantragt, die Klage von Herrn Byankov abzuweisen, da das fragliche Ausreiseverbot rechtmäßig sei.
27 Nach Auffassung des vorlegenden Gerichts wird in der Begründung der Verfügung von 2007 weder ein Grund der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit angeführt, noch enthält sie eine Beurteilung des persönlichen Verhaltens von Herrn Byankov; es würden auch keine Gründe dargelegt, mit denen belegt werde, dass die Verhängung des im Ausgangsverfahren fraglichen Ausreiseverbots die Zahlung der betreffenden Geldbeträge fördere.
28 Unter diesen Umständen hat der Administrativen sad Sofia-grad beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
1. Verlangt angesichts des Sachverhalts des Ausgangsverfahrens der Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit nach Art. 4 Abs. 3 EUV in Verbindung mit den Art. 20 AEUV und 21 AEUV, dass eine nationale Bestimmung eines Mitgliedstaats wie die im Ausgangsverfahren fragliche – wonach die Aufhebung eines bestandskräftigen Verwaltungsakts zulässig ist, um eine durch eine Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte festgestellte Verletzung eines Grundrechts wie das Freizügigkeitsrecht der Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten abzustellen, das zugleich auch im Unionsrecht anerkannt wird – auch in Bezug auf die durch eine Entscheidung des Gerichtshofs vorgenommene Auslegung von für die Beschränkungen der Ausübung des genannten Rechts einschlägigen Vorschriften des Unionsrechts angewandt wird, wenn zur Abstellung der Rechtsverletzung die Aufhebung des Verwaltungsakts erforderlich ist?
2. Folgt aus Art. 31 Abs. 1 und 3 der Richtlinie 2004/38, dass, wenn ein Mitgliedstaat in seinem nationalen Recht ein Verfahren zur Überprüfung eines Verwaltungsakts vorgesehen hat, der das Recht aus Art. 4 Abs. 1 dieser Richtlinie beschränkt, die zuständige Verwaltungsbehörde verpflichtet ist, auf Antrag des Adressaten des Verwaltungsakts diesen zu überprüfen und seine Rechtmäßigkeit zu beurteilen, indem sie auch die Rechtsprechung des Gerichtshofs zur Auslegung einschlägiger Vorschriften des Unionsrechts berücksichtigt, in denen die Bedingungen und Beschränkungen geregelt sind, unter denen dieses Recht ausgeübt wird, damit gewährleistet ist, dass die auferlegte Beschränkung des Rechts zum Zeitpunkt des Erlasses des Überprüfungsbescheids nicht unverhältnismäßig ist, wenn der Verwaltungsakt, mit dem die Beschränkung auferlegt worden ist, zu diesem Zeitpunkt bereits bestandskräftig ist?
3. Erlauben die Bestimmungen des Art. 52 Abs. 1 Satz 2 der Charta bzw. des Art. 27 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38, dass eine nationale Bestimmung, die die Auferlegung einer Beschränkung des Freizügigkeitsrechts eines Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats im Rahmen der Union allein wegen des Bestehens einer über einen bestimmten, gesetzlich vorgesehenen Betrag hinausgehenden und nicht gesicherten Verbindlichkeit gegenüber einem Privaten, nämlich einer Handelsgesellschaft, vorsieht, im Zusammenhang mit einem anhängigen Vollstreckungsverfahren zur Einziehung der Forderung und ohne Berücksichtigung der im Unionsrecht vorgesehenen Möglichkeit, dass eine Behörde eines anderen Mitgliedstaats die Forderung einzieht, angewandt wird?
Zu den Vorlagefragen
Zur dritten Frage
29 Mit seiner dritten Frage, die zuerst zu prüfen ist, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob das Unionsrecht dahin auszulegen ist, dass es einer nationalen Bestimmung entgegensteht, die die Auferlegung einer Beschränkung des Rechts eines Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats, sich in der Union frei zu bewegen, allein aus dem Grund vorsieht, dass er einer juristischen Person des Privatrechts einen Betrag schuldet, der über eine gesetzlich festgelegte Grenze hinausgeht und für den keine Sicherheit geleistet worden ist.
30 Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass eine Situation wie die von Herrn Byankov, der daran gehindert ist, sich aus dem Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats, dessen Staatsangehöriger er ist, in das Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats zu begeben, unter die durch den Unionsbürgerstatus verliehene Freiheit fällt, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten (vgl. entsprechend Urteile Jipa, Randnr. 17, vom 17. November 2011, Gaydarov, C-430/10, Slg. 2011, I-11637, Randnrn. 24 bis 27, und Aladzhov, C-434/10, Slg. 2011, I-11659, Randnrn. 24 bis 27).
31 Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs umfasst dieses Recht auf Freizügigkeit nämlich für die Unionsbürger sowohl das Recht, sich in einen anderen Mitgliedstaat als ihren Herkunftsmitgliedstaat zu begeben, als auch das Recht, ihren Herkunftsmitgliedstaat zu verlassen. Wie der Gerichtshof bereits entschieden hat, wären die durch den AEU-Vertrag garantierten Grundfreiheiten ihrer Substanz beraubt, wenn der Herkunftsmitgliedstaat seinen eigenen Staatsangehörigen ohne stichhaltige Rechtfertigung verbieten könnte, sein Hoheitsgebiet zu verlassen, um sich in das eines anderen Mitgliedstaats zu begeben (vgl. Urteil Jipa, Randnr. 18 und die dort angeführte Rechtsprechung).
32 Außerdem sieht Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38, ohne die vorherige Ausübung des Rechts auf Freizügigkeit und des Aufenthaltsrechts zu verlangen, ausdrücklich vor, dass alle Unionsbürger, die einen gültigen Personalausweis oder Reisepass mit sich führen, das Recht haben, das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats zu verlassen und sich in einen anderen Mitgliedstaat zu begeben.
33 Die in der Vorlageentscheidung hervorgehobenen Tatsachen, dass der vor dem Beitritt der Republik Bulgarien zur Union in Kraft getretene Art. 76 Nr. 3 ZBLD nicht das Unionsrecht umsetzen soll und dass Art. 27 der Richtlinie 2004/38 nur für Staatsangehörige anderer Mitgliedgliedstaaten als der Republik Bulgarien in die bulgarische Rechtsordnung umgesetzt worden ist (vgl. zu letzterem Punkt Urteil Aladzhov, Randnrn. 31 und 32), sind dabei nicht von Belang.
34 Allerdings ist darauf hinzuweisen, dass das Recht der Unionsbürger auf Freizügigkeit nicht uneingeschränkt besteht, sondern den im Vertrag und in den Bestimmungen zu seiner Durchführung vorgesehenen Bedingungen und Beschränkungen unterworfen werden darf (vgl. insbesondere Urteile Jipa, Randnr. 21 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie Aladzhov, Randnr. 28).
35 Diese Beschränkungen und Bedingungen ergeben sich insbesondere aus Art. 27 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38, wonach die Mitgliedstaaten die Freizügigkeit der Unionsbürger oder ihrer Familienangehörigen aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit beschränken dürfen. Nach dem Wortlaut dieser Bestimmung dürfen diese Gründe jedoch nicht „zu wirtschaftlichen Zwecken“ geltend gemacht werden (Urteil Aladzhov, Randnr. 29).
36 Damit das Unionsrecht einer Verwaltungsmaßnahme wie der im Ausgangsverfahren fraglichen nicht entgegensteht, bedarf es daher insbesondere des Nachweises, dass sie aus einem der in Art. 27 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 aufgeführten Gründe erlassen und dieser Grund nicht zu wirtschaftlichen Zwecken geltend gemacht wurde.
37 Aus der Vorlageentscheidung und dem Wortlaut der dritten Frage ergibt sich, dass die im Ausgangsverfahren fragliche Verwaltungsmaßnahme allein auf die beiden Feststellungen gestützt wird, dass eine Verbindlichkeit gegenüber einer juristischen Person des Privatrechts bestehe und dass der Schuldner nicht in der Lage sei, diese Verbindlichkeit zu sichern. Die öffentliche Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit wird nicht angeführt.
38 Zu Letzterem weist das vorlegende Gericht darauf hin, dass Art. 76 Nr. 3 ZBLD und somit das im Ausgangsverfahren fragliche Ausreiseverbot das Ziel des Gläubigerschutzes verfolgten.
39 Selbst wenn man davon ausgehen könnte, dass einem solchen Ziel in gewisser Weise der Gedanke der Wahrung der öffentlichen Ordnung zugrunde liegt, kann nach dem Inhalt der Vorlageentscheidung nicht ausgeschlossen werden, dass das im Ausgangsverfahren fragliche Ausreiseverbot einen ausschließlich wirtschaftlichen Zweck verfolgt. Art. 27 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 schließt jedoch ausdrücklich aus, dass ein Mitgliedstaat Gründe der öffentlichen Ordnung zu wirtschaftlichen Zwecken geltend machen kann.
40 Im Übrigen setzt nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs die Anwendung des Begriffs der öffentlichen Ordnung jedenfalls voraus, dass außer der sozialen Störung, die jeder Gesetzesverstoß darstellt, eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr vorliegt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt (vgl. insbesondere Urteile Jipa, Randnr. 23 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie Gaydarov, Randnr. 33).
41 Die Ausnahmen vom freien Personenverkehr, auf die sich ein Mitgliedstaat berufen kann, implizieren in diesem Rahmen, wie Art. 27 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38 zu entnehmen ist, insbesondere, dass Maßnahmen aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit nur gerechtfertigt sind, wenn für sie ausschließlich das persönliche Verhalten des Betroffenen ausschlaggebend ist, während vom Einzelfall losgelöste oder auf Generalprävention verweisende Begründungen nicht zulässig sind (Urteile Jipa, Randnr. 24, und Gaydarov, Randnr. 34).
42 Aus der Vorlageentscheidung geht jedoch hervor, dass die Verfügung von 2007 keinerlei Beurteilung enthält, die konkret auf das persönliche Verhalten von Herrn Byankov abstellt oder sich auf das tatsächliche Vorliegen, die Gegenwärtigkeit und die Erheblichkeit einer Gefahr bezieht, die dieses Verhalten in Bezug auf ein Grundinteresse der bulgarischen Gesellschaft darstellen soll, das in den dem Gerichtshof vorgelegten Akten an keiner Stelle definiert wird.
43 Außerdem ergibt sich aus Art. 27 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38 und der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs, dass eine Beschränkung der Freizügigkeit nur gerechtfertigt sein kann, wenn sie geeignet ist, die Erreichung des mit ihr verfolgten Ziels zu gewährleisten, und nicht über das hinausgeht, was zur Erreichung dieses Ziels erforderlich ist, so dass sie den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit wahrt (vgl. in diesem Sinne insbesondere Urteile Jipa, Randnr. 29, und Gaydarov, Randnr. 40).
44 Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass zum einen das im Ausgangsverfahren fragliche Ausreiseverbot – vorbehaltlich der Möglichkeit, den geforderten Betrag zu zahlen oder eine angemessene Sicherheit zu leisten – absolut ist, d. h. weder mit Ausnahmen versehen noch zeitlich begrenzt ist, noch in Bezug auf die ihm zugrunde liegenden tatsächlichen und rechtlichen Umstände regelmäßig überprüfbar ist. Solange daher ein solches Verbot nicht aufgehoben wird, erneuern sich seine Rechtswirkungen für eine Person wie Herrn Byankov immer wieder und können dauerhaft fortbestehen.
45 Zum anderen gibt es im Unionsrecht Rechtsnormen, die geeignet sind, die Rechte der Gläubiger zu schützen, ohne dabei notwendigerweise die Freizügigkeit des Schuldners zu beschränken. Als Beispiel sei nur die Verordnung (EG) Nr. 44/2001 des Rates vom 22. Dezember 2000 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (ABl. 2001, L 12, S. 1) angeführt, die im Übrigen auch das vorlegende Gericht erwähnt.
46 Folglich kann entgegen einer vom vorlegenden Gericht geäußerten Befürchtung nicht davon ausgegangen werden, dass die Unionsrechtsordnung aufgrund des Ausschlusses von zu wirtschaftlichen Zwecken geltend gemachten Ausnahmen im Rahmen von Art. 27 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 kein Schutzniveau für das Eigentumsrecht anderer, im vorliegenden Fall der Gläubiger, bietet, das dem durch die Europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten eingeführten mindestens gleichwertig ist.
47 Wie das vorlegende Gericht ausgeführt hat, ergibt sich überdies aus der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, dass Maßnahmen wie das im Ausgangsverfahren fragliche Ausreiseverbot, die das Recht einer Person, ihr Land zu verlassen, beeinträchtigen, einer regelmäßigen Überprüfung unterliegen müssen, sofern sie nicht als unverhältnismäßig im Sinne dieser Rechtsprechung eingestuft werden sollen (vgl. in diesem Sinne u. a. EGMR, Urteile vom 2. Juli 2009, Ignatov/Bulgarien, Beschwerde Nr. 50/02, § 37, und vom 26. November 2009, Gochev/Bulgarien, Beschwerde Nr. 34383/03, §§ 55 bis 57).
48 Nach alledem ist auf die dritte Frage zu antworten, dass das Unionsrecht dahin auszulegen ist, dass es der Anwendung einer nationalen Bestimmung entgegensteht, die die Auferlegung einer Beschränkung des Rechts eines Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats, sich in der Union frei zu bewegen, allein aus dem Grund vorsieht, dass er einer juristischen Person des Privatrechts einen Betrag schuldet, der über eine gesetzlich festgelegte Grenze hinausgeht und für den keine Sicherheit geleistet worden ist.
Zur ersten und zur zweiten Frage
Vorbemerkungen
49 Ausweislich der dem Gerichtshof vorgelegten Akten ist das vorlegende Gericht mit einer auf das Vorbringen eines Verstoßes gegen das Unionsrecht gestützten Klage auf Aufhebung einer Verwaltungsentscheidung befasst, mit der der Antrag von Herrn Byankov auf Wiederaufnahme des Verwaltungsverfahrens, das zum Erlass der Verfügung von 2007 geführt hatte, abgelehnt wurde. Im Ausgangsrechtsstreit geht es also um die Feststellung, ob diese Ablehnung den Anforderungen des Unionsrechts entspricht.
50 In diesem Zusammenhang beschäftigt sich das vorlegende Gericht im Rahmen seiner ersten Frage mit dem Zusammenspiel zwischen dem Grundsatz der Rechtssicherheit im Hinblick auf einen bestandskräftig gewordenen Verwaltungsakt und dem Grundsatz des wirksamen gerichtlichen Schutzes der Rechte, die den Rechtssuchenden aus dem Unionsrecht erwachsen. Das Gericht berücksichtigt insbesondere das Urteil vom 13. Januar 2004, Kühne & Heitz (C-453/00, Slg. 2004, I-837), und einen Teil der darauf beruhenden Rechtsprechung. Es scheint daraus den Schluss zu ziehen, dass der Grundsatz des wirksamen gerichtlichen Rechtsschutzes im Wesentlichen immer dann an seine Grenzen stößt, „wenn er mit nationalen Regeln [zusammentrifft], die den Grundsatz der Rechtssicherheit in Bezug auf Verwaltungsakte festschreiben“.
51 Im vorliegenden Fall bedarf es jedoch keiner Auseinandersetzung mit den diesbezüglichen Ausführungen in der Vorlageentscheidung. Es genügt der Hinweis darauf, dass das Urteil Kühne & Heitz, da die Verfügung von 2007 bestandskräftig geworden ist, ohne einer gerichtlichen Kontrolle unterzogen worden zu sein, nicht unmittelbar für die Feststellung einschlägig ist, ob eine Verwaltungsbehörde in einer Situation wie derjenigen des Ausgangsverfahrens zur Wiederaufnahme des Verwaltungsverfahrens verpflichtet ist, um einen Verwaltungsakt wie die Verfügung von 2007 aufzuheben (vgl. entsprechend Urteil vom 19. September 2006, i-21 Germany und Arcor, C-392/04 und C-422/04, Slg. 2006, I-8559, Randnrn. 53 und 54).
52 In dem in Randnr. 49 des vorliegenden Urteils dargestellten Zusammenhang möchte das vorlegende Gericht mit seiner zweiten Frage auch wissen, ob Art. 31 der Richtlinie 2004/38 in einem Fall wie dem des Ausgangsverfahrens als Grundlage für eine Verpflichtung zur Überprüfung einer Verwaltungsentscheidung dienen kann.
53 Art. 31 der Richtlinie 2004/38 soll insbesondere garantieren, dass die Unionsbürger und ihre Familienangehörigen gegen Entscheidungen, die ihr Recht, sich in den Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, beschränken, einen Rechtsbehelf bei einem Gericht und gegebenenfalls bei einer Behörde einlegen können.
54 Diese in Art. 31 vorgeschriebenen Verfahrensgarantien sollen zum Zeitpunkt des Erlasses der das genannte Recht beschränkenden Maßnahmen greifen.
55 Im vorliegenden Fall steht außer Frage, dass Herrn Byankov zum Zeitpunkt des Erlasses der Verfügung von 2007 Rechtsbehelfe zur Verfügung standen, mit denen er das im Ausgangsverfahren fragliche Ausreiseverbot hätte anfechten können, und zwar gegebenenfalls vor einem Gericht. Aus der Vorlageentscheidung ergibt sich nämlich, dass Herr Byankov zum Zeitpunkt des Erlasses der Verfügung von 2007 keinen Rechtsbehelf gegen diese Verfügung eingelegt hat, so dass diese bestandskräftig wurde.
56 Folglich ist Art. 31 der Richtlinie 2004/38 als solcher nicht auf rechtliche Situationen wie die vom vorlegenden Gericht im Rahmen seiner zweiten Frage beschriebene anwendbar.
57 Im Rahmen des durch Art. 267 AEUV eingeführten Verfahrens der Zusammenarbeit zwischen den nationalen Gerichten und dem Gerichtshof ist es dessen Aufgabe, dem nationalen Gericht eine für die Entscheidung des bei diesem anhängigen Verfahrens sachdienliche Antwort zu geben. Hierzu hat er die ihm vorgelegten Fragen gegebenenfalls umzuformulieren (vgl. u. a. Urteile vom 17. Juli 1997, Krüger, C-334/95, Slg. 1997, I-4517, Randnrn. 22 und 23, sowie vom 14. Oktober 2010, Fuß, C-243/09, Slg. 2010, I-9849, Randnr. 39 und die dort angeführte Rechtsprechung).
58 Zu diesem Zweck kann der Gerichtshof aus dem gesamten vom nationalen Gericht vorgelegten Material, insbesondere der Begründung der Vorlageentscheidung, diejenigen Normen und Grundsätze des Unionsrechts herausarbeiten, die unter Berücksichtigung des Gegenstands des Ausgangsrechtsstreits einer Auslegung bedürfen (vgl. in diesem Sinne u. a. Urteile vom 29. November 1978, Redmond, 83/78, Slg. 1978, 2347, Randnr. 26, vom 23. Oktober 2003, Inizan, C-56/01, Slg. 2003, I-12403, Randnr. 34, und Fuß, Randnr. 40).
59 Der Vorlageentscheidung ist zu entnehmen, dass im bulgarischen Recht ein Verwaltungsverfahren, das zum Erlass eines individuellen, bestandskräftig gewordenen Verwaltungsakts geführt hat, der nicht vor Gericht angefochten wurde, in den in Art. 99 APK abschließend aufgeführten Fällen ausnahmsweise wieder aufgenommen werden kann, um diesen Akt aufzuheben oder abzuändern.
60 Wie aus den Randnrn. 15, 23 und 24 des vorliegenden Urteils hervorgeht, wurde der Antrag von Herrn Byankov auf Wiederaufnahme des Verwaltungsverfahrens zum Zweck der Aufhebung des im Ausgangsverfahren fraglichen Ausreiseverbots mit der Begründung abgelehnt, dass die erforderlichen rechtlichen Voraussetzungen für die Anwendung von Art. 99 APK nicht erfüllt seien. Was insbesondere Art. 99 Nr. 1 APK betrifft, hat keine der hierzu berechtigten Personen, d. h. die Verwaltungsbehörde, die die Verfügung von 2007 erlassen hat, der Bürgerbeauftragte oder gegebenenfalls der betreffende Staatsanwalt, innerhalb eines Monats ab dem Zeitpunkt des Erlasses dieser Verfügung einen Antrag auf Wiederaufnahme des Verwaltungsverfahrens gestellt.
61 Wie das vorlegende Gericht sinngemäß ausgeführt hat, steht Herrn Byankov daher – abgesehen von der Möglichkeit, den geforderten Betrag zu zahlen oder eine angemessene Sicherheit zu leisten – allein nach bulgarischem Recht nunmehr keine Möglichkeit offen, die tatsächlichen und rechtlichen Umstände überprüfen zu lassen, die zu dem gegen ihn verhängten Ausreiseverbot geführt haben, und zwar ungeachtet der Tatsache, dass ein solches Verbot, wie sich aus der Antwort auf die dritte Frage ergibt und wie es auch in der Vorlageentscheidung eingeräumt wird, eindeutig gegen die Anforderungen des Unionsrechts, insbesondere diejenigen des Art. 27 der Richtlinie 2004/38, verstößt.
62 Zudem können die maßgeblichen Stellen der bulgarischen Verwaltung, die der Verpflichtung unterliegen, den Vorrang des Unionsrechts zu wahren (vgl. in diesem Sinne u. a. Urteil vom 12. Januar 2010, Petersen, C-341/08, Slg. 2010, I-47, Randnr. 80 und die dort angeführte Rechtsprechung), nach der vom vorlegenden Gericht vorgenommenen Auslegung der im Ausgangsverfahren einschlägigen Regelung ihre Befugnis, den Fall von Herrn Byankov insbesondere im Licht der Erkenntnisse aus den angeführten Urteilen Jipa, Gaydarov und Aladzhov zu überprüfen, nicht mehr ausüben. Diese Befugnis kann nur innerhalb einer Frist von einem Monat ab dem Zeitpunkt des Erlasses des fraglichen Verwaltungsakts ausgeübt werden.
63 Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs verleiht aber Art. 21 Abs. 1 AEUV dem Einzelnen Rechte, auf die er sich vor Gericht berufen kann und die die nationalen Gerichte gewährleisten müssen (vgl. in diesem Sinne u. a. Urteil vom 17. September 2002, Baumbast und R, C-413/99, Slg. 2002, I-7091, Randnrn. 84 bis 86).
64 Außerdem ist es insbesondere nach dem in Art. 4 Abs. 3 EUV niedergelegten Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit Aufgabe aller Stellen der Mitgliedstaaten, einschließlich der Verwaltungsbehörden und der Gerichte, im Rahmen ihrer jeweiligen Zuständigkeiten die Einhaltung des Unionsrechts zu gewährleisten (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 13. April 2010, Wall, C-91/08, Slg. 2010, I-2815, Randnr. 69).
65 Es geht daher im vorliegenden Fall um die Frage, ob ein nationaler Richter, der mit einer Klage wie derjenigen von Herrn Byankov befasst ist, zur Wahrung der Rechte, die den Rechtssuchenden aus dem Unionsrecht erwachsen, unter Berücksichtigung von Art. 4 Abs. 3 EUV gezwungen sein kann (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 13. März 2007, Unibet, C-432/05, Slg. 2007, I-2271, Randnr. 38 und die dort angeführte Rechtsprechung), festzustellen, dass eine Verpflichtung für die Verwaltungsbehörde besteht, ein Ausreiseverbot wie das im Ausgangsverfahren fragliche zu überprüfen und gegebenenfalls aufzuheben (vgl. entsprechend Urteil i-21 Germany und Arcor, Randnrn. 55 und 56).
66 Die erste und die zweite Frage sind deshalb dahin zu verstehen, dass sie sich darauf richten, ob das Unionsrecht unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens dahin auszulegen ist, dass es einer Regelung eines Mitgliedstaats entgegensteht, wonach ein Verwaltungsverfahren, das zum Erlass eines Ausreiseverbots wie dem im Ausgangsverfahren fraglichen geführt hat, das bestandskräftig geworden ist und nicht vor Gericht angefochten worden ist, im Fall eines offensichtlichen Verstoßes dieses Verbots gegen das Unionsrecht nur unter Voraussetzungen wie den in Art. 99 APK abschließend aufgeführten wieder aufgenommen werden kann, ungeachtet der Tatsache, dass ein solches Verbot gegenüber seinem Adressaten weiterhin Rechtswirkungen erzeugt.
Zur ersten und zur zweiten Frage in der umformulierten Fassung
67 Zwar ergibt sich vor allem aus den Randnrn. 30 bis 32 und 36 des vorliegenden Urteils, dass die vom Unionsgesetzgeber in Art. 32 der Richtlinie 2004/38 vorgeschriebenen Garantien in Bezug auf gegen Unionsbürger verhängte Verbote der Ausreise aus einem Mitgliedstaat anwendbar sind.
68 Damit jedoch der Weg zu einer Überprüfung im spezifischen Kontext von Art. 32 eröffnet ist, muss die fragliche Maßnahme insbesondere „nach dem [Unions]recht ordnungsgemäß [erlassen]“ worden sein. Wie sich aus der Antwort auf die dritte Frage ergibt, ist das bei einer Maßnahme wie der Verfügung von 2007 nicht der Fall. Insbesondere aus diesem Grund ist Art. 32 der Richtlinie 2004/38 als solcher nicht auf den Rechtsstreit des Ausgangsverfahrens anwendbar.
69 Nach ständiger Rechtsprechung ist es mangels einer einschlägigen Unionsregelung gemäß dem Grundsatz der Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten Sache der innerstaatlichen Rechtsordnung eines jeden Mitgliedstaats, die Rechtsbehelfe zu regeln, die den Schutz der den Rechtssuchenden aus dem Unionsrecht erwachsenden Rechte gewährleisten sollen (vgl. Urteil Wall, Randnr. 63); sie dürfen jedoch nicht ungünstiger sein als diejenigen, die gleichartige innerstaatliche Sachverhalte regeln (Äquivalenzgrundsatz), und die Ausübung der durch die Unionsrechtsordnung verliehenen Rechte nicht praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren (Effektivitätsgrundsatz) (vgl. u. a. Urteile vom 14. Dezember 1995, Peterbroeck, C-312/93, Slg. 1995, I-4599, Randnr. 12, i-21 Germany und Arcor, Randnr. 57 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie vom 12. Juli 2012, VALE Épitési, C-378/10, Randnr. 48 und die dort angeführte Rechtsprechung).
70 Der Äquivalenzgrundsatz verlangt, dass sämtliche für Rechtsbehelfe geltende Vorschriften, einschließlich der vorgeschriebenen Fristen, in gleicher Weise für Rechtsbehelfe gelten, die auf die Verletzung des Unionsrechts gestützt sind, wie für solche, die auf die Verletzung innerstaatlichen Rechts gestützt sind (vgl. u. a. Urteile vom 29. Oktober 2009, Pontin, C-63/08, Slg. 2009, I-10467, Randnr. 45 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie vom 19. Juli 2012, Littlewoods Retail u. a., C-591/10, Randnr. 31).
71 Insoweit hat das vorlegende Gericht nicht den Umstand erörtert, dass die besonderen Voraussetzungen für die Anwendung von Art. 99 APK unterschiedlich sein könnten, je nachdem, ob die Rechtswidrigkeit des bestandskräftig gewordenen Verwaltungsakts aufgrund eines Verstoßes gegen Unionsrecht oder aufgrund eines Verstoßes gegen innerstaatliches Recht gerügt wird.
72 Im vorliegenden Fall stellt sich insbesondere die Frage, ob eine nationale Regelung wie die vom vorlegenden Gericht beschriebene mit dem Effektivitätsgrundsatz und dem Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit vereinbar ist.
73 Zum einen werden nämlich nach einer solchen Regelung die Adressaten von Ausreiseverboten in Situationen wie der von Herrn Byankov, sofern sie nicht die geforderten Beträge zahlen oder angemessene Sicherheiten stellen, niemals die Möglichkeit haben, ihren Fall überprüfen zu lassen, obwohl die Ausreiseverbote, denen sie auf unbegrenzte Dauer unterliegen, offensichtlich rechtswidrig sind.
74 Wie sich insbesondere aus den Randnrn. 13 und 15 des vorliegenden Urteils ergibt, gehen zum anderen die maßgeblichen Verwaltungsbehörden davon aus, es sei ihnen, da eine Aufhebung von Amts wegen – etwa aufgrund des Urteils Jipa – der gemäß Art. 76 Nr. 3 ZBLD verhängten Ausreiseverbote nicht vorgesehen ist und im Rahmen der Anwendung von Art. 99 Nr. 1 APK die Monatsfrist gilt, verwehrt, eine Überprüfung in Fällen wie dem im Ausgangsverfahren in Rede stehenden zuzulassen, und zwar selbst dann, wenn die Rechtswidrigkeit im Hinblick auf das Unionsrecht durch die Rechtsprechung des Gerichtshofs bestätigt worden ist.
75 Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs sind die Fälle, in denen sich die Frage stellt, ob eine nationale Verfahrensvorschrift die Ausübung der dem Einzelnen durch die Unionsrechtsordnung verliehenen Rechte praktisch unmöglich macht oder übermäßig erschwert, unter Berücksichtigung der Stellung dieser Vorschrift im gesamten Verfahren, des Verfahrensablaufs und der Besonderheiten des Verfahrens vor den verschiedenen nationalen Stellen zu prüfen (vgl. u. a. Urteile Peterbroeck, Randnr. 14, vom 3. September 2009, Fallimento Olimpiclub, C-2/08, Slg. 2009, I-7501, Randnr. 27, und vom 14. Juni 2012, Banco Español de Crédito, C-618/10, Randnr. 49).
76 In diesem Zusammenhang hat der Gerichtshof bereits anerkannt, dass die Bestandskräftigkeit einer Verwaltungsentscheidung zur Rechtssicherheit beiträgt und das Unionsrecht daher nicht verlangt, dass eine Verwaltungsbehörde grundsätzlich verpflichtet ist, eine bestandskräftig gewordene Verwaltungsentscheidung aufzuheben (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 12. Februar 2008, Kempter, C-2/06, Slg. 2008, I-411, Randnr. 37).
77 Er hat jedoch dem Sinn nach entschieden, dass besondere Umstände geeignet sein können, eine nationale Verwaltungsbehörde nach dem in Art. 4 Abs. 3 EUV verankerten Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit zu verpflichten, eine bestandskräftig gewordene Verwaltungsentscheidung zu überprüfen, um insbesondere einer später vom Gerichtshof vorgenommenen Auslegung einer einschlägigen Bestimmung des Unionsrechts Rechnung zu tragen (vgl. Urteil Kempter, Randnr. 38). Der Rechtsprechung ist zu entnehmen, dass der Gerichtshof in diesem Zusammenhang den Besonderheiten der in Rede stehenden Fälle und Interessen Rechnung trägt, um einen Ausgleich zwischen dem Erfordernis der Rechtssicherheit und dem der Rechtmäßigkeit im Hinblick auf das Unionsrecht zu finden (vgl. in diesem Sinne u. a. Urteile Kühne & Heitz, Randnrn. 25 und 26, i-21 Germany und Arcor, Randnrn. 53, 63 und 64, Kempter, Randnrn. 46, 55 und 60, sowie Fallimento Olimpiclub, Randnrn. 22, 26 und 31).
78 Im vorliegenden Fall ist insbesondere zu prüfen, ob in Situationen wie der des Ausgangsverfahrens eine nationale Regelung wie die in der Vorlageentscheidung beschriebene in Anbetracht der Konsequenzen, die sich aus ihr für die Anwendung des Unionsrechts und die Unionsbürger, die Adressaten von Ausreiseverboten wie dem im Ausgangsverfahren fraglichen sind, ergeben, mit der Wahrung des Grundsatzes der Rechtssicherheit gerechtfertigt werden kann (vgl. entsprechend Urteil Fallimento Olimpiclub, Randnr. 28).
79 Wie sich aus der Antwort auf die dritte Frage und insbesondere den Randnrn. 37, 42 und 44 des vorliegenden Urteils ergibt, lässt unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens die fragliche Regelung, die keine regelmäßige Überprüfung vorsieht, das Ausreiseverbot und damit die Verletzung des in Art. 21 Abs. 1 AEUV niedergelegten Rechts, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, unbegrenzt fortdauern. Daher stellt ein solches Ausreiseverbot geradezu die Negation der durch den Unionsbürgerstatus verliehenen Freiheit dar, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten (vgl. entsprechend auch Urteil vom 19. Januar 1999, Calfa, C-348/96, Slg. 1999, I-11, Randnr. 18).
80 Im Übrigen hat der Unionsgesetzgeber die Mitgliedstaaten durch Art. 32 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 verpflichtet, die Möglichkeit einer Überprüfung von Ein- oder Ausreiseverboten vorzusehen, selbst wenn diese Maßnahmen nach dem Unionsrecht ordnungsgemäß ergangen sind und selbst wenn sie, wie die Verfügung von 2007, bestandskräftig geworden sind. Erst recht muss dies für Ausreiseverbote wie das im Ausgangsverfahren fragliche gelten, die nicht nach dem Unionsrecht ordnungsgemäß ergangen sind und die geradezu eine Negation der in Art. 21 Abs. 1 AEUV verankerten Freiheit darstellen. In einer solchen Situation verlangt der Grundsatz der Rechtssicherheit nicht zwingend, dass ein Verwaltungsakt, mit dem ein solches Verbot verhängt wird, auf unbegrenzte Dauer weiter Rechtswirkungen erzeugt.
81 Unter Berücksichtigung auch der Bedeutung, die das Primärrecht dem Unionsbürgerstatus beimisst (vgl. u. a. Urteil vom 2. März 2010, Rottmann, C-135/08, Slg. 2010, I-1449, Randnrn. 43 und 56), ist der Schluss zu ziehen, dass in Situationen wie der des Ausgangsverfahrens eine nationale Regelung wie die in der Vorlageentscheidung beschriebene, soweit sie Unionsbürger daran hindert, gegenüber absoluten, unbefristet erlassenen Ein- oder Ausreiseverboten das ihnen durch Art. 21 AEUV verliehene Recht auf Freizügigkeit und freien Aufenthalt geltend zu machen, und die Verwaltungsbehörden daran hindert, die Konsequenzen aus einer Rechtsprechung des Gerichtshofs zu ziehen, die bestätigt, dass solche Verbote im Hinblick auf das Unionsrecht unzulässig sind, nicht in vertretbarer Weise mit dem Grundsatz der Rechtssicherheit gerechtfertigt werden kann und deshalb in diesem Umfang gegen den Effektivitätsgrundsatz und gegen Art. 4 Abs. 3 EUV verstößt (vgl. entsprechend Urteil Fallimento Olimpiclub, Randnrn. 30 und 31).
82 Nach alledem ist auf die erste und die zweite Frage zu antworten, dass das Unionsrecht dahin auszulegen ist, dass es einer Regelung eines Mitgliedstaats entgegensteht, wonach ein Verwaltungsverfahren, das zum Erlass eines Ausreiseverbots wie dem im Ausgangsverfahren fraglichen geführt hat, das bestandskräftig geworden ist und nicht vor Gericht angefochten worden ist, im Fall eines offensichtlichen Verstoßes dieses Verbots gegen das Unionsrecht nur unter Voraussetzungen wie den in Art. 99 APK abschließend aufgeführten wieder aufgenommen werden kann, ungeachtet der Tatsache, dass ein solches Verbot gegenüber seinem Adressaten weiterhin Rechtswirkungen erzeugt.
Kosten
83 Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Zweite Kammer) für Recht erkannt:
1. Das Unionsrecht ist dahin auszulegen, dass es der Anwendung einer nationalen Bestimmung entgegensteht, die die Auferlegung einer Beschränkung des Rechts eines Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats, sich in der Europäischen Union frei zu bewegen, allein aus dem Grund vorsieht, dass er einer juristischen Person des Privatrechts einen Betrag schuldet, der über eine gesetzlich festgelegte Grenze hinausgeht und für den keine Sicherheit geleistet worden ist.
2. Das Unionsrecht ist dahin auszulegen, dass es einer Regelung eines Mitgliedstaats entgegensteht, wonach ein Verwaltungsverfahren, das zum Erlass eines Ausreiseverbots wie dem im Ausgangsverfahren fraglichen geführt hat, das bestandskräftig geworden ist und nicht vor Gericht angefochten worden ist, im Fall eines offensichtlichen Verstoßes dieses Verbots gegen das Unionsrecht nur unter Voraussetzungen wie den in Art. 99 des Administrativnoprotsesualen kodeks (Verwaltungsverfahrensordnung) abschließend aufgeführten wieder aufgenommen werden kann, ungeachtet der Tatsache, dass ein solches Verbot gegenüber seinem Adressaten weiterhin Rechtswirkungen erzeugt.
Unterschriften
(*1) Verfahrenssprache: Bulgarisch.
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Urteil des Gerichtshofes (Große Kammer) vom 21. Dezember 2011.#N. S. (C-411/10) gegen Secretary of State for the Home Department und M. E. und andere (C-493/10) gegen Refugee Applications Commissioner und Minister for Justice, Equality and Law Reform.#Ersuchen um Vorabentscheidung: Court of Appeal (England & Wales) (Civil Division) - Vereinigtes Königreich und High Court of Ireland - Irland.#Unionsrecht - Grundsätze - Grundrechte - Durchführung des Unionsrechts - Verbot unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung - Gemeinsames Europäisches Asylsystem - Verordnung (EG) Nr. 343/2003 - Begriff ‚sichere Staaten‘ - Überstellung eines Asylbewerbers in den zuständigen Mitgliedstaat - Verpflichtung - Widerlegbare Vermutung der Beachtung der Grundrechte durch diesen Mitgliedstaat.#Verbundene Rechtssachen C-411/10 und C-493/10.
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62010CJ0411
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ECLI:EU:C:2011:865
| 2011-12-21T00:00:00 |
Trstenjak, Gerichtshof
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Sammlung der Rechtsprechung 2011 -00000
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Verbundene Rechtssachen C‑411/10 und C‑493/10
N. S.
gegen
Secretary of State for the Home Department
und
M. E. u. a.
gegen
Refugee Applications Commissioner
und
Minister for Justice, Equality and Law Reform
(Vorabentscheidungsersuchen des Court of Appeal [England & Wales] [Civil Division] und des High Court [Irland])
„Unionsrecht – Grundsätze – Grundrechte – Durchführung des Unionsrechts – Verbot unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung – Gemeinsames Europäisches Asylsystem – Verordnung (EG) Nr. 343/2003 – Begriff ‚sichere Staaten‘ – Überstellung eines Asylbewerbers in den zuständigen Mitgliedstaat – Verpflichtung – Widerlegbare Vermutung der Beachtung der Grundrechte durch diesen Mitgliedstaat“
Leitsätze des Urteils
1. Grenzkontrollen, Asyl und Einwanderung – Asylpolitik – Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des für die Prüfung eines Asylantrags
zuständigen Mitgliedstaats – Ermessen der Mitgliedstaaten
(Art. 6 EUV; Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 51; Verordnung Nr. 343/2003 des Rates, Art. 3 Abs. 2)
2. Grenzkontrollen, Asyl und Einwanderung – Asylpolitik – Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des für die Prüfung eines Asylantrags
zuständigen Mitgliedstaats – Überstellung eines Asylbewerbers in den für die Prüfung seines Antrags zuständigen Mitgliedstaat
(Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 1, 18 und 47; Verordnung Nr. 343/2003 des Rates, Art. 3 Abs. 1)
3. Grundrechte – Verbot der Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung – Tragweite
(Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 1, 4, 18 und 47; Verordnung Nr. 343/2003 des Rates, Art. 3 Abs. 1 und
2)
4. Grenzkontrollen, Asyl und Einwanderung – Asylpolitik – Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des für die Prüfung eines Asylantrags
zuständigen Mitgliedstaats – Den Asylbewerbern gewährter Schutz – Umfang
(Dem AEU-Vertrag beigefügtes Protokoll [Nr. 30]; Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 1; Verordnung Nr. 343/2003
des Rates)
1. Art. 3 Abs. 2 der Verordnung Nr. 343/2003 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der
für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen in einem Mitgliedstaat gestellten Asylantrags zuständig ist, räumt
den Mitgliedstaaten ein Ermessen ein, das integraler Bestandteil des vom EU-Vertrag vorgesehenen und vom Unionsgesetzgeber
ausgearbeiteten Gemeinsamen Europäischen Asylsystems ist. Bei der Ausübung dieses Ermessens müssen die Mitgliedstaaten die
übrigen Bestimmungen dieser Verordnung beachten. Übt ein Mitgliedstaat dieses Ermessen aus, führt er damit das Unionsrecht
im Sinne von Art. 51 Abs. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union durch.
Für die Zwecke von Art. 6 EUV und/oder Art. 51 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union wird daher mit der von einem
Mitgliedstaat auf der Grundlage des Art. 3 Abs. 2 der Verordnung Nr. 343/2003 getroffenen Entscheidung darüber, ob er einen
Asylantrag prüft, für den er in Ansehung der Kriterien des Kapitels III dieser Verordnung nicht zuständig ist, das Unionsrecht
durchgeführt.
(vgl. Randnrn. 65-66, 68-69, Tenor 1)
2. Das Unionsrecht steht der Geltung einer unwiderlegbaren Vermutung entgegen, dass der im Sinne von Art. 3 Abs. 1 der Verordnung
Nr. 343/2003 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem
Drittstaatsangehörigen in einem Mitgliedstaat gestellten Asylantrags zuständig ist, als zuständig bestimmte Mitgliedstaat
die Unionsgrundrechte beachtet.
Die Art. 1, 18 und 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union führen zu keinem anderen Ergebnis.
(vgl. Randnrn. 105, 115, Tenor 2-3)
3. Art. 4 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union ist dahin auszulegen, dass es den Mitgliedstaaten einschließlich
der nationalen Gerichte obliegt, einen Asylbewerber nicht an den zuständigen Mitgliedstaat im Sinne der Verordnung Nr. 343/2003
zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen
in einem Mitgliedstaat gestellten Asylantrags zuständig ist, zu überstellen, wenn ihnen nicht unbekannt sein kann, dass die
systemischen Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber in diesem Mitgliedstaat ernsthafte und
durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme darstellen, dass der Antragsteller tatsächlich Gefahr läuft, einer unmenschlichen
oder erniedrigenden Behandlung im Sinne dieser Bestimmung ausgesetzt zu werden.
Ist die Überstellung eines Antragstellers an einen anderen Mitgliedstaat der Union, wenn dieser Staat nach den Kriterien des
Kapitels III der Verordnung Nr. 343/2003 als zuständiger Mitgliedstaat bestimmt worden ist, nicht möglich, so hat der Mitgliedstaat,
der die Überstellung vornehmen müsste, vorbehaltlich der Befugnis, den Antrag im Sinne des Art. 3 Abs. 2 dieser Verordnung
selbst zu prüfen, die Prüfung der Kriterien des genannten Kapitels fortzuführen, um festzustellen, ob anhand eines der weiteren
Kriterien ein anderer Mitgliedstaat als für die Prüfung des Asylantrags zuständig bestimmt werden kann.
Der Mitgliedstaat, in dem sich der Asylbewerber befindet, hat jedoch darauf zu achten, dass eine Situation, in der die Grundrechte
des Asylbewerbers verletzt werden, nicht durch ein unangemessen langes Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats
verschlimmert wird. Erforderlichenfalls muss er den Antrag nach den Modalitäten des Art. 3 Abs. 2 der Verordnung Nr. 343/2003
selbst prüfen.
Die Art. 1, 18 und 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union führen zu keinem anderen Ergebnis.
(vgl. Randnrn. 106-108, 115, Tenor 2-3)
4. Aus Art. 1 des Protokolls (Nr. 30) über die Anwendung der Charta der Grundrechte der Europäischen Union auf die Republik Polen
und das Vereinigte Königreich ergibt sich, dass dieses Protokoll nicht die Geltung der Charta für das Vereinigte Königreich
oder für Polen in Frage stellt, was in den Erwägungsgründen des Protokolls Bestätigung findet. So ist nach dem dritten Erwägungsgrund
des Protokolls die Charta von den Gerichten der Republik Polen und des Vereinigten Königreichs streng im Einklang mit den
in Art. 1 des Protokolls erwähnten Erläuterungen anzuwenden und auszulegen. Außerdem bekräftigt die Charta nach dem sechsten
Erwägungsgrund dieses Protokolls die in der Union anerkannten Rechte, Freiheiten und Grundsätze und macht diese Rechte besser
sichtbar, schafft aber keine neuen Rechte oder Grundsätze.
Unter diesen Umständen verdeutlicht Art. 1 Abs. 1 des besagten Protokolls Art. 51 der Charta über deren Anwendungsbereich
und bezweckt weder, die Republik Polen und das Vereinigte Königreich von der Verpflichtung zur Einhaltung der Bestimmungen
der Charta freizustellen, noch, ein Gericht eines dieser Mitgliedstaaten daran zu hindern, für die Einhaltung dieser Bestimmungen
zu sorgen.
Folglich hat die Berücksichtigung dieses Protokolls keinen Einfluss auf den Umfang der Verpflichtungen des Vereinigten Königreichs
in Bezug auf den Schutz, der einer Person gewährt wird, die unter die Verordnung Nr. 343/2003 zur Festlegung der Kriterien
und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen in einem Mitgliedstaat
gestellten Asylantrags zuständig ist, fällt.
(vgl. Randnrn. 119-120, 122, Tenor 4)
URTEIL DES GERICHTSHOFS (Große Kammer)
21. Dezember 2011(*)
„Unionsrecht – Grundsätze – Grundrechte – Durchführung des Unionsrechts – Verbot unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung – Gemeinsames Europäisches Asylsystem – Verordnung (EG) Nr. 343/2003 – Begriff ‚sichere Staaten‘ – Überstellung eines Asylbewerbers in den zuständigen Mitgliedstaat – Verpflichtung – Widerlegbare Vermutung der Beachtung der Grundrechte durch diesen Mitgliedstaat“
In den verbundenen Rechtssachen C‑411/10 und C‑493/10
betreffend Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Court of Appeal (England & Wales) (Civil Division)
(Vereinigtes Königreich) und vom High Court (Irland) mit Entscheidungen vom 12. Juli und 11. Oktober 2010, beim Gerichtshof
eingegangen am 18. August und 15. Oktober 2010, in den Verfahren
N. S. (C‑411/10)
gegen
Secretary of State for the Home Department
und
M. E. (C‑493/10),
A. S. M.,
M. T.,
K. P.,
E. H.
gegen
Refugee Applications Commissioner,
Minister for Justice, Equality and Law Reform,
Beteiligte:
Amnesty International Ltd and the AIRE Centre (Advice on Individual Rights in Europe) (UK) (C‑411/10),
Hoher Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (UNHCR) (UK) (C‑411/10),
Equality and Human Rights Commission (EHRC) (C‑411/10),
Amnesty International Ltd and the AIRE Centre (Advice on Individual Rights in Europe) (IRL) (C‑493/10),
Hoher Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (UNHCR) (IRL) (C‑493/10),
erlässt
DER GERICHTSHOF (Große Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten V. Skouris, der Kammerpräsidenten A. Tizzano, J. N. Cunha Rodrigues, K. Lenaerts, J.‑C. Bonichot,
J. Malenovský und U. Lõhmus, der Richter A. Rosas (Berichterstatter), M. Ilešič, T. von Danwitz und A. Arabadjiev, der Richterin
C. Toader und des Richters J.-J. Kasel,
Generalanwältin: V. Trstenjak,
Kanzler: L. Hewlett, Hauptverwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 28. Juni 2011,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
– von N. S., vertreten durch D. Rose, QC, M. Henderson und A. Pickup, Barristers, sowie S. York, Legal Officer,
– von M. E. u. a., vertreten durch C. Power, BL, F. McDonagh, SC, und G. Searson, Solicitor,
– von Amnesty International Ltd and the AIRE Centre (Advice on Individual Rights in Europe) (UK) (C‑411/10), vertreten durch
S. Cox und S. Taghavi, Barristers, sowie J. Tomkin, BL,
– von Amnesty International Ltd and the AIRE Centre (Advice on Individual Rights in Europe) (IRL) (C‑493/10), vertreten durch
B. Shipsey, SC, J. Tomkin, BL, und C. Ó Briain, Solicitor,
– der Equality and Human Rights Commission (EHRC), vertreten durch G. Robertson, QC, sowie J. Cooper und C. Collier, Solicitors,
– des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen (UNHCR) (UK), vertreten durch R. Husain, QC, R. Davies, Solicitor,
sowie S. Knights und M. Demetriou, Barristers,
– von Irland, vertreten durch D. O’Hagan als Bevollmächtigten im Beistand von S. Moorhead, SC, und D. Conlan Smyth, BL,
– der Regierung des Vereinigten Königreichs, vertreten durch C. Murrell als Bevollmächtigte im Beistand von D. Beard, Barrister,
– der belgischen Regierung, vertreten durch C. Pochet und T. Materne als Bevollmächtigte,
– der tschechischen Regierung, vertreten durch M. Smolek und J. Vláčil als Bevollmächtigte,
– der deutschen Regierung, vertreten durch T. Henze und N. Graf Vitzthum als Bevollmächtigte,
– der griechischen Regierung, vertreten durch A. Samoni-Rantou, M. Michelogiannaki, T. Papadopoulou, F. Dedousi und M. Germani
als Bevollmächtigte,
– der französischen Regierung, vertreten durch G. de Bergues, E. Belliard und B. Beaupère-Manokha als Bevollmächtigte,
– der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von M. Russo, avvocato dello Stato,
– der niederländischen Regierung, vertreten durch C. M. Wissels und M. Noort als Bevollmächtigte,
– der österreichischen Regierung, vertreten durch G. Hesse als Bevollmächtigten,
– der polnischen Regierung, vertreten durch M. Arciszewski, B. Majczyna und M. Szpunar als Bevollmächtigte,
– der slowenischen Regierung, vertreten durch N. Aleš Verdir und V. Klemenc als Bevollmächtigte,
– der finnischen Regierung, vertreten durch J. Heliskoski als Bevollmächtigten,
– der Europäischen Kommission, vertreten durch M. Condou-Durande, M. Wilderspin und H. Kraemer als Bevollmächtigte,
– der Schweizerischen Eidgenossenschaft, vertreten durch O. Kjelsen als Bevollmächtigten,
nach Anhörung der Schlussanträge der Generalanwältin in der Sitzung vom 22. September 2011
folgendes
Urteil
1 Die beiden Vorabentscheidungsersuchen betreffen die Auslegung erstens von Art. 3 Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 des
Rates vom 18. Februar 2003 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung
eines von einem Drittstaatsangehörigen in einem Mitgliedstaat gestellten Asylantrags zuständig ist (ABl. L 50, S. 1), zweitens
der Unionsgrundrechte einschließlich der in den Art. 1, 4, 18, 19 Abs. 2 und 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen
Union (im Folgenden: Charta) genannten Rechte und drittens des Protokolls (Nr. 30) über die Anwendung der Charta auf die Republik
Polen und das Vereinigte Königreich (ABl. 2010, C 83, S. 313, im Folgenden: Protokoll [Nr. 30]).
2 Diese Ersuchen ergehen im Rahmen von Rechtsstreitigkeiten zwischen Asylbewerbern, die nach der Verordnung Nr. 343/2003 nach
Griechenland rückzuführen sind, und den Behörden des Vereinigten Königreichs bzw. Irlands.
Rechtlicher Rahmen
Völkerrecht
3 Das am 28. Juli 1951 in Genf unterzeichnete Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (United Nations Treaty Series, Band 189, S. 150, Nr. 2545 [1954], im Folgenden: Genfer Flüchtlingskonvention) trat am 22. April 1954 in Kraft. Es wurde
ergänzt durch das am 4. Oktober 1967 in Kraft getretene Protokoll über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 31. Januar 1967
(im Folgenden: Protokoll von 1967).
4 Alle Mitgliedstaaten sowie die Republik Island, das Königreich Norwegen, die Schweizerische Eidgenossenschaft und das Fürstentum
Liechtenstein sind Vertragsparteien der Genfer Flüchtlingskonvention und des Protokolls von 1967. Die Union ist weder Vertragspartei
der Genfer Flüchtlingskonvention noch des Protokolls von 1967, aber Art. 78 AEUV und Art. 18 der Charta sehen vor, dass das
Recht auf Asyl u. a. nach Maßgabe dieser Konvention und dieses Protokolls gewährleistet wird.
5 Art. 33 („Verbot der Ausweisung und Zurückweisung“) der Genfer Flüchtlingskonvention bestimmt in Abs. 1:
„Keiner der vertragschließenden Staaten wird einen Flüchtling auf irgendeine Weise über die Grenzen von Gebieten ausweisen
oder zurückweisen, in denen sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit
zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht sein würde.“
Das Gemeinsame Europäische Asylsystem
6 Zur Verwirklichung des vom Europäischen Rat auf seiner Tagung in Straßburg am 8. und 9. Dezember 1989 gesetzten Ziels der
Harmonisierung ihrer Asylpolitiken unterzeichneten die Mitgliedstaaten am 15. Juni 1990 in Dublin das Übereinkommen über die
Bestimmung des zuständigen Staates für die Prüfung eines in einem Mitgliedstaat der Europäischen Gemeinschaften gestellten
Asylantrags (ABl. 1997, C 254, S. 1, im Folgenden: Dubliner Übereinkommen). Dieses Übereinkommen trat für die zwölf ursprünglichen
Unterzeichnerstaaten am 1. September 1997, für die Republik Österreich und das Königreich Schweden am 1. Oktober 1997 und
für die Republik Finnland am 1. Januar 1998 in Kraft.
7 Die Schlussfolgerungen der Tagung des Europäischen Rates in Tampere am 15. und 16. Oktober 1999 sahen u. a. die Errichtung
eines Gemeinsamen Europäischen Asylsystems vor, das sich auf die uneingeschränkte und umfassende Anwendung der Genfer Flüchtlingskonvention
stützt, wodurch sichergestellt werden sollte, dass niemand dorthin zurückgeschickt wird, wo er Verfolgung ausgesetzt ist,
d. h. der Grundsatz der Nichtzurückweisung gewahrt bleibt.
8 Mit dem Vertrag von Amsterdam vom 2. Oktober 1997 wurde Art. 63 in den EG-Vertrag aufgenommen, der der Europäischen Gemeinschaft
die Zuständigkeit für den Erlass der vom Europäischen Rat in Tampere empfohlenen Maßnahmen zuwies. Mit jenem Vertrag wurde
dem EG‑Vertrag auch das Protokoll (Nr. 24) über die Gewährung von Asyl für Staatsangehörige von Mitgliedstaaten der Europäischen
Union (ABl. 2010, C 83, S. 305) beigefügt, nach dem diese Staaten füreinander für rechtliche und praktische Zwecke im Zusammenhang
mit dem Recht auf Asyl als sichere Herkunftsländer gelten.
9 Der Erlass von Art. 63 EG erlaubte es insbesondere, zwischen den Mitgliedstaaten mit Ausnahme des Königreichs Dänemark das
Dubliner Übereinkommen durch die Verordnung Nr. 343/2003 zu ersetzen, die am 17. März 2003 in Kraft trat. Auf der gleichen
Rechtsgrundlage wurden auch die auf die Ausgangsrechtssachen anwendbaren Richtlinien im Hinblick auf die Errichtung des Gemeinsamen
Europäischen Asylsystems erlassen, das in den Schlussfolgerungen der Tagung des Europäischen Rates in Tampere vorgesehen war.
10 Seit dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon bestehen die maßgeblichen Asylbestimmungen in Art. 78 AEUV, der die Errichtung
eines gemeinsamen europäischen Asylsystems vorsieht, und Art. 80 AEUV, der auf den Grundsatz der Solidarität und der gerechten
Aufteilung der Verantwortlichkeiten unter den Mitgliedstaaten hinweist.
11 Das für die Ausgangsrechtssachen einschlägige Regelwerk der Union umfasst:
– die Verordnung Nr. 343/2003;
– die Richtlinie 2003/9/EG des Rates vom 27. Januar 2003 zur Festlegung von Mindestnormen für die Aufnahme von Asylbewerbern
in den Mitgliedstaaten (ABl. L 31, S. 18);
– die Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen
oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt
des zu gewährenden Schutzes (ABl. L 304, S. 12, und Berichtigung, ABl. 2005, L 204, S. 24);
– die Richtlinie 2005/85/EG des Rates vom 1. Dezember 2005 über Mindestnormen für Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Zuerkennung
und Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft (ABl. L 326, S. 13, und Berichtigung, ABl. 2006, L 236, S. 35).
12 Zu nennen ist auch die Richtlinie 2001/55/EG des Rates vom 20. Juli 2001 über Mindestnormen für die Gewährung vorübergehenden
Schutzes im Falle eines Massenzustroms von Vertriebenen und Maßnahmen zur Förderung einer ausgewogenen Verteilung der Belastungen,
die mit der Aufnahme dieser Personen und den Folgen dieser Aufnahme verbunden sind, auf die Mitgliedstaaten (ABl. L 212, S. 12).
Wie aus dem 20. Erwägungsgrund dieser Richtlinie hervorgeht, besteht eines ihrer Ziele darin, einen Solidaritätsmechanismus
zu schaffen, um dazu beizutragen, dass die Belastungen, die sich im Falle eines Massenzustroms von Vertriebenen aus der Aufnahme
dieser Personen und den damit verbundenen Folgen ergeben, auch ausgewogen auf die Mitgliedstaaten verteilt werden.
13 Die Speicherung der Fingerabdruckdaten von Ausländern, die illegal eine Außengrenze der Union überschreiten, gestattet die
Bestimmung des für einen Asylantrag zuständigen Mitgliedstaats. Eine solche Speicherung ist in der Verordnung (EG) Nr. 2725/2000
des Rates vom 11. Dezember 2000 über die Einrichtung von „Eurodac“ für den Vergleich von Fingerabdrücken zum Zwecke der effektiven
Anwendung des Dubliner Übereinkommens (ABl. L 316, S. 1) vorgesehen.
14 Die Verordnung Nr. 343/2003 und die Richtlinien 2003/9, 2004/83 und 2005/85 nehmen in ihrem ersten Erwägungsgrund darauf Bezug,
dass eine gemeinsame Asylpolitik einschließlich eines Gemeinsamen Europäischen Asylsystems wesentlicher Bestandteil des Ziels
der Union ist, schrittweise einen Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts aufzubauen, der allen offen steht, die
wegen besonderer Umstände rechtmäßig in der Gemeinschaft um Schutz nachsuchen. Sie verweisen außerdem in ihrem zweiten Erwägungsgrund
auf die Schlussfolgerungen der Tagung des Europäischen Rates in Tampere.
15 In jedem dieser Rechtstexte findet sich der Hinweis, dass er im Einklang mit den Grundrechten und Grundsätzen, die insbesondere
mit der Charta anerkannt wurden, steht. Insbesondere heißt es im 15. Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 343/2003, dass sie
darauf abzielt, die uneingeschränkte Wahrung des in Art. 18 der Charta verankerten Rechts auf Asyl zu gewährleisten, im fünften
Erwägungsgrund der Richtlinie 2003/9, dass es vor allem deren Ziel ist, die uneingeschränkte Wahrung der Menschenwürde zu
gewährleisten und die Anwendung der Art. 1 und 18 der Charta zu fördern, und im zehnten Erwägungsgrund der Richtlinie 2004/83,
dass diese insbesondere darauf abzielt, die uneingeschränkte Wahrung der Menschenwürde sowie des Asylrechts für Asylsuchende
und die sie begleitenden Familienangehörigen sicherzustellen.
16 Nach ihrem Art. 1 legt die Verordnung Nr. 343/2003 die Kriterien und Verfahren fest, die bei der Bestimmung des Mitgliedstaats,
der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen in einem Mitgliedstaat gestellten Asylantrags zuständig ist, zur
Anwendung gelangen.
17 Art. 3 Abs. 1 und 2 dieser Verordnung sieht vor:
„(1) Die Mitgliedstaaten prüfen jeden Asylantrag, den ein Drittstaatsangehöriger an der Grenze oder im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats
stellt. Der Antrag wird von einem einzigen Mitgliedstaat geprüft, der nach den Kriterien des Kapitels III als zuständiger
Staat bestimmt wird.
(2) Abweichend von Absatz 1 kann jeder Mitgliedstaat einen von einem Drittstaatsangehörigen eingereichten Asylantrag prüfen, auch
wenn er nach den in dieser Verordnung festgelegten Kriterien nicht für die Prüfung zuständig ist. Der betreffende Mitgliedstaat
wird dadurch zum zuständigen Mitgliedstaat im Sinne dieser Verordnung und übernimmt die mit dieser Zuständigkeit einhergehenden
Verpflichtungen. Gegebenenfalls unterrichtet er den zuvor zuständigen Mitgliedstaat, den Mitgliedstaat, der ein Verfahren
zur Bestimmung des zuständigen Staates durchführt, oder den Mitgliedstaat, an den ein Aufnahme- oder Wiederaufnahmegesuch
gerichtet wurde.“
18 Damit der „zuständige Mitgliedstaat“ im Sinne des Art. 3 Abs. 1 der Verordnung Nr. 343/2003 bestimmt werden kann, nennt Kapitel
III dieser Verordnung eine Liste objektiver Kriterien in einer Rangfolge mit folgenden Anknüpfungspunkten: unbegleitete Minderjährige,
Einheit der Familie, Erteilung eines Aufenthaltstitels oder Visums, illegale Einreise oder illegaler Aufenthalt in einem Mitgliedstaat,
legale Einreise in einen Mitgliedstaat und Anträge, die im internationalen Transitbereich eines Flughafens gestellt werden.
19 Nach Art. 13 dieser Verordnung ist, wenn sich anhand der Rangfolge der Kriterien kein Mitgliedstaat bestimmen lässt, automatisch
der erste Mitgliedstaat, in dem der Asylantrag gestellt wurde, für dessen Prüfung zuständig.
20 Art. 17 der Verordnung Nr. 343/2003 sieht vor, dass der Mitgliedstaat, in dem ein Asylantrag gestellt wurde, wenn er einen
anderen Mitgliedstaat für die Prüfung des Antrags für zuständig hält, den anderen Mitgliedstaat so bald wie möglich ersuchen
kann, den Asylbewerber aufzunehmen.
21 Nach Art. 18 Abs. 7 dieser Verordnung ist, wenn vom ersuchten Mitgliedstaat innerhalb der Frist von zwei Monaten – oder bei
Berufung auf das Dringlichkeitsverfahren von einem Monat – keine Antwort erteilt wird, davon auszugehen, dass dem Aufnahmegesuch
stattgegeben wird, was die Verpflichtung für diesen Mitgliedstaat nach sich zieht, die Person aufzunehmen und angemessene
Vorkehrungen für die Ankunft zu treffen.
22 In Art. 19 der Verordnung Nr. 343/2003 heißt es
„(1) Stimmt der ersuchte Mitgliedstaat der Aufnahme eines Antragstellers zu, so teilt der Mitgliedstaat, in dem der Asylantrag
eingereicht wurde, dem Antragsteller die Entscheidung, den Asylantrag nicht zu prüfen, sowie die Verpflichtung, den Antragsteller
an den zuständigen Mitgliedstaat zu überstellen, mit.
(2) Die Entscheidung nach Absatz 1 ist zu begründen. Die Frist für die Durchführung der Überstellung ist anzugeben, und gegebenenfalls
der Zeitpunkt und der Ort zu nennen, zu dem bzw. an dem sich der Antragsteller zu melden hat, wenn er sich auf eigene Initiative
in den zuständigen Mitgliedstaat begibt. Gegen die Entscheidung kann ein Rechtsbehelf eingelegt werden. Ein gegen die Entscheidung
eingelegter Rechtsbehelf hat keine aufschiebende Wirkung für die Durchführung der Überstellung, es sei denn, die Gerichte
oder zuständigen Stellen entscheiden im Einzelfall nach Maßgabe ihres innerstaatlichen Rechts anders, wenn es nach ihrem innerstaatlichen
Recht zulässig ist.
…
(4) Wird die Überstellung nicht innerhalb der Frist von sechs Monaten durchgeführt, geht die Zuständigkeit auf den Mitgliedstaat
über, in dem der Asylantrag eingereicht wurde. Diese Frist kann höchstens auf ein Jahr verlängert werden, wenn die Überstellung
aufgrund der Inhaftierung des Asylbewerbers nicht erfolgen konnte, oder höchstens auf achtzehn Monate, wenn der Asylbewerber
flüchtig ist.
…“
23 Das Vereinigte Königreich beteiligt sich an der Anwendung jeder der Verordnungen und vier Richtlinien, die oben in den Randnrn.
11 bis 13 genannt sind. Irland dagegen beteiligt sich an der Anwendung der Verordnungen und der Richtlinien 2004/83, 2005/85
und 2001/55, nicht aber der Richtlinie 2003/9.
24 Das Königreich Dänemark ist durch das mit dem Beschluss 2006/188/EG des Rates vom 21. Februar 2006 (ABl. L 66, S. 37) genehmigte
Übereinkommen gebunden, das es mit der Europäischen Gemeinschaft zur Ausdehnung der Verordnung Nr. 343/2003 und der Verordnung
Nr. 2725/2000 auf Dänemark geschlossen hat. Es ist nicht durch die oben in Randnr. 11 genannten Richtlinien gebunden.
25 Die Gemeinschaft hat auch ein Übereinkommen mit der Republik Island und dem Königreich Norwegen über die Kriterien und Regelungen
zur Bestimmung des zuständigen Staates für die Prüfung eines in einem Mitgliedstaat oder in Island oder Norwegen gestellten
Asylantrags geschlossen, das mit dem Beschluss 2001/258/EG des Rates vom 15. März 2001 (ABl. L 93, S. 38) genehmigt wurde.
26 Ferner hat die Gemeinschaft ein Abkommen mit der Schweizerischen Eidgenossenschaft über die Kriterien und Verfahren zur Bestimmung
des zuständigen Staates für die Prüfung eines in einem Mitgliedstaat oder in der Schweiz gestellten Asylantrags geschlossen,
das mit dem Beschluss 2008/147/EG des Rates vom 28. Januar 2008 (ABl. L 53, S. 3) genehmigt wurde, sowie das Protokoll mit
der Schweizerischen Eidgenossenschaft und dem Fürstentum Liechtenstein zu dem Abkommen zwischen der Europäischen Gemeinschaft
und der Schweizerischen Eidgenossenschaft über die Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Staates für die
Prüfung eines in einem Mitgliedstaat oder in der Schweiz gestellten Asylantrags, das mit dem Beschluss 2009/487/EG des Rates
vom 24. Oktober 2008 (ABl. 2009, L 161, S. 6) genehmigt wurde.
27 Die Richtlinie 2003/9 legt Mindestnormen für die Aufnahme von Asylbewerbern in den Mitgliedstaaten fest. Diese Normen betreffen
u. a. die Informationspflichten gegenüber den Asylbewerbern und die Dokumente, die diesen ausgehändigt werden müssen, die
Entscheidungen, die von den Mitgliedstaaten in Bezug auf den Wohnsitz und die Bewegung der Asylbewerber in ihrem Hoheitsgebiet,
die Familien, medizinische Untersuchungen, die Grundschulerziehung und weiterführende Bildung Minderjähriger sowie die Beschäftigung
der Asylbewerber und deren Zugang zur beruflichen Bildung erlassen werden können, die allgemeinen Bestimmungen zu materiellen
Aufnahmebedingungen und zur Gesundheitsversorgung der Antragsteller, die Modalitäten der Aufnahmebedingungen und die medizinische
Versorgung, die den Asylbewerbern gewährt werden muss.
28 Diese Richtlinie sieht auch die Verpflichtung zur Steuerung des Niveaus der Aufnahmebedingungen und die Möglichkeit von Rechtsmitteln
in Bezug auf die von ihr erfassten Bereiche und Entscheidungen vor. Außerdem enthält sie Vorschriften über die Ausbildung
der Behörden und die Ressourcen, die im Zusammenhang mit den nationalen Durchführungsvorschriften zu der Richtlinie erforderlich
sind.
29 Die Richtlinie 2004/83 legt Mindestnormen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge
oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes fest.
Kapitel II enthält verschiedene Bestimmungen dazu, wie die Anträge zu prüfen sind. Kapitel III stellt die Voraussetzungen
klar, die für die Anerkennung als Flüchtling erfüllt sein müssen. Kapitel IV betrifft die Flüchtlingseigenschaft. Die Kapitel
V und VI behandeln die Voraussetzungen für den Anspruch auf subsidiären Schutz und den damit verbundenen Status. Kapitel VII
enthält verschiedene Vorschriften über den Inhalt des internationalen Schutzes. Die Bestimmungen dieses Kapitels berühren
nach Art. 20 Abs. 1 dieser Richtlinie nicht die in der Genfer Flüchtlingskonvention verankerten Rechte.
30 Die Richtlinie 2005/85 regelt die Rechte der Asylbewerber und die Verfahren zur Prüfung der Anträge.
31 Art. 36 („Europäisches Konzept der sicheren Drittstaaten“) der Richtlinie 2005/85 bestimmt in Abs. 1:
„Die Mitgliedstaaten können vorsehen, dass keine oder keine umfassende Prüfung des Asylantrags und der Sicherheit des Asylbewerbers
in seiner spezifischen Situation nach Kapitel II erfolgt, wenn eine zuständige Behörde anhand von Tatsachen festgestellt hat,
dass der Asylbewerber aus einem sicheren Drittstaat nach Absatz 2 unrechtmäßig in das Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats
einzureisen versucht oder eingereist ist.“
32 Die in Abs. 2 dieser Vorschrift vorgesehenen Voraussetzungen stellen u. a. ab auf
– die Ratifizierung der Genfer Flüchtlingskonvention und die Einhaltung ihrer Bestimmungen;
– das Bestehen eines gesetzlich festgelegten Asylverfahrens;
– die Ratifizierung der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und
Grundfreiheiten (im Folgenden: EMRK) und die Einhaltung der darin enthaltenen Bestimmungen einschließlich der Normen über
wirksame Rechtsbehelfe.
33 Art. 39 der Richtlinie 2005/85 nennt die wirksamen Rechtsbehelfe, die vor den Gerichten der Mitgliedstaaten eingelegt werden
können müssen. Sein Abs. 1 Buchst. a Ziff. iii betrifft die Entscheidungen, keine Prüfung nach Art. 36 der Richtlinie vorzunehmen.
Ausgangsrechtsstreitigkeiten und Vorlagefragen
Rechtssache C‑411/10
34 N. S., der Rechtsmittelführer des Ausgangsverfahrens, ist ein afghanischer Staatsangehöriger, der in das Vereinigte Königreich
kam, wobei ihn sein Weg u. a. über Griechenland führte. Dort wurde er am 24. September 2008 verhaftet, stellte aber keinen
Asylantrag.
35 Nach seiner Aussage wurde er von den griechischen Behörden vier Tage lang inhaftiert; bei seiner Freilassung sei ihm eine
Anordnung bekanntgegeben worden, mit der er aufgefordert worden sei, das griechische Staatsgebiet innerhalb von 30 Tagen zu
verlassen. Er behauptet, er sei bei dem Versuch, Griechenland zu verlassen, von der Polizei verhaftet und in die Türkei abgeschoben
worden, wo er zwei Monate lang unter schrecklichen Bedingungen inhaftiert gewesen sei. Er sei aus der Haft in der Türkei entkommen
und von dort in das Vereinigte Königreich gereist, wo er am 12. Januar 2009 angekommen sei und noch am selben Tag einen Asylantrag
gestellt habe.
36 Am 1. April 2009 richtete der Secretary of State for the Home Department (im Folgenden: Secretary of State) nach Art. 17 der
Verordnung Nr. 343/2003 ein Gesuch um Aufnahme des Rechtsmittelführers des Ausgangsverfahrens zwecks Prüfung seines Asylantrags
an die Hellenische Republik. Diese antwortete nicht innerhalb der Frist des Art. 18 Abs. 7 der Verordnung Nr. 343/2003 auf
das Gesuch, so dass am 18. Juni 2009 davon ausgegangen wurde, dass sie nach dieser Bestimmung die Zuständigkeit für die Prüfung
des Antrags des Rechtsmittelführers des Ausgangsverfahrens anerkannt hatte.
37 Am 30. Juli 2009 gab der Secretary of State dem Rechtsmittelführer des Ausgangsverfahrens bekannt, dass Verfügungen im Hinblick
auf seine Rücküberstellung nach Griechenland am 6. August 2009 ergangen seien.
38 Am 31. Juli 2009 gab der Secretary of State dem Rechtsmittelführer des Ausgangsverfahrens eine Entscheidung gemäß Schedule
3 Part 2 Paragraph 5(4) des Asyl- und Einwanderungsgesetzes (Behandlung der Antragsteller usw.) (Asylum and Immigration [Treatment
of Claimants, etc] Act) 2004 (im Folgenden: Asylgesetz von 2004) bekannt, mit der seine Beschwerde, dass seine Überstellung
nach Griechenland seine Rechte nach der EMRK verletze, amtlich für offensichtlich unbegründet erklärt wurde, da die Hellenische
Republik auf der „Liste der sicheren Staaten“ in Schedule 3 Part 2 des Asylgesetzes von 2004 verzeichnet sei.
39 Nach Schedule 3 Part 2 Paragraph 5(4) des Asylgesetzes von 2004 hatte diese amtliche Erklärung zur Folge, dass der Rechtsmittelführer
des Ausgangsverfahrens im Vereinigten Königreich gegen die Entscheidung über seine Überstellung nach Griechenland nicht mehr
den mit Suspensiveffekt versehenen Rechtsbehelf in Einwanderungssachen („immigration appeal“) einlegen konnte, der ihm ohne
eine solche Erklärung zugestanden hätte.
40 Am 31. Juli 2009 beantragte der Rechtsmittelführer des Ausgangsverfahrens beim Secretary of State die Übernahme der Zuständigkeit
für die Prüfung seines Asylantrags nach Art. 3 Abs. 2 der Verordnung Nr. 343/2003, weil die Gefahr einer Verletzung der ihm
durch das Unionsrecht, die EMRK und/oder die Genfer Flüchtlingskonvention verliehenen Grundrechte bestehe, wenn er nach Griechenland
rückgeführt würde. Mit Schreiben vom 4. August 2009 erhielt der Secretary of State seine Entscheidungen über die Überstellung
des Rechtsmittelführers des Ausgangsverfahrens nach Griechenland und über die amtliche Erklärung der offensichtlichen Unbegründetheit
der auf die EMRK gestützten Beschwerde des Rechtsmittelführers des Ausgangsverfahrens aufrecht.
41 Am 6. August 2009 stellte der Rechtsmittelführer des Ausgangsverfahrens einen Antrag auf Zulassung der gerichtlichen Überprüfung
(„judicial review“) der Entscheidungen des Secretary of State. Daraufhin hob dieser die Überstellungsverfügungen auf. Am 14.
Oktober 2009 wurde dem Antrag des Rechtsmittelführers des Ausgangsverfahrens auf gerichtliche Überprüfung stattgegeben.
42 Die gerichtliche Überprüfung wurde vom 24. bis 26. Februar 2010 vom High Court of Justice (England & Wales), Queen’s Bench
Division (Administrative Court) durchgeführt. Mit Urteil vom 31. März 2010 wies Richter Cranston diesen Rechtsbehelf zurück,
ließ jedoch ein Rechtsmittel des Rechtsmittelführers des Ausgangsverfahrens gegen das Urteil zum Court of Appeal (England
& Wales) (Civil Division) zu.
43 Der Rechtsmittelführer des Ausgangsverfahrens legte am 21. April 2010 Rechtsmittel beim letztgenannten Gericht ein.
44 Der Vorlageentscheidung zufolge, in der dieses Gericht auf das Urteil des High Court of Justice (England & Wales), Queen’s
Bench Division (Administrative Court), Bezug nimmt,
– weisen die Asylverfahren in Griechenland schwere Mängel auf: die Antragsteller träfen auf zahlreiche Schwierigkeiten bei der
Erfüllung der notwendigen Formalitäten, sie würden nicht ausreichend informiert und unterstützt, und ihre Anträge würden nicht
aufmerksam geprüft;
– ist die Asylgewährungsquote in Griechenland äußerst niedrig;
– ist der Rechtsweg in Griechenland unzureichend und sehr schwer zugänglich;
– sind die Aufnahmebedingungen für Asylbewerber in Griechenland unzureichend: diese würden entweder unter unangemessenen Bedingungen
festgesetzt oder lebten in Elend ohne Obdach und Nahrung im Freien.
45 Der High Court of Justice (England & Wales), Queen’s Bench Division (Administrative Court) hielt die Gefahr der Abschiebung
aus Griechenland nach Afghanistan oder in die Türkei hinsichtlich der nach der Verordnung Nr. 343/2003 rückgeführten Personen
für nicht erwiesen; der Rechtsmittelführer des Ausgangsverfahrens widerspricht dieser Einschätzung vor dem vorlegenden Gericht.
46 Vor dem Court of Appeal (England & Wales) (Civil Division) räumte der Secretary of State ein, dass „man sich gegenüber dem
Vereinigten Königreich auf die in der Charta niedergelegten Grundrechte berufen kann und … dass der Administrative Court zu
Unrecht anders entschieden hat“. Nach Ansicht des Secretary of State bestätigt die Charta nur nochmals die Rechte, die bereits
integraler Bestandteil des Unionsrechts seien, und begründet keine neuen Rechte. Er machte jedoch geltend, der High Court
of Justice (England & Wales), Queen’s Bench Division (Administrative Court) habe zu Unrecht befunden, dass er bei der Ausübung
des ihm nach Art. 3 Abs. 2 der Verordnung Nr. 343/2003 verliehenen Ermessens die Unionsgrundrechte habe berücksichtigen müssen.
Dieses Ermessen fällt seiner Ansicht nach nicht in den Geltungsbereich des Unionsrechts.
47 Hilfsweise brachte der Secretary of State vor, dass die Verpflichtung zur Beachtung der Unionsgrundrechte ihn nicht zwinge,
Beweise dafür zu berücksichtigen, dass bei einer Rückführung des Rechtsmittelführers nach Griechenland eine erhebliche Gefahr
bestehe, dass die diesem vom Unionsrecht verliehenen Grundrechte verletzt würden. Aufgrund der Systematik der Verordnung Nr. 343/2003
könne er sich nämlich auf die unwiderlegbare Vermutung stützen, dass Griechenland (oder jeder andere Mitgliedstaat) seinen
Verpflichtungen nach dem Unionsrecht nachkomme.
48 Der Rechtsmittelführer des Ausgangsverfahrens machte schließlich vor dem vorlegenden Gericht geltend, dass der nach der Charta
gewährte Schutz weiter sei und insbesondere über den durch Art. 3 EMRK verbürgten Schutz hinausgehe, was im vorliegenden Fall
zu einem anderen Ausgang führen könne.
49 In der Verhandlung vom 12. Juli 2010 befand das vorlegende Gericht, dass für die Entscheidung über das Rechtsmittel einige
unionsrechtliche Fragen zu klären seien.
50 Unter diesen Umständen hat der Court of Appeal (England & Wales) (Civil Division) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und
dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
1. Fällt die Entscheidung eines Mitgliedstaats nach Art. 3 Abs. 2 der Verordnung Nr. 343/2003 darüber, ob er einen Asylantrag
prüft, der nach den in Kapitel III der Verordnung festgelegten Kriterien nicht in seine Zuständigkeit fällt, für die Zwecke
von Art. 6 EUV und/oder Art. 51 der Charta in den Geltungsbereich des Unionsrechts?
Wenn Frage 1 zu bejahen ist:
2. Ist die Verpflichtung eines Mitgliedstaats zur Beachtung der Unionsgrundrechte (einschließlich der in den Art. 1, 4, 18, 19
Abs. 2 und 47 der Charta festgelegten Rechte) erfüllt, wenn er den Asylbewerber dem Mitgliedstaat überstellt, der nach Art. 3
Abs. 1 der Verordnung Nr. 343/2003 gemäß den Kriterien des Kapitels III dieser Verordnung als zuständiger Staat bestimmt worden
ist, ohne dass es auf die im zuständigen Mitgliedstaat herrschenden Verhältnisse ankommt?
3. Schließt insbesondere die Verpflichtung zur Beachtung der Unionsgrundrechte die Anwendung der unwiderlegbaren Vermutung aus,
dass der zuständige Mitgliedstaat (i) die Grundrechte des Antragstellers nach dem Unionsrecht und/oder (ii) die nach den Richtlinien
2003/9, 2004/83 und/oder 2005/85 einzuhaltenden Mindestnormen beachten wird?
4. Hilfsweise: Ist ein Mitgliedstaat nach dem Unionsrecht verpflichtet – und, wenn ja, unter welchen Voraussetzungen –, von der
Befugnis nach Art. 3 Abs. 2 der Verordnung Nr. 343/2003, einen Asylantrag zu prüfen und in seine Zuständigkeit zu übernehmen,
Gebrauch zu machen, wenn der Antragsteller im Fall seiner Überstellung an den zuständigen Mitgliedstaat der Gefahr einer Verletzung
seiner Grundrechte, insbesondere der in den Art. 1, 4, 18, 19 Abs. 2 und/oder 47 der Charta festgelegten Rechte, und/oder
der Gefahr ausgesetzt wäre, dass die Mindestnormen nach den Richtlinien 2003/9, 2004/83 und 2005/85 auf ihn keine Anwendung
finden?
5. Reicht der Schutz, der einer Person, auf die die Verordnung Nr. 343/2003 anwendbar ist, aufgrund der allgemeinen Grundsätze
des Unionsrechts und insbesondere der Rechte nach den Art. 1, 18 und 47 der Charta zuteil wird, weiter als der Schutz nach
Art. 3 EMRK?
6. Ist es mit den Rechten nach Art. 47 der Charta vereinbar, wenn eine Vorschrift des nationalen Rechts die Gerichte bei der
Prüfung, ob eine Person rechtmäßig nach der Verordnung Nr. 343/2003 in einen anderen Mitgliedstaat abgeschoben werden kann,
verpflichtet, diesen Mitgliedstaat als einen Staat zu behandeln, aus dem die Person nicht unter Verletzung ihrer Rechte nach
der EMRK oder nach der Genfer Flüchtlingskonvention und dem Protokoll von 1967 in einen anderen Staat überstellt werden wird?
7. Unterliegen die Antworten auf die Fragen 2 bis 6, soweit diese sich in Bezug auf Verpflichtungen des Vereinigten Königreichs
stellen, irgendwelchen Einschränkungen, um dem Protokoll (Nr. 30) Rechnung zu tragen?
Rechtssache C‑493/10
51 Diese Rechtssache betrifft in den Ausgangsverfahren fünf Kläger aus Afghanistan, dem Iran und Algerien, die in keiner Beziehung
zueinander stehen. Sie reisten alle durch Griechenland und wurden dort wegen illegaler Einreise festgenommen. Danach begaben
sie sich nach Irland, wo sie Asyl beantragten. Drei der Kläger der Ausgangsverfahren stellten den Asylantrag, ohne ihren vorherigen
Aufenthalt in Griechenland anzugeben, während die beiden anderen einräumten, sich zuvor in Griechenland aufgehalten zu haben.
Über das Eurodac-System wurde bestätigt, dass die fünf Kläger zuvor in griechisches Hoheitsgebiet eingereist waren, aber keiner
von ihnen dort Asyl beantragt hatte.
52 Alle Kläger der Ausgangsverfahren widersetzen sich ihrer Rückkehr nach Griechenland. Wie aus der Vorlageentscheidung hervorgeht,
wurde nicht geltend gemacht, dass ihre Überstellung nach Griechenland gemäß der Verordnung Nr. 343/2003 gegen Art. 3 EMRK
verstieße, weil eine Zurückweisung, eine gestaffelte Zurückweisung, Misshandlungen oder eine Unterbrechung des Asylverfahrens
drohten. Es wird auch nicht vorgetragen, dass die Überstellung gegen sonstige Vorschriften der EMRK verstieße. Die Kläger
der Ausgangsverfahren brachten vor, dass die Verfahren und Bedingungen für Asylbewerber in Griechenland unangemessen seien,
so dass Irland verpflichtet sei, von der ihm mit Art. 3 Abs. 2 der Verordnung Nr. 343/2003 eröffneten Befugnis Gebrauch zu
machen, die Zuständigkeit für die Prüfung und Entscheidung ihrer Asylanträge zu übernehmen.
53 Unter diesen Umständen hat der High Court beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung
vorzulegen:
1. Ist der überstellende Mitgliedstaat nach der Verordnung Nr. 343/2003 verpflichtet, die Beachtung von Art. 18 der Charta, der
Richtlinien 2003/9, 2004/83 und 2005/85 sowie der Verordnung Nr. 343/2003 durch den Aufnahmemitgliedstaat zu beurteilen?
2. Falls die Frage zu bejahen ist und falls festgestellt wird, dass der Aufnahmemitgliedstaat eine oder mehrere jener Bestimmungen
nicht beachtet, ist dann der überstellende Mitgliedstaat nach Art. 3 Abs. 2 der Verordnung Nr. 343/2003 zur Übernahme der
Zuständigkeit für die Prüfung des Antrags verpflichtet?
54 Durch Beschluss des Präsidenten des Gerichtshofs vom 16. Mai 2011 sind die Rechtssachen C‑411/10 und C‑493/10 zu gemeinsamem
mündlichen Verfahren und zu gemeinsamer Entscheidung verbunden worden.
Zu den Vorlagefragen
Zur ersten Frage in der Rechtssache C‑411/10
55 Mit seiner ersten Frage in der Rechtssache C‑411/10 möchte der Court of Appeal (England & Wales) (Civil Division) im Wesentlichen
wissen, ob für die Zwecke von Art. 6 EUV und/oder Art. 51 der Charta die von einem Mitgliedstaat auf der Grundlage des Art. 3
Abs. 2 der Verordnung Nr. 343/2003 getroffene Entscheidung darüber, ob er einen Asylantrag prüft, für den er in Ansehung der
Kriterien des Kapitels III dieser Verordnung nicht zuständig ist, in den Geltungsbereich des Unionsrechts fällt.
Vor dem Gerichtshof abgegebene Erklärungen
56 N. S., die Equality and Human Rights Commission (EHRC), Amnesty International Ltd and the AIRE Centre (Advice on Individual
Rights in Europe) (UK), der Hohe Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (UNHCR), die französische, die niederländische,
die österreichische und die finnische Regierung sowie die Europäische Kommission sind der Ansicht, dass eine auf der Grundlage
des Art. 3 Abs. 2 der Verordnung Nr. 343/2003 erlassene Entscheidung in den Geltungsbereich des Unionsrechts falle.
57 N. S. betont insoweit, dass die Ausübung der in dieser Bestimmung vorgesehenen Befugnis für den Antragsteller nicht zwangsläufig
günstiger sei, was erkläre, dass die Kommission in ihrem Bericht vom 6. Juni 2007 zur Bewertung des Dublin-Systems (KOM[2007]
299 endg.) vorgeschlagen habe, dass die Wahrnehmung der mit Art. 3 Abs. 2 der Verordnung Nr. 343/2003 gewährten Befugnis von
der Zustimmung des Asylbewerbers abhängig gemacht werden solle.
58 Nach Ansicht insbesondere von Amnesty International Ltd and the AIRE Centre (Advice on Individual Rights in Europe) (UK) und
der französischen Regierung ist die in Art. 3 Abs. 2 der Verordnung Nr. 343/2003 vorgesehene Möglichkeit dadurch gerechtfertigt,
dass diese Verordnung den Schutz der Grundrechte bezwecke und dass es nötig sein könne, die in dieser Bestimmung vorgesehene
Befugnis auszuüben.
59 Die finnische Regierung unterstreicht, dass die Verordnung Nr. 343/2003 Teil eines Regelwerks sei, mit dem ein System errichtet
werde.
60 Nach Ansicht der Kommission muss ein Mitgliedstaat, wenn eine Verordnung ihm einen Ermessensspielraum einräume, bei der Ausübung
des Ermessens das Unionsrecht beachten (Urteile vom 13. Juli 1989, Wachauf, 5/88, Slg. 1989, 2609, vom 4. März 2010, Chakroun,
C‑578/08, Slg. 2010, I‑1839, und vom 5. Oktober 2010, McB., C‑400/10 PPU, Slg. 2010, I‑0000). Eine Entscheidung, die ein Mitgliedstaat
auf der Grundlage des Art. 3 Abs. 2 der Verordnung Nr. 343/2003 erlasse, habe Folgen für diesen Staat, der durch die Verfahrensauflagen
der Union und durch die Richtlinien gebunden sei.
61 Irland, das Vereinigte Königreich, die belgische Regierung und die italienische Regierung vertreten dagegen die Auffassung,
dass eine solche Entscheidung nicht in den Geltungsbereich des Unionsrechts falle. Argumentiert wird mit der Klarheit des
Wortlauts, nach dem es sich um eine Befugnis handle, der Bezugnahme auf eine „Souveränitätsklausel“ oder „Ermessensklausel“
in den Dokumenten der Kommission, dem Grund für eine solche Klausel, nämlich humanitären Gründen, und schließlich der Logik
des mit der Verordnung Nr. 343/2003 errichteten Systems.
62 Das Vereinigte Königreich unterstreicht, dass eine Souveränitätsklausel keine Ausnahme im Sinne des Urteils vom 18. Juni 1991,
ERT (C‑260/89, Slg. 1991, I‑2925, Randnr. 43), darstelle. Auch bedeute der Umstand, dass der Gebrauch dieser Klausel keine
Durchführung des Unionsrechts sei, nicht, dass die Mitgliedstaaten die Grundrechte nicht beachteten, da sie an die Genfer
Flüchtlingskonvention und die EMRK gebunden seien. Die belgische Regierung betont jedoch, dass der Vollzug der Entscheidung
über die Überstellung des Asylbewerbers die Durchführung der Verordnung Nr. 343/2003 nach sich ziehe und daher in den Geltungsbereich
des Art. 6 EUV und der Charta falle.
63 Für die tschechische Regierung fällt die Entscheidung eines Mitgliedstaats unter das Unionsrecht, wenn er von der Souveränitätsklausel
Gebrauch macht, nicht aber dann, wenn er diese Befugnis nicht ausübt.
Antwort des Gerichtshofs
64 Nach Art. 51 Abs. 1 der Charta gilt diese für die Mitgliedstaaten ausschließlich bei der Durchführung des Rechts der Union.
65 Die Prüfung von Art. 3 Abs. 2 der Verordnung Nr. 343/2003 zeigt, dass er den Mitgliedstaaten ein Ermessen einräumt, das integraler
Bestandteil des vom AEU-Vertrag vorgesehenen und vom Unionsgesetzgeber ausgearbeiteten Gemeinsamen Europäischen Asylsystems
ist.
66 Wie die Kommission hervorgehoben hat, müssen die Mitgliedstaaten bei der Ausübung dieses Ermessens die übrigen Bestimmungen
dieser Verordnung beachten.
67 Außerdem ist Art. 3 Abs. 2 der Verordnung Nr. 343/2003 zu entnehmen, dass die Abweichung von dem in ihrem Art. 3 Abs. 1 aufgestellten
Grundsatz bestimmte in der Verordnung vorgesehene Folgen nach sich zieht. So wird der Mitgliedstaat, der die Entscheidung
fasst, einen Asylantrag selbst zu prüfen, zum zuständigen Mitgliedstaat im Sinne der Verordnung Nr. 343/2003 und muss gegebenenfalls
den oder die anderen Mitgliedstaaten, die von dem Asylantrag betroffen sind, unterrichten.
68 Diese Gesichtspunkte sprechen für die Auslegung, nach der das den Mitgliedstaaten durch Art. 3 Abs. 2 der Verordnung Nr. 343/2003
verliehene Ermessen Teil der von dieser Verordnung vorgesehenen Verfahren zur Bestimmung des für einen Asylantrag zuständigen
Mitgliedstaats ist und daher nur ein Element des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems darstellt. Übt ein Mitgliedstaat dieses
Ermessen aus, führt er damit das Unionsrecht im Sinne von Art. 51 Abs. 1 der Charta durch.
69 Deshalb ist auf die erste Frage in der Rechtssache C‑411/10 zu antworten, dass für die Zwecke von Art. 6 EUV und/oder Art. 51
der Charta mit der von einem Mitgliedstaat auf der Grundlage des Art. 3 Abs. 2 der Verordnung Nr. 343/2003 getroffenen Entscheidung
darüber, ob er einen Asylantrag prüft, für den er in Ansehung der Kriterien des Kapitels III dieser Verordnung nicht zuständig
ist, das Unionsrecht durchgeführt wird.
Zu den Fragen 2, 3, 4 und 6 in der Rechtssache C‑411/10 und zu den beiden Fragen in der Rechtssache C‑493/10
70 Mit der zweiten Frage in der Rechtssache C‑411/10 und der ersten Frage in der Rechtssache C‑493/10 möchten die vorlegenden
Gerichte im Wesentlichen wissen, ob der Mitgliedstaat, der den Asylbewerber in den gemäß Art. 3 Abs. 1 der Verordnung Nr. 343/2003
als zuständig bestimmten Mitgliedstaat überstellen muss, zu überprüfen hat, ob der letztgenannte Mitgliedstaat die Unionsgrundrechte,
die Richtlinien 2003/9, 2004/83 und 2005/85 und die Verordnung Nr. 343/2003 beachtet.
71 Mit der dritten Frage in der Rechtssache C‑411/10 möchte der Court of Appeal (England & Wales) (Civil Division) im Wesentlichen
wissen, ob die Verpflichtung zur Beachtung der Grundrechte, die den Mitgliedstaat trifft, der den Asylbewerber zu überstellen
hat, der Geltung einer unwiderlegbaren Vermutung entgegensteht, dass der zuständige Staat die dem Antragsteller vom Unionsrecht
verliehenen Grundrechte und/oder die Mindestnormen, die sich aus den vorstehend genannten Richtlinien ergeben, beachtet.
72 Mit der vierten Frage in der Rechtssache C‑411/10 und der zweiten Frage in der Rechtssache C‑493/10 möchten die vorlegenden
Gerichte im Wesentlichen wissen, ob der Mitgliedstaat, der den Asylbewerber zu überstellen hat, die Zuständigkeit für die
Prüfung des Asylantrags nach Art. 3 Abs. 2 der Verordnung Nr. 343/2003 annehmen muss, wenn festgestellt wird, dass der zuständige
Mitgliedstaat die Grundrechte nicht beachtet.
73 Schließlich möchte der Court of Appeal (England & Wales) (Civil Division) mit der sechsten Frage in der Rechtssache C‑411/10
im Wesentlichen wissen, ob es mit den Rechten nach Art. 47 der Charta vereinbar ist, wenn eine Bestimmung des nationalen Rechts
die Gerichte bei der Feststellung, ob eine Person rechtmäßig nach der Verordnung Nr. 343/2003 in einen anderen Mitgliedstaat
abgeschoben werden kann, dazu verpflichtet, diesen Mitgliedstaat als „sicheren Staat“ anzusehen.
74 Diese Fragen sind zusammen zu behandeln.
75 Das Gemeinsame Europäische Asylsystem stützt sich auf die uneingeschränkte und umfassende Anwendung der Genfer Flüchtlingskonvention
und die Versicherung, dass niemand dorthin zurückgeschickt wird, wo er Verfolgung ausgesetzt ist. Die Beachtung der Genfer
Flüchtlingskonvention und des Protokolls von 1967 ist in Art. 18 der Charta und in Art. 78 AEUV geregelt (vgl. Urteile vom
2. März 2010, Salahadin Abdulla u. a., C‑175/08, C‑176/08, C‑178/08 und C‑179/08, Slg. 2010, I‑1493, Randnr. 53, und vom 17.
Juni 2010, Bolbol, C‑31/09, Slg. 2010, I‑0000, Randnr. 38).
76 Wie oben in Randnr. 15 ausgeführt, heißt es in den einzelnen Verordnungen und Richtlinien, die für die Ausgangsverfahren einschlägig
sind, dass sie die Grundrechte und die mit der Charta anerkannten Grundsätze achten.
77 Nach gefestigter Rechtsprechung haben überdies die Mitgliedstaaten nicht nur ihr nationales Recht unionsrechtskonform auszulegen,
sondern auch darauf zu achten, dass sie sich nicht auf eine Auslegung einer Vorschrift des abgeleiteten Rechts stützen, die
mit den durch die Unionsrechtsordnung geschützten Grundrechten oder den anderen allgemeinen Grundsätzen des Unionsrechts kollidiert
(vgl. in diesem Sinne Urteile vom 6. November 2003, Lindqvist, C‑101/01, Slg. 2003, I‑12971, Randnr. 87, und vom 26. Juni
2007, Ordre des barreaux francophones et germanophone u. a., C‑305/05, Slg. 2007, I‑5305, Randnr. 28).
78 Die Prüfung der Rechtstexte, die das Gemeinsame Europäische Asylsystem bilden, ergibt, dass dieses in einem Kontext entworfen
wurde, der die Annahme zulässt, dass alle daran beteiligten Staaten, ob Mitgliedstaaten oder Drittstaaten, die Grundrechte
beachten, einschließlich der Rechte, die ihre Grundlage in der Genfer Flüchtlingskonvention und dem Protokoll von 1967 sowie
in der EMRK finden, und dass die Mitgliedstaaten einander insoweit Vertrauen entgegenbringen dürfen.
79 Gerade aufgrund dieses Prinzips des gegenseitigen Vertrauens hat der Unionsgesetzgeber die Verordnung Nr. 343/2003 erlassen
und die oben in den Randnrn. 24 bis 26 genannten Übereinkommen und Abkommen geschlossen, um die Behandlung der Asylanträge
zu rationalisieren und zu verhindern, dass das System dadurch stockt, dass die staatlichen Behörden mehrere Anträge desselben
Antragstellers bearbeiten müssen, und um die Rechtssicherheit hinsichtlich der Bestimmung des für die Behandlung des Asylantrags
zuständigen Staates zu erhöhen und damit dem „forum shopping“ zuvorzukommen, wobei all dies hauptsächlich bezweckt, die Bearbeitung
der Anträge im Interesse sowohl der Asylbewerber als auch der teilnehmenden Staaten zu beschleunigen.
80 Unter diesen Bedingungen muss die Vermutung gelten, dass die Behandlung der Asylbewerber in jedem einzelnen Mitgliedstaat
in Einklang mit den Erfordernissen der Charta sowie mit der Genfer Flüchtlingskonvention und der EMRK steht.
81 Allerdings kann nicht ausgeschlossen werden, dass dieses System in der Praxis auf größere Funktionsstörungen in einem bestimmten
Mitgliedstaat stößt, so dass eine ernstzunehmende Gefahr besteht, dass Asylbewerber bei einer Überstellung in diesen Mitgliedstaat
in einer Weise behandelt werden, die mit ihren Grundrechten unvereinbar ist.
82 Dennoch kann daraus nicht geschlossen werden, dass jede Verletzung eines Grundrechts durch den zuständigen Mitgliedstaat die
Verpflichtungen der übrigen Mitgliedstaaten zur Beachtung der Bestimmungen der Verordnung Nr. 343/2003 berühren würde.
83 Auf dem Spiel stehen nämlich der Daseinsgrund der Union und die Verwirklichung des Raums der Freiheit, der Sicherheit und
des Rechts, konkret des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems, das auf gegenseitigem Vertrauen und einer Vermutung der Beachtung
des Unionsrechts, genauer der Grundrechte, durch die anderen Mitgliedstaaten gründet.
84 Es wäre auch nicht mit den Zielen und dem System der Verordnung Nr. 343/2003 vereinbar, wenn der geringste Verstoß gegen die
Richtlinien 2003/9, 2004/83 oder 2005/85 genügen würde, um die Überstellung eines Asylbewerbers an den normalerweise zuständigen
Mitgliedstaat zu vereiteln. Mit der Verordnung Nr. 343/2003 soll nämlich, ausgehend von der Vermutung, dass die Grundrechte
des Asylbewerbers in dem normalerweise für die Entscheidung über seinen Antrag zuständigen Mitgliedstaat beachtet werden,
wie in den Nrn. 124 und 125 der Schlussanträge in der Rechtssache C‑411/10 ausgeführt worden ist, eine klare und praktikable
Methode eingerichtet werden, mit der rasch bestimmt werden kann, welcher Mitgliedstaat für die Entscheidung über einen Asylantrag
zuständig ist. Zu diesem Zweck sieht die Verordnung Nr. 343/2003 vor, dass für die Entscheidung über in einem Land der Union
gestellte Asylanträge nur ein Mitgliedstaat zuständig ist, der auf der Grundlage objektiver Kriterien bestimmt wird.
85 Wenn aber jeder Verstoß des zuständigen Mitgliedstaats gegen einzelne Bestimmungen der Richtlinien 2003/9, 2004/83 oder 2005/85
zur Folge hätte, dass der Mitgliedstaat, in dem ein Asylantrag eingereicht wurde, daran gehindert wäre, den Antragsteller
an den erstgenannten Staat zu überstellen, würde damit den in Kapitel III der Verordnung Nr. 343/2003 genannten Kriterien
zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats ein zusätzliches Ausschlusskriterium hinzugefügt, nach dem geringfügige Verstöße
gegen die Vorschriften dieser Richtlinien in einem bestimmten Mitgliedstaat dazu führen könnten, dass er von den in dieser
Verordnung vorgesehenen Verpflichtungen entbunden wäre. Dies würde die betreffenden Verpflichtungen in ihrem Kern aushöhlen
und die Verwirklichung des Ziels gefährden, rasch den Mitgliedstaat zu bestimmen, der für die Entscheidung über einen in der
Union gestellten Asylantrag zuständig ist.
86 Falls dagegen ernsthaft zu befürchten wäre, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Asylbewerber im zuständigen
Mitgliedstaat systemische Mängel aufweisen, die eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung der an diesen Mitgliedstaat
überstellten Asylbewerber im Sinne von Art. 4 der Charta implizieren, so wäre die Überstellung mit dieser Bestimmung unvereinbar.
87 Hinsichtlich der Lage in Griechenland ist zwischen den Beteiligten, die vor dem Gerichtshof Erklärungen abgegeben haben, unstreitig,
dass im Jahr 2010 fast 90 % der illegalen Einwanderer über diesen Mitgliedstaat in die Union gelangten, so dass die wegen
dieses Zustroms auf ihm liegende Last außer Verhältnis zu der Belastung der anderen Mitgliedstaaten steht und es den griechischen
Behörden tatsächlich unmöglich ist, diesen Zustrom zu bewältigen. Die Hellenische Republik hat darauf hingewiesen, dass die
Mitgliedstaaten nicht den Vorschlag der Kommission angenommen hätten, die Anwendung der Verordnung Nr. 343/2003 auszusetzen
und diese unter Abschwächung des Kriteriums der ersten Einreise zu ändern.
88 Bei einem Sachverhalt, der denen der Ausgangsverfahren gleicht, nämlich einer Überstellung eines Asylbewerbers an Griechenland,
den im Sinne der Verordnung Nr. 343/2003 zuständigen Mitgliedstaat, im Juni 2009, hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte
u. a. entschieden, dass das Königreich Belgien gegen Art. 3 EMRK verstoßen habe, indem es den Beschwerdeführer zum einen den
sich aus den Mängeln des Asylverfahrens in Griechenland ergebenden Risiken ausgesetzt habe, da die belgischen Behörden gewusst
hätten oder hätten wissen müssen, dass eine gewissenhafte Prüfung seines Asylantrags durch die griechischen Behörden in keiner
Weise gewährleistet gewesen sei, und indem es ihn zum anderen wissentlich Haft- und Existenzbedingungen ausgesetzt habe, die
eine erniedrigende Behandlung darstellten (Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom 21. Januar 2011, M.S.S./Belgien
und Griechenland, noch nicht im Recueil des arrêts et décisions veröffentlicht, §§ 358, 360 und 367).
89 Das in jenem Urteil beschriebene Ausmaß der Beeinträchtigung der Grundrechte zeugt von einer systemischen Unzulänglichkeit
des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber in Griechenland zur Zeit der Überstellung des Beschwerdeführers
M.S.S.
90 Für den Befund, dass die Risiken für den Beschwerdeführer hinreichend erwiesen seien, hat der Europäische Gerichtshof für
Menschenrechte die regelmäßigen und übereinstimmenden Berichte von internationalen Nichtregierungsorganisationen, in denen
auf die praktischen Schwierigkeiten bei der Anwendung des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems in Griechenland hingewiesen
wurde, die an den zuständigen belgischen Minister gesandten Schreiben des UN‑Flüchtlingskommissariats, aber auch die Berichte
der Kommission zur Bewertung des Dublin-Systems und die Vorschläge zur Überarbeitung der Verordnung Nr. 343/2003 zwecks der
Steigerung der Wirksamkeit dieses Systems und der Stärkung des tatsächlichen Grundrechtsschutzes (Urteil M.S.S./Belgien und
Griechenland, §§ 347 bis 350) berücksichtigt.
91 Anders als die belgische, die italienische und die polnische Regierung geltend machen, nach deren Ansicht die Mitgliedstaaten
nicht über geeignete Instrumente verfügen, um die Beachtung der Grundrechte durch den zuständigen Mitgliedstaat und damit
die tatsächlichen Risiken für einen Asylbewerber im Fall seiner Überstellung an diesen Mitgliedstaat zu beurteilen, sind somit
Informationen wie die vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte angeführten geeignet, die Mitgliedstaaten in die Lage
zu versetzen, sich ein Bild über das Funktionieren des Asylsystems im zuständigen Mitgliedstaat zu machen, das die Bewertung
solcher Risiken ermöglicht.
92 Zu betonen ist die Erheblichkeit der von der Kommission stammenden Berichte und Änderungsvorschläge zur Verordnung Nr. 343/2003,
deren Existenz dem Mitgliedstaat, der die Überstellung vorzunehmen hat, in Anbetracht seiner Teilnahme an den Arbeiten des
Rates der Europäischen Union, der einer der Adressaten dieser Dokumente ist, nicht unbekannt sein kann.
93 Außerdem gilt nach Art. 80 AEUV für die Asylpolitik und ihre Umsetzung der Grundsatz der Solidarität und der gerechten Aufteilung
der Verantwortlichkeiten unter den Mitgliedstaaten, einschließlich in finanzieller Hinsicht. Die Richtlinie 2001/55 ist ein
Beispiel für diese Solidarität, doch sollen ihre Solidaritätsmechanismen, wie in der mündlichen Verhandlung dargelegt worden
ist, den ganz außergewöhnlichen Situationen vorbehalten sein, die ihr Anwendungsbereich erfasst, d. h. den Fällen eines Massenzustroms
von Vertriebenen.
94 Damit die Union und ihre Mitgliedstaaten ihren Verpflichtungen in Bezug auf den Schutz der Grundrechte der Asylbewerber nachkommen
können, obliegt es nach alledem in Situationen wie denen der Ausgangsverfahren den Mitgliedstaaten einschließlich der nationalen
Gerichte, einen Asylbewerber nicht an den „zuständigen Mitgliedstaat“ im Sinne der Verordnung Nr. 343/2003 zu überstellen,
wenn ihnen nicht unbekannt sein kann, dass die systemischen Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber
in diesem Mitgliedstaat ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme darstellen, dass der Antragsteller
tatsächlich Gefahr läuft, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 der Charta ausgesetzt zu
werden.
95 Zu der Frage, ob der Mitgliedstaat, der die Überstellung des Asylbewerbers an den Mitgliedstaat, der gemäß der Verordnung
Nr. 343/2003 als „zuständig“ bestimmt worden ist, nicht durchführen kann, den Antrag selbst prüfen muss, ist darauf hinzuweisen,
dass Kapitel III dieser Verordnung eine Reihe von Kriterien aufstellt und diese Kriterien nach Art. 5 Abs. 1 der Verordnung
in der in diesem Kapitel genannten Rangfolge Anwendung finden.
96 Ist die Überstellung eines Antragstellers an Griechenland, wenn dieser Staat nach den Kriterien des Kapitels III der Verordnung
Nr. 343/2003 als zuständiger Mitgliedstaat bestimmt worden ist, nicht möglich, so hat der Mitgliedstaat, der die Überstellung
vornehmen müsste, vorbehaltlich der Befugnis, den Antrag im Sinne des Art. 3 Abs. 2 dieser Verordnung selbst zu prüfen, die
Prüfung der Kriterien des genannten Kapitels fortzuführen, um festzustellen, ob anhand eines der nachrangigen Kriterien ein
anderer Mitgliedstaat als für die Prüfung des Asylantrags zuständig bestimmt werden kann.
97 Lässt sich anhand der Kriterien der Verordnung Nr. 343/2003 nicht bestimmen, welchem Mitgliedstaat die Prüfung des Asylantrags
obliegt, so ist nach Art. 13 dieser Verordnung der erste Mitgliedstaat, in dem der Asylantrag gestellt wurde, für dessen Prüfung
zuständig.
98 Der Mitgliedstaat, in dem sich der Asylbewerber befindet, hat jedoch darauf zu achten, dass eine Situation, in der dessen
Grundrechte verletzt werden, nicht durch ein unangemessen langes Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats verschlimmert
wird. Erforderlichenfalls muss er den Antrag nach den Modalitäten des Art. 3 Abs. 2 der Verordnung Nr. 343/2003 selbst prüfen.
99 Nach alledem ist, wie von der Generalanwältin in Nr. 131 ihrer Schlussanträge in der Rechtssache C‑411/10 ausgeführt, eine
Anwendung der Verordnung Nr. 343/2003 auf der Grundlage einer unwiderlegbaren Vermutung, dass die Grundrechte des Asylbewerbers
in dem für die Entscheidung über seinen Antrag normalerweise zuständigen Mitgliedstaat beachtet werden, mit der Pflicht der
Mitgliedstaaten zu grundrechtskonformer Auslegung und Anwendung der Verordnung Nr. 343/2003 unvereinbar.
100 Außerdem könnte, wie N. S. geltend gemacht hat, die Verordnung Nr. 343/2003, wenn sie eine unwiderlegbare Vermutung der Beachtung
der Grundrechte aufstellen würde, selbst als eine Regelung angesehen werden, die die Garantien in Frage stellt, mit denen
der Schutz und die Beachtung der Grundrechte durch die Union und ihre Mitgliedstaaten sichergestellt werden sollen.
101 Dies wäre insbesondere bei einer Bestimmung, nach der bestimmte Staaten in Bezug auf die Beachtung der Grundrechte „sichere
Staaten“ sind, der Fall, wenn sie als unwiderlegbare Vermutung ausgelegt werden müsste, die jeden Gegenbeweis ausschließt.
102 Insoweit ist festzustellen, dass Art. 36 der Richtlinie 2005/85, der das europäische Konzept der sicheren Drittstaaten betrifft,
in Abs. 2 Buchst. a und c vorsieht, dass ein Drittstaat nur dann als „sicherer Drittstaat“ betrachtet werden kann, wenn er
die Genfer Flüchtlingskonvention und die EMRK nicht nur ratifiziert hat, sondern ihre Bestimmungen auch einhält.
103 Eine solche Formulierung weist darauf hin, dass die bloße Ratifizierung der Konventionen durch einen Staat nicht eine unwiderlegbare
Vermutung ihrer Einhaltung durch diesen Staat zur Folge haben kann. Dieser Grundsatz gilt sowohl für die Mitgliedstaaten als
auch für Drittstaaten.
104 Unter diesen Umständen muss die oben in Randnr. 80 festgestellte Vermutung der menschenrechtskonformen Behandlung von Asylbewerbern,
die dem einschlägigen Regelwerk zugrunde liegt, als widerlegbar angesehen werden.
105 In Anbetracht dessen ist auf die vorgelegten Fragen zu antworten, dass das Unionsrecht der Geltung einer unwiderlegbaren Vermutung
entgegensteht, dass der im Sinne von Art. 3 Abs. 1 der Verordnung Nr. 343/2003 als zuständig bestimmte Mitgliedstaat die Unionsgrundrechte
beachtet.
106 Art. 4 der Charta ist dahin auszulegen, dass es den Mitgliedstaaten einschließlich der nationalen Gerichte obliegt, einen
Asylbewerber nicht an den „zuständigen Mitgliedstaat“ im Sinne der Verordnung Nr. 343/2003 zu überstellen, wenn ihnen nicht
unbekannt sein kann, dass die systemischen Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber in diesem
Mitgliedstaat ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme darstellen, dass der Antragsteller tatsächlich
Gefahr läuft, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne dieser Bestimmung ausgesetzt zu werden.
107 Ist die Überstellung eines Antragstellers an einen anderen Mitgliedstaat der Union, wenn dieser Staat nach den Kriterien des
Kapitels III der Verordnung Nr. 343/2003 als zuständiger Mitgliedstaat bestimmt worden ist, nicht möglich, so hat der Mitgliedstaat,
der die Überstellung vornehmen müsste, vorbehaltlich der Befugnis, den Antrag im Sinne des Art. 3 Abs. 2 dieser Verordnung
selbst zu prüfen, die Prüfung der Kriterien des genannten Kapitels fortzuführen, um festzustellen, ob anhand eines der weiteren
Kriterien ein anderer Mitgliedstaat als für die Prüfung des Asylantrags zuständig bestimmt werden kann.
108 Der Mitgliedstaat, in dem sich der Asylbewerber befindet, hat jedoch darauf zu achten, dass eine Situation, in der die Grundrechte
des Asylbewerbers verletzt werden, nicht durch ein unangemessen langes Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats
verschlimmert wird. Erforderlichenfalls muss er den Antrag nach den Modalitäten des Art. 3 Abs. 2 der Verordnung Nr. 343/2003
selbst prüfen.
Zur fünften Frage in der Rechtssache C‑411/10
109 Mit seiner fünften Frage in der Rechtssache C‑411/10 möchte der Court of Appeal (England & Wales) (Civil Division) im Wesentlichen
wissen, ob der Schutz, der einer von der Verordnung Nr. 343/2003 erfassten Person durch die allgemeinen Grundsätze des Unionsrechts
und insbesondere durch die Art. 1, 18 und 47 der Charta, die die Menschenwürde, das Asylrecht und das Recht auf einen wirksamen
Rechtsbehelf betreffen, gewährt wird, weiter reicht als der Schutz nach Art. 3 EMRK.
110 Nach Ansicht der Kommission muss die Antwort auf diese Frage ermöglichen, die Bestimmungen der Charta zu ermitteln, deren
Verletzung durch den zuständigen Mitgliedstaat eine Sekundärzuständigkeit des Mitgliedstaats, der über die Überstellung zu
entscheiden hat, nach sich zieht.
111 Tatsächlich lässt die Vorlageentscheidung, auch wenn der Court of Appeal (England & Wales) (Civil Division) darin nicht ausdrücklich
begründet hat, inwieweit die Beantwortung der Frage für den Erlass seines Urteils erforderlich ist, doch erkennen, dass sich
diese Frage durch die Entscheidung vom 2. Dezember 2008, K.R.S/Vereinigtes Königreich (noch nicht im Recueil des arrêts et décisions veröffentlicht), erklärt, mit der der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte eine Beschwerde für unzulässig erklärt hat,
mit der gerügt wurde, dass bei Überstellung des Beschwerdeführers vom Vereinigten Königreich an Griechenland die Art. 3 und
13 der EMRK verletzt würden. Vor dem Court of Appeal (England & Wales) (Civil Division) haben manche Beteiligte geltend gemacht,
dass der Grundrechtsschutz nach der Charta weiter reiche als der nach der EMRK und dass die Berücksichtigung der Charta zur
Folge haben müsse, dass ihrem Antrag auf Nichtüberstellung des Rechtsmittelführers des Ausgangsverfahrens an Griechenland
stattgegeben werde.
112 Seit dem Ergehen der Vorlageentscheidung hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte seinen Standpunkt im Licht neuer
Beweise überprüft und im Urteil M.S.S./Belgien und Griechenland nicht nur entschieden, dass die Hellenische Republik wegen
der Haft- und Existenzbedingungen des Beschwerdeführers in Griechenland gegen Art. 3 EMRK sowie wegen der Mängel des den Beschwerdeführer
betreffenden Asylverfahrens gegen Art. 13 EMRK in Verbindung mit Art. 3 EMRK verstoßen habe, sondern auch, dass das Königreich
Belgien gegen Art. 3 EMRK verstoßen habe, weil es den Beschwerdeführer Risiken im Zusammenhang mit den Mängeln des Asylverfahrens
in Griechenland und Haft- und Existenzbedingungen in Griechenland, die diesem Artikel zuwiderliefen, ausgesetzt habe.
113 Wie sich aus Randnr. 106 des vorliegenden Urteils ergibt, verstieße ein Mitgliedstaat gegen Art. 4 der Charta, wenn er einen
Asylbewerber unter den oben in Randnr. 94 beschriebenen Umständen an den zuständigen Mitgliedstaat im Sinne der Verordnung
Nr. 343/2003 überstellte.
114 Es ist nicht ersichtlich, dass die Art. 1, 18 und 47 der Charta zu einer anderen Antwort führen können, als sie auf die Fragen
2, 3, 4 und 6 in der Rechtssache C‑411/10 und die beiden Fragen in der Rechtssache C‑493/10 gegeben worden ist.
115 Deshalb ist auf die fünfte Frage in der Rechtssache C‑411/10 zu antworten, dass die Art. 1, 18 und 47 der Charta nicht zu
einer anderen Antwort führen, als sie auf die Fragen 2, 3, 4 und 6 in der Rechtssache C‑411/10 und die beiden Fragen in der
Rechtssache C‑493/10 gegeben worden ist.
Zur siebten Frage in der Rechtssache C‑411/10
116 Mit seiner siebten Frage in der Rechtssache C‑411/10 möchte der Court of Appeal (England & Wales) (Civil Division) im Wesentlichen
wissen, ob, soweit sich die Fragen 2 bis 6 in Bezug auf Verpflichtungen des Vereinigten Königreichs stellen, die Berücksichtigung
des Protokolls (Nr. 30) in irgendeiner Weise Einfluss auf die Beantwortung dieser Fragen hat.
117 Wie von der EHRC vorgetragen, geht diese Frage auf den Standpunkt des Secretary of State vor dem High Court of Justice (England
& Wales), Queen’s Bench Division (Administrative Court) zurück, wonach die Bestimmungen der Charta im Vereinigten Königreich
nicht anwendbar seien.
118 Auch wenn der Secretary of State diesen Standpunkt vor dem Court of Appeal (England & Wales) (Civil Division) nicht mehr vertreten
hat, ist darauf hinzuweisen, dass das Protokoll (Nr. 30) in Art. 1 Abs. 1 vorsieht, dass die Charta keine Ausweitung der Befugnis
des Gerichtshofs oder eines Gerichts der Republik Polen oder des Vereinigten Königreichs zu der Feststellung bewirkt, dass
die Rechts- und Verwaltungsvorschriften, die Verwaltungspraxis oder -maßnahmen der Republik Polen oder des Vereinigten Königreichs
nicht mit den durch die Charta bekräftigten Grundrechten, Freiheiten und Grundsätzen im Einklang stehen.
119 Aus dem Wortlaut dieser Bestimmung ergibt sich, wie die Generalanwältin insbesondere in den Nrn. 169 und 170 ihrer Schlussanträge
in der Rechtssache C‑411/10 ausgeführt hat, dass das Protokoll (Nr. 30) nicht die Geltung der Charta für das Vereinigte Königreich
oder für Polen in Frage stellt, was in den Erwägungsgründen des Protokolls Bestätigung findet. So sieht nach dem dritten Erwägungsgrund
des Protokolls (Nr. 30) Art. 6 EUV vor, dass die Charta von den Gerichten der Republik Polen und des Vereinigten Königreichs
strikt im Einklang mit den in jenem Artikel erwähnten Erläuterungen anzuwenden und auszulegen ist. Außerdem bekräftigt die
Charta nach dem sechsten Erwägungsgrund dieses Protokolls die in der Union anerkannten Rechte, Freiheiten und Grundsätze und
macht diese Rechte besser sichtbar, schafft aber keine neuen Rechte oder Grundsätze.
120 Unter diesen Umständen verdeutlicht Art. 1 Abs. 1 des Protokolls (Nr. 30) Art. 51 der Charta über deren Anwendungsbereich
und bezweckt weder, die Republik Polen und das Vereinigte Königreich von der Verpflichtung zur Einhaltung der Bestimmungen
der Charta freizustellen, noch, ein Gericht eines dieser Mitgliedstaaten daran zu hindern, für die Einhaltung dieser Bestimmungen
zu sorgen.
121 Da die in den Ausgangsverfahren betroffenen Rechte nicht unter Titel IV der Charta fallen, kann die Auslegung von Art. 1 Abs. 2
des Protokolls (Nr. 30) dahingestellt bleiben.
122 Deshalb ist auf die siebte Frage in der Rechtssache C‑411/10 zu antworten, dass, soweit sich die davor gestellten Fragen in
Bezug auf Verpflichtungen des Vereinigten Königreichs stellen, die Berücksichtigung des Protokolls (Nr. 30) keinen Einfluss
auf die Beantwortung der Fragen 2 bis 6 in der Rechtssache C‑411/10 hat.
Kosten
123 Für die Parteien der Ausgangsverfahren ist das Verfahren ein Zwischenstreit in den bei den vorlegenden Gerichten anhängigen
Rechtsstreitigkeiten; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieser Gerichte. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe
von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Große Kammer) für Recht erkannt:
1. Für die Zwecke von Art. 6 EUV und/oder Art. 51 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union wird mit der Entscheidung,
die ein Mitgliedstaat auf der Grundlage des Art. 3 Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 des Rates vom 18. Februar 2003
zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen
in einem Mitgliedstaat gestellten Asylantrags zuständig ist, darüber trifft, ob er einen Asylantrag prüft, für den er in Ansehung
der Kriterien des Kapitels III dieser Verordnung nicht zuständig ist, das Unionsrecht durchgeführt.
2. Das Unionsrecht steht der Geltung einer unwiderlegbaren Vermutung entgegen, dass der im Sinne von Art. 3 Abs. 1 der Verordnung
Nr. 343/2003 als zuständig bestimmte Mitgliedstaat die Unionsgrundrechte beachtet.
Art. 4 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union ist dahin auszulegen, dass es den Mitgliedstaaten einschließlich
der nationalen Gerichte obliegt, einen Asylbewerber nicht an den „zuständigen Mitgliedstaat“ im Sinne der Verordnung Nr. 343/2003
zu überstellen, wenn ihnen nicht unbekannt sein kann, dass die systemischen Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen
für Asylbewerber in diesem Mitgliedstaat ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme darstellen, dass
der Antragsteller tatsächlich Gefahr läuft, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne dieser Bestimmung
ausgesetzt zu werden
Ist die Überstellung eines Antragstellers an einen anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union, wenn dieser Staat nach den
Kriterien des Kapitels III der Verordnung Nr. 343/2003 als zuständiger Mitgliedstaat bestimmt worden ist, nicht möglich, so
hat der Mitgliedstaat, der die Überstellung vornehmen müsste, vorbehaltlich der Befugnis, den Antrag im Sinne des Art. 3 Abs. 2
dieser Verordnung selbst zu prüfen, die Prüfung der Kriterien des genannten Kapitels fortzuführen, um festzustellen, ob anhand
eines der weiteren Kriterien ein anderer Mitgliedstaat als für die Prüfung des Asylantrags zuständig bestimmt werden kann.
Der Mitgliedstaat, in dem sich der Asylbewerber befindet, hat jedoch darauf zu achten, dass eine Situation, in der die Grundrechte
des Asylbewerbers verletzt werden, nicht durch ein unangemessen langes Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats
verschlimmert wird. Erforderlichenfalls muss er den Antrag nach den Modalitäten des Art. 3 Abs. 2 der Verordnung Nr. 343/2003
selbst prüfen.
3. Die Art. 1, 18 und 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union führen nicht zu einer anderen Antwort.
4. Soweit sich die vorstehend beantworteten Fragen in Bezug auf Verpflichtungen des Vereinigten Königreichs Großbritannien und
Nordirland stellen, hat die Berücksichtigung des Protokolls (Nr. 30) über die Anwendung der Charta der Grundrechte der Europäischen
Union auf die Republik Polen und das Vereinigte Königreich keinen Einfluss auf die Beantwortung der Fragen 2 bis 6 in der
Rechtssache C‑411/10.
Unterschriften
*Verfahrenssprache: Englisch.
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Urteil des Gerichtshofs (Große Kammer) vom 25. Februar 2025.#XL u. a. gegen Sąd Rejonowy w Białymstoku und Lietuvos Respublika.#Vorabentscheidungsersuchen des Sąd Rejonowy w Białymstoku und Vilniaus apygardos administracinis teismas.#Vorlage zur Vorabentscheidung – Einfrieren oder Kürzung der Bezüge im nationalen öffentlichen Dienst – Speziell auf Richter abzielende Maßnahmen – Art. 2 EUV – Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV – Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Pflichten der Mitgliedstaaten zur Schaffung der erforderlichen Rechtsbehelfe, damit ein wirksamer Rechtsschutz gewährleistet ist – Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit – Befugnisse der Legislative und der Exekutive der Mitgliedstaaten zur Regelung der Modalitäten für die Festlegung der Bezüge von Richtern – Möglichkeit, von diesen Modalitäten abzuweichen – Voraussetzungen.#Verbundene Rechtssachen C-146/23 und C-374/23.
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62023CJ0146
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ECLI:EU:C:2025:109
| 2025-02-25T00:00:00 |
Collins, Gerichtshof
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Sammlung der Rechtsprechung – allgemein – Abschnitt „Informationen über nicht veröffentlichte Entscheidungen“
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62023CJ0146
URTEIL DES GERICHTSHOFS (Große Kammer)
25. Februar 2025 (*1)
„Vorlage zur Vorabentscheidung – Einfrieren oder Kürzung der Bezüge im nationalen öffentlichen Dienst – Speziell auf Richter abzielende Maßnahmen – Art. 2 EUV – Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV – Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Pflichten der Mitgliedstaaten zur Schaffung der erforderlichen Rechtsbehelfe, damit ein wirksamer Rechtsschutz gewährleistet ist – Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit – Befugnisse der Legislative und der Exekutive der Mitgliedstaaten zur Regelung der Modalitäten für die Festlegung der Bezüge von Richtern – Möglichkeit, von diesen Modalitäten abzuweichen – Voraussetzungen“
In den verbundenen Rechtssachen C‑146/23 [Sąd Rejonowy w Białymstoku] und C‑374/23 [Adoreikė] (i
)
betreffend zwei Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Sąd Rejonowy w Białymstoku (Rayongericht Białystok, Polen) (C‑146/23) und vom Vilniaus apygardos administracinis teismas (Regionalverwaltungsgericht Vilnius, Litauen) (C‑374/23) mit Entscheidungen vom 10. März und vom 1. Juni 2023, beim Gerichtshof eingegangen am 10. März und am 13. Juni 2023, in den Verfahren
XL
gegen
Sąd Rejonowy w Białymstoku (C‑146/23)
und
SR,
RB
gegen
Lietuvos Respublika (C‑374/23)
erlässt
DER GERICHTSHOF (Große Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten K. Lenaerts, des Vizepräsidenten T. von Danwitz, des Kammerpräsidenten F. Biltgen, der Kammerpräsidentin K. Jürimäe, des Kammerpräsidenten C. Lycourgos, der Kammerpräsidentin M. L. Arastey Sahún, der Kammerpräsidenten N. Jääskinen, D. Gratsias und M. Gavalec (Berichterstatter), der Richter E. Regan, J. Passer und Z. Csehi sowie der Richterin O. Spineanu-Matei,
Generalanwalt: A. M. Collins,
Kanzler: M. Siekierzyńska, Verwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 12. März 2024,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
–
von XL,
–
der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna und S. Żyrek als Bevollmächtigte,
–
der litauischen Regierung, vertreten durch K. Dieninis, S. Grigonis und V. Kazlauskaitė-Švenčionienė als Bevollmächtigte,
–
der Europäischen Kommission, vertreten durch K. Herrmann, A. Steiblytė und P. Van Nuffel als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 13. Juni 2024
folgendes
Urteil
1 Die Vorabentscheidungsersuchen betreffen die Auslegung von Art. 2 und Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV sowie von Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta).
2 Sie ergehen im Rahmen von Rechtsstreitigkeiten zwischen XL, einem Richter, und dem Sąd Rejonowy w Białymstoku (Rayongericht Białystok, Polen) (Rechtssache C‑146/23) sowie zwischen SR und RB, zwei Richtern, und der Lietuvos Respublika (Republik Litauen) (Rechtssache C‑374/23) über die Höhe ihrer Bezüge.
Rechtlicher Rahmen
Polnisches Recht
3 Der die richterliche Unabhängigkeit betreffende Art. 178 der Konstytucja Rzeczypospolitej Polskiej (Verfassung der Republik Polen) lautet:
„(1) Bei der Ausübung ihres Amtes sind Richter unabhängig und nur der Verfassung und den Gesetzen unterworfen.
(2) Den Richtern werden Arbeitsbedingungen und eine Vergütung gewährleistet, die der Würde ihres Amtes und dem Umfang ihrer Pflichten entsprechen.
(3) Ein Richter darf weder einer politischen Partei oder einer Gewerkschaft angehören noch eine öffentliche Tätigkeit ausüben, die mit den Grundsätzen der Unabhängigkeit der Gerichte und der Richter nicht vereinbar ist.“
4 In dem die Bezüge von Richtern betreffenden Art. 91 der Ustawa – Prawo o ustroju sądów powszechnych (Gesetz über den Aufbau der ordentlichen Gerichtsbarkeit) vom 27. Juli 2001 (Dz. U. 2001, Nr. 98, Position 1070) in ihrer auf den Ausgangsrechtsstreit in der Rechtssache C‑146/23 anwendbaren Fassung (im Folgenden: Gesetz über den Aufbau der ordentlichen Gerichtsbarkeit) heißt es:
„…
§ 1c. Grundlage für die Ermittlung des Grundgehalts eines Richters im betreffenden Jahr ist das Durchschnittsgehalt des zweiten Quartals des Vorjahrs, das im [Dziennik Urzędowy Rzeczypospolitej Polskiej „Monitor Polski“ (Amtsblatt der Republik Polen „Monitor Polski“)] vom Präsidenten des [Głównego Urzędu Statystycznego (Statistisches Hauptamt, Polen)] im Einklang mit Art. 20 Nr. 2 der [Ustawa o emeryturach i rentach z Funduszu Ubezpieczeń Społecznych (Gesetz über die Altersrenten und sonstige Renten aus dem Sozialversicherungsfonds) vom 17. Dezember 1998 (Dz. U. 1998, Nr. 162, Position 1118)] bekannt gegeben wird, vorbehaltlich des § 1d.
§ 1d. Ist das in § 1c genannte Durchschnittsgehalt niedriger als das für das zweite Quartal des vorangegangenen Jahres bekannt gegebene Durchschnittsgehalt, dient dieser Betrag als Grundlage für die Ermittlung des Grundgehalts des Richters.
§ 2. Das Grundgehalt der Richter bestimmt sich nach Stufen, deren Höhe durch die Anwendung von Multiplikatoren auf die Grundlage für die Ermittlung des Grundgehalts nach § 1c ermittelt wird. Die Grundgehaltsgruppen für einzelne Richterstellen und die Multiplikatoren für die Ermittlung der Höhe des Grundgehalts für Richter in einzelnen Gruppen sind im Anhang dieses Gesetzes aufgeführt.
…
§ 6. Die Richter haben Anspruch auf eine Zulage für die Wahrnehmung ihrer Pflichten im Zusammenhang mit ihrem Amt.
§ 7. Darüber hinaus richten sich die Bezüge von Richtern nach dem Dienstalter und erhöhen sich ab dem sechsten Dienstjahr um eine Zulage in Höhe von 5 % des Grundgehalts, die jährlich um 1 % steigt, bis sie 20 % des Grundgehalts erreicht hat.
…“
5 Art. 8 der Ustawa o szczególnych rozwiązaniach służących realizacji ustawy budżetowej na rok 2022 (Gesetz über Sonderregelungen zur Umsetzung des Haushaltsgesetzes für das Jahr 2022) vom 17. Dezember 2021 (Dz. U. 2021, Position 2445, im Folgenden: Haushaltsbegleitgesetz für das Jahr 2022) bestimmte:
„§ 1. Grundlage für die Ermittlung des Grundgehalts eines Richters gemäß Art. 91 § 1c des [Gesetzes über den Aufbau der ordentlichen Gerichtsbarkeit] für das Jahr 2022 ist das vom Präsidenten des Statistischen Hauptamts bekannt gegebene Durchschnittsgehalt des zweiten Quartals des Jahres 2020.
§ 2. Die Grundlage gemäß § 1 wird um den Betrag von 26 [Zloty (PLN) (etwa 6 Euro)] erhöht.
§ 3. Wenn in gesonderten Bestimmungen auf die Grundlage für die Ermittlung des Grundgehalts eines Richters gemäß Art. 91 § 1c des [Gesetzes über den Aufbau der ordentlichen Gerichtsbarkeit] verwiesen wird, ist darunter für das Jahr 2022 das vom Präsidenten des Statistischen Hauptamts bekannt gegebene Durchschnittsgehalt des zweiten Quartals des Jahres 2020, zuzüglich 26 PLN, zu verstehen.
§ 4. Wenn in gesonderten Bestimmungen auf die Bezüge von Richtern verwiesen wird, entsprechen diese für das Jahr 2022 den gemäß den §§ 1 und 2 berechneten Bezügen.“
6 Art. 8 der Ustawa o szczególnych rozwiązaniach służących realizacji ustawy budżetowej na rok 2023 (Gesetz über Sonderregelungen zur Umsetzung des Haushaltsgesetzes für das Jahr 2023) vom 1. Dezember 2022 (Dz. U. 2022, Position 2666, im Folgenden: Haushaltsbegleitgesetz für das Jahr 2023) bestimmte:
„§ 1. Grundlage für die Ermittlung des Grundgehalts eines Richters gemäß Art. 91 § 1c des [Gesetzes über den Aufbau der ordentlichen Gerichtsbarkeit] für das Jahr 2023 ist der Betrag von 5444,42 PLN (etwa 1274 Euro).
§ 2. Wenn in gesonderten Bestimmungen auf die Grundlage für die Ermittlung des Grundgehalts eines Richters gemäß Art. 91 § 1c des [Gesetzes über den Aufbau der ordentlichen Gerichtsbarkeit] verwiesen wird, ist darunter für das Jahr 2023 der Betrag von 5444,42 PLN zu verstehen.“
Litauisches Recht
7 Art. 3 des Lietuvos Respublikos teisėjų darbo apmokėjimo įstatymas (Gesetz über die Bezüge von Richtern der Republik Litauen) vom 6. November 2008 (Žin., 2008, Nr. 131-5022, im Folgenden: Gesetz über die Bezüge von Richtern) sah in der für den Ausgangsrechtsstreit maßgebenden Fassung vor, dass die Bezüge von Richtern anhand des für ein bestimmtes Jahr vom Parlament der Republik Litauen auf Vorschlag der Regierung dieses Mitgliedstaats festgelegten Basissatzes für die Bezüge staatlicher Politiker, Richter sowie der Beamten, sonstigen Bediensteten und Angestellten der vom Staat und den Gemeinden der Republik Litauen finanzierten Organe berechnet wird. Der Basissatz durfte nicht geringer sein als der Basissatz des Vorjahrs, es sei denn, dass außergewöhnliche Umstände festgestellt werden. Er war unter Heranziehung der anhand des nationalen Verbraucherpreisindexes berechneten durchschnittlichen jährlichen Inflationsrate des Vorjahrs, der Höhe des monatlichen Mindestlohns und der Auswirkungen weiterer, für die Höhe und die Entwicklung des Durchschnittsgehalts im öffentlichen Sektor relevanter Faktoren festzulegen.
8 Nach Art. 4 Abs. 2 des Gesetzes über die Bezüge von Richtern setzten sich die Bezüge von Richtern an Gerichten der allgemeinen Gerichtsbarkeit und an Fachgerichten aus dem Grundgehalt, einer Zulage für das im öffentlichen Dienst erworbene Dienstalter, einer Leistung für Arbeit und Bereitschaftsdienste an Ruhe- und Feiertagen und für Vertretungen sowie einer Prämie für erhöhte Arbeitsbelastung zusammen.
9 Die Bezüge der Richter an den Apygardos teismai (Regionalgerichte, Litauen) wurden berechnet, indem das Grundgehalt mit einem Gehaltskoeffizienten multipliziert wurde, der nach Titel II des Anhangs dieses Gesetzes in ihrem Fall 17,2 betrug.
Ausgangsverfahren und Vorlagefragen
Rechtssache C‑146/23
10 XL wurde am 4. Dezember 2003 zum Richter am Sąd Rejonowy w Suwałkach (Rayongericht Suwałki, Polen) ernannt. Seit dem 3. April 2007 übt er sein Amt am Sąd Rejonowy w Białymstoku (Rayongericht Białystok) aus. Seine Basisbezüge bestehen aus der Berechnungsgrundlage seines Grundgehalts, auf das ein Multiplikator von 2,5 angewandt wird und zu dem u. a. eine Dienstalterszulage in Höhe von 20 % des Grundgehalts hinzukommt. Die Berechnungsgrundlage seines Grundgehalts belief sich im Jahr 2022 auf 5050,48 PLN (etwa 1181 Euro) und im Jahr 2023 auf 5444,42 PLN (etwa 1274 Euro).
11 Die monatlichen Bezüge von XL beliefen sich daher in den Monaten Juli bis November 2022 auf 15151,44 PLN (etwa 3544 Euro), im Monat Dezember 2022 auf 15033,51 PLN (etwa 3517 Euro) und im Monat Januar 2023 auf 16333,26 PLN (etwa 3821 Euro).
12 Nachdem sein Dienstherr ihm auf seinen Antrag mitgeteilt hatte, dass er 10000 PLN (etwa 2339 Euro) mehr als die ihm für die Zeit vom 1. Juli 2022 bis zum 31. Januar 2023 gezahlten Bezüge erhalten hätte, wenn seine Bezüge im Einklang mit Art. 91 § 1c des Gesetzes über den Aufbau der ordentlichen Gerichtsbarkeit berechnet worden wären, erhob XL beim Sąd Rejonowy w Białymstoku (Rayongericht Białystok), dem vorlegenden Gericht, Klage gegen dieses Gericht auf Zahlung des genannten Betrags zuzüglich Verzugszinsen.
13 Das vorlegende Gericht weist zunächst darauf hin, dass nach dem Urteil vom 27. Februar 2018, Associação Sindical dos Juízes Portugueses (C‑64/16, EU:C:2018:117, Rn. 42 bis 45), eine der Bedeutung der von den Richtern ausgeübten Funktionen entsprechende Vergütung eine wesentliche Garantie für die richterliche Unabhängigkeit darstelle. Diese Garantie müsse auch dann gelten, wenn Änderungen der nationalen Regelung über die Festlegung der Bezüge von Richtern aufgrund einer dauerhaften Kürzung ihrer Bezüge zu einer Verschlechterung ihrer materiellen Situation führten.
14 Art. 91 § 1c des Gesetzes über den Aufbau der ordentlichen Gerichtsbarkeit sehe vor, dass das Grundgehalt eines Richters in einem bestimmten Jahr objektiv anhand des vom Präsidenten des Statistischen Hauptamts bekannt gegebenen Durchschnittsgehalts des zweiten Quartals des Vorjahrs ermittelt werde.
15 Dieser Mechanismus zur Ermittlung des Grundgehalts eines Richters sei jedoch jüngst dreimal geändert worden. So sei das Grundgehalt für das Jahr 2021 anhand des Durchschnittsgehalts des zweiten Quartals des Jahres „n – 2“, also des Jahres 2019, und nicht anhand des Durchschnittsgehalts des zweiten Quartals des Jahres „n – 1“, also des Jahres 2020, ermittelt worden, was ein „Einfrieren“ der Anpassung der Bezüge eines Richters bewirkt habe. Für das Jahr 2022 sei das Durchschnittsgehalt des zweiten Quartals des Jahres 2020 herangezogen und um 26 PLN erhöht worden. Schließlich seien die Bezüge von Richtern für das Jahr 2023 nicht anhand des Durchschnittsgehalts des zweiten Quartals des Jahres 2022 berechnet worden, sondern anhand eines vom polnischen Gesetzgeber festgelegten Grundbetrags.
16 Die polnische Regierung habe diese Änderungen mit der wirtschaftlichen Lage Polens gerechtfertigt, die im Jahr 2021 durch die Covid‑19-Pandemie und im Jahr 2023 sowohl durch diese Pandemie als auch durch die Invasion der Ukraine durch die Russische Föderation gekennzeichnet gewesen sei. Für das Jahr 2022 sei hingegen kein besonderer Grund genannt worden.
17 Außerdem hätten die Erste Präsidentin des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht, Polen), der Präsident des Naczelny Sąd Administracyjny (Oberstes Verwaltungsgericht, Polen) und die Krajowa Rada Sądownictwa (Landesjustizrat, Polen) beim Trybunał Konstytucyjny (Verfassungsgerichtshof, Polen) drei gesonderte Anträge auf Feststellung der Verfassungswidrigkeit von Art. 8 des Haushaltsbegleitgesetzes für das Jahr 2023 gestellt. Im Rahmen dieser drei Verfahren sei im Wesentlichen geltend gemacht worden, dass Art. 8 die Garantien, wonach Richtern eine der Würde ihres Amtes angemessene Vergütung zustehe, den Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit sowie den Grundsatz des Schutzes erworbener Rechte und des Vertrauens in den Staat verletze. Dieser Artikel sehe nämlich eine Methode zur Ermittlung des Grundgehalts der Richter vor, die ihrem Anspruch zuwiderlaufe, Bezüge zu erhalten, die auf der Grundlage objektiver und jeder willkürlichen Entscheidung des Gesetzgebers entzogener Kriterien ermittelt würden und der Würde ihres Amtes entsprächen. Da der Grundbetrag der richterlichen Bezüge jedes Jahr vom Gesetzgeber festgelegt werde, sei das zur Ermittlung dieser Bezüge gewählte Modell in gewissem Maß unvorhersehbar. Überdies hätte das „Einfrieren“ der Bezüge eine vorübergehende Maßnahme sein sollen, aber ihre Beibehaltung für das Jahr 2023 zeige, dass die Absicht bestehe, die Bezüge von Richtern unter Verstoß gegen Art. 178 Abs. 2 der Verfassung der Republik Polen dauerhaft zu reduzieren. Schließlich dürfe jeder Eingriff in die Funktionsweise und die Organisation der Judikative nur ausnahmsweise erfolgen und müsse das Ergebnis einer konzertierten Aktion der Legislative und der Judikative sein.
18 Das vorlegende Gericht, das sich als Dienstherr von XL außerstande sieht, von den streitigen nationalen Bestimmungen abzuweichen, pflichtet den in der vorstehenden Randnummer dargelegten Argumenten bei. Im vorliegenden Fall bestehe die Beeinträchtigung der richterlichen Unabhängigkeit darin, dass die Anpassung ihrer Bezüge seit drei Jahren dauerhaft „eingefroren“ sei und dass der in Art. 91 § 1c des Gesetzes über den Aufbau der ordentlichen Gerichtsbarkeit vorgesehene Mechanismus zur Ermittlung der richterlichen Bezüge anhand des Durchschnittsgehalts des zweiten Quartals des Vorjahrs während des Jahres 2023 de facto abgeschafft worden sei. Diese dauerhafte, wiederholte und bedeutsame Entwicklung bei den Bezügen von Richtern sei angesichts der stabilen Situation der öffentlichen Finanzen der Republik Polen nicht gerechtfertigt und ziele darauf ab, eine unabhängige und eigenständige Judikative in die Knie zu zwingen, damit sie nach Maßgabe von Erwägungen politischer Art, die von der Exekutive und der Legislative vorgegeben würden, willkürlich handele.
19 Ebenso wie XL ist das vorlegende Gericht der Ansicht, dass die Urteile vom 27. Februar 2018, Associação Sindical dos Juízes Portugueses (C‑64/16, EU:C:2018:117), und vom 7. Februar 2019, Escribano Vindel (C‑49/18, EU:C:2019:106), nicht auf die vorliegende Rechtssache übertragbar seien, da die Abweichung vom Mechanismus zur Ermittlung der richterlichen Bezüge permanent sei und nicht temporär wie in den Rechtssachen, in denen die genannten Urteile ergangen seien, und da sie anders als in diesen Rechtssachen hauptsächlich auf Richter abziele.
20 Unter diesen Umständen hat der Sąd Rejonowy w Białymstoku (Rayongericht Białystok) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:
Sind Art. 2 EUV, in dem die Werte festgelegt sind, auf die sich die Europäische Union bezüglich der Achtung der Rechtsstaatlichkeit gründet, sowie Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV in Verbindung mit Art. 47 der Charta bezüglich der Gewährleistung eines wirksamen Rechtsschutzes durch die Mitgliedstaaten auf der Grundlage des Rechts auf Zugang zu einem unabhängigen und unparteiischen Gericht dahin auszulegen, dass der Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit nationalen Vorschriften entgegensteht, die zwecks Begrenzung der Haushaltsausgaben bewirken, dass von dem Mechanismus zur Festlegung der richterlichen Bezüge auf der Grundlage objektiver Kriterien, die von willkürlicher Beeinflussung durch die Exekutive und die Legislative unabhängig sind, abgewichen wird, und die zur Folge haben, dass die Höhe der Richterbesoldung dauerhaft gekürzt wird, was gegen die Verfassungsgarantien verstößt, die gewährleisten, dass die Richter eine der Würde ihres Amtes und dem Umfang ihrer Pflichten angemessene Vergütung erhalten und dass die Rechtsprechung von unabhängigen Gerichten und unabhängigen Richtern ausgeübt wird?
21 In Beantwortung eines Auskunftsersuchens des Gerichtshofs, das insbesondere die möglichen Auswirkungen des Urteils des Trybunał Konstytucyjny (Verfassungsgerichtshof) vom 8. November 2023 (Rechtssache K 1/23), mit dem die Unvereinbarkeit von Art. 8 des Haushaltsbegleitgesetzes für das Jahr 2023 mit Art. 178 Abs. 2 der Verfassung der Republik Polen festgestellt wurde, auf das Vorabentscheidungsersuchen betraf, hat das vorlegende Gericht angegeben, dass es an seinem Ersuchen festhalten wolle, da das Trybunał Konstytucyjny (Verfassungsgerichtshof) nicht geprüft habe, ob Art. 8 mit dem in Art. 178 Abs. 1 aufgestellten Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit im Einklang stehe. Außerdem betreffe sein Urteil nur das Haushaltsbegleitgesetz für das Jahr 2023, während im Ausgangsrechtsstreit auch zu klären sei, ob das Haushaltsbegleitgesetz für das Jahr 2022 diesem Grundsatz entspreche.
Rechtssache C‑374/23
22 SR und RB, die Richter am Vilniaus apygardos teismas (Regionalgericht Vilnius, Litauen) sind, erhoben beim Vilniaus apygardos administracinis teismas (Regionalverwaltungsgericht Vilnius, Litauen), dem vorlegenden Gericht, eine Haftungsklage gegen die Republik Litauen, wobei SR Schadensersatz in Höhe von 74286,09 Euro begehrt, während RB 95620,17 Euro fordert. Sie machen geltend, die Höhe ihrer Bezüge hänge vom politischen Willen der Exekutive und der Legislative ab, was insbesondere gegen den verfassungsmäßigen Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit verstoße.
23 SR und RB rügen, dass es keinen rechtlichen Mechanismus gebe, der es einem Gericht oder einem Richter gestatte, die Exekutive und die Legislative zu zwingen, angemessene Bezüge festzulegen, die auf nationalen wirtschaftlichen Indikatoren beruhten und der von den Richtern getragenen Verantwortung sowie den strengen für sie geltenden Beschränkungen, u. a. hinsichtlich der Ausübung einer anderen Tätigkeit, Rechnung trügen.
24 Die Republik Litauen trägt vor, die Aufstellung des Staatshaushalts und insbesondere die Festlegung der Höhe der Bezüge von Staatsbeamten und Arbeitnehmern des öffentlichen Sektors gehörten zu den in der Verfassung der Republik Litauen vorgesehenen Vorrechten der Regierung. Außerdem werde der Grundbetrag der Bezüge dieser Beamten und Arbeitnehmer jährlich anhand der finanziellen Ressourcen und Zwänge des Staates festgelegt, so dass er diesen Betrag nicht schneller habe anheben können, als dies geschehen sei. Überdies sei der Grundbetrag in den Jahren 2018 bis 2023 regelmäßig erhöht worden und habe unmittelbare wirtschaftliche Auswirkungen auf die Gehälter im privaten Sektor und auf das nationale Durchschnittsgehalt gehabt und sich erheblich auf den Anstieg der Lohnsumme bei den Gerichten ausgewirkt. Schließlich falle die Festlegung der richterlichen Bezüge in das verfassungsmäßige und ausschließliche Ermessen des Staates und seiner Organe.
25 Das vorlegende Gericht führt aus, nach Art. 3 in Verbindung mit dem Anhang des Gesetzes über die Bezüge von Richtern ergäben sich die Bezüge der Richter an den Apygardos teismai (Regionalgerichte) aus dem Grundbetrag von 181 Euro für das Jahr 2022 und 186 Euro für das Jahr 2023, multipliziert mit einem Gehaltskoeffizienten von 17,2, der seit dem 1. Oktober 2013 nur für die Richter an den Apylinkės teismai (Bezirksgerichte, Litauen) geändert worden sei.
26 Ohne Berücksichtigung der Dienstalterszulage hätten sich die Bezüge der Richter an den Apygardos teismai (Regionalgerichte) auf 2440,85 Euro (brutto) für das Jahr 2008 und, infolge der Steuerreform des Jahres 2019, auf 2362 Euro (brutto) für das Jahr 2021 belaufen. Während die Bezüge von Richtern dem Anschein nach in 13 Jahren um etwa 8 % gestiegen seien, hätten sich die Nominalbezüge eines Richters somit in Wirklichkeit allein wegen dieser Steuerreform um 3,2 % verringert. Außerdem verringerten sich die Bezüge von Richtern seit Ende 2021 und näherten sich dem nationalen Durchschnittsgehalt an. Im ersten Quartal des Jahres 2022 habe nämlich das nationale Durchschnittsgehalt 1729,90 Euro und das Durchschnittsgehalt eines Richters 3113,20 Euro betragen. Überdies unterlägen die Richter besonders strengen Verpflichtungen, die u. a. darin bestünden, sich untadelig zu verhalten, ihr Amt unabhängig von ihrer Arbeitsbelastung für dieselben monatlichen Bezüge auszuüben und keiner sonstigen Tätigkeit nachzugehen, mit Ausnahme von Lehrtätigkeiten und schöpferischen Tätigkeiten.
27 Darüber hinaus betrage nach den Empfehlungen betreffend den Höchstsatz der Gebühr für den Beistand eines Rechtsanwalts oder Referendars in Zivilsachen, die im Jahr 2004 vom Justizminister der Republik Litauen und von der Litauischen Anwaltskammer gebilligt worden seien, der Stundensatz für anwaltliche Tätigkeiten 179,90 Euro, während die Bruttobezüge eines Richters am Apygardos teismas (Regionalgericht, Litauen) pro Stunde, ohne Dienstalterszulage, etwa 20 Euro ausmachten. Ein solcher Unterschied stelle eine gegen den Gleichheitssatz und gegen Art. 2 EUV verstoßende Diskriminierung der Richter gegenüber Juristen dar, die in ähnlichen Berufen tätig seien.
28 Schließlich impliziere die richterliche Unabhängigkeit nach dem Urteil vom 27. Februar 2018, Associação Sindical dos Juízes Portugueses (C‑64/16, EU:C:2018:117), dass die Bezüge der nationalen Richter anhand von Kriterien ermittelt würden, die willkürlichen Eingriffen der Exekutive und der Legislative entzogen seien, und dass die Höhe ihrer Bezüge der Bedeutung der von ihnen ausgeübten Funktionen entspreche, was hier nicht der Fall sei.
29 In diesem Kontext müsse geprüft werden, ob eine nationale Regelung für die Besoldung von Richtern, die unmittelbar vom politischen Willen der Legislative und der Exekutive abhänge, mit dem Unionsrecht vereinbar sei und die durch Art. 2 EUV geschützten Werte sowie den in Art. 47 der Charta verankerten Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit gewährleiste.
30 Unter diesen Umständen hat der Vilniaus apygardos administracinis teismas (Regionalverwaltungsgericht Vilnius) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
1. Sind die in Art. 2 EUV verankerten Werte der Demokratie, der Rechtsstaatlichkeit, der Wahrung der Menschenrechte und der Gerechtigkeit sowie die Bestimmungen von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV dahin auszulegen, dass danach der legislativen und der exekutiven Gewalt der Mitgliedstaaten ein unbeschränkter und ausschließlicher Ermessensspielraum zukommt, die Bezüge von Richtern durch nationale Rechtsvorschriften in einer Höhe festzulegen, die allein vom Willen der legislativen und exekutiven Gewalt abhängt?
2. Sind die Bestimmungen von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV und von Art. 47 der Charta, die u. a. die richterliche Unabhängigkeit betreffen, dahin auszulegen, dass den Mitgliedstaaten danach gestattet ist, durch nationale Rechtsvorschriften Regelungen einzuführen, mit denen die Bezüge von Richtern unterhalb der vom Staat festgelegten Bezüge oder Gebühren der Angehörigen anderer Rechtsberufe festgelegt werden?
Verfahren vor dem Gerichtshof
31 Mit Beschluss des Präsidenten des Gerichtshofs vom 23. Januar 2024 sind die Rechtssachen C‑146/23 und C‑374/23 zu gemeinsamem mündlichen Verfahren und zu gemeinsamer Entscheidung verbunden worden.
Zur Zuständigkeit des Gerichtshofs und zur Zulässigkeit des Vorabentscheidungsersuchens in der Rechtssache C‑374/23
32 In ihren schriftlichen Erklärungen macht die litauische Regierung erstens geltend, der Gerichtshof sei nicht für die Entscheidung über die Fragen des vorlegenden Gerichts zuständig, da das Unionsrecht weder die Höhe der Bezüge nationaler Richter regele noch die Festlegungs‑, Berechnungs- oder Zahlungsmodalitäten dieser Bezüge.
33 Diese Argumentation betrifft jedoch in Wirklichkeit die Auslegung der vom vorlegenden Gericht in seinen Fragen angeführten Bestimmungen des Primärrechts der Union. Ihre Auslegung fällt offensichtlich in die Zuständigkeit des Gerichtshofs nach Art. 267 AEUV. Auch wenn die Organisation der Justiz in den Mitgliedstaaten in deren Zuständigkeit fällt, müssen die Mitgliedstaaten nämlich gleichwohl bei der Ausübung dieser Zuständigkeit die Verpflichtungen einhalten, die sich für sie aus dem Unionsrecht ergeben (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 18. Mai 2021, Asociaţia Forumul Judecătorilor din România u. a., C‑83/19, C‑127/19, C‑195/19, C‑291/19, C‑355/19 und C‑397/19, EU:C:2021:393, Rn. 111, und vom 9. Januar 2024, G. u. a. [Ernennung von Richtern der ordentlichen Gerichtsbarkeit in Polen], C‑181/21 und C‑269/21, EU:C:2024:1, Rn. 57 und 58), insbesondere wenn sie die Modalitäten für die Festlegung der Bezüge von Richtern erlassen.
34 Außerdem ist Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV in materieller Hinsicht auf jedes nationale Gericht anwendbar, das über Fragen der Auslegung oder der Anwendung des Unionsrechts, die somit zu den vom Unionsrecht erfassten Bereichen im Sinne dieser Bestimmung gehören, zu entscheiden haben kann (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 11. Juli 2024, Hann‑Invest u. a., C‑554/21, C‑622/21 und C‑727/21, EU:C:2024:594, Rn. 36 und die dort angeführte Rechtsprechung). Dies ist insbesondere bei den beiden Klägern des Ausgangsverfahrens in der Rechtssache C‑374/23 der Fall, die Richter am Vilniaus apygardos teismas (Regionalgericht Vilnius) sind.
35 Folglich fallen die in der Rechtssache C‑374/23 gestellten Fragen in die Zuständigkeit des Gerichtshofs.
36 Zweitens hält die litauische Regierung das Vorabentscheidungsersuchen für unzulässig, weil die gestellten Fragen keinen Zusammenhang mit dem Sachverhalt und dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits aufwiesen, so dass die begehrte Auslegung für die Entscheidung über den Rechtsstreit nicht erforderlich sei. Im vorliegenden Fall werde keine nationale Maßnahme angefochten, die speziell auf die Verringerung der Bezüge von Richtern abziele, und in dem in Rede stehenden Zeitraum seien die Bezüge der litauischen Richter regelmäßig erhöht worden.
37 Nach ständiger Rechtsprechung ist es im Rahmen der durch Art. 267 AEUV geschaffenen Zusammenarbeit zwischen dem Gerichtshof und den nationalen Gerichten allein Sache des mit dem Rechtsstreit befassten nationalen Gerichts, in dessen Verantwortungsbereich die zu erlassende gerichtliche Entscheidung fällt, anhand der Besonderheiten der Rechtssache sowohl die Erforderlichkeit einer Vorabentscheidung zum Erlass seines Urteils als auch die Erheblichkeit der dem Gerichtshof von ihm vorgelegten Fragen zu beurteilen. Folglich gilt für Fragen, die das Unionsrecht betreffen, eine Vermutung der Entscheidungserheblichkeit, und wenn die gestellten Fragen die Auslegung des Unionsrechts betreffen, ist der Gerichtshof grundsätzlich gehalten, über sie zu befinden. Der Gerichtshof kann die Beantwortung einer Vorlagefrage eines nationalen Gerichts daher nur ablehnen, wenn die erbetene Auslegung des Unionsrechts offensichtlich in keinem Zusammenhang mit den Gegebenheiten oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits steht, wenn das Problem hypothetischer Natur ist oder wenn der Gerichtshof nicht über die tatsächlichen und rechtlichen Angaben verfügt, die für eine zweckdienliche Beantwortung der ihm vorgelegten Fragen erforderlich sind (Urteil vom 18. Mai 2021, Asociația Forumul Judecătorilor Din România u. a., C‑83/19, C‑127/19, C‑195/19, C‑291/19, C‑355/19 und C‑397/19, EU:C:2021:393, Rn. 115 und 116 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).
38 Wie aus dem Vorabentscheidungsersuchen hervorgeht, ist das vorlegende Gericht mit einer Haftungsklage gegen die Republik Litauen befasst, in deren Rahmen im Wesentlichen geltend gemacht wird, dass das Ermessen, über das die Legislative und die Exekutive dieses Mitgliedstaats bei der Festlegung der Bezüge von Richtern verfügten, gegen den Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit verstoße. In diesem Kontext möchte das vorlegende Gericht, um über die Klage entscheiden zu können, wissen, ob die Modalitäten für die Ermittlung dieser Bezüge sowie deren Höhe mit dem genannten, in Art. 2 und Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV sowie in Art. 47 der Charta verankerten Grundsatz im Einklang stehen.
39 Infolgedessen erscheint eine Antwort auf die in der Rechtssache C‑374/23 gestellten Fragen zur Auslegung der genannten Bestimmungen erforderlich, damit das vorlegende Gericht über den Ausgangsrechtsstreit entscheiden kann.
40 Daraus folgt, dass das Vorabentscheidungsersuchen in der Rechtssache C‑374/23 zulässig ist.
Zu den Vorlagefragen
41 Soweit die zweite Frage in der Rechtssache C‑374/23 die Auslegung von Art. 47 der Charta betrifft, ist vorab darauf hinzuweisen, dass die Anerkennung des Rechts auf einen wirksamen Rechtsbehelf in einem konkreten Einzelfall voraussetzt, dass sich die Person, die es geltend macht, auf unionsrechtlich garantierte Rechte oder Freiheiten beruft oder dass sie Gegenstand von Verfolgungsmaßnahmen ist, die eine Durchführung des Unionsrechts im Sinne von Art. 51 Abs. 1 der Charta darstellen (Urteil vom 22. Februar 2022, RS [Wirkung der Urteile eines Verfassungsgerichts], C‑430/21, EU:C:2022:99, Rn. 34 und die dort angeführte Rechtsprechung).
42 Aus dem Vorabentscheidungsersuchen geht aber nicht hervor, dass SR und RB eine dieser Voraussetzungen erfüllen.
43 Daher ist gemäß Art. 51 Abs. 1 der Charta deren Art. 47 als solcher in der Rechtssache C‑374/23 nicht anwendbar. Gleichwohl ist, da Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV alle Mitgliedstaaten verpflichtet, die erforderlichen Rechtsbehelfe zu schaffen, damit in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen ein wirksamer Rechtsschutz im Sinne u. a. von Art. 47 der Charta gewährleistet ist, die letztgenannte Bestimmung bei der Auslegung von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV gebührend zu berücksichtigen (Urteile vom 20. April 2021, Repubblika,C‑896/19, EU:C:2021:311, Rn. 44 und 45, sowie vom 22. Februar 2022, RS [Wirkung der Urteile eines Verfassungsgerichts], C‑430/21, EU:C:2022:99, Rn. 36 und 37).
44 Angesichts dessen sind die in den Rechtssachen C‑146/23 und C‑374/23 vorgelegten Fragen, die zusammen zu prüfen sind, so zu verstehen, dass sie im Wesentlichen darauf abzielen, ob Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV in Verbindung mit Art. 2 EUV dahin auszulegen ist, dass der Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit dem entgegensteht, dass
–
zum einen die Legislative und die Exekutive eines Mitgliedstaats in dessen Rechtsvorschriften nach ihrem Ermessen die Modalitäten für die Ermittlung der Bezüge von Richtern festlegen;
–
zum anderen die Legislative und die Exekutive eines Mitgliedstaats von dessen Rechtsvorschriften abweichen, in denen die Modalitäten für die Ermittlung der Bezüge von Richtern in objektiver Weise definiert werden, und beschließen, die Bezüge geringer anzuheben, als es die genannten Rechtsvorschriften vorsehen, oder sie einzufrieren oder zu kürzen.
45 Insoweit geben weder Art. 2 noch Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV oder irgendeine andere Bestimmung des Unionsrechts den Mitgliedstaaten ein konkretes verfassungsrechtliches Modell vor, das die Beziehungen und das Zusammenwirken zwischen den verschiedenen Staatsgewalten, namentlich in Bezug auf die Festlegung und Abgrenzung ihrer Zuständigkeiten, regeln würde. Die Union achtet nach Art. 4 Abs. 2 EUV die nationale Identität der Mitgliedstaaten, die in ihren grundlegenden politischen und verfassungsmäßigen Strukturen zum Ausdruck kommt. Gleichwohl müssen die Mitgliedstaaten bei der Wahl ihres jeweiligen verfassungsrechtlichen Modells die Anforderungen beachten, die sich für sie aus dem Unionsrecht ergeben (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 22. Februar 2022, RS [Wirkung der Urteile eines Verfassungsgerichts], C‑430/21, EU:C:2022:99, Rn. 43 und die dort angeführte Rechtsprechung).
46 Nach der oben in Rn. 33 angeführten ständigen Rechtsprechung fällt zwar die Organisation der Justiz in den Mitgliedstaaten in deren Zuständigkeit, doch müssen sie bei der Ausübung dieser Zuständigkeit gleichwohl die Verpflichtungen einhalten, die ihnen nach dem Unionsrecht und insbesondere nach Art. 2 und Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV obliegen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 22. Februar 2022, RS [Wirkung der Urteile eines Verfassungsgerichts], C‑430/21, EU:C:2022:99, Rn. 38 und die dort angeführte Rechtsprechung). Dies gilt u. a. dann, wenn sie die Modalitäten für die Ermittlung der Bezüge von Richtern erlassen.
47 Art. 19 EUV, mit dem der in Art. 2 EUV proklamierte Wert der Rechtsstaatlichkeit konkretisiert wird, überträgt den nationalen Gerichten und dem Gerichtshof die Aufgabe, die volle Anwendung des Unionsrechts in allen Mitgliedstaaten sowie den gerichtlichen Schutz, der dem Einzelnen aus diesem Recht erwächst, zu gewährleisten. Dabei ist die Wahrung der Unabhängigkeit dieser Einrichtungen von grundlegender Bedeutung (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 2. März 2021, A.B. u. a. [Ernennung von Richtern am Obersten Gericht – Rechtsbehelf], C‑824/18, EU:C:2021:153, Rn. 108 und 115 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).
48 Das Erfordernis der Unabhängigkeit der Gerichte, das dem Auftrag des Richters inhärent ist, gehört nämlich zum Wesensgehalt des Grundrechts auf wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz und auf ein faires Verfahren, dem als Garant für den Schutz sämtlicher dem Einzelnen aus dem Unionsrecht erwachsender Rechte und für die Wahrung der in Art. 2 EUV genannten Werte, die den Mitgliedstaaten gemeinsam sind, u. a. des Wertes der Rechtsstaatlichkeit, grundlegende Bedeutung zukommt (Urteile vom 11. Juli 2024, Hann‑Invest u. a., C‑554/21, C‑622/21 und C‑727/21, EU:C:2024:594, Rn. 49, und vom 29. Juli 2024, Valančius, C‑119/23, EU:C:2024:653, Rn. 46).
49 Der Begriff der Unabhängigkeit der Gerichte setzt u. a. voraus, dass die betreffende Einrichtung ihre richterlichen Funktionen in völliger Autonomie ausübt, ohne mit irgendeiner Stelle hierarchisch verbunden oder ihr untergeordnet zu sein und ohne von irgendeiner Stelle Anordnungen oder Anweisungen zu erhalten, und dass sie auf diese Weise vor Interventionen oder Druck von außen geschützt ist, die oder der die Unabhängigkeit des Urteils ihrer Mitglieder gefährden und deren Entscheidungen beeinflussen könnten. Neben der Nichtabsetzbarkeit der Mitglieder der betreffenden Einrichtung stellt auch eine der Bedeutung der von ihnen ausgeübten Funktionen entsprechende Vergütung eine wesentliche Garantie für die richterliche Unabhängigkeit dar (Urteile vom 27. Februar 2018, Associação Sindical dos Juízes Portugueses, C‑64/16, EU:C:2018:117, Rn. 44 und 45, sowie vom 7. Februar 2019, Escribano Vindel, C‑49/18, EU:C:2019:106, Rn. 66).
50 Insbesondere ist nach dem für einen Rechtsstaat kennzeichnenden Grundsatz der Gewaltenteilung die Unabhängigkeit der Gerichte gegenüber der Legislative und der Exekutive zu gewährleisten (Urteile vom 19. November 2019, A. K. u. a. [Unabhängigkeit der Disziplinarkammer des Obersten Gerichts], C‑585/18, C‑624/18 und C‑625/18, EU:C:2019:982, Rn. 124, vom 20. April 2021, Repubblika, C‑896/19, EU:C:2021:311, Rn. 54, und vom 22. Februar 2022, RS [Wirkung der Urteile eines Verfassungsgerichts], C‑430/21, EU:C:2022:99, Rn. 42).
51 Die bloße Tatsache, dass die Legislative und die Exekutive eines Mitgliedstaats in die Ermittlung der Bezüge von Richtern involviert sind, ist als solche allerdings nicht geeignet, eine Abhängigkeit der Richter von ihnen zu schaffen oder Zweifel an der Unabhängigkeit oder Unparteilichkeit der Richter zu wecken. Wie die Europäische Kommission in ihren schriftlichen Erklärungen hervorgehoben hat, verfügen die Mitgliedstaaten über ein weites Ermessen bei der Aufstellung ihres Haushalts und seiner Verteilung auf die verschiedenen Posten öffentlicher Ausgaben. Dieses weite Ermessen schließt die Festlegung der Methode zur Berechnung dieser Ausgaben und insbesondere der Bezüge von Richtern ein. Die nationale Legislative und Exekutive sind nämlich am besten in der Lage, dem besonderen sozioökonomischen Kontext des Mitgliedstaats Rechnung zu tragen, in dem der Haushalt aufgestellt und die richterliche Unabhängigkeit gewährleistet werden soll.
52 Gleichwohl dürfen die nationalen Vorschriften über die Bezüge von Richtern bei den Bürgern keine berechtigten Zweifel daran aufkommen lassen, dass die betreffenden Richter nicht durch äußere Faktoren beeinflussbar und in Bezug auf die widerstreitenden Interessen neutral sind (vgl. entsprechend Urteil vom 20. April 2021, Repubblika, C‑896/19, EU:C:2021:311, Rn. 56 und 57).
53 In diesem Zusammenhang können die Chartas, Berichte und anderen Dokumente der Einrichtungen des Europarats oder des Systems der Vereinten Nationen relevante Anhaltspunkte für die Auslegung des Unionsrechts angesichts in diesem Bereich erlassener nationaler Bestimmungen liefern.
54 Was zum einen die Modalitäten für die Ermittlung der Bezüge von Richtern angeht, müssen sie erstens nach dem Grundsatz der Rechtssicherheit gesetzlich festgelegt werden, wobei das Gesetz die Mitwirkung der Sozialpartner, speziell von Organisationen, die die betreffenden Richter vertreten, vorsehen kann. In diesem Kontext trägt die Transparenz des Gesetzgebungsverfahrens dazu bei, die richterliche Unabhängigkeit zu gewährleisten.
55 Insoweit besagt Nr. 11 der vom Siebten Kongress der Vereinten Nationen für Verbrechensverhütung und die Behandlung Straffälliger, der vom 26. August bis 6. September 1985 in Mailand stattfand, angenommenen „Grundprinzipien der Unabhängigkeit der Justiz“, dass eine angemessene Vergütung der Richter gesetzlich gewährleistet sein muss. Desgleichen bestimmt die am 17. November 2010 angenommene Empfehlung CM/Rec(2010)12 des Ministerkomitees des Europarats („Richter: Unabhängigkeit, Effizienz und Verantwortung“) (im Folgenden: Empfehlung des Ministerkomitees von 2010) in Nr. 53, dass die Grundregeln des Systems der Bezüge von Berufsrichtern durch Gesetz festgelegt sein sollten.
56 Überdies verlangt der Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit in Verbindung mit dem Grundsatz der Rechtssicherheit, dass die Modalitäten für die Ermittlung ihrer Bezüge objektiv, vorhersehbar, beständig und transparent sind, um jeden willkürlichen Eingriff der Legislative und der Exekutive des betreffenden Mitgliedstaats auszuschließen.
57 Zweitens stellt, wie oben in Rn. 49 erwähnt, eine der Bedeutung der ausgeübten Funktionen entsprechende Besoldung der Richter eine wesentliche Garantie für ihre Unabhängigkeit dar.
58 Insoweit geht aus der auf das Urteil vom 7. Februar 2019, Escribano Vindel (C‑49/18, EU:C:2019:106, Rn. 70, 71 und 73), zurückgehenden Rechtsprechung hervor, dass die Bezüge von Richtern unter Berücksichtigung des sozioökonomischen Kontexts des betreffenden Mitgliedstaats hoch genug sein müssen, um ihnen eine gewisse wirtschaftliche Unabhängigkeit zu verschaffen, die sie vor der Gefahr zu schützen vermag, dass etwaige Interventionen oder etwaiger Druck von außen der Neutralität der von ihnen zu treffenden Entscheidungen abträglich sein könnten. Die Bezüge müssen also so hoch sein, dass sie die Richter vor der Gefahr von Korruption schützen.
59 Nach Nr. 54 der Empfehlung des Ministerkomitees von 2010 sollten die Bezüge von Richtern ihrem Berufsstand sowie ihrer Verantwortung entsprechen und ausreichend sein, um sie von Verlockungen abzuschirmen, mit denen auf die Beeinflussung ihrer Entscheidungen abgezielt wird. In Nr. 57 der Begründung dieser Empfehlung wird ausgeführt, dass angemessene Bezüge ein Schlüsselelement bei der Bekämpfung von Korruption der Richter sind und sie davor schützen sollen, dass Druck auf sie ausgeübt werden kann.
60 Die Bezüge von Richtern können somit je nach dem Dienstalter und der Art der ihnen übertragenen Aufgaben variieren. Sie müssen jedenfalls stets der Bedeutung der von ihnen ausgeübten Funktionen entsprechen.
61 Die Beurteilung der Angemessenheit der richterlichen Bezüge setzt voraus, dass neben dem üblichen Grundgehalt die verschiedenen Zulagen und Ausgleichszahlungen, die sie u. a. wegen ihres Dienstalters oder der ihnen übertragenen Aufgaben erhalten, berücksichtigt werden, aber auch eine etwaige Befreiung von Beiträgen zur Sozialversicherung.
62 Außerdem ist die Angemessenheit der richterlichen Bezüge unter Berücksichtigung der wirtschaftlichen, sozialen und finanziellen Situation im betreffenden Mitgliedstaat zu beurteilen, wie der Generalanwalt im Wesentlichen in Nr. 49 seiner Schlussanträge dargelegt hat. Aus diesem Blickwinkel ist es angebracht, die Durchschnittsbezüge von Richtern mit dem Durchschnittsgehalt im jeweiligen Staat zu vergleichen, wie u. a. in dem im Jahr 2020 von der Europäischen Kommission für die Wirksamkeit der Justiz (CEPEJ) erstellten Bericht zur Bewertung der europäischen Justizsysteme (S. 68) hervorgehoben wird.
63 Überdies sollte, wie sich aus diesem Bericht (S. 67) ergibt, zur Gewährleistung der richterlichen Unabhängigkeit und allgemeiner der Qualität der Justiz in einem Rechtsstaat die Justizpolitik auch den Gehältern in anderen Rechtsberufen Rechnung tragen, um den Richterberuf für hochqualifizierte Juristen attraktiv zu machen. Daraus kann jedoch nicht geschlossen werden, dass der Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit dem entgegensteht, dass die Bezüge von Richtern geringer sind als die durchschnittlichen Bezüge von Angehörigen anderer Rechtsberufe, insbesondere derjenigen, die wie Anwälte freiberuflich tätig sind, denn sie befinden sich offenkundig in einer anderen Situation als Richter.
64 Drittens müssen die Modalitäten für die Ermittlung der Bezüge von Richtern Gegenstand einer wirksamen gerichtlichen Kontrolle nach den im Recht des betreffenden Mitgliedstaats vorgesehenen Verfahrensmodalitäten sein können.
65 Was zum anderen die Möglichkeit für die Legislative und die Exekutive eines Mitgliedstaats angeht, von den nationalen Rechtsvorschriften abzuweichen, in denen die Modalitäten für die Ermittlung der Bezüge von Richtern in objektiver Weise definiert werden, und zu beschließen, ihre Bezüge geringer anzuheben, als es die genannten Rechtsvorschriften vorsehen, oder sie einzufrieren oder zu kürzen, muss auch der Erlass solcher abweichenden Maßnahmen einer Reihe von Anforderungen genügen.
66 Erstens muss eine abweichende Maßnahme wie die in der vorstehenden Randnummer genannte ebenso wie die allgemeinen Regeln für die Ermittlung der Bezüge von Richtern, von denen sie abweicht, gesetzlich vorgesehen sein. Außerdem müssen die in dieser abweichenden Maßnahme vorgesehenen Modalitäten für die Bezüge von Richtern objektiv, vorhersehbar und transparent sein.
67 Zweitens muss die abweichende Maßnahme durch eine dem Gemeinwohl dienende Zielsetzung wie das Erfordernis, ein übermäßiges Haushaltsdefizit im Sinne von Art. 126 Abs. 1 AEUV abzubauen, gerechtfertigt sein (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 27. Februar 2018, Associação Sindical dos Juízes Portugueses, C‑64/16, EU:C:2018:117, Rn. 46, und vom 7. Februar 2019, Escribano Vindel, C‑49/18, EU:C:2019:106, Rn. 67).
68 Wie der Generalanwalt in Nr. 60 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, setzt die Möglichkeit für einen Mitgliedstaat, sich auf ein solches Erfordernis zu berufen, nicht voraus, dass gegen ihn ein Verfahren gemäß dem dem EU-Vertrag und dem AEU-Vertrag beigefügten Protokoll (Nr. 12) über das Verfahren bei einem übermäßigen Defizit eröffnet wurde.
69 Die Haushaltsgründe, die den Erlass einer von den allgemeinen Vorschriften im Bereich der Bezüge von Richtern abweichenden Maßnahme gerechtfertigt haben, müssen klar dargelegt werden. Außerdem dürfen solche Maßnahmen, außer unter hinreichend begründeten außergewöhnlichen Umständen, nicht speziell nur auf die Mitglieder der nationalen Gerichte abzielen, sondern müssen sich in einen allgemeineren Rahmen einfügen, mit dem einer größeren Gruppe von Angehörigen des nationalen öffentlichen Dienstes ein Beitrag zu den unternommenen Haushaltsanstrengungen abverlangt werden soll (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 27. Februar 2018, Associação Sindical dos Juízes Portugueses, C‑64/16, EU:C:2018:117, Rn. 49, und vom 7. Februar 2019, Escribano Vindel, C‑49/18, EU:C:2019:106, Rn. 67).
70 Insoweit sieht Nr. 54 der Empfehlung des Ministerkomitees von 2010 vor, dass zum Schutz vor einer Kürzung der Bezüge, die speziell auf Richter abzielt, besondere Rechtsvorschriften erlassen werden sollten. Dagegen steht nach Nr. 57 der Begründung dieser Empfehlung die Bestimmung, wonach nicht speziell die Bezüge von Richtern gekürzt werden sollten, einer Kürzung der Bezüge im Rahmen der staatlichen Politik zur generellen Reduzierung der Gehälter von Angehörigen des öffentlichen Dienstes nicht entgegen.
71 Wenn ein Mitgliedstaat Maßnahmen zur Haushaltskürzung erlässt, die seine Beamten und öffentlichen Bediensteten treffen, kann er somit in einer Gesellschaft, die sich durch Solidarität auszeichnet (Art. 2 EUV) beschließen, diese Maßnahmen auch auf die nationalen Richter anzuwenden.
72 Drittens muss nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, der einen allgemeinen Grundsatz des Unionsrechts darstellt (Urteil vom 8. März 2022, Bezirkshauptmannschaft Hartberg-Fürstenfeld [Unmittelbare Wirkung], C‑205/20, EU:C:2022:168, Rn. 31), eine abweichende Maßnahme wie die oben in Rn. 65 angesprochene geeignet sein, die Verwirklichung des verfolgten, dem Gemeinwohl dienenden Ziels zu gewährleisten, muss sich auf das zur Erreichung dieses Ziels unbedingt notwendige Maß beschränken und darf nicht außer Verhältnis zu ihm stehen; dies impliziert, dass die Bedeutung des Ziels gegen die Schwere des Eingriffs in den Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit abgewogen werden muss.
73 Wenn eine derartige Maßnahme zur Verwirklichung der oben in Rn. 67 angesprochenen, dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzung geeignet erscheint, muss sie jedoch Ausnahmecharakter haben und vorübergehender Art sein, d. h., sie darf nicht über den zur Verwirklichung des verfolgten legitimen Ziels wie den Abbau eines übermäßigen Haushaltsdefizits erforderlichen Zeitraum hinaus angewandt werden.
74 Außerdem darf die Auswirkung der Maßnahme auf die Bezüge von Richtern nicht außer Verhältnis zu dem verfolgten Ziel stehen.
75 Viertens verlangt die Wahrung der richterlichen Unabhängigkeit, dass die Höhe ihrer Bezüge auch dann, wenn auf sie eine Maßnahme zur Haushaltskürzung angewandt wird, die an die Existenz einer schweren wirtschaftlichen, sozialen und finanziellen Krise anknüpft, der Bedeutung der von ihnen ausgeübten Funktionen entsprechen muss, damit sie von Interventionen oder Druck von außen verschont bleiben, durch die oder den im Sinne der oben in Rn. 49 angeführten Rechtsprechung die Unabhängigkeit ihres Urteils gefährdet und ihre Entscheidungen beeinflusst werden könnten.
76 Fünftens muss eine abweichende Maßnahme wie die oben in Rn. 65 genannte Gegenstand einer wirksamen gerichtlichen Kontrolle unter den oben in Rn. 64 genannten Voraussetzungen sein können.
77 Auch wenn es im Rahmen des in Art. 267 AEUV vorgesehenen Verfahrens nicht Sache des Gerichtshofs ist, die Normen des Unionsrechts auf einen Einzelfall anzuwenden, kann er den vorlegenden Gerichten, um ihnen eine zweckdienliche Antwort zu geben, auf der Grundlage der Akten der Ausgangsverfahren und der schriftlichen Erklärungen, über die er verfügt, Hinweise geben, die ihnen eine Entscheidung ermöglichen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 20. Juni 1991, Newton, C‑356/89, EU:C:1991:265, Rn. 10, vom 16. Juli 2015, CHEZ Razpredelenie Bulgaria, C‑83/14, EU:C:2015:480, Rn. 71, und vom 7. November 2024, Centro di Assistenza Doganale Mellano, C‑503/23, EU:C:2024:933, Rn. 85).
78 In der Rechtssache C‑146/23 hat das vorlegende Gericht zu prüfen, ob die in den Jahren 2022 und 2023 geltenden, von Art. 91 § 1c des Gesetzes über den Aufbau der ordentlichen Gerichtsbarkeit abweichenden Maßnahmen, wie die polnische Regierung vor dem Gerichtshof geltend gemacht hat, der dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzung entsprachen, in einem durch die Covid‑19-Pandemie, die kriegerische Auseinandersetzung zwischen der Ukraine und der Russischen Föderation und dem daraus resultierenden noch nie dagewesenen Anstieg der Energiepreise gekennzeichneten Rahmen Haushaltsmittel umzuschichten.
79 Da Art. 8 des Haushaltsbegleitgesetzes für das Jahr 2022 und Art. 8 des Haushaltsbegleitgesetzes für das Jahr 2023 speziell die Bezüge von Richtern und Staatsanwälten betrafen, erscheinen sie auf den ersten Blick geeignet, den Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit zu beeinträchtigen. Angesichts der oben in den Rn. 69 und 70 angestellten Erwägungen und im Licht der dem Gerichtshof von der polnischen Regierung vorgetragenen Anhaltspunkte kann jedoch nicht ausgeschlossen werden, dass sich diese Maßnahmen, auch wenn sie speziell auf Richter abzielen, in den Rahmen umfassenderer Reformen einfügen, die auch die Bezüge weiterer Kategorien von Beamten oder öffentlichen Bediensteten betreffen; dies zu prüfen ist aber Sache des vorlegenden Gerichts. Insbesondere könnten die Maßnahmen nach diesen Anhaltspunkten in Wirklichkeit darauf abzielen, zeitversetzt auf Richter Maßnahmen zur Haushaltskürzung anzuwenden, von denen andere Kategorien von Beamten oder öffentlichen Bediensteten in den Vorjahren betroffen waren.
80 Überdies hat es, vorbehaltlich einer Überprüfung durch das vorlegende Gericht, den Anschein, dass die beiden in der vorstehenden Randnummer angeführten nationalen Bestimmungen nur für je ein Jahr galten. Die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Besoldungsmaßnahmen hatten somit offenbar Ausnahmecharakter und waren vorübergehender Art, was zu bestätigen scheint, dass der in Art. 91 des Gesetzes über den Aufbau der ordentlichen Gerichtsbarkeit vorgesehene Mechanismus zur Berechnung der Bezüge nicht abgeschafft und im Jahr 2024 erneut angewandt wurde, wie die polnische Regierung und die Kommission in der mündlichen Verhandlung vor dem Gerichtshof angegeben haben.
81 Ferner geht aus den Akten, die dem Gerichtshof vorliegen, hervor, dass diese Maßnahmen – wiederum vorbehaltlich einer Überprüfung durch das vorlegende Gericht – nicht dazu führten, dass XL seines Anspruchs auf Bezüge beraubt wurde, die angesichts des wirtschaftlichen, sozialen und finanziellen Kontexts des betreffenden Mitgliedstaats und des dortigen Durchschnittsgehalts der Bedeutung der von ihm ausgeübten Funktionen entsprachen. Auch wenn sie für XL zu einem Kaufkraftverlust geführt haben mögen, bewirkten sie nämlich nach den Angaben in den Akten keine Verringerung seiner im Jahr 2021 eingefrorenen und in den Jahren 2022 und 2023 um 4,37 % bzw. 7,8 % gestiegenen Bezüge. Zudem haben die polnische Regierung und die Kommission hervorgehoben, dass die Bezüge der polnischen Richter bei Einbeziehung ihrer diversen Zulagen sowie der ihnen gewährten Befreiung von Beiträgen zur Sozialversicherung, die gemessen an den Bruttobezügen eine Ersparnis von fast 14 % darstelle, in diesem Zeitraum immer noch das Dreifache des Durchschnittsgehalts in Polen betragen hätten.
82 Schließlich ist das Vorabentscheidungsersuchen des Sąd Rejonowy w Białymstoku (Rayongericht Białystok) in der Rechtssache C‑146/23 ein hinreichender Beleg für die Möglichkeit einer wirksamen gerichtlichen Kontrolle der Besoldungsmaßnahmen, um die es im Ausgangsverfahren geht.
83 Somit verstoßen Art. 8 des Haushaltsbegleitgesetzes für das Jahr 2022 und Art. 8 des Haushaltsbegleitgesetzes für das Jahr 2023 – vorbehaltlich der vom vorlegenden Gericht vorzunehmenden Überprüfungen – offenbar nicht gegen die Anforderungen, die sich aus dem in Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV in Verbindung mit Art. 2 EUV verankerten Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit ergeben.
84 In der Rechtssache C‑374/23 ergibt sich zum einen aus den Angaben des vorlegenden Gerichts, dass die Ermittlung der Bezüge der Richter an den Apygardos teismai (Regionalgerichte) auf einer Rechtsgrundlage, und zwar Art. 3 des Gesetzes über die Bezüge von Richtern, beruht, die vorsieht, dass der Basissatz dieser Bezüge jährlich von der Legislative und der Exekutive in einer Höhe festgelegt wird, die nicht unter dem Basissatz des Vorjahrs liegen darf, und dass dabei eine Reihe objektiver Kriterien wie die anhand des nationalen Verbraucherpreisindexes berechnete jährliche Inflationsrate des Vorjahrs, die Höhe des monatlichen Mindestlohns und die Auswirkungen weiterer, für die Höhe und die Entwicklung des Durchschnittsgehalts im öffentlichen Sektor relevanter Faktoren zu berücksichtigen sind. Zum anderen erscheinen diese Modalitäten angesichts der angeführten Gesichtspunkte – vorbehaltlich der Überprüfung durch das vorlegende Gericht – objektiv, vorhersehbar, beständig und transparent.
85 Für den Fall, dass das vorlegende Gericht die Angemessenheit der Bezüge von SR und RB in Frage stellen will, ist auf die Ausführungen oben in Rn. 62 zu verweisen, wonach die Angemessenheit der Bezüge von Richtern unter Berücksichtigung der wirtschaftlichen, sozialen und finanziellen Situation im betreffenden Mitgliedstaat und mittels eines Vergleichs der Durchschnittsbezüge von Richtern mit dem Durchschnittsgehalt im betreffenden Staat zu beurteilen ist.
86 Wie aus dem im Jahr 2022 von der CEPEJ erstellten Bericht zur Bewertung der europäischen Justizsysteme (S. 80) hervorgeht, entsprachen im Jahr 2020 die durchschnittlichen Bruttobezüge der litauischen Richter zu Beginn der Laufbahn dem 2,1-fachen des durchschnittlichen Bruttogehalts in Litauen und bei den Richtern am Lietuvos Aukščiausiasis Teismas (Oberstes Gericht Litauens) dem 2,9-fachen des durchschnittlichen Bruttogehalts.
87 Das vorlegende Gericht erwähnt zwar auch eine Steuerreform im Jahr 2019, die zu einer Verringerung der Nominalbezüge dieser Richter geführt haben soll. Da die Vorlageentscheidung keinerlei Angaben zu der Reform enthält, kann die Erwähnung ihrer Anwendung auf die Richter jedoch als solche nicht ausreichen, um auf das Vorliegen einer Beeinträchtigung des Grundsatzes der richterlichen Unabhängigkeit schließen zu können.
88 Infolgedessen verstoßen in der Rechtssache C‑374/23 – vorbehaltlich der vom vorlegenden Gericht vorzunehmenden Überprüfungen – die Modalitäten zur Ermittlung der Bezüge von SR und RB während des Zeitraums, um den es im Ausgangsverfahren geht, offenbar nicht gegen diesen Grundsatz.
89 Schließlich ist das Vorabentscheidungsersuchen des Vilniaus apygardos administracinis teismas (Regionalverwaltungsgericht Vilnius) in dieser Rechtssache ein hinreichender Beleg für die Möglichkeit einer wirksamen gerichtlichen Kontrolle der Besoldungsmaßnahmen, um die es dort geht.
90 Nach alledem ist auf die in den Rechtssachen C‑146/23 und C‑374/23 vorgelegten Fragen zu antworten, dass Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV in Verbindung mit Art. 2 EUV dahin auszulegen ist, dass der Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit dem nicht entgegensteht, dass
–
zum einen die Legislative und die Exekutive eines Mitgliedstaats die Bezüge von Richtern festlegen, sofern diese Befugnis nicht willkürlich ausgeübt wird, sondern auf Modalitäten beruht, die
–
gesetzlich vorgesehen sind,
–
objektiv, vorhersehbar, beständig und transparent sind,
–
gewährleisten, dass die Höhe der Besoldung von Richtern unter Berücksichtigung der wirtschaftlichen, sozialen und finanziellen Situation des betreffenden Mitgliedstaats und des Durchschnittsgehalts in diesem Mitgliedstaat der Bedeutung der von ihnen ausgeübten Funktionen entspricht, und
–
Gegenstand einer wirksamen gerichtlichen Kontrolle nach den im Recht des betreffenden Mitgliedstaats vorgesehenen Verfahrensmodalitäten sein können;
–
zum anderen die Legislative und die Exekutive eines Mitgliedstaats von den nationalen Rechtsvorschriften abweichen, in denen die Modalitäten für die Ermittlung der Bezüge von Richtern in objektiver Weise definiert werden, und beschließen, die Bezüge geringer anzuheben, als es die genannten Rechtsvorschriften vorsehen, oder sie einzufrieren oder zu kürzen, sofern die Befugnis zum Erlass einer solchen abweichenden Maßnahme nicht willkürlich ausgeübt wird, sondern die Maßnahme
–
gesetzlich vorgesehen ist,
–
objektive, vorhersehbare und transparente Besoldungsmodalitäten vorsieht,
–
durch eine dem Gemeinwohl dienende, im Rahmen von Maßnahmen, die, außer unter hinreichend begründeten außergewöhnlichen Umständen, nicht speziell auf Richter abzielen, sondern allgemeiner die Bezüge bestimmter Kategorien von Beamten oder öffentlichen Bediensteten betreffen, verfolgte Zielsetzung gerechtfertigt ist,
–
zur Verwirklichung dieser Zielsetzung erforderlich ist und sich auf das dafür unbedingt notwendige Maß beschränkt, was voraussetzt, dass sie Ausnahmecharakter hat und vorübergehender Art ist und dass sie das Erfordernis, wonach die Bezüge von Richtern der Bedeutung der von ihnen ausgeübten Funktionen entsprechen müssen, unangetastet lässt, und
–
Gegenstand einer wirksamen gerichtlichen Kontrolle nach den im Recht des betreffenden Mitgliedstaats vorgesehenen Verfahrensmodalitäten sein kann.
Kosten
91 Für die Beteiligten der Ausgangsverfahren ist das Verfahren Teil der bei den vorlegenden Gerichten anhängigen Verfahren; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieser Gerichte. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Große Kammer) für Recht erkannt:
Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV ist in Verbindung mit Art. 2 EUV dahin auszulegen, dass der Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit dem nicht entgegensteht, dass
–
zum einen die Legislative und die Exekutive eines Mitgliedstaats die Bezüge von Richtern festlegen, sofern diese Befugnis nicht willkürlich ausgeübt wird, sondern auf Modalitäten beruht, die
–
gesetzlich vorgesehen sind,
–
objektiv, vorhersehbar, beständig und transparent sind,
–
gewährleisten, dass die Höhe der Besoldung von Richtern unter Berücksichtigung der wirtschaftlichen, sozialen und finanziellen Situation des betreffenden Mitgliedstaats und des Durchschnittsgehalts in diesem Mitgliedstaat der Bedeutung der von ihnen ausgeübten Funktionen entspricht, und
–
Gegenstand einer wirksamen gerichtlichen Kontrolle nach den im Recht des betreffenden Mitgliedstaats vorgesehenen Verfahrensmodalitäten sein können;
–
zum anderen die Legislative und die Exekutive eines Mitgliedstaats von den nationalen Rechtsvorschriften abweichen, in denen die Modalitäten für die Ermittlung der Bezüge von Richtern in objektiver Weise definiert werden, und beschließen, die Bezüge geringer anzuheben, als es die genannten Rechtsvorschriften vorsehen, oder sie einzufrieren oder zu kürzen, sofern die Befugnis zum Erlass einer solchen abweichenden Maßnahme nicht willkürlich ausgeübt wird, sondern die Maßnahme
–
gesetzlich vorgesehen ist,
–
objektive, vorhersehbare und transparente Besoldungsmodalitäten vorsieht,
–
durch eine dem Gemeinwohl dienende, im Rahmen von Maßnahmen, die, außer unter hinreichend begründeten außergewöhnlichen Umständen, nicht speziell auf Richter abzielen, sondern allgemeiner die Bezüge bestimmter Kategorien von Beamten oder öffentlichen Bediensteten betreffen, verfolgte Zielsetzung gerechtfertigt ist,
–
zur Verwirklichung dieser Zielsetzung erforderlich ist und sich auf das dafür unbedingt notwendige Maß beschränkt, was voraussetzt, dass sie Ausnahmecharakter hat und vorübergehender Art ist und dass sie das Erfordernis, wonach die Bezüge von Richtern der Bedeutung der von ihnen ausgeübten Funktionen entsprechen müssen, unangetastet lässt, und
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Gegenstand einer wirksamen gerichtlichen Kontrolle nach den im Recht des betreffenden Mitgliedstaats vorgesehenen Verfahrensmodalitäten sein kann.
Unterschriften
(*1) Verfahrenssprachen: Polnisch und Litauisch.
(i
) Diese Rechtssache ist mit einem fiktiven Namen bezeichnet, der nicht dem echten Namen eines Verfahrensbeteiligten entspricht.
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Urteil des Gerichtshofs (Erste Kammer) vom 25. April 2024.#NW und PQ gegen Országos Idegenrendészeti Főigazgatóság und Miniszterelnöki Kabinetirodát vezető miniszter.#Vorabentscheidungsersuchen des Szegedi Törvényszék.#Vorlage zur Vorabentscheidung – Unionsbürgerschaft – Art. 20 AEUV – Unionsbürger, der noch nie von seiner Freizügigkeit Gebrauch gemacht hat – Aufenthalt eines Familienangehörigen dieses Unionsbürgers in der Union – Gefährdung der nationalen Sicherheit – Stellungnahme einer nationalen Fachbehörde – Begründung – Akteneinsicht.#Verbundene Rechtssachen C-420/22 und C-528/22.
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62022CJ0420
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ECLI:EU:C:2024:344
| 2024-04-25T00:00:00 |
Richard de la Tour, Gerichtshof
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Sammlung der Rechtsprechung – allgemein – Abschnitt „Informationen über nicht veröffentlichte Entscheidungen“
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62022CJ0420
URTEIL DES GERICHTSHOFS (Erste Kammer)
25. April 2024 (*1)
„Vorlage zur Vorabentscheidung – Unionsbürgerschaft – Art. 20 AEUV – Unionsbürger, der noch nie von seiner Freizügigkeit Gebrauch gemacht hat – Aufenthalt eines Familienangehörigen dieses Unionsbürgers in der Union – Gefährdung der nationalen Sicherheit – Stellungnahme einer nationalen Fachbehörde – Begründung – Akteneinsicht“
In den verbundenen Rechtssachen C‑420/22 und C‑528/22
betreffend Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Szegedi Törvényszék (Stuhlgericht Szeged, Ungarn) mit Entscheidungen vom 16. Juni 2022 und 8. August 2022, beim Gerichtshof eingegangen am 24. Juni 2022 und 8. August 2022, in den Verfahren
NW (C‑420/22),
PQ (C‑528/22)
gegen
Országos Idegenrendészeti Főigazgatóság,
Miniszterelnöki Kabinetirodát vezető miniszter
erlässt
DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten A. Arabadjiev, des Vizepräsidenten des Gerichtshofs L. Bay Larsen (Berichterstatter), der Richter P. G. Xuereb und A. Kumin sowie der Richterin I. Ziemele,
Generalanwalt: J. Richard de la Tour,
Kanzler: M. Siekierzyńska, Verwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 5. Juli 2023,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
–
des NW, vertreten durch B. Pohárnok, Ügyvéd,
–
des PQ, vertreten durch A. Németh und B. Pohárnok, Ügyvédek,
–
der ungarischen Regierung, vertreten durch M. Z. Fehér und R. Kissné Berta als Bevollmächtigte,
–
der französischen Regierung, vertreten durch R. Bénard, A. Daniel und J. Illouz als Bevollmächtigte,
–
der Europäischen Kommission, vertreten durch A. Katsimerou, E. Montaguti und A. Tokár als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 23. November 2023
folgendes
Urteil
1 Die Vorabentscheidungsersuchen betreffen die Auslegung von Art. 20 AEUV, Art. 9 Abs. 3 und Art. 10 Abs. 1 der Richtlinie 2003/109/EG des Rates vom 25. November 2003 betreffend die Rechtsstellung der langfristig aufenthaltsberechtigten Drittstaatsangehörigen (ABl. 2004, L 16, S. 44) sowie von Art. 7, Art. 24, Art. 51 Abs. 1 und Art. 52 Abs. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta).
2 Sie ergehen im Rahmen von Rechtsstreitigkeiten zwischen zwei Drittstaatsangehörigen, NW und PQ, einerseits und der Országos Idegenrendészeti Főigazgatóság (Nationale Generaldirektion der Fremdenpolizei, Ungarn) (im Folgenden: Fremdenpolizeidirektion) sowie dem Miniszterelnöki Kabinetirodát vezető miniszter (Minister für die Leitung des Kabinettsbüros des Ministerpräsidenten, Ungarn) andererseits. Diese Rechtsstreitigkeiten betreffen Entscheidungen, mit denen NW die Daueraufenthaltskarte entzogen und er aufgefordert wird, das Hoheitsgebiet Ungarns zu verlassen, und der Antrag von PQ auf Erteilung einer nationalen Niederlassungserlaubnis abgelehnt wird.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
3 Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2003/109 bestimmt:
„Die Mitgliedstaaten erteilen Drittstaatsangehörigen, die sich unmittelbar vor der Stellung des entsprechenden Antrags fünf Jahre lang ununterbrochen rechtmäßig in ihrem Hoheitsgebiet aufgehalten haben, die Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten.“
4 Art. 5 dieser Richtlinie bestimmt:
„(1) Die Mitgliedstaaten verlangen vom Drittstaatsangehörigen den Nachweis, dass er für sich und seine unterhaltsberechtigten Familienangehörigen über Folgendes verfügt:
a)
feste und regelmäßige Einkünfte, die ohne Inanspruchnahme der Sozialhilfeleistungen des betreffenden Mitgliedstaats für seinen eigenen Lebensunterhalt und den seiner Familienangehörigen ausreichen. Die Mitgliedstaaten beurteilen diese Einkünfte anhand ihrer Art und Regelmäßigkeit und können die Höhe der Mindestlöhne und ‑renten beim Antrag auf Erteilung der Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten berücksichtigen;
b)
eine Krankenversicherung, die im betreffenden Mitgliedstaat sämtliche Risiken abdeckt, die in der Regel auch für die eigenen Staatsangehörigen abgedeckt sind.
(2) Die Mitgliedstaaten können von Drittstaatsangehörigen verlangen, dass sie die Integrationsanforderungen gemäß dem nationalen Recht erfüllen.“
5 Art. 7 Abs. 1 dieser Richtlinie bestimmt:
„Um die Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten zu erlangen, reicht der Drittstaatsangehörige bei den zuständigen Behörden des Mitgliedstaats, in dem er sich aufhält, einen Antrag ein. Dem Antrag sind vom nationalen Recht zu bestimmende Unterlagen beizufügen, aus denen hervorgeht, dass er die Voraussetzungen der Artikel 4 und 5 erfüllt, sowie erforderlichenfalls ein gültiges Reisedokument oder eine beglaubigte Abschrift davon.
Die Nachweise nach Unterabsatz 1 können auch Unterlagen in Bezug auf ausreichenden Wohnraum einschließen.“
6 Art. 9 Abs. 3 dieser Richtlinie bestimmt:
„Die Mitgliedstaaten können vorsehen, dass ein Drittstaatsangehöriger die Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten verliert, wenn er in Anbetracht der Schwere der von ihm begangenen Straftaten eine Bedrohung für die öffentliche Ordnung darstellt, ohne dass diese Bedrohung eine Ausweisung … rechtfertigt.“
7 Art. 10 Abs. 1 der Richtlinie 2003/109 lautet:
„Die Entscheidung, die Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten zu versagen oder zu entziehen, ist zu begründen. Jede Entscheidung wird dem betreffenden Drittstaatsangehörigen nach den Verfahren der entsprechenden nationalen Rechtsvorschriften mitgeteilt. In dieser Mitteilung ist auf die möglichen Rechtsbehelfe und die entsprechenden Fristen hinzuweisen.“
8 Art. 13 dieser Richtlinie bestimmt:
„Die Mitgliedstaaten können für die Ausstellung dauerhafter oder unbefristeter Aufenthaltstitel günstigere Voraussetzungen als diejenigen dieser Richtlinie vorsehen. Diese Aufenthaltstitel begründen nicht das Recht auf Aufenthalt in anderen Mitgliedstaaten gemäß Kapitel III.“
Ungarisches Recht
9 § 94 Abs. 2 bis 5 des A szabad mozgás és tartózkodás jogával rendelkező személyek beutazásáról és tartózkodásáról szóló 2007. évi I. törvény (Gesetz Nr. I von 2007 über die Einreise und den Aufenthalt von Personen, die über das Recht auf Freizügigkeit und freien Aufenthalt verfügen) vom 5. Januar 2007 (Magyar Közlöny 2007/1.) bestimmt:
„(2) Ein Drittstaatsangehöriger, der über eine Aufenthaltskarte oder Daueraufenthaltskarte verfügt, die ihm als Familienangehörigen eines ungarischen Staatsbürgers … ausgestellt wurde … erhält auf vor Ablauf seiner Aufenthaltskarte oder Daueraufenthaltskarte gestellten Antrag hin ohne Prüfung … eine nationale Niederlassungserlaubnis, es sei denn:
…
c)
seiner Niederlassung steht ein Versagungsgrund nach § 33 Absatz 1 Buchstabe c und Absatz 2 des [A harmadik országbeli állampolgárok beutazásáról és tartózkodásáról szóló 2007. évi II. törvény (Gesetz Nr. II von 2007 über die Einreise und den Aufenthalt von Drittstaatsangehörigen) vom 5. Januar 2007 (Magyar Közlöny 2007/1.)] entgegen.
…
(3) Hinsichtlich Absatz 2 Buchstabe c sind die benannten Fachbehörden gemäß den Vorschriften des [Gesetzes Nr. II von 2007 über die Einreise und den Aufenthalt von Drittstaatsangehörigen] über die Erteilung einer nationalen Niederlassungserlaubnis zu konsultieren, um ihre fachbehördliche Stellungnahme einzuholen.
(4) Besitzt ein Drittstaatsangehöriger, der Familienangehöriger eines ungarischen Staatsbürgers ist, eine gültige Aufenthaltskarte oder Daueraufenthaltskarte, wird diese entzogen,
…
b)
wenn der Aufenthalt des Drittstaatsangehörigen die öffentliche Ordnung, die öffentliche Sicherheit oder die nationale Sicherheit Ungarns gefährdet.
(5) Zu jeder fachlichen Frage nach Absatz 4 Buchstabe b sind die Fachbehörden gemäß den Vorschriften des [Gesetzes Nr. II von 2007 über die Einreise und den Aufenthalt von Drittstaatsangehörigen] über die Erteilung einer nationalen Niederlassungserlaubnis zu konsultieren, um ihre fachbehördliche Stellungnahme einzuholen.“
10 § 33 Abs. 1 und 2 des Gesetzes Nr. II von 2007 über die Einreise und den Aufenthalt von Drittstaatsangehörigen bestimmt:
„(1) Ein Drittstaatsangehöriger kann eine vorläufige Niederlassungserlaubnis, eine nationale Niederlassungserlaubnis oder eine Erlaubnis zum Daueraufenthalt-EG erhalten,
…
c)
gegen den kein Versagungsgrund nach diesem Gesetz vorliegt.
(2) Ein Drittstaatsangehöriger kann keine vorläufige Niederlassungserlaubnis, nationale Niederlassungserlaubnis bzw. Erlaubnis zum Daueraufenthalt-EG erhalten,
…
b)
wenn seine Niederlassung die öffentliche Sicherheit oder die nationale Sicherheit Ungarns gefährdet.“
11 Art. 87/B Abs. 4 dieses Gesetzes bestimmt:
„Die Stellungnahme der Fachbehörde ist in Bezug auf die fachliche Frage für die befasste Fremdenpolizeibehörde verbindlich.“
12 § 11 des A minősített adat védelméről szóló 2009. évi CLV. törvény (Gesetz Nr. CLV von 2009 über den Schutz von Verschlusssachen) vom 29. Dezember 2009 (Magyar Közlöny 2009/194.) sieht vor:
„(1) Auf der Grundlage einer von der für die Einstufung zuständigen Stelle erteilten Kenntnisnahmegenehmigung ist die betroffene Person ohne Sicherheitsbescheid für Personen berechtigt, Kenntnis von ihren personenbezogenen Daten in einer nationalen Verschlusssache zu erhalten. Die betroffene Person muss, bevor sie Kenntnis von einer nationalen Verschlusssache erhält, schriftlich eine Geheimhaltungserklärung abgeben und die Vorschriften zum Schutz nationaler Verschlusssachen einhalten.
(2) Über die Erteilung der Kenntnisnahmegenehmigung beschließt die für die Einstufung zuständige Stelle auf Antrag der betroffenen Person innerhalb von 15 Tagen. Verletzt die Kenntnisnahme von der Information das der Einstufung zugrunde liegende öffentliche Interesse, lehnt die für die Einstufung zuständige Stelle die Erteilung der Kenntnisnahmegenehmigung ab. Die Ablehnung der Kenntnisnahmegenehmigung ist von der für die Einstufung zuständigen Stelle zu begründen.
(3) Wird die Erteilung der Kenntnisnahmegenehmigung abgelehnt, kann die betroffene Person diesen Bescheid auf dem Verwaltungsrechtsweg anfechten. …“
13 Art. 12 Abs. 1 dieses Gesetzes bestimmt:
„Der für eine Verschlusssache Verantwortliche kann es ablehnen, der betroffenen Person das Recht auf Zugang zu ihren personenbezogenen Daten zu gewähren, wenn das der Einstufung zugrunde liegende öffentliche Interesse durch die Ausübung dieses Rechts gefährdet würde.“
Ausgangsverfahren und Vorlagefragen
Rechtssache C‑420/22
14 NW, ein Drittstaatsangehöriger, heiratete 2004 eine ungarische Staatsangehörige. 2005 bekam das Paar ein Kind, das die ungarische Staatsangehörigkeit besitzt. NW erzieht sein Kind zusammen mit seiner Ehefrau.
15 Nachdem NW sich mehr als fünf Jahre rechtmäßig in Ungarn aufgehalten hatte, stellten ihm die ungarischen Behörden unter Berücksichtigung seiner familiären Situation eine Daueraufenthaltskarte aus, die bis zum 31. Oktober 2022 gültig war.
16 In einer nicht begründeten Stellungnahme vom 12. Januar 2021 erklärte das Alkotmányvédelmi Hivatal (Amt für Verfassungsschutz, Ungarn), dass der Aufenthalt von NW in Ungarn die nationalen Sicherheitsinteressen dieses Mitgliedstaats verletze. Diese Fachbehörde stufte die Informationen, auf die es seine Stellungnahme stützte, als Verschlusssachen ein. Diese Stellungnahme wurde am 13. April 2021 vom Innenminister als zweitinstanzliche Fachbehörde bestätigt.
17 Mit Bescheid vom 22. Januar 2021 entzog die erstinstanzliche Fremdenpolizeibehörde NW die Daueraufenthaltskarte und forderte ihn auf, das Hoheitsgebiet Ungarns zu verlassen, weil sein Aufenthalt in ungarischem Hoheitsgebiet die nationale Sicherheit dieses Mitgliedstaats gefährde.
18 Dieser Bescheid wurde am 10. Mai 2021 von der Fremdenpolizeidirektion mit der Begründung bestätigt, der Innenminister habe festgestellt, der Aufenthalt von NW im ungarischen Hoheitsgebiet verletze die nationalen Sicherheitsinteressen Ungarns. In ihrem Bescheid führte die Fremdenpolizeidirektion aus, nach ungarischem Recht könne sie nicht von der Stellungnahme des Innenministers abweichen und sei daher verpflichtet, NW ohne Berücksichtigung seiner persönlichen Umstände die Daueraufenthaltskarte zu entziehen.
19 NW hat gegen den Bescheid der Fremdenpolizeidirektion vom 10. Mai 2021 beim Szegedi Törvényszék (Stuhlgericht Szeged, Ungarn), dem vorlegenden Gericht, Klage erhoben.
20 Das vorlegende Gericht führt aus, dieser Bescheid beruhe allein auf den verbindlichen und nicht begründeten Stellungnahmen der staatlichen Fachbehörden, d. h. des Amtes für Verfassungsschutz und des Innenministers, die sich auf Verschlusssachen stützten, zu denen weder NW noch die über den Aufenthalt entscheidenden Behörden Zugang gehabt hätten. Diese Behörden hätten somit nicht die Erforderlichkeit und die Verhältnismäßigkeit dieses Bescheids geprüft.
21 Das vorlegende Gericht stellt fest, dass sich aus der Rechtsprechung der Kúria (Oberstes Gericht, Ungarn) ergebe, dass in einer Situation wie der des Ausgangsverfahrens die Verfahrensrechte der betroffenen Person durch die Befugnis des zuständigen Gerichts gewährleistet würden, bei seiner Prüfung der Rechtmäßigkeit der Aufenthaltsentscheidung die der Stellungnahme der Fachbehörden zugrunde liegenden Verschlusssachen einsehen zu können. Dieses Gericht müsse daher, wenn es vom Kläger dazu aufgefordert werde, prüfen, ob die Tatsachen und Angaben, die der betreffenden Stellungnahme zugrunde lägen, diesen Bescheid rechtfertigten, ohne dass es jedoch die als Verschlusssache eingestuften Informationen, von denen es Kenntnis erlangt habe, in sein Urteil aufnehmen dürfe.
22 Nach ungarischem Recht hätten zudem weder die betroffene Person noch ihr Vertreter eine konkrete Möglichkeit, sich zu der nicht begründeten Stellungnahme dieser Behörden zu äußern. Sie hätten zwar das Recht, einen Antrag auf Zugang zu als Verschlusssache eingestuften Informationen über die betroffene Person zu stellen, doch habe der Schutz des öffentlichen Interesses, das die Einstufung der Informationen als Verschlusssache gerechtfertigt habe, grundsätzlich Vorrang vor dem privaten Interesse der betroffenen Person, da das Vorliegen eines Grundes für die Einstufung im Wesentlichen ein hinreichender Grund für die Ablehnung eines Antrags auf Kenntnisnahmegenehmigung der betroffenen Person sei.
23 Selbst wenn einem solchen Antrag stattgegeben würde, dürften weder die betroffene Person noch ihr Vertreter die als Verschlusssache eingestuften Informationen, zu denen ihnen Zugang gewährt werde, im Rahmen von Verwaltungs- oder Gerichtsverfahren verwenden, da es ihnen in der Praxis verwehrt sei, ein Schriftstück zu verfassen, das den wesentlichen Inhalt dieser Informationen enthalte. Das mit einer Klage gegen eine Aufenthaltsentscheidung befasste Gericht habe nach ungarischem Recht in dieser Hinsicht keine Befugnisse.
24 Unter diesen Umständen hat das Szegedi Törvényszék (Stuhlgericht Szeged) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof die folgenden Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
1. Ist Art. 10 Abs. 1 der Richtlinie 2003/109 in Verbindung mit Art. 47 der Charta – sowie gegebenenfalls mit Art. 7 und 24 der Charta – dahin auszulegen, dass er die Behörde eines Mitgliedstaats, die eine Entscheidung erlässt, mit der aus Gründen der nationalen Sicherheit und/oder der öffentlichen Ordnung oder der öffentlichen Sicherheit der Entzug einer zuvor erteilten langfristigen Aufenthaltsberechtigung angeordnet wird, sowie die die Geheimhaltung festlegende Fachbehörde dazu verpflichtet, dafür Sorge zu tragen, dass der betroffene Drittstaatsangehörige und sein rechtlicher Vertreter jedenfalls zumindest vom wesentlichen Inhalt der als geheim oder als Verschlusssache eingestuften Daten und Informationen, die der auf die genannten Gründe gestützten Entscheidung zugrunde liegen, Kenntnis erhalten und diese in dem Verfahren, das die Entscheidung betrifft, verwenden können, wenn die zuständige Behörde der Auffassung ist, dass die Offenlegung den Gründen der nationalen Sicherheit zuwiderliefe?
2. Bejahendenfalls: Was genau ist im Hinblick auf die Art. 41 und 47 der Charta unter „wesentlicher Inhalt“ der als geheim eingestuften Gründe, auf deren Grundlage eine solche Entscheidung ergeht, zu verstehen?
3. Ist Art. 10 Abs. 1 der Richtlinie 2003/109 im Licht von Art. 47 der Charta dahin auszulegen, dass das Gericht eines Mitgliedstaats, das mit der Kontrolle der Rechtmäßigkeit der Stellungnahme der Fachbehörde, die auf einen Grund gestützt ist, der sich auf als geheim oder als Verschlusssache eingestufte Daten bezieht, und der auf dieser Stellungnahme beruhenden materiell-rechtlichen ausländerrechtlichen Entscheidung befasst ist, befugt sein muss, die Rechtmäßigkeit der Geheimhaltung (ihre Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit) zu prüfen und, wenn es die Geheimhaltung für rechtswidrig hält, mit eigener Entscheidung zu ermöglichen, dass die betroffene Person und ihr Vertreter von allen Daten, auf die sich die Stellungnahme und die Entscheidung der Verwaltungsbehörden stützen, Kenntnis erhalten und diese verwenden, oder, wenn es die Geheimhaltung für rechtmäßig hält, mit eigener Entscheidung sicherzustellen, dass die betroffene Person in dem sie betreffenden ausländerrechtlichen Verfahren zumindest vom wesentlichen Inhalt der vertraulichen Daten Kenntnis erhalten und diesen verwenden kann?
4. Sind die Art. 9 Abs. 3 und Art. 10 Abs. 1 der Richtlinie 2003/109 in Verbindung mit den Art. 7 und 24, Art. 51 Abs. 1 und Art. 52 Abs. 1 der Charta dahin auszulegen, dass sie einer Regelung eines Mitgliedstaats entgegenstehen, nach der eine ausländerrechtliche Entscheidung, mit der der Entzug einer zuvor erteilten langfristigen Aufenthaltsberechtigung angeordnet wird, aufgrund einer Entscheidung ohne Begründung erfolgt,
a)
die sich ausschließlich auf eine automatische Bezugnahme auf eine verbindliche, ebenfalls nicht begründete, die Gefährdung oder Verletzung der nationalen Sicherheit, der öffentlichen Sicherheit oder der öffentlichen Ordnung feststellende fachbehördliche Stellungnahme, die keine Ausnahme zulässt, stützt, und
b)
die daher ohne gründliche Prüfung des Vorliegens von Gründen der nationalen Sicherheit, der öffentlichen Sicherheit oder der öffentlichen Ordnung im konkreten Fall und ohne Berücksichtigung der individuellen Umstände und der Erfordernisse der Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit erlassen wurde?
25 Mit Beschluss vom 8. August 2022, der am selben Tag beim Gerichtshof eingegangen ist, hat das vorlegende Gericht das Vorabentscheidungsersuchen ergänzt.
26 Das vorlegende Gericht hat klargestellt, dass es sich in diesem Ersuchen auf die Prämisse gestützt habe, dass NW in den Anwendungsbereich der Richtlinie 2003/109 falle. Da zwischen NW und seinem minderjährigen Kind ein Abhängigkeitsverhältnis bestehe, sei es jedoch, falls der Gerichtshof diese Prämisse für falsch halten sollte, erforderlich, festzustellen, ob NW ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht nach Art. 20 AEUV zu gewähren sei.
27 Daher hat das vorlegende Gericht die dem Gerichtshof bereits vorgelegten Fragen um die folgende Vorlagefrage ergänzt:
a)
Ist Art. 20 AEUV in Verbindung mit den Art. 7 und 24 der Charta dahin auszulegen, dass er der Praxis eines Mitgliedstaats entgegensteht, eine Entscheidung zu erlassen, mit der der Entzug einer Aufenthaltsberechtigung angeordnet wird, die zuvor einem Drittstaatsangehörigen erteilt wurde, der Familienangehöriger von Unionsbürgern (minderjähriges Kind und Ehegattin), die in dem Mitgliedstaat ihrer Staatsangehörigkeit leben, ist, ohne zuvor zu prüfen, ob der betreffende Familienangehörige, der Staatsangehöriger eines Drittstaats ist, Anspruch auf ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht nach Art. 20 AEUV hat?
b)
Ist Art. 20 AEUV in Verbindung mit Art. 7 und 24, Art. 51 Abs. 1 und Art. 52 Abs. 1 der Charta dahin auszulegen, dass, soweit ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht nach Art. 20 AEUV besteht, der Anwendungsbereich des Unionsrechts zur Folge hat, dass die Verwaltungsbehörden und Gerichte des Mitgliedstaats das Unionsrecht auch anwenden müssen, wenn sie eine ausländerrechtliche Entscheidung erlassen, mit der der Entzug einer Daueraufenthaltskarte angeordnet wird, wenn sie die Ausnahmebestimmungen in Bezug auf Gründe der nationalen Sicherheit, der öffentlichen Ordnung oder der öffentlichen Sicherheit anwenden, auf die sich diese Entscheidung stützt, und wenn sie, wenn solche Gründe nachweisbar vorliegen, die der Rechtfertigung zugrunde liegende Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit der Beschränkung des Aufenthaltsrechts prüfen?
c)
Für den Fall, dass der Kläger in den Anwendungsbereich von Art. 20 AEUV fällt, ersucht das vorlegende Gericht den Gerichtshof, die in der Vorlageentscheidung gestellten Fragen 1 bis 4 auch im Licht dieses Artikels zu beantworten.
Rechtssache C‑528/22
28 PQ, ein Drittstaatsangehöriger, reiste im Juni 2005 als professioneller Fußballspieler rechtmäßig nach Ungarn ein und hält sich seither rechtmäßig im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats auf. Seit 2011 lebt er mit seiner Lebensgefährtin, die die ungarische Staatsangehörigkeit besitzt, zusammen. 2012 und 2021 bekam das Paar zwei Kinder, die die ungarische Staatsangehörigkeit besitzen.
29 PQ übt gemeinsam mit seiner Lebensgefährtin das elterliche Sorgerecht für ihre Kinder aus. Er lebt dauerhaft mit ihnen zusammen und übt die meiste Zeit die tatsächliche Sorge für sie aus. Zwischen seinen Kindern und PQ, der sich seit ihrer Geburt dauerhaft um sie kümmert, besteht eine enge emotionale Verbindung und ein Abhängigkeitsverhältnis.
30 In einer nicht begründeten Stellungnahme vom 9. September 2020 erklärte das Amt für Verfassungsschutz, dass der Aufenthalt von PQ in Ungarn die nationalen Sicherheitsinteressen dieses Mitgliedstaats verletze. Diese Fachbehörde stufte die Informationen, auf die es seine Stellungnahme stützte, als Verschlusssachen ein. Diese Stellungnahme wurde am 12. Februar 2021 vom Innenminister als zweitinstanzliche Fachbehörde bestätigt.
31 Mit Bescheid vom 27. Oktober 2020 lehnte die erstinstanzliche Fremdenpolizeibehörde einen von PQ gestellten Antrag auf eine nationale Niederlassungserlaubnis ab.
32 Dieser Bescheid wurde am 25. März 2021 von der Fremdenpolizeidirektion mit der Begründung bestätigt, der Innenminister habe festgestellt, der Aufenthalt von PQ im ungarischen Hoheitsgebiet verletze die nationalen Sicherheitsinteressen Ungarns. In ihrem Bescheid führte die Fremdenpolizeidirektion aus, nach ungarischem Recht könne sie nicht von der Stellungnahme des Innenministers abweichen und sei daher verpflichtet, den Antrag von PQ ohne Berücksichtigung seiner persönlichen Umstände abzulehnen.
33 PQ hat gegen den Bescheid der Fremdenpolizeidirektion vom 25. März 2021 beim Szegedi Törvényszék (Stuhlgericht Szeged, Ungarn), dem vorlegenden Gericht, Klage erhoben.
34 Dieses Gericht führt Erwägungen an, die denen entsprechen, die in den Rn. 20 bis 23 des vorliegenden Urteils wiedergegeben werden.
35 Unter diesen Umständen hat das Szegedi Törvényszék (Stuhlgericht Szeged) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof die folgenden Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
1. a)
Ist Art. 20 AEUV in Verbindung mit den Art. 7 und 24 der Charta dahin auszulegen, dass er der Praxis eines Mitgliedstaats entgegensteht, eine Entscheidung zu erlassen, mit der der Entzug einer Aufenthaltsberechtigung angeordnet wird, die zuvor einem Drittstaatsangehörigen erteilt wurde, der Familienangehöriger von Unionsbürgern (minderjährige Kinder und Lebenspartnerin), die in dem Mitgliedstaat ihrer Staatsangehörigkeit leben, ist, oder mit der der Antrag auf Verlängerung der Aufenthaltsberechtigung (im vorliegenden Fall ein Antrag auf Erteilung einer nationalen Niederlassungserlaubnis) abgelehnt wird, ohne zuvor zu prüfen, ob der betreffende Familienangehörige, der Staatsangehöriger eines Drittstaats ist, Anspruch auf ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht nach Art. 20 AEUV hat?
b)
Ist Art. 20 AEUV in Verbindung mit Art. 7 und 24, Art. 51 Abs. 1 und Art. 52 Abs. 1 der Charta dahin auszulegen, dass, soweit ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht nach Art. 20 AEUV besteht, der Anwendungsbereich des Unionsrechts zur Folge hat, dass die Verwaltungsbehörden und Gerichte des Mitgliedstaats das Unionsrecht auch anwenden müssen, wenn sie eine ausländerrechtliche Entscheidung erlassen, die einen Antrag auf Verlängerung der Aufenthaltsberechtigung (im vorliegenden Fall ein Antrag auf Erteilung einer nationalen Niederlassungserlaubnis) betrifft, wenn sie die Ausnahmebestimmungen in Bezug auf Gründe der nationalen Sicherheit, der öffentlichen Ordnung oder der öffentlichen Sicherheit anwenden, auf die sich diese Entscheidung stützt, und wenn sie, wenn solche Gründe nachweisbar vorliegen, die der Rechtfertigung zugrunde liegende Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit der Beschränkung des Aufenthaltsrechts prüfen?
2. Ist Art. 20 AEUV in Verbindung mit Art. 47 der Charta – sowie gegebenenfalls mit den Art. 7 und 24 der Charta – dahin auszulegen, dass er die Behörde eines Mitgliedstaats, die eine Entscheidung erlässt, mit der aus Gründen der nationalen Sicherheit und/oder der öffentlichen Ordnung oder der öffentlichen Sicherheit der Entzug einer zuvor erteilten langfristigen Aufenthaltsberechtigung angeordnet oder über einen Antrag auf Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis entschieden wird, sowie die die Geheimhaltung festlegende Fachbehörde dazu verpflichtet, dafür Sorge zu tragen, dass der betroffene Drittstaatsangehörige und sein rechtlicher Vertreter jedenfalls zumindest vom wesentlichen Inhalt der als geheim oder als Verschlusssache eingestuften Daten und Informationen, die der auf die genannten Gründe gestützten Entscheidung zugrunde liegen, Kenntnis erhalten und diese in dem Verfahren, das die Entscheidung betrifft, verwenden können, wenn die zuständige Behörde der Auffassung ist, dass die Offenlegung den Gründen der nationalen Sicherheit zuwiderliefe?
3. Bejahendenfalls: Was genau ist im Hinblick auf die Art. 41 und 47 der Charta unter „wesentlicher Inhalt“ der als geheim eingestuften Gründe, auf deren Grundlage eine solche Entscheidung ergeht, zu verstehen?
4. Ist Art. 20 AEUV im Licht von Art. 47 der Charta dahin auszulegen, dass das Gericht eines Mitgliedstaats, das mit der Kontrolle der Rechtmäßigkeit der Stellungnahme der Fachbehörde, die auf einen Grund gestützt ist, der sich auf als geheim oder als Verschlusssache eingestufte Daten bezieht, und der auf dieser Stellungnahme beruhenden materiell-rechtlichen ausländerrechtlichen Entscheidung befasst ist, befugt sein muss, die Rechtmäßigkeit der Geheimhaltung (ihre Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit) zu prüfen und, wenn es die Geheimhaltung für rechtswidrig hält, mit eigener Entscheidung zu ermöglichen, dass die betroffene Person und ihr Vertreter von allen Daten, auf die sich die Stellungnahme und die Entscheidung der Verwaltungsbehörden stützen, Kenntnis erhalten und diese verwenden, oder, wenn es die Geheimhaltung für rechtmäßig hält, mit eigener Entscheidung sicherzustellen, dass die betroffene Person in dem sie betreffenden ausländerrechtlichen Verfahren zumindest vom wesentlichen Inhalt der vertraulichen Daten Kenntnis erhalten und diesen verwenden kann?
5. Ist Art. 20 AEUV in Verbindung mit den Art. 7 und 24, Art. 51 Abs. 1 und Art. 52 Abs. 1 der Charta dahin auszulegen, dass er einer Regelung eines Mitgliedstaats entgegensteht, nach der eine ausländerrechtliche Entscheidung, mit der der Entzug einer zuvor erteilten langfristigen Aufenthaltsberechtigung angeordnet oder ein Antrag auf Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis beschieden wird, aufgrund einer Entscheidung ohne Begründung erfolgt,
a)
die sich ausschließlich auf eine automatische Bezugnahme auf eine verbindliche, ebenfalls nicht begründete, die Gefährdung oder Verletzung der nationalen Sicherheit, der öffentlichen Sicherheit oder der öffentlichen Ordnung feststellende fachbehördliche Stellungnahme, die keine Ausnahme zulässt, stützt, und
b)
die daher ohne gründliche Prüfung des Vorliegens von Gründen der nationalen Sicherheit, der öffentlichen Sicherheit oder der öffentlichen Ordnung im konkreten Fall und ohne Berücksichtigung der individuellen Umstände und der Erfordernisse der Erforderlichkeit und Angemessenheit erlassen wurde?
36 Wegen des zwischen den Rechtssachen C‑420/22 und C‑528/22 bestehenden Zusammenhangs sind sie zu gemeinsamem Urteil zu verbinden.
Zur Zuständigkeit des Gerichtshofs und zur Zulässigkeit der Vorabentscheidungsersuchen
37 Ohne ausdrücklich die Zuständigkeit des Gerichtshofs oder die Zulässigkeit der Vorabentscheidungsersuchen in Frage zu stellen, macht die ungarische Regierung geltend, dass die Richtlinie 2003/109 nicht auf den Ausgangsrechtsstreit in der Rechtssache C‑420/22 anwendbar sei und Art. 20 AEUV auf keines der Ausgangsverfahren anwendbar sei, so dass auch die Charta auf diese Rechtsstreitigkeiten nicht anwendbar sei.
38 Was erstens die Anwendbarkeit der Richtlinie 2003/109 auf den Ausgangsrechtsstreit in der Rechtssache C‑420/22 betrifft, macht die ungarische Regierung geltend, NW habe über einen Aufenthaltstitel auf der Grundlage einer nationalen Regelung verfügt, die nicht die Umsetzung dieser Richtlinie bezwecke und die Erteilung eines solchen Aufenthaltstitels vorsehe, ohne dass alle in dieser Richtlinie genannten Voraussetzungen erfüllt seien.
39 Hierzu ist festzustellen, dass sich das vorlegende Gericht in der betreffenden Vorlageentscheidung zwar auf die Prämisse gestützt hat, dass die Richtlinie 2003/109 auf diesen Rechtsstreit anwendbar sei. In dem in Rn. 25 des vorliegenden Urteils genannten Beschluss vom 8. August 2022 hat das vorlegende Gericht jedoch in Betracht gezogen, dass diese Prämisse falsch sein könnte, und den Gerichtshof für den Fall, dass er der Ansicht sein sollte, dass dies tatsächlich der Fall sei, ersucht, die Vorlagefragen auf der Grundlage von Art. 20 AEUV zu beantworten.
40 In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof bereits entschieden hat, dass in der mit der Richtlinie 2003/109 geschaffenen Regelung klar festgelegt ist, dass die Erlangung der Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten nach dieser Richtlinie einem besonderen Verfahren unterliegt und von der Erfüllung der in Kapitel II der Richtlinie angegebenen Voraussetzungen abhängt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 17. Juli 2014, Tahir, C‑469/13, EU:C:2014:2094, Rn. 27 und die dort angeführte Rechtsprechung).
41 So erteilen nach Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2003/109 die Mitgliedstaaten Drittstaatsangehörigen, die sich in den letzten fünf Jahren ununterbrochen rechtmäßig in ihrem Hoheitsgebiet aufgehalten haben, die Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten. Die Erlangung dieser Rechtsstellung vollzieht sich indes nicht automatisch. Gemäß Art. 7 Abs. 1 dieser Richtlinie hat der betreffende Drittstaatsangehörige hierzu nämlich bei den zuständigen Behörden des Mitgliedstaats, in dem er sich aufhält, einen Antrag einzureichen, dem Unterlagen beizufügen sind, aus denen hervorgeht, dass er die Voraussetzungen der Art. 4 und 5 dieser Richtlinie erfüllt (Urteil vom 20. Januar 2022, Landeshauptmann von Wien [Verlust der Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten], C‑432/20, EU:C:2022:39, Rn. 24 und die dort angeführte Rechtsprechung).
42 Daher sind die Vorschriften über den Entzug der Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten in den Art. 9 und 10 der Richtlinie 2003/109 auf eine Entscheidung, mit der ein unbefristeter Aufenthaltstitel entzogen wird, nur insoweit anwendbar, als der betreffende Drittstaatsangehörige diese Rechtsstellung auf der Grundlage dieser Richtlinie erworben hat.
43 Wenn einem Drittstaatsangehörigen ein dauerhafter oder unbefristeter Aufenthaltstitel unter günstigeren als den in der Richtlinie 2003/109 festgelegten Voraussetzungen erteilt wurde, wie es Art. 13 dieser Richtlinie erlaubt, richtet sich der Entzug dieses Aufenthaltstitels mithin nicht nach den Bestimmungen dieser Richtlinie.
44 Im vorliegenden Fall geht aus der Antwort des vorlegenden Gerichts auf ein Ersuchen des Gerichtshofs um Klarstellung hervor, dass der dauerhafte Aufenthaltstitel, auf den sich der Ausgangsrechtsstreit in der Rechtssache C‑420/22 bezieht, NW nicht auf der Grundlage der ungarischen Regelung zur Umsetzung der Richtlinie 2003/109, sondern auf der Grundlage einer anderen ungarischen Regelung erteilt wurde, und dass NW nicht die Erteilung eines Aufenthaltstitels auf der Grundlage dieser erstgenannten Regelung beantragt hat.
45 Daher ist davon auszugehen, dass der Entzug des Aufenthaltstitels, der Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits in der Rechtssache C‑420/22 ist, nicht in den Anwendungsbereich der Richtlinie 2003/109 fällt.
46 Diese Feststellung wird im Übrigen durch das Vorbringen von NW in der mündlichen Verhandlung bestätigt, dass er am 22. Juni 2023 einen auf diese Richtlinie gestützten Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels gestellt habe, über den die zuständige Behörde noch nicht entschieden habe.
47 Daher ist das Vorabentscheidungsersuchen in der Rechtssache C‑420/22 unzulässig, soweit es die Richtlinie 2003/109 betrifft.
48 Was zweitens die Anwendbarkeit von Art. 20 AEUV auf die Ausgangsrechtsstreitigkeiten betrifft, macht die ungarische Regierung zunächst geltend, dass das vorlegende Gericht in der Rechtssache C‑420/22 seine Befugnisse überschritten habe, indem es von Amts wegen eine auf einen Verstoß gegen Art. 20 AEUV gestützte Argumentation geprüft habe. Ferner bestehe in der Rechtssache C‑528/22 kein Abhängigkeitsverhältnis zwischen PQ und seinen ungarischen Familienangehörigen, während die Anwendbarkeit des Art. 20 AEUV das Bestehen einer solchen Verbindung voraussetze. Schließlich macht die ungarische Regierung in beiden Rechtssachen geltend, dass die Anwendung von Art. 20 AEUV ausgeschlossen werden müsse, da es zum einen um Bescheide gehe, die keine Verpflichtung zum Verlassen des ungarischen Hoheitsgebiets mit sich brächten, und zum anderen weder NW noch PQ sich vor den zuständigen ungarischen Behörden auf diesen Artikel berufen hätten.
49 Da es nicht Sache des Gerichtshofs ist, zu prüfen, ob die Vorlageentscheidung im Einklang mit den nationalen Vorschriften über die Gerichtsorganisation und das gerichtliche Verfahren ergangen ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 10. Dezember 2018, Wightman u. a., C‑621/18, EU:C:2018:999, Rn. 30 und die dort angeführte Rechtsprechung), ist insoweit zunächst festzustellen, dass der Umstand, dass das vorlegende Gericht womöglich die ihm durch das ungarische Recht verliehenen Befugnisse überschritten hat, indem es von Amts wegen eine auf einen Verstoß gegen Art. 20 AEUV gestützte Argumentation geprüft habe, selbst wenn dies erwiesen wäre, nicht geeignet wäre, die Unzulässigkeit des Vorabentscheidungsersuchens in der Rechtssache C‑420/22, soweit es die Auslegung von Art. 20 AEUV betrifft, zu begründen.
50 Sodann steht die Behauptung, dass zwischen PQ und seinen ungarischen Familienangehörigen kein Abhängigkeitsverhältnis bestehe, in direktem Widerspruch zu den Feststellungen des vorlegenden Gerichts, von denen der Gerichtshof nicht abweichen kann.
51 Im Rahmen des Verfahrens nach Art. 267 AEUV, das auf einer klaren Aufgabentrennung zwischen den nationalen Gerichten und dem Gerichtshof beruht, ist nämlich allein das nationale Gericht für die Feststellung und Beurteilung des Sachverhalts des Ausgangsrechtsstreits zuständig (Urteil vom 31. Januar 2023, Puig Gordi u. a., C‑158/21, EU:C:2023:57, Rn. 61 und die dort angeführte Rechtsprechung).
52 Schließlich sind die weiteren Argumente der ungarischen Regierung untrennbar mit den Antworten verbunden, die auf die zusätzliche Frage in der Rechtssache C‑420/22 und auf die erste Frage in der Rechtssache C‑528/22 zu geben sind.
53 Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs ist es im Rahmen der durch Art. 267 AEUV geschaffenen Zusammenarbeit zwischen dem Gerichtshof und den nationalen Gerichten aber allein Sache des nationalen Gerichts, das mit dem Rechtsstreit befasst ist und in dessen Verantwortungsbereich die zu erlassende Entscheidung fällt, anhand der Besonderheiten der Rechtssache sowohl die Erforderlichkeit einer Vorabentscheidung für den Erlass seines Urteils als auch die Erheblichkeit der dem Gerichtshof vorzulegenden Fragen zu beurteilen. Daher ist der Gerichtshof grundsätzlich gehalten, über ihm vorgelegte Fragen zu befinden, wenn diese die Auslegung des Unionsrechts betreffen (Urteil vom 24. Juli 2023, Lin, C‑107/23 PPU, EU:C:2023:606, Rn. 61 und die dort angeführte Rechtsprechung).
54 Infolgedessen spricht eine Vermutung für die Entscheidungserheblichkeit der Fragen zum Unionsrecht. Der Gerichtshof kann die Beantwortung einer Vorlagefrage eines nationalen Gerichts nur ablehnen, wenn die erbetene Auslegung des Unionsrechts offensichtlich in keinem Zusammenhang mit den Gegebenheiten oder dem Gegenstand des Ausgangsverfahrens steht, wenn das Problem hypothetischer Natur ist oder wenn der Gerichtshof nicht über die tatsächlichen und rechtlichen Angaben verfügt, die für eine zweckdienliche Beantwortung der ihm vorgelegten Fragen erforderlich sind (Urteil vom 24. Juli 2023, Lin, C‑107/23 PPU, EU:C:2023:606, Rn. 62 und die dort angeführte Rechtsprechung).
55 In Anbetracht dieser Vermutung der Entscheidungserheblichkeit ist davon auszugehen, dass sich der Einwand der Unanwendbarkeit einer Bestimmung des Unionsrechts auf das Ausgangsverfahren, sofern wie hier nicht offensichtlich ist, dass ihre Auslegung oder die Beurteilung ihrer Gültigkeit in keinem Zusammenhang mit den Gegebenheiten oder dem Gegenstand des Ausgangsverfahrens steht, nicht auf die Zulässigkeit des Vorabentscheidungsersuchens auswirkt, sondern den Inhalt der Fragen betrifft (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 21. Dezember 2023, BMW Bank u. a., C‑38/21, C‑47/21 und C‑232/21, EU:C:2023:1014, Rn. 114 und die dort angeführte Rechtsprechung).
56 Nach alledem ist der Gerichtshof für die Beantwortung der Vorabentscheidungsersuchen zuständig. Diese sind zulässig, soweit sie Art. 20 AEUV betreffen.
Zu den Vorlagefragen
Zum ersten Teil der zusätzlichen Frage in der Rechtssache C‑420/22 und zum ersten Teil der ersten Frage in der Rechtssache C‑528/22
57 Mit dem ersten Teil der zusätzlichen Frage in der Rechtssache C‑420/22 und dem ersten Teil der ersten Frage in der Rechtssache C‑528/22, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 20 AEUV dahin auszulegen ist, dass er es den Behörden eines Mitgliedstaats verwehrt, einem Drittstaatsangehörigen, der Familienangehöriger von Unionsbürgern ist, die Staatsangehörige dieses Mitgliedstaats sind und noch nie von ihrer Freizügigkeit Gebrauch gemacht haben, einen Aufenthaltstitel zu entziehen oder zu versagen, ohne zuvor geprüft zu haben, ob zwischen diesem Drittstaatsangehörigen und diesen Unionsbürgern ein Abhängigkeitsverhältnis besteht, das diese Unionsbürger de facto zwingen würde, das Gebiet der Europäischen Union als Ganzes zu verlassen, um diesen Familienangehörigen zu begleiten.
58 Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs steht Art. 20 AEUV nationalen Maßnahmen entgegen, die bewirken, dass den Unionsbürgern der tatsächliche Genuss der Rechte verwehrt wird, die ihnen dieser Status verleiht (Urteil vom 27. April 2023, M. D. [Verbot der Einreise nach Ungarn], C‑528/21, EU:C:2023:341, Rn. 57 und die dort angeführte Rechtsprechung).
59 Die Bestimmungen des AEU-Vertrags über die Unionsbürgerschaft verleihen Drittstaatsangehörigen allerdings keine eigenen Rechte. Die etwaigen Rechte, die die Vertragsbestimmungen über die Unionsbürgerschaft den Drittstaatsangehörigen verleihen, sind nämlich nicht deren eigene Rechte, sondern aus den Rechten des Unionsbürgers abgeleitete. Ihr Zweck und ihre Rechtfertigung beruhen auf der Feststellung, dass ihre Nichtanerkennung den Unionsbürger insbesondere in seiner Freizügigkeit im Unionsgebiet beeinträchtigen könnte (Urteil vom 7. September 2022, Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid [Natur des Aufenthaltsrechts aus Art. 20 AEUV], C‑624/20, EU:C:2022:639, Rn. 51 und die dort angeführte Rechtsprechung).
60 Insoweit hat der Gerichtshof festgestellt, dass es ganz besondere Sachverhalte gibt, in denen einem Drittstaatsangehörigen, der Familienangehöriger eines Unionsbürgers ist, ein Aufenthaltsrecht eingeräumt werden muss, obwohl das für das Aufenthaltsrecht von Drittstaatsangehörigen geltende abgeleitete Unionsrecht nicht anwendbar ist und der betreffende Unionsbürger sein Recht auf Freizügigkeit nicht ausgeübt hat, da sonst die Unionsbürgerschaft ihrer praktischen Wirksamkeit beraubt würde, wenn sich der Unionsbürger infolge der Verweigerung des Aufenthaltsrechts de facto gezwungen sähe, das Gebiet der Union als Ganzes zu verlassen, und ihm dadurch der tatsächliche Genuss des Kernbestands der Rechte, die ihm dieser Status verleiht, verwehrt würde (Urteile vom 27. April 2023, M. D. [Verbot der Einreise nach Ungarn], C‑528/21, EU:C:2023:341, Rn. 58, und vom 22. Juni 2023, Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid [Thailändische Mutter eines niederländischen minderjährigen Kindes], C‑459/20, EU:C:2023:499, Rn. 24 und die dort angeführte Rechtsprechung).
61 Die Weigerung, einem Drittstaatsangehörigen ein Aufenthaltsrecht zu gewähren, kann die praktische Wirksamkeit der Unionsbürgerschaft jedoch nur dann beeinträchtigen, wenn zwischen ihm und dem betroffenen Unionsbürger, der sein Familienangehöriger ist, ein Abhängigkeitsverhältnis besteht, das dazu führen würde, dass der Unionsbürger gezwungen wäre, den betreffenden Drittstaatsangehörigen zu begleiten und das Gebiet der Union als Ganzes zu verlassen (Urteile vom 27. April 2023, M. D. [Verbot der Einreise nach Ungarn], C‑528/21,EU:C:2023:341, Rn. 59, und vom 22. Juni 2023, Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid [Thailändische Mutter eines niederländischen minderjährigen Kindes], C‑459/20, EU:C:2023:499, Rn. 26 und die dort angeführte Rechtsprechung).
62 Das einem Drittstaatsangehörigen nach Art. 20 AEUV in seiner Eigenschaft als Familienangehöriger eines Unionsbürgers zuerkannte Aufenthaltsrecht ist somit gerechtfertigt, weil der Aufenthalt erforderlich ist, damit dieser Unionsbürger den Kernbestand der Rechte, die ihm dieser Status verleiht, wirksam in Anspruch nehmen kann, solange das Abhängigkeitsverhältnis zu diesem Drittstaatsangehörigen fortbesteht (Urteil vom 22. Juni 2023, Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid [Thailändische Mutter eines niederländischen minderjährigen Kindes], C‑459/20, EU:C:2023:499, Rn. 33 und die dort angeführte Rechtsprechung).
63 Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs ist die Zuerkennung eines Aufenthaltsrechts nach Art. 20 AEUV im Hinblick auf die Intensität des Abhängigkeitsverhältnisses zwischen dem betreffenden Drittstaatsangehörigen und dem Unionsbürger, der Familienangehöriger von Ersterem ist, zu beurteilen, wobei bei einer solchen Beurteilung sämtliche Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen sind (Urteil vom 7. September 2022, Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid [Natur des Aufenthaltsrechts aus Art. 20 AEUV], C‑624/20, EU:C:2022:639, Rn. 38 und die dort angeführte Rechtsprechung).
64 In diesem Zusammenhang ist erstens darauf hinzuweisen, dass sich aus dem Vorstehenden ergibt, dass in den in Rn. 60 des vorliegenden Urteils genannten ganz besonderen Sachverhalten Art. 20 AEUV nicht nur der Ausweisung eines Drittstaatsangehörigen entgegensteht, sondern dazu verpflichtet, ihm ein Aufenthaltsrecht zu gewähren.
65 Folglich kann Art. 20 AEUV nicht nur gegen Entscheidungen geltend gemacht werden, mit denen ein Drittstaatsangehöriger verpflichtet wird, das Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats zu verlassen, sondern auch gegen Entscheidungen, mit denen einem Drittstaatsangehörigen ein Aufenthaltstitel entzogen oder versagt wird (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 13. September 2016, Rendón Marín, C‑165/14, EU:C:2016:675, Rn. 78; vom 10. Mai 2017, Chavez-Vilchez u. a., C‑133/15, EU:C:2017:354, Rn. 65, und vom 22. Juni 2023, Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid [Thailändische Mutter eines niederländischen minderjährigen Kindes], C‑459/20, EU:C:2023:499, Rn. 22).
66 Da ein Drittstaatsangehöriger die Gewährung eines abgeleiteten Aufenthaltsrechts nach Art. 20 AEUV nur dann beanspruchen kann, wenn ohne ein solches Aufenthaltsrecht sowohl der Drittstaatsangehörige als auch der Unionsbürger als Familienangehöriger aufgrund des zwischen ihnen bestehenden Abhängigkeitsverhältnisses gezwungen wäre, das Gebiet der Union zu verlassen, kann die Gewährung dieses Aufenthaltsrechts jedoch nur dann in Betracht gezogen werden, wenn der Drittstaatsangehörige, der zur Familie eines Unionsbürgers gehört, nicht die Voraussetzungen erfüllt, um auf der Grundlage anderer Bestimmungen und insbesondere nach dem geltenden nationalen Recht ein Aufenthaltsrecht in dem Mitgliedstaat zu erhalten, dessen Staatsangehörigkeit der Unionsbürger besitzt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 5. Mai 2022, Subdelegación del Gobierno en Toledo [Aufenthalt eines Familienangehörigen – Unzureichende Existenzmittel], C‑451/19 und C‑532/19, EU:C:2022:354, Rn. 47 und die dort angeführte Rechtsprechung).
67 Daher reicht zwar der Umstand, dass sich eine Rechtssache auf eine Entscheidung bezieht, die nicht unmittelbar zur Folge hat, dass der betroffene Drittstaatsangehörige verpflichtet ist, das Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats zu verlassen, nicht aus, um die Anwendung von Art. 20 AEUV auszuschließen, doch kann Art. 20 AEUV nicht mit Erfolg geltend gemacht werden, wenn diesem Drittstaatsangehörigen aufgrund einer anderen in diesem Mitgliedstaat anwendbaren Bestimmung ein Aufenthaltsrecht gewährt werden kann.
68 Was zweitens die von den zuständigen nationalen Behörden durchzuführenden Ermittlungen betrifft, die vor dem Erlass von Bescheiden wie den in den Ausgangsverfahren in Rede stehenden durchzuführen sind, so ist es zwar Sache der Mitgliedstaaten, die Modalitäten der Umsetzung des abgeleiteten Aufenthaltsrechts festzulegen, das einem Drittstaatsangehörigen in den ganz besonderen Sachverhalten, die in Rn. 60 des vorliegenden Urteils angeführt sind, nach Art. 20 AEUV zuzuerkennen ist, doch dürfen diese Verfahrensmodalitäten die praktische Wirksamkeit von Art. 20 AEUV nicht beeinträchtigen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 27. Februar 2020, Subdelegación del Gobierno en Ciudad Real [Ehegatte eines Unionsbürgers], C‑836/18, EU:C:2020:119, Rn. 51 und die dort angeführte Rechtsprechung).
69 Der Gerichtshof hat hierzu festgestellt, dass die nationalen Behörden nicht verpflichtet sind, systematisch und von sich aus das Bestehen eines Abhängigkeitsverhältnisses im Sinne von Art. 20 AEUV zu prüfen, da die betroffene Person die Informationen beizubringen hat, anhand deren sich beurteilen lässt, ob die Voraussetzungen für die Anwendung von Art. 20 AEUV erfüllt sind (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 27. Februar 2020, Subdelegación del Gobierno en Ciudad Real [Ehegatte eines Unionsbürgers], C‑836/18, EU:C:2020:119, Rn. 52 und die dort angeführte Rechtsprechung).
70 Um die praktische Wirksamkeit von Art. 20 AEUV zu gewährleisten, obliegt es jedoch den nationalen Behörden, die über das Aufenthaltsrecht eines Drittstaatsangehörigen, der Familienangehöriger eines Unionsbürgers ist, zu entscheiden haben, u. a. auf der Grundlage der Informationen, die der betreffende Drittstaatsangehörige und der betreffende Unionsbürger nach freiem Ermessen beibringen können müssen, und – sofern notwendig – nach Vornahme der erforderlichen Ermittlungen zu beurteilen, ob zwischen diesen beiden Personen ein Abhängigkeitsverhältnis der in Rn. 60 des vorliegenden Urteils beschriebenen Art besteht (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 27. Februar 2020, Subdelegación del Gobierno en Ciudad Real [Ehegatte eines Unionsbürgers], C‑836/18, EU:C:2020:119, Rn. 53, und vom 27. April 2023, M. D. [Verbot der Einreise nach Ungarn], C‑528/21, EU:C:2023:341, Rn. 65).
71 Daher ist festzustellen, dass, wie der Generalanwalt in Nr. 77 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, die nationalen Behörden, wenn sie in Anwendung des geltenden nationalen Rechts beabsichtigen, einem Drittstaatsangehörigen, dessen familiäre Bindungen zu einem Unionsbürger ihnen bekannt sind, einen Aufenthaltstitel zu entziehen oder zu versagen, sich – gegebenenfalls durch Einholung der hierzu erforderlichen Informationen – vergewissern müssen, dass der von ihnen zu erlassende Bescheid nicht dazu führt, dass sich der Unionsbürger de facto gezwungen sieht, das Gebiet der Union als Ganzes zu verlassen.
72 Zu diesem Zweck müssen diese Behörden insbesondere prüfen, ob zwischen den betroffenen Personen ein Abhängigkeitsverhältnis der in Rn. 60 des vorliegenden Urteils beschriebenen Art besteht.
73 In Anbetracht des in Rn. 70 des vorliegenden Urteils angeführten Grundsatzes kann, wenn diesen Behörden Informationen über das Bestehen familiärer Bindungen zwischen dem betroffenen Drittstaatsangehörigen und einem Unionsbürger vorliegen, der Umstand, dass dieser Drittstaatsangehörige keinen ausdrücklich auf Art. 20 AEUV gestützten Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels gestellt hat und dass er sich vor diesen Behörden nicht speziell auf diesen Artikel berufen hat, diese Behörden nicht von der Durchführung einer solchen Prüfung entbinden.
74 Nach alledem ist auf den ersten Teil der zusätzlichen Frage in der Rechtssache C‑420/22 und auf den ersten Teil der ersten Frage in der Rechtssache C‑528/22 zu antworten, dass Art. 20 AEUV dahin auszulegen ist, dass er es den Behörden eines Mitgliedstaats verwehrt, einem Drittstaatsangehörigen, der Familienangehöriger von Unionsbürgern ist, die Staatsangehörige dieses Mitgliedstaats sind und noch nie von ihrer Freizügigkeit Gebrauch gemacht haben, einen Aufenthaltstitel zu entziehen oder zu versagen, ohne zuvor geprüft zu haben, ob zwischen diesem Drittstaatsangehörigen und diesen Unionsbürgern ein Abhängigkeitsverhältnis besteht, das diese Unionsbürger de facto zwingen würde, das Gebiet der Union als Ganzes zu verlassen, um diesen Familienangehörigen zu begleiten, wenn zum einen diesem Drittstaatsangehörigen aufgrund einer anderen in diesem Mitgliedstaat anwendbaren Bestimmung kein Aufenthaltsrecht gewährt werden kann und zum anderen diesen Behörden Informationen über das Bestehen familiärer Bindungen zwischen diesem Drittstaatsangehörigen und diesen Unionsbürgern vorliegen.
Zum zweiten Teil der zusätzlichen Frage und zur vierten Frage in der Rechtssache C‑420/22 sowie zum zweiten Teil der ersten Frage und zur fünften Frage in der Rechtssache C‑528/22
75 Mit dem zweiten Teil der zusätzlichen Frage und der vierten Frage in der Rechtssache C‑420/22 sowie dem zweiten Teil der ersten Frage und der fünften Frage in der Rechtssache C‑528/22, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 20 AEUV dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung entgegensteht, die die nationalen Behörden verpflichtet, aus einem Grund der nationalen Sicherheit einem Drittstaatsangehörigen, der nach Art. 20 AEUV Anspruch auf ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht haben kann, allein auf der Grundlage einer nicht begründeten verbindlichen Stellungnahme einer mit Aufgaben der nationalen Sicherheit betrauten Fachbehörde einen Aufenthaltstitel zu entziehen oder zu versagen, ohne alle individuellen Umstände und die Verhältnismäßigkeit dieser Entscheidung über den Entzug oder die Versagung gründlich zu prüfen.
76 Erstens ergibt sich aus der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs, dass die Mitgliedstaaten unter bestimmten Voraussetzungen bei einem Familienangehörigen eines Unionsbürgers im Sinne von Rn. 60 des vorliegenden Urteils von dem sich aus Art. 20 AEUV ergebenden abgeleiteten Aufenthaltsrecht abweichen können, um die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung oder den Schutz der öffentlichen Sicherheit zu gewährleisten. Dies kann der Fall sein, wenn der Drittstaatsangehörige eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr für die öffentliche Ordnung oder die öffentliche oder nationale Sicherheit darstellt (Urteil vom 27. April 2023, M. D. [Verbot der Einreise nach Ungarn], C‑528/21, EU:C:2023:341, Rn. 67 und die dort angeführte Rechtsprechung).
77 Eine auf diesen Grund gestützte Versagung des Aufenthaltsrechts kann sich jedoch nur aus einer konkreten Beurteilung sämtlicher relevanter Umstände des Einzelfalls ergeben und muss im Licht des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit, der Grundrechte, deren Beachtung der Gerichtshof sichert, und gegebenenfalls des Wohls des Kindes des betroffenen Drittstaatsangehörigen ergehen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 5. Mai 2022, Subdelegación del Gobierno en Toledo [Aufenthalt eines Familienangehörigen – Unzureichende Existenzmittel], C‑451/19 und C‑532/19, EU:C:2022:354, Rn. 53 und die dort angeführte Rechtsprechung).
78 Das Unionsrecht bestimmt zwar nicht, welche Behörde diese Beurteilung, die integraler Bestandteil der nach Art. 20 AEUV vorzunehmenden Prüfung ist, durchzuführen hat, doch kann eine Entscheidung, einem Drittstaatsangehörigen, der nach Art. 20 AEUV Anspruch auf ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht haben kann, einen Aufenthaltstitel zu entziehen oder zu versagen, erst nach einer solchen Beurteilung erlassen werden.
79 Zweitens enthält das Unionsrecht keine Vorschrift, die die konkreten Modalitäten der nach Art. 20 AEUV vorzunehmenden Prüfung genau festlegt, so dass diese nach dem Grundsatz der Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten Sache der innerstaatlichen Rechtsordnung jedes Mitgliedstaats sind, wobei allerdings vorauszusetzen ist, dass diese Modalitäten nicht ungünstiger sein dürfen als diejenigen, die gleichartige innerstaatliche Sachverhalte regeln (Äquivalenzgrundsatz), und dass sie die Ausübung der durch die Rechtsordnung der Union verliehenen Rechte nicht praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren dürfen (Effektivitätsgrundsatz) (vgl. entsprechend Urteil vom 22. September 2022, Országos Idegenrendészeti Főigazgatóság u. a., C‑159/21, EU:C:2022:708, Rn. 43 und die dort angeführte Rechtsprechung).
80 In diesem Zusammenhang ist auch darauf hinzuweisen, dass die Mitgliedstaaten bei der Umsetzung des Unionsrechts zu gewährleisten haben, dass sowohl die aus dem allgemeinen Grundsatz der guten Verwaltung folgenden Anforderungen als auch das in Art. 47 Abs. 1 der Charta verankerte Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf gewahrt werden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 22. September 2022, Országos Idegenrendészeti Főigazgatóság u. a., C‑159/21, EU:C:2022:708, Rn. 35 und 44 und die dort angeführte Rechtsprechung).
81 Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs ist es für die Wirksamkeit der durch Art. 47 Abs. 1 der Charta gewährleisteten gerichtlichen Kontrolle aber erforderlich, dass der Betroffene Kenntnis von den Gründen, auf denen eine ihm gegenüber ergangene Entscheidung beruht, erlangen kann, und zwar entweder durch die Lektüre der Entscheidung selbst oder durch eine auf seinen Antrag hin erfolgte Mitteilung dieser Gründe, unbeschadet der Befugnis des zuständigen Gerichts, von der betreffenden Behörde die Übermittlung dieser Gründe zu verlangen, um dem Betroffenen zu ermöglichen, seine Rechte unter den bestmöglichen Bedingungen zu verteidigen und in Kenntnis aller Umstände zu entscheiden, ob es für ihn von Nutzen ist, das zuständige Gericht anzurufen, und um dieses vollständig in die Lage zu versetzen, die Kontrolle der Rechtmäßigkeit der fraglichen nationalen Entscheidung auszuüben (Urteil vom 24. November 2020, Minister van Buitenlandse Zaken, C‑225/19 und C‑226/19, EU:C:2020:951, Rn. 43 und die dort angeführte Rechtsprechung).
82 Aus den vorstehenden Erwägungen und insbesondere denjenigen, die sich auf das Erfordernis der Berücksichtigung aller für die Anwendung von Art. 20 AEUV relevanten Umstände sowie auf die Pflicht beziehen, Entscheidungen, die die Anwendung von Art. 20 AEUV betreffen, zu begründen, ergibt sich, dass eine für Aufenthaltsfragen zuständige nationale Behörde sich nicht darauf beschränken darf, eine nicht begründete Entscheidung einer anderen nationalen Behörde umzusetzen, die diesem Erfordernis nicht nachgekommen ist, und dass sie nicht allein auf dieser Grundlage die Entscheidung treffen darf, aus einem Grund der nationalen Sicherheit einem Drittstaatsangehörigen, der nach Art. 20 AEUV Anspruch auf ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht haben kann, einen Aufenthaltstitel zu entziehen oder zu versagen (vgl. entsprechend Urteil vom 22. September 2022, Országos Idegenrendészeti Főigazgatóság u. a., C‑159/21, EU:C:2022:708, Rn. 79).
83 Diese Feststellung schließt keineswegs aus, dass ein Teil der Informationen, die die Behörde verwendet, die für die Durchführung der in Rn. 77 des vorliegenden Urteils genannten Beurteilung zuständig ist, aus eigener Initiative oder auf Ersuchen dieser Behörde von mit speziellen Aufgaben der nationalen Sicherheit betrauten Behörden erteilt werden kann (vgl. entsprechend Urteil vom 22. September 2022, Országos Idegenrendészeti Főigazgatóság u. a., C‑159/21, EU:C:2022:708, Rn. 82).
84 Ebenso wenig verbietet diese Feststellung einem Mitgliedstaat, einer mit Aufgaben der nationalen Sicherheit betrauten Fachbehörde die Befugnis zu verleihen, eine Stellungnahme abzugeben, mit der verbindlich die Verpflichtung auferlegt wird, einen solchen Aufenthaltstitel zu entziehen oder zu versagen, sofern diese Behörde der Begründungspflicht nachkommt und eine solche Stellungnahme erst abgeben kann, nachdem sie alle in Rn. 77 des vorliegenden Urteils genannten relevanten Umstände gebührend berücksichtigt hat.
85 Daher ist auf den zweiten Teil der zusätzlichen Frage und auf die vierte Frage in der Rechtssache C‑420/22 sowie auf den zweiten Teil der ersten Frage und die fünfte Frage in der Rechtssache C‑528/22 zu antworten, dass Art. 20 AEUV in Verbindung mit Art. 47 der Charta dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung entgegensteht, die die nationalen Behörden verpflichtet, aus einem Grund der nationalen Sicherheit einem Drittstaatsangehörigen, der nach Art. 20 AEUV Anspruch auf ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht haben kann, allein auf der Grundlage einer nicht begründeten verbindlichen Stellungnahme einer mit Aufgaben der nationalen Sicherheit betrauten Fachbehörde einen Aufenthaltstitel zu entziehen oder zu versagen, ohne alle individuellen Umstände und die Verhältnismäßigkeit dieser Entscheidung über den Entzug oder die Versagung gründlich zu prüfen.
Zur ersten und zur zweiten Frage in der Rechtssache C‑420/22 sowie zur zweiten und zur dritten Frage in der Rechtssache C‑528/22
86 Mit der ersten und der zweiten Frage in der Rechtssache C‑420/22 sowie der zweiten und der dritten Frage in der Rechtssache C‑528/22, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob der allgemeine Grundsatz der guten Verwaltung und Art. 47 der Charta in Verbindung mit Art. 20 AEUV dahin auszulegen sind, dass sie einer nationalen Regelung entgegenstehen, die vorsieht, dass in Fällen, in denen eine Entscheidung über den Entzug oder die Versagung eines Aufenthaltstitels, die in Bezug auf einen Drittstaatsangehörigen erlassen wird, der nach Art. 20 AEUV Anspruch auf ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht haben kann, auf Informationen beruht, deren Offenlegung die nationale Sicherheit des betreffenden Mitgliedstaats gefährden würde, dieser Drittstaatsangehörige oder sein Vertreter erst Zugang zu diesen Informationen erhalten können, nachdem sie eine entsprechende Genehmigung erhalten haben, ihnen nicht einmal der wesentliche Inhalt der Gründe mitgeteilt wird, auf denen solche Entscheidungen beruhen, und sie die Informationen, zu denen sie Zugang hätten haben können, jedenfalls nicht für Verwaltungs- oder Gerichtsverfahren verwenden können.
87 Vorab ist, soweit das Unionsrecht keine besonderen Vorschriften über die Modalitäten des Zugangs zu den Akten eines Verfahrens enthält, das sich auf das Aufenthaltsrecht nach Art. 20 AEUV bezieht, festzustellen, dass die konkreten Modalitäten der zu diesem Zweck eingerichteten Verfahren innerhalb der Grenzen, die sich aus den in den Rn. 79 und 80 des vorliegenden Urteils angeführten Grundsätzen und dem dort angeführten Recht ergeben, Sache der Rechtsordnung jedes Mitgliedstaats sind.
88 Daraus folgt insbesondere, dass die Achtung der Verteidigungsrechte der betroffenen Person sowohl im Verwaltungsverfahren als auch in einem etwaigen gerichtlichen Verfahren gewährleistet sein muss (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 22. September 2022, Országos Idegenrendészeti Főigazgatóság u. a., C‑159/21, EU:C:2022:708, Rn. 44 und die dort angeführte Rechtsprechung).
89 Was erstens das Verwaltungsverfahren betrifft, so ergibt sich insoweit aus der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs, dass Achtung der Verteidigungsrechte bedeutet, dass der Adressat einer Entscheidung, die seine Interessen spürbar beeinträchtigt, von den Verwaltungen der Mitgliedstaaten, wenn sie Maßnahmen treffen, die in den Geltungsbereich des Unionsrechts fallen, in die Lage versetzt werden muss, seinen Standpunkt zu den Gesichtspunkten, auf die die Verwaltung ihre Entscheidung zu stützen beabsichtigt, sachdienlich vorzutragen (Urteil vom 22. September 2022, Országos Idegenrendészeti Főigazgatóság u. a., C‑159/21, EU:C:2022:708, Rn. 45 und die dort angeführte Rechtsprechung).
90 Diese Anforderung zielt im Rahmen eines Verfahrens, das sich auf die Anwendung von Art. 20 AEUV bezieht, insbesondere darauf ab, der zuständigen Behörde zu ermöglichen, ihrer in Rn. 85 des vorliegenden Urteils genannten Verpflichtung nachzukommen und dabei in voller Kenntnis der Sache eine individuelle Prüfung sämtlicher maßgebender Umstände vorzunehmen, was voraussetzt, dass der Adressat der Entscheidung einen Fehler berichtigen oder Umstände, die seine persönliche Situation betreffen, vortragen kann, die für oder gegen den Erlass oder für oder gegen einen bestimmten Inhalt der Entscheidung sprechen (vgl. entsprechend Urteil vom 22. September 2022, Országos Idegenrendészeti Főigazgatóság u. a., C‑159/21, EU:C:2022:708, Rn. 46 und die dort angeführte Rechtsprechung).
91 Da die genannte Anforderung notwendigerweise voraussetzt, dass diesem Adressaten, gegebenenfalls über einen Rechtsberater, eine konkrete Möglichkeit geboten wird, Kenntnis von den Gesichtspunkten zu erlangen, auf die die Verwaltung ihre Entscheidung zu stützen beabsichtigt, geht mit der Achtung der Verteidigungsrechte das Recht auf Einsicht in den gesamten Akteninhalt im Laufe des Verwaltungsverfahrens einher (vgl. entsprechend Urteil vom 22. September 2022, Országos Idegenrendészeti Főigazgatóság u. a., C‑159/21, EU:C:2022:708, Rn. 47 und die dort angeführte Rechtsprechung).
92 Was zweitens das gerichtliche Verfahren betrifft, so setzt die Achtung der Verteidigungsrechte voraus, dass der Kläger nicht nur Zugang zu den Gründen der ihm gegenüber ergangenen Entscheidung, sondern auch Einsicht in den gesamten Akteninhalt erhalten kann, auf den sich die Verwaltung gestützt hat, um dazu tatsächlich Stellung nehmen zu können (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 22. September 2022, Országos Idegenrendészeti Főigazgatóság u. a., C‑159/21, EU:C:2022:708, Rn. 48 und die dort angeführte Rechtsprechung).
93 Ferner besagt der Grundsatz des kontradiktorischen Verfahrens, der Bestandteil der Verteidigungsrechte nach Art. 47 der Charta ist, dass die Verfahrensbeteiligten das Recht haben müssen, von allen Schriftstücken oder Erklärungen, die dem Gericht vorgelegt werden, um seine Entscheidung zu beeinflussen und sie zu erörtern, Kenntnis zu erhalten und dazu Stellung zu nehmen, was voraussetzt, dass die Person, der gegenüber eine Aufenthaltsentscheidung, die in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fällt, ergeht, von den sie betreffenden Aktenstücken Kenntnis nehmen können muss, die dem Gericht, das über den gegen diese Entscheidung eingelegten Rechtsbehelf zu befinden hat, zur Verfügung stehen (vgl. entsprechend Urteil vom 22. September 2022, Országos Idegenrendészeti Főigazgatóság u. a., C‑159/21, EU:C:2022:708, Rn. 49 und die dort angeführte Rechtsprechung).
94 Es ist jedoch darauf hinzuweisen, dass die Verteidigungsrechte nicht schrankenlos gelten und dass das damit einhergehende Recht auf Akteneinsicht eingeschränkt werden kann: Dabei sind der allgemeine Grundsatz der guten Verwaltung und das Recht der betroffenen Person auf einen wirksamen Rechtsbehelf gegen diejenigen Interessen abzuwägen, die als Rechtfertigung dafür angeführt werden, dass ein Aktenbestandteil gegenüber dieser Person nicht offengelegt wird, insbesondere wenn die Interessen die nationale Sicherheit betreffen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 22. September 2022, Országos Idegenrendészeti Főigazgatóság u. a., C‑159/21, EU:C:2022:708, Rn. 50 und die dort angeführte Rechtsprechung).
95 Diese Abwägung darf jedoch angesichts der gebotenen Beachtung von Art. 47 der Charta nicht dazu führen, dass den Verteidigungsrechten der betroffenen Person jede Wirksamkeit genommen und ihr aus Art. 47 der Charta erwachsendes Recht auf einen Rechtsbehelf insbesondere dadurch ausgehöhlt wird, dass ihr oder gegebenenfalls ihrem Vertreter nicht zumindest der wesentliche Inhalt der Gründe mitgeteilt wird, auf denen die ihr gegenüber ergangene Entscheidung beruht (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 22. September 2022, Országos Idegenrendészeti Főigazgatóság u. a., C‑159/21, EU:C:2022:708, Rn. 51 und die dort angeführte Rechtsprechung).
96 Die genannte Abwägung kann indessen dazu führen, dass bestimmte Aktenbestandteile der betroffenen Person nicht mitgeteilt werden, wenn die Offenlegung dieser Bestandteile geeignet ist, die nationale Sicherheit des betreffenden Mitgliedstaats insoweit unmittelbar und in besonderer Weise zu beeinträchtigen, als sie insbesondere das Leben, die Gesundheit oder die Freiheit von Personen gefährden oder die von den mit Aufgaben der nationalen Sicherheit betrauten Fachbehörden speziell angewandten Untersuchungsmethoden enthüllen und damit die zukünftige Erfüllung der Aufgaben dieser Behörden ernsthaft behindern oder sogar unmöglich machen kann (Urteil vom 22. September 2022, Országos Idegenrendészeti Főigazgatóság u. a., C‑159/21, EU:C:2022:708, Rn. 52 und die dort angeführte Rechtsprechung).
97 Auch wenn die Mitgliedstaaten, namentlich dann, wenn die nationale Sicherheit dies verlangt, der betroffenen Person im Rahmen eines sich auf Art. 20 AEUV beziehenden Verfahrens keinen direkten Zugang zu ihrer gesamten Akte zu gewähren brauchen, können sie somit nicht ohne Verstoß gegen den Effektivitätsgrundsatz, den allgemeinen Grundsatz der guten Verwaltung und das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf diese Person in eine Lage versetzen, in der weder sie noch ihr Vertreter es vermöchten, sich – gegebenenfalls im Rahmen eines speziellen Verfahrens, das der Wahrung der nationalen Sicherheit dient – in zweckdienlicher Weise Kenntnis vom wesentlichen Inhalt entscheidender Bestandteile dieser Akte zu verschaffen (vgl. entsprechend Urteil vom 22. September 2022, Országos Idegenrendészeti Főigazgatóság u. a., C‑159/21, EU:C:2022:708, Rn. 53).
98 Zum einen ist in diesem Zusammenhang festzustellen, dass, wenn die Offenlegung von zur Akte gereichten Informationen aus einem Grund der nationalen Sicherheit beschränkt wurde, die Achtung der Verteidigungsrechte der betroffenen Person nicht hinreichend dadurch gewährleistet wird, dass diese Person unter bestimmten Voraussetzungen eine Genehmigung für den Zugang zu diesen Informationen erhalten kann, die mit einem vollständigen Verbot der Verwendung der so erlangten Informationen für die Zwecke des Verwaltungsverfahrens oder eines etwaigen gerichtlichen Verfahrens verbunden ist (vgl. entsprechend Urteil vom 22. September 2022, Országos Idegenrendészeti Főigazgatóság u. a., C‑159/21, EU:C:2022:708, Rn. 54).
99 Zum anderen ist, da sich aus den Vorlageentscheidungen ergibt, dass die in den Ausgangsverfahren in Rede stehende Regelung auf der Erwägung beruht, dass die Verteidigungsrechte der betroffenen Person durch die Möglichkeit des zuständigen Gerichts, Einsicht in die Akte zu nehmen, hinreichend gewährleistet sind, darauf hinzuweisen, dass eine solche Möglichkeit nicht an die Stelle dessen treten kann, dass die betroffene Person oder ihr Vertreter zu den in dieser Akte befindlichen Informationen Zugang haben (vgl. entsprechend Urteil vom 22. September 2022, Országos Idegenrendészeti Főigazgatóság u. a., C‑159/21, EU:C:2022:708, Rn. 57).
100 Die Achtung der Verteidigungsrechte im gerichtlichen Verfahren bedeutet nämlich, dass die betroffene Person, gegebenenfalls über einen Rechtsberater, ihre Interessen geltend machen kann, indem sie ihren Standpunkt hierzu zum Ausdruck bringt (vgl. entsprechend Urteil vom 22. September 2022, Országos Idegenrendészeti Főigazgatóság u. a., C‑159/21, EU:C:2022:708, Rn. 58).
101 Nach alledem ist auf die erste und die zweite Frage in der Rechtssache C‑420/22 sowie auf die zweite und die dritte Frage in der Rechtssache C‑528/22 zu antworten, dass der allgemeine Grundsatz der guten Verwaltung und Art. 47 der Charta in Verbindung mit Art. 20 AEUV dahin auszulegen sind, dass sie einer nationalen Regelung entgegenstehen, die vorsieht, dass in Fällen, in denen eine Entscheidung über den Entzug oder die Versagung eines Aufenthaltstitels, die in Bezug auf einen Drittstaatsangehörigen erlassen wird, der nach Art. 20 AEUV Anspruch auf ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht haben kann, auf Informationen beruht, deren Offenlegung die nationale Sicherheit des betreffenden Mitgliedstaats gefährden würde, dieser Drittstaatsangehörige oder sein Vertreter erst Zugang zu diesen Informationen erhalten, nachdem sie eine entsprechende Genehmigung erhalten haben, ihnen nicht einmal der wesentliche Inhalt der Gründe mitgeteilt wird, auf denen solche Entscheidungen beruhen, und sie die Informationen, zu denen sie Zugang hätten haben können, jedenfalls nicht für Verwaltungs- oder Gerichtsverfahren verwenden können.
Zur dritten Frage in der Rechtssache C‑420/22 und zur vierten Frage in der Rechtssache C‑528/22
102 Mit der dritten Frage in der Rechtssache C‑420/22 und der vierten Frage in der Rechtssache C‑528/22, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 47 der Charta in Verbindung mit Art. 20 AEUV dahin auszulegen ist, dass er verlangt, dass ein Gericht, das die Rechtmäßigkeit einer auf als Verschlusssache eingestuften Informationen gestützten Aufenthaltsentscheidung nach Art. 20 AEUV zu kontrollieren hat, befugt ist, die Rechtmäßigkeit der Einstufung dieser Informationen als Verschlusssache zu prüfen und der betroffenen Person Zugang zu all diesen Informationen, wenn es der Ansicht ist, dass diese Einstufung rechtswidrig ist, oder zum wesentlichen Inhalt dieser Informationen zu gewähren, wenn es diese Einstufung für rechtmäßig hält.
103 Es ist festzustellen, dass die Vorschriften über die Einstufung von Informationen als Verschlusssache und die Aufhebung dieser Einstufung nach nationalem Recht nicht Gegenstand von Vorschriften sind, die durch einen Rechtsakt der Union harmonisiert wurden.
104 Ebenso wenig enthält das Unionsrecht Bestimmungen, die genau festlegen, über welche Befugnisse das nationale Gericht verfügen muss, das für die Prüfung einer Klage gegen eine Entscheidung zuständig ist, mit der über das Aufenthaltsrecht nach Art. 20 AEUV befunden wurde.
105 Gleichwohl müssen diese Befugnisse, wie sich aus den Rn. 79 und 80 des vorliegenden Urteils ergibt, durch das nationale Recht insbesondere unter Beachtung von Art. 47 der Charta festgelegt werden.
106 Der Gerichtshof hat jedoch entschieden, dass es gegen das Grundrecht auf einen wirksamen gerichtlichen Rechtsbehelf verstoßen würde, wenn eine gerichtliche Entscheidung auf Tatsachen und Dokumente gegründet würde, von denen die Parteien – oder eine von ihnen – keine Kenntnis nehmen und zu denen sie daher auch nicht Stellung nehmen konnten (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 4. Juni 2013, ZZ, C‑300/11, EU:C:2013:363, Rn. 56).
107 Um zu verhindern, dass dem Betroffenen aus Gründen der Sicherheit des Staates in Ausnahmefällen die genauen und umfassenden Gründe mitgeteilt werden, die der Aufenthaltsentscheidung zugrunde liegen, steht es den Mitgliedstaaten jedoch frei, verfahrensrechtliche Techniken und Regeln vorzusehen, die es ermöglichen, die legitimen Erwägungen der Sicherheit des Staates in Bezug auf die Art und die Quellen der Informationen, die beim Erlass der betreffenden Entscheidung berücksichtigt worden sind, auf der einen und das Erfordernis, dem Einzelnen seine Verfahrensrechte wie das Recht, gehört zu werden, und den Grundsatz des kontradiktorischen Verfahrens hinreichend zu gewährleisten, auf der anderen Seite zum Ausgleich zu bringen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 4. Juni 2013, ZZ, C‑300/11, EU:C:2013:363, Rn. 57).
108 Der Gerichtshof hat ein System als mit Art. 47 der Charta vereinbar angesehen, in dem das zuständige Gericht sowohl von allen Gründen und den entsprechenden Beweisen, auf deren Grundlage die Entscheidung getroffen wurde, Kenntnis nehmen, aber auch prüfen kann, ob die von der nationalen Behörde im Hinblick auf die Sicherheit des Staates angeführten Gründe einer vollständigen Mitteilung dieser Gründe und Beweise tatsächlich entgegenstehen oder nicht (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 4. Juni 2013, ZZ, C‑300/11, EU:C:2013:363, Rn. 58 und 59).
109 Zur gerichtlichen Kontrolle dieser Gründe hat der Gerichtshof die Auffassung vertreten, dass es zur Gewährleistung der Beachtung von Art. 47 der Charta ausreichend ist, dass das zuständige Gericht, falls es diese Gründe für nicht zutreffend hält, der nationalen Behörde die Möglichkeit einräumen kann, dem Betroffenen die fehlenden Gründe und Beweise mitzuteilen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 4. Juni 2013, ZZ, C‑300/11, EU:C:2013:363, Rn. 63).
110 Um Art. 47 der Charta nachzukommen, muss das zuständige Gericht in einem solchen Fall, wenn die nationale Behörde beschließt, nicht alle Gründe und die entsprechenden Beweise mitzuteilen, die Rechtmäßigkeit der in Rede stehenden Entscheidung allein anhand der mitgeteilten Gründe und Beweise prüfen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 4. Juni 2013, ZZ, C‑300/11, EU:C:2013:363, Rn. 63).
111 Umgekehrt hat der Gerichtshof für den Fall, dass das zuständige Gericht entscheidet, dass die von der nationalen Behörde angeführten Gründe einer vollständigen Mitteilung dieser Gründe und Beweise entgegenstehen, die Auffassung vertreten, dass das zuständige Gericht diese Gründe und Beweise berücksichtigen kann, indem es die maßgeblichen Erfordernisse in angemessener Weise zum Ausgleich bringt, und ausgeführt, dass dieses Gericht, wenn es so zu verfahren beabsichtigt, dafür sorgen muss, dass dem Betroffenen der wesentliche Inhalt der Gründe, auf denen die fragliche Entscheidung beruht, in einer Weise mitgeteilt wird, die die erforderliche Geheimhaltung der Beweise gebührend berücksichtigt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 4. Juni 2013, ZZ, C‑300/11, EU:C:2013:363, Rn. 64 bis 68).
112 Der Gerichtshof hat jedoch auch klargestellt, dass das Gericht nach dem nationalen Recht die Konsequenzen aus einer Missachtung dieser Mitteilungspflicht ziehen muss (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 4. Juni 2013, ZZ, C‑300/11, EU:C:2013:363, Rn. 68).
113 Aus dem Vorstehenden ergibt sich zum einen, dass die Mitteilung aller oder eines Teils der Gründe und Beweise gegebenenfalls vom zuständigen Gericht unabhängig von ihrer etwaigen Einstufung als Verschlusssache in Betracht zu ziehen ist, und zum anderen, dass es den Mitgliedstaaten freisteht, den betreffenden Behörden die Befugnis vorzubehalten, diese Gründe oder Beweise mitzuteilen oder nicht mitzuteilen, sofern das zuständige Gericht befugt ist, die Konsequenzen aus der letztlich von diesen Behörden in dieser Hinsicht getroffenen Entscheidung zu ziehen.
114 Eine solche Lösung ist, wenn die nationale Behörde die Mitteilung aller oder eines Teils der Gesichtspunkte, die der in Rede stehenden Entscheidung zugrunde liegen, in nicht gerechtfertigter Weise behindert, jedenfalls geeignet, die vollständige Einhaltung von Art. 47 der Charta zu gewährleisten, da sie sicherstellt, dass die Missachtung der ihr obliegenden Verfahrenspflichten durch diese Behörde nicht dazu führt, dass die gerichtliche Entscheidung auf Tatsachen und Dokumente gestützt wird, von denen der Antragsteller keine Kenntnis nehmen und zu denen er daher auch nicht Stellung nehmen konnte.
115 Daher kann, wie der Generalanwalt in Nr. 130 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, nicht davon ausgegangen werden, dass Art. 47 der Charta voraussetzt, dass das für die Kontrolle einer die Anwendung von Art. 20 AEUV betreffenden Entscheidung zuständige Gericht notwendigerweise befugt sein muss, für bestimmte Informationen die Einstufung als Verschlusssache aufzuheben und diese selbst dem Antragsteller mitzuteilen, da eine solche Aufhebung der Einstufung als Verschlusssache und eine solche Mitteilung nicht unerlässlich sind, um einen wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz bei der Beurteilung der Rechtmäßigkeit der angefochtenen Entscheidung sicherzustellen.
116 Folglich ist auf die dritte Frage in der Rechtssache C‑420/22 und die vierte Frage in der Rechtssache C‑528/22 zu antworten, dass Art. 47 der Charta in Verbindung mit Art. 20 AEUV dahin auszulegen ist, dass er nicht verlangt, dass ein Gericht, das die Rechtmäßigkeit einer auf als Verschlusssache eingestuften Informationen gestützten Aufenthaltsentscheidung nach Art. 20 AEUV zu kontrollieren hat, befugt ist, die Rechtmäßigkeit der Einstufung dieser Informationen als Verschlusssache zu prüfen und der betroffenen Person Zugang zu all diesen Informationen, wenn es der Ansicht ist, dass diese Einstufung rechtswidrig ist, oder zum wesentlichen Inhalt dieser Informationen zu gewähren, wenn es diese Einstufung für rechtmäßig hält. Dieses Gericht muss indessen, um die Achtung der Verteidigungsrechte dieser Person zu gewährleisten, gegebenenfalls die Konsequenzen aus einer etwaigen Entscheidung der zuständigen Behörden ziehen, die Mitteilung aller oder eines Teils der Gründe und der entsprechenden Beweise dieser Entscheidung zu unterlassen.
Kosten
117 Für die Parteien der Ausgangsverfahren ist das Verfahren Teil der beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahren; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Erste Kammer) für Recht erkannt:
1. Die Rechtssachen C‑420/22 und C‑528/22 werden zu gemeinsamem Urteil verbunden.
2. Art. 20 AEUV ist dahin auszulegen, dass er es den Behörden eines Mitgliedstaats verwehrt, einem Drittstaatsangehörigen, der Familienangehöriger von Unionsbürgern ist, die Staatsangehörige dieses Mitgliedstaats sind und noch nie von ihrer Freizügigkeit Gebrauch gemacht haben, einen Aufenthaltstitel zu entziehen oder zu versagen, ohne zuvor geprüft zu haben, ob zwischen diesem Drittstaatsangehörigen und diesen Unionsbürgern ein Abhängigkeitsverhältnis besteht, das diese Unionsbürger de facto zwingen würde, das Gebiet der Europäischen Union als Ganzes zu verlassen, um diesen Familienangehörigen zu begleiten, wenn zum einen diesem Drittstaatsangehörigen aufgrund einer anderen in diesem Mitgliedstaat anwendbaren Bestimmung kein Aufenthaltsrecht gewährt werden kann und zum anderen diesen Behörden Informationen über das Bestehen familiärer Bindungen zwischen diesem Drittstaatsangehörigen und diesen Unionsbürgern vorliegen.
3. Art. 20 AEUV in Verbindung mit Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union ist dahin auszulegen, dass er einer nationalen Regelung entgegensteht, die die nationalen Behörden verpflichtet, aus einem Grund der nationalen Sicherheit einem Drittstaatsangehörigen, der nach Art. 20 AEUV Anspruch auf ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht haben kann, allein auf der Grundlage einer nicht begründeten verbindlichen Stellungnahme einer mit Aufgaben der nationalen Sicherheit betrauten Fachbehörde einen Aufenthaltstitel zu entziehen oder zu versagen, ohne alle individuellen Umstände und die Verhältnismäßigkeit dieser Entscheidung über den Entzug oder die Versagung gründlich zu prüfen.
4. Der allgemeine Grundsatz der guten Verwaltung und Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union in Verbindung mit Art. 20 AEUV sind dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Regelung entgegenstehen, die vorsieht, dass in Fällen, in denen eine Entscheidung über den Entzug oder die Versagung eines Aufenthaltstitels, die in Bezug auf einen Drittstaatsangehörigen erlassen wird, der nach Art. 20 AEUV Anspruch auf ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht haben kann, auf Informationen beruht, deren Offenlegung die nationale Sicherheit des betreffenden Mitgliedstaats gefährden würde, dieser Drittstaatsangehörige oder sein Vertreter erst Zugang zu diesen Informationen erhalten, nachdem sie eine entsprechende Genehmigung erhalten haben, ihnen nicht einmal der wesentliche Inhalt der Gründe mitgeteilt wird, auf denen solche Entscheidungen beruhen, und sie die Informationen, zu denen sie Zugang hätten haben können, jedenfalls nicht für Verwaltungs- oder Gerichtsverfahren verwenden können.
5. Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union in Verbindung mit Art. 20 AEUV ist dahin auszulegen, dass er nicht verlangt, dass ein Gericht, das die Rechtmäßigkeit einer auf als Verschlusssache eingestuften Informationen gestützten Aufenthaltsentscheidung nach Art. 20 AEUV zu kontrollieren hat, befugt ist, die Rechtmäßigkeit der Einstufung dieser Informationen als Verschlusssache zu prüfen und der betroffenen Person Zugang zu all diesen Informationen, wenn es der Ansicht ist, dass diese Einstufung rechtswidrig ist, oder zum wesentlichen Inhalt dieser Informationen zu gewähren, wenn es diese Einstufung für rechtmäßig hält. Dieses Gericht muss indessen, um die Achtung der Verteidigungsrechte dieser Person zu gewährleisten, gegebenenfalls die Konsequenzen aus einer etwaigen Entscheidung der zuständigen Behörden ziehen, die Mitteilung aller oder eines Teils der Gründe und der entsprechenden Beweise dieser Entscheidung zu unterlassen.
Unterschriften
(*1) Verfahrenssprache: Ungarisch.
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Urteil des Gerichtshofs (Erste Kammer) vom 22. Februar 2024.#WA gegen Direcţia pentru Evidenţa Persoanelor şi Administrarea Bazelor de Date din Ministerul Afacerilor Interne.#Vorabentscheidungsersuchen der Înalta Curte de Casaţie şi Justiţie.#Vorlage zur Vorabentscheidung – Unionsbürgerschaft – Art. 21 Abs. 1 AEUV – Recht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten – Art. 45 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Richtlinie 2004/38/EG – Art. 4 – Ausstellung eines Personalausweises – Voraussetzung des Wohnsitzes im Mitgliedstaat, der das Dokument ausstellt – Weigerung der Behörden dieses Mitgliedstaats, einem seiner Staatsangehörigen, der seinen Wohnsitz in einem anderen Mitgliedstaat hat, einen Personalausweis auszustellen – Gleichbehandlung – Beschränkungen – Rechtfertigung.#Rechtssache C-491/21.
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62021CJ0491
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ECLI:EU:C:2024:143
| 2024-02-22T00:00:00 |
Szpunar, Gerichtshof
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Sammlung der Rechtsprechung – allgemein – Abschnitt „Informationen über nicht veröffentlichte Entscheidungen“
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62021CJ0491
URTEIL DES GERICHTSHOFS (Erste Kammer)
22. Februar 2024 (*1)
„Vorlage zur Vorabentscheidung – Unionsbürgerschaft – Art. 21 Abs. 1 AEUV – Recht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten – Art. 45 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Richtlinie 2004/38/EG – Art. 4 – Ausstellung eines Personalausweises – Voraussetzung des Wohnsitzes in dem Mitgliedstaat, der das Dokument ausstellt – Weigerung der Behörden dieses Mitgliedstaats, einem seiner Staatsangehörigen, der seinen Wohnsitz in einem anderen Mitgliedstaat hat, einen Personalausweis auszustellen – Gleichbehandlung – Beschränkungen – Rechtfertigung“
In der Rechtssache C‑491/21
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Înalta Curte de Casaţie şi Justiţie (Oberster Kassations- und Gerichtshof, Rumänien) mit Entscheidung vom 11. Mai 2021, beim Gerichtshof eingegangen am 10. August 2021, in dem Verfahren
WA
gegen
Direcţia pentru Evidenţa Persoanelor şi Administrarea Bazelor de Date din Ministerul Afacerilor Interne
erlässt
DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten A. Arabadjiev, des Vizepräsidenten L. Bay Larsen in Wahrnehmung der Aufgaben eines Richters der Ersten Kammer sowie der Richter T. von Danwitz, P. G. Xuereb und A. Kumin (Berichterstatter),
Generalanwalt: M. Szpunar,
Kanzler: R. Șereș, Verwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 8. Februar 2023,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
–
von WA, vertreten durch C. L. Popescu, Avocat,
–
der rumänischen Regierung, vertreten durch L.‑E. Baţagoi, E. Gane und A. Rotăreanu als Bevollmächtigte,
–
der Europäischen Kommission, vertreten durch A. Biolan und E. Montaguti als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 27. April 2023
folgendes
Urteil
1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 26 Abs. 2 AEUV, von Art. 20, Art. 21 Abs. 1 und Art. 45 Abs. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) sowie der Art. 4 bis 6 der Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 und zur Aufhebung der Richtlinien 64/221/EWG, 68/360/EWG, 72/194/EWG, 73/148/EWG, 75/34/EWG, 75/35/EWG, 90/364/EWG, 90/365/EWG und 93/96/EWG (ABl. 2004, L 158, S. 77).
2 Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen WA, einem rumänischen Staatsangehörigen, der seine Berufstätigkeit sowohl in Frankreich als auch in Rumänien ausübt, und der Direcția pentru Evidența Persoanelor și Administrarea Bazelor de Date din Ministerul Afacerilor Interne (Direktion für das Personenregister und die Datenbankverwaltung des Innenministeriums, Rumänien) (im Folgenden: Registerdirektion) wegen der Weigerung dieser Direktion, WA einen Personalausweis auszustellen, weil er seinen Wohnsitz in einem anderen Mitgliedstaat als Rumänien hat.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
3 In den Erwägungsgründen 1 bis 4 der Richtlinie 2004/38 heißt es:
„(1)
Die [Bürgerschaft der Europäischen Union] verleiht jedem Bürger der Union das elementare und persönliche Recht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten vorbehaltlich der im Vertrag und in den Durchführungsvorschriften vorgesehenen Beschränkungen und Bedingungen frei zu bewegen und aufzuhalten.
(2) Die Freizügigkeit von Personen stellt eine der Grundfreiheiten des Binnenmarkts dar, der einen Raum ohne Binnengrenzen umfasst, in dem diese Freiheit gemäß den Bestimmungen des Vertrags gewährleistet ist.
(3) Die Unionsbürgerschaft sollte der grundsätzliche Status der Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten sein, wenn sie ihr Recht auf Freizügigkeit und Aufenthalt wahrnehmen. Daher müssen die bestehenden Gemeinschaftsinstrumente, die Arbeitnehmer und Selbstständige sowie Studierende und andere beschäftigungslose Personen getrennt behandeln, kodifiziert und überarbeitet werden, um das Freizügigkeits- und Aufenthaltsrecht aller Unionsbürger zu vereinfachen und zu verstärken.
(4) Um diese bereichsspezifischen und fragmentarischen Ansätze des Freizügigkeits- und Aufenthaltsrechts zu überwinden und die Ausübung dieses Rechts zu erleichtern, ist ein einziger Rechtsakt erforderlich …“
4 Art. 4 („Recht auf Ausreise“) der Richtlinie 2004/38 lautet:
„(1) Unbeschadet der für die Kontrollen von Reisedokumenten an den nationalen Grenzen geltenden Vorschriften haben alle Unionsbürger, die einen gültigen Personalausweis oder Reisepass mit sich führen, und ihre Familienangehörigen, die nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzen und die einen gültigen Reisepass mit sich führen, das Recht, das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats zu verlassen und sich in einen anderen Mitgliedstaat zu begeben.
(2) Für die Ausreise von Personen gemäß Absatz 1 darf weder ein Visum noch eine gleichartige Formalität verlangt werden.
(3) Die Mitgliedstaaten stellen ihren Staatsangehörigen gemäß ihren Rechtsvorschriften einen Personalausweis oder einen Reisepass aus, der ihre Staatsangehörigkeit angibt, und verlängern diese Dokumente.
(4) Der Reisepass muss zumindest für alle Mitgliedstaaten und die unmittelbar zwischen ihnen liegenden Durchreiseländer gelten. Sehen die Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats keinen Personalausweis vor, so ist der Reisepass mit einer Gültigkeit von mindestens fünf Jahren auszustellen oder zu verlängern.“
Rumänisches Recht
5 Art. 12 der Ordonanța de urgență a Guvernului nr. 97/2005 privind evidența, domiciliul, reședința și actele de identitate ale cetățenilor români (Dringlichkeitsverordnung Nr. 97/2005 der Regierung über das Personenregister, den [Haupt‑]Wohnsitz, den Nebenwohnsitz und die Identitätsnachweise rumänischer Staatsangehöriger) (neu veröffentlicht im Monitorul Oficial al României, Teil I, Nr. 719 vom 12. Oktober 2011, im Folgenden: OUG Nr. 97/2005) in der auf das Ausgangsverfahren anwendbaren Fassung bestimmt:
„(1) Ab dem Alter von 14 Jahren werden rumänischen Staatsangehörigen Identitätsnachweise ausgestellt.
…
(3) Für die Zwecke der vorliegenden Dringlichkeitsverordnung ist unter einem Identitätsnachweis zu verstehen der Personalausweis, der einfache Personalausweis, der elektronische Personalausweis, der vorläufige Personalausweis und das Identitätsbuch während ihrer jeweiligen Gültigkeitsdauer.“
6 Art. 13 der OUG Nr. 97/2005 sieht vor:
„(1) Der Identitätsnachweis bescheinigt die Identität, die rumänische Staatsangehörigkeit, die Anschrift des Wohnsitzes und gegebenenfalls die Anschrift eines Nebenwohnsitzes.
(2) Nach der [Legea nr. 248/2005 privind regimul liberei circulații a cetățenilor români în străinătate (Gesetz Nr. 248/2005 über die Freizügigkeit rumänischer Staatsangehöriger im Ausland) (Monitorul Oficial al României, Teil I, Nr. 682 vom 29. Juli 2005)] in der später geänderten und ergänzten Fassung [(im Folgenden: Freizügigkeitsgesetz)] stellen der Personalausweis und der elektronische Personalausweis in den Mitgliedstaaten der Union Reisedokumente dar.
(3) Mit dem elektronischen Personalausweis kann sich sein Inhaber unter den gesetzlich vorgesehenen Bedingungen in den IT‑Systemen des Innenministeriums und in den IT‑Systemen anderer öffentlicher oder privater Einrichtungen authentifizieren und die elektronische Signatur verwenden.“
7 In Art. 15 Abs. 3 der OUG Nr. 97/2005 heißt es:
„Dem Antrag auf Ausstellung eines neuen Identitätsnachweises sind nur Dokumente beizufügen, die nach dem Gesetz die Anschrift des Wohnsitzes und gegebenenfalls die Anschrift eines Nebenwohnsitzes bescheinigen, es sei denn,
a)
es wurden Änderungen der Angaben zu Vor- und Nachnamen, Geburtsdatum, Familienstand und zur rumänischen Staatsangehörigkeit vorgenommen; in diesem Fall sind auch die Dokumente vorzulegen, die diese Änderungen belegen;
b)
der Antragsteller ist Inhaber eines vorläufigen Personalausweises oder eines Identitätsbuchs; in diesem Fall sind alle in Abs. 2 genannten Dokumente vorzulegen.“
8 Art. 20 Abs. 1 Buchst. c der OUG Nr. 97/2005 bestimmt:
„Der provisorische Personalausweis wird in folgenden Fällen ausgestellt:
c)
… rumänischen Staatsbürgern mit Wohnsitz im Ausland, die vorübergehend in Rumänien wohnen.“
9 Art. 28 Abs. 1 der OUG Nr. 97/2005 sieht vor:
„(1) Der Nachweis der Anschrift des Wohnsitzes kann erbracht werden durch
a)
im Einklang mit den Gültigkeitsvoraussetzungen des geltenden rumänischen Rechts geschlossene Rechtsakte über das Recht auf Nutzung einer Wohnung;
b)
die schriftliche Erklärung des Unterkunftgebers, einer natürlichen oder juristischen Person, über die Beherbergung zusammen mit einem der unter Buchst. a oder gegebenenfalls Buchst. d genannten Dokumente;
c)
die ehrenwörtliche Erklärung des Antragstellers mit dem Kontrollvermerk eines Polizeibeamten, mit der bestätigt wird, dass ein Wohngebäude existiert und der Antragsteller tatsächlich unter der angegebenen Anschrift wohnt, wenn es sich um eine natürliche Person handelt, die nicht in der Lage ist, die in den Buchst. a und b genannten Dokumente vorzulegen;
d)
ein von einer Behörde der örtlichen Verwaltung ausgestelltes Dokument, aus dem hervorgeht, dass der Antragsteller oder gegebenenfalls die Person, die ihn beherbergt, im [Registrul agricol (Landwirtschaftsregister)] mit einem Wohngebäude eingetragen ist;
e)
den Identitätsnachweis eines Elternteils oder seines gesetzlichen Vertreters oder die Urkunde über die Ausübung der elterlichen Verantwortung, zusammen mit, je nach Fall, einem der in den Buchst. a bis d genannten Dokumente, wenn Minderjährige die Ausstellung eines Identitätsnachweises beantragen.“
10 Art. 6 des Freizügigkeitsgesetzes bestimmt:
„(1) Rumänische Staatsangehörige können mit folgenden Arten von Reisedokumenten ins Ausland reisen:
a)
Diplomatenpass;
b)
Dienstpass;
c)
elektronischer Diplomatenpass;
d)
elektronischer Dienstpass;
e)
einfacher Reisepass;
f)
einfacher elektronischer Reisepass;
g)
vorläufiger einfacher Reisepass;
h)
Reisetitel.
…“
11 Art. 61 Abs. 1 dieses Gesetzes sieht vor:
„Für die Zwecke dieses Gesetzes stellen gültige Personalausweise, einfache Personalausweise und elektronische Personalausweise Reisedokumente dar, mit denen rumänische Staatsangehörige in die Mitgliedstaaten der Union sowie in Drittstaaten, die sie als Reisedokumente anerkennen, reisen können.
…“
12 In Art. 171 Abs. 1 Buchst. d und Abs. 2 Buchst. b des Freizügigkeitsgesetzes heißt es:
„(1) Der vorläufige einfache Reisepass wird rumänischen Staatsangehörigen, die die in diesem Gesetz vorgesehenen Voraussetzungen erfüllen und bei denen keiner der Fälle vorliegt, in denen das Recht, ins Ausland zu reisen, ausgesetzt ist, in den folgenden Fällen ausgestellt:
…
d)
wenn der Inhaber einen einfachen Reisepass oder einen einfachen elektronischen Reisepass hinterlegt hat, um ein Visum zu erhalten, und erklärt, dringend ins Ausland reisen zu müssen:
…
(2) Der vorläufige einfache Reisepass wird ausgestellt:
…
b)
in den in Abs. 1 Buchst. b bis g angeführten Fällen innerhalb einer Frist von höchstens drei Arbeitstagen ab dem Tag der Antragstellung.“
13 Art. 34 Abs. 1, 2 und 6 des Freizügigkeitsgesetzes bestimmt:
„(1) Ein rumänischer Staatsbürger, der seinen Wohnsitz im Ausland genommen hat, kann die Ausstellung eines einfachen elektronischen Reisepasses oder eines einfachen vorläufigen Reisepasses mit Angabe seines Wohnsitzlandes beantragen, wenn er sich in einer der folgenden Situationen befindet:
a)
Er hat ein Aufenthaltsrecht im Hoheitsgebiet des betreffenden Staates von mindestens einem Jahr erworben oder, je nach Fall, sein Aufenthaltsrecht in diesem Staat ist im Laufe eines Jahres wiederholt verlängert worden;
b)
er hat ein Aufenthaltsrecht im Hoheitsgebiet des betreffenden Staates zum Zweck der Familienzusammenführung mit einer Person, die ihren Wohnsitz im Hoheitsgebiet dieses Staates hat, erworben;
c)
er hat ein Recht auf langfristigen Aufenthalt oder, je nach Fall, ein Recht auf Daueraufenthalt im Hoheitsgebiet des betreffenden Staates erworben;
d)
er hat die Staatsangehörigkeit des betreffenden Staates erworben;
e)
er hat eine Arbeitsberechtigung erworben oder ist bei einer privaten oder öffentlichen Einrichtung mit dem Hauptzweck der Absolvierung einer Ausbildung einschließlich einer Berufsausbildung eingeschrieben.
(2) Ein rumänischer Staatsangehöriger, der Inhaber einer Anmeldebescheinigung oder eines Dokuments ist, das seinen Aufenthalt in einem Mitgliedstaat der Europäischen Union oder des Europäischen Wirtschaftsraums oder der Schweizerischen Eidgenossenschaft bescheinigt und von den zuständigen Behörden eines Mitgliedstaats der Europäischen Union oder des Europäischen Wirtschaftsraums oder der Schweizerischen Eidgenossenschaft ausgestellt wurde, kann die Ausstellung eines einfachen elektronischen Reisepasses oder eines einfachen vorläufigen Reisepasses beantragen, in dem dieser Staat als Land des Wohnsitzes angegeben ist.
…
(6) Ein rumänischer Staatsangehöriger, der seinen Wohnsitz im Ausland genommen hat, ist, wenn ihm ein einfacher elektronischer Reisepass oder ein einfacher vorläufiger Reisepass ausgehändigt wird, in dem das Land des Wohnsitzes angegeben ist, verpflichtet, den von den rumänischen Behörden ausgestellten Identitätsnachweis, der das Vorliegen eines Wohnsitzes in Rumänien bescheinigt, zurückzugeben.“
Ausgangsverfahren und Vorlagefrage
14 Der Rechtsmittelführer des Ausgangsverfahrens ist ein Rechtsanwalt mit rumänischer Staatsangehörigkeit, der seine Berufstätigkeit sowohl in Frankreich als auch in Rumänien ausübt und seit 2014 in Frankreich wohnhaft ist.
15 Die rumänischen Behörden haben ihm einen einfachen elektronischen Reisepass ausgestellt, in dem vermerkt ist, dass er seinen Wohnsitz in Frankreich hat. Da sich sein Privat- und sein Berufsleben sowohl in Frankreich als auch in Rumänien abspielt, begründet er auch jährlich einen Nebenwohnsitz in Rumänien und erhält deshalb einen vorläufigen Personalausweis. Diese Ausweiskategorie stellt jedoch kein Dokument dar, mit dem er ins Ausland reisen kann.
16 Am 17. September 2017 beantragte der Rechtsmittelführer des Ausgangsverfahrens bei der Registerdirektion die Ausstellung eines Personalausweises oder eines elektronischen Personalausweises. Dieser Antrag wurde mit der Begründung abgelehnt, dass er seinen Hauptwohnsitz nicht in Rumänien habe.
17 Am 18. Dezember 2017 erhob der Rechtsmittelführer des Ausgangsverfahrens Verwaltungsklage bei der Curtea de Apel București (Berufungsgericht Bukarest, Rumänien), mit der er begehrte, die Registerdirektion zur Ausstellung des von ihm gewünschten Dokuments zu verpflichten.
18 Mit Urteil vom 28. März 2018 wies dieses Gericht die Klage als unbegründet ab und führte zur Begründung aus, dass die ablehnende Entscheidung der Registerdirektion nach rumänischem Recht begründet sei, das vorsehe, dass Personalausweise nur rumänischen Staatsangehörigen mit Hauptwohnsitz in Rumänien ausgestellt würden. Das rumänische Recht verstoße nicht gegen das Unionsrecht, da die Richtlinie 2004/38 die Mitgliedstaaten nicht verpflichte, ihren eigenen Staatsangehörigen Personalausweise auszustellen. Außerdem sei der Rechtsmittelführer des Ausgangsverfahrens nicht diskriminiert worden, da ihm die rumänischen Behörden einen einfachen elektronischen Reisepass, ein Reisedokument, ausgestellt hätten, mit dem er ins Ausland reisen könne.
19 Da der Rechtsmittelführer des Ausgangsverfahrens der Ansicht war, dass das Urteil der Curtea de Apel București (Berufungsgericht Bukarest) gegen mehrere Bestimmungen des AEU-Vertrags, der Charta und der Richtlinie 2004/38 verstoße, legte er bei der Înalta Curte de Casație și Justiție (Oberster Kassations- und Gerichtshof, Rumänien), dem vorlegenden Gericht, ein Rechtsmittel ein.
20 Dieses Gericht hegt Zweifel, ob die Weigerung, dem Rechtsmittelführer des Ausgangsverfahrens unter den Umständen des bei ihm anhängigen Verfahrens einen Personalausweis auszustellen, mit dem Unionsrecht vereinbar ist.
21 Dazu weist das vorlegende Gericht darauf hin, dass die Richtlinie 2004/38 bezwecke, die von den Mitgliedstaaten für die Einreise in das Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats geforderten Voraussetzungen zu vereinheitlichen. Die im Ausgangsverfahren in Rede stehende nationale Regelung führe aber zu einer restriktiven Anwendung von Art. 4 Abs. 3 dieser Richtlinie, der vorsehe, dass die Mitgliedstaaten ihren Bürgern nach Maßgabe ihrer Rechtsvorschriften Personalausweise oder Reisepässe ausstellten. Zudem könnte das Kriterium des Wohnsitzes als Voraussetzung für die Ausstellung eines Personalausweises eine diskriminierende Behandlung ermöglichen, die, um nach dem Unionsrecht gerechtfertigt zu sein, auf objektiven Gründen beruhen müsste, die von der Staatsangehörigkeit der Betroffenen unabhängig seien und in einem angemessenen Verhältnis zu dem mit dem nationalen Recht rechtmäßig verfolgten Ziel stünden. Schließlich habe die Registerdirektion im vorliegenden Fall nicht angegeben, welche objektive Erwägung des Allgemeininteresses die unterschiedliche Behandlung, die sich darin äußere, dass rumänischen Staatsangehörigen mit Wohnsitz in einem anderen Mitgliedstaat der Union das Recht verweigert werde, über einen nationalen Personalausweis zu verfügen, rechtfertigen könne. Das vorlegende Gericht führt aus, es habe keine solche Rechtfertigung erkennen können.
22 Unter diesen Umständen hat die Înalta Curte de Casație și Justiție (Oberster Kassations- und Gerichtshof) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:
Sind Art. 26 Abs. 2 AEUV, Art. 20, Art. 21 Abs. 1 und Art. 45 Abs. 1 der Charta sowie die Art. 4 bis 6 der Richtlinie 2004/38 dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Regelung entgegenstehen, die es nicht gestattet, einem Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats einen als Reisedokument innerhalb der Europäischen Union geltenden Personalausweis auszustellen, wenn dieser Staatsangehörige seinen Wohnsitz in einem anderen Mitgliedstaat genommen hat?
Zur Vorlagefrage
23 Nach ständiger Rechtsprechung ist es im Rahmen des durch Art. 267 AEUV eingeführten Verfahrens der Zusammenarbeit zwischen den nationalen Gerichten und dem Gerichtshof Aufgabe des Gerichtshofs, dem nationalen Gericht eine für die Entscheidung des bei diesem anhängigen Rechtsstreits sachdienliche Antwort zu geben. So gesehen kann der Gerichtshof veranlasst sein, unionsrechtliche Vorschriften zu berücksichtigen, die das nationale Gericht in seiner Frage nicht angeführt hat. Der Umstand, dass ein nationales Gericht eine Vorlagefrage ihrer Form nach unter Bezugnahme auf bestimmte Vorschriften des Unionsrechts formuliert hat, hindert den Gerichtshof nämlich nicht daran, diesem Gericht alle Auslegungshinweise zu geben, die ihm bei der Entscheidung über die bei ihm anhängige Rechtssache von Nutzen sein können, und zwar unabhängig davon, ob es bei der Formulierung seiner Fragen darauf Bezug genommen hat oder nicht. Der Gerichtshof hat insoweit aus allem, was das einzelstaatliche Gericht vorgelegt hat, insbesondere aus der Begründung der Vorlageentscheidung, diejenigen Elemente des Unionsrechts herauszuarbeiten, die unter Berücksichtigung des Gegenstands des Rechtsstreits einer Auslegung bedürfen (Urteil vom 5. Dezember 2023, Nordic Info, C‑128/22, EU:C:2023:951, Rn. 99 und die dort angeführte Rechtsprechung).
24 Im vorliegenden Fall steht fest, dass die Lage des Rechtsmittelführers des Ausgangsverfahrens in den Anwendungsbereich des Unionsrechts und insbesondere der Regeln fällt, die die Ausübung des Freizügigkeits- und Aufenthaltsrechts betreffen.
25 In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass Art. 20 AEUV jeder Person, die die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzt, den Status eines Unionsbürgers verleiht, der nach ständiger Rechtsprechung dazu bestimmt ist, der grundlegende Status der Angehörigen der Mitgliedstaaten zu sein (Urteil vom 9. Juni 2022, Préfet du Gers und Institut national de la statistique et des études économiques, C‑673/20, EU:C:2022:449, Rn. 49 und die dort angeführte Rechtsprechung).
26 Zudem kann sich ein Staatsangehöriger eines Mitgliedstaats, der in seiner Eigenschaft als Unionsbürger von seinem Recht, sich in einem anderen Mitgliedstaat als seinem Herkunftsmitgliedstaat frei zu bewegen und aufzuhalten, Gebrauch gemacht hat, auf die mit dieser Eigenschaft verbundenen Rechte, insbesondere die in Art. 21 Abs. 1 AEUV vorgesehenen, berufen, und zwar gegebenenfalls auch gegenüber seinem Herkunftsmitgliedstaat (Urteil vom 14. Dezember 2021, Stolichna obshtina, rayon Pancharevo, C‑490/20, EU:C:2021:1008, Rn. 42 und die dort angeführte Rechtsprechung).
27 Der Rechtsmittelführer des Ausgangsverfahrens kann sich daher auf die durch diese Bestimmungen verliehenen Rechte, gemäß Art. 21 Abs. 1 AEUV vorbehaltlich der in den Verträgen und in den Durchführungsvorschriften vorgesehenen Beschränkungen und Bedingungen, berufen. Solche Beschränkungen und Bedingungen sind in der Richtlinie 2004/38 vorgesehen, die u. a. die Bedingungen für die Ausübung dieser Rechte und deren Beschränkungen festlegen soll.
28 Unter diesen Umständen ist, ohne dass über die Auslegung von Art. 26 AEUV, Art. 20 und Art. 21 Abs. 1 der Charta sowie der Art. 5 und 6 der Richtlinie 2004/38 entschieden zu werden braucht, davon auszugehen, dass das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen möchte, ob Art. 21 AEUV und Art. 45 Abs. 1 der Charta in Verbindung mit Art. 4 der Richtlinie 2004/38 dahin auszulegen sind, dass sie Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats entgegenstehen, wonach einem Unionsbürger, der Staatsangehöriger dieses Mitgliedstaats ist und von seinem Recht, sich in einem anderen Mitgliedstaat frei zu bewegen und aufzuhalten, Gebrauch gemacht hat, die Ausstellung eines innerhalb der Union als Reisedokument geltenden Personalausweises allein deshalb verweigert wird, weil er seinen Wohnsitz im Hoheitsgebiet dieses anderen Mitgliedstaats begründet hat.
29 Vorab ist darauf hinzuweisen, dass aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten hervorgeht, dass der Rechtsmittelführer des Ausgangsverfahrens seinen Wohnsitz seit 2014 in Frankreich hat und seine beruflichen Tätigkeiten als Rechtsanwalt sowohl in Frankreich als auch in Rumänien ausübt. Die rumänischen Behörden stellten ihm einen einfachen elektronischen Reisepass, in dem vermerkt ist, dass er seinen Wohnsitz in Frankreich hat, sowie einen vorläufigen Personalausweis aus.
30 Bei Letzterem handelt es sich nicht um ein Reisedokument. Er wird rumänischen Staatsangehörigen mit Wohnsitz in einem anderen Mitgliedstaat erteilt, die vorübergehend in Rumänien wohnen, und ist jährlich zu erneuern. Der Rechtsmittelführer des Ausgangsverfahrens beantragte bei der Registerdirektion die Ausstellung eines einfachen oder elektronischen Personalausweises, der ein Reisedokument darstellt, das es ihm ermöglicht hätte, nach Frankreich zu reisen. Dieser Antrag wurde im Wesentlichen mit der Begründung abgelehnt, dass die Rechtsvorschriften die Ausstellung dieses Personalausweises bei einem Wohnsitz im Ausland nicht vorsähen, was im Übrigen nicht gegen Unionsrecht verstoße.
31 Aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten geht hervor, dass alle rumänischen Staatsangehörigen unabhängig von ihrem Wohnsitz nach Art. 6 Abs. 1 Buchst. f und g sowie Art. 34 Abs. 1 und 2 des Freizügigkeitsgesetzes Anspruch auf Ausstellung eines Reisepasses haben. Außerdem haben rumänische Staatsangehörige mit Wohnsitz in Rumänien ab dem Alter von 14 Jahren gemäß Art. 12 Abs. 1 und 3 der OUG Nr. 97/2005 in Verbindung mit Art. 61 Abs. 1 des Freizügigkeitsgesetzes das Recht auf Ausstellung eines als Reisedokument geltenden einfachen oder elektronischen Personalausweises.
32 Hingegen haben rumänische Staatsangehörige mit Wohnsitz in einem anderen Mitgliedstaat keinen Anspruch auf Ausstellung dieser Personalausweise. Hierzu führt das vorlegende Gericht aus, dass solche Staatsangehörige nach Art. 34 Abs. 6 des Freizügigkeitsgesetzes verpflichtet seien, das Identitätsdokument, das als Reisedokument gelte und einen Wohnsitz in Rumänien belege, zurückzugeben, wenn sie sich einen Reisepass ausstellen ließen, in dem der Mitgliedstaat ihres Wohnsitzes angegeben sei. Wenn sie sich jedoch vorübergehend in Rumänien aufhielten, werde ihnen ein vorläufiger Personalausweis ausgestellt, der nach Art. 12 Abs. 3 in Verbindung mit Art. 13 Abs. 2 der OUG Nr. 97/2005 nicht als Reisedokument gelte.
33 Daraus folgt, dass die rumänischen Rechtsvorschriften über die Ausstellung von Reisedokumenten eine Ungleichbehandlung zwischen rumänischen Staatsangehörigen, die einen Wohnsitz im Ausland – auch in einem anderen Mitgliedstaat – haben, und solchen mit Wohnsitz in Rumänien vornehmen, da Letzteren ein oder zwei Reisedokumente ausgestellt werden können, die es ihnen ermöglichen, sich innerhalb der Union zu bewegen, nämlich ein Personalausweis und ein Reisepass, während Ersteren nur ein Reisepass als Reisedokument ausgestellt werden kann.
34 Daher ist zu ermitteln, ob eine solche Ungleichbehandlung gegen Art. 21 AEUV, Art. 45 Abs. 1 der Charta und Art. 4 Abs. 3 der Richtlinie 2004/38 verstößt.
35 Um ihren Staatsangehörigen die Ausübung des Rechts, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zu ermöglichen, verpflichtet Art. 4 Abs. 3 der Richtlinie 2004/38 die Mitgliedstaaten, ihren Staatsangehörigen gemäß ihren Rechtsvorschriften einen Personalausweis oder einen Reisepass auszustellen oder zu verlängern, der ihre Staatsangehörigkeit angibt.
36 Wie der Generalanwalt in Nr. 35 seiner Schlussanträge ausführt, geht aus dem Wortlaut dieser Bestimmung und insbesondere aus der Entscheidung des Unionsgesetzgebers, die nebenordnende disjunktive Konjunktion „oder“ zu verwenden, klar hervor, dass diese Bestimmung den Mitgliedstaaten die Wahl der Art des Reisedokuments, das sie ihren eigenen Staatsangehörigen ausstellen müssen, d. h. einen Personalausweis oder einen Reisepass, überlässt.
37 Wie aus den Erwägungsgründen 1 bis 4 der Richtlinie 2004/38 hervorgeht, soll diese Richtlinie aber die Ausübung des den Unionsbürgern unmittelbar aus Art. 21 Abs. 1 AEUV erwachsenden elementaren und persönlichen Rechts, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, erleichtern und bezweckt insbesondere, dieses Recht zu stärken (Urteil vom 11. April 2019, Tarola, C‑483/17, EU:C:2019:309, Rn. 23 und die dort angeführte Rechtsprechung).
38 Außerdem sind die Mitgliedstaaten beim gegenwärtigen Stand des Unionsrechts zwar für die Ausstellung von Personalausweisen zuständig, doch ist darauf hinzuweisen, dass sie diese Befugnis unter Beachtung des Unionsrechts und insbesondere der Vertragsbestimmungen über das durch Art. 21 Abs. 1 AEUV jedem Unionsbürger zuerkannte Recht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, ausüben müssen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. Oktober 2021, A [Grenzüberschreitung mit einem Vergnügungsboot], C‑35/20, EU:C:2021:813, Rn. 53 und 57).
39 Infolgedessen kann Art. 4 Abs. 3 der Richtlinie 2004/38, auch wenn es zutrifft, dass, wie der Generalanwalt in Nr. 40 seiner Schlussanträge ausführt, diese Bestimmung die Mitgliedstaaten nicht verpflichtet, ihren Staatsangehörigen zwei Identitätsdokumente, die als Reisedokumente gelten, auszustellen, sondern den Mitgliedstaaten vielmehr die Wahl lässt, ihnen entweder einen Personalausweis oder einen Reisepass auszustellen, im Licht von Art. 21 AEUV den Mitgliedstaaten jedoch nicht erlauben, diese Wahl dadurch zu treffen, dass sie diejenigen ihrer Staatsangehörigen, die ihr Recht auf Freizügigkeit und Aufenthalt innerhalb der Union ausgeübt haben, weniger günstig behandelt und dieses Recht beschränkt, ohne dass dies durch objektive Erwägungen des Allgemeininteresses gerechtfertigt wäre.
40 Im vorliegenden Fall müssen rumänische Staatsangehörige, die in anderen Mitgliedstaaten wohnen und sowohl einen Reisepass als auch einen (einfachen oder elektronischen) Personalausweis erhalten möchten, ihren Wohnsitz in Rumänien begründet haben. Insoweit geht aus der Vorlageentscheidung hervor, dass der Nachweis der Anschrift des Wohnsitzes u. a. durch eine Eigentumsurkunde, einen Mietvertrag oder eine Unterbringungsbescheinigung erbracht wird, was bedeutet, dass diese Staatsangehörigen Eigentümer, Mieter oder beherbergte Bewohner einer Unterkunft in Rumänien sein müssen. Ein solches Erfordernis führt aber zu einer weniger günstigen Behandlung dieser Staatsangehörigen aufgrund der Ausübung ihres Rechts auf Freizügigkeit, da sie somit einen Wohnsitz in Rumänien behalten müssen, um zwei Reisedokumente erhalten zu können, was eine Bedingung darstellt, die rumänische Staatsangehörige, die von dem Freizügigkeitsrecht keinen Gebrauch gemacht haben, leichter erfüllen.
41 Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs stellt eine nationale Regelung, durch die bestimmte Angehörige eines Mitgliedstaats allein deswegen benachteiligt werden, weil sie von ihrer Freiheit, sich in einen anderen Mitgliedstaat zu begeben und sich dort aufzuhalten, Gebrauch gemacht haben, eine Beschränkung der Freiheiten dar, die Art. 21 Abs. 1 AEUV jedem Unionsbürger zuerkennt (Urteil vom 19. November 2020, ZW, C‑454/19, EU:C:2020:947, Rn. 30 und die dort angeführte Rechtsprechung).
42 Außerdem hat der Gerichtshof bereits entschieden, dass die vom Vertrag auf dem Gebiet der Freizügigkeit der Unionsbürger gewährten Erleichterungen nicht ihre volle Wirkung entfalten könnten, wenn ein Staatsangehöriger eines Mitgliedstaats wegen einer Regelung seines Herkunftsstaats, die ihn allein deshalb weniger günstig stellt, weil er von diesen Erleichterungen Gebrauch gemacht hat, von ihrer Wahrnehmung durch Hindernisse, die auf seinen Aufenthalt in einem anderen Mitgliedstaat zurückzuführen sind, abgehalten werden könnte (Urteil vom 25. Juli 2018, A [Hilfe für eine schwerbehinderte Person], C‑679/16, EU:C:2018:601, Rn. 61 und die dort angeführte Rechtsprechung).
43 Im vorliegenden Fall ist festzustellen, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Rechtsvorschriften, indem sie dem Rechtsmittelführer des Ausgangsverfahrens die Ausstellung eines als Reisedokument geltenden Personalausweises allein deshalb verweigern, weil er seinen Wohnsitz in einem anderen Mitgliedstaat, nämlich Frankreich, begründet hat, geeignet sind, rumänische Staatsangehörige, die sich in einer Situation wie derjenigen des Rechtsmittelführers befinden, davon abzuhalten, von ihrem Recht, sich innerhalb der Union frei zu bewegen und aufzuhalten, Gebrauch zu machen.
44 Wie der Generalanwalt in Nr. 55 seiner Schlussanträge im Wesentlichen ausführt, kann entgegen dem Vorbringen der rumänischen Regierung die Ausübung des Rechts rumänischer Staatsangehöriger auf Freizügigkeit durch die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Rechtsvorschriften behindert werden, auch wenn diese Staatsangehörigen mit Wohnsitz in einem anderen Mitgliedstaat Inhaber eines Reisepasses sind.
45 Dazu geht aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten und den Antworten auf die in der mündlichen Verhandlung gestellten Fragen hervor, dass der Rechtsmittelführer des Ausgangsverfahrens während eines Zeitraums von zwölf Tagen nicht nach Frankreich reisen konnte, da er keinen als Reisedokument geltenden Personalausweis besaß, während sich sein Reisepass zwecks Erlangung eines Visums in der Botschaft eines Drittstaats in Bukarest (Rumänien) befand. Ein rumänischer Staatsangehöriger mit (Haupt‑)Wohnsitz in Rumänien hätte aber in einem solchen Fall mit seinem Personalausweis in einen anderen Mitgliedstaat reisen können. Die rumänische Regierung macht insoweit geltend, dass in einer Situation wie der vom Rechtsmittelführer des Ausgangsverfahrens angesprochenen innerhalb von drei Werktagen nach der Stellung eines entsprechenden Antrags ein vorläufiger Reisepass ausgestellt werde. Ein solches Dokument solle gewährleisten, dass rumänische Staatsangehörige unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens unabhängig von ihrem Wohnsitz ihr Recht auf Freizügigkeit schnell und ungehindert ausüben könnten. Der Rechtsmittelführer des Ausgangsverfahrens hat jedoch in der mündlichen Verhandlung geltend gemacht, dass es in Zeiten großen Andrangs einen Monat dauere, um einen Termin zu erhalten und einen Antrag auf einen vorläufigen Reisepass stellen zu können.
46 Jedenfalls müssen die rumänischen Staatsangehörigen, die sich in einer Situation wie der des Rechtsmittelführers des Ausgangsverfahrens befinden, in Bezug auf das Verfahren zur Ausstellung von Personalausweisen und/oder Reisepässen einen höheren Verwaltungsaufwand hinnehmen als rumänische Staatsbürger mit Wohnsitz in Rumänien, was Hindernisse für ihr Recht, sich innerhalb der Union frei zu bewegen und aufzuhalten, schafft.
47 Es ist auch darauf hinzuweisen, dass, wie die Europäische Kommission geltend macht, Unionsbürger, die dieses Recht ausüben, im Allgemeinen Interessen in verschiedenen Mitgliedstaaten haben und daher ein gewisses Maß an Mobilität zwischen diesen erkennen lassen. Es ist daher wahrscheinlich, dass diese Personen jederzeit ein gültiges Reisedokument benötigen, da sich der Besitz eines zweiten Reisedokuments dieser Art für sie als erforderlich oder sogar unerlässlich erweisen kann.
48 Nach alledem stellen die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Rechtsvorschriften eine Beschränkung des in Art. 21 Abs. 1 AEUV vorgesehenen Rechts, sich innerhalb der Union frei zu bewegen und aufzuhalten, dar.
49 Was Art. 45 der Charta betrifft, ist darauf hinzuweisen, dass er in seinem Abs. 1 den Unionsbürgerinnen und Unionsbürgern das Recht garantiert, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, ein Recht, das nach den Erläuterungen zur Charta der Grundrechte (ABl. 2007, C 303, S. 17) dem in Art. 20 Abs. 2 Unterabs. 1 Buchst. a AEUV garantierten Recht entspricht und gemäß Art. 20 Abs. 2 Unterabs. 2 AEUV und Art. 52 Abs. 2 der Charta unter den Bedingungen und innerhalb der Grenzen ausgeübt wird, die in den Verträgen und durch die in Anwendung der Verträge erlassenen Maßnahmen festgelegt sind.
50 Dazu ist festzustellen, dass nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs eine nationale Maßnahme, die geeignet ist, die Ausübung der Freizügigkeit zu behindern, nur dann gerechtfertigt sein kann, wenn sie mit den durch die Charta verbürgten Grundrechten vereinbar ist, deren Beachtung der Gerichtshof sichert (Urteil vom 21. Juni 2022, Ligue des droits humains, C‑817/19, EU:C:2022:491, Rn. 281 und die dort angeführte Rechtsprechung). Demnach würde jede Beschränkung der in Art. 21 Abs. 1 AEUV vorgesehenen Rechte zwangsläufig gegen Art. 45 Abs. 1 der Charta verstoßen, da das in der Charta verankerte Recht jedes Unionsbürgers, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, das durch Art. 21 Abs. 1 AEUV gewährte Recht widerspiegelt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 21. Juni 2022, Ligue des droits humains, C‑817/19, EU:C:2022:491, Rn. 275).
51 Da bereits in Rn. 48 des vorliegenden Urteils eine Beschränkung des in Art. 21 Abs. 1 AEUV vorgesehenen Rechts festgestellt worden ist, ist eine solche Beschränkung auch in Bezug auf das in Art. 45 Abs. 1 der Charta garantierte Recht festzustellen.
52 Eine Beschränkung, wie sie in Rn. 48 des vorliegenden Urteils festgestellt wurde, lässt sich unionsrechtlich nur rechtfertigen, wenn sie auf objektiven, von der Staatsangehörigkeit der Betroffenen unabhängigen Erwägungen des Allgemeininteresses beruht und in angemessenem Verhältnis zu dem mit dem nationalen Recht legitimerweise verfolgten Ziel steht. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs ist eine Maßnahme verhältnismäßig, wenn sie zur Erreichung des verfolgten Ziels geeignet ist und nicht über das hinausgeht, was dazu notwendig ist (Urteil vom 25. Juli 2018, A [Hilfe für eine schwerbehinderte Person], C‑679/16, EU:C:2018:601, Rn. 67 und die dort angeführte Rechtsprechung).
53 Das vorlegende Gericht hat aber keine objektiven Erwägungen des Allgemeininteresses angeführt, die die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Rechtsvorschriften begründen könnten.
54 Dagegen hat die rumänische Regierung sowohl in ihren schriftlichen Erklärungen als auch in der mündlichen Verhandlung geltend gemacht, dass die Weigerung, rumänischen Staatsangehörigen mit Wohnsitz in einem anderen Mitgliedstaat einen als Reisedokument geltenden nationalen Personalausweis auszustellen, u. a. dadurch gerechtfertigt sei, dass es nicht möglich sei, die Anschrift des Wohnsitzes dieser Staatsangehörigen außerhalb Rumäniens in den Personalausweis einzutragen.
55 Dazu führt sie zunächst aus, dass nach Art. 91 Abs. 1 des Codul civil (Zivilgesetzbuch) der Nachweis des Wohnsitzes und eines Nebenwohnsitzes durch die Angaben im Personalausweis erbracht werde, der daher in erster Linie dazu diene, dieses wesentliche Element der Identität rumänischer Staatsangehöriger nachzuweisen, damit sie ihre Rechte ausüben und ihren Pflichten, insbesondere in Zivil- und Verwaltungsangelegenheiten, nachkommen könnten. Sodann sei die Angabe der Anschrift des Wohnsitzes auf dem Personalausweis geeignet, die Identifizierung dieser Staatsangehörigen effizienter zu machen und eine übermäßige Verarbeitung ihrer personenbezogenen Daten zu verhindern. Schließlich könnten die rumänischen Behörden selbst dann, wenn die Anschrift des Wohnsitzes eines rumänischen Staatsangehörigen in einem anderen Mitgliedstaat auf seinem Personalausweis angegeben sei, nicht die Verantwortung übernehmen, sie zu bestätigen, da sie – abgesehen davon, dass sie dafür nicht zuständig seien – nicht über die Mittel verfügten, diese Anschrift zu überprüfen, ohne dass eine solche Überprüfung zu einem unverhältnismäßigen Verwaltungsaufwand führe oder gar unmöglich werde.
56 Nach dem Vorbringen der rumänischen Regierung ist nicht davon auszugehen, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehende nationale Regelung auf objektiven Erwägungen des Allgemeininteresses im Sinne der in Rn. 52 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung des Gerichtshofs beruht.
57 Was den Beweiswert der auf dem Personalausweis angegebenen Information über die Anschrift des Wohnsitzes betrifft, hat die rumänische Regierung den Zusammenhang zwischen der Angabe einer solchen Anschrift auf diesem Dokument, die für die Verwaltung zweifellos von Nutzen ist, und der Verpflichtung, rumänischen Staatsangehörigen, die ihren Wohnsitz in einem anderen Mitgliedstaat haben, die Ausstellung eines Personalausweises zu verweigern, nicht dargetan.
58 Außerdem genügt die Feststellung, dass nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs Erwägungen administrativer Art es nicht rechtfertigen können, dass ein Mitgliedstaat von den Vorschriften des Unionsrechts abweicht. Dies gilt erst recht, wenn diese Abweichung darauf hinausläuft, die Ausübung einer der durch den Vertrag garantierten Grundfreiheiten einzuschränken oder sogar auszuschließen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 23. November 1999, Arblade u. a., C‑369/96 und C‑376/96, EU:C:1999:575, Rn. 37). Daher stellt auch die Wirksamkeit der Feststellung und Kontrolle der Anschrift des Wohnsitzes rumänischer Staatsangehöriger, die ihren Wohnsitz in einem anderen Mitgliedstaat haben, keine objektive Erwägung des Allgemeininteresses dar, die Rechtsvorschriften wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden rechtfertigen könnte.
59 Diese Erwägung wird nicht durch die von der rumänischen Regierung angeführte Rechtsprechung entkräftet, wonach den Mitgliedstaaten nicht die Möglichkeit abgesprochen werden kann, legitime Ziele durch die Einführung von Vorschriften zu verfolgen, die von den zuständigen Behörden einfach gehandhabt und kontrolliert werden können (Urteil vom 24. Februar 2015, Sopora, C‑512/13, EU:C:2015:108, Rn. 33 und die dort angeführte Rechtsprechung). Eine solche Erwägung setzt nämlich das Vorliegen eines legitimen Ziels voraus, was die rumänische Regierung im vorliegenden Fall nicht nachweisen konnte.
60 Aus diesen Erwägungen ergibt sich, dass Rechtsvorschriften wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden eine Beschränkung der Freiheit, sich innerhalb der Union frei zu bewegen und aufzuhalten, im Sinne von Art. 4 Abs. 3 der Richtlinie 2004/38 in Verbindung mit Art. 21 Abs. 1 AEUV und Art. 45 Abs. 1 der Charta in Bezug auf rumänische Staatsangehörige mit Wohnsitz in einem anderen Mitgliedstaat darstellen, die weder durch die Notwendigkeit, der im Personalausweis angegebenen Anschrift des Wohnsitzes Beweiskraft zu verleihen, noch durch die Wirksamkeit der Feststellung und Kontrolle dieser Anschrift durch die zuständige nationale Behörde gerechtfertigt werden kann.
61 Nach alledem sind Art. 21 AEUV und Art. 45 Abs. 1 der Charta in Verbindung mit Art. 4 Abs. 3 der Richtlinie 2004/38 dahin auszulegen, dass sie Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats entgegenstehen, wonach einem Unionsbürger, der Staatsangehöriger dieses Mitgliedstaats ist und von seinem Recht, sich in einem anderen Mitgliedstaat frei zu bewegen und aufzuhalten, Gebrauch gemacht hat, die Ausstellung eines innerhalb der Union als Reisedokument geltenden Personalausweises allein deshalb verweigert wird, weil er seinen Wohnsitz im Hoheitsgebiet dieses anderen Mitgliedstaats begründet hat.
Kosten
62 Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreits; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Erste Kammer) für Recht erkannt:
Art. 21 AEUV und Art. 45 Abs. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union in Verbindung mit Art. 4 Abs. 3 der Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 und zur Aufhebung der Richtlinien 64/221/EWG, 68/360/EWG, 72/194/EWG, 73/148/EWG, 75/34/EWG, 75/35/EWG, 90/364/EWG, 90/365/EWG und 93/96/EWG
sind dahin auszulegen, dass
sie Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats entgegenstehen, wonach einem Unionsbürger, der Staatsangehöriger dieses Mitgliedstaats ist und von seinem Recht, sich in einem anderen Mitgliedstaat frei zu bewegen und aufzuhalten, Gebrauch gemacht hat, die Ausstellung eines innerhalb der Union als Reisedokument geltenden Personalausweises allein deshalb verweigert wird, weil er seinen Wohnsitz im Hoheitsgebiet dieses anderen Mitgliedstaats begründet hat.
Unterschriften
(*1) Verfahrenssprache: Rumänisch.
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Urteil des Gerichtshofs (Erste Kammer) vom 14. September 2023.#Volkswagen Group Italia SpA und Volkswagen Aktiengesellschaft gegen Autorità Garante della Concorrenza e del Mercato.#Vorabentscheidungsersuchen des Consiglio di Stato.#Vorlage zur Vorabentscheidung – Art. 50 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Grundsatz ne bis in idem – Wegen unlauterer Geschäftspraktiken verhängte Sanktionen – Strafrechtliche Natur der Sanktion – Strafrechtliche Sanktion, die in einem Mitgliedstaat nach dem Erlass einer Sanktion wegen unlauterer Geschäftspraktiken in einem anderen Mitgliedstaat verhängt wurde, aber vor dieser Sanktion rechtskräftig geworden ist – Art. 52 Abs. 1 – Einschränkungen des Grundsatzes ne bis in idem – Voraussetzungen – Koordinierung der Verfahren und Sanktionen.#Rechtssache C-27/22.
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62022CJ0027
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ECLI:EU:C:2023:663
| 2023-09-14T00:00:00 |
Campos Sánchez-Bordona, Gerichtshof
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62022CJ0027
URTEIL DES GERICHTSHOFS (Erste Kammer)
14. September 2023 (*1)
„Vorlage zur Vorabentscheidung – Art. 50 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Grundsatz ne bis in idem – Wegen unlauterer Geschäftspraktiken verhängte Sanktionen – Strafrechtliche Natur der Sanktion – Strafrechtliche Sanktion, die in einem Mitgliedstaat nach dem Erlass einer Sanktion wegen unlauterer Geschäftspraktiken in einem anderen Mitgliedstaat verhängt wurde, aber vor dieser Sanktion rechtskräftig geworden ist – Art. 52 Abs. 1 – Einschränkungen des Grundsatzes ne bis in idem – Voraussetzungen – Koordinierung der Verfahren und Sanktionen“
In der Rechtssache C‑27/22
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Consiglio di Stato (Staatsrat, Italien) mit Entscheidung vom 7. Januar 2022, beim Gerichtshof eingegangen am 11. Januar 2022, in dem Verfahren
Volkswagen Group Italia SpA,
Volkswagen Aktiengesellschaft
gegen
Autorità Garante della Concorrenza e del Mercato,
Beteiligte:
Associazione Cittadinanza Attiva Onlus,
Coordinamento delle associazioni per la tutela dell’ambiente e dei diritti degli utenti e consumatori (Codacons),
erlässt
DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten A. Arabadjiev, der Richter P. G. Xuereb (Berichterstatter), T. von Danwitz und A. Kumin sowie der Richterin I. Ziemele,
Generalanwalt: M. Campos Sánchez-Bordona,
Kanzler: C. Di Bella, Verwaltungsrat,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 19. Januar 2023,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
–
der Volkswagen Group Italia SpA und der Volkswagen Aktiengesellschaft, vertreten durch T. Salonico, Avvocato, und O. W. Brouwer, Advocaat,
–
der Autorità Garante della Concorrenza e del Mercato, vertreten durch F. Sclafani, Avvocato dello Stato,
–
des Coordinamento delle associazioni per la tutela dell’ambiente e dei diritti degli utenti e consumatori (Codacons), vertreten durch G. Giuliano und C. Rienzi, Avvocati,
–
der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von P. Gentili, Avvocato dello Stato,
–
der niederländischen Regierung, vertreten durch M. K. Bulterman, M. A. M. de Ree und J. M. Hoogveld als Bevollmächtigte,
–
der Europäischen Kommission, vertreten durch N. Ruiz García und A. Spina als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 30. März 2023
folgendes
Urteil
1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 50 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta), von Art. 54 des am 19. Juni 1990 in Schengen unterzeichneten und am 26. März 1995 in Kraft getretenen Übereinkommens zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen vom 14. Juni 1985 zwischen den Regierungen der Staaten der Benelux-Wirtschaftsunion, der Bundesrepublik Deutschland und der Französischen Republik betreffend den schrittweisen Abbau der Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen (ABl. 2000, L 239, S. 19) (im Folgenden: SDÜ) sowie von Art. 3 Abs. 4 und Art. 13 Abs. 2 Buchst. e der Richtlinie 2005/29/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Mai 2005 über unlautere Geschäftspraktiken von Unternehmen gegenüber Verbrauchern im Binnenmarkt und zur Änderung der Richtlinie 84/450/EWG des Rates, der Richtlinien 97/7/EG, 98/27/EG und 2002/65/EG des Europäischen Parlaments und des Rates sowie der Verordnung (EG) Nr. 2006/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates (ABl. 2005, L 149, S. 22, berichtigt in ABl. 2009, L 253, S. 18).
2 Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Volkswagen Group Italia SpA (im Folgenden: VWGI) und der Volkswagen Aktiengesellschaft (im Folgenden: VWAG) auf der einen sowie der Autorità Garante della Concorrenza e del Mercato (Wettbewerbs- und Marktaufsichtsbehörde, Italien) (im Folgenden: AGCM) auf der anderen Seite wegen deren Entscheidung, gegen diese Gesellschaften eine Geldbuße wegen unlauterer Geschäftspraktiken zu verhängen.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
SDÜ
3 Das SDÜ wurde geschlossen, um die Durchführung des am 14. Juni 1985 in Schengen unterzeichneten Übereinkommens zwischen den Regierungen der Staaten der Benelux-Wirtschaftsunion, der Bundesrepublik Deutschland und der Französischen Republik betreffend den schrittweisen Abbau der Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen (ABl. 2000, L 239, S. 13) sicherzustellen.
4 Art. 54 in Titel III („Polizei und Sicherheit“) Kapitel 3 („Verbot der Doppelbestrafung“) des SDÜ lautet:
„Wer durch eine Vertragspartei rechtskräftig abgeurteilt worden ist, darf durch eine andere Vertragspartei wegen derselben Tat nicht verfolgt werden, vorausgesetzt, dass im Fall einer Verurteilung die Sanktion bereits vollstreckt worden ist, gerade vollstreckt wird oder nach dem Recht des Urteilsstaats nicht mehr vollstreckt werden kann.“
Richtlinie 2005/29
5 Im zehnten Erwägungsgrund der Richtlinie 2005/29 heißt es:
„Es muss sichergestellt werden, dass diese Richtlinie insbesondere in Fällen, in denen Einzelvorschriften über unlautere Geschäftspraktiken in speziellen Sektoren anwendbar sind[,] auf das geltende Gemeinschaftsrecht abgestimmt ist. … Diese Richtlinie gilt dementsprechend nur insoweit, als keine spezifischen Vorschriften des Gemeinschaftsrechts vorliegen, die spezielle Aspekte unlauterer Geschäftspraktiken regeln, wie etwa Informationsanforderungen oder Regeln darüber, wie dem Verbraucher Informationen zu vermitteln sind. Sie bietet den Verbrauchern in den Fällen Schutz, in denen es keine spezifischen sektoralen Vorschriften auf Gemeinschaftsebene gibt, und untersagt es Gewerbetreibenden, eine Fehlvorstellung von der Art ihrer Produkte zu wecken. Dies ist besonders wichtig bei komplexen Produkten mit einem hohen Risikograd für die Verbraucher, wie etwa bestimmten Finanzdienstleistungen. Diese Richtlinie ergänzt somit den gemeinschaftlichen Besitzstand in Bezug auf Geschäftspraktiken, die den wirtschaftlichen Interessen der Verbraucher schaden.“
6 Art. 1 dieser Richtlinie sieht vor:
„Zweck dieser Richtlinie ist es, durch Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über unlautere Geschäftspraktiken, die die wirtschaftlichen Interessen der Verbraucher beeinträchtigen, zu einem reibungslosen Funktionieren des Binnenmarkts und zum Erreichen eines hohen Verbraucherschutzniveaus beizutragen.“
7 Art. 3 („Anwendungsbereich“) der Richtlinie bestimmt in Abs. 4:
„Kollidieren die Bestimmungen dieser Richtlinie mit anderen Rechtsvorschriften der Gemeinschaft, die besondere Aspekte unlauterer Geschäftspraktiken regeln, so gehen die Letzteren vor und sind für diese besonderen Aspekte maßgebend.“
8 Art. 13 („Sanktionen“) der Richtlinie lautet:
„Die Mitgliedstaaten legen die Sanktionen fest, die bei Verstößen gegen die nationalen Vorschriften zur Umsetzung dieser Richtlinie anzuwenden sind, und treffen alle geeigneten Maßnahmen, um ihre Durchsetzung sicherzustellen. Diese Sanktionen müssen wirksam, verhältnismäßig und abschreckend sein.“
Richtlinie (EU) 2019/2161
9 Mit der Richtlinie (EU) 2019/2161 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 27. November 2019 zur Änderung der Richtlinie 93/13/EWG des Rates und der Richtlinien 98/6/EG, 2005/29/EG und 2011/83/EU des Europäischen Parlaments und des Rates zur besseren Durchsetzung und Modernisierung der Verbraucherschutzvorschriften der Union (ABl. 2019, L 328, S. 7) wurde Art. 13 der Richtlinie 2005/29 mit Wirkung vom 28. Mai 2022 wie folgt geändert:
„(1) Die Mitgliedstaaten erlassen Vorschriften über Sanktionen, die bei Verstößen gegen die gemäß dieser Richtlinie erlassenen nationalen Vorschriften zu verhängen sind, und treffen alle für die Anwendung der Sanktionen erforderlichen Maßnahmen. Die vorgesehenen Sanktionen müssen wirksam, verhältnismäßig und abschreckend sein.
(2) Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass bei der Verhängung der Sanktionen folgende als nicht abschließend zu verstehende und beispielhafte Kriterien, sofern zutreffend, berücksichtigt werden:
a)
die Art, die Schwere, der Umfang und die Dauer des Verstoßes;
b)
Maßnahmen des Gewerbetreibenden zur Minderung oder Beseitigung des Schadens, der Verbrauchern entstanden ist;
c)
frühere Verstöße des Gewerbetreibenden;
d)
vom Gewerbetreibenden aufgrund des Verstoßes erlangte finanzielle Vorteile oder vermiedene Verluste, wenn dazu die entsprechenden Daten verfügbar sind;
e)
Sanktionen, die gegen den Gewerbetreibenden für denselben Verstoß in grenzüberschreitenden Fällen in anderen Mitgliedstaaten verhängt wurden, sofern Informationen über solche Sanktionen im Rahmen des aufgrund der Verordnung (EU) 2017/2394 des Europäischen Parlaments und des Rates [vom 12. Dezember 2017 über die Zusammenarbeit zwischen den für die Durchsetzung der Verbraucherschutzgesetze zuständigen nationalen Behörden und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 2006/2004 (ABl. 2017, L 345, S. 1)] errichteten Mechanismus verfügbar sind;
f)
andere erschwerende oder mildernde Umstände im jeweiligen Fall.
(3) Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass im Rahmen der Verhängung von Sanktionen nach Artikel 21 der Verordnung (EU) 2017/2394 entweder Geldbußen im Verwaltungsverfahren verhängt werden können oder gerichtliche Verfahren zur Verhängung von Geldbußen eingeleitet werden können oder beides erfolgen kann, wobei sich der Höchstbetrag solcher Geldbußen auf mindestens 4 % des Jahresumsatzes des Gewerbetreibenden in dem (den) betreffenden Mitgliedstaat(en) beläuft. …
…“
Italienisches Recht
10 Art. 20 Abs. 1 des Decreto legislativo n. 206 – Codice del consumo, a norma dell’articolo 7 della legge 29 luglio 2003, n. 229 (Decreto legislativo Nr. 206 über das Verbrauchergesetzbuch nach Art. 7 des Gesetzes Nr. 229 vom 29. Juli 2003) vom 6. September 2005 (Supplemento ordinario zur GURI Nr. 235 vom 8. Oktober 2005) in seiner auf das Ausgangsverfahren anwendbaren Fassung (im Folgenden: Verbrauchergesetzbuch) sieht vor, dass unlautere Geschäftspraktiken verboten sind.
11 Art. 20 Abs. 2 des Verbrauchergesetzbuchs bestimmt:
„Eine Geschäftspraxis ist unlauter, wenn sie der beruflichen Sorgfalt widerspricht und in Bezug auf das jeweilige Produkt das wirtschaftliche Verhalten des Durchschnittsverbrauchers, den sie erreicht oder an den sie sich richtet, oder des durchschnittlichen Mitglieds einer Gruppe von Verbrauchern, wenn sich eine Geschäftspraxis an eine bestimmte Gruppe von Verbrauchern richtet, spürbar beeinflusst oder dazu geeignet ist, es spürbar zu beeinflussen.“
12 Nach Art. 20 Abs. 4 des Verbrauchergesetzbuchs sind unlautere Geschäftspraktiken insbesondere irreführende Praktiken gemäß den Art. 21 bis 23 des Gesetzbuchs und aggressive Praktiken, die in den Art. 24 bis 26 des Gesetzbuchs erwähnt werden.
13 In Art. 21 Abs. 1 des Verbrauchergesetzbuchs heißt es:
„Eine Geschäftspraxis gilt als irreführend, wenn sie Angaben enthält, die nicht der Wirklichkeit entsprechen oder wenn sie in irgendeiner Weise, einschließlich sämtlicher Umstände ihrer Präsentation, selbst mit sachlich richtigen Angaben den Durchschnittsverbraucher in Bezug auf einen oder mehrere der nachstehend aufgeführten Punkte täuscht oder ihn zu täuschen geeignet ist und ihn in jedem Fall tatsächlich oder voraussichtlich zu einer geschäftlichen Entscheidung veranlasst, die er ansonsten nicht getroffen hätte:
…
b)
die wesentlichen Merkmale des Produkts wie Verfügbarkeit, Vorteile, Risiken, Ausführung, Zusammensetzung, Zubehör, Kundendienst und Beschwerdeverfahren, Verfahren und Zeitpunkt der Herstellung oder Erbringung, Lieferung, Zwecktauglichkeit, Verwendung, Menge, Beschaffenheit, geografische oder kommerzielle Herkunft oder die von der Verwendung zu erwartenden Ergebnisse oder die Ergebnisse und wesentlichen Merkmale von Tests und Untersuchungen, denen das Produkt unterzogen wurde;
…“
14 Art. 23 Abs. 1 Buchst. d des Verbrauchergesetzbuchs lautet:
„Folgende Geschäftspraktiken gelten unter allen Umständen als irreführend:
…
d)
Die nicht der Wirklichkeit entsprechende Behauptung, dass ein Gewerbetreibender, seine Geschäftspraktiken oder eines seiner Produkte von einer öffentlichen oder privaten Stelle bestätigt, genehmigt oder gebilligt worden seien oder dass den Bedingungen für die Bestätigung, Genehmigung oder Billigung entsprochen worden sei.“
15 Art. 27 Abs. 9 des Verbrauchergesetzbuchs sieht vor:
„Zusammen mit der Maßnahme, die die unlautere Geschäftspraxis untersagt, verhängt die [AGCM] unter Berücksichtigung der Schwere und der Dauer des Verstoßes eine Verwaltungsgeldbuße in Höhe von 5000 Euro bis 5000000 Euro. In Fällen unlauterer Geschäftspraktiken nach Art. 21 Abs. 3 und 4 beträgt die Geldbuße mindestens 50000 Euro.“
Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefragen
16 Mit Entscheidung vom 4. August 2016 (im Folgenden: streitige Entscheidung) verhängte die AGCM gegen die VWGI und die VWAG gesamtschuldnerisch eine Geldbuße in Höhe von 5 Mio. Euro wegen unlauterer Geschäftspraktiken im Sinne von Art. 20 Abs. 2, Art. 21 Abs. 1 Buchst. b und Art. 23 Abs. 1 Buchst. d des Verbrauchergesetzbuchs.
17 Diese unlauteren Geschäftspraktiken betrafen das Inverkehrbringen von Dieselfahrzeugen in Italien ab dem Jahr 2009, in die eine Software eingebaut war, mit der die Messung der Stickoxid (NOx)-Emissionswerte bei der Überprüfung von Schadstoffemissionen im Rahmen des sogenannten Typgenehmigungsverfahrens, in dem eine Genehmigungsbehörde bescheinigt, dass ein Fahrzeugtyp den einschlägigen Verwaltungsvorschriften und technischen Anforderungen genügt, verändert werden konnte. Außerdem wurde der VWGI und der VWAG vorgeworfen, Werbung verbreitet zu haben, die trotz des Einbaus der Software Informationen über die angebliche Aufmerksamkeit dieser Gesellschaften in Bezug auf Schadstoffemissionen und über die angebliche Einhaltung der gesetzlichen Emissionsnormen durch die fraglichen Fahrzeuge enthielten.
18 Die VWGI und die VWAG erhoben gegen die streitige Entscheidung Klage beim Tribunale Amministrativo Regionale per il Lazio (Regionales Verwaltungsgericht Latium, Italien).
19 Während diese Klage bei Gericht anhängig war, verhängte die Staatsanwaltschaft Braunschweig (Deutschland) (im Folgenden: deutsche Staatsanwaltschaft) mit Bescheid vom 13. Juni 2018 (im Folgenden: deutsche Entscheidung) gegen die VWAG eine Geldbuße in Höhe von 1 Mrd. Euro aufgrund eines Verfahrens wegen der Manipulation von Abgasen bestimmter Dieselmotoren des Volkswagen-Konzerns, bei denen Ermittlungen ergeben hatten, dass die Emissionsnormen umgangen worden waren. In dieser Entscheidung wurde klargestellt, dass mit einem Teil der Geldbuße, und zwar einem Betrag in Höhe von 5 Mio. Euro, das von der Entscheidung erfasste Verhalten geahndet werde, und dass der restliche Betrag dazu bestimmt sei, der VWAG den wirtschaftlichen Vorteil zu entziehen, den sie aus dem Einbau der in Rn. 17 des vorliegenden Urteils genannten Software gezogen habe.
20 Die deutsche Entscheidung beruhte auf der Feststellung, dass die VWAG in Bezug auf die Entwicklung der in Rn. 17 des vorliegenden Urteils genannten Software und deren Einbau in 10,7 Millionen weltweit verkaufte Fahrzeuge, davon etwa 700000 Fahrzeuge in Italien, gegen die Bestimmungen des Gesetzes über Ordnungswidrigkeiten, die die fahrlässige Verletzung der Aufsichtspflicht bei der Tätigkeit von Unternehmen ahnden, verstoßen habe. Diese Software sei als eine nach Art. 5 Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Juni 2007 über die Typgenehmigung von Kraftfahrzeugen hinsichtlich der Emissionen von leichten Personenkraftwagen und Nutzfahrzeugen (Euro 5 und Euro 6) und über den Zugang zu Reparatur- und Wartungsinformationen für Fahrzeuge (ABl. 2007, L 171, S. 1) unzulässige Abschalteinrichtung anzusehen.
21 Aus dieser Entscheidung geht hervor, dass die deutsche Staatsanwaltschaft ferner feststellte, die fehlende Aufsicht über die Entwicklung und den Einbau der Software sei eine der Ursachen gewesen, die zu weiteren Verstößen der VWAG weltweit zwischen 2007 und 2015 bei der Beantragung der Typgenehmigung, der Werbung für Fahrzeuge und deren Verkauf an Endabnehmer beigetragen hätten, insbesondere weil diese Fahrzeuge trotz des Vorhandenseins der unzulässigen Software der Öffentlichkeit als Fahrzeuge mit umweltfreundlicher Dieseltechnologie, d. h. als besonders emissionsarme Fahrzeuge, präsentiert worden seien.
22 Die deutsche Entscheidung wurde am 13. Juni 2018 rechtskräftig, da die VWAG die darin festgesetzte Geldbuße zahlte und förmlich auf die Einlegung eines Rechtsbehelfs gegen diese Entscheidung verzichtete.
23 Im Rahmen des beim Tribunale Amministrativo Regionale per il Lazio (Regionales Verwaltungsgericht Latium) anhängigen Verfahrens machten die VWGI und die VWAG u. a. geltend, dass die streitige Entscheidung in der Folge wegen Verstoßes gegen den in Art. 50 der Charta und Art. 54 SDÜ geregelten Grundsatz ne bis in idem rechtswidrig geworden sei.
24 Mit Urteil vom 3. April 2019 wies dieses Gericht die Klage der VWGI und der VWAG u. a. mit der Begründung ab, dass der Grundsatz ne bis in idem der Aufrechterhaltung der in der streitigen Entscheidung vorgesehenen Geldbuße nicht entgegenstehe.
25 Die VWGI und die VWAG legten gegen dieses Urteil ein Rechtsmittel beim Consiglio di Stato (Staatsrat, Italien), dem vorlegenden Gericht, ein.
26 Nach Ansicht des vorlegenden Gerichts ist die Frage, ob der Grundsatz ne bis in idem im vorliegenden Fall Anwendung findet, vorab zu entscheiden.
27 Aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs, insbesondere aus dessen Urteil vom 20. März 2018, Garlsson Real Estate u. a. (C‑537/16, EU:C:2018:193, Rn. 63), gehe hervor, dass Art. 50 der Charta dahin auszulegen sei, dass er einer nationalen Regelung entgegenstehe, nach der es zulässig sei, gegen eine Person ein Verfahren zur Verhängung einer Geldbuße als Verwaltungssanktion strafrechtlicher Natur wegen rechtswidriger Marktmanipulationen fortzusetzen, wegen denen sie bereits rechtskräftig strafrechtlich verurteilt worden sei, sofern diese Verurteilung unter Berücksichtigung des der Gesellschaft durch die begangene Straftat zugefügten Schadens geeignet sei, die Straftat wirksam, verhältnismäßig und abschreckend zu ahnden.
28 Was erstens die mit der streitigen Entscheidung verhängte Sanktion angeht, so fragt sich das vorlegende Gericht, wie diese einzustufen ist. Es ist der Auffassung, dass diese Sanktion als Verwaltungsgeldbuße strafrechtlicher Natur eingestuft werden kann. Aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs ergebe sich nämlich, dass eine Verwaltungssanktion strafrechtlicher Natur sei, wenn sie, wie im vorliegenden Fall, nicht nur den durch die Straftat entstandenen Schaden ersetzen solle, sondern auch eine repressive Zielsetzung habe.
29 Zweitens führt das vorlegende Gericht nach dem Hinweis auf die Rechtsprechung des Gerichtshofs zum Grundsatz ne bis in idem an, dass dieser Grundsatz verhindern solle, dass ein Unternehmen erneut mit einer Sanktion belegt oder verfolgt werde, was voraussetze, dass das betreffende Unternehmen in einer früheren, nicht mehr anfechtbaren Entscheidung mit einer Sanktion belegt oder für nicht verantwortlich erklärt worden sei. Was die Frage betrifft, ob die streitige Entscheidung und die deutsche Entscheidung denselben Sachverhalt betreffen, führt das vorlegende Gericht insoweit die „Analogie, wenn nicht gar Identität“ und die „Homogenität“ der von den beiden Entscheidungen erfassten Verhaltensweisen an.
30 Ferner sei zu berücksichtigen, dass die in der streitigen Entscheidung vorgesehene Sanktion zwar vor der in der deutschen Entscheidung vorgesehenen Sanktion verhängt worden sei, letztere Entscheidung aber vor der erstgenannten Entscheidung rechtskräftig geworden sei.
31 Drittens und letztens gehe aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs hervor, dass eine Einschränkung der Anwendung des in Art. 50 der Charta verbürgten Grundsatzes ne bis in idem nach Art. 52 Abs. 1 der Charta gerechtfertigt werden könne. Nach Ansicht des vorlegenden Gerichts stellt sich daher auch die Frage, ob die in der streitigen Entscheidung angewandten Bestimmungen des Verbrauchergesetzbuchs, die die Richtlinie 2005/29 umsetzten und den Verbraucher schützen sollten, im Hinblick auf Art. 52 der Charta relevant sein könnten.
32 Das vorlegende Gericht weist insoweit darauf hin, dass nach dieser Rechtsprechung etwaige Einschränkungen von Art. 50 der Charta nur zulässig seien, wenn sie eine Reihe von Voraussetzungen erfüllten. Insbesondere müssten solche Einschränkungen dem Gemeinwohl dienende Zielsetzungen verfolgen, die eine Kumulierung von Sanktionen rechtfertigen könnten, durch klare und präzise Vorschriften geregelt werden, eine Koordinierung der Verfahren gewährleisten und den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit der Strafe wahren. Im vorliegenden Fall scheine es aber keine klare und bestimmte Vorschrift zu geben, die die Kumulierung von Sanktionen vorhersehbar mache, keine Koordinierung der fraglichen Verfahren vorgesehen zu sein und im Rahmen dieser Verfahren die höchstmögliche Sanktion verhängt worden zu sein.
33 Unter diesen Umständen hat der Consiglio di Stato (Staatsrat) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
1. Sind die wegen unlauterer Geschäftspraktiken verhängten Sanktionen im Sinne der nationalen Rechtsvorschriften zur Umsetzung der Richtlinie 2005/29 als Verwaltungssanktionen strafrechtlicher Natur einzustufen?
2. Ist Art. 50 der Charta dahin auszulegen, dass er einer nationalen Regelung entgegensteht, die es erlaubt, eine Verwaltungsgeldbuße strafrechtlicher Natur gegen eine juristische Person wegen rechtswidriger Handlungen in Form unlauterer Geschäftspraktiken gerichtlich zu bestätigen und rechtskräftig werden zu lassen, wegen derer diese Person in der Zwischenzeit in einem anderen Mitgliedstaat rechtskräftig strafrechtlich verurteilt worden ist, wobei die zweite Verurteilung rechtskräftig geworden ist, bevor über die gerichtliche Anfechtung der ersten Verwaltungsgeldbuße strafrechtlicher Natur rechtskräftig entschieden worden ist?
3. Können die Bestimmungen der Richtlinie 2005/29, insbesondere Art. 3 Abs. 4 und Art. 13 Abs. 2 Buchst. e, eine Abweichung vom Verbot des „ne bis in idem“ nach Art. 50 der Charta und Art. 54 SDÜ rechtfertigen?
Zur Zuständigkeit des Gerichtshofs und zur Zulässigkeit der Vorlagefragen
34 Die AGCM macht geltend, die Vorlagefragen seien als unzulässig zurückzuweisen, da sie für die Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits nicht sachdienlich seien. Zum einen seien Art. 50 der Charta und Art. 54 SDÜ im vorliegenden Fall nicht anwendbar, da sich die deutschen Rechtsvorschriften über die Haftung juristischer Personen, auf deren Grundlage die deutsche Entscheidung ergangen sei, nicht aus dem Unionsrecht ergäben. Zum anderen sei, während der Grundsatz ne bis in idem die Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen wegen derselben Tat verbiete, im vorliegenden Fall keine Identität des Sachverhalts gegeben, da die streitige Entscheidung und die deutsche Entscheidung unterschiedliche Personen und Verhaltensweisen beträfen. Jedenfalls schließe Art. 3 Abs. 4 der Richtlinie 2005/29 eine solche Identität aus.
35 Zum ersten dieser Argumente, das in Wirklichkeit die Zuständigkeit des Gerichtshofs für die Entscheidung über das Vorabentscheidungsersuchen betrifft, ist darauf hinzuweisen, dass sich aus Art. 19 Abs. 3 Buchst. b EUV und Art. 267 Abs. 1 AEUV ergibt, dass der Gerichtshof im Wege der Vorabentscheidung über die Auslegung des Unionsrechts oder über die Gültigkeit der Handlungen der Organe der Union entscheidet (Urteil vom 10. März 2021, Konsul Rzeczypospolitej Polskiej w N., C‑949/19, EU:C:2021:186, Rn. 23).
36 Erstens ist zur Auslegung von Art. 50 der Charta darauf hinzuweisen, dass deren Anwendungsbereich, was das Handeln der Mitgliedstaaten betrifft, in ihrem Art. 51 Abs. 1 definiert ist. Danach gilt sie für die Mitgliedstaaten nur bei der Durchführung des Rechts der Union; diese Bestimmung bestätigt die ständige Rechtsprechung des Gerichtshofs, nach der die in der Unionsrechtsordnung garantierten Grundrechte in allen unionsrechtlich geregelten Fallgestaltungen, aber nicht außerhalb derselben Anwendung finden (Urteil vom 23. März 2023, Dual Prod, C‑412/21, EU:C:2023:234, Rn. 22 und die dort angeführte Rechtsprechung). Wird dagegen eine rechtliche Situation nicht vom Unionsrecht erfasst, ist der Gerichtshof nicht zuständig, um über sie zu entscheiden, und die möglicherweise angeführten Bestimmungen der Charta können als solche keine neue Zuständigkeit begründen (Urteil vom 26. Februar 2013, Åkerberg Fransson, C‑617/10, EU:C:2013:105, Rn. 22).
37 Im vorliegenden Fall geht aus den Erläuterungen des vorlegenden Gerichts hervor, dass die streitige Entscheidung auf der Grundlage der italienischen Rechtsvorschriften zur Umsetzung der Richtlinie 2005/29 erlassen wurde und somit eine Durchführung des Rechts der Union im Sinne von Art. 51 Abs. 1 der Charta darstellt. Daraus folgt, dass die Charta auf den Ausgangsrechtsstreit Anwendung findet.
38 Was zweitens die Auslegung von Art. 54 SDÜ betrifft, so ist darauf hinzuweisen, dass das SDÜ nach dem Protokoll (Nr. 19) über den in den Rahmen der Europäischen Union einbezogenen Schengen-Besitzstand (ABl. 2010, C 83, S. 290), das dem Vertrag von Lissabon beigefügt ist, integraler Bestandteil des Unionsrechts ist (Urteil vom 10. März 2021, Konsul Rzeczypospolitej Polskiej w N., C‑949/19, EU:C:2021:186, Rn. 24).
39 Unter diesen Umständen ist der Gerichtshof für die Entscheidung über das Vorabentscheidungsersuchen zuständig.
40 Zum zweiten der in Rn. 34 des vorliegenden Urteils genannten Argumente ist darauf hinzuweisen, dass nach ständiger Rechtsprechung eine Vermutung für die Entscheidungserheblichkeit der Vorlagefragen des nationalen Gerichts spricht, die es zur Auslegung des Unionsrechts in dem rechtlichen und sachlichen Rahmen stellt, den es in eigener Verantwortung festgelegt und dessen Richtigkeit der Gerichtshof nicht zu prüfen hat. Der Gerichtshof darf die Entscheidung über ein Ersuchen eines nationalen Gerichts nur dann verweigern, wenn die erbetene Auslegung des Unionsrechts offensichtlich in keinem Zusammenhang mit den Gegebenheiten oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits steht, wenn das Problem hypothetischer Natur ist oder er nicht über die tatsächlichen oder rechtlichen Angaben verfügt, die für eine zweckdienliche Beantwortung der ihm vorgelegten Fragen erforderlich sind (Urteil vom 6. Oktober 2022, Contship Italia, C‑433/21 und C‑434/21, EU:C:2022:760, Rn. 24 und die dort angeführte Rechtsprechung).
41 Im vorliegenden Fall hat die AGCM nicht dargetan, dass die vom vorlegenden Gericht im Rahmen seiner Vorlagefragen erbetene Auslegung des Unionsrechts in keinem Zusammenhang mit den Gegebenheiten oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits steht oder ein Problem hypothetischer Natur betrifft. Es ist zwar Sache des vorlegenden Gerichts, zu prüfen, ob die streitige Entscheidung und die deutsche Entscheidung denselben Sachverhalt und dieselben Personen betreffen. Wie sich aus Rn. 29 des vorliegenden Urteils ergibt, weisen die Verhaltensweisen, auf die sich die streitige Entscheidung und die deutsche Entscheidung beziehen, nach Ansicht des vorlegenden Gerichts allerdings eine „Analogie, wenn nicht gar Identität“ auf. Im Übrigen zielt es mit seiner zweiten Frage auf eine Situation ab, in der gegen eine juristische Person wegen derselben Tat im Rahmen zweier unterschiedlicher Verfahren Sanktionen strafrechtlicher Natur verhängt werden. Somit scheint das vorlegende Gericht davon auszugehen, dass diese Person im vorliegenden Fall wegen derselben Straftat verfolgt und mit einer Sanktion belegt wird.
42 Vor diesem Hintergrund sind die Vorlagefragen als zulässig anzusehen.
Zu den Vorlagefragen
Zur ersten Frage
43 Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 50 der Charta dahin auszulegen ist, dass eine in den nationalen Rechtsvorschriften vorgesehene Verwaltungsgeldbuße, die von der für den Verbraucherschutz zuständigen nationalen Behörde gegen eine Gesellschaft wegen unlauterer Geschäftspraktiken verhängt wird, eine strafrechtliche Sanktion im Sinne dieser Bestimmung darstellt, obwohl sie in den nationalen Rechtsvorschriften als Verwaltungssanktion eingestuft wird.
44 Art. 50 der Charta bestimmt, dass „[n]iemand wegen einer Straftat, derentwegen er bereits in der Union nach dem Gesetz rechtskräftig verurteilt oder freigesprochen worden ist, in einem Strafverfahren erneut verfolgt oder bestraft werden [darf]“. Der Grundsatz ne bis in idem verbietet somit eine Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen, die strafrechtlicher Natur im Sinne dieses Artikels sind, gegenüber derselben Person wegen derselben Tat (Urteil vom 22. März 2022, bpost, C‑117/20, EU:C:2022:202, Rn. 24 und die dort angeführte Rechtsprechung).
45 Was die Beurteilung der strafrechtlichen Natur der im Ausgangsverfahren fraglichen Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen betrifft, so geht aus der Rechtsprechung hervor, dass dabei drei Kriterien maßgebend sind: erstens die rechtliche Einordnung der Zuwiderhandlung im innerstaatlichen Recht, zweitens die Art der Zuwiderhandlung und drittens der Schweregrad der dem Betroffenen drohenden Sanktion (Urteil vom 4. Mai 2023, MV – 98, C‑97/21, EU:C:2023:371, Rn. 38 und die dort angeführte Rechtsprechung).
46 Zwar ist es Sache des vorlegenden Gerichts, anhand der genannten Kriterien zu beurteilen, ob die im Ausgangsverfahren fraglichen straf- und verwaltungsrechtlichen Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen im Sinne von Art. 50 der Charta strafrechtlicher Natur sind, doch kann der Gerichtshof in seiner Vorabentscheidung Klarstellungen vornehmen, um dem nationalen Gericht eine Richtschnur für seine Auslegung zu geben (Urteil vom 20. März 2018, Garlsson Real Estate u. a., C‑537/16, EU:C:2018:193, Rn. 29 und die dort angeführte Rechtsprechung).
47 Im vorliegenden Fall geht hinsichtlich des ersten Kriteriums aus der Vorlageentscheidung hervor, dass nach Art. 27 Abs. 9 des Verbrauchergesetzbuchs die Sanktion und das Verfahren, das zur Verhängung einer solchen Sanktion führt, als verwaltungsrechtlich eingestuft werden.
48 Die Anwendung von Art. 50 der Charta beschränkt sich jedoch nicht allein auf Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen, die im nationalen Recht als „strafrechtlich“ eingestuft werden, sondern erstreckt sich – unabhängig von einer solchen innerstaatlichen Einordnung – auf Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen, die nach den beiden anderen in Rn. 45 des vorliegenden Urteils angeführten Kriterien strafrechtlicher Natur sind (Urteil vom 4. Mai 2023, MV – 98, C‑97/21, EU:C:2023:371, Rn. 41 und die dort angeführte Rechtsprechung).
49 Das zweite Kriterium, das sich auf die Art der Zuwiderhandlung bezieht, erfordert die Prüfung, ob mit der fraglichen Sanktion u. a. eine repressive Zielsetzung verfolgt wird, unbeschadet des Umstands, dass mit ihr auch eine präventive Zielsetzung verfolgt wird. Es liegt nämlich in der Natur strafrechtlicher Sanktionen, dass sie sowohl auf die Repression als auch auf die Prävention rechtswidriger Verhaltensweisen abzielen. Dagegen ist eine Maßnahme, die nur den durch die Zuwiderhandlung entstandenen Schaden ersetzen soll, nicht strafrechtlicher Natur (Urteil vom 4. Mai 2023, MV – 98, C‑97/21, EU:C:2023:371, Rn. 42).
50 Im vorliegenden Fall scheint aus dem Wortlaut von Art. 27 Abs. 9 des Verbrauchergesetzbuchs hervorzugehen, dass die in dieser Bestimmung vorgesehene Sanktion zwangsläufig zu den anderen Maßnahmen hinzukommt, die die AGCM gegen unlautere Geschäftspraktiken ergreifen kann und zu denen, wie die italienische Regierung in ihren schriftlichen Erklärungen ausgeführt hat, u. a. die Untersagung der Fortsetzung oder Wiederholung der fraglichen Praktiken gehört.
51 Obwohl die italienische Regierung in ihren schriftlichen Erklärungen geltend macht, dass die Repression unlauterer Geschäftspraktiken durch diese Untersagung gewährleistet sei und dass die in Art. 27 Abs. 9 des Verbrauchergesetzbuchs vorgesehene Sanktion folglich nicht darauf abziele, ein rechtswidriges Verhalten zu ahnden, sondern dem betreffenden Unternehmen den ungerechtfertigten Wettbewerbsvorteil zu entziehen, den es aufgrund seines Fehlverhaltens gegenüber den Verbrauchern erlangt habe, ist festzustellen, dass ein solches Ziel in der fraglichen Bestimmung in keiner Weise erwähnt wird.
52 Auch wenn das Ziel dieser Bestimmung darin bestünde, dem betroffenen Unternehmen den ungerechtfertigten Wettbewerbsvorteil zu entziehen, ändert dies darüber hinaus nichts daran, dass die Geldbuße je nach Schwere und Dauer des fraglichen Verstoßes variiert, was eine gewisse Abstufung und Progression bei der Festlegung der Sanktionen erkennen lässt, die verhängt werden können. Im Übrigen könnte, wenn dies das Ziel der Bestimmung wäre, der Umstand, dass diese vorzusehen scheint, dass die Geldbuße einen Höchstbetrag von 5 Mio. Euro erreichen kann, dazu führen, dass das Ziel nicht erreicht wird, wenn der ungerechtfertigte Wettbewerbsvorteil diesen Betrag übersteigt. Umgekehrt würde der Umstand, dass die Geldbuße nach Art. 27 Abs. 9 Satz 2 des Verbrauchergesetzbuchs bei bestimmten unlauteren Geschäftspraktiken offenbar nicht weniger als 50000 Euro betragen darf, bedeuten, dass die Geldbuße für diese Praktiken den Betrag des ungerechtfertigten Wettbewerbsvorteils übersteigen kann.
53 Zum dritten Kriterium, nämlich dem Schweregrad der im Ausgangsverfahren fraglichen Maßnahmen, ist darauf hinzuweisen, dass der Schweregrad nach Maßgabe der in den einschlägigen Bestimmungen vorgesehenen Höchststrafe beurteilt wird (Urteil vom 4. Mai 2023, MV – 98, C‑97/21, EU:C:2023:371, Rn. 46).
54 Insoweit genügt die Feststellung, dass eine Verwaltungsgeldbuße, die einen Betrag von 5 Mio. Euro erreichen kann, einen hohen Schweregrad aufweist, der geeignet ist, die Analyse zu stützen, nach der diese Sanktion strafrechtlicher Natur im Sinne von Art. 50 der Charta ist.
55 Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 50 der Charta dahin auszulegen ist, dass eine in den nationalen Rechtsvorschriften vorgesehene Verwaltungsgeldbuße, die von der für den Verbraucherschutz zuständigen nationalen Behörde gegen eine Gesellschaft wegen unlauterer Geschäftspraktiken verhängt wird, eine strafrechtliche Sanktion im Sinne dieser Bestimmung darstellt, obwohl sie in den nationalen Rechtsvorschriften als Verwaltungssanktion eingestuft wird, wenn sie eine repressive Zielsetzung verfolgt und einen hohen Schweregrad aufweist.
Zur zweiten Frage
56 Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob der in Art. 50 der Charta verankerte Grundsatz ne bis in idem dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung entgegensteht, die es erlaubt, eine gegen eine juristische Person wegen unlauterer Geschäftspraktiken verhängte Geldbuße strafrechtlicher Natur aufrechtzuerhalten, wenn diese Person wegen derselben Tat in einem anderen Mitgliedstaat strafrechtlich verurteilt worden ist, auch wenn diese Verurteilung nach dem Erlass der Entscheidung, mit der die Geldbuße verhängt wurde, erfolgt ist, aber rechtskräftig geworden ist, bevor über den gerichtlichen Rechtsbehelf gegen diese Entscheidung rechtskräftig geurteilt worden ist.
57 Aus der Rechtsprechung geht hervor, dass die Anwendung des Grundsatzes ne bis in idem zweierlei voraussetzt, nämlich zum einen, dass es eine frühere endgültige Entscheidung gibt (Voraussetzung „bis“), und zum anderen, dass bei der früheren Entscheidung und bei den späteren Verfolgungsmaßnahmen oder Entscheidungen auf denselben Sachverhalt abgestellt wird (Voraussetzung „idem“) (Urteil vom 22. März 2022, bpost, C‑117/20, EU:C:2022:202, Rn. 28).
Zur Voraussetzung „bis“
58 Was die Voraussetzung „bis“ anbelangt, ist es für die Annahme, dass eine gerichtliche Entscheidung über den einem zweiten Verfahren unterliegenden Sachverhalt endgültig entschieden hat, nicht nur erforderlich, dass diese Entscheidung rechtskräftig geworden ist, sondern auch, dass sie nach einer Prüfung in der Sache ergangen ist (Urteil vom 22. März 2022, bpost, C‑117/20, EU:C:2022:202, Rn. 29).
59 Zwar setzt die Anwendung des Grundsatzes ne bis in idem das Vorliegen einer früheren endgültigen Entscheidung voraus, doch folgt daraus nicht zwangsläufig, dass es sich bei den späteren Entscheidungen, denen der Grundsatz entgegensteht, nur um solche handeln kann, die nach der früheren endgültigen Entscheidung ergangen sind. Dieser Grundsatz schließt nämlich aus, dass bei Vorliegen einer endgültigen Entscheidung eine Strafverfolgung wegen derselben Tat eingeleitet oder aufrechterhalten werden kann.
60 Im vorliegenden Fall geht zum einen aus den Angaben des vorlegenden Gerichts hervor, dass die deutsche Entscheidung am 13. Juni 2018, d. h. nach dem Erlass der streitigen Entscheidung, rechtskräftig wurde. Zwar konnte die deutsche Entscheidung, solange sie nicht rechtskräftig geworden war, nicht angeführt werden, um im Hinblick auf den Grundsatz ne bis in idem dem von der AGCM geführten Verfahren und der streitigen Entscheidung entgegenzutreten, dies änderte sich aber, wenn sie zu einem Zeitpunkt rechtskräftig wurde, zu dem die streitige Entscheidung dies noch nicht war.
61 Entgegen dem Vorbringen der AGCM in ihren schriftlichen Erklärungen kann der Umstand, dass die deutsche Entscheidung rechtskräftig wurde, nachdem die VWAG die darin festgesetzte Geldbuße zahlte und auf ihre Anfechtung verzichtete, diese Beurteilung nicht in Frage stellen. Der in Art. 50 der Charta verankerte Grundsatz ne bis in idem findet nämlich Anwendung, sobald eine Entscheidung strafrechtlicher Natur rechtskräftig geworden ist, unabhängig davon, wie sie Rechtskraft erlangt hat.
62 Zum anderen scheint es, vorbehaltlich einer Überprüfung durch das vorlegende Gericht, dass die deutsche Entscheidung nach einer Prüfung in der Sache ergangen ist.
63 Unter diesen Umständen und vorbehaltlich einer Überprüfung durch das vorlegende Gericht zeigt sich somit, dass das Verfahren, das zum Erlass der deutschen Entscheidung geführt hat, durch eine endgültige Entscheidung im Sinne der in Rn. 58 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung beendet wurde.
Zur Voraussetzung „idem“
64 Was die Voraussetzung „idem“ betrifft, ergibt sich schon aus dem Wortlaut von Art. 50 der Charta, dass dieser es verbietet, dieselbe Person mehr als einmal wegen derselben Straftat in einem Strafverfahren zu verfolgen oder zu bestrafen (Urteil vom 22. März 2022, bpost, C‑117/20, EU:C:2022:202, Rn. 31).
65 Wie das vorlegende Gericht in seinem Vorabentscheidungsersuchen ausführt, betreffen sowohl die streitige Entscheidung als auch die deutsche Entscheidung dieselbe juristische Person, nämlich die VWAG. Dass die streitige Entscheidung darüber hinaus die VWGI betrifft, vermag diese Feststellung nicht in Frage zu stellen.
66 Für die Beurteilung, ob es sich um dieselbe Straftat handelt, ist nach gefestigter Rechtsprechung das Kriterium der Identität der materiellen Tat maßgebend, verstanden als das Vorliegen einer Gesamtheit konkreter, unlösbar miteinander verbundener Umstände, die zum Freispruch oder zur rechtskräftigen Verurteilung des Betroffenen geführt haben. Art. 50 der Charta verbietet es somit, wegen derselben Tat mehrere Sanktionen strafrechtlicher Natur am Ende verschiedener zu diesem Zweck durchgeführter Verfahren zu verhängen (Urteil vom 22. März 2022, bpost, C‑117/20, EU:C:2022:202, Rn. 33 und die dort angeführte Rechtsprechung).
67 Ferner sind nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs die rechtliche Einordnung der Tat nach nationalem Recht und das geschützte Rechtsgut für die Feststellung, ob dieselbe Straftat vorliegt, nicht erheblich, da die Reichweite des in Art. 50 der Charta gewährten Schutzes nicht von einem Mitgliedstaat zum anderen unterschiedlich sein kann (Urteil vom 22. März 2022, bpost, C‑117/20, EU:C:2022:202, Rn. 34 und die dort angeführte Rechtsprechung).
68 Im vorliegenden Fall zielt das vorlegende Gericht, wie bereits in Rn. 41 des vorliegenden Urteils ausgeführt, mit seiner zweiten Frage auf eine Situation ab, in der gegen eine juristische Person wegen derselben Tat im Rahmen zweier unterschiedlicher Verfahren Sanktionen strafrechtlicher Natur verhängt werden. Folglich scheint das vorlegende Gericht im Ausgangsrechtsstreit die Voraussetzung „idem“ als erfüllt anzusehen.
69 Wie sich aus der Vorlageentscheidung ergibt und wie in Rn. 29 des vorliegenden Urteils ausgeführt, bezieht sich dieses Gericht jedoch auch auf die „Analogie“ und die „Homogenität“ der fraglichen Handlungen.
70 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass, wie sich aus Rn. 66 des vorliegenden Urteils ergibt, der in Art. 50 der Charta geregelte Grundsatz ne bis in idem nur dann Anwendung finden kann, wenn die Taten, auf die sich die beiden fraglichen Verfahren bzw. Sanktionen beziehen, identisch sind. Es genügt nicht, dass der Sachverhalt ähnlich ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 22. März 2022, bpost, C‑117/20, EU:C:2022:202, Rn. 36).
71 Es ist zwar Sache des vorlegenden Gerichts, im Licht von Rn. 66 des vorliegenden Urteils zu beurteilen, ob die Verfolgungsmaßnahmen der deutschen Staatsanwaltschaft und der AGCM sowie die in der deutschen Entscheidung und in der streitigen Entscheidung gegen die VWAG verhängten Sanktionen denselben Sachverhalt und damit denselben Verstoß betreffen, doch kann der Gerichtshof in seiner Vorabentscheidung Klarstellungen vornehmen, um dem nationalen Gericht eine Richtschnur für seine Auslegung zu geben.
72 Insoweit ist erstens darauf hinzuweisen, dass, wie die niederländische Regierung in ihren schriftlichen Erklärungen ausgeführt hat, die von der deutschen Entscheidung erfasste Nachlässigkeit bei der Aufsicht über die Tätigkeiten einer in Deutschland ansässigen Organisation ein Verhalten ist, das sich vom Inverkehrbringen von Fahrzeugen in Italien, die mit einer im Sinne der Verordnung Nr. 715/2007 unzulässigen Abschalteinrichtung ausgestattet sind, und von der Verbreitung irreführender Werbung in diesem Mitgliedstaat, die Gegenstand der streitigen Entscheidung sind, unterscheidet.
73 Zweitens ist, soweit die deutsche Entscheidung das Inverkehrbringen von Fahrzeugen mit einer solchen unzulässigen Abschalteinrichtung, einschließlich in Italien, sowie die Verbreitung unrichtiger Werbung in Bezug auf den Verkauf dieser Fahrzeuge betrifft, klarzustellen, dass die bloße Tatsache, dass eine Behörde eines Mitgliedstaats in einer Entscheidung, mit der ein Verstoß gegen das Unionsrecht und die entsprechenden Bestimmungen des Rechts dieses Mitgliedstaats festgestellt wird, einen tatsächlichen Umstand erwähnt, der sich auf das Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats bezieht, nicht für die Annahme ausreichen kann, dass dieser tatsächliche Umstand der Grund für die Verfolgungsmaßnahmen ist oder von dieser Behörde als einer der Umstände angesehen wurde, die diesen Verstoß tatbestandlich begründen. Zu prüfen ist darüber hinaus, ob die besagte Behörde auf diesen tatsächlichen Umstand in der Tat eingegangen ist, um den Verstoß sowie die Verantwortlichkeit des Beschuldigten dafür festzustellen und gegebenenfalls eine Sanktion gegen ihn zu verhängen, damit davon auszugehen ist, dass der Verstoß das Hoheitsgebiet dieses anderen Mitgliedstaats umfasst (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 22. März 2022, Nordzucker u. a., C‑151/20, EU:C:2022:203, Rn. 44).
74 Drittens geht jedoch aus der deutschen Entscheidung hervor, dass der Verkauf dieser Fahrzeuge in anderen Mitgliedstaaten, einschließlich der Italienischen Republik, von der deutschen Staatsanwaltschaft bei der Berechnung des Betrags von 995 Mio. Euro berücksichtigt wurde, der gegen die VWAG als Abschöpfung des aus ihrem rechtswidrigen Verhalten gezogenen wirtschaftlichen Vorteils verhängt wurde.
75 Viertens hat die deutsche Staatsanwaltschaft in der deutschen Entscheidung ausdrücklich ausgeführt, dass der im deutschen Grundgesetz verankerte Grundsatz ne bis in idem der Verhängung weiterer strafrechtlicher Sanktionen gegen den Volkswagen-Konzern in Deutschland in Bezug auf die fragliche Abschalteinrichtung und deren Verwendung entgegenstehe. Nach Ansicht der Staatsanwaltschaft handelt es sich nämlich bei dem Sachverhalt, der von der deutschen Entscheidung erfasst werde und demjenigen, auf den sich die streitige Entscheidung beziehe, um denselben Sachverhalt im Sinne der Rechtsprechung des Gerichtshofs, da der Einbau der Abschalteinrichtung, die Erteilung der Typgenehmigung sowie die Werbung für die betreffenden Fahrzeuge und deren Verkauf eine Gesamtheit konkreter, unlösbar miteinander verbundener Umstände darstellten.
76 Sollte das vorlegende Gericht zur Feststellung gelangen, dass der Sachverhalt, der Gegenstand der beiden im Ausgangsverfahren fraglichen Verfahren war, identisch ist, würde die Kumulierung der gegen die VWAG verhängten Sanktionen die Anwendung des in Art. 50 der Charta verankerten Grundsatzes ne bis in idem einschränken.
77 Nach alledem ist auf die zweite Frage zu antworten, dass der in Art. 50 der Charta verankerte Grundsatz ne bis in idem dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung entgegensteht, die es erlaubt, eine gegen eine juristische Person wegen unlauterer Geschäftspraktiken verhängte Geldbuße strafrechtlicher Natur aufrechtzuerhalten, wenn diese Person wegen derselben Tat in einem anderen Mitgliedstaat strafrechtlich verurteilt worden ist, auch wenn diese Verurteilung nach dem Erlass der Entscheidung, mit der die Geldbuße verhängt wurde, erfolgt ist, aber rechtskräftig geworden ist, bevor über den gerichtlichen Rechtsbehelf gegen diese Entscheidung rechtskräftig geurteilt worden ist.
Zur dritten Frage
78 Mit seiner dritten Frage ersucht das vorlegende Gericht den Gerichtshof um Auslegung von Art. 3 Abs. 4 und Art. 13 Abs. 2 Buchst. e der Richtlinie 2005/29 sowie von Art. 50 der Charta und Art. 54 SDÜ, um die Frage zu beantworten, unter welchen Voraussetzungen Einschränkungen der Anwendung des Grundsatzes ne bis in idem gerechtfertigt sein können.
79 In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass es im Rahmen des durch Art. 267 AEUV eingeführten Verfahrens der Zusammenarbeit zwischen den nationalen Gerichten und dem Gerichtshof dessen Aufgabe ist, dem nationalen Gericht eine für die Entscheidung des bei ihm anhängigen Rechtsstreits sachdienliche Antwort zu geben. Hierzu hat der Gerichtshof die ihm vorgelegten Fragen gegebenenfalls umzuformulieren (Urteil vom 21. Dezember 2021, Randstad Italia, C‑497/20, EU:C:2021:1037, Rn. 42 und die dort angeführte Rechtsprechung).
80 Im vorliegenden Fall ist festzustellen, dass Art. 54 SDÜ sowie Art. 3 Abs. 4 und Art. 13 Abs. 2 Buchst. e der Richtlinie 2005/29, auf die sich die dritte Frage ausdrücklich bezieht, für die Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits unerheblich sind.
81 Erstens wird nach der Rechtsprechung mit Art. 54 SDÜ das Ziel verfolgt, einem Betroffenen zu garantieren, dass er sich, wenn er in einem Mitgliedstaat verurteilt worden ist und die Strafe verbüßt hat oder gegebenenfalls endgültig freigesprochen worden ist, im Schengen-Gebiet bewegen kann, ohne befürchten zu müssen, dass er in einem anderen Mitgliedstaat wegen derselben Tat verfolgt wird (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 29. Juni 2016, Kossowski, C‑486/14, EU:C:2016:483, Rn. 45, und vom 28. Oktober 2022, Generalstaatsanwaltschaft München [Auslieferung und ne bis in idem], C‑435/22 PPU, EU:C:2022:852, Rn. 78).
82 Da die Möglichkeit, sich frei zu bewegen, im Ausgangsverfahren nicht in Frage steht, da es zwei Unternehmen betrifft, von denen eines in Deutschland und das andere in Italien ansässig ist, ist eine Auslegung von Art. 54 SDÜ für die Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits nicht erforderlich.
83 Zweitens gehen nach Art. 3 Abs. 4 der Richtlinie 2005/29, wenn die Bestimmungen dieser Richtlinie mit anderen Rechtsvorschriften der Union, die besondere Aspekte unlauterer Geschäftspraktiken regeln, kollidieren, die Letzteren vor und sind für diese besonderen Aspekte maßgebend. Bereits aus dem Wortlaut von Art. 3 Abs. 4 der Richtlinie 2005/29 sowie aus deren zehntem Erwägungsgrund ergibt sich, dass diese Richtlinie nur insoweit gilt, als keine spezifischen Vorschriften des Unionsrechts vorliegen, die spezielle Aspekte unlauterer Geschäftspraktiken regeln, und dass diese Bestimmung ausdrücklich die Kollision von Unionsregelungen und nicht von nationalen Regelungen betrifft (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 13. September 2018, Wind Tre und Vodafone Italia, C‑54/17 und C‑55/17, EU:C:2018:710, Rn. 58 und 59 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).
84 Aus der Vorlageentscheidung geht jedoch nicht hervor, dass im vorliegenden Fall eine Kollision zwischen den Vorschriften des Unionsrechts vorliegt. Da Art. 3 Abs. 4 der Richtlinie 2005/29 gerade eine Kumulierung von Verfahren und Sanktionen verhindern soll, ist diese Bestimmung jedenfalls für die Beantwortung der Frage unerheblich, unter welchen Umständen Abweichungen vom Grundsatz ne bis in idem möglich sind.
85 Drittens ist Art. 13 Abs. 2 Buchst. e dieser Richtlinie in zeitlicher Hinsicht nicht auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbar, da diese Bestimmung durch die Richtlinie 2019/2161 in die Richtlinie 2005/29 eingefügt wurde und erst ab dem 28. Mai 2022 anwendbar ist.
86 Unter diesen Umständen ist davon auszugehen, dass das vorlegende Gericht mit seiner dritten Frage im Wesentlichen wissen möchte, unter welchen Voraussetzungen Einschränkungen der Anwendung des in Art. 50 der Charta verankerten Grundsatzes ne bis in idem gerechtfertigt werden können.
87 Eine Einschränkung der Anwendung dieses Grundsatzes kann auf der Grundlage von Art. 52 Abs. 1 der Charta gerechtfertigt werden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 22. März 2022, bpost, C‑117/20, EU:C:2022:202, Rn. 40 und die dort angeführte Rechtsprechung).
88 Nach Art. 52 Abs. 1 Satz 1 der Charta muss jede Einschränkung der Ausübung der in der Charta anerkannten Rechte und Freiheiten gesetzlich vorgesehen sein und den Wesensgehalt dieser Rechte und Freiheiten achten. Nach Art. 52 Abs. 1 Satz 2 dürfen Einschränkungen dieser Rechte und Freiheiten unter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit nur vorgenommen werden, wenn sie erforderlich sind und den von der Union anerkannten dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen oder den Erfordernissen des Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer tatsächlich entsprechen.
89 Im vorliegenden Fall ist es Sache des vorlegenden Gerichts, zu prüfen, ob es, wie aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten hervorzugehen scheint, gesetzlich vorgesehen war, dass jede der betreffenden nationalen Behörden tätig wird, was – wie geltend gemacht wird – zu einer Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen geführt habe.
90 Diese Möglichkeit, Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen zu kumulieren, wahrt den Wesensgehalt von Art. 50 der Charta, sofern die betreffenden nationalen Regelungen es nicht ermöglichen, denselben Sachverhalt aufgrund desselben Verstoßes oder zur Verfolgung desselben Ziels zu verfolgen und zu ahnden, sondern nur die Möglichkeit einer Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen aufgrund unterschiedlicher Regelungen vorsehen (Urteil vom 22. März 2022, bpost, C‑117/20, EU:C:2022:202, Rn. 43).
91 Zur Frage, ob die Einschränkung der Anwendung des Grundsatzes ne bis in idem einer dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzung entspricht, ist festzustellen, dass mit den beiden im Ausgangsverfahren fraglichen nationalen Regelungen verschiedene legitime Ziele verfolgt werden.
92 Wie nämlich der Generalanwalt in Nr. 88 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, soll die nationale Bestimmung, auf deren Grundlage die deutsche Entscheidung erlassen wurde, sicherstellen, dass sich Unternehmen und ihre Beschäftigten gesetzeskonform verhalten, und ahndet daher fahrlässige Verstöße gegen die Überwachungspflicht im Bereich einer unternehmerischen Tätigkeit, während die von der AGCM angewandten Bestimmungen des Verbrauchergesetzbuchs die Richtlinie 2005/29 umsetzen und ihr Zweck gemäß Art. 1 dieser Richtlinie darin besteht, ein hohes Verbraucherschutzniveau sicherzustellen und zugleich zum reibungslosen Funktionieren des Binnenmarkts beizutragen.
93 Zur Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit ist festzustellen, dass nach diesem Grundsatz die in der nationalen Regelung vorgesehene Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen nicht die Grenzen dessen überschreiten darf, was zur Erreichung der mit dieser Regelung zulässigerweise verfolgten Ziele geeignet und erforderlich ist; stehen mehrere geeignete Maßnahmen zur Auswahl, ist die am wenigsten belastende zu wählen, und die durch sie bedingten Nachteile müssen in angemessenem Verhältnis zu den angestrebten Zielen stehen (Urteil vom 22. März 2022, bpost, C‑117/20, EU:C:2022:202, Rn. 48 und die dort angeführte Rechtsprechung).
94 Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass die Behörden berechtigt sind, auf bestimmte für die Gesellschaft schädliche Verhaltensweisen einander ergänzende rechtliche Antworten zu geben, indem in verschiedenen Verfahren in zusammenhängender Weise unterschiedliche Aspekte des betreffenden sozialen Problems behandelt werden, sofern diese kombinierten rechtlichen Antworten keine übermäßige Belastung für die betreffende Person darstellen. Die Tatsache, dass mit zwei Verfahren unterschiedliche dem Gemeinwohl dienende Zielsetzungen verfolgt werden, deren kumulierter Schutz legitim ist, kann daher im Rahmen der Prüfung der Verhältnismäßigkeit einer Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen als Faktor zur Rechtfertigung dieser Kumulierung berücksichtigt werden, sofern diese Verfahren komplementär sind und die zusätzliche Belastung durch diese Kumulierung somit durch die beiden verfolgten Ziele gerechtfertigt werden kann (Urteil vom 22. März 2022, bpost, C‑117/20, EU:C:2022:202, Rn. 49).
95 Hinsichtlich der zwingenden Erforderlichkeit einer solchen Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen ist zu prüfen, ob es klare und präzise Regeln gibt, anhand deren sich vorhersehen lässt, bei welchen Handlungen und Unterlassungen eine Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen in Frage kommt, und die eine Koordinierung zwischen den verschiedenen Behörden ermöglichen; weiter ist zu prüfen, ob die beiden Verfahren in hinreichend koordinierter Weise und in einem engen zeitlichen Zusammenhang geführt wurden und ob die gegebenenfalls im Rahmen des chronologisch zuerst geführten Verfahrens verhängte Sanktion bei der Bestimmung der zweiten Sanktion berücksichtigt wurde, so dass die Belastungen, die sich aus einer solchen Kumulierung für die Betroffenen ergeben, auf das zwingend Erforderliche beschränkt bleiben und die Gesamtheit der verhängten Sanktionen der Schwere der begangenen Straftaten entspricht (Urteil vom 22. März 2022, bpost, C‑117/20, EU:C:2022:202, Rn. 51 und die dort angeführte Rechtsprechung).
96 Daraus folgt, dass eine Kumulierung von Verfahren oder Sanktionen wegen derselben Tat insbesondere drei Voraussetzungen erfüllen muss, um als gerechtfertigt angesehen zu werden, nämlich erstens, dass diese Kumulierung keine übermäßige Belastung für die betreffende Person darstellt, zweitens, dass es klare und präzise Regeln gibt, anhand deren sich vorhersehen lässt, bei welchen Handlungen und Unterlassungen eine Kumulierung in Frage kommt, und drittens, dass die betreffenden Verfahren in hinreichend koordinierter Weise und in einem engen zeitlichen Zusammenhang geführt wurden.
97 Zur ersten dieser Voraussetzungen ist darauf hinzuweisen, dass die streitige Entscheidung eine Geldbuße von 5 Mio. Euro festsetzt, die zu der mit der deutschen Entscheidung gegen die VWAG verhängten Geldbuße in Höhe von 1 Mrd. Euro hinzukäme. Angesichts dessen, dass die VWAG die Geldbuße in Höhe von 1 Mrd. Euro akzeptiert hat, ist nicht ersichtlich, dass die mit der streitigen Entscheidung verhängte Geldbuße, deren Betrag nur 0,5 % der in der deutschen Entscheidung festgesetzten Geldbuße entspricht, dazu geführt hätte, dass die Kumulierung dieser Sanktionen eine übermäßige Belastung für diese Gesellschaft darstellt. Unter diesen Umständen ist es unerheblich, dass nach den Angaben des vorlegenden Gerichts die höchstmögliche in den einschlägigen Rechtsvorschriften vorgesehene Sanktion verhängt wurde.
98 Was die zweite Voraussetzung betrifft, hat das vorlegende Gericht zwar keine deutschen oder italienischen Bestimmungen angeführt, die speziell die Möglichkeit vorsehen, dass bei einem Verhalten wie dem von der streitigen Entscheidung und der deutschen Entscheidung erfassten, selbst wenn es sich um dasselbe Verhalten handelt, eine Kumulierung von Verfahren oder Sanktionen in verschiedenen Mitgliedstaaten in Frage kommt, jedoch lässt nichts die Annahme zu, dass die VWAG nicht hätte vorhersehen können, dass dieses Verhalten in mindestens zwei Mitgliedstaaten zu Verfahren und Sanktionen führen könnte, die entweder auf die für unlautere Geschäftspraktiken geltenden Vorschriften oder auf andere Vorschriften wie die des Gesetzes über Ordnungswidrigkeiten gestützt würden, deren jeweilige Klarheit und Präzision im Übrigen nicht in Frage gestellt worden zu sein scheinen.
99 Was drittens die in Rn. 96 des vorliegenden Urteils genannte Voraussetzung der Koordinierung der Verfahren betrifft, so zeigt sich, auch unter Berücksichtigung der Informationen, die die VWAG in der mündlichen Verhandlung vor dem Gerichtshof vorgelegt hat, dass zwischen der deutschen Staatsanwaltschaft und der AGCM keine Koordinierung stattgefunden hat, obwohl die fraglichen Verfahren einige Monate lang parallel geführt worden zu sein scheinen und die deutsche Staatsanwaltschaft den vorgelegten Informationen zufolge bei Erlass ihrer eigenen Entscheidung von der streitigen Entscheidung Kenntnis hatte.
100 Wie der Generalanwalt in Nr. 107 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, sah die Verordnung (EG) Nr. 2006/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 27. Oktober 2004 über die Zusammenarbeit zwischen den für die Durchsetzung der Verbraucherschutzgesetze zuständigen nationalen Behörden („Verordnung über die Zusammenarbeit im Verbraucherschutz“) (ABl. 2004, L 364, S. 1), die durch die Verordnung 2017/2394 ersetzt wurde, zwar ein Instrument für die Zusammenarbeit und Koordinierung der für die Umsetzung der Verbraucherschutzvorschriften zuständigen nationalen Behörden vor, jedoch gehört die deutsche Staatsanwaltschaft im Unterschied zur AGCM nicht zu diesen Behörden.
101 Zwar scheint die deutsche Staatsanwaltschaft, wie aus den von der VWAG in der mündlichen Verhandlung vor dem Gerichtshof vorgelegten Informationen hervorgeht, Schritte bei der Agentur der Europäischen Union für justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen (Eurojust) unternommen zu haben, um in Bezug auf den von der deutschen Entscheidung erfassten Sachverhalt eine Kumulierung von Strafverfahren gegen die VWAG in mehreren Mitgliedstaaten zu verhindern, aus den vorgelegten Informationen ergibt sich aber, dass die italienischen Behörden nicht auf die Strafverfolgung gegen die VWAG verzichtet haben und dass die AGCM an diesem Koordinierungsversuch bei Eurojust nicht mitgewirkt hat.
102 Soweit die italienische Regierung im Wesentlichen vorträgt, dass es, um in einer Situation wie der des Ausgangsverfahrens eine Kumulierung von Verfahren und Sanktionen wegen derselben Tat als gerechtfertigt anzusehen, lediglich erforderlich sei, zu prüfen, ob der Grundsatz ne bis in idem in seiner „materiellen Dimension“, wie es diese Regierung formuliert, beachtet werde, d. h., zu prüfen, ob die Gesamtsanktion, die sich aus den beiden fraglichen Verfahren ergebe, nicht offensichtlich unverhältnismäßig sei, ohne dass eine Koordinierung dieser Verfahren erforderlich wäre, ist darauf hinzuweisen, dass die Voraussetzungen, die von der in Rn. 95 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung aufgestellt worden sind und unter denen eine solche Kumulierung als gerechtfertigt angesehen werden kann, die Möglichkeit eingrenzen, die Anwendung des Grundsatzes ne bis in idem einzuschränken. Folglich können diese Voraussetzungen nicht von Fall zu Fall variieren.
103 Zwar kann sich die Koordinierung von Verfahren oder Sanktionen, die denselben Sachverhalt betreffen, als schwieriger erweisen, wenn die betreffenden Behörden, wie im vorliegenden Fall, zu verschiedenen Mitgliedstaaten gehören. Auch wenn die praktischen Beschränkungen, die einem solchen grenzüberschreitenden Kontext eigen sind, zu berücksichtigen sind, können sie es jedoch, wie der Generalanwalt in den Nrn. 114 und 115 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, nicht rechtfertigen, dass das Koordinierungserfordernis relativiert oder darauf verzichtet wird.
104 Eine solche Koordinierung von Verfahren oder Sanktionen kann ausdrücklich durch das Unionsrecht geregelt werden, wie das Koordinierungssystem zeigt, das in der Verordnung Nr. 2006/2004 vorgesehen war und nunmehr in der Verordnung 2017/2394 vorgesehen ist, auch wenn es auf unlautere Geschäftspraktiken beschränkt ist.
105 Was die von der Europäischen Kommission in ihren schriftlichen Erklärungen und in der mündlichen Verhandlung angesprochene Gefahr betrifft, dass jemand eine strafrechtliche Verurteilung in einem Mitgliedstaat allein zu dem Zweck anstrebt, sich vor Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen wegen derselben Tat in einem anderen Mitgliedstaat zu schützen, enthalten die dem Gerichtshof vorgelegten Akten keine Anhaltspunkte dafür, dass sich eine solche Gefahr im Rahmen des Ausgangsrechtsstreits verwirklichen könnte. Insbesondere können die in Rn. 97 des vorliegenden Urteils genannten Umstände ein solches Vorbringen nicht stützen.
106 Nach alledem ist auf die dritte Frage zu antworten, dass Art. 52 Abs. 1 der Charta dahin auszulegen ist, dass er eine Einschränkung der Anwendung des in Art. 50 der Charta verankerten Grundsatzes ne bis in idem zulässt, um eine Kumulierung von Verfahren oder Sanktionen wegen derselben Tat zu ermöglichen, sofern die in Art. 52 Abs. 1 der Charta vorgesehenen Voraussetzungen, wie sie von der Rechtsprechung näher bestimmt wurden, erfüllt sind, nämlich erstens, dass diese Kumulierung keine übermäßige Belastung für die betreffende Person darstellt, zweitens, dass es klare und präzise Regeln gibt, anhand deren sich vorhersehen lässt, bei welchen Handlungen und Unterlassungen eine Kumulierung in Frage kommt, und drittens, dass die betreffenden Verfahren in hinreichend koordinierter Weise und in einem engen zeitlichen Zusammenhang geführt wurden.
Kosten
107 Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Erste Kammer) für Recht erkannt:
1. Art. 50 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union ist dahin auszulegen, dass eine in den nationalen Rechtsvorschriften vorgesehene Verwaltungsgeldbuße, die von der für den Verbraucherschutz zuständigen nationalen Behörde gegen eine Gesellschaft wegen unlauterer Geschäftspraktiken verhängt wird, eine strafrechtliche Sanktion im Sinne dieser Bestimmung darstellt, obwohl sie in den nationalen Rechtsvorschriften als Verwaltungssanktion eingestuft wird, wenn sie eine repressive Zielsetzung verfolgt und einen hohen Schweregrad aufweist.
2. Der in Art. 50 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union verankerte Grundsatz ne bis in idem ist dahin auszulegen, dass er einer nationalen Regelung entgegensteht, die es erlaubt, eine gegen eine juristische Person wegen unlauterer Geschäftspraktiken verhängte Geldbuße strafrechtlicher Natur aufrechtzuerhalten, wenn diese Person wegen derselben Tat in einem anderen Mitgliedstaat strafrechtlich verurteilt worden ist, auch wenn diese Verurteilung nach dem Erlass der Entscheidung, mit der die Geldbuße verhängt wurde, erfolgt ist, aber rechtskräftig geworden ist, bevor über den gerichtlichen Rechtsbehelf gegen diese Entscheidung rechtskräftig geurteilt worden ist.
3. Art. 52 Abs. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union ist dahin auszulegen, dass er eine Einschränkung der Anwendung des in Art. 50 der Charta verankerten Grundsatzes ne bis in idem zulässt, um eine Kumulierung von Verfahren oder Sanktionen wegen derselben Tat zu ermöglichen, sofern die in Art. 52 Abs. 1 der Charta vorgesehenen Voraussetzungen, wie sie von der Rechtsprechung näher bestimmt wurden, erfüllt sind, nämlich erstens, dass diese Kumulierung keine übermäßige Belastung für die betreffende Person darstellt, zweitens, dass es klare und präzise Regeln gibt, anhand deren sich vorhersehen lässt, bei welchen Handlungen und Unterlassungen eine Kumulierung in Frage kommt, und drittens, dass die betreffenden Verfahren in hinreichend koordinierter Weise und in einem engen zeitlichen Zusammenhang geführt wurden.
Unterschriften
(*1) Verfahrenssprache: Italienisch.
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Urteil des Gerichtshofs (Sechste Kammer) vom 14. September 2023.#NK gegen Bezirkshauptmannschaft Feldkirch.#Vorabentscheidungsersuchen des Landesverwaltungsgerichts Vorarlberg.#Vorlage zur Vorabentscheidung – Art. 50 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Grundsatz ne bis in idem – Rechtskräftige Einstellung eines ersten Verfahrens, das wegen Verstoßes gegen eine Bestimmung des nationalen Glücksspielrechts eingeleitet wurde – Verwaltungsstrafe, die wegen eines auf demselben Sachverhalt beruhenden Verstoßes gegen eine andere Bestimmung dieses Rechts verhängt wurde – Einstellung des ersten Verfahrens wegen einer falschen rechtlichen Einordnung des begangenen Verstoßes.#Rechtssache C-55/22.
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62022CJ0055
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ECLI:EU:C:2023:670
| 2023-09-14T00:00:00 |
Gerichtshof, Collins
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62022CJ0055
URTEIL DES GERICHTSHOFS (Sechste Kammer)
14. September 2023 (*1)
„Vorlage zur Vorabentscheidung – Art. 50 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Grundsatz ne bis in idem – Rechtskräftige Einstellung eines ersten Verfahrens, das wegen Verstoßes gegen eine Bestimmung des nationalen Glücksspielrechts eingeleitet wurde – Verwaltungsstrafe, die wegen eines auf demselben Sachverhalt beruhenden Verstoßes gegen eine andere Bestimmung dieses Rechts verhängt wurde – Einstellung des ersten Verfahrens wegen einer falschen rechtlichen Einordnung des begangenen Verstoßes“
In der Rechtssache C‑55/22
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Landesverwaltungsgericht Vorarlberg (Österreich) mit Beschluss vom 18. Januar 2022, beim Gerichtshof eingegangen am 28. Januar 2022, in dem Verfahren
NK
gegen
Bezirkshauptmannschaft Feldkirch
erlässt
DER GERICHTSHOF (Sechste Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten P. G. Xuereb (Berichterstatter), des Richters A. Kumin und der Richterin I. Ziemele,
Generalanwalt: A. M. Collins,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
–
der österreichischen Regierung, vertreten durch J. Schmoll und C. Leeb als Bevollmächtigte,
–
der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna als Bevollmächtigten,
–
der Europäischen Kommission, vertreten durch S. Grünheid und M. Wasmeier als Bevollmächtigte,
aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,
folgendes
Urteil
1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 50 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta).
2 Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen NK und der Bezirkshauptmannschaft Feldkirch (Österreich) wegen Verwaltungsstrafen, die diese gegen NK wegen Verstößen gegen das österreichische Glücksspielrecht verhängt hat.
Rechtlicher Rahmen
3 § 2 („Ausspielungen“) des Glücksspielgesetzes vom 21. Dezember 1989 (BGBl. 620/1989) in der im Ausgangsverfahren anwendbaren Fassung (im Folgenden: GSpG) bestimmt:
„(1) Ausspielungen sind Glücksspiele,
1. die ein Unternehmer veranstaltet, organisiert, anbietet oder zugänglich macht und
2. bei denen Spieler oder andere eine vermögenswerte Leistung in Zusammenhang mit der Teilnahme am Glücksspiel erbringen (Einsatz) und
3. bei denen vom Unternehmer, von Spielern oder von anderen eine vermögenswerte Leistung in Aussicht gestellt wird (Gewinn).
(2) Unternehmer ist, wer selbstständig eine nachhaltige Tätigkeit zur Erzielung von Einnahmen aus der Durchführung von Glücksspielen ausübt, mag sie auch nicht auf Gewinn gerichtet sein.
Wenn von unterschiedlichen Personen in Absprache miteinander Teilleistungen zur Durchführung von Glücksspielen mit vermögenswerten Leistungen im Sinne der Z 2 und 3 des Abs. 1 an einem Ort angeboten werden, so liegt auch dann Unternehmereigenschaft aller an der Durchführung des Glücksspiels unmittelbar beteiligten Personen vor, wenn bei einzelnen von ihnen die Einnahmenerzielungsabsicht fehlt oder sie an der Veranstaltung, Organisation oder dem Angebot des Glücksspiels nur beteiligt sind.
…
(4) Verbotene Ausspielungen sind Ausspielungen, für die eine Konzession oder Bewilligung nach diesem Bundesgesetz nicht erteilt wurde und die nicht vom Glücksspielmonopol des Bundes gemäß § 4 ausgenommen sind.“
4 § 52 („Verwaltungsstrafbestimmungen“) GSpG sieht vor:
„(1) Es begeht eine Verwaltungsübertretung und ist von der Behörde … mit einer Geldstrafe von bis zu 60000 Euro … zu bestrafen,
1. wer zur Teilnahme vom Inland aus verbotene Ausspielungen im Sinne des § 2 Abs. 4 veranstaltet, organisiert oder unternehmerisch zugänglich macht oder sich als Unternehmer im Sinne des § 2 Abs. 2 daran beteiligt;
…
(2) Bei Übertretung des Abs. 1 Z 1 mit bis zu drei Glücksspielautomaten oder anderen Eingriffsgegenständen ist für jeden Glücksspielautomaten oder anderen Eingriffsgegenstand eine Geldstrafe in der Höhe von 1000 Euro bis zu 10000 Euro, im Falle der erstmaligen und weiteren Wiederholung von 3000 Euro bis zu 30000 Euro, bei Übertretung mit mehr als drei Glücksspielautomaten oder anderen Eingriffsgegenständen für jeden Glücksspielautomaten oder anderen Eingriffsgegenstand eine Geldstrafe von 3000 Euro bis zu 30000 Euro, im Falle der erstmaligen und weiteren Wiederholung von 6000 Euro bis zu 60000 Euro zu verhängen.“
Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefrage
5 NK ist Betreiber eines Lokals namens I.
6 Bei einer am 29. Dezember 2017 in diesem Lokal durchgeführten Kontrolle wurde festgestellt, dass dort vier funktionsfähige Glücksspielgeräte aufgestellt waren, obwohl keine Konzession für deren Betrieb erteilt worden war.
7 Mit Straferkenntnis vom 19. Februar 2018 verhängte die Bezirkshauptmannschaft Feldkirch gegen NK wegen Verstößen gegen § 52 Abs. 1 Z 1 drittes Tatbild GSpG in Verbindung mit § 2 Abs. 2 und 4 sowie § 4 GSpG vier Geldstrafen samt Ersatzfreiheitsstrafen, weil er als Betreiber des Lokals I Glücksspiele in Form von verbotenen Ausspielungen unternehmerisch zugänglich gemacht habe.
8 Mit Erkenntnis vom 13. August 2018 hob das Landesverwaltungsgericht Vorarlberg (Österreich), bei dem es sich um das hier vorlegende Gericht handelt, das Straferkenntnis vom 19. Februar 2018 auf und stellte das Verfahren mit der Begründung ein, dass ausweislich der getroffenen Sachverhaltsfeststellungen NK Glücksspiele nicht im Sinne von § 52 Abs. 1 Z 1 drittes Tatbild GSpG zugänglich gemacht, sondern im Sinne von § 52 Abs. 1 Z 1 erstes Tatbild GSpG veranstaltet habe. Nach Ansicht dieses Gerichts hätte eine Abänderung des Straferkenntnisses der Bezirkshauptmannschaft Feldkirch dahin, dass NK als Betreiber des Lokals I zu verantworten habe, dass er verbotene Ausspielungen veranstaltet habe, eine „unzulässige Auswechslung der Tat“ bedeutet.
9 Weder die Bezirkshauptmannschaft Feldkirch noch der Bundesminister für Finanzen (Österreich) erhoben gegen das Erkenntnis vom 13. August 2018 Revision, obwohl sie die rechtliche Möglichkeit dazu gehabt hätten.
10 Mit Straferkenntnis vom 30. November 2018 verhängte die Bezirkshauptmannschaft Feldkirch gegen NK wegen Verstößen gegen § 52 Abs. 1 Z 1 erstes Tatbild GSpG in Verbindung mit § 2 Abs. 2 und 4 sowie § 4 GSpG vier Geldstrafen samt Ersatzfreiheitsstrafen, weil er als Eigentümer von Glücksspielgeräten und als Betreiber des Lokals I am 29. Dezember 2017 Glücksspiele in Form von verbotenen Ausspielungen veranstaltet habe.
11 Mit Erkenntnis vom 4. Juli 2019 hob das vorlegende Gericht das Straferkenntnis vom 30. November 2018 auf. Das vorlegende Gericht führte aus, dass die Bezirkshauptmannschaft Feldkirch NK erneut für dieselbe Tat am selben Ort zur selben Zeit bestraft und somit denselben Sachverhalt nur unter ein anderes Tatbild subsumiert habe. Es liege eine Doppel- oder Mehrfachbestrafung im Sinne von Art. 4 Abs. 1 des Protokolls Nr. 7 zur am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten vor. Das Straferkenntnis sei deshalb aufzuheben und das Verwaltungsstrafverfahren einzustellen.
12 Gegen das Erkenntnis vom 4. Juli 2019 erhob die Bezirkshauptmannschaft Feldkirch Revision an den Verwaltungsgerichtshof (Österreich).
13 Mit Erkenntnis vom 14. Juni 2021 hob der Verwaltungsgerichtshof das Erkenntnis vom 4. Juli 2019 mit der Begründung auf, dass die rechtskräftige Einstellung des Strafverfahrens mit Erkenntnis vom 13. August 2018 es nicht verwehre, das Strafverfahren zur Feststellung der Verwirklichung des ersten Tatbilds nach § 52 Abs. 1 Z 1 GSpG fortzuführen und somit NK nach diesem Tatbild zu bestrafen.
14 Das vorlegende Gericht, das nach dem Erkenntnis vom 14. Juni 2021 erneut zu entscheiden hat, führt aus, dass es nach § 63 Abs. 1 des Verwaltungsgerichtshofsgesetzes grundsätzlich an die Rechtsansicht des Verwaltungsgerichtshofs gebunden sei, dies nach dessen Rechtsprechung jedoch nicht gelte, wenn nach der Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofs eine abweichende Entscheidung des Gerichtshofs ergehe.
15 Das vorlegende Gericht sieht sich vor die Frage gestellt, ob Art. 50 der Charta einer neuerlichen Verfolgung entgegensteht, wenn ein Strafverfahren nach dem GSpG wegen desselben Sachverhalts, der Gegenstand der neuerlichen Verfolgung ist, jedoch aufgrund einer anderen Bestimmung dieses Gesetzes nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung mit Sachverhaltsermittlung eingestellt wurde.
16 Zur Anwendbarkeit der Charta führt das vorlegende Gericht zunächst aus, wenn sich ein Mitgliedstaat auf zwingende Gründe des Allgemeininteresses berufe, um eine Regelung zu rechtfertigen, die geeignet sei, die Ausübung der Dienstleistungsfreiheit zu behindern, sei diese Rechtfertigung im Licht der allgemeinen Grundsätze des Unionsrechts und insbesondere der durch die Charta garantierten Grundrechte auszulegen.
17 Unter Heranziehung namentlich des Urteils vom 30. April 2014, Pfleger u. a. (C‑390/12, EU:C:2014:281, Rn. 35 und 36), das ebenfalls zu einer Vorlage eines österreichischen Gerichts in Anwendung des österreichischen Glücksspielrechts ergangen sei, weist das vorlegende Gericht sodann darauf hin, dass es als „Durchführung des Rechts der Union“ im Sinne von Art. 51 Abs. 1 der Charta anzusehen sei, wenn sich der Mitgliedstaat auf im Unionsrecht vorgesehene Ausnahmen berufe, um eine Beschränkung einer durch den AEU‑Vertrag garantierten Grundfreiheit zu rechtfertigen.
18 Schließlich seien Bürger der Europäischen Union Kunden des von NK betriebenen Lokals, und ein dort Angestellter sei Staatsangehöriger der Republik Bulgarien, somit eines anderen Mitgliedstaats.
19 Zum Grundsatz ne bis in idem weist das vorlegende Gericht zunächst darauf hin, dass dieser Grundsatz nicht nur in Art. 50 der Charta verankert sei, sondern insbesondere auch in Art. 54 des am 19. Juni 1990 in Schengen unterzeichneten und am 26. März 1995 in Kraft getretenen Übereinkommens zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen vom 14. Juni 1985 zwischen den Regierungen der Staaten der Benelux-Wirtschaftsunion, der Bundesrepublik Deutschland und der Französischen Republik betreffend den schrittweisen Abbau der Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen (ABl. 2000, L 239, S. 19) (im Folgenden: SDÜ).
20 Sodann habe der Gerichtshof im Urteil vom 9. März 2006, Van Esbroeck (C‑436/04, EU:C:2006:165, Rn. 27 ff.), ausgeführt, dass Art. 54 SDÜ den Ausdruck „dieselbe Tat“ verwende und damit nur auf das Vorliegen der fraglichen Tat abstelle und nicht auf ihre rechtliche Einstufung.
21 Das vorlegende Gericht weist ferner auf das Urteil des Gerichtshofs vom 20. März 2018, Garlsson Real Estate u. a. (C‑537/16, EU:C:2018:193, Rn. 37 und 38), hin, worin er ausgeführt habe, dass für die Beurteilung, ob es sich um dieselbe Straftat handle, das Kriterium der Identität der materiellen Tat maßgebend sei, verstanden als das Vorliegen einer Gesamtheit konkreter, unlösbar miteinander verbundener Umstände, die zum Freispruch oder zur rechtskräftigen Verurteilung des Betroffenen geführt hätten, und dass die rechtliche Einordnung der Tat nach nationalem Recht und das geschützte rechtliche Interesse für die Feststellung, ob dieselbe Straftat vorliege, nicht erheblich seien, da die Reichweite des in Art. 50 der Charta gewährten Schutzes nicht von einem Mitgliedstaat zum anderen unterschiedlich sein könne.
22 Schließlich verweist das vorlegende Gericht auf das Urteil des Gerichtshofs vom 29. Juni 2016, Kossowski (C‑486/14, EU:C:2016:483), wonach man sich, um zu bestimmen, ob ein Erkenntnis wie das seine eine Entscheidung darstelle, mit der ein Verfahren gegen jemanden im Sinne des Art. 54 SDÜ rechtskräftig abgeschlossen worden sei, vergewissern müsse, dass dieses Erkenntnis nach einer Prüfung in der Sache ergangen sei.
23 In Bezug auf den Fall, mit dem es befasst ist, führt das vorlegende Gericht zunächst aus, dass nicht geklärt werden müsse, ob es das erste Verfahren zu Recht eingestellt habe, da dieses Verfahren rechtskräftig abgeschlossen sei.
24 Das vorlegende Gericht geht sodann grundsätzlich davon aus, dass im ersten Strafverfahren, in dem der Sachverhalt ermittelt worden sei, ein Freispruch des Beschwerdeführers des Ausgangsverfahrens erfolgt sei und sich das zweite Strafverfahren auf dieselbe Tat bezogen habe. Dabei greife das Doppelverfolgungsverbot unabhängig davon, wie diese Tat rechtlich eingestuft werde, weshalb Art. 50 der Charta dahin auszulegen sei, dass er einer neuerlichen Bestrafung von NK entgegenstehe, und zwar, obwohl im ersten freisprechenden Erkenntnis festgehalten worden sei, dass es sich bei den gegenständlichen Spielen um verbotene Glücksspiele gehandelt habe. Diese Auslegung sei jedoch aufgrund des letztgenannten Umstands nicht derart offenkundig, dass keine Zweifel bleiben würden.
25 Unter diesen Umständen hat das Landesverwaltungsgericht Vorarlberg beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:
Ist der Grundsatz [ne] bis in idem, so wie er durch Art. 50 der Charta garantiert ist, dahin auszulegen, dass die zuständige Verwaltungsstrafbehörde eines Mitgliedstaats gehindert ist, gegen eine Person eine Geldstrafe wegen Verstoßes gegen eine glücksspielrechtliche Bestimmung zu verhängen, wenn zuvor ein gegen dieselbe Person aufgrund eines Verstoßes gegen eine andere glücksspielrechtliche Bestimmung (oder allgemeiner: Regelung aus demselben Rechtsbereich?) geführtes Verwaltungsstrafverfahren, welchem derselbe Sachverhalt zugrunde lag, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung mit Beweisaufnahme rechtskräftig eingestellt wurde?
Zur Zuständigkeit des Gerichtshofs
26 Sowohl die österreichische Regierung als auch die Kommission machen die Unzuständigkeit des Gerichtshofs geltend, weil das vorlegende Gericht weder hinreichend konkret angegeben habe, inwieweit die in Rede stehenden Bestimmungen des nationalen Rechts zur Durchführung des Unionsrechts erlassen worden seien, noch inwieweit der bei ihm anhängige Rechtsstreit trotz seines rein innerstaatlichen Charakters einen Anknüpfungspunkt zu den Bestimmungen des Unionsrechts über die Grundfreiheiten aufweise, der die Auslegung im Wege der Vorabentscheidung, um die ersucht werde, für die Entscheidung dieses Rechtsstreits erforderlich mache.
27 Nach Art. 51 Abs. 1 der Charta gilt diese für die Mitgliedstaaten ausschließlich bei der Durchführung des Unionsrechts.
28 Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs finden die in der Unionsrechtsordnung garantierten Grundrechte in allen unionsrechtlich geregelten Fallgestaltungen Anwendung, aber nicht außerhalb derselben. Insoweit hat der Gerichtshof bereits festgestellt, dass er eine nationale Regelung, die nicht in den Geltungsbereich des Unionsrechts fällt, nicht anhand der Charta beurteilen kann. Sobald eine solche Regelung in den Geltungsbereich des Unionsrechts fällt, hat der Gerichtshof dagegen im Rahmen eines Vorabentscheidungsersuchens dem vorlegenden Gericht alle Auslegungshinweise zu geben, die es benötigt, um die Vereinbarkeit dieser Regelung mit den Grundrechten beurteilen zu können, deren Wahrung er sichert (Urteile vom 26. Februar 2013, Åkerberg Fransson,C‑617/10, EU:C:2013:105, Rn. 19, sowie vom 5. Mai 2022, BPC Lux 2 u. a.,C‑83/20, EU:C:2022:346, Rn. 26 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).
29 In Bezug auf den Fall, dass sich eine nationale Regelung als geeignet erweist, die Ausübung einer oder mehrerer durch den Vertrag garantierter Grundfreiheiten zu beschränken, hat der Gerichtshof ferner entschieden, dass die im Unionsrecht vorgesehenen Ausnahmen für die betreffende Regelung nur insoweit als Rechtfertigung dieser Beschränkung gelten können, als den Grundrechten, deren Wahrung der Gerichtshof zu sichern hat, Genüge getan wird. Diese Verpflichtung zur Beachtung der Grundrechte fällt offensichtlich in den Geltungsbereich des Unionsrechts und folglich der Charta. Nimmt ein Mitgliedstaat im Unionsrecht vorgesehene Ausnahmen in Anspruch, um eine Beschränkung einer durch den Vertrag garantierten Grundfreiheit zu rechtfertigen, muss dies daher als „Durchführung des Rechts der Union“ im Sinne von Art. 51 Abs. 1 der Charta angesehen werden (vgl. Urteil vom 30. April 2014, Pfleger u. a.,C‑390/12, EU:C:2014:281, Rn. 36).
30 Außerdem hat der Gerichtshof bereits entschieden, dass Dienstleistungen, die ein in einem Mitgliedstaat ansässiger Erbringer ohne Ortswechsel an einen in einem anderen Mitgliedstaat ansässigen Empfänger erbringt, eine grenzüberschreitende Erbringung von Dienstleistungen im Sinne von Art. 56 AEUV darstellen (Urteile vom 11. Juni 2015, Berlington Hungary u. a.,C‑98/14, EU:C:2015:386, Rn. 26, sowie vom 3. Dezember 2020, BONVER WIN,C‑311/19, EU:C:2020:981, Rn. 19).
31 Im vorliegenden Fall hält das vorlegende Gericht Art. 50 der Charta für anwendbar, da nach dem Urteil vom 30. April 2014, Pfleger u. a. (C‑390/12, EU:C:2014:281, Rn. 35 und 36), das ebenfalls zu einer Vorlage eines österreichischen Gerichts in Anwendung des österreichischen Glücksspielrechts ergangen sei, dieses Recht geeignet sei, die Ausübung der durch Art. 56 AEUV gewährleisteten Dienstleistungsfreiheit zu behindern. Das vorlegende Gericht hat außerdem darauf hingewiesen, dass Unionsbürger, d. h. Bürger anderer Mitgliedstaaten als der Republik Österreich, Kunden des im Zuständigkeitsbereich des Landesverwaltungsgerichts Vorarlberg in Österreich und in nur 40 km Entfernung von der Grenze zu Deutschland belegenen Lokals von NK seien.
32 Unter diesen Umständen ist festzustellen, dass der Gerichtshof dafür zuständig ist, über das Vorabentscheidungsersuchen zu befinden.
Zur Zulässigkeit
33 Die österreichische Regierung vertritt die Ansicht, dass das Vorabentscheidungsersuchen als unzulässig zurückzuweisen sei, da ihm weder zu entnehmen sei, auf welche Regelungen des nationalen Rechts sich das vorlegende Gericht dabei konkret beziehe, noch inwieweit es – mit Blick auf solche Regelungen – Zweifel an der Auslegung des Unionsrechts habe. Die Kommission ihrerseits hält dieses Ersuchen deshalb für unzulässig, weil es im vorliegenden Fall an tatsächlichen und rechtlichen Angaben fehle, die für eine sachdienliche Beantwortung der Vorlagefrage erforderlich seien und die Entscheidungserheblichkeit der Frage aufzeigten.
34 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass es im Rahmen der durch Art. 267 AEUV geschaffenen Zusammenarbeit zwischen dem Gerichtshof und den nationalen Gerichten allein Sache des mit dem Rechtsstreit befassten nationalen Gerichts, in dessen Verantwortungsbereich die zu erlassende gerichtliche Entscheidung fällt, ist, im Hinblick auf die Besonderheiten der Rechtssache sowohl die Erforderlichkeit einer Vorabentscheidung für den Erlass seines Urteils als auch die Erheblichkeit der dem Gerichtshof von ihm vorgelegten Fragen zu beurteilen. Betreffen daher die vorgelegten Fragen die Auslegung des Unionsrechts, ist der Gerichtshof grundsätzlich gehalten, darüber zu befinden (Urteil vom 5. Mai 2022, Universiteit Antwerpen u. a.,C‑265/20, EU:C:2022:361, Rn. 22 und die dort angeführte Rechtsprechung).
35 Hieraus folgt, dass eine Vermutung für die Entscheidungserheblichkeit der Vorlagefragen eines nationalen Gerichts spricht, die es zur Auslegung des Unionsrechts in dem rechtlichen und sachlichen Rahmen stellt, den es in eigener Verantwortung festlegt und dessen Richtigkeit der Gerichtshof nicht zu prüfen hat. Die Zurückweisung des Ersuchens eines nationalen Gerichts ist dem Gerichtshof nur möglich, wenn die erbetene Auslegung des Unionsrechts offensichtlich in keinem Zusammenhang mit den Gegebenheiten oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits steht, wenn das Problem hypothetischer Natur ist oder wenn der Gerichtshof nicht über die tatsächlichen und rechtlichen Angaben verfügt, die für eine zweckdienliche Beantwortung der ihm vorgelegten Fragen erforderlich sind (Urteil vom 5. Mai 2022, Universiteit Antwerpen u. a.,C‑265/20, EU:C:2022:361, Rn. 23 und die dort angeführte Rechtsprechung).
36 Da die Vorlageentscheidung die Grundlage des Verfahrens vor dem Gerichtshof bildet, ist es somit unerlässlich, dass das nationale Gericht darin den tatsächlichen und rechtlichen Rahmen des Ausgangsrechtsstreits darlegt und ein Mindestmaß an Erläuterungen zu den Gründen für die Wahl der Vorschriften des Unionsrechts, um deren Auslegung es ersucht, und zu dem Zusammenhang gibt, den es zwischen diesen Vorschriften und der nationalen Regelung herstellt, die auf den bei ihm anhängigen Rechtsstreit anzuwenden ist (Urteil vom 5. Mai 2022, Universiteit Antwerpen u. a.,C‑265/20, EU:C:2022:361, Rn. 24 und die dort angeführte Rechtsprechung).
37 Diese kumulativen Anforderungen an den Inhalt eines Vorabentscheidungsersuchens sind in Art. 94 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs ausdrücklich aufgeführt. Danach muss das Vorabentscheidungsersuchen insbesondere „eine Darstellung der Gründe, aus denen das vorlegende Gericht Zweifel bezüglich der Auslegung oder der Gültigkeit bestimmter Vorschriften des Unionsrechts hat, und den Zusammenhang [enthalten], den es zwischen diesen Vorschriften und dem auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren nationalen Recht herstellt“.
38 Das vorlegende Gericht hat jedoch angegeben, es habe über die Rechtmäßigkeit eines zweiten Straferkenntnisses zu entscheiden, das gegen dieselbe Person wegen derselben Tat aufgrund eines Verstoßes gegen § 52 Abs. 1 Z 1 erstes Tatbild GSpG, d. h. die Veranstaltung von Glücksspielen in Form von verbotenen Ausspielungen, ergangen sei, nachdem ein erstes Strafverfahren eingestellt worden sei, das auf § 52 Abs. 1 Z 1 drittes Tatbild GSpG, d. h. das Zugänglichmachen solcher Glücksspiele, gestützt gewesen sei. Folglich stelle sich die Frage nach der Auslegung des in Art. 50 der Charta verankerten Grundsatzes ne bis in idem, den es für anwendbar hält, da nach dem Urteil vom 30. April 2014, Pfleger u. a. (C‑390/12, EU:C:2014:281, Rn. 35 und 36), eine Regelung wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende geeignet sei, die Ausübung der durch Art. 56 AEUV gewährleisteten Dienstleistungsfreiheit zu behindern. Zur Auslegung dieses Grundsatzes hat das vorlegende Gericht u. a. ausgeführt, es gehe zwar grundsätzlich davon aus, dass im ersten Strafverfahren, in dem der Sachverhalt ermittelt worden sei, ein Freispruch von NK erfolgt sei und dass das in Art. 50 der Charta verankerte Doppelverfolgungsverbot unabhängig davon greife, wie diese Tat rechtlich eingestuft werde; da jedoch im ersten Erkenntnis festgehalten worden sei, dass es sich bei den gegenständlichen Spielen um verbotene Glücksspiele gehandelt habe, sei die Antwort auf die Vorlagefrage nicht derart offenkundig, dass keine Zweifel bleiben würden.
39 Somit hat das vorlegende Gericht die Gründe, aus denen es Zweifel bezüglich der Auslegung bestimmter Vorschriften des Unionsrechts hat, und den Zusammenhang, den es zwischen diesen Vorschriften und dem auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren nationalen Recht herstellt, dargelegt.
40 Das Vorabentscheidungsersuchen ist daher zulässig.
Zur Vorlagefrage
41 Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 50 der Charta mit dem darin niedergelegten Grundsatz ne bis in idem dahin auszulegen ist, dass er der Verhängung einer Strafe gegen eine Person wegen Verstoßes gegen eine Bestimmung einer nationalen Regelung, die geeignet ist, die Ausübung der Dienstleistungsfreiheit im Sinne von Art. 56 AEUV zu behindern, entgegensteht, wenn gegen diese Person bereits eine nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung mit Beweisaufnahme erlassene und rechtskräftig gewordene gerichtliche Entscheidung ergangen ist, mit der sie vom Verstoß gegen eine andere Bestimmung dieser Regelung wegen desselben Sachverhalts freigesprochen wurde.
42 Nach Art. 50 („Recht, wegen derselben Straftat nicht zweimal strafrechtlich verfolgt oder bestraft zu werden“) der Charta „[darf n]iemand … wegen einer Straftat, derentwegen er bereits in der Union nach dem Gesetz rechtskräftig verurteilt oder freigesprochen worden ist, in einem Strafverfahren erneut verfolgt oder bestraft werden“.
43 Vorab ist festzustellen, dass der Grundsatz ne bis in idem eine Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen, die strafrechtlicher Natur im Sinne dieses Artikels sind, gegenüber derselben Person wegen derselben Tat verbietet (Urteil vom 22. März 2022, bpost,C‑117/20, EU:C:2022:202, Rn. 24 und die dort angeführte Rechtsprechung).
44 Für die Beurteilung der strafrechtlichen Natur der in Rede stehenden Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen sind nach der Rechtsprechung drei Kriterien maßgebend: erstens die rechtliche Einordnung der Zuwiderhandlung im innerstaatlichen Recht, zweitens die Art der Zuwiderhandlung und drittens der Schweregrad der dem Betroffenen drohenden Sanktion (Urteile vom 4. Mai 2023, MV – 98, C‑97/21, EU:C:2023:371, Rn. 38 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie vom 14. September 2023, Volkswagen Group Italia und Volkswagen Aktiengesellschaft, C‑27/22, …, Rn. 45).
45 Es ist Sache des vorlegenden Gerichts, anhand der genannten Kriterien zu beurteilen, ob die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen strafrechtlicher Natur im Sinne von Art. 50 der Charta sind.
46 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass sich die Anwendung von Art. 50 der Charta nicht allein auf Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen, die im nationalen Recht als „strafrechtlich“ eingestuft werden, beschränkt, sondern sich – unabhängig von einer solchen innerstaatlichen Einordnung – auf Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen erstreckt, die nach den beiden anderen oben in Rn. 44 angeführten Kriterien strafrechtlicher Natur sind (Urteile vom 4. Mai 2023, MV – 98, C‑97/21, EU:C:2023:371, Rn. 41 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie vom 14. September 2023, Volkswagen Group Italia und Volkswagen Aktiengesellschaft, C‑27/22, …, Rn. 48).
47 Da das vorlegende Gericht in seinem Vorabentscheidungsersuchen ausführt, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen nach den oben in Rn. 44 angeführten Kriterien strafrechtlicher Natur im Sinne von Art. 50 der Charta seien, ist zu prüfen, ob die Voraussetzungen für die Anwendung des Grundsatzes ne bis in idem erfüllt sind.
48 Nach der Rechtsprechung setzt die Anwendung des Grundsatzes ne bis in idem zweierlei voraus, nämlich zum einen, dass es eine frühere endgültige Entscheidung gibt (Voraussetzung „bis“), und zum anderen, dass bei der früheren Entscheidung und bei den späteren Verfolgungsmaßnahmen oder Entscheidungen auf denselben Sachverhalt abgestellt wird (Voraussetzung „idem“) (Urteil vom 22. März 2022, bpost,C‑117/20, EU:C:2022:202, Rn. 28).
49 Was die Voraussetzung „bis“ anbelangt, bedarf es, um zu bestimmen, ob eine gerichtliche Entscheidung eine Entscheidung darstellt, mit der eine Person rechtskräftig abgeurteilt wurde, insbesondere der Vergewisserung, dass diese Entscheidung nach einer Prüfung in der Sache erfolgt ist (Urteil vom 16. Dezember 2021, AB u. a. [Rücknahme einer Amnestie], C‑203/20, EU:C:2021:1016, Rn. 56 und die dort angeführte Rechtsprechung).
50 Diese Auslegung wird durch den Wortlaut von Art. 50 der Charta bestätigt, da die in dieser Bestimmung verwendeten Begriffe „Verurteilung“ und „Freispruch“ notwendigerweise implizieren, dass die strafrechtliche Verantwortlichkeit der betreffenden Person geprüft wurde und eine Entscheidung darüber ergangen ist (Urteil vom 16. Dezember 2021, AB u. a. [Rücknahme einer Amnestie], C‑203/20, EU:C:2021:1016, Rn. 57).
51 Als Ausfluss des Grundsatzes res iudicata soll der Grundsatz ne bis in idem Rechtssicherheit und Gerechtigkeit gewährleisten, indem er sicherstellt, dass wer einmal verfolgt und gegebenenfalls mit einer Sanktion belegt worden ist, die Sicherheit hat, für denselben Verstoß nicht noch einmal verfolgt zu werden (Urteil vom 22. März 2022, Nordzucker u. a.,C‑151/20, EU:C:2022:203, Rn. 62).
52 Im vorliegenden Fall geht aus den Feststellungen des vorlegenden Gerichts zunächst hervor, dass die erste gegen NK wegen Verstoßes gegen das Glücksspielrecht verhängte Sanktion durch ein rechtskräftiges Erkenntnis dieses Gerichts vom 13. August 2018 aufgehoben wurde, das nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung mit Sachverhaltsermittlung erlassen wurde. Sodann hat das vorlegende Gericht darauf hingewiesen, dass es aufgrund des Ergebnisses des Beweisverfahrens in diesem Erkenntnis zu dem Entschluss habe kommen können, dass NK keine verbotenen Glücksspiele im Sinne von § 52 Abs. 1 Z 1 drittes Tatbild GSpG unternehmerisch zugänglich gemacht habe, und dass dieses Erkenntnis nach nationalem Recht die Wirkungen eines Freispruchs entfalte. Schließlich hat das vorlegende Gericht festgestellt, dass NK solche Spiele im Sinne von § 52 Abs. 1 Z 1 erstes Tatbild GSpG veranstaltet habe, ohne jedoch insoweit eine Sanktion zu verhängen.
53 Aus den in der vorstehenden Randnummer genannten Gesichtspunkten ergibt sich, dass das vorlegende Gericht sein Erkenntnis im Rahmen des ersten Verfahrens vor dem Hintergrund einer Prüfung in der Sache erließ und über die strafrechtliche Verantwortlichkeit der verfolgten Person befinden konnte, was jedoch vom vorlegenden Gericht zu überprüfen ist.
54 Was die Voraussetzung „idem“ betrifft, ergibt sich nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs schon aus dem Wortlaut von Art. 50 der Charta, dass dieser es verbietet, dieselbe Person mehr als einmal wegen derselben Straftat in einem Strafverfahren zu verfolgen oder zu bestrafen (Urteil vom 22. März 2022, bpost,C‑117/20, EU:C:2022:202, Rn. 31).
55 Im vorliegenden Fall steht fest, dass die beiden in Rede stehenden Strafverfahren dieselbe Person, nämlich NK, betreffen.
56 Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs ist für die Beurteilung, ob es sich um dieselbe Straftat handelt, das Kriterium der Identität der materiellen Tat maßgebend, verstanden als das Vorliegen einer Gesamtheit konkreter, unlösbar miteinander verbundener Umstände, die zum Freispruch oder zur rechtskräftigen Verurteilung des Betroffenen geführt haben. Art. 50 der Charta verbietet somit, wegen derselben Tat am Ende verschiedener zu diesem Zweck durchgeführter Verfahren mehrere Sanktionen strafrechtlicher Natur zu verhängen (Urteile vom 20. März 2018, Garlsson Real Estate u. a.,C‑537/16, EU:C:2018:193, Rn. 37, sowie vom 2. September 2021, LG und MH [Selbstgeldwäsche], C‑790/19, EU:C:2021:661, Rn. 78).
57 Um zu bestimmen, ob eine solche Gesamtheit konkreter Umstände vorliegt, müssen die zuständigen nationalen Gerichte feststellen, ob die materiellen Taten, um die es in den beiden Verfahren geht, einen Komplex von Tatsachen darstellen, die in zeitlicher und räumlicher Hinsicht sowie nach ihrem Zweck unlösbar miteinander verbunden sind (Urteil vom 2. September 2021, LG und MH [Selbstgeldwäsche], C‑790/19, EU:C:2021:661, Rn. 79 und die dort angeführte Rechtsprechung).
58 Darüber hinaus erfordert die Voraussetzung „idem“ angesichts der oben in Rn. 56 angeführten Rechtsprechung eine identische materielle Tat. Dagegen findet der Grundsatz ne bis in idem keine Anwendung, wenn der fragliche Sachverhalt nicht identisch, sondern nur ähnlich ist (Urteil vom 22. März 2022, bpost,C‑117/20, EU:C:2022:202, Rn. 36).
59 Der Gerichtshof hat ferner entschieden, dass die rechtliche Einordnung der Tat nach nationalem Recht und das geschützte rechtliche Interesse für die Feststellung, ob dieselbe Straftat vorliegt, nicht erheblich sind, da die Reichweite des durch Art. 50 der Charta gewährten Schutzes weder von einem Mitgliedstaat zum anderen (Urteile vom 20. März 2018, Menci,C‑524/15, EU:C:2018:197, Rn. 36, sowie vom 2. September 2021, LG und MH [Selbstgeldwäsche], C‑790/19, EU:C:2021:661, Rn. 80) noch, sofern im Unionsrecht nichts anderes bestimmt ist, von einem Bereich des Unionsrechts zu einem anderen unterschiedlich sein kann (Urteil vom 22. März 2022, bpost,C‑117/20, EU:C:2022:202, Rn. 35).
60 Es ist Sache des für die Tatsachenfeststellungen allein zuständigen vorlegenden Gerichts zu prüfen, ob der bei ihm anhängige Rechtsstreit einen Sachverhalt betrifft, der mit dem identisch ist, der dem oben in Rn. 52 genannten Erkenntnis vom 13. August 2018 zugrunde liegt.
61 Aus dem Vorlagebeschluss geht hervor, dass die beiden in Rede stehenden Strafverfahren nach Ansicht des vorlegenden Gerichts die Ermittlung einer im Wesentlichen – insbesondere in Bezug auf ihre zeitlichen und räumlichen Verbindungen – identischen materiellen Tat betrafen. So ergab die am 29. Dezember 2017 im Lokal von NK durchgeführte Kontrolle, dass dort vier funktionsfähige Glücksspielgeräte aufgestellt waren, obwohl keine Konzession für deren Betrieb erteilt worden war. Vor diesem Hintergrund kann auf der Grundlage der oben in Rn. 59 angeführten Rechtsprechung angenommen werden, dass der Umstand, dass NK zunächst im ersten Strafverfahren wegen unternehmerischen Zugänglichmachens verbotener Ausspielungen, dann im zweiten Strafverfahren wegen Veranstaltung solcher Ausspielungen verfolgt wurde, für die Feststellung, ob „dieselbe Straftat“ vorliegt, nicht erheblich ist.
62 In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass die weitere Betreibung eines auf dieselbe Tat gestützten Strafverfahrens eine Einschränkung des in Art. 50 der Charta verankerten Grundrechts darstellen würde.
63 Gleichwohl kann eine Einschränkung des in Art. 50 der Charta verankerten Grundrechts auf der Grundlage von Art. 52 Abs. 1 der Charta gerechtfertigt werden (Urteil vom 22. März 2022, bpost,C‑117/20, EU:C:2022:202, Rn. 40 und die dort angeführte Rechtsprechung).
64 Nach Art. 52 Abs. 1 Satz 1 der Charta muss jede Einschränkung der Ausübung der in der Charta anerkannten Rechte und Freiheiten gesetzlich vorgesehen sein und den Wesensgehalt dieser Rechte und Freiheiten achten. Nach Art. 52 Abs. 1 Satz 2 der Charta dürfen Einschränkungen dieser Rechte und Freiheiten unter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit nur vorgenommen werden, wenn sie erforderlich sind und den von der Union anerkannten dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen oder den Erfordernissen des Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer tatsächlich entsprechen.
65 Im vorliegenden Fall geht erstens aus dem Vorlagebeschluss hervor, dass jedes der beiden von der Bezirkshauptmannschaft Feldkirch eingeleiteten Verfahren, die zum Erkenntnis vom 13. August 2018 und zum Straferkenntnis vom 30. November 2018 sowie zu einer Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen geführt haben, gesetzlich vorgesehen war.
66 Was zweitens die Achtung des Wesensgehalts des in Art. 50 der Charta verankerten Grundrechts betrifft, ist darauf hinzuweisen, dass die Möglichkeit, Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen zu kumulieren, den Wesensgehalt von Art. 50 der Charta wahrt, sofern die nationale Regelung es nicht ermöglicht, denselben Sachverhalt aufgrund desselben Verstoßes oder zur Verfolgung desselben Ziels zu verfolgen und zu ahnden, sondern nur die Möglichkeit einer Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen aufgrund unterschiedlicher Regelungen vorsieht (Urteil vom 22. März 2022, bpost,C‑117/20, EU:C:2022:202, Rn. 43).
67 Die beiden von der Bezirkshauptmannschaft Feldkirch eingeleiteten Verfahren, die zu einer Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen geführt haben, verfolgen jedoch dasselbe Ziel, nämlich die Ahndung rechtswidriger Angebote von Glücksspielen mit Glücksspielautomaten, und beruhen auf derselben Regelung.
68 Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 50 der Charta mit dem darin niedergelegten Grundsatz ne bis in idem dahin auszulegen ist, dass er der Verhängung einer Strafe gegen eine Person wegen Verstoßes gegen eine Bestimmung einer nationalen Regelung, die geeignet ist, die Ausübung der Dienstleistungsfreiheit im Sinne von Art. 56 AEUV zu behindern, entgegensteht, wenn gegen diese Person bereits eine nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung mit Beweisaufnahme erlassene und rechtskräftig gewordene gerichtliche Entscheidung ergangen ist, mit der sie vom Verstoß gegen eine andere Bestimmung dieser Regelung wegen desselben Sachverhalts freigesprochen wurde.
Kosten
69 Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Sechste Kammer) für Recht erkannt:
Art. 50 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union ist mit dem darin niedergelegten Grundsatz
ne bis in idem
dahin auszulegen, dass er der Verhängung einer Strafe gegen eine Person wegen Verstoßes gegen eine Bestimmung einer nationalen Regelung, die geeignet ist, die Ausübung der Dienstleistungsfreiheit im Sinne von Art. 56 AEUV zu behindern, entgegensteht, wenn gegen diese Person bereits eine nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung mit Beweisaufnahme erlassene und rechtskräftig gewordene gerichtliche Entscheidung ergangen ist, mit der sie vom Verstoß gegen eine andere Bestimmung dieser Regelung wegen desselben Sachverhalts freigesprochen wurde.
Xuereb
Kumin
Ziemele
Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 14. September 2023.
Der Kanzler
A. Calot Escobar
Der Kammerpräsident
P. G. Xuereb
(*1) Verfahrenssprache: Deutsch.
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Urteil des Gerichtshofs (Große Kammer) vom 5. September 2023.#X gegen Udlændinge- og Integrationsministeriet.#Vorabentscheidungsersuchen des Østre Landsret.#Vorlage zur Vorabentscheidung – Unionsbürgerschaft – Art. 20 AEUV – Art. 7 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Bürger, der die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats und die Staatsangehörigkeit eines Drittstaats besitzt – Verlust der Staatsangehörigkeit des Mitgliedstaats mit Vollendung des 22. Lebensjahrs kraft Gesetzes wegen Fehlens einer echten Bindung zu dem Mitgliedstaat, wenn vor diesem Geburtstag kein Antrag auf Beibehaltung der Staatsangehörigkeit gestellt wurde – Verlust des Unionsbürgerstatus – Prüfung der Verhältnismäßigkeit der Folgen dieses Verlusts aus unionsrechtlicher Sicht – Ausschlussfrist.#Rechtssache C-689/21.
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62021CJ0689
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ECLI:EU:C:2023:626
| 2023-09-05T00:00:00 |
Gerichtshof, Szpunar
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Sammlung der Rechtsprechung – allgemein
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62021CJ0689
URTEIL DES GERICHTSHOFS (Große Kammer)
5. September 2023 (*1)
„Vorlage zur Vorabentscheidung – Unionsbürgerschaft – Art. 20 AEUV – Art. 7 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Bürger, der die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats und die Staatsangehörigkeit eines Drittstaats besitzt – Verlust der Staatsangehörigkeit des Mitgliedstaats mit Vollendung des 22. Lebensjahrs kraft Gesetzes wegen Fehlens einer echten Bindung zu dem Mitgliedstaat, wenn vor diesem Geburtstag kein Antrag auf Beibehaltung der Staatsangehörigkeit gestellt wurde – Verlust des Unionsbürgerstatus – Prüfung der Verhältnismäßigkeit der Folgen dieses Verlusts aus unionsrechtlicher Sicht – Ausschlussfrist“
In der Rechtssache C‑689/21
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Østre Landsret (Landgericht für Ostdänemark, Dänemark) mit Entscheidung vom 11. Oktober 2021, beim Gerichtshof eingegangen am 16. November 2021, in dem Verfahren
X
gegen
Udlændinge- og Integrationsministeriet
erlässt
DER GERICHTSHOF (Große Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten K. Lenaerts, des Vizepräsidenten L. Bay Larsen, der Kammerpräsidentin A. Prechal, der Kammerpräsidenten C. Lycourgos (Berichterstatter), E. Regan und P. G. Xuereb, der Kammerpräsidentin L. S. Rossi, des Kammerpräsidenten D. Gratsias und der Kammerpräsidentin M. L. Arastey Sahún, der Richter S. Rodin, F. Biltgen, N. Piçarra und N. Wahl, der Richterin I. Ziemele und des Richters J. Passer,
Generalanwalt: M. Szpunar,
Kanzler: C. Strömholm, Verwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 4. Oktober 2022,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
–
von X, vertreten durch E. O. R. Khawaja, Advokat,
–
der dänischen Regierung, vertreten durch V. Pasternak Jørgensen und M. Søndahl Wolff als Bevollmächtigte im Beistand von R. Holdgaard und A. K. Rasmussen, Advokater,
–
der französischen Regierung, vertreten durch A. Daniel, A.‑L. Desjonquères und J. Illouz als Bevollmächtigte,
–
der Europäischen Kommission, vertreten durch L. Grønfeldt und E. Montaguti als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 26. Januar 2023
folgendes
Urteil
1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 20 AEUV und Art. 7 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta).
2 Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen X und dem Udlændinge- og Integrationsministerium (Ministerium für Ausländer und Integration, Dänemark) (im Folgenden: Ministerium) wegen des Verlusts der dänischen Staatsangehörigkeit von X.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
3 In Art. 20 AEUV heißt es:
„(1) Es wird eine Unionsbürgerschaft eingeführt. Unionsbürger ist, wer die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzt. Die Unionsbürgerschaft tritt zur nationalen Staatsbürgerschaft hinzu, ersetzt sie aber nicht.
(2) Die Unionsbürgerinnen und Unionsbürger haben die in den Verträgen vorgesehenen Rechte und Pflichten. Sie haben unter anderem
a)
das Recht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten;
…“
4 Nach Art. 7 der Charta hat jede Person das Recht auf Achtung ihres Privat- und Familienlebens, ihrer Wohnung sowie ihrer Kommunikation.
5 In der Erklärung Nr. 2 zur Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats, die die Mitgliedstaaten der Schlussakte des Vertrags über die Europäische Union beigefügt haben (ABl. 1992, C 191, S. 98, im Folgenden: Erklärung Nr. 2), heißt es:
„Die Konferenz erklärt, dass bei Bezugnahmen des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft auf die Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten die Frage, welchem Mitgliedstaat eine Person angehört, allein durch Bezug auf das innerstaatliche Recht des betreffenden Mitgliedstaats geregelt wird. …“
6 In Abschnitt A des Beschlusses der im Europäischen Rat von Edinburgh vom 11. und 12. Dezember 1992 vereinigten Staats- und Regierungschefs zu bestimmten von Dänemark aufgeworfenen Problemen betreffend den Vertrag über die Europäische Union (ABl. 1992, C 348, S. 1, im Folgenden: Beschluss von Edinburgh) heißt es:
„Mit den im Zweiten Teil des Vertrages über die Europäische Union enthaltenen Bestimmungen über die Unionsbürgerschaft werden den Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten die in diesem Teil aufgeführten zusätzlichen Rechte und der dort spezifizierte zusätzliche Schutz gewährt. Die betreffenden Bestimmungen treten in keiner Weise an die Stelle der nationalen Staatsbürgerschaft. Die Frage, ob eine Person die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzt, wird einzig und allein auf der Grundlage des innerstaatlichen Rechts des betreffenden Mitgliedstaats geregelt.“
Dänisches Recht
7 § 8 Abs. 1 des Lov om dansk indfødsret (Gesetz über die dänische Staatsangehörigkeit) in seiner auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren Fassung (im Folgenden: Staatsangehörigkeitsgesetz) sieht vor:
„Eine Person, die im Ausland geboren wurde und nie in Dänemark gewohnt hat und sich dort auch nicht unter Umständen aufgehalten hat, die auf eine Bindung zu Dänemark schließen lassen, verliert die dänische Staatsangehörigkeit mit Vollendung des 22. Lebensjahrs, es sei denn, dass sie dadurch staatenlos wird. Der Minister für Flüchtlinge, Einwanderer und Integration oder der von ihm hierzu Ermächtigte kann jedoch auf vor diesem Zeitpunkt gestellten Antrag genehmigen, dass die Staatsangehörigkeit beibehalten wird.“
8 Nach dem Cirkulæreskrivelse om naturalisation nr. 10873 (Runderlass Nr. 10873 über die Einbürgerung) vom 13. Oktober 2015 in seiner auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren Fassung (im Folgenden: Runderlass) müssen ehemalige dänische Staatsangehörige, die ihre dänische Staatsangehörigkeit nach § 8 Abs. 1 des Staatsangehörigkeitsgesetzes verloren haben, grundsätzlich die nach dem Gesetz erforderlichen allgemeinen Voraussetzungen für den Erwerb der dänischen Staatsangehörigkeit erfüllen, um diese wiedererlangen zu können. Nach § 5 Abs. 1 des Runderlasses muss der Antragsteller zum Zeitpunkt der Beantragung der Einbürgerung im Inland ansässig sein. Nach § 7 des Runderlasses wird vom Antragsteller ein neunjähriger ununterbrochener Aufenthalt im Hoheitsgebiet des Königreichs Dänemark verlangt.
9 Nach § 13 in Verbindung mit Anhang 1 Nr. 3 des Runderlasses können die allgemeinen Aufenthaltsanforderungen für Personen, die früher die dänische Staatsangehörigkeit besaßen oder dänischer Abstammung sind, gelockert werden.
Ausgangsverfahren und Vorlagefrage
10 X wurde am 5. Oktober 1992 in den Vereinigten Staaten von Amerika als Kind einer dänischen Mutter und eines amerikanischen Vaters geboren. Sie besaß seit ihrer Geburt die dänische und die amerikanische Staatsangehörigkeit. Sie hat einen Bruder und eine Schwester, die in den Vereinigten Staaten leben, wobei ein Geschwister die dänische Staatsangehörigkeit besitzt. Keiner der Elternteile und keines der Geschwister lebt in Dänemark.
11 Am 17. November 2014, d. h. nach Vollendung ihres 22. Lebensjahrs, beantragte sie beim Ministerium, die dänische Staatsangehörigkeit behalten zu dürfen.
12 Auf der Grundlage der in diesem Antrag enthaltenen Angaben stellte das Ministerium fest, dass X sich vor Vollendung des 22. Lebensjahrs höchstens 44 Wochen in Dänemark aufgehalten habe. Sie habe außerdem angegeben, dass sie sich nach Vollendung des 22. Lebensjahrs fünf Wochen in Dänemark aufgehalten habe und 2015 Mitglied der dänischen Frauennationalmannschaft im Basketball gewesen sei. Ferner habe sie sich 2005 ca. drei bis vier Wochen in Frankreich aufgehalten.
13 Mit Bescheid vom 31. Januar 2017 teilte das Ministerium X mit, dass sie gemäß § 8 Abs. 1 Satz 1 des Staatsangehörigkeitsgesetzes mit Vollendung des 22. Lebensjahrs die dänische Staatsangehörigkeit verloren habe und dass es keine Möglichkeit gebe, die Ausnahmeregelung des § 8 Abs. 1 Satz 2 dieses Gesetzes anzuwenden, da der Antrag auf Beibehaltung der dänischen Staatsangehörigkeit nach Vollendung des 22. Lebensjahrs gestellt worden sei.
14 In dem Bescheid heißt es insbesondere, dass dieser Verlust dadurch gerechtfertigt sei, dass X nie in Dänemark gewohnt habe und sich dort auch nicht unter Umständen aufgehalten habe, die auf eine Bindung zu diesem Mitgliedstaat im Sinne von § 8 Abs. 1 Satz 1 des Staatsangehörigkeitsgesetzes hinwiesen, da sie sich vor Vollendung des 22. Lebensjahrs höchstens 44 Wochen in Dänemark aufgehalten habe.
15 Am 9. Februar 2018 erhob X eine Klage beim Københavns byret (Gericht Kopenhagen, Dänemark) und beantragte, den in Rn. 13 des vorliegenden Urteils genannten Bescheid vom 31. Januar 2017 aufzuheben und die Sache zur „erneuten Prüfung“ zurückzuverweisen. Diese Klage wurde mit Beschluss vom 3. April 2020 an das vorlegende Gericht, das Østre Landsret (Landgericht für Ostdänemark, Dänemark), verwiesen.
16 Zur Stützung ihrer Klage macht X geltend, dass die Aufrechterhaltung einer echten Bindung und der Schutz des Verhältnisses besonderer Verbundenheit und Loyalität zu dem betreffenden Mitgliedstaat zwar ein legitimes Ziel darstellten, der automatische und ausnahmslose Verlust der dänischen Staatsangehörigkeit nach § 8 Abs. 1 des Staatsangehörigkeitsgesetzes jedoch im Hinblick auf dieses Ziel nicht verhältnismäßig sei und daher gegen Art. 20 AEUV in Verbindung mit Art. 7 der Charta verstoße.
17 Die Vorschriften über den Verlust der Staatsangehörigkeit könnten nur dann als verhältnismäßig angesehen werden, wenn die nationale Regelung gemäß dem Urteil vom 12. März 2019, Tjebbes u. a. (C‑221/17, EU:C:2019:189), daneben einen besonders vereinfachten Zugang zur Wiedererlangung der Staatsangehörigkeit erlaube. Ein solcher Zugang sei in der dänischen Regelung aber nicht vorgesehen. Außerdem erfolge nach dieser Regelung die Wiedererlangung der Staatsangehörigkeit nicht rückwirkend.
18 Das Ministerium macht geltend, dass die Prüfung der Rechtmäßigkeit und der Verhältnismäßigkeit von § 8 Abs. 1 des Staatsangehörigkeitsgesetzes in Bezug auf Personen, die zum Zeitpunkt des Antrags auf Beibehaltung der dänischen Staatsangehörigkeit das 22. Lebensjahr vollendet hätten, auf einer Gesamtbeurteilung der dänischen Regelung über den Verlust und die Wiedererlangung der Staatsangehörigkeit beruhen müsse. Der dänische Gesetzgeber sei der Ansicht gewesen, dass bei im Ausland geborenen Personen, die nicht im Hoheitsgebiet des Königreichs Dänemark gewohnt und sich dort auch nicht in nennenswertem Maße aufgehalten hätten, das Verhältnis von Verbundenheit und Solidarität und die Bindung zu Dänemark stetig schwächer würden und es daher verhältnismäßig sei, ihre Rechtsstellung vor und nach Vollendung des 22. Lebensjahrs zu unterscheiden. Die Verhältnismäßigkeit des Verlusts der dänischen Staatsangehörigkeit kraft Gesetzes für Personen, die das 22. Lebensjahr vollendet hätten, sei auch im Licht der nicht sehr strengen Vorschriften über die Beibehaltung der Staatsangehörigkeit bis zu diesem Alter zu beurteilen.
19 Im Übrigen würden die Rechtmäßigkeit und die Verhältnismäßigkeit der nationalen Vorschriften über den Verlust der dänischen Staatsangehörigkeit dadurch belegt, dass entschieden werden könne, dass diese Staatsangehörigkeit beibehalten werde, und zwar nach einer Einzelfallprüfung auf einen Antrag auf Beibehaltung der dänischen Staatsangehörigkeit hin, den der Betroffene möglichst kurz vor der Vollendung des 22. Lebensjahrs, dem in § 8 Abs. 1 Satz 1 des Staatsangehörigkeitsgesetzes genannten Zeitpunkt, stelle.
20 In diesem Zusammenhang beschreibt das vorlegende Gericht zunächst die Verwaltungspraxis des Ministeriums in Bezug auf die Anwendung von Art. 8 Abs. 1 des Staatsangehörigkeitsgesetzes. Zum einen werde bei der Beurteilung der Frage, ob eine „Bindung zu Dänemark“ im Sinne von Satz 1 dieser Bestimmung vorliege, danach unterschieden, ob sich der Betroffene vor Vollendung des 22. Lebensjahrs länger als ein Jahr in diesem Mitgliedstaat aufgehalten habe oder nicht. Habe die Dauer dieses Aufenthalts mindestens ein Jahr betragen, gingen die nationalen Behörden davon aus, dass eine ausreichende Bindung zum Königreich Dänemark bestehe, um die Beibehaltung der dänischen Staatsangehörigkeit zu rechtfertigen. Andernfalls seien die Anforderungen an diese Bindung insoweit strenger, als der Betroffene nachweisen müsse, dass in den kürzeren Aufenthalten gleichwohl eine „besondere Bindung zu Dänemark“ zum Ausdruck komme.
21 Was zum anderen die Möglichkeit angehe, die Beibehaltung der dänischen Staatsangehörigkeit nach § 8 Abs. 1 Satz 2 des Staatsangehörigkeitsgesetzes zu genehmigen, werde dabei auf eine Reihe weiterer Gesichtspunkte abgestellt, etwa darauf, wie lange sich der Antragsteller insgesamt im Hoheitsgebiet des Königreichs Dänemark aufgehalten habe, wie oft er sich dort aufgehalten habe, ob die Aufenthalte kurz vor Vollendung des 22. Lebensjahrs stattgefunden hätten oder länger zurücklägen, ob der Antragsteller fließend Dänisch spreche und im Übrigen einen Bezug zu Dänemark habe, z. B. aufgrund von Kontakten zu dänischen Verwandten oder über dänische Vereinigungen oder Ähnliches.
22 Sodann weist das vorlegende Gericht darauf hin, dass nach der Verkündung des Urteils vom 12. März 2019, Tjebbes u. a. (C‑221/17, EU:C:2019:189), klargestellt worden sei, wie § 8 Abs. 1 des Staatsangehörigkeitsgesetzes zu verstehen sei. Nunmehr stehe fest, dass das Ministerium, wenn der Betroffene vor Vollendung des 22. Lebensjahrs einen Antrag auf Beibehaltung der dänischen Staatsangehörigkeit stelle, im Rahmen der Einzelfallprüfung der unionsrechtlichen Verhältnismäßigkeit der Folgen des Verlusts dieser Staatsangehörigkeit und damit der Unionsbürgerschaft eine Reihe zusätzlicher Gesichtspunkte berücksichtigen müsse. So habe das Ministerium zu beurteilen, ob die Folgen des Verlusts der Unionsbürgerschaft aus unionsrechtlicher Sicht in einem angemessenen Verhältnis zu dem diesem Verlust zugrunde liegenden Ziel stünden, nämlich sicherzustellen, dass eine echte Bindung zum Königreich Dänemark bestehe.
23 In Anbetracht des Urteils vom 12. März 2019, Tjebbes u. a. (C‑221/17, EU:C:2019:189), bestünden Zweifel an der Vereinbarkeit des Verlusts der dänischen Staatsangehörigkeit und gegebenenfalls der Unionsbürgerschaft, die nach § 8 Abs. 1 Satz 1 des Staatsangehörigkeitsgesetzes kraft Gesetzes und ohne Ausnahme mit Vollendung des 22. Lebensjahrs eintrete, mit Art. 20 AEUV in Verbindung mit Art. 7 der Charta. Dabei sei auch zu berücksichtigen, dass nach Erreichen dieses Alters die Wiedererlangung der dänischen Staatsangehörigkeit durch Einbürgerung schwierig sei. Nach einem Verlust dieser Staatsangehörigkeit müssten ehemalige dänische Staatsangehörige nämlich grundsätzlich die allgemeinen Einbürgerungsvoraussetzungen erfüllen, auch wenn insoweit gewisse Erleichterungen in Bezug auf die Dauer des Aufenthalts in Dänemark gewährt werden könnten.
24 Unter diesen Umständen hat das Østre Landsret (Landgericht für Ostdänemark) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:
Steht Art. 20 AEUV in Verbindung mit Art. 7 der Charta einer mitgliedstaatlichen Regelung wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden, wonach Personen, die außerhalb des Mitgliedstaats geboren wurden, nie in dem Mitgliedstaat gewohnt und sich dort auch nicht unter Umständen aufgehalten haben, die auf eine Bindung zu dem Mitgliedstaat schließen lassen, die Staatsangehörigkeit dieses Mitgliedstaats grundsätzlich kraft Gesetzes mit Vollendung des 22. Lebensjahrs verlieren, was für Personen, die nicht zugleich die Staatsangehörigkeit eines anderen Mitgliedstaats besitzen, den Verlust ihres Status als Unionsbürger und der damit verbundenen Rechte bedeutet, entgegen, wenn man berücksichtigt, dass aus der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Regelung folgt,
a)
dass von einer Bindung zum Mitgliedstaat insbesondere bei einem Aufenthalt von insgesamt einem Jahr in dem Mitgliedstaat ausgegangen wird,
b)
dass die Genehmigung für die Beibehaltung der Staatsangehörigkeit des Mitgliedstaats unter weniger strengen Bedingungen erlangt werden kann und die zuständigen Behörden in diesem Zusammenhang die Folgen eines Verlusts der Staatsangehörigkeit prüfen, wenn der Antrag auf Beibehaltung der Staatsangehörigkeit vor Vollendung des 22. Lebensjahrs gestellt wird,
c)
und dass die Wiedererlangung der verloren gegangenen Staatsangehörigkeit nach Vollendung des 22. Lebensjahrs ausschließlich durch Einbürgerung erfolgen kann, die einer Reihe von Voraussetzungen wie z. B. dem Erfordernis eines längeren ununterbrochenen Aufenthalts im Mitgliedstaat unterliegt, wobei es für ehemalige Staatsangehörige dieses Mitgliedstaats allerdings gewisse Erleichterungen in Bezug auf die erforderliche Aufenthaltsdauer geben kann?
Zur Vorlagefrage
25 Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 20 AEUV im Licht von Art. 7 der Charta dahin auszulegen ist, dass er der Regelung eines Mitgliedstaats entgegensteht, wonach seine im Ausland geborenen Staatsangehörigen, die nie in diesem Mitgliedstaat gewohnt und sich dort auch nicht unter Umständen aufgehalten haben, die eine echte Bindung zu ihm belegen, mit Vollendung des 22. Lebensjahrs kraft Gesetzes die Staatsangehörigkeit des Mitgliedstaats verlieren, was für Personen, die nicht auch Staatsangehörige eines anderen Mitgliedstaats sind, den Verlust ihres Unionsbürgerstatus und der damit verbundenen Rechte zur Folge hat, und wonach die zuständigen Behörden im Fall eines von einem solchen Staatsangehörigen in dem Jahr vor Vollendung seines 22. Lebensjahrs gestellten Antrags auf Beibehaltung dieser Staatsangehörigkeit aber die Verhältnismäßigkeit der Folgen des Verlusts der Staatsangehörigkeit aus unionsrechtlicher Sicht prüfen und gegebenenfalls die Beibehaltung der Staatsangehörigkeit gewähren dürfen.
26 Vorab ist darauf hinzuweisen, dass die dänische Regierung den Gerichtshof ersucht hat, bei der Beantwortung dieser Frage den Beschluss von Edinburgh zu berücksichtigen, aus dem hervorgehe, dass das Königreich Dänemark zum einen bei der Festlegung der Voraussetzungen für den Erwerb und den Verlust der Staatsangehörigkeit über ein weites Ermessen verfüge und zum anderen eine besondere Position in Bezug auf die Unionsbürgerschaft einnehme. Wie der Generalanwalt in Nr. 50 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, haben die einschlägigen Passagen dieses Beschlusses, die die Unionsbürgerschaft betreffen, den gleichen Wortlaut wie die Erklärung Nr. 2.
27 Der Beschluss von Edinburgh und die Erklärung Nr. 2, mit denen die Frage der Abgrenzung des persönlichen Anwendungsbereichs der auf den Staatsangehörigenbegriff Bezug nehmenden Bestimmungen des Unionsrechts geklärt werden sollte, sind zwar als Instrumente zur Auslegung des EU‑Vertrags zu berücksichtigen, insbesondere um dessen persönlichen Anwendungsbereich zu bestimmen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 2. März 2010, Rottmann, C‑135/08, EU:C:2010:104, Rn. 40).
28 Nach ständiger Rechtsprechung schließt jedoch, auch wenn die Festlegung der Voraussetzungen für den Erwerb und den Verlust der Staatsangehörigkeit nach dem Völkerrecht in die Zuständigkeit der einzelnen Mitgliedstaaten fällt, die Tatsache, dass für ein Rechtsgebiet die Mitgliedstaaten zuständig sind, nicht aus, dass die betreffenden nationalen Vorschriften in Situationen, die unter das Unionsrecht fallen, dieses Recht beachten müssen (Urteile vom 2. März 2010, Rottmann, C‑135/08, EU:C:2010:104, Rn. 39 und 41, sowie vom 12. März 2019, Tjebbes u. a., C‑221/17, EU:C:2019:189, Rn. 30).
29 Art. 20 AEUV verleiht jeder Person, die die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzt, den Status eines Unionsbürgers, der nach ständiger Rechtsprechung dazu bestimmt ist, der grundlegende Status der Angehörigen der Mitgliedstaaten zu sein (Urteil vom 18. Januar 2022, Wiener Landesregierung [Widerruf einer Einbürgerungszusicherung], C‑118/20, EU:C:2022:34, Rn. 38 und die dort angeführte Rechtsprechung).
30 Die Situation von Unionsbürgern, die, wie die Klägerin des Ausgangsverfahrens, die Staatsangehörigkeit nur eines einzigen Mitgliedstaats besitzen und die durch den Verlust dieser Staatsangehörigkeit auch mit dem Verlust des durch Art. 20 AEUV verliehenen Status und der damit verbundenen Rechte konfrontiert werden, fällt daher ihrem Wesen und ihren Folgen nach unter das Unionsrecht. Infolgedessen haben die Mitgliedstaaten bei der Ausübung ihrer Zuständigkeit im Bereich der Staatsangehörigkeit das Unionsrecht und insbesondere den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu beachten (Urteile vom 2. März 2010, Rottmann, C‑135/08, EU:C:2010:104, Rn. 42 und 45, vom 12. März 2019, Tjebbes u. a., C‑221/17, EU:C:2019:189, Rn. 32, und vom 18. Januar 2022, Wiener Landesregierung [Widerruf einer Einbürgerungszusicherung], C‑118/20, EU:C:2022:34, Rn. 51).
31 In diesem Zusammenhang hat der Gerichtshof bereits entschieden, dass es legitim ist, dass ein Mitgliedstaat das zwischen ihm und seinen Staatsangehörigen bestehende Verhältnis besonderer Verbundenheit und Loyalität sowie die Gegenseitigkeit der Rechte und Pflichten, die dem Staatsangehörigkeitsband zugrunde liegen, schützen will (Urteile vom 2. März 2010, Rottmann, C‑135/08, EU:C:2010:104, Rn. 51, vom 12. März 2019, Tjebbes u. a., C‑221/17, EU:C:2019:189, Rn. 33, und vom 18. Januar 2022, Wiener Landesregierung [Widerruf einer Einbürgerungszusicherung], C‑118/20, EU:C:2022:34, Rn. 52).
32 Bei der Ausübung seiner Zuständigkeit für die Festlegung der Voraussetzungen für den Erwerb und den Verlust der Staatsangehörigkeit darf ein Mitgliedstaat auch davon ausgehen, dass die Staatsangehörigkeit Ausdruck einer echten Bindung zu ihm ist, und folglich das Fehlen oder den Wegfall einer solchen echten Bindung mit dem Verlust der Staatsangehörigkeit verbinden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 12. März 2019, Tjebbes u. a., C‑221/17, EU:C:2019:189, Rn. 35).
33 Im vorliegenden Fall verlieren nach § 8 Abs. 1 Satz 1 des Staatsangehörigkeitsgesetzes im Ausland geborene dänische Staatsangehörige, die nie in Dänemark gewohnt und sich dort auch nicht unter Umständen aufgehalten haben, die auf eine echte Bindung zu diesem Staat schließen lassen, im Alter von 22 Jahren die dänische Staatsangehörigkeit kraft Gesetzes, sofern sie nicht staatenlos werden.
34 Dem vorlegenden Gericht zufolge geht aus den Vorarbeiten zum Staatsangehörigkeitsgesetz hervor, dass mit § 8 dieses Gesetzes verhindert werden solle, dass die dänische Staatsbürgerschaft bei im Ausland lebenden Personen, die keinerlei Kenntnis vom Königreich Dänemark und keinerlei Bezug zu diesem Land hätten, von Generation zu Generation übertragen werde.
35 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass das Unionsrecht einen Mitgliedstaat weder daran hindert, vorzusehen, dass bei der Beurteilung der Frage, ob eine echte Bindung zu ihm besteht, Kriterien wie die in § 8 Abs. 1 Satz 1 des Staatsangehörigkeitsgesetzes genannten zu berücksichtigen sind, die sich auf den Geburts- und Wohnort der betroffenen Person und die Bedingungen ihres Aufenthalts im nationalen Hoheitsgebiet beziehen, noch es ihm verwehrt, diese Beurteilung auf einen Zeitraum zu beschränken, der an dem Tag endet, an dem diese Person das 22. Lebensjahr vollendet.
36 Für die vorliegende Rechtssache ist die Rechtmäßigkeit solcher Kriterien nicht zu prüfen, da diese für die Zwecke der besagten Beurteilung nicht zwischen Geburt und Wohnsitz oder Aufenthalt der betroffenen Person in einem Mitgliedstaat und Geburt und Wohnsitz oder Aufenthalt dieser Person in einem Drittstaat unterscheiden. Wie sich nämlich aus dem Vorabentscheidungsersuchen ergibt, hat X im vorliegenden Fall nichts vorgetragen, was belegen könnte, dass sie vor Vollendung ihres 22. Lebensjahrs in einem Mitgliedstaat gewohnt oder sich dort – außer für einige Wochen – aufgehalten hätte.
37 Unter diesen Umständen verbietet es das Unionsrecht grundsätzlich nicht, dass ein Mitgliedstaat in Situationen wie den von § 8 Abs. 1 des Staatsangehörigkeitsgesetzes erfassten aus Gründen des Allgemeininteresses den Verlust der Staatsangehörigkeit vorsieht, auch wenn dieser Verlust für die betroffene Person den Verlust ihres Unionsbürgerstatus nach sich zieht.
38 Gleichwohl ist es in Anbetracht der Bedeutung, die das Primärrecht der Union dem Unionsbürgerstatus beimisst, der, wie in Rn. 29 des vorliegenden Urteils ausgeführt, der grundlegende Status der Angehörigen der Mitgliedstaaten ist, Sache der zuständigen nationalen Behörden und der nationalen Gerichte, zu prüfen, ob mit dem Verlust der Staatsangehörigkeit des betreffenden Mitgliedstaats, wenn er zum Verlust des Unionsbürgerstatus und der damit verbundenen Rechte führt, hinsichtlich seiner Auswirkungen auf die unionsrechtliche Stellung der betroffenen Person und gegebenenfalls der ihrer Familienangehörigen der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gewahrt wird (Urteile vom 2. März 2010, Rottmann, C‑135/08, EU:C:2010:104, Rn. 55 und 56, sowie vom 12. März 2019, Tjebbes u. a., C‑221/17, EU:C:2019:189, Rn. 40).
39 Der Verlust der Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats kraft Gesetzes verstieße gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, wenn die relevanten innerstaatlichen Rechtsvorschriften zu keinem Zeitpunkt eine Einzelfallprüfung der Folgen dieses Verlusts für die Situation der Betroffenen aus unionsrechtlicher Sicht erlaubten (Urteil vom 12. März 2019, Tjebbes u. a., C‑221/17, EU:C:2019:189, Rn. 41).
40 Daraus folgt, dass die zuständigen nationalen Behörden und Gerichte in einer Situation wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden, in der der Verlust der Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats kraft Gesetzes bei einem bestimmten Alter eintritt und den Verlust des Unionsbürgerstatus nach sich zieht, in der Lage sein müssen, die Folgen dieses Verlusts der Staatsangehörigkeit zu prüfen und der betroffenen Person gegebenenfalls die Beibehaltung oder die rückwirkende Wiedererlangung der Staatsangehörigkeit zu ermöglichen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 12. März 2019, Tjebbes u. a., C‑221/17, EU:C:2019:189, Rn. 42).
41 Für die Stellung eines Antrags auf eine solche Prüfung setzt das Unionsrecht keine bestimmte Frist. Es ist daher Sache der innerstaatlichen Rechtsordnung der einzelnen Mitgliedstaaten, die Verfahrensmodalitäten zu regeln, die den Schutz der dem Einzelnen aus dem Unionsrecht erwachsenden Rechte, im vorliegenden Fall der mit der Unionsbürgerschaft verbundenen Rechte, gewährleisten sollen. Dabei muss aber u. a. der Effektivitätsgrundsatz gewahrt werden, und zwar insoweit, als diese Modalitäten die Ausübung der durch die Unionsrechtsordnung verliehenen Rechte nicht praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren dürfen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 16. Dezember 1976, Rewe-Zentralfinanz und Rewe-Zentral, 33/76, EU:C:1976:188, Rn. 5, und vom 15. April 2008, Impact, C‑268/06, EU:C:2008:223, Rn. 46).
42 In diesem Zusammenhang hat der Gerichtshof anerkannt, dass es mit dem Unionsrecht vereinbar ist, im Interesse der Rechtssicherheit angemessene Ausschlussfristen festzusetzen. Solche Fristen sind nämlich nicht geeignet, die Ausübung der durch die Unionsrechtsordnung verliehenen Rechte praktisch unmöglich zu machen oder übermäßig zu erschweren (Urteile vom 12. Februar 2008, Kempter, C‑2/06, EU:C:2008:78, Rn. 58, und vom 9. September 2020, Commissaire général aux réfugiés et aux apatrides [Ablehnung eines Folgeantrags – Rechtsbehelfsfrist], C‑651/19, EU:C:2020:681, Rn. 53).
43 Folglich können die Mitgliedstaaten gestützt auf den Grundsatz der Rechtssicherheit verlangen, dass ein Antrag auf Beibehaltung oder Wiedererlangung der Staatsangehörigkeit bei den zuständigen Behörden innerhalb einer angemessenen Frist gestellt wird.
44 Im vorliegenden Fall kann die betroffene Person nach § 8 Abs. 1 Satz 2 des Staatsangehörigkeitsgesetzes die Beibehaltung der dänischen Staatsangehörigkeit beantragen, bevor sie das 22. Lebensjahr vollendet. Insoweit unterscheidet das Ministerium dem Vorabentscheidungsersuchen zufolge zwischen zwei Fallgestaltungen, nämlich danach, ob der Antragsteller zum Zeitpunkt der Antragstellung noch keine 21 Jahre oder zwischen 21 und 22 Jahre alt ist.
45 Im ersten Fall beschränkt sich das Ministerium darauf, dem Antragsteller eine Staatsbürgerschaftsbescheinigung auszustellen, ohne sich zur Beibehaltung der dänischen Staatsangehörigkeit nach Vollendung des 22. Lebensjahrs zu äußern. Das vorlegende Gericht weist darauf hin, dass die Verwaltung damit erreichen wolle, dass die Prüfung der Anträge auf Beibehaltung der dänischen Staatsangehörigkeit zu einem Zeitpunkt erfolge, der möglichst kurz vor dem 22. Geburtstag des Antragstellers liege.
46 Nur im zweiten Fall, also wenn der Antragsteller den Antrag auf Beibehaltung der dänischen Staatsangehörigkeit zwischen seinem 21. und 22. Geburtstag stellt, nimmt das Ministerium, wie sich aus den Angaben im Vorabentscheidungsersuchen ergibt, seit dem Urteil vom 12. März 2019, Tjebbes u. a. (C‑221/17, EU:C:2019:189), eine Einzelfallprüfung der Verhältnismäßigkeit der Folgen des Verlusts der dänischen Staatsangehörigkeit und damit des Unionsbürgerstatus aus unionsrechtlicher Sicht vor. In diesem Zusammenhang hat das Ministerium zu beurteilen, ob diese Folgen im Hinblick auf das mit § 8 des Staatsangehörigkeitsgesetzes verfolgte Ziel, nämlich sicherzustellen, dass eine echte Bindung der dänischen Staatsangehörigen zum Königreich Dänemark besteht, verhältnismäßig sind.
47 Es ist jedoch erstens darauf hinzuweisen, dass nach den Angaben, über die der Gerichtshof verfügt, diese Frist von einem Jahr zwischen dem 21. und dem 22. Geburtstag der betroffenen Person auch dann beginnt, wenn diese Person von den zuständigen Behörden nicht ordnungsgemäß darüber unterrichtet worden ist, dass sie dem unmittelbar bevorstehenden Verlust der dänischen Staatsangehörigkeit kraft Gesetzes ausgesetzt ist und das Recht hat, innerhalb dieser Frist die Beibehaltung dieser Staatsangehörigkeit zu beantragen.
48 In Anbetracht der schwerwiegenden Folgen, die sich aus dem Verlust der Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats, mit dem der Verlust des Unionsbürgerstatus verbunden ist, für die wirksame Ausübung der dem Unionsbürger nach Art. 20 AEUV zustehenden Rechte ergeben, kann nicht davon ausgegangen werden, dass nationale Vorschriften oder Praktiken, die bewirken können, dass die dem Verlust der Staatsangehörigkeit ausgesetzte Person daran gehindert wird, zu beantragen, dass die Verhältnismäßigkeit der Folgen dieses Verlusts aus unionsrechtlicher Sicht geprüft wird, und zwar deshalb, weil die Frist für die Beantragung dieser Prüfung abgelaufen ist, mit dem Grundsatz der Effektivität im Einklang stehen, wenn diese Person nicht ordnungsgemäß über das Recht, eine solche Prüfung zu beantragen, und die für die Stellung des Antrags geltende Frist unterrichtet wurde.
49 Zweitens endet die in Rn. 47 des vorliegenden Urteils genannte Frist von einem Jahr mit der Vollendung des 22. Lebensjahrs der betroffenen Person, d. h. zu dem Zeitpunkt, zu dem nach dänischem Recht die Voraussetzungen erfüllt sein müssen, die es dieser Person ermöglichen, eine hinreichende Bindung zum Königreich Dänemark nachzuweisen, um ihre Staatsangehörigkeit zu behalten. Diese Person muss sich daher im Rahmen der von der zuständigen Behörde vorzunehmenden Prüfung der Verhältnismäßigkeit der Folgen des Verlusts der dänischen Staatsangehörigkeit aus unionsrechtlicher Sicht auf alle relevanten Gesichtspunkte berufen können, die bis zur Vollendung ihres 22. Lebensjahrs auftreten konnten. Daraus folgt zwangsläufig, dass ihr die Möglichkeit eingeräumt werden muss, solche Nachweise nach ihrem 22. Geburtstag vorzulegen.
50 Demnach muss diese Person in einer Situation wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden, in der die nationale Regelung bewirkt, dass sie mit Vollendung des 22. Lebensjahrs die Staatsangehörigkeit des betreffenden Mitgliedstaats und damit den Unionsbürgerstatus kraft Gesetzes verliert, über eine angemessene Frist verfügen, um bei den zuständigen Behörden eine Prüfung der Verhältnismäßigkeit der Folgen dieses Verlusts sowie gegebenenfalls die Beibehaltung oder rückwirkende Wiedererlangung dieser Staatsangehörigkeit zu beantragen. Diese Frist muss dann einen angemessenen Zeitraum nach dem 22. Geburtstag der betroffenen Person umfassen.
51 Um die wirksame Ausübung der dem Unionsbürger nach Art. 20 AEUV zustehenden Rechte zu ermöglichen, kann diese angemessene Frist für die Stellung eines solchen Antrags nur dann zu laufen beginnen, wenn die zuständigen Behörden die betroffene Person ordnungsgemäß vom Verlust oder vom unmittelbar kraft Gesetzes drohenden Verlust der Staatsangehörigkeit des betreffenden Mitgliedstaats sowie von ihrem Recht, innerhalb dieser Frist die Beibehaltung oder rückwirkende Wiedererlangung der Staatsangehörigkeit zu beantragen, unterrichtet haben.
52 Andernfalls müssen die zuständigen nationalen Behörden und Gerichte nach der in Rn. 40 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung des Gerichtshofs in der Lage sein, die Verhältnismäßigkeit der Folgen des Verlusts der Staatsangehörigkeit inzident zu prüfen und gegebenenfalls die Staatsangehörigkeit der betroffenen Person rückwirkend wiederherzustellen, wenn diese ein Reisedokument oder ein anderes Dokument zur Bescheinigung der Staatsangehörigkeit beantragt, selbst wenn ein solcher Antrag nach Ablauf einer angemessenen Frist in dem in Rn. 50 des vorliegenden Urteils erläuterten Sinne gestellt wurde.
53 Im vorliegenden Fall ist es Sache des vorlegenden Gerichts, eine solche Prüfung vorzunehmen oder gegebenenfalls dafür zu sorgen, dass sie von den zuständigen Behörden auf den in Rn. 11 des vorliegenden Urteils erwähnten Antrag hin durchgeführt wird.
54 Bei dieser Prüfung ist die individuelle Situation der betroffenen Person sowie die ihrer Familie zu beurteilen, um zu bestimmen, ob der Verlust der Staatsangehörigkeit des betreffenden Mitgliedstaats, wenn er den Verlust des Unionsbürgerstatus mit sich bringt, Folgen hat, die die normale Entwicklung ihres Familien- und Berufslebens – gemessen an dem vom nationalen Gesetzgeber verfolgten Ziel – aus unionsrechtlicher Sicht unverhältnismäßig beeinträchtigen würden. Dabei darf es sich nicht um nur hypothetische oder potenzielle Folgen handeln (Urteil vom 12. März 2019, Tjebbes u. a., C‑221/17, EU:C:2019:189, Rn. 44).
55 Im Rahmen dieser Verhältnismäßigkeitsprüfung ist es Sache insbesondere der zuständigen nationalen Behörden und gegebenenfalls der nationalen Gerichte, sich Gewissheit darüber zu verschaffen, dass ein solcher Verlust der Staatsangehörigkeit mit den Grundrechten der Charta, deren Wahrung der Gerichtshof sichert, im Einklang steht, und insbesondere mit dem Recht auf Achtung des Familienlebens, das in Art. 7 der Charta niedergelegt ist. Dieser Artikel ist gegebenenfalls in Zusammenschau mit der Verpflichtung auszulegen, das in Art. 24 Abs. 2 der Charta anerkannte Kindeswohl zu berücksichtigen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 12. März 2019, Tjebbes u. a., C‑221/17, EU:C:2019:189, Rn. 45, und vom 18. Januar 2022, Wiener Landesregierung [Widerruf einer Einbürgerungszusicherung], C‑118/20, EU:C:2022:34, Rn. 61).
56 Der im vorliegenden Fall von den zuständigen Behörden bei einer solchen Prüfung zu berücksichtigende Zeitpunkt ist zwangsläufig der Tag, an dem die betroffene Person das 22. Lebensjahr vollendet, da dieser Zeitpunkt nach § 8 Abs. 1 des Staatsangehörigkeitsgesetzes zu den von diesem Mitgliedstaat festgelegten legitimen Kriterien gehört, von denen die Beibehaltung bzw. der Verlust der Staatsangehörigkeit abhängt.
57 Was schließlich die vom vorlegenden Gericht und von der dänischen Regierung angesprochene Möglichkeit betrifft, dass ehemalige dänische Staatsangehörige, die die dänische Staatsangehörigkeit und damit ihren Unionsbürgerstatus verloren haben, diese Staatsangehörigkeit durch Einbürgerung wiedererlangen, und zwar unter bestimmten Voraussetzungen wie z. B. derjenigen eines längeren ununterbrochenen Aufenthalts in Dänemark, die allerdings etwas abgeschwächt werden kann, genügt der Hinweis, dass die fehlende Möglichkeit nach nationalem Recht, unter mit dem Unionsrecht, wie es in den Rn. 40 und 43 des vorliegenden Urteils ausgelegt worden ist, im Einklang stehenden Voraussetzungen bei den nationalen Behörden und eventuell den nationalen Gerichten eine Prüfung der Verhältnismäßigkeit der Folgen des Verlusts der Staatsangehörigkeit des betreffenden Mitgliedstaats aus unionsrechtlicher Sicht zu erwirken, die gegebenenfalls zu einer rückwirkenden Wiedererlangung dieser Staatsangehörigkeit führen kann, nicht durch die Möglichkeit der Einbürgerung ausgeglichen werden kann, und zwar unabhängig von den – möglicherweise erleichterten – Voraussetzungen, unter denen diese Einbürgerung erlangt werden kann.
58 Andernfalls würde nämlich, wie der Generalanwalt in den Nrn. 93 und 94 seiner Schlussanträge im Wesentlichen ausgeführt hat, zugelassen, dass einer Person, und sei es auch nur für einen begrenzten Zeitraum, die Möglichkeit genommen würde, alle ihr durch den Unionsbürgerstatus verliehenen Rechte in Anspruch zu nehmen, ohne dass eine Wiederherstellung dieser Rechte für den betreffenden Zeitraum möglich wäre.
59 Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 20 AEUV im Licht von Art. 7 der Charta dahin auszulegen ist, dass er der Regelung eines Mitgliedstaats, wonach seine im Ausland geborenen Staatsangehörigen, die nie in diesem Mitgliedstaat gewohnt und sich dort auch nicht unter Umständen aufgehalten haben, die eine echte Bindung zu ihm belegen, mit Vollendung des 22. Lebensjahrs kraft Gesetzes die Staatsangehörigkeit des Mitgliedstaats verlieren, was für Personen, die nicht auch Staatsangehörige eines anderen Mitgliedstaats sind, den Verlust ihres Unionsbürgerstatus und der damit verbundenen Rechte zur Folge hat, dann nicht entgegensteht, wenn den betroffenen Personen die Möglichkeit eingeräumt wird, innerhalb einer angemessenen Frist einen Antrag auf Beibehaltung oder Wiedererlangung der Staatsangehörigkeit zu stellen, der es den zuständigen Behörden erlaubt, die Verhältnismäßigkeit der Folgen des Verlusts dieser Staatsangehörigkeit aus unionsrechtlicher Sicht zu prüfen und gegebenenfalls die Beibehaltung oder die rückwirkende Wiedererlangung der Staatsangehörigkeit zu gewähren. Eine solche Frist muss einen angemessenen Zeitraum nach dem 22. Geburtstag der betroffenen Person umfassen und kann nur dann zu laufen beginnen, wenn die zuständigen Behörden diese Person ordnungsgemäß vom Verlust oder vom unmittelbar drohenden Verlust der Staatsangehörigkeit sowie von ihrem Recht, innerhalb dieser Frist die Beibehaltung oder Wiedererlangung der Staatsangehörigkeit zu beantragen, unterrichtet haben. Andernfalls müssen diese Behörden in der Lage sein, eine solche Prüfung inzident vorzunehmen, wenn die betroffene Person ein Reisedokument oder ein anderes Dokument zur Bescheinigung der Staatsangehörigkeit beantragt.
Kosten
60 Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Große Kammer) für Recht erkannt:
Art. 20 AEUV ist im Licht von Art. 7 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union
dahin auszulegen, dass
er der Regelung eines Mitgliedstaats, wonach seine im Ausland geborenen Staatsangehörigen, die nie in diesem Mitgliedstaat gewohnt und sich dort auch nicht unter Bedingungen aufgehalten haben, die eine echte Bindung zu ihm belegen, mit Vollendung des 22. Lebensjahrs kraft Gesetzes die Staatsangehörigkeit des Mitgliedstaats verlieren, was für Personen, die nicht auch Staatsangehörige eines anderen Mitgliedstaats sind, den Verlust ihres Unionsbürgerstatus und der damit verbundenen Rechte zur Folge hat, dann nicht entgegensteht, wenn den betroffenen Personen die Möglichkeit eingeräumt wird, innerhalb einer angemessenen Frist einen Antrag auf Beibehaltung oder Wiedererlangung der Staatsangehörigkeit zu stellen, der es den zuständigen Behörden erlaubt, die Verhältnismäßigkeit der Folgen des Verlusts dieser Staatsangehörigkeit aus unionsrechtlicher Sicht zu prüfen und gegebenenfalls die Beibehaltung oder die rückwirkende Wiedererlangung der Staatsangehörigkeit zu gewähren. Eine solche Frist muss einen angemessenen Zeitraum nach dem 22. Geburtstag der betroffenen Person umfassen und kann nur dann zu laufen beginnen, wenn die zuständigen Behörden diese Person ordnungsgemäß vom Verlust oder unmittelbar drohenden Verlust der Staatsangehörigkeit sowie von ihrem Recht, innerhalb dieser Frist die Beibehaltung oder Wiedererlangung der Staatsangehörigkeit zu beantragen, unterrichtet haben. Andernfalls müssen diese Behörden in der Lage sein, eine solche Prüfung inzident vorzunehmen, wenn die betroffene Person ein Reisedokument oder ein anderes Dokument zur Bescheinigung der Staatsangehörigkeit beantragt.
Unterschriften
(*1) Verfahrenssprache: Dänisch.
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Urteil des Gerichtshofs (Erste Kammer) vom 11. Mai 2023.#R. I. gegen Inspecţia Judiciară und N. L.#Vorabentscheidungsersuchen der Curtea de Apel Bucureşti.#Vorlage zur Vorabentscheidung – Rechtsstaatlichkeit – Unabhängigkeit der Justiz – Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV – Entscheidung 2006/928/EG – Richterliche Unabhängigkeit – Disziplinarverfahren – Justizinspektion – Chefinspekteur, der über Regelungs‑, Auswahl‑, Bewertungs‑, Ernennungs- und disziplinarische Untersuchungsbefugnisse verfügt.#Rechtssache C-817/21.
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62021CJ0817
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ECLI:EU:C:2023:391
| 2023-05-11T00:00:00 |
Gerichtshof, Collins
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62021CJ0817
URTEIL DES GERICHTSHOFS (Erste Kammer)
11. Mai 2023 (*1)
„Vorlage zur Vorabentscheidung – Rechtsstaatlichkeit – Unabhängigkeit der Justiz – Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV – Entscheidung 2006/928/EG – Richterliche Unabhängigkeit – Disziplinarverfahren – Justizinspektion – Chefinspekteur, der über Regelungs‑, Auswahl‑, Bewertungs‑, Ernennungs- und disziplinarische Untersuchungsbefugnisse verfügt“
In der Rechtssache C‑817/21
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Curtea de Apel Bucureşti (Berufungsgericht Bukarest, Rumänien) mit Entscheidung vom 10. Dezember 2021, beim Gerichtshof eingegangen am 21. Dezember 2021, in dem Verfahren
R. I.
gegen
Inspecţia Judiciară,
N. L.
erlässt
DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten A. Arabadjiev, des Vizepräsidenten des Gerichtshofs L. Bay Larsen (Berichterstatter), der Richter P. G. Xuereb und T. von Danwitz sowie der Richterin I. Ziemele,
Generalanwalt: A. M. Collins,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
–
von R. I., vertreten durch I. Roşca als Bevollmächtigte,
–
der Inspecţia Judiciară, vertreten durch L. Netejoru als Bevollmächtigten,
–
der Europäischen Kommission, vertreten durch K. Herrmann, I. Rogalski und P. Van Nuffel als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 26. Januar 2023
folgendes
Urteil
1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 2 und Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV und des Anhangs der Entscheidung 2006/928/EG der Kommission vom 13. Dezember 2006 zur Einrichtung eines Verfahrens für die Zusammenarbeit und die Überprüfung der Fortschritte Rumäniens bei der Erfüllung bestimmter Vorgaben in den Bereichen Justizreform und Korruptionsbekämpfung (ABl. 2006, L 354, S. 56).
2 Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen R. I. auf der einen Seite und der Inspecţia Judiciară (Justizinspektion, Rumänien) sowie N. L. auf der anderen Seite über die Entscheidungen der Justizinspektion, eine von R. I. gegen N. L. eingereichte Beschwerde nicht weiter zu verfolgen und den gegen diese Verfahrenseinstellung eingelegten Einspruch zurückzuweisen.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
3 Art. 1 der Entscheidung 2006/928 sieht vor:
„Bis zum 31. März jedes Jahres und zum ersten Mal bis zum 31. März 2007 erstattet Rumänien der [Europäischen] Kommission Bericht über die Fortschritte bei der Erfüllung der im Anhang aufgeführten Vorgaben.
Die Kommission kann jederzeit mit verschiedenen Maßnahmen technische Hilfe leisten oder Informationen zu den Vorgaben sammeln und austauschen. Ferner kann die Kommission zu diesem Zweck jederzeit Fachleute nach Rumänien entsenden. Die rumänischen Behörden leisten in diesem Zusammenhang die erforderliche Unterstützung.“
Rumänisches Recht
4 Art. 44 Abs. 6 der Legea nr. 317/2004 privind Consiliul Superior al Magistraturii (Gesetz Nr. 317/2004 über den Obersten Rat der Richter und Staatsanwälte) vom 1. Juli 2004 (Monitorul Oficial al României, Teil I, Nr. 827 vom 13. September 2005) in geänderter und ergänzter Fassung (im Folgenden: Gesetz Nr. 317/2004 in geänderter Fassung) bestimmt:
„Für die Einleitung eines Disziplinarverfahrens ist die Durchführung einer Disziplinaruntersuchung durch die Justizinspektion zwingend erforderlich.“
5 Art. 45 Abs. 4 des Gesetzes lautet:
„Ergeben sich aus den Vorermittlungen keine Anhaltspunkte für ein disziplinarisches Fehlverhalten, wird die Beschwerde nicht weiter verfolgt; das Ergebnis ist dem Beschwerdeführer und der von der Beschwerde betroffenen Person unmittelbar mitzuteilen. Die Entscheidung zur Einstellung des Verfahrens bedarf der Bestätigung durch den Chefinspekteur. Die Entscheidung kann vom Chefinspekteur lediglich einmal aufgehoben werden; dieser kann durch schriftliche und begründete Entscheidung weitere Ermittlungen anordnen.“
6 Art. 451 Abs. 1 des Gesetzes lautet:
„Der Beschwerdeführer kann gegen die Entscheidung zur Einstellung des Verfahrens nach Art. 45 Abs. 4 innerhalb von 15 Tagen nach Bekanntgabe dieser Entscheidung beim Chefinspekteur Einspruch einlegen. Über den Einspruch wird innerhalb von 20 Tagen nach dem Datum seines Eingangs bei der Justizinspektion entschieden.“
7 Art. 47 Abs. 7 des Gesetzes lautet:
„Die Disziplinarklage kann innerhalb von 30 Tagen nach Abschluss der Disziplinaruntersuchung erhoben werden, spätestens jedoch zwei Jahre nach dem Zeitpunkt der Begehung der Tat.“
8 Art. 65 Abs. 2 bis 4 des Gesetzes Nr. 317/2004 in geänderter Fassung lautet:
„(2) Die Justizinspektion wird von einem die Funktion des Chefinspekteurs wahrnehmenden Richter geleitet, der aufgrund eines vom Consiliul Superior al Magistraturii [(Oberster Rat der Richter und Staatsanwälte, Rumänien)] durchgeführten Auswahlverfahrens ernannt wird; er wird von einem die Funktion des stellvertretenden Chefinspekteurs wahrnehmenden Staatsanwalt unterstützt, der vom Chefinspekteur ausgewählt wird.
(3) Die Justizinspektion handelt im Einklang mit dem Grundsatz der operativen Unabhängigkeit gegenüber dem Obersten Rat der Richter und Staatsanwälte, den Gerichten, den ihnen angeschlossenen Staatsanwaltschaften und den sonstigen Behörden und nimmt ihre Prüfungs‑, Ermittlungs- und Aufsichtsbefugnisse in bestimmten Tätigkeitsbereichen nach den gesetzlichen Bestimmungen und mit dem Ziel, ihre Einhaltung zu gewährleisten, wahr.
(4) Die Regelungen für die Durchführung der Inspektionstätigkeit werden vom Chefinspekteur im Wege einer Verordnung genehmigt.“
9 Art. 66 Abs. 3 des Gesetzes sieht vor:
„Die Organisation und Arbeitsweise der Justizinspektion sowie die Organisationsstruktur und die Aufgaben ihrer Abteilungen werden durch eine Verordnung festgelegt, die durch Erlass des Chefinspekteurs genehmigt wird …“
10 Art. 69 Abs. 1 und 4 des Gesetzes lautet:
„(1) Der Chefinspekteur hat folgende Hauptaufgaben:
a)
Er wählt aus dem Kreis der Justizinspekteure die Geschäftsleitung – den stellvertretenden Chefinspekteur, die Leiter der Direktionen – auf der Grundlage eines Verfahrens, das die Beurteilung der für jede Stelle spezifisch geltenden Geschäftsleitungspläne einschließt, in der Weise aus, dass der Zusammenhalt der Geschäftsleitung, die fachliche Kompetenz und eine effiziente Kommunikation gewährleistet sind. Ihre Amtszeit endet mit derjenigen des Chefinspekteurs.
a1)
Er nimmt die Aufgaben der Geschäftsleitung und Organisation der Tätigkeit der Justizinspektion wahr.
a2)
Er ergreift Maßnahmen zur Koordinierung der Tätigkeit der sonstigen Mitarbeiter der Justizinspektion, die keine Justizinspekteure sind.
…
g)
Er ernennt nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen die Justizinspekteure und Mitarbeiter sonstiger Kategorien der Justizinspektion und ordnet die Änderung, Suspendierung oder Beendigung ihrer Beschäftigungs- oder Dienstverhältnisse an.
h)
Er legt die individuellen Pflichten und Aufgaben der ihm unterstellten Mitarbeiter durch Genehmigung ihrer Tätigkeitsbeschreibungen fest.
i)
Er nimmt nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen die Bewertung der ihm unterstellten Mitarbeiter vor.
…
(4) Der stellvertretende Chefinspekteur vertritt den Chefinspekteur von Amts wegen; er unterstützt ihn bei der Überprüfung des Handelns und der Entscheidungen der Justizinspekteure und bei der Abgabe von Stellungnahmen hierzu und nimmt alle sonstigen vom Chefinspekteur festgelegten Aufgaben wahr.“
11 Art. 71 Abs. 2 des Gesetzes lautet:
„Die Bestimmungen über Sanktionen, disziplinarisches Fehlverhalten und Disziplinarverfahren finden auf die Justizinspekteure entsprechende Anwendung.“
Ausgangsverfahren und Vorlagefrage
12 R. I. ist in mehreren Strafverfahren vor rumänischen Gerichten Partei. Sie hatte bei der Justizinspektion gegen diesen Gerichten zugewiesene Richter und Staatsanwälte mehrere Disziplinarbeschwerden eingelegt.
13 In Bezug auf diese Beschwerden erließ die Justizinspektion mehrere verfahrenseinstellende Entscheidungen. Eine dieser Entscheidungen, die auf den 2. Juli 2018 datiert und von N. L. in seiner Eigenschaft als Chefinspekteur bestätigt worden ist, hat R. I. bei der Curtea de Apel București (Berufungsgericht Bukarest, Rumänien) angefochten.
14 Mit Urteil vom 27. September 2019 hob dieses Gericht die genannte Entscheidung auf. Die Înalta Curte de Casație și Justiție (Oberster Kassations- und Gerichtshof, Rumänien) wies mit Urteil vom 29. September 2020 die von der Justizinspektion gegen dieses Urteil eingelegte Berufung zurück.
15 Im Anschluss an dieses Gerichtsverfahren erließ die Justizinspektion am 11. März 2021 in Bezug auf die betreffende Disziplinarbeschwerde erneut eine verfahrenseinstellende Entscheidung. Am 31. Mai 2021 wies N. L. den von R. I. gegen diese Entscheidung eingelegten Einspruch zurück. R. I. erhob gegen die von N. L. auf diese Weise getroffene Entscheidung Nichtigkeitsklage.
16 Mit Schriftsatz vom 29. November 2019 an das Ministerului Justiţiei (Justizministerium, Rumänien) beschwerte sich R. I. über die Verletzung ihrer verfassungsmäßigen Rechte und beanstandete das Handeln einer „Gruppe“ von Personen, darunter N. L., die an der Verletzung und den gegen R. I. gerichteten strafrechtlichen Ermittlungen mitgewirkt haben sollen. In dem Schriftsatz machte R. I. u. a. geltend, dass N. L. versucht habe, Missbräuche und Rechtsverstöße bestimmter Angehöriger des höheren Justizdienstes zu verschleiern.
17 Das Justizministerium verneinte seine Zuständigkeit für die Prüfung dieser Beschwerde und leitete sie infolgedessen an die Justizinspektion weiter. Des Weiteren trug R. I. mit einer am 16. Februar 2021 bei der Justizinspektion erhobenen Beschwerde gegenüber N. L. eine zusätzliche Rüge vor.
18 Im Rahmen des bei diesem Organ geführten Verfahrens legte R. I. ihre Rügen näher dar und machte u. a. geltend, dass es keine echte Disziplinaruntersuchung gegeben habe, dass das Urteil vom 27. September 2019 nicht durchgeführt worden sei und dass die Prüfung ihrer Einsprüche absichtlich hinausgezögert worden sei, um eine Verjährungsfrist ablaufen zu lassen.
19 In Bezug auf die N. L. betreffende Beschwerde wurde das Verfahren am 17. März 2021 durch Entscheidung eines gemäß den vom Chefinspekteur erlassenen allgemeinen Vorschriften ernannten Justizinspekteurs eingestellt. Der Einspruch von R. I. gegen diese Entscheidung wurde am 11. Mai 2021 durch Entscheidung des stellvertretenden Chefinspekteurs zurückgewiesen.
20 Am 31. Mai 2021 hat R. I. beim vorlegenden Gericht Klage u. a. auf Nichtigerklärung der Entscheidungen vom 17. März und 11. Mai 2021 sowie auf Ersatz des Schadens erhoben, der ihr durch diese Entscheidungen entstanden sein soll.
21 Zur Stützung dieser Klage hat sich R. I. u. a. auf mehrere Unregelmäßigkeiten in Bezug auf Befugnisse berufen, über die der Chefinspekteur bei der Auswahl der Justizinspekteure, der Ernennung des stellvertretenden Chefinspekteurs und dem Erlass der Vorschriften über die Organisation der Justizinspektion verfügt, sowie auf das Fehlen ausreichender Garantien gegen die mangelnde Unparteilichkeit der Personen, die bei einer den Chefinspekteur betreffenden Beschwerde mit den Ermittlungen betraut sind. R. I. meint, dass das Unionsrecht eine Konzentration der Befugnisse beim Chefinspekteur verbiete und diese Konzentration die Durchführung von Disziplinarverfahren gegen Angehörige des höheren Justizdienstes oder gegen den Chefinspekteur verhindere.
22 Das vorlegende Gericht weist darauf hin, dass sich R. I. zwar auf das Urteil vom 18. Mai 2021, Asociaţia Forumul Judecătorilor din România u. a. (C‑83/19, C‑127/19, C‑195/19, C‑291/19, C‑355/19 und C‑397/19, EU:C:2021:393), berufen habe, das Urteil jedoch nur den Rechtsakt der Ernennung des Chefinspekteurs betreffe, der im Hinblick auf die Aussicht auf die Einleitung einer Disziplinaruntersuchung gegen Richter geprüft worden sei. Im vorliegenden Fall beanstande R. I. dagegen, dass es wegen der Modalitäten der Organisation und der Arbeitsweise der Justizinspektion nicht möglich sei, eine Disziplinarklage zu erheben.
23 Das vorlegende Gericht betont insoweit, dass die Justizinspektion im Jahr 2012 reformiert worden sei, um ihre operative Unabhängigkeit gegenüber dem Obersten Rat der Richter und Staatsanwälte zu stärken und dadurch die Einhaltung der Entscheidung 2006/928 sicherzustellen. Verschiedene Modalitäten der Organisation und Arbeitsweise der Justizinspektion, die u. a. ihre Struktur, die Aufgaben ihres Personals, das Verfahren zur Bearbeitung der Beschwerden, die Ernennung der Justizinspekteure oder die Ernennung von Personen in Leitungsstellen beträfen, ergäben sich aus Vorschriften, die der Chefinspekteur in Ausübung der ihm vom rumänischen Gesetzgeber eingeräumten Regelungsbefugnisse erlassen habe. Auf der Grundlage dieser Gesichtspunkte stellen sich dem vorlegenden Gericht insbesondere Fragen hinsichtlich der Stabilität des sich aus den rumänischen Rechtsvorschriften ergebenden Systems von Garantien in Bezug auf die Kontrolle der Tätigkeit des Chefinspekteurs.
24 Unter diesen Umständen hat die Curtea de Apel București (Berufungsgericht Bukarest) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:
Sind Art. 2 und Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV, die Entscheidung 2006/928 und die nach dem Unionsrecht erforderlichen Garantien der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Regelung entgegenstehen, die es dem Chefinspekteur der Justizinspektion gestattet, Verwaltungsmaßnahmen mit (untergesetzlichem) normativem Charakter und/oder mit individuellem Charakter zu erlassen, mit denen er über die Organisation des institutionellen Rahmens der Justizinspektion in Bezug auf die Auswahl der Justizinspekteure und die Beurteilung ihrer Tätigkeit, die Durchführung der Inspektionsmaßnahmen und die Ernennung des stellvertretenden Chefinspekteurs eigenständig in den Fällen entscheidet, in denen nach dem Organgesetz nur diese Personen disziplinarische Ermittlungsmaßnahmen gegen den Chefinspekteur durchführen, bestätigen oder ablehnen können?
Zum Antrag auf Anwendung des beschleunigten Verfahrens
25 Das vorlegende Gericht hat beantragt, das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen einem beschleunigten Vorabentscheidungsverfahren nach Art. 105 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs zu unterwerfen.
26 Zur Stützung seines Antrags weist das vorlegende Gericht zum einen darauf hin, dass sich R. I. über die überlange Dauer der Disziplinarverfahren beschwert habe und es daher wichtig sei, dass die Dauer des Vorabentscheidungsverfahrens nicht als ein Unsicherheitsfaktor in Bezug auf die Wirksamkeit ihres Rechtsbehelfs erscheine. Zum anderen betreffe die Vorlagefrage eine wichtige Rechtsfrage, da sie die Organisation und Arbeitsweise eines Organs der Justizinspektion betreffe.
27 Nach Art. 105 Abs. 1 der Verfahrensordnung kann der Präsident des Gerichtshofs auf Antrag des vorlegenden Gerichts oder ausnahmsweise von Amts wegen, nach Anhörung des Berichterstatters und des Generalanwalts, entscheiden, eine Vorlage zur Vorabentscheidung einem beschleunigten Verfahren unter Abweichung von den Bestimmungen dieser Verfahrensordnung zu unterwerfen, wenn die Art der Rechtssache ihre rasche Erledigung erfordert.
28 Im vorliegenden Fall hat der Präsident des Gerichtshofs am 1. Februar 2022 nach Anhörung des Berichterstatters und des Generalanwalts entschieden, dem in Rn. 25 des vorliegenden Urteils genannten Antrag nicht stattzugeben.
29 Denn was erstens die Gefahr anbelangt, dass das Vorabentscheidungsverfahren die Dauer des Ausgangsverfahrens übermäßig verlängert, ergibt sich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs, dass das bloße – wenn auch legitime – Interesse der Rechtsuchenden daran, den Umfang der ihnen aus dem Unionsrecht erwachsenden Rechte möglichst schnell zu klären, nicht geeignet ist, das Vorliegen eines außergewöhnlichen Umstands im Sinne von Art. 105 Abs. 1 der Verfahrensordnung zu belegen (Urteil vom 11. November 2021, Energieversorgungscenter Dresden-Wilschdorf, C‑938/19, EU:C:2021:908, Rn. 43 und die dort angeführte Rechtsprechung).
30 Ferner ist selbst unter der Annahme, dass das Ausgangsverfahren im Hinblick auf seinen Gegenstand nach Ansicht des vorlegenden Gerichts eine zügige Bearbeitung verlangt, der Umstand, dass das vorlegende Gericht alles für eine zügige Erledigung des Ausgangsverfahrens tun muss, für sich genommen nicht ausreichend, um den Rückgriff auf das beschleunigte Verfahren nach Art. 105 Abs. 1 der Verfahrensordnung zu rechtfertigen (Urteil vom 6. Oktober 2021, TOTO und Vianini Lavori, C‑581/20, EU:C:2021:808, Rn. 29 und die dort angeführte Rechtsprechung).
31 Was zweitens den Umstand anbelangt, dass die Vorlagefrage die Organisation und Arbeitsweise eines Organs der Justizinspektion betrifft, ist darauf hinzuweisen, dass die Anwendung des beschleunigten Vorabentscheidungsverfahrens nicht von der Art des Rechtsstreits im Ausgangsverfahren als solcher abhängt, sondern von den der betreffenden Rechtssache eigenen besonderen Umständen, aus denen sich die außerordentliche Dringlichkeit der Entscheidung über diese Fragen ergeben muss (Urteil vom 31. Januar 2023, Puig Gordi u. a., C‑158/21, EU:C:2023:57, Rn. 27 und die dort angeführte Rechtsprechung).
32 Insbesondere stellt der Umstand, dass die Rechtssache einen wichtigen Aspekt der Gerichtsorganisation des betreffenden Mitgliedstaats betrifft, als solcher keinen Grund dar, aus dem sich eine außerordentliche Dringlichkeit ergibt, die erforderlich ist, um eine Behandlung im beschleunigten Verfahren zu rechtfertigen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 20. April 2021, Repubblika, C‑896/19, EU:C:2021:311, Rn. 22, und vom 21. Dezember 2021, Randstad Italia, C‑497/20, EU:C:2021:1037, Rn. 39).
Zur Vorlagefrage
Zur Zulässigkeit
33 Die Justizinspektion macht geltend, das Vorabentscheidungsersuchen sei unzulässig.
34 Zum einen seien zwar nur die nationalen Gerichte dafür zuständig, die Rechtmäßigkeit des Verfahrens zum Erlass von Verwaltungsakten zu beurteilen, doch betreffe das Vorabentscheidungsersuchen nicht die Auslegung von Bestimmungen des Unionsrechts, sondern die des Gesetzes Nr. 317/2004 in geänderter Fassung. Zum anderen seien die auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren rumänischen Bestimmungen mit den Vorschriften des Unionsrechts vereinbar, so dass in diesem Rechtsstreit die richterliche Unabhängigkeit in keiner Weise beeinträchtigt worden sein könne.
35 Insoweit trifft es zwar zu, dass der Gerichtshof in einem Vorabentscheidungsverfahren nicht befugt ist, das innerstaatliche Recht eines Mitgliedstaats auszulegen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 26. Januar 2021, Hessischer Rundfunk, C‑422/19 und C‑423/19, EU:C:2021:63, Rn. 31), doch ergibt sich aus dem Wortlaut der Vorlagefrage klar, dass sie nicht die Auslegung rumänischen Rechts, sondern von Bestimmungen des Unionsrechts betrifft, nämlich die Auslegung von Art. 2 und Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV und der Entscheidung 2006/928.
36 Außerdem macht die Justizinspektion zwar geltend, dass eine Regelung wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende mit dem Unionsrecht vereinbar sei, doch betrifft dieser Einwand gerade die Tragweite der Bestimmungen des Unionsrechts, auf die sich die Vorlagefrage bezieht, und damit die Auslegung dieser Bestimmungen. Ein solcher Einwand, der sich also auf die inhaltliche Prüfung dieser Frage bezieht, kann daher schon seinem Wesen nach nicht dazu führen, dass die Frage unzulässig wäre (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 20. April 2021, Repubblika, C‑896/19, EU:C:2021:311, Rn. 33).
37 Folglich ist die Vorlagefrage zulässig.
Zur Beantwortung der Vorlagefrage
38 Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 2 und Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV sowie die Entscheidung 2006/928 dahin auszulegen sind, dass sie einer nationalen Regelung entgegenstehen, die dem Direktor eines Organs, das für die Durchführung von Ermittlungen und die Erhebung von Disziplinarklagen gegen Richter und Staatsanwälte zuständig ist, die Befugnis verleiht, Regelungen und Einzelfallentscheidungen zu treffen, die u. a. die Organisation dieses Organs, die Auswahl seiner Bediensteten, deren Beurteilung, die Ausübung ihrer Tätigkeit oder die Ernennung eines stellvertretenden Direktors betreffen, obgleich nur diese Bediensteten und dieser stellvertretende Direktor zur Durchführung einer Disziplinaruntersuchung gegen diesen Direktor befugt sind.
39 Es ist darauf hinzuweisen, dass Art. 19 EUV, mit dem der in Art. 2 EUV proklamierte Wert der Rechtsstaatlichkeit konkretisiert wird, den nationalen Gerichten und dem Gerichtshof die Aufgabe überträgt, die volle Anwendung des Unionsrechts in allen Mitgliedstaaten und den gerichtlichen Schutz, der den Einzelnen aus diesem Recht erwächst, zu gewährleisten (Urteile vom 18. Mai 2021, Asociaţia Forumul Judecătorilor din România u. a., C‑83/19, C‑127/19, C‑195/19, C‑291/19, C‑355/19 und C‑397/19, EU:C:2021:393, Rn. 188, und vom 22. Februar 2022, RS [Wirkung der Urteile eines Verfassungsgerichts], C‑430/21, EU:C:2022:99, Rn. 37).
40 Schon das Vorhandensein einer wirksamen gerichtlichen Kontrolle, die der Gewährleistung der Einhaltung des Unionsrechts dient, ist einem Rechtsstaat inhärent. Insoweit ist es gemäß Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV Sache der Mitgliedstaaten, ein System von Rechtsbehelfen und Verfahren vorzusehen, das den Einzelnen die Wahrung ihres Rechts auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen gewährleistet. Der Grundsatz des wirksamen gerichtlichen Schutzes der den Einzelnen aus dem Unionsrecht erwachsenden Rechte, von dem in Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV die Rede ist, ist ein allgemeiner Grundsatz des Unionsrechts, der sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten ergibt; er ist in den Art. 6 und 13 der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten und nun auch in Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) verankert (Urteil vom 21. Dezember 2021, Euro Box Promotion u. a., C‑357/19, C‑379/19, C‑547/19, C‑811/19 und C‑840/19, EU:C:2021:1034, Rn. 219 und die dort angeführte Rechtsprechung).
41 Folglich hat jeder Mitgliedstaat dafür zu sorgen, dass Einrichtungen, die als „Gerichte“ im Sinne des Unionsrechts Bestandteil seines Rechtsbehelfssystems in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen sind, den Anforderungen an einen wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz gerecht werden (Urteile vom 18. Mai 2021, Asociaţia Forumul Judecătorilor din România u. a., C‑83/19, C‑127/19, C‑195/19, C‑291/19, C‑355/19 und C‑397/19, EU:C:2021:393, Rn. 191, und vom 22. Februar 2022, RS [Wirkung der Urteile eines Verfassungsgerichts], C‑430/21, EU:C:2022:99, Rn. 40).
42 Hinsichtlich der Anwendbarkeit von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV in einer Situation wie der des Ausgangsverfahrens ist darauf hinzuweisen, dass diese Bestimmung in „den vom Unionsrecht erfassten Bereichen“ Anwendung findet, ohne dass es insoweit darauf ankäme, in welchem Kontext die Mitgliedstaaten Unionsrecht im Sinne von Art. 51 Abs. 1 der Charta durchführen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 18. Mai 2021, Asociaţia Forumul Judecătorilor din România u. a., C‑83/19, C‑127/19, C‑195/19, C‑291/19, C‑355/19 und C‑397/19, EU:C:2021:393, Rn. 192 und die dort angeführte Rechtsprechung).
43 Insoweit hat der Gerichtshof entschieden, dass eine nationale Regelung, die in den Anwendungsbereich der Entscheidung 2006/928 fällt, den Anforderungen genügen muss, die sich aus dem Unionsrecht und insbesondere aus Art. 2 und Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV ergeben (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 22. Februar 2022, RS [Wirkung der Urteile eines Verfassungsgerichts], C‑430/21, EU:C:2022:99, Rn. 57 und die dort angeführte Rechtsprechung).
44 Dies ist insbesondere der Fall bei einer Regelung über die Organisation und Arbeitsweise eines Organs, das – wie die Justizinspektion – für die Durchführung von Untersuchungen und die Erhebung von Disziplinarklagen gegen alle rumänischen Richter und damit gegen Richter der ordentlichen Gerichte zuständig ist, die über Fragen im Zusammenhang mit der Anwendung oder der Auslegung des Unionsrechts zu entscheiden haben (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 18. Mai 2021, Asociaţia Forumul Judecătorilor din România u. a., C‑83/19, C‑127/19, C‑195/19, C‑291/19, C‑355/19 und C‑397/19, EU:C:2021:393, Rn. 182, 185 und 193).
45 Um sicherzustellen, dass Einrichtungen, die zur Entscheidung über Fragen im Zusammenhang mit der Anwendung oder der Auslegung des Unionsrechts angerufen werden können, in der Lage sind, den nach dieser Bestimmung erforderlichen wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz sicherzustellen, ist es von grundlegender Bedeutung, dass die Unabhängigkeit der betreffenden Einrichtungen gewahrt ist, wie Art. 47 Abs. 2 der Charta bestätigt, wonach zu den Anforderungen im Zusammenhang mit dem Grundrecht auf einen wirksamen Rechtsbehelf u. a. der Zugang zu einem „unabhängigen“ Gericht gehört (Urteil vom 18. Mai 2021, Asociaţia Forumul Judecătorilor din România u. a., C‑83/19, C‑127/19, C‑195/19, C‑291/19, C‑355/19 und C‑397/19, EU:C:2021:393, Rn. 194 und die dort angeführte Rechtsprechung).
46 Das Erfordernis der Unabhängigkeit der Gerichte, das sich aus Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV ergibt, umfasst zwei Aspekte. Der erste, das Außenverhältnis betreffende Aspekt verlangt, dass die betreffende Einrichtung ihre Funktionen in völliger Autonomie ausübt, ohne mit irgendeiner Stelle hierarchisch verbunden oder ihr untergeordnet zu sein und ohne von irgendeiner Stelle Anordnungen oder Anweisungen zu erhalten, so dass sie auf diese Weise vor Interventionen oder Druck von außen geschützt ist, die die Unabhängigkeit des Urteils ihrer Mitglieder gefährden und deren Entscheidungen beeinflussen könnten. Der zweite, das Innenverhältnis betreffende Aspekt steht mit dem Begriff der Unparteilichkeit in Zusammenhang und bezieht sich darauf, dass den Parteien des Rechtsstreits und ihren jeweiligen Interessen am Streitgegenstand mit dem gleichen Abstand begegnet wird. Der letztgenannte Aspekt verlangt, dass Sachlichkeit obwaltet und neben der strikten Anwendung der Rechtsnormen keinerlei Interesse am Ausgang des Rechtsstreits besteht (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 22. Februar 2022, RS [Wirkung der Urteile eines Verfassungsgerichts], C‑430/21, EU:C:2022:99, Rn. 41 und die dort angeführte Rechtsprechung).
47 Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs setzen die nach dem Unionsrecht erforderlichen Garantien der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit voraus, dass es Regeln gibt, die es ermöglichen, bei den Rechtsunterworfenen jeden berechtigten Zweifel an der Unempfänglichkeit der betreffenden Einrichtung für äußere Faktoren und an ihrer Neutralität in Bezug auf die widerstreitenden Interessen auszuräumen (Urteile vom 18. Mai 2021, Asociaţia Forumul Judecătorilor din România u. a., C‑83/19, C‑127/19, C‑195/19, C‑291/19, C‑355/19 und C‑397/19, EU:C:2021:393, Rn. 196, und vom 22. Februar 2022, RS [Wirkung der Urteile eines Verfassungsgerichts], C‑430/21, EU:C:2022:99, Rn. 82).
48 Was insbesondere die Vorschriften über die Disziplinarregelung betrifft, so verlangt das Erfordernis der Unabhängigkeit nach ständiger Rechtsprechung, dass diese Regelung die erforderlichen Garantien aufweist, damit jegliche Gefahr verhindert wird, dass eine solche Regelung als System zur politischen Kontrolle des Inhalts justizieller Entscheidungen eingesetzt wird. Insoweit bilden Regeln, die insbesondere festlegen, welche Verhaltensweisen Disziplinarvergehen begründen und welche Sanktionen konkret anwendbar sind, die die Einschaltung einer unabhängigen Instanz gemäß einem Verfahren vorsehen, das die in den Art. 47 und 48 der Charta niedergelegten Rechte, namentlich die Verteidigungsrechte, in vollem Umfang sicherstellt, und die die Möglichkeit festschreiben, die Entscheidungen der Disziplinarorgane vor Gericht anzufechten, eine Reihe von Garantien, die wesentlich sind, um die Unabhängigkeit der Justiz zu wahren (Urteil vom 18. Mai 2021, Asociaţia Forumul Judecătorilor din România u. a., C‑83/19, C‑127/19, C‑195/19, C‑291/19, C‑355/19 und C‑397/19, EU:C:2021:393, Rn. 198 und die dort angeführte Rechtsprechung).
49 Da zudem die Aussicht auf die Einleitung einer Disziplinaruntersuchung als solche geeignet ist, Druck auf diejenigen auszuüben, deren Aufgabe es ist, zu entscheiden, ist es wesentlich, dass eine für die Durchführung von Untersuchungen und die Erhebung von Disziplinarklagen zuständige Einrichtung bei der Erfüllung ihrer Aufgaben objektiv und unparteiisch handelt und zu diesem Zweck frei von jeder äußeren Beeinflussung ist (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 18. Mai 2021, Asociaţia Forumul Judecătorilor din România u. a., C‑83/19, C‑127/19, C‑195/19, C‑291/19, C‑355/19 und C‑397/19, EU:C:2021:393, Rn. 199, und vom 15. Juli 2021, Kommission/Polen [Disziplinarordnung für Richter], C‑791/19, EU:C:2021:596, Rn. 82).
50 Deshalb und weil die Personen, die die Leitungsstellen in einer solchen Einrichtung besetzen, einen entscheidenden Einfluss auf die Tätigkeit der Einrichtung ausüben können, müssen die Regeln für das Verfahren zu ihrer Ernennung auf diese Stellen so gestaltet sein, dass sie keinen berechtigten Verdacht aufkommen lassen können, dass die Befugnisse und Aufgaben dieser Einrichtung als Instrument zur Ausübung von Druck auf die Rechtsprechungstätigkeit oder zur Ausübung politischer Kontrolle über diese Tätigkeit benutzt werden (Urteil vom 18. Mai 2021, Asociaţia Forumul Judecătorilor din România u. a., C‑83/19, C‑127/19, C‑195/19, C‑291/19, C‑355/19 und C‑397/19, EU:C:2021:393, Rn. 200).
51 Diese Anforderung gilt nicht nur für Vorschriften über das Verfahren zur Ernennung auf die Leitungsstellen in einem Organ, das für die Durchführung von Untersuchungen und die Erhebung von Disziplinarklagen zuständig ist, sondern darüber hinaus für sämtliche Vorschriften zur Regelung der Organisation und Arbeitsweise dieses Organs.
52 Denn die zuletzt genannten Vorschriften können sich ganz allgemein direkt auf die Praxis dieses Organs auswirken und somit verhindern oder im Gegenteil fördern, dass Disziplinarklagen erhoben werden, mit denen bezweckt oder bewirkt wird, Druck auf diejenigen auszuüben, deren Aufgabe es ist, Recht zu sprechen, oder eine politische Kontrolle ihrer Tätigkeit sicherzustellen.
53 Insoweit ist die Konzentration von Befugnissen beim Direktor eines solchen Organs, die es ihm ermöglicht, dessen Organisation und Arbeitsweise zu regeln und in Bezug auf die Laufbahn der Bediensteten dieses Organs und die von ihnen bearbeiteten Rechtssachen individuelle Entscheidungen zu treffen, geeignet, dem Direktor eine wirksame Kontrolle über sämtliche Handlungen dieses Organs zu sichern, da der Direktor nicht nur die Auswahl der Bediensteten dieses Organs einschließlich der Mitglieder seiner Direktion, sondern auch die Entwicklung ihrer Laufbahn sowie die Ausrichtung und den Inhalt der Entscheidungen beeinflussen kann, die diese Bediensteten in gegen Richter erhobenen Disziplinarklagen konkret treffen.
54 Der Umstand, dass es eine derartige Kontrolle gibt, kann jedoch als solcher nicht als mit Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV unvereinbar angesehen werden.
55 Zwar kann eine vom Direktor eines für die Durchführung von Untersuchungen und die Erhebung von Disziplinarklagen zuständigen Organs ausgeübte wirksame Kontrolle über sämtliche Handlungen dieses Organs geeignet sein, die Wirksamkeit und Einheitlichkeit der Praktiken dieses Organs zu fördern, doch kann eine solche Konzentration der Befugnisse ausschließlich beim Direktor als solche nicht die Erfordernisse der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit beeinträchtigen, da die Bediensteten eines Organs wie des im Ausgangsverfahren in Rede stehenden nicht dazu berufen sind, als Richter über Rechtsstreitigkeiten zu entscheiden, sondern dazu, Untersuchungen durchzuführen und Disziplinarverfahren einzuleiten, so dass sie nicht unbedingt alle der für Richter geltenden Erfordernisse der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit erfüllen müssen.
56 Gleichwohl kann die Konzentration bedeutender Befugnisse beim Direktor eines für die Durchführung von Untersuchungen und die Erhebung von Disziplinarklagen zuständigen Organs es dem Direktor vereinfachen, die Disziplinarordnung für Richter in Anspruch zu nehmen, um deren Tätigkeit zu beeinflussen, da ihm diese Konzentration in der Praxis bei der Erhebung von Disziplinarklagen gegen Richter ein weites Ermessen einräumt.
57 Daher könnte eine Regelung, die dem Direktor dieses Organs Befugnisse verleiht, wie sie dem Chefinspekteur durch die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Regelung übertragen werden, bei den Rechtsunterworfenen den berechtigten Verdacht aufkommen lassen, dass die Befugnisse und Aufgaben dieses Organs als Instrument zur Ausübung von Druck auf die Rechtsprechungstätigkeit oder zur Ausübung politischer Kontrolle über diese Tätigkeit benutzt werden.
58 Die Entscheidung hierüber ist letztlich Sache des vorlegenden Gerichts, nachdem es die dafür erforderliche Würdigung vorgenommen hat. Art. 267 AEUV gibt dem Gerichtshof nämlich nicht die Befugnis, die Normen des Unionsrechts auf einen Einzelfall anzuwenden, sondern nur die, sich zur Auslegung der Verträge und der Rechtsakte der Organe der Europäischen Union zu äußern. Nach ständiger Rechtsprechung kann der Gerichtshof das Unionsrecht im Rahmen der durch diesen Art. 267 AEUV begründeten Zusammenarbeit zwischen den Gerichten aber unter Berücksichtigung der Akte auslegen, soweit dies dem innerstaatlichen Gericht bei der Beurteilung der Wirkungen einer unionsrechtlichen Bestimmung dienlich sein könnte (vgl. entsprechend Urteil vom 18. Mai 2021, Asociaţia Forumul Judecătorilor din România u. a., C‑83/19, C‑127/19, C‑195/19, C‑291/19, C‑355/19 und C‑397/19, EU:C:2021:393, Rn. 201 und die dort angeführte Rechtsprechung).
59 Insoweit wird das vorlegende Gericht die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Regelung als solche und in ihrem nationalen rechtlichen und tatsächlichen Kontext zu beurteilen haben. Denn mehrere Gesichtspunkte, die zu diesem Kontext gehören und sich aus der Vorlageentscheidung und der dem Gerichtshof vorliegenden Akte ergeben, können für die vom vorlegenden Gericht vorzunehmende Prüfung in gewisser Hinsicht von Bedeutung sein.
60 Was erstens die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Regelung anbelangt, kommt den Garantien, die das Auftreten oder die Fortdauer von Befugnismissbrauch durch den Direktor eines für die Durchführung von Untersuchungen und die Erhebung von Disziplinarklagen zuständigen Organs verhindern sollen und die diese Regelung möglicherweise vorsieht oder nicht vorsieht, besondere Bedeutung zu.
61 Das vorlegende Gericht weist jedoch darauf hin, dass nach der genannten Regelung eine Disziplinarklage zur Ahndung von Fällen des Missbrauchs durch den Chefinspekteur nur von einem Inspektor eingeleitet werden könne, dessen Laufbahn weitgehend von den Entscheidungen des Chefinspekteurs abhänge und der zwangsläufig im Rahmen der vom Chefinspekteur festgelegten Organisation tätig werden müsse.
62 Des Weiteren geht aus der Vorlageentscheidung hervor, dass den Chefinspekteur betreffende Entscheidungen vom stellvertretenden Chefinspekteur überprüft werden können, der vom Chefinspekteur benannt wurde und dessen Amtszeit mit derjenigen des Chefinspekteurs endet.
63 Eine solche Disziplinarregelung scheint vorbehaltlich der vom vorlegenden Gericht vorzunehmenden Verifikationen dazu geeignet zu sein, dass in der Praxis die tatsächliche Erhebung einer Disziplinarklage gegen den Chefinspekteur verhindert wird, selbst wenn gegen ihn glaubhaft substantiierte Beschwerden erhoben werden sollten.
64 Zwar kann – wie das im Ausgangsverfahren fragliche Verfahren zeigt – die Einstellung des eine Beschwerde gegen den Chefinspekteur betreffenden Verfahrens Gegenstand einer Klage sein, die gegebenenfalls zur Nichtigerklärung der das Verfahren einstellenden Entscheidung und zum Erlass von Anordnungen hinsichtlich der Behandlung dieser Beschwerde durch die Justizinspektion führen kann.
65 Es ist jedoch Sache des vorlegenden Gerichts, zu beurteilen, inwieweit die Befugnisse, über die rumänische Gerichte insoweit verfügen, die tatsächliche Erhebung von Disziplinarklagen gegen den Chefinspekteur sowie eine wirksame und unparteiische Behandlung der gegen ihn gerichteten Beschwerden ermöglichen. Bei dieser Beurteilung wird das vorlegende Gericht u. a. die Abhängigkeit vom Chefinspekteur, der nach der Nichtigerklärung einer das Verfahren einstellenden Entscheidung erneut mit der Sache befasst wird, und die etwaige Gefahr zu berücksichtigen haben, dass Verjährungsfristen ablaufen, die der Durchführung eines Disziplinarverfahrens entgegenstehen können.
66 Sollte das vorlegende Gericht zu dem Ergebnis kommen, dass im Rahmen der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Regelung die Tätigkeit des Chefinspekteurs keiner tatsächlichen und wirksamen Kontrolle unterliegen kann, wäre anzunehmen, dass diese Regelung nicht so gestaltet ist, dass sie bei den Rechtsunterworfenen keinen berechtigten Verdacht aufkommen lassen kann, dass die Befugnisse und Aufgaben der Justizinspektion als Instrument zur Ausübung von Druck auf die Rechtsprechungstätigkeit oder zur Ausübung politischer Kontrolle über diese Tätigkeit benutzt werden (vgl. entsprechend Urteile vom 19. November 2019, A. K. u. a. [Unabhängigkeit der Disziplinarkammer des Obersten Gerichts], C‑585/18, C‑624/18 und C‑625/18, EU:C:2019:982, Rn. 142, vom 2. März 2021, A. B. u. a. [Ernennung von Richtern am Obersten Gericht – Rechtsbehelf], C‑824/18, EU:C:2021:153, Rn. 129, und vom 18. Mai 2021, Asociaţia Forumul Judecătorilor din România u. a., C‑83/19, C‑127/19, C‑195/19, C‑291/19, C‑355/19 und C‑397/19, EU:C:2021:393, Rn. 205).
67 Was zweitens den zu berücksichtigenden nationalen rechtlichen und tatsächlichen Kontext anbelangt, können drei Gesichtspunkte, die sich aus der Vorlageentscheidung und der dem Gerichtshof vorliegenden Akte ergeben, für die vom vorlegenden Gericht vorzunehmende Prüfung in gewisser Hinsicht von Bedeutung sein.
68 Zunächst zeigt sich vorbehaltlich der vom vorlegenden Gericht vorzunehmenden Verifikationen, dass die Befugnisse des Chefinspekteurs im allgemeineren Kontext von Reformen der Organisation der rumänischen Justiz gestärkt wurden, die eine Einschränkung der Garantien der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der rumänischen Richter bezwecken oder bewirken (vgl. entsprechend Urteile vom 2. März 2021, A. B. u. a. [Ernennung von Richtern am Obersten Gericht – Rechtsbehelf], C‑824/18, EU:C:2021:153, Rn. 133 bis 135, und vom 15. Juli 2021, Kommission/Polen [Disziplinarordnung für Richter], C‑791/19, EU:C:2021:596, Rn. 106 und 108).
69 Sodann kann den konkreten Modalitäten der Ernennung des Chefinspekteurs eine gewisse Bedeutung zukommen, wenn sie ein Indiz dafür sind, dass der Chefinspekteur eng mit der Exekutive oder der Legislative verbunden ist, was auf den ersten Blick hier der Fall zu sein scheint.
70 Schließlich ist auch die konkrete Praxis des Chefinspekteurs bei der Ausübung seiner Befugnisse zu berücksichtigen (vgl. entsprechend Urteile vom 19. November 2019, A. K. u. a. [Unabhängigkeit der Disziplinarkammer des Obersten Gerichts], C‑585/18, C‑624/18 und C‑625/18, EU:C:2019:982, Rn. 144, und vom 18. Mai 2021, Asociaţia Forumul Judecătorilor din România u. a., C‑83/19, C‑127/19, C‑195/19, C‑291/19, C‑355/19 und C‑397/19, EU:C:2021:393, Rn. 219).
71 Im vorliegenden Fall führt die Kommission Beispiele an, die zeigen können, dass diese Befugnisse mehrfach zur politischen Kontrolle der Rechtsprechungstätigkeit genutzt wurden, wobei einige dieser Beispiele im Übrigen in den Berichten vom 22. Oktober 2019 und vom 8. Juni 2021 der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat über Rumäniens Fortschritte im Rahmen des Kooperations- und Kontrollverfahrens (COM[2019] 499 final, S. 7 und 8, sowie COM[2021] 370, S. 18) angeführt werden, denen die rumänischen Behörden nach dem in Art. 4 Abs. 3 EUV niedergelegten Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit bei der Verwirklichung der mit der Entscheidung 2006/928 verfolgten Ziele gebührend Rechnung tragen müssen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 18. Mai 2021, Asociaţia Forumul Judecătorilor din România u. a., C‑83/19, C‑127/19, C‑195/19, C‑291/19, C‑355/19 und C‑397/19, EU:C:2021:393, Rn. 178).
72 Vorbehaltlich der vom vorlegenden Gericht vorzunehmenden Verifikationen scheinen diese dem Gerichtshof zur Kenntnis gebrachten Gesichtspunkte des nationalen rechtlichen und tatsächlichen Kontexts daher eine etwaige Feststellung, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Regelung nicht so gestaltet ist, dass sie bei den Rechtsunterworfenen keinen berechtigten Verdacht aufkommen lassen kann, dass die Befugnisse und Aufgaben der Justizinspektion als Instrument zur Ausübung von Druck auf die Rechtsprechungstätigkeit oder zur Ausübung politischer Kontrolle über diese Tätigkeit benutzt werden, eher zu bestätigen als zu entkräften.
73 Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 2 und Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV in Verbindung mit der Entscheidung 2006/928 dahin auszulegen sind, dass sie einer nationalen Regelung entgegenstehen,
–
die dem Direktor eines Organs, das für die Durchführung von Untersuchungen und die Erhebung von Disziplinarklagen gegen Richter und Staatsanwälte zuständig ist, die Befugnis verleiht, Regelungen und Einzelfallentscheidungen zu treffen, die u. a. die Organisation dieses Organs, die Auswahl seiner Bediensteten, deren Beurteilung, die Ausübung ihrer Tätigkeit oder die Ernennung eines stellvertretenden Direktors betreffen,
–
obgleich erstens nur diese Bediensteten und dieser stellvertretende Direktor zur Durchführung einer Disziplinaruntersuchung gegen diesen Direktor befugt sind, zweitens deren Laufbahn weitgehend von den Entscheidungen dieses Direktors abhängt und drittens die Amtszeit des stellvertretenden Direktors mit derjenigen dieses Direktors endet,
wenn diese Regelung nicht so gestaltet ist, dass sie bei den Rechtsunterworfenen keinen berechtigten Verdacht aufkommen lassen kann, dass die Befugnisse und Aufgaben dieses Organs als Instrument zur Ausübung von Druck auf die Tätigkeit dieser Richter und Staatsanwälte oder zur Ausübung politischer Kontrolle über diese Tätigkeit benutzt werden.
Kosten
74 Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Erste Kammer) für Recht erkannt:
Art. 2 und Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV in Verbindung mit der Entscheidung 2006/928/EG der Kommission vom 13. Dezember 2006 zur Einrichtung eines Verfahrens für die Zusammenarbeit und die Überprüfung der Fortschritte Rumäniens bei der Erfüllung bestimmter Vorgaben in den Bereichen Justizreform und Korruptionsbekämpfung
sind dahin auszulegen, dass
sie einer nationalen Regelung entgegenstehen,
–
die dem Direktor eines Organs, das für die Durchführung von Untersuchungen und die Erhebung von Disziplinarklagen gegen Richter und Staatsanwälte zuständig ist, die Befugnis verleiht, Regelungen und Einzelfallentscheidungen zu treffen, die u. a. die Organisation dieses Organs, die Auswahl seiner Bediensteten, deren Beurteilung, die Ausübung ihrer Tätigkeit oder die Ernennung eines stellvertretenden Direktors betreffen,
–
obgleich erstens nur diese Bediensteten und dieser stellvertretende Direktor zur Durchführung einer Disziplinaruntersuchung gegen diesen Direktor befugt sind, zweitens deren Laufbahn weitgehend von den Entscheidungen dieses Direktors abhängt und drittens die Amtszeit des stellvertretenden Direktors mit derjenigen dieses Direktors endet,
wenn diese Regelung nicht so gestaltet ist, dass sie bei den Rechtsunterworfenen keinen berechtigten Verdacht aufkommen lassen kann, dass die Befugnisse und Aufgaben dieses Organs als Instrument zur Ausübung von Druck auf die Tätigkeit dieser Richter und Staatsanwälte oder zur Ausübung politischer Kontrolle über diese Tätigkeit benutzt werden.
Unterschriften
(*1) Verfahrenssprache: Rumänisch.
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Urteil des Gerichts (Fünfte Kammer) vom 1. Februar 2023.#SJ AB gegen Europäische Kommission.#Richtlinie 2014/25/EU – Vergabe von Aufträgen durch Auftraggeber im Bereich der Wasser , Energie- und Verkehrsversorgung sowie der Postdienste – Durchführungsbeschluss über die Anwendbarkeit des Artikels 34 der Richtlinie 2014/25 auf den Schienenpersonenverkehr in Schweden – Verteidigungsrechte – Anspruch auf rechtliches Gehör.#Rechtssache T-659/20.
|
62020TJ0659
|
ECLI:EU:T:2023:32
| 2023-02-01T00:00:00 |
Gericht
|
EUR-Lex - CELEX:62020TJ0659 - EN - EUR-Lex
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Beschluss des Gerichtshofs (Neunte Kammer) vom 15. November 2022.#Corporate Commercial Bank gegen Elit Petrol AD.#Vorabentscheidungsersuchen des Okrazhen sad - Vidin.#Vorlage zur Vorabentscheidung – Art. 53 Abs. 2 sowie Art. 94 und 99 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs – Insolvenzverfahren – Gegenseitige Aufrechnungen mit einem insolventen Kreditinstitut – Rückwirkende Änderung der Voraussetzungen für diese Aufrechnungen – Für verfassungswidrig erklärte nationale Rechtsvorschriften – Rein innerstaatlicher Sachverhalt – Offensichtliche Unzulässigkeit.#Rechtssache C-260/21.
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62021CO0260(01)
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ECLI:EU:C:2022:881
| 2022-11-15T00:00:00 |
Gerichtshof, Campos Sánchez-Bordona
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Sammlung der Rechtsprechung – allgemein – Abschnitt „Informationen über nicht veröffentlichte Entscheidungen“
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Sammlung der Rechtsprechung – allgemein – Abschnitt „Informationen über nicht veröffentlichte Entscheidungen“
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62021CO0260(01)
BESCHLUSS DES GERICHTSHOFS (Neunte Kammer)
15. November 2022 (*1)
„Vorlage zur Vorabentscheidung – Art. 53 Abs. 2 sowie Art. 94 und 99 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs – Insolvenzverfahren – Gegenseitige Aufrechnungen mit einem insolventen Kreditinstitut – Rückwirkende Änderung der Voraussetzungen für diese Aufrechnungen – Für verfassungswidrig erklärte nationale Rechtsvorschriften – Rein innerstaatlicher Sachverhalt – Offensichtliche Unzulässigkeit“
In der Rechtssache C‑260/21
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Okrazhen sad Vidin (Regionalgericht Vidin, Bulgarien) mit Entscheidung vom 21. April 2021, beim Gerichtshof eingegangen am 23. April 2021, in dem Verfahren
Corporate Commercial Bank, in Liquidation
gegen
Elit Petrol AD
erlässt
DER GERICHTSHOF (Neunte Kammer)
unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin L. S. Rossi sowie der Richter J.‑C. Bonichot (Berichterstatter) und S. Rodin,
Generalanwalt: M. Campos Sánchez-Bordona,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
–
der Corporate Commercial Bank, in Liquidation, vertreten durch den Bevollmächtigten A. N. Donov, die Bevollmächtigte K. H. Marinova und V. Matev, Advokat,
–
der Elit Petrol AD, vertreten durch A. Kolarov und G. Stoychev, Advokati,
–
der Europäischen Kommission, vertreten durch M. Mataija, G. von Rintelen und I. Zaloguin als Bevollmächtigte,
aufgrund der nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Entscheidung, gemäß Art. 53 Abs. 2 und Art. 99 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs durch mit Gründen versehenen Beschluss zu entscheiden,
folgenden
Beschluss
1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 2 EUV in Verbindung mit Art. 19 Abs. 1 EUV und Art. 47 Abs. 1 und 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta), von Art. 4 Abs. 2 Buchst. a und der Art. 26, 27, 63, 114 und 115 AEUV sowie des Grundsatzes der Rechtssicherheit.
2 Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Corporate Commercial Bank, in Liquidation (im Folgenden: KTB), und der Elit Petrol AD über die Tilgung von Verbindlichkeiten des letztgenannten Unternehmens gegenüber der KTB im Wege der Aufrechnung.
Rechtlicher Rahmen
3 Art. 59 des Zakon za bankovata nesastoyatelnost (Gesetz über die Bankeninsolvenz, DV Nr. 92 vom 27. September 2002, im Folgenden: ZBN), der die Modalitäten für die Verrechnung von Verbindlichkeiten und Forderungen einer Bank im Insolvenzfall regelt, wurde durch den Zakon za izmenenie i dopalnenie na zakona za bankovata nesastoyatelnost (Gesetz zur Änderung und Ergänzung des Gesetzes über die Bankeninsolvenz, DV Nr. 98 vom 28. November 2014) geändert.
4 Die §§ 5, 7 und 8 der Übergangs- und Schlussbestimmungen des Zakon za izmenenie i dopalnenie na zakona za bankovata nesastoyatelnost (Gesetz zur Änderung und Ergänzung des Gesetzes über die Bankeninsolvenz, DV Nr. 22 vom 13. März 2018, im Folgenden: ZIDZBN) sehen vor:
„§ 5. (1) Löschungen von Sicherheiten, die zugunsten der insolventen [KTB] von Schuldnern oder Dritten gestellt wurden, durch die Finanzkontrolleure sowie die vorläufigen und ständigen Insolvenzverwalter der Bank zwischen dem Zeitpunkt, zu dem die Bank unter Sonderaufsicht gestellt wurde, und dem Zeitpunkt der Eröffnung des Verfahrens zur Verwertung der Vermögenswerte der Bank sind nichtig. Die gestellten Sicherheiten gelten als gültig und behalten ihren Rang.
…
§ 7 Dieses Gesetz findet auch auf Insolvenzverfahren Anwendung, die vor seinem Inkrafttreten eröffnet wurden.
§ 8 Die §§ 5, 6 und 7 des Art. 59 gelten ab dem 20. Juni 2014.“
Ausgangsverfahren und Vorlagefragen
5 KTB, die Klägerin des Ausgangsverfahrens, ist ein bulgarisches Bankinstitut, über dessen Vermögen ein Insolvenzverfahren nach dem ZBN anhängig ist.
6 Elit Petrol, die Beklagte des Ausgangsverfahrens, ist ein bulgarisches Unternehmen, über dessen Vermögen vor dem Okrazhen sad Vidin (Regionalgericht Vidin, Bulgarien) ein nach dem Targovski zakon (bulgarisches Handelsgesetzbuch) geführtes Insolvenzverfahren anhängig ist.
7 Im Oktober und im November 2014 tilgte Elit Petrol einen Teil der Verbindlichkeiten, die sie gegenüber KTB aus zwei Darlehensverträgen hatte, durch Aufrechnung gemäß den damals geltenden Bestimmungen des ZBN (im Folgenden: streitige Aufrechnungen).
8 Im November 2014 änderte der bulgarische Gesetzgeber die im ZBN vorgesehenen Bedingungen für die Erklärung der Wirksamkeit solcher Transaktionen.
9 Im März 2018 setzte der bulgarische Gesetzgeber diese Änderungen durch die Übergangs- und Schlussbestimmungen des ZIDZBN rückwirkend in Kraft.
10 Am 8. Juni 2018 machten die Insolvenzverwalter von KTB die Forderungen geltend, die gegenüber Elit Petrol aufgrund der beiden zwischen ihr und der Bank geschlossenen Darlehensverträge bestanden.
11 Im Rahmen des Insolvenzverfahrens über das Vermögen von Elit Petrol beriefen sich die Insolvenzverwalter von KTB auf die Übergangs- und Schlussbestimmungen des ZIDZBN, um geltend zu machen, dass diese Forderungen, die Gegenstand der streitigen Aufrechnungen gewesen seien, durch die Wirkung dieser Bestimmungen „wiederhergestellt“ worden seien.
12 Der Insolvenzverwalter von Elit Petrol ist dagegen der Ansicht, dass diese Forderungen durch die streitigen Aufrechnungen endgültig erfüllt worden seien und dass die von KTB zur Stützung ihres Antrags angeführte Regelung gegen das Unionsrecht verstoße.
13 Das vorlegende Gericht äußert Zweifel an der Vereinbarkeit dieser Regelung mit dem Unionsrecht.
14 In diesem Kontext hat der Okrazhen sad Vidin (Regionalgericht Vidin) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
1. Ist Art. 63 AEUV, der den freien Kapital- und Zahlungsverkehr regelt, dahin auszulegen, dass er die Erklärung einer Aufrechnung im Verhältnis zu einem Bankinstitut umfasst, wenn eine Handelsgesellschaft, die Schuldnerin der Bank ist, ihre Verbindlichkeiten im Wege der Aufrechnung mit gegenseitigen, der Höhe nach bestimmten, bezifferten und fälligen Forderungen gegen dieselbe Bank erfüllt?
2. Ist Art. 63 AEUV dahin auszulegen, dass eine Änderung der Voraussetzungen für die Wirksamkeit bereits rechtmäßig erklärter Aufrechnungen im Verhältnis zwischen einer Handelsgesellschaft und einem Bankinstitut, die die erklärten Aufrechnungen aufgrund neuer, in Bezug auf die bereits erklärten Aufrechnungen rückwirkender Voraussetzungen für unwirksam erklärt, eine Beschränkung im Sinne von Art. 63 Abs. 1 AEUV darstellt, wenn sie zur Einschränkung der Möglichkeit führt, Verbindlichkeiten gegenüber anderen Gesellschaften zu erfüllen, an deren Kapital Personen aus anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Union Aktien oder Anteile halten oder von denen solche Personen Anleihen halten?
3. Ist Art. 63 AEUV dahin auszulegen, dass er eine nationale Regelung zulässt, mit der die Voraussetzungen für die Wirksamkeit bereits rechtmäßig erklärter Aufrechnungen im Verhältnis zwischen einer Handelsgesellschaft und einem Bankinstitut rückwirkend geändert werden, und mit der die erklärten Aufrechnungen auf der Grundlage neuer Voraussetzungen, die rückwirkend auf die bereits vorgenommenen Aufrechnungen angewandt werden, für unwirksam erklärt werden?
4. Sind Art. 4 Abs. 2 Buchst. a sowie die Art. 26, 27, 114 und 115 AEUV, die den Binnenmarkt der Europäischen Union regeln, dahin auszulegen, dass sie auch in Fällen, in denen die Rechtsbeziehungen nur zwischen Rechtssubjekten derselben Nationalität bestehen und damit als innerstaatliche Rechtsbeziehungen ohne direkten grenzüberschreitenden Bezug zum Binnenmarkt der Europäischen Union eingestuft werden können, eine nationale Regelung zulassen, mit der die Voraussetzungen für die Wirksamkeit bereits rechtmäßig erklärter Aufrechnungen im Verhältnis zwischen einer Handelsgesellschaft und einem Bankinstitut in einem Mitgliedstaat rückwirkend geändert werden, indem die erklärten Aufrechnungen auf der Grundlage neuer Voraussetzungen, die rückwirkend auf die bereits vorgenommenen Aufrechnungen angewandt werden, für unwirksam erklärt werden?
5. Sind Art. 2 in Verbindung mit Art. 19 Abs. 1 EUV sowie Art. 47 Abs. 1 und 2 der Charta dahin auszulegen, dass sie den Erlass einer nationale Regelung zulassen, die die Voraussetzungen für die wirksame Erklärung von Aufrechnungen im Verhältnis zu einem Bankinstitut ändert, indem sie den neuen Voraussetzungen ausdrücklich Rückwirkung verleiht und die in einem früheren Zeitraum rechtmäßig vorgenommenen Aufrechnungen für unwirksam erklärt, während in dem betreffenden Mitgliedstaat ein Insolvenzverfahren über das Bankinstitut eröffnet ist und Gerichtsverfahren anhängig sind, in denen begehrt wird, gegenüber der Bank vorgenommene Aufrechnungen für unwirksam zu erklären, für die zum Zeitpunkt ihrer Vornahme andere rechtliche Voraussetzungen galten?
6. Ist der Grundsatz der Rechtssicherheit als allgemeiner Grundsatz des Unionsrechts dahin auszulegen, dass er eine nationale Regelung zulässt, die die Voraussetzungen für die wirksame Erklärung von Aufrechnungen im Verhältnis zu einem Bankinstitut ändert, indem sie den neuen Voraussetzungen ausdrücklich Rückwirkung verleiht und die in einem früheren Zeitraum rechtmäßig vorgenommenen Aufrechnungen für unwirksam erklärt, während in dem betreffenden Mitgliedstaat ein Insolvenzverfahren über das Bankinstitut eröffnet ist und Gerichtsverfahren anhängig sind, in denen begehrt wird, gegenüber der Bank vorgenommene Aufrechnungen für unwirksam zu erklären, für die zum Zeitpunkt ihrer Vornahme andere rechtliche Voraussetzungen galten?
Zur Zulässigkeit des Vorabentscheidungsersuchens
15 Mit seinen Fragen möchte das vorlegende Gericht im Kern zum einen wissen, ob eine mitgliedstaatliche Regelung über die Aufrechnung, mit der ein Unternehmen seine Verbindlichkeiten gegenüber einem Bankinstitut dadurch tilgt, dass es sie mit seinen Forderungen gegen dieses Institut verrechnet, in den Anwendungsbereich von Art. 63 AEUV fällt, und zum anderen, ob Art. 63 AEUV, Art. 2 EUV in Verbindung mit Art. 19 Abs. 1 EUV und Art. 47 Abs. 1 und 2 der Charta, Art. 4 Abs. 2 Buchst. a und die Art. 26, 27, 114 und 115 AEUV sowie der Grundsatz der Rechtssicherheit einer rückwirkenden Änderung der Voraussetzungen für die Vornahme einer solchen Aufrechnung entgegenstehen.
16 Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs ist es im Rahmen der durch Art. 267 AEUV geschaffenen Zusammenarbeit zwischen ihm und den nationalen Gerichten allein Sache des mit dem Rechtsstreit befassten nationalen Gerichts, in dessen Verantwortungsbereich die zu erlassende gerichtliche Entscheidung fällt, im Hinblick auf die Besonderheiten der Rechtssache sowohl die Erforderlichkeit einer Vorabentscheidung zum Erlass seines Urteils als auch die Erheblichkeit der dem Gerichtshof vorgelegten Fragen zu beurteilen. Daher ist der Gerichtshof grundsätzlich gehalten, über ihm vorgelegte Fragen zu befinden, wenn diese die Auslegung des Unionsrechts betreffen (vgl. u. a. Beschluss vom 26. März 2021, Fedasil, C‑92/21, EU:C:2021:258, Rn. 47 und die dort angeführte Rechtsprechung).
17 Folglich spricht eine Vermutung für die Entscheidungserheblichkeit der Fragen zum Unionsrecht. Der Gerichtshof kann die Beantwortung einer Vorlagefrage eines nationalen Gerichts nur ablehnen, wenn die erbetene Auslegung des Unionsrechts offensichtlich in keinem Zusammenhang mit den Gegebenheiten oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits steht, wenn das Problem hypothetischer Natur ist oder wenn der Gerichtshof nicht über die tatsächlichen und rechtlichen Angaben verfügt, die für eine zweckdienliche Beantwortung der ihm vorgelegten Fragen erforderlich sind (vgl. u. a. Beschluss vom 26. März 2021, Fedasil, C‑92/21, EU:C:2021:258, Rn. 48 und die dort angeführte Rechtsprechung).
18 Im vorliegenden Fall geht aus der dem Gerichtshof vorgelegten Akte hervor, dass die auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren bulgarischen Rechtsvorschriften, nämlich die §§ 5 bis 8 der Übergangs- und Schlussbestimmungen des ZIDZBN, durch Entscheidung des Konstitutsionen sad (Verfassungsgericht, Bulgarien) vom 27. Mai 2021 zumindest teilweise für verfassungswidrig erklärt wurden.
19 In seiner Antwort auf das vom Gerichtshof gemäß Art. 101 seiner Verfahrensordnung übermittelte Ersuchen um Klarstellung weist das vorlegende Gericht darauf hin, dass seine Fragen gleichwohl für die Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits relevant blieben, insbesondere, weil die in der vorstehenden Randnummer genannte Entscheidung nur für die Zukunft Wirkung entfalte.
20 Unter diesen Umständen erlauben es die dem Gerichtshof zur Verfügung stehenden Angaben nicht, das Vorabentscheidungsersuchen wegen fehlender Relevanz als offensichtlich unzulässig anzusehen.
Zu den Vorlagefragen
21 Nach Art. 53 Abs. 2 seiner Verfahrensordnung kann der Gerichtshof, wenn ein Ersuchen offensichtlich unzulässig ist, nach Anhörung des Generalanwalts jederzeit die Entscheidung treffen, durch mit Gründen versehenen Beschluss zu entscheiden, ohne das Verfahren fortzusetzen.
22 Darüber hinaus kann der Gerichtshof nach Art. 99 seiner Verfahrensordnung, wenn eine zur Vorabentscheidung vorgelegte Frage mit einer Frage übereinstimmt, über die er bereits entschieden hat, wenn die Antwort auf eine solche Frage klar aus der Rechtsprechung abgeleitet werden kann oder wenn die Beantwortung der zur Vorabentscheidung vorgelegten Frage keinen Raum für vernünftige Zweifel lässt, auf Vorschlag des Berichterstatters und nach Anhörung des Generalanwalts jederzeit die Entscheidung treffen, durch mit Gründen versehenen Beschluss zu entscheiden.
23 Diese Bestimmungen sind in der vorliegenden Rechtssache anzuwenden.
Zu den Fragen 1 bis 3
24 Hinsichtlich der Fragen 1 bis 3, die sich auf Art. 63 AEUV beziehen, ist darauf hinzuweisen, dass die Bestimmungen des AEU-Vertrags über den freien Kapitalverkehr auf einen Sachverhalt, dessen Merkmale sämtlich nicht über die Grenzen eines Mitgliedstaats hinausweisen, keine Anwendung finden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 15. November 2016, Ullens de Schooten, C‑268/15, EU:C:2016:874, Rn. 47 und die dort angeführte Rechtsprechung). Daher hat das vorlegende Gericht vor einer Anwendung von Art. 63 AEUV zu prüfen, ob in der bei ihm anhängigen Rechtssache ein grenzüberschreitender Sachverhalt vorliegt, in dem vom freien Kapitalverkehr zwischen den Mitgliedstaaten oder zwischen diesen und Drittländern Gebrauch gemacht wird (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 16. September 2020, Romenergo und Aris Capital, C‑339/19, EU:C:2020:709, Rn. 27 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).
25 Im vorliegenden Fall geht aus der Vorlageentscheidung hervor, dass die Sachverhaltsmerkmale des Ausgangsrechtsstreits sämtlich nicht über die Grenzen des betroffenen Mitgliedstaats hinausweisen.
26 KTB und Elit Petrol sind nämlich in Bulgarien ansässig, und die streitigen Aufrechnungen betreffen Verbindlichkeiten und Forderungen, die sie unmittelbar gegeneinander innehatten. Der bloße Umstand, dass ihr Vermögen im Übrigen aus Wertpapieren von Gesellschaften mit Sitz in anderen Mitgliedstaaten besteht, vermag die Beurteilung in dieser Hinsicht nicht zu ändern.
27 Was das Vorbringen von Elit Petrol anbelangt, dass die durch Gesetz eingetretene rückwirkende Änderung der Wirkungen der streitigen Aufrechnungen zum Wiederaufleben ihrer Verbindlichkeiten führe, was sich auf ihre finanziellen Beziehungen – und die ihrer Muttergesellschaft – zu Gläubigern auswirke, die in anderen Mitgliedstaaten oder in Drittstaaten ansässig seien oder deren Kapital von Personen mit Wohnsitz in anderen Mitgliedstaaten gehalten werde, so ist festzustellen, dass eine solche Auswirkung, selbst wenn man sie als erwiesen unterstellt, zu ungewiss und zu mittelbar wäre, um einen Zusammenhang mit der in Art. 63 AEUV niedergelegten Kapitalverkehrsfreiheit herzustellen.
28 Ferner trifft es zwar zu, dass der Gerichtshof in den Fällen, die in den Rn. 50 bis 53 des Urteils vom 15. November 2016, Ullens de Schooten (C‑268/15, EU:C:2016:874), aufgezählt sind, Vorabentscheidungsersuchen über die Auslegung der Vorschriften des AEU-Vertrags über die Grundfreiheiten für zulässig erachtet hat, obwohl die Sachverhaltsmerkmale der Ausgangsrechtsstreitigkeiten sämtlich nicht über die Grenzen eines Mitgliedstaats hinauswiesen; allerdings ist festzustellen, dass das vorlegende Gericht dem Gerichtshof keinen Hinweis gegeben hat, der ihm die Annahme ermöglichen würde, dass die Fragen zur Auslegung von Art. 63 AEUV unter einen dieser Fälle subsumiert werden können.
29 Daraus folgt, dass die Fragen 1 bis 3 offensichtlich unzulässig sind.
Zur vierten Frage
30 Zur vierten Frage, die sich auf Art. 4 Abs. 2 Buchst. a und die Art. 26, 27, 114 und 115 AEUV bezieht, ist darauf hinzuweisen, dass das nationale Gericht verpflichtet ist, in der Vorlageentscheidung den tatsächlichen und rechtlichen Rahmen des Ausgangsrechtsstreits darzulegen und die erforderlichen Erläuterungen zu den Gründen für die Wahl der Vorschriften des Unionsrechts, um deren Auslegung es ersucht, sowie zu dem Zusammenhang zu geben, den es zwischen diesen Vorschriften und dem auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren nationalen Recht herstellt (vgl. in diesem Sinne u. a. Urteil vom 4. Juni 2020, C. F. [Steuerprüfung], C‑430/19, EU:C:2020:429, Rn. 23 und die dort angeführte Rechtsprechung).
31 Diese Anforderungen an den Inhalt einer Vorlageentscheidung sind ausdrücklich in Art. 94 der Verfahrensordnung aufgeführt, von dem das vorlegende Gericht im Rahmen der in Art. 267 AEUV vorgesehenen Zusammenarbeit Kenntnis haben sollte und den es sorgfältig zu beachten hat (vgl. in diesem Sinne Beschluss vom 3. Juli 2014, Talasca, C‑19/14, EU:C:2014:2049, Rn. 21). Darauf wird auch in den Nrn. 13, 15 und 16 der Empfehlungen des Gerichtshofs der Europäischen Union an die nationalen Gerichte bezüglich der Vorlage von Vorabentscheidungsersuchen (ABl. 2019, C 380, S. 1) hingewiesen.
32 Im vorliegenden Fall genügt die Vorlageentscheidung offensichtlich nicht den Anforderungen von Art. 94 Buchst. c der Verfahrensordnung.
33 Sie enthält nämlich weder eine Darstellung der Gründe, aus denen das nationale Gericht Zweifel bezüglich der Auslegung von Art. 4 Abs. 2 Buchst. a sowie der Art. 26, 27, 114 und 115 AEUV hat, noch legt sie den Zusammenhang dar, der zwischen diesen Vorschriften und den auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren nationalen Rechtsvorschriften besteht, so dass der Gerichtshof nicht beurteilen kann, inwieweit eine Antwort auf die vierte Frage für die Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits erforderlich ist.
34 Die vierte Frage ist daher offensichtlich unzulässig.
Zur fünften Frage
35 Was die fünfte Frage betrifft, in der es um die Auslegung von Art. 2 EUV in Verbindung mit Art. 19 Abs. 1 EUV und Art. 47 Abs. 1 und 2 der Charta geht, so wird in der Vorlageentscheidung ausgeführt, dass die rückwirkende Änderung, die aus den Übergangs- und Schlussbestimmungen des ZIDZBN resultiere, den Ausgang mehrerer anhängiger Rechtsstreitigkeiten vorwegnehme, was insbesondere den in der bulgarischen Verfassung verankerten Grundsatz der Gewaltenteilung verletze und somit die Unabhängigkeit der mit solchen Rechtsstreitigkeiten befassten nationalen Gerichte von der Legislative beeinträchtige.
36 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV alle Mitgliedstaaten verpflichtet, die erforderlichen Rechtsbehelfe zu schaffen, damit in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen ein wirksamer Rechtsschutz gewährleistet ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 22. Februar 2022, RS [Wirkung der Urteile eines Verfassungsgerichts], C‑430/21, EU:C:2022:99, Rn. 37 und die dort angeführte Rechtsprechung). Diese Vorschrift findet in den „vom Unionsrecht erfassten Bereichen“ Anwendung, ohne dass es insoweit darauf ankäme, in welchem Kontext die Mitgliedstaaten Unionsrecht im Sinne von Art. 51 Abs. 1 der Charta durchführen (Urteil vom 20. April 2021, Repubblika, C‑896/19, EU:C:2021:311, Rn. 36 und die dort angeführte Rechtsprechung).
37 So hat jeder Mitgliedstaat gemäß Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV dafür zu sorgen, dass Einrichtungen, die als „Gerichte“ im Sinne des Unionsrechts dazu berufen sein können, über Fragen im Zusammenhang mit der Anwendung oder Auslegung dieses Rechts zu entscheiden, und damit Bestandteil seines Rechtsbehelfssystems in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen sind, den Anforderungen an einen wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz, u. a. dem Erfordernis der Unabhängigkeit, gerecht werden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 22. Februar 2022, RS [Wirkung der Urteile eines Verfassungsgerichts], C‑430/21, EU:C:2022:99, Rn. 40 und 81).
38 Insoweit umfasst das Erfordernis der Unabhängigkeit der Gerichte der Mitgliedstaaten, das sich aus Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV ergibt, zwei Aspekte und ist gemäß dem für einen Rechtsstaat kennzeichnenden Grundsatz der Gewaltenteilung insbesondere gegenüber der Legislative und der Exekutive zu gewährleisten (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 22. Februar 2022, RS [Wirkung der Urteile eines Verfassungsgerichts], C‑430/21, EU:C:2022:99, Rn. 41 und 42 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).
39 Der erste, das Außenverhältnis betreffende Aspekt erfordert, dass die betreffende Einrichtung ihre Funktionen in völliger Autonomie ausübt, ohne mit irgendeiner Stelle hierarchisch verbunden oder ihr untergeordnet zu sein und ohne von irgendeiner Stelle Anordnungen oder Anweisungen zu erhalten, so dass sie auf diese Weise vor Interventionen oder Druck von außen geschützt ist, die die Unabhängigkeit des Urteils ihrer Mitglieder gefährden und deren Entscheidungen beeinflussen könnten (Urteile vom 24. Juni 2019, Kommission/Polen [Unabhängigkeit des Obersten Gerichts], C‑619/18, EU:C:2019:531, Rn. 72, und vom 22. Februar 2022, RS [Wirkung der Urteile eines Verfassungsgerichts], C‑430/21, EU:C:2022:99, Rn. 41).
40 Der zweite, das Innenverhältnis betreffende Aspekt steht mit dem Begriff der Unparteilichkeit im Zusammenhang und bezieht sich darauf, dass den Parteien des Rechtsstreits und ihren jeweiligen Interessen am Streitgegenstand mit dem gleichen Abstand begegnet wird. Dieser Aspekt verlangt, dass Sachlichkeit obwaltet und neben der strikten Anwendung der Rechtsnormen keinerlei Interesse am Ausgang des Rechtsstreits besteht (Urteile vom 24. Juni 2019, Kommission/Polen [Unabhängigkeit des Obersten Gerichts], C‑619/18, EU:C:2019:531‚ Rn. 73, und vom 22. Februar 2022, RS [Wirkung der Urteile eines Verfassungsgerichts], C‑430/21, EU:C:2022:99, Rn. 41).
41 Im vorliegenden Fall ist festzustellen, dass allgemeine zivil- oder handelsrechtliche Vorschriften, die ein Mitgliedstaat in Bezug auf die Aufrechnung im Rahmen einer Bankinsolvenz erlässt, auch bei rückwirkender Geltung für sich genommen nicht geeignet sind, den in den Rn. 39 und 40 des vorliegenden Beschlusses genannten Anforderungen zuwiderzulaufen. Hiervon unberührt bleibt die Frage ihrer Vereinbarkeit mit dem nationalen Recht, deren Beurteilung allein Sache der nationalen Gerichte ist.
42 Folglich ist auf die fünfte Frage zu antworten, dass Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV dahin auszulegen ist, dass er einen Mitgliedstaat nicht daran hindert, allgemeine Vorschriften über die Aufrechnung im Rahmen einer Bankinsolvenz, und zwar auch rückwirkend, zu erlassen.
Zur sechsten Frage
43 Was schließlich die sechste Frage zum Grundsatz der Rechtssicherheit betrifft, ist darauf hinzuweisen, dass die Mitgliedstaaten, wenn sie Maßnahmen zur Umsetzung des Unionsrechts erlassen, die allgemeinen Grundsätze dieses Rechts einzuhalten haben, zu denen insbesondere der Grundsatz der Rechtssicherheit zählt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 15. April 2021, Federazione nazionale delle imprese elettrotecniche ed elettroniche [ANIE] u. a., C‑798/18 und C‑799/18, EU:C:2021:280, Rn. 29 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).
44 Wie in Rn. 25 des vorliegenden Beschlusses ausgeführt, betrifft der Ausgangsrechtsstreit jedoch einen Sachverhalt, dessen Merkmale sämtlich nicht über die Grenzen eines Mitgliedstaats hinausweisen. Außerdem enthält die Vorlageentscheidung keine Angaben, die die Annahme zuließen, dass dieser Rechtsstreit eine nationale Regelung zur Durchführung des Unionsrechts betrifft.
45 Die sechste Frage ist daher offensichtlich unzulässig.
Kosten
46 Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Neunte Kammer) für Recht erkannt:
1. Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV ist dahin auszulegen, dass er einen Mitgliedstaat nicht daran hindert, allgemeine Vorschriften über die Aufrechnung im Rahmen einer Bankinsolvenz, und zwar auch rückwirkend, zu erlassen.
2. Die Fragen 1 bis 4 sowie die sechste Frage des Okrazhen sad Vidin (Regionalgericht Vidin, Bulgarien) sind offensichtlich unzulässig.
Unterschriften
(*1) Verfahrenssprache: Bulgarisch.
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Urteil des Gerichtshofs (Erste Kammer) vom 5. Mai 2022.#Strafverfahren gegen BV.#Vorabentscheidungsersuchen der Cour de cassation (Frankreich).#Vorlage zur Vorabentscheidung – Mehrwertsteuer – Richtlinie 2006/112/EG – Betrügerische Verschleierung der geschuldeten Steuer – Sanktionen – Nationale Rechtsvorschriften, die für dieselbe Tat eine verwaltungsrechtliche und eine strafrechtliche Sanktion vorsehen – Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Art. 49 – Art. 50 – Grundsatz ne bis in idem – Art. 52 Abs. 1 – Einschränkungen des Grundsatzes ne bis in idem – Erfordernis, klare und präzise Regeln vorzusehen – Möglichkeit, die Auslegung des nationalen Rechts durch die nationalen Gerichte zu berücksichtigen – Notwendigkeit, Regeln vorzusehen, die gewährleisten, dass die verhängten Sanktionen insgesamt verhältnismäßig sind – Verschiedenartige Sanktionen.#Rechtssache C-570/20.
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62020CJ0570
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ECLI:EU:C:2022:348
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Campos Sánchez-Bordona, Gerichtshof
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Sammlung der Rechtsprechung – allgemein
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62020CJ0570
URTEIL DES GERICHTSHOFS (Erste Kammer)
5. Mai 2022 (*1)
„Vorlage zur Vorabentscheidung – Mehrwertsteuer – Richtlinie 2006/112/EG – Betrügerische Verschleierung der geschuldeten Steuer – Sanktionen – Nationale Rechtsvorschriften, die für dieselbe Tat eine verwaltungsrechtliche und eine strafrechtliche Sanktion vorsehen – Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Art. 49 – Art. 50 – Grundsatz ne bis in idem – Art. 52 Abs. 1 – Einschränkungen des Grundsatzes ne bis in idem – Erfordernis, klare und präzise Regeln vorzusehen – Möglichkeit, die Auslegung des nationalen Rechts durch die nationalen Gerichte zu berücksichtigen – Notwendigkeit, Regeln vorzusehen, die gewährleisten, dass die verhängten Sanktionen insgesamt verhältnismäßig sind – Verschiedenartige Sanktionen“
In der Rechtssache C‑570/20
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Cour de cassation (Kassationsgerichtshof, Frankreich) mit Entscheidung vom 21. Oktober 2020, beim Gerichtshof eingegangen am 28. Oktober 2020, in dem Strafverfahren gegen
BV,
Beteiligte:
Direction départementale des finances publiques de la Haute-Savoie,
erlässt
DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten A. Arabadjiev, der Richterin I. Ziemele sowie der Richter T. von Danwitz (Berichterstatter), P. G. Xuereb und A. Kumin,
Generalanwalt: M. Campos Sánchez-Bordona,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
–
von BV, vertreten durch L. Goldman, Avocat,
–
der französischen Regierung, vertreten durch E. de Moustier und A. Daniel als Bevollmächtigte,
–
der Europäischen Kommission, vertreten durch A. Armenia und C. Ehrbar als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 9. Dezember 2021
folgendes
Urteil
1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 50 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta).
2 Es ergeht im Rahmen eines Strafverfahrens gegen BV wegen Steuerstraftaten, die er u. a. im Bereich der Mehrwertsteuer begangen haben soll.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
3 Art. 2 Abs. 1 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. 2006, L 347, S. 1) bestimmt, welche Umsätze der Mehrwertsteuer unterliegen.
4 Art. 273 Abs. 1 dieser Richtlinie lautet:
„Die Mitgliedstaaten können vorbehaltlich der Gleichbehandlung der von Steuerpflichtigen bewirkten Inlandsumsätze und innergemeinschaftlichen Umsätze weitere Pflichten vorsehen, die sie für erforderlich erachten, um eine genaue Erhebung der Steuer sicherzustellen und um Steuerhinterziehung zu vermeiden, sofern diese Pflichten im Handelsverkehr zwischen den Mitgliedstaaten nicht zu Formalitäten beim Grenzübertritt führen.“
Französisches Recht
5 Art. 1729 des Code général des impôts (allgemeines Steuergesetzbuch, im Folgenden: CGI) in der auf den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens anwendbaren Fassung bestimmt:
„Bei Ungenauigkeiten oder Auslassungen in Steuererklärungen oder Urkunden, die sich auf für die Steuerbemessung oder ‑festsetzung wesentliche Elemente beziehen, sowie bei der Rückerstattung einer zu Unrecht vom Staat erlangten Steuergutschrift wird ein Aufschlag erhoben in Höhe von:
a.
40 % im Fall eines vorsätzlichen Verstoßes;
…“
6 Art. 1741 CGI in der auf den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens anwendbaren Fassung, die aus dem Gesetz Nr. 2010‑1658 vom 29. Dezember 2010 hervorgegangen war, sah vor:
„Unbeschadet der besonderen Bestimmungen dieses Gesetzbuchs wird jeder, der sich in betrügerischer Weise der vollständigen oder teilweisen Festsetzung oder Zahlung der unter dieses Gesetzbuch fallenden Steuern entzieht oder zu entziehen versucht, sei es, indem er vorsätzlich seine Steuererklärung nicht innerhalb der festgelegten Fristen abgibt, sei es, indem er vorsätzlich einen Teil der steuerpflichtigen Beträge verheimlicht, seine Zahlungsunfähigkeit herbeiführt oder die Erhebung der Steuer auf andere Weise behindert oder in sonstiger betrügerischer Weise handelt, unabhängig von den anwendbaren steuerrechtlichen Sanktionen mit einer Geldstrafe von 37500 Euro und einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren bestraft. Wurden die Handlungen durch Käufe oder Verkäufe ohne Rechnung oder mit Rechnungen, die sich nicht auf tatsächliche Transaktionen beziehen, durchgeführt oder ermöglicht, oder sollten sie dazu dienen, ungerechtfertigte Erstattungen vom Staat zu erhalten, wird die Tat mit einer Geldstrafe von 75000 Euro und einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren geahndet.
Diese Vorschrift gilt im Fall der Verschleierung jedoch nur, wenn diese ein Zehntel der Besteuerungsgrundlage oder den Betrag von 153 Euro übersteigt.
Jeder Person, die aufgrund dieses Artikels verurteilt wird, können gemäß Art. 131‑26 des Strafgesetzbuchs die staatsbürgerlichen, bürgerlichen und familiären Rechte entzogen werden.
Das Gericht kann darüber hinaus anordnen, dass die Entscheidung in Übereinstimmung mit den Art. 131‑35 oder 131‑39 des Strafgesetzbuchs veröffentlicht und verbreitet wird.
…“
7 Art. L. 228 des Livre des procédures fiscales (Steuerverfahrensordnung) bestimmte in seiner auf den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens anwendbaren Fassung:
„Anzeigen, die auf die Anwendung strafrechtlicher Sanktionen im Bereich der direkten Steuern, der Mehrwertsteuer und anderer Umsatzsteuern, der Eintragungsgebühren, der Grundsteuer und der Stempelsteuer abzielen, sind nur zulässig, wenn sie von der Verwaltung nach Zustimmung der Kommission für Steuerstraftaten eingereicht werden.“
8 Nach ständiger Rechtsprechung der Cour de cassation (Kassationsgerichtshof, Frankreich) ergibt sich aus Art. 1741 CGI in Verbindung mit den Art. L. 228 ff. der Steuerverfahrensordnung, dass die Staatsanwaltschaft ein Ermittlungsverfahren wegen Steuerhinterziehung nur dann einleiten kann, wenn die Steuerverwaltung zuvor Anzeige erstattet hat.
9 Mit den Beschlüssen Nr. 2016‑545 QPC vom 24. Juni 2016, Nr. 2016‑546 QPC vom 24. Juni 2016, Nr. 2016‑556 QPC vom 22. Juli 2016 und Nr. 2018‑745 QPC vom 23. November 2018 stellte der Conseil constitutionnel (Verfassungsrat, Frankreich) fest, dass die aus den Art. 1729 und 1741 CGI resultierende Kumulierung von strafrechtlichen und steuerrechtlichen Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen im Fall der Verschleierung von steuerpflichtigen Beträgen sowie im Fall der unterlassenen Deklarierung mit den Grundsätzen der Erforderlichkeit und der Verhältnismäßigkeit von Straftat und Strafmaß im Einklang stehe. So führte der Conseil constitutionnel (Verfassungsrat) aus, dass die beiden genannten Bestimmungen „es zusammen ermöglichen, die finanziellen Interessen des Staates und die steuerliche Gleichbehandlung zu wahren, indem gemeinsame Zwecke verfolgt werden, die zugleich abschreckend und repressiv sind“. Weiter stellte er fest: „Die Erhebung des erforderlichen öffentlichen Beitrags und das Ziel der Bekämpfung von Steuerhinterziehung rechtfertigen in besonders schweren Betrugsfällen die Einleitung komplementärer Verfahren. Auf die Kontrollen, aufgrund derer die Steuerverwaltung Geldsanktionen verhängt, können daher strafrechtliche Verfahren folgen, und zwar unter den Bedingungen und nach den Verfahren, die gesetzlich vorgesehen sind.“
10 Mit Rücksicht auf den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit entwickelte der Conseil constitutionnel (Verfassungsrat) jedoch drei Auslegungsvorbehalte, die die Möglichkeit einer solchen Kumulierung beschränken:
–
Erstens kann ein Steuerpflichtiger, der durch eine rechtskräftig gewordene gerichtliche Entscheidung aus einem materiellen Grund von der Steuer befreit wurde, nicht strafrechtlich wegen Steuerhinterziehung verurteilt werden;
–
zweitens ist Art. 1741 CGI nur auf besonders schwere Fälle der betrügerischen Verschleierung steuerpflichtiger Beträge oder besonders schwere Fälle unterlassener Erklärungen anwendbar, wobei sich die besondere Schwere aus der Höhe der hinterzogenen Abgaben, aus der Natur der Taten des Beschuldigten oder aus den Umständen ihrer Begehung ergeben kann;
–
drittens kann die Möglichkeit der Einleitung zweier Verfahren zwar zu einer Kumulierung von Sanktionen führen, doch gebietet der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, dass die Gesamthöhe der gegebenenfalls verhängten Sanktionen jedenfalls nicht den für eine einzelne Sanktion vorgesehenen Höchstbetrag übersteigen darf.
Ausgangsverfahren und Vorlagefragen
11 BV war bis zum 14. Juni 2011 in der Rechtsform eines Einzelunternehmers als Wirtschaftsprüfer tätig. Im Rahmen dieser Tätigkeit war er von Rechts wegen mehrwertsteuerpflichtig und unterlag angesichts seines Umsatzes der normalen Steuerregelung, so dass er verpflichtet war, monatlich Steuererklärungen einzureichen.
12 Die Steuerverwaltung führte für die Jahre 2009, 2010 und 2011 Buchprüfungen durch.
13 Am 10. März 2014 erstattete die Steuerverwaltung beim Procureur de la République d’Annecy (Staatsanwaltschaft Annecy, Frankreich) Strafanzeige gegen BV. Sie legte ihm zur Last, er habe eine fehlerhafte Buchführung vorgelegt, Mehrwertsteuererklärungen abgegeben, die aufgrund der Verschleierung des Großteils der erzielten Einnahmen unvollständig gewesen seien, seine Einnahmen aus nicht gewerblicher Tätigkeit zu niedrig angegeben und unvollständige Gesamteinkommensteuererklärungen abgegeben, in denen geringere Einkünfte aus nicht gewerblicher Tätigkeit angegeben worden seien, als sie tatsächlich erzielt worden seien. Nach den Angaben in der Strafanzeige belief sich die hinterzogene Mehrwertsteuer auf 82507 Euro und die hinterzogene Einkommensteuer auf 108883 Euro.
14 Nach Abschluss des Ermittlungsverfahrens erhob die Staatsanwaltschaft beim Tribunal correctionnel d’Annecy (Strafgericht Annecy, Frankreich) Anklage gegen BV wegen Steuerhinterziehung durch Verschleierung von steuerpflichtigen Einnahmen und Unterlassung von Eintragungen in Buchhaltungsunterlagen.
15 Mit Urteil vom 23. Juni 2017 erklärte das Tribunal correctionnel d’Annecy (Strafgericht Annecy) BV der ihm zur Last gelegten Straftaten für schuldig, verurteilte ihn zu zwölf Monaten Freiheitsstrafe und ordnete die Veröffentlichung der Entscheidung auf seine Kosten an.
16 Gegen dieses Urteil legte BV bei der Cour d’appel de Chambéry (Berufungsgericht Chambéry, Frankreich) Berufung ein. Zur Stützung der Berufung machte er geltend, seine strafrechtliche Verurteilung verstoße gegen den in Art. 50 der Charta verbürgten Grundsatz ne bis in idem, da wegen desselben Sachverhalts bereits ein Steuernacherhebungsverfahren gegen ihn geführt worden sei, das dazu geführt habe, dass Steuerstrafzuschläge in Höhe von 40 % der hinterzogenen Abgaben bestandskräftig festgesetzt worden seien.
17 Mit Urteil vom 13. Februar 2019 wies die Cour d’appel de Chambéry (Berufungsgericht Chambéry) die Berufung zurück. Das Gericht war der Ansicht, dass die Kumulierung strafrechtlicher und steuerrechtlicher Sanktionen gegen BV nicht gegen Art. 50 der Charta verstoße, da die Anwendung der maßgeblichen nationalen Regelung den Anforderungen genüge, die sich aus der einschlägigen Rechtsprechung des Conseil constitutionnel (Verfassungsrat) ergäben.
18 BV legte gegen das Urteil der Cour d’appel de Chambéry (Berufungsgericht Chambéry) bei der Cour de cassation (Kassationsgerichtshof), dem vorlegenden Gericht in der vorliegenden Rechtssache, Kassationsbeschwerde ein und machte geltend, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehende nationale Regelung nicht dem Erfordernis der Klarheit und Vorhersehbarkeit genüge, das nach der auf das Urteil vom 20. März 2018, Menci (C‑524/15, EU:C:2018:197, Rn. 49 bis 51), zurückgehenden Rechtsprechung bei einer Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen strafrechtlicher Natur zu beachten sei. Außerdem sehe diese nationale Regelung entgegen der Rechtsprechung, die namentlich aus dem Urteil vom 20. März 2018, Garlsson Real Estate u. a. (C‑537/16, EU:C:2018:193, Rn. 56 und 60), hervorgegangen sei, keine Regeln vor, die sicherstellen könnten, dass die Schärfe aller verhängten Sanktionen nicht die Schwere der festgestellten Straftat überschreite.
19 Das vorlegende Gericht führt einleitend aus, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehende nationale Regelung eine Durchführung des Unionsrechts im Sinne von Art. 51 Abs. 1 der Charta darstelle, da sie insbesondere darauf abziele, Mehrwertsteuerstraftaten zu bekämpfen, um die vollständige Erhebung der geschuldeten Mehrwertsteuer zu gewährleisten. Daher müsse diese Regelung mit dem in Art. 50 der Charta verbürgten Grundsatz ne bis in idem im Einklang stehen.
20 In Bezug auf das Erfordernis der Klarheit und Vorhersehbarkeit weist das vorlegende Gericht darauf hin, dass die Art. 1729 und 1741 CGI genau festlegten, welche Handlungen und Unterlassungen sowohl strafrechtlich als auch steuerrechtlich geahndet werden könnten. Hinsichtlich der Anwendung dieser Vorschriften habe der Conseil constitutionnel (Verfassungsrat) die drei in Rn. 10 des vorliegenden Urteils dargelegten Auslegungsvorbehalte entwickelt.
21 Was speziell den zweiten Auslegungsvorbehalt betrifft, weist das vorlegende Gericht darauf hin, dass es die Modalitäten seiner Anwendung präzisiert habe. Wenn eine wegen Steuerhinterziehung angeklagte Person nachweise, dass wegen desselben Sachverhalts bereits eine steuerrechtliche Sanktion gegen sie persönlich verhängt worden sei, obliege es dem Strafgericht, sich zunächst zur Einstufung der Straftat nach Maßgabe der Tatbestandsmerkmale von Art. 1741 CGI zu äußern. Sodann müsse es – gegebenenfalls von Amts wegen – prüfen, ob der festgestellte Sachverhalt schwer genug wiege, um die Strafverfolgung zusätzlich zur steuerrechtlichen Ahndung zu rechtfertigen. Diese Prüfung müsse anhand der vom Conseil constitutionnel (Verfassungsrat) festgelegten Kriterien erfolgen, die sich auf die Höhe der hinterzogenen Beträge, die Natur der Tat und die Umstände ihrer Begehung bezögen. Außerdem müsse die Entscheidung über die Schwere begründet werden und vor der Festlegung und der Begründung des Strafmaßes ergehen.
22 Was die Frage anbelange, ob sich die Schärfe der verhängten Sanktionen insgesamt auf das zwingend Notwendige beschränke, sei festzustellen, dass die französische Regelung dem zweiten vom Conseil constitutionnel (Verfassungsrat) entwickelten Auslegungsvorbehalt insofern entspreche, als sie die Strafverfolgung auf Straftaten von bestimmter Schwere beschränke, für die der nationale Gesetzgeber außer einer Geldstrafe auch eine Freiheitsstrafe vorgesehen habe.
23 Außerdem werde entsprechend dem dritten Auslegungsvorbehalt die Möglichkeit der Kumulierung von Sanktionen durch das Verbot beschränkt, den höchsten Betrag zu überschreiten, der für eine einzelne Sanktion vorgesehen sei. Dieser dritte Auslegungsvorbehalt betreffe jedoch nach der eigenen Rechtsprechung des vorlegenden Gerichts nur gleichartige Sanktionen, und zwar solche finanzieller Art, da er voraussetze, dass das Gericht das jeweilige Höchstmaß der strafrechtlichen und steuerrechtlichen Sanktionen vergleichen könne, um den höchsten Betrag zu ermitteln, der die Obergrenze darstelle. Daher gelte dieser Auslegungsvorbehalt nicht für den Fall einer Kumulierung von steuerrechtlichen finanziellen Sanktionen und einer Freiheitsstrafe.
24 Unter diesen Umständen hat die Cour de cassation (Kassationsgerichtshof) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
1. Ist das Gebot der Klarheit und Vorhersehbarkeit der Umstände, unter denen Verschleierungen bei Erklärungen im Bereich der geschuldeten Mehrwertsteuer zu einer Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen strafrechtlicher Natur führen können, durch nationale Vorschriften wie die oben dargelegten erfüllt?
2. Ist das Gebot der Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit der Kumulierung solcher Sanktionen durch nationale Vorschriften wie die oben dargelegten erfüllt?
Zu den Vorlagefragen
25 Mit seinen beiden Vorlagefragen, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob das in Art. 50 der Charta verbürgte Grundrecht in Verbindung mit Art. 52 Abs. 1 der Charta dahin auszulegen ist, dass
–
es ihm zuwiderläuft, wenn die Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen strafrechtlicher Natur, die in einer nationalen Regelung für den Fall von betrügerischen Verschleierungen oder unvollständigen Erklärungen im Bereich der Mehrwertsteuer vorgesehen ist, nur dadurch auf besonders schwere Fälle beschränkt wird, dass die gesetzlichen Bestimmungen, die die Voraussetzungen für diese Kumulierung festlegen, nach gefestigter Rechtsprechung eng ausgelegt werden, und/oder dass
–
es einer nationalen Regelung entgegensteht, die nicht durch klare und präzise Regeln, gegebenenfalls in ihrer Auslegung durch die nationalen Gerichte, gewährleistet, dass im Fall der Kumulierung einer finanziellen Sanktion und einer Freiheitsstrafe die verhängten Sanktionen insgesamt nicht außer Verhältnis zur Schwere der festgestellten Tat stehen.
26 Einleitend ist darauf hinzuweisen, dass von den nationalen Steuerbehörden im Bereich der Mehrwertsteuer verhängte Verwaltungssanktionen und wegen Mehrwertsteuerstraftaten eingeleitete Strafverfahren nach ständiger Rechtsprechung als Durchführung der Art. 2 und 273 der Richtlinie 2006/112 sowie von Art. 325 AEUV und somit als Durchführung des Unionsrechts im Sinne von Art. 51 Abs. 1 der Charta anzusehen sind und folglich das in Art. 50 der Charta verbürgte Grundrecht wahren müssen (Urteil vom 20. März 2018, Menci, C‑524/15, EU:C:2018:197, Rn. 21 und die dort angeführte Rechtsprechung).
27 Gemäß letzterer Bestimmung darf niemand wegen einer Straftat, derentwegen er bereits in der Union nach dem Gesetz rechtskräftig verurteilt oder freigesprochen worden ist, in einem Strafverfahren erneut verfolgt oder bestraft werden.
28 Im vorliegenden Fall wird BV im Ausgangsstrafverfahren wegen betrügerischer Verschleierungen und unterlassener Erklärungen im Bereich der Mehrwertsteuer verfolgt, obwohl gegen ihn laut den Angaben im Vorabentscheidungsersuchen wegen desselben Sachverhalts bereits eine bestandskräftige Verwaltungssanktion strafrechtlicher Natur im Sinne von Art. 50 der Charta verhängt wurde. Eine solche Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen stellt eine Einschränkung des in dieser Bestimmung der Charta verankerten Grundrechts dar, da diese Bestimmung es verbietet, wegen derselben Tat am Ende verschiedener zu diesem Zweck durchgeführter Verfahren mehrere Sanktionen strafrechtlicher Natur zu verhängen (vgl. entsprechend Urteil vom 20. März 2018, Menci, C‑524/15, EU:C:2018:197, Rn. 35).
29 Nach ständiger Rechtsprechung kann eine Einschränkung des in Art. 50 der Charta verbürgten Grundrechts jedoch auf der Grundlage von Art. 52 Abs. 1 der Charta gerechtfertigt werden (Urteile vom 20. März 2018, Menci, C‑524/15, EU:C:2018:197, Rn. 40 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie vom 22. März 2022, Nordzucker u. a., C‑151/20, EU:C:2022:203, Rn. 49).
30 Nach Art. 52 Abs. 1 Satz 1 der Charta muss jede Einschränkung der Ausübung der in der Charta anerkannten Rechte und Freiheiten gesetzlich vorgesehen sein und den Wesensgehalt dieser Rechte und Freiheiten achten. Nach Art. 52 Abs. 1 Satz 2 der Charta dürfen Einschränkungen dieser Rechte und Freiheiten unter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit nur vorgenommen werden, wenn sie erforderlich sind und den von der Union anerkannten dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen oder den Erfordernissen des Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer tatsächlich entsprechen.
31 Im vorliegenden Fall steht erstens fest, dass die Möglichkeit, strafrechtliche Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen sowie verwaltungsrechtliche Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen strafrechtlicher Natur zu kumulieren, gesetzlich vorgesehen ist, nämlich in den Art. 1729 und 1741 CGI. Soweit das Erfordernis, wonach jede Einschränkung der Grundrechtsausübung gesetzlich vorgesehen sein muss, impliziert, dass die gesetzliche Grundlage für den Grundrechtseingriff den Umfang, in dem die Ausübung des betreffenden Rechts eingeschränkt wird, selbst festlegen muss, so deckt sich dies weitgehend mit den Anforderungen an Klarheit und Genauigkeit, die sich aus dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ergeben (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 16. Juli 2020, Facebook Ireland und Schrems, C‑311/18, EU:C:2020:559, Rn. 180), der in den Rn. 34 ff. des vorliegenden Urteils geprüft wird.
32 Zweitens wahrt eine nationale Regelung wie die im Ausgangsverfahren fragliche den Wesensgehalt des in Art. 50 der Charta verbürgten Grundrechts. Nach den Angaben in den dem Gerichtshof vorliegenden Akten lässt sie eine Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen nämlich nur unter abschließend festgelegten Voraussetzungen zu und stellt damit sicher, dass das in Art. 50 der Charta verbürgte Recht als solches nicht in Frage gestellt wird.
33 Drittens geht aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten hervor, dass diese Regelung die vollständige Erhebung der geschuldeten Mehrwertsteuer gewährleisten soll. Angesichts der Bedeutung, die die Rechtsprechung des Gerichtshofs der Bekämpfung von Mehrwertsteuerstraftaten zur Erreichung dieses Ziels beimisst, entspricht die Einschränkung des Grundsatzes ne bis in idem, die sich aus einer nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren fraglichen ergibt, einer dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzung.
34 Viertens ist zum Grundsatz der Verhältnismäßigkeit festzustellen, dass nach diesem Grundsatz die in einer nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren fraglichen vorgesehene Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen nicht die Grenzen dessen überschreiten darf, was zur Erreichung der mit dieser Regelung zulässigerweise verfolgten Ziele geeignet und erforderlich ist; stehen mehrere geeignete Maßnahmen zur Auswahl, ist die am wenigsten belastende zu wählen, und die durch sie bedingten Nachteile müssen in angemessenem Verhältnis zu den angestrebten Zielen stehen (Urteil vom 20. März 2018, Menci, C‑524/15, EU:C:2018:197, Rn. 46 und die dort angeführte Rechtsprechung).
35 Eine nationale Regelung, die die Möglichkeit einer solchen Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen vorsieht, ist geeignet, das legitime Ziel der Bekämpfung von Mehrwertsteuerstraftaten zu erreichen, um die Erhebung der gesamten geschuldeten Mehrwertsteuer zu gewährleisten (Urteil vom 20. März 2018, Menci, C‑524/15, EU:C:2018:197, Rn. 48).
36 Was die zwingende Erforderlichkeit einer solchen nationalen Regelung betrifft, hat der Gerichtshof in den Rn. 49, 53 und 55 des Urteils vom 20. März 2018, Menci (C‑524/15, EU:C:2018:197), klargestellt, dass die betreffende Regelung klare und präzise Regeln aufstellen muss, die es erstens den Bürgern ermöglichen, vorherzusehen, bei welchen Handlungen und Unterlassungen eine solche Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen in Frage kommt, zweitens eine Koordinierung der Verfahren gewährleisten, um die mit einer Kumulierung von Verfahren strafrechtlicher Natur, die unabhängig voneinander durchgeführt werden, verbundene zusätzliche Belastung auf das zwingend Erforderliche zu beschränken, und drittens gewährleisten können, dass die Schwere aller verhängten Sanktionen der Schwere der betreffenden Straftat entspricht.
37 Das vorlegende Gericht hegt zum einen Zweifel hinsichtlich der ersten der in der vorstehenden Randnummer dargelegten Anforderungen, die in Bezug auf das in Art. 50 der Charta verbürgte Grundrecht auch den in Art. 49 Abs. 1 der Charta verankerten Grundsatz der Gesetzmäßigkeit im Zusammenhang mit Straftaten und Strafen widerspiegelt. Wie der Generalanwalt in den Nrn. 56 bis 58 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, findet der letztgenannte Grundsatz nämlich Anwendung, wenn eine bestandskräftige Verwaltungssanktion strafrechtlicher Natur im Sinne von Art. 50 der Charta und strafrechtliche Verfolgungsmaßnahmen kumuliert werden, da diese Kumulierung für den Betroffenen schwerere Folgen haben kann als die bloße Strafverfolgung. Insbesondere kann die verfolgungsbedingte Belastung, die sich aus der Kumulierung von Sanktionen strafrechtlicher Natur ergibt, über diejenige hinausgehen, die für ein inkriminiertes Verhalten gesetzlich vorgesehen ist. Daher muss jede Bestimmung, die eine doppelte Ahndung zulässt, den Anforderungen genügen, die mit dem in Art. 49 Abs. 1 der Charta garantierten Grundsatz der Gesetzmäßigkeit im Zusammenhang mit Straftaten und Strafen verbunden sind.
38 In Bezug auf den Grundsatz der Gesetzmäßigkeit im Zusammenhang mit Straftaten und Strafen hat der Gerichtshof entschieden, dass, soweit dieser Grundsatz verlangt, dass die Straftaten und die für sie angedrohten Strafen gesetzlich klar definiert sind, diese Voraussetzung erfüllt ist, wenn der Rechtsunterworfene anhand des Wortlauts der einschlägigen Bestimmung und nötigenfalls mit Hilfe ihrer Auslegung durch die Gerichte erkennen kann, welche Handlungen und Unterlassungen seine strafrechtliche Verantwortung begründen (Urteile vom 22. Oktober 2015, AC‑Treuhand/Kommission, C‑194/14 P, EU:C:2015:717, Rn. 40 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie vom 11. Juni 2020, Prokuratura Rejonowa w Słupsku, C‑634/18, EU:C:2020:455, Rn. 49).
39 Der Umstand, dass sich die Voraussetzungen für eine Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen strafrechtlicher Natur nicht ausschließlich aus gesetzlichen Vorschriften, sondern auch aus deren Auslegung durch die nationalen Gerichte ergeben, ist daher für sich genommen nicht geeignet, die Klarheit und Genauigkeit der nationalen Regelung in Frage zu stellen, vorausgesetzt allerdings, dass der Rechtsunterworfene anhand des Wortlauts der einschlägigen Bestimmungen und nötigenfalls mit Hilfe ihrer Auslegung durch die nationalen Gerichte erkennen kann, welche Handlungen und Unterlassungen zu einer solchen Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen führen können.
40 Was die Frage anbelangt, ob der nationale Gesetzgeber allgemeine Begriffe verwenden kann, um zu bestimmen, welche Taten zu einer Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen strafrechtlicher Natur führen können, so ist darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof in den Rn. 52 und 53 seines Urteils vom 20. März 2018, Garlsson Real Estate u. a. (C‑537/16, EU:C:2018:193), festgestellt hat, dass die nationale Regelung, um die es in jener Rechtssache ging, hinreichend klar und präzise war, obwohl sie diese Kumulierung davon abhängig machte, ob die fraglichen Handlungen geeignet waren, den Preis von Finanzinstrumenten „erheblich zu verändern“, so dass es auf die Auslegung eines allgemeinen Begriffs ankam, die eine signifikante Würdigung seitens der nationalen Gerichte erforderte.
41 Nach der Rechtsprechung zum Grundsatz der Gesetzmäßigkeit im Zusammenhang mit Straftaten und Strafen darf dieser Grundsatz nämlich nicht so verstanden werden, dass er die schrittweise Klärung der Vorschriften über die strafrechtliche Verantwortlichkeit durch richterliche Auslegung von Fall zu Fall untersagt, vorausgesetzt, dass das Ergebnis zum Zeitpunkt der Begehung der Tat insbesondere unter Berücksichtigung der Auslegung, die zu dieser Zeit in der Rechtsprechung zur fraglichen Rechtsvorschrift vertreten wurde, hinreichend vorhersehbar ist (Urteile vom 22. Oktober 2015, AC‑Treuhand/Kommission, C‑194/14 P, EU:C:2015:717, Rn. 41 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie vom 11. Juni 2020, Prokuratura Rejonowa w Słupsku, C‑634/18, EU:C:2020:455, Rn. 50).
42 Daher steht der Umstand, dass sich die nationale Rechtsprechung im Rahmen ihrer Auslegung der maßgeblichen Rechtsvorschriften auf allgemeine Begriffe bezieht, die schrittweise zu präzisieren sind, vorbehaltlich der genannten Voraussetzungen grundsätzlich nicht der Feststellung entgegen, dass die nationale Regelung klare und präzise Regeln enthält, die es dem Rechtsunterworfenen ermöglichen, vorherzusehen, welche Handlungen und Unterlassungen zu einer Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen strafrechtlicher Natur führen können.
43 In diesem Zusammenhang ist noch darauf hinzuweisen, dass das Ausmaß der verlangten Vorhersehbarkeit in hohem Maß vom Inhalt der in Rede stehenden Vorschriften, von dem durch sie geregelten Bereich sowie von der Zahl und der Eigenschaft ihrer Adressaten abhängt. Mit der Vorhersehbarkeit des Gesetzes ist es nicht unvereinbar, dass die betreffende Person gezwungen ist, fachkundigen Rat einzuholen, um unter den Umständen des konkreten Falles angemessen zu beurteilen, welche Folgen sich aus einer bestimmten Handlung ergeben können. Das gilt insbesondere für berufsmäßig tätige Personen, die gewohnt sind, sich bei der Ausübung ihrer Tätigkeit sehr umsichtig verhalten zu müssen. Von ihnen kann daher erwartet werden, dass sie die Risiken ihrer Tätigkeit besonders sorgfältig beurteilen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 28. Juni 2005, Dansk Rørindustri u. a./Kommission, C‑189/02 P, C‑202/02 P, C‑205/02 P bis C‑208/02 P und C‑213/02 P, EU:C:2005:408, Rn. 219 und die dort angeführte Rechtsprechung, vom 22. Oktober 2015, AC‑Treuhand/Kommission, C‑194/14 P, EU:C:2015:717, Rn. 42, sowie vom 28. März 2017, Rosneft, C‑72/15, EU:C:2017:236, Rn. 166).
44 Im vorliegenden Fall ist es zwar Sache des vorlegenden Gerichts, zu prüfen, ob die im Ausgangsverfahren in Rede stehende nationale Regelung die in Rn. 36 des vorliegenden Urteils genannten Anforderungen an Klarheit und Genauigkeit erfüllt, doch ist es Aufgabe des Gerichtshofs, insoweit zweckdienliche Hinweise zu geben, damit das vorlegende Gericht über das bei ihm anhängige Verfahren entscheiden kann (vgl. entsprechend Urteil vom 22. Juni 2021, Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid [Wirkungen einer Ausweisungsverfügung], C‑719/19, EU:C:2021:506, Rn. 82 und die dort angeführte Rechtsprechung).
45 Zunächst ergibt sich aus den Angaben im Vorabentscheidungsersuchen, dass Art. 1729 CGI die Voraussetzungen regelt, unter denen betrügerische Verschleierungen oder unterlassene Erklärungen u. a. im Bereich der Mehrwertsteuer zur Verhängung einer Geldbuße als Verwaltungssanktion strafrechtlicher Natur führen können. Nach Art. 1741 CGI und unter den dort genannten Voraussetzungen können solche Taten „unabhängig von den anwendbaren steuerrechtlichen Sanktionen“ außerdem mit einer Geldstrafe und einer Freiheitsstrafe geahndet werden.
46 Ferner hat der Conseil constitutionnel (Verfassungsrat) entschieden, dass die in diesen Artikeln vorgesehene Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen nur in besonders schweren Fällen der betrügerischen Verschleierung steuerpflichtiger Beträge oder in besonders schweren Fällen unterlassener Erklärungen anwendbar ist, wobei sich die besondere Schwere aus der Höhe der hinterzogenen Abgaben, aus der Natur der Taten des Beschuldigten oder aus den Umständen ihrer Begehung ergeben kann. Vorbehaltlich der Würdigung durch das vorlegende Gericht erscheint diese Auslegung, die der Conseil constitutionnel (Verfassungsrat) im Hinblick auf den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit vorgenommen hat, als solche nicht unvorhersehbar.
47 Schließlich weist das vorlegende Gericht darauf hin, dass es die in der vorstehenden Randnummer dargelegte Rechtsprechung des Conseil constitutionnel (Verfassungsrat) bereits mehrfach angewandt und sie auf diese Weise weiter konkretisiert habe. Es ist Sache des vorlegenden Gerichts, zu prüfen, ob es in Anbetracht dieser bereits bestehenden Rechtsprechung für BV zum Zeitpunkt der Begehung der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Taten hinreichend vorhersehbar war, dass diese Taten zu einer Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen strafrechtlicher Natur gemäß den Art. 1729 und 1741 CGI führen konnten.
48 In diesem Zusammenhang ist der Umstand, dass BV gegebenenfalls die Hilfe eines Rechtsberaters hätte in Anspruch nehmen müssen, um nach Maßgabe der Voraussetzungen für die in diesen Artikeln vorgesehene Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen strafrechtlicher Natur – so, wie diese Voraussetzungen von den nationalen Gerichten ausgelegt werden – die Folgen zu beurteilen, die sich aus den ihm zur Last gelegten Taten ergeben konnten, nach der in Rn. 43 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung nicht geeignet, die Klarheit und Genauigkeit der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden nationalen Regelung in Frage zu stellen. Dies gilt im Fall von BV umso mehr, als er diese Taten offenbar im Rahmen seiner beruflichen Tätigkeit als Wirtschaftsprüfer begangen hat.
49 Zum anderen äußert das vorlegende Gericht Zweifel hinsichtlich der dritten in Rn. 36 des vorliegenden Urteils genannten Anforderung. Diese ergibt sich sowohl aus Art. 52 Abs. 1 der Charta als auch aus dem in Art. 49 Abs. 3 der Charta verankerten Grundsatz der Verhältnismäßigkeit von Strafen, der für die zuständigen Behörden die Verpflichtung mit sich bringt, im Fall der Verhängung einer zweiten Sanktion dafür zu sorgen, dass die Schärfe aller verhängten Sanktionen nicht die Schwere der festgestellten Straftat überschreitet (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 20. März 2018, Garlsson Real Estate u. a., C‑537/16, EU:C:2018:193, Rn. 56).
50 Insoweit ist klarzustellen, dass diese Anforderung nach der in Rn. 36 und in der vorstehenden Randnummer des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung ausnahmslos für alle kumulativ verhängten Sanktionen gilt, also sowohl für die Kumulierung gleichartiger Sanktionen als auch für die Kumulierung verschiedenartiger Sanktionen, wie etwa die Kumulierung von finanziellen Sanktionen und Freiheitsstrafen. Der bloße Umstand, dass die zuständigen Behörden die Absicht haben, verschiedenartige Sanktionen zu verhängen, kann sie nicht von der Verpflichtung entbinden, sich zu vergewissern, dass die Schärfe aller verhängten Sanktionen nicht die Schwere der festgestellten Straftat überschreitet, da andernfalls ein Verstoß gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit vorläge.
51 Aufgrund dieser Erwägungen hat der Gerichtshof in Rn. 60 des Urteils vom 20. März 2018, Garlsson Real Estate u. a. (C‑537/16, EU:C:2018:193), entschieden, dass es dem Erfordernis der Verhältnismäßigkeit nicht genügt, wenn eine Regelung hinsichtlich der Kumulierung einer Geldstrafe und einer Geldbuße als Verwaltungssanktion strafrechtlicher Natur vorsieht, dass sich die Erhebung der Geldstrafe auf den Teil beschränkt, der den Betrag der Geldbuße übersteigt, ohne eine entsprechende Regel auch für den Fall vorzusehen, dass eine Geldbuße als Verwaltungssanktion strafrechtlicher Natur mit einer Freiheitsstrafe kumuliert wird.
52 Was den vorliegenden Fall betrifft, hat das vorlegende Gericht zwar laut den Angaben im Vorabentscheidungsersuchen aufgrund von Verhältnismäßigkeitserwägungen bereits entschieden, dass der Gesamtbetrag einer bei Mehrfachahndung verhängten Sanktion nicht den höchsten Betrag überschreiten dürfe, der für eine einzelne Sanktion vorgesehen sei. Allerdings hat das vorlegende Gericht klargestellt, dass diese Einschränkung nur für gleichartige Sanktionen, und zwar solche finanzieller Art, gelte. Wie der Generalanwalt in Nr. 103 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, ist eine solche Einschränkung jedoch nicht geeignet, ein angemessenes Verhältnis zwischen der Schwere des Verstoßes und der Schärfe der verhängten Sanktionen in ihrer Gesamtheit herzustellen, wenn eine finanzielle Sanktion mit einer Freiheitsstrafe kumuliert wird.
53 Soweit die französische Regierung vor dem Gerichtshof darauf hingewiesen hat, dass Strafgerichte verpflichtet seien, den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit der Strafen zu beachten, der ihnen die Befugnis verleihe, das Strafmaß an den Umständen des Einzelfalls auszurichten, so ergibt sich aus der in den Rn. 36 und 49 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung zum einen, dass die zuständigen Behörden verpflichtet sind, dafür zu sorgen, dass die Schärfe aller verhängten Sanktionen nicht die Schwere der festgestellten Straftat überschreitet, und zum anderen, dass diese Verpflichtung klar und präzise aus der betreffenden nationalen Regelung hervorgehen muss.
54 Es ist Sache des vorlegenden Gerichts, zu prüfen, ob dies vorliegend der Fall ist, wobei es zu berücksichtigen haben wird, dass es – auch mit Verweis auf Verhältnismäßigkeitserwägungen – entschieden hat, dass die in Rn. 52 dargelegte Einschränkung nur für die Kumulierung gleichartiger Sanktionen gelte.
55 Nach alledem ist auf die Vorlagefragen zu antworten, dass das in Art. 50 der Charta verbürgte Grundrecht in Verbindung mit Art. 52 Abs. 1 der Charta dahin auszulegen ist, dass
–
es ihm nicht zuwiderläuft, wenn die Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen strafrechtlicher Natur, die in einer nationalen Regelung für den Fall von betrügerischen Verschleierungen oder unvollständigen Erklärungen im Bereich der Mehrwertsteuer vorgesehen ist, nur dadurch auf besonders schwere Fälle beschränkt wird, dass die gesetzlichen Bestimmungen, die die Voraussetzungen für diese Kumulierung festlegen, nach gefestigter Rechtsprechung eng ausgelegt werden, vorausgesetzt, dass zum Zeitpunkt der Tatbegehung hinreichend vorhersehbar ist, dass die Tat zu einer Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen strafrechtlicher Natur führen kann; aber dass
–
es einer nationalen Regelung entgegensteht, die nicht durch klare und präzise Regeln, gegebenenfalls in ihrer Auslegung durch die nationalen Gerichte, gewährleistet, dass im Fall der Kumulierung einer finanziellen Sanktion und einer Freiheitsstrafe die verhängten Sanktionen insgesamt nicht außer Verhältnis zur Schwere der festgestellten Tat stehen.
Kosten
56 Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Erste Kammer) für Recht erkannt:
Das in Art. 50 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union verbürgte Grundrecht ist in Verbindung mit Art. 52 Abs. 1 der Charta dahin auszulegen, dass
–
es ihm nicht zuwiderläuft, wenn die Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen strafrechtlicher Natur, die in einer nationalen Regelung für den Fall von betrügerischen Verschleierungen oder unvollständigen Erklärungen im Bereich der Mehrwertsteuer vorgesehen ist, nur dadurch auf besonders schwere Fälle beschränkt wird, dass die gesetzlichen Bestimmungen, die die Voraussetzungen für diese Kumulierung festlegen, nach gefestigter Rechtsprechung eng ausgelegt werden, vorausgesetzt, dass zum Zeitpunkt der Tatbegehung hinreichend vorhersehbar ist, dass die Tat zu einer Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen strafrechtlicher Natur führen kann; aber dass
–
es einer nationalen Regelung entgegensteht, die nicht durch klare und präzise Regeln, gegebenenfalls in ihrer Auslegung durch die nationalen Gerichte, gewährleistet, dass im Fall der Kumulierung einer finanziellen Sanktion und einer Freiheitsstrafe die verhängten Sanktionen insgesamt nicht außer Verhältnis zur Schwere der festgestellten Tat stehen.
Unterschriften
(*1) Verfahrenssprache: Französisch.
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Urteil des Gerichtshofs (Große Kammer) vom 22. März 2022.#Bundeswettbewerbsbehörde gegen Nordzucker AG u. a.#Vorabentscheidungsersuchen des Obersten Gerichtshofs.#Vorlage zur Vorabentscheidung – Wettbewerb – Art. 101 AEUV – Von zwei nationalen Wettbewerbsbehörden verfolgtes Kartell – Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Art. 50 – Grundsatz ne bis in idem – Vorliegen derselben Straftat – Art. 52 Abs. 1 – Einschränkungen des Grundsatzes ne bis in idem – Voraussetzungen – Verfolgung einer dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzung – Verhältnismäßigkeit.#Rechtssache C-151/20.
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62020CJ0151
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ECLI:EU:C:2022:203
| 2022-03-22T00:00:00 |
Gerichtshof, Bobek
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Sammlung der Rechtsprechung – allgemein – Abschnitt „Informationen über nicht veröffentlichte Entscheidungen“
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62020CJ0151
URTEIL DES GERICHTSHOFS (Große Kammer)
22. März 2022 (*1)
„Vorlage zur Vorabentscheidung – Wettbewerb – Art. 101 AEUV – Von zwei nationalen Wettbewerbsbehörden verfolgtes Kartell – Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Art. 50 – Grundsatz ne bis in idem – Vorliegen derselben Straftat – Art. 52 Abs. 1 – Einschränkungen des Grundsatzes ne bis in idem – Voraussetzungen – Verfolgung einer dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzung – Verhältnismäßigkeit“
In der Rechtssache C‑151/20
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Obersten Gerichtshof (Österreich) mit Entscheidung vom 12. März 2020, beim Gerichtshof eingegangen am 27. März 2020, in dem Verfahren
Bundeswettbewerbsbehörde
gegen
Nordzucker AG,
Südzucker AG,
Agrana Zucker GmbH
erlässt
DER GERICHTSHOF (Große Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten K. Lenaerts, des Vizepräsidenten L. Bay Larsen, des Kammerpräsidenten A. Arabadjiev, der Kammerpräsidentin K. Jürimäe (Berichterstatterin), der Kammerpräsidenten C. Lycourgos, E. Regan und N. Jääskinen, der Kammerpräsidentin I. Ziemele, des Kammerpräsidenten J. Passer sowie der Richter M. Ilešič, T. von Danwitz, A. Kumin und N. Wahl,
Generalanwalt: M. Bobek,
Kanzler: D. Dittert, Referatsleiter,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 22. März 2021,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
–
der Bundeswettbewerbsbehörde, vertreten durch N. Harsdorf Enderndorf, B. Krauskopf und A. Xeniadis als Bevollmächtigte,
–
der Südzucker AG, vertreten durch Rechtsanwälte C. von Köckritz, W. Bosch und A. Fritzsche,
–
der Agrana Zucker GmbH, vertreten durch Rechtsanwälte H. Wollmann, C. von Köckritz, W. Bosch und A. Fritzsche,
–
der belgischen Regierung, vertreten durch J.‑C. Halleux und L. Van den Broeck als Bevollmächtigte im Beistand von P. Vernet und E. de Lophem, avocats,
–
der deutschen Regierung, zunächst vertreten durch J. Möller und S. Heimerl, dann durch J. Möller als Bevollmächtigte,
–
der griechischen Regierung, vertreten durch L. Kotroni als Bevollmächtigte,
–
der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von S. Fiorentino, avvocato dello Stato,
–
der lettischen Regierung, vertreten durch K. Pommere als Bevollmächtigte,
–
der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna und M. Wiącek als Bevollmächtigte,
–
der Europäischen Kommission, vertreten durch A. Keidel, G. Meessen, P. Rossi, H. van Vliet, A. Cleenewerck de Crayencour und F. van Schaik als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 2. September 2021
folgendes
Urteil
1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 50 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta).
2 Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Bundeswettbewerbsbehörde (Österreich) (im Folgenden: österreichische Behörde) einerseits und der Nordzucker AG, der Südzucker AG und der Agrana Zucker GmbH (im Folgenden: Agrana) andererseits wegen deren Beteiligung an einer gegen Art. 101 AEUV und die entsprechenden Bestimmungen des österreichischen Wettbewerbsrechts verstoßenden Verhaltensweise.
Rechtlicher Rahmen
3 In den Erwägungsgründen 6 und 8 der Verordnung (EG) Nr. 1/2003 des Rates vom 16. Dezember 2002 zur Durchführung der in den Artikeln [101 AEUV] und [102 AEUV] niedergelegten Wettbewerbsregeln (ABl. 2003, L 1, S. 1) heißt es:
„(6)
Die wirksame Anwendung der Wettbewerbsregeln der [Union] setzt voraus, dass die Wettbewerbsbehörden der Mitgliedstaaten stärker an der Anwendung beteiligt werden. Dies wiederum bedeutet, dass sie zur Anwendung des [Unionsrechts] befugt sein sollten.
…
(8) Um die wirksame Durchsetzung der Wettbewerbsregeln der [Union] und das reibungslose Funktionieren der in dieser Verordnung enthaltenen Formen der Zusammenarbeit zu gewährleisten, müssen die Wettbewerbsbehörden und die Gerichte in den Mitgliedstaaten verpflichtet sein, auch die Artikel [101] und [102 AEUV] anzuwenden, wenn sie innerstaatliches Wettbewerbsrecht auf Vereinbarungen und Verhaltensweisen, die den Handel zwischen den Mitgliedstaaten beeinträchtigen können, anwenden. Um für Vereinbarungen, Beschlüsse von Unternehmensvereinigungen und aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen gleiche Bedingungen im Binnenmarkt zu schaffen, ist es ferner erforderlich, auf der Grundlage von Artikel [103 Absatz 2 Buchstabe e AEUV] das Verhältnis zwischen dem innerstaatlichen Recht und dem Wettbewerbsrecht der [Union] zu bestimmen. Dazu muss gewährleistet werden, dass die Anwendung innerstaatlichen Wettbewerbsrechts auf Vereinbarungen, Beschlüsse und abgestimmte Verhaltensweisen im Sinne von Artikel [101] Absatz 1 [AEUV] nur dann zum Verbot solcher Vereinbarungen, Beschlüsse und abgestimmten Verhaltensweisen führen darf, wenn sie auch nach dem Wettbewerbsrecht der [Union] verboten sind. Die Begriffe Vereinbarungen, Beschlüsse und abgestimmte Verhaltensweisen sind autonome Konzepte des Wettbewerbsrechts der [Union] für die Erfassung eines koordinierten Verhaltens von Unternehmen am Markt im Sinne der Auslegung dieser Begriffe durch die Gerichte der [Union]. …“
4 Art. 3 Abs. 1 und 2 dieser Verordnung bestimmt:
„(1) Wenden die Wettbewerbsbehörden der Mitgliedstaaten oder einzelstaatliche Gerichte das einzelstaatliche Wettbewerbsrecht auf Vereinbarungen zwischen Unternehmen, Beschlüsse von Unternehmensvereinigungen und aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen im Sinne des Artikels [101] Absatz 1 [AEUV] an, welche den Handel zwischen Mitgliedstaaten im Sinne dieser Bestimmung beeinträchtigen können, so wenden sie auch Artikel [101 AEUV] auf diese Vereinbarungen, Beschlüsse und aufeinander abgestimmten Verhaltensweisen an. Wenden die Wettbewerbsbehörden der Mitgliedstaaten oder einzelstaatliche Gerichte das einzelstaatliche Wettbewerbsrecht auf nach Artikel [102 AEUV] verbotene Missbräuche an, so wenden sie auch Artikel [102 AEUV] an.
(2) Die Anwendung des einzelstaatlichen Wettbewerbsrechts darf nicht zum Verbot von Vereinbarungen zwischen Unternehmen, Beschlüssen von Unternehmensvereinigungen und aufeinander abgestimmten Verhaltensweisen führen, welche den Handel zwischen Mitgliedstaaten zu beeinträchtigen geeignet sind, aber den Wettbewerb im Sinne des Artikels [101] Absatz 1 [AEUV] nicht einschränken oder die Bedingungen des Artikels [101] Absatz 3 [AEUV] erfüllen oder durch eine Verordnung zur Anwendung von Artikel [101] Absatz 3 [AEUV] erfasst sind. Den Mitgliedstaaten wird durch diese Verordnung nicht verwehrt, in ihrem Hoheitsgebiet strengere innerstaatliche Vorschriften zur Unterbindung oder Ahndung einseitiger Handlungen von Unternehmen zu erlassen oder anzuwenden.“
5 Art. 5 der Verordnung lautet:
„Die Wettbewerbsbehörden der Mitgliedstaaten sind für die Anwendung der Artikel [101] und [102 AEUV] in Einzelfällen zuständig. Sie können hierzu von Amts wegen oder aufgrund einer Beschwerde Entscheidungen erlassen, mit denen
–
die Abstellung von Zuwiderhandlungen angeordnet wird,
–
einstweilige Maßnahmen angeordnet werden,
–
Verpflichtungszusagen angenommen werden oder
–
Geldbußen, Zwangsgelder oder sonstige im innerstaatlichen Recht vorgesehene Sanktionen verhängt werden.
Sind die Voraussetzungen für ein Verbot nach den ihnen vorliegenden Informationen nicht gegeben, so können sie auch entscheiden, dass für sie kein Anlass besteht, tätig zu werden.“
6 Art. 12 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1/2003 sieht vor:
„Für die Zwecke der Anwendung der Artikel [101] und [102 AEUV] sind die Kommission und die Wettbewerbsbehörden der Mitgliedstaaten befugt, einander tatsächliche oder rechtliche Umstände einschließlich vertraulicher Angaben mitzuteilen und diese Informationen als Beweismittel zu verwenden.“
7 Nach Art. 23 Abs. 2 dieser Verordnung kann die Kommission gegen Unternehmen und Unternehmensvereinigungen durch Entscheidung Geldbußen verhängen, wenn sie vorsätzlich oder fahrlässig gegen Art. 101 AEUV oder Art. 102 AEUV verstoßen.
Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefragen
8 Nordzucker, Südzucker und deren Tochtergesellschaft Agrana sind auf dem Markt für die Herstellung und den Vertrieb von Industriezucker und von Haushaltszucker (im Folgenden: Zuckermarkt) tätig.
9 Nordzucker und Südzucker beherrschen zusammen mit einem dritten großen Hersteller den Zuckermarkt in Deutschland. Nordzucker hat ihre Werke im Norden Deutschlands und Südzucker die ihren im Süden Deutschlands. Aufgrund der Standorte der Werke, der Merkmale des Zuckers und der Transportkosten war der deutsche Zuckermarkt räumlich seit jeher in drei Kerngebiete aufgeteilt, von denen jedes von einem dieser drei großen Hersteller beherrscht wurde. Diese räumliche Marktaufteilung erstreckte sich nicht auf ausländische Märkte, auch nicht auf diejenigen, auf denen die Tochtergesellschaften dieser drei Hersteller tätig waren, und betraf insbesondere nicht den österreichischen Markt.
10 Agrana ist die Hauptzuckerherstellerin in Österreich. Sie handelt auf den von ihr belieferten Märkten weitgehend selbständig.
11 Der Beitritt neuer Mitgliedstaaten zur Union im Jahr 2004 beunruhigte die deutschen Zuckerhersteller aufgrund des neuen Wettbewerbsdrucks, der von den in diesen Mitgliedstaaten ansässigen Unternehmen ausging. In diesem Zusammenhang kam es spätestens ab 2004 zu mehreren Treffen zwischen den Vertriebsleitern von Nordzucker und von Südzucker, die in die Vereinbarung mündeten, dass sich Nordzucker und Südzucker, um diesem neuen Wettbewerbsdruck auszuweichen, keine gegenseitige Konkurrenz durch ein Eindringen in ihre angestammten Kernabsatzgebiete machen würden.
12 Gegen Ende 2005 bemerkte Agrana Zuckerlieferungen auf dem österreichischen Markt, die namentlich von einer slowakischen Tochtergesellschaft von Nordzucker stammten und an österreichische Industriekunden gingen, deren Alleinlieferantin sie bis dahin war.
13 Am 22. Februar 2006 informierte der Geschäftsführer von Agrana bei einem Telefongespräch den Vertriebsleiter von Südzucker über diese Lieferungen und bat ihn um den Namen einer Kontaktperson bei Nordzucker.
14 Der Vertriebsleiter von Südzucker rief daraufhin am selben Tag den Vertriebsleiter von Nordzucker an, um ihn über die Lieferungen nach Österreich zu informieren, wobei er mögliche Konsequenzen für den deutschen Zuckermarkt andeutete (im Folgenden: streitiges Telefonat). Es ist nicht erwiesen, dass Agrana von diesem Telefonanruf unterrichtet wurde.
15 Nachdem Nordzucker u. a. beim Bundeskartellamt (Deutschland) (im Folgenden: deutsche Behörde) und bei der österreichischen Behörde Anträge auf Anwendung der Kronzeugenregelung gestellt hatte, leiteten diese Behörden zeitgleich Ermittlungsverfahren ein.
16 So brachte die österreichische Behörde im September 2010 beim Oberlandesgericht Wien (Österreich), dem österreichischen Kartellgericht, einen Antrag auf Feststellung einer Zuwiderhandlung von Nordzucker gegen Art. 101 AEUV und die entsprechenden österreichischen Rechtsvorschriften sowie auf Verhängung von zwei Geldbußen gegen Südzucker, darunter eine gesamtschuldnerisch mit Agrana, ein. Zu den tatsächlichen Umständen, die von der österreichischen Behörde zum Nachweis der Teilnahme dieser drei Unternehmen an einem Kartell auf dem österreichischen Zuckermarkt angeführt wurden, gehörte u. a. das streitige Telefonat.
17 Die deutsche Behörde stellte ihrerseits mit rechtskräftigem Bescheid vom 18. Februar 2014 fest, dass Nordzucker, Südzucker und der oben in Rn. 9 genannte dritte deutsche Hersteller gegen Art. 101 AEUV und die entsprechenden Bestimmungen des deutschen Wettbewerbsrechts verstoßen hätten, und verhängte u. a. gegen Südzucker eine Geldbuße in Höhe von 195500000 Euro (im Folgenden: endgültige Entscheidung der deutschen Behörde). Ausweislich des Bescheids praktizierten diese Unternehmen auf dem Zuckermarkt eine Vereinbarung über die gegenseitige Respektierung der Kernabsatzgebiete, wozu in der Zeit von 2004 bis 2007 bzw. Sommer 2008 regelmäßige Treffen der Vertreter von Nordzucker und von Südzucker stattfanden. In diesem Bescheid gab die deutsche Behörde den Inhalt des streitigen Telefonats wieder, bei dem die Vertreter von Nordzucker und von Südzucker über den österreichischen Markt gesprochen hatten. Unter allen von dieser Behörde festgestellten tatsächlichen Umständen bezieht sich allein dieses Telefonat auf den österreichischen Markt.
18 Mit Beschluss vom 15. Mai 2019 wies das Oberlandesgericht Wien den Antrag der österreichischen Behörde u. a. mit der Begründung zurück, dass die bei dem streitigen Telefonat geschlossene Vereinbarung bereits von einer anderen nationalen Wettbewerbsbehörde geahndet worden sei, so dass eine neuerliche Ahndung gegen den Grundsatz ne bis in idem verstieße.
19 Die österreichische Behörde erhob gegen diesen Beschluss Rekurs an den Obersten Gerichtshof (Österreich), der das vorlegende Gericht ist. Sie beantragt zum einen, festzustellen, dass Nordzucker aufgrund der besagten Vereinbarung gegen Art. 101 AEUV und die entsprechenden Bestimmungen des österreichischen Wettbewerbsrechts verstoßen hat, und zum anderen, Südzucker wegen des gleichen Verstoßes eine Geldbuße in angemessener Höhe aufzuerlegen.
20 Als Erstes sieht sich das vorlegende Gericht im Hinblick auf den in Art. 50 der Charta verankerten Grundsatz ne bis in idem vor die Frage gestellt, ob das streitige Telefonat berücksichtigt werden kann, obwohl es in der endgültigen Entscheidung der deutschen Behörde ausdrückliche Erwähnung gefunden hat.
21 Das vorlegende Gericht weist erstens darauf hin, dass der Grundsatz ne bis in idem in seiner „idem“-Komponente zu unterschiedlichen Auslegungen geführt habe. So ergebe sich im Bereich des Wettbewerbsrechts insbesondere aus dem Urteil vom 14. Februar 2012, Toshiba Corporation u. a. (C‑17/10, EU:C:2012:72, Rn. 97), dass dieser Grundsatz nur angewandt werden könne, wenn drei kumulative Kriterien erfüllt seien, nämlich die Identität des Sachverhalts, die Identität der Zuwiderhandelnden und die Identität des geschützten Rechtsguts. Dagegen habe der Gerichtshof in anderen Bereichen des Unionsrechts, insbesondere in den Urteilen vom 9. März 2006, Van Esbroeck (C‑436/04, EU:C:2006:165, Rn. 36), und vom 20. März 2018, Menci (C‑524/15, EU:C:2018:197, Rn. 35), das Kriterium der Identität des geschützten Rechtsguts außer Betracht gelassen.
22 Zweitens stellt sich dem vorlegenden Gericht die Frage, ob bei der Beurteilung der „idem“-Komponente neben anderen Gesichtspunkten die territorialen Auswirkungen von Kartellen, die in den Hoheitsgebieten verschiedener Mitgliedstaaten stattgefunden haben, entsprechend der Lösung in den Urteilen vom 18. Mai 2006, Archer Daniels Midland und Archer Daniels Midland Ingredients/Kommission (C‑397/03 P, EU:C:2006:328), vom 29. Juni 2006, Showa Denko/Kommission (C‑289/04 P, EU:C:2006:431), und vom 14. Februar 2012, Toshiba Corporation u. a. (C‑17/10, EU:C:2012:72, Rn. 99 bis 103), zu berücksichtigen sind.
23 Zum Ausgangsrechtsstreit führt das vorlegende Gericht aus, dass nach Ansicht der österreichischen Behörde bei der Geldbuße, die mit der endgültigen Entscheidung der deutschen Behörde verhängt worden sei, die Auswirkungen des Kartells in Österreich nicht berücksichtigt worden seien. Auch laut einer Stellungnahme des Vizepräsidenten der deutschen Behörde vom 28. Juni 2019 würden mit den Entscheidungen dieser Behörde grundsätzlich nur wettbewerbswidrige Auswirkungen in Deutschland geahndet. Das Oberlandesgericht Wien habe jedoch wegen der besonderen Bedeutung, die dem streitigen Telefonat in der endgültigen Entscheidung der deutschen Behörde beigemessen worden sei, das Gegenteil angenommen.
24 Als Zweites weist das vorlegende Gericht hinsichtlich des Nordzucker betreffenden Antrags auf Feststellung einer Zuwiderhandlung darauf hin, dass die österreichische Behörde diesem Unternehmen Kronzeugenbehandlung nach nationalem Recht gewährt habe. Da sich eine nationale Wettbewerbsbehörde nach dem Urteil vom 18. Juni 2013, Schenker & Co. u. a. (C‑681/11, EU:C:2013:404), ausnahmsweise darauf beschränken könne, eine Zuwiderhandlung festzustellen, ohne eine Geldbuße zu verhängen, stelle sich die Frage, ob der Grundsatz ne bis in idem auf ein solches Verfahren zur Feststellung einer Zuwiderhandlung anzuwenden sei. Der Gerichtshof habe nämlich u. a. in Rn. 94 des Urteils vom 14. Februar 2012, Toshiba Corporation u. a. (C‑17/10, EU:C:2012:72), entschieden, dass dieser Grundsatz nur in Verfahren zu beachten sei, die auf die Verhängung von Geldbußen gerichtet seien.
25 Unter diesen Umständen hat der Oberste Gerichtshof beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
1. Ist das in der wettbewerbsrechtlichen Rechtsprechung des Gerichtshofs für die Anwendbarkeit des Grundsatzes ne bis in idem aufgestellte dritte Kriterium, nämlich dass das gleiche geschützte Rechtsgut betroffen sein muss, auch dann anzuwenden, wenn die Wettbewerbsbehörden zweier Mitgliedstaaten berufen sind, für denselben Sachverhalt und in Bezug auf dieselben Personen neben nationalen Rechtsnormen auch dieselben europäischen Rechtsnormen (hier: Art. 101 AEUV) anzuwenden?
Bei Bejahung dieser Frage:
2. Liegt in einem solchen Fall der parallelen Anwendung europäischen und nationalen Wettbewerbsrechts das gleiche geschützte Rechtsgut vor?
3. Ist es darüber hinaus für die Anwendung des Grundsatzes ne bis in idem von Bedeutung, ob die zeitlich erste Geldbußenentscheidung der Wettbewerbsbehörde eines Mitgliedstaats die Auswirkungen des Wettbewerbsverstoßes in tatsächlicher Hinsicht auf jenen weiteren Mitgliedstaat berücksichtigt hat, dessen Wettbewerbsbehörde erst danach im von ihr geführten wettbewerbsrechtlichen Verfahren entschieden hat?
4. Liegt auch bei einem Verfahren, in dem wegen der Teilnahme eines Beteiligten am nationalen Kronzeugenprogramm nur dessen Zuwiderhandlung gegen Wettbewerbsrecht festgestellt werden kann, ein vom Grundsatz ne bis in idem beherrschtes Verfahren vor, oder kann eine solche bloße Feststellung der Zuwiderhandlung unabhängig vom Ergebnis eines früheren Verfahrens betreffend die Verhängung einer Geldbuße (in einem anderen Mitgliedstaat) erfolgen?
Zu den Vorlagefragen
Zur ersten und zur dritten Frage
26 Mit seiner ersten und seiner dritten Frage, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 50 der Charta dahin auszulegen ist, dass er es verwehrt, dass ein Unternehmen von der Wettbewerbsbehörde eines Mitgliedstaats wegen eines Verhaltens, das im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats einen wettbewerbswidrigen Zweck verfolgte oder eine wettbewerbswidrige Wirkung hatte, wegen Verstoßes gegen Art. 101 AEUV und die entsprechenden Bestimmungen des nationalen Wettbewerbsrechts verfolgt und gegebenenfalls mit einer Geldbuße belegt wird, obwohl dieses Verhalten bereits von einer Wettbewerbsbehörde eines anderen Mitgliedstaats in einer endgültigen Entscheidung erwähnt wurde, die sie in Bezug auf dieses Unternehmen am Ende eines Verfahrens wegen Verstoßes gegen Art. 101 AEUV und die entsprechenden Bestimmungen des Wettbewerbsrechts dieses anderen Mitgliedstaats erlassen hat.
27 In diesem Zusammenhang möchte das vorlegende Gericht insbesondere wissen, welche Kriterien für die Beurteilung maßgeblich sind, ob die beiden nationalen Wettbewerbsbehörden über denselben Sachverhalt entschieden haben.
Vorbemerkungen
28 Beim Grundsatz ne bis in idem handelt es sich um einen tragenden Grundsatz des Unionsrechts (Urteil vom 15. Oktober 2002, Limburgse Vinyl Maatschappij u. a./Kommission, C‑238/99 P, C‑244/99 P, C‑245/99 P, C‑247/99 P, C‑250/99 P bis C‑252/99 P und C‑254/99 P, EU:C:2002:582, Rn. 59), der nunmehr in Art. 50 der Charta niedergelegt ist.
29 Art. 50 der Charta bestimmt, dass „[n]iemand … wegen einer Straftat, derentwegen er bereits in der Union nach dem Gesetz rechtskräftig verurteilt oder freigesprochen worden ist, in einem Strafverfahren erneut verfolgt oder bestraft werden [darf]“. Der Grundsatz ne bis in idem verbietet somit eine Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen, die strafrechtlicher Natur im Sinne dieses Artikels sind, gegenüber derselben Person wegen derselben Tat (Urteil vom 20. März 2018, Menci, C‑524/15, EU:C:2018:197, Rn. 25 und die dort angeführte Rechtsprechung).
30 Für die vom vorlegenden Gericht vorzunehmende Beurteilung der strafrechtlichen Natur der in Rede stehenden Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen sind drei Kriterien maßgebend: erstens die rechtliche Einordnung der Zuwiderhandlung im innerstaatlichen Recht, zweitens die Art der Zuwiderhandlung und drittens der Schweregrad der dem Betroffenen drohenden Sanktion (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 5. Juni 2012, Bonda, C‑489/10, EU:C:2012:319, Rn. 37, und vom 20. März 2018, Menci, C‑524/15, EU:C:2018:197, Rn. 26 und 27).
31 Zu betonen ist insoweit, dass sich die Anwendung von Art. 50 der Charta nicht allein auf Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen beschränkt, die im nationalen Recht als „strafrechtlich“ eingestuft werden, sondern sich – unabhängig von einer solchen Einordnung im innerstaatlichen Recht – auf Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen erstreckt, die nach den beiden anderen in der vorstehenden Randnummer angeführten Kriterien strafrechtlicher Natur sind (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 20. März 2018, Menci, C‑524/15, EU:C:2018:197, Rn. 30).
32 Außerdem hat der Gerichtshof bereits entschieden, dass der Grundsatz ne bis in idem in wettbewerbsrechtlichen Verfahren, die auf die Verhängung von Geldbußen gerichtet sind, zu beachten ist. Dieser Grundsatz verbietet es im Bereich des Wettbewerbsrechts, dass ein Unternehmen wegen eines wettbewerbswidrigen Verhaltens, in Bezug auf das es in einer früheren, nicht mehr anfechtbaren Entscheidung mit einer Sanktion belegt oder für nicht verantwortlich erklärt wurde, erneut mit einer Sanktion belegt oder verfolgt wird (Urteile vom 14. Februar 2012, Toshiba Corporation u. a., C‑17/10, EU:C:2012:72, Rn. 94 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie vom 3. April 2019, Powszechny Zakład Ubezpieczeń na Życie, C‑617/17, EU:C:2019:283, Rn. 28).
33 Daraus folgt, dass die Anwendung des Grundsatzes ne bis in idem im Rahmen von wettbewerbsrechtlichen Verfahren zweierlei voraussetzt, nämlich zum einen, dass es eine frühere endgültige Entscheidung gibt (Voraussetzung „bis“), und zum anderen, dass bei der früheren Entscheidung und bei den späteren Verfolgungsmaßnahmen oder Entscheidungen auf dasselbe Verhalten abgestellt wird (Voraussetzung „idem“).
Zur Voraussetzung „bis“
34 Was die Voraussetzung „bis“ anbelangt, ist darauf hinzuweisen, dass es für die Annahme, dass eine Entscheidung über den einem zweiten Verfahren unterliegenden Sachverhalt endgültig entschieden hat, nicht nur erforderlich ist, dass diese Entscheidung rechtskräftig geworden ist, sondern auch, dass sie nach einer Prüfung in der Sache ergangen ist (vgl. entsprechend Urteil vom 5. Juni 2014, M, C‑398/12, EU:C:2014:1057, Rn. 28 und 30).
35 Im vorliegenden Fall ergibt sich aus den Feststellungen des vorlegenden Gerichts, dass die endgültige Entscheidung der deutschen Behörde eine endgültige frühere Entscheidung im Sinne der in der vorstehenden Randnummer angeführten Rechtsprechung darstellt.
Zur Voraussetzung „idem“
36 Was die Voraussetzung „idem“ betrifft, ergibt sich schon aus dem Wortlaut von Art. 50 der Charta, dass dieser es verbietet, dieselbe Person mehr als einmal wegen derselben Straftat in einem Strafverfahren zu verfolgen oder zu bestrafen.
37 Wie das vorlegende Gericht in seinem Vorabentscheidungsersuchen ausführt, richten sich die verschiedenen Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen, um die es im Ausgangsverfahren geht, gegen dieselben juristischen Personen, nämlich Nordzucker und Südzucker.
38 Für die Beurteilung, ob es sich um dieselbe Straftat handelt, ist nach gefestigter Rechtsprechung des Gerichtshofs das Kriterium der Identität der materiellen Tat maßgebend, verstanden als das Vorliegen einer Gesamtheit konkreter, unlösbar miteinander verbundener Umstände, die zum Freispruch oder zur rechtskräftigen Verurteilung des Betroffenen geführt haben. Art. 50 der Charta verbietet es somit, wegen derselben Tat mehrere Sanktionen strafrechtlicher Natur am Ende verschiedener zu diesem Zweck durchgeführter Verfahren zu verhängen (Urteile vom 20. März 2018, Menci, C‑524/15, EU:C:2018:197, Rn. 35, und vom 20. März 2018, Garlsson Real Estate u. a., C‑537/16, EU:C:2018:193, Rn. 37 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).
39 Ferner sind nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs die rechtliche Einordnung der Tat nach nationalem Recht und das geschützte Rechtsgut für die Feststellung, ob dieselbe Straftat vorliegt, nicht erheblich, da die Reichweite des in Art. 50 der Charta gewährten Schutzes nicht von einem Mitgliedstaat zum anderen unterschiedlich sein kann (Urteile vom 20. März 2018, Menci, C‑524/15, EU:C:2018:197, Rn. 36, und vom 20. März 2018, Garlsson Real Estate u. a., C‑537/16, EU:C:2018:193, Rn. 38).
40 Gleiches gilt für die Anwendung des in Art. 50 der Charta verankerten Grundsatzes ne bis in idem im Bereich des Wettbewerbsrechts der Union, da die Reichweite des mit dieser Bestimmung gewährten Schutzes, sofern im Unionsrecht nichts anderes bestimmt ist, nicht von einem Bereich des Unionsrechts zu einem anderen unterschiedlich sein kann (Urteil von heute, bpost, C‑117/20, Rn. 35).
41 Was das Kriterium der Identität der Tat betrifft, so lässt sich die Frage, ob die Unternehmen ein Verhalten an den Tag gelegt haben, mit dem eine Verhinderung, Einschränkung oder Verfälschung des Wettbewerbs bezweckt oder bewirkt wurde, nicht abstrakt beurteilen; vielmehr ist die Prüfung daran auszurichten, in welchem Gebiet, auf welchem Produktmarkt und in welchem Zeitraum mit dem entsprechenden Verhalten ein solcher Zweck verfolgt oder eine solche Wirkung entfaltet wurde (vgl. entsprechend Urteile vom 14. Februar 2012, Toshiba Corporation u. a., C‑17/10, EU:C:2012:72, Rn. 99, und vom 25. Februar 2021, Slovak Telekom, C‑857/19, EU:C:2021:139, Rn. 45).
42 Es ist Sache des für die Tatsachenfeststellungen allein zuständigen vorlegenden Gerichts, zu prüfen, ob sich der bei ihm anhängige Rechtsstreit auf dieselbe Tat bezieht, die zum Erlass der endgültigen Entscheidung der deutschen Behörde geführt hat, und zwar unter Berücksichtigung des von dieser Entscheidung betroffenen Gebiets, Produktmarkts und Zeitraums. Somit hat sich das vorlegende Gericht der Tragweite dieser Entscheidung zu vergewissern. Wie vom Generalanwalt in Nr. 68 seiner Schlussanträge ausgeführt, kann ein nationales Gericht gemäß Art. 12 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1/2003 mit Unterstützung der nationalen Wettbewerbsbehörde bei einer Wettbewerbsbehörde eines anderen Mitgliedstaats Zugang zu einer von dieser erlassenen Entscheidung sowie zu Informationen über deren Inhalt beantragen. Gleichwohl kann der Gerichtshof dem vorlegenden Gericht Hinweise zur Auslegung des Unionsrechts im Rahmen der Beurteilung dieser Tragweite geben.
43 Insoweit ergibt sich aus dem Akt, dass die Fragen des vorlegenden Gerichts im Speziellen den Punkt betreffen, dass die Verfolgungsmaßnahmen in Österreich auf einem tatsächlichen Umstand – dem streitigen Telefonat, bei dem über den österreichischen Zuckermarkt gesprochen wurde – beruhen, der bereits in der endgültigen Entscheidung der deutschen Behörde erwähnt worden war. Dem vorlegenden Gericht stellt sich die Frage, ob unter Berücksichtigung der Erwähnung des Telefonats in dieser Entscheidung die Voraussetzung der Identität der Tat erfüllt ist.
44 In diesem Zusammenhang ist in Anbetracht der oben in Rn. 41 dargestellten Rechtsprechung klarzustellen, dass die bloße Tatsache, dass eine Behörde eines Mitgliedstaats in einer Entscheidung, mit der ein Verstoß gegen das Wettbewerbsrecht der Union und die entsprechenden Bestimmungen des Rechts dieses Mitgliedstaats festgestellt wird, einen tatsächlichen Umstand erwähnt, der sich auf das Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats bezieht, nicht für die Annahme ausreichen kann, dass dieser tatsächliche Umstand der Grund für die Verfolgungsmaßnahmen ist oder von dieser Behörde als einer der Umstände angesehen wurde, die diesen Verstoß tatbestandlich begründen. Zu prüfen ist darüber hinaus, ob die besagte Behörde auf diesen tatsächlichen Umstand in der Tat eingegangen ist, um den Verstoß sowie die Verantwortlichkeit des Beschuldigten dafür festzustellen und gegebenenfalls eine Sanktion gegen ihn zu verhängen, damit davon auszugehen ist, dass der Verstoß das Hoheitsgebiet dieses anderen Mitgliedstaats umfasst (vgl. entsprechend Urteil vom 14. Februar 2012, Toshiba Corporation u. a., C‑17/10, EU:C:2012:72, Rn. 101 und 102).
45 Das vorlegende Gericht hat daher auf der Grundlage einer Würdigung aller relevanten Umstände zu prüfen, ob die endgültige Entscheidung der deutschen Behörde die Feststellung und Ahndung des in Rede stehenden Kartells dahin zum Gegenstand hatte, dass es sich seinem wettbewerbswidrigen Zweck oder seiner wettbewerbswidrigen Wirkung nach im Bezugszeitraum nicht nur auf den deutschen, sondern auch auf den österreichischen Markt erstreckte.
46 Im Rahmen dieser Würdigung ist insbesondere zu prüfen, ob sich die rechtlichen Beurteilungen, die die deutsche Behörde auf der Grundlage der in ihrer endgültigen Entscheidung festgestellten tatsächlichen Umstände vorgenommen hat, ausschließlich auf den deutschen Markt oder auch auf den österreichischen Zuckermarkt bezogen. Ebenfalls erheblich ist, ob die deutsche Behörde der Berechnung der Geldbuße auf der Grundlage des Umsatzes, der auf dem von dem Verstoß betroffenen Markt erzielt wurde, nur den in Deutschland erzielten Umsatz zugrunde gelegt hat (vgl. entsprechend Urteil vom 14. Februar 2012, Toshiba Corporation u. a., C‑17/10, EU:C:2012:72, Rn. 101).
47 Sollte das vorlegende Gericht nach Würdigung aller relevanten Umstände der Auffassung sein, dass das im Ausgangsverfahren in Rede stehende Kartell durch die endgültige Entscheidung der deutschen Behörde nicht wegen seines wettbewerbswidrigen Zwecks oder seiner wettbewerbswidrigen Wirkung im österreichischen Hoheitsgebiet festgestellt und geahndet wurde, müsste es feststellen, dass das bei ihm anhängige Verfahren nicht dieselbe Tat betrifft, die der endgültigen Entscheidung der deutschen Behörde zugrunde liegt, so dass der Grundsatz ne bis in idem im Sinne des Art. 50 der Charta weiteren Verfolgungsmaßnahmen und gegebenenfalls weiteren Sanktionen nicht entgegenstünde (vgl. entsprechend Urteil vom 14. Februar 2012, Toshiba Corporation u. a., C‑17/10, EU:C:2012:72, Rn. 103).
48 Sollte umgekehrt das vorlegende Gericht der Auffassung sein, dass das Kartell durch die endgültige Entscheidung der deutschen Behörde auch wegen seines wettbewerbswidrigen Zwecks oder seiner wettbewerbswidrigen Wirkung im österreichischen Hoheitsgebiet festgestellt und geahndet wurde, müsste es feststellen, dass das bei ihm anhängige Verfahren dieselbe Tat betrifft, die der endgültigen Entscheidung der deutschen Behörde zugrunde liegt. Eine entsprechende Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen und gegebenenfalls Sanktionen würde das in Art. 50 der Charta verbürgte Grundrecht einschränken.
Zur Rechtfertigung einer etwaigen Einschränkung des in Art. 50 der Charta verbürgten Grundrechts
49 Um dem vorlegenden Gericht eine vollständige Antwort zu geben, ist hinzuzufügen, dass eine Einschränkung des in Art. 50 der Charta verbürgten Grundrechts, wie sie in dem vorstehend in Rn. 48 angesprochenen Fall gegeben wäre, auf der Grundlage von Art. 52 Abs. 1 der Charta gerechtfertigt werden kann (Urteile vom 27. Mai 2014, Spasic, C‑129/14 PPU, EU:C:2014:586, Rn. 55 und 56, sowie vom 20. März 2018, Menci, C‑524/15, EU:C:2018:197‚ Rn. 40).
50 Nach Art. 52 Abs. 1 Satz 1 der Charta muss jede Einschränkung der Ausübung der in der Charta anerkannten Rechte und Freiheiten gesetzlich vorgesehen sein und den Wesensgehalt dieser Rechte und Freiheiten achten. Nach Art. 52 Abs. 1 Satz 2 dürfen Einschränkungen dieser Rechte und Freiheiten unter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit nur vorgenommen werden, wenn sie erforderlich sind und den von der Union anerkannten dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen oder den Erfordernissen des Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer tatsächlich entsprechen.
51 Was die in Art. 52 Abs. 1 Satz 2 der Charta genannten Voraussetzungen und genauer die Frage betrifft, ob die Einschränkung des in Art. 50 der Charta verbürgten Grundrechts durch eine Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen und gegebenenfalls Sanktionen durch zwei nationale Wettbewerbsbehörden einer dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzung entspricht, ist hervorzuheben, dass Art. 101 AEUV eine der öffentlichen Ordnung zuzurechnende zwingende Bestimmung ist, die Kartelle verbietet und das für das Funktionieren des Binnenmarkts unerlässliche Ziel verfolgt, zu garantieren, dass der Wettbewerb im Binnenmarkt nicht verfälscht wird (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 1. Juni 1999, Eco Swiss, C‑126/97, EU:C:1999:269, Rn. 36, und vom 13. Juli 2006, Manfredi u. a., C‑295/04 bis C‑298/04, EU:C:2006:461, Rn. 31).
52 In Anbetracht der Bedeutung, die die Rechtsprechung des Gerichtshofs dieser dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzung beimisst, kann eine Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen strafrechtlicher Natur gerechtfertigt sein, wenn zur Erreichung des betreffenden Ziels mit diesen Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen komplementäre Zwecke verfolgt werden, die gegebenenfalls verschiedene Aspekte desselben rechtswidrigen Verhaltens betreffen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 20. März 2018, Menci, C‑524/15, EU:C:2018:197, Rn. 44).
53 Insoweit stellt, was die Rolle der mitgliedstaatlichen Behörden bei der Wahrung des Wettbewerbsrechts der Union betrifft, Art. 3 Abs. 1 Satz 1 der Verordnung Nr. 1/2003 eine enge Verbindung zwischen dem Kartellverbot in Art. 101 AEUV und den entsprechenden Vorschriften des einzelstaatlichen Wettbewerbsrechts her. Wenn die nationale Wettbewerbsbehörde die Vorschriften des einzelstaatlichen Rechts, mit denen Kartelle verboten werden, auf eine Vereinbarung zwischen Unternehmen anwendet, die den Handel zwischen Mitgliedstaaten im Sinne von Art. 101 AEUV beeinträchtigen kann, ist sie nach Art. 3 Abs. 1 Satz 1 der Verordnung Nr. 1/2003 verpflichtet, parallel dazu auch Art. 101 AEUV anzuwenden (Urteile vom 14. Februar 2012, Toshiba Corporation u. a., C‑17/10, EU:C:2012:72, Rn. 77, und vom 13. Dezember 2012, Expedia, C‑226/11, EU:C:2012:795, Rn. 18).
54 Nach Art. 3 Abs. 2 Satz 1 der Verordnung Nr. 1/2003 darf die Anwendung des einzelstaatlichen Wettbewerbsrechts nicht zum Verbot von Kartellen führen, die den Handel zwischen Mitgliedstaaten zu beeinträchtigen geeignet sind, wenn sie den Wettbewerb im Sinne des Art. 101 Abs. 1 AEUV nicht einschränken (Urteil vom 13. Dezember 2012, Expedia, C‑226/11, EU:C:2012:795, Rn. 19).
55 Aus diesen Bestimmungen ergibt sich im Licht des achten Erwägungsgrundes der Verordnung Nr. 1/2003, dass die Anwendung der Bestimmungen des einzelstaatlichen Wettbewerbsrechts nicht zum Verbot von Vereinbarungen, Beschlüssen und aufeinander abgestimmten Verhaltensweisen im Sinne von Art. 101 Abs. 1 AEUV führen darf, wenn sie nicht auch nach dieser Bestimmung verboten sind. Sie darf mit anderen Worten nicht zu einem anderen Ergebnis führen, als es sich aus der Anwendung von Art. 101 Abs. 1 AEUV ergäbe.
56 Sollten zwei nationale Wettbewerbsbehörden denselben Sachverhalt verfolgen und ahnden, um die Beachtung des Kartellverbots nach Art. 101 AEUV und den entsprechenden Bestimmungen ihres jeweiligen nationalen Rechts sicherzustellen, würden diese beiden Behörden somit dieselbe dem Gemeinwohl dienende Zielsetzung verfolgen, zu gewährleisten, dass der Wettbewerb im Binnenmarkt nicht durch Vereinbarungen, Beschlüsse von Unternehmensvereinigungen oder aufeinander abgestimmte wettbewerbswidrige Verhaltensweisen verfälscht wird.
57 Unter diesen Umständen ist davon auszugehen, dass eine Kumulierung der Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen, da mit ihnen keine komplementären Zwecke verfolgt werden, die im Sinne der oben in Rn. 52 angeführten Rechtsprechung verschiedene Aspekte desselben Verhaltens betreffen, jedenfalls nicht nach Art. 52 Abs. 1 der Charta gerechtfertigt werden kann.
58 Nach alledem ist auf die erste und die dritte Frage zu antworten, dass Art. 50 der Charta dahin auszulegen ist, dass er es nicht verwehrt, dass ein Unternehmen von der Wettbewerbsbehörde eines Mitgliedstaats wegen eines Verhaltens, das im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats einen wettbewerbswidrigen Zweck verfolgte oder eine wettbewerbswidrige Wirkung hatte, wegen Verstoßes gegen Art. 101 AEUV und die entsprechenden Bestimmungen des nationalen Wettbewerbsrechts verfolgt und gegebenenfalls mit einer Geldbuße belegt wird, obwohl dieses Verhalten bereits von einer Wettbewerbsbehörde eines anderen Mitgliedstaats in einer endgültigen Entscheidung erwähnt wurde, die sie in Bezug auf dieses Unternehmen am Ende eines Verfahrens wegen Verstoßes gegen Art. 101 AEUV und die entsprechenden Bestimmungen des Wettbewerbsrechts dieses anderen Mitgliedstaats erlassen hat, sofern diese Entscheidung nicht auf der Feststellung eines wettbewerbswidrigen Zwecks oder einer wettbewerbswidrigen Wirkung im Hoheitsgebiet des erstgenannten Mitgliedstaats beruht.
Zur zweiten Frage
59 In Anbetracht der Antwort auf die erste und die dritte Frage braucht über die zweite Frage nicht entschieden zu werden.
Zur vierten Frage
60 Mit seiner vierten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 50 der Charta dahin auszulegen ist, dass ein Verfahren zur Durchsetzung des Wettbewerbsrechts, in dem wegen der Teilnahme des betroffenen Beteiligten am nationalen Kronzeugenprogramm ein Verstoß gegen das Wettbewerbsrecht lediglich festgestellt werden kann, dem Grundsatz ne bis in idem unterliegen kann.
61 Als Erstes ist daran zu erinnern, dass der Grundsatz ne bis in idem, wie sich aus der oben in Rn. 32 angeführten Rechtsprechung ergibt, im Bereich des Wettbewerbsrechts verbietet, dass ein Unternehmen wegen eines wettbewerbswidrigen Verhaltens, in Bezug auf das es in einer früheren, nicht mehr anfechtbaren Entscheidung mit einer Sanktion belegt oder für nicht verantwortlich erklärt wurde, erneut mit einer Sanktion belegt oder verfolgt wird.
62 Der Grundsatz ne bis in idem soll also verhindern, dass ein Unternehmen „erneut mit einer Sanktion belegt oder verfolgt“ wird, was voraussetzt, dass das betreffende Unternehmen in einer früheren, nicht mehr anfechtbaren Entscheidung mit einer Sanktion belegt oder für nicht verantwortlich erklärt wurde. Als Ausfluss des Grundsatzes res iudicata soll er Rechtssicherheit und Gerechtigkeit gewährleisten, indem er sicherstellt, dass wer einmal verfolgt und gegebenenfalls mit einer Sanktion belegt worden ist, die Sicherheit hat, für denselben Verstoß nicht noch einmal verfolgt zu werden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 3. April 2019, Powszechny Zakład Ubezpieczeń na Życie, C‑617/17, EU:C:2019:283, Rn. 29 und 33).
63 Daraus folgt, dass die Einleitung von Verfolgungsmaßnahmen strafrechtlicher Natur als solche unabhängig davon, ob diese Verfolgungsmaßnahmen tatsächlich zur Verhängung einer Sanktion führen, in den Anwendungsbereich des Grundsatzes ne bis in idem fallen kann.
64 Als Zweites ist darauf hinzuweisen, dass nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs Art. 101 AEUV sowie die Art. 5 und 23 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1/2003 dahin auszulegen sind, dass sich die nationalen Wettbewerbsbehörden, falls das Vorliegen eines Verstoßes gegen Art. 101 AEUV erwiesen ist, in Ausnahmefällen darauf beschränken können, diesen Verstoß festzustellen, ohne eine Geldbuße zu verhängen, wenn das betreffende Unternehmen an einem nationalen Kronzeugenprogramm teilgenommen hat (Urteil vom 18. Juni 2013, Schenker & Co. u. a., C‑681/11, EU:C:2013:404, Rn. 50). Um sicherzustellen, dass die Nichtfestsetzung einer Geldbuße im Rahmen eines nationalen Kronzeugenprogramms nicht das Erfordernis der wirksamen und einheitlichen Anwendung von Art. 101 AEUV beeinträchtigt, kann eine solche Behandlung nur unter ganz besonderen Umständen gewährt werden, z. B., wenn die Zusammenarbeit eines Unternehmens für die Aufdeckung und wirksame Ahndung des Kartells von entscheidender Bedeutung war (Urteil vom 18. Juni 2013, Schenker & Co. u. a., C‑681/11, EU:C:2013:404, Rn. 47 und 49).
65 Daraus folgt, wie vom Generalanwalt in Nr. 92 seiner Schlussanträge ausgeführt, dass einem Unternehmen, das ein Kronzeugenprogramm in Anspruch nehmen möchte, der Erlass oder die Ermäßigung einer Geldbuße keineswegs automatisch gewährleistet ist.
66 Unter diesen Umständen ist davon auszugehen, dass der Grundsatz ne bis in idem unbeschadet der Antwort auf die erste und die dritte Frage des vorlegenden Gerichts auf ein Verfahren zur Durchsetzung des Wettbewerbsrechts ungeachtet dessen Anwendung finden kann, dass aufgrund der Teilnahme des betreffenden Unternehmens, das bereits im Rahmen eines anderen, mit einer endgültigen Entscheidung abgeschlossenen Verfahrens verfolgt wurde, am nationalen Kronzeugenprogramm dieses neue Verfahren nur zur Feststellung eines Verstoßes gegen das Wettbewerbsrecht führen kann.
67 Nach alledem ist auf die vierte Frage zu antworten, dass Art. 50 der Charta dahin auszulegen ist, dass ein Verfahren zur Durchsetzung des Wettbewerbsrechts, in dem wegen der Teilnahme des betroffenen Beteiligten am nationalen Kronzeugenprogramm ein Verstoß gegen das Wettbewerbsrecht lediglich festgestellt werden kann, dem Grundsatz ne bis in idem unterliegen kann.
Kosten
68 Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Große Kammer) für Recht erkannt:
1. Art. 50 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union ist dahin auszulegen, dass er es nicht verwehrt, dass ein Unternehmen von der Wettbewerbsbehörde eines Mitgliedstaats wegen eines Verhaltens, das im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats einen wettbewerbswidrigen Zweck verfolgte oder eine wettbewerbswidrige Wirkung hatte, wegen Verstoßes gegen Art. 101 AEUV und die entsprechenden Bestimmungen des nationalen Wettbewerbsrechts verfolgt und gegebenenfalls mit einer Geldbuße belegt wird, obwohl dieses Verhalten bereits von einer Wettbewerbsbehörde eines anderen Mitgliedstaats in einer endgültigen Entscheidung erwähnt wurde, die sie in Bezug auf dieses Unternehmen am Ende eines Verfahrens wegen Verstoßes gegen Art. 101 AEUV und die entsprechenden Bestimmungen des Wettbewerbsrechts dieses anderen Mitgliedstaats erlassen hat, sofern diese Entscheidung nicht auf der Feststellung eines wettbewerbswidrigen Zwecks oder einer wettbewerbswidrigen Wirkung im Hoheitsgebiet des erstgenannten Mitgliedstaats beruht.
2. Art. 50 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union ist dahin auszulegen, dass ein Verfahren zur Durchsetzung des Wettbewerbsrechts, in dem wegen der Teilnahme des betroffenen Beteiligten am nationalen Kronzeugenprogramm ein Verstoß gegen das Wettbewerbsrecht lediglich festgestellt werden kann, dem Grundsatz
ne bis in idem
unterliegen kann.
Lenaerts
Bay Larsen
Arabadjiev
Jürimäe
Lycourgos
Regan
Jääskinen
Ziemele
Passer
Ilešič
von Danwitz
Kumin
Wahl
Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 22. März 2022.
Der Kanzler
A. Calot Escobar
Der Präsident
K. Lenaerts
(*1) Verfahrenssprache: Deutsch.
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Urteil des Gerichtshofs (Fünfte Kammer) vom 10. März 2022.#VI gegen Commissioners for Her Majesty's Revenue and Customs.#Vorabentscheidungsersuchen des Social Security Appeal Tribunal (Northern Ireland).#Vorlage zur Vorabentscheidung – Recht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten – Art. 21 AEUV – Richtlinie 2004/38/EG – Art. 7 Abs. 1 Buchst. b und Art. 16 – Kind, das Staatsangehöriger eines Mitgliedstaats ist und sich in einem anderen Mitgliedstaat aufhält – Abgeleitetes Aufenthaltsrecht des Elternteils, der die elterliche Fürsorge für dieses Kind tatsächlich wahrnimmt – Erfordernis eines umfassenden Krankenversicherungsschutzes – Kind, das über ein Recht auf Daueraufenthalt für einen Teil der betroffenen Zeiträume verfügt.#Rechtssache C-247/20.
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62020CJ0247
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ECLI:EU:C:2022:177
| 2022-03-10T00:00:00 |
Gerichtshof, Hogan
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62020CJ0247
URTEIL DES GERICHTSHOFS (Fünfte Kammer)
10. März 2022 (*1)
„Vorlage zur Vorabentscheidung – Recht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten – Art. 21 AEUV – Richtlinie 2004/38/EG – Art. 7 Abs. 1 Buchst. b und Art. 16 – Kind, das Staatsangehöriger eines Mitgliedstaat ist und sich in einem anderen Mitgliedstaat aufhält – Abgeleitetes Aufenthaltsrecht des Elternteils, der die elterliche Fürsorge für dieses Kind tatsächlich wahrnimmt – Erfordernis eines umfassenden Krankenversicherungsschutzes – Kind, das über ein Recht auf Daueraufenthalt für einen Teil der betroffenen Zeiträume verfügt“
In der Rechtssache C‑247/20
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Social Security Appeal Tribunal (Northern Ireland) (Gericht für Rechtsbehelfe betreffend die soziale Sicherheit [Nordirland], Vereinigtes Königreich) mit Entscheidung vom 11. März 2020, beim Gerichtshof eingegangen am 7. April 2020, in dem Verfahren
VI
gegen
The Commissioners for Her Majesty’s Revenue and Customs
erlässt
DER GERICHTSHOF (Fünfte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten E. Regan, des Präsidenten der Vierten Kammer C. Lycourgos sowie der Richter I. Jarukaitis, M. Ilešič (Berichterstatter) und A. Kumin,
Generalanwalt: G. Hogan,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
–
von VI, zunächst vertreten durch R. Drabble, QC, und M. Black, Solicitor, dann durch R. Drabble, QC, sowie C. Rothwell und S. Park, Solicitors,
–
der norwegischen Regierung, vertreten durch K. Moe Winther, L. Furuholmen, T. Hostvedt Aarthun und T. Midttun Tobiassen als Bevollmächtigte,
–
der Europäischen Kommission, vertreten durch E. Montaguti und J. Tomkin als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 30. September 2021
folgendes
Urteil
1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 21 AEUV sowie der Art. 7 und 16 der Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 und zur Aufhebung der Richtlinien 64/221/EWG, 68/360/EWG, 72/194/EWG, 73/148/EWG, 75/34/EWG, 75/35/EWG, 90/364/EWG, 90/365/EWG und 93/96/EWG (ABl. 2004, L 158, S. 77, und Berichtigung ABl. 2004, L 229, S. 35).
2 Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen VI und den Commissioners for Her Majesty’s Revenue & Customs (Steuer- und Zollverwaltung, Vereinigtes Königreich) (im Folgenden: HMRC) über das Recht von VI, sich in den Zeiträumen vom 1. Mai 2006 bis zum 20. August 2006 sowie vom 18. August 2014 bis zum 25. September 2016 im Vereinigten Königreich aufzuhalten und während dieser Zeiträume die Steuergutschrift für unterhaltsberechtigte Kinder und Kindergeld zu erhalten.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Richtlinie 2004/38
3 In den Erwägungsgründen 1, 2, 10 und 18 der Richtlinie 2004/38 heißt es:
„(1)
Die Unionsbürgerschaft verleiht jedem Bürger der Union das elementare und persönliche Recht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten vorbehaltlich der im Vertrag und in den Durchführungsvorschriften vorgesehenen Beschränkungen und Bedingungen frei zu bewegen und aufzuhalten.
(2) Die Freizügigkeit von Personen stellt eine der Grundfreiheiten des Binnenmarkts dar, der einen Raum ohne Binnengrenzen umfasst, in dem diese Freiheit gemäß den Bestimmungen des Vertrags gewährleistet ist.
…
(10) … Personen, die ihr Aufenthaltsrecht ausüben, [sollten] während ihres ersten Aufenthalts die Sozialhilfeleistungen des Aufnahmemitgliedstaats nicht unangemessen in Anspruch nehmen. Daher sollte das Aufenthaltsrecht von Unionsbürgern und ihren Familienangehörigen für eine Dauer von über drei Monaten bestimmten Bedingungen unterliegen.
…
(18) Um ein wirksames Instrument für die Integration in die Gesellschaft des Aufnahmemitgliedstaats darzustellen, in dem der Unionsbürger seinen Aufenthalt hat, sollte das einmal erlangte Recht auf Daueraufenthalt keinen Bedingungen unterworfen werden.“
4 Gemäß ihrem Art. 1 Buchst. a und b regelt die Richtlinie 2004/38 die Bedingungen, unter denen Unionsbürger und ihre Familienangehörigen das Recht auf Freizügigkeit und Aufenthalt innerhalb des Hoheitsgebiets der Mitgliedstaaten genießen, sowie das Recht auf Daueraufenthalt im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten.
5 Art. 2 („Begriffsbestimmungen“) dieser Richtlinie sieht vor:
„Im Sinne dieser Richtlinie bezeichnet der Ausdruck
1. ‚Unionsbürger‘ jede Person, die die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzt;
2. ‚Familienangehöriger‘
a)
den Ehegatten;
b)
den Lebenspartner, mit dem der Unionsbürger auf der Grundlage der Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats eine eingetragene Partnerschaft eingegangen ist, sofern nach den Rechtsvorschriften des Aufnahmemitgliedstaats die eingetragene Partnerschaft der Ehe gleichgestellt ist und die in den einschlägigen Rechtsvorschriften des Aufnahmemitgliedstaats vorgesehenen Bedingungen erfüllt sind;
c)
die Verwandten in gerader absteigender Linie des Unionsbürgers und des Ehegatten oder des Lebenspartners im Sinne von Buchstabe b), die das 21. Lebensjahr noch nicht vollendet haben oder denen von diesen Unterhalt gewährt wird;
d)
die Verwandten in gerader aufsteigender Linie des Unionsbürgers und des Ehegatten oder des Lebenspartners im Sinne von Buchstabe b), denen von diesen Unterhalt gewährt wird;
…“
6 Kapitel III der Richtlinie 2004/38 enthält in deren Art. 6 bis 15 die Bestimmungen über das Aufenthaltsrecht.
7 Art. 7 („Recht auf Aufenthalt für mehr als drei Monate“) dieser Richtlinie sieht in den Abs. 1 und 2 vor:
„(1) Jeder Unionsbürger hat das Recht auf Aufenthalt im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats für einen Zeitraum von über drei Monaten, wenn er
a)
Arbeitnehmer oder Selbstständiger im Aufnahmemitgliedstaat ist oder
b)
für sich und seine Familienangehörigen über ausreichende Existenzmittel verfügt, so dass sie während ihres Aufenthalts keine Sozialhilfeleistungen des Aufnahmemitgliedstaats in Anspruch nehmen müssen, und er und seine Familienangehörigen über einen umfassenden Krankenversicherungsschutz im Aufnahmemitgliedstaat verfügen oder
c)
–
bei einer privaten oder öffentlichen Einrichtung, die von dem Aufnahmemitgliedstaat aufgrund seiner Rechtsvorschriften oder seiner Verwaltungspraxis anerkannt oder finanziert wird, zur Absolvierung einer Ausbildung einschließlich einer Berufsausbildung als Hauptzweck eingeschrieben ist und
–
über einen umfassenden Krankenversicherungsschutz im Aufnahmemitgliedstaat verfügt und der zuständigen nationalen Behörde durch eine Erklärung oder durch jedes andere gleichwertige Mittel seiner Wahl glaubhaft macht, dass er für sich und seine Familienangehörigen über ausreichende Existenzmittel verfügt, so dass sie während ihres Aufenthalts keine Sozialhilfeleistungen des Aufnahmemitgliedstaats in Anspruch nehmen müssen, oder
d)
ein Familienangehöriger ist, der den Unionsbürger, der die Voraussetzungen des Buchstabens a), b) oder c) erfüllt, begleitet oder ihm nachzieht.
(2) Das Aufenthaltsrecht nach Absatz 1 gilt auch für Familienangehörige, die nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzen und die den Unionsbürger in den Aufnahmemitgliedstaat begleiten oder ihm nachziehen, sofern der Unionsbürger die Voraussetzungen des Absatzes 1 Buchstabe a), b) oder c) erfüllt.“
8 Art. 12 („Aufrechterhaltung des Aufenthaltsrechts der Familienangehörigen bei Tod oder Wegzug des Unionsbürgers“) der Richtlinie 2004/38 bestimmt in Abs. 2 Unterabs. 2:
„Bevor die Betroffenen das Recht auf Daueraufenthalt erwerben, bleibt ihr Aufenthaltsrecht an die Voraussetzung geknüpft, dass sie nachweisen können, dass sie Arbeitnehmer oder Selbstständige sind oder für sich und ihre Familienangehörigen über ausreichende Existenzmittel verfügen, so dass sie während ihres Aufenthalts keine Sozialhilfeleistungen des Aufnahmemitgliedstaats in Anspruch nehmen müssen, und dass sie über einen umfassenden Krankenversicherungsschutz im Aufnahmemitgliedstaat verfügen oder dass sie bereits im Aufnahmemitgliedstaat als Familienangehörige einer Person gelten, die diese Voraussetzungen erfüllt. …“
9 Art. 14 („Aufrechterhaltung des Aufenthaltsrechts“) dieser Richtlinie bestimmt in Abs. 2 Unterabs. 1:
„Unionsbürgern und ihren Familienangehörigen steht das Aufenthaltsrecht nach den Artikeln 7, 12 und 13 zu, solange sie die dort genannten Voraussetzungen erfüllen.“
10 Kapitel IV dieser Richtlinie enthält in deren Art. 16 bis 21 die Bestimmungen über das Recht auf Daueraufenthalt.
11 In Abschnitt I („Erwerb“) der Richtlinie 2004/38 steht Art. 16, der in den Abs. 1 und 2 bestimmt:
„(1) Jeder Unionsbürger, der sich rechtmäßig fünf Jahre lang ununterbrochen im Aufnahmemitgliedstaat aufgehalten hat, hat das Recht, sich dort auf Dauer aufzuhalten. Dieses Recht ist nicht an die Voraussetzungen des Kapitels III geknüpft.
(2) Absatz 1 gilt auch für Familienangehörige, die nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzen und die sich rechtmäßig fünf Jahre lang ununterbrochen mit dem Unionsbürger im Aufnahmemitgliedstaat aufgehalten haben.“
Verordnung (EU) Nr. 492/2011
12 Im ersten Erwägungsgrund der Verordnung (EU) Nr. 492/2011 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. April 2011 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Union (ABl. 2011, L 141, S. 1) heißt es:
„Die Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 des Rates vom 15. Oktober 1968 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Gemeinschaft [(ABl. 1968, L 257, S. 2)] wurde mehrfach und erheblich geändert. Aus Gründen der Klarheit und der Übersichtlichkeit empfiehlt es sich, die genannte Verordnung zu kodifizieren.“
13 Art. 10 der Verordnung Nr. 492/2011, der Art. 12 der Verordnung Nr. 1612/68 entspricht, bestimmt:
„Die Kinder eines Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats, der im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats beschäftigt ist oder beschäftigt gewesen ist, können, wenn sie im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats wohnen, unter den gleichen Bedingungen wie die Staatsangehörigen dieses Mitgliedstaats am allgemeinen Unterricht sowie an der Lehrlings- und Berufsausbildung teilnehmen.
Die Mitgliedstaaten fördern die Bemühungen, durch die diesen Kindern ermöglicht werden soll, unter den besten Voraussetzungen am Unterricht teilzunehmen.“
Austrittsabkommen
14 Mit seinem Beschluss (EU) 2020/135 des Rates vom 30. Januar 2020 über den Abschluss des Abkommens über den Austritt des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland aus der Europäischen Union und der Europäischen Atomgemeinschaft (ABl. 2020, L 29, S. 1) hat der Rat der Europäischen Union im Namen der Europäischen Union und der EAG dieses Abkommen (ABl. 2020, L 29, S. 7, im Folgenden: Austrittsabkommen), das diesem Beschluss beigefügt ist, genehmigt.
15 Art. 86 („Vor dem Gerichtshof der Europäischen Union anhängige Rechtssachen“) des Austrittsabkommens bestimmt in den Abs. 2 und 3:
„(2) Der Gerichtshof der Europäischen Union ist weiterhin für Vorabentscheidungsersuchen der Gerichte des Vereinigten Königreichs zuständig, die vor Ende des Übergangszeitraums vorgelegt werden.
(3) Für die Zwecke dieses Kapitels gilt ein Verfahren vor dem Gerichtshof der Europäischen Union zu dem Zeitpunkt als eingeleitet …, zu dem die Unterlagen zur Einleitung des Verfahrens von der Kanzlei des Gerichtshofs … registriert wurden.“
16 In Art. 89 Abs. 1 dieses Abkommens heißt es:
„Vor Ende des Übergangszeitraums ergehende Urteile und Beschlüsse des Gerichtshofs der Europäischen Union sowie nach Ende des Übergangszeitraums ergehende Urteile und Beschlüsse in Verfahren nach den Artikeln 86 und 87 sind in ihrer Gesamtheit für das Vereinigte Königreich und im Vereinigten Königreich rechtsverbindlich.“
17 Gemäß Art. 126 des Austrittsabkommens hat der Übergangszeitraum am Tag des Inkrafttretens dieses Abkommens begonnen, und zwar am 1. Februar 2020, und am 31. Dezember 2020 geendet.
Recht des Vereinigten Königreichs
18 Die Richtlinie 2004/38 wurde durch die Immigration (European Economic Area) Regulations 2006 (Verordnung von 2006 über die Einwanderung [Europäischer Wirtschaftsraum], im Folgenden: Einwanderungsverordnung von 2006) in das Recht des Vereinigten Königreichs umgesetzt. Die Bestimmungen dieser Verordnung wurden später mit den Immigration (European Economic Area) Regulations 2016 (Verordnung von 2016 über die Einwanderung [Europäischer Wirtschaftsraum], im Folgenden: Einwanderungsverordnung von 2016) kodifiziert.
19 Regulation 4(1) der Einwanderungsverordnung von 2016 definiert die in Art. 7 Abs. 1 Buchst. a bis c der Richtlinie 2004/38 beschriebenen unterschiedlichen Kategorien von Unionsbürgern, nämlich die der „Arbeitnehmer“, „Selbstständigen“, „wirtschaftlich unabhängigen Personen“ bzw. „Studenten“. Regulation 4(1)(c) der Einwanderungsverordnung von 2016 definiert eine „wirtschaftlich unabhängige Person“ als eine Person, die über ausreichende Existenzmittel verfügt, so dass sie während ihres Aufenthalts keine Sozialhilfeleistungen des Vereinigten Königreichs in Anspruch nehmen muss, und über einen umfassenden Krankenversicherungsschutz im Vereinigten Königreich verfügt.
20 In Regulation 4(3) der Einwanderungsverordnung von 2016 heißt es in Bezug auf die Familienangehörigen einer wirtschaftlich unabhängigen Person, deren Aufenthaltsrecht von dem dieser Person abhängt, dass das Erfordernis, über einen umfassenden Krankenversicherungsschutz im Vereinigten Königreich zu verfügen, nur dann erfüllt ist, wenn sich dieser Schutz sowohl auf diese Person als auch auf die Familienangehörigen erstreckt.
21 Regulation 6(1) der Einwanderungsverordnung von 2016 definiert den Begriff „berechtigte Personen“ für die Zwecke dieser Verordnung. Gemäß Regulation 6(1)(d) umfasst der Begriff „berechtigte Person“ u. a. wirtschaftlich selbständige Personen im Sinne von Regulation 4(1)(c) dieser Verordnung.
22 Nach Regulation 14(1) der Einwanderungsverordnung von 2016 hat eine berechtigte Person das Recht, sich so lange im Vereinigten Königreich aufzuhalten, wie sie dazu berechtigt bleibt.
23 Gemäß Regulation 15(1)(a) der Einwanderungsverordnung von 2016 erwirbt ein Staatsangehöriger des Europäischen Wirtschaftsraums (EWR), der sich in Übereinstimmung mit der vorliegenden Verordnung während eines ununterbrochenen Zeitraums von fünf Jahren im Vereinigten Königreich aufgehalten hat, das Recht auf Daueraufenthalt. Gemäß dieser Regulation 15(1)(b) gilt dasselbe für einen Familienangehörigen eines EWR-Bürgers, der selbst nicht Staatsangehöriger eines Mitgliedstaats ist, sich aber in Einklang mit dieser Verordnung zusammen mit diesem Staatsangehörigen während eines ununterbrochenen Zeitraums von fünf Jahren im Vereinigten Königreich aufgehalten hat.
24 Regulation 16 der Einwanderungsverordnung von 2016, die Regulation 15a der Einwanderungsverordnung von 2006 entspricht, sieht die Voraussetzungen vor, unter denen einer Person ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht im Vereinigten Königreich zuerkannt werden kann. Gemäß Regulation 16(1) und (2) der Einwanderungsverordnung von 2016 hat eine Person, die die elterliche Fürsorge für einen im Vereinigten Königreich wohnenden EWR-Bürger tatsächlich wahrnimmt, ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht in diesem Staat, wenn der betreffende EWR-Bürger das 18. Lebensjahr noch nicht vollendet hat, sich im Vereinigten Königreich als wirtschaftlich unabhängige Person aufhält und nicht in der Lage wäre, im Vereinigten Königreich zu bleiben, wenn die Person das Vereinigte Königreich für einen unbestimmten Zeitraum verlassen würde.
Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefragen
25 VI ist eine pakistanische Staatsangehörige, die mit ihrem Ehemann, der ebenfalls pakistanischer Staatsangehöriger ist, und ihren vier Kindern in Nordirland (Vereinigtes Königreich) wohnt. Im Jahr 2004 wurde dort ihr Sohn geboren, der die irische Staatsangehörigkeit besitzt.
26 VI und ihr Ehemann verfügen über die notwendigen Mittel, um für ihren Lebensunterhalt und den ihrer Familie aufzukommen. Insbesondere arbeitete der Ehemann von VI während der gesamten im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Zeiträume und war steuerpflichtig. VI, die sich zunächst um ihre Kinder kümmerte, arbeitet seit April 2016 und ist seitdem steuerpflichtig.
27 Zwischen den Parteien des Ausgangsverfahrens ist unstreitig, dass VI und ihre Familie zumindest im Zeitraum vom 17. August 2006 bis zum 16. August 2014 über einen umfassenden Krankenversicherungsschutz verfügten und dass VI infolgedessen gemäß Regulation 15a(1) und (2) der Einwanderungsverordnung von 2006 als Person, die die elterliche Fürsorge für ein Kind, das ein „wirtschaftlich unabhängiger“ EWR-Bürger ist, tatsächlich wahrnimmt, über ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht verfügte.
28 Zwischen den Parteien ist auch unstreitig, dass der Sohn von VI wegen seines rechtmäßigen Aufenthalts im Vereinigten Königreich während eines ununterbrochenen Zeitraums von fünf Jahren ein Recht auf Daueraufenthalt im Vereinigten Königreich erlangt hat.
29 Streitig ist zwischen den Parteien des Ausgangsverfahrens hingegen der Anspruch von VI auf eine Steuergutschrift für Kinder und Kindergeld für die Zeiträume vom 1. Mai 2006 bis zum 20. August 2006 und vom 18. August 2014 bis zum 25. September 2016. Die beiden Klagen, die die Rechtsstreitigkeiten im Ausgangsverfahren betreffen und vor dem vorlegenden Gericht anhängig sind, wurden von diesem für die Zwecke des vorliegenden Vorabentscheidungsersuchens mit der Begründung verbunden, dass sie denselben Gegenstand haben, und zwar das Recht von VI, sich während der fraglichen Zeiträume im Vereinigten Königreich aufzuhalten.
30 Nach Ansicht von HMRC ist ein solches Recht nämlich nicht gegeben, da VI während dieser Zeiträume über keinen umfassenden Krankenversicherungsschutz verfügt habe. Infolgedessen könne sie für diese Zeiträume weder die Steuergutschrift für Kinder noch Kindergeld in Anspruch nehmen. Dennoch erkennt HMRC nunmehr an, dass der eventuell zu viel gezahlte Betrag nicht von VI zurückgefordert werden könne, da sie weder falsche Angaben gemacht noch es unterlassen habe, wesentliche Tatsachen mitzuteilen.
31 Unter diesen Umständen hat das Social Security Appeal Tribunal (Northern Ireland) (Gericht für Rechtsbehelfe betreffend die soziale Sicherheit, Nordirland, Vereinigtes Königreich) das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:
1. Muss ein Kind, das als Staatsangehöriger eines Staates des EWR dauerhaft aufenthaltsberechtigt ist, einen umfassenden Krankenversicherungsschutz behalten, um ein Aufenthaltsrecht zu behalten, wie es bei ihm als einer wirtschaftlich unabhängigen Person gemäß Regulation 4(1) der Einwanderungsverordnung 2016 der Fall wäre?
2. Stellt das Erfordernis gemäß Regulation 4(3)(b) der Einwanderungsverordnung von 2016 (wonach das Kriterium eines umfassenden Krankenversicherungsschutzes im Vereinigten Königreich bei einer Person, die ein Studium absolviert oder wirtschaftliche Unabhängigkeit gemäß Regulation 16[2][b][ii] dieser Verordnung besitzt, nur dann erfüllt ist, wenn ein solcher Schutz sich sowohl auf diese Person als auch auf alle ihre relevanten Familienangehörigen erstreckt) angesichts von Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 und des Urteils des Gerichtshofs vom 23. Februar 2010, Teixeira (C‑480/08, EU:C:2010:83, Rn. 70), einen Verstoß gegen das Unionsrecht dar?
3. Sind nach dem Urteil von 2014 in der Rechtssache Ahmad v. Secretary of State for the Home Department (Civ 988, Rn. 53) die zwischen dem Vereinigten Königreich und der Republik Irland geltenden gegenseitigen Vereinbarungen über das gemeinsame Reisegebiet im Hinblick auf den Krankenversicherungsschutz als „Vereinbarungen auf Gegenseitigkeit“ zu betrachten, und begründen sie daher einen umfassenden Krankenversicherungsschutz im Sinne von Regulation 4(1) der Einwanderungsverordnung von 2016?
Zur Zuständigkeit des Gerichtshofs
32 Nach ständiger Rechtsprechung hat der Gerichtshof zur Prüfung seiner eigenen Zuständigkeit die Umstände zu untersuchen, unter denen er von dem nationalen Gericht angerufen wird (Urteil vom 15. Juli 2021, The Department for Communities in Northern Ireland, C‑709/20, EU:C:2021:602, Rn. 45 und die dort angeführte Rechtsprechung).
33 Nach Art. 19 Abs. 3 Buchst. b EUV und Art. 267 Abs. 1 AEUV ist der Gerichtshof dafür zuständig, im Wege der Vorabentscheidung über die Auslegung des Unionsrechts oder über die Gültigkeit der Handlungen der Unionsorgane zu entscheiden. Wird in einem Verfahren vor einem Gericht eines Mitgliedstaats eine vorlagefähige Frage gestellt und hält dieses Gericht eine Entscheidung darüber zum Erlass seines Urteils für erforderlich, kann es die Frage dem Gerichtshof zur Entscheidung vorlegen (Art. 267 Abs. 2 AEUV).
34 Im vorliegenden Fall ist festzustellen, dass das Vereinigte Königreich am 1. Februar 2020, dem Tag, an dem das Austrittsabkommen in Kraft getreten ist, aus der Union ausgetreten und damit zu einem Drittstaat geworden ist. Die Gerichte des Vereinigten Königreichs können seitdem nicht mehr als Gerichte eines Mitgliedstaats angesehen werden.
35 In diesem Abkommen ist in Art. 126 jedoch ein Übergangszeitraum vom 1. Februar 2020 (Inkrafttreten des Abkommens) bis zum 31. Dezember 2020 vorgesehen. Art. 127 des Abkommens bestimmt, dass das Unionsrecht, sofern in dem Abkommen nichts anderes bestimmt ist, während des Übergangszeitraums für das Vereinigte Königreich sowie im Vereinigten Königreich gilt, die gleichen Rechtswirkungen wie innerhalb der Union und ihrer Mitgliedstaaten entfaltet und nach denselben Methoden und allgemeinen Grundsätzen ausgelegt und angewendet wird, die auch innerhalb der Union gelten.
36 Weiter sieht Art. 86 des Austrittsabkommens vor, dass der Gerichtshof weiterhin für Vorabentscheidungsersuchen der Gerichte des Vereinigten Königreichs zuständig ist, die vor Ende des Übergangszeitraums vorgelegt werden (Abs. 2), und dass ein Vorabentscheidungsersuchen zu dem Zeitpunkt als vorgelegt in diesem Sinne gilt, zu dem die Unterlagen zur Einleitung des Verfahrens von der Kanzlei des Gerichtshofs registriert wurden (Abs. 3).
37 Das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen ist am 7. April 2020, also vor dem Ende des Übergangszeitraums, von einem Gericht des Vereinigten Königreichs im Rahmen der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Rechtsstreitigkeiten über das Recht von VI zum Aufenthalt im Vereinigten Königreich in den Zeiträumen vom 1. Mai 2006 bis 20. August 2006 sowie vom 18. August 2014 bis 25. September 2016 und ihren Anspruch auf die Steuergutschrift für Kinder sowie Kindergeld in diesen Zeiträumen beim Gerichtshof eingereicht worden.
38 Daraus folgt zum einen, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Situation Zeiträume vor dem Austritt des Vereinigten Königreichs aus der Union und vor dem Ablauf des Übergangszeitraums betrifft und damit in den zeitlichen Anwendungsbereich des Unionsrechts fällt. Zum anderen ist der Gerichtshof gemäß Art. 86 Abs. 2 dieses Abkommens dafür zuständig, im Wege der Vorabentscheidung über das Ersuchen des vorlegenden Gerichts zu entscheiden, soweit damit um eine Auslegung ersucht wird.
Zum Antrag auf Entscheidung im beschleunigten Verfahren
39 Das vorlegende Gericht hat beantragt, die vorliegende Rechtssache dem beschleunigten Verfahren gemäß Art. 105 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs zu unterwerfen. Zwar hat das vorlegende Gericht diesen Antrag nicht selbst begründet, aus seiner Vorlageentscheidung geht jedoch hervor, dass dieser infolge eines entsprechenden Antrags von VI gestellt wurde und dass VI die Erforderlichkeit eines Rückgriffs auf dieses Verfahren erstens mit dem Ablauf des vom Austrittsabkommen vorgesehenen Übergangszeitraums am 31. Dezember 2020, nach dem eine Durchführung eines Urteils des Gerichtshofs schwieriger werde, zweitens mit der Tatsache, dass HMRC immer noch versuche, Beträge zurückzufordern, die seiner Ansicht nach zu Unrecht als Steuergutschrift für unterhaltsberechtigte Kinder gezahlt worden seien, und drittens mit der Tatsache begründet, dass VI seit Oktober 2016 nicht die Sozialleistungen beziehe, auf die sie ihrer Ansicht nach Anspruch hat.
40 Nach Art. 105 Abs. 1 der Verfahrensordnung kann der Präsident des Gerichtshofs auf Antrag des vorlegenden Gerichts oder ausnahmsweise von Amts wegen, nach Anhörung des Berichterstatters und des Generalanwalts, entscheiden, eine Vorlage zur Vorabentscheidung einem beschleunigten Verfahren zu unterwerfen, wenn die Art der Rechtssache ihre rasche Erledigung erfordert.
41 Ein solches beschleunigtes Verfahren ist ein Verfahrensinstrument, mit dem auf eine außerordentliche Dringlichkeitssituation reagiert werden soll (Urteil vom 21. Dezember 2021, Randstad Italia, C‑497/20, EU:C:2021:1037, Rn. 37 und die dort angeführte Rechtsprechung).
42 Im vorliegenden Fall hat der Präsident des Gerichtshofs mit Entscheidung vom 20. Juli 2020 nach Anhörung des Berichterstatters und des Generalanwalts den Antrag, die vorliegende Rechtssache dem beschleunigten Verfahren zu unterwerfen, zurückgewiesen.
43 Was erstens das Vorbringen hinsichtlich des Ablaufs des vom Austrittsabkommen vorgesehenen Übergangszeitraums betrifft, geht aus Art. 89 Abs. 1 dieses Abkommens in Verbindung mit seinem Art. 86 Abs. 2 hervor, dass die Vorabentscheidungen, die der Gerichtshof nach dem Ende des Übergangszeitraums auf Ersuchen eines Gerichts des Vereinigten Königreichs, das vor dem Ende dieses Zeitraums gestellt wurde, erlässt, in ihrer Gesamtheit für das Vereinigte Königreich und im Vereinigten Königreich rechtsverbindlich sind.
44 Was zweitens das Vorbringen betrifft, HMRC versuche immer noch, Beträge zurückzufordern, die seiner Ansicht nach unrechtmäßig als Steuergutschrift für unterhaltsberechtigte Kinder gezahlt worden seien, geht aus den in Rn. 30 des vorliegenden Urteils zusammengefassten Tatsachenfeststellungen des vorlegenden Gerichts in seinem Vorabentscheidungsersuchen – für die es allein zuständig ist – hervor, dass HMRC nunmehr anerkenne, dass der zu viel gezahlte Betrag nicht von VI zurückgefordert werden könne, da sie weder falsche Angaben gemacht noch es unterlassen habe, wesentliche Tatsachen mitzuteilen.
45 Drittens ist in Bezug auf die Tatsache, dass VI seit Oktober 2016 nicht die Sozialleistungen bezieht, auf die sie ihrer Ansicht nach Anspruch hat, festzustellen, dass, selbst wenn die gerichtlichen Entscheidungen in den im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Rechtsstreitigkeiten, die vor diesem Zeitpunkt liegende Zeiträume betreffen, eine Pflicht für HMRC begründen sollten, diese Leistungen auch für danach liegende Zeiträume zu zahlen, aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten nicht hervorgeht, dass, wenn diese Leistungen nicht gezahlt würden, VI und ihre Familie einer Situation von Bedürftigkeit ausgesetzt wären, die den Rückgriff auf das beschleunigte Verfahren rechtfertigen würde (vgl. hierzu Urteil vom 15. Juli 2021, The Department for Communities in Northern Ireland, C‑709/20, EU:C:2021:602, Rn. 44). Weder das bloße Interesse der Rechtsunterworfenen – so bedeutend und legitim es auch sein mag – an einer möglichst raschen Klärung des Umfangs der ihnen aus dem Unionsrecht erwachsenden Rechte noch der wirtschaftlich und sozial sensible Charakter einer Rechtssache erfordern für sich allein genommen, dass diese im Sinne von Art. 105 Abs. 1 der Verfahrensordnung rasch erledigt wird (vgl. in diesem Sinne Beschluss vom 26. November 2020, DSK Bank und FrontEx International, C‑807/19, EU:C:2020:967, Rn. 38).
46 Unter diesen Umständen ist in Anbetracht der dem Gerichtshof vorgelegten Informationen nicht ersichtlich, dass die vorliegende Rechtssache derart dringlich ist, dass es gerechtfertigt wäre, ausnahmsweise von den allgemeinen Vorschriften für Vorlagen zur Vorabentscheidung abzuweichen.
Zu den Vorlagefragen
Vorbemerkungen
47 Das in Art. 267 AEUV errichtete System der Zusammenarbeit beruht auf einer klaren Aufgabentrennung zwischen den nationalen Gerichten und dem Gerichtshof. Im Rahmen eines gemäß diesem Artikel eingeleiteten Verfahrens ist die Auslegung der nationalen Vorschriften Sache der Gerichte der Mitgliedstaaten und nicht des Gerichtshofs, und es kommt diesem nicht zu, sich zur Vereinbarkeit von Vorschriften des innerstaatlichen Rechts mit den Bestimmungen des Unionsrechts zu äußern. Dagegen ist der Gerichtshof befugt, dem nationalen Gericht alle Hinweise zur Auslegung des Unionsrechts zu geben, die es diesem Gericht ermöglichen, die Vereinbarkeit nationaler Rechtsvorschriften mit dem Unionsrecht zu beurteilen (Urteil vom 18. November 2020, Syndicat CFTC, C‑463/19, EU:C:2020:932, Rn. 29 und die dort angeführte Rechtsprechung).
48 Zudem ist es im Rahmen dieses Verfahrens der Zusammenarbeit Aufgabe des Gerichtshofs, dem nationalen Gericht eine für die Entscheidung des bei ihm anhängigen Rechtsstreits sachdienliche Antwort zu geben. Hierzu hat der Gerichtshof die ihm vorgelegten Fragen gegebenenfalls umzuformulieren (Urteil vom 15. Juli 2021, The Department for Communities in Northern Ireland, C‑709/20, EU:C:2021:602, Rn. 61 und die dort angeführte Rechtsprechung). Der Gerichtshof hat insoweit aus dem gesamten vom nationalen Gericht vorgelegten Material, insbesondere aus der Begründung der Vorlageentscheidung, diejenigen Elemente des Unionsrechts herauszuarbeiten, die unter Berücksichtigung des Gegenstands des Rechtsstreits einer Auslegung bedürfen (Urteil vom 13. September 2016, Rendón Marín, C‑165/14, EU:C:2016:675, Rn. 34 und die dort angeführte Rechtsprechung).
49 Im vorliegenden Fall geht aus der Vorlageentscheidung hervor, dass zwischen den Parteien des Ausgangsverfahrens unstreitig ist, dass VI über ausreichende Mittel verfügt, um für ihren Lebensunterhalt sowie den ihres Sohnes, eines 2004 geborenen Unionsbürgers, aufzukommen, und dass sie zumindest im Zeitraum vom 17. August 2006 bis zum 16. August 2014 über einen umfassenden Krankenversicherungsschutz verfügten. Daraus folgt, dass der Sohn von VI und sie selbst als Elternteil, der die elterliche Fürsorge für ihn tatsächlich wahrnimmt, während dieses gesamten Zeitraums über ein Recht zum Aufenthalt im Vereinigten Königreich nach Art. 21 Abs. 1 (AEUV) sowie Art. 7 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2004/38 verfügten (vgl. entsprechend Urteile vom 19. Oktober 2004, Zhu und Chen, C‑200/02, EU:C:2004:639, Rn. 42 bis 47, sowie vom 13. September 2016, Rendón Marín, C‑165/14, EU:C:2016:675, Rn. 41 bis 53).
50 Da sich der Sohn von VI während eines ununterbrochenen Zeitraums von mehr als fünf Jahren rechtmäßig im Vereinigten Königreich aufgehalten hat, hat er gemäß Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 spätestens am 17. August 2011 ein Recht auf Daueraufenthalt in diesem Staat erlangt.
51 Die Streitigkeiten im Ausgangsverfahren betreffen den Anspruch von VI auf die Steuergutschrift für unterhaltsberechtigte Kinder und Kindergeld für einen Zeitraum vor dem 17. August 2006, während dessen ihr Sohn noch nicht über ein Recht auf Daueraufenthalt gemäß Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 im Vereinigten Königreich verfügte, und für einen Zeitraum nach dem 16. August 2014, während dessen er über ein solches Recht verfügte. Nach Ansicht von HMRC kann VI für diese Zeiträume weder die Steuergutschrift für unterhaltsberechtigte Kinder noch Kindergeld in Anspruch nehmen, weil sie während dieser Zeiträume keinen umfassenden Krankenversicherungsschutz gehabt habe und infolgedessen über kein abgeleitetes Aufenthaltsrecht im Vereinigten Königreich verfügt habe.
52 Mit seinen Fragen möchte das vorlegende Gericht ermitteln, inwiefern das in Art. 7 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2004/38 vorgesehene Erfordernis, im Aufnahmemitgliedstaat über einen umfassenden Krankenversicherungsschutz zu verfügen, auf VI und ihren Sohn während dieser Zeiträume anwendbar war und, gegebenenfalls, ob der Versicherungsschutz, über den sie verfügten, zur Erfüllung dieses Erfordernisses ausreichend war. Die Fragen sind daher in diesem Sinne umzuformulieren.
Zur ersten Frage
53 Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 21 AEUV und Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 dahin auszulegen sind, dass ein Kind, das Unionsbürger ist und ein Recht auf Daueraufenthalt erworben hat, und der Elternteil, der die elterliche Fürsorge für das Kind tatsächlich wahrnimmt, verpflichtet sind, über einen umfassenden Krankenversicherungsschutz im Sinne von Art. 7 Abs. 1 Buchst. b dieser Richtlinie zu verfügen, um ihr Recht zum Aufenthalt im Aufnahmemitgliedstaat zu behalten.
54 In Bezug auf dieses Kind, das Unionsbürger ist, ist festzustellen, dass Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 ausdrücklich bestimmt, dass das Recht auf Daueraufenthalt, das jeder Unionsbürger, der sich rechtmäßig fünf Jahre lang ununterbrochen im Aufnahmemitgliedstaat aufgehalten hat, erwirbt, „nicht an die Voraussetzungen des Kapitels III geknüpft [ist]“. Dieses Recht unterliegt daher insbesondere nicht den in Art. 7 Abs. 1 Buchst. b dieser Richtlinie vorgesehenen Voraussetzungen, für sich und seine Familienangehörigen über ausreichende Existenzmittel sowie einen umfassenden Krankenversicherungsschutz zu verfügen.
55 Im 18. Erwägungsgrund dieser Richtlinie heißt es hierzu, dass, „[u]m ein wirksames Instrument für die Integration in die Gesellschaft des Aufnahmemitgliedstaats darzustellen, in dem der Unionsbürger seinen Aufenthalt hat, … das einmal erlangte Recht auf Daueraufenthalt keinen Bedingungen unterworfen werden [sollte]“.
56 In Bezug auf den Elternteil, der Staatsangehöriger eines Drittlands ist und die elterliche Fürsorge für dieses Kind tatsächlich wahrnimmt, ist festzustellen, dass Art. 16 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38, wonach Abs. 1 dieses Artikels auch für Familienangehörige gilt, die nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzen und sich rechtmäßig fünf Jahre lang ununterbrochen mit dem Unionsbürger im Aufnahmemitgliedstaat aufgehalten haben, nicht auf die Situation eines solchen Elternteils anwendbar ist.
57 Wie aus Art. 2 Nr. 2 der Richtlinie 2004/38 hervorgeht, ist der Begriff „Familienangehöriger“ im Sinne dieser Richtlinie nämlich, was die Verwandten in aufsteigender Linie eines Unionsbürgers betrifft, auf die „Verwandten in gerader aufsteigender Linie …, denen … Unterhalt gewährt wird“, beschränkt. Folglich kann sich, wenn einem minderjährigen Unionsbürger von seinem Elternteil, der Staatsangehöriger eines Drittlands ist, Unterhalt gewährt wird, dieser Elternteil nicht auf die Eigenschaft als Verwandter in aufsteigender Linie, dem „Unterhalt gewährt“ wird, im Sinne dieser Richtlinie berufen, um in den Genuss eines Aufenthaltsrechts im Aufnahmemitgliedstaat zu gelangen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 13. September 2016, Rendón Marín, C‑165/14, EU:C:2016:675, Rn. 50 und die dort angeführte Rechtsprechung).
58 Allerdings beinhaltet nach gefestigter Rechtsprechung das Recht auf Daueraufenthalt im Aufnahmemitgliedstaat, das dem minderjährigen Staatsangehörigen eines anderen Mitgliedstaats vom Unionsrecht verliehen wird, zur Sicherstellung seiner praktischen Wirksamkeit nach Art. 21 AEUV zwangsläufig ein Recht für den Elternteil, der die elterliche Fürsorge für diesen minderjährigen Unionsbürger tatsächlich wahrnimmt, sich mit ihm im Aufnahmemitgliedstaat aufzuhalten, und zwar unabhängig von der Staatsangehörigkeit dieses Elternteils (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 19. Oktober 2004, Zhu und Chen, C‑200/02, EU:C:2004:639, Rn. 45 und 46, sowie vom 13. September 2016, Rendón Marín, C‑165/14, EU:C:2016:675, Rn. 51 und 52).
59 Daraus folgt, dass die Unanwendbarkeit der u. a. in Art. 7 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2004/38 genannten Voraussetzungen infolge des Erwerbs eines Rechts auf Daueraufenthalt nach Art. 16 Abs. 1 dieser Richtlinie durch diesen Minderjährigen sich gemäß Art. 21 AEUV auf diesen Elternteil erstreckt.
60 Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 21 AEUV und Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 dahin auszulegen sind, dass weder das Kind, das Unionsbürger ist und ein Recht auf Daueraufenthalt erworben hat, noch der Elternteil, der die elterliche Fürsorge für das Kind tatsächlich wahrnimmt, verpflichtet sind, über einen umfassenden Krankenversicherungsschutz im Sinne von Art. 7 Abs. 1 Buchst. b dieser Richtlinie zu verfügen, um ihr Recht zum Aufenthalt im Aufnahmemitgliedstaat zu behalten.
Zur zweiten Frage
61 Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 21 AEUV und Art. 7 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2004/38 dahin auszulegen sind, dass in den Zeiträumen, bevor ein Kind, das Unionsbürger ist, ein Recht auf Daueraufenthalt im Aufnahmemitgliedstaat erworben hat, sowohl dieses Kind, wenn ein Aufenthaltsrecht zu seinen Gunsten auf der Grundlage dieses Art. 7 Abs. 1 Buchst. b beansprucht wird, als auch der Elternteil, der die elterliche Fürsorge für das Kind tatsächlich wahrnimmt, über einen umfassenden Krankenversicherungsschutz im Sinne dieser Richtlinie verfügen müssen.
62 Gemäß Art. 7 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2004/38 hat jeder Unionsbürger das Recht auf Aufenthalt im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats für einen Zeitraum von über drei Monaten, aber weniger als fünf Jahren, wenn er „für sich und seine Familienangehörigen über ausreichende Existenzmittel verfügt, so dass sie während ihres Aufenthalts keine Sozialhilfeleistungen des Aufnahmemitgliedstaats in Anspruch nehmen müssen, und er und seine Familienangehörigen über einen umfassenden Krankenversicherungsschutz im Aufnahmemitgliedstaat verfügen“.
63 Wie der Generalanwalt in den Nrn. 48 und 49 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, enthält der Wortlaut dieser Bestimmung in seiner englischen Sprachfassung zwar eine gewisse Mehrdeutigkeit, doch geht aus anderen Sprachfassungen dieser Bestimmung wie der deutschen, der spanischen, der französischen und der italienischen sowie aus der allgemeinen Systematik und dem Ziel der Richtlinie 2004/38 eindeutig hervor, dass gemäß dieser Bestimmung nicht nur der Unionsbürger, sondern auch seine Familienangehörigen, die mit ihm im Aufnahmemitgliedstaat wohnen, über einen umfassenden Krankenversicherungsschutz verfügen müssen.
64 In diesem Zusammenhang ist entsprechend dem Hinweis in Rn. 58 des vorliegenden Urteils hervorzuheben, dass der Elternteil, der die elterliche Fürsorge für einen minderjährigen Unionsbürger tatsächlich wahrnimmt, zwar nicht zu dessen Familienangehörigen im Sinne der Richtlinie 2004/38 gehört, das diesem minderjährigen Unionsbürger von dieser Richtlinie verliehene Recht zum Aufenthalt von mehr als drei Monaten und weniger als fünf Jahren sich jedoch gemäß Art. 21 AEUV auf diesen Elternteil erstreckt, um die praktische Wirksamkeit dieses Aufenthaltsrechts sicherzustellen.
65 Um zu ermitteln, ob diesem Elternteil, der Staatsgehöriger eines Drittlands ist, wegen der Situation seines Kindes, das Unionsbürger ist, ein solches Aufenthaltsrecht zusteht, ist daher zu prüfen, ob dieses Kind die Voraussetzungen in Art. 7 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2004/38 erfüllt. Für die Zwecke dieser Prüfung ist davon auszugehen, dass diese Voraussetzungen für diesen Elternteil entsprechend gelten.
66 Der Gerichtshof hat bereits festgestellt, dass sich aus Art. 7 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2004/38 in Verbindung mit deren zehntem Erwägungsgrund und deren Art. 14 Abs. 2 ergibt, dass der wirtschaftlich nicht aktive Unionsbürger während des gesamten Aufenthalts im Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats von mehr als drei Monaten und weniger als fünf Jahren für sich und seine Familienangehörigen u. a. über einen umfassenden Krankenversicherungsschutz verfügen muss, um die öffentlichen Finanzen dieses Mitgliedstaats nicht unangemessen in Anspruch zu nehmen (Urteil vom 15. Juli 2021, A [Öffentliche Gesundheitsversorgung], C‑535/19, EU:C:2021:595, Rn. 53 bis 55).
67 Was die Situation eines Kindes betrifft, das Unionsbürger ist und mit einem Elternteil, der die elterliche Fürsorge für das Kind tatsächlich wahrnimmt, im Aufnahmemitgliedstaat wohnt, ist diese Voraussetzung sowohl dann erfüllt, wenn dieses Kind über einen umfassenden Krankenversicherungsschutz verfügt, der seinen Elternteil abdeckt, als auch im gegenteiligen Fall, in dem dieser Elternteil über einen solchen Schutz verfügt, der das Kind abdeckt (vgl. entsprechend Urteil vom 19. Oktober 2004, Zhu und Chen, C‑200/02, EU:C:2004:639, Rn. 29 bis 33).
68 Im vorliegenden Fall geht aus den Akten hervor, dass VI und ihr Sohn während des in Rede stehenden Zeitraums, d. h. vom 1. Mai 2006 bis zum 20. August 2006, beim öffentlichen Krankenversicherungssystem des Vereinigten Königreichs versichert waren, das kostenlos vom National Health Service (nationaler Gesundheitsdienst) zur Verfügung gestellt wird.
69 In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass der Aufnahmemitgliedstaat vorbehaltlich der Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes die Zugehörigkeit eines wirtschaftlich nicht aktiven Unionsbürgers, der sich gemäß Art. 7 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2004/38 in seinem Hoheitsgebiet aufhält, zu seinem öffentlichen Krankenversicherungssystem zwar von Voraussetzungen abhängig machen darf, die sicherstellen sollen, dass dieser Bürger die öffentlichen Finanzen dieses Mitgliedstaats nicht unangemessen in Anspruch nimmt, wie etwa davon, dass dieser Bürger eine umfassende private Krankenversicherung abschließt oder aufrechterhält, so dass dem Mitgliedstaat seine Aufwendungen für die Gesundheit zugunsten dieses Bürgers erstattet werden können, oder davon, dass der Bürger einen Beitrag zum öffentlichen Krankenversicherungssystem dieses Mitgliedstaats zahlt (Urteil vom 15. Juli 2021, A [Öffentliche Gesundheitsversorgung], C‑535/19, EU:C:2021:595, Rn. 59), ein Unionsbürger, wenn er Mitglied eines solchen öffentlichen Krankenversicherungssystems im Aufnahmemitgliedstaat ist, aber über einen umfassenden Krankenversicherungsschutz im Sinne dieses Art. 7 Abs. 1 Buchst. b verfügt.
70 In einer Situation wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden, in der der betreffende wirtschaftlich nicht aktive Unionsbürger ein Kind ist, dessen einer Elternteil, der Staatsangehöriger eines Drittlands ist, während des in Rede stehenden Zeitraums im Aufnahmemitgliedstaat gearbeitet hat und steuerpflichtig war, wäre es außerdem unverhältnismäßig, diesem Kind und dem Elternteil, der die elterliche Fürsorge für das Kind tatsächlich wahrnimmt, ein Aufenthaltsrecht nach Art. 7 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2004/38 allein deshalb zu verweigern, weil sie während dieses Zeitraums kostenlos dem öffentlichen Krankenversicherungssystem dieses Staates angeschlossen waren. Es kann nämlich nicht davon ausgegangen werden, dass die kostenlose Mitgliedschaft unter diesen Umständen die öffentlichen Finanzen dieses Staates unverhältnismäßig in Anspruch nimmt.
71 Soweit sich das vorlegende Gericht in seiner zweiten Frage auf Rn. 70 des Urteils vom 23. Februar 2010, Teixeira (C‑480/08, EU:C:2010:83), bezieht, ist ferner festzustellen, dass diese im vorliegenden Fall nicht von Belang ist. Der Gerichtshof hat darin zwar entschieden, dass das Recht auf Aufenthalt im Aufnahmemitgliedstaat, das der Elternteil genießt, dem die elterliche Sorge für ein Kind tatsächlich zukommt, das gemäß Art. 12 der Verordnung Nr. 1612/68 sein Recht ausübt, eine Ausbildung zu absolvieren, nicht von der Voraussetzung abhängt, dass dieser Elternteil sowohl über ausreichende Existenzmittel verfügt, so dass er während seines Aufenthalts keine Sozialhilfeleistungen dieses Mitgliedstaats in Anspruch nehmen muss, als auch über einen umfassenden Krankenversicherungsschutz in diesem Staat. Allerdings verleihen Art. 12 der Verordnung Nr. 1612/68 ebenso wie Art. 10 der Verordnung Nr. 492/2011, der ihn ersetzt hat, nur den Kindern der Familie eines Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats, der im Aufnahmemitgliedstaat beschäftigt ist oder gewesen ist, Rechte. Der Ehemann von VI und Vater des betroffenen Kindes ist jedoch Staatsangehöriger eines Drittlands.
72 Nach alledem ist auf die zweite Frage zu antworten, dass Art. 21 AEUV und Art. 7 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2004/38 dahin auszulegen sind, dass in den Zeiträumen, bevor ein Kind, das Unionsbürger ist, ein Recht auf Daueraufenthalt im Aufnahmemitgliedstaat erworben hat, sowohl dieses Kind, wenn ein Aufenthaltsrecht zu seinen Gunsten auf der Grundlage dieses Art. 7 Abs. 1 Buchst. b beansprucht wird, als auch der Elternteil, der die elterliche Fürsorge für das Kind tatsächlich wahrnimmt, über einen umfassenden Krankenversicherungsschutz im Sinne dieser Richtlinie verfügen müssen.
Zur dritten Frage
73 Mit seiner dritten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob infolge eines im Jahr 2014 vom Court of Appeal (England & Wales) (Civil Division) (Berufungsgericht [England & Wales] [Abteilung für Zivilsachen], Vereinigtes Königreich) erlassenen Urteils die zwischen dem Vereinigten Königreich und Irland geltenden gegenseitigen Vereinbarungen über das gemeinsame Reisegebiet im Hinblick auf den Krankenversicherungsschutz als „gegenseitige Vereinbarungen“ und damit als vollständiger Krankenversicherungsschutz für die Zwecke von Regulation 4(1) der Einwanderungsverordnung von 2016 anzusehen sind.
74 Unter Berücksichtigung der Vorbemerkungen in den Rn. 47 bis 52 des vorliegenden Urteils erscheint es zwar möglich, diese Frage dahin umzuformulieren, dass das vorlegende Gericht mit ihr im Wesentlichen wissen möchte, ob Art. 7 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2004/38 dahin auszulegen ist, dass mit gegenseitigen Vereinbarungen, wie sie zwischen dem Vereinigten Königreich und Irland für das gemeinsame Reisegebiet im Hinblick auf den Krankenversicherungsschutz gelten, die Voraussetzung erfüllt werden kann, über einen vollständigen Krankenversicherungsschutz im Sinne dieser Richtlinie zu verfügen, doch ist festzustellen, dass das vorlegende Gericht keine Angaben zum Inhalt dieser Vereinbarungen und ihrer Relevanz im Rahmen des Ausgangsrechtsstreits macht.
75 Nach ständiger Rechtsprechung ist eine Auslegung des Unionsrechts, die für das nationale Gericht von Nutzen ist, aber nur dann möglich, wenn das vorlegende Gericht den tatsächlichen und rechtlichen Rahmen, in dem sich seine Fragen stellen, darlegt oder zumindest die tatsächlichen Annahmen, auf denen diese beruhen, erläutert. Außerdem müssen in der Vorlageentscheidung die genauen Gründe angegeben sein, aus denen dem nationalen Gericht die Auslegung des Unionsrechts fraglich und die Vorlage einer Vorabentscheidungsfrage an den Gerichtshof erforderlich erscheint (Urteil vom 25. März 2021, Obala i lučice, C‑307/19, EU:C:2021:236, Rn. 49 und die dort angeführte Rechtsprechung).
76 Diese Anforderungen an den Inhalt eines Vorabentscheidungsersuchens sind ausdrücklich in Art. 94 der Verfahrensordnung aufgeführt, den das vorlegende Gericht im Rahmen der in Art. 267 AEUV festgelegten Zusammenarbeit zu beachten hat (Urteil vom 25. März 2021, Obala i lučice, C‑307/19, EU:C:2021:236, Rn. 50 und die dort angeführte Rechtsprechung). Darauf wird auch in den Empfehlungen des Gerichtshofs der Europäischen Union an die nationalen Gerichte bezüglich der Vorlage von Vorabentscheidungsersuchen (ABl. 2019, C 380, S. 1) hingewiesen.
77 Da das Vorabentscheidungsersuchen im vorliegenden Fall diese Anforderungen, was die dritte Frage betrifft, nicht erfüllt, ist diese unzulässig.
Kosten
78 Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Fünfte Kammer) für Recht erkannt:
1. Art. 21 AEUV und Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 und zur Aufhebung der Richtlinien 64/221/EWG, 68/360/EWG, 72/194/EWG, 73/148/EWG, 75/34/EWG, 75/35/EWG, 90/364/EWG, 90/365/EWG und 93/96/EWG sind dahin auszulegen, dass weder das Kind, das Unionsbürger ist und ein Recht auf Daueraufenthalt erworben hat, noch der Elternteil, der die elterliche Fürsorge für das Kind tatsächlich wahrnimmt, verpflichtet sind, über einen umfassenden Krankenversicherungsschutz im Sinne von Art. 7 Abs. 1 Buchst. b dieser Richtlinie zu verfügen, um ihr Recht zum Aufenthalt im Aufnahmemitgliedstaat zu behalten.
2. Art. 21 AEUV und Art. 7 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2004/38 sind dahin auszulegen, dass in den Zeiträumen, bevor ein Kind, das Unionsbürger ist, ein Recht auf Daueraufenthalt im Aufnahmemitgliedstaat erworben hat, sowohl dieses Kind, wenn ein Aufenthaltsrecht zu seinen Gunsten auf der Grundlage dieses Art. 7 Abs. 1 Buchst. b beansprucht wird, als auch der Elternteil, der die elterliche Fürsorge für das Kind tatsächlich wahrnimmt, über einen umfassenden Krankenversicherungsschutz im Sinne dieser Richtlinie verfügen müssen.
Unterschriften
(*1) Verfahrenssprache: Englisch.
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Urteil des Gerichtshofs (Große Kammer) vom 16. November 2021.#Strafverfahren gegen WB u. a.#Vorabentscheidungsersuchen des Sąd Okręgowy w Warszawie.#Vorlage zur Vorabentscheidung – Rechtsstaatlichkeit – Unabhängigkeit der Justiz – Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV – Nationale Regelung, nach der der Justizminister befugt ist, Richter an Gerichte höherer Ordnung abzuordnen und die Abordnung zu beenden – Spruchkörper in Strafsachen, denen vom Justizminister abgeordnete Richter angehören – Richtlinie (EU) 2016/343 – Unschuldsvermutung.#Verbundene Rechtssachen C-748/19 bis C-754/19.
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62019CJ0748
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ECLI:EU:C:2021:931
| 2021-11-16T00:00:00 |
Bobek, Gerichtshof
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62019CJ0748
URTEIL DES GERICHTSHOFS (Große Kammer)
16. November 2021 (*1)
„Vorlage zur Vorabentscheidung – Rechtsstaatlichkeit – Unabhängigkeit der Justiz – Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV – Nationale Regelung, nach der der Justizminister befugt ist, Richter an Gerichte höherer Ordnung abzuordnen und die Abordnung zu beenden – Spruchkörper in Strafsachen, denen vom Justizminister abgeordnete Richter angehören – Richtlinie (EU) 2016/343 – Unschuldsvermutung“
In den verbundenen Rechtssachen C‑748/19 bis C‑754/19
betreffend sieben Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Sąd Okręgowy w Warszawie (Regionalgericht Warschau, Polen) mit Entscheidungen vom 2. September 2019 (C‑749/19), vom 16. September 2019 (C‑748/19), vom 23. September 2019 (C‑750/19 und C‑754/19), vom 10. Oktober 2019 (C‑751/19) und vom 15. Oktober 2019 (C‑752/19 und C‑753/19), beim Gerichtshof eingegangen am 15. Oktober 2019, in den Strafverfahren gegen
WB (C-748/19),
XA,
YZ (C-749/19),
DT (C-750/19),
ZY (C-751/19),
AX (C-752/19),
BV (C-753/19),
CU (C-754/19),
Beteiligte:
Prokuratura Krajowa,
vormals
Prokuratura Rejonowa w Mińsku Mazowieckim (C‑748/19),
Prokuratura Rejonowa Warszawa-Żoliborz w Warszawie (C‑749/19),
Prokuratura Rejonowa Warszawa-Wola w Warszawie (C‑750/19, C‑753/19 und C‑754/19),
Prokuratura Rejonowa w Pruszkowie (C‑751/19),
Prokuratura Rejonowa Warszawa-Ursynów w Warszawie (C‑752/19),
und Pictura sp. z o.o. (C‑754/19),
erlässt
DER GERICHTSHOF (Große Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten K. Lenaerts, der Kammerpräsidentin K. Jürimäe, der Kammerpräsidenten C. Lycourgos, E. Regan, S. Rodin und I. Jarukaitis (Berichterstatter), der Richter J.‑C. Bonichot, P. G. Xuereb und N. Piçarra, der Richterin L. S. Rossi und des Richters A. Kumin,
Generalanwalt: M. Bobek,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
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der Prokuratura Rejonowa w Mińsku Mazowieckim, vertreten durch J. Ziarkiewicz, Staatsanwalt der Region Lublin,
–
der Prokuratura Rejonowa Warszawa-Żoliborz w Warszawie, der Prokuratura Rejonowa Warszawa-Wola w Warszawie, der Prokuratura Rejonowa w Pruszkowie und der Prokuratura Rejonowa Warszawa-Ursynów w Warszawie, vertreten durch A. Szeliga und F. Wolski, Staatsanwälte der Region Warschau,
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der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna als Bevollmächtigten,
–
der Europäischen Kommission, vertreten durch K. Herrmann, P. J. O. Van Nuffel, R. Troosters und H. Krämer als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 20. Mai 2021
folgendes
Urteil
1 Die Vorabentscheidungsersuchen betreffen die Auslegung von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV in Verbindung mit Art. 2 EUV und von Art. 6 Abs. 1 und 2 der Richtlinie (EU) 2016/343 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. März 2016 über die Stärkung bestimmter Aspekte der Unschuldsvermutung und des Rechts auf Anwesenheit in der Verhandlung in Strafverfahren (ABl. 2016, L 65, S. 1) in Verbindung mit deren 22. Erwägungsgrund.
2 Sie ergehen in Strafverfahren gegen WB (C‑748/19), XA und YZ (C‑749/19), DT (C‑750/19), ZY (C‑751/19), AX (C‑752/19), BV (C‑753/19) und CU (C‑754/19).
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
3 Im 22. Erwägungsgrund der Richtlinie 2016/343 heißt es:
„Die Beweislast für die Feststellung der Schuld von Verdächtigen und beschuldigten Personen liegt bei der Strafverfolgungsbehörde; Zweifel sollten dem Verdächtigen oder der beschuldigten Person zugutekommen. Unbeschadet einer möglichen Befugnis des Gerichts zur Tatsachenfeststellung von Amts wegen, der Unabhängigkeit der Justiz bei der Prüfung der Schuld des Verdächtigen oder der beschuldigten Person und der Anwendung von Tatsachen- oder Rechtsvermutungen bezüglich der strafrechtlichen Verantwortlichkeit eines Verdächtigen oder einer beschuldigten Person, läge ein Verstoß gegen die Unschuldsvermutung vor, wenn die Beweislast von der Strafverfolgungsbehörde auf die Verteidigung verlagert würde. Derartige Vermutungen sollten unter Berücksichtigung der Bedeutung der betroffenen Belange und unter Wahrung der Verteidigungsrechte auf ein vertretbares Maß beschränkt werden, und die eingesetzten Mittel sollten in einem angemessenen Verhältnis zu dem angestrebten legitimen Ziel stehen. Diese Vermutungen sollten widerlegbar sein und sollten in jedem Fall nur angewendet werden, wenn die Verteidigungsrechte gewahrt sind.“
4 Art. 6 („Beweislast“) der Richtlinie 2016/343 bestimmt:
„(1) Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass die Beweislast für die Feststellung der Schuld von Verdächtigen und beschuldigten Personen bei der Strafverfolgungsbehörde liegt. Dies gilt unbeschadet einer Verpflichtung des Richters oder des zuständigen Gerichts, sowohl belastende als auch entlastende Beweise zu ermitteln, und unbeschadet des Rechts der Verteidigung, gemäß dem geltenden nationalen Recht Beweismittel vorzulegen.
(2) Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass jeglicher Zweifel hinsichtlich der Frage der Schuld dem Verdächtigen oder der beschuldigten Personen zugutekommt, einschließlich in Fällen, wenn das Gericht prüft, ob die betreffende Person freigesprochen werden sollte.“
Polnisches Recht
Gesetz über die Staatsanwaltschaft
5 Nach Art. 1 § 2 der Ustawa Prawo o prokuraturze (Gesetz über die Staatsanwaltschaft) vom 28. Januar 2016 (Dz. U. 2016, Pos. 177) in der auf die Ausgangsverfahren anwendbaren Fassung ist der Generalstaatsanwalt der erste Beamte der Staatsanwaltschaft; das Amt des Generalstaatsanwalts wird vom Justizminister ausgeübt.
6 Nach Art. 13 § 2 des Gesetzes über die Staatsanwaltschaft unterstehen dem Generalstaatsanwalt die Staatsanwälte der ordentlichen Gerichtsbarkeit und die Staatsanwälte des Instytut Pamięci Narodowej (Institut des Nationalen Gedenkens, Polen).
Gesetz über die Organisation der ordentlichen Gerichtsbarkeit
7 Nach Art. 47a § 1 der Ustawa Prawo o ustroju sądów powszechnych (Gesetz über die Organisation der ordentlichen Gerichtsbarkeit) vom 27. Juli 2001 in der auf die Ausgangsverfahren anwendbaren Fassung (Dz. U. 2019, Pos. 52) (im Folgenden: Gesetz über die Organisation der ordentlichen Gerichtsbarkeit) werden die Rechtssachen den Berufs- und den ehrenamtlichen Richtern im Losverfahren zugeteilt.
8 Nach Art. 47b § 1 des Gesetzes über die Organisation der ordentlichen Gerichtsbarkeit ist eine Änderung der Besetzung eines Spruchkörpers nur dann zulässig, wenn die Behandlung der Rechtssache in der gegebenen Besetzung unmöglich ist oder ihr ein dauerhaftes Hindernis entgegensteht. Für die Neuzuweisung der Rechtssache gilt in solchen Fällen Art. 47a des Gesetzes über die Organisation der ordentlichen Gerichtsbarkeit. Nach Art. 47b § 3 des Gesetzes über die Organisation der ordentlichen Gerichtsbarkeit wird die Entscheidung über die Änderung der Besetzung eines Spruchkörpers vom Präsidenten des Gerichts oder von einem von diesem hierzu ermächtigten Richter getroffen.
9 Art. 77 des Gesetzes über die Organisation der ordentlichen Gerichtsbarkeit bestimmt:
„§ 1. Der Justizminister kann einen Richter mit dessen Zustimmung zur Wahrnehmung richterlicher oder administrativer Aufgaben abordnen
1. unter Berücksichtigung der sachgerechten Verwendung des Personals der ordentlichen Gerichtsbarkeit und des je nach der Arbeitsbelastung der verschiedenen Gerichte bestehenden Bedarfs an ein anderes Gericht gleicher oder niederer Ordnung, in besonders begründeten Fällen auch an ein Gericht höherer Ordnung
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für eine bestimmte Dauer, die zwei Jahre nicht überschreiten darf, oder auf unbestimmte Dauer.
…
§ 4. Wird ein Richter gemäß § 1 Nrn. 2, 2a und 2b auf unbestimmte Dauer abgeordnet, kann die Abordnung beendet werden und kann der betreffende Richter auf die Abordnung verzichten; dabei ist jeweils eine Frist von drei Monaten einzuhalten. In den übrigen Fällen der Abordnung eines Richters ist bei der Beendigung der Abordnung oder dem Verzicht auf die Abordnung keine Frist einzuhalten.“
10 Nach Art. 112 § 3 des Gesetzes über die Organisation der ordentlichen Gerichtsbarkeit ernennt der Justizminister den Rzecznik Dyscyplinarny Sędziów Sądów Powszechnych (Disziplinarbeauftragter der Richter der Gerichte der ordentlichen Gerichtsbarkeit, Polen) (im Folgenden: Disziplinarbeauftragter) und seine beiden Stellvertreter für eine Amtszeit von vier Jahren, die verlängert werden kann. Im polnischen Recht ist nicht geregelt, nach welchen Kriterien der Disziplinarbeauftragte und seine beiden Stellvertreter zu ernennen sind.
Strafprozessordnung
11 Art. 29 § 1 des Kodeks postępowania karnego (Strafprozessordnung) bestimmt:
„In Verhandlungen über Berufungen und Kassationsbeschwerden entscheidet das Gericht in einer Besetzung mit drei Richtern, soweit gesetzlich nichts anderes bestimmt ist.“
12 Nach Art. 519 der Strafprozessordnung kann gegen die das Verfahren beendende endgültige Entscheidung des Berufungsgerichts Kassationsbeschwerde eingelegt werden.
13 Art. 439 § 1 der Strafprozessordnung bestimmt:
„Das Berufungsgericht hebt die angefochtene Entscheidung in der Verhandlung unabhängig davon, inwieweit diese angefochten wurde und welche Gründe geltend gemacht werden, und unabhängig davon, inwieweit sich die Rechtsverletzung auf den Inhalt der Entscheidung auswirkt, auf, wenn
1. bei der Entscheidung eine Person mitgewirkt hat, die hierzu nicht berufen oder nicht in der Lage oder gemäß Art. 40 wegen Besorgnis der Befangenheit abgelehnt war;
2. das Gericht nicht vorschriftsmäßig besetzt war oder ein Mitglied des Gerichts nicht während der gesamten mündlichen Verhandlung anwesend war;
…“
14 Nach Art. 523 § 1 der Strafprozessordnung kann eine Kassationsbeschwerde nur auf die in Art. 439 der Strafprozessordnung genannten Mängel oder auf eine andere offenkundige Rechtsverletzung, die sich maßgeblich auf den Inhalt der Entscheidung ausgewirkt haben kann, gestützt werden.
Ausgangsverfahren und Vorlagefragen
15 Die Vorabentscheidungsersuchen wurden vom Sąd Okręgowy w Warszawie (Regionalgericht Warschau, Polen) in Verfahren betreffend sieben Strafsachen, die der X. Berufungskammer in Strafsachen dieses Gerichts zugewiesen sind, eingereicht.
16 Als Erstes fragt sich das vorlegende Gericht, ob die Besetzung der Spruchkörper, die über diese Strafsachen zu entscheiden haben, mit Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV vereinbar ist, da den Spruchkörpern ein Richter angehört, der mit einer Entscheidung des Justizministers gemäß Art. 77 § 1 des Gesetzes über die Organisation der ordentlichen Gerichtsbarkeit abgeordnet wurde, in einigen der Strafsachen möglicherweise sogar von einem Rayongericht, d. h. von einem Gericht niederer Ordnung.
17 Die Regelung über die Abordnung von Richtern versetze den Justizminister, der gleichzeitig Generalstaatsanwalt und damit Vorgesetzter u. a. der Staatsanwälte der ordentlichen Gerichtsbarkeit sei, in die Lage, erheblichen Einfluss auf die Besetzung eines Strafgerichts auszuüben. Die Abordnung eines Richters an ein Gericht höherer Ordnung durch den Justizminister erfolge nach Kriterien, die offiziell nicht bekannt seien. Die Entscheidung über die Abordnung unterliege auch keiner gerichtlichen Kontrolle. Der Justizminister könne die Abordnung jederzeit beenden. Für die entsprechende Entscheidung seien keine im Voraus bestimmten Kriterien maßgeblich, und sie müsse nicht begründet werden. Es sei nicht sicher, ob die Entscheidung über die Beendigung der Abordnung einer gerichtlichen Kontrolle unterzogen werden könne. Auf abgeordnete Richter in Spruchkörpern wie denen, die über die Ausgangsverfahren zu entscheiden hätten, könne der Justizminister daher in zweifacher Weise Einfluss ausüben. Zum einen könne er den betreffenden Richter, indem er ihn an ein Gericht höherer Ordnung abordne, für sein Verhalten auf früheren Dienstposten „belohnen“ und hinsichtlich der Art und Weise, wie er in Zukunft entscheide, sogar bestimmte Erwartungen äußern, so dass die Abordnung eine Ersatzbeförderung darstelle. Zum anderen könne er einen abgeordneten Richter, indem er seine Abordnung beende, dafür „bestrafen“, dass er eine Entscheidung erlassen habe, die er nicht gutheiße. Derzeit bestehe ein erhöhtes Risiko, dass eine solche Bestrafung erfolge, wenn der betreffende Richter entschieden habe, beim Gerichtshof ein Vorabentscheidungsersuchen einzureichen oder polnisches Recht, das nicht mit dem Unionsrecht in Einklang stehe, unangewendet zu lassen. Ein solches System schaffe daher für die abgeordneten Richter einen Anreiz, in Einklang mit dem Willen des Justizministers zu entscheiden, auch wenn dieser Wille nicht ausdrücklich formuliert werde. Dadurch werde letztlich das Recht der beschuldigten Person auf einen fairen Prozess verletzt, bei dem es sich um eine Ausprägung des Grundsatzes eines wirksamen gerichtlichen Rechtsschutzes handele.
18 Für den Fall, dass gegen die Urteile, die in den Ausgangsverfahren ergehen werden, beim Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht, Polen) Kassationsbeschwerde eingelegt werden sollte, fragt sich das vorlegende Gericht als Zweites, ob die Besetzung der Spruchkörper der Strafkammer dieses Gerichts mit Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV in Einklang steht.
19 Als Drittes fragt sich das vorlegende Gericht, ob die nationale Regelung, um die es in den Ausgangsverfahren geht, vor dem beschriebenen Hintergrund gegen die Unschuldsvermutung gemäß der Richtlinie 2016/343 verstößt.
20 Der Sąd Okręgowy w Warszawie (Regionalgericht Warschau) hat die Verfahren daher ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt, die in den Rechtssachen C‑748/19 bis C‑754/19 jeweils nahezu gleichlautend formuliert sind:
1. Sind Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 in Verbindung mit Art. 2 EUV und dem darin verankerten Rechtsstaatsprinzip sowie Art. 6 Abs. 1 und 2 in Verbindung mit dem 22. Erwägungsgrund der Richtlinie 2016/343 dahin auszulegen, dass der wirksame gerichtliche Rechtsschutz, insbesondere die Unabhängigkeit der Rechtsprechung, und die Anforderungen, die sich aus der Unschuldsvermutung ergeben, verletzt sind, wenn ein gerichtliches Verfahren wie ein Strafverfahren gegen einen wegen der Begehung einer Straftat nach den Bestimmungen des Strafgesetzbuchs oder des Steuerstrafgesetzbuchs Angeklagten oder ein Strafverfahren gegen einen Verurteilten, der den Erlass eines Gesamturteils beantragt hat, in der Weise gestaltet ist, dass
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dem Spruchkörper ein Richter angehört, der auf der Grundlage einer persönlichen Entscheidung des Justizministers von einem Gericht abgeordnet wurde, das eine Hierarchieebene tiefer liegt, wobei die Kriterien unbekannt sind, von denen sich der Justizminister leiten ließ, als er diesen Richter abordnete, und das nationale Recht keine gerichtliche Kontrolle dieser Entscheidung vorsieht und es dem Justizminister ermöglicht, die Abordnung des Richters jederzeit zu widerrufen?
2. Liegt eine Verletzung der in der Frage 1 genannten Anforderungen vor, wenn die Beteiligten gegen die in einem Gerichtsverfahren wie dem in Frage 1 beschriebenen erlassene Entscheidung einen außerordentlichen Rechtsbehelf bei einem Gericht wie dem Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) einlegen können, dessen Entscheidungen nach innerstaatlichem Recht nicht angefochten werden können, das nationale Recht den Vorsitzenden einer Organisationseinheit dieses Gerichts (Kammer), die für die Entscheidung über den Rechtsbehelf zuständig ist, dazu verpflichtet, die Verfahren den Richtern dieser Kammer in einer alphabetischen Reihenfolge zuzuweisen, wobei die Übergehung irgendeines Richters ausdrücklich untersagt ist, und an dem Zuweisungsverfahren auch eine Person beteiligt ist, die auf Antrag eines Kollegialorgans wie der Krajowa Rada Sądownictwa (Landesjustizrat, Polen) (im Folgenden: KRS) zum Richter ernannt wurde, das in der Weise zusammengesetzt ist, dass ihm Richter angehören,
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die durch eine Kammer des Parlaments gewählt werden, die über eine Liste der Bewerber im Ganzen abstimmt, die zuvor durch einen Parlamentsausschuss aus Bewerbern zusammengestellt wurde, die eine Fraktion von Parlamentariern oder ein Organ dieser Kammer auf der Grundlage von Empfehlungen einer Gruppe von Richtern oder Bürgern vorgeschlagen hat, woraus folgt, dass die Bewerber an drei Stellen des Auswahlverfahrens durch Politiker bestätigt werden;
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die die Mehrheit der Mitglieder dieser Einrichtung ausmachen, wobei diese Mehrheit hinreichend groß ist, um die Besetzung der Richterposten zu beantragen und andere bindende Entscheidungen nach dem nationalen Recht zu treffen?
3. Welche Wirkung hat aus der Sicht des Unionsrechts, insbesondere in Bezug auf die in Frage 1 angeführten Bestimmungen und Anforderungen, eine Entscheidung, die in einem Gerichtsverfahren erlassen wird, das derart gestaltet ist wie in der Frage 1 beschrieben, und eine Entscheidung in einem Verfahren vor dem Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht), wenn daran eine Person beteiligt ist wie die, von der in Frage 2 die Rede ist?
4. Hängen nach dem Unionsrecht, insbesondere nach den in Frage 1 angeführten Bestimmungen, die Wirkungen von Entscheidungen, von denen in Frage 3 die Rede ist, davon ab, ob das betreffende Gericht zugunsten oder zu Ungunsten des Angeklagten entschieden hat?
Verfahren vor dem Gerichtshof
21 Mit Entscheidung des Präsidenten des Gerichtshofs vom 25. Oktober 2019 sind die Rechtssachen C‑748/19 bis C‑754/19 zu gemeinsamem schriftlichen und mündlichen Verfahren und zu gemeinsamem Urteil verbunden worden.
22 Am 30. Juli 2020 hat der Gerichtshof das vorlegende Gericht um Auskünfte zum tatsächlichen und rechtlichen Rahmen der Ausgangsverfahren ersucht. Das vorlegende Gericht hat am 3. September 2020 geantwortet.
Zu den Anträgen auf beschleunigtes Verfahren
23 Das vorlegende Gericht hat in den Vorabentscheidungsersuchen beantragt, die vorliegenden Rechtssachen gemäß Art. 105 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs einem beschleunigten Verfahren zu unterwerfen. Zur Begründung hat es im Wesentlichen dieselben Gründe angeführt wie diejenigen, die für seine Entscheidung maßgebend waren, dem Gerichtshof Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen.
24 Nach Art. 105 Abs. 1 der Verfahrensordnung kann der Präsident des Gerichtshofs auf Antrag des vorlegenden Gerichts oder ausnahmsweise von Amts wegen, nach Anhörung des Berichterstatters und des Generalanwalts, entscheiden, eine Vorlage zur Vorabentscheidung einem beschleunigten Verfahren zu unterwerfen, wenn die Art der Rechtssache ihre rasche Erledigung erfordert.
25 Ein solches beschleunigtes Verfahren ist ein Verfahrensinstrument, das für Fälle gedacht ist, die außerordentlich dringlich sind (Urteil vom 2. März 2021, A.B. u. a. [Ernennung von Richtern am Obersten Gericht – Rechtsbehelf], C‑824/18, EU:C:2021:153, Rn. 48 und die dort angeführte Rechtsprechung).
26 Im vorliegenden Fall hat der Präsident des Gerichtshofs am 2. Dezember 2019 nach Anhörung des Berichterstatters und des Generalanwalts entschieden, den Anträgen auf Durchführung des beschleunigten Verfahrens nicht stattzugeben. Zum einen hat das vorlegende Gericht nicht eigens begründet, warum über die Vorabentscheidungsersuchen rasch entschieden werden müsste. Zum anderen rechtfertigt der Umstand, dass die Ausgangsverfahren Strafsachen betreffen, als solcher noch keine beschleunigte Behandlung.
Zum Antrag auf Wiedereröffnung des mündlichen Verfahrens
27 Mit Schriftsatz, der am 30. Juni 2021 bei der Kanzlei des Gerichtshofs eingegangen ist, hat die polnische Regierung die Wiedereröffnung des mündlichen Verfahrens beantragt.
28 Zur Begründung führt sie im Wesentlichen aus, dass sie mit den Schlussanträgen des Generalanwalts nicht einverstanden sei, der aus dem Wortlaut der Vorlagefragen und der Bestimmungen des nationalen Rechts fälschlicherweise abgeleitet habe, dass die Abordnung eines Richters an ein Gericht höherer Ordnung für diesen zusätzliche Vorteile in Form einer Beförderung und einer höheren Besoldung mit sich bringe. Außerdem habe der Generalanwalt nicht angegeben, aufgrund welcher rechtlichen und tatsächlichen Umstände er zu der Feststellung gelangt sei, dass zwischen der Abordnung eines Richters an ein anderes Gericht und besseren Aufstiegsperspektiven und einer höheren Besoldung ein Zusammenhang bestehe. Jedenfalls seien diese Gesichtspunkte weder vom vorlegenden Gericht noch von den Parteien angesprochen worden. Es liege daher ein Verstoß gegen den Grundsatz der Waffengleichheit vor.
29 Im Übrigen bestehe ein Widerspruch zwischen Nr. 178 der Schlussanträge, in denen der Generalanwalt ausgeführt habe, dass die Mitgliedstaaten durch das Unionsrecht nicht daran gehindert seien, auf ein System zurückzugreifen, nach dem Richter im dienstlichen Interesse vorübergehend von einem Gericht an ein anderes Gericht gleicher oder höherer Ordnung abgeordnet werden könnten, und dem Umstand, dass der Generalanwalt in denselben Schlussanträgen die polnische Regelung nach Maßgabe der Anforderungen, die das Unionsrecht an die Rechtsstaatlichkeit stelle, beurteilt habe. Dies stelle einen Verstoß gegen den in Art. 4 Abs. 2 EUV verbürgten Grundsatz der Achtung der jeweiligen nationalen Identität der Mitgliedstaaten dar.
30 Hierzu ist festzustellen, dass die Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union und die Verfahrensordnung keine Möglichkeit für die in Art. 23 der Satzung bezeichneten Beteiligten vorsehen, eine Stellungnahme zu den Schlussanträgen des Generalanwalts einzureichen (Urteil vom 6. Oktober 2021, W.Ż. [Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten des Obersten Gerichts – Ernennung], C‑487/19, EU:C:2021:798, Rn. 62 und die dort angeführte Rechtsprechung).
31 Im Übrigen stellt der Generalanwalt nach Art. 252 Abs. 2 AEUV öffentlich in völliger Unparteilichkeit und Unabhängigkeit begründete Schlussanträge zu den Rechtssachen, in denen nach der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union seine Mitwirkung erforderlich ist. Der Gerichtshof ist weder an diese Schlussanträge noch an deren Begründung gebunden. Dass ein Beteiligter nicht mit den Schlussanträgen des Generalanwalts einverstanden ist, kann folglich unabhängig von den darin untersuchten Fragen für sich genommen kein Grund sein, der die Wiedereröffnung des mündlichen Verfahrens rechtfertigt (Urteil vom 6. Oktober 2021, W.Ż. [Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten des Obersten Gerichts – Ernennung], C‑487/19, EU:C:2021:798, Rn. 63 und die dort angeführte Rechtsprechung).
32 Zwar kann der Gerichtshof nach Art. 83 seiner Verfahrensordnung jederzeit nach Anhörung des Generalanwalts die Eröffnung oder Wiedereröffnung des mündlichen Verfahrens beschließen, insbesondere wenn er sich für unzureichend unterrichtet hält, wenn eine Partei nach Abschluss des mündlichen Verfahrens eine neue Tatsache unterbreitet hat, die von entscheidender Bedeutung für die Entscheidung des Gerichtshofs ist, oder wenn ein zwischen den Beteiligten nicht erörtertes Vorbringen entscheidungserheblich ist.
33 Im vorliegenden Fall verfügt der Gerichtshof jedoch über alle Informationen, die für seine Entscheidung erforderlich sind, und es ist kein Vorbringen entscheidungserheblich, das nicht zwischen den Beteiligten erörtert worden wäre. Der Antrag auf Wiedereröffnung des mündlichen Verfahrens enthält auch keine neue Tatsache, die von entscheidender Bedeutung für die Entscheidung wäre, die der Gerichtshof in den vorliegenden Rechtssachen zu treffen hat. Der Gerichtshof gelangt deshalb nach Anhörung des Generalanwalts zu der Auffassung, dass kein Grund besteht, die Wiedereröffnung des Verfahrens zu beschließen.
Zu den Vorlagefragen
Zur Zuständigkeit des Gerichtshofs
34 Nach Auffassung der polnischen Regierung wie auch nach Auffassung der Prokuratura Regionalna w Lublinie (Staatsanwaltschaft der Region Lublin, Polen) und der Prokuratura Regionalna w Warszawie (Staatsanwaltschaft der Region Warschau, Polen), die beim Gerichtshof im Namen der Rayonstaatsanwaltschaften, die die Strafverfolgungen eingeleitet haben, um die es in den Ausgangsverfahren geht, Erklärungen eingereicht haben, fallen die Sachverhalte und Rechtsfragen, die Gegenstand der Vorlagefragen sind, nicht in den Anwendungsbereich des Unionsrechts. Für die Gestaltung der innerstaatlichen Rechtsvorschriften betreffend die Organisation der Justiz, insbesondere das Verfahren der Ernennung der Richter, die Besetzung der Justizräte oder die Abordnung von Richtern an ein anderes Gericht als dasjenige, an dem sie gewöhnlich tätig seien, und für die Rechtswirkungen der Urteile der nationalen Gerichte, seien ausschließlich die einzelnen Mitgliedstaaten zuständig.
35 Die Staatsanwaltschaft der Region Lublin und die Staatsanwaltschaft der Region Warschau machen insbesondere geltend, dass der Gerichtshof weder befugt sei, die Voraussetzungen zu bestimmen, unter denen die Abordnung von Richtern zulässig sei, noch zu beurteilen, ob die Ernennung einer Person zum Richter wirksam sei. Er sei auch nicht befugt, zu entscheiden, ob es sich bei der Person um einen Richter handele, oder darüber zu befinden, ob eine Entscheidung eines nationalen Gerichts existiere. Der Gerichtshof sei daher für die Beantwortung der in den Ausgangsverfahren zur Vorabentscheidung vorgelegten Fragen nicht zuständig.
36 Hierzu ist festzustellen, dass die Organisation der Justiz in den Mitgliedstaaten zwar in deren Zuständigkeit fällt, die Mitgliedstaaten bei der Ausübung dieser Zuständigkeit jedoch die Verpflichtungen einzuhalten haben, die sich für sie aus dem Unionsrecht ergeben. Dies gilt insbesondere für nationale Vorschriften betreffend den Erlass von Entscheidungen über die Ernennung von Richtern und gegebenenfalls für Vorschriften betreffend die im Zusammenhang mit solchen Ernennungsverfahren anwendbare gerichtliche Kontrolle (Urteil vom 6. Oktober 2021, W.Ż. [Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten des Obersten Gerichts – Ernennung], C‑487/19, EU:C:2021:798, Rn. 75 und die dort angeführte Rechtsprechung). Dasselbe gilt für nationale Vorschriften betreffend den Erlass von Entscheidungen über die Abordnung von Richtern zur Wahrnehmung richterlicher Aufgaben bei einem anderen Gericht.
37 Die von der polnischen Regierung, der Staatsanwaltschaft der Region Lublin und der Staatsanwaltschaft der Region Warschau erhobenen Einwände beziehen sich im Wesentlichen auf die Tragweite und damit auf die Auslegung der Bestimmungen des Unionsrechts, die in den Vorlagefragen genannt werden. Die Auslegung dieser Bestimmungen fällt offenkundig in die Zuständigkeit des Gerichtshofs nach Art. 267 AEUV (vgl. entsprechend Urteil vom 6. Oktober 2021, W.Ż. [Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten des Obersten Gerichts – Ernennung], C‑487/19, EU:C:2021:798, Rn. 76 und die dort angeführte Rechtsprechung).
38 Demnach ist der Gerichtshof für die Entscheidung über die vorliegenden Vorabentscheidungsersuchen zuständig.
Zu Frage 1
39 Mit Frage 1 möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV in Verbindung mit Art. 2 EUV und Art. 6 Abs. 1 und 2 der Richtlinie 2016/343 dahin auszulegen sind, dass sie innerstaatlichen Rechtsvorschriften entgegenstehen, nach denen der Justizminister eines Mitgliedstaats einen Richter nach Kriterien, die nicht bekannt gegeben werden, auf bestimmte oder unbestimmte Dauer an ein Strafgericht höherer Ordnung abordnen und die Abordnung unabhängig davon, ob sie auf bestimmte oder unbestimmte Dauer erfolgt ist, jederzeit ohne Angabe von Gründen beenden kann.
Zur Zulässigkeit
40 Die polnische Regierung, die Staatsanwaltschaft der Region Lublin und die Staatsanwaltschaft der Region Warschau halten Frage 1 für unzulässig.
41 Die Staatsanwaltschaft der Region Lublin und die Staatsanwaltschaft der Region Warschau machen insoweit als Erstes geltend, dass die Entscheidungen, beim Gerichtshof die vorliegenden Vorabentscheidungsersuchen einzureichen, von der Präsidentin des Spruchkörpers getroffen worden seien, die ohne Mitwirkung der beiden anderen Mitglieder des Spruchkörpers entschieden habe. Nach Art. 29 § 1 der Strafprozessordnung müsse ein Berufungsgericht aber mit drei Richtern entscheiden, wenn gesetzlich nichts anderes bestimmt sei. In den Ausgangsverfahren habe nichts die Entscheidung in einer anderen Besetzung gerechtfertigt. Die Präsidentin des Spruchkörpers sei daher nicht befugt, allein über irgendeine Frage zu entscheiden, auch nicht über eine Vorfrage, so dass nicht davon ausgegangen werden könne, dass der Gerichtshof von einem „Gericht“ eines Mitgliedstaats im Sinne von Art. 267 AEUV angerufen worden wäre.
42 Hierzu ist zunächst festzustellen, dass der Gerichtshof für die Beurteilung der rein unionsrechtlichen Frage, ob es sich bei der jeweils vorlegenden Einrichtung um ein „Gericht“ im Sinne von Art. 267 AEUV handelt, und somit, ob das Vorabentscheidungsersuchen zulässig ist, nach seiner ständigen Rechtsprechung auf eine Reihe von Merkmalen abstellt, wie z. B. die gesetzliche Grundlage der Einrichtung, ihr ständiger Charakter, die obligatorische Gerichtsbarkeit, das streitige Verfahren, die Anwendung von Rechtsnormen durch die Einrichtung sowie ihre Unabhängigkeit (Urteil vom 9. Juli 2020, Land Hessen, C‑272/19, EU:C:2020:535, Rn. 43).
43 Im vorliegenden Fall wurden die Vorabentscheidungsersuchen von der X. Berufungsstrafkammer des Sąd Okręgowy w Warszawie (Regionalgericht Warschau) eingereicht, und zwar über die Vorsitzende der Spruchkörper in den sieben Ausgangsverfahren. Außerdem ist unstreitig, dass der Sąd Okręgowy w Warszawie (Regionalgericht Warschau) die oben in Rn. 42 genannten Voraussetzungen erfüllt.
44 In einem Vorabentscheidungsverfahren gemäß Art. 267 AEUV ist der Gerichtshof nach der Verteilung der Aufgaben zwischen ihm und den nationalen Gerichten nach ständiger Rechtsprechung aber nicht befugt, nachzuprüfen, ob die Vorlageentscheidung den nationalen Vorschriften über die Gerichtsorganisation und das gerichtliche Verfahren entspricht. Er ist daher an die von einem Gericht eines Mitgliedstaats erlassene Vorlageentscheidung gebunden, solange diese nicht aufgrund eines im nationalen Recht eventuell vorgesehenen Rechtsbehelfs aufgehoben worden ist (Urteil vom 14. Januar 1982, Reina, 65/81, EU:C:1982:6, Rn. 7).
45 Demnach vermag das oben in Rn. 41 dargestellte Vorbringen der Staatsanwaltschaft der Region Lublin und der Staatsanwaltschaft der Region Warschau keine Zweifel daran zu begründen, dass Frage 1 von einem „Gericht“ im Sinne von Art. 267 AEUV vorgelegt worden ist.
46 Als Zweites macht die polnische Regierung geltend, dass die Ausgangsverfahren das Strafrecht und das Strafprozessrecht beträfen. Diese Bereiche seien durch das Unionsrecht nicht harmonisiert. Der Zusammenhang mit dem Unionsrecht, den das vorlegende Gericht herstellen wolle und der nach Auffassung dieses Gerichts darin bestehe, dass es in Strafsachen zu entscheiden habe, dass jede beschuldigte Person Anspruch darauf habe, dass ihre Verteidigungsrechte gewahrt würden, und dass diese auch durch die Richtlinie 2016/343 geschützt seien, sei nicht hinreichend konkret, um annehmen zu können, dass eine Antwort auf diese Frage erforderlich wäre, um über die Rechtsstreitigkeiten zu entscheiden, die bei ihm anhängig seien.
47 Hierzu ist festzustellen, dass das vorlegende Gericht mit Frage 1, noch bevor die Rechtssachen der Ausgangsverfahren in der Sache bearbeitet werden, wissen möchte, ob die innerstaatlichen Rechtsvorschriften, nach denen ein abgeordneter Richter Mitglied der Spruchkörper ist, die über diese Rechtssachen zu entscheiden haben, mit dem Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit vereinbar sind.
48 Der Gerichtshof hat jedoch bereits entschieden, dass eine Antwort auf Vorlagefragen erforderlich sein kann, um den vorliegenden Gerichten eine Auslegung des Unionsrechts zu liefern, die es ihnen ermöglicht, über Verfahrensfragen des innerstaatlichen Rechts zu entscheiden, um dann in den Rechtsstreitigkeiten, die bei ihnen anhängig sind, in der Sache entscheiden zu können (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. Oktober 2021, W.Ż. [Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten des Obersten Gerichts – Ernennung], C‑487/19, EU:C:2021:798, Rn. 94 und die dort angeführte Rechtsprechung).
49 Im vorliegenden Fall betrifft Frage 1 die Auslegung von Bestimmungen des Unionsrechts sowie deren Auswirkungen – insbesondere im Hinblick auf den Vorrang des Unionsrechts – auf die Ordnungsmäßigkeit der Besetzung der mit den Ausgangsverfahren befassten Spruchkörper. Eine Antwort des Gerichtshofs ist daher erforderlich, um es dem vorlegenden Gericht zu ermöglichen, über eine Vorfrage zu entscheiden, bevor die Spruchkörper in den Ausgangsverfahren in der Sache entscheiden.
50 Der Einwand der polnischen Regierung ist daher zurückzuweisen.
51 Als Drittes macht die polnische Regierung geltend, dass die Vorlagefrage hypothetischer Natur sei, da die Antwort des Gerichtshofs auf sie keine Auswirkungen auf den Fortgang der Strafverfahren der Ausgangsverfahren haben könne. Selbst wenn der Gerichtshof entscheiden sollte, dass die in Rede stehenden Bestimmungen über die Abordnung der Richter unionsrechtswidrig seien, wäre es der Präsidentin des Spruchkörpers nämlich verfahrensrechtlich unmöglich, eine solche Auslegung anzuwenden, da sie nicht befugt wäre, einem anderen Mitglied des Spruchkörpers das Recht zu nehmen, zu entscheiden, auch nicht auf der Grundlage des Unionsrechts.
52 Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs ist es im Rahmen der durch Art. 267 AEUV geschaffenen Zusammenarbeit zwischen ihm und den nationalen Gerichten allein Sache des mit dem Rechtsstreit befassten nationalen Gerichts, in dessen Verantwortungsbereich die zu erlassende gerichtliche Entscheidung fällt, anhand der Besonderheiten der Rechtssache sowohl die Erforderlichkeit einer Vorabentscheidung zum Erlass seines Urteils als auch die Erheblichkeit der dem Gerichtshof von ihm vorgelegten Fragen zu beurteilen. Daher ist der Gerichtshof grundsätzlich gehalten, über die ihm vorgelegten Fragen zu befinden, wenn sie die Auslegung des Unionsrechts betreffen (Urteil vom 24. November 2020, Openbaar Ministerie [Urkundenfälschung], C‑510/19, EU:C:2020:953, Rn. 25 und die dort angeführte Rechtsprechung).
53 Wie bereits ausgeführt (siehe oben, Rn. 36), haben die Mitgliedstaaten bei der Ausübung ihrer Befugnisse im Bereich der Organisation der Justiz, insbesondere, wenn sie innerstaatliche Rechtsvorschriften über die Abordnung von Richtern zum Zwecke der Wahrnehmung richterlicher Aufgaben an einem anderen Gericht oder über die Kontrolle der Rechtmäßigkeit des Spruchkörpers gestalten, die Verpflichtungen einzuhalten, die sich für sie aus dem Unionsrecht ergeben.
54 Insoweit ist festzustellen, dass das Vorbringen der polnischen Regierung im Wesentlichen die Tragweite und damit die Auslegung der Bestimmungen des Unionsrechts, auf die sich Frage 1 bezieht, sowie die Wirkungen betrifft, die diese Bestimmungen insbesondere im Hinblick auf den Vorrang des Unionsrechts haben können. Das Vorbringen betrifft mithin den Inhalt der vorgelegten Frage, so dass es für deren Zulässigkeit von vornherein nicht relevant sein kann (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. Oktober 2021, W.Ż. [Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten des Obersten Gerichts – Ernennung], C‑487/19, EU:C:2021:798, Rn. 90 und die dort angeführte Rechtsprechung).
55 Als Viertes machen die polnische Regierung, die Staatsanwaltschaft der Region Lublin und die Staatsanwaltschaft der Region Warschau schließlich geltend, dass die Vorabentscheidungsersuchen nicht die in Art. 94 der Verfahrensordnung genannten Angaben enthielten. Das vorlegende Gericht habe in den Vorabentscheidungsersuchen weder den Streitgegenstand der Ausgangsverfahren noch den maßgeblichen Sachverhalt definiert. Es habe auch die tatsächlichen Umstände, auf denen die Fragen beruhten, nicht dargestellt, nicht einmal summarisch.
56 Die Vorabentscheidungsersuchen seien insbesondere auch hinsichtlich der Gründe, die für die Wahl der unionsrechtlichen Bestimmungen, um deren Auslegung ersucht werde, maßgeblich gewesen seien, und hinsichtlich des Nachweises des Bestehens eines Zusammenhangs zwischen diesen Vorschriften und den in den Ausgangsverfahren anwendbaren innerstaatlichen Vorschriften, nicht hinreichend begründet. Das vorlegende Gericht habe lediglich Vorschriften des Unionsrechts angeführt und die Auslegung einiger dieser Vorschriften summarisch dargestellt. Es sei aber weder auf deren Wechselwirkung eingegangen noch habe es geprüft, oder die verschiedenen Vorschriften, um deren Auslegung ersucht werde, für die Entscheidung der Ausgangsverfahren erheblich seien.
57 Hierzu ist festzustellen, dass sich aus den Ausführungen oben in den Rn. 5 bis 14 und 16 bis 19 ergibt, dass die Vorabentscheidungsersuchen, wie sie vom vorlegenden Gericht in seiner Antwort auf ein Auskunftsersuchen des Gerichtshofs erläutert worden sind, alle erforderlichen Informationen enthalten, insbesondere den Wortlaut der möglicherweise auf den Fall anwendbaren nationalen Vorschriften, die Gründe, aus denen das vorlegende Gericht dem Gerichtshof Fragen zur Auslegung der oben in Rn. 39 genannten Vorschriften vorgelegt hat, und den vom vorlegenden Gericht zwischen diesen Vorschriften und den angeführten innerstaatlichen Rechtsvorschriften hergestellten Zusammenhang, so dass der Gerichtshof in der Lage ist, über Frage 1 zu entscheiden.
58 Somit ist festzustellen, dass Frage 1 zulässig ist.
Beantwortung der Frage
59 Art. 19 EUV, mit dem der in Art. 2 EUV proklamierte Wert der Rechtsstaatlichkeit konkretisiert wird, überträgt den nationalen Gerichten und dem Gerichtshof die Aufgabe, die volle Anwendung des Unionsrechts in allen Mitgliedstaaten und den gerichtlichen Schutz, der den Rechtsunterworfenen aus diesem Recht erwächst, zu gewährleisten (Urteil vom 2. März 2021, A.B. u. a. [Ernennung von Richtern am Obersten Gericht – Rechtsbehelf], C‑824/18, EU:C:2021:153, Rn. 108 und die dort angeführte Rechtsprechung).
60 Insoweit ist es, wie in Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV vorgesehen, Sache der Mitgliedstaaten, ein System von Rechtsbehelfen und Verfahren vorzusehen, das gewährleistet, dass das Recht der Rechtsunterworfenen auf wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen gewährleistet wird (Urteil vom 2. März 2021, A.B. u. a. [Ernennung von Richtern am Obersten Gericht – Rechtsbehelf], C‑824/18, EU:C:2021:153, Rn. 109 und die dort angeführte Rechtsprechung).
61 Nach ständiger Rechtsprechung ist der Grundsatz des wirksamen gerichtlichen Schutzes der dem Rechtsunterworfenen aus dem Unionsrecht erwachsenden Rechte, von dem in Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV die Rede ist, ein allgemeiner Grundsatz des Unionsrechts, der sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten ergibt; er ist in den Art. 6 und 13 der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten und nun auch in Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) verankert (Urteil vom 2. März 2021, A.B. u. a. [Ernennung von Richtern am Obersten Gericht – Rechtsbehelf], C‑824/18, EU:C:2021:153, Rn. 110 und die dort angeführte Rechtsprechung).
62 In sachlicher Hinsicht findet Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV in „den vom Unionsrecht erfassten Bereichen“ Anwendung, ohne dass es insoweit darauf ankäme, in welchem Kontext die Mitgliedstaaten Unionsrecht im Sinne von Art. 51 Abs. 1 der Charta durchführen (Urteil vom 2. März 2021, A.B. u. a. [Ernennung von Richtern am Obersten Gericht – Rechtsbehelf], C‑824/18, EU:C:2021:153, Rn. 111 und die dort angeführte Rechtsprechung).
63 Somit hat jeder Mitgliedstaat gemäß Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV u. a. dafür zu sorgen, dass Einrichtungen, die als „Gerichte“ im Sinne des Unionsrechts Bestandteil seines Rechtsbehelfssystems in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen sind und als solche daher möglicherweise über die Anwendung oder Auslegung des Unionsrechts entscheiden, den Anforderungen an einen wirksamen Rechtsschutz gerecht werden (Urteil vom 6. Oktober 2021, W.Ż. [Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten des Obersten Gerichts – Ernennung], C‑487/19, EU:C:2021:798, Rn. 104 und die dort angeführte Rechtsprechung).
64 Im vorliegenden Fall steht außer Frage, dass die polnischen Gerichte der ordentlichen Gerichtsbarkeit, zu denen Regionalgerichte wie der Sąd Okręgowy w Warszawie (Regionalgericht Warschau) gehören, zur Entscheidung über Fragen im Zusammenhang mit der Anwendung oder Auslegung des Unionsrechts berufen sein können und als „Gericht“ im Sinne des Unionsrechts Bestandteil des polnischen Rechtsbehelfssystems in den „vom Unionsrecht erfassten Bereichen“ im Sinne von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV sind, weshalb sie den Anforderungen an einen wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz genügen müssen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom6. Oktober 2021, W.Ż. [Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten des Obersten Gerichts – Ernennung], C‑487/19, EU:C:2021:798, Rn. 106 und die dort angeführte Rechtsprechung).
65 Um zu gewährleisten, dass solche Gerichte in der Lage sind, den nach Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV erforderlichen wirksamen Rechtsschutz sicherzustellen, ist es von grundlegender Bedeutung, dass ihre Unabhängigkeit gewahrt ist, wie Art. 47 Abs. 2 der Charta bestätigt, wonach zu den Anforderungen im Zusammenhang mit dem Grundrecht auf einen wirksamen Rechtsbehelf u. a. der Zugang zu einem „unabhängigen“ Gericht gehört (Urteil vom 6. Oktober 2021, W.Ż. [Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten des Obersten Gerichts – Ernennung], C‑487/19, EU:C:2021:798, Rn. 107 und die dort angeführte Rechtsprechung).
66 Wie der Gerichtshof wiederholt hervorgehoben hat, gehört das Erfordernis der Unabhängigkeit der Gerichte, das dem Auftrag des Richters inhärent ist, zum Wesensgehalt des Rechts auf wirksamen Rechtsschutz und des Grundrechts auf ein faires Verfahren, dem als Garant für den Schutz sämtlicher dem Rechtsunterworfenen aus dem Unionsrecht erwachsenden Rechte und für die Wahrung der in Art. 2 EUV genannten Werte, die den Mitgliedstaaten gemeinsam sind, u. a. des Wertes der Rechtsstaatlichkeit, grundlegende Bedeutung zukommt (Urteil vom 6. Oktober 2021, W.Ż. [Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten des Obersten Gerichts – Ernennung], C‑487/19, EU:C:2021:798, Rn. 108 und die dort angeführte Rechtsprechung).
67 Nach ständiger Rechtsprechung setzen die nach dem Unionsrecht erforderlichen Garantien der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit voraus, dass es Regeln insbesondere für die Zusammensetzung des Spruchkörpers, die Ernennung, die Amtsdauer und die Gründe für Enthaltung, Ablehnung und Abberufung ihrer Mitglieder gibt, die es ermöglichen, bei den Rechtsunterworfenen jeden berechtigten Zweifel an der Unempfänglichkeit des Spruchköpers für äußere Faktoren und an dessen Neutralität in Bezug auf die widerstreitenden Interessen auszuräumen (Urteil vom 6. Oktober 2021, W.Ż. [Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten des Obersten Gerichts – Ernennung], C‑487/19, EU:C:2021:798, Rn. 109 und die dort angeführte Rechtsprechung).
68 Nach dem für einen Rechtsstaat kennzeichnenden Grundsatz der Gewaltenteilung ist die Unabhängigkeit der Gerichte insbesondere gegenüber der Legislative und der Exekutive zu gewährleisten (Urteil vom 6. Oktober 2021, W.Ż. [Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten des Obersten Gerichts – Ernennung], C‑487/19, EU:C:2021:798, Rn. 127 und die dort angeführte Rechtsprechung).
69 Hierzu sind die Richter vor Interventionen oder Druck von außen, die ihre Unabhängigkeit gefährden könnten, zu schützen. Die für die Rechtsverhältnisse der Richter und die Ausübung des Richteramts geltenden Vorschriften müssen es insbesondere ermöglichen, nicht nur jede Form der unmittelbaren Einflussnahme in Form von Weisungen, sondern auch die Formen der mittelbaren Einflussnahme, die zur Steuerung der Entscheidungen der betreffenden Richter geeignet sein könnten, auszuschließen und damit dem Eindruck vorzubeugen, dass diese Richter nicht unabhängig und unparteiisch seien, wodurch das Vertrauen beeinträchtigt werden könnte, das die Justiz in einer demokratischen Gesellschaft und in einem Rechtsstaat bei den Rechtsunterworfenen schaffen muss (Urteil vom 6. Oktober 2021, W.Ż. [Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten des Obersten Gerichts – Ernennung], C‑487/19, EU:C:2021:798, Rn. 110 und die dort angeführte Rechtsprechung).
70 Im vorliegenden Fall hat das vorlegende Gericht Bedenken, weil der Justizminister eines Mitgliedstaats einen Richter nach Kriterien, die nicht bekannt gegeben werden, auf bestimmte oder unbestimmte Dauer an ein anderes Strafgericht abordnen und die Abordnung unabhängig davon, ob sie auf bestimmte oder unbestimmte Dauer erfolgt ist, jederzeit ohne Angabe von Gründen beenden kann.
71 Wie bereits ausgeführt (siehe oben, Rn. 67), setzen die nach dem Unionsrecht für Gerichte, die möglicherweise über die Anwendung und Auslegung des Unionsrechts entscheiden, erforderlichen Garantien der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit u. a. voraus, dass es Regeln für die Besetzung des Spruchkörpers, die Ernennung, die Amtsdauer und die Gründe für die Abberufung ihrer Mitglieder gibt, die es ermöglichen, bei den Rechtsunterworfenen jeden berechtigten Zweifel an der Unempfänglichkeit des Spruchkörpers für äußere Faktoren und an dessen Neutralität in Bezug auf die widerstreitenden Interessen auszuräumen. Zu diesen Regeln gehören zwangsläufig die Regeln über die Abordnung von Richtern, da sie – wie etwa Art. 77 des Gesetzes über die Organisation der ordentlichen Gerichtsbarkeit – geeignet sind, sowohl die Besetzung des Spruchkörpers, der über eine Rechtssache zu entscheiden hat, als auch die Amtsdauer der abgeordneten Richter zu beeinflussen, und die Möglichkeit vorsehen, dass die Abordnung bei einem oder mehreren Mitgliedern des Spruchkörpers beendet wird.
72 Die Mitgliedstaaten können zwar durchaus ein System anwenden, nach dem Richter im dienstlichen Interesse vorübergehend an ein anderes Gericht abgeordnet werden können (vgl. in diesem Sinne EGMR, 25. Oktober 2011, Richert/Polen, CE:ECHR:2011:1025JUD005480907, § 44, und 20. März 2012, Dryzek/Polen, CE:ECHR:2012:0320DEC001228509, § 49).
73 Das Erfordernis der Unabhängigkeit verlangt aber, dass die Regelung betreffend die Abordnung der Richter die erforderlichen Garantien der Unabhängigkeit und der Unparteilichkeit bietet, um auszuschließen, dass eine solche Regelung als Instrument zur politischen Kontrolle des Inhalts justizieller Entscheidungen eingesetzt wird (vgl. entsprechend Urteil vom 18. Mai 2021, Asociaţia Forumul Judecătorilor din România u. a., C‑83/19, C‑127/19, C‑195/19, C‑291/19, C‑355/19 und C‑397/19, EU:C:2021:393, Rn. 198 und die dort angeführte Rechtsprechung).
74 Letztlich wird es Sache des vorlegenden Gerichts sein, nachdem es die entsprechenden Feststellungen getroffen hat, nach den oben in den Rn. 59 bis 73 dargestellten Grundsätzen darüber zu entscheiden, ob die Umstände, unter denen der Justizminister einen Richter an ein Gericht höherer Ordnung abordnen und die Abordnung beenden kann, insgesamt betrachtet den Schluss zulassen, dass die betreffenden Richter während der Dauer ihrer Abordnung nicht über die Garantien der Unabhängigkeit und der Unparteilichkeit verfügen (vgl. entsprechend Urteil vom 6. Oktober 2021, W.Ż. [Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten des Obersten Gerichts – Ernennung], C‑487/19, EU:C:2021:798, Rn. 131).
75 Nach Art. 267 AEUV ist der Gerichtshof nämlich nicht befugt, die Normen des Unionsrechts auf einen Einzelfall anzuwenden, sondern darf sich nur zur Auslegung der Verträge und der Handlungen der Unionsorgane äußern, indem er das Unionsrecht unter Berücksichtigung der ihm vorliegenden Akten auslegt, soweit dies dem vorlegenden Gericht bei der Beurteilung der Wirkungen einer unionsrechtlichen Bestimmung dienlich sein könnte (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. Oktober 2021, W.Ż. [Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten des Obersten Gerichts – Ernennung], C‑487/19, EU:C:2021:798, Rn. 132 und 133 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).
76 Dass der Justizminister nach Art. 77 § 1 des Gesetzes über die Organisation der ordentlichen Gerichtsbarkeit einen Richter nur mit dessen Zustimmung zur Wahrnehmung richterlicher oder administrativer Aufgaben an ein anderes Gericht abordnen kann, stellt zwar eine wichtige Verfahrensgarantie dar.
77 Was die polnische Regelung über die Abordnung von Richtern und die Bedingungen angeht, unter denen Richter an den Sąd Okręgowy w Warszawie (Regionalgericht Warschau) abgeordnet wurden, hat das vorlegende Gericht allerdings eine Reihe von Umständen angeführt, die den Justizminister nach seiner Auffassung in die Lage versetzen, die abgeordneten Richter zu beeinflussen, so dass Zweifel an ihrer Unabhängigkeit entstehen können.
78 Wie das vorlegende Gericht ausgeführt hat, werden erstens die Kriterien, die der Justizminister bei der Abordnung von Richtern anwendet, nicht bekannt gegeben. Außerdem ist der Justizminister befugt, eine Abordnung jederzeit zu beenden, ohne dass die Kriterien, die diese Befugnis gegebenenfalls begrenzen, bekannt wären und ohne dass eine solche Entscheidung begründet werden müsste.
79 Zur Vermeidung von Willkür und Manipulationen müssen die Entscheidung über die Abordnung eines Richters und die Entscheidung, mit der die Abordnung beendet wird, insbesondere im Falle einer Abordnung an ein Gericht höherer Ordnung jedoch anhand von im Vorhinein bekannten Kriterien getroffen werden und ordnungsgemäß begründet werden.
80 Zweitens ergibt sich aus Art. 77 § 4 des Gesetzes über die Organisation der ordentlichen Gerichtsbarkeit, dass der Justizminister die Abordnung eines Richters unabhängig davon, ob sie auf bestimmte oder unbestimmte Dauer erfolgt ist, beenden kann und dass die Beendigung der Abordnung in dem besonderen Fall, dass ein Richter auf bestimmte Zeit abgeordnet worden ist, sogar fristlos erfolgen kann. Diese Bestimmung ermöglicht es dem Justizminister mithin, die Abordnung eines Richters jederzeit zu beenden. Außerdem sieht sie keine besonderen Voraussetzungen für die Beendigung der Abordnung vor.
81 So könnte die dem Justizminister eingeräumte Möglichkeit, die Abordnung eines Richters jederzeit zu beenden, insbesondere im Fall einer Abordnung an ein Gericht höherer Ordnung, bei einem Rechtsunterworfenen den Eindruck erwecken, dass der abgeordnete Richter, der über seinen Fall zu entscheiden hat, bei seiner Entscheidungsfindung dadurch beeinflusst wird, dass er befürchtet, dass seine Abordnung beendet wird.
82 Außerdem könnte der Umstand, dass die Abordnung eines Richters jederzeit und ohne allgemein bekannte Gründe widerrufen werden kann, beim abgeordneten Richter auch das Gefühl hervorrufen, dass er den Erwartungen des Justizministers entsprechen muss, was bei den Richtern selbst den Eindruck entstehen lassen könnte, dass sie dem Justizminister „unterstehen“, was nicht mit dem Grundsatz der Unabsetzbarkeit der Richter vereinbar wäre.
83 Schließlich ist festzustellen, dass für einen Richter die Beendigung seiner Abordnung ohne seine Zustimmung Wirkungen haben kann, die mit denen einer Disziplinarstrafe vergleichbar sind. Art. 19 Abs. 1 Unterabs.2 EUV verlangt, dass die entsprechende Regelung die erforderlichen Garantien aufweist, um auszuschließen, dass eine solche Regelung als Instrument zur politischen Kontrolle des Inhalts justizieller Entscheidungen eingesetzt wird, was insbesondere voraussetzt, dass die Maßnahme vor den Gerichten nach einem Verfahren angefochten werden kann, das die in den Art. 47 und 48 der Charta verbürgten Rechte in vollem Umfang gewährleistet (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. Oktober 2021, W.Ż. [Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten des Obersten Gerichts – Ernennung], C‑487/19, EU:C:2021:798, Rn. 115 und 118).
84 Drittens kann der Justizminister, wie bereits ausgeführt (siehe oben, Rn. 80), indem er die Abordnung eines Richters beendet, eine Entscheidung treffen, die sich auf die Besetzung eines Spruchkörpers auswirkt. Gleichzeitig übt er nach Art. 1 § 2 des Gesetzes über die Staatsanwaltschaft aber das Amt des Generalstaatsanwalts aus, und ihm unterstehen nach Art. 13 § 2 dieses Gesetzes u. a. die Staatsanwälte der ordentlichen Gerichtsbarkeit. So verfügt der Justizminister in einer bestimmten Strafsache über Macht sowohl über den Staatsanwalt der ordentlichen Gerichtsbarkeit als auch über die abgeordneten Richter, was geeignet ist, bei den Rechtsunterworfenen begründete Zweifel an der Unparteilichkeit der abgeordneten Richter aufkommen zu lassen, wenn diese in einer solchen Rechtssache entscheiden.
85 Viertens sind Richter, die an Spruchkörper abgeordnet sind, die in den Ausgangsverfahren zu entscheiden haben, nach den Angaben des vorlegenden Gerichts gleichzeitig weiter – wie vor ihrer Abordnung – als stellvertretende Disziplinarbeauftragte tätig. Der Disziplinarbeauftragte ist damit betraut, gegebenenfalls unter Aufsicht des Justizministers, die Disziplinarverfahren gegen Richter durchzuführen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 15. Juli 2021, Kommission/Polen [Disziplinarordnung für Richter], C‑791/19, EU:C:2021:596, Rn. 233).
86 Wie der Generalanwalt in Nr. 190 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, ist die gleichzeitige Ausübung des Amts eines abgeordneten Richters und des Amts des stellvertretenden Disziplinarbeauftragten vor dem Hintergrund, dass die stellvertretenden Disziplinarbeauftragten nach Art. 112 des Gesetzes über die Organisation der ordentlichen Gerichtsbarkeit ebenfalls vom Justizminister ernannt werden, aber geeignet, bei den Rechtsunterworfenen berechtigte Zweifel an der Unempfindlichkeit der anderen Mitglieder der betreffenden Spruchkörper für äußere Faktoren im Sinne der oben in den Rn. 67 und 68 dargestellten Rechtsprechung zu wecken, da die anderen Mitglieder möglicherweise befürchten, dass der abgeordnete Richter bei einem gegen sie eingeleiteten Disziplinarverfahren mitwirkt.
87 Somit ist festzustellen, dass die oben in den Rn. 76 bis 86 genannten Umstände – vorbehaltlich der insoweit vom vorlegenden Gericht vorzunehmenden abschließenden Würdigung – insgesamt betrachtet den Schluss zulassen, dass der Justizminister, der gleichzeitig Generalstaatsanwalt ist, auf der Grundlage von Kriterien, die nicht offiziell bekannt sind, befugt ist, Richter an Gerichte höherer Ordnung abzuordnen und die Abordnung jederzeit, ohne seine Entscheidung begründen zu müssen, zu beenden, so dass die abgeordneten Richter während der Dauer der Abordnung nicht über die Garantien und die Unabhängigkeit verfügen, über die ein Richter in einem Rechtsstaat normalerweise verfügen muss. Eine solche Befugnis ist nach der oben in Rn. 73 dargestellten Rechtsprechung nicht mit der Verpflichtung zur Beachtung des Erfordernisses der Unabhängigkeit vereinbar.
88 Im Übrigen setzt die Unschuldsvermutung, von der im 22. Erwägungsgrund und in Art. 6 der Richtlinie 2016/343 die Rede ist und auf die in Frage 1 ebenfalls Bezug genommen wird, voraus, dass der Richter unparteiisch und unvoreingenommen ist, wenn er die strafrechtliche Verantwortlichkeit des Angeklagten prüft. Die Unabhängigkeit und die Unparteilichkeit der Richter sind daher wesentliche Voraussetzungen für die Gewährleistung der Unschuldsvermutung.
89 Im vorliegenden Fall können die Unabhängigkeit und die Unparteilichkeit der Richter und damit die Unschuldsvermutung unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens, wie sie oben in Rn. 87 beschrieben sind, beeinträchtigt werden.
90 Nach alledem ist auf Frage 1 zu antworten, dass Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV in Verbindung mit Art. 2 EUV und Art. 6 Abs. 1 und 2 der Richtlinie 2016/343 dahin auszulegen sind, dass sie innerstaatlichen Rechtsvorschriften entgegenstehen, nach denen der Justizminister eines Mitgliedstaats einen Richter nach Kriterien, die nicht bekannt gegeben werden, auf bestimmte oder unbestimmte Dauer an ein Strafgericht höherer Ordnung abordnen und die Abordnung unabhängig davon, ob sie auf bestimmte oder unbestimmte Dauer erfolgt ist, jederzeit ohne Angabe von Gründen beenden kann.
Zu den Fragen 2, 3 und 4
91 Mit Frage 2 möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob die Erfordernisse des wirksamen gerichtlichen Rechtsschutzes, zu denen die Unabhängigkeit der Justiz zählt, und die Erfordernisse der Unschuldsvermutung dadurch missachtet werden, dass, falls gegen die Urteile, die in den Ausgangsverfahren ergehen werden, beim Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht, Polen) Kassationsbeschwerden eingelegt werden sollten, diese einem auf Vorschlag der KRS ernannten Richter zugewiesen werden könnten. Mit Frage 3 möchte das vorlegende Gericht wissen, welche Rechtswirkungen die Urteile, die in den Ausgangsverfahren ergehen werden, haben, wenn sie von einem Spruchkörper erlassen werden, dem ein oder mehrere vom Justizminister abgeordnete Richter angehören, und, wenn Kassationsbeschwerden eingelegt werden, welche Rechtswirkungen eine Entscheidung des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) hat, an der ein auf Vorschlag der KRS ernannter Richter mitgewirkt hat. Mit Frage 4 möchte das vorlegende Gericht wissen, ob für die Beantwortung von Frage 3 von Bedeutung sein kann, dass das betreffende Gericht zugunsten oder zu Ungunsten des Angeklagten entschieden hat.
92 Nach Auffassung der polnischen Regierung, der Staatsanwaltschaft der Region Lublin, der Staatsanwaltschaft der Region Warschau und der Europäischen Kommission sind die Fragen 2, 3 und 4 unzulässig. Hierzu ist festzustellen, dass der Gerichtshof die Beantwortung einer Vorlagefrage eines nationalen Gerichts nur ablehnen kann, wenn die Auslegung einer Vorschrift des Unionsrechts, um die ersucht wird, offensichtlich in keinem Zusammenhang mit den Gegebenheiten oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits steht, wenn das Problem hypothetischer Natur ist oder wenn der Gerichtshof nicht über die tatsächlichen und rechtlichen Angaben verfügt, die für eine zweckdienliche Beantwortung der ihm vorgelegten Fragen erforderlich sind (Urteil vom 10. Dezember 2018, Wightman u. a., C‑621/18, EU:C:2018:999, Rn. 27 und die dort angeführte Rechtsprechung).
93 Im vorliegenden Fall sind die Fragen 2, 3 und 4 insoweit rein hypothetisch, als sie voraussetzen, dass gegen die Urteile, die in den Ausgangsverfahren ergehen werden, beim Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) Kassationsbeschwerden eingelegt werden. Soweit die Fragen 3 und 4 die Rechtswirkungen der Urteile, die in den Ausgangsverfahren ergehen werden, betreffen, verfügt der Gerichtshof auch nicht über die tatsächlichen und rechtlichen Angaben, die für eine zweckdienliche Beantwortung dieser Fragen erforderlich sind. Das vorlegende Gericht hat nämlich nicht erläutert, inwieweit die Beantwortung der Fragen 3 und 4 möglicherweise für die von ihm in den Ausgangsverfahren zu treffenden Entscheidungen relevant ist.
94 Die Fragen 2, 3 und 4 sind mithin unzulässig.
Kosten
95 Für die Beteiligten der Ausgangsverfahren ist das Verfahren Teil der bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Verfahren; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Große Kammer) für Recht erkannt:
Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV in Verbindung mit Art. 2 EUV und Art. 6 Abs. 1 und 2 der Richtlinie (EU) 2016/343 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. März 2016 über die Stärkung bestimmter Aspekte der Unschuldsvermutung und des Rechts auf Anwesenheit in der Verhandlung in Strafverfahren sind dahin auszulegen, dass sie innerstaatlichen Rechtsvorschriften entgegenstehen, nach denen der Justizminister eines Mitgliedstaats einen Richter nach Kriterien, die nicht bekannt gegeben werden, auf bestimmte oder unbestimmte Dauer an ein Strafgericht höherer Ordnung abordnen und die Abordnung unabhängig davon, ob sie auf bestimmte oder unbestimmte Dauer erfolgt ist, jederzeit ohne Angabe von Gründen beenden kann.
Unterschriften
(*1) Verfahrenssprache: Polnisch.
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Urteil des Gerichtshofs (Große Kammer) vom 17. Dezember 2020.#Verfahren betreffend die Auslieferung von BY.#Vorabentscheidungsersuchen des Kammergerichts Berlin.#Vorlage zur Vorabentscheidung – Unionsbürgerschaft – Art. 18 und 21 AEUV – Auslieferung eines Unionsbürgers an einen Drittstaat – Person, die die Unionsbürgerschaft nach Verlegung ihres Lebensmittelpunkts in den ersuchten Mitgliedstaat erworben hat – Anwendungsbereich des Unionsrechts – Nur für Inländer geltendes Auslieferungsverbot – Beschränkung der Freizügigkeit – Rechtfertigung durch die Vermeidung der Straflosigkeit – Verhältnismäßigkeit – Unterrichtung des Mitgliedstaats, dessen Staatsangehörigkeit die gesuchte Person besitzt – Verpflichtung des ersuchten Mitgliedstaats und des Herkunftsmitgliedstaats, den ersuchenden Drittstaat um Übermittlung der Strafakte zu ersuchen – Fehlen.#Rechtssache C-398/19.
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62019CJ0398
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ECLI:EU:C:2020:1032
| 2020-12-17T00:00:00 |
Hogan, Gerichtshof
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62019CJ0398
URTEIL DES GERICHTSHOFS (Große Kammer)
17. Dezember 2020 (*1)
„Vorlage zur Vorabentscheidung – Unionsbürgerschaft – Art. 18 und 21 AEUV – Auslieferung eines Unionsbürgers an einen Drittstaat – Person, die die Unionsbürgerschaft nach Verlegung ihres Lebensmittelpunkts in den ersuchten Mitgliedstaat erworben hat – Anwendungsbereich des Unionsrechts – Nur für Inländer geltendes Auslieferungsverbot – Beschränkung der Freizügigkeit – Rechtfertigung durch die Vermeidung der Straflosigkeit – Verhältnismäßigkeit – Unterrichtung des Mitgliedstaats, dessen Staatsangehörigkeit die gesuchte Person besitzt – Verpflichtung des ersuchten Mitgliedstaats und des Herkunftsmitgliedstaats, den ersuchenden Drittstaat um Übermittlung der Strafakte zu ersuchen – Fehlen“
In der Rechtssache C‑398/19
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Kammergericht Berlin (Deutschland) mit Entscheidung vom 14. Mai 2019, beim Gerichtshof eingegangen am 23. Mai 2019, in dem Verfahren betreffend die Auslieferung von
BY,
Beteiligte:
Generalstaatsanwaltschaft Berlin,
erlässt
DER GERICHTSHOF (Große Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten K. Lenaerts, der Vizepräsidentin R. Silva de Lapuerta, der Kammerpräsidenten J.‑C. Bonichot, M. Vilaras, E. Regan, M. Ilešič, L. Bay Larsen, A. Kumin und N. Wahl, der Richter S. Rodin und F. Biltgen, der Richterin K. Jürimäe (Berichterstatterin) sowie der Richter C. Lycourgos, I. Jarukaitis und N. Jääskinen,
Generalanwalt: G. Hogan,
Kanzler: D. Dittert, Referatsleiter,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 16. Juni 2020,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
–
von BY, vertreten durch Rechtsanwalt K. Peters,
–
der deutschen Regierung, vertreten durch J. Möller, M. Hellmann, R. Kanitz, F. Halabi und A. Berg als Bevollmächtigte,
–
von Irland, vertreten durch M. Browne, G. Hodge, J. Quaney und A. Joyce als Bevollmächtigte im Beistand von M. Gray, SC,
–
der griechischen Regierung, vertreten durch V. Karra, A. Magrippi und E. Tsaousi als Bevollmächtigte,
–
der lettischen Regierung, vertreten durch I. Kucina, V. Soņeca und L. Juškeviča als Bevollmächtigte,
–
der ungarischen Regierung, vertreten durch M. Z. Fehér und R. Kissné Berta als Bevollmächtigte,
–
der österreichischen Regierung, vertreten durch J. Schmoll und M. Augustin als Bevollmächtigte,
–
der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna als Bevollmächtigten,
–
der rumänischen Regierung, vertreten durch L. Liţu, S.‑A. Purza und C.‑R. Canţăr als Bevollmächtigte,
–
der Europäischen Kommission, vertreten durch S. Grünheid und R. Troosters als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 24. September 2020
folgendes
Urteil
1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Art. 18 und 21 AEUV sowie des Urteils vom 6. September 2016, Petruhhin (C‑182/15, EU:C:2016:630).
2 Es ergeht im Zusammenhang mit einem an die deutschen Behörden gerichteten Ersuchen der ukrainischen Behörden um Auslieferung zum Zwecke der Strafverfolgung von BY, der die ukrainische und die rumänische Staatsangehörigkeit besitzt.
Rechtlicher Rahmen
Europäisches Auslieferungsübereinkommen
3 Art. 1 des am 13. Dezember 1957 in Paris unterzeichneten Europäischen Auslieferungsübereinkommens (im Folgenden: Europäisches Auslieferungsübereinkommen) bestimmt:
„Die Vertragsparteien verpflichten sich, gemäß den nachstehenden Vorschriften und Bedingungen einander die Personen auszuliefern, die von den Justizbehörden des ersuchenden Staates wegen einer strafbaren Handlung verfolgt oder zur Vollstreckung einer Strafe oder einer Maßregel der Sicherung und Besserung gesucht werden.“
4 Art. 6 („Auslieferung eigener Staatsangehöriger“) des Übereinkommens bestimmt:
„1
a
Jede Vertragspartei ist berechtigt, die Auslieferung ihrer Staatsangehörigen abzulehnen.
b
Jede Vertragspartei kann, was sie betrifft, bei der Unterzeichnung oder der Hinterlegung ihrer Ratifikations- oder Beitrittsurkunde durch eine Erklärung den Begriff ‚Staatsangehörige‘ im Sinne dieses Übereinkommens bestimmen.
c
Für die Beurteilung der Eigenschaft als Staatsangehöriger ist der Zeitpunkt der Entscheidung über die Auslieferung maßgebend. …
2 Liefert der ersuchte Staat seinen Staatsangehörigen nicht aus, so hat er auf Begehren des ersuchenden Staates die Angelegenheit den zuständigen Behörden zu unterbreiten, damit gegebenenfalls eine gerichtliche Verfolgung durchgeführt werden kann. Zu diesem Zweck sind die auf die strafbare Handlung bezüglichen Akten, Unterlagen und Gegenstände kostenlos auf dem in Artikel 12 Abs. 1 vorgesehenen Wege zu übermitteln. Dem ersuchenden Staat ist mitzuteilen, inwieweit seinem Begehren Folge gegeben worden ist.“
5 Art. 12 Abs. 2 des Übereinkommens bestimmt:
„Dem Ersuchen sind beizufügen:
a
die Urschrift oder eine beglaubigte Abschrift eines vollstreckbaren verurteilenden Erkenntnisses, eines Haftbefehls oder jeder anderen, nach den Formvorschriften des ersuchenden Staates ausgestellten Urkunde mit gleicher Rechtswirkung;
b
eine Darstellung der Handlungen, derentwegen um Auslieferung ersucht wird. Zeit und Ort ihrer Begehung sowie ihre rechtliche Würdigung unter Bezugnahme auf die anwendbaren Gesetzesbestimmungen sind so genau wie möglich anzugeben;
c
eine Abschrift der anwendbaren Gesetzesbestimmungen oder, sofern dies nicht möglich ist, eine Erklärung über das anwendbare Recht sowie eine möglichst genaue Beschreibung des Verfolgten und alle anderen zur Feststellung seiner Identität und Staatsangehörigkeit geeigneten Angaben.“
6 Die Bundesrepublik Deutschland hat zu Art. 6 des Europäischen Auslieferungsübereinkommens folgende Erklärung abgegeben:
„Die Auslieferung eines Deutschen aus der Bundesrepublik Deutschland an das Ausland ist nach Artikel 16 Absatz 2 Satz 1 des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland [vom 23. Mai 1949, BGBl. I S. 1] nicht zulässig und muss daher in jedem Fall abgelehnt werden.
Der Begriff ‚Staatsangehörige‘ im Sinne des Artikels 6 Absatz 1 Buchstabe b des Europäischen Auslieferungsabkommens umfasst alle Deutschen im Sinne des Artikels 116 Absatz 1 des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland.“
Rahmenbeschluss 2002/584/JI
7 Der Rahmenbeschluss 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten (ABl. 2002, L 190, S. 1) bestimmt in Art. 1 Abs. 1 und 2:
„(1) Bei dem Europäischen Haftbefehl handelt es sich um eine justizielle Entscheidung, die in einem Mitgliedstaat ergangen ist und die Festnahme und Übergabe einer gesuchten Person durch einen anderen Mitgliedstaat zur Strafverfolgung oder zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe oder einer freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung bezweckt.
(2) Die Mitgliedstaaten vollstrecken jeden Europäischen Haftbefehl nach dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung und gemäß den Bestimmungen dieses Rahmenbeschlusses.“
Deutsches Recht
Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland
8 Art. 16 Abs. 2 des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland bestimmt:
„Kein Deutscher darf an das Ausland ausgeliefert werden. Durch Gesetz kann eine abweichende Regelung für Auslieferungen an einen Mitgliedstaat der Europäischen Union oder an einen internationalen Gerichtshof getroffen werden, soweit rechtsstaatliche Grundsätze gewahrt sind.“
Strafgesetzbuch
9 § 7 des Strafgesetzbuchs in der im Ausgangsverfahren anwendbaren Fassung bestimmt:
„(1) Das deutsche Strafrecht gilt für Taten, die im Ausland gegen einen Deutschen begangen werden, wenn die Tat am Tatort mit Strafe bedroht ist oder der Tatort keiner Strafgewalt unterliegt.
(2) Für andere Taten, die im Ausland begangen werden, gilt das deutsche Strafrecht, wenn die Tat am Tatort mit Strafe bedroht ist oder der Tatort keiner Strafgewalt unterliegt und wenn der Täter
1. zur Zeit der Tat Deutscher war oder es nach der Tat geworden ist oder
2. zur Zeit der Tat Ausländer war, im Inland betroffen und, obwohl das Auslieferungsgesetz seine Auslieferung nach der Art der Tat zuließe, nicht ausgeliefert wird, weil ein Auslieferungsersuchen innerhalb angemessener Frist nicht gestellt oder abgelehnt wird oder die Auslieferung nicht ausführbar ist.“
Ausgangsverfahren und Vorlagefragen
10 BY besitzt die ukrainische und die rumänische Staatsangehörigkeit. Er wurde in der Ukraine geboren, wo er bis zu seinem Umzug nach Deutschland im Jahr 2012 auch lebte. Als Nachfahre früherer, in der ehemals rumänischen Bukowina lebender rumänischer Staatsangehöriger erhielt er 2014 auf Antrag die rumänische Staatsangehörigkeit. Er hatte allerdings nie einen Lebensmittelpunkt in Rumänien.
11 Am 15. März 2016 erließ die Generalstaatsanwaltschaft der Ukraine auf der Grundlage eines Haftbefehls eines ukrainischen Gerichts wegen der Veruntreuung von Geldern eines ukrainischen staatlichen Unternehmens ein formelles Ersuchen um Auslieferung von BY zum Zwecke der Strafverfolgung, das der Bundesrepublik Deutschland über das ukrainische Justizministerium übermittelt wurde.
12 BY wurde am 26. Juli 2016 vorläufig festgenommen. Das Kammergericht Berlin (Deutschland) ordnete gegen BY mit Beschluss vom 1. August 2016 die Auslieferungshaft an. Gemäß einem Beschluss des Kammergerichts vom 28. November 2016 wurde BY am 2. Dezember 2016 nach Hinterlegung einer Sicherheit unter Auflagen aus der Auslieferungshaft entlassen.
13 In der Zwischenzeit hatte die Generalstaatsanwaltschaft Berlin (Deutschland) das rumänische Justizministerium mit Schreiben vom 9. November 2016 unter Beifügung des in der vorstehenden Randnummer genannten Beschlusses vom 1. August 2016 über das Auslieferungsersuchen unterrichtet und angefragt, ob im Fall von BY eine Übernahme der Strafverfolgung beabsichtigt sei, da BY die rumänische Staatsangehörigkeit besitze und im Ausland Straftaten begangen habe. Das rumänische Justizministerium teilte auf diese Anfrage mit Schreiben vom 22. November 2016 mit, dass über eine Übernahme der Strafverfolgung nur auf ein Ersuchen der ukrainischen Behörden hin entschieden werden könne. Die Generalstaatsanwaltschaft Berlin fragte daraufhin mit Schreiben vom 2. Januar 2017 ergänzend an, ob das rumänische Recht die Verfolgung der in Rede stehenden Taten ermögliche. Das rumänische Justizministerium teilte in seiner Antwort vom 15. März 2017 mit, dass der Erlass eines nationalen Haftbefehls als Voraussetzung eines Europäischen Haftbefehls eine hinreichende Beweislage für die Täterschaft des Verfolgten voraussetze. Es ersuchte die Generalstaatsanwaltschaft Berlin, Unterlagen und Kopien der von den ukrainischen Behörden übermittelten Beweismittel für die BY zur Last gelegten Taten beizubringen.
14 Das vorlegende Gericht versteht dieses Schreiben dahin, dass das rumänische Recht die Verfolgung eines rumänischen Staatsbürgers wegen im Ausland begangener Taten grundsätzlich ermöglicht.
15 Es erachtet die Auslieferung von BY an die Ukraine für zulässig, meint jedoch, dass ihr das Urteil vom 6. September 2016, Petruhhin (C‑182/15, EU:C:2016:630), entgegenstehen könne, da die rumänischen Justizbehörden nicht formell über die Ausstellung eines Europäischen Haftbefehls entschieden hätten. Das vorlegende Gericht weist darauf hin, dass die Bundesrepublik Deutschland eigene Staatsangehörige nicht ausliefere, für Staatsangehörige anderer Mitgliedstaaten jedoch kein Auslieferungsverbot bestehe. Wegen der besonderen Umstände des Einzelfalls, der von dem Sachverhalt, der dem genannten Urteil zugrunde liege, abweiche, sei jedoch fraglich, welche Folgen sich aus dem genannten Urteil für die Entscheidung des bei ihm anhängigen Rechtsstreits ergäben.
16 Als Erstes weist das vorlegende Gericht darauf hin, dass BY seinen Lebensmittelpunkt zu einem Zeitpunkt nach Deutschland verlegt habe, in dem er lediglich die ukrainische Staatsbürgerschaft besessen habe, und dass er die rumänische Staatsangehörigkeit erst später erworben habe. BY habe seinen Aufenthalt in Deutschland daher nicht in Ausübung des Rechts aus Art. 21 Abs. 1 AEUV begründet. Deshalb sei fraglich, ob die Grundsätze aus dem Urteil vom 6. September 2016, Petruhhin (C‑182/15, EU:C:2016:630), im Fall von BY anwendbar seien.
17 Als Zweites weist das vorlegende Gericht auf ein praktisches Problem bei der Umsetzung der sich aus dem genannten Urteil ergebenden Grundsätze hin. Die rumänischen Justizbehörden könnten über die Frage, ob sie im Fall von BY eine Strafverfolgung für zweckmäßig hielten, nur entscheiden, wenn sie über die gegen BY vorliegenden Beweise verfügten. Solche Beweise zählten jedoch nicht zu den Dokumenten, die einem Auslieferungsersuchen gemäß Art. 12 Abs. 2 des Europäischen Auslieferungsübereinkommens beizufügen seien. Es sei dem ersuchten Mitgliedstaat somit nicht möglich, den rumänischen Justizbehörden diese Beweise zu übermitteln. Jedenfalls könnte die Übermittlung solcher Beweise an den Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit die gesuchte Person besitze, ebenso wie die Übermittlung des vollständigen Auslieferungsersuchens allein der souveränen Entscheidung des ersuchenden Drittstaates unterliegen.
18 Aus Sicht des vorlegenden Gerichts ist daher fraglich, ob die Behörden des Mitgliedstaats, dessen Staatsangehörigkeit die gesuchte Person besitze, wenn sie vom ersuchten Mitgliedstaat über ein Auslieferungsersuchen unterrichtet würden, verpflichtet seien, den ersuchenden Drittstaat um Übermittlung der Strafakte zu ersuchen, um die Möglichkeit der Übernahme der Strafverfolgung prüfen zu können. Dies wäre möglicherweise mit einem hohen Zeitaufwand verbunden, der kaum vertretbar erscheine. Es wäre ebenso schwer praktikabel, vom ersuchten Mitgliedstaat zu verlangen, dass er den Drittstaat darum ersucht, ein Verfolgungsübernahmeersuchen an den Mitgliedstaat zu richten, dessen Staatangehörigkeit die gesuchte Person besitzt.
19 Als Drittes weist das vorlegende Gericht darauf hin, dass nach dem deutschen Strafrecht, nämlich § 7 Abs. 2 des Strafgesetzbuchs, eine Auffangzuständigkeit zur Verfolgung von Auslandstaten für den Fall der Nichtauslieferung begründet sei, die auch für Ausländer gelte. Aus Sicht des vorlegenden Gerichts ist fraglich, ob das Diskriminierungsverbot aus Art. 18 AEUV es gebiete, diese Bestimmung anzuwenden und die Auslieferung eines Unionsbürgers für unzulässig zu erklären. Das vorlegende Gericht sieht bei einer solchen Vorgehensweise allerdings eine Gefährdung einer effektiven Strafverfolgung.
20 Wenn aufgrund dieser Auffangzuständigkeit die Auslieferung eines Unionsbürgers von vornherein unzulässig wäre, kämen nämlich nach einer anderen Bestimmung des deutschen Rechts auch der Erlass eines Auslieferungshaftbefehls und damit auch die Anordnung der Auslieferungshaft nicht in Betracht. Der Erlass eines nationalen Haftbefehls setze in Deutschland einen dringenden Tatverdacht voraus, der nur auf der Grundlage einer Prüfung der gegen den Verfolgten vorliegenden Beweismittel bejaht werden könne. Zu deren Beschaffung müssten die deutschen Behörden dem ersuchenden Drittstaat die Verfolgungsübernahme anbieten bzw. ein entsprechendes Begehren des Drittstaats initiieren, was wiederum mit einem hohen Zeitaufwand verbunden wäre.
21 Das Kammergericht Berlin hat das Verfahren deshalb ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:
1. Gelten die Grundsätze aus dem Urteil des Gerichtshofs vom 6. September 2016, Petruhhin (C‑182/15, EU:C:2016:630), zur Anwendung von Art. 18 und 21 AEUV im Falle des Ersuchens eines Drittstaats auf Auslieferung eines Unionsbürgers auch dann, wenn der Verfolgte seinen Lebensmittelpunkt in den ersuchten Mitgliedstaat zu einem Zeitpunkt verlegt hat, in dem er noch nicht Unionsbürger war?
2. Ist auf der Grundlage des Urteils des Gerichtshofs vom 6. September 2016, Petruhhin (C‑182/15, EU:C:2016:630), der über ein Auslieferungsersuchen unterrichtete Heimatmitgliedstaat verpflichtet, den ersuchenden Drittstaat um Übermittlung der Akten zur Prüfung der Verfolgungsübernahme zu ersuchen?
3. Ist der von einem Drittstaat um die Auslieferung eines Unionsbürgers ersuchte Mitgliedstaat auf der Grundlage des Urteils des Gerichtshofs vom 6. September 2016, Petruhhin (C‑182/15, EU:C:2016:630), verpflichtet, die Auslieferung abzulehnen und die Strafverfolgung selbst zu übernehmen, wenn ihm dies nach seinem nationalen Recht möglich ist?
Zur Zuständigkeit des Gerichtshofs
22 Irland macht geltend, dass der Gerichtshof für die Entscheidung über das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen nicht zuständig sei. Die Rechtsstellung eines Unionsbürgers falle nur dann in den Anwendungsbereich des Unionsrechts, wenn dieser von seiner Freizügigkeit Gebrauch gemacht habe, als er bereits den Status eines Unionsbürgers besessen habe. Dies sei bei BY zu dem Zeitpunkt, als er seinen Lebensmittelpunkt von der Ukraine nach Deutschland verlegt habe, nicht der Fall gewesen. BY habe sich in Deutschland mithin nicht in Ausübung eines Rechts aus Art. 21 AEUV aufgehalten und nicht als Unionsbürger gehandelt. Er könne sich daher nicht auf Art. 18 AEUV berufen.
23 Es ist festzustellen, dass dieses Vorbringen mit der Prüfung von Frage 1 zusammenfällt, mit der das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen möchte, ob die Art. 18 und 21 AEUV, wie sie vom Gerichtshof im Urteil vom 6. September 2016, Petruhhin (C‑182/15, EU:C:2016:630), ausgelegt wurden, auf den Fall eines Unionsbürgers anwendbar sind, der wie BY seinen Lebensmittelpunkt in einen anderen Mitgliedstaat als den, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, zu einem Zeitpunkt verlegt hat, als er noch nicht den Status eines Unionsbürgers besaß.
24 Es ist offenkundig, dass der Gerichtshof zuständig ist, dem vorlegenden Gericht die relevanten Hinweise zur Auslegung zu geben, anhand deren es feststellen kann, ob das Unionsrecht auf einen solchen Sachverhalt anwendbar ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 5. Mai 2011, McCarthy, C‑434/09, EU:C:2011:277, Rn. 43 und 56).
25 Daran ändert auch der Umstand nichts, dass die Fragen 2 und 3, wenn Frage 1 verneinend dahin beantwortet würde, dass die Art. 18 und 21 AEUV auf einen solchen Sachverhalt nicht anwendbar sind, nicht mehr zu prüfen wären.
26 Der Gerichtshof ist mithin für die Entscheidung über das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen zuständig.
Zu den Vorlagefragen
Zu Frage 1
27 Mit Frage 1 möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die Art. 18 und 21 AEUV dahin auszulegen sind, dass sie auf den Fall eines Unionsbürgers anwendbar sind, der die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzt, sich im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats aufhält und Gegenstand eines von einem Drittstaat an diesen Mitgliedstaat gerichteten Auslieferungsersuchens ist, auch wenn der betreffende Unionsbürger seinen Lebensmittelpunkt in diesen anderen Mitgliedstaat zu einem Zeitpunkt verlegt hat, als er noch nicht den Status eines Unionsbürgers hatte.
28 Es ist darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof in dem Urteil vom 6. September 2016, Petruhhin (C‑182/15, EU:C:2016:630, Rn. 30), das wie hier ein Auslieferungsersuchen eines Drittstaats betraf, mit dem die Union kein Auslieferungsabkommen geschlossen hat, entschieden hat, dass die Auslieferungsvorschriften mangels eines solchen Abkommens zwar in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten fallen, zu den Situationen, die in den Anwendungsbereich von Art. 18 AEUV in Verbindung mit den Bestimmungen des AEU-Vertrags über die Unionsbürgerschaft fallen, aber diejenigen gehören, die die Ausübung der durch Art. 21 AEUV verliehenen Freiheit betreffen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten zu bewegen und aufzuhalten.
29 Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs fällt eine Person, die die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzt und daher den Status eines Unionsbürgers hat, wenn sie sich rechtmäßig im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats aufhält, in den Anwendungsbereich des Unionsrechts (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 2. Oktober 2003, Garcia Avello, C‑148/02, EU:C:2003:539, Rn. 26 und 27, und vom 8. Juni 2017, Freitag, C‑541/15, EU:C:2017:432, Rn. 34).
30 Folglich hat eine Person, die die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzt und sich in einem anderen Mitgliedstaat aufhält, als Unionsbürger das Recht, sich auf Art. 21 Abs. 1 AEUV zu berufen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 19. Oktober 2004, Zhu und Chen, C‑200/02, EU:C:2004:639, Rn. 26, und vom 2. Oktober 2019, Bajratari, C‑93/18, EU:C:2019:809, Rn. 26 und die dort angeführte Rechtsprechung), und fällt in den Anwendungsbereich der Verträge im Sinne von Art. 18 AEUV, der den Grundsatz des Verbots der Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit enthält (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 6. September 2016, Petruhhin, C‑182/15, EU:C:2016:630, Rn. 31 und die dort angeführte Rechtsprechung, und vom 13. November 2018, Raugevicius, C‑247/17, EU:C:2018:898, Rn. 27).
31 Etwas anderes ergibt sich auch nicht daraus, dass der Unionsbürger die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats und damit den Status als Unionsbürger erst zu einem Zeitpunkt erworben hat, als er sich bereits in einem anderen Mitgliedstaat als dem, dessen Staatsangehörigkeit er erworben hat, aufgehalten hat. Sonst würde ein solcher Unionsbürger nämlich an der Geltendmachung der durch den Unionsbürgerstatus verliehenen Rechte gehindert und somit die praktische Wirksamkeit dieses Status beeinträchtigt, der dazu bestimmt ist, der grundlegende Status der Personen, die die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzen, zu sein (vgl. insoweit Urteil vom 20. September 2001, Grzelczyk, C‑184/99, EU:C:2001:458, Rn. 31).
32 Das Gleiche gilt für den Umstand, dass der Unionsbürger, um dessen Auslieferung ersucht wird, auch die Staatsangehörigkeit des ersuchenden Drittstaats besitzt. Die doppelte Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats und eines Drittstaats kann dem Betroffenen nämlich nicht die Freiheiten nehmen, die er als Staatsangehöriger eines Mitgliedstaats aus dem Unionsrecht herleitet (Urteil vom 13. November 2018, Raugevicius, C‑247/17, EU:C:2018:898, Rn. 29 und die dort angeführte Rechtsprechung).
33 Im vorliegenden Fall geht aus der Vorlageentscheidung hervor, dass BY, der die rumänische Staatsangehörigkeit besitzt, als Unionsbürger sein Recht aus Art. 21 AEUV ausübt, sich in einem anderen Mitgliedstaat, im vorliegenden Fall der Bundesrepublik Deutschland, aufzuhalten, so dass seine Situation in den Anwendungsbereich der Verträge im Sinne von Art. 18 AEUV fällt, obwohl er seinen Lebensmittelpunkt in diesen anderen Mitgliedstaat zu einem Zeitpunkt verlegt hat, als er die rumänische Staatangehörigkeit noch nicht erworben hatte, und obwohl er auch die Staatsangehörigkeit des ersuchenden Drittstaats besitzt.
34 Somit ist auf Frage 1 zu antworten, dass die Art. 18 und 21 AEUV dahin auszulegen sind, dass sie auf den Fall eines Unionsbürgers anwendbar sind, der die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzt, sich im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats aufhält und Gegenstand eines von einem Drittstaat an diesen Mitgliedstaat gerichteten Auslieferungsersuchens ist, auch wenn der Unionsbürger seinen Lebensmittelpunkt in diesen anderen Mitgliedstaat zu einem Zeitpunkt verlegt hat, als er noch nicht den Status eines Unionsbürgers hatte.
Zu Frage 2
35 Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs ist es im Rahmen des durch Art. 267 AEUV eingeführten Verfahrens der Zusammenarbeit zwischen den nationalen Gerichten und dem Gerichtshof Sache des Gerichtshofs, dem nationalen Gericht eine für die Entscheidung des bei diesem anhängigen Verfahrens sachdienliche Antwort zu geben. Hierzu hat er die ihm vorgelegten Fragen gegebenenfalls umzuformulieren (Urteile vom 13. September 2016, Rendón Marín, C‑165/14, EU:C:2016:675, Rn. 33, und vom 8. Juni 2017, Freitag, C‑541/15, EU:C:2017:432, Rn. 29).
36 Im vorliegenden Fall möchte das vorlegende Gericht mit Frage 2 wissen, welche Verpflichtungen dem Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit der gesuchte Unionsbürger besitzt, der Gegenstand eines von einem Drittstaat an den Mitgliedstaat, in dessen Hoheitsgebiet er sich aufhält, gerichteten Auslieferungsersuchens ist, im Rahmen der Durchführung des in den Rn. 47 bis 49 des Urteils vom 6. September 2016, Petruhhin (C‑182/15, EU:C:2016:630), angesprochenen Informationsaustauschs obliegen könnten. So wie sie vom vorlegenden Gericht formuliert ist, zielt Frage 2 darauf ab, ob der Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit die gesuchte Person besitzt, verpflichtet ist, den ersuchenden Drittstaat um Übermittlung der Akten zu der dieser Person zur Last gelegten Straftat zu ersuchen.
37 Da der in der vorstehenden Randnummer des vorliegenden Urteils angesprochene Informationsaustausch jedoch auf der Zusammenarbeit der beiden genannten Mitgliedstaaten beruht und da das vorlegende Gericht in der Begründung seines Vorabentscheidungsersuchens auf deren jeweilige Verpflichtungen eingeht, ist, um dem vorlegenden Gericht eine vollständige Antwort zu geben, davon auszugehen, dass Gegenstand von Frage 2 auch die Verpflichtungen des ersuchten Mitgliedstaats im Rahmen dieses Informationsaustauschs sind.
38 Frage 2 ist daher umzuformulieren. Es ist davon auszugehen, dass das vorlegende Gericht mit ihr wissen möchte, ob die Art. 18 und 21 AEUV dahin auszulegen sind, dass, wenn der Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit der gesuchte Unionsbürger besitzt, der Gegenstand eines von einem Drittstaat an einen anderen Mitgliedstaat gerichteten Auslieferungsersuchens ist, von diesem anderen Mitgliedstaat über das Auslieferungsersuchen unterrichtet worden ist, einer dieser beiden Mitgliedstaaten verpflichtet ist, den ersuchenden Drittstaat darum zu ersuchen, ihm eine Kopie der Strafakte zu übermitteln, damit der Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit die gesuchte Person besitzt, die Möglichkeit der Übernahme der Strafverfolgung prüfen kann.
39 Als Erstes ist darauf hinzuweisen, dass nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs nationale Auslieferungsvorschriften eines Mitgliedstaats, die – wie im vorliegenden Fall – eine Ungleichbehandlung in Abhängigkeit davon schaffen, ob die gesuchte Person ein Staatsangehöriger dieses Mitgliedstaats oder ein Staatsangehöriger eines anderen Mitgliedstaats ist, geeignet sind, das Recht der Staatsangehörigen anderer Mitgliedstaaten, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zu beeinträchtigen, da sie dazu führen, dass Staatsangehörigen anderer Mitgliedstaaten, die sich rechtmäßig im Hoheitsgebiet des ersuchten Mitgliedstaats aufhalten, der Schutz vor Auslieferung, den die Staatsangehörigen dieses Mitgliedstaats genießen, nicht gewährt wird (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 6. September 2016, Petruhhin, C‑182/15, EU:C:2016:630, Rn. 32, und vom 10. April 2018, Pisciotti, C‑191/16, EU:C:2018:222, Rn. 44).
40 Folglich führt in einer Situation wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden die Ungleichbehandlung, die darin besteht, dass ein Unionsbürger, der die Staatsangehörigkeit eines anderen als des ersuchten Mitgliedstaats besitzt, ausgeliefert werden kann, zu einer Beschränkung des Rechts aus Art. 21 AEUV, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 6. September 2016, Petruhhin, C‑182/15, EU:C:2016:630, Rn. 33, und vom 10. April 2018, Pisciotti, C‑191/16, EU:C:2018:222, Rn. 45).
41 Eine solche Beschränkung lässt sich nur rechtfertigen, wenn sie auf objektiven Erwägungen beruht und in angemessenem Verhältnis zu dem mit dem nationalen Recht legitimerweise verfolgten Zweck steht (Urteil vom 6. September 2016, Petruhhin, C‑182/15, EU:C:2016:630, Rn. 34).
42 Insoweit hat der Gerichtshof anerkannt, dass das Ziel, der Gefahr entgegenzuwirken, dass Personen, die eine Straftat begangen haben, straflos bleiben, als legitim anzusehen ist und dass eine Maßnahme, durch die eine Grundfreiheit wie die in Art. 21 AEUV vorgesehene eingeschränkt wird, mit diesem Ziel gerechtfertigt werden kann, wenn diese Maßnahme zum Schutz der Belange, die sie gewährleisten soll, erforderlich ist, und auch nur insoweit, als diese Ziele nicht mit weniger einschränkenden Maßnahmen erreicht werden können (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 6. September 2016, Petruhhin, C‑182/15, EU:C:2016:630, Rn. 37 und 38, vom 10. April 2018, Pisciotti, C‑191/16, EU:C:2018:222, Rn. 47 und 48, und vom 2. April 2020, Ruska Federacija, C‑897/19 PPU, EU:C:2020:262, Rn. 60).
43 Hierzu hat der Gerichtshof entschieden, dass dem Informationsaustausch mit dem Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit die gesuchte Person besitzt, der Vorzug gegeben werden muss, um den Behörden dieses Mitgliedstaats gegebenenfalls die Möglichkeit zu geben, einen Europäischen Haftbefehl zum Zwecke der Strafverfolgung auszustellen. Der Mitgliedstaat, in dem sich die gesuchte Person rechtmäßig aufhält, ist daher im Fall eines Auslieferungsersuchens eines Drittstaats verpflichtet, den Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit die gesuchte Person besitzt, zu informieren und ihm die gesuchte Person gegebenenfalls auf sein Ersuchen im Einklang mit den Bestimmungen des Rahmenbeschlusses 2002/584 zu übergeben, sofern dieser Mitgliedstaat nach seinem nationalen Recht für die Verfolgung der gesuchten Person wegen im Ausland begangener Straftaten zuständig ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. September 2016, Petruhhin, C‑182/15, EU:C:2016:630, Rn. 48 und 50, vom 10. April 2018, Pisciotti, C‑191/16, EU:C:2018:222, Rn. 51, und vom 2. April 2020, Ruska Federacija, C‑897/19 PPU, EU:C:2020:262, Rn. 70).
44 Zur Wahrung des Ziels, der Gefahr entgegenzuwirken, dass eine Person wegen der ihr im Auslieferungsersuchen angelasteten Taten straflos bleibt, muss der von dem Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit die betreffende Person besitzt, gegebenenfalls ausgestellte Europäische Haftbefehl zudem zumindest denselben Sachverhalt betreffen wie das Auslieferungsersuchen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 10. April 2018, Pisciotti, C‑191/16, EU:C:2018:222, Rn. 54).
45 Stellt der Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit die gesuchte Person besitzt, hingegen keinen Europäischen Haftbefehl aus, kann der ersuchte Mitgliedstaat sie ausliefern, sofern er geprüft hat, dass die Auslieferung die in Art. 19 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union verbürgten Rechte nicht beeinträchtigen wird, wie es die Rechtsprechung des Gerichtshofs verlangt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. September 2016, Petruhhin, C‑182/15, EU:C:2016:630, Rn. 60).
46 Vor diesem Hintergrund ist als Zweites im Hinblick auf die vom vorlegenden Gericht aufgeworfenen Fragen zu erläutern, wie der in Rn. 43 des vorliegenden Urteils angesprochene Informationsaustausch im Einzelnen durchzuführen ist.
47 Insoweit ergibt sich aus den Rn. 55 und 56 des Urteils vom 10. April 2018, Pisciotti (C‑191/16, EU:C:2018:222), im Wesentlichen, dass der ersuchte Mitgliedstaat der in Rn. 43 des vorliegenden Urteils genannten Informationspflicht genügt, wenn er die zuständigen Behörden des Mitgliedstaats, dessen Staatsangehörigkeit die gesuchte Person besitzt, in die Lage versetzt, mit einem Europäischen Haftbefehl die Übergabe der gesuchten Person zu verlangen.
48 Nach dem in Art. 4 Abs. 3 Unterabs. 1 EUV verbürgten Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit, nach dem sich die Union und die Mitgliedstaaten gegenseitig achten und sich bei der Erfüllung der Aufgaben, die sich aus den Verträgen ergeben, gegenseitig unterstützen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. September 2016, Petruhhin, C‑182/15, EU:C:2016:630, Rn. 42), hat der ersuchte Mitgliedstaat die zuständigen Behörden des Mitgliedstaats, dessen Staatsangehörigkeit die gesuchte Person besitzt, nicht nur über das Vorliegen eines gegen die betreffende Person gerichteten Auslieferungsersuchens zu informieren, sondern auch über sämtliche rechtlichen und tatsächlichen Gesichtspunkte, die der ersuchende Drittstaat im Rahmen des Auslieferungsersuchens übermittelt hat. Die genannten Behörden sind jedoch verpflichtet, diese Angaben vertraulich zu behandeln, wenn der insoweit ordnungsgemäß unterrichtete Drittstaat dies verlangt. Außerdem hat der ersuchte Mitgliedstaat die genannten Behörden über jede Änderung der Situation, in der sich die gesuchte Person befindet, zu informieren, die für die etwaige Ausstellung eines Europäischen Haftbefehls gegen sie relevant ist, und dabei die in den Rn. 43 und 44 des vorliegenden Urteils dargestellten Grundsätze zu beachten.
49 Dagegen sind nach dem Unionsrecht weder der ersuchte Mitgliedstaat noch der Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit die gesuchte Person besitzt, verpflichtet, den ersuchenden Drittstaat um Übermittlung der Strafakte zu ersuchen.
50 Abgesehen davon, dass es für eine solche Verpflichtung im Unionsrecht bei seinem gegenwärtigen Stand keine Rechtsgrundlage gibt, wäre sie auch nicht mit den Zielen vereinbar, auf denen der in Rn. 43 des vorliegenden Urteils genannte Informationsaustausch beruht. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs dient dieser nämlich dem Ziel, die Unionsbürger unter gleichzeitiger Bekämpfung der Straflosigkeit von Straftaten vor Maßnahmen zu schützen, die ihnen das in Art. 21 AEUV vorgesehene Freizügigkeits- und Aufenthaltsrecht verwehren können (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. September 2016, Petruhhin, C‑182/15, EU:C:2016:630, Rn. 47).
51 Denn wenn der ersuchte Mitgliedstaat oder der Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit die gesuchte Person besitzt, verpflichtet wären, den ersuchenden Drittstaat um Übermittlung der Strafakte zu ersuchen, bestünde die Gefahr, dass das Auslieferungsverfahren erheblich verkompliziert und wesentlich in die Länge gezogen würde, so dass letztlich das Ziel der Bekämpfung der Straflosigkeit von Straftaten beeinträchtigt werden könnte.
52 Außerdem ist darauf hinzuweisen, dass die in Rn. 43 des vorliegenden Urteils dargestellte Rechtsprechung auf der Prämisse beruht, dass der Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit die gesuchte Person besitzt, wenn er vom ersuchten Mitgliedstaat darüber informiert wird, dass ein Auslieferungsersuchen gegen einen seiner Staatsangehörigen vorliegt, selbst beurteilt, ob es zweckmäßig ist, einen Europäischen Haftbefehl auszustellen. Ebenso ist davon auszugehen, dass sich der Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit die gesuchte Person besitzt, in Ausübung eines sich aus seiner Souveränität in Strafsachen ergebenden Ermessens nach den Vorschriften seines nationalen Rechts dafür entscheiden kann, den ersuchenden Drittstaat, um die Zweckmäßigkeit etwaiger Strafverfolgungsmaßnahmen prüfen zu können, um die Übermittlung der Strafakte zu ersuchen.
53 Daraus folgt, dass die Behörden des ersuchten Mitgliedstaats, sofern sie die Behörden des Mitgliedstaats, dessen Staatsangehörigkeit die gesuchte Person besitzt, entsprechend den Ausführungen in Rn. 48 des vorliegenden Urteils ordnungsgemäß informiert haben, das Auslieferungsverfahren fortsetzen und die gesuchte Person gegebenenfalls ausliefern können, wenn der Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzt, innerhalb einer unter Berücksichtigung sämtlicher Umstände des Einzelfalls angemessenen Frist keinen Europäischen Haftbefehl ausgestellt hat.
54 In einem solchen Fall kann der ersuchte Mitgliedstaat die gesuchte Person also ausliefern, ohne über eine solche angemessene Frist hinaus abwarten zu müssen, dass der Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit die gesuchte Person besitzt, eine förmliche Entscheidung erlässt, mit der er auf die Ausstellung eines Europäischen Haftbefehls gegen diese Person verzichtet. Dies zu verlangen, ginge nämlich über das hinaus, was die Anwendung der unionsrechtlichen Mechanismen der Zusammenarbeit und der gegenseitigen Unterstützung in Strafsachen erfordert. Außerdem bestünde die Gefahr, dass das Auslieferungsverfahren über Gebühr in die Länge gezogen wird.
55 Im Interesse der Rechtssicherheit hat der ersuchte Mitgliedstaat dem Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit die gesuchte Person besitzt, eine angemessene Frist mitzuteilen, nach deren Ablauf die gesuchte Person, wenn von ihm kein Europäischer Haftbefehl ausgestellt wird, ausgeliefert wird. Eine solche Frist ist unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls, insbesondere einer etwaigen Auslieferungshaft der gesuchten Person und der Schwierigkeiten der Rechtssache, festzusetzen.
56 Somit ist auf Frage 2 zu antworten, dass die Art. 18 und 21 AEUV dahin auszulegen sind, dass, wenn der Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit der gesuchte Unionsbürger besitzt, der Gegenstand eines von einem Drittstaat an einen anderen Mitgliedstaat gerichteten Auslieferungsersuchens ist, von diesem anderen Mitgliedstaat über das Vorliegen des Auslieferungsersuchens unterrichtet worden ist, keiner dieser beiden Mitgliedstaaten verpflichtet ist, den ersuchenden Drittstaat darum zu ersuchen, ihm eine Kopie der Strafakte zu übermitteln, damit der Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit die gesuchte Person besitzt, die Möglichkeit der Übernahme der Strafverfolgung prüfen kann. Sofern er den Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit die gesuchte Person besitzt, ordnungsgemäß über das Vorliegen des Auslieferungsersuchens, über sämtliche rechtlichen und tatsächlichen Gesichtspunkte, die der ersuchende Drittstaat im Rahmen des Auslieferungsersuchens übermittelt hat, sowie über jede Änderung der Situation der gesuchten Person, die für die etwaige Ausstellung eines Europäischen Haftbefehls gegen diese Person relevant ist, informiert hat, kann der ersuchte Mitgliedstaat die gesuchte Person ausliefern, ohne abwarten zu müssen, dass der Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzt, eine förmliche Entscheidung erlässt, mit der er auf die Ausstellung eines Europäischen Haftbefehls, der zumindest denselben Sachverhalt betrifft wie das Auslieferungsersuchen, gegen die gesuchte Person verzichtet, wenn dieser Mitgliedstaat einen solchen Haftbefehl nicht innerhalb einer angemessenen Frist ausstellt, die ihm der ersuchte Mitgliedstaat hierfür unter Berücksichtigung sämtlicher Umstände des Einzelfalls gewährt hat.
Zu Frage 3
57 Mit Frage 3 möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die Art. 18 und 21 AEUV dahin auszulegen sind, dass der von einem Drittstaat um Auslieferung eines Unionsbürgers zum Zwecke der Strafverfolgung ersuchte Mitgliedstaat verpflichtet ist, die Auslieferung abzulehnen und die Strafverfolgung selbst zu übernehmen, wenn ihm dies nach seinem nationalen Recht möglich ist.
58 Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass die Auslieferung ein Verfahren ist, das verhindern soll, dass eine Person, die sich in einem anderen Hoheitsgebiet aufhält als dem, in dem sie eine Straftat begangen haben soll, der Strafe entgeht. Denn nach der Maxime aut dedere, aut iudicare (ausliefern oder verfolgen) wird die Nichtauslieferung von Inländern zwar im Allgemeinen dadurch ausgeglichen, dass der ersuchte Mitgliedstaat die Möglichkeit hat, seine eigenen Staatsangehörigen wegen außerhalb seines Hoheitsgebiets begangener schwerer Straftaten zu verfolgen, doch ist er in der Regel nicht dafür zuständig, über solche Sachverhalte zu urteilen, wenn weder der Täter noch das Opfer der mutmaßlichen Straftat die Staatsangehörigkeit dieses Mitgliedstaats besitzt. Mit der Auslieferung lässt sich somit verhindern, dass Personen, die im Hoheitsgebiet eines Staates Straftaten begangen haben und aus diesem Hoheitsgebiet geflohen sind, der Strafe entgehen (Urteil vom 6. September 2016, Petruhhin, C‑182/15, EU:C:2016:630, Rn. 39).
59 Vor diesem Hintergrund hat der Gerichtshof entschieden, dass nationale Vorschriften, die es ermöglichen, einem Auslieferungsantrag zum Zweck der Verfolgung und Aburteilung in dem Drittstaat, in dem die Straftat begangen worden sein soll, stattzugeben, zur Erreichung des angestrebten Ziels geeignet erscheinen, sofern es keine andere Maßnahme gibt, die die Ausübung der Rechte aus Art. 21 AEUV weniger beschränken würde (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. September 2016, Petruhhin, C‑182/15, EU:C:2016:630, Rn. 40 und 41).
60 Im vorliegenden Fall steht die Frage des vorlegenden Gerichts jedoch in einem Kontext, in dem es dem ersuchten Mitgliedstaat anders als in der in Rn. 58 des vorliegenden Urteils beschriebenen Konstellation nach seinem nationalen Recht möglich wäre, einen Ausländer wegen außerhalb seines Hoheitsgebiets begangener Straftaten zu verfolgen. Das vorlegende Gericht weist darauf hin, dass nach § 7 Abs. 2 des Strafgesetzbuchs eine Auffangzuständigkeit der deutschen Strafverfolgungsbehörden zur Verfolgung von Auslandstaten für den Fall der Nichtauslieferung begründet ist, und zwar auch dann, wenn die Taten von einem Ausländer begangen worden sind.
61 Die deutsche Regierung hält diese Auslegung von § 7 Abs. 2 Nr. 2 des Strafgesetzbuchs durch das vorlegende Gericht für unzutreffend. Sie meint, dass die in dieser Bestimmung vorgesehene Auffangzuständigkeit nur für den Fall eingreife, dass der ersuchende Drittstaat die Tat nicht verfolgen könne oder wolle. Dies sei im Ausgangsverfahren aber nicht der Fall. Die genannte Vorschrift ermögliche daher nicht die Strafverfolgung von BY in Deutschland.
62 Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof in Bezug auf die Auslegung von Bestimmungen des nationalen Rechts grundsätzlich gehalten ist, die sich aus der Vorlageentscheidung ergebenden rechtlichen Würdigungen zugrunde zu legen. Nach ständiger Rechtsprechung ist der Gerichtshof nämlich nicht befugt, das innerstaatliche Recht eines Mitgliedstaats auszulegen (Urteil vom 7. August 2018, Banco Santander und Escobedo Cortés, C‑96/16 und C‑94/17, EU:C:2018:643, Rn. 57 und die dort angeführte Rechtsprechung).
63 Daher ist bei der Prüfung von Frage 3 die Auslegung von § 7 Abs. 2 des Strafgesetzbuchs, wie sie sich aus dem Vorabentscheidungsersuchen ergibt, zugrunde zu legen. Das vorlegende Gericht wird gegebenenfalls zu überprüfen haben, ob diese Auslegung richtig ist.
64 Allerdings ist davon auszugehen, dass die Art. 18 und 21 AEUV nicht dahin ausgelegt werden können, dass der ersuchte Mitgliedstaat verpflichtet wäre, die Auslieferung eines Unionsbürgers, der die Staatsangehörigkeit eines anderen Mitgliedstaats besitzt, abzulehnen und die Strafverfolgung dieser Person wegen in einem Drittstaat begangener Taten zu übernehmen, wenn der ersuchte Mitgliedstaat nach seinem nationalen Recht zur Verfolgung des Unionsbürgers wegen bestimmter in einem Drittstaat begangener Straftaten befugt ist.
65 In einem solchen Fall hätte nämlich eine Verpflichtung, die Auslieferung abzulehnen und die Strafverfolgung zu übernehmen, zur Folge, dass dem ersuchten Mitgliedstaat die Möglichkeit genommen würde, nach nationalem Recht unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls, u. a. der in Anbetracht der verfügbaren Beweise bestehenden Chancen einer strafrechtlichen Verurteilung, über die Zweckmäßigkeit der Einleitung eines Strafverfahrens gegen den betreffenden Unionsbürger zu entscheiden. Eine solche Verpflichtung ginge daher über die Grenzen hinaus, die das Unionsrecht der Ausübung des Ermessens setzen kann, über das dieser Mitgliedstaat hinsichtlich der Zweckmäßigkeit der Verfolgung in einem Bereich verfügt, der wie das Strafrecht nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten fällt, auch wenn diese bei der Ausübung dieser Zuständigkeit das Unionsrecht zu wahren haben (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 26. Februar 2019, Rimšēvičs und EZB/Lettland, C‑202/18 und C‑238/18, EU:C:2019:139, Rn. 57).
66 Wird der ersuchte Mitgliedstaat wie im Ausgangsverfahren von einem Drittstaat um die Auslieferung zum Zwecke der Strafverfolgung eines Unionsbürgers, der die Staatsangehörigkeit eines anderen Mitgliedstaats besitzt, ersucht, stellt sich folglich nur die Frage, ob der ersuchte Mitgliedstaat in Bezug auf diesen Unionsbürger nicht in einer Weise vorgehen kann, die weniger stark in die Ausübung seines Rechts, sich frei zu bewegen und aufzuhalten, eingreift, wenn er ihn nicht an den ersuchenden Drittstaat ausliefert, sondern dem Mitgliedstaat übergibt, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt (vgl. entsprechend Urteil vom 10. April 2018, Pisciotti, C‑191/16, EU:C:2018:222, Rn. 50).
67 Somit ist auf Frage 3 zu antworten, dass die Art. 18 und 21 AEUV dahin auszulegen sind, dass der von einem Drittstaat um die Auslieferung zum Zwecke der Strafverfolgung eines Unionsbürgers, der die Staatsangehörigkeit eines anderen Mitgliedstaats besitzt, ersuchte Mitgliedstaat nicht verpflichtet ist, die Auslieferung abzulehnen und die Strafverfolgung selbst zu übernehmen, wenn ihm dies nach seinem nationalen Recht möglich ist.
Kosten
68 Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Große Kammer) für Recht erkannt:
1. Die Art. 18 und 21 AEUV sind dahin auszulegen, dass sie auf den Fall eines Unionsbürgers anwendbar sind, der die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzt, sich aber im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats aufhält und Gegenstand eines von einem Drittstaat an diesen Mitgliedstaat gerichteten Auslieferungsersuchens ist, auch wenn der Unionsbürger seinen Lebensmittelpunkt in diesen anderen Mitgliedstaat zu einem Zeitpunkt verlegt hat, als er noch nicht den Status eines Unionsbürgers hatte.
2. Die Art. 18 und 21 AEUV sind dahin auszulegen, dass, wenn der Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit der gesuchte Unionsbürger besitzt, der Gegenstand eines von einem Drittstaat an einen anderen Mitgliedstaat gerichteten Auslieferungsersuchen ist, von diesem anderen Mitgliedstaat über das Vorliegen des Auslieferungsersuchens unterrichtet worden ist, keiner dieser beiden Mitgliedstaaten verpflichtet ist, den ersuchenden Drittstaat darum zu ersuchen, ihm eine Kopie der Strafakte zu übermitteln, damit der Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit die gesuchte Person besitzt, die Möglichkeit der Übernahme der Strafverfolgung prüfen kann. Sofern er den Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit die gesuchte Person besitzt, ordnungsgemäß über das Vorliegen des Auslieferungsersuchens, über sämtliche rechtlichen und tatsächlichen Gesichtspunkte, die der ersuchende Drittstaat im Rahmen des Auslieferungsersuchens übermittelt hat, sowie über jede Änderung der Situation der gesuchten Person, die für die etwaige Ausstellung eines Europäischen Haftbefehls gegen diese Person relevant ist, informiert hat, kann der ersuchte Mitgliedstaat die gesuchte Person ausliefern, ohne abwarten zu müssen, dass der Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzt, eine förmliche Entscheidung erlässt, mit der er auf die Ausstellung eines Europäischen Haftbefehls, der zumindest denselben Sachverhalt betrifft wie das Auslieferungsersuchen, gegen die gesuchte Person verzichtet, wenn dieser Mitgliedstaat einen solchen Haftbefehl nicht innerhalb einer angemessenen Frist ausstellt, die ihm der ersuchte Mitgliedstaat hierfür unter Berücksichtigung sämtlicher Umstände des Einzelfalls gewährt hat.
3. Die Art. 18 und 21 AEUV sind dahin auszulegen, dass der von einem Drittstaat um die Auslieferung zum Zwecke der Strafverfolgung eines Unionsbürgers, der die Staatsangehörigkeit eines anderen Mitgliedstaats besitzt, ersuchte Mitgliedstaat nicht verpflichtet ist, die Auslieferung abzulehnen und die Strafverfolgung selbst zu übernehmen, wenn ihm dies nach seinem nationalen Recht möglich ist.
Unterschriften
(*1) Verfahrenssprache: Deutsch.
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Urteil des Gerichtshofs (Sechste Kammer) vom 14. Oktober 2020.#SC Valoris SRL gegen Direcţia Generală Regională a Finanţelor Publice Craiova – Administraţia Judeţeană a Finanţelor Publice Vâlcea und Administraţia Fondului pentru Mediu.#Vorabentscheidungsersuchen des Tribunal Vâlcea.#Vorlage zur Vorabentscheidung – Grundsätze des Unionsrechts – Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit – Grundsätze der Äquivalenz und der Effektivität – Erstattung der von einem Mitgliedstaat unter Verstoß gegen das Unionsrecht erhobenen Steuern – Frist für die Einreichung von Anträgen auf Erstattung dieser Steuern – Fehlen einer vergleichbaren Frist für die Erstattung von Beträgen, die dieser Mitgliedstaat unter Verstoß gegen das nationale Recht vereinnahmt hat.#Rechtssache C-677/19.
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62019CJ0677
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ECLI:EU:C:2020:825
| 2020-10-14T00:00:00 |
Hogan, Gerichtshof
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62019CJ0677
URTEIL DES GERICHTSHOFS (Sechste Kammer)
14. Oktober 2020 (*1)
„Vorlage zur Vorabentscheidung – Grundsätze des Unionsrechts – Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit – Grundsätze der Äquivalenz und der Effektivität – Erstattung der von einem Mitgliedstaat unter Verstoß gegen das Unionsrecht erhobenen Steuern – Frist für die Einreichung von Anträgen auf Erstattung dieser Steuern – Fehlen einer vergleichbaren Frist für die Erstattung von Beträgen, die dieser Mitgliedstaat unter Verstoß gegen das nationale Recht vereinnahmt hat“
In der Rechtssache C‑677/19
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Tribunal Vâlcea (Landgericht Vâlcea, Rumänien) mit Entscheidung vom 25. April 2019, beim Gerichtshof eingegangen am 11. September 2019, in dem Verfahren
SC Valoris SRL
gegen
Direcţia Generală Regională a Finanţelor Publice Craiova – Administraţia Judeţeană a Finanţelor Publice Vâlcea,
Administraţia Fondului pentru Mediu
erlässt
DER GERICHTSHOF (Sechste Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten L. Bay Larsen sowie der Richter M. Safjan und N. Jääskinen (Berichterstatter),
Generalanwalt: G. Hogan,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
–
der rumänischen Regierung, vertreten durch E. Gane, R. I. Haţieganu und L. Liţu als Bevollmächtigte,
–
der Europäischen Kommission, vertreten durch C. Perrin und A. Armenia als Bevollmächtigte,
aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,
folgendes
Urteil
1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Grundsätze der loyalen Zusammenarbeit, der Äquivalenz und der Effektivität als Grundsätze des Unionsrechts.
2 Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der SC Valoris SRL (im Folgenden: Valoris) auf der einen sowie der Direcţia Generală Regională a Finanţelor Publice Craiova – Administraţia Judeţeană a Finanţelor Publice Vâlcea (Regionale Generaldirektion für öffentliche Finanzen Craiova – Kreisverwaltung für öffentliche Finanzen Vâlcea, Rumänien) (im Folgenden: Kreisverwaltung für öffentliche Finanzen Vâlcea) und der Administraţia Fondului pentru Mediu (Umweltfonds-Amt, Rumänien) auf der anderen Seite über die Erstattung eines Betrags, den das genannte Unternehmen als Umweltgebühr für Kraftfahrzeuge zahlte, die nach der Zahlung für mit dem Unionsrecht unvereinbar erklärt wurde.
Rechtlicher Rahmen
OUG Nr. 9/2013
3 Die Ordonanța de urgență a Guvernului nr. 9/2013 privind timbrul de mediu pentru autovehicule (Dringlichkeitsverordnung Nr. 9/2013 der Regierung über die Umweltgebühr für Kraftfahrzeuge) vom 19. Februar 2013 (Monitorul Oficial al României, Teil I, Nr. 119 vom 4. März 2013, im Folgenden: OUG Nr. 9/2013) war vom 15. März 2013 bis zum 31. Januar 2017 in Kraft.
4 Art. 4 der OUG Nr. 9/2013 sah vor:
„Die Pflicht zur Zahlung der [Umweltgebühr für Kraftfahrzeuge] entsteht einmalig
a)
mit der gesetzeskonformen Eintragung des Erwerbs des Eigentums an einem Fahrzeug durch den ersten Eigentümer in Rumänien bei der zuständigen Behörde sowie der Erteilung einer Zulassungsbescheinigung und der Zuteilung des amtlichen Kennzeichens;
…“
OUG Nr. 52/2017
5 Die Ordonanța de urgență a Guvernului nr. 52/2017 privind restituirea sumelor reprezentând taxa specială pentru autoturisme și autovehicule, taxa pe poluare pentru autovehicule, taxa pentru emisiile poluante provenite de la autovehicule și timbrul de mediu pentru autovehicule (Dringlichkeitsverordnung Nr. 52/2017 der Regierung über die Erstattung der Sondersteuer für Pkw und Kraftfahrzeuge, der Steuer auf Schadstoffemissionen von Kraftfahrzeugen und der Umweltgebühr für Kraftfahrzeuge) vom 4. August 2017 (Monitorul Oficial al României, Teil I, Nr. 644 vom 7. August 2017, im Folgenden: OUG Nr. 52/2017) ist am 7. August 2017 in Kraft getreten.
6 In Art. 1 der OUG Nr. 52/2017 heißt es:
„(1) Steuerpflichtige, die die Sondersteuer für Pkw und Kraftfahrzeuge nach den Art. 2141 bis 2143 des Gesetzes Nr. 571/2003 über das Steuergesetzbuch mit späteren Änderungen und Ergänzungen, die Umweltsteuer für Kraftfahrzeuge nach der Dringlichkeitsverordnung Nr. 50/2008 der Regierung zur Einführung einer Umweltsteuer für Kraftfahrzeuge, genehmigt durch das Gesetz Nr. 140/2011, die Steuer auf Schadstoffemissionen von Kraftfahrzeugen nach dem Gesetz Nr. 9/2012 über die Steuer auf Schadstoffemissionen von Kraftfahrzeugen mit späteren Änderungen und die Umweltgebühr für Kraftfahrzeuge nach der [OUG] Nr. 9/2013, mit Änderungen und Ergänzungen genehmigt durch das Gesetz Nr. 37/2014 mit späteren Änderungen und Ergänzungen, entrichtet haben und bis zum Inkrafttreten dieser Dringlichkeitsverordnung keine Erstattung erhalten haben, können ihre Erstattung zuzüglich der für den Zeitraum vom Zeitpunkt der Erhebung bis zum Zeitpunkt der Erstattung geschuldeten Zinsen bei der zuständigen zentralen Steuerbehörde beantragen. Die Höhe der Zinsen ergibt sich aus Art. 174 Abs. 5 des Gesetzes Nr. 207/2015 über die Steuerverfahrensordnung mit späteren Änderungen und Ergänzungen.
(2) Das in Abs. 1 vorgesehene Recht der Steuerpflichtigen, die Erstattung zu beantragen, entsteht im Zeitpunkt des Inkrafttretens dieser Dringlichkeitsanordnung, unabhängig vom Zeitpunkt, in dem die Steuer erhoben wurde; abweichend von Art. 219 des Gesetzes Nr. 207/2015 [über die Steuerverfahrensordnung] mit späteren Änderungen und Ergänzungen sind die Erstattungsanträge bis zum 31. August 2018 zu stellen, andernfalls verfällt der Erstattungsanspruch.
…“
Steuerverfahrensordnung
7 Art. 168 der Legea nr. 207/2015 privind Codul de procedură fiscală (Gesetz Nr. 207/2015 über die Steuerverfahrensordnung) vom 20. Juli 2015 (Monitorul Oficial al României, Teil I, Nr. 547 vom 23. Juli 2015, im Folgenden: Steuerverfahrensordnung) bestimmt:
„(1) Auf Antrag des Steuerpflichtigen/Zahlers wird jeder rechtsgrundlos gezahlte oder erhobene Betrag erstattet.
…“
8 Art. 219 der Steuerverfahrensordnung lautet:
„Der Anspruch des Steuerpflichtigen/Zahlers auf Erstattung von Steuerforderungen verjährt fünf Jahre nach dem 1. Januar, der auf das Jahr folgt, in dem der Erstattungsanspruch entstanden ist.“
Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefrage
9 Am 25. August 2014 entrichtete Valoris, eine Gesellschaft rumänischen Rechts, im Hinblick auf die Erstzulassung in Rumänien eines Gebrauchtfahrzeugs aus den Niederlanden gemäß Art. 4 Buchst. a der OUG Nr. 9/2013 eine Steuer in Höhe von 2451 rumänischen Lei (RON) (ca. 510 Euro) als „Umweltgebühr für Kraftfahrzeuge“.
10 Am 7. August 2017 trat die OUG Nr. 52/2017 in Kraft. Aus ihrer Präambel geht hervor, dass dieser Rechtsakt auf die Urteile vom 9. Juni 2016, Budişan (C‑586/14, EU:C:2016:421), vom 30. Juni 2016, Câmpean (C‑200/14, EU:C:2016:494), und vom 30. Juni 2016, Ciup (C‑288/14, nicht veröffentlicht, EU:C:2016:495), hin erlassen wurde, mit denen der Gerichtshof mehrere für Kraftfahrzeuge geltende Umweltsteuern, die Rumänien eingeführt hatte, darunter die als sogenannte Umweltgebühr erhobene Steuer, für mit Vorschriften des Unionsrechts, insbesondere mit Art. 110 AEUV, unvereinbar erklärt hat.
11 Die OUG Nr. 52/2017 räumte den Steuerpflichtigen nach ihrem Art. 1 Abs. 1 das Recht ein, die Erstattung der Beträge, die sie als die vier in der Überschrift dieses Rechtsakts genannten Steuern entrichtet hatten, die für mit dem Unionsrecht unvereinbar erklärt worden waren (im Folgenden zusammen: rumänische Umweltsteuern), zuzüglich der Zahlung gesetzlicher Zinsen für den Zeitraum zwischen dem Zeitpunkt der Erhebung und dem Zeitpunkt der Erstattung zu verlangen. Nach Art. 1 Abs. 2 der OUG Nr. 52/2017 waren solche Anträge jedoch abweichend von Art. 219 der Steuerverfahrensordnung bis spätestens 31. August 2018 an die zuständige Steuerbehörde zu richten, andernfalls verfiel der Erstattungsanspruch.
12 Am 6. Dezember 2018 beantragte Valoris bei der Kreisverwaltung für öffentliche Finanzen Vâlcea die Erstattung des Betrags, den sie als Umweltgebühr für Kraftfahrzeuge gezahlt hatte. Die Kreisverwaltung lehnte diesen Antrag jedoch mit Schreiben vom 7. Januar 2019 mit der Begründung ab, dass er verspätet eingereicht worden sei.
13 Am 30. Januar 2019 erhob Valoris beim vorlegenden Gericht, dem Tribunal Vâlcea (Landgericht Vâlcea, Rumänien), Klage auf Verurteilung der beklagten rumänischen Behörden zur Erstattung der streitigen Steuer zuzüglich der darauf entfallenden gesetzlichen Verzugszinsen, obwohl sie die in Art. 1 Abs. 2 der OUG Nr. 52/2017 vorgesehene Ausschlussfrist nicht eingehalten hatte. Zur Stützung ihrer Klage machte sie zum einen geltend, dass diese Ad-hoc-Frist gegen das Unionsrecht verstoße, da sie die Möglichkeit der Steuerpflichtigen beschränke, die Erstattung von Steuern zu erreichen, die für unionsrechtswidrig befunden worden seien, und zum anderen, dass in der Rechtsprechung des Gerichtshofs eine Frist zwischen drei und fünf Jahren, um von dieser Möglichkeit Gebrauch machen zu können, als angemessene Frist angesehen worden sei.
14 Insoweit weist das vorlegende Gericht darauf hin, dass die besondere Ausschlussfrist für die Erstattung der in der OUG Nr. 52/2017 genannten Steuern ungefähr ein Jahr betragen habe, nämlich vom 7. August 2017, dem Tag des Inkrafttretens dieses Rechtsakts, bis zum 31. August 2018, dem Tag des Ablaufs dieser Frist, während die allgemeine Verjährungsfrist für die Erstattung von Steuerforderungen nach Art. 219 der Steuerverfahrensordnung fünf Jahre beginnend zum 1. Januar des Jahres betrage, das auf das Jahr folge, in dem der Erstattungsanspruch entstanden sei.
15 Das vorlegende Gericht möchte erstens wissen, ob die Ausschlussfrist, die in Art. 1 Abs. 2 der OUG Nr. 52/2017 für die Erstattung von unter Verstoß gegen das Unionsrecht erhobene Steuern vorgesehen ist, während es keine vergleichbare Frist für die Erstattung von unter Verstoß gegen das nationale Recht erhobene Beträge gibt, mit dem Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit, der sich aus Art. 4 Abs. 3 EUV ergibt, in seiner Auslegung durch den Gerichtshof und mit dem Äquivalenzgrundsatz, wie ihn der Gerichtshof definiert hat, vereinbar ist.
16 Zweitens beruft es sich auf den Effektivitätsgrundsatz, wie ihn der Gerichtshof definiert hat, und betont insoweit, dass die in Art. 1 Abs. 2 der OUG Nr. 52/2017 vorgesehene Frist von einem Jahr kürzer sei als die Ausschlussfristen, die der Gerichtshof als von angemessener Dauer angesehen und für mit diesem Grundsatz vereinbar erklärt habe.
17 Unter diesen Umständen hat das Tribunal Vâlcea (Landgericht Vâlcea) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:
Sind die Grundsätze der loyalen Zusammenarbeit, der Äquivalenz und der Effektivität dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Regelung wie der in Art. 1 Abs. 2 der OUG Nr. 52/2017 entgegenstehen, mit der eine Ausschlussfrist von ungefähr einem Jahr für die Stellung von Anträgen auf Erstattung von unter Verstoß gegen das Unionsrecht erhobenen Steuern festgelegt wurde, während das nationale Recht für die Geltendmachung des Anspruchs auf Erstattung von unter Verstoß gegen nationale Rechtsvorschriften erhobene Beträge keine vergleichbare Frist vorsieht?
Zur Vorlagefrage
18 Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob
–
zum einen der Effektivitätsgrundsatz in Verbindung mit dem Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit dahin auszulegen ist, dass er dem entgegensteht, dass eine Regelung eines Mitgliedstaats für die Einreichung von Anträgen auf Erstattung von mit dem Unionsrecht für unvereinbar erklärten Steuern eine Ausschlussfrist von etwa einem Jahr festlegt, die mit Inkrafttreten dieser Regelung, mit der dem Verstoß gegen das Unionsrecht abgeholfen werden soll, zu laufen beginnt, und
–
zum anderen der Äquivalenzgrundsatz in Verbindung mit dem Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit dahin auszulegen ist, dass er dem entgegensteht, dass eine Regelung eines Mitgliedstaats für die Einreichung von Anträgen auf Erstattung von mit dem Unionsrecht für unvereinbar erklärten Steuern eine Ausschlussfrist von etwa einem Jahr festlegt, während dieser Mitgliedstaat für vergleichbare Erstattungsanträge, die auf einen Verstoß gegen nationales Recht gestützt werden, keine solche Frist vorgesehen hat.
19 Es ist darauf hinzuweisen, dass sich der Ausgangsrechtsstreit zwar speziell auf die Erstattung eines Betrags bezieht, der für die „Umweltgebühr für Kraftfahrzeuge“ gezahlt wurde, die in Rumänien durch die OUG Nr. 9/2013 eingeführt worden war, in der vom vorlegenden Gericht gestellten Frage jedoch allgemein die Erstattung von „unter Verstoß gegen das Unionsrecht erhobenen Steuern“ erwähnt wird. Diese Verallgemeinerung ist dadurch gerechtfertigt, dass die Frist, die mit der in dieser Frage genannten Bestimmung festgelegt worden war, auch für die Erstattung der drei anderen unter die OUG Nr. 52/2017 fallenden rumänischen Umweltsteuern für Kraftfahrzeuge gilt, die von ähnlicher Art wie die Umweltgebühr sind und ebenfalls vom Gerichtshof für unionsrechtswidrig erklärt worden sind. Wie in den Rn. 10 und 11 des vorliegenden Urteils ausgeführt, wurde die OUG Nr. 52/2017 nämlich gerade im Hinblick darauf erlassen, den sich aus der Einführung jeder dieser Steuern ergebenden Verstoß gegen das Unionsrecht abzustellen.
20 In der Begründung seines Vorabentscheidungsersuchens weist das vorlegende Gericht darauf hin, dass im rumänischen Recht die in Art. 219 der OUG Nr. 52/2017 vorgesehene „allgemeine“ Verjährungsfrist „erheblich großzügiger bemessen“ sei als die in Art. 1 Abs. 2 der OUG Nr. 52/2017 vorgesehene „Ad-hoc“-Ausschlussfrist. Es hat daher Zweifel an der Vereinbarkeit der letztgenannten nationalen Regelung mit den Grundsätzen der loyalen Zusammenarbeit, der Äquivalenz und der Effektivität, wie sie vom Gerichtshof definiert worden sind.
21 Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass die Mitgliedstaaten nach ständiger Rechtsprechung gemäß dem in Art. 4 Abs. 3 EUV verankerten Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit verpflichtet sind, die rechtswidrigen Folgen eines Verstoßes gegen das Unionsrecht zu beheben und Verfahrensmodalitäten für Klagen, die den Schutz der den Einzelnen aus dem Unionsrecht erwachsenden Rechte gewährleisten sollen, vorzusehen, die nicht weniger günstig ausgestaltet sind als für entsprechende innerstaatliche Klagen (Grundsatz der Äquivalenz) und die die Ausübung der durch die Unionsrechtsordnung verliehenen Rechte nicht praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren (Grundsatz der Effektivität) (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 29. Juli 2019, Inter-Environnement Wallonie und Bond Beter Leefmilieu Vlaanderen, C‑411/17, EU:C:2019:622, Rn. 170 und 171, sowie vom 11. September 2019, Călin, C‑676/17, EU:C:2019:700, Rn. 30). Konkret ist es in Ermangelung einer Unionsregelung zur Erstattung zu Unrecht erhobener nationaler Steuern Sache der einzelnen Mitgliedstaaten, die Verfahrensmodalitäten für Klagen zu regeln, die dazu bestimmt sind, die sich aus dem Unionsrecht ergebenden Rechte zu wahren, vorausgesetzt allerdings, dass diese Modalitäten sowohl dem Grundsatz der Äquivalenz als auch dem Grundsatz der Effektivität entsprechen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 15. September 1998, Edis, C‑231/96, EU:C:1998:401, Rn. 19, und vom 11. April 2019, PORR Építési Kft., C‑691/17, EU:C:2019:327, Rn. 39), insbesondere, was die Festlegung von Ausschluss- oder Verjährungsfristen für solche Klagen anbelangt (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 20. Dezember 2017, Caterpillar Financial Services, C‑500/16, EU:C:2017:996, Rn. 37, und vom 19. Dezember 2019, Cargill Deutschland, C‑360/18, EU:C:2019:1124, Rn. 46).
22 Der Gerichtshof hat klargestellt, dass die Einhaltung dieser Anforderungen unter Berücksichtigung der Stellung der betreffenden Vorschriften im gesamten Verfahren, von dessen Ablauf und der Besonderheiten dieser Vorschriften vor den verschiedenen nationalen Stellen zu prüfen ist (vgl. u. a. Urteile vom 24. Oktober 2018, XC u. a., C‑234/17, EU:C:2018:853, Rn. 24, vom 11. September 2019, Călin, C‑676/17, EU:C:2019:700, Rn. 31, und vom 9. Juli 2020, Vueling Airlines, C‑86/19, EU:C:2020:538, Rn. 40).
23 Zudem hat der Gerichtshof wiederholt entschieden, dass sich aus dem Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit ergibt, dass ein Mitgliedstaat keine Bestimmungen erlassen darf, die die Erstattung einer Abgabe, die durch ein Urteil des Gerichtshofs für unionsrechtswidrig erklärt worden ist oder deren Unvereinbarkeit mit dem Unionsrecht sich aus einem solchen Urteil ergibt, Voraussetzungen unterwerfen, die speziell diese Abgabe betreffen und die ungünstiger sind als diejenigen, die auf eine solche Erstattung anwendbar wären, wenn diese Bestimmung nicht erlassen worden wäre (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 9. Februar 1999, Dilexport, C‑343/96, EU:C:1999:59, Rn. 39, vom 30. Juni 2016, Câmpean, C‑200/14, EU:C:2016:494, Rn. 40, und vom 30. Juni 2016, Ciup, C‑288/14, nicht veröffentlicht, EU:C:2016:495, Rn. 27).
Zum Effektivitätsgrundsatz
24 Nach ständiger Rechtsprechung können die Mitgliedstaaten in Ermangelung harmonisierter Vorschriften über die Rückerstattung von unionsrechtswidrig erhobenen Abgaben weiterhin die Verfahrensvorschriften ihres innerstaatlichen Rechts, u. a. über die Verjährungs- oder Ausschlussfristen, anwenden, allerdings unter dem Vorbehalt, dass diese Modalitäten gemäß dem Effektivitätsgrundsatz nicht so ausgestaltet sind, dass sie die Ausübung der durch das Unionsrecht verliehenen Rechte praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren. In letzterer Hinsicht sind nicht nur die in Rn. 22 des vorliegenden Urteils genannten allgemeinen Beurteilungskriterien zu berücksichtigen, sondern gegebenenfalls auch der Grundsatz des Schutzes der Verteidigungsrechte, der Grundsatz der Rechtssicherheit und der ordnungsgemäße Ablauf des Verfahrens (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 19. Dezember 2019, Cargill Deutschland, C‑360/18, EU:C:2019:1124, Rn. 46, 47 und 51 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).
25 Was speziell Verjährungs- oder Ausschlussfristen betrifft, hat der Gerichtshof entschieden, dass die Festlegung angemessener Klagefristen grundsätzlich mit dem Erfordernis der Effektivität im Einklang steht, weil sie ein Anwendungsfall des grundlegenden Prinzips der Rechtssicherheit ist, das zugleich den Betroffenen und die Behörde schützt, selbst wenn der Ablauf solcher Fristen die Betroffenen naturgemäß ganz oder teilweise an der Geltendmachung ihrer Rechte hindern kann (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 20. Dezember 2017, Caterpillar Financial Services, C‑500/16, EU:C:2017:996, Rn. 42, vom 11. September 2019, Călin, C‑676/17, EU:C:2019:700, Rn. 43, und vom 19. Dezember 2019, Cargill Deutschland, C‑360/18, EU:C:2019:1124, Rn. 52).
26 In der vorliegenden Rechtssache führt das vorlegende Gericht aus, die Frist von etwa einem Jahr, die sich aus Art. 1 Abs. 2 der OUG Nr. 52/2017 ergebe, sei „kürzer als andere Fristen“, die für mit dem Effektivitätsgrundsatz „vereinbar“ befunden worden seien und die es in der Rechtsprechung des Gerichtshofs habe ausfindig machen können. Die Vorlageentscheidung bezieht sich insbesondere auf die Urteile vom 15. September 1998, Edis (C‑231/96, EU:C:1998:401, Rn. 35), und vom 17. November 1998, Aprile (C‑228/96, EU:C:1998:544, Rn. 19 und die dort angeführte Rechtsprechung), in denen nationale Fristen von drei Jahren beginnend zum Zeitpunkt der fraglichen Zahlung als angemessen angesehen worden sind.
27 Der Gerichtshof hat jedoch bereits festgestellt, dass je nach den untersuchten Fallgestaltungen eine Frist von einem Jahr, die für die Einreichung von Anträgen oder Klagen gilt, die auf einen Verstoß gegen das Unionsrecht gestützt werden, an sich nicht unangemessen erscheint, allerdings unter dem Vorbehalt, dass der Beginn dieser Frist nicht so festgelegt wird, dass er der betroffenen Person die Ausübung der durch das Unionsrecht verliehenen Rechte praktisch unmöglich macht oder übermäßig erschwert. So ist insbesondere eine Frist von einem Jahr für die Erhebung einer Klage auf Ersatz eines durch die verspätete Umsetzung einer Richtlinie entstandenen Schadens als angemessen angesehen worden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 16. Juli 2009, Visciano, C‑69/08, EU:C:2009:468, Rn. 45 bis 50).
28 Im vorliegenden Fall ist festzustellen, dass der Effektivitätsgrundsatz in Verbindung mit dem Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit dem nicht entgegensteht, dass eine Regelung eines Mitgliedstaats für die Einreichung von Anträgen auf Erstattung von mit dem Unionsrecht für unvereinbar erklärten Steuern eine Ausschlussfrist von etwa einem Jahr festlegt, die mit Inkrafttreten dieser Regelung, mit der dem Verstoß gegen das Unionsrecht abgeholfen werden soll, zu laufen beginnt.
Zum Äquivalenzgrundsatz
29 Nach ständiger Rechtsprechung umfasst der Äquivalenzgrundsatz, dass die Mitgliedstaaten für Klagen auf Erstattung einer Steuer, die auf einen Verstoß gegen das Unionsrecht gestützt werden, keine Verfahrensmodalitäten vorsehen, die ungünstiger sind als die Modalitäten, die für in Anbetracht ihres Verfahrensgegenstands, ihres Rechtsgrundes und ihrer wesentlichen Gesichtspunkte entsprechende Klagen gelten, die auf einen Verstoß gegen innerstaatliches Recht gestützt werden. Es ist allein Sache des nationalen Gerichts, das eine unmittelbare Kenntnis von den Verfahrensmodalitäten besitzt, die im innerstaatlichen Recht den Schutz der den Einzelnen aus dem Unionsrecht erwachsenden Rechte gewährleisten sollen, zu prüfen, ob diese Modalitäten dem Äquivalenzgrundsatz entsprechen. Im Hinblick auf die vom nationalen Gericht vorzunehmende Beurteilung kann der Gerichtshof diesem jedoch Hinweise zur Auslegung des Unionsrechts geben (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 30. Juni 2016, Câmpean, C‑200/14, EU:C:2016:494, Rn. 45 und 46, vom 31. Mai 2018, Sziber, C‑483/16, EU:C:2018:367, Rn. 35, 41 und 42, sowie vom 9. Juli 2020, Raiffeisen Bank und BRD Groupe Société Générale, C‑698/18 und C‑699/18, EU:C:2020:537, Rn. 76 und 77).
30 In der vorliegenden Rechtssache zieht das vorlegende Gericht selbst den Vergleich zwischen der Ausschlussfrist von etwa einem Jahr, die es als „besondere Frist“ einstuft und die in Art. 1 Abs. 2 der OUG Nr. 52/2017 für Anträge auf Erstattung von Beträgen vorgesehen ist, die rechtsgrundlos als mit dem Unionsrecht für unvereinbar angesehene rumänische Umweltsteuern gezahlt wurden, auf der einen und der Verjährungsfrist von fünf Jahren, die es als „allgemeine Frist“ und als „erheblich großzügiger bemessen“ einstuft und die in Art. 219 der Steuerverfahrensordnung für die Erstattung von Steuerforderungen vorgesehen ist, auf der anderen Seite.
31 Die rumänische Regierung stellt zwar die Erheblichkeit dieses Vergleichs in Abrede, erwähnt aber, dass mit der Einführung dieser „besonderen Frist“ gerade habe verhindert werden sollen, dass der Haushalt Rumäniens durch die Zahlung von Zinsen mit einem Gesamtbetrag belastet würde, der möglicherweise zu hoch gewesen wäre, wenn für die unter die OUG Nr. 52/2017 fallenden Steuererstattungsanträge keine besondere Frist von einem Jahr, wie sie durch diesen Rechtsakt eingeführt worden sei, sondern die in der Steuerverfahrensordnung vorgesehene allgemeine Frist von fünf Jahren gegolten hätte.
32 Darüber hinaus heißt es in Art. 1 Abs. 2 der OUG Nr. 52/2017 ausdrücklich, dass die dort vorgesehene Ausschlussfrist für Erstattungsanträge gilt, die „abweichend von Art. 219 [der Steuerverfahrensordnung]“ – der Anträge auf „Erstattung von Steuerforderungen“ jeder Art betrifft – unter diesen Rechtsakt fallen. Wie die Europäische Kommission in ihren schriftlichen Erklärungen zu Recht geltend macht, besteht der Gegenstand eines Antrags nach Art. 1 der OUG Nr. 52/2017 – auch wenn das rumänische Recht für die Erstattung von unter Verstoß gegen das nationale Recht erhobene Beträge keine Ausschlussfrist, sondern eine Verjährungsfrist vorsieht, die unter bestimmten Voraussetzungen unterbrochen oder gehemmt werden kann – darin, die Erstattung einer Steuer zu verlangen, was auch der Zweck von Art. 219 der Steuerverfahrensordnung zu sein scheint. Es ist daher offenbar so, dass die nach der erstgenannten Bestimmung und die nach der zweitgenannten Bestimmung gestellten Anträge einen ähnlichen Gegenstand und Rechtsgrund haben. Allerdings ist nur das vorlegende Gericht in der Lage, dies zu überprüfen.
33 Vorbehaltlich dessen, dass die Gleichartigkeit der betreffenden Anträge erwiesen ist, ist daher zu prüfen, ob die Verfahrensmodalitäten für Klagen, die wie die im Ausgangsverfahren auf die OUG Nr. 52/2017 gestützt sind und mit denen einem Verstoß gegen Vorschriften des Unionsrechts abgeholfen werden soll, ungünstiger sind als diejenigen für Klagen, die ausschließlich auf einen Verstoß gegen Vorschriften des nationalen Rechts gestützt sind.
34 Insoweit genügt die Feststellung, dass – wie sowohl das vorlegende Gericht in seiner Entscheidung als auch die Kommission in ihren schriftlichen Erklärungen im Wesentlichen ausgeführt haben – auf einen Verstoß gegen das Unionsrecht gestützte Anträge auf Erstattung der in der OUG Nr. 52/2017 genannten Steuern einer Verfahrensfrist von etwa einem Jahr unterliegen, die erheblich kürzer und damit weniger vorteilhaft ist als die Verfahrensfrist von fünf Jahren, die für Anträge auf Erstattung von Steuerforderungen gilt, die auf einen Verstoß gegen das nationale Recht gestützt werden.
35 Diese Feststellung kann nicht mit Erfolg durch das Vorbringen der rumänischen Regierung in Frage gestellt werden, wonach zum einen mit der OUG Nr. 52/2017 Steuerpflichtigen, für die nach der früheren Gesetzeslage die für ihren Steuererstattungsanspruch geltende fünfjährige Verjährungsfrist abgelaufen gewesen sei oder abzulaufen gedroht habe, eine neue Frist gewährt worden sei und zum anderen das durch diese Verordnung eingeführte System für die rumänischen Umweltsteuern auch für deren Erstattung gelten könne, wenn sie gegen das nationale Recht verstießen.
36 Selbst wenn nämlich der Erlass der OUG Nr. 52/2017, mit der der 31. August 2018 als letzter Termin für einen Antrag auf Erstattung der im Hinblick auf das Unionsrecht rechtsgrundlos entrichteten rumänischen Umweltsteuern festgesetzt wurde, eine Verlängerung der für bestimmte Steuerpflichtige geltenden Erstattungsfrist bewirkte, die diese Steuern entrichtet hatten, steht fest, dass sich dieser Erlass auch nachteilig dahin auswirkte, dass die Erstattungsfrist verkürzt wurde, die für andere Steuerpflichtige gilt, die den vollen Nutzen des Fünfjahreszeitraums verloren haben, den Art. 219 der Steuerverfahrensordnung – eine Vorschrift, die in vollem Umfang anwendbar blieb, was Steuerforderungen anbelangt, die im Hinblick auf das nationale Steuerrecht rechtsgrundlos erfüllt wurden – vorsieht. Der Äquivalenzgrundsatz erlaubt es aber nicht, einen einer Gruppe von Steuerpflichtigen entstehenden Nachteil durch einen Vorteil auszugleichen, der einer anderen Gruppe, die sich in einer vergleichbaren Situation befindet, gewährt wird.
37 Unter diesen Umständen ist festzustellen, dass der Äquivalenzgrundsatz in Verbindung mit dem Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit dem entgegensteht, dass eine Regelung eines Mitgliedstaats für die Einreichung von Anträgen auf Erstattung von mit dem Unionsrecht für unvereinbar erklärten Steuern eine Ausschlussfrist von etwa einem Jahr festlegt, während dieser Mitgliedstaat für vergleichbare Erstattungsanträge, die auf einen Verstoß gegen nationales Recht gestützt werden, keine solche Frist vorgesehen hat.
38 Nach alledem ist die Vorlagefrage wie folgt zu beantworten:
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Der Effektivitätsgrundsatz in Verbindung mit dem Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit ist dahin auszulegen, dass er dem nicht entgegensteht, dass eine Regelung eines Mitgliedstaats für die Einreichung von Anträgen auf Erstattung von mit dem Unionsrecht für unvereinbar erklärten Steuern eine Ausschlussfrist von etwa einem Jahr festlegt, die mit Inkrafttreten dieser Regelung, mit der dem Verstoß gegen das Unionsrecht abgeholfen werden soll, zu laufen beginnt.
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Der Äquivalenzgrundsatz in Verbindung mit dem Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit ist dahin auszulegen, dass er dem entgegensteht, dass eine Regelung eines Mitgliedstaats für die Einreichung von Anträgen auf Erstattung von mit dem Unionsrecht für unvereinbar erklärten Steuern eine Ausschlussfrist von etwa einem Jahr festlegt, während dieser Mitgliedstaat für vergleichbare Erstattungsanträge, die auf einen Verstoß gegen nationales Recht gestützt werden, keine solche Frist vorgesehen hat.
Kosten
39 Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Sechste Kammer) für Recht erkannt:
Der Effektivitätsgrundsatz in Verbindung mit dem Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit ist dahin auszulegen, dass er dem nicht entgegensteht, dass eine Regelung eines Mitgliedstaats für die Einreichung von Anträgen auf Erstattung von mit dem Unionsrecht für unvereinbar erklärten Steuern eine Ausschlussfrist von etwa einem Jahr festlegt, die mit Inkrafttreten dieser Regelung, mit der dem Verstoß gegen das Unionsrecht abgeholfen werden soll, zu laufen beginnt.
Der Äquivalenzgrundsatz in Verbindung mit dem Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit ist dahin auszulegen, dass er dem entgegensteht, dass eine Regelung eines Mitgliedstaats für die Einreichung von Anträgen auf Erstattung von mit dem Unionsrecht für unvereinbar erklärten Steuern eine Ausschlussfrist von etwa einem Jahr festlegt, während dieser Mitgliedstaat für vergleichbare Erstattungsanträge, die auf einen Verstoß gegen nationales Recht gestützt werden, keine solche Frist vorgesehen hat.
Unterschriften
(*1) Verfahrenssprache: Rumänisch.
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Urteil des Gerichtshofs (Zweite Kammer) vom 23. April 2020.#Sole-Mizo Zrt. und Dalmandi Mezőgazdasági Zrt. gegen Nemzeti Adó- és Vámhivatal Fellebbviteli Igazgatósága.#Vorabentscheidungsersuchen des Szegedi Közigazgatási és Munkaügyi Bíróság und des Szekszárdi Közigazgatási és Munkaügyi Bíróság.#Vorlage zur Vorabentscheidung – Steuern – Mehrwertsteuer – Richtlinie 2006/112/EG – Recht auf Vorsteuerabzug – Erstattung eines Mehrwertsteuerüberschusses – Verspätete Erstattung – Berechnung der Zinsen – Modalitäten für die Gewährung von Zinsen, die wegen der Nichtverfügbarkeit eines unter Verstoß gegen das Unionsrecht einbehaltenen Überschusses abzugsfähiger Mehrwertsteuer geschuldet werden, und von Zinsen, die wegen der verspäteten Auszahlung eines geschuldeten Betrags durch die Steuerverwaltung geschuldet werden – Grundsätze der Effektivität und der Äquivalenz.#Verbundene Rechtssachen C-13/18 und C-126/18.
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62018CJ0013
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ECLI:EU:C:2020:292
| 2020-04-23T00:00:00 |
Gerichtshof, Hogan
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Sammlung der Rechtsprechung – allgemein – Abschnitt „Informationen über nicht veröffentlichte Entscheidungen“
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62018CJ0013
URTEIL DES GERICHTSHOFS (Zweite Kammer)
23. April 2020 (*1)
„Vorlage zur Vorabentscheidung – Steuern – Mehrwertsteuer – Richtlinie 2006/112/EG – Recht auf Vorsteuerabzug – Erstattung eines Mehrwertsteuerüberschusses – Verspätete Erstattung – Berechnung der Zinsen – Modalitäten für die Gewährung von Zinsen, die wegen der Nichtverfügbarkeit eines unter Verstoß gegen das Unionsrecht einbehaltenen Überschusses abzugsfähiger Mehrwertsteuer geschuldet werden, und von Zinsen, die wegen der verspäteten Auszahlung eines geschuldeten Betrags durch die Steuerverwaltung geschuldet werden – Grundsätze der Effektivität und der Äquivalenz“
In den verbundenen Rechtssachen C‑13/18 und C‑126/18
betreffend zwei Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Szegedi Közigazgatási és Munkaügyi Bíróság (Verwaltungs- und Arbeitsgericht Szeged, Ungarn) (C‑13/18) und vom Szekszárdi Közigazgatási és Munkaügyi Bíróság (Verwaltungs- und Arbeitsgericht Szekszárd, Ungarn) (C‑126/18) mit Entscheidungen vom 2. Januar 2018 bzw. vom 3. Januar 2018, beim Gerichtshof eingegangen am 8. Januar 2018 bzw. am 16. Februar 2018, in den Verfahren
Sole-Mizo Zrt. (C‑13/18),
Dalmandi Mezőgazdasági Zrt. (C‑126/18)
gegen
Nemzeti Adó- és Vámhivatal Fellebbviteli Igazgatósága
erlässt
DER GERICHTSHOF (Zweite Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten A. Arabadjiev sowie der Richter P. G. Xuereb und T. von Danwitz (Berichterstatter),
Generalanwalt: G. Hogan,
Kanzler: R. Șereș, Verwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 6. Juni 2019,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
–
der Sole-Mizo Zrt., vertreten durch L. Maklári, ügyvéd,
–
der Dalmandi Mezőgazdasági Zrt., vertreten durch L. Maklári, ügyvéd,
–
der ungarischen Regierung, vertreten durch M. Z. Fehér und G. Koós als Bevollmächtigte,
–
der Europäischen Kommission, vertreten durch L. Lozano Palacios und A. Sipos als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 11. September 2019
folgendes
Urteil
1 Die Vorabentscheidungsersuchen betreffen die Auslegung des Unionsrechts auf dem Gebiet des Rechts auf Erstattung von Abgaben, die ein Mitgliedstaat unter Verstoß gegen das Unionsrecht erhoben hat.
2 Diese Ersuchen ergehen im Rahmen zweier Rechtsstreitigkeiten zwischen der Sole-Mizo Zrt. (C‑13/18) und der Dalmandi Mezőgazdasági Zrt. (C‑126/18) auf der einen und der Nemzeti Adó- és Vámhivatal Fellebbviteli Igazgatósága (Rechtsbehelfsdirektion der nationalen Steuer- und Zollverwaltung, Ungarn) auf der anderen Seite über die materiell- und verfahrensrechtlichen Voraussetzungen für die an einen Steuerpflichtigen erfolgende Erstattung eines Mehrwertsteuerüberschusses, dessen Rückerlangung innerhalb eines angemessenen Zeitraums aufgrund einer im Recht eines Mitgliedstaats festgelegten Voraussetzung nicht möglich war, die später für mit dem Unionsrecht unvereinbar erklärt wurde.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
3 Art. 183 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. 2006, L 347, S. 1, im Folgenden: Mehrwertsteuerrichtlinie) sieht vor:
„Übersteigt der Betrag der abgezogenen Vorsteuer den Betrag der für einen Steuerzeitraum geschuldeten Mehrwertsteuer, können die Mitgliedstaaten den Überschuss entweder auf den folgenden Zeitraum vortragen lassen oder nach den von ihnen festgelegen Einzelheiten erstatten.
Die Mitgliedstaaten können jedoch festlegen, dass geringfügige Überschüsse weder vorgetragen noch erstattet werden.“
Ungarisches Recht
Umsatzsteuergesetz
4 § 186 Abs. 2 des Az általános forgalmi adóról szóló 2007. évi CXXVII. törvény (Gesetz Nr. CXXVII von 2007 über die allgemeine Umsatzsteuer) (Magyar Közlöny 2007/155 [XI. 16.], im Folgenden: Umsatzsteuergesetz) knüpfte die Erstattung des Überschusses abzugsfähiger Mehrwertsteuer an die Voraussetzung der vollständigen Zahlung der geschuldeten Gegenleistung – einschließlich Umsatzsteuer – für den Umsatz, aus dem sich die abzugsfähige Mehrwertsteuer ergab (sogenannte Voraussetzung der Entgeltzahlung). Bei fehlender Zahlung war der Überschuss auf den folgenden Steuerzeitraum vorzutragen.
5 Der Gerichtshof hat in seinem Urteil vom 28. Juli 2011, Kommission/Ungarn (C‑274/10, EU:C:2011:530), im Wesentlichen entschieden, dass § 186 Abs. 2 des Umsatzsteuergesetzes gegen Art. 183 der Mehrwertsteuerrichtlinie verstieß.
6 Mit dem Az általános forgalmi adóról szóló 2007. évi CXXVII. törvény jogharmonizációs célú módosításáról és az adó-visszaigénylés különös eljárás szabályairól szóló 2011. évi CXXIII. törvény (Gesetz CXXIII von 2011 zur Änderung der Gesetzes Nr. CXXVII von 2007 über die Umsatzsteuer zwecks Rechtsharmonisierung und zur Regelung des besonderen Verfahrens zur Beantragung von Umsatzsteuererstattungen, im Folgenden: Änderungsgesetz) wurde § 186 Abs. 2 bis 4 des Umsatzsteuergesetzes mit Wirkung vom 27. September 2011 aufgehoben. Danach ist jetzt eine Erstattung des Überschusses abzugsfähiger Mehrwertsteuer möglich, ohne dass es erforderlich wäre, die Zahlung des Entgelts abzuwarten, das für den Umsatz geschuldet ist, für den die Mehrwertsteuer abzugsfähig ist.
Besteuerungsordnung
7 § 37 des Az adózás rendjéről szóló 2003. évi XCII. Törvény (Gesetz Nr. XCII von 2003 über die Besteuerungsordnung, im Folgenden: Besteuerungsordnung) bestimmt in den Abs. 4 und 6:
„(4) Die Fälligkeit einer an den Steuerpflichtigen zu leistenden Haushaltszuwendung wird durch die Anhänge dieses Gesetzes oder durch ein besonderes Gesetz geregelt. Die Haushaltszuwendung oder die Umsatzsteuer, deren Erstattung beantragt wird, ist innerhalb von 30 Tagen nach Eingang des Antrags (der Erklärung), jedoch nicht vor der Fälligkeit zu zahlen; diese Frist verlängert sich auf 45 Tage, wenn der Betrag der erstattungsfähigen Mehrwertsteuer 500000 [ungarische] Forint [HUF] übersteigt. …
…
(6) Leistet die Steuerverwaltung eine Zahlung verspätet, hat sie für jeden Tag des Verzugs Zinsen in Höhe des Verzugszinssatzes zu zahlen. …“
8 § 124/C der Besteuerungsordnung sieht vor:
„(1) Stellt das Alkotmánybíróság [Verfassungsgericht, Ungarn], die Kúria [Oberster Gerichtshof, Ungarn] oder der Gerichtshof der Europäischen Union rückwirkend fest, dass eine Vorschrift, die eine steuerliche Pflicht begründet, gegen das Grundgesetz oder einen verbindlichen Rechtsakt der Europäischen Union oder, wenn es sich um eine Gemeindesatzung handelt, gegen jegliche andere Rechtsvorschrift verstößt, und begründet diese gerichtliche Entscheidung für den Steuerpflichtigen einen Erstattungsanspruch, führt die erstinstanzliche Steuerbehörde auf Antrag des Steuerpflichtigen die Erstattung – entsprechend den in der betreffenden Entscheidung festgelegten Modalitäten – gemäß den Bestimmungen dieses Paragrafen durch.
(2) Der Steuerpflichtige kann den Antrag innerhalb von 180 Tagen nach der Veröffentlichung oder der Zustellung der Entscheidung des Alkotmánybíróság [Verfassungsgericht], der Kúria [Oberster Gerichtshof] oder des Gerichtshofs der Europäischen Union schriftlich bei der Steuerbehörde einreichen; wird die Frist versäumt, ist ein Antrag auf Wiedereinsetzung nicht zulässig. Die Steuerbehörde lehnt den Antrag ab, wenn bis zum Tag der Veröffentlichung oder der Zustellung der Entscheidung der Anspruch auf Festsetzung der Steuer verjährt ist.
…
(6) Ist der Erstattungsanspruch des Steuerpflichtigen begründet, zahlt die Steuerbehörde – gleichzeitig mit der Erstattung – Zinsen auf die zu erstattende Steuer in Höhe des Basiszinssatzes der Zentralbank; die Berechnung der Zinsen erfolgt vom Tag der Entrichtung der Steuer bis zu dem Tag, an dem die Entscheidung über die Gewährung der Erstattung bestandskräftig geworden ist. Die Erstattung wird mit dem Eintreten der Bestandskraft der Entscheidung über ihre Gewährung fällig und ist innerhalb von 30 Tagen ab dem Zeitpunkt des Eintretens ihrer Fälligkeit zu bewirken. Für die in diesem Paragrafen geregelte Erstattung gelten die Vorschriften über die Zahlung von Haushaltszuwendungen sinngemäß, mit Ausnahme von § 37 Absatz 6.“
9 § 124/D Abs. 1 bis 3 der Besteuerungsordnung lautet:
„(1) Soweit in diesem Paragrafen nichts anderes bestimmt ist, gelten für Erstattungsanträge, die auf das Vorsteuerabzugsrecht gestützt werden, die Bestimmungen des § 124/C.
(2) Der Steuerpflichtige kann den in Abs. 1 genannten Anspruch durch eine Berichtigungserklärung – die innerhalb von 180 Tagen nach Veröffentlichung oder Bekanntgabe der Entscheidung des Alkotmánybíróság [Verfassungsgericht], der Kúria [Oberster Gerichtshof] oder des Gerichtshofs der Europäischen Union abzugeben ist – für die Erklärung oder die Erklärungen für das Steuerjahr oder die Steuerjahre ausüben, in dem bzw. denen das betreffende Recht auf Vorsteuerabzug entstanden ist. Nach Ablauf der Frist ist ein Antrag auf Wiedereinsetzung unzulässig.
(3) Ergibt die in der Berichtigungserklärung korrigierte Berechnung, dass dem Steuerpflichtigen ein Erstattungsanspruch zusteht, sei es aufgrund einer Minderung der von ihm zu entrichtenden Steuer, sei es aufgrund der Erhöhung des zu erstattenden Betrags …, so wendet die Steuerbehörde auf die zu erstattende Steuer einen Zinssatz in Höhe des Basiszinssatzes der Zentralbank an, der für den Zeitraum zwischen dem in der oder den von der Berichtigungserklärung betroffenen Erklärungen bestimmten Zeitpunkt oder dem Zeitpunkt der Fälligkeit – oder dem Zeitpunkt der Entrichtung der Steuer, wenn dieser danach liegt – und dem Zeitpunkt der Einreichung der Berichtigungserklärung berechnet wird. Die Erstattung – für die die Vorschriften über die Zahlung von Haushaltszuwendungen gelten – ist innerhalb von 30 Tagen nach Einreichung der Berichtigungserklärung zu bewirken.“
10 § 164 Abs. 1 der Besteuerungsordnung lautet:
„Die Steuerfestsetzungsbefugnis verjährt fünf Jahre nach dem letzten Tag des Kalenderjahrs, in dem die Erklärung oder Mitteilung über diese Steuer hätte abgegeben werden müssen, oder, in Ermangelung einer solchen Erklärung oder Mitteilung, in dem die Steuer hätte entrichtet werden müssen. Sofern gesetzlich nicht anders bestimmt, verjährt der Anspruch auf Beantragung einer Haushaltszuwendung und der Anspruch auf Erstattung zu viel gezahlter Steuer fünf Jahre nach dem letzten Tag des Kalenderjahrs, in dem der Anspruch auf Beantragung der Zuwendung oder der Erstattung entstanden ist.“
11 § 165 Abs. 2 der Besteuerungsordnung sieht vor:
„Der Verzugszinssatz beträgt für jeden Kalendertag 1/365 des Zweifachen des zum Zeitpunkt seiner Anwendung geltenden Basiszinssatzes der Zentralbank. Auf den Anspruch auf Verzugszinsen selbst werden keine Verzugszinsen erhoben. Die zentrale Steuer- und Zollverwaltung ordnet eine Zahlung von Verzugszinsen nicht an, wenn diese weniger als 2000 [HUF] betragen.“
Ausgangsverfahren und Vorlagefragen
Rechtssache C‑13/18
12 Im Beschluss vom 17. Juli 2014, Delphi Hungary Autóalkatrész Gyártó (C‑654/13, nicht veröffentlicht, EU:C:2014:2127, Rn. 39), hat der Gerichtshof ausgeführt, dass das Unionsrecht, insbesondere Art. 183 der Mehrwertsteuerrichtlinie, dahin auszulegen ist, dass es einer Regelung und einer Praxis eines Mitgliedstaats entgegensteht, wonach die Zahlung von Zinsen auf den Betrag des Überschusses abzugsfähiger Mehrwertsteuer ausgeschlossen ist, der aufgrund einer als unionsrechtswidrig anzusehenden nationalen Bestimmung nicht innerhalb eines angemessenen Zeitraums zurückerlangt werden konnte. Der Gerichtshof hat jedoch auch darauf hingewiesen, dass in Ermangelung einschlägiger unionsrechtlicher Regelungen die Festlegung der Modalitäten für die Zahlung solcher Zinsen vorbehaltlich der Beachtung der Grundsätze der Äquivalenz und der Effektivität Sache der Mitgliedstaaten ist.
13 Auf diesen Beschluss hin ging die ungarische Steuerverwaltung zu einer Verwaltungspraxis über, über deren Ordnungsmäßigkeit die Kúria (Oberster Gerichtshof) in ihrem Urteil Nr. Kfv.I.35.472/2016/5 vom 24. November 2016 entschied. Auf der Grundlage dieses Urteils erließ dieses Gericht eine Entscheidung (Nr. EBH2017.K18) mit dem Titel „Prüfung (in Bezug auf Zinssatz und Ausschlussfrist) der Frage der auf Umsatzsteuer infolge der Voraussetzung der Bezahlung zuzuerkennenden Zinsen“ (im Folgenden: Grundsatzentscheidung Nr. 18/2017 des Obersten Gerichtshofs), in der die Modalitäten für die Berechnung der Zinsen auf den Umsatzsteuerbetrag festgelegt wurden, der aufgrund der Voraussetzung der Entgeltzahlung nicht zurückerlangt werden konnte. Nach dieser Grundsatzentscheidung sind zwei Zeiträume zu unterscheiden:
–
der Zeitraum zwischen dem auf den letzten Tag der Frist zur Einreichung der Umsatzsteuererklärung folgenden Tag und dem Tag des Ablaufs der Frist zur Einreichung der nächsten Steuererklärung, für den die §§ 124/C und 124/D der Besteuerungsordnung, die den Fall regeln, dass das Alkotmánybíróság (Verfassungsgericht) oder die Kúria (Oberster Gerichtshof) feststellen, dass eine Regelung gegen eine höherrangige nationale Rechtsvorschrift verstößt, entsprechend gelten, und
–
der Zeitraum, der sich von dem Tag, an dem die von der Steuerbehörde zu zahlenden Zinsen fällig wurden, bis zu dem Tag, an dem die zuständige Steuerbehörde die Zinsen tatsächlich gezahlt hat, erstreckt, für den § 37 Abs. 6 der Besteuerungsordnung gilt.
14 Am 30. Dezember 2016 beantragte Sole-Mizo unter Berufung auf den Beschluss vom 17. Juli 2014, Delphi Hungary Autóalkatrész Gyártó (C‑654/13, nicht veröffentlicht, EU:C:2014:2127), bei der Steuerverwaltung die Zahlung von Zinsen auf die Überschüsse abzugsfähiger Mehrwertsteuer, die infolge der Anwendung der Voraussetzung der Entgeltzahlung nicht innerhalb eines angemessenen Zeitraums erstattet worden waren. Dieser Antrag betraf Zinsen für verschiedene Erklärungszeiträume von Dezember 2005 bis Juni 2011. Außerdem wurden wegen der verspäteten Zahlung dieser Zinsen Verzugszinsen verlangt.
15 Mit Entscheidung vom 3. März 2017 gab die erstinstanzliche Steuerbehörde dem Antrag von Sole-Mizo teilweise statt und ordnete die Zahlung von Zinsen zu einem Zinssatz in Höhe des einfachen Basiszinssatzes der ungarischen Zentralbank über einen Betrag von 99630000 HUF (ca. 321501 Euro) an, lehnte den Antrag jedoch ab, soweit er auf Zahlung von Verzugszinsen – berechnet zu einem Zinssatz entsprechend dem zweifachen Basiszinssatz der ungarischen Zentralbank – wegen der verspäteten Zahlung dieser Zinsen gerichtet war.
16 Mit Entscheidung vom 19. Juni 2017, die auf den von Sole-Mizo eingelegten Einspruch hin erging, änderte die zweitinstanzliche Steuerbehörde diese Entscheidung ab und ordnete die Zahlung von Zinsen in Höhe von 104165000 HUF (ca. 338891 Euro) auf den Betrag des Überschusses abzugsfähiger Mehrwertsteuer an, der aufgrund der Voraussetzung der Entgeltzahlung nicht zurückerlangt werden konnte. Der geschuldete Zinsbetrag wurde auf der Grundlage der §§ 124/C und 124/D der Besteuerungsordnung unter Anwendung eines dem einfachen Basiszinssatz der ungarischen Zentralbank entsprechenden Zinssatzes berechnet.
17 Sole-Mizo erhob beim vorlegenden Gericht in der Rechtssache C‑13/18 Klage gegen die Entscheidung der zweitinstanzlichen Steuerbehörde und machte geltend, dass der als Zinsen auf den Betrag des Überschusses abzugsfähiger Mehrwertsteuer geschuldete Betrag, der aufgrund der Voraussetzung der Entgeltzahlung nicht habe zurückerlangt werden können, ebenfalls gemäß § 37 Abs. 6 der Besteuerungsordnung unter Anwendung eines dem zweifachen Basiszinssatz der ungarischen Zentralbank entsprechenden Satzes zu berechnen sei.
18 Dieses Gericht hat Zweifel hinsichtlich der Vereinbarkeit der Modalitäten der Berechnung der Zinsen auf den Mehrwertsteuerbetrag, wie sie in der Grundsatzentscheidung Nr. 18/2017 des Obersten Gerichtshofs festgelegt worden sind, mit dem Unionsrecht und insbesondere mit den Grundsätzen der Äquivalenz und der Effektivität.
19 Unter diesen Umständen hat das Szegedi Közigazgatási és Munkaügyi Bíróság (Verwaltungs- und Arbeitsgericht Szeged, Ungarn) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
1. Ist die Praxis eines Mitgliedstaats, wonach bei der Prüfung der für Verzugszinsen einschlägigen Vorschriften von der Prämisse ausgegangen wird, dass die nationale Steuerbehörde deshalb keine Rechtsverletzung (Unterlassung) begangen hat – d. h. bezüglich des nicht erstattungsfähigen Teils der Mehrwertsteuer (Umsatzsteuer im ungarischen Recht) auf nicht beglichene Erwerbe der Steuerpflichtigen nicht in Verzug geraten ist –, weil zum Zeitpunkt der Entscheidung der betreffenden nationalen Steuerbehörde die unionsrechtswidrige nationale Vorschrift in Kraft war und die Unionsrechtswidrigkeit der in ihr festgelegten Voraussetzung vom Gerichtshof der Europäischen Union erst später festgestellt worden ist, mit den Vorschriften des Unionsrechts, mit denen der Mehrwertsteuerrichtlinie (insbesondere im Hinblick auf ihren Art. 183) und mit den Grundsätzen der Effektivität, der unmittelbaren Wirkung und der Äquivalenz vereinbar?
2. Ist die Praxis eines Mitgliedstaats, wonach bei der Prüfung der für Verzugszinsen einschlägigen Vorschriften danach unterschieden wird, ob die nationale Steuerbehörde entweder gemäß den damals geltenden, aber unionsrechtswidrigen nationalen Vorschriften oder aber unter Verstoß gegen die geltenden nationalen Vorschriften die Steuer nicht erstattet hat, und infolgedessen hinsichtlich der Höhe der Zinsen auf die Mehrwertsteuer, deren Rückerstattung wegen einer Voraussetzung des nationalen Rechts, die der Gerichtshof der Europäischen Union als unionsrechtswidrig eingestuft hat, nicht innerhalb einer angemessenen Frist geltend gemacht werden konnte, zwei voneinander abzugrenzende Zeiträume unterschieden werden, wobei
–
im ersten Zeitraum die Steuerpflichtigen – mit der Begründung, dass die unionsrechtswidrige ungarische Regelung damals noch in Kraft gewesen sei und die ungarischen Steuerbehörden folglich nicht rechtswidrig gehandelt hätten, als sie die Zuweisung der in den Rechnungen ausgewiesenen Mehrwertsteuer nicht innerhalb einer angemessenen Frist zugelassen hätten – lediglich Zinsen in Höhe des Basiszinssatzes der Zentralbank beanspruchen können, während
–
im zweiten Zeitraum nur für die verspätete Entrichtung der Zinsen aus dem ersten Zeitraum die – ansonsten nach der Rechtsordnung des betreffenden Mitgliedstaats bei Verzug anfallenden – Zinsen in Höhe des zweifachen Basiszinssatzes der Zentralbank zu zahlen sind
mit dem Unionsrecht, insbesondere mit den Vorschriften der Mehrwertsteuerrichtlinie (insbesondere im Hinblick auf ihren Art. 183) und mit den Grundsätzen der Äquivalenz, Effektivität und Verhältnismäßigkeit vereinbar?
3. Ist Art. 183 der Mehrwertsteuerrichtlinie dahin auszulegen, dass das Äquivalenzprinzip der Praxis eines Mitgliedstaats entgegensteht, wonach die Steuerbehörde auf die Mehrwertsteuer, deren Erstattung unterlassen wurde, bei einem Verstoß gegen eine Unionsvorschrift nur Zinsen in Höhe des einfachen Basiszinssatzes der Zentralbank, bei einem Verstoß gegen nationales Recht hingegen Zinsen in Höhe des zweifachen Basiszinssatzes der Zentralbank zahlt?
Rechtssache C‑126/18
20 Am 30. Dezember 2016 stellte Dalmandi Mezőgazdasági bei der erstinstanzlichen Steuerbehörde einen Antrag auf Zahlung von Zinsen auf die Überschüsse abzugsfähiger Mehrwertsteuer, die aufgrund der Voraussetzung der Entgeltzahlung nicht innerhalb eines angemessenen Zeitraums in den Jahren 2005 bis 2011 erstattet worden waren. Die Höhe der Forderung beläuft sich auf 74518800 HUF (ca. 240515 Euro). Bei der Berechnung der geforderten Zinsen wurden in dem Antrag der gesamte Zeitraum zwischen dem Zeitpunkt des Ablaufs der Erstattungsfrist für jeden betroffenen Erklärungszeitraum und dem Zeitpunkt des Ablaufs der Erstattungsfrist für den Erklärungszeitraum, in dem das Änderungsgesetz erlassen wurde, d. h. im vorliegenden Fall dem 5. Dezember 2011, berücksichtigt. Für diese Berechnung wurde in dem Antrag gemäß § 37 Abs. 6 der Besteuerungsordnung der zweifache Basiszinssatz der ungarischen Zentralbank zugrunde gelegt. Darüber hinaus forderte Dalmandi Mezőgazdasági die Zahlung zusätzlicher Zinsen für den Zeitraum vom 5. Dezember 2011 bis zum Zeitpunkt der tatsächlichen Zahlung, ebenfalls unter Zugrundelegung des Zinssatzes nach § 37 Abs. 6 der Besteuerungsordnung.
21 Mit Entscheidung vom 10. März 2017 gab die erstinstanzliche Steuerbehörde diesem Antrag teilweise statt und gewährte der Antragstellerin gemäß § 124/D Abs. 3 der Besteuerungsordnung Zinsen in Höhe von 34673000 HUF (ca. 111035 Euro) für die für den Zeitraum zwischen dem vierten Quartal 2005 und dem dritten Quartal 2011 zu Unrecht einbehaltenen Überschüsse abzugsfähiger Mehrwertsteuer. Im Übrigen wies sie den Antrag ab.
22 Die Entscheidung der erstinstanzlichen Steuerbehörde stützte sich auf die in der Grundsatzentscheidung Nr. 18/2017 des Obersten Gerichtshofs aufgestellten Grundsätze. Erstens wandte die Steuerbehörde bei der Bestimmung der Höhe der Zinsforderung die §§ 124/C und 124/D der Besteuerungsordnung an, die die Anwendung eines dem Basiszinssatz der ungarischen Zentralbank entsprechenden Satzes vorschreiben. Zweitens war sie der Ansicht, dass der Antrag von Dalmandi Mezőgazdasági auf Zahlung von Verzugszinsen unbegründet sei, da diese weder einen Antrag auf eine außerordentliche Erstattung gestellt noch eine einen Erstattungsantrag enthaltende Steuererklärung vorgelegt habe. Drittens wies die erstinstanzliche Steuerbehörde die Zinsforderung von Dalmandi Mezőgazdasági für das Jahr 2005 mit der Feststellung zurück, dass die Forderung für die ersten drei Quartale jenes Jahres verjährt sei.
23 Mit Entscheidung vom 12. Juni 2017 setzte die zweitinstanzliche Steuerbehörde, bei der Dalmandi Mezőgazdasági Einspruch eingelegt hatte, den Betrag, der dieser als Zinsen auf den Betrag des Überschusses abzugsfähiger Mehrwertsteuer, der aufgrund der Voraussetzung der Entgeltzahlung nicht zurückerlangt werden konnte, gewährt worden war, auf 34259000 HUF (ca. 111527 Euro) herab. Gemäß der Grundsatzentscheidung Nr. 18/2017 des Obersten Gerichtshofs wurden diese Zinsen nach den §§ 124/C und 124/D der Besteuerungsordnung zu einem Satz berechnet, der dem einfachen Basiszinssatz der ungarischen Zentralbank entsprach. Außerdem gewährte sie Verzugszinsen in Höhe von 7000 HUF (ca. 22 Euro) wegen Überschreitens der Frist für die Bearbeitung des Antrags, berechnet ab dem 9. März 2017, und bestätigte die erstinstanzliche Entscheidung im Übrigen.
24 Gegen diese Entscheidung erhob Dalmandi Mezőgazdasági beim vorlegenden Gericht Klage. Sie macht insbesondere geltend, die Grundsatzentscheidung Nr. 18/2017 des Obersten Gerichtshofs verstoße gegen die Grundsätze der Äquivalenz, der Effektivität und der unmittelbaren Wirkung des Unionsrechts.
25 Unter diesen Umständen hat das Szekszárdi Közigazgatási és Munkaügyi Bíróság (Verwaltungs- und Arbeitsgericht Szekszárd, Ungarn) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
1. Ist die Praxis der Gerichte eines Mitgliedstaats, wonach bei der Prüfung der für Verzugszinsen einschlägigen Vorschriften von der Prämisse ausgegangen wird, dass die nationale Steuerbehörde deshalb keine Rechtsverletzung (Unterlassung) begangen hat – d. h. bezüglich des nicht erstattungsfähigen Teils der Umsatzsteuer auf nicht beglichene Erwerbe der Steuerpflichtigen nicht in Verzug geraten ist –, weil die unionsrechtswidrige Vorschrift zum Zeitpunkt der Entscheidung der betreffenden Behörde in Kraft war und die Unionsrechtswidrigkeit der in ihr festgelegten Voraussetzung vom Gerichtshof der Europäischen Union erst später festgestellt worden ist, mit den Vorschriften des Unionsrechts, mit denen der Mehrwertsteuerrichtlinie (insbesondere im Hinblick auf ihren Art. 183) und mit den Grundsätzen der Effektivität, der unmittelbaren Wirkung und der Äquivalenz vereinbar? Durch diese Praxis des Mitgliedstaats wird die Anwendung der unionsrechtswidrigen in den nationalen Rechtsvorschriften festgelegten Voraussetzung bis zu dem Zeitpunkt, in dem der nationale Gesetzgeber diese Voraussetzung formell außer Kraft gesetzt hat, als quasirechtmäßig akzeptiert.
2. Sind die Regelung und die Praxis eines Mitgliedstaats, wonach bei der Prüfung der für Verzugszinsen einschlägigen Vorschriften danach unterschieden wird, ob die nationale Behörde entweder gemäß den damals geltenden, aber unionsrechtswidrigen nationalen Vorschriften oder aber unter Verstoß gegen die geltenden nationalen Vorschriften die Steuer nicht erstattet hat, und infolgedessen hinsichtlich der Höhe der Zinsen auf die Umsatzsteuer, deren Rückerstattung wegen einer Voraussetzung des nationalen Rechts, die der Gerichtshof der Europäischen Union als unionsrechtswidrig eingestuft hat, nicht innerhalb einer angemessenen Frist geltend gemacht werden konnte, zwei voneinander abzugrenzende Zeiträume unterschieden werden, wobei
–
im ersten Zeitraum die Steuerpflichtigen – mit der Begründung, dass die unionsrechtswidrige ungarische Regelung damals noch in Kraft gewesen sei und die ungarischen Steuerbehörden folglich nicht rechtswidrig gehandelt hätten, als sie die Zuweisung der in den Rechnungen ausgewiesenen Mehrwertsteuer nicht innerhalb einer angemessenen Frist zugelassen hätten – lediglich Zinsen in Höhe des Basiszinssatzes der Zentralbank beanspruchen können, während
–
im zweiten Zeitraum nur für die verspätete Entrichtung der Zinsen aus dem ersten Zeitraum die – ansonsten nach der Rechtsordnung des betreffenden Mitgliedstaats bei Verzug anfallenden – Zinsen in Höhe des zweifachen Basiszinssatzes der Zentralbank zu zahlen sind
mit dem Unionsrecht, insbesondere mit den Vorschriften der Mehrwertsteuerrichtlinie (insbesondere im Hinblick auf ihren Art. 183) und den Grundsätzen der Effektivität, der unmittelbaren Wirkung und der Äquivalenz vereinbar?
3. Ist die Praxis eines Mitgliedstaats, wonach die Verzugszinsen, die nach dessen Vorschriften wegen des Verzugs mit der Zuweisung der auf unionsrechtwidrig einbehaltene Steuern anfallenden – und nunmehr als Kapitalbetrag anzusehenden – Verzugszinsen (Umsatzsteuerzinsen) anfallen (Zinseszinsen), nicht ab der ursprünglichen Fälligkeit der – nunmehr als Kapitalforderung anzusehenden – Umsatzsteuerzinsen, sondern ab einem späteren Zeitpunkt zu laufen beginnen, mit dem Unionsrecht, mit Art. 183 der Mehrwertsteuerrichtlinie und mit dem Effektivitätsgrundsatz vereinbar – insbesondere in Anbetracht dessen, dass der Anspruch auf Zinsen auf unionsrechtswidrig einbehaltene oder nicht erstattete Steuern ein subjektives Recht darstellt, das sich unmittelbar aus dem Unionsrecht selbst ergibt?
4. Ist die Praxis eines Mitgliedstaats, wonach der Steuerpflichtige, um Zinsen geltend zu machen, die aufgrund eines Rechtsverstoßes in Gestalt des Verzugs der Steuerbehörde anfallen, einen gesonderten Antrag stellen muss, während in anderen Fällen, in denen ein Anspruch auf Verzugszinsen geltend gemacht wird, ein solcher gesonderter Antrag nicht erforderlich ist, weil die Zinsen von Amts wegen zuzusprechen sind, mit dem Unionsrecht, mit Art. 183 der Mehrwertsteuerrichtlinie und mit dem Effektivitätsgrundsatz vereinbar?
5. Ist – falls die vorstehende Frage bejaht wird – die Praxis eines Mitgliedstaats, wonach Zinsen, die wegen der verspäteten Zuweisung der nunmehr als Kapitalbetrag anzusehenden Zinsen, die auf Steuern, die nach den Feststellungen des Gerichtshofs der Europäischen Union unionsrechtswidrig einbehalten wurden, angefallen sind (Umsatzsteuerzinsen), anfallen (Zinseszinsen), nur dann zugesprochen werden können, wenn der Steuerpflichtige einen außerordentlichen Antrag stellt, der konkret nicht auf die Anforderung der Zinsen, sondern auf die Rückforderung des Steuerbetrags gerichtet ist, der zum Zeitpunkt der Aufhebung der gegen das Unionsrecht verstoßenden Vorschrift des Mitgliedstaats, die die Zurückbehaltung der Umsatzsteuer auf nicht bezahlte Erwerbe vorschrieb, auf eben diese nicht bezahlten Erwerbe angefallen ist, wobei die dem Zinseszinsanspruch zugrunde liegenden Umsatzsteuerzinsen bereits in Bezug auf die dem außerordentlichen Antrag vorangehenden, früheren Steuererklärungszeiträume fällig waren und ihre Zuweisung weder damals noch bislang erfolgt ist, mit dem Unionsrecht, mit Art. 183 der Mehrwertsteuerrichtlinie und mit dem Effektivitätsgrundsatz vereinbar?
6. Ist – falls die vorstehende Frage bejaht wird – die Praxis eines Mitgliedstaats, die zur Folge hat, dass der Steuerpflichtige den Anspruch auf Zinsen, die wegen der verspäteten Zuweisung der – nunmehr als Kapitalbetrag anzusehenden – Zinsen, die auf Steuern, die nach den Feststellungen des Gerichtshofs der Europäischen Union unionsrechtswidrig einbehalten wurden, angefallen sind (Umsatzsteuerzinsen), anfallen (Zinseszinsen), hinsichtlich jener Umsatzsteuerzinsen verliert, die nicht in den Umsatzsteuererklärungszeitraum, der von der Ausschlussfrist für den außerordentlichen Antrag betroffen ist, gefallen sind, weil sie früher fällig waren, mit dem Unionsrecht, mit Art. 183 der Mehrwertsteuerrichtlinie und mit dem Effektivitätsgrundsatz vereinbar?
7. Ist die Praxis eines Mitgliedstaats, die dem Steuerpflichtigen endgültig die Möglichkeit nimmt, Zinsen auf Steuern geltend zu machen, die nach einer später für unionsrechtswidrig erklärten nationalen Regelung, die es verbot, die Umsatzsteuer wegen der Nichtbezahlung der betroffenen Erwerbe zurückzufordern, einbehalten wurden,
–
weil das Bestehen des Zinsanspruchs unter Berufung darauf, dass die später für unionsrechtswidrig erklärte Vorschrift zum Zeitpunkt der ursprünglichen Fälligkeit der Steuer in Kraft war, verneint wurde (mit der Begründung, dass kein Verzug vorgelegen und die Steuerbehörde lediglich das geltende Recht angewandt habe),
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und danach, nachdem die für unionsrechtswidrig erklärte Vorschrift, die die Rückforderung beschränkt hatte, im nationalen Recht aufgehoben worden war, unter Berufung auf den Eintritt der Verjährung,
mit dem Unionsrecht und mit Art. 183 der Mehrwertsteuerrichtlinie – insbesondere im Hinblick auf den Effektivitätsgrundsatz und den Umstand, dass der Anspruch auf die Verzinsung unrechtmäßig nicht erstatteter Steuern den Charakter eines subjektiven Rechts hat – vereinbar?
8. Ist die Praxis eines Mitgliedstaats, wonach die Möglichkeit, Verzugszinsen geltend zu machen, die auf die – nunmehr als Kapitalbetrag anzusehenden – Umsatzsteuerzinsen zu entrichten sind, die dem Steuerpflichtigen für eine Steuer zustehen, die zum Zeitpunkt der ursprünglichen Fälligkeit wegen einer später für unionsrechtswidrig erklärten Vorschrift des nationalen Rechts nicht erstattet worden war, für den gesamten Zeitraum zwischen 2005 und 2011 davon abhängig gemacht wird, ob der Steuerpflichtige derzeit noch die Rückerstattung der Umsatzsteuer mit der Umsatzsteuererklärung für den Zeitraum (September 2011), in dem die betreffende unionsrechtswidrige Vorschrift im nationalen Recht aufgehoben wurde, beantragen kann, obwohl die Zuweisung der – nunmehr als Kapitalbetrag anzusehenden – Umsatzsteuerzinsen weder bis zu diesem Zeitpunkt noch später, bis zur Geltendmachung des Anspruchs beim nationalen Gericht erfolgt ist, mit dem Unionsrecht, mit Art. 183 der Mehrwertsteuerrichtlinie und mit dem Effektivitätsgrundsatz vereinbar?
26 Durch Beschluss des Präsidenten des Gerichtshofs vom 12. März 2018 sind die Rechtssachen C‑13/18 und C‑126/18 zu gemeinsamem schriftlichen und mündlichen Verfahren und zu gemeinsamer Entscheidung verbunden worden.
Zur Zuständigkeit des Gerichtshofs
27 Die ungarische Regierung wendet ein, die Vorabentscheidungsersuchen seien unzulässig. Es sei nicht Sache des Gerichtshofs, die in den Ausgangsverfahren aufgeworfenen Fragen der Zahlung von Zinsen zu prüfen, deren Satz, Berechnung und Verfahrensmodalitäten sich nicht nach dem Unionsrecht, sondern nach dem nationalen Recht richteten.
28 Mit ihrem Vorbringen bestreitet die ungarische Regierung in Wirklichkeit die Zuständigkeit des Gerichtshofs für die Beantwortung der Vorlagefragen.
29 Nach Art. 267 AEUV ist der Gerichtshof zuständig für die Entscheidung über die Auslegung der Verträge sowie über die Gültigkeit und die Auslegung der Handlungen der Organe der Union. Insoweit ist es zwar nicht Sache des Gerichtshofs, die Vereinbarkeit innerstaatlicher Rechtsnormen mit dem Unionsrecht zu beurteilen oder nationale Rechtsvorschriften auszulegen, jedoch ist er befugt, den vorlegenden Gerichten alle Hinweise zur Auslegung des Unionsrechts zu geben, die es diesen ermöglichen, für die Entscheidung der bei ihnen anhängigen Rechtssache über die Frage der Vereinbarkeit zu befinden (Urteil vom 16. Oktober 2019, Glencore Agriculture Hungary, C‑189/18, EU:C:2019:861, Rn. 31 und die dort angeführte Rechtsprechung).
30 Im vorliegenden Fall ist darauf hinzuweisen, dass die Mitgliedstaaten verpflichtet sind, unter Verstoß gegen das Unionsrecht erhobene Steuerbeträge zuzüglich Zinsen zu erstatten. Zwar kommt es in Ermangelung einer Regelung der Union der innerstaatlichen Rechtsordnung der einzelnen Mitgliedstaaten zu, die Bedingungen für die Zahlung solcher Zinsen, insbesondere den Zinssatz und die Berechnungsmethode für die Zinsen, festzulegen, jedoch müssen diese Bedingungen den Grundsätzen der Äquivalenz und der Effektivität sowie dem Grundsatz der steuerlichen Neutralität entsprechen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 18. April 2013, Irimie, C‑565/11, EU:C:2013:250, Rn. 22 und 23, sowie vom 28. Februar 2018, Nidera, C‑387/16, EU:C:2018:121, Rn. 22, 23 und 25 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).
31 Mit ihren Fragen ersuchen die vorlegenden Gerichte den Gerichtshof aber um eine Auslegung des Unionsrechts und insbesondere der in der vorstehenden Randnummer des vorliegenden Urteils genannten Grundsätze des Unionsrechts, was in die Zuständigkeit des Gerichtshofs fällt.
32 Unter diesen Umständen ist davon auszugehen, dass der Gerichtshof für die Beantwortung der Fragen der vorlegenden Gerichte zuständig ist.
Zu den Vorlagefragen
Zu den Fragen 1 bis 3 in der Rechtssache C‑13/18 sowie zur ersten und zweiten Frage und zum ersten Teil der siebten Frage in der Rechtssache C‑126/18
33 Mit den Fragen 1 bis 3 in der Rechtssache C‑13/18 sowie der ersten und der zweiten Frage und dem ersten Teil der siebten Frage in der Rechtssache C‑126/18, die zusammen zu prüfen sind, möchten die vorlegenden Gerichte wissen, ob das Unionsrecht und insbesondere Art. 183 der Mehrwertsteuerrichtlinie sowie die Grundsätze der Effektivität und der Äquivalenz, der unmittelbaren Wirkung und der Verhältnismäßigkeit dahin auszulegen sind, dass sie der Praxis eines Mitgliedstaats wie der im Ausgangsverfahren fraglichen entgegenstehen, die darin besteht, die Zinsen auf die von diesem Mitgliedstaat über einen angemessenen Zeitraum hinaus unter Verstoß gegen das Unionsrecht einbehaltenen Überschüsse abzugsfähiger Mehrwertsteuer unter Anwendung eines Satzes zu berechnen, der dem Basiszinssatz der nationalen Zentralbank entspricht.
34 Insoweit ergibt sich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs, dass das Recht auf Erstattung von Abgaben, die ein Mitgliedstaat unter Verstoß gegen das Unionsrecht erhoben hat, eine Folge und eine Ergänzung der Rechte darstellt, die den Einzelnen aus dem Unionsrecht in seiner Auslegung durch den Gerichtshof erwachsen. Die Mitgliedstaaten sind also grundsätzlich verpflichtet, unter Verstoß gegen das Unionsrecht erhobene Abgaben zu erstatten (Urteil vom 19. Juli 2012, Littlewoods Retail u. a., C‑591/10, EU:C:2012:478, Rn. 24 und die dort angeführte Rechtsprechung).
35 Der Gerichtshof hat außerdem für Recht erkannt, dass der Einzelne, wenn ein Mitgliedstaat unter Verstoß gegen die Vorschriften des Unionsrechts Steuern erhoben hat, Anspruch auf Erstattung nicht nur der zu Unrecht erhobenen Steuer, sondern auch der Beträge hat, die im unmittelbaren Zusammenhang mit dieser Steuer an diesen Staat gezahlt oder von diesem einbehalten worden sind. Darunter fallen auch die Einbußen aufgrund der Nichtverfügbarkeit von Geldbeträgen infolge der vorzeitigen Fälligkeit der Steuer (Urteil vom 19. Juli 2012, Littlewoods Retail u. a., C‑591/10, EU:C:2012:478, Rn. 25 und die dort angeführte Rechtsprechung).
36 Nach dieser Rechtsprechung ergibt sich der Grundsatz, dass die Mitgliedstaaten verpflichtet sind, die unter Verstoß gegen das Unionsrecht erhobenen Steuerbeträge zuzüglich Zinsen zu erstatten, aus dem Unionsrecht (Urteil vom 19. Juli 2012, Littlewoods Retail u. a., C‑591/10, EU:C:2012:478, Rn. 26 und die dort angeführte Rechtsprechung).
37 In Ermangelung einer Regelung der Union kommt es der innerstaatlichen Rechtsordnung der einzelnen Mitgliedstaaten zu, die Bedingungen für die Zahlung solcher Zinsen, insbesondere den Zinssatz und die Methode für die Berechnung der Zinsen (einfache Verzinsung oder Zahlung von Zinseszinsen) festzulegen. Diese Bedingungen müssen den Grundsätzen der Äquivalenz und der Effektivität entsprechen, d. h., sie dürfen nicht ungünstiger sein als bei ähnlichen Forderungen, die auf Bestimmungen des innerstaatlichen Rechts gestützt sind, und sie dürfen nicht so ausgestaltet sein, dass sie die Ausübung der Rechte, die die Unionsrechtsordnung einräumt, praktisch unmöglich machen (Urteil vom 19. Juli 2012, Littlewoods Retail u. a., C‑591/10, EU:C:2012:478, Rn. 27 und die dort angeführte Rechtsprechung). Außerdem müssen diese Bedingungen dem Grundsatz der steuerlichen Neutralität genügen (Urteil vom 28. Februar 2018, Nidera, C‑387/16, EU:C:2018:121, Rn. 25 und die dort angeführte Rechtsprechung).
38 Im vorliegenden Fall möchten die vorlegenden Gerichte erstens wissen, ob die Praxis der Steuerverwaltung, die auf der Grundsatzentscheidung Nr. 18/2017 des Obersten Gerichtshofs beruht, mit dem Äquivalenzgrundsatz vereinbar ist, soweit sie vorsieht, dass Zinsen auf die Beträge des Überschusses abzugsfähiger Mehrwertsteuer, die aufgrund der Voraussetzung der Entgeltzahlung nicht zurückerlangt werden konnten, nach den §§ 124/C und 124/D der Besteuerungsordnung und nicht nach deren § 37 Abs. 4 und 6 berechnet werden.
39 Nach den Angaben in den Vorlageentscheidungen sehen die §§ 124/C und 124/D der Besteuerungsordnung vor, dass der Zinssatz, der auf die Beträge anzuwenden ist, die dem Steuerpflichtigen infolge einer Entscheidung des Gerichtshofs oder des Alkotmánybíróság (Verfassungsgerichtshof) oder der Kúria (Oberster Gerichtshof) zu erstatten sind, mit der festgestellt wird, dass eine nationale Rechtsvorschrift, die eine Steuerpflicht vorsieht, gegen das Unionsrecht oder das ungarische Grundgesetz, oder, im Fall einer Gemeindesatzung, gegen jegliche andere Rechtsvorschrift verstößt, gleich dem Basiszinssatz der ungarischen Zentralbank ist. Hingegen sieht § 37 Abs. 6 der Besteuerungsordnung diesen Angaben zufolge für den Fall, dass die Verwaltung die Mehrwertsteuer, deren Erstattung beantragt wird, nicht innerhalb von 30 bzw. 45 Tagen ab Eingang des Erstattungsantrags auszahlt, die Anwendung eines Steuersatzes vor, der dem zweifachen Basiszinssatz der ungarischen Zentralbank entspricht.
40 Letztlich ist es Sache der vorlegenden Gerichte, die allein eine unmittelbare Kenntnis der Modalitäten für diese gegen den Staat und auf Erstattung gerichteten Rechtsbehelfe im Bereich des innerstaatlichen Rechts besitzen, zu untersuchen, ob die Modalitäten, die im innerstaatlichen Recht den Schutz der Rechte gewährleisten sollen, den die Bürger aufgrund des Unionsrechts genießen, dem genannten Grundsatz entsprechen, und sowohl den Gegenstand als auch die wesentlichen Merkmale der angeblich vergleichbaren Rechtsbehelfe, die das innerstaatliche Recht betreffen, zu prüfen. Zu diesem Zweck haben die nationalen Gerichte die Gleichartigkeit der betreffenden Rechtsbehelfe unter dem Gesichtspunkt ihres Gegenstands, ihres Rechtsgrundes und ihrer wesentlichen Merkmale zu prüfen (Urteil vom 19. Juli 2012, Littlewoods Retail u. a., C‑591/10, EU:C:2012:478, Rn. 31).
41 Vorbehaltlich dieser den vorlegenden Gerichten obliegenden Prüfung ist festzustellen, dass dem in den §§ 124/C und 124/D der Besteuerungsordnung vorgesehenen Zins ein Urteil des Gerichtshofs oder eines höheren nationalen Gerichts zugrunde zu liegen scheint, mit dem rückwirkend die Unvereinbarkeit einer nationalen Rechtsvorschrift, mit der eine Steuerpflicht auferlegt wird, mit einer höherrangigen Vorschrift festgestellt wird. § 37 Abs. 4 und 6 der Besteuerungsordnung scheint hingegen eine Situation zu betreffen, in der die Verwaltung einem Antrag auf Mehrwertsteuererstattung nicht innerhalb der vorgesehenen Frist stattgegeben hat. Folglich wird mit dieser Vorschrift geahndet, dass die Steuerverwaltung die Frist nicht gewahrt hat, innerhalb deren sie einen von ihr geschuldeten Betrag zu erstatten hatte.
42 Hinzu kommt, dass, wie die Europäische Kommission in ihren schriftlichen Erklärungen im Wesentlichen ausgeführt hat, die in § 37 Abs. 6 der Besteuerungsordnung vorgesehenen Verzugszinsen offenbar auf einen Zeitraum anzuwenden sind, der nach dem Zeitpunkt des Antrags des Steuerpflichtigen auf Zahlung eines geschuldeten Betrags liegt, während die in den §§ 124/C und 124/D der Besteuerungsordnung vorgesehenen Zinsen u. a. für einen Zeitraum zu gelten scheinen, der einem solchen Antrag vorausgeht. Somit haben die §§ 124/C und 124/D der Besteuerungsordnung und deren § 37 Abs. 4 und 6 offenbar keinen ähnlichen Gegenstand und Rechtsgrund, was zu prüfen jedoch Sache der vorlegenden Gerichte ist.
43 Zweitens verlangt der Effektivitätsgrundsatz, dass die nationalen Vorschriften über die Berechnung der Zinsen, die im Fall eines Antrags auf Erstattung eines unter Verstoß gegen das Unionsrecht festgestellten Überschusses abzugsfähiger Mehrwertsteuer geschuldet werden, nicht dazu führen, dass dem Steuerpflichtigen eine angemessene Entschädigung für die Einbußen, die er durch die Nichtverfügbarkeit der betreffenden Beträge erlitten hat, vorenthalten wird (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 18. April 2013, Irimie, C‑565/11, EU:C:2013:250, Rn. 26 und die dort angeführte Rechtsprechung).
44 In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass der Grundsatz der steuerlichen Neutralität in Anbetracht des Zwecks der Zahlung von Zinsen auf von einem Mitgliedstaat unter Verstoß gegen die Vorschriften des Unionsrechts einbehaltene Mehrwertsteuerüberschüsse, der darin besteht, die finanziellen Verluste auszugleichen, die zum Nachteil des Steuerpflichtigen durch die Nichtverfügbarkeit der betreffenden Beträge entstanden sind, verlangt, dass die Modalitäten der Zahlung von Zinsen so festgelegt werden, dass die wirtschaftliche Belastung aufgrund der zu Unrecht einbehaltenen Steuerbeträge ausgeglichen werden kann (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 16. Mai 2013, Alakor Gabonatermelő és Forgalmazó, C‑191/12, EU:C:2013:315, Rn. 24 und 27, sowie vom 28. Februar 2018, Nidera, C‑387/16, EU:C:2018:121, Rn. 24, 25 und 29).
45 Im vorliegenden Fall haben die vorlegenden Gerichte Zweifel hinsichtlich der Vereinbarkeit der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Praxis der Steuerverwaltung mit den in den beiden vorstehenden Randnummern des vorliegenden Urteils angeführten Grundsätzen in Anbetracht zum einen der Höhe des in den §§ 124/C und 124/D der Besteuerungsordnung vorgesehenen Zinssatzes und zum anderen des Zeitraums, für den diese Zinsen gelten.
46 Bezüglich dieses Zinssatzes ist festzustellen, dass die §§ 124/C und 124/D der Besteuerungsordnung die Anwendung von Zinsen auf den Mehrwertsteuerüberschuss zu einem Satz gleich dem Basiszinssatz der ungarischen Zentralbank vorschreiben, der dem Zinssatz entspricht, den die nationale Zentralbank auf die Hauptrefinanzierungsgeschäfte anwendet. Wie der Generalanwalt in den Nrn. 72 und 74 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, müsste ein Steuerpflichtiger jedoch, wenn er ein Darlehen in Höhe des Überschusses abzugsfähiger Mehrwertsteuer bei einem Kreditinstitut aufnehmen müsste, um das Liquiditätsdefizit auszugleichen, das sich aus der Nichterstattung des unter Verstoß gegen das Unionsrecht festgestellten Überschusses abzugsfähiger Mehrwertsteuer ergibt, einen höheren Zinssatz zahlen als den Basiszinssatz der nationalen Zentralbank, der allein Kreditinstituten vorbehalten ist.
47 Hinsichtlich des Zeitraums, für den diese Zinsen anzuwenden sind, geht aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten hervor, dass nach der in Rede stehenden nationalen Praxis die Zinsen auf den Betrag des Überschusses abzugsfähiger Mehrwertsteuer, der aufgrund der Voraussetzung der Entgeltzahlung nicht zurückerlangt werden konnte, für den Mehrwertsteuererklärungszeitraum berechnet werden. Nach der Grundsatzentscheidung Nr. 18/2017 des Obersten Gerichtshofs laufen diese Zinsen ab dem Tag, der auf den Tag der Einreichung des Formulars der Mehrwertsteuererklärung folgt, in dem der Steuerpflichtige einen Mehrwertsteuerüberschuss angegeben hat, der aufgrund der Voraussetzung der Entgeltzahlung auf den folgenden Erklärungszeitraum zu übertragen war, bis zum letzten Tag der Einreichung des Formulars der folgenden Mehrwertsteuererklärung.
48 Insoweit ergibt sich aus den Angaben, die Sole-Mizo und Dalmandi Mezőgazdasági gegenüber dem Gerichtshof gemacht haben und die zu prüfen Sache der vorlegenden Gerichte ist, dass der Zeitraum zwischen dem Zeitpunkt, zu dem die Höhe der Zinsen auf den Überschuss abzugsfähiger Mehrwertsteuer, der aufgrund der Voraussetzung der Entgeltzahlung nicht zurückerlangt werden konnte, bestimmt wurde, und dem Zeitpunkt der tatsächlichen Zahlung dieser Zinsen für diese beiden Unternehmen zwischen fünf und fast elf Jahren betragen hätte und für diesen Zeitraum offenbar keinerlei Zinsen vorgesehen waren, um den Steuerpflichtigen einen Ausgleich für die durch den Zeitablauf verursachte Geldentwertung zu bieten, die den Wert des betreffenden Betrags beeinträchtigt.
49 Eine nationale Praxis, wonach im Fall einer auf Antrag des Steuerpflichtigen erfolgenden Erstattung eines unter Verstoß gegen das Unionsrecht einbehaltenen Betrags eines Überschusses abzugsfähiger Mehrwertsteuer die auf diesen Betrag angewandten Zinsen zum einen zu einem niedrigeren Satz berechnet werden als dem, den ein Steuerpflichtiger, bei dem es sich nicht um ein Kreditinstitut handelt, zahlen müsste, um ein Darlehen in Höhe dieses Betrags aufzunehmen, und zum anderen für einen bestimmten Erklärungszeitraum laufen, ohne dass Zinsen angewandt würden, um dem Steuerpflichtigen einen Ausgleich für die Geldentwertung zu bieten, die auf dem Ablauf der Zeit nach diesem Erklärungszeitraum bis zur tatsächlichen Zahlung dieser Zinsen beruht, ist aber geeignet, dem Steuerpflichtigen einen angemessenen Ausgleich für den Verlust vorzuenthalten, der durch die Nichtverfügbarkeit der betreffenden Beträge entstanden ist, so dass damit der Effektivitätsgrundsatz missachtet wird. Außerdem ist eine solche Praxis nicht geeignet, die wirtschaftliche Belastung durch die unter Verstoß gegen den Grundsatz der steuerlichen Neutralität einbehaltenen Steuerbeträge auszugleichen.
50 In Anbetracht der vorstehenden Ausführungen brauchen die vorliegenden Fragen nicht im Hinblick auf die Grundsätze der unmittelbaren Wirkung und der Verhältnismäßigkeit geprüft zu werden.
51 Nach alledem ist auf die Fragen 1 bis 3 in der Rechtssache C‑13/18 sowie auf die erste und die zweite Frage und den ersten Teil der siebten Frage in der Rechtssache C‑126/18 zu antworten, dass das Unionsrecht und insbesondere die Grundsätze der Effektivität und der steuerlichen Neutralität dahin auszulegen sind, dass sie der Praxis eines Mitgliedstaats, die darin besteht, die Zinsen auf die von diesem Mitgliedstaat über einen angemessenen Zeitraum hinaus unter Verstoß gegen das Unionsrecht einbehaltenen Überschüsse abzugsfähiger Mehrwertsteuer unter Anwendung eines Satzes zu berechnen, der dem Basiszinssatz der nationalen Zentralbank entspricht, entgegenstehen, wenn zum einen dieser Satz niedriger ist als der, den ein Steuerpflichtiger, bei dem es sich nicht um ein Kreditinstitut handelt, zahlen müsste, um ein Darlehen in Höhe dieses Betrags aufzunehmen, und zum anderen die Zinsen auf die betreffenden Mehrwertsteuerüberschüsse für einen bestimmten Erklärungszeitraum laufen, ohne dass Zinsen angewandt würden, um dem Steuerpflichtigen einen Ausgleich für die Geldentwertung zu bieten, die auf dem Ablauf der Zeit nach diesem Erklärungszeitraum bis zur tatsächlichen Zahlung dieser Zinsen beruht.
Zum zweiten Teil der siebten Frage in der Rechtssache C‑126/18
52 Mit dem zweiten Teil der siebten Frage in der Rechtssache C‑126/18 möchte das vorlegende Gericht wissen, ob das Unionsrecht und insbesondere die Grundsätze der Effektivität und der Äquivalenz dahin auszulegen sind, dass sie einer Praxis eines Mitgliedstaats entgegenstehen, wonach für Anträge auf Zahlung von Zinsen auf den Überschuss abzugsfähiger Mehrwertsteuer, der aufgrund der Anwendung einer für unionsrechtswidrig befundenen nationalen Rechtsvorschrift einbehalten wurde, eine Verjährungsfrist von fünf Jahren gilt.
53 Insoweit ergibt sich aus der in Rn. 37 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung, dass es in Ermangelung einer unionsrechtlichen Regelung der innerstaatlichen Rechtsordnung der einzelnen Mitgliedstaaten zukommt, die Bedingungen festzulegen, unter denen Zinsen auf die Beträge der unter Verstoß gegen das Unionsrecht erhobenen Steuern zu zahlen sind, wobei insbesondere die Grundsätze der Äquivalenz und der Effektivität zu beachten sind.
54 Was als Erstes den Effektivitätsgrundsatz anbelangt, hat der Gerichtshof entschieden, dass die Festsetzung angemessener Ausschlussfristen für die Rechtsverfolgung im Interesse der Rechtssicherheit, die zugleich den Abgabepflichtigen und die Behörde schützen, mit dem Unionsrecht vereinbar ist. Solche Fristen sind nämlich nicht geeignet, die Ausübung der durch die Unionsrechtsordnung verliehenen Rechte praktisch unmöglich zu machen oder übermäßig zu erschweren, auch wenn ihr Ablauf naturgemäß die vollständige oder teilweise Abweisung der erhobenen Klage zur Folge hat (Urteil vom 14. Juni 2017, Compass Contract Services, C‑38/16, EU:C:2017:454, Rn. 42 und die dort angeführte Rechtsprechung).
55 Aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs ergibt sich nämlich, dass die Möglichkeit, einen Antrag auf Erstattung des Mehrwertsteuerüberschusses ohne jede zeitliche Beschränkung zu stellen, dem Grundsatz der Rechtssicherheit zuwiderliefe, der verlangt, dass die steuerliche Lage des Steuerpflichtigen in Anbetracht seiner Rechte und Pflichten gegenüber der Steuerverwaltung nicht unbegrenzt offenbleiben kann (Urteil vom 21. Januar 2010, Alstom Power Hydro, C‑472/08, EU:C:2010:32, Rn. 16).
56 Der Gerichtshof hat bereits entschieden, dass eine nationale Verjährungsfrist von drei Jahren, die mit dem Zeitpunkt der fraglichen Zahlung beginnt, angemessen erscheint (Urteil vom 11. Juli 2002, Marks & Spencer, C‑62/00, EU:C:2002:435, Rn. 35 und die dort angeführte Rechtsprechung).
57 Im vorliegenden Fall geht aus der Vorlageentscheidung in der Rechtssache C‑126/18 hervor, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehende nationale Praxis, die auf § 164 Abs. 1 der Besteuerungsordnung beruht, es dem Steuerpflichtigen ermöglicht, Zinsen zum Ausgleich der Verluste zu verlangen, die ihm seit dem letzten Erklärungszeitraum 2005 aufgrund der Anwendung der Voraussetzung der Entgeltzahlung entstanden sind. Nach dieser nationalen Praxis war ein Antrag auf Zahlung von Zinsen spätestens am letzten Tag des fünften Kalenderjahrs nach dem Inkrafttreten am 27. September 2011 des Änderungsgesetzes – mit dem ein Verfahren zur Erstattung des aufgrund der Voraussetzung der Entgeltzahlung einbehaltenen Überschusses abzugsfähiger Mehrwertsteuer eingeführt wurde – zu stellen, d. h. bis zum 31. Dezember 2016.
58 Somit scheint diese nationale Praxis das Recht, Zinsen auf einen Überschuss abzugsfähiger Mehrwertsteuer zu verlangen, den der Staat unter Verstoß gegen das Unionsrecht einbehalten hat, von der Beachtung einer Verjährungsfrist von fünf Jahren abhängig zu machen, die im Zeitpunkt des Inkrafttretens einer nationalen Regelung, mit der ein Verfahren zur Erstattung dieses Überschusses eingeführt wird, zu laufen beginnt. Eine solche nationale Praxis genügt den sich aus dem Effektivitätsgrundsatz ergebenden Anforderungen.
59 Was als Zweites den Äquivalenzgrundsatz betrifft, verfügt der Gerichtshof über keine Anhaltspunkte, die Zweifel an der Vereinbarkeit der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden nationalen Praxis mit diesem Grundsatz begründen könnten, da ein Antrag auf Zahlung von Zinsen unabhängig davon, ob der Antrag auf einen Verstoß gegen das Unionsrecht oder auf eine Verletzung des innerstaatlichen Rechts mit einem ähnlichen Gegenstand und Rechtsgrund gestützt ist, der gleichen Verjährungsfrist von fünf Jahren unterliegt.
60 Nach alledem ist auf den zweiten Teil der siebten Frage in der Rechtssache C‑126/18 zu antworten, dass das Unionsrecht und insbesondere die Grundsätze der Effektivität und der Äquivalenz dahin auszulegen sind, dass sie einer Praxis eines Mitgliedstaats, wonach für Anträge auf Zahlung von Zinsen auf den Überschuss abzugsfähiger Mehrwertsteuer, der aufgrund der Anwendung einer für unionsrechtswidrig befundenen nationalen Rechtsvorschrift einbehalten wurde, eine Verjährungsfrist von fünf Jahren gilt, nicht entgegenstehen.
Zur dritten und zur vierten Frage in der Rechtssache C‑126/18
61 Mit seiner dritten und seiner vierten Frage in der Rechtssache C‑126/18, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob das Unionsrecht und insbesondere Art. 183 der Mehrwertsteuerrichtlinie sowie der Effektivitätsgrundsatz dahin auszulegen sind, dass sie einer Praxis eines Mitgliedstaats entgegenstehen, wonach erstens die Zahlung von Verzugszinsen, die geschuldet werden, weil die Steuerverwaltung eine bezüglich der Erstattung eines unter Verstoß gegen das Unionsrecht einbehaltenen Mehrwertsteuerüberschusses geschuldete Zinsforderung nicht innerhalb der vorgesehenen Frist beglichen hat, von der Stellung eines besonderen Antrags abhängt, während in anderen Fällen solche Zinsen von Amts wegen gewährt werden, und zweitens diese Zinsen ab dem Ablauf einer Frist von 30 bzw. 45 Tagen, die der Verwaltung für die Bearbeitung eines solchen Antrags eingeräumt wird, angewandt werden und nicht ab dem Zeitpunkt, zu dem dieser Überschuss entstanden ist.
62 Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass sich diese Fragen nicht auf die Zinsen beziehen, die auf die unter Verstoß gegen das Unionsrecht einbehaltene Überschüsse abzugsfähiger Mehrwertsteuer angewandt werden, sondern auf die Verzugszinsen nach § 37 Abs. 4 und 6 der Besteuerungsordnung, der im Fall eines Verzugs der Verwaltung bei der Zahlung eines Betrags anwendbar ist, dessen Erstattung der Steuerpflichtige beantragt. Insoweit geht aus der Vorlageentscheidung in der Rechtssache C‑126/18 hervor, dass Dalmandi Mezőgazdasági ihren Antrag auf Erstattung der Zinsen auf die Überschüsse dieser Gesellschaft betreffend verschiedene Erklärungszeiträume von Dezember 2005 bis Juni 2011 nicht mit Inkrafttreten des Änderungsgesetzes zur Einführung eines Verfahrens zur Erstattung der Überschüsse abzugsfähiger Mehrwertsteuer, die der ungarische Staat wegen der Voraussetzung der Entgeltzahlung im Jahr 2011 einbehalten hatte, gestellt hat, sondern erst am 30. Dezember 2016. Der Antrag von Dalmandi Mezőgazdasági auf Zahlung von Verzugszinsen nach § 37 Abs. 6 der Besteuerungsordnung ab einem Zeitpunkt vor Stellung dieses Antrags und vor Ablauf der Frist für die Bearbeitung durch die Verwaltung wurde von der Steuerverwaltung mit der Begründung abgelehnt, dass der Verwaltung mangels eines Antrags kein Verzug angelastet werden könne.
63 Wie der Generalanwalt in Nr. 100 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, ergibt sich – da die nach § 37 Abs. 4 und 6 der Besteuerungsordnung vorgesehenen Verzugszinsen wegen verspäteter Zahlung einer Forderung durch die Steuerverwaltung auf Antrag des Steuerpflichtigen geschuldet wird – die Zahlung solcher Zinsen nicht unmittelbar aus der unionsrechtlichen Verpflichtung, die durch die Nichtverfügbarkeit des Mehrwertsteuerüberschusses entstandenen Verluste auszugleichen, sondern daraus, dass die Steuerverwaltung eine für sie geltende Verfahrensfrist des nationalen Rechts überschritten hat.
64 Allerdings verlangt der Effektivitätsgrundsatz, wenn die Forderung wie im Ausgangsverfahren auf einem Verstoß eines Mitgliedstaats gegen das Unionsrecht beruht, dass dieser bei verspäteter Begleichung dieser Forderung durch die Verwaltung Verzugszinsen zahlt; andernfalls würden die Mitgliedstaaten nicht dazu bewegt, die Auswirkungen dieses Verstoßes auf die Steuerpflichtigen so rasch wie möglich auszugleichen.
65 Was die Voraussetzungen betrifft, unter denen solche Zinsen gezahlt werden, ergibt sich aus der in Rn. 37 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung, dass es in Ermangelung einer unionsrechtlichen Regelung der innerstaatlichen Rechtsordnung der einzelnen Mitgliedstaaten zukommt, diese Bedingungen festzulegen, wobei insbesondere die Grundsätze der Äquivalenz und der Effektivität zu beachten sind.
66 Was den Effektivitätsgrundsatz anbelangt, auf den nur in der dritten und der vierten Frage in der Rechtssache C‑126/18 Bezug genommen wird, ist das Erfordernis, dass der Steuerpflichtige einen Antrag auf Zahlung von Verzugszinsen stellen muss, die im Fall eines Verzugs der Verwaltung mit der Begleichung einer Forderung geschuldet werden, die auf einem Unionsrechtsverstoß beruht, für sich genommen nicht geeignet, die Ausübung des Rechts auf Erstattung eines unter Verstoß gegen das Unionsrecht einbehaltenen Mehrwertsteuerüberschusses praktisch unmöglich zu machen. Wie die ungarische Regierung ausgeführt hat, teilt der Steuerpflichtige der Steuerverwaltung durch die Stellung eines solchen Antrags seine Forderung mit, und dieser Antrag ermöglicht es der Verwaltung, sich über die Höhe und die Rechtsgrundlage der betreffenden Forderung zu vergewissern.
67 In Anbetracht der Verfahrensautonomie, über die die Mitgliedstaaten verfügen, um in ihrem nationalen Recht die verfahrensrechtlichen Voraussetzungen für die Zahlung von Zinsen auf Beträge der unter Verstoß gegen das Unionsrecht erhobenen Steuern vorzusehen, verstößt das Erfordernis, dass der Steuerpflichtige einen Antrag auf Zahlung von Verzugszinsen stellen muss, die im Fall eines Verzugs der Verwaltung mit der Begleichung einer Forderung geschuldet werden, die auf einem Unionsrechtsverstoß beruht, nicht gegen den Effektivitätsgrundsatz.
68 Folglich verstößt auch eine nationale Praxis, wonach die Verzugszinsen, die das nationale Recht für den Fall vorsieht, dass die Steuerverwaltung eine auf Antrag des Steuerpflichtigen geschuldete Forderung verspätet begleicht, ab dem Ablauf einer Frist von 30 bzw. 45 Tagen angewandt werden, die der Steuerverwaltung für die Bearbeitung dieses Antrags eingeräumt wird, nicht gegen den Effektivitätsgrundsatz, wobei es unerheblich ist, dass die Forderung im Zusammenhang mit der Erstattung eines unter Verstoß gegen das Unionsrecht einbehaltenen Mehrwertsteuerüberschusses entstanden ist.
69 Unter diesen Umständen ist auf die dritte und die vierte Frage in der Rechtssache C‑126/18 zu antworten, dass das Unionsrecht und insbesondere der Effektivitätsgrundsatz dahin auszulegen sind, dass sie einer Praxis eines Mitgliedstaats, wonach erstens die Zahlung von Verzugszinsen, die geschuldet werden, weil die Steuerverwaltung eine bezüglich der Erstattung eines unter Verstoß gegen das Unionsrecht einbehaltenen Mehrwertsteuerüberschusses geschuldete Forderung nicht innerhalb der vorgesehenen Frist beglichen hat, von der Stellung eines besonderen Antrags abhängt, während in anderen Fällen solche Zinsen von Amts wegen gewährt werden, und zweitens diese Zinsen ab dem Ablauf einer Frist von 30 bzw. 45 Tagen, die der Verwaltung für die Bearbeitung eines solchen Antrags eingeräumt wird, angewandt werden und nicht ab dem Zeitpunkt, zu dem dieser Überschuss entstanden ist, nicht entgegenstehen.
Zur fünften und zur sechsten Frage in der Rechtssache C‑126/18
70 Da zum einen die fünfte Frage in der Rechtssache C‑126/18 für den Fall gestellt wird, dass der Gerichtshof die vierte Frage bejaht, und zum anderen die sechste Frage in dieser Rechtssache für den Fall gestellt wird, dass der Gerichtshof die fünfte Frage bejaht, brauchen diese Fragen nicht beantwortet zu werden.
Zur achten Frage in der Rechtssache C‑126/18
71 Mit seiner achten Frage in der Rechtssache C‑126/18 möchte das vorlegende Gericht wissen, ob das Unionsrecht und insbesondere Art. 183 der Mehrwertsteuerrichtlinie sowie der Effektivitätsgrundsatz dahin auszulegen sind, dass sie einer Praxis eines Mitgliedstaats entgegenstehen, wonach die Zahlung von Verzugszinsen, die geschuldet werden, weil die Steuerverwaltung eine bezüglich der Erstattung eines unter Verstoß gegen das Unionsrecht einbehaltenen Mehrwertsteuerüberschusses geschuldeten Zinsforderung nicht innerhalb der vorgesehenen Frist beglichen hat, für den Zeitraum, in dem dieser Überschuss entstanden ist, nur dann gewährt werden kann, wenn die Erklärung des Steuerpflichtigen für den Zeitraum, in dem dieser Mitgliedstaat diesen Unionsrechtsverstoß beendet hat, einen Überschuss abzugsfähiger Mehrwertsteuer ausweist.
72 Insoweit geht aus der Vorlageentscheidung in der Rechtssache C‑126/18 hervor, dass Dalmandi Mezőgazdasági Verzugszinsen in Höhe von 7000 HUF (ca. 22 Euro) wegen Überschreitens der Frist für die Bearbeitung ihres Antrags vom 30. September 2016 auf Zahlung von Zinsen auf die unter Verstoß gegen das Unionsrecht einbehaltenen Überschüsse abzugsfähiger Mehrwertsteuer für einen Zeitraum nach Stellung ihres Antrags gewährt wurden, die Steuerverwaltung es jedoch ablehnte, ihr für die Zeit vor Stellung ihres Antrags Zinsen zu zahlen. Außerdem steht fest, dass die Erklärung dieser Gesellschaft für den Zeitraum, in dem der ungarische Staat diesen Unionsrechtsverstoß beendet hat, keinen Überschuss abzugsfähiger Mehrwertsteuer auswies.
73 Wie sich aus den Rn. 67 und 68 des vorliegenden Urteils ergibt, konnte die Steuerverwaltung die Zahlung solcher Verzugszinsen aber für die Zeit vor der Stellung des Antrags verweigern, ohne gegen den Effektivitätsgrundsatz zu verstoßen.
74 Unter diesen Umständen braucht die Frage, ob die Verwaltung in Anbetracht der sich aus diesem Grundsatz ergebenden Anforderungen die Zahlung solcher Zinsen für diesen Zeitraum aus einem anderen Grund als der späten Stellung des Antrags ablehnen durfte, nämlich dem Fehlen eines Mehrwertsteuerüberschusses in der Erklärung des Steuerpflichtigen für den Zeitraum, in dem der ungarische Staat den Unionsrechtsverstoß beendet hatte, nicht beantwortet zu werden.
Kosten
75 Für die Parteien der Ausgangsverfahren ist das Verfahren Teil der bei den vorlegenden Gerichten anhängigen Verfahren; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieser Gerichte. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Zweite Kammer) für Recht erkannt:
1. Das Unionsrecht und insbesondere die Grundsätze der Effektivität und der steuerlichen Neutralität sind dahin auszulegen, dass sie der Praxis eines Mitgliedstaats, die darin besteht, die Zinsen auf die von diesem Mitgliedstaat über einen angemessenen Zeitraum hinaus unter Verstoß gegen das Unionsrecht einbehaltenen Überschüsse abzugsfähiger Mehrwertsteuer unter Anwendung eines Satzes zu berechnen, der dem Basiszinssatz der nationalen Zentralbank entspricht, entgegenstehen, wenn zum einen dieser Satz niedriger ist als der, den ein Steuerpflichtiger, bei dem es sich nicht um ein Kreditinstitut handelt, zahlen müsste, um ein Darlehen in Höhe dieses Betrags aufzunehmen, und zum anderen die Zinsen auf die betreffenden Mehrwertsteuerüberschüsse für einen bestimmten Erklärungszeitraum laufen, ohne dass Zinsen angewandt würden, um dem Steuerpflichtigen einen Ausgleich für die Geldentwertung zu bieten, die auf dem Ablauf der Zeit nach diesem Erklärungszeitraum bis zur tatsächlichen Zahlung dieser Zinsen beruht.
2. Das Unionsrecht und insbesondere die Grundsätze der Effektivität und der Äquivalenz sind dahin auszulegen, dass sie einer Praxis eines Mitgliedstaats, wonach für Anträge auf Zahlung von Zinsen auf den Überschuss abzugsfähiger Mehrwertsteuer, der aufgrund der Anwendung einer für unionsrechtswidrig befundenen nationalen Rechtsvorschrift einbehalten wurde, eine Verjährungsfrist von fünf Jahren gilt, nicht entgegenstehen.
3. Das Unionsrecht und insbesondere der Effektivitätsgrundsatz sind dahin auszulegen, dass sie einer Praxis eines Mitgliedstaats, wonach erstens die Zahlung von Verzugszinsen, die geschuldet werden, weil die Steuerverwaltung eine bezüglich der Erstattung eines unter Verstoß gegen das Unionsrecht einbehaltenen Mehrwertsteuerüberschusses geschuldete Forderung nicht innerhalb der vorgesehenen Frist beglichen hat, von der Stellung eines besonderen Antrags abhängt, während in anderen Fällen solche Zinsen von Amts wegen gewährt werden, und zweitens diese Zinsen ab dem Ablauf einer Frist von 30 bzw. 45 Tagen, die der Verwaltung für die Bearbeitung eines solchen Antrags eingeräumt wird, angewandt werden und nicht ab dem Zeitpunkt, zu dem dieser Überschuss entstanden ist, nicht entgegenstehen.
Unterschriften
(*1) Verfahrenssprache: Ungarisch.
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Urteil des Gerichtshofs (Erste Kammer) vom 15. November 2018.#Heiko Jonny Maniero gegen Studienstiftung des deutschen Volkes e.V.#Vorabentscheidungsersuchen des Bundesgerichtshofs.#Vorlage zur Vorabentscheidung – Gleichbehandlung ohne Unterschied der Rasse oder der ethnischen Herkunft – Richtlinie 2000/43/EG – Art. 3 Abs. 1 Buchst. g – Geltungsbereich – Begriff ‚Bildung‘ – Vergabe von Stipendien, die juristische Forschungs- oder Studienvorhaben im Ausland fördern sollen, durch eine private Stiftung – Art. 2 Abs. 2 Buchst. b – Mittelbare Diskriminierung – Vergabe der Stipendien unter der Voraussetzung des Bestehens der Ersten Juristischen Staatsprüfung in Deutschland.#Rechtssache C-457/17.
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62017CJ0457
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ECLI:EU:C:2018:912
| 2018-11-15T00:00:00 |
Gerichtshof, Sharpston
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62017CJ0457
URTEIL DES GERICHTSHOFS (Erste Kammer)
15. November 2018 (*1)
„Vorlage zur Vorabentscheidung – Gleichbehandlung ohne Unterschied der Rasse oder der ethnischen Herkunft – Richtlinie 2000/43/EG – Art. 3 Abs. 1 Buchst. g – Geltungsbereich – Begriff ‚Bildung‘ – Vergabe von Stipendien, die juristische Forschungs- oder Studienvorhaben im Ausland fördern sollen, durch eine private Stiftung – Art. 2 Abs. 2 Buchst. b – Mittelbare Diskriminierung – Vergabe der Stipendien unter der Voraussetzung des Bestehens der Ersten Juristischen Staatsprüfung in Deutschland“
In der Rechtssache C‑457/17
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Bundesgerichtshof (Deutschland) mit Entscheidung vom 1. Juni 2017, beim Gerichtshof eingegangen am 31. Juli 2017, in dem Verfahren
Heiko Jonny Maniero
gegen
Studienstiftung des deutschen Volkes e. V.
erlässt
DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)
unter Mitwirkung der Vizepräsidentin R. Silva de Lapuerta in Wahrnehmung der Aufgaben des Präsidenten der Ersten Kammer, der Richter A. Arabadjiev (Berichterstatter), E. Regan, C. G. Fernlund und S. Rodin,
Generalanwältin: E. Sharpston,
Kanzler: R. Șereș, Verwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 30. Mai 2018,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
–
von Herrn Maniero, vertreten durch die Rechtsanwälte S. Mennemeyer, P. Rädler und U. Baumann,
–
der Studienstiftung des deutschen Volkes e. V., vertreten durch Rechtsanwalt E. Waclawik und G. Thüsing, Professor der Rechtswissenschaften,
–
der deutschen Regierung, vertreten durch T. Henze, M. Hellmann und E. Lankenau als Bevollmächtigte,
–
der Europäischen Kommission, vertreten durch D. Martin und B.‑R. Killmann als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge der Generalanwältin in der Sitzung vom 11. September 2018
folgendes
Urteil
1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 2 Abs. 2 Buchst. b und Art. 3 Abs. 1 Buchst. g der Richtlinie 2000/43/EG des Rates vom 29. Juni 2000 zur Anwendung des Gleichbehandlungsgrundsatzes ohne Unterschied der Rasse oder der ethnischen Herkunft (ABl. 2000, L 180, S. 22).
2 Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Herrn Heiko Jonny Maniero und der Studienstiftung des deutschen Volkes e. V. (im Folgenden: Studienstiftung), in dem Herr Maniero auf Beseitigung und Unterlassung der Benachteiligung wegen seines Alters oder seiner Herkunft klagt.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
3 In den Erwägungsgründen 12 und 16 der Richtlinie 2000/43 heißt es:
„(12)
Um die Entwicklung demokratischer und toleranter Gesellschaften zu gewährleisten, die allen Menschen – ohne Unterschied der Rasse oder der ethnischen Herkunft – eine Teilhabe ermöglichen, sollten spezifische Maßnahmen zur Bekämpfung von Diskriminierungen aus Gründen der Rasse oder der ethnischen Herkunft über die Gewährleistung des Zugangs zu unselbständiger und selbständiger Erwerbstätigkeit hinausgehen und auch Aspekte wie Bildung, Sozialschutz, einschließlich sozialer Sicherheit und der Gesundheitsdienste, soziale Vergünstigungen, Zugang zu und Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen, mit abdecken.
…
(16) Es ist wichtig, alle natürlichen Personen gegen Diskriminierung aus Gründen der Rasse oder der ethnischen Herkunft zu schützen. …“
4 Art. 2 („Der Begriff ‚Diskriminierung‘“) Abs. 1 und 2 der Richtlinie sieht vor:
„(1) Im Sinne dieser Richtlinie bedeutet ‚Gleichbehandlungsgrundsatz‘, dass es keine unmittelbare oder mittelbare Diskriminierung aus Gründen der Rasse oder der ethnischen Herkunft geben darf.
(2) Im Sinne von Absatz 1
…
b)
liegt eine mittelbare Diskriminierung vor, wenn dem Anschein nach neutrale Vorschriften, Kriterien oder Verfahren Personen, die einer Rasse oder ethnischen Gruppe angehören, in besonderer Weise benachteiligen können, es sei denn, die betreffenden Vorschriften, Kriterien oder Verfahren sind durch ein rechtmäßiges Ziel sachlich gerechtfertigt, und die Mittel sind zur Erreichung dieses Ziels angemessen und erforderlich.“
5 Art. 3 („Geltungsbereich“) Abs. 1 dieser Richtlinie sieht vor:
„Im Rahmen der auf die [Europäische Union] übertragenen Zuständigkeiten gilt diese Richtlinie für alle Personen in öffentlichen und privaten Bereichen, einschließlich öffentlicher Stellen, in Bezug auf:
…
g)
die Bildung;
…“
Deutsches Recht
6 Die Richtlinie 2000/43 wurde durch das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz vom 14. August 2006 (BGBl. 2006 I S. 1897) (im Folgenden: AGG) in der deutschen Rechtsordnung umgesetzt.
7 § 1 AGG („Ziel des Gesetzes“) lautet:
„Ziel des Gesetzes ist, Benachteiligungen aus Gründen der Rasse oder wegen der ethnischen Herkunft, des Geschlechts, der Religion oder Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Identität zu verhindern oder zu beseitigen.“
8 In § 2 AGG („Anwendungsbereich“) Abs. 1 heißt es:
„Benachteiligungen aus einem in § 1 genannten Grund sind nach Maßgabe dieses Gesetzes unzulässig in Bezug auf:
…
7. die Bildung“.
9 § 3 („Begriffsbestimmungen“) Abs. 1 und 2 AGG lautet:
„(1) Eine unmittelbare Benachteiligung liegt vor, wenn eine Person wegen eines in § 1 genannten Grundes eine weniger günstige Behandlung erfährt, als eine andere Person in einer vergleichbaren Situation erfährt, erfahren hat oder erfahren würde. …
(2) Eine mittelbare Benachteiligung liegt vor, wenn dem Anschein nach neutrale Vorschriften, Kriterien oder Verfahren Personen wegen eines in § 1 genannten Grundes gegenüber anderen Personen in besonderer Weise benachteiligen können, es sei denn, die betreffenden Vorschriften, Kriterien oder Verfahren sind durch ein rechtmäßiges Ziel sachlich gerechtfertigt und die Mittel sind zur Erreichung dieses Ziels angemessen und erforderlich.“
10 § 19 („Zivilrechtliches Benachteiligungsverbot“) Abs. 2 AGG sieht vor:
„Eine Benachteiligung aus Gründen der Rasse oder wegen der ethnischen Herkunft ist darüber hinaus auch bei der Begründung, Durchführung und Beendigung sonstiger zivilrechtlicher Schuldverhältnisse im Sinne des § 2 Abs. 1 Nr. 5 bis 8 unzulässig.“
Ausgangsverfahren und Vorlagefragen
11 Herr Maniero ist italienischer Staatsbürger, der in Deutschland geboren und wohnhaft ist. 2013 erwarb er an der Haybusak-Universität Eriwan (Armenien) den akademischen Grad „Bachelor of Laws“.
12 Die Studienstiftung ist ein in Deutschland eingetragener Verein, dessen Ziel es ist, die Hochschulbildung junger Menschen, deren hohe wissenschaftliche oder künstlerische Begabung und deren Persönlichkeit besondere Leistungen im Dienste der Allgemeinheit erwarten lassen, insbesondere durch Vergabe von Stipendien zu fördern.
13 Herr Maniero erkundigte sich mit E‑Mail vom 11. Dezember 2013 nach den Voraussetzungen für Stipendien im Rahmen des Bucerius-Jura-Programms der Studienstiftung, das die Förderung juristischer Forschungs- oder Studienvorhaben im Ausland zum Gegenstand hat.
14 Mit E‑Mail vom 17. Januar 2014 wies die Studienstiftung Herrn Maniero darauf hin, dass Bewerber die Erste Juristische Staatsprüfung absolviert haben müssten.
15 Am selben Tag antwortete der Kläger der Studienstiftung per E‑Mail, dass der von ihm in Armenien erworbene „fünfjährige Abschluss“ mit der Zweiten Juristischen Staatsprüfung vergleichbar sei, da er in diesem Drittland zum Richteramt und zur Tätigkeit als Anwalt befähige. Er gab zu bedenken, dass die Teilnahmevoraussetzung für das Bucerius-Jura-Programm als Diskriminierung wegen der ethnischen oder sozialen Herkunft gegen das allgemeine Diskriminierungsverbot verstoßen könne.
16 Herr Maniero bewarb sich innerhalb der vorgegebenen Frist nicht für ein Stipendium im Rahmen dieses Programms. In einem weiteren Schriftverkehr mit der Studienstiftung machte Herr Maniero geltend, durch ihre ablehnende Haltung von einer Bewerbung abgehalten worden zu sein.
17 Herr Maniero nahm die Studienstiftung auf Beseitigung und Unterlassung der Benachteiligung wegen seines Alters oder seiner Herkunft, auf Zahlung von 18734,60 Euro und Feststellung der Verpflichtung zur Zahlung weiteren Schadensersatzes für Reisekosten in Anspruch.
18 Nachdem seine Klage in zwei Instanzen keinen Erfolg hatte, legte Herr Maniero Revision beim Bundesgerichtshof (Deutschland) ein.
19 Für das vorlegende Gericht hängt die Entscheidung des Rechtsstreits erstens davon ab, ob die Vergabe von Stipendien, die Forschungs- oder Studienvorhaben im Ausland fördern sollen, durch einen eingetragenen Verein unter den Begriff der Bildung im Sinne von Art. 3 Abs. 1 Buchst. g der Richtlinie 2000/43 fällt. Der Vorschlag der Europäischen Kommission für diese Richtlinie habe die Formulierung „Bildung, einschließlich Ausbildungsbeihilfen und Stipendien, unter strikter Beachtung der Verantwortung der Mitgliedstaaten für die Lehrinhalte und die Gestaltung des Bildungssystems sowie der Vielfalt ihrer Kulturen und Sprachen“ enthalten. Der Bundesgerichtshof fragt sich daher, aus welchen Gründen in der endgültigen Fassung allein der Begriff „Bildung“ stehe.
20 Falls die erste Frage zu bejahen sei, hänge die Entscheidung zweitens weiter davon ab, ob die Teilnahmevoraussetzung der Ersten Juristischen Staatsprüfung bei der Vergabe dieser Stipendien einen Unionsbürger, der einen vergleichbaren Abschluss außerhalb der Union erworben habe, entgegen Art. 2 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie 2000/43 mittelbar diskriminiere, wenn die Wahl dieses Abschlussorts nicht mit der ethnischen Herkunft des Bewerbers in Zusammenhang stehe und er aufgrund seines Wohnsitzes in Deutschland und fließender Beherrschung der deutschen Sprache die Möglichkeit gehabt habe, nach einem inländischen Jurastudium die Erste Juristische Staatsprüfung abzulegen.
21 Herrn Maniero sei zwar darin zuzustimmen, dass diese Voraussetzung dazu führen würde, Personen ausländischer Herkunft mit einem vergleichbaren im Ausland erworbenen Abschluss zu benachteiligen, falls ihnen ein Studium in Deutschland zumindest nicht leicht möglich gewesen sei.
22 Es sei aber zweifelhaft, ob Herr Maniero zu einer solchen benachteiligten Gruppe zähle. Einerseits beherrsche er die deutsche Sprache fließend, wohne in Deutschland und hätte demnach ohne Schwierigkeiten dort studieren können. Außerdem habe die Wahl des Abschlussorts in Armenien in keinem Zusammenhang mit seiner ethnischen Herkunft gestanden.
23 Andererseits sei nach Rn. 60 des Urteils vom 16. Juli 2015, CHEZ Razpredelenie Bulgaria (C‑83/14, EU:C:2015:480), der Begriff „Diskriminierung aufgrund der ethnischen Herkunft“ in Art. 1 und Art. 2 Abs. 1 der Richtlinie 2000/43 unterschiedslos anzuwenden, gleichviel ob die fragliche Maßnahme Personen einer bestimmten ethnischen Herkunft oder Personen anderer Herkunft betreffe, die durch diese Maßnahme zusammen mit Ersteren in besonderer Weise benachteiligt würden.
24 Sollte eine mittelbare Diskriminierung bejaht werden, stelle sich drittens die Frage, ob die nicht an ein diskriminierendes Merkmal anknüpfende bildungspolitische Zielsetzung, die mit dem Bucerius-Jura-Programm verfolgt werde, eine sachliche Rechtfertigung im Sinne von Art. 2 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie 2000/43 darstelle.
25 Nach dem Inhalt der Ausschreibung bezwecke das Bucerius-Jura-Programm, besonders qualifizierten Absolventen des Jurastudiums in Deutschland durch die Förderung eines Forschungs- oder Studienvorhabens im Ausland die Kenntnis ausländischer Rechtssysteme, Auslandserfahrung und Sprachkenntnisse zu vermitteln. Da diese Zielsetzung nicht an ein diskriminierendes Merkmal anknüpfe, liege in der Praxis der Studienstiftung keine mittelbare Diskriminierung.
26 Unter diesen Umständen hat der Bundesgerichtshof das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:
Zu den Vorlagefragen
Zur ersten Frage
27 Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 3 Abs. 1 Buchst. g der Richtlinie 2000/43 dahin auszulegen ist, dass die Vergabe von Stipendien, die Forschungs- oder Studienvorhaben im Ausland fördern sollen, durch eine private Stiftung unter den Begriff „Bildung“ im Sinne dieser Vorschrift fällt.
28 Aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten ergibt sich, dass das Hauptziel des Bucerius-Jura-Programms darin besteht, den Zugang zu juristischen Forschungs- oder Studienvorhaben im Ausland zu fördern, indem Teilnehmern ein monatliches Vollstipendium in Höhe von 1000 Euro bzw., wenn sie in Großbritannien oder in den USA studieren, von 1500 Euro gewährt wird, nebst einem einmaligen Startgeld in Höhe von 500 Euro, Erstattung der Reisekosten und einem Studiengebührenzuschuss in Höhe von maximal 12500 Euro, wobei Studiengebühren bis 5000 Euro vollständig und darüber hinaus zu 50 % übernommen werden.
29 Es ist daher zu prüfen, ob der Zugang zur Bildung unter den Begriff „Bildung“ im Sinne von Art. 3 Abs. 1 Buchst. g der Richtlinie 2000/43 fällt und, wenn ja, ob Stipendien wie die im Rahmen des Bucerius-Jura-Programms vergebenen darunter fallen können.
30 Da der Bildungsbegriff in der Richtlinie 2000/43 nicht definiert ist, ist die Bedeutung und Tragweite dieses Begriffs nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs nach seinem üblichen Sinn im gewöhnlichen Sprachgebrauch zu bestimmen, wobei zu berücksichtigen ist, in welchem Zusammenhang er verwendet wird und welche Ziele mit der Regelung verfolgt werden, zu der er gehört (vgl. entsprechend Urteil vom 3. September 2014, Deckmyn und Vrijheidsfonds, C‑201/13, EU:C:2014:2132, Rn. 19 und die dort angeführte Rechtsprechung).
31 Wie von der Generalanwältin in den Nrn. 22 und 23 ihrer Schlussanträge ausgeführt, umfasst der Begriff „Bildung“ nach seinem üblichen Sinn im gewöhnlichen Sprachgebrauch die Handlungen oder die Vorgänge, durch die u. a. Informationen, Kenntnisse, Wahrnehmungen, Ansichten, Werte, Fähigkeiten, Kompetenzen und Verhaltensweisen weitergegeben werden.
32 Auch wenn außer Zweifel steht, dass unter den Begriff „Bildung“ nach seinem üblichen Sinn im gewöhnlichen Sprachgebrauch die juristischen Forschungen und Studien fallen, zu denen das Bucerius-Jura-Programm den Zugang erleichtern soll, so ist doch festzustellen, dass der Begriff als solcher auf den ersten Blick nicht den Zugang zur Bildung oder die Gewährung finanzieller Leistungen wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden umfasst.
33 Bezüglich des Regelungszusammenhangs, in dem der Begriff „Bildung“ verwendet wird, ist festzustellen, dass der Begriff in Art. 3 der Richtlinie 2000/43 steht. Dieser Artikel regelt den sachlichen Geltungsbereich der Richtlinie, die nach ihrem Art. 1 die Schaffung eines Rahmens zur Bekämpfung der Diskriminierung aufgrund der Rasse oder der ethnischen Herkunft im Hinblick auf die Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung in den Mitgliedstaaten bezweckt.
34 Was die Ziele der Richtlinie anbelangt, heißt es in ihrem 16. Erwägungsgrund, dass es wichtig ist, alle natürlichen Personen gegen Diskriminierung aus Gründen der Rasse oder der ethnischen Herkunft zu schützen.
35 Speziell zum sachlichen Geltungsbereich der Richtlinie 2000/43 ergibt sich aus ihrem zwölften Erwägungsgrund, dass zur Gewährleistung der Entwicklung demokratischer und toleranter Gesellschaften, die allen Menschen – ohne Unterschied der Rasse oder der ethnischen Herkunft – eine Teilhabe ermöglichen, spezifische Maßnahmen zur Bekämpfung von Diskriminierungen aus Gründen der Rasse oder der ethnischen Herkunft auch Aspekte wie die in Art. 3 Abs. 1 dieser Richtlinie genannten mit abdecken sollten (Urteile vom 12. Mai 2011, Runevič-Vardyn und Wardyn, C‑391/09, EU:C:2011:291, Rn. 41, und vom 16. Juli 2015, CHEZ Razpredelenie Bulgaria, C‑83/14, EU:C:2015:480, Rn. 40).
36 Wie der Gerichtshof bereits entschieden hat, darf daher der Geltungsbereich der Richtlinie 2000/43 in Anbetracht ihres Gegenstands und der Natur der Rechte, die sie schützen soll, sowie des Umstands, dass sie in dem jeweiligen Bereich nur dem Gleichbehandlungsgrundsatz Ausdruck gibt, der einer der tragenden Grundsätze des Unionsrechts und in Art. 21 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union niedergelegt ist, nicht eng definiert werden (Urteile vom 12. Mai 2011, Runevič-Vardyn und Wardyn, C‑391/09, EU:C:2011:291, Rn. 43, sowie vom 16. Juli 2015, CHEZ Razpredelenie Bulgaria, C‑83/14, EU:C:2015:480, Rn. 42).
37 Wie die Generalanwältin in den Nrn. 32 und 34 ihrer Schlussanträge ausgeführt hat, gebietet eine teleologische Auslegung des Begriffs „Bildung“ in Art. 3 Abs. 1 Buchst. g der Richtlinie 2000/43 erstens, dass der Zugang zur Bildung als einer der wesentlichen Aspekte dieses Begriffs betrachtet wird, da es Bildung nur geben kann, wenn sie auch zugänglich ist, und infolgedessen das Ziel der Richtlinie, die Bekämpfung von Diskriminierung im Bildungsbereich, nicht erreicht werden könnte, wenn Diskriminierung beim Zugang zur Bildung erlaubt wäre.
38 Zweitens müssen die mit der Teilnahme an einem Forschungsvorhaben oder einem Bildungsprogramm in Zusammenhang stehenden Kosten zu den im Begriff „Bildung“ enthaltenen Komponenten des Zugangs zur Bildung gerechnet werden, da die Verfügbarkeit der für die Teilnahme nötigen finanziellen Mittel Bedingung für den Zugang zu dem Vorhaben oder Programm sein kann.
39 Es ist daher davon auszugehen, dass finanzielle Leistungen in Form von Stipendien unter den Begriff „Bildung“ im Sinne von Art. 3 Abs. 1 Buchst. g der Richtlinie 2000/43 fallen, wenn ein hinreichend enger Zusammenhang zwischen ihnen und der Teilnahme an einem spezifischen Forschungsprojekt oder Bildungsprogramm besteht, das selbst unter diesen Begriff fällt. Dies ist vor allem dann der Fall, wenn diese finanziellen Leistungen an die Teilnahme potenzieller Bewerber an einem solchen Forschungs- oder Studienvorhaben gebunden sind, ihr Ziel darin besteht, potenzielle finanzielle Hindernisse für die Teilnahme ganz oder teilweise zu beseitigen, und sie zur Erreichung dieses Ziels geeignet sind.
40 Vorbehaltlich der Prüfung durch das vorlegende Gericht scheint dies bei den im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Stipendien der Fall zu sein, da sie anscheinend geeignet sind, potenzielle finanzielle Hindernisse für die Teilnahme an juristischen Forschungsvorhaben oder Studienprogrammen im Ausland ganz oder teilweise zu beseitigen, indem sie dazu beitragen, dass die betreffenden Bewerber die aufgrund des Auslandsaufenthalts erhöhten Reise- und Lebenshaltungskosten und die Einschreibegebühren für diese Forschungsvorhaben oder Bildungsprogramme bestreiten können.
41 Entgegen der von der Studienstiftung und der deutschen Regierung vertretenen Ansicht werden diese Feststellungen weder durch die Entstehungsgeschichte von Art. 3 Abs. 1 Buchst. g der Richtlinie 2000/43 noch durch die Systematik dieser Vorschrift widerlegt.
42 Zum einen geht, wie die Generalanwältin in Nr. 43 ihrer Schlussanträge ausgeführt hat, aus der Entstehungsgeschichte von Art. 3 Abs. 1 Buchst. g der Richtlinie 2000/43 nicht eindeutig hervor, dass die im Gesetzgebungsverfahren erfolgte Streichung der im ursprünglichen Kommissionsvorschlag für diese Richtlinie enthaltenen Wendung „Bildung, einschließlich Ausbildungsbeihilfen und Stipendien, unter strikter Beachtung der Verantwortung der Mitgliedstaaten für die Lehrinhalte und die Gestaltung des Bildungssystems sowie der Vielfalt ihrer Kulturen und Sprachen“ auf dem Willen des Unionsgesetzgebers beruht hätte, den Geltungsbereich dieser Vorschrift einzuschränken.
43 Zum anderen ist, wie die Generalanwältin in den Nrn. 44 und 45 ihrer Schlussanträge ausgeführt hat, weder aufgrund des Umstands, dass in Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2000/43 die Tragweite der meisten dort aufgeführten Begriffe näher erläutert wird, noch des Umstands, dass in Art. 3 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie ausdrücklich die Berufsausbildung genannt ist, eine enge Auslegung des Begriffs „Bildung“ in Art. 3 Abs. 1 Buchst. g der Richtlinie geboten, die den in den Rn. 34 bis 36 des vorliegenden Urteils genannten Zielen der Richtlinie zuwiderlaufen würde.
44 Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 3 Abs. 1 Buchst. g der Richtlinie 2000/43 dahin auszulegen ist, dass die Vergabe von Stipendien, die Forschungs- oder Studienvorhaben im Ausland fördern sollen, durch eine private Stiftung unter den Begriff „Bildung“ im Sinne dieser Vorschrift fällt, wenn ein hinreichend enger Zusammenhang zwischen den vergebenen finanziellen Leistungen und der Teilnahme an den Forschungs- oder Studienvorhaben, die selbst unter diesen Bildungsbegriff fallen, besteht. Dies ist vor allem dann der Fall, wenn die finanziellen Leistungen an die Teilnahme potenzieller Bewerber an einem solchen Forschungs- oder Studienvorhaben gebunden sind, ihr Ziel darin besteht, potenzielle finanzielle Hindernisse für die Teilnahme ganz oder teilweise zu beseitigen, und sie zur Erreichung dieses Ziels geeignet sind.
Zur zweiten Frage
45 Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 2 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie 2000/43 dahin auszulegen ist, dass eine mittelbare Diskriminierung aufgrund der Rasse oder der ethnischen Herkunft im Sinne dieser Vorschrift vorliegt, wenn eine in einem Mitgliedstaat ansässige private Stiftung von ihr vergebene Stipendien, die juristische Forschungs- oder Studienvorhaben im Ausland fördern sollen, Bewerbern vorbehält, die in diesem Mitgliedstaat eine juristische Prüfung wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende bestanden haben.
46 Nach diesem Artikel liegt eine mittelbare Diskriminierung vor, wenn dem Anschein nach neutrale Vorschriften, Kriterien oder Verfahren Personen, die einer Rasse oder ethnischen Gruppe angehören, in besonderer Weise benachteiligen können, es sei denn, die betreffenden Vorschriften, Kriterien oder Verfahren sind durch ein rechtmäßiges Ziel sachlich gerechtfertigt, und die Mittel sind zur Erreichung dieses Ziels angemessen und erforderlich.
47 Der Begriff „in besonderer Weise benachteiligen“ im Sinne dieser Vorschrift ist so zu verstehen, dass es insbesondere Personen einer bestimmten Rasse oder ethnischen Herkunft sind, die durch die betreffenden Vorschriften, Kriterien oder Verfahren benachteiligt werden (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 16. Juli 2015, CHEZ Razpredelenie Bulgaria, C‑83/14, EU:C:2015:480, Rn. 100, und vom 6. April 2017, Jyske Finans, C‑668/15, EU:C:2017:278, Rn. 27).
48 Eine solche Benachteiligung liegt demnach nur vor, wenn die mutmaßlich diskriminierende Maßnahme zur Benachteiligung einer bestimmten ethnischen Gruppe führt. Außerdem kann das Vorliegen einer ungünstigen Behandlung nicht allgemein und abstrakt, sondern muss spezifisch und konkret im Hinblick auf die begünstigende Behandlung festgestellt werden (Urteil vom 6. April 2017, Jyske Finans, C‑668/15, EU:C:2017:278, Rn. 31 und 32).
49 Im vorliegenden Fall ist unstreitig, dass die von der Studienstiftung für die Vergabe der betreffenden Stipendien begünstigte Gruppe aus Personen besteht, die der Voraussetzung einer erfolgreich absolvierten Ersten Juristischen Staatsprüfung genügen, während die schlechter gestellte Gruppe aus allen Personen besteht, die diese Voraussetzung nicht erfüllen.
50 Wie bei den Gegebenheiten, um die es in der Rechtssache ging, in der das Urteil vom 6. April 2017, Jyske Finans (C‑668/15, EU:C:2017:278), ergangen ist, ist festzustellen, dass die dem Gerichtshof vorliegenden Akten keinen Anhaltspunkt dafür enthalten, dass Personen einer bestimmten ethnischen Herkunft von der Voraussetzung des Bestehens der Ersten Juristischen Staatsprüfung nachteiliger betroffen wären als Personen anderer ethnischer Herkunft.
51 Daher erscheint die Feststellung einer auf einer solchen Voraussetzung beruhenden mittelbaren Diskriminierung jedenfalls ausgeschlossen.
52 Folglich ist auf die zweite Frage zu antworten, dass Art. 2 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie 2000/43 dahin auszulegen ist, dass keine mittelbare Diskriminierung aufgrund der Rasse oder der ethnischen Herkunft im Sinne dieser Vorschrift vorliegt, wenn eine in einem Mitgliedstaat ansässige private Stiftung von ihr vergebene Stipendien, die juristische Forschungs- oder Studienvorhaben im Ausland fördern sollen, Bewerbern vorbehält, die in diesem Mitgliedstaat eine juristische Prüfung wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende bestanden haben.
Kosten
53 Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Erste Kammer) für Recht erkannt:
1. Art. 3 Abs. 1 Buchst. g der Richtlinie 2000/43/EG des Rates vom 29. Juni 2000 zur Anwendung des Gleichbehandlungsgrundsatzes ohne Unterschied der Rasse oder der ethnischen Herkunft ist dahin auszulegen, dass die Vergabe von Stipendien, die Forschungs- oder Studienvorhaben im Ausland fördern sollen, durch eine private Stiftung unter den Begriff „Bildung“ im Sinne dieser Vorschrift fällt, wenn ein hinreichend enger Zusammenhang zwischen den vergebenen finanziellen Leistungen und der Teilnahme an den Forschungs- oder Studienvorhaben, die selbst unter diesen Bildungsbegriff fallen, besteht. Dies ist vor allem dann der Fall, wenn die finanziellen Leistungen an die Teilnahme potenzieller Bewerber an einem solchen Forschungs- oder Studienvorhaben gebunden sind, ihr Ziel darin besteht, potenzielle finanzielle Hindernisse für die Teilnahme ganz oder teilweise zu beseitigen, und sie zur Erreichung dieses Ziels geeignet sind.
2. Art. 2 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie 2000/43 ist dahin auszulegen, dass keine mittelbare Diskriminierung aufgrund der Rasse oder der ethnischen Herkunft im Sinne dieser Vorschrift vorliegt, wenn eine in einem Mitgliedstaat ansässige private Stiftung von ihr vergebene Stipendien, die juristische Forschungs- oder Studienvorhaben im Ausland fördern sollen, Bewerbern vorbehält, die in diesem Mitgliedstaat eine juristische Prüfung wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende bestanden haben.
Silva de Lapuerta
Arabadjiev
Regan
Fernlund
Rodin
Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 15. November 2018.
Der Kanzler
A. Calot Escobar
Der Präsident
K. Lenaerts
(*1) Verfahrenssprache: Deutsch.
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Urteil des Gerichts (Rechtsmittelkammer) vom 19. Juli 2018.#Erik Simpson gegen Rat der Europäischen Union.#Rechtsmittel – Öffentlicher Dienst – Beamte – Aufsteigen in eine höhere Besoldungsgruppe – Einstufung in die Besoldungsgruppe – Entscheidung, den Betreffenden nach erfolgreicher Teilnahme an einem allgemeinen Auswahlverfahren für die Besoldungsgruppe AD 9 nicht in die Besoldungsgruppe AD 9 einzustufen – Klageabweisung im ersten Rechtszug nach Zurückverweisung durch das Gericht – Besetzung des Spruchkörpers, der den Beschluss im ersten Rechtszug erlassen hat – Verfahren zur Ernennung eines Richters am Gericht für den öffentlichen Dienst – Auf Gesetz beruhendes Gericht – Grundsatz des gesetzlichen Richters.#Rechtssache T-646/16 P.
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62016TJ0646
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ECLI:EU:T:2018:493
| 2018-07-19T00:00:00 |
Gericht
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EUR-Lex - CELEX:62016TJ0646 - EN - EUR-Lex
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Urteil des Gerichtshofs (Vierte Kammer) vom 12. Juli 2018.#Secretary of State for the Home Department gegen Rozanne Banger.#Vorabentscheidungsersuchen des Upper Tribunal (Immigration and Asylum Chamber) London.#Vorlage zur Vorabentscheidung – Unionsbürgerschaft – Art. 21 AEUV – Recht der Unionsbürger, sich im Unionsgebiet frei zu bewegen und aufzuhalten – Richtlinie 2004/38/EG – Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 1 Buchst. b – Lebenspartner, mit dem der Unionsbürger eine ordnungsgemäß bescheinigte dauerhafte Beziehung eingegangen ist – Rückkehr in den Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit der Unionsbürger besitzt – Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis – Eingehende Untersuchung der persönlichen Umstände des Antragstellers – Art. 15 und 31 – Wirksamer Rechtsschutz – Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Art. 47.#Rechtssache C-89/17.
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62017CJ0089
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ECLI:EU:C:2018:570
| 2018-07-12T00:00:00 |
Bobek, Gerichtshof
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62017CJ0089
URTEIL DES GERICHTSHOFS (Vierte Kammer)
12. Juli 2018 (*1)
„Vorlage zur Vorabentscheidung – Unionsbürgerschaft – Art. 21 AEUV – Recht der Unionsbürger, sich im Unionsgebiet frei zu bewegen und aufzuhalten – Richtlinie 2004/38/EG – Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 1 Buchst. b – Lebenspartner, mit dem der Unionsbürger eine ordnungsgemäß bescheinigte dauerhafte Beziehung eingegangen ist – Rückkehr in den Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit der Unionsbürger besitzt – Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis – Eingehende Untersuchung der persönlichen Umstände des Antragstellers – Art. 15 und 31 – Wirksamer Rechtsschutz – Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Art. 47“
In der Rechtssache C‑89/17
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Upper Tribunal (Immigration and Asylum Chamber) (Obergericht [Kammer für Einwanderung und Asyl], Vereinigtes Königreich) mit Entscheidung vom 20. Januar 2017, beim Gerichtshof eingegangen am 20. Februar 2017, in dem Verfahren
Secretary of State for the Home Department
gegen
Rozanne Banger
erlässt
DER GERICHTSHOF (Vierte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten T. von Danwitz, der Richter C. Vajda und E. Juhász, der Richterin K. Jürimäe (Berichterstatterin) sowie des Richters C. Lycourgos,
Generalanwalt: M. Bobek,
Kanzler: L. Hewlett, Hauptverwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 17. Januar 2018,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
–
von Frau Banger, vertreten durch A. Metzer, QC, und S. Saifolahi, Barrister,
–
der Regierung des Vereinigten Königreichs, vertreten durch Z. Lavery, J. Kraehling, C. Crane und S. Brandon als Bevollmächtigte im Beistand von B. Kennelly, QC,
–
der spanischen Regierung, vertreten durch V. Ester Casas als Bevollmächtigte,
–
der österreichischen Regierung, vertreten durch C. Pesendorfer als Bevollmächtigte,
–
der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna als Bevollmächtigten,
–
der Europäischen Kommission, vertreten durch E. Montaguti und M. Wilderspin als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 10. April 2018
folgendes
Urteil
1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 und zur Aufhebung der Richtlinien 64/221/EWG, 68/360/EWG, 72/194/EWG, 73/148/EWG, 75/34/EWG, 75/35/EWG, 90/364/EWG, 90/365/EWG und 93/96/EWG (ABl. 2004, L 158, S. 77, Berichtigung ABl. 2004, L 229, S. 35).
2 Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen dem Secretary of State for the Home Department (Innenminister, Vereinigtes Königreich) und Frau Rozanne Banger wegen dessen Weigerung, Frau Banger eine Aufenthaltskarte auszustellen.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
3 Die Erwägungsgründe 6, 25 und 26 der Richtlinie 2004/38 lauten:
„(6)
Um die Einheit der Familie im weiteren Sinne zu wahren und unbeschadet des Verbots der Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit sollte die Lage derjenigen Personen, die nicht als Familienangehörige im Sinne dieser Richtlinie gelten und die daher kein automatisches Einreise- und Aufenthaltsrecht im Aufnahmemitgliedstaat genießen, von dem Aufnahmemitgliedstaat auf der Grundlage seiner eigenen innerstaatlichen Rechtsvorschriften daraufhin geprüft werden, ob diesen Personen die Einreise und der Aufenthalt gestattet werden könnte, wobei ihrer Beziehung zu dem Unionsbürger sowie anderen Aspekten, wie ihre finanzielle oder physische Abhängigkeit von dem Unionsbürger, Rechnung zu tragen ist.
…
(25) Ferner sollten Verfahrensgarantien festgelegt werden, damit einerseits im Falle eines Verbots, in einen anderen Mitgliedstaat einzureisen oder sich dort aufzuhalten, ein hoher Schutz der Rechte des Unionsbürgers und seiner Familienangehörigen gewährleistet ist und andererseits der Grundsatz eingehalten wird, dass behördliche Handlungen ausreichend begründet sein müssen.
(26) Der Unionsbürger und seine Familienangehörigen, denen untersagt wird, in einen anderen Mitgliedstaat einzureisen oder sich dort aufzuhalten, müssen stets die Möglichkeit haben, den Rechtsweg zu beschreiten.“
4 Art. 2 der Richtlinie bestimmt:
„Im Sinne dieser Richtlinie bezeichnet der Ausdruck
1. ‚Unionsbürger‘ jede Person, die die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzt;
2. ‚Familienangehöriger‘
a)
den Ehegatten;
b)
den Lebenspartner, mit dem der Unionsbürger auf der Grundlage der Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats eine eingetragene Partnerschaft eingegangen ist, sofern nach den Rechtsvorschriften des Aufnahmemitgliedstaats die eingetragene Partnerschaft der Ehe gleichgestellt ist und die in den einschlägigen Rechtsvorschriften des Aufnahmemitgliedstaats vorgesehenen Bedingungen erfüllt sind;
c)
die Verwandten in gerader absteigender Linie des Unionsbürgers und des Ehegatten oder des Lebenspartners im Sinne von Buchstabe b), die das 21. Lebensjahr noch nicht vollendet haben oder denen von diesen Unterhalt gewährt wird;
d)
die Verwandten in gerader aufsteigender Linie des Unionsbürgers und des Ehegatten oder des Lebenspartners im Sinne von Buchstabe b), denen von diesen Unterhalt gewährt wird;
3. ‚Aufnahmemitgliedstaat‘ den Mitgliedstaat, in den sich der Unionsbürger begibt, um dort sein Recht auf Freizügigkeit oder Aufenthalt auszuüben.“
5 Art. 3 der Richtlinie sieht vor:
„(1) Diese Richtlinie gilt für jeden Unionsbürger, der sich in einen anderen als den Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, begibt oder sich dort aufhält, sowie für seine Familienangehörigen im Sinne von Artikel 2 Nummer 2, die ihn begleiten oder ihm nachziehen.
(2) Unbeschadet eines etwaigen persönlichen Rechts auf Freizügigkeit und Aufenthalt der Betroffenen erleichtert der Aufnahmemitgliedstaat nach Maßgabe seiner innerstaatlichen Rechtsvorschriften die Einreise und den Aufenthalt der folgenden Personen:
a)
jedes nicht unter die Definition in Artikel 2 Nummer 2 fallenden Familienangehörigen ungeachtet seiner Staatsangehörigkeit, dem der primär aufenthaltsberechtigte Unionsbürger im Herkunftsland Unterhalt gewährt oder der mit ihm im Herkunftsland in häuslicher Gemeinschaft gelebt hat, oder wenn schwerwiegende gesundheitliche Gründe die persönliche Pflege des Familienangehörigen durch den Unionsbürger zwingend erforderlich machen;
b)
des Lebenspartners, mit dem der Unionsbürger eine ordnungsgemäß bescheinigte dauerhafte Beziehung eingegangen ist.
Der Aufnahmemitgliedstaat führt eine eingehende Untersuchung der persönlichen Umstände durch und begründet eine etwaige Verweigerung der Einreise oder des Aufenthalts dieser Personen.“
6 Art. 8 Abs. 5 Buchst. e und f dieser Richtlinie lautet:
„Für die Ausstellung der Anmeldebescheinigung an die Familienangehörigen des Unionsbürgers, die selbst Unionsbürger sind, können die Mitgliedstaaten die Vorlage folgender Dokumente verlangen:
…
e)
in den Fällen des Artikels 3 Absatz 2 Buchstabe a) ein durch die zuständige Behörde des Ursprungs- oder Herkunftslands ausgestelltes Dokument, aus dem hervorgeht, dass die Betroffenen vom Unionsbürger Unterhalt beziehen oder mit ihm in häuslicher Gemeinschaft gelebt haben, oder der Nachweis schwerwiegender gesundheitlicher Gründe, die die persönliche Pflege des Familienangehörigen durch den Unionsbürger zwingend erforderlich machen;
f)
in den Fällen des Artikels 3 Absatz 2 Buchstabe b) der Nachweis über das Bestehen einer dauerhaften Beziehung mit dem Unionsbürger.“
7 Art. 10 Abs. 2 Buchst. e und f der Richtlinie 2004/38 bestimmt:
„Für die Ausstellung der Aufenthaltskarte verlangen die Mitgliedstaaten die Vorlage folgender Dokumente:
…
e)
in den Fällen des Artikels 3 Absatz 2 Buchstabe a) ein durch die zuständige Behörde des Ursprungs- oder Herkunftslands ausgestelltes Dokument, aus dem hervorgeht, dass die Betroffenen vom Unionsbürger Unterhalt beziehen oder mit ihm in häuslicher Gemeinschaft gelebt haben, oder der Nachweis schwerwiegender gesundheitlicher Gründe, die die persönliche Pflege des Familienangehörigen durch den Unionsbürger zwingend erforderlich machen;
f)
in den Fällen des Artikels 3 Absatz 2 Buchstabe b) der Nachweis über das Bestehen einer dauerhaften Beziehung mit dem Unionsbürger.“
8 Art. 15 Abs. 1 dieser Richtlinie hat folgenden Wortlaut:
„Die Verfahren der Artikel 30 und 31 finden sinngemäß auf jede Entscheidung Anwendung, die die Freizügigkeit von Unionsbürgern und ihren Familienangehörigen beschränkt und nicht aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit erlassen wird.“
9 In Art. 31 der Richtlinie 2004/38 heißt es:
„(1) Gegen eine Entscheidung aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit müssen die Betroffenen einen Rechtsbehelf bei einem Gericht und gegebenenfalls bei einer Behörde des Aufnahmemitgliedstaats einlegen können.
…
(3) Im Rechtsbehelfsverfahren sind die Rechtmäßigkeit der Entscheidung sowie die Tatsachen und die Umstände, auf denen die Entscheidung beruht, zu überprüfen. Es gewährleistet, dass die Entscheidung insbesondere im Hinblick auf die Erfordernisse gemäß Artikel 28 nicht unverhältnismäßig ist.
…“
Recht des Vereinigten Königreichs
10 Die Richtlinie 2004/38 wurde durch die zur Zeit des in Rede stehenden Sachverhalts des Ausgangsverfahrens geltenden Immigration (European Economic Area) Regulations 2006 (Regulations von 2006 über die Einwanderung [Europäischer Wirtschaftsraum], im Folgenden: Verordnung von 2006) in das Recht des Vereinigten Königreichs umgesetzt. Regulation 7 der Verordnung von 2006 bestimmte:
„(1) Vorbehaltlich von Abs. (2) gelten als Familienangehörige im Sinne dieser Verordnung
a)
der Ehegatte oder der eingetragene Lebenspartner;
…“
11 In Regulation 8 der Verordnung von 2006 hieß es:
„(1) Für die Zwecke der vorliegenden Verordnung ist unter ‚Familienangehöriger im weiteren Sinne‘ eine Person zu verstehen, die kein Familienangehöriger eines Staatsangehörigen des [Europäischen Wirtschaftsraums (EWR)] im Sinne von Regulation 7(1)(a), (b) oder (c) ist und die die Voraussetzungen der Abs. (2), (3), (4) oder (5) erfüllt.
…
(5) Eine Person erfüllt die Voraussetzung in diesem Absatz, wenn sie der (nicht eingetragene) Partner eines EWR-Angehörigen ist und dem Entscheider beweisen kann, dass sie mit dem EWR-Angehörigen eine dauerhafte Beziehung eingegangen ist.
…“
12 Regulation 9 der genannten Verordnung sah vor:
„(1) Sind die Voraussetzungen in Abs. (2) erfüllt, so ist diese Verordnung auf eine Person, die Familienangehöriger eines britischen Staatsbürgers ist, so anzuwenden, als ob der britische Staatsbürger EWR-Angehöriger wäre.
(2) Die Voraussetzungen sind:
a)
dass sich der britische Staatsbürger als Arbeitnehmer oder Selbständiger in einem EWR-Staat aufhält oder sich vor der Rückkehr ins Vereinigte Königreich solchermaßen dort aufhielt und
b)
dass die Parteien, falls der Familienangehörige des britischen Staatsbürgers dessen Ehegatte oder eingetragener Lebenspartner ist, zusammen im EWR-Staat leben oder vor der Rückkehr des britischen Staatsbürgers in das Vereinigte Königreich die Ehe oder eingetragene Lebenspartnerschaft eingegangen waren und zusammen im betreffenden Staat lebten.
…“
Ausgangsverfahren und Vorlagefragen
13 Frau Banger besitzt die südafrikanische Staatsangehörigkeit. Ihr Lebenspartner, Herr Philip Rado, ist britischer Staatsangehöriger. Von 2008 bis 2010 lebten Frau Banger und Herr Rado zusammen in Südafrika. Im Mai 2010 nahm Herr Rado eine Beschäftigung in den Niederlanden auf. In diesem Mitgliedstaat lebte er mit Frau Banger bis 2013. Frau Banger wurde in den Niederlanden in ihrer Eigenschaft als „Familienangehörige im weiteren Sinne“ eines Unionsbürgers eine Aufenthaltskarte ausgestellt.
14 Im Jahr 2013 beschlossen Frau Banger und Herr Rado, in das Vereinigte Königreich umzuziehen. Dort beantragte Frau Banger beim Innenminister eine Aufenthaltskarte. Diese wurde ihr mit der Begründung verweigert, dass sie nicht mit ihrem Lebenspartner, Herrn Rado, verheiratet sei und dass nach Regulation 9 der Verordnung von 2006 nur der Ehegatte oder der eingetragene Lebenspartner eines britischen Staatsangehörigen als dessen Familienangehöriger angesehen werden könne.
15 Gegen diese Entscheidung, mit der ihr die Gewährung einer Aufenthaltskarte verweigert wurde, legte Frau Banger einen Rechtsbehelf beim First-tier Tribunal (erstinstanzliches Gericht, Vereinigtes Königreich) ein, das diesem stattgab. In der Folge wurde dem Innenminister gestattet, gegen die in der ersten Instanz ergangene Entscheidung ein Rechtsmittel beim Upper Tribunal (Immigration and Asylum Chamber) (Obergericht [Kammer für Einwanderung und Asyl], Vereinigtes Königreich) einzulegen, weil ein Rechtsfehler begangen worden sei.
16 Das vorlegende Gericht hat zum einen darauf hingewiesen, dass der einzige wesentliche Unterschied zwischen dem bei ihm anhängigen Verfahren und der Rechtssache, die zum Erlass des Urteils vom 7. Juli 1992, Singh (C‑370/90, EU:C:1992:296), geführt habe, darin bestehe, dass Frau Banger die nicht verheiratete Lebenspartnerin eines Unionsbürgers sei, während Herr und Frau Singh in der letztgenannten Rechtssache verheiratet gewesen seien. Die vom Gerichtshof in diesem Urteil entwickelten Grundsätze könnten daher auf eine Rechtssache wie die des Ausgangsverfahrens angewendet werden. Zum anderen hat das vorlegende Gericht festgestellt, dass eine anders zusammengesetzte Kammer dieses Gerichts bereits entschieden habe, dass die Verordnung von 2006 einer Person, der eine Aufenthaltskarte in ihrer Eigenschaft als „Familienangehörige im weiteren Sinne“ verwehrt wurde, kein Recht auf einen Rechtsbehelf verleihe.
17 Unter diesen Umständen hat das Upper Tribunal (Immigration and Asylum Chamber) (Obergericht [Kammer für Einwanderung und Asyl]) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
1. Bedeuten die Grundsätze des Urteils vom 7. Juli 1992, Singh (C‑370/90, EU:C:1992:296), dass ein Mitgliedstaat verpflichtet ist, dem unverheirateten, nicht der Union angehörenden Lebenspartner eines Unionsbürgers eine Aufenthaltserlaubnis zu gewähren, hilfsweise, deren Gewährung zu erleichtern, wenn der Unionsbürger zusammen mit dem erwähnten Lebenspartner in diesen Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, zurückkehrt, nachdem er sein im AEU-Vertrag verbürgtes Recht auf Freizügigkeit dazu benutzt hat, in einem anderen Mitgliedstaat zu arbeiten?
2. Hilfsweise: Begründet die Richtlinie 2004/38 die Verpflichtung, eine solche Aufenthaltserlaubnis zu gewähren, hilfsweise, deren Gewährung zu erleichtern?
3. Ist eine Entscheidung, mit der eine Aufenthaltserlaubnis verweigert wird, wegen Verstoßes gegen Art. 3 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38 rechtswidrig, wenn sie weder auf einer eingehenden Untersuchung der persönlichen Umstände des Antragstellers beruht noch eine angemessene oder hinreichende Begründung enthält?
4. Ist eine innerstaatliche Rechtsvorschrift mit der Richtlinie 2004/38 vereinbar, die es einem mutmaßlichen Familienangehörigen im weiteren Sinne verwehrt, den Verwaltungsakt, mit dem die Ausstellung einer Aufenthaltskarte abgelehnt wurde, vor Gericht anzufechten?
Zu den Vorlagefragen
Zur ersten und zur zweiten Frage
18 Vorab ist darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof, wie er wiederholt entschieden hat, auch wenn das vorlegende Gericht seine Fragen der Form nach auf die im Urteil vom 7. Juli 1992, Singh (C‑370/90, EU:C:1992:296), entwickelten Grundsätze und auf die Richtlinie 2004/38 beschränkt hat, dadurch nicht gehindert ist, dem Gericht alle Hinweise zur Auslegung des Unionsrechts zu geben, die diesem bei der Entscheidung des bei ihm anhängigen Verfahrens von Nutzen sein können, und zwar unabhängig davon, ob es bei seiner Fragestellung darauf Bezug genommen hat (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 5. Juni 2018, Coman u. a., C‑673/16, EU:C:2018:385, Rn. 22 und die dort angeführte Rechtsprechung).
19 Unter diesen Umständen und unter Berücksichtigung der Angaben im Vorabentscheidungsersuchen ist davon auszugehen, dass das vorlegende Gericht mit seiner ersten und seiner zweiten Frage, die zusammen zu prüfen sind, wissen möchte, ob Art. 21 Abs. 1 AEUV dahin auszulegen ist, dass er einen Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit ein Unionsbürger besitzt, verpflichtet, dem nicht eingetragenen Lebenspartner, der Drittstaatsangehöriger ist und mit dem dieser Unionsbürger eine ordnungsgemäß bescheinigte dauerhafte Beziehung eingegangen ist, eine Aufenthaltserlaubnis zu gewähren oder deren Gewährung zu erleichtern, wenn der Unionsbürger mit seinem Lebenspartner in den Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, zurückkehrt, um sich dort aufzuhalten, nachdem er sein Recht auf Freizügigkeit gemäß den Bedingungen der Richtlinie 2004/38 ausgeübt hat, um in einem anderen Mitgliedstaat zu arbeiten.
20 In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass nach Art. 21 Abs. 1 AEUV „[j]eder Unionsbürger … das Recht [hat], sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten vorbehaltlich der in den Verträgen und in den Durchführungsvorschriften vorgesehenen Beschränkungen und Bedingungen frei zu bewegen und aufzuhalten“.
21 Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs soll die Richtlinie 2004/38 die Ausübung des elementaren und persönlichen Rechts, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, das den Unionsbürgern unmittelbar aus Art. 21 Abs. 1 AEUV erwächst, erleichtern und bezweckt, dieses Recht zu verstärken (Urteile vom 12. März 2014, O. und B., C‑456/12, EU:C:2014:135, Rn. 35, sowie vom 5. Juni 2018, Coman u. a., C‑673/16, EU:C:2018:385, Rn. 18).
22 Nach ihrem Art. 3 Abs. 1 gilt die Richtlinie 2004/38 für jeden Unionsbürger, der sich in einen anderen als den Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, begibt oder sich dort aufhält, sowie für seine Familienangehörigen im Sinne von Art. 2 Nr. 2 dieser Richtlinie, die ihn begleiten oder ihm nachziehen.
23 Hinsichtlich Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 hat der Gerichtshof entschieden, dass sich aus einer wörtlichen, systematischen und teleologischen Auslegung der Bestimmungen dieser Richtlinie ergibt, dass sie allein die Voraussetzungen regelt, unter denen ein Unionsbürger in andere Mitgliedstaaten als in den seiner eigenen Staatsangehörigkeit einreisen und sich dort aufhalten darf, und dass auf sie kein abgeleitetes Recht der Drittstaatsangehörigen, die Familienangehörige eines Unionsbürgers sind, auf Aufenthalt in dem Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit der Unionsbürger besitzt, gestützt werden kann (Urteil vom 5. Juni 2018, Coman u. a., C‑673/16, EU:C:2018:385, Rn. 20 und die dort angeführte Rechtsprechung).
24 Im vorliegenden Fall ist der Vorlageentscheidung zu entnehmen, dass der Ausgangsrechtsstreit einen Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis für Frau Banger, eine Drittstaatsangehörige, im Vereinigten Königreich betrifft, dem Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit Herr Rado besitzt, und dass Herr Rado und Frau Banger bei Antragstellung weder verheiratet noch durch eine eingetragene Lebenspartnerschaft verbunden waren, aber seit mehreren Jahren zusammenlebten.
25 Wie der Generalanwalt in den Nrn. 28 und 29 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, gelten jedoch die systematischen und teleologischen Erwägungen, die den Gerichtshof, wie sich aus der in Rn. 23 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung ergibt, zu der Entscheidung bewogen, dass auf die Bestimmungen der Richtlinie 2004/38 kein abgeleitetes Recht der Drittstaatsangehörigen, die Familienangehörige eines Unionsbürgers sind, auf Aufenthalt in dessen Herkunftsmitgliedstaat gestützt werden kann, auch in Bezug auf die in Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2004/38 genannten Personen. Ein Recht eines drittstaatsangehörigen nicht eingetragenen Lebenspartners eines Unionsbürgers darauf, dass der Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit der Unionsbürger besitzt, seinen Antrag auf Gewährung einer Aufenthaltserlaubnis erleichtert, kann daher nicht auf die Richtlinie 2004/38 gestützt werden.
26 Im vorliegenden Fall folgt hieraus, dass Frau Banger zwar unter den Begriff „Lebenspartner, mit dem der Unionsbürger eine ordnungsgemäß bescheinigte dauerhafte Beziehung eingegangen ist“ im Sinne von Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2004/38 fallen kann; jedoch kann ein Recht von Frau Banger darauf, dass das Vereinigte Königreich ihren Antrag auf Erlangung einer Aufenthaltserlaubnis erleichtere, nicht auf diese Richtlinie gestützt werden.
27 Gleichwohl hat der Gerichtshof in bestimmten Fällen anerkannt, dass drittstaatsangehörige Familienangehörige eines Unionsbürgers, die aus der Richtlinie 2004/38 kein abgeleitetes Recht auf Aufenthalt in dem Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit dieser Unionsbürger besitzt, herleiten können, dennoch auf der Grundlage von Art. 21 Abs. 1 AEUV die Anerkennung eines solchen Rechts erreichen können (Urteil vom 5. Juni 2018, Coman u. a., C‑673/16, EU:C:2018:385, Rn. 23).
28 Diese Erwägung ergibt sich aus einer ständigen Rechtsprechung, wonach sonst der Unionsbürger letztlich davon abgehalten würde, den Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, zu verlassen, um sein Recht auf Aufenthalt in einem anderen Mitgliedstaat gemäß Art. 21 Abs. 1 AEUV auszuüben, weil er nicht die Gewissheit hätte, in seinem Herkunftsmitgliedstaat ein im Aufnahmemitgliedstaat bei einem tatsächlichen Aufenthalt mit diesem Drittstaatsangehörigen entwickeltes oder gefestigtes Familienleben fortsetzen zu können (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 12. März 2014, O. und B., C‑456/12, EU:C:2014:135, Rn. 54, sowie vom 5. Juni 2018, Coman u. a., C‑673/16, EU:C:2018:385, Rn. 24).
29 Nach dieser Rechtsprechung dürfen die Voraussetzungen für die Gewährung dieses abgeleiteten Aufenthaltsrechts grundsätzlich nicht strenger sein als diejenigen, die die Richtlinie 2004/38 für die Gewährung eines solchen Aufenthaltsrechts an einen Drittstaatsangehörigen vorsieht, der Familienangehöriger eines Unionsbürgers ist, der sein Recht auf Freizügigkeit ausgeübt hat, indem er sich in einem anderen Mitgliedstaat niedergelassen hat als dem, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt. Somit ist diese Richtlinie, auch wenn sie den Fall der Rückkehr eines solchen Unionsbürgers in den Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, um sich dort aufzuhalten, nicht abdeckt, entsprechend anzuwenden (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 12. März 2014, O. und B., C‑456/12, EU:C:2014:135, Rn. 50 und 61 sowie die dort angeführte Rechtsprechung, und vom 5. Juni 2018, Coman u. a., C‑673/16, EU:C:2018:385, Rn. 25).
30 Insoweit ist klarzustellen, dass Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2004/38 ausdrücklich den Lebenspartner betrifft, mit dem der Unionsbürger eine ordnungsgemäß bescheinigte dauerhafte Beziehung eingegangen ist. Diese Bestimmung sieht vor, dass der Aufnahmemitgliedstaat nach Maßgabe seiner innerstaatlichen Vorschriften die Einreise und den Aufenthalt eines solchen Lebenspartners erleichtert.
31 Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs verpflichtet Art. 3 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38 die Mitgliedstaaten nicht dazu, Drittstaatsangehörigen im Sinne dieser Bestimmung ein Recht auf Einreise und Aufenthalt zuzuerkennen, wohl aber dazu, Anträge von Drittstaatsangehörigen im Sinne dieses Artikels gegenüber den Anträgen anderer Drittstaatsangehöriger auf Einreise und Aufenthalt in gewisser Weise bevorzugt zu behandeln (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 5. September 2012, Rahman u. a., C‑83/11, EU:C:2012:519, Rn. 21).
32 Wie der Generalanwalt in den Nrn. 46 und 47 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, gilt die in Rn. 29 des vorliegenden Urteils angeführte Rechtsprechung auch im Hinblick auf den Lebenspartner, mit dem der Unionsbürger eine ordnungsgemäß bescheinigte dauerhafte Beziehung im Sinne von Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2004/38 eingegangen ist. Daher darf ein Drittstaatsangehöriger, der eine solche Beziehung mit einem Unionsbürger eingegangen ist, der von seiner Freizügigkeit Gebrauch gemacht hat und in den Mitgliedstaat zurückkehrt, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, um sich dort aufzuhalten, bei der Rückkehr dieses Unionsbürgers in den genannten Mitgliedstaat keine weniger günstige Behandlung erfahren, als sie nach der Richtlinie für einen Drittstaatsangehörigen vorgesehen ist, der eine ordnungsgemäß bescheinigte dauerhafte Beziehung mit einem Unionsbürger eingegangen ist, der seine Freizügigkeit in anderen Mitgliedstaaten ausübt als dem Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt.
33 In einer Situation wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden ist somit die Richtlinie 2004/38 einschließlich ihres Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 1 Buchst. b hinsichtlich der Voraussetzungen, unter denen die Einreise und der Aufenthalt von unter diese Richtlinie fallenden Drittstaatsangehörigen zu erleichtern ist, entsprechend anzuwenden.
34 Dieses Ergebnis wird auch nicht durch das Vorbringen der Regierung des Vereinigten Königreichs in Frage gestellt, wonach die Gewährung eines abgeleiteten Aufenthaltsrechts im Herkunftsmitgliedstaat in Rn. 63 des Urteils vom 12. März 2014, O. und B. (C‑456/12, EU:C:2014:135), allein auf diejenigen Drittstaatsangehörigen beschränkt worden sei, die ein „Familienangehöriger“ im Sinne von Art. 2 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38 seien. Wie nämlich der Generalanwalt in Nr. 35 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, hat der Gerichtshof zwar in diesem Urteil entschieden, dass ein Drittstaatsangehöriger, der kein Familienangehöriger ist, im Aufnahmemitgliedstaat kein abgeleitetes Aufenthaltsrecht nach der Richtlinie 2004/38 oder nach Art. 21 Abs. 1 AEUV hat. Dieses Urteil schließt jedoch nicht die diesem Mitgliedstaat obliegende Verpflichtung aus, die Einreise und den Aufenthalt eines solchen Drittstaatsangehörigen gemäß Art. 3 Abs. 2 dieser Richtlinie zu erleichtern.
35 Nach alledem ist auf die erste und die zweite Frage zu antworten, dass Art. 21 Abs. 1 AEUV dahin auszulegen ist, dass er einen Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit ein Unionsbürger besitzt, verpflichtet, die Gewährung einer Aufenthaltserlaubnis für den nicht eingetragenen Lebenspartner, der Drittstaatsangehöriger ist und mit dem dieser Unionsbürger eine ordnungsgemäß bescheinigte dauerhafte Beziehung eingegangen ist, zu erleichtern, wenn der Unionsbürger mit seinem Lebenspartner in den Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, zurückkehrt, um sich dort aufzuhalten, nachdem er sein Recht auf Freizügigkeit gemäß den Bedingungen der Richtlinie 2004/38 ausgeübt hat, um in einem anderen Mitgliedstaat zu arbeiten.
Zur dritten Frage
36 Mit seiner dritten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 21 Abs. 1 AEUV dahin auszulegen ist, dass eine Entscheidung, mit der eine Aufenthaltserlaubnis für den drittstaatsangehörigen nicht eingetragenen Lebenspartner eines Unionsbürgers, der mit seinem Lebenspartner in den Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, zurückkehrt, um sich dort aufzuhalten, nachdem er sein Recht auf Freizügigkeit nach den Bedingungen der Richtlinie 2004/38 ausgeübt hat, um in einem anderen Mitgliedstaat zu arbeiten, verweigert wird, auf einer eingehenden Untersuchung der persönlichen Umstände des Antragstellers beruhen muss und zu begründen ist.
37 Wie in Rn. 31 des vorliegenden Urteils ausgeführt worden ist, sind die Mitgliedstaaten nach Art. 3 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38, der auf einen Rückkehrfall wie den im Ausgangsverfahren in Rede stehenden entsprechend anwendbar ist, verpflichtet, Anträge von unter diese Bestimmung fallenden Drittstaatsangehörigen gegenüber den Anträgen anderer Drittstaatsangehöriger auf Einreise und Aufenthalt in gewisser Weise bevorzugt zu behandeln.
38 Der Gerichtshof hat entschieden, dass die Mitgliedstaaten, um diese Verpflichtung zu erfüllen, nach Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 der Richtlinie 2004/38 vorsehen müssen, dass Personen im Sinne von Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 1 dieser Richtlinie eine Entscheidung über ihren Antrag erhalten können, die auf einer eingehenden Untersuchung ihrer persönlichen Umstände beruht und im Fall der Ablehnung begründet wird (Urteil vom 5. September 2012, Rahman u. a., C‑83/11, EU:C:2012:519, Rn. 22).
39 Im Rahmen dieser Untersuchung der persönlichen Umstände des Antragstellers hat die zuständige Behörde verschiedene Faktoren zu berücksichtigen, die je nach Fall maßgeblich sein können (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 5. September 2012, Rahman u. a., C‑83/11, EU:C:2012:519, Rn. 23).
40 Da die Richtlinie 2004/38 insofern keine genauere Regelung enthält und in ihrem Art. 3 Abs. 2 die Wendung „nach Maßgabe seiner innerstaatlichen Rechtsvorschriften“ verwendet wird, ist festzustellen, dass die einzelnen Mitgliedstaaten hinsichtlich der Wahl der zu berücksichtigenden Faktoren einen großen Ermessensspielraum haben. Die Mitgliedstaaten haben allerdings dafür Sorge zu tragen, dass ihre Rechtsvorschriften Kriterien enthalten, die sich mit der gewöhnlichen Bedeutung des Ausdrucks „erleichtert“ vereinbaren lassen und die dieser Bestimmung nicht ihre praktische Wirksamkeit nehmen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 5. September 2012, Rahman u. a., C‑83/11, EU:C:2012:519, Rn. 24).
41 Nach alledem ist auf die dritte Frage zu antworten, dass Art. 21 Abs. 1 AEUV dahin auszulegen ist, dass eine Entscheidung, mit der eine Aufenthaltserlaubnis für den drittstaatsangehörigen nicht eingetragenen Lebenspartner eines Unionsbürgers, der mit seinem Lebenspartner in den Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, zurückkehrt, um sich dort aufzuhalten, nachdem er sein Recht auf Freizügigkeit gemäß den Bedingungen der Richtlinie 2004/38 ausgeübt hat, um in einem anderen Mitgliedstaat zu arbeiten, verweigert wird, auf einer eingehenden Untersuchung der persönlichen Umstände des Antragstellers beruhen muss und zu begründen ist.
Zur vierten Frage
42 Vorab ist darauf hinzuweisen, dass ausweislich der Vorlageentscheidung das vorlegende Gericht in anderer Zusammensetzung entschieden hat, dass die Verordnung von 2006 den in Art. 3 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38 genannten Personen kein „right of appeal“ (Recht auf einen Rechtsbehelf) verleihe. Die vierte Frage ist vor diesem Hintergrund zu verstehen. Das vorlegende Gericht stellt sich also nicht die Frage nach einem etwaigen Fehlen einer gerichtlichen Kontrolle für diese Personen, sondern danach, ob nach der Richtlinie 2004/38 ein Rechtsbehelf vorhanden sein muss, wonach das Gericht eine Überprüfung sowohl in rechtlicher als auch in tatsächlicher Hinsicht vornehmen kann.
43 Unter diesen Umständen ist davon auszugehen, dass das vorlegende Gericht mit seiner vierten Frage wissen möchte, ob Art. 3 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38 dahin auszulegen ist, dass Drittstaatsangehörigen im Sinne dieser Bestimmung ein Rechtsbehelf zur Verfügung stehen muss, anhand dessen das Gericht eine Überprüfung sowohl in rechtlicher als auch in tatsächlicher Hinsicht vornehmen kann, um eine Entscheidung anzufechten, mit der ihnen eine Aufenthaltserlaubnis verweigert wird.
44 Nach Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 finden die Verfahren der Art. 30 und 31 sinngemäß auf jede Entscheidung Anwendung, die die Freizügigkeit von Unionsbürgern und ihren Familienangehörigen beschränkt und nicht aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit erlassen wird. Gemäß Art. 31 Abs. 1 dieser Richtlinie müssen die Betroffenen gegen eine Entscheidung aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit einen Rechtsbehelf bei einem Gericht und gegebenenfalls bei einer Behörde des Aufnahmemitgliedstaats einlegen können.
45 Allerdings nennen diese Bestimmungen nicht ausdrücklich die insbesondere in Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2004/38 angeführten Personen.
46 Wie der Generalanwalt in Nr. 87 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, wird der Begriff „Familienangehörige“ in anderen Bestimmungen der Richtlinie 2004/38 in dem Sinne verwendet, dass er auch die in ihrem Art. 3 Abs. 2 genannten Personen umfasst. Insbesondere nennt Art. 10 dieser Richtlinie, der die Ausstellung einer Aufenthaltskarte an „Familienangehörige eines Unionsbürgers“ regelt, in seinem Abs. 2 Buchst. e und f die Dokumente, die die Personen im Sinne des Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 1 Buchst. a und b der Richtlinie für die Ausstellung einer solchen Aufenthaltskarte vorlegen müssen. Auch Art. 8 Abs. 5 der Richtlinie 2004/38, der die für die Ausstellung einer Anmeldebescheinigung „an die Familienangehörigen“ vorzulegenden Dokumente betrifft, nennt in seinen Buchst. e und f die in Art. 3 Abs. 2 der Richtlinie aufgeführten Personen.
47 Darüber hinaus müssen die Mitgliedstaaten nach der in Rn. 38 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung des Gerichtshofs gemäß Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 der Richtlinie 2004/38 vorsehen, dass die in deren Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 1 genannten Personen eine Entscheidung über ihren Antrag erhalten können, die auf einer eingehenden Untersuchung ihrer persönlichen Umstände beruht und im Fall der Ablehnung begründet wird.
48 Da jedoch die Bestimmungen der Richtlinie 2004/38 im Einklang mit den Anforderungen aus Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union ausgelegt werden müssen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 4. Juni 2013, ZZ, C‑300/11, EU:C:2013:363, Rn. 50), müssen diese Personen einen wirksamen gerichtlichen Rechtsbehelf gegen eine Entscheidung nach dieser Bestimmung haben, der es ermöglicht, die Rechtmäßigkeit dieser Entscheidung im Hinblick auf das Unionsrecht in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht zu prüfen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 17. November 2011, Gaydarov, C‑430/10, EU:C:2011:749, Rn. 41).
49 Daher ist davon auszugehen, dass die Verfahrensgarantien nach Art. 31 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 auf die in ihrem Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 1 Buchst. b genannten Personen Anwendung finden.
50 Was den Inhalt dieser Verfahrensgarantien betrifft, hat eine Person im Sinne von Art. 3 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38 nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs das Recht, durch ein Gericht überprüfen zu lassen, ob sich die nationale Regelung und deren Anwendung in den Grenzen des von der Richtlinie definierten Ermessensspielraums halten (Urteil vom 5. September 2012, Rahman u. a., C‑83/11, EU:C:2012:519, Rn. 25).
51 Bei der gerichtlichen Überprüfung des Ermessensspielraums der zuständigen nationalen Behörden muss das nationale Gericht insbesondere prüfen, ob die angefochtene Entscheidung auf einer hinreichend gesicherten tatsächlichen Grundlage beruht. Außerdem muss sich die Überprüfung auf die Wahrung der Verfahrensgarantien beziehen, der eine grundlegende Bedeutung zukommt, und die dem Gericht die Prüfung ermöglicht, ob die für die Ausübung des Ermessensspielraums maßgeblichen sachlichen und rechtlichen Umstände vorgelegen haben (vgl. entsprechend Urteil vom 4. April 2017, Fahimian, C‑544/15, EU:C:2017:255, Rn. 45 und 46). Zu diesen Garantien zählt nach Art. 3 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38 die Verpflichtung der genannten Behörden, eine eingehende Untersuchung der persönlichen Umstände des Antragstellers vorzunehmen und jegliche Verweigerung der Einreise oder des Aufenthalts zu begründen.
52 Nach alledem ist auf die vierte Frage zu antworten, dass Art. 3 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38 dahin auszulegen ist, dass den in dieser Bestimmung genannten Drittstaatsangehörigen ein Rechtsbehelf zur Verfügung stehen muss, um eine Entscheidung anzufechten, mit der ihnen eine Aufenthaltserlaubnis verweigert wird, nach dessen Einlegung es für das nationale Gericht möglich sein muss, zu überprüfen, ob die ablehnende Entscheidung auf einer hinreichend gesicherten tatsächlichen Grundlage beruht und ob die Verfahrensgarantien gewahrt wurden. Zu diesen Garantien zählt die Verpflichtung der zuständigen nationalen Behörden, eine eingehende Untersuchung der persönlichen Umstände des Antragstellers vorzunehmen und jegliche Verweigerung der Einreise oder des Aufenthalts zu begründen.
Kosten
53 Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Vierte Kammer) für Recht erkannt:
1. Art. 21 Abs. 1 AEUV ist dahin auszulegen, dass er einen Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit ein Unionsbürger besitzt, verpflichtet, die Gewährung einer Aufenthaltserlaubnis für den nicht eingetragenen Lebenspartner, der Drittstaatsangehöriger ist und mit dem dieser Unionsbürger eine ordnungsgemäß bescheinigte dauerhafte Beziehung eingegangen ist, zu erleichtern, wenn der Unionsbürger mit seinem Lebenspartner in den Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, zurückkehrt, um sich dort aufzuhalten, nachdem er sein Recht auf Freizügigkeit gemäß den Bedingungen der Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 und zur Aufhebung der Richtlinien 64/221/EWG, 68/360/EWG, 72/194/EWG, 73/148/EWG, 75/34/EWG, 75/35/EWG, 90/364/EWG, 90/365/EWG und 93/96/EWG ausgeübt hat, um in einem anderen Mitgliedstaat zu arbeiten.
2. Art. 21 Abs. 1 AEUV ist dahin auszulegen, dass eine Entscheidung, mit der eine Aufenthaltserlaubnis für den drittstaatsangehörigen nicht eingetragenen Lebenspartner eines Unionsbürgers, der mit seinem Lebenspartner in den Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, zurückkehrt, um sich dort aufzuhalten, nachdem er sein Recht auf Freizügigkeit gemäß den Bedingungen der Richtlinie 2004/38 ausgeübt hat, um in einem anderen Mitgliedstaat zu arbeiten, verweigert wird, auf einer eingehenden Untersuchung der persönlichen Umstände des Antragstellers beruhen muss und zu begründen ist.
3. Art. 3 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38 ist dahin auszulegen, dass den in dieser Bestimmung genannten Drittstaatsangehörigen ein Rechtsbehelf zur Verfügung stehen muss, um eine Entscheidung anzufechten, mit der ihnen eine Aufenthaltserlaubnis verweigert wird, nach dessen Einlegung es für das nationale Gericht möglich sein muss, zu überprüfen, ob die ablehnende Entscheidung auf einer hinreichend gesicherten tatsächlichen Grundlage beruht und ob die Verfahrensgarantien gewahrt wurden. Zu diesen Garantien zählt die Verpflichtung der zuständigen nationalen Behörden, eine eingehende Untersuchung der persönlichen Umstände des Antragstellers vorzunehmen und jegliche Verweigerung der Einreise oder des Aufenthalts zu begründen.
Unterschriften
(*1) Verfahrenssprache: Englisch.
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Urteil des Gerichtshofs (Große Kammer) vom 27. Februar 2018.#Associação Sindical dos Juízes Portugueses gegen Tribunal de Contas.#Vorabentscheidungsersuchen des Supremo Tribunal Administrativo.#Vorlage zur Vorabentscheidung – Art. 19 Abs. 1 EUV – Rechtsbehelfe – Wirksamer Rechtsschutz – Richterliche Unabhängigkeit – Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Art. 47 – Kürzung der Bezüge im nationalen öffentlichen Dienst – Sparmaßnahmen.#Rechtssache C-64/16.
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62016CJ0064
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ECLI:EU:C:2018:117
| 2018-02-27T00:00:00 |
Saugmandsgaard Øe, Gerichtshof
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Sammlung der Rechtsprechung – allgemein – Abschnitt „Informationen über nicht veröffentlichte Entscheidungen“
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62016CJ0064
URTEIL DES GERICHTSHOFS (Große Kammer)
27. Februar 2018 (*1)
„Vorlage zur Vorabentscheidung – Art. 19 Abs. 1 EUV – Rechtsbehelfe – Wirksamer Rechtsschutz – Richterliche Unabhängigkeit – Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Art. 47 – Kürzung der Bezüge im nationalen öffentlichen Dienst – Sparmaßnahmen“
In der Rechtssache C‑64/16
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Supremo Tribunal Administrativo (Oberster Verwaltungsgerichtshof, Portugal) mit Entscheidung vom 7. Januar 2016, beim Gerichtshof eingegangen am 5. Februar 2016, in dem Verfahren
Associação Sindical dos Juízes Portugueses
gegen
Tribunal de Contas
erlässt
DER GERICHTSHOF (Große Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten K. Lenaerts, des Vizepräsidenten A. Tizzano, der Kammerpräsidenten L. Bay Larsen, T. von Danwitz, J. L. da Cruz Vilaça, A. Rosas, E. Levits (Berichterstatter) und C. G. Fernlund, der Richterin C. Toader, der Richter M. Safjan und D. Šváby, der Richterinnen M. Berger und A. Prechal sowie der Richter E. Jarašiūnas und E. Regan,
Generalanwalt: H. Saugmandsgaard Øe,
Kanzler: M. Ferreira, Hauptverwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 13. Februar 2017,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
–
der Associação Sindical dos Juízes Portugueses, vertreten durch M. Rodrigues, advogado,
–
der portugiesischen Regierung, vertreten durch L. Inez Fernandes, M. Figueiredo, M. Rebelo, F. Almeida und V. Silva als Bevollmächtigte,
–
der Europäischen Kommission, vertreten durch L. Flynn und M. França als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 18. Mai 2017
folgendes
Urteil
1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV und Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta).
2 Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Associação Sindical dos Juízes Portugueses (Gewerkschaft der portugiesischen Richter, im Folgenden: ASJP) und dem Tribunal de Contas (Rechnungshof, Portugal) wegen der vorübergehenden Kürzung der Bezüge der Mitglieder des Tribunal de Contas (Rechnungshof) im Rahmen der haushaltspolitischen Leitlinien des portugiesischen Staates.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
3 Art. 2 EUV lautet:
„Die Werte, auf die sich die Union gründet, sind die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte einschließlich der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören. Diese Werte sind allen Mitgliedstaaten in einer Gesellschaft gemeinsam, die sich durch Pluralismus, Nichtdiskriminierung, Toleranz, Gerechtigkeit, Solidarität und die Gleichheit von Frauen und Männern auszeichnet.“
4 Art. 19 Abs. 1 und 2 EUV bestimmt:
„(1) Der Gerichtshof der Europäischen Union umfasst den Gerichtshof, das Gericht und Fachgerichte. Er sichert die Wahrung des Rechts bei der Auslegung und Anwendung der Verträge.
Die Mitgliedstaaten schaffen die erforderlichen Rechtsbehelfe, damit ein wirksamer Rechtsschutz in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen gewährleistet ist.
(2) …
Als Richter und Generalanwälte des Gerichtshofs und als Richter des Gerichts sind Persönlichkeiten auszuwählen, die jede Gewähr für Unabhängigkeit bieten …“
Portugiesisches Recht
5 Mit der Lei n.° 75/2014 – Estabelece os mecanismos das reduções remuneratórias temporárias e as condições da sua reversão (Gesetz Nr. 75/2014 – Festlegung der Mechanismen zur vorübergehenden Kürzung der Bezüge und der Bedingungen für ihre Rückgängigmachung) vom 12. September 2014 (Diário da República, Reihe I, Nr. 176 vom 12. September 2014, S. 4896, im Folgenden: Gesetz Nr. 75/2014) wird die vorübergehende Kürzung der Bezüge im öffentlichen Dienst geregelt (Art. 1 Abs. 1 des Gesetzes).
6 Art. 2 des Gesetzes Nr. 75/2014 bestimmt:
„1 – Die monatlichen Gesamt-Bruttobezüge von Personen im Sinne von Abs. 9, die 1500 Euro übersteigen, werden unabhängig davon, ob diese Personen zu diesem Zeitpunkt ihrer Tätigkeit nachgingen oder sie zu einem späteren Zeitpunkt, auf welcher Grundlage auch immer, aufgenommen haben, nach folgenden Maßgaben herabgesetzt:
a)
um 3,5 % vom Gesamtbetrag der Bezüge von mehr als 1500 Euro, aber weniger als 2000 Euro;
b)
um 3,5 % vom Betrag von 2000 Euro zuzüglich 16 % vom Betrag der Gesamtbezüge, der 2000 Euro übersteigt, was bei Bezügen, die zwischen 2000 und 4165 Euro liegen, zu einer Gesamtkürzung in Höhe von 3,5 % bis 10 % führt;
c)
um 10 % vom Gesamtbetrag der Bezüge, die 4165 Euro übersteigen.
…
9 – Das vorliegende Gesetz findet auf die Inhaber öffentlicher Ämter sowie die nachstehend genannten Personen Anwendung:
a)
den Präsidenten der Republik;
b)
den Präsidenten der Assembleia da República [(Parlament der Republik)];
c)
den Premierminister;
d)
die Abgeordneten der Assembleia da República;
e)
die Regierungsmitglieder;
f)
die Richter des Tribunal Constitucional [(Verfassungsgericht)] und des Tribunal de Contas [(Rechnungshof)], den Procurador-Geral da República [(Generalanwalt der Republik)], die Richter der ordentlichen Gerichtsbarkeit und die Angehörigen der Staatsanwaltschaft sowie die Richter der Verwaltungs- und Finanzgerichtsbarkeit und der Friedensgerichte;
g)
die Vertreter der Republik für die Autonomen Regionen;
h)
die Abgeordneten der gesetzgebenden Versammlungen der Autonomen Regionen;
i)
die Mitglieder der Regionalregierungen;
j)
die gewählten Amtsinhaber der lokalen Gebietskörperschaften;
k)
die Amtsträger der sonstigen Verfassungsorgane, die von den vorstehenden Buchstaben nicht erfasst sind, sowie die Mitglieder der Leitungsorgane von unabhängigen Verwaltungseinrichtungen, insbesondere solcher, die ihre Aufgaben bei der Assembleia da República wahrnehmen;
l)
die Mitglieder und Mitarbeiter der Kabinette, der Leitungsorgane und der Unterstützungskabinette, der unter den vorstehenden Buchstaben genannten Inhaber öffentlicher Ämter und Organe, des Präsidenten und des Vizepräsidenten des Conselho Superior da Magistratura [(Oberster Rat der Richterschaft)], des Präsidenten und des Vizepräsidenten des Conselho Superior dos Tribunais Administrativos e Fiscais [(Oberster Rat der Verwaltungs- und Finanzgerichte)], des Präsidenten des Supremo Tribunal de Justiça [(Oberster Gerichtshof)], des Präsidenten und der Richter des Tribunal Constitucional [(Verfassungsgericht)], des Präsidenten des Supremo Tribunal Administrativo [(Oberster Verwaltungsgerichtshof)], des Präsidenten des Tribunal de Contas [(Rechnungshof)], des Provedor de Justiça [(Ombudsmann)] und des Procurador-Geral da República [(Generalanwalt der Republik)];
m)
die Mitglieder der Streitkräfte und der Guarda Nacional Republicana (GNR) [(Republikanische Nationalgarde)] einschließlich der Militärrichter und der Soldaten, die dem Beraterstab des Vertreters des öffentlichen Interesses in Verteidigungsangelegenheiten angehören, sowie sonstige militärische Verbände;
n)
das leitende Personal der Dienste des Präsidenten der Republik und der Assembleia da República sowie anderer Unterstützungsdienste für Verfassungsorgane und der sonstigen Dienststellen und Einrichtungen der zentralen, regionalen und örtlichen Verwaltung des Staates sowie das Personal, das Aufgaben wahrnimmt, die den vorstehenden vergütungsrechtlich gleichgestellt sind;
o)
die öffentlichen Verwalter und die ihnen gleichgestellten Personen, die Mitglieder der Ausführungs-, Beratungs-, Konsultativ- und Kontrollorgane sowie sämtlicher anderen statutarischen Organe von allgemeinen und besonderen öffentlichen Einrichtungen, von juristischen Personen des öffentlichen Rechts, die aufgrund ihrer Beteiligung an Regelungs-, Überwachungs- oder Kontrollaufgaben Unabhängigkeit genießen, von öffentlichen Unternehmen mit ausschließlich oder mehrheitlich öffentlichem Kapital, des öffentlichen Unternehmenssektors und der Einrichtungen, die dem regionalen und kommunalen Unternehmenssektor angehören, sowie von öffentlichen Stiftungen und sonstigen öffentlichen Einrichtungen;
p)
Arbeitnehmer, die öffentliche Aufgaben beim Präsidenten der Republik, bei der Assembleia da República und bei anderen Verfassungsorganen wahrnehmen, sowie Arbeitnehmer, die öffentliche Aufgaben im Rahmen eines öffentlich-rechtlichen Beschäftigungsverhältnisses gleich welcher Art wahrnehmen, einschließlich der in einem Umschulungsverfahren oder in Sonderurlaub befindlichen Arbeitnehmer;
q)
Arbeitnehmer öffentlich-rechtlicher Einrichtungen, die einer besonderen Regelung unterliegen, sowie juristischer Personen des öffentlichen Rechts, die aufgrund ihrer Beteiligung an Regelungs-, Überwachungs- oder Kontrollaufgaben Unabhängigkeit genießen, einschließlich unabhängiger Regulierungsstellen;
r)
Arbeitnehmer öffentlicher Unternehmen mit ausschließlich oder mehrheitlich öffentlichem Kapital, des öffentlichen Unternehmenssektors und der Einrichtungen, die dem regionalen oder örtlichen unternehmerischen Sektor angehören;
s)
Arbeitnehmer und leitendes Personal öffentlich-rechtlicher und privatrechtlicher öffentlicher Stiftungen sowie öffentlicher Einrichtungen, die nicht unter die vorstehenden Buchstaben fallen;
t)
das Reservepersonal, das Personal im Vorruhestand und das Personal im Wartestand, das Geldleistungen bezieht, die nach Maßgabe der Diensteinkünfte des aktiven Dienstpersonals berechnet werden.
…
15 – Die Regelung nach diesem Artikel ist zwingend und hat Vorrang vor allen ihr entgegenstehenden Bestimmungen, unabhängig davon, ob es sich um besondere oder Ausnahmebestimmungen handelt, sowie vor Kollektivvereinbarungen und Arbeitsverträgen und kann durch diese weder aufgehoben noch geändert werden.“
7 Die durch das Gesetz Nr. 75/2014 eingeführten Kürzungen wurden durch die Lei n.° 159-A/2015 – Extinção da redução remuneratória na Administração Pública (Gesetz Nr. 159‑A/2015 – Aufhebung der Kürzung der Bezüge im öffentlichen Dienst) vom 30. Dezember 2015 (Diário da República, Reihe I, Nr. 254 vom 30. Dezember 2015, S. 10006-[4], im Folgenden: Gesetz Nr. 159‑A/2015) ab dem 1. Januar 2016 schrittweise aufgehoben.
8 Art. 1 des Gesetzes Nr. 159‑A/2015 lautet:
„Durch dieses Gesetz wird die gemäß dem Gesetz [Nr. 75/2014] erfolgte Kürzung der Bezüge nach dem im folgenden Artikel bestimmten Zeitplan aufgehoben.“
9 Art. 2 des Gesetzes Nr. 159‑A/2015 lautet:
„Die gemäß dem Gesetz [Nr. 75/2014] erfolgte Kürzung der Bezüge wird im Jahr 2016 nach folgendem Zeitplan in Vierteljahresschritten aufgehoben:
a)
Rückgängigmachung um 40 % für die ab 1. Januar 2016 gezahlten Bezüge;
b)
Rückgängigmachung um 60 % für die ab 1. April 2016 gezahlten Bezüge;
c)
Rückgängigmachung um 80 % für die ab 1. Juli 2016 gezahlten Bezüge;
d)
vollständiger Wegfall der Kürzung der Bezüge ab 1. Oktober 2016.“
10 Nach der Lei n.° 98/97 de Organização e Processo do Tribunal de Contas (Gesetz Nr. 98/97 über die Organisation und das Verfahren des Tribunal de Contas [Rechnungshof]) vom 26. August 1997 (Diário da República, Reihe I‑A, Nr. 196 vom 26. August 1997) ist das Tribunal de Contas (Rechnungshof) u. a. für die Kontrolle der Erhebung von Eigenmitteln der Union und der Verwendung finanzieller Mittel, die von der Union gewährt werden, zuständig. Es kann hierzu mit den zuständigen Stellen der Union zusammenarbeiten (Art. 5 Abs. 1 Buchst. h des Gesetzes). Das Tribunal de Contas (Rechnungshof) ist ferner für die Vorabkontrolle („visto“) der Rechtmäßigkeit von Rechtsakten, Verträgen oder anderen Handlungen zuständig, die zu Ausgaben oder der Aufnahme von Krediten durch den Staat führen, insbesondere im Zusammenhang mit der Vergabe öffentlicher Aufträge (Art. 44 und 96 des Gesetzes).
Ausgangsverfahren und Vorlagefrage
11 Mit dem Gesetz Nr. 75/2014 senkte der portugiesische Gesetzgeber bei einer ganzen Reihe von Personen, die ein öffentliches Amt innehaben oder Aufgaben der öffentlichen Verwaltung wahrnehmen, ab Oktober 2014 vorübergehend die Bezüge. Mit Verwaltungsakten betreffend die „Bearbeitung der Bezüge“, die auf der Grundlage dieses Gesetzes erlassen wurden, wurden auch die Bezüge der Mitglieder des Tribunal de Contas (Rechnungshof) gekürzt.
12 Die ASJP erhob im Namen von Mitgliedern des Tribunal de Contas (Rechnungshof) beim Supremo Tribunal Administrativo (Oberster Verwaltungsgerichtshof, Portugal) Klage auf Aufhebung der die Bezüge für den Monat Oktober 2014 und die Folgemonate betreffenden Verwaltungsakte, auf Nachzahlung der vorgenommenen Kürzungen nebst Verzugszinsen in gesetzlicher Höhe und auf Feststellung, dass die Betroffenen Anspruch auf Zahlung ihrer vollen Bezüge haben.
13 Die ASJP macht zur Stützung dieser Klage geltend, die Kürzung der Bezüge verstoße gegen den „Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit“, der nicht nur in der portugiesischen Verfassung verankert sei, sondern auch im Unionsrecht, und zwar in Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV und in Art. 47 der Charta.
14 Nach den Angaben des vorlegenden Gerichts hingen die Maßnahmen zur vorübergehenden Kürzung der Bezüge im öffentlichen Dienst damit zusammen, dass sich der portugiesische Staat gezwungen sah, das übermäßige Haushaltsdefizit, das er im Jahr 2011 zu verzeichnen hatte, abzubauen. Die Maßnahmen seien im Rahmen des Unionsrechts ergriffen worden oder zumindest darauf zurückzuführen, weil die portugiesische Regierung durch Beschlüsse der Union, mit denen Portugal u. a. eine Finanzhilfe erhalten habe, zum Abbau des Defizits verpflichtet worden sei.
15 Der von den Unionsorganen anerkannte Wertungsspielraum, über den der portugiesische Staat bei der Umsetzung der Leitlinien für seine Haushaltspolitik verfüge, entbinde ihn jedoch nicht von seiner Verpflichtung, die allgemeinen Grundsätze des Unionsrechts zu beachten, u. a. den Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit, der sowohl für die Unionsgerichte als auch für die nationalen Gerichte gelte.
16 Wie sich aus Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV ergebe, werde der wirksame Schutz der sich aus der Unionsrechtsordnung ergebenden Rechte nämlich in erster Linie durch die nationalen Gerichte gewährleistet, die dabei die in Art. 47 der Charta niedergelegten Grundsätze der Unabhängigkeit und der Unparteilichkeit beachten müssten.
17 Dabei hänge die Unabhängigkeit der Gerichte von den Garantien ab, die der Status als Mitglied des Gerichts gewähre, auch im Hinblick auf die Besoldung.
18 Der Supremo Tribunal Administrativo (Oberster Verwaltungsgerichtshof) hat das Verfahren deshalb ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:
Ist angesichts der Erfordernisse des Abbaus des übermäßigen Haushaltsdefizits und des durch europäische Vorschriften geregelten finanziellen Beistands der Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit, wie er sich aus Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV, Art. 47 der Charta und der Rechtsprechung des Gerichtshofs ergibt, in dem Sinne auszulegen, dass er den Maßnahmen zur Kürzung der Bezüge, denen die Richter in Portugal unterworfen sind, entgegensteht, die einseitig von anderen Gewalten/Verfassungsorganen fortdauernd auferlegt werden, wie sich aus Art. 2 des Gesetzes Nr. 75/2014 ergibt?
Zur Vorlagefrage
Zur Zulässigkeit
19 Die Europäische Kommission macht geltend, das vorlegende Gericht habe in der Vorlageentscheidung nicht dargelegt, aus welchen Gründen es die Auslegung gerade der von ihm angeführten Bestimmungen des Unionsrechts begehre.
20 Hierzu ist festzustellen, dass aus dem Geist der Zusammenarbeit, in dem das Vorabentscheidungsverfahren durchzuführen ist, folgt, dass es unerlässlich ist, dass das nationale Gericht in seiner Vorlageentscheidung die genauen Gründe darlegt, aus denen es eine Beantwortung seiner Fragen nach der Auslegung bestimmter Vorschriften des Unionsrechts für entscheidungserheblich hält (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 4. Mai 2016, Philip Morris Brands u. a., C‑547/14, EU:C:2016:325, Rn. 47 und die dort angeführte Rechtsprechung).
21 Im vorliegenden Fall enthält die Vorlageentscheidung hinreichende Angaben zu den Gründen, aus denen das vorlegende Gericht für die Zwecke des Ausgangsverfahrens um eine Auslegung von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV und Art. 47 der Charta ersucht.
22 Die portugiesische Regierung hält das Vorabentscheidungsersuchen für unzulässig, weil die ab dem 1. Oktober 2014 erfolgte Senkung der Bezüge im öffentlichen Dienst durch das Gesetz Nr. 159‑A/2015 mit Wirkung vom 1. Oktober 2016 in vollem Umfang aufgehoben worden sei. Dadurch sei das Vorbringen, mit der Senkung der Bezüge sei gegen den Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit verstoßen worden, gegenstandslos geworden.
23 Hierzu ist festzustellen, dass der Gerichtshof die Entscheidung über ein Ersuchen eines nationalen Gerichts u. a. dann verweigern kann, wenn die erbetene Auslegung des Unionsrechts offensichtlich in keinem Zusammenhang mit der Realität oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits steht oder das Problem hypothetischer Natur ist (vgl. u. a. Urteil vom 21. Dezember 2016, Associazione Italia Nostra Onlus, C‑444/15, EU:C:2016:978, Rn. 36 und die dort angeführte Rechtsprechung).
24 Wie der Generalanwalt in Nr. 32 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, ist Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits die Aufhebung der Verwaltungsakte, mit denen die Bezüge der Mitglieder des Tribunal de Contas (Rechnungshof) gekürzt wurden, und die Zahlung der gemäß dem Gesetz Nr. 75/2014 vorgenommenen Kürzungen.
25 Aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten ergibt sich, dass die zwischen Oktober 2014 und Oktober 2016 von den Bezügen einbehaltenen Beträge den betreffenden Personen noch nicht gezahlt wurden. Der Ausgangsrechtsstreit ist demnach nicht gegenstandslos geworden, so dass die Unzulässigkeitseinrede der portugiesischen Regierung zurückzuweisen ist.
26 Das Vorabentscheidungsersuchen ist somit zulässig.
Zur Beantwortung der Vorlagefrage
27 Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV dahin auszulegen ist, dass es nicht mit dem Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit vereinbar ist, dass auf Mitglieder der rechtsprechenden Gewalt eines Mitgliedstaats allgemeine Maßnahmen zur Kürzung von Bezügen wie die, um die es im Ausgangsverfahren geht, Anwendung finden, die mit der Notwendigkeit des Abbaus eines übermäßigen Haushaltsdefizits und einem Finanzhilfeprogramm der Union zusammenhängen.
28 Da die Klägerin des Ausgangsverfahrens ausschließlich im Namen der Mitglieder des Tribunal de Contas (Rechnungshof) handelt, ist für die Beantwortung der Vorlagefrage nur auf deren Situation abzustellen.
29 Zunächst ist zum sachlichen Anwendungsbereich von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV festzustellen, dass diese Bestimmung in „den vom Unionsrecht erfassten Bereichen“ Anwendung findet. Insoweit kommt es nicht darauf an, in welchem Kontext die Mitgliedstaaten Unionsrecht im Sinne von Art. 51 Abs. 1 der Charta durchführen.
30 Nach Art. 2 EUV gründet sich die Union auf Werte wie die Rechtsstaatlichkeit, die allen Mitgliedstaaten in einer Gesellschaft, die sich u. a. durch Gerechtigkeit auszeichnet, gemeinsam sind. Das gegenseitige Vertrauen zwischen den Mitgliedstaaten und insbesondere zwischen deren Gerichten beruht auf der Prämisse, dass die Mitgliedstaaten eine Reihe gemeinsamer Werte teilen, auf die sich, wie es in Art. 2 EUV heißt, die Union gründet (vgl. in diesem Sinne Gutachten 2/13 [Beitritt der Union zur EMRK] vom 18. Dezember 2014, EU:C:2014:2454, Rn. 168).
31 Die Union ist eine Rechtsunion, in der den Betroffenen das Recht zusteht, die Rechtmäßigkeit nationaler Entscheidungen oder jeder anderen nationalen Handlung, mit der eine Handlung der Union auf sie angewandt wird, gerichtlich anzufechten (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 3. Oktober 2013, Inuit Tapiriit Kanatami u. a./Parlament und Rat, C‑583/11 P, EU:C:2013:625, Rn. 91 und 94 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).
32 Art. 19 EUV, mit dem der Wert der in Art. 2 EUV proklamierten Rechtsstaatlichkeit konkretisiert wird, überträgt die Aufgabe, in der Rechtsordnung der Union die gerichtliche Kontrolle zu gewährleisten, nicht nur dem Gerichtshof, sondern auch den nationalen Gerichten (vgl. in diesem Sinne Gutachten 1/09 [Übereinkommen zur Schaffung eines einheitlichen Patentgerichtssystems] vom 8. März 2011, EU:C:2011:123, Rn. 66, sowie Urteile vom 3. Oktober 2013, Inuit Tapiriit Kanatami u. a./Parlament und Rat, C‑583/11 P, EU:C:2013:625, Rn. 90, und vom 28. April 2015, T & L Sugars und Sidul Açúcares/Kommission, C‑456/13 P, EU:C:2015:284, Rn. 45).
33 Die nationalen Gerichte erfüllen dabei in Zusammenarbeit mit dem Gerichtshof eine Aufgabe, die ihnen gemeinsam übertragen ist, um die Wahrung des Rechts bei der Anwendung und Auslegung der Verträge zu sichern (vgl. in diesem Sinne Gutachten 1/09[Übereinkommen zur Schaffung eines einheitlichen Patentgerichtssystems] vom 8. März 2011, EU:C:2011:123, Rn. 69, und Urteil vom 3. Oktober 2013, Inuit Tapiriit Kanatami u. a./Parlament und Rat, C‑583/11 P, EU:C:2013:625, Rn. 99).
34 Demnach haben die Mitgliedstaaten u. a. aufgrund des in Art. 4 Abs. 3 Unterabs. 1 EUV niedergelegten Grundsatzes der loyalen Zusammenarbeit in ihrem Hoheitsgebiet für die Anwendung und Wahrung des Unionsrechts zu sorgen (vgl. in diesem Sinne Gutachten 1/09[Übereinkommen zur Schaffung eines einheitlichen Patentgerichtssystems] vom 8. März 2011, EU:C:2011:123, Rn. 68). Damit in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen ein wirksamer Rechtsschutz gewährleistet ist, müssen sie die erforderlichen Rechtsbehelfe schaffen (Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV), d. h. ein System von Rechtsbehelfen und Verfahren vorsehen, mit dem in diesen Bereichen eine wirksame gerichtliche Kontrolle gewährleistet ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 3. Oktober 2013, Inuit Tapiriit Kanatami u. a./Parlament und Rat, C‑583/11 P, EU:C:2013:625, Rn. 100 und 101 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).
35 Der Grundsatz des wirksamen gerichtlichen Schutzes der Rechte aus dem Unionsrecht, von dem in Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV die Rede ist, ist nämlich ein allgemeiner Grundsatz des Unionsrechts, der sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten ergibt; er ist in den Art. 6 und 13 der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten und nun auch in Art. 47 der Charta verankert (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 13. März 2007, Unibet, C‑432/05, EU:C:2007:163, Rn. 37, und vom 22. Dezember 2010, DEB, C‑279/09, EU:C:2010:811, Rn. 29 bis 33).
36 Schon das Vorhandensein einer wirksamen, zur Gewährleistung der Einhaltung des Unionsrechts dienenden gerichtlichen Kontrolle ist dem Wesen eines Rechtsstaats inhärent (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 28. März 2017, Rosneft, C‑72/15, EU:C:2017:236, Rn. 73 und die dort angeführte Rechtsprechung).
37 Deshalb hat jeder Mitgliedstaat dafür zu sorgen, dass Einrichtungen, die als Gerichte im Sinne des Unionsrechts Bestandteil seines Rechtsbehelfssystems sind, in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen einen wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz gewähren.
38 Bei der Beurteilung der Frage, ob es sich bei einer Einrichtung um ein „Gericht“ handelt, ist u. a. darauf abzustellen, auf welcher gesetzlichen Grundlage die Einrichtung beruht, ob sie auf Dauer angelegt ist, ob ihre Entscheidungen verbindlich sind, ob das Verfahren kontradiktorisch ist, ob Rechtsnormen angewendet werden und ob die Einrichtung unabhängig ist (Urteil vom 16. Februar 2017, Margarit Panicello, C‑503/15, EU:C:2017:126, Rn. 27 und die dort angeführte Rechtsprechung).
39 Nach den Angaben, über die der Gerichtshof verfügt und die vom vorlegenden Gericht zu überprüfen sind, kann das Tribunal de Contas (Rechnungshof) in Anwendung des oben in Rn. 10 angeführten Gesetzes Nr. 98/97 mit Fragen befasst werden, die die Eigenmittel der Union und die Verwendung von der Union gewährter finanzieller Mittel betreffen. Solche Fragen können die Anwendung oder die Auslegung des Unionsrechts betreffen (vgl. u. a. Urteil vom 26. Mai 2016, Județul Neamț und Județul Bacău, C‑260/14 und C‑261/14, EU:C:2016:360). Dasselbe gilt für Fragen zur Vorabkontrolle („visto“) der Rechtmäßigkeit von Rechtsakten, Verträgen oder anderen Handlungen, die zu Ausgaben oder zur Aufnahme von Krediten durch den Staat führen, u. a. im Rahmen der Vergabe öffentlicher Aufträge, mit denen der Rechnungshof nach dem Gesetz Nr. 98/97 ebenfalls befasst werden kann.
40 Soweit das Tribunal de Contas (Rechnungshof) als „Gericht“ in dem oben in Rn. 38 genannten Sinne über Fragen der Anwendung oder der Auslegung des Unionsrechts zu entscheiden hat, was das vorlegende Gericht zu überprüfen hat, muss der betreffende Mitgliedstaat dafür sorgen, dass die Einrichtung im Einklang mit Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV einen wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz gewährt.
41 Zur Gewährleistung dieses Schutzes ist die Unabhängigkeit der Einrichtung von grundlegender Bedeutung, wie Art. 47 Abs. 2 der Charta bestätigt, wonach zu den Anforderungen im Zusammenhang mit dem Grundrecht auf wirksamen Rechtsschutz u. a. der Zugang zu einem „unabhängigen“ Gericht gehört.
42 Die Unabhängigkeit, die dem Auftrag des Richters inhärent ist (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 19. September 2006, Wilson, C‑506/04, EU:C:2006:587, Rn. 49, vom 14. Juni 2017, Online Games u. a., C‑685/15, EU:C:2017:452, Rn. 60, und vom 13. Dezember 2017, El Hassani, C‑403/16, EU:C:2017:960, Rn. 40), ist nicht nur auf der Ebene der Union für die Richter der Union und die Generalanwälte des Gerichtshofs zu gewährleisten (Art. 19 Abs. 2 Unterabs. 3 EUV), sondern auch auf der Ebene der Mitgliedstaaten für die nationalen Gerichte.
43 Die Unabhängigkeit der nationalen Gerichte ist insbesondere für das reibungslose Funktionieren des Systems der justiziellen Zusammenarbeit von grundlegender Bedeutung. Eine Form dieser Zusammenarbeit ist der Mechanismus des Vorabentscheidungsersuchens gemäß Art. 267 AEUV. Nach der oben in Rn. 38 angeführten ständigen Rechtsprechung ist die Vorlageberechtigung von Einrichtungen, die mit der Anwendung des Unionsrechts betraut sind, u. a. daran geknüpft, dass sie unabhängig sind.
44 Der Begriff der Unabhängigkeit setzt u. a. voraus, dass die betreffende Einrichtung ihre richterlichen Funktionen in völliger Autonomie ausübt, ohne mit irgendeiner Stelle hierarchisch verbunden oder ihr untergeordnet zu sein und ohne von irgendeiner Stelle Anordnungen oder Anweisungen zu erhalten, und dass sie auf diese Weise vor Interventionen oder Druck von außen geschützt ist, die die Unabhängigkeit des Urteils ihrer Mitglieder gefährden und deren Entscheidungen beeinflussen könnten (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 19. September 2006, Wilson, C‑506/04, EU:C:2006:587, Rn. 51, und vom 16. Februar 2017, Margarit Panicello, C‑503/15, EU:C:2017:126, Rn. 37 und die dort angeführte Rechtsprechung).
45 Neben der Nichtabsetzbarkeit der Mitglieder der betreffenden Einrichtung (vgl. u. a. Urteile vom 19. September 2006, Wilson, C‑506/04, EU:C:2006:587, Rn. 51) stellt auch eine der Bedeutung der ausgeübten Funktionen entsprechende Vergütung eine wesentliche Garantie für die richterliche Unabhängigkeit dar.
46 Im vorliegenden Fall erfolgte die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Kürzung der Bezüge nach den Angaben des vorlegenden Gerichts, weil es im Zusammenhang mit einem Finanzhilfeprogramm der Union erforderlich gewesen sei, das übermäßige Haushaltsdefizit des portugiesischen Staates abzubauen.
47 Diese Maßnahmen sahen eine begrenzte Absenkung der Bezüge um einen von ihrer Höhe abhängigen Prozentsatz vor.
48 Die Maßnahmen galten nicht nur für die Mitglieder des Tribunal de Contas (Rechnungshof), sondern allgemeiner für eine ganze Reihe von Inhabern öffentlicher Ämter und von Personen, die Aufgaben der öffentlichen Verwaltung wahrnehmen, darunter die Repräsentanten der gesetzgebenden, der vollziehenden und der rechtsprechenden Gewalt.
49 Die Maßnahmen richteten sich also nicht speziell gegen die Mitglieder des Tribunal de Contas (Rechnungshof). Es handelte sich vielmehr um allgemeine Maßnahmen, mit denen dem gesamten nationalen öffentlichen Dienst ein Beitrag zu den Einsparungen abverlangt wurde, die zum Abbau des übermäßigen Haushaltsdefizits des portugiesischen Staates erforderlich waren.
50 Wie schließlich aus dem Titel des Gesetzes Nr. 75/2014 und aus dem Wortlaut seines Art. 1 Abs. 1 hervorgeht, handelte es sich bei den durch dieses Gesetz eingeführten Kürzungen der Bezüge, die am 1. Oktober 2014 in Kraft traten, um vorübergehende Maßnahmen. Sie wurden im Jahr 2016 schrittweise aufgehoben und mit dem Gesetz Nr. 159-A/2015 am 1. Oktober 2016 endgültig beendet.
51 Unter diesen Umständen kann nicht davon ausgegangen werden, dass die Maßnahmen zur Kürzung der Bezüge, um die es im Ausgangsverfahren geht, die Unabhängigkeit der Mitglieder des Tribunal de Contas (Rechnungshof) beeinträchtigten.
52 Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV dahin auszulegen ist, dass es mit dem Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit vereinbar ist, wenn auf die Mitglieder des Tribunal de Contas (Rechnungshof) allgemeine Maßnahmen zur Kürzung von Bezügen wie die, um die es im Ausgangsverfahren geht, Anwendung finden, die mit der Notwendigkeit des Abbaus eines übermäßigen Haushaltsdefizits und einem Finanzhilfeprogramm der Union zusammenhängen.
Kosten
53 Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Große Kammer) für Recht erkannt:
Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV ist dahin auszulegen, dass es mit dem Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit vereinbar ist, wenn auf die Mitglieder des Tribunal de Contas (Rechnungshof, Portugal) allgemeine Maßnahmen zur Kürzung von Bezügen wie die, um die es im Ausgangsverfahren geht, Anwendung finden, die mit der Notwendigkeit des Abbaus eines übermäßigen Haushaltsdefizits und einem Finanzhilfeprogramm der Europäischen Union zusammenhängen.
Unterschriften
(*1) Verfahrenssprache: Portugiesisch.
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Urteil des Gerichtshofs (Zweite Kammer) vom 20. Dezember 2017.#Caterpillar Financial Services sp. z o.o. gegen Dyrektor Izby Skarbowej w Warszawie.#Vorabentscheidungsersuchen des Naczelny Sąd Administracyjny.#Vorlage zur Vorabentscheidung – Steuerrecht – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem – Richtlinie 2006/112/EG – Art. 135 Abs. 1 Buchst. a – Befreiungen – Unter Verstoß gegen das Unionsrecht erhobene Steuern – Hindernisse für die Erstattung einer Mehrwertsteuerüberzahlung – Art. 4 Abs. 3 EUV – Grundsätze der Äquivalenz, der Effektivität und der loyalen Zusammenarbeit – Dem Einzelnen verliehene Rechte – Ablauf der Frist für die Verjährung der Steuerschuld – Wirkungen eines Urteils des Gerichtshofs – Grundsatz der Rechtssicherheit.#Rechtssache C-500/16.
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62016CJ0500
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ECLI:EU:C:2017:996
| 2017-12-20T00:00:00 |
Gerichtshof, Campos Sánchez-Bordona
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Sammlung der Rechtsprechung – allgemein – Abschnitt „Informationen über nicht veröffentlichte Entscheidungen“
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62016CJ0500
URTEIL DES GERICHTSHOFS (Zweite Kammer)
20. Dezember 2017 (*1)
[Text berichtigt durch Beschluss vom 30. Januar 2018]
„Vorlage zur Vorabentscheidung – Steuerrecht – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem – Richtlinie 2006/112/EG – Art. 135 Abs. 1 Buchst. a – Befreiungen – Unter Verstoß gegen das Unionsrecht erhobene Steuern – Hindernisse für die Erstattung einer Mehrwertsteuerüberzahlung – Art. 4 Abs. 3 EUV – Grundsätze der Äquivalenz, der Effektivität und der loyalen Zusammenarbeit – Dem Einzelnen verliehene Rechte – Ablauf der Frist für die Verjährung der Steuerschuld – Wirkungen eines Urteils des Gerichtshofs – Grundsatz der Rechtssicherheit“
In der Rechtssache C‑500/16
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Naczelny Sąd Administracyjny (Verwaltungsgerichtshof, Polen) mit Entscheidung vom 19. Mai 2016, beim Gerichtshof eingegangen am 16. September 2016, in dem Verfahren
Caterpillar Financial Services sp. z o.o.,
Beteiligter:
Dyrektor Izby Skarbowej w Warszawie,
erlässt
DER GERICHTSHOF (Zweite Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten M. Ilešič, des Richters A. Rosas, der Richterinnen C. Toader (Berichterstatterin) und A. Prechal und des Richters E. Jarašiūnas,
Generalanwalt: M. Campos Sánchez-Bordona,
Kanzler: K. Malacek,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 23. Oktober 2017,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
–
[Berichtigt durch Beschluss vom 30. Januar 2018] der Caterpillar Financial Services sp. z o.o., vertreten durch M. Szafarowska, doradca podatkowy, und M. Sobońska, adwokat,
–
[Berichtigt durch Beschluss vom 30. Januar 2018] des Dyrektor Izby Skarbowej w Warszawie, vertreten durch J. Kaute, radca prawny, und B. Kołodziej,
–
der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna und A. Kramarczyk-Szaładzińska als Bevollmächtigte,
–
der Europäischen Kommission, vertreten durch K. Herrmann, M. Owsiany-Hornung und R. Lyal als Bevollmächtigte,
aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,
folgendes
Urteil
1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung des Grundsatzes der loyalen Zusammenarbeit gemäß Art. 4 Abs. 3 EUV und der Grundsätze der Effektivität und der Äquivalenz.
2 Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Caterpillar Financial Services sp. z o.o. (im Folgenden: Caterpillar) und dem Dyrektor Izby Skarbowej w Warszawie (Direktor der Finanzkammer Warschau, Polen) (im Folgenden: Direktor der Finanzkammer Warschau) wegen seiner Ablehnung des Antrags von Caterpillar auf Erstattung einer sich aus einer nicht unionsrechtskonformen Steuerveranlagung ergebenden Mehrwertsteuerüberzahlung.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
3 Art. 135 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. 2006, L 347, S. 1, im Folgenden: Mehrwertsteuerrichtlinie), der in Titel IX („Steuerbefreiungen“) Kapitel 3 („Steuerbefreiungen für andere Tätigkeiten“) steht, sieht vor:
„Die Mitgliedstaaten befreien folgende Umsätze von der Steuer:
a)
Versicherungs- und Rückversicherungsumsätze einschließlich der dazugehörigen Dienstleistungen, die von Versicherungsmaklern und ‑vertretern erbracht werden“.
Polnisches Recht
4 Die Ustawa ordynacja podatkowa (Gesetz über die Abgabenordnung) vom 29. August 1997 (Dz. U. 1997, Nr. 137, Position 926, im Folgenden: Abgabenordnung) in ihrer auf den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens anwendbaren Fassung sieht in Art. 70 vor:
„§ 1. Steuerschulden verjähren nach Ablauf von 5 Jahren, gerechnet ab Ende des Kalenderjahres, in dem die Frist für die Zahlung der Steuer abgelaufen ist.
…
§ 6. Die Frist für die Verjährung der Steuerschuld beginnt nicht zu laufen und wird, wenn sie bereits zu laufen begonnen hat, ausgesetzt:
…
2)
im Zeitpunkt der Erhebung einer Klage vor einem Verwaltungsgericht gegen eine Entscheidung über eine Steuerschuld;
…“
5 In Art. 72 § 1 der Abgabenordnung heißt es:
„Als Überzahlung gilt ein Betrag:
1)
einer überzahlten oder zu Unrecht gezahlten Steuer;
…“
6 Art. 74 Nr. 1 der Abgabenordnung lautet:
„Kommt es infolge einer Entscheidung des Trybunał Konstytucyjny [(Verfassungsgerichtshof, Polen)] oder des Gerichtshofs der Europäischen Union zu einer Überzahlung und hat ein Steuerpflichtiger, dessen Steuerschuld in einer in Art. 21 § 1 Nr. 1 vorgesehenen Weise entsteht, eine der in Art. 73 § 2 genannten Steuererklärungen oder eine andere Steuererklärung, aus der sich die Höhe der Steuerschuld ergibt, abgegeben, dann beziffert dieser Steuerpflichtige die Höhe der Überzahlung im Antrag auf deren Erstattung und gibt gleichzeitig eine berichtigte Steuererklärung ab.“
7 Art. 75 § 1 der Abgabenordnung bestimmt:
„Ist der Steuerpflichtige der Ansicht, dass die Steuer zu Unrecht von demjenigen, der die Zahlung vorgenommen hat, erhoben worden sei, oder hält er die Höhe der erhobenen Steuer für nicht gerechtfertigt, kann er einen Antrag auf Feststellung der Überzahlung stellen.“
8 In Art. 77 § 1 der Abgabenordnung heißt es:
„Die Überzahlung ist innerhalb der folgenden Frist zu erstatten:
…
2)
30 Tage ab der Entscheidung, mit der die Überzahlung festgestellt oder die Höhe der Überzahlung festgesetzt wird;
…
4)
30 Tage ab Stellung des in Art. 74 genannten Antrags;
…“
9 Art. 79 § 2 der Abgabenordnung sah vor:
„Das Recht, einen Antrag auf Feststellung einer Überzahlung zu stellen, erlischt nach Ablauf der Frist für die Verjährung der Steuerschuld, es sei denn, dass Steuergesetze eine andere Verfahrensweise der Steuererstattung vorsehen.“
10 Art. 80 § 1 der Abgabenordnung lautet:
„Das Recht auf Erstattung einer Steuerüberzahlung erlischt nach Ablauf von 5 Jahren, gerechnet ab Ende des Kalenderjahres, in dem die Frist für deren Erstattung abgelaufen ist.“
11 Art. 81 § 1 der Abgabenordnung bestimmt:
„Sofern nicht anders vorgesehen, können Steuerpflichtige, Zahler und Empfänger eine zuvor eingereichte Erklärung berichtigen.“
12 In Art. 240 § 1 Nr. 1 der Abgabenordnung heißt es:
„Das Verfahren wird nach Erlass eines endgültigen Bescheids wieder aufgenommen, wenn folgende Voraussetzungen erfüllt sind:
…
11)
ein Urteil des Gerichtshof der Europäischen Union hat einen Einfluss auf den Inhalt der ergangenen Entscheidung.“
13 Art. 79 § 2 der Abgabenordnung in seiner geänderten Fassung, die am 1. Januar 2016 in Kraft getreten ist, sieht vor:
„Das Recht, einen Antrag auf Feststellung einer Überzahlung und einen Antrag auf Erstattung einer Überzahlung zu stellen, erlischt nach Ablauf der Frist für die Verjährung der Steuerschuld, es sei denn, dass Steuergesetze eine andere Verfahrensweise der Steuererstattung vorsehen.“
Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefrage
14 Caterpillar, eine Gesellschaft polnischen Rechts, die als Leasinggeberin im Rahmen ihrer wirtschaftlichen Tätigkeit Leasingverträge schließt, bietet Leasingnehmern die Möglichkeit an, ihnen eine Versicherung für das Leasingobjekt bereitzustellen.
15 Bringen Leasingnehmer ihren Wunsch, von dieser Möglichkeit Gebrauch zu machen, zum Ausdruck, schließt Caterpillar die Versicherungsverträge bei einer Versicherungsgesellschaft ab. Dabei übernimmt Caterpillar die Kosten für den Abschluss dieser Verträge, berechnet aber die Versicherungsbeiträge – ohne Aufschlag – an die Leasingnehmer weiter. Auf den den Leasingnehmern ausgestellten Rechnungen nahm Caterpillar diese Beiträge von der Mehrwertsteuer aus.
16 Im Anschluss an ein Urteil des Naczelny Sąd Administracyjny (Verwaltungsgerichtshof, Polen) vom 8. November 2010, mit dem dieser entschieden hatte, dass ein Wirtschaftsteilnehmer, der Leistungen als Leasinggeber erbringe, die Kosten der Versicherung des Leasinggegenstands zur Steuerbemessungsgrundlage für die Leistungen als Leasinggeber hinzurechnen müsse, und eine Mitteilung des Dyrektor Urzędu Kontroli Skarbowej (Direktor des Amtes für Steuerprüfungen, Polen), mit der Caterpillar vom unmittelbaren Bevorstehen einer Steuerprüfung für den Zeitraum von Dezember 2005 bis Dezember 2006 in Kenntnis gesetzt worden war, reichte diese berichtigte Rechnungen ein, in denen die Steuerrückstände samt Zinsen ausgewiesen waren, und entrichtete am 30. Dezember 2010 die auf die entsprechenden Versicherungsbeiträge fällige Mehrwertsteuer.
17 Nach der Verkündung des Urteils vom 17. Januar 2013, BGŻ Leasing (C‑224/11, EU:C:2013:15), in einem auf Ersuchen des Naczelny Sąd Administracyjny (Verwaltungsgerichtshof) beim Gerichtshof eingeleiteten Vorabentscheidungsverfahren – dem ein Rechtsstreit wegen der Weigerung der polnischen Steuerverwaltung, einen in der Bereitstellung einer Versicherung für einen Leasinggegenstand bestehenden Umsatz von der Mehrwertsteuer zu befreien, zugrunde lag – wandte sich Caterpillar am 11. März 2013 mit einem Antrag auf Erstattung der Mehrwertsteuerüberzahlung für den Zeitraum von Dezember 2005 bis Dezember 2011 an den Naczelnik Drugiego Mazowieckiego Urzędu Skarbowego w Warszawie (Leiter des Zweiten Finanzamtes der Woiwodschaft Masowien in Warschau, Polen).
18 Der Leiter des Zweiten Finanzamtes der Woiwodschaft Masowien in Warschau lehnte es mit Entscheidung vom 11. April 2013 unter Berufung auf den Ablauf der in Art. 70 § 1 der Abgabenordnung vorgesehenen Verjährungsfrist ab, ein Verfahren zur Erstattung der Mehrwertsteuerüberzahlung für verschiedene Monate im Zeitraum von Dezember 2005 bis November 2007 einzuleiten. Hingegen erstattete er die Mehrwertsteuerüberzahlung für den Zeitraum von Dezember 2007 bis Dezember 2011.
19 Der Direktor der Finanzkammer Warschau, der über eine Beschwerde gegen die Entscheidung des Leiters des Zweiten Finanzamtes der Woiwodschaft Masowien in Warschau zu entscheiden hatte, bestätigte dessen Entscheidung. In der Begründung seiner Entscheidung wies der Direktor der Finanzkammer Warschau darauf hin, dass die Frist für die Verjährung der Steuerschuld für die Mehrwertsteuer in Bezug auf die im Antrag von Caterpillar auf Erstattung der Mehrwertsteuerüberzahlung genannten Zeiträume am 31. Dezember 2011 (in Bezug auf die im Antrag genannten Monate Dezember 2005 und Februar 2006) und am 31. Dezember 2012 (in Bezug auf die im Antrag genannten Monate Januar und November 2007) abgelaufen sei.
20 Mit ihrer Klage beim Wojewódzki Sąd Administracyjny w Warszawie (Verwaltungsgericht der Woiwodschaft Warschau, Polen) machte Caterpillar im Wesentlichen geltend, dass Art. 74 der Abgabenordnung, Art. 9 der polnischen Verfassung und Art. 4 Abs. 3 EUV falsch ausgelegt worden seien.
21 Mit Urteil vom 10. September 2014 hob dieses Gericht den Bescheid des Direktors der Finanzkammer Warschau mit der Begründung auf, dass die Steuerbehörden nicht bereits die Einleitung eines Verfahrens hätten ablehnen dürfen, sondern vielmehr eine Entscheidung über die Erstattung der Mehrwertsteuerüberzahlung hätten treffen müssen. In der Sache entschied das Wojewódzki Sąd Administracyjny w Warszawie (Verwaltungsgericht der Woiwodschaft Warschau), dass Caterpillar nicht berechtigt gewesen sei, nach Ablauf der in Art. 70 § 1 der Abgabenordnung vorgesehenen fünfjährigen Verjährungsfrist auf der Grundlage von Art. 74 der Abgabenordnung einen Antrag auf Erstattung der Mehrwertsteuerüberzahlung zu stellen. Diese Verjährungsfrist laufe auch nicht dem Grundsatz der Effektivität des Unionsrechts zuwider.
22 Sowohl Caterpillar als auch der Direktor der Finanzkammer Warschau fochten dieses Urteil beim vorlegenden Gericht, dem Naczelny Sąd Administracyjny (Oberstes Verwaltungsgericht), an.
23 Nach Ansicht des vorlegenden Gerichts kann im Licht der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs die in Art. 70 § 1 in Verbindung mit Art. 79 § 2 der Abgabenordnung geregelte fünfjährige Verjährungsfrist für die Erstattung der zu Unrecht gezahlten Steuer grundsätzlich nicht als mit dem Effektivitätsgrundsatz unvereinbar angesehen werden.
24 Allerdings enthalte das polnische Recht keine Rechtsgrundlage, die es einem Einzelnen, der in seiner Annahme, dass eine Steuer zu entrichten sei, auf die staatlichen Organe vertraut habe, ermöglichen würde, diese unter Verstoß gegen das Unionsrecht von den Steuerbehörden erhobene Steuer nach Ablauf der Frist für die Verjährung des Rechts auf Einreichung eines solchen Antrags auf Erstattung zurückzufordern.
25 Unter diesen Umständen hat der Naczelny Sąd Administracyjny (Verwaltungsgerichtshof) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:
Stehen die in Art. 4 Abs. 3 EUV verankerten Grundsätze der Effektivität, der loyalen Zusammenarbeit und der Äquivalenz oder irgendein anderer einschlägiger Grundsatz des Unionsrechts unter Berücksichtigung der vom Gerichtshof im Urteil vom 17. Januar 2013, BGŻ Leasing (C‑224/11, EU:C:2013:15), vorgenommenen Auslegung im Bereich der Mehrwertsteuer nationalen Rechtsvorschriften oder einer nationalen Praxis entgegen, die die Erstattung einer Überzahlung, die infolge der Erhebung der geschuldeten Mehrwertsteuer unter Verstoß gegen das Unionsrecht entstanden ist, dann unmöglich machen, wenn aufgrund des Verhaltens der nationalen Behörden ein Einzelner von seinen Rechten erst nach Ablauf der Frist für die Verjährung der Steuerschuld Gebrauch machen konnte?
Zur Vorlagefrage
26 Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob die Grundsätze der Äquivalenz und der Effektivität im Licht von Art. 4 Abs. 3 EUV dahin auszulegen sind, dass sie einer nationalen Rechtsvorschrift wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden entgegenstehen, nach der es möglich ist, einen Antrag auf Erstattung einer Mehrwertsteuerüberzahlung zurückzuweisen, wenn dieser Antrag vom Steuerpflichtigen nach Ablauf einer fünfjährigen Verjährungsfrist eingereicht wurde, auch wenn der Gerichtshof nach Ablauf dieser Frist entschieden hat, dass keine Verpflichtung zur Entrichtung der den Gegenstand dieses Antrags auf Erstattung bildenden Mehrwertsteuer bestand.
27 Aus der Vorlageentscheidung ergibt sich, dass diese Frage im Hinblick auf Umstände wie die des Ausgangsverfahrens gestellt wird, in denen ein Steuerpflichtiger geltend macht, er habe diese Überzahlung nur angesichts der vor dem Urteil vom 17. Januar 2013, BGŻ Leasing (C‑224/11, EU:C:2013:15), ergangenen Rechtsprechung des vorlegenden Gerichts und im Hinblick auf das unmittelbare Bevorstehen einer Prüfung durch die zuständige Steuerbehörde vorgenommen.
28 Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass die Mitgliedstaaten insbesondere nach dem in Art. 4 Abs. 3 Unterabs. 1 EUV niedergelegten Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit verpflichtet sind, in ihrem jeweiligen Hoheitsgebiet die Anwendung und die Einhaltung des Unionsrechts zu gewährleisten, und dass sie nach Art. 4 Abs. 3 Unterabs. 2 EUV alle geeigneten Maßnahmen allgemeiner oder besonderer Art zur Erfüllung der Verpflichtungen, die sich aus den Verträgen oder den Handlungen der Organe ergeben, ergreifen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 14. September 2017, The Trustees of the BT Pension Scheme, C‑628/15, EU:C:2017:687, Rn. 47).
29 In seinem Urteil vom 17. Januar 2013, BGŻ Leasing (C‑224/11, EU:C:2013:15), hat der Gerichtshof bei der Auslegung von Art. 2 Abs. 1 Buchst. c der Mehrwertsteuerrichtlinie für Recht erkannt, dass es Sache des vorlegenden Gerichts ist, festzustellen, ob die Erbringung von Leistungen im Zusammenhang mit der Versicherung des Leasinggegenstands und die Erbringung von Leistungen im Zusammenhang mit dem Leasingvertrag selbst in Anbetracht der besonderen Umstände des Ausgangsverfahrens derart miteinander verbunden sind, dass sie als einheitliche Leistung angesehen werden müssen, oder ob sie selbständige Leistungen darstellen. Der Gerichtshof hat in Auslegung von Art. 28 und Art. 135 Abs. 1 Buchst. a der Mehrwertsteuerrichtlinie entschieden, dass dann, wenn diese Leistungen als selbständige Leistungen angesehen werden und wenn ein Leasinggeber den Leasinggegenstand selbst versichert und die genauen Kosten der Versicherung an den Leasingnehmer weiterberechnet, ein solcher Umsatz unter Umständen wie denen jener Rechtssache ein steuerbefreiter Umsatz ist.
30 Im vorliegenden Fall hat sich die polnische Steuerverwaltung, wie sich aus der dem Gerichtshof vorliegenden Akte ergibt, im Anschluss an die Verkündung des genannten Urteils des Gerichtshofs, geweigert, ein Verfahren zur Erstattung des Mehrwertsteuerüberschusses für den Zeitraum von Dezember 2005 bis November 2007 einzuleiten, weil die in Art. 70 § 1 der Abgabenordnung vorgesehene fünfjährige Verjährungsfrist abgelaufen gewesen sei. Die Klägerin des Ausgangsverfahrens meint zwar, diese Verjährungsfrist sei auf Anträge auf Erstattung des Mehrwertsteuerüberschusses nicht anwendbar; aus der Vorlageentscheidung ergibt sich jedoch, dass die in Art. 70 § 1 der Abgabenordnung vorgesehene Frist nach Auffassung des vorlegenden Gerichts in Verbindung mit deren Art. 79 § 2 zu verstehen und somit auf derartige Anträge auf Erstattung anzuwenden ist.
31 Was erstens die Auswirkungen eines Urteils aufgrund eines Vorabentscheidungsersuchens angeht, ist daran zu erinnern, dass nach ständiger Rechtsprechung durch die Auslegung einer Vorschrift des Unionsrechts, die der Gerichtshof in Ausübung seiner Befugnisse aus Art. 267 AEUV vornimmt, erläutert und verdeutlicht wird, in welchem Sinne und mit welcher Tragweite diese Vorschrift seit ihrem Inkrafttreten zu verstehen und anzuwenden ist oder gewesen wäre. Daraus folgt, dass die Vorschriften in dieser Auslegung auch auf Rechtsverhältnisse, die vor Erlass des auf das Ersuchen um Auslegung ergangenen Urteils entstanden sind, angewandt werden können und müssen, wenn alle sonstigen Voraussetzungen für die Anrufung der zuständigen Gerichte in einem die Anwendung dieser Vorschriften betreffenden Streit vorliegen (Urteil vom 14. April 2015, Manea, C‑76/14, EU:C:2015:216, Rn. 53 und die dort angeführte Rechtsprechung).
32 Der Gerichtshof kann die Möglichkeit, sich auf die Auslegung zu berufen, die er einer Bestimmung gegeben hat, nämlich nur ganz ausnahmsweise aufgrund des allgemeinen unionsrechtlichen Grundsatzes der Rechtssicherheit beschränken (Urteil vom 14. April 2015, Manea, C‑76/14, EU:C:2015:216, Rn. 54 und die dort angeführte Rechtsprechung).
33 Insoweit ist festzustellen, dass der Gerichtshof die Wirkungen des Urteils vom 17. Januar 2013, BGŻ Leasing (C‑224/11, EU:C:2013:15), nicht zeitlich begrenzt hat.
34 Daraus folgt, dass die vom Gerichtshof in diesem Urteil ausgelegten Vorschriften vom Zeitpunkt ihres Inkrafttretens an grundsätzlich entsprechend dieser Auslegung zu verstehen und anzuwenden sind.
35 Zweitens ergibt sich aus ständiger Rechtsprechung, dass der Anspruch auf Erstattung von Abgaben, die ein Mitgliedstaat unter Verstoß gegen das Unionsrecht erhoben hat, eine Folge und Ergänzung der Rechte darstellt, die den Einzelnen aus den Bestimmungen des Unionsrechts in ihrer Auslegung durch den Gerichtshof erwachsen. Der Mitgliedstaat ist also grundsätzlich verpflichtet, unter Verstoß gegen das Unionsrecht erhobene Steuern zu erstatten (Urteil vom 6. September 2011, Lady & Kid u. a., C‑398/09, EU:C:2011:540, Rn. 17 und die dort angeführte Rechtsprechung).
36 Der Gerichtshof hat gleichwohl wiederholt darauf hingewiesen, dass die Erstattung zu Unrecht gezahlter Abgaben in den Mitgliedstaaten und sogar innerhalb desselben Mitgliedstaats je nach der Art der Abgaben unterschiedlich geregelt ist. In einigen Fällen bestehen für die Anfechtung der Abgabenerhebung oder für Erstattungsforderungen gesetzliche Form- und Fristvorschriften sowohl für bei der Finanzverwaltung einzulegende Rechtsbehelfe als auch für Klagen. In anderen Fällen sind Klagen auf Erstattung zu Unrecht gezahlter Abgaben bei den ordentlichen Gerichten – insbesondere als Klagen auf Herausgabe einer ungerechtfertigten Bereicherung – zu erheben, wobei die Fristen für die Erhebung dieser Klagen unterschiedlich lang sind und in manchen Fällen der allgemeinen Verjährungsfrist entsprechen (Urteil vom 17. Juni 2004, Recheio – Cash & Carry, C‑30/02, EU:C:2004:373, Rn. 16 und die dort angeführte Rechtsprechung).
37 So dürfen die Mitgliedstaaten in Ermangelung harmonisierter Vorschriften über die Rückerstattung von unionsrechtswidrig erhobenen Abgaben weiterhin die Verfahrensvorschriften ihres innerstaatlichen Rechts, u. a. über die Ausschlussfristen, anwenden, sofern sie dabei die Grundsätze der Äquivalenz und der Effektivität einhalten (Urteil vom 8. September 2011, Q‑Beef und Bosschaert, C‑89/10 und C‑96/10, EU:C:2011:555, Rn. 34).
38 Um festzustellen, ob der Äquivalenzgrundsatz im Ausgangsverfahren gewahrt ist, ist zu prüfen, ob neben einer Verjährungsbestimmung wie der des Ausgangsverfahrens, die für gerichtliche Rechtsbehelfe zur Gewährleistung des Schutzes der Rechte der Bürger aus dem Unionsrecht im innerstaatlichen Recht gilt, eine Verjährungsbestimmung existiert, die für nur innerstaatliches Recht betreffende Rechtsbehelfe gilt, und ob diese Verjährungsbestimmungen unter Berücksichtigung ihres Gegenstands und ihrer wesentlichen Elemente als gleichartig angesehen werden können (Urteil vom 15. April 2010, Barth, C‑542/08, EU:C:2010:193, Rn. 20 und die dort angeführte Rechtsprechung).
39 Wie sich aus den schriftlichen Erklärungen der polnischen Regierung und den Erklärungen des Direktors der Finanzkammer Warschau im mündlichen Verfahren vor dem Gerichtshof ergibt – denen die Klägerin des Ausgangsverfahrens nicht widersprochen hat –, werden in Polen für Anträge auf Erstattung einer Mehrwertsteuerüberzahlung, die im Rahmen von Rechtsbehelfen, mit denen im innerstaatlichen Recht die Wahrung der dem Einzelnen aus dem Unionsrecht erwachsenden Ansprüche sichergestellt werden soll, und im Rahmen von Rechtsbehelfen innerstaatlicher Natur eingereicht werden, dieselben Vorschriften gleich ausgelegt. Soweit in der Abgabenordnung keine Sonderbestimmungen für die eine oder die andere Art von Rechtsbehelfen enthalten sind, ist also offenbar die in Art. 70 § 1 der Abgabenordnung vorgesehene Verjährungsbestimmung auf beide Arten von Rechtsbehelfen anzuwenden.
40 Da diese Verjährungsbestimmung in gleicher Weise sowohl auf Rechtsbehelfe innerstaatlicher Natur als auch auf Rechtsbehelfe, mit denen die Wahrung der den Einzelnen aus dem Unionsrecht erwachsenden Ansprüche sichergestellt werden soll, anzuwenden ist, kann in ihr kein Verstoß gegen den Grundsatz der Äquivalenz erblickt werden.
41 Hinsichtlich des Grundsatzes der Effektivität ist daran zu erinnern, dass die Mitgliedstaaten in jedem konkreten Fall für den wirksamen Schutz der durch das Unionsrecht verliehenen Rechte verantwortlich sind. Insbesondere erfordert dieser Grundsatz, dass die Steuerbehörden der Mitgliedstaaten die Ausübung der durch die Unionsrechtsordnung verliehenen Rechte nicht praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren dürfen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 8. September 2011, Q-Beef und Bosschaert, C‑89/10 und C‑96/10, EU:C:2011:555, Rn. 32, und vom 14. September 2017, The Trustees of the BT Pension Scheme, C‑628/15, EU:C:2017:687, Rn. 59).
42 Der Gerichtshof hat für Recht erkannt, dass die Festsetzung angemessener Ausschlussfristen für die Rechtsverfolgung im Interesse der Rechtssicherheit, die zugleich den Abgabepflichtigen und die Behörde schützt, mit dem Unionsrecht vereinbar ist, auch wenn ihr Ablauf naturgemäß die vollständige oder teilweise Abweisung der erhobenen Klage zur Folge hat (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 8. September 2011, Q-Beef und Bosschaert, C‑89/10 und C‑96/10, EU:C:2011:555, Rn. 36). So wurden etwa Verjährungsfristen von drei Jahren (Urteil vom 15. April 2010, Barth, C‑542/08, EU:C:2010:193, Rn. 28) oder von zwei Jahren (Urteil vom 15. Dezember 2011, Banca Antoniana Popolare Veneta, C‑427/10, EU:C:2011:844, Rn. 25) als mit dem Grundsatz der Effektivität vereinbar angesehen.
43 Somit ist die in Art. 70 § 1 der Abgabenordnung vorgesehene fünfjährige Verjährungsfrist grundsätzlich erst recht als mit dem Grundsatz der Effektivität vereinbar anzusehen, da sie es jedem durchschnittlich aufmerksamen Steuerpflichtigen ermöglicht, die Rechte, die er aus der Unionsrechtsordnung ableitet, ordnungsgemäß geltend zu machen.
44 Was den Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit gemäß Art. 4 Abs. 3 EUV angeht, ist festzustellen, dass eine in einer nationalen Abgabenordnung vorgesehene Verjährungsbestimmung, die den Grundsätzen der Äquivalenz und der Effektivität gerecht wird, nicht als Verstoß gegen den Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit angesehen werden kann. Unter diesen Umständen kann nämlich nicht behauptet werden, dass der jeweilige Mitgliedstaat durch die Anwendung dieser Verjährungsbestimmung die Verwirklichung der Ziele der Union gefährdet.
45 Drittens ist darauf hinzuweisen, dass es das Unionsrecht dem Gerichtshof zufolge einer nationalen Behörde nur dann verwehrt, sich auf den Ablauf einer angemessenen Verjährungsfrist zu berufen, wenn das Verhalten der nationalen Behörden in Verbindung mit einer Ausschlussfrist dem Betroffenen jede Möglichkeit genommen hat, seine Rechte vor den nationalen Gerichten geltend zu machen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 8. September 2011, Q‑Beef und Bosschaert, C‑89/10 und C‑96/10, EU:C:2011:555, Rn. 51 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).
46 Zu prüfen ist somit, ob in Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens davon ausgegangen werden kann, dass ein Steuerpflichtiger daran gehindert war, seine Rechte vor den nationalen Gerichten geltend zu machen.
47 Insoweit beruft sich Caterpillar für ihre Rüge, ihr sei die Möglichkeit genommen worden, von ihren Rechten Gebrauch zu machen, zum einen auf ein Urteil des Naczelny Sąd Administracyjny (Verwaltungsgerichtshof) in einer Rechtssache, in der sie keine Parteistellung hatte, und zum anderen auf eine an Caterpillar gerichtete Mitteilung des Direktors des Amtes für Steuerprüfungen, in der dieser seine Absicht kundtat, für den Zeitraum von Dezember 2005 bis Dezember 2006 eine Steuerprüfung durchzuführen.
48 Im mündlichen Verfahren vor dem Gerichtshof hat Caterpillar geltend gemacht, die Tatsache, dass sie von einem ihr nachteiligen Urteil des höchsten polnischen Verwaltungsgerichts Kenntnis erlangt habe, in Verbindung mit der Ankündigung des unmittelbaren Bevorstehens einer Steuerprüfung habe sie dazu veranlasst, bei der Steuerverwaltung die den Steuerrückständen entsprechenden Beträge zu entrichten. Sie sei davon überzeugt gewesen, dass es vor diesem Hintergrund „sinnlos“ gewesen wäre, die Vereinbarkeit der Erhebung der Mehrwertsteuer im Zusammenhang mit den Kosten der Versicherung für Leasingverträge mit dem Unionsrecht in Frage zu stellen.
49 Die subjektive Überzeugung, nicht anders handeln zu können als durch die Entrichtung der Mehrwertsteuer im Zusammenhang mit den Kosten der Versicherung für Leasingverträge, kann jedoch nicht einer objektiven Unmöglichkeit, anders zu handeln, gleichgesetzt werden.
50 Im vorliegenden Fall stand Caterpillar nämlich die Möglichkeit offen, die Entrichtung des Steuerrückstands zu verweigern, weil sie ja ursprünglich angenommen hatte, dass diese Versicherungskosten steuerbefreit seien, und sich jeglicher Zahlungsanordnung gerichtlich zu widersetzen, oder aber den Steuerrückstand zu begleichen und ein nationales Gericht anzurufen, um unter Einhaltung der betreffenden Verjährungsfrist die Erstattung der zu Unrecht geleisteten Beträge zu erlangen, ohne eine mögliche Auslegung der Bestimmungen der Mehrwertsteuerrichtlinie durch den Gerichtshof abzuwarten. Festzuhalten ist, dass Caterpillar von keiner dieser Möglichkeiten Gebrauch gemacht hat.
51 Die Tatsache, dass das Urteil des Gerichtshofs vom 17. Januar 2013, BGŻ Leasing (C‑224/11, EU:C:2013:15), erst nach Ablauf der in Art. 70 § 1 der Abgabenordnung vorgesehenen Verjährungsfrist verkündet wurde, lässt somit nicht den Schluss zu, die Klägerin des Ausgangsverfahrens habe ihre Rechte nicht vor Ablauf dieser Frist geltend machen können.
52 Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass die Grundsätze der Äquivalenz und der Effektivität im Licht von Art. 4 Abs. 3 EUV dahin auszulegen sind, dass sie einer nationalen Rechtsvorschrift wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden nicht entgegenstehen, nach der es möglich ist, einen Antrag auf Erstattung einer Mehrwertsteuerüberzahlung zurückzuweisen, wenn dieser Antrag vom Steuerpflichtigen nach Ablauf einer fünfjährigen Verjährungsfrist eingereicht wurde, auch wenn sich aus einem nach Ablauf dieser Frist verkündeten Urteil des Gerichtshofs ergibt, dass die Entrichtung der den Gegenstand dieses Antrags auf Erstattung bildenden Mehrwertsteuer nicht geschuldet war.
Kosten
53 Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreits; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Zweite Kammer) für Recht erkannt:
Die Grundsätze der Äquivalenz und der Effektivität sind im Licht von Art. 4 Abs. 3 EUV dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Rechtsvorschrift wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden nicht entgegenstehen, nach der es möglich ist, einen Antrag auf Erstattung einer Mehrwertsteuerüberzahlung zurückzuweisen, wenn dieser Antrag vom Steuerpflichtigen nach Ablauf einer fünfjährigen Verjährungsfrist eingereicht wurde, auch wenn sich aus einem nach Ablauf dieser Frist verkündeten Urteil des Gerichtshofs ergibt, dass die Entrichtung der den Gegenstand dieses Antrags auf Erstattung bildenden Mehrwertsteuer nicht geschuldet war.
Unterschriften
(*1) Verfahrenssprache: Polnisch.
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Urteil des Gerichtshofs (Erste Kammer) vom 6. April 2017.#Jyske Finans A/S gegen Ligebehandlingsnævnet.#Vorabentscheidungsersuchen des Vestre Landsret.#Vorlage zur Vorabentscheidung – Gleichbehandlung ohne Unterschied der Rasse oder der ethnischen Herkunft – Richtlinie 2000/43/EG – Art. 2 Abs. 2 Buchst. a und b – Kreditinstitut, das einen zusätzlichen Identitätsnachweis in Form einer Kopie des Reisepasses oder der Aufenthaltserlaubnis von Personen verlangt, die für einen Kauf eines Kraftfahrzeugs einen Darlehensantrag stellen und sich mit einem Führerschein ausgewiesen haben, der ein anderes Geburtsland angibt als einen Mitgliedstaat der Europäischen Union oder der Europäischen Freihandelsassoziation (EFTA).#Rechtssache C-668/15.
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62015CJ0668
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ECLI:EU:C:2017:278
| 2017-04-06T00:00:00 |
Wahl, Gerichtshof
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Sammlung der Rechtsprechung – allgemein
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62015CJ0668
URTEIL DES GERICHTSHOFS (Erste Kammer)
6. April 2017 (*1)
„Vorlage zur Vorabentscheidung — Gleichbehandlung ohne Unterschied der Rasse oder der ethnischen Herkunft — Richtlinie 2000/43/EG — Art. 2 Abs. 2 Buchst. a und b — Kreditinstitut, das einen zusätzlichen Identitätsnachweis in Form einer Kopie des Reisepasses oder der Aufenthaltserlaubnis von Personen verlangt, die für einen Kauf eines Kraftfahrzeugs einen Darlehensantrag stellen und sich mit einem Führerschein ausgewiesen haben, der ein anderes Geburtsland angibt als einen Mitgliedstaat der Europäischen Union oder der Europäischen Freihandelsassoziation (EFTA)“
In der Rechtssache C‑668/15
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Vestre Landsret (Berufungsgericht der Region West, Dänemark) mit Entscheidung vom 17. November 2015, beim Gerichtshof eingegangen am 14. Dezember 2015, in dem Verfahren
Jyske Finans A/S
gegen
Ligebehandlingsnævnet, handelnd für Ismar Huskic,
erlässt
DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)
unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin R. Silva de Lapuerta sowie der Richter E. Regan, A. Arabadjiev (Berichterstatter), C. G. Fernlund und S. Rodin,
Generalanwalt: N. Wahl,
Kanzler: I. Illéssy, Verwaltungsrat,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 12. Oktober 2016,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
—
der Jyske Finans A/S, vertreten durch C. Led-Jensen, advokat,
—
der dänischen Regierung, vertreten durch C. Thorning als Bevollmächtigten im Beistand von R. Holdgaard, advokat,
—
der Europäischen Kommission, vertreten durch D. Martin und zunächst M. Clausen, dann L. Grønfeldt als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 1. Dezember 2016
folgendes
Urteil
1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 2 Abs. 2 Buchst. a und b der Richtlinie 2000/43/EG des Rates vom 29. Juni 2000 zur Anwendung des Gleichbehandlungsgrundsatzes ohne Unterschied der Rasse oder der ethnischen Herkunft (ABl. 2000, L 180, S. 22) sowie von Art. 13 der Richtlinie 2005/60/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Oktober 2005 zur Verhinderung der Nutzung des Finanzsystems zum Zwecke der Geldwäsche und der Terrorismusfinanzierung (ABl. 2005, L 309, S. 15).
2 Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Jyske Finans A/S und der Ligebehandlingsnævnet (Beschwerdeausschuss für Gleichbehandlung, Dänemark), handelnd für Herrn Ismar Huskic, über die Rechtmäßigkeit einer internen Verfahrensregel dieser Gesellschaft, die darin besteht, einen zusätzlichen Identitätsnachweis in Form einer Kopie des Reisepasses oder einer Aufenthaltserlaubnis von Personen zu verlangen, die für einen Kauf eines Kraftfahrzeugs einen Darlehensantrag stellen und sich mit einem Führerschein ausgewiesen haben, der ein anderes Geburtsland angibt als einen Mitgliedstaat der Europäischen Union oder der Europäischen Freihandelsassoziation (EFTA).
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
3 Nach dem achten Erwägungsgrund der Richtlinie 2000/43 „[wird i]n den vom Europäischen Rat auf seiner Tagung am 10. und 11. Dezember 1999 in Helsinki vereinbarten beschäftigungspolitischen Leitlinien für das Jahr 2000 … die Notwendigkeit unterstrichen, günstigere Bedingungen für die Entstehung eines Arbeitsmarktes zu schaffen, der soziale Integration fördert; dies soll durch ein Bündel aufeinander abgestimmter Maßnahmen geschehen, die darauf abstellen, Diskriminierungen bestimmter gesellschaftlicher Gruppen, wie ethnischer Minderheiten, zu bekämpfen“.
4 Im 13. Erwägungsgrund dieser Richtlinie heißt es, dass „jede unmittelbare oder mittelbare Diskriminierung aus Gründen der Rasse oder der ethnischen Herkunft in den von der Richtlinie abgedeckten Bereichen [unions]weit untersagt werden [sollte]. Dieses Diskriminierungsverbot sollte auch hinsichtlich Drittstaatsangehörigen angewandt werden, betrifft jedoch keine Ungleichbehandlungen aufgrund der Staatsangehörigkeit und lässt die Vorschriften über die Einreise und den Aufenthalt von Drittstaatsangehörigen und ihren Zugang zu Beschäftigung und Beruf unberührt.“
5 Zweck der Richtlinie 2000/43 ist gemäß ihrem Art. 1 „die Schaffung eines Rahmens zur Bekämpfung der Diskriminierung aufgrund der Rasse oder der ethnischen Herkunft im Hinblick auf die Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung in den Mitgliedstaaten“.
6 Art. 2 dieser Richtlinie bestimmt:
„(1) Im Sinne dieser Richtlinie bedeutet ‚Gleichbehandlungsgrundsatz‘, dass es keine unmittelbare oder mittelbare Diskriminierung aus Gründen der Rasse oder der ethnischen Herkunft geben darf.
(2) Im Sinne von Absatz 1
a)
liegt eine unmittelbare Diskriminierung vor, wenn eine Person aufgrund ihrer Rasse oder ethnischen Herkunft in einer vergleichbaren Situation eine weniger günstige Behandlung als eine andere Person erfährt, erfahren hat oder erfahren würde;
b)
liegt eine mittelbare Diskriminierung vor, wenn dem Anschein nach neutrale Vorschriften, Kriterien oder Verfahren Personen, die einer Rasse oder ethnischen Gruppe angehören, in besonderer Weise benachteiligen können, es sei denn, die betreffenden Vorschriften, Kriterien oder Verfahren sind durch ein rechtmäßiges Ziel sachlich gerechtfertigt, und die Mittel sind zur Erreichung dieses Ziels angemessen und erforderlich.
…“
7 Nach Art. 3 Abs. 2 der Richtlinie 2000/43 betrifft diese nicht unterschiedliche Behandlungen aus Gründen der Staatsangehörigkeit und berührt nicht die Vorschriften und Bedingungen für die Einreise von Staatsangehörigen dritter Staaten oder staatenlosen Personen in das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten oder deren Aufenthalt in diesem Hoheitsgebiet sowie eine Behandlung, die sich aus der Rechtsstellung von Staatsangehörigen dritter Staaten oder staatenlosen Personen ergibt.
Dänisches Recht
8 Wie aus dem Vorlagebeschluss hervorgeht, wurde die Richtlinie 2000/43 durch das Lov om etnisk ligebehandling (Gesetz über ethnische Gleichbehandlung) in das dänische Recht umgesetzt. Sein Art. 3 sieht vor:
„Niemand darf einem anderen eine unmittelbare oder mittelbare Ungleichbehandlung aufgrund der Rasse oder der ethnischen Herkunft des Betreffenden oder eines Dritten zukommen lassen.
2. Eine unmittelbare Diskriminierung liegt vor, wenn eine Person aufgrund ihrer Rasse oder ethnischen Herkunft in einer vergleichbaren Situation eine weniger günstige Behandlung als eine andere Person erfährt, erfahren hat oder erfahren würde.
3. Eine mittelbare Diskriminierung liegt vor, wenn dem Anschein nach neutrale Vorschriften, Kriterien oder Verfahren Personen, die einer Rasse oder ethnischen Gruppe angehören, in besonderer Weise benachteiligen können, es sei denn, die betreffenden Vorschriften, Kriterien oder Verfahren sind durch ein rechtmäßiges Ziel sachlich gerechtfertigt, und die Mittel sind zur Erreichung dieses Ziels angemessen und erforderlich.
…“
Ausgangsverfahren und Vorlagefragen
9 Herr Huskic, der 1975 in Bosnien und Herzegowina geboren ist, wohnt seit 1993 in Dänemark und erwarb im Jahr 2000 die dänische Staatsbürgerschaft. Herr Huskic und seine dänische Lebensgefährtin, die in Dänemark geboren ist, kauften bei einem Kfz-Händler einen Gebrauchtwagen. Der Erwerb dieses Wagens wurde teilweise über ein Darlehen finanziert, das von Jyske Finans, einem auf die Finanzierung von Kraftfahrzeugen spezialisierten Kreditinstitut, gewährt wurde.
10 Zur Bearbeitung des Kreditantrags übermittelte der Verkäufer die Namen, die Anschrift und die nationalen Identitätsnummern sowie eine Kopie der dänischen Führerscheine der Antragsteller per E‑Mail an Jyske Finans. Diese Führerscheine gaben die Staatsangehörigkeit ihrer Inhaber nicht an. Jyske Finans stellte anhand der Angaben im Führerschein von Herrn Huskic fest, dass dieser in Bosnien und Herzegowina geboren ist, und verlangte entsprechend ihren internen Verfahrensregeln als zusätzlichen Identitätsnachweis von Herrn Huskic die Kopie seines Reisepasses oder seiner Aufenthaltserlaubnis. Von seiner Lebensgefährtin, die nach den Angaben in ihrem Führerschein in Dänemark geboren ist, wurde ein solcher zusätzlicher Nachweis nicht verlangt.
11 Herr Huskic hielt das Ansuchen von Jyske Finans für diskriminierend und befasste den Beschwerdeausschuss für Gleichbehandlung, der ihm Schadensersatz wegen mittelbarer Diskriminierung zusprach. Das Ret i Viborg (Gericht Viborg, Dänemark) bestätigte diese Entscheidung, war jedoch der Ansicht, dass der Betroffene unmittelbar diskriminiert worden sei.
12 Jyske Finans führte aus, dass das im Ausgangsverfahren fragliche Ansuchen aufgrund der ihr obliegenden Pflichten aus der Anwendung des Geldwäschegesetzes gestellt worden sei.
13 Unter diesen Umständen hat das von Jyske Finans angerufene Vestre Landsret (Berufungsgericht der Region West, Dänemark) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof die folgenden Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
1. Ist das Verbot der unmittelbaren Diskriminierung aufgrund der ethnischen Herkunft in Art. 2 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2000/43 dahin auszulegen, dass es einer Praxis wie der im Ausgangsrechtsstreit fraglichen entgegensteht, nach der Personen, die nicht in den nordischen Ländern, in einem Mitgliedstaat oder in der Schweiz oder in Liechtenstein geboren sind, in einer vergleichbaren Situation eine weniger günstige Behandlung erfahren als Personen, die in den nordischen Ländern, in einem Mitgliedstaat oder in der Schweiz oder in Liechtenstein geboren sind?
2. Bei Verneinung der ersten Frage: Begründet eine solche Praxis dann eine mittelbare Diskriminierung aus Gründen der ethnischen Herkunft im Sinne von Art. 2 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie 2000/43 – es sei denn, sie ist durch ein rechtmäßiges Ziel sachlich gerechtfertigt, und die Mittel sind zur Erreichung dieses Ziels angemessen und erforderlich?
3. Bei Bejahung der zweiten Frage: Lässt sich eine solche Praxis grundsätzlich als ein Mittel rechtfertigen, das zur Erfüllung der in Art. 13 der Richtlinie 2005/60 festgelegten verstärkten Sorgfaltspflichten gegenüber Kunden angemessen und erforderlich ist?
Würdigung durch den Gerichtshof
Zur ersten und zur zweiten Frage
14 Mit seiner ersten und seiner zweiten Frage, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 2 Abs. 2 Buchst. a und b der Richtlinie 2000/43 dahin auszulegen ist, dass er einer Praxis eines Kreditinstituts entgegensteht, wonach einem Kunden, in dessen Führerschein ein anderes Geburtsland als ein Mitgliedstaat der Union oder der EFTA angegeben ist, das Erfordernis einer zusätzlichen Identifizierung durch Vorlage einer Kopie seines Reisepasses oder seiner Aufenthaltserlaubnis auferlegt wird.
15 Zur Beantwortung dieser Fragen ist zu prüfen, ob eine Praxis wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende eine Ungleichbehandlung aus Gründen der ethnischen Herkunft im Sinne von Art. 2 der Richtlinie 2000/43 bewirkt. In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass der Gleichbehandlungsgrundsatz nach diesem Artikel bedeutet, dass es keine unmittelbare oder mittelbare Diskriminierung wegen eines der in Art. 1 dieser Richtlinie genannten Gründe geben darf. Art. 2 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie stellt klar, dass eine unmittelbare Diskriminierung im Sinne ihres Art. 2 Abs. 1 vorliegt, wenn eine Person aufgrund ihrer Rasse oder ethnischen Herkunft in einer vergleichbaren Situation eine weniger günstige Behandlung als eine andere Person erfährt. Aus Art. 2 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie 2000/43 geht hervor, dass im Sinne dieser Richtlinie eine mittelbare Diskriminierung vorliegt, wenn dem Anschein nach neutrale Vorschriften, Kriterien oder Verfahren Personen, die einer Rasse oder ethnischen Gruppe angehören, in besonderer Weise benachteiligen können, es sei denn, die betreffenden Vorschriften, Kriterien oder Verfahren sind durch ein rechtmäßiges Ziel sachlich gerechtfertigt, und die Mittel sind zur Erreichung dieses Ziels angemessen und erforderlich.
16 Was erstens die Frage betrifft, ob die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Praxis eine unmittelbare Diskriminierung aufgrund der ethnischen Herkunft im Sinne von Art. 1 der Richtlinie 2000/43 darstellt, ist zu prüfen, ob in einem Fall wie dem des Ausgangsverfahrens das Geburtsland als unmittelbar oder untrennbar mit einer bestimmten ethnischen Herkunft verbunden anzusehen ist.
17 Dazu ist festzustellen, dass der Begriff „ethnische Herkunft“ auf dem Gedanken beruht, dass gesellschaftliche Gruppen insbesondere durch eine Gemeinsamkeit der Staatsangehörigkeit, Religion, Sprache, kulturellen und traditionellen Herkunft und Lebensumgebung gekennzeichnet sind (Urteil vom 16. Juli 2015, CHEZ Razpredelenie Bulgaria,C‑83/14, EU:C:2015:480, Rn. 46).
18 Zwar kommt das Geburtsland einer Person in dieser Liste der Kriterien nicht vor, doch ist festzustellen, dass, da diese Liste mit dem Wort „insbesondere“ eingeleitet wird, die dort erfolgte Aufzählung der Kriterien nicht abschließend ist und demnach nicht ausgeschlossen ist, dass dieses Kriterium darin enthalten sein kann. Selbst wenn dies der Fall sein sollte, ist jedoch festzustellen, dass das Geburtsland lediglich ein spezifisches Merkmal wäre, aus dem geschlossen werden kann, dass eine Person einer bestimmten ethnischen Gruppe angehört, aber insoweit keineswegs alleinentscheidend ist.
19 Die ethnische Herkunft kann nämlich nicht auf der Grundlage eines einzigen Kriteriums festgestellt werden, sondern muss vielmehr auf einem Bündel von Indizien beruhen, von denen einige objektiv und andere subjektiv sind. Im Übrigen ist unstreitig, dass das Geburtsland die in Rn. 17 des vorliegenden Urteils angeführten Kriterien insgesamt nicht allgemein und absolut ersetzen kann.
20 Folglich kann das Geburtsland für sich genommen keine allgemeine Vermutung der Zugehörigkeit zu einer bestimmten ethnischen Gruppe begründen, die das Vorliegen einer unmittelbaren oder untrennbaren Verbindung zwischen diesen beiden Begriffen belegen kann.
21 Zudem kann nicht davon ausgegangen werden, dass in Bezug auf jeden souveränen Staat eine – und nur eine – entsprechende ethnische Gruppe existiert.
22 Im Ausgangsverfahren ist das Geburtsland von Herrn Huskic aber das einzige Kriterium, aufgrund dessen der Beschwerdeausschuss für Gleichbehandlung und danach das Ret i Viborg (Gericht Viborg) zu der Feststellung gelangt sind, dass die in Rede stehende Praxis eine Diskriminierung aus Gründen der ethnischen Herkunft darstellte.
23 Somit kann nicht davon ausgegangen werden, dass das im Ausgangsverfahren fragliche Erfordernis einer zusätzlichen Identifizierung, vorausgesetzt, dass es als „ungünstige Behandlung“ eingestuft werden kann, unmittelbar auf der ethnischen Herkunft beruht.
24 Außerdem betrifft die Richtlinie 2000/43, wie aus ihrem 13. Erwägungsgrund und Art. 3 Abs. 2 hervorgeht, nicht unterschiedliche Behandlungen aus Gründen der Staatsangehörigkeit.
25 Daraus folgt, dass eine Praxis wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende, wonach einem Kunden, in dessen Führerschein ein anderes Geburtsland als ein Mitgliedstaat der Union oder der EFTA angegeben ist, das Erfordernis einer zusätzlichen Identifizierung durch Vorlage einer Kopie seines Reisepasses oder seiner Aufenthaltserlaubnis auferlegt wird, nicht bedeutet, dass in Bezug auf die betreffende Person eine unmittelbare Ungleichbehandlung aufgrund ihrer ethnischen Herkunft vorliegt.
26 Was zweitens die Frage angeht, ob eine solche Praxis eine mittelbare Diskriminierung aufgrund der ethnischen Herkunft darstellt, ist im Hinblick auf Art. 2 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie 2000/43 zu prüfen, ob diese Praxis, auch wenn sie neutral formuliert ist, Personen, die einer bestimmten Rasse oder ethnischen Gruppe angehören, im Vergleich zu anderen Personen in besonderer Weise benachteiligt.
27 Der Ausdruck „in besonderer Weise benachteiligen“, der in dieser Bestimmung verwendet wird, ist im Sinne der Bedeutung zu verstehen, dass es insbesondere Personen einer bestimmten ethnischen Herkunft sind, die durch die fragliche Maßnahme benachteiligt werden (Urteil vom 16. Juli 2015, CHEZ Razpredelenie Bulgaria,C‑83/14, EU:C:2015:480, Rn. 100).
28 Dazu wurde vor dem Gerichtshof vorgetragen, dass durch die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Praxis, unabhängig von der „benachteiligten“ ethnischen Herkunft von Herrn Huskic, die Personen „dänischer ethnischer Herkunft“ begünstigt würden, da sie der fraglichen Verpflichtung nicht unterlägen.
29 Es genügt aber die Feststellung, dass diese Verpflichtung unterschiedslos für alle Personen gilt, die außerhalb des Hoheitsgebiets eines Mitgliedstaats der Union oder der EFTA geboren sind.
30 Es ist außerdem darauf hinzuweisen, dass eine mittelbare Diskriminierung dann vorliegen kann, wenn eine nationale Maßnahme zwar neutral formuliert ist, in ihrer Anwendung aber wesentlich mehr Inhaber der geschützten persönlichen Eigenschaft benachteiligt als Personen, die diese Eigenschaft nicht besitzen (Urteil vom 16. Juli 2015, CHEZ Razpredelenie Bulgaria,C‑83/14, EU:C:2015:480, Rn. 101 und die dort angeführte Rechtsprechung).
31 Wie bereits in Rn. 27 des vorliegenden Urteils ausgeführt worden ist, liegt „mittelbare Diskriminierung“ im Sinne von Art. 2 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie 2000/43 begrifflich aber nur vor, wenn die mutmaßlich diskriminierende Maßnahme zur Benachteiligung einer bestimmten ethnischen Gruppe führt.
32 Wie der Generalanwalt in Nr. 64 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, kann das Vorliegen einer ungünstigen Behandlung nicht allgemein und abstrakt festgestellt werden, sondern muss spezifisch und konkret im Hinblick auf die begünstigende Behandlung erfolgen.
33 Folglich kann dem Vorbringen, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Verwendung eines neutralen Kriteriums, betreffend das Geburtsland, eher geeignet sei, Personen, „die einer bestimmten ethnischen Gruppe angehören“, im Vergleich zu „anderen Personen“ allgemein zu berühren, nicht gefolgt werden.
34 Das gilt ebenso für das Vorbringen, dass die Verwendung dieses Kriteriums die Personen benachteilige, deren ethnische Herkunft die eines anderen Landes als eines Mitgliedstaats der Union oder der EFTA sei. Außerdem ist auf die Rn. 18 bis 21 des vorliegenden Urteils zu verweisen, aus denen hervorgeht, dass die ethnische Herkunft nicht allgemein bloß auf der Grundlage der Identifizierung des Geburtslands vermutet werden kann.
35 Daraus folgt, dass eine Praxis wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende nicht bedeutet, dass in Bezug auf die betreffende Person eine mittelbare Ungleichbehandlung aufgrund der ethnischen Herkunft vorliegt.
36 Diese Praxis beruht auf einem Kriterium, das weder eine unmittelbare noch eine mittelbare Verbindung zur ethnischen Herkunft der betreffenden Person hat. Demnach kann nicht angenommen werden, dass diese Praxis eine Ungleichbehandlung aufgrund der ethnischen Herkunft im Sinne von Art. 1 in Verbindung mit Art. 2 Abs. 2 Buchst. a und b der Richtlinie 2000/43 einführt.
37 Nach alledem ist auf die erste und die zweite Frage zu antworten, dass Art. 2 Abs. 2 Buchst. a und b der Richtlinie 2000/43 dahin auszulegen ist, dass er einer Praxis eines Kreditinstituts nicht entgegensteht, wonach einem Kunden, in dessen Führerschein ein anderes Geburtsland als ein Mitgliedstaat der Union oder der EFTA angegeben ist, das Erfordernis einer zusätzlichen Identifizierung durch Vorlage einer Kopie seines Reisepasses oder seiner Aufenthaltserlaubnis auferlegt wird.
Zur dritten Frage
38 In Anbetracht der Antwort auf die erste und die zweite Frage ist die dritte Frage nicht zu beantworten.
Kosten
39 Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Erste Kammer) für Recht erkannt:
Art. 2 Abs. 2 Buchst. a und b der Richtlinie 2000/43/EG des Rates vom 29. Juni 2000 zur Anwendung des Gleichbehandlungsgrundsatzes ohne Unterschied der Rasse oder der ethnischen Herkunft ist dahin auszulegen, dass er einer Praxis eines Kreditinstituts nicht entgegensteht, wonach einem Kunden, in dessen Führerschein ein anderes Geburtsland als ein Mitgliedstaat der Europäischen Union oder der Europäischen Freihandelsassoziation angegeben ist, das Erfordernis einer zusätzlichen Identifizierung durch Vorlage einer Kopie seines Reisepasses oder seiner Aufenthaltserlaubnis auferlegt wird.
Unterschriften
(*1) Verfahrenssprache: Dänisch.
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Urteil des Gerichtshofs (Zweite Kammer) vom 30. Juni 2016.#Silvia Ciup gegen Administrația Județeană a Finanțelor Publice (AJFP) Timiș – Direcția Generală Regională a Finanțelor Publice (DGRFP) Timișoara.#Vorabentscheidungsersuchen des Tribunalul Timiș.#Vorlage zur Vorabentscheidung – Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit – Grundsätze der Äquivalenz und der Effektivität – Nationale Regelung, die Modalitäten für die Erstattung zu Unrecht erhobener Steuern mit Zinsen festlegt – Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen über solche Ansprüche auf Erstattung, die sich aus der Unionsrechtsordnung herleiten – Ratenweise Erstattung über fünf Jahre – Erstattung unter der Bedingung, dass Mittel aus einer Steuererhebung vorhanden sind – Keine Möglichkeit der Zwangsvollstreckung.#Rechtssache C-288/14.
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62014CJ0288
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ECLI:EU:C:2016:495
| 2016-06-30T00:00:00 |
Gerichtshof, Szpunar
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EUR-Lex - CELEX:62014CJ0288 - EN - EUR-Lex
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Urteil des Gerichtshofs (Erste Kammer) vom 17. März 2016.#Abdelhafid Bensada Benallal gegen Belgischer Staat.#Vorabentscheidungsersuchen des Conseil d'État.#Vorlage zur Vorabentscheidung – Richtlinie 2004/38/EG – Entscheidung über die Beendigung eines Aufenthaltsrechts – Grundsatz der Wahrung der Verteidigungsrechte – Recht auf Anhörung – Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten – Zulässigkeit von Kassationsgründen – Gesichtspunkt zwingenden Rechts.#Rechtssache C-161/15.
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62015CJ0161
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ECLI:EU:C:2016:175
| 2016-03-17T00:00:00 |
Mengozzi, Gerichtshof
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Sammlung der Rechtsprechung – allgemein
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62015CJ0161
URTEIL DES GERICHTSHOFS (Erste Kammer)
17. März 2016 (*1)
„Vorlage zur Vorabentscheidung — Richtlinie 2004/38/EG — Entscheidung über die Beendigung eines Aufenthaltsrechts — Grundsatz der Wahrung der Verteidigungsrechte — Recht auf Anhörung — Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten — Zulässigkeit von Kassationsgründen — Gesichtspunkt zwingenden Rechts“
In der Rechtssache C‑161/15
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Conseil d’État (Belgien) mit Entscheidung vom 19. März 2015, beim Gerichtshof eingegangen am 9. April 2015, in dem Verfahren
Abdelhafid Bensada Benallal
gegen
Belgischer Staat
erlässt
DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)
unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin R. Silva de Lapuerta (Berichterstatterin) sowie der Richter A. Arabadjiev, C. G. Fernlund, S. Rodin und E. Regan,
Generalanwalt: P. Mengozzi,
Kanzler: V. Tourrès, Verwaltungsrat,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 19. November 2015,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
—
von Herrn Bensada Benallal, vertreten durch R.‑M. Sukennik und R. Fonteyn, avocats,
—
der belgischen Regierung, vertreten durch S. Vanrie, L. Van den Broeck und C. Pochet als Bevollmächtigte im Beistand von S. Cornelis, P. Lejeune und D. Matray, avocats,
—
der französischen Regierung, vertreten durch G. de Bergues, D. Colas und F.‑X. Bréchot als Bevollmächtigte,
—
der Europäischen Kommission, vertreten durch R. Troosters und C. Tufvesson als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 13. Januar 2016
folgendes
Urteil
1 Das Vorabentscheidungsersuchen bezieht sich auf die Auslegung des allgemeinen unionsrechtlichen Grundsatzes der Wahrung der Verteidigungsrechte.
2 Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Herrn Bensada Benallal und dem belgischen Staat über eine Klage auf Nichtigerklärung einer Entscheidung, mit der das Herrn Bensada Benallal gewährte Recht, sich in Belgien aufzuhalten, beendet und er ausgewiesen wurde.
Rechtlicher Rahmen
3 Art. 27 der Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 und zur Aufhebung der Richtlinien 64/221/EWG, 68/360/EWG, 72/194/EWG, 73/148/EWG, 75/34/EWG, 75/35/EWG, 90/364/EWG, 90/365/EWG und 93/96/EWG (ABl. L 158, S. 77) sieht vor:
„(1) Vorbehaltlich der Bestimmungen dieses Kapitels dürfen die Mitgliedstaaten die Freizügigkeit und das Aufenthaltsrecht eines Unionsbürgers oder seiner Familienangehörigen, ungeachtet ihrer Staatsangehörigkeit, aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit beschränken. Diese Gründe dürfen nicht zu wirtschaftlichen Zwecken geltend gemacht werden.
(2) Bei Maßnahmen aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit ist der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu wahren und darf ausschließlich das persönliche Verhalten des Betroffenen ausschlaggebend sein. Strafrechtliche Verurteilungen allein können ohne Weiteres diese Maßnahmen nicht begründen.
Das persönliche Verhalten muss eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr darstellen, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt. Vom Einzelfall losgelöste oder auf Generalprävention verweisende Begründungen sind nicht zulässig.
(3) Um festzustellen, ob der Betroffene eine Gefahr für die öffentliche Ordnung oder Sicherheit darstellt, kann der Aufnahmemitgliedstaat bei der Ausstellung der Anmeldebescheinigung oder – wenn es kein Anmeldesystem gibt – spätestens drei Monate nach dem Zeitpunkt der Einreise des Betroffenen in das Hoheitsgebiet oder nach dem Zeitpunkt, zu dem der Betroffene seine Anwesenheit im Hoheitsgebiet gemäß Artikel 5 Absatz 5 gemeldet hat, oder bei Ausstellung der Aufenthaltskarte den Herkunftsmitgliedstaat und erforderlichenfalls andere Mitgliedstaaten um Auskünfte über das Vorleben des Betroffenen in strafrechtlicher Hinsicht ersuchen, wenn er dies für unerlässlich hält. Diese Anfragen dürfen nicht systematisch erfolgen. Der ersuchte Mitgliedstaat muss seine Antwort binnen zwei Monaten erteilen.
(4) Der Mitgliedstaat, der den Reisepass oder Personalausweis ausgestellt hat, lässt den Inhaber des Dokuments, der aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit aus einem anderen Mitgliedstaat ausgewiesen wurde, ohne jegliche Formalitäten wieder einreisen, selbst wenn der Personalausweis oder Reisepass ungültig geworden ist oder die Staatsangehörigkeit des Inhabers bestritten wird.“
4 Art. 28 der Richtlinie bestimmt:
„(1) Bevor der Aufnahmemitgliedstaat eine Ausweisung aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit verfügt, berücksichtigt er insbesondere die Dauer des Aufenthalts des Betroffenen im Hoheitsgebiet, sein Alter, seinen Gesundheitszustand, seine familiäre und wirtschaftliche Lage, seine soziale und kulturelle Integration im Aufnahmemitgliedstaat und das Ausmaß seiner Bindungen zum Herkunftsstaat.
(2) Der Aufnahmemitgliedstaat darf gegen Unionsbürger oder ihre Familienangehörigen, ungeachtet ihrer Staatsangehörigkeit, die das Recht auf Daueraufenthalt in seinem Hoheitsgebiet genießen, eine Ausweisung nur aus schwerwiegenden Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit verfügen.
(3) Gegen Unionsbürger darf eine Ausweisung nicht verfügt werden, es sei denn, die Entscheidung beruht auf zwingenden Gründen der öffentlichen Sicherheit, die von den Mitgliedstaaten festgelegt wurden, wenn sie
a)
ihren Aufenthalt in den letzten zehn Jahren im Aufnahmemitgliedstaat gehabt haben oder
b)
minderjährig sind, es sei denn, die Ausweisung ist zum Wohl des Kindes notwendig, wie es im Übereinkommen der Vereinten Nationen vom 20. November 1989 über die Rechte des Kindes vorgesehen ist.“
5 Art. 30 dieser Richtlinie lautet:
„(1) Entscheidungen nach Artikel 27 Absatz 1 müssen dem Betroffenen schriftlich in einer Weise mitgeteilt werden, dass er deren Inhalt und Wirkung nachvollziehen kann.
(2) Dem Betroffenen sind die Gründe der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit, die der ihn betreffenden Entscheidung zugrunde liegen, genau und umfassend mitzuteilen, es sei denn, dass Gründe der Sicherheit des Staates dieser Mitteilung entgegenstehen.
(3) In der Mitteilung ist anzugeben, bei welchem Gericht oder bei welcher Verwaltungsbehörde der Betroffene einen Rechtsbehelf einlegen kann, innerhalb welcher Frist der Rechtsbehelf einzulegen ist und gegebenenfalls binnen welcher Frist er das Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats zu verlassen hat. Außer in ordnungsgemäß begründeten dringenden Fällen muss die Frist zum Verlassen des Hoheitsgebiets mindestens einen Monat, gerechnet ab dem Zeitpunkt der Mitteilung, betragen.“
6 Art. 31 der Richtlinie sieht vor:
„(1) Gegen eine Entscheidung aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit müssen die Betroffenen einen Rechtsbehelf bei einem Gericht und gegebenenfalls bei einer Behörde des Aufnahmemitgliedstaats einlegen können.
(2) Wird neben dem Rechtsbehelf gegen die Entscheidung, mit der die Ausweisung verfügt wurde, auch ein Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz gestellt, um die Vollstreckung dieser Entscheidung auszusetzen, so darf die Abschiebung aus dem Hoheitsgebiet nicht erfolgen, solange nicht über den Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz entschieden wurde, es sei denn,
—
die Entscheidung, mit der die Ausweisung verfügt wird, stützt sich auf eine frühere gerichtliche Entscheidung, oder
—
die Betroffenen hatten bereits früher die Möglichkeit, eine gerichtliche Überprüfung zu beantragen, oder
—
die Entscheidung, mit der die Ausweisung verfügt wird, beruht auf zwingenden Gründen der öffentlichen Sicherheit nach Artikel 28 Absatz 3.
(3) Im Rechtsbehelfsverfahren sind die Rechtmäßigkeit der Entscheidung sowie die Tatsachen und die Umstände, auf denen die Entscheidung beruht, zu überprüfen. Es gewährleistet, dass die Entscheidung insbesondere im Hinblick auf die Erfordernisse gemäß Artikel 28 nicht unverhältnismäßig ist.
(4) Die Mitgliedstaaten können dem Betroffenen verbieten, sich während des anhängigen Rechtsbehelfsverfahrens in ihrem Hoheitsgebiet aufzuhalten, dürfen ihn jedoch nicht daran hindern, sein Verfahren selbst zu führen, es sei denn, die öffentliche Ordnung oder Sicherheit können durch sein persönliches Erscheinen ernsthaft gestört werden oder der Rechtsbehelf richtet sich gegen die Verweigerung der Einreise in das Hoheitsgebiet.“
7 Art. 35 der Richtlinie 2004/38 bestimmt:
„Die Mitgliedstaaten können die Maßnahmen erlassen, die notwendig sind, um die durch diese Richtlinie verliehenen Rechte im Falle von Rechtsmissbrauch oder Betrug – wie z. B. durch Eingehung von Scheinehen – zu verweigern, aufzuheben oder zu widerrufen. Solche Maßnahmen müssen verhältnismäßig sein und unterliegen den Verfahrensgarantien nach den Artikeln 30 und 31.“
Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefrage
8 Herr Bensada Benallal, ein spanischer Staatsangehöriger, reiste am 24. Mai 2012 nach Belgien ein. Infolge eines am 31. Mai 2012 gestellten Antrags wurde ihm mit Entscheidung vom 24. September 2012 die Erlaubnis erteilt, sich als Arbeitnehmer in diesem Mitgliedstaat aufzuhalten.
9 Am 26. September 2013 beendete der belgische Staat, vertreten durch das Ausländeramt, das Aufenthaltsrecht von Herrn Bensada Benallal und verfügte seine Ausweisung aus dem belgischen Hoheitsgebiet. In dieser Entscheidung wird u. a. ausgeführt:
„Es gibt Hinweise darauf, dass der Betroffene falsche Angaben gemacht hat, die für die Anerkennung seines Aufenthaltsrechts durch die Gemeindeverwaltung Berchem-Sainte-Agathe [(Belgien)] ausschlaggebend waren. [Es wurde] nämlich … festgestellt, dass die von der … [Gesellschaft] angemeldeten Personen sämtlich nicht dem allgemeinen System der sozialen Sicherheit von Arbeitnehmern angehörten: ‚Mehrere präzise und übereinstimmende Gesichtspunkte belegen nämlich in rechtlich hinreichender Weise, dass die … [Gesellschaft] keine Tätigkeit mit Beschäftigung von Arbeitnehmern ausübt und daher keine Arbeitsverträge mit den … gemeldeten Personen bestehen.‘“
10 Am 2. Januar 2014 erhob Herr Bensada Benallal beim Conseil du contentieux des étrangers (Rat für Ausländerstreitsachen) Klage auf Nichtigerklärung gegen diese Entscheidung.
11 Zur Stützung seiner Klage machte Herr Bensada Benallal einen einzigen Klagegrund geltend, der sich u. a. aus einem Verstoß gegen eine gesetzliche Bestimmung zur förmlichen Begründung von Verwaltungsentscheidungen, aus einem Verstoß gegen den Grundsatz der ordnungsgemäßen Verwaltung, den Grundsatz der Rechtssicherheit, den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, die Grundsätze der Vorsicht und der Umsicht, den Grundsatz der sorgfältigen Verfahrensführung, den Grundsatz, nach dem die Behörde gehalten ist, unter Berücksichtigung aller Gesichtspunkte des Einzelfalls zu entscheiden, sowie aus einem Verstoß gegen Art. 35 der Richtlinie 2004/38 herleitet.
12 Mit seinem Vortrag zur genaueren Darlegung des angeführten Klagegrundes macht Herr Bensada Benallal u. a. geltend, dass die Entscheidung des Ausländeramts an einem Begründungsmangel leide. In dieser Hinsicht hat er vorgetragen, dass der Bericht, auf dessen Grundlage die Entscheidung ergangen sei, dieser weder beigefügt noch ihm vor ihrer Zustellung übersandt worden sei und auch nicht in seinen Grundzügen in der Entscheidung wiedergegeben sei, so dass er nicht in der Lage gewesen sei, die Gründe der gegen ihn erlassenen Entscheidung nachzuvollziehen.
13 Die Klage wurde durch eine Entscheidung des Conseil du contentieux des étrangers (Rat für Ausländerstreitsachen) vom 30. April 2014 abgewiesen. In seinem Urteil hat dieser u. a. Folgendes ausgeführt:
„Der Rat [für Ausländerstreitsachen] stellt jedenfalls fest, dass zwischen der Vorlage des Arbeitsvertrags mit der Gesellschaft … durch [Herrn Bensada Benallal] und dem Bericht …, der zum Erlass der angefochtenen Entscheidung geführt hat, fast ein Jahr vergangen ist, ohne dass [Herr Bensada Benallal] dem [Ausländeramt] Informationen über die in der Klage geltend gemachten Schwierigkeiten im Zusammenhang mit seinem Arbeitsvertrag mit diesem Unternehmen hat zukommen lassen oder mitgeteilt hat.
Glaubte [Herr Bensada Benallal] jedoch weitere Gesichtspunkte geltend machen zu können, die der Rücknahme seines Aufenthaltstitels entgegenständen, oblag es ihm, das [Ausländeramt] davon zu unterrichten, und nicht dieser, [Herrn Bensada Benallal] um Stellungnahme dazu zu ersuchen. Es ist nämlich Sache des Klägers, den Nachweis zu erbringen, dass er die Voraussetzungen für das beanspruchte Recht und dessen Fortbestand erfüllt. Da [Herr Bensada Benallal] einen Antrag auf Registrierung als ‚Arbeitnehmer‘ in Belgien gestellt hatte, konnte oder musste er berechtigterweise davon ausgehen, dass es sich auf seinen Aufenthalt auswirken werde, wenn sein Arbeitsvertrag (auch ohne sein Zutun) nicht vollzogen würde, und sich darüber im Klaren sein, dass dieser Umstand dem [Ausländeramt] unaufgefordert mitzuteilen war; dies ist, wie sich aus den Verwaltungsakten ergibt, nicht geschehen.
Diese Feststellung wird nicht durch den Umstand erschüttert, dass [Herr Bensada Benallal], ,wie in der Untersuchung festgestellt, kein Einschreiben erhalten hat und daher keine Möglichkeit hatte, gehört zu werden‘, da sich die von ihm erhobene Rüge auf die Anhörung durch den … Anhörungsbeamten bezieht (dieser Anhörung liegen im Übrigen nicht nur Erklärungen, sondern auch objektive Feststellungen zugrunde, die von [Herrn Bensada Benallal] sämtlich nicht bestritten werden) und die angefochtene Entscheidung nicht unmittelbar betrifft.“
14 Herr Bensada Benallal legte gegen dieses Urteil des Conseil du contentieux des étrangers (Rat für Ausländerstreitsachen) beim vorlegenden Gericht, dem Conseil d'État (Staatsrat) Kassationsbeschwerde ein. Diese Beschwerde umfasst u. a. einen Kassationsgrund, mit dem Herr Bensada Benallal geltend macht, die Verwaltungsbehörde, d. h. das Ausländeramt, hätte ihn vor Erlass der Entscheidung vom 26. September 2013 anhören müssen. Er nimmt des Weiteren an, der Conseil du contentieux des étrangers (Rat für Ausländerstreitsachen) hätte berücksichtigen müssen, dass das Verwaltungsverfahren zu einem anderen Ergebnis hätte führen können, wenn er in der Lage gewesen wäre, sein Verteidigungsvorbringen besser geltend zu machen. Zur Stützung dieses Kassationsgrundes trägt Herr Bensada Benallal nicht nur einen Verstoß gegen die Wahrung der Verteidigungsrechte und des kontradiktorischen Verfahrens als Grundprinzipien des belgischen Rechts sowie gegen das Recht auf Anhörung (audi alteram partem) vor, sondern auch einen Verstoß gegen die Art. 41 und 51 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta).
15 Der belgische Staat beruft sich auf die Unzulässigkeit dieses Kassationsgrundes, da er zum ersten Mal vor dem vorlegenden Gericht im Stadium des Kassationsverfahrens geltend gemacht worden sei und nicht auf einem Verstoß gegen eine Bestimmung zwingenden Rechts beruhe. Ferner präzisiere der Kassationsbeschwerdeführer weder, inwiefern gegen Art. 51 der Charta verstoßen worden sei, noch trage er irgendeinen Gesichtspunkt vor, der die Beurteilung erlaube, ob das Verwaltungsverfahren zu einem anderen Ergebnis hätte kommen können, wenn er vor der in Rede stehenden Verwaltungsentscheidung angehört worden wäre.
16 In der Sache trägt der belgische Staat vor, dass das in Art. 41 der Charta genannte Recht auf Anhörung nicht dazu verpflichte, mit dem Betroffenen die von diesem geltend gemachten Umstände zu erörtern. Es sei nämlich ausreichend, wenn dieser Gelegenheit gehabt habe, seinen Standpunkt darzulegen, was vorliegend, wie sich aus dem Urteil des Conseil du contentieux des étrangers (Rat für Ausländerstreitsachen) ergebe, der Fall gewesen sei.
17 Der beim vorlegenden Gericht mit der Rechtssache befasste Berichterstatter hat in seinem Bericht vom 16. Oktober 2014 festgestellt, dass der einzige vor dem Conseil du contentieux des étrangers (Rat für Ausländerstreitsachen) geltend gemachte Klagegrund sich weder auf einen Verstoß gegen die Art. 41 und 51 der Charta noch auf einen Verstoß gegen die allgemeinen Rechtsgrundsätze der Wahrung der Verteidigungsrechte und des kontradiktorischen Verfahrens, noch auf einen Verstoß gegen das Recht auf Anhörung (audi alteram partem) gestützt habe. Die Stellungnahme des Berichterstatters kommt unter Berücksichtigung der in dieser Hinsicht bestehenden Anforderungen des belgischen Verfahrensrechts zu dem Ergebnis, dass die erstmalige Geltendmachung eines Verstoßes gegen diese Bestimmungen und allgemeinen Rechtsgrundsätze vor dem vorlegenden, im Kassationsverfahren entscheidenden Gericht durch Herrn Bensada Benallal unzulässig sei, da diese nicht zum zwingenden Recht gehörten.
18 In seiner auf diesen Bericht hin eingereichten Erwiderung macht Herr Bensada Benallal geltend, dass der auf einen Verstoß gegen Grundrechte gestützte Kassationsgrund zum zwingenden Recht gehöre, da sich aus Art. 41 der Charta ergebe, dass der Anspruch auf rechtliches Gehör eine Umsetzung des allgemeinen unionsrechtlichen Grundsatzes der Verteidigungsrechte darstelle, dessen Verkennung von Amts wegen geprüft werden könne.
19 Das vorlegende Gericht stellt fest, dass Herr Bensada Benallal den von ihm vorgebrachten Kassationsgrund, soweit er sich auf einen Verstoß gegen den in Art. 41 der Charta genannten Anspruch auf rechtliches Gehör beziehe, nicht vor dem Conseil du contentieux des étrangers (Rat für Ausländerstreitsachen) geltend gemacht habe. Nach belgischem Recht könne die Zulässigkeit eines solchen Kassationsgrundes, der zum ersten Mal vor dem Kassationsrichter geltend gemacht werde, nur dann bejaht werden, wenn dieser Kassationsgrund zwingendes Recht betreffe.
20 Daher hat der Conseil d’État (Staatsrat) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:
Hat in der Unionsrechtsordnung der allgemeine Grundsatz des Rechts der Europäischen Union, in dem die Wahrung der Verteidigungsrechte verankert ist – u. a. das Recht einer Person, von einer nationalen Behörde gehört zu werden, ehe diese ihr gegenüber eine für ihre Interessen nachteilige Entscheidung, beispielsweise die Entscheidung über die Beendigung ihres Aufenthaltsrechts, erlässt –, dieselbe Tragweite wie im innerstaatlichen Recht die zwingenden Vorschriften des belgischen Rechts, und verlangt das Äquivalenzprinzip, dass der Kassationsgrund einer Verletzung des allgemeinen unionsrechtlichen Grundsatzes der Wahrung der Verteidigungsrechte wie im innerstaatlichen Recht die Kassationsgründe, die zwingendes Recht betreffen, zum ersten Mal vor dem Conseil d’État vorgebracht werden kann?
Zur Vorlagefrage
21 Mit seiner Vorlagefrage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob das Unionsrecht dahin auszulegen ist, dass, wenn ein auf einen Verstoß gegen innerstaatliches Recht gestützter Kassationsgrund, der zum ersten Mal vor dem im Kassationsverfahren entscheidenden nationalen Gericht geltend gemacht wird, nach dem anwendbaren nationalen Recht nur zulässig ist, soweit er zum zwingenden Recht gehört, ein zum ersten Mal vor diesem Gericht vorgebrachter Kassationsgrund, der sich auf eine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör bezieht, wie es vom Unionsrecht gewährleistet wird, für zulässig zu erklären ist.
22 Zur Beantwortung dieser Frage ist zunächst festzustellen, dass der dem Ausgangsrechtsstreit zugrunde liegende Sachverhalt, wie er sich aus der Vorlageentscheidung ergibt, in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fällt, insbesondere in den der Richtlinie 2004/38. Diese bezieht sich u. a. auf die Voraussetzungen für die Ausübung des Rechts der Unionsbürger, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, sowie auf die Beschränkungen dieser Rechte aus Gründen der öffentlichen Ordnung, der öffentlichen Sicherheit oder der öffentlichen Gesundheit. Diese Richtlinie gilt für jeden Unionsbürger, der sich in einen anderen als den Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, begibt oder sich dort aufhält.
23 Diese Richtlinie sieht zwar eine gewisse Anzahl von Regelungen vor, u. a. die in ihren Art. 30 und 31 genannten, die von den Mitgliedstaaten im Hinblick auf eine eventuelle Beschränkung des Aufenthaltsrechts eines Unionsbürgers zu beachten sind. Sie enthält aber keine Regelungen über die Modalitäten für die Verwaltungs- und Gerichtsverfahren zu einer Entscheidung, mit der der Aufenthaltstitel eines Unionsbürgers entzogen wird.
24 Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs ist es mangels einschlägiger Unionsregeln nach dem Grundsatz der Verfahrensautonomie Sache der innerstaatlichen Rechtsordnung jedes Mitgliedstaats, entsprechende Regeln festzulegen, vorausgesetzt allerdings, dass sie nicht ungünstiger sind als diejenigen, die gleichartige Sachverhalte regeln, die dem innerstaatlichen Recht unterliegen (Äquivalenzgrundsatz), und dass sie die Ausübung der durch das Unionsrecht verliehenen Rechte nicht praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren (Effektivitätsgrundsatz) (Urteil vom 21. Januar 2016, Eturas u. a., C‑74/14, EU:C:2016:42, Rn. 32 und die dort angeführte Rechtsprechung).
25 Daraus ergibt sich, dass zwei kumulative Voraussetzungen, nämlich die Wahrung des Äquivalenzgrundsatzes und des Effektivitätsgrundsatzes, erfüllt sein müssen, damit sich ein Mitgliedstaat in Situationen, die dem Unionsrecht unterliegen, auf den Grundsatz der Verfahrensautonomie berufen kann.
26 Wie auch das vorlegende Gericht ausführt, verstößt der von Herrn Bensada Benallal geltend gemachte Kassationsgrund, der sich auf eine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör – wie er durch das Unionsrecht gewährleistet wird – durch die nationale Behörde, die die ihn beschwerende Entscheidung erlassen hat, bezieht, im Hinblick auf seine Zulässigkeit gegen die nationalen Regelungen zu dem Vorbringen, das zum ersten Mal im Kassationsverfahren geltend gemacht werden kann.
27 Wie sich aus Rn. 24 des vorliegenden Urteils ergibt, gestattet es das Unionsrecht den Mitgliedstaaten grundsätzlich – unter dem Vorbehalt der Wahrung des Effektivitäts- und des Äquivalenzgrundsatzes –, nach dem Grundsatz der Verfahrensautonomie die Kassationsgründe zu beschränken oder unter Bedingungen zu stellen, die in Kassationsverfahren geltend gemacht werden können.
28 Wie der Generalanwalt in den Nrn. 41 und 42 seiner Schlussanträge hervorgehoben hat, stellt sich die Frage der Beachtung dieser Grundsätze im Ausgangsrechtsstreit ausschließlich im Hinblick auf den Äquivalenzgrundsatz, nicht aber im Hinblick auf den Effektivitätsgrundsatz.
29 Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs verlangt der Grundsatz der Äquivalenz, dass die in Rede stehende nationale Regelung in gleicher Weise für Rechtsbehelfe gilt, die auf die Verletzung von den Einzelnen aus dem Unionsrecht erwachsenden Rechten gestützt sind, wie für solche, die auf die Verletzung des innerstaatlichen Rechts gestützt sind, sofern diese Rechtsbehelfe einen ähnlichen Gegenstand und Rechtsgrund haben (Urteil vom 27. Juni 2013, Agrokonsulting-04, C‑93/12, EU:C:2013:432, Rn. 39). Die Beachtung dieses Grundsatzes verlangt somit die Gleichbehandlung auf einen Verstoß gegen das nationale Recht gestützter Rechtsbehelfe und entsprechender, auf einen Verstoß gegen das Unionsrecht gestützter Rechtsbehelfe (Urteil vom 6. Oktober 2015, Târșia, C‑69/14, EU:C:2015:662, Rn. 34).
30 Auf eine Situation wie die im Ausgangsverfahren bestehende angewandt, erfordert die Voraussetzung der Beachtung des Äquivalenzgrundsatzes somit, dass, wenn die Bestimmungen des nationalen Rechts zu Verfahrensfragen im Bereich von Kassationsbeschwerden einem Gericht, das in dieser Eigenschaft entscheidet, die Verpflichtung übertragen, einem Kassationsgrund, der sich auf einen Verstoß gegen nationales Recht richtet, zu folgen oder ihn von Amts wegen zu prüfen, die gleiche Verpflichtung in gleicher Weise für einen gleichartigen Kassationsgrund gelten muss, der sich auf einen Verstoß gegen Unionsrecht stützt.
31 Wenn ein nationales, im Kassationsverfahren entscheidendes Gericht davon ausgeht, dass ein Kassationsgrund, der sich auf die Nichtbeachtung des Anspruchs auf rechtliches Gehör stützt, nach dem zwingenden innerstaatlichen Recht einen Kassationsgrund darstellt, der zum ersten Mal im Rahmen eines dem innerstaatlichen Recht unterfallenden Rechtsstreits vor ihm geltend gemacht werden kann, verlangt der Äquivalenzgrundsatz folglich, dass ein gleichartiger Kassationsgrund, der sich auf einen Verstoß gegen Unionsrecht bezieht, im Rahmen des gleichen Rechtsstreits ebenfalls zum ersten Mal vor diesem Gericht im Stadium des Kassationsverfahrens geltend gemacht werden kann.
32 Im vorliegenden Fall ergibt sich aus der Vorlageentscheidung nicht eindeutig, dass der Anspruch auf rechtliches Gehör, wie er vom belgischen Recht gewährleistet wird, für sich genommen einen allgemeinen Grundsatz des belgischen Rechts darstellt, der als solcher zum zwingenden innerstaatlichen Recht dieses Mitgliedstaats gehört. Das vorlegende Gericht stellt allerdings in dieser Hinsicht klar, dass die zwingenden Regelungen diejenigen sind, denen eine grundlegende Bedeutung in der belgischen Rechtsordnung zukommt, wie den Regelungen zur Zuständigkeit der Verwaltungsbehörden, zur gerichtlichen Zuständigkeit, zur Wahrung der Verteidigungsrechte oder im Hinblick auf andere Grundrechte.
33 Um dem vorlegenden Gericht die Feststellung zu ermöglichen, ob der auf einen Verstoß gegen den Anspruch auf rechtliches Gehör im Unionsrecht gestützte Kassationsgrund von gleicher Art ist wie ein Kassationsgrund, der sich auf einen Verstoß gegen ein solches Recht in der belgischen Rechtsordnung stützt, ist darauf hinzuweisen, dass, wie der Gerichtshof in seinem Urteil vom 9. Juni 2005, Spanien/Kommission (C‑287/02, EU:C:2005:368, Rn. 37 und die dort angeführte Rechtsprechung), entschieden hat, die Beachtung der Verteidigungsrechte in allen Verfahren, die zu einer den Betroffenen beschwerenden Maßnahme führen können, ein fundamentaler Grundsatz des Unionsrechts ist, der auch dann sichergestellt werden muss, wenn eine Regelung für das betreffende Verfahren fehlt. Dieser Grundsatz gebietet es, dass die Adressaten von Entscheidungen, die ihre Interessen spürbar beeinträchtigen, in die Lage versetzt werden, ihren Standpunkt in sachdienlicher Weise vorzutragen.
34 Es obliegt dem zuständigen nationalen Gericht, zu prüfen, ob die an den Äquivalenzgrundsatz gebundene Voraussetzung in der vor ihm anhängigen Rechtssache beachtet wurde. Im Ausgangsverfahren obliegt ihm insbesondere die Feststellung, ob der Anspruch auf rechtliches Gehör, wie er vom innerstaatlichen Recht gewährleistet wird, die vom nationalen Recht festgelegten Voraussetzungen erfüllt, um als Kassationsgrund zwingenden Rechts eingestuft zu werden.
35 Daher ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass das Unionsrecht dahin auszulegen ist, dass, wenn ein auf einen Verstoß gegen innerstaatliches Recht gestützter Kassationsgrund, der zum ersten Mal vor dem im Kassationsverfahren entscheidenden nationalen Gericht geltend gemacht wird, nach dem anwendbaren nationalem Recht nur zulässig ist, soweit er zum zwingenden Recht gehört, ein zum ersten Mal vor diesem Gericht vorgebrachter Kassationsgrund, der sich auf eine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör bezieht, wie es vom Unionsrecht gewährleistet wird, für zulässig zu erklären ist, wenn dieser Anspruch, wie er nach innerstaatlichem Recht gewährleistet ist, die von diesem Recht aufgestellten Voraussetzungen erfüllt, um als Kassationsgrund zwingenden Rechts eingestuft zu werden, was das vorlegende Gericht zu prüfen haben wird.
Kosten
36 Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Erste Kammer) für Recht erkannt:
Das Unionsrecht ist dahin auszulegen, dass, wenn ein auf einen Verstoß gegen innerstaatliches Recht gestützter Kassationsgrund, der zum ersten Mal vor dem im Kassationsverfahren entscheidenden nationalen Gericht geltend gemacht wird, nach dem anwendbaren nationalem Recht nur zulässig ist, soweit er zum zwingenden Recht gehört, ein zum ersten Mal vor diesem Gericht vorgebrachter Kassationsgrund, der sich auf eine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör bezieht, wie es vom Unionsrecht gewährleistet wird, für zulässig zu erklären ist, wenn dieser Anspruch, wie er nach innerstaatlichem Recht gewährleistet ist, die von diesem Recht aufgestellten Voraussetzungen erfüllt, um als Kassationsgrund zwingenden Rechts eingestuft zu werden, was das vorlegende Gericht zu prüfen haben wird.
Unterschriften
(*1) Verfahrenssprache: Französisch.
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Urteil des Gerichtshofs (Große Kammer) vom 16. Juli 2015.#Kuldip Singh u. a. gegen Minister for Justice and Equality.#Vorabentscheidungsersuchen des High Court (Irland).#Vorlage zur Vorabentscheidung – Richtlinie 2004/38/EG – Art. 13 Abs. 2 Unterabs. 1 Buchst. a – Aufenthaltsrecht der Familienangehörigen eines Unionsbürgers – Ehe zwischen einer Unionsbürgerin und einem Drittstaatsangehörigen – Aufrechterhaltung des Aufenthaltsrechts des Drittstaatsangehörigen nach dem Wegzug der Unionsbürgerin aus dem Aufnahmemitgliedstaat und der darauf folgenden Ehescheidung – Art. 7 Abs. 1 Buchst. b – Ausreichende Existenzmittel – Berücksichtigung der Existenzmittel des Ehegatten, der einem Drittstaat angehört – Recht des Drittstaatsangehörigen auf Erwerbstätigkeit im Aufnahmemitgliedstaat, um zur Erzielung ausreichender Existenzmittel beizutragen.#Rechtssache C-218/14.
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62014CJ0218
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ECLI:EU:C:2015:476
| 2015-07-16T00:00:00 |
Gerichtshof, Kokott
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Sammlung der Rechtsprechung – allgemein
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62014CJ0218
URTEIL DES GERICHTSHOFS (Große Kammer)
16. Juli 2015 (*1)
„Vorlage zur Vorabentscheidung — Richtlinie 2004/38/EG — Art. 13 Abs. 2 Unterabs. 1 Buchst. a — Aufenthaltsrecht der Familienangehörigen eines Unionsbürgers — Ehe zwischen einer Unionsbürgerin und einem Drittstaatsangehörigen — Aufrechterhaltung des Aufenthaltsrechts des Drittstaatsangehörigen nach dem Wegzug der Unionsbürgerin aus dem Aufnahmemitgliedstaat und der darauf folgenden Ehescheidung — Art. 7 Abs. 1 Buchst. b — Ausreichende Existenzmittel — Berücksichtigung der Existenzmittel des Ehegatten, der einem Drittstaat angehört — Recht des Drittstaatsangehörigen auf Erwerbstätigkeit im Aufnahmemitgliedstaat, um zur Erzielung ausreichender Existenzmittel beizutragen“
In der Rechtssache C‑218/14
betreffend ein Ersuchen um Vorabentscheidung nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom High Court (Irland) mit Entscheidung vom 25. Februar 2014, beim Gerichtshof eingegangen am 5. Mai 2014, in dem Verfahren
Kuldip Singh,
Denzel Njume,
Khaled Aly
gegen
Minister for Justice and Equality,
Beteiligter:
Immigrant Council of Ireland,
erlässt
DER GERICHTSHOF (Große Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten V. Skouris, des Vizepräsidenten K. Lenaerts, des Kammerpräsidenten A. Tizzano, der Kammerpräsidentin R. Silva de Lapuerta (Berichterstatterin), der Kammerpräsidenten A. Ó Caoimh und J.‑C. Bonichot, der Richter A. Arabadjiev und M. Safjan, der Richterinnen M. Berger und A. Prechal sowie des Richters E. Jarašiūnas,
Generalanwältin: J. Kokott,
Kanzler: M. Aleksejev, Verwaltungsrat,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 23. März 2015,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
—
von Herrn Singh, vertreten durch C. O’Dwyer und R. Haughton, Senior Counsels, P. Brazil, Barrister-at-Law, sowie J. Boyle und M. Griffin, Solicitors,
—
von Herrn Njume, vertreten durch M. Lynn und R. Haughton, Senior Counsels, sowie P. Brazil und C. Stanley, Barristers-at-Law,
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von Herrn Aly, vertreten durch M. Lynn, Senior Counsel, A. McMahon, Barrister-at-Law, und E. Lyons, Solicitor,
—
des Immigrant Council of Ireland, vertreten durch P. Dillon Malone, Senior Counsel, A. Lowry, Barrister-at-Law, und H. Becker, Solicitor,
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von Irland, vertreten durch E. Creedon und G. Samuel als Bevollmächtigte im Beistand von D. Conlan Smyth, Senior Counsel, sowie durch F. O’Sullivan, Barrister-at-Law,
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der dänischen Regierung, vertreten durch C. Thorning und M. Wolff als Bevollmächtigte,
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der griechischen Regierung, vertreten durch T. Papadopoulou als Bevollmächtigte,
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der spanischen Regierung, vertreten durch L. Banciella Rodríguez‑Miñón als Bevollmächtigten,
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der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna als Bevollmächtigten,
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der Regierung des Vereinigten Königreichs, vertreten durch V. Kaye als Bevollmächtigte im Beistand von B. Lask und G. Facenna, Barristers-at-Law,
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der Europäischen Kommission, vertreten durch M. Wilderspin, J. Tomkin und C. Tufvesson als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge der Generalanwältin in der Sitzung vom 7. Mai 2015
folgendes
Urteil
1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Art. 7 Abs. 1 Buchst. b und 13 Abs. 2 Unterabs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 und zur Aufhebung der Richtlinien 64/221/EWG, 68/360/EWG, 72/194/EWG, 73/148/EWG, 75/34/EWG, 75/35/EWG, 90/364/EWG, 90/365/EWG und 93/96/EWG (ABl. L 158, S. 77, Berichtigung in ABl. L 229, S. 35).
2 Dieses Ersuchen ergeht in drei Rechtsstreitigkeiten zwischen Herrn Singh, Herrn Njume und Herrn Aly einerseits und dem Minister for Justice and Equality (im Folgenden: Minister) andererseits über dessen Ablehnung ihrer Anträge auf Aufrechterhaltung ihres Aufenthaltsrechts in Irland nach ihrer jeweiligen Ehescheidung.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
3 Der 15. Erwägungsgrund der Richtlinie 2004/38 lautet:
„Ferner bedarf es eines rechtlichen Schutzes für die Familienangehörigen, wenn der Unionsbürger verstirbt, die Ehe geschieden oder aufgehoben oder die eingetragene Partnerschaft beendet wird. Daher sollten Maßnahmen getroffen werden, damit unter Achtung des Familienlebens und der menschlichen Würde, aber unter bestimmten Voraussetzungen zum Schutz vor Missbrauch sichergestellt ist, dass in solchen Fällen Familienangehörigen, die sich bereits im Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats aufhalten, das Aufenthaltsrecht ausschließlich auf persönlicher Grundlage erhalten bleibt.“
4 Art. 2 („Begriffsbestimmungen“) dieser Richtlinie bestimmt:
„Im Sinne dieser Richtlinie bezeichnet der Ausdruck
1. ‚Unionsbürger‘ jede Person, die die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzt;
2. ‚Familienangehöriger‘
a)
den Ehegatten;
…
3. ‚Aufnahmemitgliedstaat‘ den Mitgliedstaat, in den sich der Unionsbürger begibt, um dort sein Recht auf Freizügigkeit oder Aufenthalt auszuüben.“
5 Art. 3 („Berechtigte“) Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 sieht vor:
„Diese Richtlinie gilt für jeden Unionsbürger, der sich in einen anderen als den Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, begibt oder sich dort aufhält, sowie für seine Familienangehörigen im Sinne von Artikel 2 Nummer 2, die ihn begleiten oder ihm nachziehen.“
6 Art. 7 („Recht auf Aufenthalt für mehr als drei Monate“) Abs. 1 und 2 dieser Richtlinie bestimmt:
„(1) Jeder Unionsbürger hat das Recht auf Aufenthalt im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats für einen Zeitraum von über drei Monaten, wenn er
a)
Arbeitnehmer oder Selbstständiger im Aufnahmemitgliedstaat ist oder
b)
für sich und seine Familienangehörigen über ausreichende Existenzmittel verfügt, so dass sie während ihres Aufenthalts keine Sozialhilfeleistungen des Aufnahmemitgliedstaats in Anspruch nehmen müssen, und er und seine Familienangehörigen über einen umfassenden Krankenversicherungsschutz im Aufnahmemitgliedstaat verfügen oder
c)
– bei einer privaten oder öffentlichen Einrichtung, die von dem Aufnahmemitgliedstaat aufgrund seiner Rechtsvorschriften oder seiner Verwaltungspraxis anerkannt oder finanziert wird, zur Absolvierung einer Ausbildung einschließlich einer Berufsausbildung als Hauptzweck eingeschrieben ist und
—
über einen umfassenden Krankenversicherungsschutz im Aufnahmemitgliedstaat verfügt und der zuständigen nationalen Behörde durch eine Erklärung oder durch jedes andere gleichwertige Mittel seiner Wahl glaubhaft macht, dass er für sich und seine Familienangehörigen über ausreichende Existenzmittel verfügt, so dass sie während ihres Aufenthalts keine Sozialhilfeleistungen des Aufnahmemitgliedstaats in Anspruch nehmen müssen, oder
d)
ein Familienangehöriger ist, der den Unionsbürger, der die Voraussetzungen des Buchstabens a), b) oder c) erfüllt, begleitet oder ihm nachzieht.
(2) Das Aufenthaltsrecht nach Absatz 1 gilt auch für Familienangehörige, die nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzen und die den Unionsbürger in den Aufnahmemitgliedstaat begleiten oder ihm nachziehen, sofern der Unionsbürger die Voraussetzungen des Absatzes 1 Buchstabe a), b) oder c) erfüllt.“
7 Art. 12 („Aufrechterhaltung des Aufenthaltsrechts der Familienangehörigen bei Tod oder Wegzug des Unionsbürgers“) der Richtlinie 2004/38 lautet:
„(1) Unbeschadet von Unterabsatz 2 berührt der Tod des Unionsbürgers oder sein Wegzug aus dem Aufnahmemitgliedstaat nicht das Aufenthaltsrecht seiner Familienangehörigen, die die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzen.
Bevor die Betroffenen das Recht auf Daueraufenthalt erwerben, müssen sie die Voraussetzungen des Artikels 7 Absatz 1 Buchstabe a), b), c) oder d) erfüllen.
(2) Unbeschadet von Unterabsatz 2 führt der Tod des Unionsbürgers für Familienangehörige, die nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzen und die sich im Aufnahmemitgliedstaat als Familienangehörige vor dem Tod des Unionsbürgers mindestens ein Jahr lang aufgehalten haben, nicht zum Verlust des Aufenthaltsrechts.
Bevor die Betroffenen das Recht auf Daueraufenthalt erwerben, bleibt ihr Aufenthaltsrecht an die Voraussetzung geknüpft, dass sie nachweisen können, dass sie Arbeitnehmer oder Selbstständige sind oder für sich und ihre Familienangehörigen über ausreichende Existenzmittel verfügen, so dass sie während ihres Aufenthalts keine Sozialhilfeleistungen des Aufnahmemitgliedstaats in Anspruch nehmen müssen, und dass sie über einen umfassenden Krankenversicherungsschutz im Aufnahmemitgliedstaat verfügen oder dass sie bereits im Aufnahmemitgliedstaat als Familienangehörige einer Person gelten, die diese Voraussetzungen erfüllt. Als ausreichende Existenzmittel gelten die in Artikel 8 Absatz 4 vorgesehenen Beträge.
Die betreffenden Familienangehörigen behalten ihr Aufenthaltsrecht ausschließlich auf persönlicher Grundlage.
(3) Der Wegzug des Unionsbürgers aus dem Aufnahmemitgliedstaat oder sein Tod führt weder für seine Kinder noch für den Elternteil, der die elterliche Sorge für die Kinder tatsächlich wahrnimmt, ungeachtet ihrer Staatsangehörigkeit, bis zum Abschluss der Ausbildung zum Verlust des Aufenthaltsrechts, wenn sich die Kinder im Aufnahmemitgliedstaat aufhalten und in einer Bildungseinrichtung zu Ausbildungszwecken eingeschrieben sind.“
8 Art. 13 („Aufrechterhaltung des Aufenthaltsrechts der Familienangehörigen bei Scheidung oder Aufhebung der Ehe oder bei Beendigung der eingetragenen Partnerschaft“) der Richtlinie 2004/38 bestimmt in Abs. 2:
„Unbeschadet von Unterabsatz 2 führt die Scheidung oder Aufhebung der Ehe oder die Beendigung der eingetragenen Partnerschaft im Sinne von Artikel 2 Nummer 2 Buchstabe b) für Familienangehörige eines Unionsbürgers, die nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzen, nicht zum Verlust des Aufenthaltsrechts, wenn
a)
die Ehe oder die eingetragene Partnerschaft im Sinne von Artikel 2 Nummer 2 Buchstabe b) bis zur Einleitung des gerichtlichen Scheidungs- oder Aufhebungsverfahrens oder bis zur Beendigung der eingetragenen Partnerschaft mindestens drei Jahre bestanden hat, davon mindestens ein Jahr im Aufnahmemitgliedstaat …
…
Bevor die Betroffenen das Recht auf Daueraufenthalt erwerben, bleibt ihr Aufenthaltsrecht an die Voraussetzung geknüpft, dass sie nachweisen können, dass sie Arbeitnehmer oder Selbstständige sind oder für sich und ihre Familienangehörigen über ausreichende Existenzmittel verfügen, so dass sie während ihres Aufenthalts keine Sozialhilfeleistungen des Aufnahmemitgliedstaats in Anspruch nehmen müssen, und dass sie über einen umfassenden Krankenversicherungsschutz im Aufnahmemitgliedstaat verfügen oder dass sie bereits im Aufnahmemitgliedstaat als Familienangehörige einer Person gelten, die diese Voraussetzungen erfüllt. Als ausreichende Existenzmittel gelten die in Artikel 8 Absatz 4 vorgesehenen Beträge.
Die betreffenden Familienangehörigen behalten ihr Aufenthaltsrecht ausschließlich auf persönlicher Grundlage.“
9 Art. 14 („Aufrechterhaltung des Aufenthaltsrechts“) Abs. 2 dieser Richtlinie sieht vor:
„Unionsbürgern und ihren Familienangehörigen steht das Aufenthaltsrecht nach den Artikeln 7, 12 und 13 zu, solange sie die dort genannten Voraussetzungen erfüllen.
…“
Irisches Recht
10 Die Vorschriften der Richtlinie 2004/38 sind durch die European Communities (Free Movement of Persons) Regulations 2006 (Verordnung von 2006 über die Freizügigkeit in den Europäischen Gemeinschaften) (SI 2006, Nr. 656, im Folgenden: Regulations von 2006) in irisches Recht umgesetzt worden.
Ausgangsverfahren und Vorlagefragen
Erster Ausgangsrechtsstreit
11 Der indische Staatsangehörige Singh reiste am 6. Februar 2002 mit einem Studentenvisum nach Irland ein und hielt sich anschließend legal in diesem Mitgliedstaat auf.
12 Am 11. November 2005 heiratete Herr Singh eine lettische Staatsangehörige, die in Irland rechtmäßig einer Erwerbstätigkeit nachging und sich dort legal aufhielt. Aus dieser Ehe ging am 3. Dezember 2007 ein Kind hervor, das ebenfalls die lettische Staatsangehörigkeit besitzt.
13 Im Anschluss an die Verkündung des Urteils Metock u. a. (C‑127/08, EU:C:2008:449) wurde Herrn Singh nach Maßgabe der Richtlinie 2004/38 eine fünf Jahre gültige Aufenthaltserlaubnis für Irland als Ehegatte einer Unionsbürgerin gewährt, die sich in Irland aufhielt und dort Rechte aus dem EU-Vertrag ausübte.
14 Herrn Singhs Ehefrau war zwischen 2004 und Juni 2009 ununterbrochen in verschiedenen Beschäftigungsverhältnissen erwerbstätig.
15 Im Jahr 2009 eröffnete und betrieb Herr Singh mit einem Geschäftspartner in Irland ein Pizzarestaurant im Rahmen eines für ursprünglich zehn Jahre geschlossenen Franchisevertrags vom 29. Mai 2009. Danach kam er für den Lebensunterhalt seiner Familie auf, während sich seine Ehefrau zu Hause um den gemeinsamen Sohn kümmerte.
16 Nachdem sich die Eheleute Singh Eheproblemen gegenübersahen, verließ Frau Singh Irland im Februar 2010 und betrieb im September 2010 das Scheidungsverfahren in Lettland. Die Ehe wurde mit Wirkung vom 12. Mai 2011 geschieden.
17 Im Anschluss an die Scheidung stellte Herr Singh am 14. Dezember 2011 beim Minister einen Antrag auf Aufrechterhaltung seiner Aufenthaltserlaubnis und auf Erteilung eines Titels zum dauerhaften Aufenthalt in Irland nach der Richtlinie 2004/38 und den nationalen Vorschriften zu deren Umsetzung, den er damit begründete, er sei mit einer Unionsbürgerin verheiratet gewesen, sei Vater eines Unionsbürgers und erfülle die gesetzlichen Voraussetzungen, da seine Ehe mindestens drei Jahre, davon ein Jahr in Irland, bestanden habe. In dieser Zeit war Herr Singh entweder als Arbeitnehmer oder als Selbständiger erwerbstätig.
18 Mit Entscheidung vom 30. April 2012 lehnte der Minister diese Anträge insbesondere aus folgenden Gründen ab:
„… [D]a [Ihre Exfrau] das [irische] Staatsgebiet 2010 verlassen hat, ist bei ihr nicht mehr davon auszugehen, dass sie in diesem Mitgliedstaat gemäß Regulation 6(2)(b) der Regulations [von 2006] ihre Rechte aus dem EU-Vertrag ausübt und dass ihr das Aufenthaltsrecht in diesem Mitgliedstaat nach Regulation 6 [dieser Regulations] zusteht. Sie können daher kein Aufenthaltsrecht nach Regulation 6(2)(b) der Regulations von 2006 aus einem Aufenthaltsrecht [Ihrer Exfrau] für sich ableiten.“
19 Gegen diese Entscheidung legte Herr Singh einen Rechtsbehelf mit der Begründung ein, dass er ein eigenes Recht auf Aufenthalt in Irland gemäß Regulation 10 der Regulations von 2006 habe, mit der Art. 13 der Richtlinie 2004/38 umgesetzt worden sei.
20 Mit Schreiben vom 12. November 2012 teilte das Prüfungsreferat (Review Unit) des Ministers Herrn Singh mit, dass sein Antrag abgelehnt worden sei.
21 In Anbetracht der besonderen Lage von Herrn Singh wurde ihm jedoch mit demselben Schreiben eine – verlängerbare – Aufenthaltserlaubnis für Irland für ein Jahr erteilt, die es ihm ermöglichte, sich dort aufzuhalten und ohne Arbeitserlaubnis einer Erwerbstätigkeit nachzugehen. Auf diese Weise konnte Herr Singh in diesem Mitgliedstaat nach dem nationalen Recht Geschäftstätigkeiten nachgehen.
Zweiter Ausgangsrechtsstreit
22 Herr Njume, der erklärte, die kamerunische Staatsangehörigkeit zu besitzen, beantragte am 6. Januar 2004 Asyl in Deutschland.
23 Er gibt an, er habe im Januar 2005 eine deutsche Staatsangehörige kennengelernt, mit der er eine Beziehung unterhalten und in der Folge ungefähr 18 Monate in Eslohe (Deutschland) gelebt habe.
24 Herr Njume reiste illegal nach Irland ein und beantragte dort am 4. September 2006 Asyl. Am 4. Januar 2007 heiratete er seine Lebensgefährtin vor dem Standesamt von Cork (Irland).
25 Im Anschluss an die Verkündung des Urteils Metock u. a. (C‑127/08, EU:C:2008:449) wurde Herrn Njume mit Entscheidung vom 3. Dezember 2008 nach den Vorgaben der Richtlinie 2004/38 eine fünf Jahre gültige Aufenthaltserlaubnis für Irland als Ehegatte einer Unionsbürgerin gewährt, die sich in Irland aufhielt und dort Rechte aus dem EU-Vertrag ausübte. Zu dieser auf den 11. Oktober 2007 zurückwirkenden Aufenthaltserlaubnis wurde eine Aufenthaltskarte ausgestellt.
26 Herr Njume, der in der Folge eine Beschäftigung aufnahm, trägt vor, seine Ehefrau und er hätten, außer drei jeweils zehntägigen Aufenthalten im Vereinigten Königreich zum Zweck der Arbeitsuche seiner Frau, während der gesamten Zeit von Ende 2006 bis Januar 2011 in Irland gelebt. Aufgrund seiner eigenen Einkünfte habe er von 2008 bis 2011 für den Lebensunterhalt seiner Frau gesorgt.
27 Mit Schreiben vom 25. Februar 2011 wurde der Minister darüber informiert, dass Herrn Njumes Frau Anfang 2011 Irland verlassen habe und nach Deutschland zurückgekehrt sei. Mit Schreiben vom 25. März 2011 machte Herr Njume geltend, im Fall des Wegzugs der Unionsbürgerin aus diesem Mitgliedstaat bestehe nach Regulation 9 der Regulations von 2006, mit der Art. 12 der Richtlinie 2004/38 umgesetzt worden sei, sein Aufenthaltsrecht in Irland fort.
28 Am 14. Juni 2011 beantragte Herrn Njumes Frau die Ehescheidung im Vereinigten Königreich.
29 Mit Schreiben vom 12. Juli 2011 teilte der Minister Herrn Njume mit, dass auf seinen Fall Regulation 9 der Regulations von 2006 nicht anwendbar sei. Mit Schreiben vom 22. Juli 2011 unterrichtete dieser den Minister über den Scheidungsantrag.
30 Am 21. Dezember 2011 erließ der High Court of Justice (England & Wales), Family Division (Vereinigtes Königreich), ein vorläufiges Urteil, in dem er befand, dass am selben Tag festgestellt worden sei, dass Herr Njume und seine Ehefrau „unmittelbar vor der Einreichung des Scheidungsantrags für einen ununterbrochenen Zeitraum von mindestens zwei Jahren getrennt gelebt“ hätten. Ein endgültiges Urteil erging am 28. März 2012.
31 Nach dieser Scheidung beantragte Herr Njume, sein Recht auf Aufenthalt in Irland nach Regulation 10 der Regulations von 2006 aufrechtzuerhalten, mit der Art. 13 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38 umgesetzt worden war.
32 Mit Entscheidung vom 21. September 2012 versagte der Minister Herrn Njume dieses Aufenthaltsrecht gemäß Regulation 10(2) der Regulations von 2006.
33 Durch Entscheidung vom 12. September 2013 wurde Herrn Njume nach innerstaatlichem Recht eine auf drei Jahre, d. h. bis 12. September 2016, befristete verlängerbare Aufenthaltserlaubnis für Irland erteilt.
Dritter Ausgangsrechtsstreit
34 Herr Aly, ein ägyptischer Staatsangehöriger, reiste am 14. März 2007 mit einem Besuchervisum nach Irland ein, das ihn bis zum 14. Juni 2007 zum Aufenthalt in diesem Mitgliedstaat berechtigte. Am 12. Juli 2007 heiratete Herr Aly in Irland eine litauische Staatsangehörige. Am 21. August 2008 wurde ihm rückwirkend zum 3. Februar 2008 eine Aufenthaltskarte nach den Regulations von 2006 erteilt. Diese Karte war fünf Jahre, bis zum 2. Februar 2013, gültig.
35 Herrn Alys Ehefrau war in Irland vom 1. Mai 2004 bis Januar 2009 erwerbstätig, als sie ihren Arbeitsplatz wegen des wirtschaftlichen Abschwungs verlor. Bis Juni 2009 bezog sie Leistungen bei Arbeitslosigkeit. Die Eheleute Aly lebten von den Einkünften Herrn Alys, während seine Ehefrau auf Arbeitsuche war. Im März 2011 begab sich diese in das Vereinigte Königreich, um dort für kurze Zeit einer Beschäftigung nachzugehen.
36 Mit Schreiben vom 14. August 2012 teilte Herr Aly der irischen Einwanderungs- und Einbürgerungsbehörde (Irish Naturalisation and Immigration Service, im Folgenden: INIS) mit, dass sich die Eheleute innerhalb von sechs Monaten, nachdem seine Ehefrau nach London (Vereinigtes Königreich) umgezogen sei, um dort zu arbeiten, getrennt hätten. Seine Frau habe in London bleiben wollen, während er einen Umzug dorthin nicht gewünscht habe.
37 Mit Schreiben vom 3. Oktober 2012 teilte der INIS Herrn Aly mit, er beabsichtige, dessen Aufenthaltserlaubnis für Irland zu entziehen, und forderte ihn zur Stellungnahme auf.
38 Mit Schreiben vom 15. Oktober 2012 teilte Herr Aly dem INIS mit, dass in Litauen ein Scheidungsverfahren anhängig sei und in Kürze ein Scheidungsurteil ergehen werde. Er machte geltend, nach Art. 13 der Richtlinie 2004/38 habe er ein Recht auf Aufenthalt in Irland.
39 Mit Entscheidung vom 12. November 2012 (im Folgenden: streitige Entscheidung) entzog der INIS Herrn Aly die Aufenthaltserlaubnis für Irland. In dieser Entscheidung hieß es u. a.:
„Außerdem ist festzustellen, dass [Ihre Ehefrau] seit Langem das Staatsgebiet verlassen und hier keine Rechte aus dem EU-Vertrag gemäß Regulation 6(2) [der Regulations von 2006] mehr ausgeübt hat. Insoweit beachten Sie bitte, dass die Gründe, aus denen Ihnen eine Aufenthaltserlaubnis gewährt worden ist, entfallen sind, da Ihr abgeleitetes Recht nach den Vorschriften [der Regulations von 2006] ab dem Zeitpunkt nicht mehr bestand, zu dem Ihre Ehefrau als Unionsbürgerin die Ausübung von Rechten aus dem EU-Vertrag im Staatsgebiet eingestellt hat. Regulation 10(2) [der Regulations von 2006] betrifft die Aufrechterhaltung einer Aufenthaltserlaubnis auf individueller und persönlicher Grundlage im Scheidungsfall; da Sie jedoch nicht geschieden sind und Ihr Aufenthaltsrecht in dem Zeitpunkt entfallen ist, zu dem [Ihre Ehefrau] die Ausübung von Rechten aus dem EU-Vertrag im Staatsgebiet eingestellt hat, haben Sie keinen Anspruch auf Aufrechterhaltung dieses Rechts.“
40 Nachdem ihm die streitige Entscheidung mitgeteilt worden war, wurde Herr Aly, wie ihm aufgegeben worden war, bei den zuständigen Einwanderungsbehörden vorstellig, und ein Beamter vernichtete seine Aufenthaltskarte. Dieser Beamte setzte sich auch mit dem Arbeitgeber von Herrn Aly in Verbindung, um diesen an der Fortsetzung seiner Erwerbstätigkeit zu hindern.
41 Am 10. Dezember 2012 ließ der High Court den Antrag von Herrn Aly auf gerichtliche Nachprüfung der streitigen Entscheidung zu.
42 Im Anschluss an dieses Verfahren wurde Herrn Aly durch Entscheidung vom 17. Dezember 2012 eine vorübergehende Arbeits- und Aufenthaltserlaubnis für das irische Hoheitsgebiet erteilt.
43 Am 12. März 2013 wurde den Betroffenen von den litauischen Behörden ein Scheidungszeugnis erteilt.
44 In diesem Kontext hat der High Court in den drei Ausgangsrechtsstreitigkeiten beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
1. Behält ein Drittstaatsangehöriger sein Recht auf Aufenthalt im Aufnahmemitgliedstaat, wenn seine Ehe mit einer Unionsbürgerin geschieden wird und die Scheidung stattfindet, nachdem die Unionsbürgerin aus dem Aufnahmemitgliedstaat, in dem sie Unionsrechte ausübte, weggezogen ist, und die Art. 7 und 13 Abs. 2 Unterabs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2004/38/EG einschlägig sind? Falls die Frage verneint wird: Hat der Drittstaatsangehörige nach dem Wegzug der Unionsbürgerin aus dem Aufnahmemitgliedstaat bis zur Scheidung ein Recht auf Aufenthalt im Aufnahmemitgliedstaat?
2. Sind die Anforderungen von Art. 7 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2004/38/EG erfüllt, wenn eine Ehegattin, die Unionsbürgerin ist, angibt, über ausreichende Existenzmittel im Sinne von Art. 8 Abs. 4 dieser Richtlinie zu verfügen, und diese Mittel zum Teil aus den Mitteln des Ehegatten stammen, der nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzt?
3. Falls die zweite Frage verneint wird: Haben Personen wie die Kläger (abgesehen von den Rechten nach der Richtlinie) nach (sonstigem) Unionsrecht das Recht, in einem Aufnahmemitgliedstaat eine Erwerbstätigkeit auszuüben, um im Sinne von Art. 7 der Richtlinie „ausreichende Existenzmittel“ bereitzustellen oder hierzu einen Beitrag zu leisten?
Zu den Vorlagefragen
Vorbemerkungen
45 Die vorliegende Rechtssache betrifft drei Drittstaatsangehörige, die aufgrund ihrer Ehen mit Unionsbürgern, die sich in Irland aufhielten und dort erwerbstätig waren, in ihrer Eigenschaft als Ehegatten, die einen Unionsbürger in den Aufnahmemitgliedstaat begleiten oder ihm nachziehen, nach Art. 7 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38 ein Recht auf Aufenthalt in diesem Mitgliedstaat für die Dauer von drei Monaten bis fünf Jahren erworben haben.
46 In diesen drei Ausgangsrechtsstreitigkeiten ist unstreitig, dass der jeweilige Ehegatte, der Unionsbürger ist, das irische Hoheitsgebiet vor Ablauf dieser Dauer verlassen hat, um sich in einem anderen Mitgliedstaat niederzulassen, während der betreffende Ehegatte, der Drittstaatsangehöriger ist, in Irland geblieben ist.
47 Unstreitig ist ebenfalls, dass die Ehegatten, die Unionsbürger sind, die Scheidung beantragt haben, was zu gerichtlichen Entscheidungen geführt hat, durch die die Ehen zwischen diesen Unionsbürgern und den betreffenden Drittstaatsangehörigen geschieden wurden.
Zur ersten Frage
48 Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 13 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38 dahin auszulegen ist, dass ein Drittstaatsangehöriger, der von einem Unionsbürger geschieden wurde, wobei die Ehe bis zur Einleitung des gerichtlichen Scheidungsverfahrens mindestens drei Jahre, davon mindestens ein Jahr im Aufnahmemitgliedstaat, bestanden hat, nach dieser Bestimmung die Aufrechterhaltung des Rechts auf Aufenthalt in diesem Mitgliedstaat beanspruchen kann, wenn der Scheidung der Wegzug des Ehegatten, der Unionsbürger ist, aus diesem Mitgliedstaat vorausgegangen ist.
49 Zu klären sind somit die Voraussetzungen für die Anwendung von Art. 13 Abs. 2 Unterabs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2004/38 sowie insbesondere die Frage, ob sich der die Unionsbürgerschaft besitzende Ehegatte eines Drittstaatsangehörigen bis zum Zeitpunkt der Ehescheidung nach Maßgabe von Art. 7 Abs. 1 dieser Richtlinie im Aufnahmemitgliedstaat aufhalten muss, damit sich der Drittstaatsangehörige auf Art. 13 Abs. 2 der Richtlinie berufen kann.
50 Was das Aufenthaltsrecht von Drittstaatsangehörigen, die Familienangehörige eines Unionsbürgers sind, im Aufnahmemitgliedstaat angeht, ist zunächst auf die ständige Rechtsprechung des Gerichtshofs hinzuweisen, wonach die Drittstaatsangehörigen durch die Richtlinie 2004/38 verliehenen Rechte keine eigenständigen Rechte, sondern Rechte sind, die sich daraus ableiten, dass ein Unionsbürger sein Recht auf Freizügigkeit ausgeübt hat. Der Zweck und die Rechtfertigung dieser abgeleiteten Rechte beruhen auf der Feststellung, dass die Nichtanerkennung dieser Rechte den Unionsbürger in seiner Freizügigkeit beeinträchtigen könnte, weil ihn dies davon abhalten könnte, von seinem Recht Gebrauch zu machen, in den Aufnahmemitgliedstaat einzureisen und sich dort aufzuhalten (vgl. in diesem Sinne Urteil O. und B., C‑456/12, EU:C:2014:135, Rn. 36 und 45 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).
51 Weiter ist darauf hinzuweisen, dass sich nicht für alle Drittstaatsangehörigen aus der Richtlinie 2004/38 das Recht ergibt, in einen Mitgliedstaat einzureisen und sich dort aufzuhalten, sondern nur für diejenigen, die im Sinne von Art. 2 Nr. 2 dieser Richtlinie „Familienangehörige“ eines Unionsbürgers sind, der sein Recht auf Freizügigkeit ausgeübt hat, indem er sich in einem anderen Mitgliedstaat als dem, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, niedergelassen hat (Urteil Iida, C‑40/11, EU:C:2012:691, Rn. 51 und die dort angeführte Rechtsprechung).
52 Außerdem muss nach Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 der Familienangehörige des Unionsbürgers, der sich in einen anderen als den Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, begibt oder sich dort aufhält, den Unionsbürger begleiten oder ihm nachziehen, um Berechtigter nach dieser Richtlinie sein zu können (vgl. Urteil Iida, C‑40/11, EU:C:2012:691, Rn. 61).
53 Art. 7 der Richtlinie 2004/38, der das Recht auf Aufenthalt für mehr als drei Monate betrifft, verlangt ebenfalls, dass die Familienangehörigen eines Unionsbürgers, die nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzen, den betreffenden Unionsbürger in den Aufnahmemitgliedstaat „begleiten“ oder ihm dorthin „nachziehen“, um dort ein Aufenthaltsrecht beanspruchen zu können (Urteil Metock u. a., C‑127/08, EU:C:2008:449, Rn. 86).
54 Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs ist die Voraussetzung, dass der Drittstaatsangehörige den Unionsbürger begleiten oder ihm nachziehen muss, so zu verstehen, dass sie nicht auf die Verpflichtung der Eheleute abstellt, unter demselben Dach zusammen zu wohnen, sondern auf diejenige, dass beide in demselben Mitgliedstaat bleiben, in dem der Ehegatte, der Unionsbürger ist, von seinem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch macht (vgl. in diesem Sinne Urteil Ogieriakhi, C‑244/13, EU:C:2014:2068, Rn. 39).
55 So können sich Drittstaatsangehörige, die Familienangehörige eines Unionsbürgers sind, auf das in der Richtlinie 2004/38 vorgesehene Aufenthaltsrecht nur im Aufnahmemitgliedstaat berufen, in dem der Unionsbürger wohnt, und nicht in einem anderen Mitgliedstaat (vgl. in diesem Sinne Urteil Iida, C‑40/11, EU:C:2012:691, Rn. 63 und 64).
56 Überdies erkennt Art. 7 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38 den die Staatsangehörigkeit eines Drittlands besitzenden Familienangehörigen eines Unionsbürgers, die diesen in den Aufnahmemitgliedstaat begleiten oder ihm nachziehen, ein länger als drei Monate währendes Aufenthaltsrecht in diesem Mitgliedstaat zu, sofern der Unionsbürger selbst die Voraussetzungen von Art. 7 Abs. 1 Buchst. a, b oder c dieser Richtlinie erfüllt.
57 Nach Art. 14 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38 schließlich wird das Recht der Familienangehörigen eines Unionsbürgers, sich gemäß Art. 7 Abs. 2 dieser Richtlinie im Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats aufzuhalten, nur aufrechterhalten, wenn diese Familienangehörigen die in dieser Bestimmung genannten Voraussetzungen erfüllen.
58 Verlässt ein Unionsbürger, der sich in einer Situation wie derjenigen der Ehefrauen der Kläger der Ausgangsverfahren befindet, den Aufnahmemitgliedstaat und lässt sich in einem anderen Mitgliedstaat oder einem Drittland nieder, erfüllt folglich der einem Drittstaat angehörende Ehegatte dieses Unionsbürgers nicht mehr die Voraussetzungen für ein Recht auf Aufenthalt im Aufnahmemitgliedstaat nach Art. 7 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38. Zu prüfen ist jedoch, ob und gegebenenfalls unter welchen Voraussetzungen dieser Ehegatte ein Aufenthaltsrecht nach Art. 13 Abs. 2 Unterabs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2004/38 beanspruchen kann, wenn die Ehe nach dem Wegzug geschieden wurde.
59 Nach Art. 13 Abs. 2 Unterabs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2004/38 führt die Scheidung der Ehe für Familienangehörige eines Unionsbürgers, die nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzen, nicht zum Verlust des Aufenthaltsrechts, wenn „die Ehe … bis zur Einleitung des gerichtlichen [Scheidungsverfahrens] … mindestens drei Jahre bestanden hat, davon mindestens ein Jahr im Aufnahmemitgliedstaat“.
60 Damit entspricht diese Bestimmung dem im 15. Erwägungsgrund dieser Richtlinie genannten Zweck, den Familienangehörigen für den Fall, dass der Unionsbürger verstirbt, die Ehe geschieden oder aufgehoben oder die eingetragene Partnerschaft beendet wird, dadurch einen rechtlichen Schutz zu gewähren, dass Maßnahmen getroffen werden, damit sichergestellt ist, dass in solchen Fällen Familienangehörigen, die sich bereits im Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats aufhalten, das Aufenthaltsrecht ausschließlich auf persönlicher Grundlage erhalten bleibt.
61 Die in der genannten Bestimmung enthaltene Bezugnahme auf den Begriff „Aufnahmemitgliedstaat“, der in Art. 2 Nr. 3 der Richtlinie 2004/38 lediglich mit dem Hinweis auf die Ausübung des Rechts des Unionsbürgers auf Freizügigkeit oder Aufenthalt definiert wird, zum einen und auf die „Einleitung des gerichtlichen Scheidungs[verfahrens]“ zum anderen, impliziert notwendig, dass das Aufenthaltsrecht des einem Drittstaat angehörenden Ehegatten des Unionsbürgers nur dann auf der Grundlage von Art. 13 Abs. 2 Unterabs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2004/38 aufrechterhalten werden kann, wenn der Mitgliedstaat, in dem sich dieser Drittstaatsangehörige aufhält, der „Aufnahmemitgliedstaat“ im Sinne von Art. 2 Nr. 3 der Richtlinie 2004/38 zum Zeitpunkt der Einleitung des gerichtlichen Scheidungsverfahrens ist.
62 Das ist jedoch nicht der Fall, wenn der Unionsbürger vor der Einleitung dieses Verfahrens den Mitgliedstaat, in dem sich sein Ehegatte aufhält, verlässt, um sich in einem anderen Mitgliedstaat oder einem Drittstaat niederzulassen. Denn in diesem Fall endet das abgeleitete Aufenthaltsrecht des Drittstaatsangehörigen aus Art. 7 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38 mit dem Wegzug des Unionsbürgers und kann somit nicht mehr auf der Grundlage von Art. 13 Abs. 2 Unterabs. 1 Buchst. a dieser Richtlinie aufrechterhalten werden.
63 Daraus folgt, dass, wenn der Drittstaatsangehörige, der Ehegatte eines Unionsbürgers ist, zum Zeitpunkt der Einleitung des gerichtlichen Scheidungsverfahrens ein Aufenthaltsrecht nach Art. 7 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38 hatte, dieses Recht sowohl während des Scheidungsverfahrens als auch nach der Scheidung nach Maßgabe von Art. 13 Abs. 2 Unterabs. 1 Buchst. a dieser Richtlinie aufrechterhalten wird, sofern die Voraussetzungen von Unterabs. 2 dieser Bestimmung erfüllt sind.
64 Allerdings haben in den drei Ausgangsrechtsstreitigkeiten die die Unionsbürgerschaft besitzenden Ehegatten der Drittstaatsangehörigen den Aufnahmemitgliedstaat verlassen und sich in einem anderen Mitgliedstaat niedergelassen, bevor das Scheidungsverfahren eingeleitet worden war.
65 Aus Rn. 58 des vorliegenden Urteils ergibt sich, dass der einem Drittstaat angehörende Ehegatte nach dem Wegzug seines die Unionsbürgerschaft besitzenden Ehegatten nicht mehr die Voraussetzungen für ein Recht nach Art. 7 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38 auf Aufenthalt im Aufnahmemitgliedstaat erfüllt.
66 Daher ist festzustellen, dass sich der mit einem Drittstaatsangehörigen verheiratete Unionsbürger bis zum Zeitpunkt der Einleitung des gerichtlichen Scheidungsverfahrens nach Maßgabe von Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 im Aufnahmemitgliedstaat aufhalten muss, damit der Drittstaatsangehörige aufgrund von Art. 13 Abs. 2 dieser Richtlinie eine Aufrechterhaltung seines Rechts auf Aufenthalt in diesem Mitgliedstaat beanspruchen kann.
67 Daraus folgt, dass, wie die Generalanwältin in Nr. 27 ihrer Schlussanträge hervorgehoben hat, unter Umständen wie den im Ausgangsverfahren fraglichen das Aufenthaltsrecht des im Aufnahmemitgliedstaat zurückbleibenden Ehegatten mit dem Wegzug des Unionsbürgers bereits erloschen ist. Ein späterer Scheidungsantrag kann indessen nicht zum Wiederaufleben dieses Rechts führen, da Art. 13 der Richtlinie 2004/38 nur von der „Aufrechterhaltung“ eines bestehenden Aufenthaltsrechts spricht.
68 Das bedeutet nicht, dass es nicht möglich wäre, dem Drittstaatsangehörigen unter Umständen wie den im Ausgangsverfahren gegebenen nach nationalem Recht, das einen erweiterten Schutz gewähren kann, wie im vorliegenden Fall die Erlaubnis zu erteilen, sich weiter im betreffenden Mitgliedstaat aufzuhalten (vgl. in diesem Sinne Urteil Melloni, C‑399/11, EU:C:2013:107, Rn. 60).
69 Im Übrigen ist in den drei Ausgangsrechtsstreitigkeiten den Klägern nach ihrer Scheidung auf der Grundlage des nationalen Rechts eine vorübergehende Erlaubnis zum Aufenthalt und zur Erwerbstätigkeit in Irland erteilt worden, aufgrund deren sie sich in diesem Mitgliedstaat weiter legal aufhalten konnten, wobei diese Erlaubnis, wie sich aus der Vorlageentscheidung ergibt, grundsätzlich verlängerbar war.
70 Unter Berücksichtigung der vorstehenden Ausführungen ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 13 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38 dahin auszulegen ist, dass ein Drittstaatsangehöriger, der von einem Unionsbürger geschieden wurde, wobei die Ehe bis zur Einleitung des gerichtlichen Scheidungsverfahrens mindestens drei Jahre, davon mindestens ein Jahr im Aufnahmemitgliedstaat, bestanden hat, nach dieser Bestimmung nicht die Aufrechterhaltung des Rechts auf Aufenthalt in diesem Mitgliedstaat beanspruchen kann, wenn der Einleitung des gerichtlichen Scheidungsverfahrens der Wegzug des Ehegatten, der Unionsbürger ist, aus diesem Mitgliedstaat vorausgegangen ist.
Zur zweiten Frage
71 Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 7 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2004/38 dahin auszulegen ist, dass ein Unionsbürger auch dann über ausreichende Existenzmittel für sich und seine Familienangehörigen verfügt – so dass sie während ihres Aufenthalts keine Sozialhilfeleistungen des Aufnahmemitgliedstaats in Anspruch nehmen müssen –, wenn diese Mittel zum Teil aus denen des einem Drittstaat angehörenden Ehegatten stammen.
72 Wie der Vorlageentscheidung zu entnehmen ist, ist in den drei Ausgangsrechtsstreitigkeiten festgestellt worden, dass der die Unionsbürgerschaft besitzende Ehegatte vor seinem Wegzug aus dem Aufnahmemitgliedstaat eine Zeitlang in diesem Mitgliedstaat nicht erwerbstätig war, so dass der einem Drittstaat angehörende Ehegatte anhand der Einkünfte aus seiner in diesem Mitgliedstaat ausgeübten Tätigkeit den Lebensunterhalt der Familie bestritt.
73 Aus Art. 7 Abs. 1 Buchst. b und Abs. 2 der Richtlinie 2004/38 ergibt sich, dass die Familienangehörigen eines Unionsbürgers, der sich im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats aufhält, ohne dort eine unselbständige oder selbständige Tätigkeit auszuüben, den Unionsbürger ungeachtet ihrer Staatsangehörigkeit begleiten oder ihm nachziehen dürfen, sofern Letzterer für sich und seine Familienangehörigen über ausreichende Existenzmittel und einen umfassenden Krankenversicherungsschutz im Aufnahmemitgliedstaat verfügt (Urteil Ibrahim und Secretary of State for the Home Department, C‑310/08, EU:C:2010:80, Rn. 28).
74 Der Gerichtshof hat bereits entschieden, dass die in dieser Bestimmung enthaltene Formulierung „über die erforderlichen Mittel verfügen“ dahin auszulegen ist, dass es ausreicht, wenn dem Unionsbürger diese Mittel zur Verfügung stehen, ohne dass die Bestimmung Anforderungen an die Herkunft der Mittel stellt, so dass diese auch von einem Drittstaatsangehörigen stammen können (vgl. Urteil Alokpa und Moudoulou, C‑86/12, EU:C:2013:645, Rn. 27 und die dort angeführte Rechtsprechung).
75 Wie der Gerichtshof ebenfalls bereits festgestellt hat, würde nämlich mit einer Auslegung der Voraussetzung der ausreichenden Existenzmittel dahin, dass der Betreffende selbst über solche Mittel verfügen muss, ohne dass er sich insoweit auf Existenzmittel eines ihn begleitenden Familienangehörigen berufen könnte, dieser Voraussetzung, wie sie in der Richtlinie 2004/38 formuliert ist, ein Erfordernis in Bezug auf die Herkunft der Mittel hinzugefügt, das einen unverhältnismäßigen Eingriff in die Ausübung des durch Art. 21 AEUV gewährleisteten Grundrechts auf Freizügigkeit und Aufenthalt darstellen würde, da es für die Erreichung des verfolgten Ziels – Schutz der öffentlichen Finanzen der Mitgliedstaaten – nicht erforderlich ist (vgl. in diesem Sinne Urteil Zhu und Chen, C‑200/02, EU:C:2004:639, Rn. 33).
76 Folglich schließt der Umstand, dass ein Teil der Existenzmittel, über die der Unionsbürger verfügt, aus Mitteln stammt, die von dem einem Drittstaat angehörenden Ehegatten aus der von diesem im Aufnahmemitgliedstaat ausgeübten Tätigkeit bezogen werden, es nicht aus, dass die in Art. 7 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2004/38 enthaltene Voraussetzung der ausreichenden Existenzmittel als erfüllt anzusehen ist.
77 Aufgrund der vorstehenden Ausführungen ist auf die zweite Frage zu antworten, dass Art. 7 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2004/38 dahin auszulegen ist, dass ein Unionsbürger auch dann über ausreichende Existenzmittel für sich und seine Familienangehörigen verfügt, so dass sie während ihres Aufenthalts keine Sozialhilfeleistungen des Aufnahmemitgliedstaats in Anspruch nehmen müssen, wenn diese Mittel zum Teil aus denen des einem Drittstaat angehörenden Ehegatten stammen.
Zur dritten Frage
78 Angesichts der Antwort auf die zweite Frage ist die dritte Frage nicht zu beantworten.
Kosten
79 Für die Parteien der Ausgangsverfahren ist das Verfahren ein Zwischenstreit in den beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreitigkeiten; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Große Kammer) für Recht erkannt:
1. Art. 13 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 und zur Aufhebung der Richtlinien 64/221/EWG, 68/360/EWG, 72/194/EWG, 73/148/EWG, 75/34/EWG, 75/35/EWG, 90/364/EWG, 90/365/EWG und 93/96/EWG ist dahin auszulegen, dass ein Drittstaatsangehöriger, der von einem Unionsbürger geschieden wurde, wobei die Ehe bis zur Einleitung des gerichtlichen Scheidungsverfahrens mindestens drei Jahre, davon mindestens ein Jahr im Aufnahmemitgliedstaat, bestanden hat, nach dieser Bestimmung nicht die Aufrechterhaltung des Rechts auf Aufenthalt in diesem Mitgliedstaat beanspruchen kann, wenn der Einleitung des gerichtlichen Scheidungsverfahrens der Wegzug des Ehegatten, der Unionsbürger ist, aus diesem Mitgliedstaat vorausgegangen ist.
2. Art. 7 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2004/38 ist dahin auszulegen, dass ein Unionsbürger auch dann über ausreichende Existenzmittel für sich und seine Familienangehörigen verfügt, so dass sie während ihres Aufenthalts keine Sozialhilfeleistungen des Aufnahmemitgliedstaats in Anspruch nehmen müssen, wenn diese Mittel zum Teil aus denen des einem Drittstaat angehörenden Ehegatten stammen.
Unterschriften
(*1) Verfahrenssprache: Englisch.
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Urteil des Gerichtshofs (Große Kammer) vom 18. Dezember 2014.#The Queen, auf Antrag von Sean Ambrose McCarthy u. a. gegen Secretary of State for the Home Department.#Vorabentscheidungsersuchen des High Court of Justice [England & Wales], Queen’s Bench Division [Administrative Court].#Unionsbürgerschaft – Richtlinie 2004/38/EG – Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats frei zu bewegen und aufzuhalten – Recht auf Einreise – Familienangehörige eines Unionsbürgers, die die Staatsangehörigkeit eines Drittstaats besitzen und im Besitz einer von einem Mitgliedstaat ausgestellten Aufenthaltskarte sind – Nationale Rechtsvorschriften, nach denen die Einreise in das nationale Hoheitsgebiet von der vorherigen Beschaffung einer Einreiseerlaubnis abhängt – Art. 35 der Richtlinie 2004/38/EG – Art. 1 des Protokolls (Nr. 20) über die Anwendung bestimmter Aspekte des Artikels 26 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union auf das Vereinigte Königreich und auf Irland.#Rechtssache C‑202/13.
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62013CJ0202
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ECLI:EU:C:2014:2450
| 2014-12-18T00:00:00 |
Szpunar, Gerichtshof
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Sammlung der Rechtsprechung – allgemein
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62013CJ0202
URTEIL DES GERICHTSHOFS (Große Kammer)
18. Dezember 2014 (*1)
„Unionsbürgerschaft — Richtlinie 2004/38/EG — Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats frei zu bewegen und aufzuhalten — Recht auf Einreise — Familienangehörige eines Unionsbürgers, die die Staatsangehörigkeit eines Drittstaats besitzen und im Besitz einer von einem Mitgliedstaat ausgestellten Aufenthaltskarte sind — Nationale Rechtsvorschriften, nach denen die Einreise in das nationale Hoheitsgebiet von der vorherigen Beschaffung einer Einreiseerlaubnis abhängt — Art. 35 der Richtlinie 2004/38/EG — Art. 1 des Protokolls (Nr. 20) über die Anwendung bestimmter Aspekte des Artikels 26 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union auf das Vereinigte Königreich und auf Irland“
In der Rechtssache C‑202/13
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom High Court of Justice (England & Wales), Queen’s Bench Division (Administrative Court) (Vereinigtes Königreich), mit Entscheidung vom 25. Januar 2013, beim Gerichtshof eingegangen am 17. April 2013, in dem Verfahren
The Queen, auf Antrag von
Sean Ambrose McCarthy,
Helena Patricia McCarthy Rodriguez,
Natasha Caley McCarthy Rodriguez
gegen
Secretary of State for the Home Department
erlässt
DER GERICHTSHOF (Große Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten V. Skouris, des Vizepräsidenten K. Lenaerts, der Kammerpräsidentin R. Silva de Lapuerta, der Kammerpräsidenten M. Ilešič, T. von Danwitz (Berichterstatter) und S. Rodin, der Kammerpräsidentin K. Jürimäe, der Richter A. Rosas, E. Juhász und A. Arabadjiev, der Richterin C. Toader, der Richter M. Safjan und D. Šváby, der Richterin M. Berger und des Richters F. Biltgen,
Generalanwalt: M. Szpunar,
Kanzler: L. Hewlett, Hauptverwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 4. März 2014,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
—
von Herrn McCarthy und Frau McCarthy Rodriguez sowie ihres Kindes Natasha Caley McCarthy Rodriguez, vertreten durch M. Henderson und D. Lemer, Barristers, beauftragt durch K. O’Rourke, Solicitor,
—
der Regierung des Vereinigten Königreichs, vertreten durch S. Brighouse und J. Beeko als Bevollmächtigte im Beistand von T. Ward, QC, D. Grieve, QC, und G. Facenna, Barrister,
—
der griechischen Regierung, vertreten durch T. Papadopoulou als Bevollmächtigte,
—
der spanischen Regierung, vertreten durch A. Rubio González als Bevollmächtigten,
—
der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna als Bevollmächtigten,
—
der slowakischen Regierung, vertreten durch B. Ricziová als Bevollmächtigte,
—
der Europäischen Kommission, vertreten durch M. Wilderspin und C. Tufvesson als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 20. Mai 2014
folgendes
Urteil
1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 35 der Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 und zur Aufhebung der Richtlinien 64/221/EWG, 68/360/EWG, 72/194/EWG, 73/148/EWG, 75/34/EWG, 75/35/EWG, 90/364/EWG, 90/365/EWG und 93/96/EWG (ABl. L 158, S. 77, berichtigt im ABl. L 229, S. 35), sowie von Art. 1 des Protokolls (Nr. 20) über die Anwendung bestimmter Aspekte des Artikels 26 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union auf das Vereinigte Königreich und auf Irland (im Folgenden: Protokoll Nr. 20).
2 Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits, den Herr McCarthy, Frau McCarthy Rodriguez und ihr Kind Natasha Caley McCarthy Rodriguez gegen den Secretary of State for the Home Department (im Folgenden: Secretary of State) wegen dessen Weigerung führen, Frau McCarthy Rodriguez das Recht zu erteilen, ohne Visum in das Vereinigte Königreich einzureisen.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Protokoll Nr. 20
3 Art. 1 des Protokolls Nr. 20 lautet:
„Das Vereinigte Königreich darf ungeachtet der Artikel 26 und 77 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union, anderer Bestimmungen jenes Vertrags oder des Vertrags über die Europäische Union, im Rahmen dieser Verträge beschlossener Maßnahmen oder von der Union oder der Union und ihren Mitgliedstaaten mit einem oder mehreren Drittstaaten geschlossener internationaler Übereinkünfte an seinen Grenzen mit anderen Mitgliedstaaten bei Personen, die in das Vereinigte Königreich einreisen wollen, Kontrollen durchführen, die nach seiner Auffassung erforderlich sind
a)
zur Überprüfung des Rechts auf Einreise in das Vereinigte Königreich bei Staatsangehörigen von Mitgliedstaaten und ihren unterhaltsberechtigten Angehörigen, welche die ihnen nach dem Unionsrecht zustehenden Rechte wahrnehmen, sowie bei Staatsangehörigen anderer Staaten, denen solche Rechte aufgrund einer Übereinkunft zustehen, an die das Vereinigte Königreich gebunden ist, und
b)
zur Entscheidung darüber, ob anderen Personen die Genehmigung zur Einreise in das Vereinigte Königreich erteilt wird.
Die Artikel 26 und 77 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union oder die anderen Bestimmungen jenes Vertrags oder des Vertrags über die Europäische Union oder die im Rahmen dieser Verträge beschlossenen Maßnahmen berühren in keiner Weise das Recht des Vereinigten Königreichs, solche Kontrollen ein- oder durchzuführen. Wird im vorliegenden Artikel auf das Vereinigte Königreich Bezug genommen, so gilt diese Bezugnahme auch für die Gebiete, für deren Außenbeziehungen das Vereinigte Königreich verantwortlich ist.“
Richtlinie 2004/38
4 Im fünften Erwägungsgrund der Richtlinie 2004/38 heißt es: „Das Recht aller Unionsbürger, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, sollte, wenn es unter objektiven Bedingungen in Freiheit und Würde ausgeübt werden soll, auch den Familienangehörigen ungeachtet ihrer Staatsangehörigkeit gewährt werden.“
5 Der achte Erwägungsgrund der Richtlinie lautet:
„Um die Ausübung der Freizügigkeit für Familienangehörige, die nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzen, zu erleichtern, sollten Familienangehörige, die bereits im Besitz einer Aufenthaltskarte sind, von der Pflicht befreit werden, sich ein Einreisevisum gemäß der Verordnung (EG) Nr. 539/2001 des Rates vom 15. März 2001 zur Aufstellung der Liste der Drittländer, deren Staatsangehörige beim Überschreiten der Außengrenzen im Besitz eines Visums sein müssen, sowie der Liste der Drittländer, deren Staatsangehörige von dieser Visumspflicht befreit sind [(ABl. L 81, S. 1)], oder gegebenenfalls gemäß den geltenden einzelstaatlichen Rechtsvorschriften zu beschaffen.“
6 Die Erwägungsgründe 25 und 26 der Richtlinie sehen vor:
„(25)
Ferner sollten Verfahrensgarantien festgelegt werden, damit einerseits im Falle eines Verbots, in einen anderen Mitgliedstaat einzureisen oder sich dort aufzuhalten, ein hoher Schutz der Rechte des Unionsbürgers und seiner Familienangehörigen gewährleistet ist und andererseits der Grundsatz eingehalten wird, dass behördliche Handlungen ausreichend begründet sein müssen.
(26) Der Unionsbürger und seine Familienangehörigen, denen untersagt wird, in einen anderen Mitgliedstaat einzureisen oder sich dort aufzuhalten, müssen stets die Möglichkeit haben, den Rechtsweg zu beschreiten.“
7 Art. 1 („Gegenstand“) der Richtlinie 2004/38 bestimmt:
„Diese Richtlinie regelt
a)
die Bedingungen, unter denen Unionsbürger und ihre Familienangehörigen das Recht auf Freizügigkeit und Aufenthalt innerhalb des Hoheitsgebiets der Mitgliedstaaten genießen;
…“
8 Die Berechtigten der Richtlinie 2004/38 sind in deren Art. 3 wie folgt definiert:
„(1) Diese Richtlinie gilt für jeden Unionsbürger, der sich in einen anderen als den Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, begibt oder sich dort aufhält, sowie für seine Familienangehörigen im Sinne von Artikel 2 Nummer 2, die ihn begleiten oder ihm nachziehen.
…“
9 Art. 5 („Recht auf Einreise“) der Richtlinie 2004/38 lautet:
„(1) Unbeschadet der für die Kontrollen von Reisedokumenten an den nationalen Grenzen geltenden Vorschriften gestatten die Mitgliedstaaten Unionsbürgern, die einen gültigen Personalausweis oder Reisepass mit sich führen, und ihren Familienangehörigen, die nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzen und die einen gültigen Reisepass mit sich führen, die Einreise.
Für die Einreise von Unionsbürgern darf weder ein Visum noch eine gleichartige Formalität verlangt werden.
(2) Von Familienangehörigen, die nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzen, ist gemäß der Verordnung (EG) Nr. 539/2001 oder gegebenenfalls den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften lediglich ein Einreisevisum zu fordern. Für die Zwecke dieser Richtlinie entbindet der Besitz einer gültigen Aufenthaltskarte gemäß Artikel 10 diese Familienangehörigen von der Visumspflicht.
Die Mitgliedstaaten treffen alle erforderlichen Maßnahmen, um diesen Personen die Beschaffung der erforderlichen Visa zu erleichtern. Die Visa werden so bald wie möglich nach einem beschleunigten Verfahren unentgeltlich erteilt.
(3) Der Aufnahmemitgliedstaat bringt im Reisepass eines Familienangehörigen, der nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzt, keinen Einreise- oder Ausreisestempel an, wenn der Betroffene die Aufenthaltskarte gemäß Artikel 10 mit sich führt.
(4) Verfügt ein Unionsbürger oder ein Familienangehöriger, der nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzt, nicht über die erforderlichen Reisedokumente oder gegebenenfalls die erforderlichen Visa, so gewährt der betreffende Mitgliedstaat dieser Person jede angemessene Möglichkeit, sich die erforderlichen Dokumente in einer angemessenen Frist zu beschaffen oder übermitteln zu lassen oder sich mit anderen Mitteln bestätigen zu lassen oder nachzuweisen, dass sie das Recht auf Freizügigkeit und Aufenthalt genießt, bevor er eine Zurückweisung verfügt.
(5) Der Mitgliedstaat kann von dem Betroffenen verlangen, dass er seine Anwesenheit im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats innerhalb eines angemessenen und nicht diskriminierenden Zeitraums meldet. Die Nichterfüllung dieser Meldepflicht kann mit verhältnismäßigen und nicht diskriminierenden Sanktionen geahndet werden.“
10 Hinsichtlich des Aufenthaltsrechts bestimmen Art. 6 und Art. 7 Abs. 1 und 2 der Richtlinie 2004/38:
„Artikel 6
Recht auf Aufenthalt bis zu drei Monaten
(1) Ein Unionsbürger hat das Recht auf Aufenthalt im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats für einen Zeitraum von bis zu drei Monaten, wobei er lediglich im Besitz eines gültigen Personalausweises oder Reisepasses sein muss und ansonsten keine weiteren Bedingungen zu erfüllen oder Formalitäten zu erledigen braucht.
(2) Absatz 1 gilt auch für Familienangehörige im Besitz eines gültigen Reisepasses, die nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzen und die den Unionsbürger begleiten oder ihm nachziehen.
Artikel 7
Recht auf Aufenthalt für mehr als drei Monate
(1) Jeder Unionsbürger hat das Recht auf Aufenthalt im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats für einen Zeitraum von über drei Monaten, wenn er
a)
Arbeitnehmer oder Selbstständiger im Aufnahmemitgliedstaat ist oder
b)
für sich und seine Familienangehörigen über ausreichende Existenzmittel verfügt, so dass sie während ihres Aufenthalts keine Sozialhilfeleistungen des Aufnahmemitgliedstaats in Anspruch nehmen müssen, und er und seine Familienangehörigen über einen umfassenden Krankenversicherungsschutz im Aufnahmemitgliedstaat verfügen oder
c)
—
bei einer privaten oder öffentlichen Einrichtung, die von dem Aufnahmemitgliedstaat aufgrund seiner Rechtsvorschriften oder seiner Verwaltungspraxis anerkannt oder finanziert wird, zur Absolvierung einer Ausbildung einschließlich einer Berufsausbildung als Hauptzweck eingeschrieben ist und
—
über einen umfassenden Krankenversicherungsschutz im Aufnahmemitgliedstaat verfügt und der zuständigen nationalen Behörde durch eine Erklärung oder durch jedes andere gleichwertige Mittel seiner Wahl glaubhaft macht, dass er für sich und seine Familienangehörigen über ausreichende Existenzmittel verfügt, so dass sie während ihres Aufenthalts keine Sozialhilfeleistungen des Aufnahmemitgliedstaats in Anspruch nehmen müssen, oder
d)
ein Familienangehöriger ist, der den Unionsbürger, der die Voraussetzungen des Buchstaben a), b) oder c) erfüllt, begleitet oder ihm nachzieht.
(2) Das Aufenthaltsrecht nach Absatz 1 gilt auch für Familienangehörige, die nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzen und die den Unionsbürger in den Aufnahmemitgliedstaat begleiten oder ihm nachziehen, sofern der Unionsbürger die Voraussetzungen des Absatzes 1 Buchstabe a), b) oder c) erfüllt.“
11 Hinsichtlich der Ausstellung einer Aufenthaltskarte bestimmt Art. 10 der Richtlinie:
„(1) Zum Nachweis des Aufenthaltsrechts der Familienangehörigen eines Unionsbürgers, die nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzen, wird spätestens sechs Monate nach Einreichung des betreffenden Antrags eine ‚Aufenthaltskarte für Familienangehörige eines Unionsbürgers‘ ausgestellt. Eine Bescheinigung über die Einreichung des Antrags auf Ausstellung einer Aufenthaltskarte wird unverzüglich ausgestellt.
(2) Für die Ausstellung der Aufenthaltskarte verlangen die Mitgliedstaaten die Vorlage folgender Dokumente:
a)
gültiger Reisepass;
b)
Bescheinigung über das Bestehen einer familiären Beziehung oder einer eingetragenen Partnerschaft;
c)
Anmeldebescheinigung des Unionsbürgers, den sie begleiten oder dem sie nachziehen, oder, wenn kein Anmeldesystem besteht, ein anderer Nachweis über den Aufenthalt des betreffenden Unionsbürgers im Aufnahmemitgliedstaat;
d)
in den Fällen des Artikels 2 Nummer 2 Buchstaben c) und d) der urkundliche Nachweis, dass die dort genannten Voraussetzungen vorliegen;
e)
in den Fällen des Artikels 3 Absatz 2 Buchstabe a) ein durch die zuständige Behörde des Ursprungs- oder Herkunftslands ausgestelltes Dokument, aus dem hervorgeht, dass die Betroffenen vom Unionsbürger Unterhalt beziehen oder mit ihm in häuslicher Gemeinschaft gelebt haben, oder der Nachweis schwerwiegender gesundheitlicher Gründe, die die persönliche Pflege des Familienangehörigen durch den Unionsbürger zwingend erforderlich machen;
f)
in den Fällen des Artikels 3 Absatz 2 Buchstabe b) der Nachweis über das Bestehen einer dauerhaften Beziehung mit dem Unionsbürger.“
12 Kapitel VI („Beschränkungen des Einreise- und Aufenthaltsrechts aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit“) der Richtlinie 2004/38 bestimmt in seinen Art. 27, 30 und 31:
„Artikel 27
Allgemeine Grundsätze
(1) Vorbehaltlich der Bestimmungen dieses Kapitels dürfen die Mitgliedstaaten die Freizügigkeit und das Aufenthaltsrecht eines Unionsbürgers oder seiner Familienangehörigen, ungeachtet ihrer Staatsangehörigkeit, aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit beschränken. Diese Gründe dürfen nicht zu wirtschaftlichen Zwecken geltend gemacht werden.
(2) Bei Maßnahmen aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit ist der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu wahren und darf ausschließlich das persönliche Verhalten des Betroffenen ausschlaggebend sein. Strafrechtliche Verurteilungen allein können ohne Weiteres diese Maßnahmen nicht begründen.
…
Artikel 30
Mitteilung der Entscheidungen
(1) Entscheidungen nach Artikel 27 Absatz 1 müssen dem Betroffenen schriftlich in einer Weise mitgeteilt werden, dass er deren Inhalt und Wirkung nachvollziehen kann.
(2) Dem Betroffenen sind die Gründe der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit, die der ihn betreffenden Entscheidung zugrunde liegen, genau und umfassend mitzuteilen, es sei denn, dass Gründe der Sicherheit des Staates dieser Mitteilung entgegenstehen.
(3) In der Mitteilung ist anzugeben, bei welchem Gericht oder bei welcher Verwaltungsbehörde der Betroffene einen Rechtsbehelf einlegen kann, innerhalb welcher Frist der Rechtsbehelf einzulegen ist und gegebenenfalls binnen welcher Frist er das Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats zu verlassen hat. Außer in ordnungsgemäß begründeten dringenden Fällen muss die Frist zum Verlassen des Hoheitsgebiets mindestens einen Monat, gerechnet ab dem Zeitpunkt der Mitteilung, betragen.
Artikel 31
Verfahrensgarantien
(1) Gegen eine Entscheidung aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit müssen die Betroffenen einen Rechtsbehelf bei einem Gericht und gegebenenfalls bei einer Behörde des Aufnahmemitgliedstaats einlegen können.
(2) Wird neben dem Rechtsbehelf gegen die Entscheidung, mit der die Ausweisung verfügt wurde, auch ein Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz gestellt, um die Vollstreckung dieser Entscheidung auszusetzen, so darf die Abschiebung aus dem Hoheitsgebiet nicht erfolgen, solange nicht über den Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz entschieden wurde, es sei denn,
—
die Entscheidung, mit der die Ausweisung verfügt wird, stützt sich auf eine frühere gerichtliche Entscheidung oder
—
die Betroffenen hatten bereits früher die Möglichkeit, eine gerichtliche Überprüfung zu beantragen, oder
—
die Entscheidung, mit der die Ausweisung verfügt wird, beruht auf zwingenden Gründen der öffentlichen Sicherheit nach Artikel 28 Absatz 3.
(3) Im Rechtsbehelfsverfahren sind die Rechtmäßigkeit der Entscheidung sowie die Tatsachen und die Umstände, auf denen die Entscheidung beruht, zu überprüfen. Es gewährleistet, dass die Entscheidung insbesondere im Hinblick auf die Erfordernisse gemäß Artikel 28 nicht unverhältnismäßig ist.
(4) Die Mitgliedstaaten können dem Betroffenen verbieten, sich während des anhängigen Rechtsbehelfsverfahrens in ihrem Hoheitsgebiet aufzuhalten, dürfen ihn jedoch nicht daran hindern, sein Verfahren selbst zu führen, es sei denn, die öffentliche Ordnung oder Sicherheit können durch sein persönliches Erscheinen ernsthaft gestört werden oder der Rechtsbehelf richtet sich gegen die Verweigerung der Einreise in das Hoheitsgebiet.“
13 Der in Kapitel VII („Schlussbestimmungen“) der Richtlinie 2004/38 enthaltene Art. 35 dieser Richtlinie bestimmt hinsichtlich der Maßnahmen, die von den Mitgliedstaaten bei Rechtsmissbrauch oder Betrug erlassen werden können:
„Die Mitgliedstaaten können die Maßnahmen erlassen, die notwendig sind, um die durch diese Richtlinie verliehenen Rechte im Falle von Rechtsmissbrauch oder Betrug – wie z. B. durch Eingehung von Scheinehen – zu verweigern, aufzuheben oder zu widerrufen. Solche Maßnahmen müssen verhältnismäßig sein und unterliegen den Verfahrensgarantien nach den Artikeln 30 und 31.“
Verordnung Nr. 539/2001
14 Der vierte Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 539/2001 lautet:
„In Anwendung von Artikel 1 des Protokolls über die Position des Vereinigten Königreichs und Irlands zum Vertrag über die Europäische Union und zum Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft beteiligen sich Irland und das Vereinigte Königreich nicht an der Annahme dieser Verordnung. Unbeschadet des Artikels 4 des genannten Protokolls gilt diese Verordnung daher nicht für Irland und das Vereinigte Königreich.“
Verordnung (EG) Nr. 562/2006
15 Die Verordnung (EG) Nr. 562/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. März 2006 über einen Gemeinschaftskodex für das Überschreiten der Grenzen durch Personen (Schengener Grenzkodex) (ABl. L 105, S. 1) sieht vor, dass bei Personen, die die Binnengrenzen zwischen den Mitgliedstaaten der Union überschreiten, keine Grenzkontrollen stattfinden, und legt Regeln für die Grenzkontrollen in Bezug auf Personen fest, die die Außengrenzen der Mitgliedstaaten der Union überschreiten.
16 Nach ihrem 27. Erwägungsgrund stellt diese Verordnung „eine Weiterentwicklung von Bestimmungen des Schengen-Besitzstands dar, an denen sich das Vereinigte Königreich gemäß dem Beschluss 2000/365/EG des Rates vom 29. Mai 2000 zum Antrag des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland, einzelne Bestimmungen des Schengen-Besitzstands auf sie anzuwenden [(ABl. L 131, S. 43)], nicht beteiligt. Das Vereinigte Königreich beteiligt sich daher nicht an der Annahme dieser Verordnung, die für das Vereinigte Königreich nicht bindend oder anwendbar ist.“
Recht des Vereinigten Königreichs
17 Hinsichtlich des Rechts auf Einreise von Familienangehörigen eines Unionsbürgers, die Drittstaatsangehörige sind, bestimmt Regulation 11 (2) bis (4) der Immigration (European Economic Area) Regulations 2006 (Verordnung von 2006 über die Zuwanderung [Europäischer Wirtschaftsraum], im Folgenden: Regulations von 2006):
„(2) Einer Person, die kein [Staatsangehöriger eines Mitgliedstaats des Europäischen Wirtschaftsraums (EWR)] ist, ist die Einreise in das Vereinigte Königreich zu gestatten, wenn sie ein Familienangehöriger eines EWR-Staatsangehörigen, ein Familienangehöriger mit Aufenthaltsrecht oder eine Person mit einem Recht auf Daueraufenthalt gemäß Regulation 15 ist und bei der Ankunft
a)
einen gültigen Reisepass und
b)
ein EEA family permit [Einreiseerlaubnis für Familienangehörige von EWR-Staatsangehörigen], eine Aufenthaltskarte oder eine Daueraufenthaltskarte vorweist.
(3) Ein Beamter der Einwanderungsbehörde darf im Reisepass einer Person, der nach dieser Regulation die Einreise in das Vereinigte Königreich gestattet wird und die kein EWR-Staatsangehöriger ist, keinen Stempel anbringen, wenn die Person eine Aufenthaltskarte oder eine Daueraufenthaltskarte vorweist.
(4) Bevor ein Beamter der Einwanderungsbehörde einer Person die Einreise in das Vereinigte Königreich nach dieser Regulation verweigert, weil sie bei der Ankunft eines der unter Paragraph 1 oder 2 angeführten Dokumente nicht vorweist, hat er ihr jede angemessene Möglichkeit zu gewähren, sich das Dokument in einer angemessenen Frist zu beschaffen oder übermitteln zu lassen oder mit anderen Mitteln nachzuweisen, dass sie
a)
ein EWR-Staatsangehöriger ist,
b)
ein Familienangehöriger eines EWR-Staatsangehörigen ist, der berechtigt ist, diesen Staatsangehörigen in das Vereinigte Königreich zu begleiten oder ihm dorthin nachzuziehen, oder
c)
ein Familienangehöriger mit Aufenthaltsrecht oder eine Person mit einem Recht auf Daueraufenthalt ist …“
18 Hinsichtlich der Ausstellung eines „EEA family permit“ im Sinne von Regulation 11 der Regulations von 2006 sieht deren Regulation 12 (1), (4) und (5) vor:
„(1) Ein für die Einreiseerlaubnis zuständiger Beamter hat einem Antragsteller ein EEA family permit auszustellen, wenn die betreffende Person ein Familienangehöriger eines EWR-Staatsangehörigen ist und
a)
der EWR-Staatsangehörige
i)
sich im Einklang mit diesen Regulations im Vereinigten Königreich aufhält oder
ii)
innerhalb von sechs Monaten ab dem Datum der Antragstellung in das Vereinigte Königreich reisen wird und bei seiner Ankunft im Vereinigten Königreich ein EWR-Staatsangehöriger sein wird, der sich im Einklang mit diesen Regulations im Vereinigten Königreich aufhält, und
b)
der Familienangehörige den EWR-Staatsangehörigen in das Vereinigte Königreich begleiten wird oder ihm dorthin nachziehen wird und
i)
sich rechtmäßig in einem EWR-Staat aufhält oder
ii)
die Erfordernisse der Einwanderungsvorschriften (abgesehen von jenen, die sich auf die Einreiseerlaubnis beziehen) für die Einreise in das Vereinigte Königreich als Familienangehöriger des EWR-Staatsangehörigen oder, im Fall von Verwandten in direkter absteigender Linie oder unterhaltsberechtigten Verwandten in direkter aufsteigender Linie seines Ehe- oder Lebenspartners, als Familienangehöriger seines Ehe- oder Lebenspartners erfüllen würde, wenn der EWR-Staatsangehörige oder der Ehe- oder Lebenspartner im Vereinigten Königreich anwesend und ansässig wäre.
(4) Ein nach dieser Regulation ausgestelltes EEA family permit wird unentgeltlich und so bald wie möglich ausgestellt.
(5) Ein EEA family permit wird jedoch nicht nach dieser Regulation ausgestellt, wenn der Antragsteller oder der betroffene EWR-Staatsangehörige aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit gemäß Regulation 21 aus dem Vereinigten Königreich auszuweisen ist.“
19 Section 40 des Immigration and Asylum Act 1999 (Einwanderungs- und Asylgesetz 1999) bestimmt:
„Gebühr in Bezug auf Passagiere ohne ordnungsgemäße Papiere
(1) Diese Section ist anwendbar, wenn eine Person, die in das Vereinigte Königreich einreisen will, dort mit dem Schiff oder Flugzeug ankommt und auf Aufforderung eines Beamten der Einwanderungsbehörde Folgendes nicht vorweisen kann:
(a)
ein gültiges Einreisedokument, das ihre Identität, Staatsangehörigkeit oder Staatsbürgerschaft hinreichend nachweist, und,
(b)
sofern die Person ein Visum benötigt, das erforderliche Visum.
(2) Der Secretary of State kann dem Eigentümer des Schiffs oder des Flugzeugs im Zusammenhang mit dieser Person eine Gebühr in Höhe von 2000 [GBP] auferlegen.
(3) Die Gebühr ist auf Verlangen an den Secretary of State zu zahlen.
(4) Im Zusammenhang mit einer Person, von der der Eigentümer [des Schiffs oder des Flugzeugs] nachweisen kann, dass sie ihm oder seinem Angestellten oder Bevollmächtigten, als sie das Schiff oder das Flugzeug für die Reise oder den Flug in das Vereinigte Königreich betrat, das erforderliche Dokument oder die erforderlichen Dokumente vorgewiesen hat, ist keine Gebühr zu zahlen.“
Ausgangsverfahren und Vorlagefragen
20 Herr McCarthy ist mit Frau McCarthy Rodriguez verheiratet. Natasha Caley McCarthy Rodriguez ist ihr gemeinsames Kind. Diese drei Personen wohnen seit 2010 in Marbella (Spanien) und reisen regelmäßig in das Vereinigte Königreich, wo sie ein Haus besitzen.
21 Herr McCarthy hat die britische und die irische Staatsangehörigkeit. Frau McCarthy Rodriguez, eine kolumbianische Staatsangehörige, ist Inhaberin einer im Jahr 2010 von den spanischen Behörden nach Art. 10 der Richtlinie 2004/38 ausgestellten Aufenthaltskarte, die im Jahr 2015 abläuft.
22 Um in das Vereinigte Königreich einreisen zu können, muss Frau McCarthy Rodriguez nach den Rechtsvorschriften des Vereinigten Königreichs, und zwar nach Regulation 11 der Regulations von 2006, vorab die Ausstellung eines EEA family permit beantragen. Dieses ist für eine Dauer von sechs Monaten gültig und kann unter der Voraussetzung verlängert werden, dass sich der Antragsteller persönlich in eine diplomatische Vertretung des Vereinigten Königreichs im Ausland begibt und ein Formular ausfüllt, das Fragen zu seinen Existenzmitteln und seiner beruflichen Situation enthält. Daher muss sich Frau McCarthy Rodriguez jedes Mal, wenn sie das EEA family permit verlängern will, von Marbella in die diplomatische Vertretung des Vereinigten Königreichs in Madrid (Spanien) begeben.
23 Es ist vorgekommen, dass bestimmte Fluggesellschaften sich weigerten, Frau McCarthy Rodriguez an Bord von Flügen in das Vereinigte Königreich gehen zu lassen, wenn sie nur ihre Aufenthaltskarte und nicht das nach den Rechtsvorschriften des Vereinigten Königreichs erforderliche EEA family permit vorlegte. Diese Praxis resultiert aus den vom Secretary of State erlassenen Leitlinien zur Anwendung von Section 40 des Immigration and Asylum Act 1999 für Beförderungsunternehmen, die Beförderungen von Personen in das Vereinigte Königreich durchführen. Diese Leitlinien sollen Beförderungsunternehmen dazu anhalten, keine Passagiere zu befördern, die Drittstaatsangehörige sind und weder eine von den Behörden des Vereinigten Königreichs ausgestellte Aufenthaltskarte noch ein gültiges Reisedokument wie etwa das EEA family permit besitzen.
24 Im Laufe des Jahres 2012 erhoben die Kläger des Ausgangsverfahrens vor dem vorlegenden Gericht gegen das Vereinigte Königreich Klage auf Feststellung, dass das Vereinigte Königreich gegen seine Verpflichtung verstoßen hat, Art. 5 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38 ordnungsgemäß in seine Rechtsordnung umzusetzen. Im Rahmen dieses Rechtsstreits erhielt Frau McCarthy Rodriguez vorläufigen Rechtsschutz des Inhalts, dass sie die Verlängerung ihres EEA family permit schriftlich bei der diplomatischen Vertretung des Vereinigten Königreichs in Madrid beantragen kann, ohne sich persönlich dorthin begeben zu müssen.
25 Der Secretary of State hat vor dem vorlegenden Gericht geltend gemacht, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Regelung des Vereinigten Königreichs nicht zur Umsetzung von Art. 5 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38 diene. Diese Regelung sei vielmehr, wie auch die fehlende Umsetzung von Art. 5 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38 als notwendige Maßnahme gemäß Art. 35 der Richtlinie 2004/38 sowie als Kontrollmaßnahme im Sinne von Art. 1 des Protokolls Nr. 20 gerechtfertigt.
26 In diesem Zusammenhang hat sich der Secretary of State darauf berufen, dass es ein „systemisches Problem“ des Rechtsmissbrauchs und Betrugs durch Angehörige von Drittstaaten gebe. Die in Art. 10 der Richtlinie 2004/38 genannten Aufenthaltskarten könnten gefälscht werden. Insbesondere gebe es kein einheitliches Muster für diese Karten. Allerdings erfüllten die von der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Estland ausgestellten Aufenthaltskarten geeignete Sicherheitsstandards, insbesondere die der Internationalen Zivilluftfahrt-Organisation, so dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehende nationale Regelung hinsichtlich der Personen, die über eine von einem dieser beiden Mitgliedstaaten ausgestellte Aufenthaltskarte verfügten, geändert werden müsse.
27 Nach Prüfung der vom Secretary of State vorgelegten Beweise ist das vorlegende Gericht zu dem Ergebnis gekommen, dass ihm die Bedenken dieser Partei hinsichtlich eines „systemischen“ Rechtsmissbrauchs gerechtfertigt erschienen. Die Aufenthaltskarten könnten im Rahmen der illegalen Einwanderung in das Vereinigte Königreich leicht ausgenutzt werden. Es gebe ein konkretes Risiko, dass ein erheblicher Teil der in den „Scheinehenmarkt“ involvierten Personen gefälschte Aufenthaltskarten benutze, um auf illegale Weise in das Vereinigte Königreich zu gelangen. Daher sei die Weigerung dieses Mitgliedstaats, Inhaber von Aufenthaltskarten von der Pflicht zu entbinden, im Besitz eines Einreisevisums zu sein, vernünftig, notwendig und objektiv gerechtfertigt.
28 Unter diesen Umständen hat der High Court of Justice (England & Wales), Queen’s Bench Division (Administrative Court), beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
1. Gestattet Art. 35 der Richtlinie 2004/38 es einem Mitgliedstaat, eine Maßnahme mit allgemeiner Geltung zu erlassen, um die durch Art. 5 Abs. 2 der Richtlinie für Familienangehörige, die nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzen und die im Besitz einer gültigen Aufenthaltskarte gemäß Art. 10 der Richtlinie sind, gewährte Entbindung von der Visumspflicht zu verweigern, aufzuheben oder zu widerrufen?
2. Gestattet Art. 1 des Protokolls Nr. 20 es dem Vereinigten Königreich, von Inhabern einer Aufenthaltskarte den Besitz eines Einreisevisums zu verlangen, das vor der Ankunft an der Grenze beschafft werden muss?
3. Bei Bejahung der ersten oder der zweiten Frage: Ist der Umgang des Vereinigten Königreichs mit Inhabern von Aufenthaltskarten im vorliegenden Fall unter Berücksichtigung der im Urteil des vorlegenden Gerichts zusammengefassten Beweise gerechtfertigt?
Zu den Vorlagefragen
Zur ersten und zur zweiten Frage
29 Mit seiner ersten und seiner zweiten Frage, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 35 der Richtlinie 2004/38 und Art. 1 des Protokolls Nr. 20 dahin auszulegen sind, dass sie es einem Mitgliedstaat gestatten, in Verfolgung eines generalpräventiven Zwecks die Verpflichtung aufzustellen, dass Familienangehörige eines Unionsbürgers, die nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzen und im Besitz einer gültigen, von den Behörden eines anderen Mitgliedstaats nach Art. 10 der Richtlinie 2004/38 ausgestellten Aufenthaltskarte sind, im Besitz einer Einreiseerlaubnis nach nationalem Recht wie des EEA family permit sein müssen, um in sein Hoheitsgebiet einreisen zu können.
Zur Auslegung der Richtlinie 2004/38
30 Da das vorlegende Gericht eine Frage nach der Auslegung von Art. 35 der Richtlinie 2004/38 gestellt hat und dabei von der Prämisse ausgegangen ist, dass diese Richtlinie im Ausgangsrechtsstreit zur Anwendung kommt, ist vorab zu prüfen, ob sie Frau McCarthy Rodriguez das Recht verleiht, aus einem anderen Mitgliedstaat in das Vereinigte Königreich einzureisen.
– Zur Anwendbarkeit der Richtlinie 2004/38
31 Nach ständiger Rechtsprechung soll die Richtlinie 2004/38 die Ausübung des elementaren und individuellen Rechts, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, das den Unionsbürgern unmittelbar aus Art. 21 Abs. 1 AEUV erwächst, erleichtern und dieses Recht verstärken (Urteil O. und B., C‑456/12, EU:C:2014:135, Rn. 35 und die dort angeführte Rechtsprechung).
32 In Anbetracht des Kontexts und der Ziele der Richtlinie 2004/38 dürfen deren Bestimmungen nicht eng ausgelegt und keinesfalls ihrer praktischen Wirksamkeit beraubt werden (Urteil Metock u. a., C‑127/08, EU:C:2008:449, Rn. 84).
33 Was erstens etwaige Rechte von Familienangehörigen eines Unionsbürgers, die nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzen, anbelangt, hebt der fünfte Erwägungsgrund der Richtlinie 2004/38 hervor, dass das Recht aller Unionsbürger, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, wenn es unter objektiven Bedingungen in Freiheit und Würde ausgeübt werden soll, auch den Familienangehörigen ungeachtet ihrer Staatsangehörigkeit gewährt werden sollte (Urteil Metock u. a., EU:C:2008:449, Rn. 83).
34 Zwar verleihen die Bestimmungen der Richtlinie 2004/38 den Familienangehörigen eines Unionsbürgers, die nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzen, keine eigenständigen Rechte. Die etwaigen Rechte, die ihnen die Bestimmungen des Unionsrechts über die Unionsbürgerschaft verleihen, sind vielmehr Rechte, die sich daraus ableiten, dass ein Unionsbürger sein Recht auf Freizügigkeit ausgeübt hat (vgl. in diesem Sinne Urteil O. und B., EU:C:2014:135, Rn. 36 und die dort angeführte Rechtsprechung).
35 Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 definiert nämlich als „Berechtigte“ der durch sie verliehenen Rechte „jeden Unionsbürger, der sich in einen anderen als den Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, begibt oder sich dort aufhält, sowie … seine Familienangehörigen im Sinne von Artikel 2 Nummer 2, die ihn begleiten oder ihm nachziehen“.
36 So hat der Gerichtshof entschieden, dass nicht alle Familienangehörigen eines Unionsbürgers, die nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzen, nach der Richtlinie 2004/38 berechtigt sind, in einen Mitgliedstaat einzureisen und sich dort aufzuhalten, sondern nur diejenigen, die im Sinne von Art. 2 Nr. 2 dieser Richtlinie Familienangehörige eines Unionsbürgers sind, der sein Recht auf Freizügigkeit ausgeübt hat, indem er sich in einem anderen Mitgliedstaat als dem, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, niedergelassen hat (Urteile Metock u. a., EU:C:2008:449, Rn. 73, Dereci u. a., C‑256/11, EU:C:2011:734, Rn. 56, Iida, C‑40/11, EU:C:2012:691, Rn. 51, sowie O. und B., EU:C:2014:135, Rn. 39).
37 Im vorliegenden Fall steht fest, dass Herr McCarthy von seinem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch gemacht hat, indem er sich in Spanien niederließ. Ferner steht fest, dass sich seine Ehefrau, Frau McCarthy Rodriguez, mit ihm und ihrem gemeinsamen Kind in diesem Mitgliedstaat aufhält und dass sie im Besitz einer gültigen, von den spanischen Behörden nach Art. 10 der Richtlinie 2004/38 ausgestellten Aufenthaltskarte ist, aufgrund deren sie sich rechtmäßig im spanischen Hoheitsgebiet aufhält.
38 Daher sind Herr McCarthy und Frau McCarthy Rodriguez „Berechtigte“ im Sinne von Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38.
39 Zweitens ist in Bezug auf die Frage, ob Frau McCarthy Rodriguez aus der Richtlinie 2004/38 ein Recht herleiten kann, aus einem anderen Mitgliedstaat in das Vereinigte Königreich einzureisen, darauf hinzuweisen, dass Art. 5 dieser Richtlinie sowohl das Recht auf Einreise in das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten regelt als auch die Voraussetzungen für die Einreise. Nach dem Wortlaut von Art. 5 Abs. 1 „gestatten die Mitgliedstaaten Unionsbürgern … und ihren Familienangehörigen, die nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzen und die einen gültigen Reisepass mit sich führen, die Einreise“.
40 Außerdem heißt es in Art. 5 Abs. 2 Unterabs. 1 der Richtlinie 2004/38: „Für die Zwecke dieser Richtlinie entbindet der Besitz einer gültigen Aufenthaltskarte gemäß Artikel 10 diese Familienangehörigen von der Visumspflicht.“ Wie sich aus dem achten Erwägungsgrund der Richtlinie ergibt, soll diese Befreiung die Ausübung der Freizügigkeit für Familienangehörige eines Unionsbürgers, die Drittstaatsangehörige sind, erleichtern.
41 In diesem Zusammenhang ist festzustellen, dass sich Art. 5 der Richtlinie 2004/38 an „die Mitgliedstaaten“ richtet und keine Unterscheidung anhand des Einreisemitgliedstaats trifft, insbesondere wenn er vorsieht, dass der Besitz einer gültigen Aufenthaltskarte nach Art. 10 der Richtlinie die Familienangehörigen eines Unionsbürgers, die nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzen, vom Erfordernis eines Einreisevisums entbindet. Daher folgt aus Art. 5 keineswegs, dass das Recht auf Einreise für Familienangehörige eines Unionsbürgers, die nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzen, auf andere Mitgliedstaaten als den Herkunftsmitgliedstaat des Unionsbürgers beschränkt wäre.
42 Unter diesen Umständen ist festzustellen, dass nach Art. 5 der Richtlinie 2004/38 ein Familienangehöriger eines Unionsbürgers, der sich in der Situation von Frau McCarthy Rodriguez befindet, bei der Einreise in das Hoheitsgebiet des Herkunftsmitgliedstaats dieses Unionsbürgers nicht der Visumspflicht oder einer entsprechenden Verpflichtung unterliegt.
– Zur Auslegung von Art. 35 der Richtlinie 2004/38
43 Nach der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden nationalen Regelung muss sich jeder Familienangehörige eines Unionsbürgers, der nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzt, vorab eine Einreiseerlaubnis beschaffen. Diese Regelung beruht darauf, dass es ein allgemeines, vom Secretary of State als „systemisch“ eingestuftes Risiko des Rechtsmissbrauchs oder Betrugs gebe, was somit jede spezifische Beurteilung des eigenen Verhaltens des Betroffenen hinsichtlich eines etwaigen Rechtsmissbrauchs oder eines Betrugs durch die zuständigen nationalen Behörden ausschließt.
44 Nach dieser Regelung setzt die Einreise in das Hoheitsgebiet des Vereinigten Königreichs selbst in Fällen, in denen die nationalen Behörden, wie hier, nicht der Auffassung sind, dass der Familienangehörige des Unionsbürgers in einen Rechtsmissbrauch oder Betrug involviert sein könnte, die vorherige Beschaffung einer Einreiseerlaubnis voraus. Somit stellt die Regelung diese Voraussetzung auch für den Fall auf, dass die Echtheit der nach Art. 10 der Richtlinie 2004/38 ausgestellten Aufenthaltskarte und die Richtigkeit der darin enthaltenen Angaben von den Behörden des Vereinigten Königreichs nicht in Frage gestellt werden. Daher werden Familienangehörige eines Unionsbürgers, die nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzen, durch diese Regelung absolut und automatisch von dem ihnen durch Art. 5 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38 verliehenen Recht auf visumsfreie Einreise in das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten ausgeschlossen, obwohl sie im Besitz einer gültigen, vom Wohnsitzmitgliedstaat auf der Grundlage von Art. 10 der Richtlinie 2004/38 ausgestellten Aufenthaltskarte sind.
45 Zwar nimmt die Richtlinie 2004/38 nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs den Mitgliedstaaten nicht jede Möglichkeit, die Einreise der Familienangehörigen von Unionsbürgern in ihr Hoheitsgebiet zu kontrollieren. Hat jedoch der Familienangehörige eines Unionsbürgers, der nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzt, aufgrund der Richtlinie 2004/38 das Recht, in den Aufnahmemitgliedstaat einzureisen und sich dort aufzuhalten, darf der Aufnahmemitgliedstaat dieses Recht nur unter Beachtung der Art. 27 und 35 der Richtlinie beschränken (vgl. Urteil Metock u. a., EU:C:2008:449, Rn. 74 und 95).
46 Nach Art. 27 der Richtlinie 2004/38 dürfen die Mitgliedstaaten nämlich, wenn dies gerechtfertigt ist, die Einreise und den Aufenthalt aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit verweigern. Eine solche Weigerung muss aber auf eine individuelle Prüfung des Einzelfalls gestützt werden (Urteil Metock u. a., EU:C:2008:449, Rn. 74). Vom Einzelfall losgelöste oder auf generalpräventive Gründe verweisende Rechtfertigungen sind daher nicht zulässig (Urteile Jipa, C‑33/07, EU:C:2008:396, Rn. 24, und Aladzhov, C‑434/10, EU:C:2011:750, Rn. 42).
47 Zudem können die Mitgliedstaaten nach Art. 35 der Richtlinie 2004/38 Maßnahmen erlassen, die notwendig sind, um die durch die Richtlinie verliehenen Rechte im Fall von Rechtsmissbrauch oder Betrug – wie z. B. durch Eingehung von Scheinehen – zu verweigern, aufzuheben oder zu widerrufen, wobei solche Maßnahmen verhältnismäßig sein und den Verfahrensgarantien der Richtlinie unterliegen müssen (Urteil Metock u. a., EU:C:2008:449, Rn. 75).
48 Hinsichtlich der Frage, ob Art. 35 der Richtlinie 2004/38 es den Mitgliedstaaten erlaubt, Maßnahmen wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende zu erlassen, ist darauf hinzuweisen, dass das Recht auf Einreise und auf Aufenthalt den Unionsbürgern und ihren Familienangehörigen im Hinblick auf ihre individuelle Situation verliehen wird.
49 Die von den zuständigen nationalen Behörden hinsichtlich eines etwaigen Rechts auf Einreise oder Aufenthalt auf der Grundlage der Richtlinie 2004/38 getroffenen Entscheidungen oder Maßnahmen dienen nämlich dazu, die individuelle Situation eines Angehörigen eines Mitgliedstaats oder seiner Familienangehörigen im Hinblick auf die Richtlinie festzustellen (vgl. in diesem Sinne, zur Ausstellung eines Aufenthaltstitels auf der Grundlage des Sekundärrechts, Urteile Collins, C‑138/02, EU:C:2004:172, Rn. 40, Kommission/Belgien, C‑408/03, EU:C:2006:192, Rn. 62 und 63, sowie Dias, C‑325/09, EU:C:2011:498, Rn. 48).
50 Außerdem unterliegen, wie aus Art. 35 der Richtlinie 2004/38 ausdrücklich hervorgeht, die auf der Grundlage dieses Artikels erlassenen Maßnahmen den Verfahrensgarantien nach den Art. 30 und 31 der Richtlinie. Wie sich aus dem 25. Erwägungsgrund der Richtlinie ergibt, sollen diese Verfahrensgarantien insbesondere im Fall eines Verbots, in einen anderen Mitgliedstaat einzureisen oder sich dort aufzuhalten, einen hohen Schutz der Rechte des Unionsbürgers und seiner Familienangehörigen gewährleisten.
51 Da die Richtlinie 2004/38 individuelle Rechte verleiht, sollen die Rechtsbehelfsverfahren es dem Betroffenen erlauben, Umstände und Erwägungen in Bezug auf seine individuelle Situation geltend zu machen, um vor den zuständigen nationalen Behörden und/oder Gerichten die Anerkennung des ihm zustehenden individuellen Rechts erreichen zu können.
52 Aus den vorstehenden Erwägungen folgt, dass die von den nationalen Behörden auf der Grundlage von Art. 35 der Richtlinie 2004/38 erlassenen Maßnahmen, mit denen ein durch diese Richtlinie verliehenes Recht verweigert, aufgehoben oder widerrufen werden soll, auf eine individuelle Prüfung des Einzelfalls gestützt werden müssen.
53 Daher dürfen die Mitgliedstaaten den Familienangehörigen eines Unionsbürgers, die nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzen und Inhaber einer gültigen, nach Art. 10 der Richtlinie 2004/38 ausgestellten Aufenthaltskarte sind, das in Art. 5 Abs. 2 der Richtlinie vorgesehene Recht, ohne Visum in ihr Hoheitsgebiet einzureisen, nicht verweigern, ohne dass die zuständigen nationalen Behörden eine individuelle Prüfung des Einzelfalls vorgenommen haben. Sie sind daher verpflichtet, eine solche Aufenthaltskarte zum Zweck der visumsfreien Einreise in ihr Hoheitsgebiet anzuerkennen, es sei denn, aufgrund konkreter Anhaltspunkte, die den in Rede stehenden Einzelfall betreffen und den Schluss auf das Vorliegen eines Falles von Rechtsmissbrauch oder Betrug zulassen, bestehen Zweifel an der Echtheit dieser Karte und der Richtigkeit der darin enthaltenen Angaben (vgl. entsprechend Urteil Dafeki, C‑336/94, EU:C:1997:579, Rn. 19 und 21).
54 In diesem Zusammenhang hat der Gerichtshof klargestellt, dass der Nachweis einer missbräuchlichen Praxis zum einen das Vorliegen einer Gesamtheit objektiver Umstände voraussetzt, aus denen sich ergibt, dass trotz formaler Einhaltung der in der Unionsregelung vorgesehenen Bedingungen das Ziel dieser Regelung nicht erreicht wurde, und zum anderen ein subjektives Element, nämlich die Absicht, sich einen aus der Unionsregelung resultierenden Vorteil zu verschaffen, indem die Voraussetzungen für seine Erlangung künstlich geschaffen werden (Urteile Ungarn/Slowakei, C‑364/10, EU:C:2012:630, Rn. 58 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie O. und B., EU:C:2014:135, Rn. 58).
55 Mangels einer ausdrücklichen Bestimmung in der Richtlinie 2004/38 kann der Umstand, dass sich ein Mitgliedstaat – wie es beim Vereinigten Königreich nach dessen Ansicht der Fall ist – mit einer hohen Zahl von Rechtsmissbrauchs- oder Betrugsfällen konfrontiert sieht, die von Drittstaatsangehörigen durch das Eingehen von Scheinehen oder die Nutzung gefälschter Aufenthaltskarten begangen werden, den Erlass einer Maßnahme wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden, die unter Ausschluss jeder spezifischen Beurteilung des eigenen Verhaltens der Betroffenen auf generalpräventiven Erwägungen beruht, nicht rechtfertigen.
56 Der Erlass von Maßnahmen, mit denen bei verbreiteten Rechtsmissbrauchs- oder Betrugsfällen ein Ziel der Generalprävention verfolgt wird, würde nämlich, wie im vorliegenden Fall, implizieren, dass die bloße Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe von Personen es den Mitgliedstaaten gestatten würde, die Anerkennung eines den Familienangehörigen eines Unionsbürgers, die nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzen, durch die Richtlinie 2004/38 ausdrücklich verliehenen Rechts zu verweigern, obwohl sie die in der Richtlinie vorgesehenen Voraussetzungen tatsächlich erfüllen. Gleiches würde für den Fall gelten, dass die Anerkennung dieses Rechts, wie vom Vereinigten Königreich in Erwägung gezogen, auf Personen beschränkt würde, die von bestimmten Mitgliedstaaten ausgestellte Aufenthaltskarten besitzen.
57 Solche Maßnahmen würden es den Mitgliedstaaten aufgrund ihres Automatismus erlauben, die Bestimmungen der Richtlinie 2004/38 unangewendet zu lassen, und würden in den Wesenskern des elementaren und individuellen Rechts der Unionsbürger eingreifen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, sowie in die abgeleiteten Rechte der Familienangehörigen dieser Bürger, die nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzen.
58 In Anbetracht der vorstehenden Erwägungen ist Art. 35 der Richtlinie 2004/38 dahin auszulegen, dass er es einem Mitgliedstaat nicht gestattet, in Verfolgung eines generalpräventiven Zwecks die Verpflichtung aufzustellen, dass Familienangehörige eines Unionsbürgers, die nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzen und im Besitz einer gültigen, von den Behörden eines anderen Mitgliedstaats nach Art. 10 der Richtlinie 2004/38 ausgestellten Aufenthaltskarte sind, im Besitz einer Einreiseerlaubnis nach nationalem Recht wie des EEA family permit sein müssen, um in sein Hoheitsgebiet einreisen zu können.
Zur Auslegung des Protokolls Nr. 20
59 Nach Art. 77 Abs. 1 Buchst. a AEUV entwickelt die Union eine Politik, mit der sichergestellt werden soll, dass Personen unabhängig von ihrer Staatsangehörigkeit beim Überschreiten der Binnengrenzen der Union nicht kontrolliert werden. Die Abschaffung der Kontrollen an den Binnengrenzen ist ein wesentlicher Bestandteil des in Art. 26 AEUV angesprochenen Ziels der Union, einen Raum ohne Binnengrenzen zu errichten, in dem die Freizügigkeit gewährleistet ist. Der Unionsgesetzgeber hat diesen wesentlichen Bestandteil des Wegfalls der Kontrollen an den Binnengrenzen dadurch umgesetzt, dass er auf der Grundlage von Art. 62 EG, jetzt Art. 77 AEUV, die Verordnung Nr. 562/2006 zur Ergänzung des Schengen-Besitzstands erlassen hat (vgl. in diesem Sinne Urteil Adil, C‑278/12 PPU, EU:C:2012:508, Rn. 48 bis 50).
60 Da sich das Vereinigte Königreich nicht an den Bestimmungen des Schengen-Besitzstands über die Abschaffung von Grenzkontrollen und die Freizügigkeit einschließlich der gemeinsamen Visapolitik beteiligt, bestimmt Art. 1 des Protokolls Nr. 20, dass das Vereinigte Königreich an seinen Grenzen mit anderen Mitgliedstaaten bei Personen, die in das Vereinigte Königreich einreisen wollen, Kontrollen durchführen darf, die nach seiner Auffassung erforderlich sind, um insbesondere zu prüfen, ob die Unionsbürger und ihre unterhaltsberechtigten Angehörigen, welche die ihnen nach dem Unionsrecht zustehenden Rechte wahrnehmen, zur Einreise in das Hoheitsgebiet des Vereinigten Königreichs berechtigt sind, und um darüber zu entscheiden, ob anderen Personen die Genehmigung zur Einreise in das Vereinigte Königreich erteilt wird.
61 Diese Kontrollen werden „an den Grenzen“ durchgeführt und dienen der Überprüfung, ob Personen, die in das Vereinigte Königreich einreisen wollen, nach den Bestimmungen des Unionsrechts ein Recht auf Einreise haben oder ob ihnen, wenn dies nicht der Fall ist, eine Genehmigung zur Einreise in dieses Hoheitsgebiet zu erteilen ist. Ihr Ziel besteht also insbesondere darin, die illegale Überschreitung der Grenzen des Vereinigten Königreichs mit anderen Mitgliedstaaten zu verhindern.
62 Hinsichtlich der Familienangehörigen eines Unionsbürgers, die nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzen und die unter Berufung auf ein in der Richtlinie 2004/38 vorgesehenes Recht auf Einreise in das Vereinigte Königreich einreisen wollen, geht die Überprüfung im Sinne von Art. 1 des Protokolls Nr. 20 somit insbesondere dahin, ob der Betroffene im Besitz der in Art. 5 der Richtlinie genannten Dokumente ist. Zwar hat der Gerichtshof insoweit entschieden, dass die auf der Grundlage des Unionsrechts ausgestellten Aufenthaltstitel deklaratorischen und keinen rechtsbegründenden Charakter haben (Urteile Dias, EU:C:2011:498, Rn. 49, sowie O. und B., EU:C:2014:135, Rn. 60), doch sind die Mitgliedstaaten, wie in Rn. 53 des vorliegenden Urteils festgestellt worden ist, grundsätzlich verpflichtet, eine nach Art. 10 der Richtlinie 2004/38 ausgestellte Aufenthaltskarte zum Zweck der visumsfreien Einreise in ihr Hoheitsgebiet anzuerkennen.
63 Im Einklang mit seiner Zielsetzung, die illegale Überschreitung der Grenzen zu verhindern, kann sich die Überprüfung im Sinne von Art. 1 des Protokolls Nr. 20 darauf erstrecken, ob die fraglichen Dokumente echt und die darin enthaltenen Angaben richtig sind, sowie auf konkrete Anhaltspunkte, die den Schluss auf das Vorliegen eines Rechtsmissbrauchs oder eines Betrugs zulassen.
64 Folglich ermächtigt Art. 1 des Protokolls Nr. 20 das Vereinigte Königreich, zu prüfen, ob eine Person, die in sein Hoheitsgebiet einreisen will, tatsächlich die Einreisevoraussetzungen, insbesondere unionsrechtlicher Art, erfüllt. Art. 1 gestattet es dem Mitgliedstaat hingegen nicht, die Voraussetzungen für die Einreise von Personen, die nach dem Unionsrecht über ein Recht auf Einreise verfügen, festzulegen; insbesondere darf er ihnen keine zusätzlichen oder anderen als die im Unionsrecht vorgesehenen Voraussetzungen für die Einreise auferlegen.
65 Genau dies ist hier aber der Fall. Durch das Erfordernis der vorherigen Beschaffung eines EEA family permit sieht die im Ausgangsverfahren in Rede stehende nationale Regelung für die Familienangehörigen eines Unionsbürgers, die nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzen und die im Besitz einer gültigen, nach Art. 10 der Richtlinie 2004/38 ausgestellten Aufenthaltskarte sind, eine Voraussetzung für die Einreise vor, die zu den in Art. 5 der Richtlinie vorgesehenen Voraussetzungen hinzutritt, und keine bloße Überprüfung dieser Einreisevoraussetzungen „an den Grenzen“.
66 Nach alledem ist auf die erste und die zweite Frage zu antworten, dass sowohl Art. 35 der Richtlinie 2004/38 als auch Art. 1 des Protokolls Nr. 20 dahin auszulegen sind, dass sie es einem Mitgliedstaat nicht gestatten, in Verfolgung eines generalpräventiven Zwecks die Verpflichtung aufzustellen, dass Familienangehörige eines Unionsbürgers, die nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzen und im Besitz einer gültigen, von den Behörden eines anderen Mitgliedstaats nach Art. 10 der Richtlinie 2004/38 ausgestellten Aufenthaltskarte sind, im Besitz einer Einreiseerlaubnis nach nationalem Recht wie des EEA family permit sein müssen, um in sein Hoheitsgebiet einreisen zu können.
Zur dritten Frage
67 In Anbetracht der Antwort auf die erste und die zweite Frage ist die dritte Frage nicht zu beantworten.
Kosten
68 Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Große Kammer) für Recht erkannt:
Sowohl Art. 35 der Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 und zur Aufhebung der Richtlinien 64/221/EWG, 68/360/EWG, 72/194/EWG, 73/148/EWG, 75/34/EWG, 75/35/EWG, 90/364/EWG, 90/365/EWG und 93/96/EWG als auch Art. 1 des Protokolls (Nr. 20) über die Anwendung bestimmter Aspekte des Artikels 26 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union auf das Vereinigte Königreich und auf Irland sind dahin auszulegen, dass sie es einem Mitgliedstaat nicht gestatten, in Verfolgung eines generalpräventiven Zwecks die Verpflichtung aufzustellen, dass Familienangehörige eines Unionsbürgers, die nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzen und im Besitz einer gültigen, von den Behörden eines anderen Mitgliedstaats nach Art. 10 der Richtlinie 2004/38 ausgestellten Aufenthaltskarte sind, im Besitz einer Einreiseerlaubnis nach nationalem Recht wie des EEA family permit (Einreiseerlaubnis für Familienangehörige von Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats des Europäischen Wirtschaftsraums) sein müssen, um in sein Hoheitsgebiet einreisen zu können.
Unterschriften
(*1) Verfahrenssprache: Englisch.
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Urteil des Gerichts (Rechtsmittelkammer) vom 16. Oktober 2014.#Peter Schönberger gegen Rechnungshof der Europäischen Union.#Rechtsmittel – Öffentlicher Dienst – Beamte – Beförderung – Beförderungsverfahren 2011 – Multiplikationssätze – Kontradiktorisches Verfahren.#Rechtssache T‑26/14 P.
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62014TJ0026
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ECLI:EU:T:2014:887
| 2014-10-16T00:00:00 |
Gericht
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Sammlung der Rechtsprechung – Sammlung von Rechtssachen im öffentlichen Dienst
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URTEIL DES GERICHTS (Rechtsmittelkammer)
16. Oktober 2014(*)
„Rechtsmittel – Öffentlicher Dienst – Beamte – Beförderung – Beförderungsverfahren 2011 – Multiplikationssätze – Kontradiktorisches Verfahren“
In der Rechtssache T-26/14 P
betreffend ein Rechtsmittel gegen das Urteil des Gerichts für den öffentlichen Dienst der Europäischen Union (Erste Kammer)
vom 5. November 2013, Schönberger/Rechnungshof (F-14/12, SlgÖD, EU:F:2013:167), wegen Aufhebung dieses Urteils,
Peter Schönberger, wohnhaft in Luxemburg (Luxemburg), Prozessbevollmächtigter: Rechtsanwalt O. Mader,
Rechtsmittelführer,
anderer Verfahrensbeteiligter:
Rechnungshof der Europäischen Union, vertreten durch B. Schäfer und I. Ní Riagáin Düro als Bevollmächtigte,
Beklagter im ersten Rechtszug,
erlässt
DAS GERICHT (Rechtsmittelkammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten M. Jaeger sowie der Richter A. Dittrich (Berichterstatter) und S. Frimodt Nielsen,
Kanzler: E. Coulon,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens
folgendes
Urteil
1 Mit seinem gemäß Art. 9 des Anhangs I der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union eingelegten Rechtsmittel beantragt
der Rechtsmittelführer, Herr Peter Schönberger, die Aufhebung des Urteils des Gerichts für den öffentlichen Dienst der Europäischen
Union (Erste Kammer) vom 5. November 2013, Schönberger/Rechnungshof (F-14/12, SlgÖD, EU:F:2013:167, im Folgenden: angefochtenes
Urteil), mit dem dieses seine Klage auf Aufhebung der Entscheidung des Rechnungshofs der Europäischen Union vom 26. Mai 2011,
ihn im Rahmen des Beförderungsverfahrens 2011 nicht nach Besoldungsgruppe AD 13 zu befördern, abgewiesen hat (im Folgenden:
streitige Entscheidung).
Sachverhalt
2 Der dem Rechtsstreit zugrunde liegende Sachverhalt wird in den Rn. 7 bis 15 des angefochtenen Urteils wie folgt wiedergegeben:
„7 Der Kläger war als damaliger Beamter des Europäischen Parlaments der Besoldungsgruppe A 5 in der Generaldirektion ‚Ausschüsse
und Delegationen‘ ab dem 1. Januar 2002 im dienstlichen Interesse zum Rechnungshof abgeordnet.
8 Am 1. Mai 2004 wurde die Besoldungsgruppe A 5 des Klägers in A*11 umbenannt.
9 Am 1. Januar 2005 wurde der Kläger vom Parlament nach Besoldungsgruppe A*12 befördert, die mit Wirkung vom 1. Mai 2006 in
AD 12 umbenannt wurde.
10 Seit dem 1. Januar 2007 ist der Kläger Beamter des Rechnungshofs.
11 In der Mitteilung an das Personal Nr. 76/2010 vom 15. Dezember 2010 über die Beförderungskriterien im Beförderungsverfahren
2011 wies der Generalsekretär des Rechnungshofs in Abschnitt IV (‚Die vom Paritätischen Beförderungsausschuss erlassenen Kriterien‘)
auf den Grundsatz der Abwägung der Verdienste hin und führte aus: ‚Nach den [Bestimmungen des Statuts der Beamten der Europäischen
Union] wird für normale Laufbahnen eine durchschnittliche Beförderungsrate im Vier- bis Fünfjahresrhythmus zugrunde gelegt.‘
Dabei führte er als einschlägige Statutsbestimmungen in einer Fußnote insbesondere Art. 6 Abs. 2 des Statuts [der Beamten
der Europäischen Union] und Art. 9 des Anhangs XIII [dieses] Statuts an.
12 In der Mitteilung an das Personal Nr. 37/11 vom 11. April 2011 über die Beförderungen nach den Besoldungsgruppen AD 13 und
AD 14 im Beförderungsverfahren 2011 gab der Generalsekretär des Rechnungshofs bekannt, dass für die Beförderung nach Besoldungsgruppe
AD 13 drei Stellen zur Verfügung stünden. Weiter hieß es in dieser Mitteilung, dass die einzelnen Beförderungsentscheidungen
‚jeweils auf der Grundlage eines Vorschlags einer Vorbereitungsgruppe [ergehen]‘ und dass die Vorbereitungsgruppe ‚die vom
Paritätischen Beförderungsausschuss für das Beförderungsverfahren 2011 festgelegten, in der Mitteilung an das Personal Nr. 76/2010
vom 15. Dezember 2010 bekanntgegebenen Kriterien [anwendet]‘.
13 In der Mitteilung an das Personal Nr. 43/2011 vom 26. Mai 2011 gab der Generalsekretär des Rechnungshofs die vom Rechnungshof
als Anstellungsbehörde erstellte Liste der drei nach Besoldungsgruppe AD 13 beförderten Beamten bekannt. Der Name des Klägers
stand nicht auf dieser Liste …
14 Mit Vermerk vom 30. Juli 2011 legte der Kläger gegen die streitige Entscheidung Beschwerde nach Art. 90 Abs. 2 des Statuts
[der Beamten der Europäischen Union] ein.
15 Mit Entscheidung vom 18. November 2011 wies der Rechnungshof die Beschwerde zurück.“
Verfahren im ersten Rechtszug und angefochtenes Urteil
3 Mit Schriftsatz, der am 4. Februar 2012 bei der Kanzlei des Gerichts für den öffentlichen Dienst einging, erhob der Rechtsmittelführer
eine Klage, die unter dem Aktenzeichen F-14/12 in das Register eingetragen wurde, auf Aufhebung der streitigen Entscheidung.
4 Der Kläger beantragte im ersten Rechtszug (angefochtenes Urteil, Rn. 17),
– die streitige Entscheidung aufzuheben;
– die Entscheidung vom 18. November 2011 über die Zurückweisung seiner Beschwerde aufzuheben;
– dem Rechnungshof die Kosten aufzuerlegen.
5 Der Rechnungshof beantragte im ersten Rechtszug, die Klage als unzulässig oder, hilfsweise, als unbegründet abzuweisen und
dem Kläger die Kosten aufzuerlegen (angefochtenes Urteil, Rn. 18).
6 Mit dem angefochtenen Urteil hat das Gericht für den öffentlichen Dienst die Klage als ausschließlich gegen die streitige
Entscheidung gerichtet angesehen und sodann die beiden vom Kläger zur Stützung seines Antrags auf Aufhebung der streitigen
Entscheidung angeführten Klagegründe zurückgewiesen und deshalb die Klage insgesamt abgewiesen.
7 Zum Ersten hat es in den Rn. 37 bis 50 des angefochtenen Urteils den ersten Klagegrund einer Verletzung von Art. 6 Abs. 2
und Art. 45 Abs. 1 des Statuts der Beamten der Europäischen Union (im Folgenden: Statut) zurückgewiesen, ohne über dessen
Zulässigkeit zu entscheiden. Mit diesem Klagegrund machte der Kläger nach Rn. 46 des angefochtenen Urteils geltend, angesichts
der Zahl der Beamten, die in Besoldungsgruppe AD 12 im aktiven Dienst gestanden hätten und zum 1. Januar 2010 für eine Beförderung
nach Besoldungsgruppe AD 13 in Betracht gekommen seien, hätte der Rechnungshof im Beförderungsverfahren 2011 13 Stellen und
nicht, wie geschehen, nur drei Stellen für die Beförderung nach Besoldungsgruppe AD 13 zur Verfügung stellen müssen.
8 Hierzu hat das Gericht für den öffentlichen Dienst ausgeführt, dass gemäß Art. 6 Abs. 1 des Statuts die Anzahl der Planstellen
je Besoldungs- und Funktionsgruppe in einem Stellenplan festgelegt sei, der dem Einzelplan des Haushaltsplans für jedes Organ
beigefügt sei. Dieser Stellenplan gewährleiste nach Art. 6 Abs. 2 Satz 1 des Statuts unbeschadet des in Art. 45 festgelegten
Grundsatzes einer Beförderung aufgrund der Verdienste, dass für jedes Organ die Zahl der zum 1. Januar eines jeden Jahres
freien Stellen in jeder Besoldungsgruppe der Zahl der Beamten im aktiven Dienst entspreche, die sich zum 1. Januar des Vorjahrs
in der jeweils niedrigeren Besoldungsgruppe befunden hätten, wobei die letztgenannte Zahl mit den in Anhang I Abschnitt B
des Statuts für diese Besoldungsgruppe festgelegten Sätzen multipliziert werde. Nach Art. 6 Abs. 2 Satz 2 des Statuts würden
die in diesem Anhang festgelegten Sätze ab dem 1. Mai 2004 auf der Grundlage eines Fünfjahresdurchschnitts angewandt (angefochtenes
Urteil, Rn. 38).
9 Daraus hat das Gericht für den öffentlichen Dienst den Schluss gezogen, dass die Organe nicht gewährleisten müssten, dass
die Zahl der für die Beförderung nach einer bestimmten Besoldungsgruppe vorhandenen freien Stellen in jedem Beförderungsjahr
genau der Zahl der Beamten im aktiven Dienst entspreche, die sich zum 1. Januar des Jahres vor dem Beförderungsverfahren in
der jeweils niedrigeren Besoldungsgruppe befunden hätten, wobei die letztgenannte Zahl mit dem in Anhang I Abschnitt B des
Statuts für diese Besoldungsgruppe festgelegten Satz multipliziert werde. Die Organe bräuchten lediglich dafür zu sorgen,
dass die Gesamtzahl der freien Stellen je Fünfjahreszeitraum der Summe der freien Stellen entspreche, die sich aus der Anwendung
des in Anhang I Abschnitt B des Statuts für die jeweilige Besoldungsgruppe festgelegten Satzes auf jedes der fünf Beförderungsverfahren
dieses Fünfjahreszeitraums ergäbe (angefochtenes Urteil, Rn. 39 und 40).
10 In den Rn. 41 bis 44 des angefochtenen Urteils hat das Gericht für den öffentlichen Dienst festgestellt, dass Art. 9 des Anhangs XIII
des Statuts u. a. für Beförderungen nach Besoldungsgruppe AD 13 bis zum 30. April 2011 jährlich steigende Sätze vorsehe, die
sich von denen in Anhang I Abschnitt B des Statuts unterschieden. Diese Bestimmung sei aber nicht so auszulegen, dass die
Verwaltung verpflichtet würde, für jedes von diesem Artikel erfasste Beförderungsverfahren die Zahl der freien Stellen genau
der Zahl der Beamten im aktiven Dienst anzupassen, die sich zum 1. Januar des Jahres vor dem Beförderungsverfahren in der
Besoldungsgruppe AD 12 befunden hätten, wobei die letztgenannte Zahl mit dem in Art. 9 des Anhangs XIII des Statuts für diese
Besoldungsgruppe festgelegten Satz multipliziert werde.
11 Da das Beförderungsjahr 2011 Teil des Fünfjahreszeitraums sei, der im Fall des Rechnungshofs die Beförderungsjahre 2010 bis
2014 umfasse, stelle der Umstand, dass im Jahr 2011 nur drei Beförderungsstellen zur Verfügung gestanden hätten, für sich
genommen keinen Verstoß gegen Art. 9 des Anhangs XIII des Statuts dar. Das Gericht für den öffentlichen Dienst hat klargestellt,
dass der Rechnungshof letztlich im Rahmen des letzten Beförderungsjahrs des streitigen Fünfjahreszeitraums, d. h. im Beförderungsjahr
2014, für die Beförderung nach Besoldungsgruppe AD 13 eine so große Zahl von Stellen verfügbar zu machen haben werde, dass
die Zahl der in den Beförderungsjahren 2010 bis 2014 für eine Beförderung nach Besoldungsgruppe AD 13 verfügbaren Stellen
am Ende der Summe der Stellen entspreche, die auf der Grundlage einer strikten Anwendung der in Art. 9 des Anhangs XIII des
Statuts und in Anhang I Abschnitt B des Statuts festgelegten Sätze in jedem dieser aufeinanderfolgenden Beförderungsjahre
zur Verfügung gestellt worden wären (angefochtenes Urteil, Rn. 48 und 49).
12 Zum Zweiten hat das Gericht für den öffentlichen Dienst in den Rn. 55 bis 59 des angefochtenen Urteils den zweiten Klagegrund
eines Verstoßes gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung zurückgewiesen. Es könne nicht angenommen werden, dass sich der Kläger
in einer vergleichbaren Situation wie die Beamten befinde, die in Beförderungsverfahren vor dem des Jahres 2011 nach Besoldungsgruppe
AD 13 befördert worden seien. Im Übrigen könnten etwaige Unterschiede zwischen den Maßnahmen der Organe nach ständiger Rechtsprechung
von Beamten eines anderen Organs nicht zur Stützung eines Klagegrundes angeführt werden, mit dem die Verletzung des Grundsatzes
der Gleichbehandlung geltend gemacht werde.
Verfahren vor dem Gericht und Anträge der Verfahrensbeteiligten
13 Mit Schriftsatz, der am 8. Januar 2014 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangen ist, hat der Rechtsmittelführer das vorliegende
Rechtsmittel eingelegt.
14 Am 4. April 2014 hat der Rechnungshof die Rechtsmittelbeantwortung eingereicht.
15 Am 28. April 2014 ist das schriftliche Verfahren geschlossen worden, ohne dass der Rechtsmittelführer einen Antrag nach Art. 143
§ 2 der Verfahrensordnung des Gerichts auf Ergänzung der Rechtsmittelschrift durch eine Erwiderung gestellt hätte.
16 Das Gericht (Rechtsmittelkammer) hat auf Bericht des Berichterstatters festgestellt, dass die Verfahrensbeteiligten binnen
einem Monat nach der Mitteilung, dass das schriftliche Verfahren abgeschlossen ist, keinen Antrag auf Anberaumung einer mündlichen
Verhandlung gestellt haben, und beschlossen, gemäß Art. 146 der Verfahrensordnung ohne mündliche Verhandlung zu entscheiden.
17 Der Rechtsmittelführer beantragt,
– das angefochtene Urteil aufzuheben;
– seinen Anträgen im ersten Rechtszug stattzugeben;
– dem Rechnungshof die Kosten aufzuerlegen.
18 Der Rechnungshof beantragt,
– das Rechtsmittel zurückzuweisen,
– dem Rechtsmittelführer die Kosten aufzuerlegen.
Zum Rechtsmittel
19 Der Rechtsmittelführer stützt sein Rechtsmittel auf sieben Gründe. Die ersten sechs betreffen die Zurückweisung seines ersten
Klagegrundes durch das Gericht für den öffentlichen Dienst, während sich der siebte auf die Zurückweisung seines zweiten Klagegrundes
bezieht.
20 Mit dem ersten Rechtsmittelgrund wird gerügt, dass das Gericht für den öffentlichen Dienst es versäumt habe, über den ersten
Klagegrund zu entscheiden, wonach im Beförderungsjahr 2011 mit nur drei für Beförderungen verfügbaren Stellen der im Statut
vorgegebene Fünfjahresdurchschnitt für die Jahre 2007 bis 2011 um zehn Stellen verfehlt worden sei. Mit seinem zweiten Rechtsmittelgrund
macht der Rechtsmittelführer geltend, das Gericht für den öffentlichen Dienst habe die Position der Parteien verfälscht, indem
es die Beförderungsjahre 2010 bis 2014 zum streitigen Fünfjahreszeitraum erklärt habe. Mit dem dritten Rechtsmittelgrund wird
eine Verletzung der Verteidigungsrechte gerügt, weil dem Rechtsmittelführer keine Gelegenheit gegeben worden sei, zu dem vom
Gericht für den öffentlichen Dienst als relevant unterstellten Fünfjahreszeitraum Stellung zu nehmen, während mit dem vierten
Rechtsmittelgrund ein Verstoß gegen die Begründungspflicht geltend gemacht wird, da das Gericht für den öffentlichen Dienst
nicht begründet habe, warum der Fünfjahreszeitraum 2010 bis 2014 als Bezugszeitraum anzunehmen sein solle. Mit dem fünften
und dem sechsten Rechtsmittelgrund rügt der Rechtsmittelführer zum einen, das Gericht für den öffentlichen Dienst setze sich
mit seiner Auslegung des Statuts in Widerspruch zum Willen des Gesetzgebers, im Jahr 2014 mit einem neuen Fünfjahreszeitraum
zu beginnen, und zum anderen eine Verletzung des Grundsatzes des berechtigten Vertrauens. Mit dem siebten Rechtsmittelgrund
wird schließlich eine fehlerhafte Anwendung des Grundsatzes der Gleichbehandlung geltend gemacht.
21 Das Gericht hält es für zweckmäßig, zunächst den dritten Rechtsmittelgrund zu prüfen, mit dem eine Verletzung der Verteidigungsrechte
gerügt wird.
22 Der Rechtsmittelführer trägt vor, das Gericht für den öffentlichen Dienst habe, da ihm keine Gelegenheit gegeben worden sei,
zu der Frage Stellung zu nehmen, ob für das Beförderungsjahr 2011 der Fünfjahreszeitraum 2010 bis 2014 als Bezugszeitraum
anzunehmen gewesen sei, seine Verteidigungsrechte verletzt, indem es gegen den Grundsatz des kontradiktorischen Verfahrens
verstoßen habe. Wie sich aus Rn. 48 des angefochtenen Urteils ergebe, sei für das Gericht für den öffentlichen Dienst von
entscheidender Bedeutung gewesen, dass es das Beförderungsjahr 2011 als Teil des Zeitraums 2010 bis 2014 einordne. Das Gericht
für den öffentlichen Dienst habe weder in seinen prozessleitenden Maßnahmen noch in der mündlichen Verhandlung darauf hingewiesen,
dass dieser Zeitraum als Bezugszeitraum heranzuziehen sei. Statt auf die Argumente der Parteien einzugehen, habe das Gericht
für den öffentlichen Dienst diese in eigener Initiative ersetzt. Es könne nicht ausgeschlossen werden, dass das Verfahren
ohne diese Unregelmäßigkeit zu einem anderen Ergebnis geführt hätte.
23 Nach der Rechtsprechung sind die Verteidigungsrechte, zu denen der Grundsatz des kontradiktorischen Verfahrens gehört, für
die Gestaltung und Durchführung eines fairen Verfahrens von herausragender Bedeutung. Dieser Grundsatz gilt für jedes Verfahren,
das zu einer Entscheidung eines Organs führen kann, durch die Interessen eines Dritten spürbar beeinträchtigt werden. Er umfasst
im Allgemeinen das Recht der Verfahrensbeteiligten, zu den Tatsachen und Schriftstücken Stellung nehmen zu können, auf die
eine gerichtliche Entscheidung gestützt wird, und die dem Gericht vorgelegten Beweise und Erklärungen sowie die rechtlichen
Gesichtspunkte zu erörtern, die das Gericht von Amts wegen berücksichtigt hat und auf die es seine Entscheidung gründen möchte.
Für die Erfüllung der Anforderungen im Zusammenhang mit dem Recht auf ein faires Verfahren kommt es nämlich darauf an, dass
die Beteiligten sowohl die tatsächlichen als auch die rechtlichen Umstände, die für den Ausgang des Verfahrens entscheidend
sind, kontradiktorisch erörtern können (vgl. Urteile vom 17. Dezember 2009, Überprüfung M/EMEA, C-197/09 RX-II, Slg, EU:C:2009:804,
Rn. 39 bis 41, und vom 4. Dezember 2013, ETF/Schuerings, T-107/11 P, SlgÖD, EU:T:2013:624, Rn. 51 und die dort angeführte
Rechtsprechung).
24 Im vorliegenden Fall hat das Gericht für den öffentlichen Dienst nach seiner Feststellung in Rn. 47 des angefochtenen Urteils,
dass die in Art. 9 des Anhangs XIII des Statuts festgelegten Multiplikationssätze auf der Grundlage eines Fünfjahreszeitraums
angewandt würden, den ersten Klagegrund mit der in Rn. 48 dieses Urteils enthaltenen Begründung zurückgewiesen, dass das Beförderungsjahr
2011 Teil des Fünfjahreszeitraums sei, der im Fall des Rechnungshofs die Beförderungsjahre 2010 bis 2014 umfasse, und der
Umstand, dass im Jahr 2011 nur drei Beförderungsstellen zur Verfügung gestanden hätten, deshalb für sich genommen keinen Verstoß
gegen Art. 9 des Anhangs XIII des Statuts darstelle. Der Rechnungshof werde letztlich im Rahmen des letzten Beförderungsjahrs
des streitigen Fünfjahreszeitraums, d. h. im Beförderungsjahr 2014, für die Beförderung nach Besoldungsgruppe AD 13 eine so
große Zahl von Stellen verfügbar zu machen haben, dass die Zahl der in den Beförderungsjahren 2010 bis 2014 für eine Beförderung
nach Besoldungsgruppe AD 13 verfügbaren Stellen am Ende der Summe der Stellen entspreche, die auf der Grundlage einer strikten
Anwendung der in Art. 9 des Anhangs XIII des Statuts und in Anhang I Abschnitt B des Statuts festgelegten Sätze in jedem dieser
aufeinanderfolgenden Beförderungsjahre zur Verfügung gestellt worden wären (angefochtenes Urteil, Rn. 49).
25 Zum Ersten ist festzustellen, dass das Gericht für den öffentlichen Dienst dadurch, dass es den ersten Klagegrund mit der
Begründung zurückgewiesen hat, bei dem relevanten Bezugszeitraum handele es sich um den Fünfjahreszeitraum 2010 bis 2014,
nicht nur die Begründung ausgewechselt hat, sondern diese Zurückweisung auch auf tatsächliche und rechtliche Umstände gestützt
hat, die vor ihm nicht erörtert worden waren, so dass es gegen den Grundsatz des kontradiktorischen Verfahrens verstoßen hat.
26 Entgegen dem Vorbringen des Rechnungshofs lässt sich den Akten des ersten Rechtszugs nicht entnehmen, dass die entscheidende
Frage, ob für das Beförderungsjahr 2011 der Fünfjahreszeitraum 2010 bis 2014 als Bezugszeitraum heranzuziehen war, vor dem
Gericht für den öffentlichen Dienst kontradiktorisch erörtert wurde.
27 Zur Begründung der streitigen Entscheidung hatte sich der Rechnungshof nämlich nicht auf die vom Gericht für den öffentlichen
Dienst vorgenommene Auslegung von Art. 6 Abs. 2 des Statuts gestützt, der zufolge die betreffenden Multiplikationssätze auf
den Fünfjahreszeitraum 2010 bis 2014 anzuwenden seien und deshalb der Umstand, dass im Jahr 2011 nur drei Beförderungsstellen
zur Verfügung gestanden hätten, keinen Verstoß gegen Art. 9 des Anhangs XIII des Statuts darstelle.
28 Wie sich aus seiner die Beschwerde des Rechtsmittelführers zurückweisenden Entscheidung vom 18. November 2011 und seinen Ausführungen
in der Klagebeantwortung im ersten Rechtszug ergibt, machte der Rechnungshof geltend, dass für das Beförderungsjahr 2011 die
betreffenden Multiplikationssätze auf der Grundlage des Fünfjahreszeitraums 2007 bis 2011 anzuwenden seien. Bei der Anwendung
der in Art. 6 Abs. 2 des Statuts vorgesehenen Berechnungsregeln auf diesen Zeitraum war der Rechnungshof der Auffassung, er
habe im Rahmen des Beförderungsverfahrens 2011 grundsätzlich mindestens 13 für Beförderungen nach Besoldungsgruppe AD 13 verfügbare
Stellen zu schaffen. Der Rechnungshof meinte jedoch, er müsse die Anzahl dieser Stellen verringern, um den Grundsatz der Äquivalenz
zwischen der Entwicklung durchschnittlicher Laufbahnen in der vor und der nach dem 1. Mai 2004 geltenden Laufbahnstruktur
zu beachten. Er habe über den Gesamtzeitraum 2005 bis 2011 eine fast ausgeglichene Zahl von Beförderungen erreicht. Dass er
2011, bezogen auf den Gesamtzeitraum 2005 bis 2011, mit zwei Beförderungen im Rückstand gewesen sei, sei ihm angesichts des
Umstands, dass er die Mindestzahl von verfügbar zu machenden Stellen im Rahmen der ersten Beförderungsjahre nach 2004 überschritten
habe, und angesichts der Haushaltszwänge hinnehmbar erschienen. Der Rechnungshof betonte, dass dieses Defizit demnächst korrigiert
werden solle.
29 Aus Fn. 2 der die Beschwerde des Rechtsmittelführers zurückweisenden Entscheidung des Rechnungshofs vom 18. November 2011
sowie der Klagebeantwortung ergibt sich, dass sich der Rechnungshof ausdrücklich dafür entschieden hat, den Zeitraum 2010
bis 2014 nicht als den in Art. 6 Abs. 2 des Statuts vorgesehenen Fünfjahreszeitraum heranzuziehen. Dazu hat der Rechnungshof
ausgeführt, dass die Methode, die darin bestehe, einen neuen Fünfjahreszeitraum 2010 bis 2014 zu eröffnen, dem Geist des Art. 6
des Statuts, Korrekturmaßnahmen und Anpassungen bei Abweichung von den Sätzen in den ersten Jahren vornehmen zu können sowie
die Kohärenz mit dem Stellenplan und die Einhaltung des Äquivalenzgrundsatzes und der Haushaltsdisziplin zu gewährleisten,
nicht entsprochen hätte.
30 Das Gericht für den öffentlichen Dienst hat zwar im Rahmen der in Art. 55 der Verfahrensordnung dieses Gerichts vorgesehenen
prozessleitenden Maßnahmen den Rechnungshof dazu aufgefordert, zwei Fragen zum Beförderungsverfahren 2012 zu beantworten.
Diesen Fragen ist jedoch nicht zu entnehmen, dass das Gericht für den öffentlichen Dienst den vom Rechnungshof herangezogenen
Fünfjahreszeitraum in Frage stellte.
31 Schließlich lässt das Vorbringen des Rechnungshofs, er habe in der mündlichen Verhandlung im ersten Rechtszug auf die Zahl
freier Stellen im Stellenplan 2013 hingewiesen, nicht die Annahme zu, dass die Frage des vom Rechnungshof herangezogenen Fünfjahreszeitraums
vor dem Gericht für den öffentlichen Dienst erörtert wurde, da dem Sitzungsprotokoll nichts zum Inhalt der Erörterungen zu
entnehmen ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 11. September 2013, L/Parlament, T-317/10 P, SlgÖD, EU:T:2013:413, Rn. 110).
32 Zum Zweiten ist die Frage zu prüfen, ob die Vorgehensweise des Gerichts für den öffentlichen Dienst deshalb unbeanstandet
bleiben kann, weil das Verfahren auch ohne die fragliche Unregelmäßigkeit nicht zu einem anderen Ergebnis führen konnte, so
dass die Nichtbeachtung des Grundsatzes des kontradiktorischen Verfahrens keinen Einfluss auf den Inhalt des angefochtenen
Urteils haben konnte und die Interessen des Rechtsmittelführers nicht beeinträchtigt hat (vgl. Urteil Überprüfung M/EMEA,
EU:C:2009:804, Rn. 52 und die dort angeführte Rechtsprechung).
33 Hierzu ist festzustellen, dass durch eine Erörterung des Fünfjahreszeitraums gemäß Art. 6 Abs. 2 des Statuts vor dem Gericht
für den öffentlichen Dienst hätte klargestellt werden können, dass der vom Rechnungshof in der streitigen Entscheidung herangezogene
Zeitraum der von 2007 bis 2011 war und dass die Zurückweisung des ersten Klagegrundes unter Heranziehung des Zeitraums 2010
bis 2014 eine Auswechslung der Begründung bedeuten würde.
34 Es ist daran zu erinnern, dass das Gericht für den öffentlichen Dienst gemäß Art. 270 AEUV und Art. 91 Abs. 1 des Statuts
in nicht vermögensrechtlichen Streitigkeiten befugt ist, die Rechtmäßigkeit eines beschwerenden Rechtsakts zu überprüfen (Urteil
vom 16. Dezember 2010, Rat/Stols, T-175/09 P, SlgÖD, EU:T:2010:534, Rn. 22). Ist die Klage begründet, so ist die angefochtene
Handlung nach Art. 264 AEUV für nichtig zu erklären. Der Unionsrichter darf somit auf keinen Fall die vom Verfasser der angefochtenen
Handlung gegebene Begründung durch seine eigene ersetzen (Urteile vom 27. Januar 2000, DIR International Film u. a./Kommission,
C-164/98 P, Slg, EU:C:2000:48, Rn. 38, vom 22. Dezember 2008, British Aggregates/Kommission, C-487/06 P, Slg, EU:C:2008:757,
Rn. 141, und vom 28. Februar 2013, Portugal/Kommission, C-246/11 P, EU:C:2013:118, Rn. 85).
35 Deshalb kann nicht ausgeschlossen werden, dass die Beurteilung des Gerichts für den öffentlichen Dienst anders hätte ausfallen
können, wenn es dem Rechtsmittelführer Gelegenheit gegeben hätte, zum Fünfjahreszeitraum gemäß Art. 6 Abs. 2 des Statuts Stellung
zu nehmen, und dass damit die Beachtung des Grundsatzes des kontradiktorischen Verfahrens Einfluss auf den Inhalt des angefochtenen
Urteils haben konnte.
36 Dem dritten Rechtsmittelgrund ist demnach stattzugeben und das angefochtene Urteil daher aufzuheben, ohne dass es erforderlich
ist, die übrigen angeführten Rechtsmittelgründe zu prüfen.
Zu den Folgen der Aufhebung des angefochtenen Urteils
37 Nach Art. 13 Abs. 1 des Anhangs I der Satzung des Gerichtshofs hebt das Gericht, wenn das Rechtsmittel begründet ist, die
Entscheidung des Gerichts für den öffentlichen Dienst auf und entscheidet den Rechtsstreit selbst. Es verweist die Sache zur
Entscheidung an das Gericht für den öffentlichen Dienst zurück, wenn der Rechtsstreit noch nicht zur Entscheidung reif ist.
38 Im vorliegenden Fall hat der Rechtsmittelführer seine Klage im ersten Rechtszug auf zwei Klagegründe gestützt, nämlich erstens
auf eine Verletzung von Art. 6 Abs. 2 und Art. 45 Abs. 1 des Statuts und zweitens auf einen Verstoß gegen den Grundsatz der
Gleichbehandlung. Der Rechnungshof war im ersten Rechtszug der Auffassung, dass diese Klagegründe unzulässig oder, hilfsweise,
unbegründet seien. Wie aus den Rn. 37, 50 und 58 des angefochtenen Urteils hervorgeht, hat das Gericht für den öffentlichen
Dienst diese Klagegründe als unbegründet zurückgewiesen, ohne über ihre Zulässigkeit zu entscheiden.
39 Was den ersten Rechtsmittelgrund anbelangt, hat der Rechtsmittelführer im Wesentlichen geltend gemacht, im Beförderungsverfahren
2011 hätten lediglich drei Stellen für Beförderungen nach AD 13 zur Verfügung gestanden, obwohl gemäß Art. 6 Abs. 2 des Statuts
in Verbindung mit Art. 9 des Anhangs XIII des Statuts mindestens 13 Stellen zur Verfügung hätten stehen müssen. Zur Frage,
ob dieser Rechtsmittelgrund zulässig ist, ist darauf hinzuweisen, dass ein Beamter nach ständiger Rechtsprechung nicht befugt
ist, im Interesse des Gesetzes oder der Organe tätig zu werden, und zur Begründung einer Anfechtungsklage nur Rügen geltend
machen kann, die ihn persönlich betreffen. Als beschwerende Maßnahmen können insbesondere nur solche angesehen werden, die
die Rechtsstellung der Betroffenen unmittelbar und sofort berühren, wobei diese Prüfung nicht abstrakt, sondern unter Berücksichtigung
der persönlichen Situation des Klägers zu erfolgen hat (vgl. Urteil vom 24. April 2009, Sanchez Ferriz u. a./Kommission, T-492/07 P,
SlgÖD, EU:T:2009:116, Rn. 26 und die dort angeführte Rechtsprechung). Um sein Interesse an einer Aufhebung der streitigen
Entscheidung wegen der Nichteinhaltung der für die betroffene Besoldungsgruppe angeblich geltenden Beförderungsquote nachzuweisen,
hatte der Rechtsmittelführer darzutun, dass es für ihn unter Berücksichtigung seiner persönlichen Situation nicht ausgeschlossen
gewesen wäre, die Beförderungsschwelle zu erreichen, wenn die genannte Beförderungsquote angewandt worden wäre (vgl. in diesem
Sinne Urteil Sanchez Ferriz u. a./Kommission, EU:T:2009:116, Rn. 34).
40 Die Prüfung der Frage, ob der Rechtsmittelführer diesen Beweis erbracht hat, erfordert eine vom Gericht für den öffentlichen
Dienst nicht vorgenommene Tatsachenwürdigung, und zwar die Würdigung der Umstände, die der Rechtsmittelführer zu seiner persönlichen
Situation im Hinblick auf das Beförderungsverfahren 2011 zum Nachweis dafür dargelegt hat, dass die von ihm begehrte Aufhebung
ihm die Aussicht auf eine Beförderung eröffnen könnte. Für die Tatsachenwürdigung ist jedoch das Gericht des ersten Rechtszugs
zuständig. Darüber hinaus haben die Verfahrensbeteiligten dem Gericht gegenüber zu dieser Frage nicht Stellung genommen. Unter
diesen Umständen ist das Gericht der Auffassung, dass der vorliegende Rechtsstreit noch nicht zur Entscheidung reif ist. Die
Sache ist daher an das Gericht für den öffentlichen Dienst zurückzuverweisen.
Kosten
41 Da die Sache an das Gericht für den öffentlichen Dienst zurückverwiesen wird, ist die Entscheidung über die Kosten des vorliegenden
Rechtsmittelverfahrens vorzubehalten.
Aus diesen Gründen hat
DAS GERICHT (Rechtsmittelkammer)
für Recht erkannt und entschieden:
1. Das Urteil des Gerichts für den öffentlichen Dienst der Europäischen Union (Erste Kammer) vom 5. November 2013, Schönberger/Rechnungshof
(F-14/12), wird aufgehoben.
2. Die Sache wird an das Gericht für den öffentlichen Dienst zurückverwiesen.
3. Die Kostenentscheidung bleibt vorbehalten.
Jaeger
Dittrich
Frimodt Nielsen
Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 16. Oktober 2014.
Unterschriften
* Verfahrenssprache: Deutsch.
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Urteil des Gerichtshofs (Dritte Kammer) vom 27. Juni 2013.#ET Agrokonsulting-04-Velko Stoyanov gegen Izpalnitelen direktor na Darzhaven fond „Zemedelie“ – Razplashtatelna agentsia.#Vorabentscheidungsersuchen des Administrativen sad Sofia-grad.#Landwirtschaft – Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten – Gemeinsame Agrarpolitik – Beihilfen – Prüfung verwaltungsrechtlicher Streitigkeiten – Bestimmung des zuständigen Gerichts – Nationales Kriterium – Verwaltungsgericht, in dessen Bezirk die Behörde ihren Sitz hat, die den angefochtenen Verwaltungsakt erlassen hat – Äquivalenzgrundsatz – Effektivitätsgrundsatz – Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union.#Rechtssache C‑93/12.
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62012CJ0093
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ECLI:EU:C:2013:432
| 2013-06-27T00:00:00 |
Bot, Gerichtshof
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Sammlung der Rechtsprechung – allgemein
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62012CJ0093
URTEIL DES GERICHTSHOFS (Dritte Kammer)
27. Juni 2013 (*1)
„Landwirtschaft — Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten — Gemeinsame Agrarpolitik — Beihilfen — Prüfung verwaltungsrechtlicher Streitigkeiten — Bestimmung des zuständigen Gerichts — Nationales Kriterium — Verwaltungsgericht, in dessen Bezirk die Behörde ihren Sitz hat, die den angefochtenen Verwaltungsakt erlassen hat — Äquivalenzgrundsatz — Effektivitätsgrundsatz — Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union“
In der Rechtssache C-93/12
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Administrativen sad Sofia-grad (Bulgarien) mit Entscheidung vom 9. Februar 2012, beim Gerichtshof eingegangen am 21. Februar 2012, in dem Verfahren
ET Agrokonsulting-04-Velko Stoyanov
gegen
Izpalnitelen direktor na Darzhaven fond „Zemedelie“ – Razplashtatelna agentsia
erlässt
DER GERICHTSHOF (Dritte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten M. Ilešič, des Vizepräsidenten des Gerichtshofs K. Lenaerts in Wahrnehmung der Aufgaben eines Richters der Dritten Kammer sowie der Richter E. Jarašiūnas, A. Ó Caoimh (Berichterstatter) und C. G. Fernlund,
Generalanwalt: Y. Bot,
Kanzler: M. Aleksejev, Verwaltungsrat,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 6. Februar 2013,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
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der ET Agrokonsulting-04-Velko Stoyanov, vertreten durch R. Trifonova, advokat,
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des Izpalnitelen direktor na Darzhaven fond „Zemedelie“ – Razplashtatelna agentsia, vertreten durch R. Porozhanov und I. Boyanov als Bevollmächtigte,
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der bulgarischen Regierung, vertreten durch E. Petranova als Bevollmächtigte,
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der deutschen Regierung, vertreten durch T. Henze als Bevollmächtigten,
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der Europäischen Kommission, vertreten durch H. Tserepa-Lacombe und N. Nikolova als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 14. März 2013
folgendes
Urteil
1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Grundsätze der Effektivität und der Äquivalenz und von Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta).
2 Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der ET Agrokonsulting-04-Velko Stoyanov (im Folgenden: Agrokonsulting) und dem Izpalnitelen direktor na Darzhaven fond „Zemedelie“ – Razplashtatelna agentsia (geschäftsführender Direktor des nationalen Fonds „Landwirtschaft“ – Zahlstelle, im Folgenden: Direktor) wegen eines Beihilfeantrags zur Erlangung einer Finanzierung im Rahmen der gemeinsamen Agrarpolitik der Europäischen Union.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
3 Mit der Verordnung (EG) Nr. 73/2009 des Rates vom 19. Januar 2009 mit gemeinsamen Regeln für Direktzahlungen im Rahmen der gemeinsamen Agrarpolitik und mit bestimmten Stützungsregelungen für Inhaber landwirtschaftlicher Betriebe und zur Änderung der Verordnungen (EG) Nr. 1290/2005, (EG) Nr. 247/2006, (EG) Nr. 378/2007 sowie zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1782/2003 (ABl. L 30, S. 16) wird nach ihrem Art. 1 Buchst. c und ihrem Art. 2 Buchst. g in ihrem Titel V Kapitel 2 u. a. eine Regelung für die sogenannte „einheitliche Flächenzahlung“ festgelegt, d. h. eine Übergangsregelung für eine vereinfachte Einkommensstützung zugunsten der Betriebsinhaber in den Mitgliedstaaten, die der Union 2004 und 2007 beigetreten sind.
4 Mit dieser Verordnung wird, wie aus ihrem Art. 1 Buchst. e hervorgeht, auch ein Rahmen festgelegt, der es den genannten Mitgliedstaaten ermöglicht, „ergänzende Direktzahlungen“ zu tätigen. Dieser Rahmen ist in Art. 132 („Ergänzende nationale Direktzahlungen und Direktzahlungen“) der Verordnung vorgesehen, nach dem die betreffenden Mitgliedstaaten vorbehaltlich der Genehmigung durch die Europäische Kommission die Möglichkeit haben, unter Beachtung der in diesem Artikel vorgesehenen Modalitäten die Direktzahlungen aufzustocken, die den Betriebsinhabern im Rahmen einer der in Anhang I der Verordnung aufgeführten Stützungsregelungen gewährt werden. In diesem Anhang ist u. a. die Regelung für die einheitliche Flächenzahlung aufgeführt.
5 Nach Art. 14 der Verordnung Nr. 73/2009 in Verbindung mit dem genannten Anhang muss jeder Mitgliedstaat u. a. für die Regelung für die einheitliche Flächenzahlung ein „integriertes Verwaltungs- und Kontrollsystem“ einrichten. Nach Art. 15 Abs. 1 dieser Verordnung muss dieses System umfassen: eine elektronische Datenbank, ein System zur Identifizierung landwirtschaftlicher Parzellen, ein System zur Identifizierung und Registrierung von Zahlungsansprüchen, Beihilfeanträge, ein integriertes Kontrollsystem und ein einheitliches System zur Erfassung jedes Betriebsinhabers, der einen Beihilfeantrag stellt.
6 Art. 16 der Verordnung Nr. 73/2009 lautet:
„(1) In die elektronische Datenbank werden für jeden landwirtschaftlichen Betrieb die Daten aus den Beihilfeanträgen eingespeichert.
Diese Datenbank ermöglicht über die zuständige Behörde des betreffenden Mitgliedstaats insbesondere den Abruf der Daten der Kalender- und/oder Wirtschaftsjahre ab dem Jahr 2000. Sie ermöglicht auch den direkten und sofortigen Abruf der Daten der letzten vier Jahre.
(2) Die Mitgliedstaaten können dezentrale Datenbanken einrichten, sofern diese sowie die Verwaltungsverfahren für die Datenerfassung und -speicherung im ganzen Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats einheitlich und im Hinblick auf einen Kontrollabgleich untereinander kompatibel sind.“
7 Nach Art. 17 der Verordnung Nr. 73/2009 stützt sich „[d]as System zur Identifizierung landwirtschaftlicher Parzellen … auf Katasterpläne und -unterlagen oder anderes Kartenmaterial“. Dazu müssen „computergestützte geografische Informationssystemtechniken eingesetzt [werden], vorzugsweise einschließlich Luft- und Satellitenorthobildern“.
8 Art. 18 dieser Verordnung lautet:
„(1) Ein System zur Identifizierung und Registrierung von Zahlungsansprüchen wird errichtet, das die Prüfung der Ansprüche und einen Kontrollabgleich mit den Beihilfeanträgen und dem Identifizierungssystem für landwirtschaftliche Parzellen ermöglicht.
(2) Das System nach Absatz 1 ermöglicht über die zuständige Behörde des Mitgliedstaats den direkten und sofortigen Abruf der Daten mindestens der letzten vier aufeinander folgenden Kalenderjahre.“
9 Nach Art. 19 der Verordnung Nr. 73/2009 müssen die Beihilfeanträge für die Direktzahlungen u. a. im Rahmen der Regelung für die einheitliche Flächenzahlung jedes Jahr eingereicht werden.
10 Art. 20 Abs. 1 und 2 dieser Verordnung sieht vor:
„(1) Die Mitgliedstaaten prüfen die Beihilfevoraussetzungen der Beihilfeanträge im Wege der Verwaltungskontrolle.
(2) Die Verwaltungskontrollen werden durch ein System der Vor-Ort-Kontrolle zur Prüfung der Beihilfefähigkeit ergänzt. Dazu stellen die Mitgliedstaaten einen Stichprobenplan für die landwirtschaftlichen Betriebe auf.
Die Mitgliedstaaten können die Vor-Ort-Überprüfungen der landwirtschaftlichen Parzellen mittels Fernerkundung und globalem Satellitennavigationssystem (GNSS) durchführen.“
11 Art. 29 Abs. 2 und 3 der Verordnung Nr. 73/2009 lautet:
„(2) Die Zahlungen erfolgen in bis zu zwei Tranchen pro Jahr zwischen dem 1. Dezember und dem 30. Juni des jeweils folgenden Kalenderjahres.
(3) Zahlungen im Rahmen von Stützungsregelungen gemäß Anhang I erfolgen erst, nachdem die von den Mitgliedstaaten vorzunehmende Prüfung der Beihilfevoraussetzungen gemäß Artikel 20 abgeschlossen worden ist.“
12 Nach Art. 122 der Verordnung Nr. 73/2009 wird die einheitliche Flächenzahlung jährlich gewährt.
13 In Art. 124 Abs. 1 und 2 dieser Verordnung heißt es:
„(1) …
Die landwirtschaftliche Fläche Bulgariens und Rumäniens im Sinne der Regelung für die einheitliche Flächenzahlung ist der Teil der landwirtschaftlich genutzten Fläche, der sich, gleichgültig, ob tatsächlich genutzt oder nicht, in gutem landwirtschaftlichem Zustand befindet und gegebenenfalls nach den von Bulgarien oder Rumänien nach Genehmigung durch die Kommission festgelegten objektiven und nichtdiskriminierenden Kriterien angepasst wurde.
(2) Für Zahlungen im Rahmen der Regelung für die einheitliche Flächenzahlung … [kommen] [f]ür Bulgarien und Rumänien … alle Arten landwirtschaftlicher Parzellen in Betracht, die den Kriterien des Absatzes 1 genügen, sowie landwirtschaftliche Parzellen mit Niederwald mit Kurzumtrieb …
…“
14 Wie aus ihrem Titel hervorgeht, enthält die Verordnung (EG) Nr. 1122/2009 der Kommission vom 30. November 2009 mit Durchführungsbestimmungen zur Verordnung Nr. 73/2009 hinsichtlich der Einhaltung anderweitiger Verpflichtungen, der Modulation und des integrierten Verwaltungs- und Kontrollsystems im Rahmen der Stützungsregelungen für Inhaber landwirtschaftlicher Betriebe gemäß der genannten Verordnung und mit Durchführungsbestimmungen zur Verordnung (EG) Nr. 1234/2007 hinsichtlich der Einhaltung anderweitiger Verpflichtungen im Rahmen der Stützungsregelung für den Weinsektor (ABl. L 316, S. 65) u. a. Durchführungsbestimmungen zur Verordnung Nr. 73/2009 hinsichtlich der Einhaltung anderweitiger Verpflichtungen, der Modulation und des integrierten Verwaltungs- und Kontrollsystems im Rahmen der Stützungsregelungen für Inhaber landwirtschaftlicher Betriebe gemäß dieser Verordnung.
15 Art. 58 der Verordnung Nr. 1122/2009 sieht bei Beihilfeanträgen im Rahmen von flächenbezogenen Beihilferegelungen, zu denen nach Art. 2 Abs. 12 dieser Verordnung u. a. die Regelung für die einheitliche Flächenzahlung gemäß Titel V der Verordnung Nr. 73/2009 zählt, Kürzungen und Ausschlüsse in Fällen von zu viel angemeldeten Flächen vor.
Bulgarisches Recht
16 Der Zakon za podpomagane na zemedelskite proizvoditeli (Gesetz über die Stützung von Inhabern landwirtschaftlicher Betriebe, DV Nr. 58 vom 22. Mai 1998) in seiner auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren Fassung regelt nach seinem Art. 1 Abs. 1 und 6 u. a. „die staatlichen Beihilfen für Inhaber landwirtschaftlicher Betriebe für die Erzeugung landwirtschaftlicher Erzeugnisse … und die im nationalen Plan für die Entwicklung der Landwirtschaft und der landwirtschaftlichen Regionen vorgesehenen Maßnahmen“ sowie „die Durchführung der Regelung der einheitlichen Flächenzahlung im Rahmen der gemeinsamen Agrarpolitik der Europäischen Union“.
17 Nach Art. 32 Abs. 1 dieses Gesetzes sind Beihilfeanträge bei den regionalen Büros der Zahlstelle einzureichen.
18 Art. 1 der Naredba Nr. 5/2009 g. za usloviata i reda za podavane na zayavlenia po shemi i merki za podpomagane na plosht (Verordnung Nr. 5/2009 über die Voraussetzungen und Modalitäten der Einreichung von Anträgen im Rahmen der flächenbezogenen Stützungsregelungen und -maßnahmen) in der auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren Fassung lautet:
„Mit dieser Verordnung werden die Voraussetzungen und Modalitäten für die Einreichung von Beihilfeanträgen im Rahmen folgender Regelungen und Maßnahmen der gemeinsamen Agrarpolitik (GAP) geregelt:
1. Regelung für die einheitliche Flächenzahlung;
2. Regelung für die ergänzenden nationalen Flächenzahlungen;
…“
19 Nach Art. 128 des Administrativnoprotsesualen kodeks (Verwaltungsgerichtsordnung, im Folgenden: APK) sind die Verwaltungsgerichte u. a. für Klagen auf Erlass, Änderung, Aufhebung oder Feststellung der Nichtigkeit von Verwaltungsakten zuständig.
20 In Art. 133 Abs. 1 APK heißt es:
„Zuständig ist der Administrativen sad [Verwaltungsgericht], in dessen Bezirk die Behörde, die den angefochtenen Verwaltungsakt erlassen hat, ihren Sitz hat …“
21 Nach Art. 135 Abs. 3 APK werden Zuständigkeitskonflikte zwischen Verwaltungsgerichten vom Varhoven administrativen sad (Oberster Verwaltungsgerichtshof) entschieden.
22 Art. 1 des Zakon za sobstvenostta i polzuvaneto na zemedelskite zemi (Gesetz über das Eigentum an landwirtschaftlichen Grundstücken und über deren Nutzung, DV Nr. 17 vom 1. März 2001) in seiner auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren Fassung (im Folgenden: ZSPZZ) bestimmt, dass dieses Gesetz das Eigentum an landwirtschaftlichen Grundstücken und deren Nutzung regelt.
23 § 19 der Übergangs- und Schlussbestimmungen des Gesetzes über die Änderung und Ergänzung des APK bestimmt:
„(1)
Gegen individuelle Verwaltungsakte, die gemäß dem [ZSPZZ] und seiner Durchführungsverordnung erlassen worden sind, oder im Fall der Ablehnung des Erlasses eines derartigen Verwaltungsakts – sofern diese Verwaltungsakte nicht durch den Minister für Landwirtschaft und Ernährung erlassen oder abgelehnt worden sind – kann gemäß dem [APK] beim Rayonen sad [Bezirksgericht] des Belegenheitsorts des Grundstücks Klage erhoben werden.
…“
Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefragen
24 Agrokonsulting mit Sitz in Burgas (Bulgarien) ist als Inhaberin eines landwirtschaftlichen Betriebs registriert. Am 11. Mai 2010 stellte sie im Rahmen der Regelung der einheitlichen Flächenzahlung und der Regelung der nationalen Zuzahlungen pro Hektar landwirtschaftlicher Nutzfläche einen Beihilfeantrag und gab u. a. an, verschiedene Arten von Getreide, Gemüse und Obst anzubauen. Die betreffenden landwirtschaftlichen Grundstücke befinden sich im Gebiet des Dorfes Merdanya in der Region von Veliko Tarnovo (Bulgarien), etwa 250 km von Sofia entfernt.
25 Mit Schreiben vom 2. Oktober 2011 lehnte der Direktor den Antrag von Agrokonsulting mit der Begründung ab, die angemeldeten Flächen genügten nicht den Anforderungen der Verordnung Nr. 1122/2009.
26 Agrokonsulting erhob gegen diese Entscheidung beim Administrativen sad – Burgas Klage; sie machte geltend, die Feststellung des Direktors, von den angemeldeten Flächen ließen sich einige keinen beihilfefähigen realen Flächen zuordnen, sei rechtswidrig. Das Vorbringen von Agrokonsulting ging insofern im Wesentlichen dahin, dass die Entscheidung des Direktors gegen die bulgarischen Rechtsvorschriften zur Umsetzung des Unionsrechts über die gemeinsame Agrarpolitik in das nationale Recht verstoße. Im Übrigen beruhe diese Entscheidung auf einer unrichtigen Anwendung von Art. 58 der Verordnung Nr. 1122/2009.
27 Der Vorlageentscheidung zufolge begründete Agrokonsulting die Zuständigkeit des Administrativen sad – Burgas damit, dass der Beihilfeantrag bei der Obshtinska sluzhba „Zemedelie“ (Gemeindeamt für Landwirtschaft) der Region Burgas gestellt worden sei. Die Zuständigkeit dieses Gerichts ergebe sich aus dem Grundsatz der zügigen Behandlung des Verfahrens. Die Verfolgung der Ziele der gemeinsamen Agrarpolitik lasse sich nicht mit einem langwierigen Verfahren vereinbaren.
28 Mit Beschluss vom 16. November 2011 stellte der Administrativen sad – Burgas einen Zuständigkeitsstreit fest, setzte das Verfahren aus und verwies die Rechtssache an das vorlegende Gericht, damit dieses über seine Zuständigkeit entscheide. Der Begründung dieses Beschlusses zufolge ist für den Rechtsstreit gemäß Art. 133 Abs. 1 APK das Verwaltungsgericht zuständig, in dessen Bezirk der Direktor seinen Sitz hat, also der Administrativen sad Sofia-grad.
29 Das vorlegende Gericht ist der Ansicht, dass die Rechtssache nicht in seine Zuständigkeit falle und die Sache gemäß Art. 135 Abs. 3 APK zur Entscheidung über den Zuständigkeitsstreit an den Varhoven administrativen sad zu verweisen sei. Es hält es jedoch für angebracht, ein Vorabentscheidungsersuchen an den Gerichtshof der Europäischen Union zu richten, und zwar „in Bezug auf die Auslegung und die Tragweite der in der Rechtsprechung des Gerichtshofs entwickelten Grundsätze der Verfahrensautonomie der nationalen Gerichte, der Effektivität und der Äquivalenz im Rahmen der Anwendung nationaler Verfahrensvorschriften wie der des Art. 133 APK“.
30 Es habe sich in Bulgarien nämlich eine ständige Verwaltungspraxis herausgebildet, nach der Verwaltungsakte der Zahlstelle im Zusammenhang mit der gemeinsamen Agrarpolitik vom Direktor in Sofia zu erlassen seien, unabhängig davon, bei welcher regionalen Stelle der Beihilfeantrag gestellt worden sei und wo die landwirtschaftlichen Parzellen, für die Beihilfe begehrt werde, belegen seien. Nach Art. 133 Abs. 1 APK sei es daher verpflichtet, über alle Klagen gegen vom Direktor erlassene Verwaltungsakte zu entscheiden. Auf diese Weise würden alle Streitigkeiten über Beihilfen für Inhaber landwirtschaftlicher Betriebe im Rahmen der Regelungen und Maßnahmen der gemeinsamen Agrarpolitik bei ihm konzentriert.
31 Nach Auffassung des vorlegenden Gerichts erschwert die Entfernung der landwirtschaftlichen Parzellen, auf die sich die Entscheidung des Direktors vom 2. Oktober 2011 bezieht, das bei ihm anhängige Verfahren. Die Erhebung von Beweisen, die Erstellung von Gutachten und die Inaugenscheinnahme von Grundstücken, die oft Hunderte von Kilometern von Sofia entfernt seien, würden möglicherweise mit Verzögerungen und Mehrkosten verbunden sein, was das Recht der „sozial schwachen“ Betriebsinhaber auf einen wirksamen Rechtsbehelf beeinträchtige.
32 Das vorlegende Gericht fragt sich, ob es mit dem Äquivalenzgrundsatz vereinbar ist, dass eine nationale Vorschrift die gerichtliche Zuständigkeit für verwaltungsrechtliche Streitigkeiten über aus dem Unionsrecht erwachsende materielle Rechte allein an den Sitz der Verwaltungsbehörde knüpft, die den angefochtenen Verwaltungsakt erlassen hat. Es weist insofern darauf hin, dass die allgemeine Gerichtsstandsregelung des Art. 133 Abs. 1 APK im Gegensatz zu der speziellen, für gemäß dem ZSPZZ erlassene Verwaltungsakte geltenden des § 19 der Übergangs- und Schlussbestimmungen des Gesetzes über die Änderung und Ergänzung des APK nicht auf den Belegenheitsort der betroffenen landwirtschaftlichen Flächen abstelle.
33 Der Administrativen sad Sofia-grad hat das Verfahren daher ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:
1. Sind der in der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union aufgestellte Effektivitätsgrundsatz und der in Art. 47 der Charta verankerte Grundsatz des effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes dahin auszulegen, dass sie keine nationale verfahrensrechtliche Vorschrift wie die des Art. 133 Abs. 1 APK zulassen, die die gerichtliche Zuständigkeit für verwaltungsrechtliche Streitigkeiten über die Durchführung der gemeinsamen Agrarpolitik der Union allein vom Sitz der Verwaltungsbehörde abhängig macht, die den angefochtenen Verwaltungsakt erlassen hat, wenn man bedenkt, dass diese Vorschrift den Belegenheitsort der Grundstücke und den Wohnort des Rechtsuchenden nicht berücksichtigt?
2. Ist der in der Rechtsprechung des Gerichtshofs aufgestellte Äquivalenzgrundsatz dahin auszulegen, dass er keine nationale verfahrensrechtliche Vorschrift wie die des Art. 133 Abs. 1 APK zulässt, die die gerichtliche Zuständigkeit für verwaltungsrechtliche Streitigkeiten über die Durchführung der gemeinsamen Agrarpolitik der Union allein vom Sitz der Verwaltungsbehörde abhängig macht, die den angefochtenen Verwaltungsakt erlassen hat, wenn man § 19 der Übergangs- und Schlussbestimmungen des Gesetzes über die Änderung und Ergänzung des APK, der die gerichtliche Zuständigkeit für innerstaatliche verwaltungsrechtliche Streitigkeiten über landwirtschaftliche Grundstücke betrifft, berücksichtigt?
Zu den Vorlagefragen
34 Mit seinen Fragen, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob das Unionsrecht, insbesondere die Grundsätze der Äquivalenz und der Effektivität sowie Art. 47 der Charta, dahin auszulegen ist, dass es einer nationalen Vorschrift über die gerichtliche Zuständigkeit wie der des Art. 133 Abs. 1 APK entgegensteht, die dazu führt, dass sämtliche Rechtsstreitigkeiten über die Entscheidungen einer nationalen Behörde, die mit der Auszahlung von Agrarbeihilfen im Rahmen der gemeinsamen Agrarpolitik betraut ist, einem einzigen Gericht zugewiesen werden.
35 In Ermangelung einer einschlägigen Unionsregelung ist es nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs nach dem Grundsatz der Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten jeweils Sache von deren innerstaatlichem Recht, die zuständigen Gerichte zu bestimmen und die Verfahrensmodalitäten für Klagen zu regeln, die den Schutz der dem Einzelnen aus dem Unionsrecht erwachsenden Rechte gewährleisten sollen, wobei die Mitgliedstaaten allerdings für den wirksamen Schutz dieser Rechte in jedem Einzelfall verantwortlich sind (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 30. September 2003, Köbler, C-224/01, Slg. 2003, I-10239, Randnr. 47, vom 15. April 2008, Impact, C-268/06, Slg. 2008, I-2483, Randnrn. 44 und 45, vom 16. Juli 2009, Mono Car Styling, C-12/08, Slg. 2009, I-6653, Randnr. 48, und vom 18. März 2010, Alassini u. a., C-317/08 bis C-320/08, Slg. 2010, I-2213, Randnr. 47).
36 Nach dem nunmehr in Art. 4 Abs. 3 EUV verankerten Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit dürfen die Verfahrensmodalitäten für Klagen, die den Schutz der den Einzelnen aus dem Unionsrecht erwachsenden Rechte gewährleisten sollen, nicht weniger günstig ausgestaltet sein als die für entsprechende innerstaatliche Klagen (Grundsatz der Äquivalenz) und die Ausübung der durch die Unionsrechtsordnung verliehenen Rechte nicht praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren (Grundsatz der Effektivität) (vgl. in diesem Sinne u. a. Urteile vom 16. Dezember 1976, Rewe-Zentralfinanz und Rewe-Zentral, 33/76, Slg. 1976, 1989, Randnr. 5, vom 14. Dezember 1995, Peterbroeck, C-312/93, Slg. 1995, I-4599, Randnr. 12, und vom 15. Januar 2013, Križan u. a., C-416/10, Randnr. 85).
37 Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs gelten die sich aus den Grundsätzen der Äquivalenz und Effektivität ergebenden Anforderungen sowohl für die Bestimmung der Gerichte, die für die Entscheidung über auf das Unionsrecht gestützte Klagen zuständig sind, als auch für die Bestimmung der für solche Klagen geltenden Verfahrensmodalitäten (vgl. Urteile Impact, Randnr. 47, und Alassini u. a., Randnr. 49).
38 Bei der Prüfung der Frage, ob diese Anforderungen erfüllt sind, sind die Stellung der betroffenen Vorschriften im gesamten Verfahren, dessen Ablauf und die Besonderheiten dieser Vorschriften vor den verschiedenen nationalen Stellen zu berücksichtigen (vgl. in diesem Sinne Urteile Peterbroeck, Randnr. 14, vom 1. Dezember 1998, Levez, C-326/96, Slg. 1998, I-7835, Randnr. 44, und vom 29. Oktober 2009, Pontin, C-63/08, Slg. 2009, I-10467, Randnrn. 46 und 47 und die dort angeführte Rechtsprechung).
39 Was zunächst den Grundsatz der Äquivalenz angeht, verlangt dieser nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs, dass die streitige nationale Regelung in gleicher Weise für Rechtsbehelfe gilt, die auf die Verletzung von den Einzelen aus dem Unionsrecht erwachsenden Rechten gestützt sind, wie für solche, die auf die Verletzung des innerstaatlichen Rechts gestützt sind, sofern diese Rechtsbehelfe einen ähnlichen Gegenstand und Rechtsgrund haben. Der nationale Richter mit seiner unmittelbaren Kenntnis der anwendbaren Verfahrensmodalitäten hat die Gleichartigkeit der betreffenden Rechtsbehelfe unter dem Gesichtspunkt ihres Gegenstands, ihres Rechtsgrundes und ihrer wesentlichen Merkmale zu prüfen (vgl. in diesem Sinne Urteile Pontin, Randnr. 45 und die dort angeführte Rechtsprechung, und vom 19. Juli 2012, Littlewoods Retail u. a., C-591/10, Randnr. 31).
40 Zur Veranschaulichung seiner Bedenken hinsichtlich des Äquivalenzgrundsatzes stellt das vorlegende Gericht in der Vorlageentscheidung einen Vergleich an zwischen Rechtsstreitigkeiten, bei denen es um die Anwendung der gemeinsamen Agrarpolitik der Union geht, und solchen internen bulgarischen Rechts, bei denen es um die Rückübereignung und die Nutzung von landwirtschaftlichen Grundstücken geht. Für Letztere ist nach § 19 der Übergangs- und Schlussbestimmungen des Gesetzes über die Änderung und Ergänzung des APK nämlich der Rayonen sad des Belegenheitsorts des Grundstücks zuständig.
41 Der Vorlageentscheidung zufolge stellt Art. 133 Abs. 1 APK aber eine nationale Regel der gerichtlichen Zuständigkeit auf, die allgemein für Klagen gegen Verwaltungsakte gilt, auch für diejenigen im Zusammenhang mit Direktzahlungen an Betriebsinhaber im Rahmen der durch die Verordnung Nr. 73/2009 eingeführten Regelung für die einheitliche Flächenzahlung. Hingegen zielt § 19 der Übergangs- und Schlussbestimmungen des Gesetzes über die Änderung und Ergänzung des APK ausschließlich auf Klagen gegen bestimmte Verwaltungsakte ab, die gemäß dem ZSPZZ und dessen Durchführungsverordnung erlassen worden sind. Nach den dem Gerichtshof vorliegenden Akten hängen die gemäß dem ZSPZZ erlassenen Verwaltungsakte eng mit dinglichen Rechten an Grundstücken zusammen, zu denen u. a. Verwaltungsakte betreffend die Rückübereignung oder die Nutzung von landwirtschaftlichen Grundstücken, die Entschädigung der Eigentümer und die Unterhaltung der Karte der rückübereigneten landwirtschaftlichen Grundstücke gehören.
42 Unter diesen Umständen zeigt sich nach der in den Randnrn. 38 und 39 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung – unter dem Vorbehalt der Überprüfungen, die vom vorlegenden Gericht gegebenenfalls durchzuführen sind –, dass die Zuständigkeitsvorschriften wie die des Art. 133 Abs. 1 APK und des § 19 der Übergangs- und Schlussbestimmungen des Gesetzes über die Änderung und Ergänzung des APK im Rahmen der Anwendung des Grundsatzes der Äquivalenz nicht vergleichbar sind.
43 Hingegen sind Klagen zum Schutz von Rechten aus etwaigen Regelungen des internen Rechts über Beihilfen für Betriebsinhaber im Sinne der in Randnr. 36 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung durchaus mit denen vergleichbar, die den Schutz der den Einzelnen aus dem Unionsrecht erwachsenden Rechte gewährleisten sollen.
44 Insoweit steht der bloße Umstand, dass die Gewährung von ergänzenden nationalen Direktzahlungen nach Art. 132 der Verordnung Nr. 73/2009 der Genehmigung durch die Kommission unterliegt und durch die in diesem Artikel festgelegten Modalitäten beschränkt ist, nicht der Annahme entgegen, dass im Rahmen der Anwendung des Äquivalenzgrundsatzes eine Regelung für ergänzende nationale Direktzahlungen der internen Rechtsordnung des betreffenden Mitgliedstaats zuzurechnen ist.
45 Im vorliegenden Fall hat die Republik Bulgarien nach den dem Gerichtshof in dieser Rechtssache vorliegenden Akten von ihrer Möglichkeit gemäß Art. 132 der Verordnung Nr. 73/2009 Gebrauch gemacht, die durch diese Verordnung vorgesehenen Direktzahlungen durch ergänzende nationale Direktzahlungen aufzustocken.
46 Hierzu haben der Direktor und die bulgarische Regierung in der mündlichen Verhandlung vor dem Gerichtshof ausgeführt, dass Klagen, die solche Zahlungen beträfen, ebenfalls der allgemeinen Regelung der örtlichen Zuständigkeit des Art. 133 Abs. 1 APK unterfielen.
47 Sollten sich diese Angaben nach den vom vorlegenden Gericht insofern durchzuführenden Überprüfungen als zutreffend erweisen, kann nicht angenommen werden, dass die Verfahrensmodalitäten für Klagen in Bezug auf die ergänzenden nationalen Direktzahlungen einen Verstoß gegen den Grundsatz der Äquivalenz begründeten.
48 Zum Effektivitätsgrundsatz ist sodann festzustellen, dass im Rahmen der Analyse, die nach der in Randnr. 38 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung erforderlich ist bei der Beurteilung der Frage, ob eine nationale Verfahrensvorschrift die Ausübung der den Bürgern durch die Unionsrechtsordnung verliehenen Rechte praktisch unmöglich macht oder übermäßig erschwert, gegebenenfalls Grundsätze zu berücksichtigen sind, die dem betreffenden nationalen Rechtsschutzsystem zugrunde liegen, wie z. B. der Schutz der Verteidigungsrechte, der Grundsatz der Rechtssicherheit und der ordnungsgemäße Ablauf des Verfahrens (vgl. u. a. in diesem Sinne Urteile Peterbroeck, Randnr. 14, und Pontin, Randnr. 47).
49 Im Ausgangsverfahren hat das vorlegende Gericht hinsichtlich der in den Randnrn. 30 und 31 des vorliegenden Urteils wiedergegebenen Bedenken folgende Punkte zu berücksichtigen.
50 Erstens ist zu prüfen, ob ein Betriebsinhaber, der einen ihn betreffenden Verwaltungsakt des Direktors anfechten will, persönlich am Gerichtsverfahren teilnehmen muss. Insofern geht aus den beim Gerichtshof eingereichten Erklärungen hervor, dass ein Rechtssuchender, der sich in der Situation von Agrokonsulting befindet, nicht persönlich erscheinen muss, sondern sich durch einen Rechtsanwalt, den Ehegatten, einen Verwandten ersten Grades in auf- oder absteigender Linie, einen Rechtsbeistand oder einen Justiziar vertreten lassen kann. Die bulgarische Regierung ergänzt, dass Prozesskostenhilfe gewährt werde, wenn nachgewiesen werde, dass ein Rechtssuchender nicht die Mittel aufbringen könne, die Dienstleistungen eines Anwalts zu vergüten. Außerdem würden die Kosten, einschließlich der Rechtsanwaltskosten, auf Antrag der Partei zugesprochen, die in solchen Verfahren obsiege. Auch bei einer Einstellung des Verfahrens wegen Rücknahme des angefochtenen Verwaltungsakts würden die Kosten dem Kläger zugesprochen. Im Übrigen trägt bei Klagen gegen vom Direktor erlassene Verwaltungsakte dessen Angaben zufolge die Verwaltung die Beweislast für die Rechtmäßigkeit des angefochtenen Verwaltungsakts, sobald ein Kläger behauptet, dieser sei rechtswidrig. Diese Punkte sind gegebenenfalls vom vorlegenden Gericht zu überprüfen, das – anders als der Gerichtshof im Rahmen von Art. 267 AEUV – für die Auslegung des bulgarischen Rechts zuständig ist.
51 Zweitens ist nach den dem Gerichtshof vorliegenden Akten bei Klagen von Betriebsinhabern gegen vom nationalen Fonds „Landwirtschaft“ erlassene Verwaltungsakte zwar das Sachverständigengutachten das im Allgemeinen bevorzugte Beweismittel. Dabei hat der vom zuständigen Gericht bestellte Sachverständige die erheblichen Beweismittel zur Kenntnis zu nehmen und dann zu den ihm gestellten Fragen ein Gutachten zu erstatten.
52 Bei Klagen gegen die Kürzung oder Ablehnung einer Beihilfe gemäß der Regelung für die einheitliche Flächenzahlung ist aber nicht ersichtlich, dass das Verfahren durch die Entfernung zwischen den betreffenden landwirtschaftlichen Parzellen und dem zuständigen nationalen Gericht erschwert würde.
53 Bei einer Klage wie der des Ausgangsverfahrens, mit der die Feststellung angefochten wird, dass sich bestimmte angegebene Flächen keinen beihilfefähigen realen Flächen zuordnen lassen, sind nämlich in der Regel, wenn nicht stets, Orthobilder und die Daten des integrierten Verwaltungs- und Kontrollsystems gemäß Art. 14 der Verordnung Nr. 73/2009 zur Kenntnis zu nehmen, wie sich insbesondere aus Art. 16 Abs. 1 und den Art. 17 und 18 dieser Verordnung ergibt.
54 Außerdem können die Mitgliedstaaten bei der Überprüfung, wie bestimmte landwirtschaftliche Parzellen während des Jahres, auf das sich ein Beihilfeantrag bezieht, genutzt worden sind, nach Art. 17 und Art. 20 Abs. 2 der Verordnung Nr. 73/2009 die Vor-Ort-Überprüfungen der landwirtschaftlichen Parzellen mittels Fernerkundung und globalem Satellitennavigationssystem durchführen. Im Übrigen wird ein Gerichtsverfahren über die Ablehnung oder Kürzung von Beihilfen im Rahmen der Regelung für die einheitliche Flächenzahlung in der Regel erst dann durchgeführt, wenn das Jahr, auf das sich der betreffende Beihilfeantrag bezieht, abgelaufen ist, wie sich u. a. aus den Art. 19, 29 und 122 der Verordnung Nr. 73/2009 ergibt. Unter solchen Umständen wird eine Kontrolle der landwirtschaftlichen Parzellen im Wege der Inaugenscheinnahme an Ort und Stelle zum Zwecke der Prüfung ihrer genauen Nutzung in einem vorausgegangenen Jahr häufig keinen Nutzen bringen. Daher sieht Art. 16 Abs. 1 dieser Verordnung u. a. vor, dass die Datenbank, die Bestandteil des integrierten Verwaltungs- und Kontrollsystems ist, den direkten und sofortigen Abruf der Daten der letzten vier Jahre ermöglichen muss.
55 Drittens haben sowohl der Direktor als auch die bulgarische Regierung vor dem Gerichtshof ausgeführt, dass das vorlegende Gericht über Klagen gegen Verwaltungsakte, die vom Direktor im Rahmen der gemeinsamen Agrarpolitik erlassen worden sind, in der Regel innerhalb von sechs bis acht Monaten entscheidet. Eine solche durchschnittliche Verfahrensdauer – es ist Sache des vorlegenden Gerichts zu überprüfen, ob die entsprechenden Angaben zutreffen – erscheint im Zusammenhang mit der Regelung für die einheitliche Flächenzahlung nicht unangemessen.
56 Was diese durchschnittliche Verfahrensdauer angeht, ist viertens nicht auszuschließen, dass das vorlegende Gericht aufgrund der Konzentration der Rechtsstreitigkeiten über Agrarbeihilfefragen, über die es zu entscheiden hat, eine besondere Fachkompetenz erwirbt und die durchschnittliche Verfahrensdauer auf diese Weise begrenzt wird. Außerdem dürfte, wie insbesondere die deutsche Regierung hervorgehoben hat, ein auf Agrarbeihilfen spezialisiertes zentrales Gericht geeignet sein, eine einheitliche Praxis im gesamten Staatsgebiet zu gewährleisten, und somit zur Rechtssicherheit beitragen.
57 Zwar steht es der Republik Bulgarien nach dem Grundsatz der Verfahrensautonomie frei, unter Beachtung der Grundsätze der Äquivalenz und der Effektivität eine andere Regelung für die gerichtliche Zuständigkeit zu erlassen als Art. 133 Abs. 1 APK. Daraus folgt aber nicht, dass eine solche Bestimmung, nur weil sie dazu führt, dass eine Klage gegen einen Verwaltungsakt in die Zuständigkeit des Verwaltungsgerichts fiele, in dessen Bezirk sich der Sitz des Organs befindet, das ihn erlassen hat, den Grundsatz der Effektivität verletzte.
58 Somit ist festzustellen, dass insbesondere Gründe der geordneten Rechtspflege dafür sprechen, dass die Anwendung einer nationalen Vorschrift über die gerichtliche Zuständigkeit wie der des Art. 133 Abs. 1 APK, die eine Konzentration der Rechtsstreitigkeiten über die Entscheidungen einer nationalen Behörde, die mit der Auszahlung der Agrarbeihilfen im Rahmen der gemeinsamen Agrarpolitik betraut ist, bei einem einzigen Gericht bewirkt, nicht gegen den Grundsatz der Effektivität verstößt. Es ist jedoch Sache des vorlegenden Gerichts, das – anders als der Gerichtshof im Rahmen von Art. 267 AEUV – für die Würdigung des Sachverhalts des Ausgangsrechtsstreits und die Auslegung des bulgarischen Rechts zuständig ist, zu überprüfen, ob dies im vorliegenden Fall zutrifft.
59 Was schließlich Art. 47 der Charta angeht, ergibt sich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs, dass diese Bestimmung den Grundsatz des effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes bekräftigt – einen allgemeinen Grundsatz des Unionsrechts, der sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten ergibt und der in den Art. 6 und 13 der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten verankert ist (vgl. in diesem Sinne u. a. Urteile vom 15. Mai 1986, Johnston, 222/84, Slg. 1986, 1651, Randnr. 18, vom 13. März 2007, Unibet, C-432/05, Slg. 2007, I-2271, Randnr. 37, und vom 28. Februar 2013, Arango Jaramillo u. a./EIB, C-334/12 RX-II, Randnr. 40).
60 Im vorliegenden Fall genügt insofern die Feststellung, dass in Anbetracht insbesondere der Erwägungen in den Randnrn. 50 bis 58 des vorliegenden Urteils und im Licht der Informationen, über die der Gerichtshof im vorliegenden Verfahren verfügt, nicht zu erkennen ist, dass einem Rechtssuchenden in der Situation von Agrokonsulting ein wirksamer gerichtlicher Rechtsbehelf zur Verteidigung der ihm aus dem Unionsrecht erwachsenden Rechte genommen würde.
61 Nach alledem ist auf die Vorlagefragen zu antworten, dass das Unionsrecht, insbesondere die Grundsätze der Äquivalenz und der Effektivität sowie Art. 47 der Charta einer nationalen Vorschrift über die gerichtliche Zuständigkeit wie der des Art. 133 Abs. 1 APK, die dazu führt, dass sämtliche Rechtsstreitigkeiten über die Entscheidungen einer nationalen Behörde, die mit der Auszahlung von Agrarbeihilfen im Rahmen der gemeinsamen Agrarpolitik der Europäischen Union betraut ist, einem einzigen Gericht zugewiesen werden, nicht entgegensteht, sofern die Verfahrensmodalitäten für Klagen, die den Schutz der den Einzelnen aus dem Unionsrecht erwachsenden Rechte gewährleisten sollen, nicht weniger günstig ausgestaltet sind als die für Klagen, mit denen Rechte aus etwaigen Regelungen des internen Rechts über Beihilfen für Betriebsinhaber geschützt werden sollen, und eine solche Zuständigkeitsvorschrift für die Einzelnen insbesondere hinsichtlich der Verfahrensdauer keine Verfahrensnachteile mit sich bringt, die geeignet sind, die Ausübung der aus dem Unionsrecht erwachsenden Rechte übermäßig zu erschweren, was das vorlegende Gericht zu prüfen hat.
Kosten
62 Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Dritte Kammer) für Recht erkannt:
Das Unionsrecht, insbesondere die Grundsätze der Äquivalenz und der Effektivität sowie Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, steht einer nationalen Vorschrift über die gerichtliche Zuständigkeit wie der des Art. 133 Abs. 1 des Administrativnoprotsesualen kodeks (Verwaltungsgerichtsordnung), die dazu führt, dass sämtliche Rechtsstreitigkeiten über die Entscheidungen einer nationalen Behörde, die mit der Auszahlung von Agrarbeihilfen im Rahmen der gemeinsamen Agrarpolitik der Europäischen Union betraut ist, einem einzigen Gericht zugewiesen werden, nicht entgegen, sofern die Verfahrensmodalitäten für Klagen, die den Schutz der den Einzelnen aus dem Unionsrecht erwachsenden Rechte gewährleisten sollen, nicht weniger günstig ausgestaltet sind als die für Klagen, mit denen Rechte aus etwaigen Regelungen des internen Rechts über Beihilfen für Betriebsinhaber geschützt werden sollen, und eine solche Zuständigkeitsvorschrift für die Einzelnen insbesondere hinsichtlich der Verfahrensdauer keine Verfahrensnachteile mit sich bringt, die geeignet sind, die Ausübung der aus dem Unionsrecht erwachsenden Rechte übermäßig zu erschweren, was das vorlegende Gericht zu prüfen hat.
Unterschriften
(*1) Verfahrenssprache: Bulgarisch.
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Urteil des Gerichtshofes (Große Kammer) vom 21. Dezember 2011.#Tomasz Ziolkowski (C-424/10) und Barbara Szeja und andere (C-425/10) gegen Land Berlin.#Ersuchen um Vorabentscheidung: Bundesverwaltungsgericht - Deutschland.#Freizügigkeit - Richtlinie 2004/38/EG - Recht auf Daueraufenthalt - Art. 16 - Rechtmäßiger Aufenthalt - Aufenthalt aufgrund nationalen Rechts - Aufenthaltszeit, die vor dem Beitritt des Herkunftsmitgliedstaats des betreffenden Bürgers zur Union zurückgelegt worden ist.#Verbundene Rechtssachen C-424/10 und C-425/10.
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62010CJ0424
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ECLI:EU:C:2011:866
| 2011-12-21T00:00:00 |
Bot, Gerichtshof
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Sammlung der Rechtsprechung 2011 -00000
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Verbundene Rechtssachen C-424/10 und C-425/10
Tomasz Ziolkowski u. a. und Marlon Szeja
gegen
Land Berlin
(Vorabentscheidungsersuchen des Bundesverwaltungsgerichts)
„Freizügigkeit – Richtlinie 2004/38/EG – Recht auf Daueraufenthalt – Art. 16 – Rechtmäßiger Aufenthalt – Aufenthalt aufgrund nationalen Rechts – Aufenthaltszeit, die vor dem Beitritt des Herkunftsmitgliedstaats des betreffenden Bürgers zur Union zurückgelegt worden
ist“
Leitsätze des Urteils
1. Unionsbürgerschaft – Recht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten – Richtlinie 2004/38
– Recht der Unionsbürger auf Daueraufenthalt
(Richtlinie 2004/38 des Europäischen Parlaments und des Rates, Art. 7 Abs. 1 und 16 Abs. 1)
2. Unionsbürgerschaft – Recht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten – Richtlinie 2004/38
– Voraussetzungen für das aus dem Unionsrecht herrührende Aufenthaltsrecht
(Richtlinie 2004/38 des Europäischen Parlaments und des Rates, Art. 37)
3. Unionsbürgerschaft – Recht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten – Richtlinie 2004/38
– Recht der Unionsbürger auf Daueraufenthalt
(Richtlinie 2004/38 des Europäischen Parlaments und des Rates, Art. 7 Abs. 1 und 16 Abs. 1)
1. Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet
der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, ist so auszulegen, dass ein Unionsbürger, der im Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats
eine Aufenthaltszeit von über fünf Jahren nur aufgrund des nationalen Rechts dieses Staates zurückgelegt hat, nicht so betrachtet
werden kann, als habe er das Recht auf Daueraufenthalt nach dieser Bestimmung erworben, wenn er während dieser Aufenthaltszeit
die Voraussetzungen des Art. 7 Abs. 1 dieser Richtlinie nicht erfüllt hat.
Unter Berücksichtigung des Zusammenhangs, in dem er verwendet wird, und der Ziele der Richtlinie 2004/38 ist nämlich der Begriff
des rechtmäßigen Aufenthalts, den die Wendung „der sich rechtmäßig … aufgehalten hat“ in Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38
enthält, als ein im Einklang mit den in dieser Richtlinie vorgesehenen, insbesondere mit den in deren Art. 7 Abs. 1 aufgeführten
Voraussetzungen stehender Aufenthalt zu verstehen. Daher kann ein im Einklang mit dem Recht eines Mitgliedstaats stehender
Aufenthalt, der jedoch nicht die Voraussetzungen des Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 erfüllt, nicht als ein „rechtmäßiger“
Aufenthalt im Sinne von Art. 16 Abs. 1 dieser Richtlinie angesehen werden.
(vgl. Randnrn. 34, 46-47, 51, Tenor 1)
2. Art. 37 der Richtlinie 2004/38 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten
frei zu bewegen und aufzuhalten, sieht lediglich vor, dass diese Richtlinie der Einführung einer Regelung im Recht der Mitgliedstaaten,
die günstiger ist als die durch die Bestimmungen dieser Richtlinie eingeführte, nicht entgegensteht. Dieser Umstand bedeutet
jedoch keineswegs, dass die günstigeren Bestimmungen in das mit dieser Richtlinie eingeführte System aufzunehmen wären.
Allerdings hat jeder Mitgliedstaat nicht nur zu entscheiden, ob er eine solche Regelung einführt, sondern auch, welche Voraussetzungen
und Wirkungen diese insbesondere in Bezug auf die Rechtsfolgen eines nur aufgrund des nationalen Rechts gewährten Aufenthaltsrechts
hat.
(vgl. Randnrn. 49-50)
3. Für die Zwecke des Erwerbs des Rechts auf Daueraufenthalt gemäß Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 über das Recht der Unionsbürger
und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, sind Aufenthaltszeiten
eines Drittstaatsangehörigen in einem Mitgliedstaat vor dem Beitritt dieses Drittstaats zur Europäischen Union in Ermangelung
spezifischer Bestimmungen in der Beitrittsakte zu berücksichtigen, soweit sie im Einklang mit den Voraussetzungen des Art. 7
Abs. 1 dieser Richtlinie zurückgelegt wurden.
Sofern insoweit der Betroffene nachweisen kann, dass solche Zeiten im Einklang mit den genannten Voraussetzungen zurückgelegt
wurden, hat die Berücksichtigung dieser Zeiten ab dem Zeitpunkt des Beitritts des betreffenden Mitgliedstaats zur Union jedoch
nicht zur Folge, dass Art. 16 dieser Richtlinie Rückwirkung verliehen wird, sondern nur, dass Sachverhalten, die vor dem Datum
für die Umsetzung der Richtlinie entstanden sind, eine gegenwärtige Wirkung beigemessen wird.
(vgl. Randnrn. 62-63, Tenor 2)
URTEIL DES GERICHTSHOFS (Große Kammer)
21. Dezember 2011(*)
„Freizügigkeit – Richtlinie 2004/38/EG – Recht auf Daueraufenthalt – Art. 16 – Rechtmäßiger Aufenthalt – Aufenthalt aufgrund nationalen Rechts – Aufenthaltszeit, die vor dem Beitritt des Herkunftsmitgliedstaats des betreffenden Bürgers zur Union zurückgelegt worden
ist“
In den verbundenen Rechtssachen C‑424/10 und C‑425/10
betreffend Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Bundesverwaltungsgericht (Deutschland) mit Entscheidungen
vom 13. Juli 2010, beim Gerichtshof eingegangen am 31. August 2010, in den Verfahren
Tomasz Ziolkowski (C‑424/10),
Barbara Szeja,
Maria-Magdalena Szeja,
Marlon Szeja (C‑425/10)
gegen
Land Berlin,
Beteiligter:
Vertreter des Bundesinteresses beim Bundesverwaltungsgericht,
erlässt
DER GERICHTSHOF (Große Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten V. Skouris, der Kammerpräsidenten J. N. Cunha Rodrigues, K. Lenaerts, J.‑C. Bonichot, J. Malenovský
und U. Lõhmus, der Richterin R. Silva de Lapuerta (Berichterstatterin) sowie der Richter M. Ilešič, E. Levits, T. von Danwitz
und A. Arabadjiev,
Generalanwalt: Y. Bot,
Kanzler: B. Fülöp, Verwaltungsrat,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 13. Juli 2011,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
– von Herrn Ziolkowski sowie von Frau Szeja und ihren Kindern, vertreten durch Rechtsanwalt L. Weber,
– der deutschen Regierung, vertreten durch T. Henze und N. Graf Vitzthum als Bevollmächtigte,
– Irlands, vertreten durch D. O’Hagan als Bevollmächtigten im Beistand von B. Doherty,
– der griechischen Regierung, vertreten durch M. Michelogiannaki und T. Papadopoulou als Bevollmächtigte,
– der Regierung des Vereinigten Königreichs, vertreten durch S. Ossowski als Bevollmächtigten im Beistand von T. Ward, Barrister,
– der Europäischen Kommission, vertreten durch W. Bogensberger, M. Wilderspin und D. Maidani als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 14. September 2011
folgendes
Urteil
1 Die Vorabentscheidungsersuchen betreffen die Auslegung des Rechts auf Daueraufenthalt im Sinne von Art. 16 der Richtlinie
2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen,
sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 und
zur Aufhebung der Richtlinien 64/221/EWG, 68/360/EWG, 72/194/EWG, 73/148/EWG, 75/34/EWG, 75/35/EWG, 90/364/EWG, 90/365/EWG
und 93/96/EWG (ABl. L 158, S. 77, sowie – Berichtigungen – ABl. L 229, S. 35, und ABl. 2005, L 197, S. 34).
2 Diese Ersuchen ergehen im Rahmen von zwei Rechtsstreitigkeiten, in denen zum einen Herr Ziolkowski und zum anderen Frau Szeja
und ihre beiden minderjährigen Kinder dem Land Berlin gegenüberstehen und in denen es um die Weigerung des Landes Berlin geht,
ihnen eine Bescheinigung über ihr Recht auf Daueraufenthalt gemäß Art. 16 der Richtlinie 2004/38 auszustellen.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
3 Die Erwägungsgründe 3, 4, 10, 17, 18 und 29 der Richtlinie 2004/38 lauten:
„(3) Die Unionsbürgerschaft sollte der grundsätzliche Status der Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten sein, wenn sie ihr Recht
auf Freizügigkeit und Aufenthalt wahrnehmen. Daher müssen die bestehenden Gemeinschaftsinstrumente, die Arbeitnehmer und Selbständige
sowie Studierende und andere beschäftigungslose Personen getrennt behandeln, kodifiziert und überarbeitet werden, um das Freizügigkeits-
und Aufenthaltsrecht aller Unionsbürger zu vereinfachen und zu verstärken.
(4) Um diese bereichsspezifischen und fragmentarischen Ansätze des Freizügigkeits- und Aufenthaltsrechts zu überwinden und die
Ausübung dieses Rechts zu erleichtern, ist ein einziger Rechtsakt erforderlich, in dem die Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 des
Rates vom 15. Oktober 1968 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Gemeinschaft [(ABl. L 257, S. 2) in der durch
die Verordnung (EWG) Nr. 2434/92 des Rates vom 27. Juli 1992 (ABl. L 245, S. 1) geänderten Fassung] geändert und die folgenden
Rechtsakte aufgehoben werden: die Richtlinie 68/360/EWG des Rates vom 15. Oktober 1968 zur Aufhebung der Reise- und Aufenthaltsbeschränkungen
für Arbeitnehmer der Mitgliedstaaten und ihre Familienangehörigen innerhalb der Gemeinschaft [(ABl. L 257, S. 13)], die Richtlinie
73/148/EWG des Rates vom 21. Mai 1973 zur Aufhebung der Reise- und Aufenthaltsbeschränkungen für Staatsangehörige der Mitgliedstaaten
innerhalb der Gemeinschaft auf dem Gebiet der Niederlassung und des Dienstleistungsverkehrs [(ABl. L 172, S. 14)], die Richtlinie
90/364/EWG des Rates vom 28. Juni 1990 über das Aufenthaltsrecht [(ABl. L 180, S. 26)], die Richtlinie 90/365/EWG des Rates
vom 28. Juni 1990 über das Aufenthaltsrecht der aus dem Erwerbsleben ausgeschiedenen Arbeitnehmer und selbständig Erwerbstätigen
[(ABl. L 180, S. 28)] und die Richtlinie 93/96/EWG des Rates vom 29. Oktober 1993 über das Aufenthaltsrecht der Studenten
[(ABl. L 317, S. 59)].
…
(10) Allerdings sollten Personen, die ihr Aufenthaltsrecht ausüben, während ihres ersten Aufenthalts die Sozialhilfeleistungen
des Aufnahmemitgliedstaats nicht unangemessen in Anspruch nehmen. Daher sollte das Aufenthaltsrecht von Unionsbürgern und
ihren Familienangehörigen für eine Dauer von über drei Monaten bestimmten Bedingungen unterliegen.
…
(17) Wenn Unionsbürger, die beschlossen haben, sich dauerhaft in dem Aufnahmemitgliedstaat niederzulassen, das Recht auf Daueraufenthalt
erhielten, würde dies ihr Gefühl der Unionsbürgerschaft verstärken und entscheidend zum sozialen Zusammenhalt – einem grundlegenden
Ziel der Union – beitragen. Es gilt daher, für alle Unionsbürger und ihre Familienangehörigen, die sich gemäß den in dieser
Richtlinie festgelegten Bedingungen fünf Jahre lang ununterbrochen in dem Aufnahmemitgliedstaat aufgehalten haben und gegen
die keine Ausweisungsmaßnahme angeordnet wurde, ein Recht auf Daueraufenthalt vorzusehen.
(18) Um ein wirksames Instrument für die Integration in die Gesellschaft des Aufnahmemitgliedstaats darzustellen, in dem der Unionsbürger
seinen Aufenthalt hat, sollte das einmal erlangte Recht auf Daueraufenthalt keinen Bedingungen unterworfen werden.
…
(29) Diese Richtlinie sollte nicht die Anwendung günstigerer einzelstaatlicher Rechtsvorschriften berühren.“
4 In Kapitel I („Allgemeine Bestimmungen“) der Richtlinie 2004/38 heißt es in Art. 1 („Gegenstand“):
„Diese Richtlinie regelt
a) die Bedingungen, unter denen Unionsbürger und ihre Familienangehörigen das Recht auf Freizügigkeit und Aufenthalt innerhalb
des Hoheitsgebiets der Mitgliedstaaten genießen;
b) das Recht auf Daueraufenthalt der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten;
…“
5 Kapitel III („Aufenthaltsrecht“) dieser Richtlinie umfasst die Art. 6 bis 15.
6 Art. 6 („Recht auf Aufenthalt bis zu drei Monaten“) bestimmt:
„(1) Ein Unionsbürger hat das Recht auf Aufenthalt im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats für einen Zeitraum von bis zu
drei Monaten, wobei er lediglich im Besitz eines gültigen Personalausweises oder Reisepasses sein muss und ansonsten keine
weiteren Bedingungen zu erfüllen oder Formalitäten zu erledigen braucht.
(2) Absatz 1 gilt auch für Familienangehörige im Besitz eines gültigen Reisepasses, die nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats
besitzen und die den Unionsbürger begleiten oder ihm nachziehen.“
7 Art. 7 („Recht auf Aufenthalt für mehr als drei Monate“) der Richtlinie 2004/38 lautet:
„(1) Jeder Unionsbürger hat das Recht auf Aufenthalt im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats für einen Zeitraum von über
drei Monaten, wenn er
a) Arbeitnehmer oder Selbständiger im Aufnahmemitgliedstaat ist oder
b) für sich und seine Familienangehörigen über ausreichende Existenzmittel verfügt, so dass sie während ihres Aufenthalts keine
Sozialhilfeleistungen des Aufnahmemitgliedstaats in Anspruch nehmen müssen, und er und seine Familienangehörigen über einen
umfassenden Krankenversicherungsschutz im Aufnahmemitgliedstaat verfügen oder
c) – bei einer privaten oder öffentlichen Einrichtung, die von dem Aufnahmemitgliedstaat aufgrund seiner Rechtsvorschriften oder
seiner Verwaltungspraxis anerkannt oder finanziert wird, zur Absolvierung einer Ausbildung einschließlich einer Berufsausbildung
als Hauptzweck eingeschrieben ist und
– über einen umfassenden Krankenversicherungsschutz im Aufnahmemitgliedstaat verfügt und der zuständigen nationalen Behörde
durch eine Erklärung oder durch jedes andere gleichwertige Mittel seiner Wahl glaubhaft macht, dass er für sich und seine
Familienangehörigen über ausreichende Existenzmittel verfügt, so dass sie während ihres Aufenthalts keine Sozialhilfeleistungen
des Aufnahmemitgliedstaats in Anspruch nehmen müssen, oder
d) ein Familienangehöriger ist, der den Unionsbürger, der die Voraussetzungen des Buchstabens a, b oder c erfüllt, begleitet
oder ihm nachzieht.
(2) Das Aufenthaltsrecht nach Absatz 1 gilt auch für Familienangehörige, die nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats
besitzen und die den Unionsbürger in den Aufnahmemitgliedstaat begleiten oder ihm nachziehen, sofern der Unionsbürger die
Voraussetzungen des Absatzes 1 Buchstabe a, b oder c erfüllt.
(3) Für die Zwecke des Absatzes 1 Buchstabe a bleibt die Erwerbstätigeneigenschaft dem Unionsbürger, der seine Erwerbstätigkeit
als Arbeitnehmer oder Selbständiger nicht mehr ausübt, in folgenden Fällen erhalten:
a) Er ist wegen einer Krankheit oder eines Unfalls vorübergehend arbeitsunfähig;
b) er stellt sich bei ordnungsgemäß bestätigter unfreiwilliger Arbeitslosigkeit nach mehr als einjähriger Beschäftigung dem zuständigen
Arbeitsamt zur Verfügung;
c) er stellt sich bei ordnungsgemäß bestätigter unfreiwilliger Arbeitslosigkeit nach Ablauf seines auf weniger als ein Jahr befristeten
Arbeitsvertrags oder bei im Laufe der ersten zwölf Monate eintretender unfreiwilliger Arbeitslosigkeit dem zuständigen Arbeitsamt
zur Verfügung; in diesem Fall bleibt die Erwerbstätigeneigenschaft während mindestens sechs Monaten aufrechterhalten;
d) er beginnt eine Berufsausbildung; die Aufrechterhaltung der Erwerbstätigeneigenschaft setzt voraus, dass zwischen dieser Ausbildung
und der früheren beruflichen Tätigkeit ein Zusammenhang besteht, es sei denn, der Betroffene hat zuvor seinen Arbeitsplatz
unfreiwillig verloren.
(4) Abweichend von Absatz 1 Buchstabe d und Absatz 2 haben nur der Ehegatte, der eingetragene Lebenspartner im Sinne von Artikel 2
Nummer 2 Buchstabe b und Kinder, denen Unterhalt gewährt wird, das Recht auf Aufenthalt als Familienangehörige eines Unionsbürgers,
der die Voraussetzungen des Absatzes 1 Buchstabe c erfüllt. Artikel 3 Absatz 2 findet Anwendung auf die Verwandten in gerader
aufsteigender Linie des Unionsbürgers und des Ehegatten oder eingetragenen Lebenspartners, denen Unterhalt gewährt wird.“
8 Art. 12 („Aufrechterhaltung des Aufenthaltsrechts der Familienangehörigen bei Tod oder Wegzug des Unionsbürgers“) der Richtlinie
2004/38 bestimmt in den Abs. 1 und 2:
„(1) Unbeschadet von Unterabsatz 2 berührt der Tod des Unionsbürgers oder sein Wegzug aus dem Aufnahmemitgliedstaat nicht das Aufenthaltsrecht
seiner Familienangehörigen, die die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzen.
Bevor die Betroffenen das Recht auf Daueraufenthalt erwerben, müssen sie die Voraussetzungen des Artikels 7 Absatz 1 Buchstabe
a, b, c oder d erfüllen.
(2) Unbeschadet von Unterabsatz 2 führt der Tod des Unionsbürgers für Familienangehörige, die nicht die Staatsangehörigkeit eines
Mitgliedstaats besitzen und die sich im Aufnahmemitgliedstaat als Familienangehörige vor dem Tod des Unionsbürgers mindestens
ein Jahr lang aufgehalten haben, nicht zum Verlust des Aufenthaltsrechts.
Bevor die Betroffenen das Recht auf Daueraufenthalt erwerben, bleibt ihr Aufenthaltsrecht an die Voraussetzung geknüpft, dass
sie nachweisen können, dass sie Arbeitnehmer oder Selbständige sind oder für sich und ihre Familienangehörigen über ausreichende
Existenzmittel verfügen, so dass sie während ihres Aufenthalts keine Sozialhilfeleistungen des Aufnahmemitgliedstaats in Anspruch
nehmen müssen, und dass sie über einen umfassenden Krankenversicherungsschutz im Aufnahmemitgliedstaat verfügen oder dass
sie bereits im Aufnahmemitgliedstaat als Familienangehörige einer Person gelten, die diese Voraussetzungen erfüllt. Als ausreichende
Existenzmittel gelten die in Artikel 8 Absatz 4 vorgesehenen Beträge.
Die betreffenden Familienangehörigen behalten ihr Aufenthaltsrecht ausschließlich auf persönlicher Grundlage.“
9 In Art. 13 („Aufrechterhaltung des Aufenthaltsrechts der Familienangehörigen bei Scheidung oder Aufhebung der Ehe oder bei
Beendigung der eingetragenen Partnerschaft“) der Richtlinie 2004/38 heißt es:
„(1) Unbeschadet von Unterabsatz 2 berührt die Scheidung oder Aufhebung der Ehe des Unionsbürgers oder die Beendigung seiner eingetragenen
Partnerschaft im Sinne von Artikel 2 Nummer 2 Buchstabe b nicht das Aufenthaltsrecht seiner Familienangehörigen, die die Staatsangehörigkeit
eines Mitgliedstaats besitzen.
Bevor die Betreffenden das Recht auf Daueraufenthalt erwerben, müssen sie die Voraussetzungen des Artikels 7 Absatz 1 Buchstabe
a, b, c oder d erfüllen.
(2) Unbeschadet von Unterabsatz 2 führt die Scheidung oder Aufhebung der Ehe oder die Beendigung der eingetragenen Partnerschaft
im Sinne von Artikel 2 Nummer 2 Buchstabe b für Familienangehörige eines Unionsbürgers, die nicht die Staatsangehörigkeit
eines Mitgliedstaats besitzen, nicht zum Verlust des Aufenthaltsrechts, wenn
…
Bevor die Betroffenen das Recht auf Daueraufenthalt erwerben, bleibt ihr Aufenthaltsrecht an die Voraussetzung geknüpft, dass
sie nachweisen können, dass sie Arbeitnehmer oder Selbständige sind oder für sich und ihre Familienangehörigen über ausreichende
Existenzmittel verfügen, so dass sie während ihres Aufenthalts keine Sozialhilfeleistungen des Aufnahmemitgliedstaats in Anspruch
nehmen müssen, und dass sie über einen umfassenden Krankenversicherungsschutz im Aufnahmemitgliedstaat verfügen oder dass
sie bereits im Aufnahmemitgliedstaat als Familienangehörige einer Person gelten, die diese Voraussetzungen erfüllt. Als ausreichende
Existenzmittel gelten die in Artikel 8 Absatz 4 vorgesehenen Beträge.
Die betreffenden Familienangehörigen behalten ihr Aufenthaltsrecht ausschließlich auf persönlicher Grundlage.“
10 Art. 14 („Aufrechterhaltung des Aufenthaltsrechts“) der Richtlinie 2004/38 bestimmt:
„(1) Unionsbürgern und ihren Familienangehörigen steht das Aufenthaltsrecht nach Artikel 6 zu, solange sie die Sozialhilfeleistungen
des Aufnahmemitgliedstaats nicht unangemessen in Anspruch nehmen.
(2) Unionsbürgern und ihren Familienangehörigen steht das Aufenthaltsrecht nach den Artikeln 7, 12 und 13 zu, solange sie die
dort genannten Voraussetzungen erfüllen.
In bestimmten Fällen, in denen begründete Zweifel bestehen, ob der Unionsbürger oder seine Familienangehörigen die Voraussetzungen
der Artikel 7, 12 und 13 erfüllen, können die Mitgliedstaaten prüfen, ob diese Voraussetzungen erfüllt sind. Diese Prüfung
wird nicht systematisch durchgeführt.
(3) Die Inanspruchnahme von Sozialhilfeleistungen durch einen Unionsbürger oder einen seiner Familienangehörigen im Aufnahmemitgliedstaat
darf nicht automatisch zu einer Ausweisung führen.
(4) Abweichend von den Absätzen 1 und 2 und unbeschadet der Bestimmungen des Kapitels VI darf gegen Unionsbürger oder ihre Familienangehörigen
auf keinen Fall eine Ausweisung verfügt werden, wenn
a) die Unionsbürger Arbeitnehmer oder Selbständige sind oder
b) die Unionsbürger in das Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats eingereist sind, um Arbeit zu suchen. In diesem Fall dürfen
die Unionsbürger und ihre Familienangehörigen nicht ausgewiesen werden, solange die Unionsbürger nachweisen können, dass sie
weiterhin Arbeit suchen und dass sie eine begründete Aussicht haben, eingestellt zu werden.“
11 In Kapitel IV („Recht auf Daueraufenthalt“) der Richtlinie 2004/38 lautet Art. 16 („Allgemeine Regel für Unionsbürger und
ihre Familienangehörigen“):
„(1) Jeder Unionsbürger, der sich rechtmäßig fünf Jahre lang ununterbrochen im Aufnahmemitgliedstaat aufgehalten hat, hat das Recht,
sich dort auf Dauer aufzuhalten. Dieses Recht ist nicht an die Voraussetzungen des Kapitels III geknüpft.
(2) Absatz 1 gilt auch für Familienangehörige, die nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzen und die sich rechtmäßig
fünf Jahre lang ununterbrochen mit dem Unionsbürger im Aufnahmemitgliedstaat aufgehalten haben.
(3) Die Kontinuität des Aufenthalts wird weder durch vorübergehende Abwesenheiten von bis zu insgesamt sechs Monaten im Jahr,
noch durch längere Abwesenheiten wegen der Erfüllung militärischer Pflichten, noch durch eine einzige Abwesenheit von höchstens
zwölf aufeinander folgenden Monaten aus wichtigen Gründen wie Schwangerschaft und Niederkunft, schwere Krankheit, Studium
oder Berufsausbildung oder berufliche Entsendung in einen anderen Mitgliedstaat oder einen Drittstaat berührt.
(4) Wenn das Recht auf Daueraufenthalt erworben wurde, führt nur die Abwesenheit vom Aufnahmemitgliedstaat, die zwei aufeinander
folgende Jahre überschreitet, zu seinem Verlust.“
12 Im selben Kapitel IV sieht Art. 18 („Erwerb des Rechts auf Daueraufenthalt durch bestimmte Familienangehörige, die nicht die
Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzen“) der Richtlinie 2004/38 vor:
„Unbeschadet des Artikels 17 erwerben die Familienangehörigen eines Unionsbürgers, auf die Artikel 12 Absatz 2 und Artikel
13 Absatz 2 Anwendung finden und die die dort genannten Voraussetzungen erfüllen, das Recht auf Daueraufenthalt, wenn sie
sich rechtmäßig fünf Jahre lang ununterbrochen im Aufnahmemitgliedstaat aufgehalten haben.“
13 Art. 37 der Richtlinie 2004/38 lautet:
„Diese Richtlinie lässt Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten, die für die in den Anwendungsbereich dieser
Richtlinie fallenden Personen günstiger sind, unberührt.“
Nationales Recht
14 Der mit „Recht auf Einreise und Aufenthalt“ überschriebene § 2 des Gesetzes über die allgemeine Freizügigkeit von Unionsbürgern
vom 30. Juli 2004 (BGBl. 2004 I S. 1950) in der durch das Gesetz zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien
der Europäischen Union vom 19. August 2007 (BGBl. 2007 I S. 1970) geänderten Fassung (im Folgenden: FreizügG/EU) bestimmt
in seinen Abs. 1 und 2:
„(1) Freizügigkeitsberechtigte Unionsbürger und ihre Familienangehörigen haben das Recht auf Einreise und Aufenthalt nach Maßgabe
dieses Gesetzes.
(2) Gemeinschaftsrechtlich freizügigkeitsberechtigt sind:
…
5. nicht erwerbstätige Unionsbürger unter den Voraussetzungen des § 4,
…“
15 § 4 („Nicht erwerbstätige Freizügigkeitsberechtigte“) FreizügG/EU bestimmt:
„Nicht erwerbstätige Unionsbürger, ihre Familienangehörigen und ihre Lebenspartner, die den Unionsbürger begleiten oder ihm
nachziehen, haben das Recht nach § 2 Abs. 1, wenn sie über ausreichenden Krankenversicherungsschutz und ausreichende Existenzmittel
verfügen. …“
16 § 4a („Daueraufenthaltsrecht“) Abs. 1 FreizügG/EU sieht vor:
„Unionsbürger, ihre Familienangehörigen und Lebenspartner, die sich seit fünf Jahren ständig rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten
haben, haben unabhängig vom weiteren Vorliegen der Voraussetzungen des § 2 Abs. 2 das Recht auf Einreise und Aufenthalt (Daueraufenthaltsrecht).“
17 § 5 Abs. 6 FreizügG/EU lautet:
„Auf Antrag wird Unionsbürgern unverzüglich ihr Daueraufenthalt bescheinigt.“
Ausgangsverfahren und Vorlagefragen
18 Herr Ziolkowski ist ein polnischer Staatsangehöriger, der im September 1989 nach Deutschland einreiste. Er erhielt für die
Zeit von Juli 1991 bis April 2006 eine Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen.
19 Frau Szeja ist eine polnische Staatsangehörige, die im Jahr 1988 nach Deutschland einreiste. Sie erhielt für die Zeit von
Mai 1990 bis Oktober 2005 eine Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen. Ihre Kinder wurden 1994 und 1996 in Deutschland
geboren. Sie erhielten Aufenthaltserlaubnisse, die derjenigen ihrer Mutter angepasst waren. Der Vater der Kinder ist ein türkischer
Staatsangehöriger, der von Frau Szeja getrennt lebt, jedoch das Sorgerecht für die Kinder gemeinsam mit ihr ausübt.
20 Im Jahr 2005 beantragten Herr Ziolkowski sowie Frau Szeja und ihre Kinder beim Land Berlin die Verlängerung ihrer Aufenthaltserlaubnisse
bzw. die Ausstellung einer Bescheinigung über ihr Daueraufenthaltsrecht aufgrund des Unionsrechts. Der Antrag von Frau Szeja
und ihren Kindern wurde abgelehnt. Herr Ziolkowski erhielt die Verlängerung seiner Aufenthaltserlaubnis bis April 2006, doch
in der Folge wurde sein erneuter Verlängerungsantrag ebenfalls abgelehnt. Sämtliche Betroffenen wurden über ihre etwaige Abschiebung
in ihren Herkunftsmitgliedstaat unterrichtet, sollten sie binnen einer bestimmten Frist nach Unanfechtbarkeit dieser Ablehnungsbescheide
des Landes Berlin nicht aus dem deutschen Hoheitsgebiet ausgereist sein.
21 Nach den Ausführungen des Landes Berlin konnten die Aufenthaltserlaubnisse der Kläger der Ausgangsverfahren nicht verlängert
werden, da ihr Lebensunterhalt nicht gesichert gewesen sei. Die Anerkennung eines Rechts auf Daueraufenthalt nach dem Unionsrecht
sei ebenfalls nicht möglich gewesen, da sie nicht gearbeitet hätten und auch keinen gesicherten Lebensunterhalt hätten nachweisen
können.
22 Das Verwaltungsgericht gab den von den Klägern der Ausgangsverfahren bei ihm erhobenen Klagen statt und entschied, dass das
Recht auf Daueraufenthalt nach dem Unionsrecht jedem Unionsbürger, der sich fünf Jahre lang rechtmäßig im Aufnahmemitgliedstaat
aufgehalten habe, gewährt werden müsse, ohne dass es darauf ankomme, ob er über ausreichende Existenzmittel verfüge. Auf die
Berufung des Landes Berlin gegen die Entscheidungen des Verwaltungsgerichts änderte das Oberverwaltungsgericht Berlin‑Brandenburg
mit Urteilen vom 28. April 2009 diese Entscheidungen ab.
23 Nach diesen Urteilen können für die Zwecke des Erwerbs des Rechts auf Daueraufenthalt nach dem Unionsrecht nur die Zeiten
Berücksichtigung finden, die der betreffende Bürger seit dem Zeitpunkt zurückgelegt habe, zu dem sein Herkunftsstaat Mitglied
der Europäischen Union geworden sei. Außerdem könne für die Zwecke eines solchen Erwerbs als rechtmäßig nur ein Aufenthalt
gelten, der auf dem Art. 7 der Richtlinie 2004/38 entsprechenden § 2 Abs. 2 FreizügG/EU beruhe. Da die Kläger der Ausgangsverfahren
zum Zeitpunkt des Beitritts ihres Herkunftsstaats zur Europäischen Union, also am 1. Mai 2004, keine Arbeitnehmer gewesen
seien und auch nicht über ausreichende Existenzmittel verfügt hätten, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten und keine Sozialleistungen
des Aufnahmemitgliedstaats in Anspruch nehmen zu müssen, erfüllten sie nicht die in § 2 Abs. 2 FreizügG/EU genannten Voraussetzungen
und hätten daher kein Daueraufenthaltsrecht im Sinne von § 4 dieses Gesetzes erworben.
24 Die Kläger der Ausgangsverfahren legten gegen die Urteile des Oberverwaltungsgerichts Berlin-Brandenburg Revision an das vorlegende
Gericht ein.
25 Das vorlegende Gericht macht sich die Feststellungen des Berufungsgerichts zu eigen, wonach sich die Kläger der Ausgangsverfahren
nicht im Einklang mit den im Unionsrecht festgelegten Bedingungen, sondern nur aufgrund nationalen Rechts in Deutschland aufgehalten
haben. Es ist jedoch der Auffassung, dass es, wenn ein solcher Aufenthalt nicht zum Erwerb eines Rechts auf Daueraufenthalt
gemäß Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 führen könne, vor einer Entscheidung gleichwohl verpflichtet sei, den Gerichtshof
zu befassen.
26 Vor diesem Hintergrund hat das Bundesverwaltungsgericht beschlossen, die Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof die folgenden,
in den beiden Rechtssachen C‑424/10 und C‑425/10 gleichlautenden Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
1. Ist Art. 16 Abs. 1 Satz 1 der Richtlinie 2004/38 so auszulegen, dass er einem Unionsbürger, der sich seit über fünf Jahren
nur aufgrund nationalen Rechts rechtmäßig in einem Mitgliedstaat aufhält, in dieser Zeit aber die Voraussetzungen des Art. 7
Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 nicht erfüllt hat, ein Recht auf Daueraufenthalt in diesem Mitgliedstaat verleiht?
2. Sind auf den rechtmäßigen Aufenthalt im Sinne des Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 auch Aufenthaltszeiten des Unionsbürgers
im Aufnahmemitgliedstaat vor dem Beitritt seines Herkunftsstaats zur Europäischen Union anzurechnen?
27 Mit Beschluss des Präsidenten des Gerichtshofs vom 6. Oktober 2010 sind die Rechtssachen C‑424/10 und C‑425/10 zu gemeinsamem
schriftlichen und mündlichen Verfahren und zu gemeinsamer Entscheidung verbunden worden.
Zu den Vorlagefragen
Zur ersten Frage
28 Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 so auszulegen ist,
dass ein Unionsbürger, der im Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats eine Aufenthaltszeit von über fünf Jahren nur aufgrund
des nationalen Rechts dieses Staates zurückgelegt hat, so zu betrachten ist, als habe er das Recht auf Daueraufenthalt nach
dieser Bestimmung erworben, wenn er während dieses Aufenthalts nicht die Voraussetzungen des Art. 7 Abs. 1 dieser Richtlinie
erfüllt hat.
Beim Gerichtshof eingereichte Erklärungen
29 Nach Ansicht der Kläger der Ausgangsverfahren verlangt Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 nicht, dass der Unionsbürger
die Voraussetzungen des Art. 7 Abs. 1 dieser Richtlinie erfüllt. Um den Erwerb des Rechts auf Daueraufenthalt nach diesem
Art. 16 Abs. 1 geltend machen zu können, genüge es, einen auch nur nach dem Recht des Aufnahmemitgliedstaats rechtmäßigen
Aufenthalt nachzuweisen, und weder der Umstand, dass der Antragsteller Sozialhilfeleistungen in Anspruch genommen habe, noch
die Tatsache, dass während dieses Aufenthalts ein Grund bestanden habe, der die Ausländerbehörde zur Feststellung des Verlusts
des Freizügigkeitsrechts berechtigt hätte, seien insoweit von Bedeutung.
30 Alle Mitgliedstaaten, die Erklärungen eingereicht haben, und die Europäische Kommission sind mit dem vorlegenden Gericht der
Auffassung, dass der Erwerb des Rechts auf Daueraufenthalt im Sinne von Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 voraussetze,
dass sich der betreffende Unionsbürger im Einklang mit den Voraussetzungen des Art. 7 Abs. 1 dieser Richtlinie fünf Jahre
lang ununterbrochen aufgehalten habe, und dass daher ein Aufenthalt, der diese Voraussetzungen nicht erfülle, nicht als „rechtmäßiger
Aufenthalt“ im Sinne dieses Art. 16 Abs. 1 angesehen werden könne.
Antwort des Gerichtshofs
31 Nach Art. 16 Abs. 1 Satz 1 der Richtlinie 2004/38 hat jeder Unionsbürger, der sich rechtmäßig fünf Jahre lang ununterbrochen
im Aufnahmemitgliedstaat aufgehalten hat, das Recht, sich dort auf Dauer aufzuhalten.
32 Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs aus dem Gebot der einheitlichen Anwendung
des Rechts der Union wie auch aus dem Gleichheitssatz folgt, dass die Begriffe einer Vorschrift des Unionsrechts, die für
die Ermittlung ihres Sinns und ihrer Tragweite nicht ausdrücklich auf das Recht der Mitgliedstaaten verweist, in der Regel
in der gesamten Union eine autonome und einheitliche Auslegung erhalten müssen (Urteile vom 19. September 2000, Linster, C‑287/98,
Slg. 2000, I‑6917, Randnr. 43, und vom 18. Oktober 2011, Brüstle, C‑34/10, noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht,
Randnr. 25).
33 Der Wortlaut von Art. 16 Abs. 1 Satz 1 der Richtlinie 2004/38 enthält zwar keinen Hinweis darauf, wie die Wendung „sich rechtmäßig“
im Aufnahmemitgliedstaat „aufgehalten hat“ zu verstehen ist, doch verweist diese Richtlinie in Bezug auf die Bedeutung dieser
Wendung auch nicht auf die nationalen Rechtsvorschriften. Die Wendung ist daher für die Anwendung dieser Richtlinie als autonomer
Begriff des Unionsrechts anzusehen, der in allen Mitgliedstaaten einheitlich auszulegen ist.
34 Insoweit ist zu beachten, dass Bedeutung und Tragweite von Begriffen, die das Recht der Union nicht definiert, insbesondere
unter Berücksichtigung des Zusammenhangs, in dem sie verwendet werden, und der Ziele der Regelung, zu der sie gehören, zu
bestimmen sind (vgl. u. a. Urteile vom 10. März 2005, easyCar, C‑336/03, Slg. 2005, I‑1947, Randnr. 21, vom 22. Dezember 2008,
Wallentin-Hermann, C‑549/07, Slg. 2008, I‑11061, Randnr. 17, vom 29. Juli 2010, UGT‑FSP, C‑151/09, noch nicht in der amtlichen
Sammlung veröffentlicht, Randnr. 39, und Brüstle, Randnr. 31).
35 Was zunächst die Ziele der Richtlinie 2004/38 betrifft, wird in deren erstem Erwägungsgrund daran erinnert, dass die Unionsbürgerschaft
jedem Bürger der Union das elementare und persönliche Recht verleiht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten vorbehaltlich
der in den Verträgen und in den Durchführungsvorschriften vorgesehenen Beschränkungen und Bedingungen frei zu bewegen und
aufzuhalten (vgl. Urteile vom 7. Oktober 2010, Lassal, C‑162/09, noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, Randnr. 29,
und vom 5. Mai 2011, McCarthy, C‑434/09, noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, Randnr. 27).
36 Es trifft zwar zu, dass die Richtlinie 2004/38 die Ausübung des jedem Unionsbürger unmittelbar verliehenen elementaren und
persönlichen Rechts, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, erleichtern und verstärken
soll, doch betrifft ihr Gegenstand – wie aus ihrem Art. 1 Buchst. a und b hervorgeht – die Bedingungen, unter denen dieses
Recht und das Recht auf Daueraufenthalt ausgeübt werden, wobei das letztgenannte Recht – außer für die aus dem Erwerbsleben
im Aufnahmemitgliedstaat ausgeschiedenen Arbeitnehmer und ihre Familienangehörigen – mit dieser Richtlinie erstmals in die
Unionsrechtsordnung eingeführt wurde.
37 Den Erwägungsgründen 3 und 4 der Richtlinie 2004/38 zufolge sollen mit ihr die bereichsspezifischen und fragmentarischen Ansätze
des Freizügigkeits- und Aufenthaltsrechts überwunden werden, um die Ausübung dieses Rechts zu erleichtern, indem ein einziger
Rechtsakt ausgearbeitet wird, in dem die vor dem Erlass dieser Richtlinie bestehenden Instrumente des Unionsrechts kodifiziert
und überarbeitet werden.
38 Was sodann den Gesamtzusammenhang der Richtlinie 2004/38 angeht, ist darauf hinzuweisen, dass diese hinsichtlich des Aufenthaltsrechts
im Aufnahmemitgliedstaat ein abgestuftes System vorgesehen hat, das unter Übernahme im Wesentlichen der Stufen und Bedingungen,
die in den vor dem Erlass dieser Richtlinie bestehenden einzelnen Instrumenten des Unionsrechts vorgesehen waren, sowie der
zuvor ergangenen Rechtsprechung im Recht auf Daueraufenthalt mündet.
39 Erstens nämlich beschränkt Art. 6 der Richtlinie 2004/38 für Aufenthalte bis zu drei Monaten die für das Aufenthaltsrecht
geltenden Bedingungen oder Formalitäten auf das Erfordernis des Besitzes eines gültigen Personalausweises oder Reisepasses
und erhält Art. 14 Abs. 1 dieser Richtlinie das Aufenthaltsrecht für Unionsbürger und ihre Familienangehörigen aufrecht, solange
sie die Sozialhilfeleistungen des Aufnahmemitgliedstaats nicht unangemessen in Anspruch nehmen.
40 Zweitens ist bei einem Aufenthalt von mehr als drei Monaten die Ausübung des Aufenthaltsrechts von den Voraussetzungen des
Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 abhängig, und nach Art. 14 Abs. 2 dieser Richtlinie steht Unionsbürgern und ihren Familienangehörigen
dieses Recht nur so lange zu, wie sie diese Voraussetzungen erfüllen. Insbesondere dem zehnten Erwägungsgrund dieser Richtlinie
ist zu entnehmen, dass diese Voraussetzungen u. a. verhindern sollen, dass diese Personen die Sozialhilfeleistungen des Aufnahmemitgliedstaats
unangemessen in Anspruch nehmen.
41 Drittens geht aus Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 hervor, dass jeder Unionsbürger, der sich rechtmäßig fünf Jahre lang
ununterbrochen im Aufnahmemitgliedstaat aufgehalten hat, das Recht hat, sich dort auf Dauer aufzuhalten, und dass dieses Recht
nicht den in der vorstehenden Randnummer genannten Voraussetzungen unterworfen ist. Wie im 18. Erwägungsgrund dieser Richtlinie
ausgeführt wird, sollte das einmal erlangte Recht auf Daueraufenthalt, um ein wirksames Instrument für die Integration in
die Gesellschaft dieses Staates darzustellen, keinen Bedingungen unterworfen werden.
42 Schließlich ist zum besonderen Kontext der Richtlinie 2004/38 im Hinblick auf das Recht auf Daueraufenthalt darauf hinzuweisen,
dass es im 17. Erwägungsgrund dieser Richtlinie heißt, dass es gelte, für alle Unionsbürger und ihre Familienangehörigen,
die sich „gemäß den in dieser Richtlinie festgelegten Bedingungen“ fünf Jahre lang ununterbrochen in dem Aufnahmemitgliedstaat
aufgehalten haben und gegen die keine Ausweisungsmaßnahme angeordnet wurde, ein solches Recht vorzusehen.
43 Diese Präzisierung wurde im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens, das zum Erlass der Richtlinie 2004/38 geführt hat, durch den
vom Rat der Europäischen Union am 5. Dezember 2003 angenommenen gemeinsamen Standpunkt (EG) Nr. 6/2004 (ABl. 2004, C 54 E,
S. 12) in diesen Erwägungsgrund aufgenommen. Der Mitteilung an das Europäische Parlament vom 30. Dezember 2003 (SEK/2003/1293
endg.) zufolge wurde diese Erläuterung aufgenommen, „[u]m den Inhalt des Begriffs rechtmäßiger Aufenthalt [im Sinne von Art. 16
Abs. 1 dieser Richtlinie] zu präzisieren“.
44 Ferner sieht Art. 18 der Richtlinie 2004/38, der im selben Kapitel zu finden ist wie Art. 16 dieser Richtlinie und der den
Erwerb des Rechts auf Daueraufenthalt durch bestimmte Familienangehörige eines Unionsbürgers betrifft, die nicht die Staatsangehörigkeit
eines Mitgliedstaats besitzen, vor, dass diese Familienangehörigen bei Tod oder Wegzug des Unionsbürgers, bei Scheidung oder
Aufhebung der Ehe oder bei Beendigung der eingetragenen Partnerschaft, wie in Art. 16 Abs. 1 dieser Richtlinie vorgesehen,
sich „rechtmäßig“ fünf Jahre lang ununterbrochen im Aufnahmemitgliedstaat „aufgehalten haben“ müssen, um das Recht auf Daueraufenthalt
zu erwerben, und verweist insoweit auf die Art. 12 Abs. 2 und 13 Abs. 2 dieser Richtlinie, nach deren jeweiligem Abs. 2 von
den Betroffenen neben anderen Voraussetzungen verlangt wird, dass sie, bevor sie das Recht auf Daueraufenthalt erwerben, selbst
nachweisen können, dass sie die gleichen Voraussetzungen erfüllen, wie sie in Art. 7 Abs. 1 Buchst. a, b oder d dieser Richtlinie
genannt sind.
45 Gleichermaßen müssen die Familienangehörigen eines Unionsbürgers, die die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzen,
nach den Art. 12 Abs. 1 und 13 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38, auch wenn der Tod des Unionsbürgers oder sein Wegzug oder auch
die Scheidung oder Aufhebung der Ehe oder die Beendigung der eingetragenen Partnerschaft nicht das Aufenthaltsrecht dieser
Familienangehörigen berührt, bevor sie das Recht auf Daueraufenthalt erwerben, ebenfalls selbst nachweisen, dass sie die Voraussetzungen
des Art. 7 Abs. 1 dieser Richtlinie erfüllen.
46 Folglich ist der Begriff des rechtmäßigen Aufenthalts, den die Wendung „der sich rechtmäßig … aufgehalten hat“ in Art. 16
Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 enthält, als ein im Einklang mit den in dieser Richtlinie vorgesehenen, insbesondere mit den
in deren Art. 7 Abs. 1 aufgeführten Voraussetzungen stehender Aufenthalt zu verstehen.
47 Daher kann ein im Einklang mit dem Recht eines Mitgliedstaats stehender Aufenthalt, der jedoch nicht die Voraussetzungen des
Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 erfüllt, nicht als ein „rechtmäßiger“ Aufenthalt im Sinne von Art. 16 Abs. 1 dieser Richtlinie
angesehen werden.
48 Eine gegenteilige Auslegung kann insoweit nicht mit Erfolg auf der Grundlage von Art. 37 der Richtlinie 2004/38 geltend gemacht
werden, wonach deren Bestimmungen Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten, die für die in den Anwendungsbereich
dieser Richtlinie fallenden Personen günstiger sind, unberührt lässt.
49 Der Umstand, dass nationale Bestimmungen, die in Bezug auf das Aufenthaltsrecht der Unionsbürger günstiger sind als die der
Richtlinie 2004/38, unberührt bleiben, bedeutet keineswegs, dass diese Bestimmungen in das mit dieser Richtlinie eingeführte
System aufzunehmen wären.
50 Art. 37 der Richtlinie 2004/38 sieht lediglich vor, dass diese Richtlinie der Einführung einer Regelung im Recht der Mitgliedstaaten,
die günstiger ist als die durch die Bestimmungen dieser Richtlinie eingeführte, nicht entgegensteht. Allerdings hat jeder
Mitgliedstaat nicht nur zu entscheiden, ob er eine solche Regelung einführt, sondern auch, welche Voraussetzungen und Wirkungen
diese insbesondere in Bezug auf die Rechtsfolgen eines nur aufgrund des nationalen Rechts gewährten Aufenthaltsrechts hat.
51 Demnach ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 so auszulegen ist, dass ein Unionsbürger,
der im Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats eine Aufenthaltszeit von über fünf Jahren nur aufgrund des nationalen Rechts
dieses Staates zurückgelegt hat, nicht so betrachtet werden kann, als habe er das Recht auf Daueraufenthalt nach dieser Bestimmung
erworben, wenn er während dieses Aufenthalts die Voraussetzungen des Art. 7 Abs. 1 dieser Richtlinie nicht erfüllt hat.
Zur zweiten Frage
52 Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob für die Zwecke des Erwerbs des Rechts auf Daueraufenthalt
gemäß Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 Aufenthaltszeiten eines Drittstaatsangehörigen in einem Mitgliedstaat vor dem
Beitritt dieses Drittstaats zur Union in Ermangelung spezifischer Bestimmungen in der Beitrittsakte zu berücksichtigen sind.
Beim Gerichtshof eingereichte Erklärungen
53 Irland und die Kommission halten eine Beantwortung der zweiten Frage des vorlegenden Gerichts für nicht erforderlich, da feststehe,
dass die Kläger der Ausgangsverfahren zu keinem Zeitpunkt die Voraussetzungen des Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38, auch
nicht während der Aufenthaltszeiten vor dem Beitritt ihres Herkunftsstaats zur Union, erfüllt hätten.
54 Nach Ansicht der deutschen Regierung und der Regierung des Vereinigten Königreichs können die Aufenthaltszeiten vor dem Beitritt
des Herkunftsstaats des betreffenden Unionsbürgers zur Union für die Zwecke des Erwerbs des Rechts auf Daueraufenthalt gemäß
Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 keine Berücksichtigung finden, da dieses Aufenthaltsrecht voraussetze, dass die Person,
die es beantrage, sich in der Eigenschaft als Unionsbürger aufgehalten habe, während die Kläger der Ausgangsverfahren vor
dem Beitritt der Republik Polen zur Union keine Unionsbürger gewesen und daher auch nicht in den Genuss der durch die Instrumente
des Unionsrechts verliehenen Rechte gelangt seien.
55 Die griechische Regierung ist demgegenüber der Ansicht, dass aus dem Wortlaut, der Zweckbestimmung und dem Aufbau von Art. 16
Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 hervorgehe, dass diese Bestimmung unabhängig vom Zeitpunkt des Beitritts des Herkunftsstaats
des betreffenden Bürgers zur Union anzuwenden sei. Daher seien die Aufenthaltszeiten vor dem Beitritt zu berücksichtigen,
sofern sie die in dieser Richtlinie festgelegten Voraussetzungen erfüllten.
Antwort des Gerichtshofs
56 Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass die Akte über den Beitritt eines neuen Mitgliedstaats im Wesentlichen auf dem allgemeinen
Grundsatz der sofortigen und vollständigen Anwendung der Bestimmungen des Unionsrechts auf diesen Staat beruht, wobei Abweichungen
nur insoweit zulässig sind, als sie in Übergangsbestimmungen ausdrücklich vorgesehen sind (vgl. Urteil vom 28. April 2009,
Apostolides, C‑420/07, Slg. 2009, I‑3571, Randnr. 33 und die dort angeführte Rechtsprechung).
57 Wie der Gerichtshof zu Art. 6 EWG-Vertrag (später Art. 6 EG-Vertrag, nach Änderung dann Art. 12 EG) sowie zu den Art. 48 und
51 EG-Vertrag (nach Änderung Art. 39 EG und 42 EG) bereits entschieden hat, gelten diese Artikel, wenn die Akte über die Bedingungen
des Beitritts eines Mitgliedstaats keine Übergangsregelung für deren Geltung enthält, ab dem Zeitpunkt des Beitritts dieses
Mitgliedstaats zur Union dort unmittelbar und sind bindend, so dass Bürger aus allen Mitgliedstaaten sich von diesem Zeitpunkt
an auf sie berufen können und sie auf die gegenwärtigen und künftigen Wirkungen von Sachverhalten angewandt werden können,
die vor dem Beitritt dieses Staates zur Union entstanden sind (Urteile vom 2. Oktober 1997, Saldanha und MTS, C‑122/96, Slg. 1997,
I‑5325, Randnr. 14, vom 30. November 2000, Österreichischer Gewerkschaftsbund, C‑195/98, Slg. 2000, I‑10497, Randnr. 55, und
vom 18. April 2002, Duchon, C‑290/00, Slg. 2002, I‑3567, Randnr. 44).
58 Im Übrigen hat der Gerichtshof auch entschieden, dass die Bestimmungen über die Unionsbürgerschaft seit ihrem Inkrafttreten
anwendbar und deshalb auf die gegenwärtigen Wirkungen von zuvor entstandenen Sachverhalten anzuwenden sind (vgl. Urteile vom
11. Juli 2002, D’Hoop, C‑224/98, Slg. 2002, I‑6191, Randnr. 25, und Lassal, Randnr. 39).
59 Im vorliegenden Fall gibt es in der Akte über die Bedingungen des Beitritts der Tschechischen Republik, der Republik Estland,
der Republik Zypern, der Republik Lettland, der Republik Litauen, der Republik Ungarn, der Republik Malta, der Republik Polen,
der Republik Slowenien und der Slowakischen Republik zur Europäischen Union und die Anpassungen der die Europäische Union
begründenden Verträge (ABl. 2003, L 236, S. 33) keine Übergangsbestimmung hinsichtlich der Geltung der unionsrechtlichen Bestimmungen
über Freizügigkeit für die Republik Polen, abgesehen von einigen in den Anhängen zu dieser Akte enthaltenen Übergangsbestimmungen
betreffend die Freizügigkeit der Arbeitnehmer und den freien Dienstleistungsverkehr.
60 Daher können Unionsbürger sich auf die Bestimmungen von Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 berufen und können diese auf
die gegenwärtigen und künftigen Wirkungen von Sachverhalten angewandt werden, die vor dem Beitritt der Republik Polen zur
Union entstanden sind.
61 Insoweit trifft zwar zu, dass die von dem Angehörigen eines anderen Staates vor dessen Beitritt zur Union im Aufnahmemitgliedstaat
zurückgelegten Aufenthaltszeiten nicht unter das Unionsrecht, sondern nur unter das nationale Recht dieses Aufnahmemitgliedstaats
fielen.
62 Sofern der Betroffene nachweisen kann, dass solche Zeiten im Einklang mit den Voraussetzungen des Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie
2004/38 zurückgelegt wurden, hat die Berücksichtigung dieser Zeiten ab dem Zeitpunkt des Beitritts des betreffenden Mitgliedstaats
zur Union jedoch nicht zur Folge, dass Art. 16 dieser Richtlinie Rückwirkung verliehen wird, sondern nur, dass Sachverhalten,
die vor dem Datum für die Umsetzung der Richtlinie entstanden sind, eine gegenwärtige Wirkung beigemessen wird (vgl. Urteil
Lassal, Randnr. 38).
63 Demnach ist auf die zweite Frage zu antworten, dass für die Zwecke des Erwerbs des Rechts auf Daueraufenthalt gemäß Art. 16
Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 Aufenthaltszeiten eines Drittstaatsangehörigen in einem Mitgliedstaat vor dem Beitritt dieses
Drittstaats zur Union in Ermangelung spezifischer Bestimmungen in der Beitrittsakte zu berücksichtigen sind, soweit sie im
Einklang mit den Voraussetzungen des Art. 7 Abs. 1 dieser Richtlinie zurückgelegt wurden.
Kosten
64 Für die Parteien der Ausgangsverfahren ist das Verfahren ein Zwischenstreit in den bei dem vorlegenden Gericht anhängigen
Rechtsstreitigkeiten; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe
von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Große Kammer) für Recht erkannt:
1. Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger
und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zur Änderung der
Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 und zur Aufhebung der Richtlinien 64/221/EWG, 68/360/EWG, 72/194/EWG, 73/148/EWG, 75/34/EWG,
75/35/EWG, 90/364/EWG, 90/365/EWG und 93/96/EWG ist so auszulegen, dass ein Unionsbürger, der im Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats
eine Aufenthaltszeit von über fünf Jahren nur aufgrund des nationalen Rechts dieses Staates zurückgelegt hat, nicht so betrachtet
werden kann, als habe er das Recht auf Daueraufenthalt nach dieser Bestimmung erworben, wenn er während dieser Aufenthaltszeit
die Voraussetzungen des Art. 7 Abs. 1 dieser Richtlinie nicht erfüllt hat.
2. Für die Zwecke des Erwerbs des Rechts auf Daueraufenthalt gemäß Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 sind Aufenthaltszeiten
eines Drittstaatsangehörigen in einem Mitgliedstaat vor dem Beitritt dieses Drittstaats zur Europäischen Union in Ermangelung
spezifischer Bestimmungen in der Beitrittsakte zu berücksichtigen, soweit sie im Einklang mit den Voraussetzungen des Art. 7
Abs. 1 dieser Richtlinie zurückgelegt wurden.
Unterschriften
* Verfahrenssprache: Deutsch.
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Urteil des Gerichtshofs (Dritte Kammer) vom 5. Mai 2011.#Shirley McCarthy gegen Secretary of State for the Home Department.#Vorabentscheidungsersuchen der null.#Freizügigkeit – Art. 21 AEUV – Richtlinie 2004/38/EG – Begriff ‚Berechtigter‘ – Art. 3 Abs. 1 – Staatsangehöriger, der noch nie von seinem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch gemacht und sich stets in dem Mitgliedstaat aufgehalten hat, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt – Auswirkungen des Besitzes der Staatsangehörigkeit eines anderen Mitgliedstaats – Rein interner Sachverhalt.#Rechtssache C-434/09.
|
62009CJ0434
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ECLI:EU:C:2011:277
| 2011-05-05T00:00:00 |
Gerichtshof, Kokott
|
Sammlung der Rechtsprechung 2011 I-03375
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Rechtssache C‑434/09
Shirley McCarthy
gegen
Secretary of State for the Home Department
(Vorabentscheidungsersuchen des Supreme Court of the United Kingdom, vormals House of Lords)
„Freizügigkeit – Art. 21 AEUV – Richtlinie 2004/38/EG – Begriff ‚Berechtigter‘ – Art. 3 Abs. 1 – Staatsangehöriger, der noch nie von seinem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch gemacht und sich stets in dem Mitgliedstaat aufgehalten
hat, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt – Auswirkungen des Besitzes der Staatsangehörigkeit eines anderen Mitgliedstaats – Rein interner Sachverhalt“
Leitsätze des Urteils
1. Unionsbürgerschaft – Recht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten – Richtlinie 2004/38
– Berechtigter – Begriff
(Richtlinie 2004/38 des Europäischen Parlaments und des Rates, Art. 3 Abs. 1)
2. Unionsbürgerschaft – Bestimmungen des Vertrags – Unanwendbarkeit auf Sachverhalte, die sich ausschließlich innerhalb eines
Mitgliedstaats abspielen – Unionsbürger, der noch nie von seinem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch gemacht hat, der sich stets
in dem Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, aufgehalten hat und der sich im Besitz der Staatsangehörigkeit
eines anderen Mitgliedstaats befindet
(Art. 21 AEUV)
1. Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet
der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, ist dahin auszulegen, dass diese Richtlinie auf einen Unionsbürger, der
noch nie von seinem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch gemacht hat, der sich stets in einem Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit
er besitzt, aufgehalten hat und der sich im Übrigen im Besitz der Staatsangehörigkeit eines anderen Mitgliedstaats befindet,
nicht anwendbar ist.
Erstens nämlich ist Berechtigter im Sinne dieser Bestimmung der Richtlinie 2004/38 jeder Unionsbürger, der sich in einen „anderen“
als den Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, „begibt“ oder sich dort aufhält. Da zweitens der Aufenthalt
einer Person, die in dem Mitgliedstaat wohnt, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzt, keinen Bedingungen unterworfen werden
kann, kann die Richtlinie 2004/38, die die Bedingungen für die Ausübung des Rechts betrifft, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten
frei zu bewegen und aufzuhalten, nicht dazu bestimmt sein, auf einen Unionsbürger Anwendung zu finden, der aufgrund der Tatsache,
dass er sich in dem Mitgliedstaat aufhält, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, über ein nicht an Bedingungen geknüpftes
Aufenthaltsrecht verfügt. Drittens geht aus dieser Richtlinie als Ganzes hervor, dass der Aufenthalt im Sinne der Richtlinie
mit der Ausübung des Rechts auf Freizügigkeit im Zusammenhang steht.
Daher fällt ein Unionsbürger, der sich in der oben beschriebenen Situation befindet, nicht unter den Begriff „Berechtigter“
im Sinne von Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38, so dass diese auf ihn nicht anwendbar ist. Auf diese Feststellung kann
es keinen Einfluss haben, dass dieser Bürger auch die Staatsangehörigkeit eines anderen als des Mitgliedstaats besitzt, in
dem er sich aufhält. Dass ein Unionsbürger die Staatsangehörigkeit mehr als eines Mitgliedstaats besitzt, bedeutet insoweit
nämlich nicht, dass er von seinem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch gemacht hätte.
(vgl. Randnrn. 32, 34-35, 39-41, 57, Tenor 1)
2. Art. 21 AEUV ist auf einen Unionsbürger, der noch nie von seinem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch gemacht hat, der sich stets
in einem Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, aufgehalten hat und der sich im Übrigen im Besitz der Staatsangehörigkeit
eines anderen Mitgliedstaats befindet, nicht anwendbar, sofern die Situation dieses Bürgers nicht von der Anwendung von Maßnahmen
eines Mitgliedstaats begleitet ist, die bewirkten, dass ihm der tatsächliche Genuss des Kernbestands der durch den Unionsbürgerstatus
verliehenen Rechte verwehrt oder die Ausübung seines Rechts, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und
aufzuhalten, behindert würde.
Die Lage eines Unionsbürgers, der vom Recht auf Freizügigkeit keinen Gebrauch gemacht hat, kann nicht allein aus diesem Grund
einer rein internen Situation gleichgestellt werden. Als Staatsangehörige mindestens eines Mitgliedstaats genießt eine Person
den Unionsbürgerstatus gemäß Art. 20 Abs. 1 AEUV und kann sich daher auch gegenüber ihrem Herkunftsmitgliedstaat auf die mit
diesem Status verbundenen Rechte berufen, insbesondere auf das Recht aus Art. 21 AEUV, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten
frei zu bewegen und aufzuhalten.
Dass die Behörden des Mitgliedstaats, dessen Staatsangehörigkeit ein Bürger besitzt und in dem er wohnt, die Staatsangehörigkeit
eines anderen Mitgliedstaats, die dieser Bürger ebenfalls besitzt, bei der Entscheidung über einen Antrag auf Erteilung einer
Aufenthaltserlaubnis nach Unionsrecht, den dieser Unionsbürger gestellt hat, außer Acht lassen, führt jedoch nicht zur Anwendung
von Maßnahmen, die bewirkten, dass dem Betroffenen der tatsächliche Genuss des Kernbestands der ihm durch den Unionsbürgerstatus
verliehenen Rechte verwehrt oder dass die Ausübung seines Rechts, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen
und aufzuhalten, behindert würde. In einem solchen Kontext kann der Umstand, dass ein Staatsangehöriger neben der Staatsangehörigkeit
des Mitgliedstaats, in dem er wohnt, auch die Staatsangehörigkeit eines anderen Mitgliedstaats besitzt, für sich genommen
daher nicht ausreichen, um die Situation der betroffenen Person als von Art. 21 AEUV erfasst anzusehen, da diese Situation
keine Berührung mit irgendeinem der Sachverhalte aufweist, auf die das Unionsrecht abstellt, und diese Situation mit keinem
relevanten Element über die Grenzen eines Mitgliedstaats hinausweist.
(vgl. Randnrn. 46, 48-49, 54-55, 57, Tenor 2)
URTEIL DES GERICHTSHOFS (Dritte Kammer)
5. Mai 2011(*)
„Freizügigkeit – Art. 21 AEUV – Richtlinie 2004/38/EG – Begriff ‚Berechtigter‘ – Art. 3 Abs. 1 – Staatsangehöriger, der noch nie von seinem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch gemacht und sich stets in dem Mitgliedstaat aufgehalten
hat, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt – Auswirkungen des Besitzes der Staatsangehörigkeit eines anderen Mitgliedstaats – Rein interner Sachverhalt“
In der Rechtssache C‑434/09
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 234 EG, eingereicht vom Supreme Court of the United Kingdom, vormals House
of Lords (Vereinigtes Königreich) mit Entscheidung vom 5. Mai 2009, beim Gerichtshof eingegangen am 5. November 2009, in dem
Verfahren
Shirley McCarthy
gegen
Secretary of State for the Home Department
erlässt
DER GERICHTSHOF (Dritte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten K. Lenaerts, des Richters D. Šváby, der Richterin R. Silva de Lapuerta (Berichterstatterin)
sowie der Richter E. Juhász und J. Malenovský,
Generalanwältin: J. Kokott,
Kanzler: L. Hewlett, Hauptverwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 28. Oktober 2010,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
– von Frau McCarthy, vertreten durch S. Cox, Barrister, und K. Lewis, Solicitor,
– der Regierung des Vereinigten Königreichs, vertreten durch S. Ossowski als Bevollmächtigten im Beistand von T. Ward, Barrister,
– der dänischen Regierung, vertreten durch C. Vang als Bevollmächtigten,
– der estnischen Regierung, vertreten durch M. Linntam als Bevollmächtigte,
– Irlands, vertreten durch D. O’Hagan und D. Conlan Smyth als Bevollmächtigte im Beistand von B. Lennon, Barrister,
– der niederländischen Regierung, vertreten durch C. Wissels und M. de Ree als Bevollmächtigte,
– der Europäischen Kommission, vertreten durch D. Maidani und M. Wilderspin als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge der Generalanwältin in der Sitzung vom 25. November 2010
folgendes
Urteil
1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Art. 3 Abs. 1 und 16 der Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen
Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet
der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 und zur Aufhebung der Richtlinien
64/221/EWG, 68/360/EWG, 72/194/EWG, 73/148/EWG, 75/34/EWG, 75/35/EWG, 90/364/EWG, 90/365/EWG und 93/96/EWG (ABl. L 158, S. 77,
berichtigte Fassung: ABl. 2004, L 229, S. 35).
2 Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Frau McCarthy und dem Secretary of State for the Home Department
(Innenminister; im Folgenden: Secretary of State) über einen von Frau McCarthy gestellten Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
3 Die Erwägungsgründe 1 bis 3 der Richtlinie 2004/38 lauten:
„(1) Die Unionsbürgerschaft verleiht jedem Bürger der Union das elementare und persönliche Recht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten
vorbehaltlich der im Vertrag und in den Durchführungsvorschriften vorgesehenen Beschränkungen und Bedingungen frei zu bewegen
und aufzuhalten.
(2) Die Freizügigkeit von Personen stellt eine der Grundfreiheiten des Binnenmarkts dar, der einen Raum ohne Binnengrenzen umfasst,
in dem diese Freiheit gemäß den Bestimmungen des Vertrags gewährleistet ist.
(3) Die Unionsbürgerschaft sollte der grundsätzliche Status der Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten sein, wenn sie ihr Recht
auf Freizügigkeit und Aufenthalt wahrnehmen. Daher müssen die bestehenden Gemeinschaftsinstrumente, die Arbeitnehmer und Selbständige
sowie Studierende und andere beschäftigungslose Personen getrennt behandeln, kodifiziert und überarbeitet werden, um das Freizügigkeits-
und Aufenthaltsrecht aller Unionsbürger zu vereinfachen und zu verstärken.“
4 Kapitel I der Richtlinie 2004/38 mit der Überschrift „Allgemeine Bestimmungen“ umfasst die Art. 1 bis 3 dieser Richtlinie.
5 Art. 1 („Gegenstand“) lautet:
„Diese Richtlinie regelt
a) die Bedingungen, unter denen Unionsbürger und ihre Familienangehörigen das Recht auf Freizügigkeit und Aufenthalt innerhalb
des Hoheitsgebiets der Mitgliedstaaten genießen;
b) das Recht auf Daueraufenthalt der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten;
c) die Beschränkungen der in den Buchstaben a) und b) genannten Rechte aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder
Gesundheit.“
6 Art. 2 („Definitionen“) der Richtlinie 2004/38 bestimmt:
„Im Sinne dieser Richtlinie bezeichnet der Ausdruck
1. ‚Unionsbürger‘ jede Person, die die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzt;
2. ‚Familienangehöriger‘:
a) den Ehegatten;
b) den Lebenspartner, mit dem der Unionsbürger auf der Grundlage der Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats eine eingetragene
Partnerschaft eingegangen ist, sofern nach den Rechtsvorschriften des Aufnahmemitgliedstaats die eingetragene Partnerschaft
der Ehe gleichgestellt ist und die in den einschlägigen Rechtsvorschriften des Aufnahmemitgliedstaats vorgesehenen Bedingungen
erfüllt sind;
c) die Verwandten in gerader absteigender Linie des Unionsbürgers und des Ehegatten oder des Lebenspartners im Sinne von Buchstabe
b), die das 21. Lebensjahr noch nicht vollendet haben oder denen von diesen Unterhalt gewährt wird;
d) die Verwandten in gerader aufsteigender Linie des Unionsbürgers und des Ehegatten oder des Lebenspartners im Sinne von Buchstabe
b), denen von diesen Unterhalt gewährt wird;
3. ‚Aufnahmemitgliedstaat‘ den Mitgliedstaat, in den sich der Unionsbürger begibt, um dort sein Recht auf Freizügigkeit oder
Aufenthalt auszuüben.“
7 Art. 3 („Berechtigte“) der Richtlinie 2004/38 bestimmt in Abs. 1:
„Diese Richtlinie gilt für jeden Unionsbürger, der sich in einen anderen als den Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit
er besitzt, begibt oder sich dort aufhält, sowie für seine Familienangehörigen im Sinne von Artikel 2 Nummer 2, die ihn begleiten
oder ihm nachziehen.“
8 Kapitel III der Richtlinie 2004/38 mit der Überschrift „Aufenthaltsrecht“ umfasst die Art. 6 bis 15 dieser Richtlinie.
9 Art. 6 bestimmt:
„(1) Ein Unionsbürger hat das Recht auf Aufenthalt im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats für einen Zeitraum von bis zu
drei Monaten, wobei er lediglich im Besitz eines gültigen Personalausweises oder Reisepasses sein muss und ansonsten keine
weiteren Bedingungen zu erfüllen oder Formalitäten zu erledigen braucht.
(2) Absatz 1 gilt auch für Familienangehörige im Besitz eines gültigen Reisepasses, die nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats
besitzen und die den Unionsbürger begleiten oder ihm nachziehen.“
10 Art. 7 der Richtlinie 2004/38 sieht vor:
„(1) Jeder Unionsbürger hat das Recht auf Aufenthalt im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats für einen Zeitraum von über
drei Monaten, wenn er
a) Arbeitnehmer oder Selbständiger im Aufnahmemitgliedstaat ist oder
b) für sich und seine Familienangehörigen über ausreichende Existenzmittel verfügt, so dass sie während ihres Aufenthalts keine
Sozialhilfeleistungen des Aufnahmemitgliedstaats in Anspruch nehmen müssen, und er und seine Familienangehörigen über einen
umfassenden Krankenversicherungsschutz im Aufnahmemitgliedstaat verfügen oder
c) – bei einer privaten oder öffentlichen Einrichtung, die von dem Aufnahmemitgliedstaat aufgrund seiner Rechtsvorschriften oder
seiner Verwaltungspraxis anerkannt oder finanziert wird, zur Absolvierung einer Ausbildung einschließlich einer Berufsausbildung
als Hauptzweck eingeschrieben ist und
– über einen umfassenden Krankenversicherungsschutz im Aufnahmemitgliedstaat verfügt und der zuständigen nationalen Behörde
durch eine Erklärung oder durch jedes andere gleichwertige Mittel seiner Wahl glaubhaft macht, dass er für sich und seine
Familienangehörigen über ausreichende Existenzmittel verfügt, so dass sie während ihres Aufenthalts keine Sozialhilfeleistungen
des Aufnahmemitgliedstaats in Anspruch nehmen müssen, oder
d) ein Familienangehöriger ist, der den Unionsbürger, der die Voraussetzungen des Buchstabens a), b) oder c) erfüllt, begleitet
oder ihm nachzieht.
(2) Das Aufenthaltsrecht nach Absatz 1 gilt auch für Familienangehörige, die nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats
besitzen und die den Unionsbürger in den Aufnahmemitgliedstaat begleiten oder ihm nachziehen, sofern der Unionsbürger die
Voraussetzungen des Absatzes 1 Buchstabe a), b) oder c) erfüllt.
(3) Für die Zwecke des Absatzes 1 Buchstabe a) bleibt die Erwerbstätigeneigenschaft dem Unionsbürger, der seine Erwerbstätigkeit
als Arbeitnehmer oder Selbständiger nicht mehr ausübt, in folgenden Fällen erhalten:
…
(4) Abweichend von Absatz 1 Buchstabe d) und Absatz 2 haben nur der Ehegatte, der eingetragene Lebenspartner im Sinne von Artikel 2
Nummer 2 Buchstabe b) und Kinder, denen Unterhalt gewährt wird, das Recht auf Aufenthalt als Familienangehörige eines Unionsbürgers,
der die Voraussetzungen des Absatzes 1 Buchstabe c) erfüllt. Artikel 3 Absatz 2 findet Anwendung auf die Verwandten in gerader
aufsteigender Linie des Unionsbürgers und des Ehegatten oder eingetragenen Lebenspartners, denen Unterhalt gewährt wird.“
11 In Kapitel IV der Richtlinie 2004/38 mit der Überschrift „Recht auf Daueraufenthalt“ bestimmt Art. 16 („Allgemeine Regel für
Unionsbürger und ihre Familienangehörigen“):
„(1) Jeder Unionsbürger, der sich rechtmäßig fünf Jahre lang ununterbrochen im Aufnahmemitgliedstaat aufgehalten hat, hat das Recht,
sich dort auf Dauer aufzuhalten. Dieses Recht ist nicht an die Voraussetzungen des Kapitels III geknüpft.
(2) Absatz 1 gilt auch für Familienangehörige, die nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzen und die sich rechtmäßig
fünf Jahre lang ununterbrochen mit dem Unionsbürger im Aufnahmemitgliedstaat aufgehalten haben.
…
(4) Wenn das Recht auf Daueraufenthalt erworben wurde, führt nur die Abwesenheit vom Aufnahmemitgliedstaat, die zwei aufeinander
folgende Jahre überschreitet, zu seinem Verlust.“
12 Kapitel V dieser Richtlinie mit der Überschrift „Gemeinsame Bestimmungen über das Aufenthaltsrecht und das Recht auf Daueraufenthalt“
enthält Art. 22 („Räumlicher Geltungsbereich“), der bestimmt:
„Das Recht auf Aufenthalt und das Recht auf Daueraufenthalt erstrecken sich auf das gesamte Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats.
Die Mitgliedstaaten können das Aufenthaltsrecht und das Recht auf Daueraufenthalt nur in den Fällen räumlich beschränken,
in denen sie dieselben Beschränkungen auch für ihre eigenen Staatsangehörigen vorsehen.“
Nationales Recht
13 Nach den zuwanderungsrechtlichen Vorschriften des Vereinigten Königreichs erfüllen die Drittstaatsangehörigen, die im Vereinigten
Königreich nicht im Sinne dieser Vorschriften aufenthaltsberechtigt sind, auch als Ehegatte einer im Vereinigten Königreich
ansässigen Person nicht die Voraussetzungen für eine Aufenthaltserlaubnis nach diesen Bestimmungen.
Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefragen
14 Frau McCarthy, eine Staatsangehörige des Vereinigten Königreichs, besitzt auch die irische Staatsangehörigkeit. Sie ist im
Vereinigten Königreich geboren und hat stets dort gelebt, ohne jemals geltend gemacht zu haben, eine Arbeitnehmerin, Selbständige
oder wirtschaftlich unabhängige Person zu sein. Sie bezieht staatliche Sozialleistungen.
15 Am 15. November 2002 schloss Frau McCarthy die Ehe mit einem jamaikanischen Staatsangehörigen, der nach den zuwanderungsrechtlichen
Vorschriften des Vereinigten Königreichs in diesem Mitgliedstaat nicht aufenthaltsberechtigt ist.
16 Nach der Eheschließung beantragte Frau McCarthy zum ersten Mal überhaupt einen irischen Reisepass, der ihr ausgestellt wurde.
17 Am 23. Juli 2004 beantragten Frau McCarthy und ihr Ehegatte beim Secretary of State eine Aufenthaltserlaubnis und eine Aufenthaltsurkunde
nach Unionsrecht als Unionsbürgerin bzw. als Ehegatte einer Unionsbürgerin. Der Secretary of State wies ihre Anträge mit der
Begründung zurück, dass es sich bei Frau McCarthy nicht um eine Person handele, die die gesetzlichen Voraussetzungen erfüllt
(zu diesem Personenkreis gehören im Wesentlichen Arbeitnehmer, Selbständige und wirtschaftlich unabhängige Personen), und
dass Herr McCarthy folglich auch nicht der Ehegatte einer Person sei, die die gesetzlichen Voraussetzungen erfüllt.
18 Frau McCarthy legte gegen den sie betreffenden Bescheid des Secretary of State beim Asylum and Immigration Tribunal (im Folgenden:
Tribunal) einen Rechtsbehelf ein, den dieses am 17. Oktober 2006 zurückwies. Nachdem der High Court of Justice (England &
Wales) die erneute Prüfung dieses Rechtsbehelfs angeordnet hatte, bestätigte das Tribunal am 16. August 2007 seine Entscheidung.
19 Die von Frau McCarthy eingelegte Berufung gegen die Entscheidung des Tribunals wies der Court of Appeal (England & Wales)
(Civil Division) ab. Gegen dessen Entscheidung legte Frau McCarthy ein Rechtsmittel beim vorlegenden Gericht ein.
20 Herr McCarthy seinerseits legte keinen Rechtsbehelf gegen den ihn betreffenden Bescheid des Secretary of State ein, stellte
jedoch einen neuen Antrag, der gleichfalls abgelehnt wurde. Daraufhin legte Herr McCarthy gegen diesen zweiten Bescheid Rechtsbehelf
beim Tribunal ein, das die Verhandlung bis zu einer Entscheidung über den von Frau McCarthy eingelegten Rechtsbehelf vertagte.
21 Vor diesem Hintergrund hat der Supreme Court of the United Kingdom beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof
folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
1. Ist eine Person mit irischer und britischer Doppelstaatsangehörigkeit, die sich ihr Leben lang im Vereinigten Königreich aufgehalten
hat, ein „Berechtigter“ im Sinne von Art. 3 der Richtlinie 2004/38?
2. Hat sich eine solche Person im Sinne von Art. 16 der Richtlinie 2004/38 „rechtmäßig im Aufnahmemitgliedstaat aufgehalten“,
wenn sie die Erfordernisse von Art. 7 dieser Richtlinie nicht erfüllen konnte?
Zu den Vorlagefragen
22 Wie sich aus den Randnrn. 14 bis 19 des vorliegenden Urteils ergibt, geht es im Ausgangsrechtsstreit um einen Antrag auf Erteilung
einer Aufenthaltserlaubnis nach Unionsrecht, den Frau McCarthy, eine Unionsbürgerin, in einem Mitgliedstaat gestellt hat,
dessen Staatsangehörigkeit sie besitzt und in dem sie stets gelebt hat.
23 Dieser Antrag zielt in Wirklichkeit darauf ab, Herrn McCarthy, einem Drittstaatsangehörigen, als Familienangehörigem von Frau
McCarthy zu einer Aufenthaltserlaubnis nach der Richtlinie 2004/38 zu verhelfen, da sich eine entsprechende Aufenthaltserlaubnis
nicht aus der Anwendung der zuwanderungsrechtlichen Vorschriften des Vereinigten Königreichs ergibt.
Zur ersten Frage
24 Auch wenn das vorlegende Gericht seine Fragen der Form nach auf die Auslegung der Art. 3 Abs. 1 und 16 der Richtlinie 2004/38
beschränkt hat, ist vorab darauf hinzuweisen, dass dies den Gerichtshof nicht daran hindert, diesem Gericht alle Hinweise
zur Auslegung des Unionsrechts zu geben, die ihm bei der Entscheidung des bei ihm anhängigen Verfahrens von Nutzen sein können,
und zwar unabhängig davon, ob es bei dieser Fragestellung darauf Bezug genommen hat (vgl. Urteil vom 8. November 2007, ING.
AUER, C‑251/06, Slg. 2007, I‑9689, Randnr. 38 und die dort angeführte Rechtsprechung).
25 Hierzu ist festzustellen, dass weder aus der Vorlageentscheidung noch aus der Akte, noch aus den beim Gerichtshof eingereichten
Erklärungen hervorgeht, dass Frau McCarthy jemals von ihrem Recht auf Freizügigkeit im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten Gebrauch
gemacht hat, sei es aus persönlichem Recht, sei es als Familienangehörige eines Unionsbürgers, der dieses Recht ausgeübt hat.
Ferner ist festzustellen, dass Frau McCarthy eine Aufenthaltserlaubnis nach Unionsrecht beantragt, während sie nicht geltend
macht, eine Arbeitnehmerin, Selbständige oder wirtschaftlich unabhängige Person zu sein.
26 Daher ist die erste Frage des vorlegenden Gerichts so zu verstehen, dass sie im Wesentlichen dahin geht, ob Art. 3 Abs. 1
der Richtlinie 2004/38 oder Art. 21 AEUV auf den Fall eines Unionsbürgers anwendbar ist, der noch nie von seinem Recht auf
Freizügigkeit Gebrauch gemacht hat, der sich stets in einem Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, aufgehalten
hat und der sich im Übrigen im Besitz der Staatsangehörigkeit eines anderen Mitgliedstaats befindet.
Vorbemerkungen
27 Vorab ist darauf hinzuweisen, dass die Unionsbürgerschaft jedem Bürger der Union das elementare und persönliche Recht verleiht,
sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten vorbehaltlich der in den Verträgen und in den Durchführungsvorschriften vorgesehenen
Beschränkungen und Bedingungen frei zu bewegen und aufzuhalten, wobei die Freizügigkeit von Personen im Übrigen eine der Grundfreiheiten
des Binnenmarkts ist, die auch in Art. 45 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union nochmals bekräftigt wurde (Urteil
vom 7. Oktober 2010, Lassal, C‑162/09, Slg. 2010, I‑0000, Randnr. 29).
28 Zur Richtlinie 2004/38 hat der Gerichtshof bereits festgestellt, dass diese die Ausübung des den Unionsbürgern unmittelbar
aus dem Vertrag erwachsenden elementaren und persönlichen Rechts, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen
und aufzuhalten, erleichtern soll und insbesondere bezweckt, dieses Recht zu verstärken (vgl. Urteile vom 25. Juli 2008, Metock
u. a., C‑127/08, Slg. 2008, I‑6241, Randnrn. 82 und 59, sowie Lassal, Randnr. 30).
29 Der Gerichtshof hat darüber hinaus auch festgestellt, dass ein völkerrechtlicher Grundsatz, der durch Art. 3 des Protokolls
Nr. 4 zu der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten
bekräftigt wurde und von dem nicht anzunehmen ist, dass ihn das Unionsrecht in den Beziehungen zwischen den Mitgliedstaaten
außer Acht lässt, es einem Mitgliedstaat verwehrt, seinen eigenen Staatsangehörigen die Einreise und den Aufenthalt im Inland
zu untersagen, worauf auch immer sie gestützt werden (vgl. Urteile vom 4. Dezember 1974, van Duyn, 41/74, Slg. 1974, 1337,
Randnr. 22, und vom 27. September 2001, Barkoci und Malik, C‑257/99, Slg. 2001, I‑6557, Randnr. 81), wobei es dieser Grundsatz
diesem Mitgliedstaat auch verwehrt, seine Staatsangehörigen aus seinem Hoheitsgebiet auszuweisen oder ihnen den Aufenthalt
dort zu versagen oder ihn Bedingungen zu unterwerfen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 7. Juli 1992, Singh, C‑370/90, Slg. 1992,
I‑4265, Randnr. 22, und vom 11. Dezember 2007, Eind, C‑291/05, Slg. 2007, I‑10719, Randnr. 31).
Zur Anwendbarkeit der Richtlinie 2004/38
30 Im ersten Teil der vorliegenden, vom Gerichtshof umformulierten Frage geht es darum, ob Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38
dahin auszulegen ist, dass diese Richtlinie auf einen Bürger in der Lage von Frau McCarthy anwendbar ist, der noch nie von
seinem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch gemacht hat, der sich stets in einem Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit er
besitzt, aufgehalten hat und der sich im Übrigen im Besitz der Staatsangehörigkeit eines anderen Mitgliedstaats befindet.
31 Eine grammatikalische, teleologische und systematische Auslegung dieser Bestimmung führt dazu, diese Frage zu verneinen.
32 Erstens nämlich ist Berechtigter im Sinne von Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 jeder Unionsbürger, der sich in einen „anderen“
als den Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, „begibt“ oder sich dort aufhält.
33 Zweitens trifft zwar zu, dass – wie in Randnr. 28 des vorliegenden Urteils ausgeführt worden ist – die Richtlinie 2004/38
die Ausübung des jedem Unionsbürger unmittelbar verliehenen elementaren und persönlichen Rechts, sich im Hoheitsgebiet der
Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, erleichtern und verstärken soll, doch betrifft ihr Gegenstand – wie aus ihrem
Art. 1 Buchst. a hervorgeht – die Bedingungen, unter denen dieses Recht ausgeübt wird.
34 Da – wie in Randnr. 29 des vorliegenden Urteils ausgeführt worden ist – der Aufenthalt einer Person, die in dem Mitgliedstaat
wohnt, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzt, keinen Bedingungen unterworfen werden kann, kann die Richtlinie 2004/38, die
die Bedingungen für die Ausübung des Rechts betrifft, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten,
nicht dazu bestimmt sein, auf einen Unionsbürger Anwendung zu finden, der aufgrund der Tatsache, dass er sich in dem Mitgliedstaat
aufhält, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, über ein nicht an Bedingungen geknüpftes Aufenthaltsrecht verfügt.
35 Drittens geht aus der Richtlinie 2004/38 als Ganzes hervor, dass der Aufenthalt im Sinne der Richtlinie mit der Ausübung des
Rechts auf Freizügigkeit in Zusammenhang steht.
36 So definiert zunächst Art. 1 Buchst. a dieser Richtlinie deren Gegenstand unter Bezugnahme auf „das“ Recht „auf Freizügigkeit
und Aufenthalt“ innerhalb des Hoheitsgebiets der Mitgliedstaaten, das Unionsbürger genießen. Eine solche Wechselbeziehung
zwischen Aufenthalt und Freizügigkeit ergibt sich zudem sowohl aus dem Titel dieser Richtlinie als auch aus den meisten ihrer
Erwägungsgründe, deren zweiter im Übrigen ausschließlich auf die Freizügigkeit Bezug nimmt.
37 Ferner betreffen die Aufenthaltsrechte im Sinne der Richtlinie 2004/38, also sowohl das in deren Art. 6 und 7 vorgesehene
Aufenthaltsrecht als auch das Recht auf Daueraufenthalt nach ihrem Art. 16, den Aufenthalt eines Unionsbürgers entweder im
Gebiet „eines anderen Mitgliedstaats“ oder „im Aufnahmemitgliedstaat“ und regeln somit die Rechtsstellung eines Unionsbürgers
in einem Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit er nicht besitzt.
38 Schließlich bezeichnet zwar – wie in Randnr. 32 des vorliegenden Urteils ausgeführt worden ist – Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie
2004/38 als „Berechtigten“ im Sinne dieser Richtlinie jeden Unionsbürger, der sich in einen Mitgliedstaat begibt oder sich
dort aufhält, doch ist ihrem Art. 22 zu entnehmen, dass sich der räumliche Geltungsbereich des Rechts auf Aufenthalt und des
Rechts auf Daueraufenthalt im Sinne dieser Richtlinie auf das gesamte Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats erstreckt,
der in deren Art. 2 Nr. 3 als der Mitgliedstaat definiert wird, in den sich der Unionsbürger „begibt“, um dort „sein“ Recht
auf Freizügigkeit oder Aufenthalt innerhalb des Hoheitsgebiets der Mitgliedstaaten auszuüben.
39 Daher fällt ein Unionsbürger in einem Kontext wie dem des Ausgangsverfahrens, soweit er noch nie von seinem Recht auf Freizügigkeit
Gebrauch gemacht und sich stets in einem Mitgliedstaat aufgehalten hat, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, nicht unter
den Begriff „Berechtigter“ im Sinne von Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38, so dass diese auf ihn nicht anwendbar ist.
40 Auf diese Feststellung kann es keinen Einfluss haben, dass dieser Bürger auch die Staatsangehörigkeit eines anderen als des
Mitgliedstaats besitzt, in dem er sich aufhält.
41 Dass ein Bürger die Staatsangehörigkeit mehr als eines Mitgliedstaats besitzt, bedeutet insoweit nämlich nicht, dass er von
seinem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch gemacht hätte.
42 Schließlich ist auch darauf hinzuweisen, dass, da ein Unionsbürger wie Frau McCarthy nicht unter den Begriff „Berechtigter“
im Sinne von Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 fällt, auch sein Ehegatte nicht unter diesen Begriff fällt, da die durch
diese Richtlinie den Familienangehörigen eines nach ihr Berechtigten verliehenen Rechte keine eigenen Rechte dieser Angehörigen,
sondern abgeleitete Rechte sind, die sie als Familienangehörige des Berechtigten erworben haben (vgl. in Bezug auf die vor
dem Inkrafttreten der Richtlinie 2004/38 geltenden Rechtsvorschriften der Union Urteile vom 8. Juli 1992, Taghavi, C‑243/91,
Slg. 1992, I‑4401, Randnr. 7, und Eind, Randnr. 23).
43 Folglich ist Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 dahin auszulegen, dass diese Richtlinie auf einen Unionsbürger, der noch
nie von seinem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch gemacht hat, der sich stets in einem Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit
er besitzt, aufgehalten hat und der sich im Übrigen im Besitz der Staatsangehörigkeit eines anderen Mitgliedstaats befindet,
nicht anwendbar ist.
Zur Anwendbarkeit von Art. 21 AEUV
44 Im zweiten Teil der vorliegenden, vom Gerichtshof umformulierten Frage geht es darum, ob Art. 21 AEUV auf einen Unionsbürger
anwendbar ist, der noch nie von seinem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch gemacht hat, der sich stets in einem Mitgliedstaat,
dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, aufgehalten hat und der sich im Übrigen im Besitz der Staatsangehörigkeit eines anderen
Mitgliedstaats befindet.
45 Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass nach ständiger Rechtsprechung die Vertragsbestimmungen über die Freizügigkeit und die
zur Durchführung dieser Bestimmungen erlassenen Maßnahmen nicht auf Sachverhalte anwendbar sind, die keine Berührung mit irgendeinem
der Sachverhalte aufweisen, auf die das Unionsrecht abstellt, und die mit keinem relevanten Element über die Grenzen eines
Mitgliedstaats hinausweisen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 1. April 2008, Gouvernement de la Communauté française und Gouvernement
wallon, C‑212/06, Slg. 2008, I‑1683, Randnr. 33, sowie Metock u. a., Randnr. 77).
46 Allerdings kann die Lage eines Unionsbürgers, der wie Frau McCarthy vom Recht auf Freizügigkeit keinen Gebrauch gemacht hat,
nicht allein aus diesem Grund einer rein internen Situation gleichgestellt werden (vgl. Urteil vom 12. Juli 2005, Schempp,
C‑403/03, Slg. 2005, I‑6421, Randnr. 22).
47 Der Gerichtshof hat nämlich mehrfach hervorgehoben, dass der Unionsbürgerstatus dazu bestimmt ist, der grundlegende Status
der Angehörigen der Mitgliedstaaten zu sein (vgl. Urteil vom 8. März 2011, Ruiz Zambrano, C‑34/09, Slg. 2011, I‑0000, Randnr. 41
und die dort angeführte Rechtsprechung). Er hat ferner entschieden, dass Art. 20 AEUV nationalen Maßnahmen entgegensteht,
die bewirken, dass den Unionsbürgern der tatsächliche Genuss des Kernbestands der Rechte, die ihnen dieser Status verleiht,
verwehrt wird (vgl. Urteil Ruiz Zambrano, Randnr. 42).
48 Als Staatsangehörige mindestens eines Mitgliedstaats genießt eine Person wie Frau McCarthy den Unionsbürgerstatus gemäß Art. 20
Abs. 1 AEUV und kann sich daher auch gegenüber ihrem Herkunftsmitgliedstaat auf die mit diesem Status verbundenen Rechte berufen,
insbesondere auf das Recht aus Art. 21 AEUV, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten (vgl.
Urteil vom 10. Juli 2008, Jipa, C‑33/07, Slg. 2008, I‑5157, Randnr. 17 und die dort angeführte Rechtsprechung).
49 Allerdings lässt nichts an der Lage von Frau McCarthy, wie sie das vorlegende Gericht dargestellt hat, erkennen, dass die
im Ausgangsverfahren in Rede stehende nationale Maßnahme bewirkte, dass ihr der tatsächliche Genuss des Kernbestands der mit
ihrem Unionsbürgerstatus verbundenen Rechte verwehrt oder die Ausübung des Rechts, sich gemäß Art. 21 AEUV im Hoheitsgebiet
der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, behindert würde. Dass die Behörden des Vereinigten Königreichs die irische
Staatsangehörigkeit von Frau McCarthy für die Zwecke außer Acht gelassen haben, ihr ein Aufenthaltsrecht im Vereinigten Königreich
zuzuerkennen, berührt diese nämlich weder in ihrem Recht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten,
noch im Übrigen in irgendeinem anderen Recht, das ihr durch den Unionsbürgerstatus verliehen wird.
50 Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehende nationale Maßnahme, anders als es für die Rechtssache
kennzeichnend war, in der das Urteil Ruiz Zambrano ergangen ist, nicht bewirkt, dass Frau McCarthy verpflichtet wäre, das
Hoheitsgebiet der Union zu verlassen. Wie aus Randnr. 29 des vorliegenden Urteils hervorgeht, steht ihr nach einem völkerrechtlichen
Grundsatz im Vereinigten Königreich nämlich ein nicht an Bedingungen geknüpftes Aufenthaltsrecht zu, da sie die Staatsangehörigkeit
des Vereinigten Königreichs besitzt.
51 Das Ausgangsverfahren unterscheidet sich auch von demjenigen, das dem Urteil vom 2. Oktober 2003, Garcia Avello (C‑148/02,
Slg. 2003, I‑11613), zugrunde lag. In diesem Urteil hat der Gerichtshof nämlich entschieden, dass die Anwendung der Rechtsvorschriften
eines Mitgliedstaats auf Staatsangehörige dieses Mitgliedstaats, die auch die Staatsangehörigkeit eines anderen Mitgliedstaats
haben, bewirkte, dass diese Unionsbürger nach den beiden betreffenden Rechtssystemen unterschiedliche Familiennamen führten
und dass diese Situation für sie zu schwerwiegenden Nachteilen beruflicher wie auch privater Art führen konnte, die insbesondere
aus den Schwierigkeiten resultieren können, in einem Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzen, rechtliche Wirkungen
von Urkunden oder Schriftstücken in Anspruch zu nehmen, die auf den Namen ausgestellt wurden, der in dem anderen Mitgliedstaat
anerkannt ist, dessen Staatsangehörigkeit sie ebenfalls besitzen.
52 Wie der Gerichtshof im Urteil vom 14. Oktober 2008, Grunkin und Paul (C‑353/06, Slg. 2008, I‑7639), in einem Kontext wie dem
im Urteil Garcia Avello geprüften ausgeführt hat, kommt es nicht darauf an, ob die Unterschiedlichkeit der Nachnamen aus der
doppelten Staatsangehörigkeit der Betroffenen folgt, sondern vielmehr darauf, dass diese Unterschiedlichkeit für die Unionsbürger
zu schwerwiegenden Nachteilen führen konnte, die eine Behinderung der Freizügigkeit darstellten, die allenfalls dann gerechtfertigt
wäre, wenn sie auf objektiven Erwägungen beruhte und in einem angemessenen Verhältnis zum legitimerweise verfolgten Zweck
stünde (vgl. in diesem Sinne Urteil Grunkin und Paul, Randnrn. 23, 24 und 29).
53 So hatte die in den Rechtssachen Ruiz Zambrano und Garcia Avello in Rede stehende nationale Maßnahme bewirkt, dass Unionsbürgern
der tatsächliche Genuss des Kernbestands der durch diesen Status verliehenen Rechte verwehrt oder die Ausübung ihres Rechts,
sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, behindert wurde.
54 Wie in Randnr. 49 des vorliegenden Urteils ausgeführt worden ist, führt aber im Kontext des Ausgangsverfahrens der Umstand,
dass Frau McCarthy neben der Staatsangehörigkeit des Vereinigten Königreichs auch die irische Staatsangehörigkeit besitzt,
nicht zur Anwendung von Maßnahmen eines Mitgliedstaats, die bewirkten, dass ihr der tatsächliche Genuss des Kernbestands der
ihr durch den Unionsbürgerstatus verliehenen Rechte verwehrt oder dass die Ausübung ihres Rechts, sich im Hoheitsgebiet der
Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, behindert würde. In einem solchen Kontext kann ein derartiger Umstand für
sich genommen daher nicht ausreichen, um die Situation der betroffenen Person als von Art. 21 AEUV erfasst anzusehen.
55 Demnach ist festzustellen, dass die Situation einer Person wie Frau McCarthy keine Berührung mit irgendeinem der Sachverhalte
aufweist, auf die das Unionsrecht abstellt, und dass diese Situation mit keinem relevanten Element über die Grenzen eines
Mitgliedstaats hinausweist.
56 Folglich ist Art. 21 AEUV auf einen Unionsbürger, der noch nie von seinem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch gemacht hat, der
sich stets in einem Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, aufgehalten hat und der sich im Übrigen im Besitz
der Staatsangehörigkeit eines anderen Mitgliedstaats befindet, nicht anwendbar, sofern die Situation dieses Bürgers nicht
von der Anwendung von Maßnahmen eines Mitgliedstaats begleitet ist, die bewirkten, dass ihm der tatsächliche Genuss des Kernbestands
der durch den Unionsbürgerstatus verliehenen Rechte verwehrt oder die Ausübung seines Rechts, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten
frei zu bewegen und aufzuhalten, behindert würde.
57 Nach alledem ist die erste Vorlagefrage wie folgt zu beantworten:
– Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 ist dahin auszulegen, dass diese Richtlinie auf einen Unionsbürger, der noch nie von
seinem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch gemacht hat, der sich stets in einem Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit er
besitzt, aufgehalten hat und der sich im Übrigen im Besitz der Staatsangehörigkeit eines anderen Mitgliedstaats befindet,
nicht anwendbar ist.
– Art. 21 AEUV ist auf einen Unionsbürger, der noch nie von seinem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch gemacht hat, der sich stets
in einem Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, aufgehalten hat und der sich im Übrigen im Besitz der Staatsangehörigkeit
eines anderen Mitgliedstaats befindet, nicht anwendbar, sofern die Situation dieses Bürgers nicht von der Anwendung von Maßnahmen
eines Mitgliedstaats begleitet ist, die bewirkten, dass ihm der tatsächliche Genuss des Kernbestands der durch den Unionsbürgerstatus
verliehenen Rechte verwehrt oder die Ausübung seines Rechts, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und
aufzuhalten, behindert würde.
Zur zweiten Frage
58 Angesichts der Antwort auf die erste Frage des vorlegenden Gerichts ist die zweite Frage nicht zu beantworten.
Kosten
59 Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen
Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von
Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Dritte Kammer) für Recht erkannt:
1. Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger
und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zur Änderung der
Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 und zur Aufhebung der Richtlinien 64/221/EWG, 68/360/EWG, 72/194/EWG, 73/148/EWG, 75/34/EWG,
75/35/EWG, 90/364/EWG, 90/365/EWG und 93/96/EWG ist dahin auszulegen, dass diese Richtlinie auf einen Unionsbürger, der noch
nie von seinem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch gemacht hat, der sich stets in einem Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit
er besitzt, aufgehalten hat und der sich im Übrigen im Besitz der Staatsangehörigkeit eines anderen Mitgliedstaats befindet,
nicht anwendbar ist.
2. Art. 21 AEUV ist auf einen Unionsbürger, der noch nie von seinem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch gemacht hat, der sich stets
in einem Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, aufgehalten hat und der sich im Übrigen im Besitz der Staatsangehörigkeit
eines anderen Mitgliedstaats befindet, nicht anwendbar, sofern die Situation dieses Bürgers nicht von der Anwendung von Maßnahmen
eines Mitgliedstaats begleitet ist, die bewirkten, dass ihm der tatsächliche Genuss des Kernbestands der durch den Unionsbürgerstatus
verliehenen Rechte verwehrt oder die Ausübung seines Rechts, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und
aufzuhalten, behindert würde.
Unterschriften
* Verfahrenssprache: Englisch.
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Urteil des Gerichtshofes (Große Kammer) vom 1. März 2011.#Association Belge des Consommateurs Test-Achats ASBL und andere gegen Conseil des ministres.#Ersuchen um Vorabentscheidung: Cour constitutionnelle - Belgien.#Vorabentscheidungsersuchen - Grundrechte - Bekämpfung von Diskriminierungen - Gleichbehandlung von Männern und Frauen - Zugang zu und Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen - Versicherungsprämien und -leistungen - Versicherungsmathematische Faktoren - Berücksichtigung des Kriteriums Geschlecht als Faktor für die Bewertung von Versicherungsrisiken - Private Versicherungsverträge - Richtlinie 2004/113/EG - Art. 5 Abs. 2 - Unbefristete Ausnahme - Charta der Grundrechte der Europäischen Union - Art. 21 und 23 - Ungültigkeit.#Rechtssache C-236/09.
|
62009CJ0236
|
ECLI:EU:C:2011:100
| 2011-03-01T00:00:00 |
Gerichtshof, Kokott
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Sammlung der Rechtsprechung 2011 I-00773
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Rechtssache C‑236/09
Association belge des Consommateurs Test-Achats ASBL u. a.
gegen
Conseil des ministres
(Vorabentscheidungsersuchen der Cour constitutionnelle)
„Vorabentscheidungsersuchen – Grundrechte – Bekämpfung von Diskriminierungen – Gleichbehandlung von Männern und Frauen – Zugang zu und Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen – Versicherungsprämien und ‑leistungen – Versicherungsmathematische Faktoren – Berücksichtigung des Kriteriums Geschlecht als Faktor für die Bewertung von Versicherungsrisiken – Private Lebensversicherungsverträge – Richtlinie 2004/113/EG – Art. 5 Abs. 2 – Unbefristete Ausnahme – Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Art. 21 und 23 – Ungültigkeit“
Leitsätze des Urteils
Unionsrecht – Grundsätze – Gleichbehandlung – Gleichbehandlung von Männern und Frauen beim Zugang zu und bei der Versorgung
mit Gütern und Dienstleistungen – Richtlinie 2004/113 – Versicherungsmathematische Faktoren
(Richtlinie 2004/113 des Rates, Art. 5 Abs. 2)
Art. 5 Abs. 2 der Richtlinie 2004/113 zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen beim
Zugang zu und bei der Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen ist mit Wirkung vom 21. Dezember 2012 ungültig.
Es steht fest, dass das mit der Richtlinie 2004/113 im Versicherungssektor verfolgte Ziel, wie in ihrem Art. 5 Abs. 1 zum
Ausdruck kommt, in der Anwendung der Regel geschlechtsneutraler Prämien und Leistungen besteht. Im 18. Erwägungsgrund dieser
Richtlinie heißt es ausdrücklich, dass zur Gewährleistung der Gleichbehandlung von Männern und Frauen die Berücksichtigung
geschlechtsspezifischer versicherungsmathematischer Faktoren nicht zu Unterschieden bei den Prämien und Leistungen führen
sollte. Im 19. Erwägungsgrund der Richtlinie wird die den Mitgliedstaaten eingeräumte Möglichkeit, die Regel geschlechtsneutraler
Prämien und Leistungen nicht anzuwenden, als „Ausnahme“ bezeichnet. Somit beruht die Richtlinie 2004/113 auf der Prämisse,
dass für die Zwecke der Anwendung des in den Art. 21 und 23 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union verbürgten Grundsatzes
der Gleichbehandlung von Frauen und Männern die Lage von Frauen und die Lage von Männern in Bezug auf die Prämien und Leistungen
der von ihnen abgeschlossenen Versicherungen vergleichbar sind.
Art. 5 Abs. 2 der Richtlinie 2004/113, der es den betroffenen Mitgliedstaaten gestattet, eine Ausnahme von der Regel geschlechtsneutraler
Prämien und Leistungen unbefristet aufrechtzuerhalten, läuft der Verwirklichung des mit dieser Richtlinie verfolgten Ziels
der Gleichbehandlung von Frauen und Männern zuwider und ist mit den Art. 21 und 23 der Charta der Grundrechte der Europäischen
Union unvereinbar. Die Bestimmung ist daher nach Ablauf einer angemessenen Übergangszeit als ungültig anzusehen.
(vgl. Randnrn. 30, 32-34 und Tenor)
URTEIL DES GERICHTSHOFS (Große Kammer)
1. März 2011(*)
„Vorabentscheidungsersuchen – Grundrechte – Bekämpfung von Diskriminierungen – Gleichbehandlung von Männern und Frauen – Zugang zu und Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen – Versicherungsprämien und ‑leistungen – Versicherungsmathematische Faktoren – Berücksichtigung des Kriteriums Geschlecht als Faktor für die Bewertung von Versicherungsrisiken – Private Versicherungsverträge – Richtlinie 2004/113/EG – Art. 5 Abs. 2 – Unbefristete Ausnahme – Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Art. 21 und 23 – Ungültigkeit“
In der Rechtssache C‑236/09
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 234 EG, eingereicht von der Cour constitutionnelle (Belgien) mit Entscheidung
vom 18. Juni 2009, beim Gerichtshof eingegangen am 29. Juni 2009, in dem Verfahren
Association belge des Consommateurs Test-Achats ASBL,
Yann van Vugt,
Charles Basselier
gegen
Conseil des ministres
erlässt
DER GERICHTSHOF (Große Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten V. Skouris, der Kammerpräsidenten A. Tizzano, J. N. Cunha Rodrigues, K. Lenaerts, J.‑C. Bonichot
und A. Arabadjiev, der Richter E. Juhász (Berichterstatter), G. Arestis, A. Borg Barthet, M. Ilešič und L. Bay Larsen, der
Richterin P. Lindh und des Richters T. von Danwitz,
Generalanwältin: J. Kokott,
Kanzler: R. Şereş, Verwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 1. Juni 2010,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
– der Association belge des Consommateurs Test-Achats ASBL sowie von Herrn van Vugt und Herrn Basselier, vertreten durch F. Krenc,
avocat,
– des Conseil des ministres, vertreten durch P. Slegers, avocat,
– der belgischen Regierung, vertreten durch L. Van den Broeck als Bevollmächtigte im Beistand von P. Slegers, avocat,
– Irlands, vertreten durch D. O’Hagan als Bevollmächtigten im Beistand von B. Murray, BL,
– der französischen Regierung, vertreten durch G. de Bergues und A. Czubinski als Bevollmächtigte,
– der litauischen Regierung, vertreten durch R. Mackevičienė als Bevollmächtigte,
– der finnischen Regierung, vertreten durch J. Heliskoski als Bevollmächtigten,
– der Regierung des Vereinigten Königreichs, vertreten durch I. Rao als Bevollmächtigte im Beistand von D. Beard, Barrister,
– des Rates der Europäischen Union, vertreten durch M. Veiga, F. Florindo Gijón und I. Šulce als Bevollmächtigte,
– der Europäischen Kommission, vertreten durch M. Van Hoof und M. van Beek als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge der Generalanwältin in der Sitzung vom 30. September 2010
folgendes
Urteil
1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Gültigkeit von Art. 5 Abs. 2 der Richtlinie 2004/113/EG des Rates vom 13. Dezember
2004 zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen beim Zugang zu und bei der Versorgung
mit Gütern und Dienstleistungen (ABl. L 373, S. 37).
2 Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Association belge des Consommateurs Test-Achats ASBL sowie Herrn van
Vugt und Herrn Basselier auf der einen Seite und dem Conseil des ministres (Ministerrat) des Königreichs Belgien auf der anderen
Seite über die Nichtigerklärung des Gesetzes vom 21. Dezember 2007 zur Abänderung des Gesetzes vom 10. Mai 2007 zur Bekämpfung
der Diskriminierung zwischen Männern und Frauen, was das Geschlecht in Versicherungsangelegenheiten betrifft (Moniteur belge vom 31. Dezember 2007, S. 66175, im Folgenden: Gesetz vom 21. Dezember 2007).
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
3 Die Richtlinie 2004/113 wurde auf der Grundlage von Art. 13 Abs. 1 EG erlassen. Die Erwägungsgründe 1, 4, 5, 12, 15, 18 und
19 dieser Richtlinie lauten:
„(1) Nach Artikel 6 des Vertrags über die Europäische Union beruht die Union auf den Grundsätzen der Freiheit, der Demokratie,
der Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten sowie der Rechtsstaatlichkeit; diese Grundsätze sind den Mitgliedstaaten
gemeinsam; sie achtet ferner die Grundrechte, wie sie in der [am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten] Europäischen Konvention
zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten gewährleistet sind und wie sie sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen
der Mitgliedstaaten als allgemeine Grundsätze des Gemeinschaftsrechts ergeben.
…
(4) Die Gleichstellung von Männern und Frauen ist ein grundlegendes Prinzip der Europäischen Union. Nach [den] Artikel[n] 21 und
23 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union [im Folgenden: Charta] ist jegliche Diskriminierung wegen des Geschlechts
verboten und muss die Gleichheit von Männern und Frauen in allen Bereichen gewährleistet werden.
(5) Gemäß Artikel 2 des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft ist die Förderung der Gleichstellung von Männern und
Frauen eine der Hauptaufgaben der Gemeinschaft. Außerdem muss die Gemeinschaft gemäß Artikel 3 Absatz 2 des Vertrags bei all
ihren Tätigkeiten darauf hinwirken, Ungleichheiten zu beseitigen und die Gleichstellung von Männern und Frauen zu fördern.
…
(12) Um Diskriminierungen aus Gründen des Geschlechts zu verhindern, sollte diese Richtlinie sowohl für unmittelbare als auch für
mittelbare Diskriminierungen gelten. Eine unmittelbare Diskriminierung liegt nur dann vor, wenn eine Person aufgrund ihres
Geschlechts in einer vergleichbaren Situation eine weniger günstige Behandlung erfährt. Somit liegt beispielsweise bei auf
körperliche Unterschiede bei Mann und Frau zurückzuführenden unterschiedlichen Gesundheitsdienstleistungen für Männer und
Frauen keine Diskriminierung vor, weil es sich nicht um vergleichbare Situationen handelt.
…
(15) Es bestehen bereits zahlreiche Rechtsinstrumente zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen
im Bereich Beschäftigung und Beruf. Diese Richtlinie sollte deshalb nicht für diesen Bereich gelten. Das Gleiche gilt für
selbstständige Tätigkeiten, wenn sie von bestehenden Rechtsvorschriften erfasst werden. Diese Richtlinie sollte nur für private,
freiwillige und von Beschäftigungsverhältnissen unabhängige Versicherungen und Rentensysteme gelten.
…
(18) Die Anwendung geschlechtsspezifischer versicherungsmathematischer Faktoren ist im Bereich des Versicherungswesens und anderer
verwandter Finanzdienstleistungen weit verbreitet. Zur Gewährleistung der Gleichbehandlung von Männern und Frauen sollte die
Berücksichtigung geschlechtsspezifischer versicherungsmathematischer Faktoren nicht zu Unterschieden bei den Prämien und Leistungen
führen. Damit es nicht zu einer abrupten Umstellung des Marktes kommen muss, sollte die Anwendung dieser Regel nur für neue
Verträge gelten, die nach dem Zeitpunkt der Umsetzung dieser Richtlinie abgeschlossen werden.
(19) Bestimmte Risikokategorien können bei Männern und Frauen unterschiedlich sein. In einigen Fällen ist das Geschlecht ein bestimmender
Faktor bei der Beurteilung der versicherten Risiken, wenn auch nicht unbedingt der Einzige. Bei Verträgen, mit denen diese
Arten von Risiken versichert werden, können die Mitgliedstaaten entscheiden, Ausnahmen von der Regel geschlechtsneutraler
Prämien und Leistungen zuzulassen, sofern sie sicherstellen können, dass die zugrunde liegenden versicherungsmathematischen
und statistischen Daten, auf die sich die Berechnungen stützen, verlässlich sind, regelmäßig aktualisiert werden und der Öffentlichkeit
zugänglich sind. Ausnahmen sind nur dann zulässig, wenn das betreffende nationale Recht die Regel der Geschlechtsneutralität
bisher noch nicht vorsah. Fünf Jahre nach der Umsetzung dieser Richtlinie sollten die Mitgliedstaaten prüfen, inwieweit diese
Ausnahmen noch gerechtfertigt sind, wobei die neuesten versicherungsmathematischen und statistischen Daten sowie ein Bericht,
den die Kommission drei Jahre nach der Umsetzung dieser Richtlinie vorlegen wird, zu berücksichtigen sind.“
4 Der Zweck der Richtlinie 2004/113 wird in ihrem Art. 1 wie folgt definiert:
„Zweck dieser Richtlinie ist die Schaffung eines Rahmens für die Bekämpfung geschlechtsspezifischer Diskriminierungen beim
Zugang zu und der Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen zur Umsetzung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern
und Frauen in den Mitgliedstaaten.“
5 Art. 4 Abs. 1 dieser Richtlinie lautet:
„(1) Im Sinne dieser Richtlinie bedeutet der Grundsatz der Gleichbehandlung von Männern und Frauen,
a) dass keine unmittelbare Diskriminierung aufgrund des Geschlechts, auch keine Schlechterstellung von Frauen aufgrund von Schwangerschaft
oder Mutterschaft, erfolgen darf;
b) dass keine mittelbare Diskriminierung aufgrund des Geschlechts erfolgen darf.“
6 Art. 5 („Versicherungsmathematische Faktoren“) der Richtlinie sieht vor:
„(1) Die Mitgliedstaaten tragen dafür Sorge, dass spätestens bei den nach dem 21. Dezember 2007 neu abgeschlossenen Verträgen die
Berücksichtigung des Faktors Geschlecht bei der Berechnung von Prämien und Leistungen im Bereich des Versicherungswesens und
verwandter Finanzdienstleistungen nicht zu unterschiedlichen Prämien und Leistungen führt.
(2) Unbeschadet des Absatzes 1 können die Mitgliedstaaten vor dem 21. Dezember 2007 beschließen, proportionale Unterschiede bei
den Prämien und Leistungen dann zuzulassen, wenn die Berücksichtigung des Geschlechts bei einer auf relevanten und genauen
versicherungsmathematischen und statistischen Daten beruhenden Risikobewertung ein bestimmender Faktor ist. Die betreffenden
Mitgliedstaaten informieren die Kommission und stellen sicher, dass genaue Daten in Bezug auf die Berücksichtigung des Geschlechts
als bestimmender versicherungsmathematischer Faktor erhoben, veröffentlicht und regelmäßig aktualisiert werden. Diese Mitgliedstaaten
überprüfen ihre Entscheidung fünf Jahre nach dem 21. Dezember 2007, wobei sie dem in Artikel 16 genannten Bericht der Kommission
Rechnung tragen, und übermitteln der Kommission die Ergebnisse dieser Überprüfung.
(3) Kosten im Zusammenhang mit Schwangerschaft und Mutterschaft dürfen auf keinen Fall zu unterschiedlichen Prämien und Leistungen
führen.
Die Mitgliedstaaten können die Durchführung der aufgrund dieses Absatzes erforderlichen Maßnahmen bis spätestens zwei Jahre
nach dem 21. Dezember 2007 aufschieben. In diesem Fall unterrichten die betreffenden Mitgliedstaaten unverzüglich die Kommission.“
7 Art. 16 („Berichte“) der Richtlinie sieht vor:
„(1) Die Mitgliedstaaten übermitteln der Kommission spätestens am 21. Dezember 2009 und in der Folge alle fünf Jahre sämtliche
verfügbaren Informationen über die Anwendung dieser Richtlinie.
Die Kommission erstellt einen zusammenfassenden Bericht, der eine Prüfung der aktuellen Praxis der Mitgliedstaaten im Zusammenhang
mit Artikel 5 in Bezug auf die Berücksichtigung des Faktors Geschlecht bei der Berechnung von Prämien und Leistungen enthält.
Sie legt diesen Bericht dem Europäischen Parlament und dem Rat spätestens am 21. Dezember 2010 vor. Erforderlichenfalls fügt
die Kommission diesem Bericht Vorschläge zur Änderung der Richtlinie bei.
(2) Die Kommission berücksichtigt in ihrem Bericht die Standpunkte der einschlägigen Interessengruppen.“
8 Nach Art. 17 Abs. 1 der Richtlinie 2004/113 müssen die Mitgliedstaaten die Rechts- und Verwaltungsvorschriften in Kraft setzen,
die erforderlich sind, um dieser Richtlinie spätestens am 21. Dezember 2007 nachzukommen, und der Kommission unverzüglich
den Wortlaut dieser Rechtsvorschriften mitteilen.
Nationales Recht
9 Art. 2 des Gesetzes vom 21. Dezember 2007 stellt klar, dass damit die Richtlinie 2004/113 umgesetzt wird.
10 Art. 3 dieses Gesetzes enthält die Bestimmung, mit der Art. 10 des Gesetzes vom 10. Mai 2007 zur Bekämpfung der Diskriminierung
zwischen Männern und Frauen, was das Geschlecht in Versicherungsangelegenheiten betrifft, ersetzt wird.
11 Die Neufassung des Art. 10 des letztgenannten Gesetzes lautet nunmehr wie folgt:
„§ 1. In Abweichung von Artikel 8 kann eine proportionale unmittelbare Unterscheidung aufgrund des Geschlechts bei der Festlegung
der Versicherungsprämien und -leistungen gemacht werden, wenn die Berücksichtigung des Geschlechts bei einer auf relevanten
und genauen versicherungsmathematischen und statistischen Daten beruhenden Risikobewertung ein bestimmender Faktor ist.
Diese Abweichung gilt nur für Lebensversicherungsverträge im Sinne von Artikel 97 des Gesetzes vom 25. Juni 1992 über den
Landversicherungsvertrag.
§ 2. Kosten in Zusammenhang mit Schwangerschaft und Mutterschaft dürfen ab dem 21. Dezember 2007 auf keinen Fall zu unterschiedlichen
Versicherungsprämien und -leistungen führen.
§ 3. Die Kommission für das Bank-, Finanz- und Versicherungswesen sammelt die in § 1 erwähnten versicherungsmathematischen und
statistischen Daten, gewährleistet die Veröffentlichung dieser Daten spätestens am 20. Juni 2008 und anschließend die Veröffentlichung
der aktualisierten Daten alle zwei Jahre und veröffentlicht sie auf ihrer Internetseite. Diese Daten werden alle zwei Jahre
aktualisiert.
Die Kommission für das Bank-, Finanz- und Versicherungswesen ist ermächtigt, die dazu notwendigen Daten von den betreffenden
Einrichtungen, Unternehmen oder Personen zu verlangen. Sie bestimmt, welche Daten übermittelt werden müssen, sowie die Art
und Form ihrer Übermittlung.
§ 4. Die Kommission für das Bank-, Finanz- und Versicherungswesen übermittelt der Europäischen Kommission spätestens am 21. Dezember
2009 die Daten, über die sie aufgrund des vorliegenden Artikels verfügt. Sie übermittelt der Europäischen Kommission diese
Daten jedes Mal, wenn sie aktualisiert sind.
§ 5. Die Gesetzgebenden Kammern bewerten vor dem 1. März 2011 die Anwendung des vorliegenden Artikels aufgrund der in den Paragraphen
3 und 4 erwähnten Daten, des in Artikel 16 der Richtlinie 2004/113/EG erwähnten Berichts der Europäischen Kommission und der
Situation in den anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Union.
Diese Bewertung erfolgt aufgrund eines Berichts, der den Gesetzgebenden Kammern binnen zwei Jahren von einer Bewertungskommission
vorgelegt wird.
Der König bestimmt durch einen im Ministerrat beratenen Erlass die Modalitäten in Bezug auf die Zusammensetzung und Bestellung
der Bewertungskommission, die Form und den Inhalt des Berichts.
Die Kommission wird unter anderem Bericht über die Auswirkungen des vorliegenden Artikels auf die Marktsituation erstatten
und auch andere Segmentierungskriterien als die geschlechtsbezogenen Kriterien untersuchen.
§ 6. Vorliegende Bestimmung findet keine Anwendung auf die im Rahmen einer zusätzlichen Sozialversicherungsregelung abgeschlossenen
Versicherungsverträge. Für diese Verträge gilt ausschließlich Artikel 12.“
Sachverhalt des Ausgangsverfahrens und Vorlagefragen
12 Die Kläger des Ausgangsverfahrens erhoben bei der Cour constitutionnelle (Verfassungsgerichtshof) eine Klage auf Nichtigerklärung
des Gesetzes vom 21. Dezember 2007, mit dem die Richtlinie 2004/113 in belgisches Recht umgesetzt wurde.
13 Ihrer Ansicht nach verstößt das Gesetz vom 21. Dezember 2007, mit dem von der Ausnahmemöglichkeit des Art. 5 Abs. 2 der Richtlinie
2004/113 Gebrauch gemacht wird, gegen den Grundsatz der Gleichheit von Männern und Frauen.
14 Soweit mit dem Gesetz vom 21. Dezember 2007 von der Ausnahmemöglichkeit des Art. 5 Abs. 2 der Richtlinie 2004/113 Gebrauch
gemacht wird, hat die Cour constitutionnelle, da ihrer Meinung nach die bei ihr anhängige Klage eine Frage nach der Gültigkeit
einer Bestimmung einer Richtlinie der Union aufwirft, beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende
Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
1. Ist Art. 5 Abs. 2 der Richtlinie 2004/113/EG vereinbar mit Art. 6 Abs. 2 EU und insbesondere mit dem durch diese Bestimmung
gewährleisteten Gleichheits- und Nichtdiskriminierungsgrundsatz?
2. Falls die erste Frage verneinend beantwortet wird: Ist derselbe Art. 5 Abs. 2 der Richtlinie ebenfalls unvereinbar mit Art. 6
Abs. 2 EU, wenn seine Anwendung auf Lebensversicherungsverträge beschränkt wird?
Zu den Vorlagefragen
15 Mit der ersten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 5 Abs. 2 der Richtlinie 2004/113 in Anbetracht
des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Frauen und Männern gültig ist.
16 Art. 6 EU, auf den das vorlegende Gericht in seinen Fragen Bezug nimmt und der im ersten Erwägungsgrund der Richtlinie 2004/113
genannt wird, bestimmte in seinem Abs. 2, dass die Union die Grundrechte achtet, wie sie in der Europäischen Konvention zum
Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten gewährleistet sind und wie sie sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen
der Mitgliedstaaten als allgemeine Grundsätze des Gemeinschaftsrechts ergeben. Diese Grundrechte sind in die Charta inkorporiert
worden, die ab dem 1. Dezember 2009 rechtlich gleichrangig mit den Verträgen ist.
17 Nach den Art. 21 und 23 der Charta sind zum einen Diskriminierungen wegen des Geschlechts verboten, und zum anderen ist die
Gleichheit von Frauen und Männern in allen Bereichen zu gewährleisten. Da im vierten Erwägungsgrund der Richtlinie 2004/113
ausdrücklich auf diese Artikel Bezug genommen wird, ist die Gültigkeit von Art. 5 Abs. 2 der Richtlinie mit Blick auf diese
Bestimmungen der Charta zu beurteilen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 9. November 2010, Volker und Markus Schecke und Eifert,
C‑92/09 und C‑93/09, Slg. 2010, I‑0000, Randnr. 46).
18 Das Recht auf Gleichbehandlung von Frauen und Männern ist Gegenstand von Bestimmungen des AEU-Vertrags. Zum einen muss nach
Art. 157 Abs. 1 AEUV jeder Mitgliedstaat die Anwendung des Grundsatzes des gleichen Entgelts für Männer und Frauen bei gleicher
oder gleichwertiger Arbeit sicherstellen. Zum anderen kann nach Art. 19 Abs. 1 AEUV der Rat nach Zustimmung des Parlaments
geeignete Vorkehrungen treffen, um Diskriminierungen aus Gründen des Geschlechts, der Rasse, der ethnischen Herkunft, der
Religion oder der Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung zu bekämpfen.
19 Während Art. 157 Abs. 1 AEUV den Grundsatz der Gleichbehandlung von Frauen und Männern in einem spezifischen Bereich aufstellt,
stellt Art. 19 Abs. 1 AEUV eine Ermächtigung für den Rat dar, der, wenn er davon Gebrauch macht, u. a. Art. 3 Abs. 3 Unterabs. 2
EUV beachten muss, nach dem die Union soziale Ausgrenzung und Diskriminierungen bekämpft und soziale Gerechtigkeit und sozialen
Schutz, die Gleichstellung von Frauen und Männern, die Solidarität zwischen den Generationen und den Schutz der Rechte des
Kindes fördert, sowie Art. 8 AEUV, nach dem die Union bei allen ihren Tätigkeiten darauf hinwirkt, Ungleichheiten zu beseitigen
und die Gleichstellung von Männern und Frauen zu fördern.
20 Bei der schrittweisen Verwirklichung dieser Gleichheit ist es der Unionsgesetzgeber, der unter Berücksichtigung der Aufgabe,
die der Union mit Art. 3 Abs. 3 Unterabs. 2 EUV und Art. 8 AEUV übertragen worden ist, den Zeitpunkt seines Tätigwerdens bestimmt,
wobei er der Entwicklung der wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse in der Union Rechnung trägt.
21 Ist jedoch ein solches Tätigwerden beschlossen worden, muss es in kohärenter Weise auf die Erreichung des verfolgten Ziels
hinwirken, was nicht die Möglichkeit ausschließt, Übergangszeiten oder Ausnahmen begrenzten Umfangs vorzusehen.
22 Wie es im 18. Erwägungsgrund der Richtlinie 2004/113 heißt, war bei deren Erlass die Anwendung geschlechtsspezifischer versicherungsmathematischer
Faktoren im Bereich des Versicherungswesens weit verbreitet.
23 Folglich stand es dem Unionsgesetzgeber frei, den Grundsatz der Gleichheit von Frauen und Männern, genauer die Anwendung der
Regel geschlechtsneutraler Prämien und Leistungen, stufenweise mit angemessenen Übergangszeiten umzusetzen.
24 In diesem Sinne hat der Unionsgesetzgeber in Art. 5 Abs. 1 der Richtlinie 2004/113 vorgesehen, dass die Unterschiede bei den
Prämien und Leistungen, die sich aus der Berücksichtigung des Faktors Geschlecht bei ihrer Berechnung ergeben, bis spätestens
zum 21. Dezember 2007 abgeschafft werden mussten.
25 In Abweichung von der mit diesem Art. 5 Abs. 1 eingeführten Grundregel geschlechtsneutraler Prämien und Leistungen ist den
Mitgliedstaaten, deren nationales Recht diese Regel bei Erlass der Richtlinie 2004/113 noch nicht vorsah, durch Art. 5 Abs. 2
die Möglichkeit eingeräumt worden, vor dem 21. Dezember 2007 zu beschließen, proportionale Unterschiede bei den Prämien und
Leistungen dann zuzulassen, wenn die Berücksichtigung des Geschlechts bei einer auf relevanten und genauen versicherungsmathematischen
und statistischen Daten beruhenden Risikobewertung ein bestimmender Faktor ist.
26 Ebenfalls nach Art. 5 Abs. 2 wird diese Möglichkeit fünf Jahre nach dem 21. Dezember 2007 überprüft, wobei einem Bericht der
Kommission Rechnung zu tragen ist, doch dürfen die Mitgliedstaaten, die von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht haben, den
Versicherern gestatten, diese Ungleichbehandlung unbefristet zu praktizieren, da die Richtlinie 2004/113 keine Bestimmung
über die Anwendungsdauer dieser Unterschiede enthält.
27 Der Rat äußert Zweifel daran, ob die Lage von versicherten Frauen und die von versicherten Männern im Rahmen bestimmter Privatversicherungszweige
als vergleichbar angesehen werden können, da aus versicherungstechnischer Sicht bei der auf statistischer Grundlage stattfindenden
Einordnung in Risikokategorien die Niveaus des versicherten Risikos bei Frauen und bei Männern unterschiedlich sein könnten.
Er macht geltend, die in Art. 5 Abs. 2 der Richtlinie 2004/113 gewählte Option solle nur ermöglichen, unterschiedliche Sachverhalte
nicht gleichzubehandeln.
28 Nach der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs verlangt der Gleichbehandlungsgrundsatz, dass vergleichbare Sachverhalte
nicht unterschiedlich und unterschiedliche Sachverhalte nicht gleichbehandelt werden, es sei denn, dass eine solche Behandlung
objektiv gerechtfertigt ist (vgl. Urteil vom 16. Dezember 2008, Arcelor Atlantique et Lorraine u. a., C‑127/07, Slg. 2008,
I‑9895, Randnr. 23).
29 Die Vergleichbarkeit der Sachverhalte ist im Licht des Zwecks und des Ziels der Unionsmaßnahme, die die fragliche Unterscheidung
einführt, zu beurteilen (vgl. in diesem Sinne Arcelor Atlantique et Lorraine u. a., Randnr. 26). Hier wird diese Unterscheidung
mit Art. 5 Abs. 2 der Richtlinie 2004/113 eingeführt.
30 Es steht fest, dass das mit der Richtlinie 2004/113 im Versicherungssektor verfolgte Ziel, wie in ihrem Art. 5 Abs. 1 zum
Ausdruck kommt, in der Anwendung der Regel geschlechtsneutraler Prämien und Leistungen besteht. Im 18. Erwägungsgrund dieser
Richtlinie heißt es ausdrücklich, dass zur Gewährleistung der Gleichbehandlung von Männern und Frauen die Berücksichtigung
geschlechtsspezifischer versicherungsmathematischer Faktoren nicht zu Unterschieden bei den Prämien und Leistungen führen
sollte. Im 19. Erwägungsgrund der Richtlinie wird die den Mitgliedstaaten eingeräumte Möglichkeit, die Regel geschlechtsneutraler
Prämien und Leistungen nicht anzuwenden, als „Ausnahme“ bezeichnet. Somit beruht die Richtlinie 2004/113 auf der Prämisse,
dass für die Zwecke der Anwendung des in den Art. 21 und 23 der Charta verbürgten Grundsatzes der Gleichbehandlung von Frauen
und Männern die Lage von Frauen und die Lage von Männern in Bezug auf die Prämien und Leistungen der von ihnen abgeschlossenen
Versicherungen vergleichbar sind.
31 Damit besteht die Gefahr, dass die in Art. 5 Abs. 2 der Richtlinie 2004/113 vorgesehene Ausnahme von der Gleichbehandlung
von Frauen und Männern nach dem Unionsrecht unbefristet zulässig ist.
32 Eine solche Bestimmung, die es den betreffenden Mitgliedstaaten gestattet, eine Ausnahme von der Regel geschlechtsneutraler
Prämien und Leistungen unbefristet aufrechtzuerhalten, läuft der Verwirklichung des mit der Richtlinie 2004/113 verfolgten
Ziels der Gleichbehandlung von Frauen und Männern zuwider und ist mit den Art. 21 und 23 der Charta unvereinbar.
33 Die Bestimmung ist daher nach Ablauf einer angemessenen Übergangszeit als ungültig anzusehen.
34 Nach alledem ist auf die erste Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 5 Abs. 2 der Richtlinie 2004/113 mit Wirkung vom 21. Dezember
2012 ungültig ist.
35 In Anbetracht dieser Antwort ist die zweite Vorlagefrage nicht zu beantworten.
Kosten
36 Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen
Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von
Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Große Kammer) für Recht erkannt:
Art. 5 Abs. 2 der Richtlinie 2004/113/EG des Rates vom 13. Dezember 2004 zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung
von Männern und Frauen beim Zugang zu und bei der Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen ist mit Wirkung vom 21. Dezember
2012 ungültig.
Unterschriften
* Verfahrenssprache: Französisch.
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Urteil des Gerichtshofes (Große Kammer) vom 23. November 2010.#Land Baden-Württemberg gegen Panagiotis Tsakouridis.#Ersuchen um Vorabentscheidung: Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg - Deutschland.#Freizügigkeit - Richtlinie 2004/38/EG - Art. 16 Abs. 4 und Art. 28 Abs. 3 Buchst. a - Unionsbürger, der im Aufnahmemitgliedstaat geboren ist und dort mehr als 30 Jahre gewohnt hat - Abwesenheiten vom Aufnahmemitgliedstaat - Strafrechtliche Verurteilungen - Ausweisungsverfügung - Zwingende Gründe der öffentlichen Sicherheit.#Rechtssache C-145/09.
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62009CJ0145
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ECLI:EU:C:2010:708
| 2010-11-23T00:00:00 |
Bot, Gerichtshof
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Sammlung der Rechtsprechung 2010 I-11979
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Rechtssache C‑145/09
Land Baden-Württemberg
gegen
Panagiotis Tsakouridis
(Vorabentscheidungsersuchen des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg)
„Freizügigkeit – Richtlinie 2004/38/EG – Art. 16 Abs. 4 und Art. 28 Abs. 3 Buchst. a – Unionsbürger, der im Aufnahmemitgliedstaat geboren ist und dort mehr als 30 Jahre gewohnt hat – Abwesenheiten vom Aufnahmemitgliedstaat – Strafrechtliche Verurteilungen – Ausweisungsverfügung – Zwingende Gründe der öffentlichen Sicherheit“
Leitsätze des Urteils
1. Unionsbürgerschaft – Recht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten – Richtlinie 2004/38
– Beschränkungen des Einreise‑ und Aufenthaltsrechts aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit – Schutz vor Ausweisung
– Voraussetzung
(Richtlinie 2004/38 des Europäischen Parlaments und des Rates, Art. 28 Abs. 3 Buchst. a)
2. Unionsbürgerschaft – Recht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten – Richtlinie 2004/38
– Beschränkungen des Einreise‑ und Aufenthaltsrechts aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit – Ausweisungsverfügung
– Zu berücksichtigende Gesichtspunkte – Beurteilung durch das nationale Gericht
(Richtlinie 2004/38 des Europäischen Parlaments und des Rates, Art. 27 und 28)
3. Unionsbürgerschaft – Recht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten – Richtlinie 2004/38
– Beschränkungen des Einreise‑ und Aufenthaltsrechts aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit – Schutz vor Ausweisung
– Ausnahmen
(Richtlinie 2004/38 des Europäischen Parlaments und des Rates, Art. 28 Abs. 2 und 3)
1. Art. 28 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2004/38 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet
der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, ist dahin gehend auszulegen, dass für die Bestimmung, ob sich ein Unionsbürger
in den letzten zehn Jahren vor der Ausweisung im Aufnahmemitgliedstaat aufgehalten hat, was das ausschlaggebende Kriterium
für die Gewährung des verstärkten Schutzes nach dieser Vorschrift ist, alle im Einzelfall relevanten Umstände zu berücksichtigen
sind, insbesondere die Dauer jeder einzelnen Abwesenheit des Betroffenen vom Aufnahmemitgliedstaat, die Gesamtdauer und die
Häufigkeit der Abwesenheiten sowie die Gründe, die ihn dazu veranlasst haben, diesen Mitgliedstaat zu verlassen, und anhand
deren sich feststellen lässt, ob die entsprechenden Abwesenheiten bedeuten, dass sich der Mittelpunkt seiner persönlichen,
familiären oder beruflichen Interessen in einen anderen Mitgliedstaat verlagert hat.
(vgl. Randnr. 38, Tenor 1)
2. Bei der Anwendung der Richtlinie 2004/38 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet
der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, ist insbesondere der außergewöhnliche Charakter der Bedrohung der öffentlichen
Sicherheit aufgrund des persönlichen Verhaltens der betroffenen Person, die gegebenenfalls zu der Zeit zu beurteilen ist,
zu der die Ausweisungsverfügung ergeht, und zwar nach Maßgabe der verwirkten und verhängten Strafen, des Grades der Beteiligung
an der kriminellen Aktivität, des Umfangs des Schadens und gegebenenfalls der Rückfallneigung, gegen die Gefahr abzuwägen,
die Resozialisierung des Unionsbürgers in dem Staat, in den er vollständig integriert ist – die nicht nur im Interesse dieses
Staates, sondern auch im Interesse der Europäischen Union insgesamt liegt –, zu gefährden.
Die verhängte Strafe ist als ein Umstand dieser Gesamtheit von Faktoren zu berücksichtigen. Eine Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe
von fünf Jahren kann nicht zu einer Ausweisungsverfügung führen, ohne dass die oben beschriebenen Umstände berücksichtigt
werden, was vom nationalen Gericht zu prüfen ist. Im Rahmen der entsprechenden Beurteilung ist den Grundrechten Rechnung zu
tragen, deren Beachtung der Gerichtshof sichert, da Gründe des Allgemeininteresses zur Rechtfertigung einer innerstaatlichen
Maßnahme, die geeignet ist, die Ausübung der Freizügigkeit zu behindern, nur dann herangezogen werden können, wenn die fragliche
Maßnahme diesen Rechten Rechnung trägt, insbesondere dem in Art. 7 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union und Art. 8
der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten niedergelegten Recht auf Achtung des Privat-
und Familienlebens.
(vgl. Randnrn. 50-52)
3. Art. 28 Abs. 3 der Richtlinie 2004/38 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet
der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, ist dahin gehend auszulegen, dass die Bekämpfung der mit dem bandenmäßigen
Handel mit Betäubungsmitteln verbundenen Kriminalität unter den Ausdruck „zwingende Gründe der öffentlichen Sicherheit“ fallen
kann, mit denen eine Ausweisungsmaßnahme in Bezug auf einen Unionsbürger, der seinen Aufenthalt in den letzten zehn Jahren
im Aufnahmemitgliedstaat gehabt hat, gerechtfertigt werden kann.
Art. 28 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38 ist dahin gehend auszulegen, dass die Bekämpfung der mit dem bandenmäßigen Handel mit
Betäubungsmitteln verbundenen Kriminalität unter den Ausdruck „schwerwiegende Gründe der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit“
fällt.
(vgl. Randnr. 56, Tenor 2)
URTEIL DES GERICHTSHOFS (Große Kammer)
23. November 2010(*)
„Freizügigkeit – Richtlinie 2004/38/EG – Art. 16 Abs. 4 und Art. 28 Abs. 3 Buchst. a – Unionsbürger, der im Aufnahmemitgliedstaat geboren ist und dort mehr als 30 Jahre gewohnt hat – Abwesenheiten vom Aufnahmemitgliedstaat – Strafrechtliche Verurteilungen – Ausweisungsverfügung – Zwingende Gründe der öffentlichen Sicherheit“
In der Rechtssache C‑145/09
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 234 EG, eingereicht vom Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg (Deutschland)
mit Entscheidung vom 9. April 2009, beim Gerichtshof eingegangen am 24. April 2009, in dem Verfahren
Land Baden-Württemberg
gegen
Panagiotis Tsakouridis
erlässt
DER GERICHTSHOF (Große Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten V. Skouris, der Kammerpräsidenten A. Tizzano, J. N. Cunha Rodrigues (Berichterstatter), K. Lenaerts,
J.‑C. Bonichot und D. Šváby, der Richter A. Rosas, J. Malenovský, U. Lõhmus, E. Levits, A. Ó Caoimh und L. Bay Larsen sowie
der Richterin M. Berger,
Generalanwalt: Y. Bot,
Kanzler: B. Fülöp, Verwaltungsrat,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 20. April 2010,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
– des Landes Baden-Württemberg, vertreten durch M. Schenk als Bevollmächtigten,
– von Herrn Tsakouridis, vertreten durch Rechtsanwalt K. Frank,
– der deutschen Regierung, vertreten durch M. Lumma, J. Möller und C. Blaschke als Bevollmächtigte,
– der belgischen Regierung, vertreten durch L. Van den Broeck als Bevollmächtigte,
– der dänischen Regierung, vertreten durch B. Weis Fogh als Bevollmächtigte,
– der estnischen Regierung, vertreten durch L. Uibo als Bevollmächtigten,
– der ungarischen Regierung, vertreten durch R. Somssich, M. Fehér und K. Veres als Bevollmächtigte,
– der österreichischen Regierung, vertreten durch E. Riedl als Bevollmächtigten,
– der polnischen Regierung, vertreten durch M. Dowgielewicz als Bevollmächtigten,
– der Regierung des Vereinigten Königreichs, vertreten durch L. Seeboruth und I. Rao als Bevollmächtigte im Beistand von K. Beal,
Barrister,
– der Europäischen Kommission, vertreten durch D. Maidani und S. Grünheid als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 8. Juni 2010
folgendes
Urteil
1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 16 Abs. 4 und Art. 28 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2004/38/EG
des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen,
sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 und
zur Aufhebung der Richtlinien 64/221/EWG, 68/360/EWG, 72/194/EWG, 73/148/EWG, 75/34/EWG, 75/35/EWG, 90/364/EWG, 90/365/EWG
und 93/96/EWG (ABl. L 158, S. 77, sowie Berichtigungen in ABl. L 229, S. 35, und in ABl. 2007, L 204, S. 28).
2 Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen dem Land Baden-Württemberg und Herrn Tsakouridis, einem griechischen
Staatsangehörigen, wegen der Entscheidung dieses Landes über die Feststellung des Verlusts des Rechts von Herrn Tsakouridis
auf Einreise und Aufenthalt im Hoheitsgebiet der Bundesrepublik Deutschland sowie wegen der ihm angedrohten Abschiebung.
Rechtlicher Rahmen
Die Richtlinie 2004/38
3 Der dritte Erwägungsgrund der Richtlinie 2004/38 lautet:
„Die Unionsbürgerschaft sollte der grundsätzliche Status der Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten sein, wenn sie ihr Recht
auf Freizügigkeit und Aufenthalt wahrnehmen. Daher müssen die bestehenden Gemeinschaftsinstrumente, die Arbeitnehmer und Selbständige
sowie Studierende und andere beschäftigungslose Personen getrennt behandeln, kodifiziert und überarbeitet werden, um das Freizügigkeits-
und Aufenthaltsrecht aller Unionsbürger zu vereinfachen und zu verstärken.“
4 Im 22. Erwägungsgrund der Richtlinie 2004/38 heißt es:
„Der Vertrag sieht Beschränkungen des Rechts auf Freizügigkeit und Aufenthalt aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit
oder Gesundheit vor. Um eine genauere Definition der Umstände und Verfahrensgarantien sicherzustellen, unter denen Unionsbürgern
und ihren Familienangehörigen die Erlaubnis zur Einreise verweigert werden kann oder unter denen sie ausgewiesen werden können,
sollte die vorliegende Richtlinie die Richtlinie 64/221/EWG des Rates vom 25. Februar 1964 zur Koordinierung der Sondervorschriften
für die Einreise und den Aufenthalt von Ausländern, soweit sie aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit
gerechtfertigt sind [ABl. Nr. 56, S. 850, in der durch die Richtlinie 75/35/EWG des Rates vom 17. Dezember 1974 (ABl. 1975,
L 14, S. 14) geänderten Fassung], ersetzen.“
5 Die Erwägungsgründe 23 und 24 der Richtlinie 2004/38 lauten:
„(23) Die Ausweisung von Unionsbürgern und ihren Familienangehörigen aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit ist eine
Maßnahme, die Personen, die ihre Rechte und Freiheiten aus dem [EG-]Vertrag in Anspruch genommen haben und vollständig in
den Aufnahmemitgliedstaat integriert sind, sehr schaden kann. Die Wirkung derartiger Maßnahmen sollte daher gemäß dem Verhältnismäßigkeitsprinzip
begrenzt werden, damit der Grad der Integration der Betroffenen, die Dauer des Aufenthalts im Aufnahmemitgliedstaat, ihr Alter,
ihr Gesundheitszustand, die familiäre und wirtschaftliche Situation und die Bindungen zum Herkunftsstaat berücksichtigt werden.
(24) Daher sollte der Schutz vor Ausweisung in dem Maße zunehmen, wie die Unionsbürger und ihre Familienangehörigen in den Aufnahmemitgliedstaat
stärker integriert sind. Gegen Unionsbürger, die sich viele Jahre im Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats aufgehalten
haben, insbesondere in Fällen, in denen sie dort geboren sind und dort ihr ganzes Leben lang ihren Aufenthalt gehabt haben,
sollte nur unter außergewöhnlichen Umständen aus zwingenden Gründen der öffentlichen Sicherheit eine Ausweisung verfügt werden.
Gemäß dem Übereinkommen der Vereinten Nationen vom 20. November 1989 über die Rechte des Kindes sollten solche außergewöhnlichen
Umstände zudem auch für Ausweisungsmaßnahmen gegen Minderjährige gelten, damit die familiären Bande unter Schutz stehen.“
6 Art. 16 der Richtlinie 2004/38 lautet:
„(1) Jeder Unionsbürger, der sich rechtmäßig fünf Jahre lang ununterbrochen im Aufnahmemitgliedstaat aufgehalten hat, hat das Recht,
sich dort auf Dauer aufzuhalten. Dieses Recht ist nicht an die Voraussetzungen des Kapitels III geknüpft.
…
(3) Die Kontinuität des Aufenthalts wird weder durch vorübergehende Abwesenheiten von bis zu insgesamt sechs Monaten im Jahr,
noch durch längere Abwesenheiten wegen der Erfüllung militärischer Pflichten, noch durch eine einzige Abwesenheit von höchstens
zwölf aufeinander folgenden Monaten aus wichtigen Gründen wie Schwangerschaft und Niederkunft, schwere Krankheit, Studium
oder Berufsausbildung oder berufliche Entsendung in einen anderen Mitgliedstaat oder einen Drittstaat berührt.
(4) Wenn das Recht auf Daueraufenthalt erworben wurde, führt nur die Abwesenheit vom Aufnahmemitgliedstaat, die zwei aufeinander
folgende Jahre überschreitet, zu seinem Verlust.“
7 Art. 27 Abs. 1 und 2 der Richtlinie 2004/38 sieht vor:
„(1) Vorbehaltlich der Bestimmungen dieses Kapitels dürfen die Mitgliedstaaten die Freizügigkeit und das Aufenthaltsrecht eines
Unionsbürgers oder seiner Familienangehörigen, ungeachtet ihrer Staatsangehörigkeit, aus Gründen der öffentlichen Ordnung,
Sicherheit oder Gesundheit beschränken. Diese Gründe dürfen nicht zu wirtschaftlichen Zwecken geltend gemacht werden.
(2) Bei Maßnahmen aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit ist der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu wahren und
darf ausschließlich das persönliche Verhalten des Betroffenen ausschlaggebend sein. Strafrechtliche Verurteilungen allein
können ohne Weiteres diese Maßnahmen nicht begründen.
Das persönliche Verhalten muss eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr darstellen, die ein Grundinteresse der
Gesellschaft berührt. Vom Einzelfall losgelöste oder auf Generalprävention verweisende Begründungen sind nicht zulässig.“
8 Art. 28 der Richtlinie 2004/38 bestimmt:
„(1) Bevor der Aufnahmemitgliedstaat eine Ausweisung aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit verfügt, berücksichtigt
er insbesondere die Dauer des Aufenthalts des Betroffenen im Hoheitsgebiet, sein Alter, seinen Gesundheitszustand, seine familiäre
und wirtschaftliche Lage, seine soziale und kulturelle Integration im Aufnahmemitgliedstaat und das Ausmaß seiner Bindungen
zum Herkunftsstaat.
(2) Der Aufnahmemitgliedstaat darf gegen Unionsbürger oder ihre Familienangehörigen, ungeachtet ihrer Staatsangehörigkeit, die
das Recht auf Daueraufenthalt in seinem Hoheitsgebiet genießen, eine Ausweisung nur aus schwerwiegenden Gründen der öffentlichen
Ordnung oder Sicherheit verfügen.
(3) Gegen Unionsbürger darf eine Ausweisung nicht verfügt werden, es sei denn, die Entscheidung beruht auf zwingenden Gründen
der öffentlichen Sicherheit, die von den Mitgliedstaaten festgelegt wurden, wenn sie
a) ihren Aufenthalt in den letzten zehn Jahren im Aufnahmemitgliedstaat gehabt haben oder
b) minderjährig sind, es sei denn, die Ausweisung ist zum Wohl des Kindes notwendig, wie es im Übereinkommen der Vereinten Nationen
vom 20. November 1989 über die Rechte des Kindes vorgesehen ist.“
9 Art. 32 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 bestimmt:
„Personen, gegen die aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit ein Aufenthaltsverbot verhängt worden ist, können
nach einem entsprechend den Umständen angemessenen Zeitraum, in jedem Fall aber drei Jahre nach Vollstreckung des nach dem
Gemeinschaftsrecht ordnungsgemäß erlassenen endgültigen Aufenthaltsverbots einen Antrag auf Aufhebung des Aufenthaltsverbots
unter Hinweis darauf einreichen, dass eine materielle Änderung der Umstände eingetreten ist, die das Aufenthaltsverbot gerechtfertigt
haben.
Der betreffende Mitgliedstaat muss binnen sechs Monaten nach Einreichung des Antrags eine Entscheidung treffen.“
Nationales Recht
10 § 6 des Gesetzes über die allgemeine Freizügigkeit von Unionsbürgern vom 30. Juli 2004 (BGBl. 2004 I, S. 1950) in der Fassung
des Gesetzes zur Änderung des Bundespolizeigesetzes und anderer Gesetze vom 26. Februar 2008 (BGBl. 2008 I, S. 215) (im Folgenden:
FreizügG/EU) bestimmt:
„(1) Der Verlust des Rechts nach § 2 Abs. 1 kann unbeschadet des § 5 Abs. 5 nur aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit
oder Gesundheit (Artikel 39 Abs. 3, Artikel 46 Abs. 1 des Vertrages über die Europäische Gemeinschaft) festgestellt und die
Bescheinigung über das gemeinschaftsrechtliche Aufenthaltsrecht oder über den Daueraufenthalt eingezogen und die Aufenthaltskarte
oder Daueraufenthaltskarte widerrufen werden. Aus den in Satz 1 genannten Gründen kann auch die Einreise verweigert werden.
Die Feststellung aus Gründen der öffentlichen Gesundheit kann nur erfolgen, wenn die Krankheit innerhalb der ersten drei Monate
nach Einreise auftritt.
(2) Die Tatsache einer strafrechtlichen Verurteilung genügt für sich allein nicht, um die in Absatz 1 genannten Entscheidungen
oder Maßnahmen zu begründen. Es dürfen nur im Bundeszentralregister noch nicht getilgte strafrechtliche Verurteilungen und
diese nur insoweit berücksichtigt werden, als die ihnen zu Grunde liegenden Umstände ein persönliches Verhalten erkennen lassen,
das eine gegenwärtige Gefährdung der öffentlichen Ordnung darstellt. Es muss eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung
vorliegen, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt.
(3) Bei der Entscheidung nach Absatz 1 sind insbesondere die Dauer des Aufenthalts des Betroffenen in Deutschland, sein Alter,
sein Gesundheitszustand, seine familiäre und wirtschaftliche Lage, seine soziale und kulturelle Integration in Deutschland
und das Ausmaß seiner Bindungen zum Herkunftsstaat zu berücksichtigen.
(4) Eine Feststellung nach Absatz 1 darf nach Erwerb des Daueraufenthaltsrechts nur aus schwerwiegenden Gründen getroffen werden.
(5) Eine Feststellung nach Absatz 1 darf bei Unionsbürgern und ihren Familienangehörigen, die ihren Aufenthalt in den letzten
zehn Jahren im Bundesgebiet hatten, und bei Minderjährigen nur aus zwingenden Gründen der öffentlichen Sicherheit getroffen
werden. Für Minderjährige gilt dies nicht, wenn der Verlust des Aufenthaltsrechts zum Wohl des Kindes notwendig ist. Zwingende
Gründe der öffentlichen Sicherheit können nur dann vorliegen, wenn der Betroffene wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher
Straftaten rechtskräftig zu einer Freiheits- oder Jugendstrafe von mindestens fünf Jahren verurteilt oder bei der letzten
rechtskräftigen Verurteilung Sicherungsverwahrung angeordnet wurde, wenn die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland betroffen
ist oder wenn vom Betroffenen eine terroristische Gefahr ausgeht.
…“
Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefragen
11 Herr Tsakouridis wurde am 1. März 1978 in Deutschland geboren. Im Jahr 1996 machte er seinen Hauptschulabschluss. Seit Oktober
2001 ist er in diesem Mitgliedstaat im Besitz einer unbefristeten Aufenthaltserlaubnis. Von März 2004 bis Mitte Oktober 2004
betrieb er einen Crêpes-Stand auf der Insel Rhodos in Griechenland. Anschließend kehrte er nach Deutschland zurück und arbeitete
dort ab Dezember 2004. Mitte Oktober 2005 ging Herr Tsakouridis nach Rhodos und betrieb dort seinen Crêpes-Stand weiter. Am
22. November 2005 erließ das Amtsgericht Stuttgart einen internationalen Haftbefehl gegen ihn. Am 19. November 2006 wurde
er auf Rhodos festgenommen und anschließend am 19. März 2007 nach Deutschland überführt.
12 Herr Tsakouridis ist wie folgt vorbestraft. Das Amtsgericht Stuttgart-Bad Cannstatt verurteilte ihn zur Zahlung mehrerer Geldstrafen,
nämlich am 14. Oktober 1998 wegen Besitzes eines verbotenen Gegenstands, am 15. Juni 1999 wegen gefährlicher Körperverletzung
und am 8. Februar 2000 wegen vorsätzlicher Körperverletzung in Tateinheit mit Nötigung. Am 5. September 2002 verurteilte ihn
zudem das Amtsgericht Stuttgart wegen Nötigung in Tateinheit mit vorsätzlicher Körperverletzung zu einer Geldstrafe. Schließlich
wurde Herr Tsakouridis am 28. August 2007 vom Landgericht Stuttgart wegen unerlaubten bandenmäßigen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln
in nicht geringer Menge in acht Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von sechs Jahren und sechs Monaten verurteilt.
13 Mit Bescheid vom 19. August 2008 stellte das Regierungspräsidium Stuttgart nach Anhörung von Herrn Tsakouridis den Verlust
seines Rechts auf Einreise und Aufenthalt im Bundesgebiet fest und drohte die Abschiebung nach Griechenland ohne Setzung einer
Frist zur freiwilligen Ausreise an. Zur Begründung führte das Regierungspräsidium Stuttgart aus, dass mit dem Urteil des Landgerichts
Stuttgart vom 28. August 2007 das Mindestmaß von fünf Jahren Freiheitsstrafe überschritten werde, so dass die fraglichen Maßnahmen
durch „zwingende Gründe der öffentlichen Sicherheit“ im Sinne von Art. 28 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2004/38 oder § 6
Abs. 5 FreizügG/EU gerechtfertigt seien.
14 Das persönliche Verhalten von Herrn Tsakouridis gefährde aktuell die öffentliche Ordnung. Die von ihm begangenen Betäubungsmittelstraftaten
seien ausgesprochen schwerwiegend, und es bestehe eine konkrete Wiederholungsgefahr. Herr Tsakouridis sei offensichtlich aus
finanziellen Gründen bereit gewesen, sich am illegalen Handel mit Rauschgift aktiv zu beteiligen. Die mit dem Handel verbundenen
Probleme für rauschgiftabhängige Personen und für die Gesellschaft seien ihm gleichgültig gewesen. Es bestehe ein Grundinteresse
der Gesellschaft daran, dass die besonders sozialschädliche Rauschgiftkriminalität mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln
wirksam bekämpft werde.
15 Im Übrigen sei Herr Tsakouridis nicht willens oder nicht in der Lage gewesen, sich an die bestehende Rechtsordnung zu halten.
Er habe mit einer ausgesprochen hohen kriminellen Energie Straftaten begangen. Ein eventuell beanstandungsfreies Verhalten
im Strafvollzug lasse keinen Rückschluss auf eine fehlende Wiederholungsgefahr zu. Nachdem somit die tatbestandlichen Voraussetzungen
des § 6 FreizügG/EU erfüllt seien, stehe die Entscheidung im Ermessen der Behörde. Das private Interesse von Herrn Tsakouridis,
von der Feststellung des Verlusts des Rechts auf Einreise und Aufenthalt wegen der Dauer seines langen rechtmäßigen Aufenthalts
in Deutschland verschont zu bleiben, überwiege nicht das herausragende öffentliche Interesse an der Bekämpfung der mit dem
Handel mit Betäubungsmitteln verbundenen Kriminalität. Die Wahrscheinlichkeit, dass er erneut ähnlich gelagerte Straftaten
begehe, sei ausgesprochen hoch.
16 Nach Ansicht des Regierungspräsidiums Stuttgart ist nicht zu erwarten, dass Herr Tsakouridis nach seiner Abschiebung aus Deutschland
Integrationsprobleme in seinem Herkunftsmitgliedstaat haben werde, da er in den letzten Jahren mehrere Monate dort verbracht
habe. Die Wiederholungsgefahr rechtfertige auch den Eingriff in sein freies Zugangsrecht als Unionsbürger zum deutschen Arbeitsmarkt.
Es gebe kein Mittel, das milder als die angeordneten Maßnahmen oder ihnen gleichwertig sei, und durch die Maßnahmen werde
auch keine bereits aufgebaute wirtschaftliche Existenzgrundlage zerstört.
17 Der Eingriff in das Privat- und Familienleben von Herrn Tsakouridis sei angesichts der Schwere der festgestellten Straftaten
im überwiegenden Interesse der Verteidigung der öffentlichen Ordnung und der Verhinderung von weiteren strafbaren Handlungen
im Sinne von Art. 8 der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und
Grundfreiheiten gerechtfertigt, ohne dass gleichwertige private und familiäre Belange ersichtlich wären, die ein Absehen von
der Abschiebung aus Gründen der Verhältnismäßigkeit gebieten würden.
18 Am 17. September 2008 erhob Herr Tsakouridis gegen den Bescheid des Regierungspräsidiums Stuttgart vom 19. August 2008 Klage
zum Verwaltungsgericht Stuttgart und berief sich darauf, dass seine Familie zum großen Teil in Deutschland lebe. Außerdem
gehe aus dem Urteil des Landgerichts Stuttgart vom 28. August 2007 hervor, dass er nur ein untergeordnetes Bandenmitglied
gewesen sei. Da er in Deutschland aufgewachsen sei und dort seine schulische Ausbildung genossen habe, bestehe keine Gefährdung
im Sinne von § 6 Abs. 1 FreizügG/EU. Außerdem habe er eine intensive Bindung zu seinem in Deutschland lebenden Vater, der
ihn regelmäßig im Gefängnis besuche. Er habe sich freiwillig der Polizei gestellt, was zeige, dass er nach der Verbüßung der
Strafhaft keine Gefahr für die öffentliche Ordnung mehr darstelle, so dass die Feststellung des Verlusts seines Rechts auf
Einreise und Aufenthalt im Bundesgebiet unverhältnismäßig sei. Schließlich werde sich seine Mutter, die sich gegenwärtig bei
ihrer Tochter in Australien aufhalte, ab Frühjahr 2009 endgültig wieder bei ihrem Ehemann in Deutschland aufhalten.
19 Mit Urteil vom 24. November 2008 hob das Verwaltungsgericht Stuttgart den Bescheid des Regierungspräsidiums Stuttgart vom
19. August 2008 auf. Nach Auffassung dieses Gerichts genügt eine strafrechtliche Verurteilung allein nicht, um den Verlust
des Rechts eines Unionsbürgers auf Einreise und Aufenthalt zu begründen, der gemäß § 6 Abs. 2 FreizügG/EU eine tatsächliche
und hinreichend schwere Gefährdung voraussetze, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berühre. Zudem dürfe nach § 6 Abs. 5
Satz 1 FreizügG/EU in Umsetzung von Art. 28 Abs. 3 der Richtlinie 2004/38 der Verlust des Rechts auf Einreise und Aufenthalt
gemäß § 6 Abs. 1 FreizügG/EU in einem Fall wie dem von Herrn Tsakouridis, der sich über zehn Jahre lang im Bundesgebiet aufgehalten
habe, nur aus zwingenden Gründen der öffentlichen Sicherheit festgestellt werden. Dazu führt das Verwaltungsgericht Stuttgart
aus, dass Herr Tsakouridis sein Daueraufenthaltsrecht nicht aufgrund seiner Aufenthalte auf Rhodos verloren habe, da § 6 Abs. 5
Satz 1 FreizügG/EU keinen ununterbrochenen Aufenthalt in den letzten zehn Jahren im Bundesgebiet fordere.
20 Das Verwaltungsgericht Stuttgart war der Ansicht, dass keine „zwingenden Gründe der öffentlichen Sicherheit“ im Sinne von
§ 6 Abs. 5 letzter Satz FreizügG/EU vorlägen, die eine Abschiebung rechtfertigen würden. Die öffentliche Sicherheit umfasse
nur die innere und die äußere Sicherheit eines Mitgliedstaats und sei damit enger als der Begriff der öffentlichen Ordnung,
der auch die innerstaatliche Strafrechtsordnung umfasse. Die Überschreitung des in § 6 Abs. 5 letzter Satz FreizügG/EU genannten
Mindeststrafmaßes lasse nicht den Schluss auf das Vorliegen von zwingenden Gründen der öffentlichen Sicherheit zu Zwecken
einer Abschiebung zu. Herr Tsakouridis stelle möglicherweise eine erhebliche Gefahr für die öffentliche Ordnung, jedoch keineswegs
für den Bestand des Staates und seiner Institutionen oder das Überleben der Bevölkerung dar. Dies werde vom Regierungspräsidium
Stuttgart auch nicht geltend gemacht.
21 Der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg, bei dem Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 24.
November 2008 eingelegt wurde, hat beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung
vorzulegen:
1. Ist der in Art. 28 Abs. 3 der Richtlinie 2004/38 verwendete Begriff der „zwingenden Gründe der öffentlichen Sicherheit“ dahin
gehend auszulegen, dass nur unabweisbare Gefährdungen der äußeren oder inneren Sicherheit des Mitgliedstaats eine Ausweisung
rechtfertigen können und hierzu nur die Existenz des Staates mit seinen wesentlichen Einrichtungen, deren Funktionsfähigkeit,
das Überleben der Bevölkerung sowie die auswärtigen Beziehungen und das friedliche Zusammenleben der Völker zählen?
2. Unter welchen Voraussetzungen geht der nach einem zehnjährigen Aufenthalt im Aufnahmemitgliedstaat erreichte erhöhte Ausweisungsschutz
nach Art. 28 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2004/38 wieder verloren? Ist in diesem Zusammenhang der Verlusttatbestand für
das Daueraufenthaltsrecht nach Art. 16 Abs. 4 dieser Richtlinie entsprechend anzuwenden?
3. Für den Fall, dass die Frage 2 und eine entsprechende Anwendbarkeit des Art. 16 Abs. 4 der Richtlinie 2004/38 bejaht werden:
Geht der erhöhte Ausweisungsschutz allein durch Zeitablauf verloren, unabhängig von den maßgeblichen Gründen für die Abwesenheit?
4. Ebenfalls für den Fall, dass die Frage 2 und eine entsprechende Anwendbarkeit des Art. 16 Abs. 4 der Richtlinie 2004/38 bejaht
werden: Ist eine zwangsweise Rückkehr in den Aufnahmemitgliedstaat im Rahmen einer Strafverfolgungsmaßnahme vor Ablauf des
Zweijahreszeitraums geeignet, den erhöhten Ausweisungsschutz zu erhalten, auch wenn im Anschluss an die Rückkehr zunächst
für längere Zeit von den Grundfreiheiten kein Gebrauch gemacht werden kann?
Zu den Vorlagefragen
Zu den Fragen 2 bis 4
22 Mit seinen Fragen 2 bis 4, die zunächst zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht wissen, inwieweit Abwesenheiten vom
Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats während des in Art. 28 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2004/38 genannten Zeitraums,
d. h. in den letzten zehn Jahren vor der Ausweisung des Betroffenen, dazu führen, dass diesem der in dieser Vorschrift vorgesehene
verstärkte Schutz versagt bleibt.
23 Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs soll die Richtlinie 2004/38 die Ausübung des den Unionsbürgern unmittelbar aus dem
Vertrag erwachsenden elementaren und persönlichen Rechts, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten,
erleichtern und bezweckt insbesondere, dieses Recht zu verstärken, so dass nicht in Betracht kommt, dass die Unionsbürger
aus dieser Richtlinie weniger Rechte ableiten als aus den Sekundärrechtsakten, die sie ändert oder aufhebt (vgl. Urteile vom
25. Juli 2008, Metock u. a., C‑127/08, Slg. 2008, I‑6241, Randnrn. 59 und 82, sowie vom 7. Oktober 2010, Lassal, C‑162/09,
noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, Randnr. 30).
24 Aus dem 23. Erwägungsgrund der Richtlinie 2004/38 geht hervor, dass die Ausweisung von Unionsbürgern und ihren Familienangehörigen
aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit Personen, die ihre Rechte und Freiheiten aus dem Vertrag in Anspruch
genommen haben und vollständig in den Aufnahmemitgliedstaat integriert sind, sehr schaden kann.
25 Aus diesem Grund wird mit der Richtlinie 2004/38, wie aus ihrem 24. Erwägungsgrund hervorgeht, eine auf das Maß der Integration
der betroffenen Personen im Aufnahmemitgliedstaat gestützte Regelung zum Schutz vor Ausweisungsmaßnahmen geschaffen, so dass
dieser Schutz vor Ausweisung umso stärker ist, je besser die Unionsbürger und ihre Familienangehörigen in den Aufnahmemitgliedstaat
integriert sind.
26 Zu diesem Zweck bestimmt Art. 28 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 allgemein, dass der Aufnahmemitgliedstaat, bevor er eine Ausweisung
aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit verfügt, insbesondere die Dauer des Aufenthalts des Betroffenen im Hoheitsgebiet,
sein Alter, seinen Gesundheitszustand, seine familiäre und wirtschaftliche Lage, seine soziale und kulturelle Integration
im Aufnahmemitgliedstaat und das Ausmaß seiner Bindungen zum Herkunftsstaat berücksichtigt.
27 Nach Art. 28 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38 darf gegen Unionsbürger oder ihre Familienangehörigen, ungeachtet ihrer Staatsangehörigkeit,
die nach Art. 16 dieser Richtlinie das Recht auf Daueraufenthalt im Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats erworben haben,
eine Ausweisung „nur aus schwerwiegenden Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit“ verfügt werden.
28 Bei Unionsbürgern, die ihren Aufenthalt in den letzten zehn Jahren im Aufnahmemitgliedstaat gehabt haben, verstärkt Art. 28
Abs. 3 der Richtlinie 2004/38 den Schutz vor Ausweisungsmaßnahmen erheblich, indem er vorsieht, dass eine solche Maßnahme
nicht verfügt werden darf, es sei denn, die Entscheidung beruht auf „zwingenden Gründen der öffentlichen Sicherheit, die von
den Mitgliedstaaten festgelegt wurden“.
29 Art. 28 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2004/38 macht zwar den Genuss des verstärkten Schutzes davon abhängig, dass sich der
Betroffene in den letzten zehn Jahren vor der Ausweisung im Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats aufgehalten hat, doch
ergibt sich daraus nichts zu der Frage, welche Umstände eine Unterbrechung der Aufenthaltsdauer von zehn Jahren bewirken können,
die für den Erwerb des Rechts auf verstärkten Ausweisungsschutz gemäß dieser Vorschrift erforderlich ist.
30 Ausgehend von der Prämisse, dass der verstärkte Schutz ebenso wie das Recht auf Daueraufenthalt nach einem Aufenthalt von
bestimmter Dauer im Aufnahmemitgliedstaat erworben wird und anschließend verloren gehen kann, zieht das vorlegende Gericht
in Betracht, die in Art. 16 Abs. 4 der Richtlinie 2004/38 vorgesehenen Kriterien entsprechend anzuwenden.
31 Es trifft zwar zu, dass die Erwägungsgründe 23 und 24 der Richtlinie 2004/38 einen besonderen Schutz für diejenigen Personen
vorsehen, die vollständig in den Aufnahmemitgliedstaat integriert sind, insbesondere in Fällen, in denen sie dort geboren
sind und dort ihr ganzes Leben lang ihren Aufenthalt gehabt haben, doch ist das entscheidende Kriterium angesichts des Wortlauts
von Art. 28 Abs. 3 der Richtlinie 2004/38 nichtsdestoweniger, ob sich der Unionsbürger in den letzten zehn Jahren vor der
Ausweisung in diesem Mitgliedstaat aufgehalten hat.
32 Was die Frage betrifft, inwieweit Abwesenheiten vom Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats in dem Zeitraum, auf den in Art. 28
Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2004/38 abgestellt wird, d. h. in den letzten zehn Jahren vor der Ausweisung des Betroffenen,
diesen daran hindern, in den Genuss des verstärkten Schutzes zu kommen, ist eine umfassende Beurteilung der Situation des
Betroffenen jeweils zu dem genauen Zeitpunkt vorzunehmen, zu dem sich die Frage der Ausweisung stellt.
33 Die mit der Anwendung von Art. 28 Abs. 3 der Richtlinie 2004/38 betrauten nationalen Behörden haben alle in jedem Einzelfall
relevanten Umstände zu berücksichtigen, insbesondere die Dauer jeder einzelnen Abwesenheit des Betroffenen vom Aufnahmemitgliedstaat,
die Gesamtdauer und die Häufigkeit der Abwesenheiten sowie die Gründe, die ihn dazu veranlasst haben, diesen Mitgliedstaat
zu verlassen. Zu prüfen ist nämlich, ob die fraglichen Abwesenheiten bedeuten, dass sich der Mittelpunkt der persönlichen,
familiären oder beruflichen Interessen des Betroffenen in einen anderen Mitgliedstaat verlagert hat.
34 Der Umstand, dass der Betroffene zur Verbüßung einer Haftstrafe zwangsweise in den Aufnahmemitgliedstaat zurückgebracht wurde,
und die im Gefängnis verbrachte Zeit können zusammen mit den in der vorstehenden Randnummer des vorliegenden Urteils genannten
Umständen bei der gebotenen umfassenden Beurteilung berücksichtigt werden, um zu bestimmen, ob die zuvor mit dem Aufnahmemitgliedstaat
geknüpften Integrationsverbindungen abgerissen sind.
35 Es ist Sache des nationalen Gerichts, zu beurteilen, ob das im Ausgangsverfahren der Fall ist. Sollte es zu dem Schluss kommen,
dass die Abwesenheiten von Herrn Tsakouridis vom Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats ihn nicht daran hindern, in den
Genuss des verstärkten Schutzes zu kommen, hätte es sodann zu prüfen, ob die Ausweisung auf zwingenden Gründen der öffentlichen
Sicherheit im Sinne von Art. 28 Abs. 3 der Richtlinie 2004/38 beruht.
36 Es ist darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof, um dem nationalen Gericht eine sachdienliche Antwort geben zu können, die
diesem die Entscheidung des bei ihm anhängigen Rechtsstreits ermöglicht, veranlasst sein kann, unionsrechtliche Vorschriften
zu berücksichtigen, auf die sich das nationale Gericht in seinen Vorlagefragen nicht bezogen hat (vgl. in diesem Sinne Urteil
vom 8. November 2007, Gintec, C‑374/05, Slg. 2007, I‑9517, Randnr. 48).
37 Wenn der Schluss gezogen werden sollte, dass eine Person in der Situation von Herrn Tsakouridis, die im Aufnahmemitgliedstaat
ein Recht auf Daueraufenthalt erworben hat, nicht die in Art. 28 Abs. 3 der Richtlinie 2004/38 hinsichtlich des Aufenthalts
aufgestellte Voraussetzung erfüllt, könnte eine Ausweisungsmaßnahme gegebenenfalls gemäß Art. 28 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38
beim Vorliegen von „schwerwiegenden Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit“ gerechtfertigt sein.
38 Nach alledem ist auf die Fragen 2 bis 4 zu antworten, dass Art. 28 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2004/38 dahin gehend auszulegen
ist, dass für die Bestimmung, ob sich ein Unionsbürger in den letzten zehn Jahren vor der Ausweisung im Aufnahmemitgliedstaat
aufgehalten hat, was das ausschlaggebende Kriterium für die Gewährung des verstärkten Schutzes nach dieser Vorschrift ist,
alle im Einzelfall relevanten Umstände zu berücksichtigen sind, insbesondere die Dauer jeder einzelnen Abwesenheit des Betroffenen
vom Aufnahmemitgliedstaat, die Gesamtdauer und die Häufigkeit der Abwesenheiten sowie die Gründe, die ihn dazu veranlasst
haben, diesen Mitgliedstaat zu verlassen, und anhand deren sich feststellen lässt, ob die entsprechenden Abwesenheiten bedeuten,
dass sich der Mittelpunkt seiner persönlichen, familiären oder beruflichen Interessen in einen anderen Mitgliedstaat verlagert
hat.
Zur ersten Frage
39 Angesichts der Antwort auf die Fragen 2 bis 4 ist die erste Frage dahin gehend zu verstehen, dass das vorlegende Gericht wissen
möchte, ob und inwieweit die mit dem bandenmäßigen Handel mit Betäubungsmitteln verbundene Kriminalität für den Fall, dass
es zu dem Schluss kommt, dass dem betroffenen Unionsbürger der Schutz nach Art. 28 Abs. 3 der Richtlinie 2004/38 zusteht,
unter den Ausdruck der „zwingenden Gründe der öffentlichen Sicherheit“ oder, für den Fall, dass es zu dem Schluss kommt, dass
diesem Unionsbürger der Schutz nach Art. 28 Abs. 2 dieser Richtlinie zusteht, unter den der „schwerwiegenden Gründe der öffentlichen
Ordnung oder Sicherheit“ fallen kann.
40 Aus dem Wortlaut und der Systematik von Art. 28 der Richtlinie 2004/38, die in den Randnrn. 24 bis 28 des vorliegenden Urteils
dargelegt worden sind, geht hervor, dass der Unionsgesetzgeber, indem er jede Ausweisungsmaßnahme in den in Art. 28 Abs. 3
dieser Richtlinie genannten Fällen vom Vorliegen „zwingender Gründe“ der öffentlichen Sicherheit abhängig gemacht hat, einem
Begriff, der erheblich enger ist als der der „schwerwiegenden Gründe“ im Sinne von Abs. 2 dieses Artikels, die auf diesen
Abs. 3 gestützten Maßnahmen ganz offensichtlich entsprechend der Ankündigung im 24. Erwägungsgrund der Richtlinie auf „außergewöhnliche
Umstände“ begrenzen wollte.
41 Der Ausdruck „zwingende Gründe der öffentlichen Sicherheit“ setzt nämlich nicht nur das Vorliegen einer Beeinträchtigung der
öffentlichen Sicherheit voraus, sondern darüber hinaus, dass die Beeinträchtigung einen besonders hohen Schweregrad aufweist,
der im Gebrauch des Ausdrucks „zwingende Gründe“ zum Ausdruck kommt.
42 Auch der Begriff „öffentliche Sicherheit“ in Art. 28 Abs. 3 der Richtlinie 2004/38 ist in diesem Kontext auszulegen.
43 Hinsichtlich der öffentlichen Sicherheit hat der Gerichtshof entschieden, dass sie sowohl die innere als auch die äußere Sicherheit
eines Mitgliedstaats umfasst (vgl. u. a. Urteile vom 26. Oktober 1999, Sirdar, C‑273/97, Slg. 1999, I‑7403, Randnr. 17, vom
11. Januar 2000, Kreil, C‑285/98, Slg. 2000, I‑69, Randnr. 17, vom 13. Juli 2000, Albore, C‑423/98, Slg. 2000, I‑5965, Randnr. 18,
und vom 11. März 2003, Dory, C‑186/01, Slg. 2003, I‑2479, Randnr. 32).
44 Der Gerichtshof hat ferner entschieden, dass die Beeinträchtigung des Funktionierens der Einrichtungen des Staates und seiner
wichtigen öffentlichen Dienste sowie das Überleben der Bevölkerung ebenso wie die Gefahr einer erheblichen Störung der auswärtigen
Beziehungen oder des friedlichen Zusammenlebens der Völker oder eine Beeinträchtigung der militärischen Interessen die öffentliche
Sicherheit berühren können (vgl. u. a. Urteile vom 10. Juli 1984, Campus Oil u. a., 72/83, Slg. 1984, 2727, Randnrn. 34 und
35, vom 17. Oktober 1995, Werner, C‑70/94, Slg. 1995, I‑3189, Randnr. 27, Albore, Randnr. 22, und vom 25. Oktober 2001, Kommission/Griechenland,
C‑398/98, Slg. 2001, I‑7915, Randnr. 29).
45 Daraus folgt jedoch nicht, dass Ziele wie die Bekämpfung der mit bandenmäßigem Handel mit Betäubungsmitteln verbundenen Kriminalität
zwingend von diesem Begriff ausgenommen wären.
46 Der bandenmäßige Handel mit Betäubungsmitteln stellt eine diffuse Kriminalität dar, die mit beeindruckenden wirtschaftlichen
und operativen Mitteln ausgestattet ist und sehr häufig über internationale Verbindungen verfügt. Angesichts der verheerenden
Folgen der mit diesem Handel verbundenen Kriminalität wird im ersten Erwägungsgrund des Rahmenbeschlusses 2004/757/JI des
Rates vom 25. Oktober 2004 zur Festlegung von Mindestvorschriften über die Tatbestandsmerkmale strafbarer Handlungen und die
Strafen im Bereich des illegalen Drogenhandels (ABl. L 335, S. 8) festgestellt, dass der illegale Drogenhandel eine Bedrohung
der Gesundheit, Sicherheit und Lebensqualität der Unionsbürger sowie der legalen Wirtschaftstätigkeit, der Stabilität und
der Sicherheit der Mitgliedstaaten darstellt.
47 Da die Rauschgiftsucht ein großes Übel für den Einzelnen und eine soziale und wirtschaftliche Gefahr für die Menschheit ist
(vgl. in diesem Sinne u. a. Urteil vom 26. Oktober 1982, Wolf, 221/81, Slg. 1982, 3681, Randnr. 9, sowie Urteil des Europäischen
Gerichtshofs für Menschenrechte vom 17. Januar 2006, Aoulmi/Frankreich, Nr. 86), könnte nämlich der bandenmäßige Handel mit
Betäubungsmitteln ein Maß an Intensität erreichen, durch das die Ruhe und die physische Sicherheit der Bevölkerung insgesamt
oder eines großen Teils derselben unmittelbar bedroht werden.
48 Hinzu kommt, dass in Art. 27 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38 hervorgehoben wird, dass das Verhalten der betreffenden Person
eine tatsächliche und gegenwärtige Gefahr darstellen muss, die ein Grundinteresse der Gesellschaft oder des betroffenen Mitgliedstaats
berührt, dass vorangegangene strafrechtliche Verurteilungen allein Maßnahmen aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit
nicht begründen können und dass vom Einzelfall losgelöste oder auf Generalprävention verweisende Begründungen nicht zulässig
sind.
49 Demzufolge muss eine Ausweisungsmaßnahme auf eine individuelle Prüfung des Einzelfalls gestützt werden (vgl. u. a. Urteil
Metock u. a., Randnr. 74) und kann nur dann mit zwingenden Gründen der öffentlichen Sicherheit im Sinne von Art. 28 Abs. 3
der Richtlinie 2004/38 gerechtfertigt werden, wenn eine solche Maßnahme angesichts der außergewöhnlichen Schwere der Bedrohung
für den Schutz der Interessen, die mit ihr gewahrt werden sollen, erforderlich ist, vorausgesetzt, dass dieses Ziel unter
Berücksichtigung der Aufenthaltsdauer im Aufnahmemitgliedstaat des Unionsbürgers und insbesondere der schweren negativen Folgen,
die eine solche Maßnahme für Unionsbürger haben kann, die vollständig in den Aufnahmemitgliedstaat integriert sind, nicht
durch weniger strikte Maßnahmen erreicht werden kann.
50 Bei der Anwendung der Richtlinie 2004/38 ist insbesondere der außergewöhnliche Charakter der Bedrohung der öffentlichen Sicherheit
aufgrund des persönlichen Verhaltens der betroffenen Person, die gegebenenfalls zu der Zeit zu beurteilen ist, zu der die
Ausweisungsverfügung ergeht (vgl. u. a. Urteil vom 29. April 2004, Orfanopoulos und Oliveri, C‑482/01 und C‑493/01, Slg. 2004,
I‑5257, Randnrn. 77 bis 79), und zwar nach Maßgabe der verwirkten und verhängten Strafen, des Grades der Beteiligung an der
kriminellen Aktivität, des Umfangs des Schadens und gegebenenfalls der Rückfallneigung (vgl. in diesem Sinne u. a. Urteil
vom 27. Oktober 1977, Bouchereau, 30/77, Slg. 1977, 1999, Randnr. 29), gegen die Gefahr abzuwägen, die Resozialisierung des
Unionsbürgers in dem Staat, in den er vollständig integriert ist – die, wie der Generalanwalt in Nr. 95 seiner Schlussanträge
ausgeführt hat, nicht nur im Interesse dieses Staates, sondern auch im Interesse der Europäischen Union insgesamt liegt –,
zu gefährden.
51 Die verhängte Strafe ist als ein Umstand dieser Gesamtheit von Faktoren zu berücksichtigen. Eine Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe
von fünf Jahren kann nicht zu einer Ausweisungsverfügung führen, wie es in der nationalen Regelung vorgesehen ist, ohne dass
die in der vorstehenden Randnummer des vorliegenden Urteils beschriebenen Umstände berücksichtigt werden, was vom nationalen
Gericht zu prüfen ist.
52 Im Rahmen der entsprechenden Beurteilung ist den Grundrechten Rechnung zu tragen, deren Beachtung der Gerichtshof sichert,
da Gründe des Allgemeininteresses zur Rechtfertigung einer innerstaatlichen Maßnahme, die geeignet ist, die Ausübung der Freizügigkeit
zu behindern, nur dann herangezogen werden können, wenn die fragliche Maßnahme diesen Rechten Rechnung trägt (vgl. u. a. Urteil
Orfanopoulos und Oliveri, Randnrn. 97 bis 99), insbesondere dem in Art. 7 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union
und Art. 8 der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten niedergelegten Recht auf Achtung
des Privat- und Familienlebens (vgl. u. a. Urteil vom 5. Oktober 2010, McB., C‑400/10 PPU, noch nicht in der amtlichen Sammlung
veröffentlicht, Randnr. 53, sowie Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte [Große Kammer] vom 23. Juni 2008,
Maslov/Österreich, Recueil des arrêts et décisions 2008, Nrn. 61 ff.).
53 Um zu beurteilen, ob der in Aussicht genommene Eingriff im Verhältnis zu dem verfolgten legitimen Zweck steht, hier dem Schutz
der öffentlichen Sicherheit, sind insbesondere die Art und die Schwere der begangenen Zuwiderhandlung, die Dauer des Aufenthalts
des Betroffenen im Aufnahmemitgliedstaat, die seit der Begehung der Zuwiderhandlung vergangene Zeit und das Verhalten des
Betroffenen in dieser Zeit sowie die Intensität der sozialen, kulturellen und familiären Bindungen zum Aufnahmemitgliedstaat
zu berücksichtigen. Im Fall eines Unionsbürgers, der die meiste oder die gesamte Zeit seiner Kindheit und Jugend rechtmäßig
im Aufnahmemitgliedstaat verbracht hat, müssten sehr stichhaltige Gründe vorgebracht werden, um die Ausweisungsmaßnahme zu
rechtfertigen (vgl. in diesem Sinne u. a. Urteil Maslov/Österreich, Nrn. 71 bis 75).
54 Jedenfalls fällt, da der Gerichtshof entschieden hat, dass ein Mitgliedstaat zum Schutz der öffentlichen Ordnung die Verwendung
von Betäubungsmitteln als eine Gefahr für die Gesellschaft ansehen kann, die besondere Maßnahmen gegen Ausländer rechtfertigt,
die gegen Vorschriften über Betäubungsmittel verstoßen (vgl. Urteile vom 19. Januar 1999, Calfa, C‑348/96, Slg. 1999, I‑11,
Randnr. 22, sowie Orfanopoulos und Oliveri, Randnr. 67), der bandenmäßige Handel mit Betäubungsmitteln erst recht unter den
Begriff der „öffentlichen Ordnung“ im Sinne von Art. 28 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38.
55 Es ist Sache des vorlegenden Gerichts, unter Berücksichtigung aller genannten Umstände zu prüfen, ob das Verhalten von Herrn
Tsakouridis unter den Ausdruck „schwerwiegende Gründe der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit“ im Sinne von Art. 28 Abs. 2
der Richtlinie 2004/38 oder den Ausdruck „zwingende Gründe der öffentlichen Sicherheit“ im Sinne von Art. 28 Abs. 3 dieser
Richtlinie fällt und ob mit der in Aussicht genommenen Abschiebung die genannten Voraussetzungen beachtet werden.
56 Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 28 Abs. 3 der Richtlinie 2004/38 für den Fall, dass das vorlegende
Gericht zu dem Schluss kommt, dass dem betreffenden Unionsbürger der mit dieser Vorschrift gewährte Schutz zusteht, dahin
gehend auszulegen ist, dass die Bekämpfung der mit dem bandenmäßigen Handel mit Betäubungsmitteln verbundenen Kriminalität
unter den Ausdruck „zwingende Gründe der öffentlichen Sicherheit“ fallen kann, mit denen eine Ausweisungsmaßnahme in Bezug
auf einen Unionsbürger, der seinen Aufenthalt in den letzten zehn Jahren im Aufnahmemitgliedstaat gehabt hat, gerechtfertigt
werden kann. Für den Fall, dass das vorlegende Gericht zu dem Schluss kommt, dass dem betreffenden Unionsbürger der mit Art. 28
Abs. 2 der Richtlinie 2004/38 gewährte Schutz zusteht, ist diese Vorschrift dahin gehend auszulegen, dass die Bekämpfung der
mit dem bandenmäßigen Handel mit Betäubungsmitteln verbundenen Kriminalität unter den Ausdruck „schwerwiegende Gründe der
öffentlichen Ordnung oder Sicherheit“ fällt.
Kosten
57 Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen
Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von
Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Große Kammer) für Recht erkannt:
1. Art. 28 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht
der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten,
zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 und zur Aufhebung der Richtlinien 64/221/EWG, 68/360/EWG, 72/194/EWG, 73/148/EWG,
75/34/EWG, 75/35/EWG, 90/364/EWG, 90/365/EWG und 93/96/EWG ist dahin gehend auszulegen, dass für die Bestimmung, ob sich ein
Unionsbürger in den letzten zehn Jahren vor der Ausweisung im Aufnahmemitgliedstaat aufgehalten hat, was das ausschlaggebende
Kriterium für die Gewährung des verstärkten Schutzes nach dieser Vorschrift ist, alle im Einzelfall relevanten Umstände zu
berücksichtigen sind, insbesondere die Dauer jeder einzelnen Abwesenheit des Betroffenen vom Aufnahmemitgliedstaat, die Gesamtdauer
und die Häufigkeit der Abwesenheiten sowie die Gründe, die ihn dazu veranlasst haben, diesen Mitgliedstaat zu verlassen, und
anhand deren sich feststellen lässt, ob die entsprechenden Abwesenheiten bedeuten, dass sich der Mittelpunkt seiner persönlichen,
familiären oder beruflichen Interessen in einen anderen Mitgliedstaat verlagert hat.
2. Für den Fall, dass das vorlegende Gericht zu dem Schluss kommt, dass dem betreffenden Unionsbürger der mit Art. 28 Abs. 3
der Richtlinie 2004/38 gewährte Schutz zusteht, ist diese Vorschrift dahin gehend auszulegen, dass die Bekämpfung der mit
dem bandenmäßigen Handel mit Betäubungsmitteln verbundenen Kriminalität unter den Ausdruck „zwingende Gründe der öffentlichen
Sicherheit“ fallen kann, mit denen eine Ausweisungsmaßnahme in Bezug auf einen Unionsbürger, der seinen Aufenthalt in den
letzten zehn Jahren im Aufnahmemitgliedstaat gehabt hat, gerechtfertigt werden kann. Für den Fall, dass das vorlegende Gericht
zu dem Schluss kommt, dass dem betreffenden Unionsbürger der mit Art. 28 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38 gewährte Schutz zusteht,
ist diese Vorschrift dahin gehend auszulegen, dass die Bekämpfung der mit dem bandenmäßigen Handel mit Betäubungsmitteln verbundenen
Kriminalität unter den Ausdruck „schwerwiegende Gründe der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit“ fällt.
Unterschriften
* Verfahrenssprache: Deutsch.
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Urteil des Gerichtshofes (Große Kammer) vom 13. April 2010.#Nicolas Bressol u. a. und Céline Chaverot u. a. gegen Gouvernement de la Communauté française.#Ersuchen um Vorabentscheidung: Cour constitutionnelle - Belgien.#Unionsbürgerschaft - Art. 18 und 21 AEUV - Richtlinie 2004/38/EG - Art. 24 Abs. 1 - Aufenthaltsfreiheit - Diskriminierungsverbot - Zugang zum Hochschulunterricht - Studierende aus einem Mitgliedstaat, die sich in einen anderen Mitgliedstaat begeben, um dort eine Ausbildung zu absolvieren - Kontingentierung der Einschreibung von nichtansässigen Studierenden für Studiengänge an Universitäten im Bereich des Gesundheitswesens - Rechtfertigung - Verhältnismäßigkeit - Gefahr für die Qualität des Unterrichts in den medizinischen und paramedizinischen Fächern - Gefahr eines Mangels an Absolventen in den Berufssektoren des Gesundheitswesens.#Rechtssache C-73/08.
|
62008CJ0073
|
ECLI:EU:C:2010:181
| 2010-04-13T00:00:00 |
Gerichtshof, Sharpston
|
Sammlung der Rechtsprechung 2010 I-02735
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Rechtssache C‑73/08
Nicolas Bressol u. a.
und
Céline Chaverot u. a.
gegen
Gouvernement de la Communauté française
(Vorabentscheidungsersuchen des Verfassungsgerichtshofs [Belgien])
„Unionsbürgerschaft – Art. 18 und 21 AEUV – Richtlinie 2004/38/EG – Art. 24 Abs. 1 – Aufenthaltsfreiheit – Diskriminierungsverbot – Zugang zum Hochschulunterricht – Studierende aus einem Mitgliedstaat, die sich in einen anderen Mitgliedstaat begeben, um dort eine Ausbildung zu absolvieren
– Kontingentierung der Einschreibung von nichtansässigen Studierenden für Studiengänge an Universitäten im Bereich des Gesundheitswesens
– Rechtfertigung – Verhältnismäßigkeit – Gefahr für die Qualität des Unterrichts in den medizinischen und paramedizinischen Fächern – Gefahr eines Mangels an Absolventen in den Berufssektoren des Gesundheitswesens“
Leitsätze des Urteils
1. Unionsbürgerschaft – Recht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten – Richtlinie 2004/38
(Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates 2004/38, Art. 24 Abs. 1)
2. Gemeinschaftsrecht – Grundsätze – Gleichbehandlung – Unionsbürgerschaft – Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit
(Art. 18 AEUV und 21 AEUV)
3. Gemeinschaftsrecht – Grundsätze – Gleichbehandlung – Unionsbürgerschaft – Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit
(Art. 18 AEUV und 21 AEUV; Internationaler Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte, Art. 13 Abs. 2 Buchst. c)
1. Die Situation von studierenden Unionsbürgern, die nach der Regelung des Aufnahmemitgliedstaats als nicht ansässig angesehen
werden und sich deshalb nicht für eine Hochschulausbildung in diesem Staat einschreiben können, fällt möglicherweise unter
Art. 24 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet
der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, der für jeden Unionsbürger, der sich aufgrund dieser Richtlinie im Hoheitsgebiet
des Aufnahmemitgliedstaats aufhält, gilt.
Der Umstand, dass solche Studierenden in dem Aufnahmemitgliedstaat möglicherweise keine wirtschaftliche Tätigkeit ausüben,
ist unerheblich, da die Richtlinie 2004/38 für alle Unionsbürger unabhängig davon gilt, ob sie im Hoheitsgebiet eines anderen
Mitgliedstaats als Arbeitnehmer oder als Selbständige wirtschaftlich tätig sind oder nicht.
(vgl. Randnrn. 34-36)
2. Die Art. 18 und 21 AEUV stehen einer Regelung eines Mitgliedstaats entgegen, die die Zahl der als nicht in diesem Staat ansässig
angesehenen Studierenden, die sich zum ersten Mal für einen medizinischen oder paramedizinischen Studiengang an einer Hochschuleinrichtung
dieses Staates einschreiben können, beschränkt, es sei denn, das nationale Gericht stellt nach Würdigung aller von den zuständigen
Stellen angeführten relevanten Gesichtspunkte fest, dass diese Regelung im Hinblick auf das Ziel des Schutzes der öffentlichen
Gesundheit gerechtfertigt ist.
Eine solche Ungleichbehandlung zwischen ansässigen und nichtansässigen Studierenden stellt nämlich eine mittelbare Diskriminierung
aus Gründen der Staatsangehörigkeit dar, sofern sie nicht durch das Ziel der Aufrechterhaltung einer qualitativ hochwertigen,
ausgewogenen und allgemein zugänglichen medizinischen Versorgung gerechtfertigt werden kann, wenn es zur Erreichung eines
hohen Niveaus des Gesundheitsschutzes beiträgt. Insoweit ist zu prüfen, ob die Regelung geeignet ist, die Erreichung dieses
Ziels zu gewährleisten, und ob sie nicht über das hinausgeht, was zu dessen Erreichung erforderlich ist; dies festzustellen
ist Sache des nationalen Gerichts.
Als Erstes wird dieses zu prüfen haben, ob der Schutz der öffentlichen Gesundheit wirklich gefährdet ist. Bei der Prüfung
dieser Gefahren hat es zunächst zu berücksichtigen, dass zwischen der Ausbildung des künftigen medizinischen Personals und
dem Ziel der Aufrechterhaltung einer qualitativ hochwertigen, ausgewogenen und allgemein zugänglichen medizinischen Versorgung
nur ein mittelbarer Zusammenhang besteht, der weniger kausal ist als der Zusammenhang zwischen dem Ziel der öffentlichen Gesundheit
und der Tätigkeit des bereits auf dem Markt verfügbaren medizinischen Personals. Die Würdigung eines solchen Zusammenhangs
hängt nämlich u. a. von einer Untersuchung der voraussichtlichen Entwicklung ab, bei der ausgehend von vielen zufallsabhängigen
und ungewissen Elementen extrapoliert und die künftige Entwicklung des betreffenden Gesundheitssektors berücksichtigt werden
muss, aber auch von einer Untersuchung der zum Ausgangszeitpunkt bestehenden Situation. Sodann hat das nationale Gericht den
Umstand zu berücksichtigen, dass der Mitgliedstaat, wenn eine Ungewissheit hinsichtlich des Vorliegens oder der Bedeutung
der Gefahren für die öffentliche Gesundheit bleibt, Schutzmaßnahmen treffen kann, ohne warten zu müssen, bis es an medizinischem
Personal fehlt. Dies hat auch dann zu gelten, wenn die Qualität des Unterrichts in diesem Bereich gefährdet ist. Der Nachweis,
dass solche Gefahren tatsächlich bestehen, obliegt daher den zuständigen nationalen Stellen und muss auf eine objektive, eingehende
und auf Zahlenangaben gestützte Untersuchung gestützt sein, anhand deren sich mittels zuverlässiger, übereinstimmender und
beweiskräftiger Daten nachweisen lassen muss, dass die öffentliche Gesundheit tatsächlich gefährdet ist.
Als Zweites hat das nationale Gericht, sofern es den Schutz der öffentlichen Gesundheit für tatsächlich gefährdet hält, zu
prüfen, ob in Anbetracht der Angaben der zuständigen Stellen die Regelung als geeignet angesehen werden kann, die Erreichung
des Ziels des Schutzes der öffentlichen Gesundheit zu gewährleisten. In diesem Zusammenhang hat es u. a. zu bewerten, ob eine
Begrenzung der Zahl der nichtansässigen Studierenden tatsächlich geeignet ist, die Zahl der Absolventen zu erhöhen, die für
die Gewährleistung der Gesundheitsversorgung in der fraglichen Gemeinschaft letztlich zur Verfügung stehen.
Als Drittes schließlich hat das nationale Gericht zu beurteilen, ob die Regelung nicht über das hinausgeht, was zur Erreichung
des angeführten Ziels erforderlich ist, insbesondere, ob das angeführte im Allgemeininteresse liegende Ziel nicht durch weniger
einschränkende Maßnahmen erreicht werden könnte, mit denen für Studierende, die ihr Studium in der fraglichen Gemeinschaft
absolvieren, ein Anreiz geschaffen würde, nach Abschluss des Studiums dort zu bleiben, oder für außerhalb der Französischen
Gemeinschaft ausgebildete Berufsangehörige ein Anreiz, sich dort niederzulassen. Ebenso ist es Sache des vorlegenden Gerichts,
zu prüfen, ob die zuständigen Stellen die Erreichung dieses Ziels angemessen mit den sich aus dem Unionsrecht ergebenden Erfordernissen
in Einklang gebracht haben, insbesondere mit dem den Studierenden aus anderen Mitgliedstaaten zustehenden Recht auf Zugang
zum Hochschulunterricht, das zum Kernbereich des Grundsatzes der Freizügigkeit der Studierenden gehört.
(vgl. Randnrn. 62-64, 66, 69-71, 75-79, 82, Tenor 1)
3. Die zuständigen Stellen eines Mitgliedstaats können sich nicht auf Art. 13 Abs. 2 Buchst. c des Internationalen Paktes über
wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte berufen, wenn ein nationales Gericht feststellt, dass eine Regelung des Mitgliedstaats
zur Regelung der Studierendenzahl in bestimmten Studiengängen des ersten Zyklus des Hochschulunterrichts nicht mit den Art.
18 und 21 AEUV vereinbar ist.
Nach dem Wortlaut von Art. 13 Abs. 2 Buchst. c des Paktes dient dieser nämlich im Wesentlichen demselben Ziel wie die Art.
18 und 21 AEUV, nämlich, den Grundsatz der Nichtdiskriminierung beim Zugang zum Hochschulunterricht zu gewährleisten. Dies
wird durch Art. 2 Abs. 2 des Paktes bestätigt, wonach die Vertragsstaaten des Paktes sich verpflichten, zu gewährleisten,
dass die in diesem verkündeten Rechte ohne Diskriminierung u. a. hinsichtlich der nationalen Herkunft ausgeübt werden. Dagegen
verlangt Art. 13 Abs. 2 Buchst. c des Paktes von einem Vertragsstaat nicht und gestattet es ihm auch nicht, einen breiten
Zugang zu einem Hochschulunterricht von guter Qualität nur für seine eigenen Staatsangehörigen zu gewährleisten.
(vgl. Randnrn. 86-88, Tenor 2)
URTEIL DES GERICHTSHOFS (Große Kammer)
13. April 2010(*)
„Unionsbürgerschaft – Art. 18 und 21 AEUV – Richtlinie 2004/38/EG – Art. 24 Abs. 1 – Aufenthaltsfreiheit – Diskriminierungsverbot – Zugang zum Hochschulunterricht – Studierende aus einem Mitgliedstaat, die sich in einen anderen Mitgliedstaat begeben, um dort eine Ausbildung zu absolvieren
– Kontingentierung der Einschreibung von nichtansässigen Studierenden für Studiengänge an Universitäten im Bereich des Gesundheitswesens
– Rechtfertigung – Verhältnismäßigkeit – Gefahr für die Qualität des Unterrichts in den medizinischen und paramedizinischen Fächern – Gefahr eines Mangels an Absolventen in den Berufssektoren des Gesundheitswesens“
In der Rechtssache C‑73/08
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 234 EG, eingereicht vom Verfassungsgerichtshof (Belgien) mit Entscheidung
vom 14. Februar 2008, beim Gerichtshof eingegangen am 22. Februar 2008, in dem Verfahren
Nicolas Bressol u. a.,
Céline Chaverot u. a.
gegen
Gouvernement de la Communauté française
erlässt
DER GERICHTSHOF (Große Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten V. Skouris, der Kammerpräsidenten J. N. Cunha Rodrigues, K. Lenaerts und J.‑C. Bonichot,
der Kammerpräsidentinnen R. Silva de Lapuerta und C. Toader sowie der Richter C. W. A. Timmermans, A. Rosas, K. Schiemann,
J. Malenovský (Berichterstatter), T. von Danwitz, A. Arabadjiev und J.‑J. Kasel,
Generalanwältin: E. Sharpston,
Kanzler: M.‑A. Gaudissart, Referatsleiter,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 3. März 2009,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
– der Kläger Bressol u. a., vertreten durch M. Snoeck und J. Troeder, avocats,
– der Kläger Chaverot u. a., vertreten durch J. Troeder und M. Mareschal, avocats,
– der belgischen Regierung, vertreten durch L. Van den Broeck als Bevollmächtigte im Beistand von M. Nihoul, avocat,
– der österreichischen Regierung, vertreten durch E. Riedl als Bevollmächtigten,
– der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, vertreten durch C. Cattabriga und G. Rozet als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge der Generalanwältin in der Sitzung vom 25. Juni 2009
folgendes
Urteil
1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Art. 12 Abs. 1 EG und 18 Abs. 1 EG in Verbindung mit Art. 149 Abs. 1
und 2 EG und Art. 150 Abs. 2 EG.
2 Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen von Rechtsstreitigkeiten zwischen den Klägern Bressol u. a. und Chaverot u. a. einerseits
und jeweils der Regierung der Französischen Gemeinschaft andererseits über die Beurteilung der Verfassungsmäßigkeit des Dekrets
der Französischen Gemeinschaft vom 16. Juni 2006 zur Regelung der Studierendenzahl in bestimmten Studiengängen des ersten
Zyklus des Hochschulunterrichts (Moniteur belge vom 6. Juli 2006, S. 34055, im Folgenden: Dekret vom 16. Juni 2006).
Rechtlicher Rahmen
Völkerrecht
3 Art. 2 Abs. 2 des von der Generalversammlung der Vereinten Nationen am 16. Dezember 1966 angenommenen und am 3. Januar 1976
in Kraft getretenen Internationalen Paktes über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (im Folgenden: Pakt) lautet:
„Die Vertragsstaaten verpflichten sich, zu gewährleisten, dass die in diesem Pakt verkündeten Rechte ohne Diskriminierung
hinsichtlich … der nationalen … Herkunft … ausgeübt werden.“
4 In Art. 13 Abs. 2 Buchst. c des Paktes heißt es:
„Die Vertragsstaaten erkennen an, dass im Hinblick auf die volle Verwirklichung [des Rechts eines jeden auf Bildung]“
…
c) der Hochschulunterricht auf jede geeignete Weise, insbesondere durch allmähliche Einführung der Unentgeltlichkeit, jedermann
gleichermaßen entsprechend seinen Fähigkeiten zugänglich gemacht werden muss;
…“
Unionsrecht
5 In den Erwägungsgründen 1, 3 und 20 der nach den Art. 12 Abs. 2 EG, 18 Abs. 2 EG, 40 EG, 44 EG und 52 EG erlassenen Richtlinie
2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen,
sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 und
zur Aufhebung der Richtlinien 64/221/EWG, 68/360/EWG, 72/194/EWG, 73/148/EWG, 75/34/EWG, 75/35/EWG, 90/364/EWG, 90/365/EWG
und 93/96/EWG (ABl. L 158, S. 77, berichtigt in ABl. 2004, L 229, S. 35, und ABl. 2007, L 204, S. 28) heißt es:
„(1) Die Unionsbürgerschaft verleiht jedem Bürger der Union das elementare und persönliche Recht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten
vorbehaltlich der im Vertrag und in den Durchführungsvorschriften vorgesehenen Beschränkungen und Bedingungen frei zu bewegen
und aufzuhalten.
…
(3) Die Unionsbürgerschaft sollte der grundsätzliche Status der Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten sein, wenn sie ihr Recht
auf Freizügigkeit und Aufenthalt wahrnehmen. Daher müssen die bestehenden Gemeinschaftsinstrumente, die Arbeitnehmer und Selbständige
sowie Studierende und andere beschäftigungslose Personen getrennt behandeln, kodifiziert und überarbeitet werden, um das Freizügigkeits-
und Aufenthaltsrecht aller Unionsbürger zu vereinfachen und zu verstärken.
…
(20) Das Verbot der Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit erfordert, dass alle Unionsbürger und ihre Familienangehörigen,
die sich aufgrund dieser Richtlinie in einem Mitgliedstaat aufhalten, in diesem Mitgliedstaat in den Anwendungsbereichen des
Vertrags die gleiche Behandlung wie Inländer genießen; dies gilt vorbehaltlich spezifischer und ausdrücklich im Vertrag und
im abgeleiteten Recht vorgesehener Bestimmungen.“
6 Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 bestimmt:
„Diese Richtlinie gilt für jeden Unionsbürger, der sich in einen anderen als den Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit
er besitzt, begibt oder sich dort aufhält, sowie für seine Familienangehörigen …“
7 Art. 24 („Gleichbehandlung“) Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 lautet:
„Vorbehaltlich spezifischer und ausdrücklich im Vertrag und im abgeleiteten Recht vorgesehener Bestimmungen genießt jeder
Unionsbürger, der sich aufgrund dieser Richtlinie im Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats aufhält, im Anwendungsbereich
des Vertrags die gleiche Behandlung wie die Staatsangehörigen dieses Mitgliedstaats. Das Recht auf Gleichbehandlung erstreckt
sich auch auf Familienangehörige, die nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzen und das Recht auf Aufenthalt
oder das Recht auf Daueraufenthalt genießen.“
Nationales Recht
8 Nach dem Dekret vom 16. Juni 2006 sind die Universitäten und Hochschulen der Französischen Gemeinschaft verpflichtet, die
Zahl der zum Zeitpunkt ihrer Einschreibung als im Sinne dieses Dekrets nicht in Belgien ansässig angesehenen Studierenden
(im Folgenden: nichtansässige Studierende), die sich zum ersten Mal für einen der neun von diesem Dekret erfassten medizinischen
und paramedizinischen Studiengänge einschreiben können, unter Beachtung bestimmter Modalitäten zu beschränken.
9 Art. 1 des Dekrets vom 16. Juni 2006 lautet:
„Unter einem ansässigen Studierenden im Sinne dieses Dekrets ist ein Studierender zu verstehen, der zum Zeitpunkt seiner Einschreibung
in einer Hochschuleinrichtung den Beweis erbringt, dass er seinen Hauptwohnort in Belgien hat und folgende Bedingungen erfüllt:
1. Er ist berechtigt, sich ständig in Belgien aufzuhalten;
2. er hat zum Zeitpunkt seiner Einschreibung in einer Hochschuleinrichtung seit wenigstens sechs Monaten seinen Hauptwohnort
in Belgien und dort eine Berufstätigkeit als Lohnempfänger oder Nichtlohnempfänger ausgeübt oder ein durch einen belgischen
öffentlichen Dienst gewährtes Ersatzeinkommen erhalten;
3. er besitzt die Erlaubnis für den Aufenthalt für unbestimmte Dauer auf der Grundlage der [belgischen Rechtsvorschriften];
4. er besitzt die Erlaubnis für den Aufenthalt in Belgien durch die Anerkennung als Flüchtling aufgrund [der belgischen Rechtsvorschriften]
oder eines entsprechenden Antrags;
5. er besitzt die Erlaubnis für den Aufenthalt in Belgien mit dem zeitweiligen Schutz im Sinne [der einschlägigen belgischen
Bestimmungen];
6. er hat als Vater, Mutter, gesetzlichen Vormund oder Ehegatten eine Person, die eine der vorstehenden Bedingungen erfüllt;
7. er hat zum Zeitpunkt der Einschreibung in einer Hochschuleinrichtung seinen Hauptwohnort seit mindestens drei Jahren in Belgien;
8. er ist Inhaber einer Bescheinigung als Stipendiat, die im Rahmen der Entwicklungszusammenarbeit für das akademische Jahr und
für die Studien ausgestellt wurde, für die der Antrag auf Einschreibung eingereicht wird.
Unter ‚Recht auf ständigen Aufenthalt‘ im Sinne von Abs. 1 Nr. 1 ist für die Staatsbürger eines anderen Mitgliedstaats der
Europäischen Union das Recht zu verstehen, das aufgrund der Art. 16 und 17 der [Richtlinie 2004/38] anerkannt wird …“
10 Kapitel II des Dekrets, das aus den Art. 2 bis 5 besteht, enthält Bestimmungen über den Zugang zu Universitäten.
11 Art. 2 des Dekrets vom 16. Juni 2006 lautet:
„Die akademischen Behörden begrenzen die Zahl der Studierenden, die sich zum ersten Mal in einer Universität der Französischen
Gemeinschaft für einen Studiengang im Sinne von Art. 3 einschreiben, auf die in Art. 4 vorgesehene Weise.
…“
12 Art. 3 des Dekrets vom 16. Juni 2006 bestimmt:
„Die Bestimmungen dieses [Kapitels II] finden Anwendung auf die Studiengänge, die zu den folgenden akademischen Graden führen:
1. Bachelor in Heilgymnastik und Rehabilitation;
2. Bachelor in Veterinärmedizin.“
13 Art. 4 des Dekrets vom 16. Juni 2006 lautet:
„Für jede Universitätseinrichtung und jeden Studiengang im Sinne von Art. 3 wird eine Zahl T festgesetzt, die der Gesamtzahl
der Studierenden entspricht, die sich zum ersten Mal für den betreffenden Studiengang einschreiben und für die Finanzierung
berücksichtigt werden, sowie eine Zahl NR, die der Zahl der Studierenden entspricht, die sich zum ersten Mal für den betreffenden
Studiengang einschreiben und nicht als ansässige Studierende im Sinne von Art. 1 angesehen werden.
Wenn das Verhältnis zwischen einerseits der Zahl NR und andererseits der Zahl T des vorangegangenen akademischen Jahres einen
Prozentsatz P erreicht, verweigern die akademischen Behörden die Einschreibung zusätzlicher Studierender, die nie für den
betreffenden Studiengang eingeschrieben waren und nicht als ansässige Studierende im Sinne von Art. 1 angesehen werden.
Der Satz P im vorstehenden Absatz wird auf 30 % festgesetzt. Wenn jedoch für ein akademisches Jahr der Anteil der Studierenden,
die ihr Studium anderswo fortsetzen als in dem Land, in dem sie ihr Sekundarschuldiplom erlangt haben, mehr als durchschnittlich
10 % in sämtlichen Hochschuleinrichtungen der Europäischen Union beträgt, entspricht der Satz P für das darauffolgende akademische
Jahr diesem Prozentsatz, multipliziert mit drei.“
14 Art. 5 des Dekrets vom 16. Juni 2006 bestimmt:
„… Studierende, die nicht als ansässige Studierende im Sinne von Art. 1 angesehen werden, [müssen] ihren Antrag auf Einschreibung
für einen der Studiengänge im Sinne von Art. 3 frühestens am dritten Werktag vor dem 2. September vor dem betreffenden akademischen
Jahr stellen …
…
In Abweichung von Abs. 1 wird für die nicht ansässigen Studierenden, die spätestens am letzten Werktag vor dem 2. September
vor dem akademischen Jahr vorstellig werden, um einen Antrag auf Einschreibung für einen der Studiengänge im Sinne von Art. 3
einzureichen, wenn die Zahl dieser somit vorstellig gewordenen Studierenden höher als die in Art. 4 Abs. 2 vorgesehene Zahl
NR ist, die Reihenfolge dieser Studierenden durch das Los bestimmt. …
…“
15 Kapitel III des Dekrets vom 16. Juni 2006, das aus den Art. 6 bis 9 besteht, enthält Bestimmungen über den Zugang zu Hochschulen.
Die Bestimmungen der Art. 6 Abs. 1, 8 und 9 entsprechen denen der Art. 2 Abs. 1, 4 und 5 dieses Dekrets.
16 Nach Art. 7 dieses Dekrets finden diese Bestimmungen Anwendung auf die Studiengänge, die zu folgenden akademischen Graden
führen:
„1. Hebamme-Bachelor;
2. Bachelor in Ergotherapie;
3. Bachelor in Logopädie;
4. Bachelor in Podologie-Podotherapie;
5. Bachelor in Heilgymnastik;
6. Bachelor in Audiologie;
7. spezialisierte(r) Erzieher(in) in psycho-erzieherischer Begleitung.“
Ausgangsrechtsstreitigkeiten und Vorlagefragen
17 Das Hochschulbildungssystem der Französischen Gemeinschaft beruht auf einem freien Zugang zur Ausbildung, bei dem die Studierenden
keiner Einschreibungsbeschränkung unterliegen.
18 Seit mehreren Jahren verzeichnet diese Gemeinschaft jedoch eine deutliche Zunahme der Zahl der Studierenden aus anderen Mitgliedstaaten
als dem Königreich Belgien, die sich an Einrichtungen ihres Hochschulbildungssystems einschreiben, und zwar insbesondere für
neun medizinische und paramedizinische Studiengänge. Der Vorlageentscheidung nach beruht diese Zunahme insbesondere auf dem
Zustrom französischer Studierender in die Französische Gemeinschaft, da dort der Hochschulunterricht in derselben Sprache
wie in Frankreich angeboten wird und die Französische Republik den Zugang zu den betroffenen Studiengängen beschränkt hat.
19 Die Französische Gemeinschaft war der Ansicht, dass die Zahl solcher Studierender in den genannten Studiengängen zu hoch geworden
sei, und erließ daher das Dekret vom 16. Juni 2006.
20 Am 9. August bzw. 13. Dezember 2006 reichten die Kläger der Ausgangsverfahren beim Verfassungsgerichtshof eine Klage auf Nichtigerklärung
dieses Dekrets ein.
21 Die Kläger sind zu einem Teil Studierende insbesondere französischer Staatsangehörigkeit, die keiner der in Art. 1 des Dekrets
vom 16. Juni 2006 genannten Kategorien angehören und für das Studienjahr 2006/2007 die Einschreibung an einer Hochschuleinrichtung
der Französischen Gemeinschaft für einen der in diesem Dekret genannten Studiengänge beantragt hatten.
22 Da die Zahl der nichtansässigen Studierenden die mit dem genannten Dekret festgesetzte Grenze überstieg, veranstalteten die
betroffenen Einrichtungen unter diesen Studierenden eine Auslosung, bei der die Kläger der Ausgangsverfahren leer ausgingen.
Ihre Anträge auf Einschreibung wurden daher von den betroffenen Einrichtungen abgelehnt.
23 Zu einem anderen Teil sind die Kläger Lehrer an vom Dekret vom 16. Juni 2006 betroffenen Universitäten und Hochschulen, die
in der Anwendung dieses Dekrets eine direkte und unmittelbare Gefahr für ihre Beschäftigung sehen, da es letztlich zu einer
Verringerung der Zahl der bei ihren Bildungseinrichtungen eingeschriebenen Studierenden führe.
24 Zur Begründung ihrer Klagen machen die Kläger der Ausgangsverfahren insbesondere geltend, dass das Dekret vom 16. Juni 2006
gegen den Grundsatz der Nichtdiskriminierung verstoße, da danach ansässige und nichtansässige Studierende ohne zutreffende
Rechtfertigung unterschiedlich behandelt würden. Während nämlich ansässige Studierende nach diesem Dekret weiter freien Zugang
zu den erfassten Studiengängen hätten, sei für nichtansässige Studierende der Zugang auf eine solche Weise beschränkt, dass
die Zahl der für diese Studiengänge eingeschriebenen Studierenden dieser Kategorie die Grenze von 30 % nicht übersteigen könne.
25 Das vorlegende Gericht hat Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Dekrets vom 16. Juni 2006 und ist der Auffassung, dass die Bestimmungen
der belgischen Verfassung, deren Einhaltung zu überprüfen es zuständig sei und deren Verletzung behauptet werde, in Verbindung
mit den Art. 12 Abs. 1 EG, 18 Abs. 1 EG, 149 Abs. 1 und 2 zweiter Gedankenstrich EG und 150 Abs. 2 dritter Gedankenstrich
EG auszulegen seien.
26 Unter diesen Umständen hat der Verfassungsgerichtshof die Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung
vorgelegt:
1. Sind die Art. 12 Abs. 1 EG und 18 Abs. 1 EG in Verbindung mit Art. 149 Abs. 1 und 2 zweiter Gedankenstrich EG sowie mit Art. 150
Abs. 2 dritter Gedankenstrich EG in dem Sinne auszulegen, dass diese Bestimmungen verhindern, dass eine für den Hochschulunterricht
zuständige autonome Gemeinschaft eines Mitgliedstaats, die mit einem Zustrom von Studierenden eines benachbarten Mitgliedstaats
in mehreren, hauptsächlich mit öffentlichen Mitteln finanzierten Ausbildungen medizinischer Art konfrontiert ist, und zwar
infolge einer restriktiven Politik dieses benachbarten Mitgliedstaats, Maßnahmen ergreift, wie sie im Dekret [vom 16. Juni
2006] festgelegt sind, wenn diese Gemeinschaft triftige Gründe dafür anführt, dass diese Situation die öffentlichen Finanzen
übermäßig zu belasten und die Qualität des erteilten Unterrichts zu beeinträchtigen droht?
2. Macht es für die Beantwortung der ersten Frage einen Unterschied, wenn diese Gemeinschaft beweist, dass diese Situation zur
Folge hat, dass zu wenig in dieser Gemeinschaft ansässige Studierende ihr Diplom erhalten, damit auf Dauer genug medizinische
Fachkräfte vorhanden sind, um die Qualität des öffentlichen Gesundheitssystems in dieser Gemeinschaft zu gewährleisten?
3. Macht es für die Beantwortung der ersten Frage einen Unterschied, wenn diese Gemeinschaft unter Berücksichtigung von Art. 149
Abs. 1 a. E. EG und Art. 13 Abs. 2 Buchst. c des Paktes, der eine Stillhalteverpflichtung enthält, sich für die Aufrechterhaltung
eines breiten und demokratischen Zugangs zu einem Hochschulunterricht von guter Qualität für die Bevölkerung dieser Gemeinschaft
entscheidet?
Zur ersten und zur zweiten Frage
27 Mit seinen ersten beiden Fragen, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob das Unionsrecht einer
Regelung eines Mitgliedstaats wie der in den Ausgangsverfahren streitigen entgegensteht, nach der die Zahl der nichtansässigen
Studierenden, die sich zum ersten Mal für einen medizinischen oder paramedizinischen Studiengang an einer Hochschuleinrichtung
einschreiben können, beschränkt wird, wenn dieser Mitgliedstaat infolge einer restriktiven Politik eines Nachbarmitgliedstaats
einem Zustrom von Studierenden aus diesem ausgesetzt ist und diese Situation dazu führt, dass zu wenig Studierende aus dem
erstgenannten Mitgliedstaat in diesen Studiengängen ein Diplom erhalten.
Zur Zuständigkeit der Mitgliedstaaten im Bildungsbereich
28 Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass das Unionsrecht zwar – nach den Art. 165 Abs. 1 und 166 Abs. 1 AEUV – die Zuständigkeit
der Mitgliedstaaten zur Gestaltung ihrer Bildungssysteme und Systeme der beruflichen Bildung unberührt lässt, dass die Mitgliedstaaten
jedoch bei der Ausübung dieser Zuständigkeit das Unionsrecht und insbesondere die Bestimmungen über die Freizügigkeit und
die Aufenthaltsfreiheit beachten müssen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 11. September 2007, Schwarz und Gootjes-Schwarz,
C‑76/05, Slg. 2007, I‑6849, Randnr. 70, sowie vom 23. Oktober 2007, Morgan und Bucher, C‑11/06 und C‑12/06, Slg. 2007, I‑9161,
Randnr. 24).
29 Die Mitgliedstaaten sind somit frei, sich für ein Bildungssystem zu entscheiden, das auf einem freien Zugang zur Ausbildung
beruht – ohne Beschränkung der Zahl der Studierenden, die sich einschreiben können –, oder für ein System, das auf einem regulierten
Zugang beruht, bei dem die Studierenden ausgewählt werden. Haben sie sich jedoch einmal für eines dieser Systeme oder für
eine Kombination derselben entschieden, müssen die Modalitäten des gewählten Systems dem Unionsrecht und insbesondere dem
Grundsatz der Nichtdiskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit entsprechen.
Zur Bestimmung der in den Ausgangsrechtsstreitigkeiten anwendbaren Vorschriften
30 Nach Art. 21 Abs. 1 AEUV hat jeder Unionsbürger das Recht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten vorbehaltlich der in
den Verträgen und in den Durchführungsvorschriften vorgesehenen Beschränkungen und Bedingungen frei zu bewegen und aufzuhalten.
31 Im Übrigen kann sich nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs jeder Unionsbürger in allen Situationen, die in den sachlichen
Anwendungsbereich des Unionsrechts fallen, auf Art. 18 AEUV berufen, der jede Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit
verbietet, wobei zu diesen Situationen auch die Ausübung der durch Art. 21 AEUV verliehenen Freiheit gehört, sich im Hoheitsgebiet
der Mitgliedstaaten zu bewegen und aufzuhalten (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 2. Oktober 2003, Garcia Avello, C‑148/02,
Slg. 2003, I‑11613, Randnr. 24, vom 15. März 2005, Bidar, C‑209/03, Slg. 2005, I‑2119, Randnrn. 32 und 33, und vom 18. November
2008, Förster, C‑158/07, Slg. 2008, I‑8507, Randnrn. 36 und 37).
32 Zudem ergibt sich aus dieser Rechtsprechung, dass dieses Verbot auch Situationen erfasst, die die Voraussetzungen für den
Zugang zur Berufsausbildung betreffen, wobei sowohl das Hochschul- als auch das Universitätsstudium eine Berufsausbildung
darstellen (Urteil vom 7. Juli 2005, Kommission/Österreich, C‑147/03, Slg. 2005, I‑5969, Randnrn. 32 und 33 sowie die dort
angeführte Rechtsprechung).
33 Folglich können sich die in den Ausgangsverfahren in Rede stehenden Studierenden auf das in den Art. 18 und 21 AEUV verankerte
Recht berufen, sich im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats wie des Königreichs Belgien ohne unmittelbare oder mittelbare Diskriminierung
aus Gründen der Staatsangehörigkeit frei zu bewegen und aufzuhalten.
34 Gleichwohl lässt sich nicht ausschließen, dass die Situation einiger Kläger der Ausgangsverfahren möglicherweise unter Art. 24
Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 fällt, der für jeden Unionsbürger, der sich aufgrund dieser Richtlinie im Hoheitsgebiet des
Aufnahmemitgliedstaats aufhält, gilt.
35 Hierzu ist erstens festzustellen, dass aus den Akten hervorgeht, dass die in den Ausgangsverfahren in Rede stehenden Studierenden
Unionsbürger sind.
36 Zweitens ist der Umstand, dass sie in Belgien möglicherweise keine wirtschaftliche Tätigkeit ausüben, unerheblich, da die
Richtlinie 2004/38 für alle Unionsbürger unabhängig davon gilt, ob sie im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats als Arbeitnehmer
oder als Selbständige wirtschaftlich tätig sind oder nicht.
37 Drittens lässt sich nicht ausschließen, dass sich einige Kläger der Ausgangsverfahren bereits in Belgien aufhielten, bevor
sie beschlossen, sich für einen der fraglichen Studiengänge einzuschreiben.
38 Viertens ist festzustellen, dass die Richtlinie 2004/38 zeitlich auf die Ausgangsrechtsstreitigkeiten anwendbar ist. Die Mitgliedstaaten
hatten diese Richtlinie nämlich bis zum 30. April 2006 umzusetzen, und das streitige Dekret wurde am 16. Juni 2006, also nach
diesem Zeitpunkt, erlassen. Zudem steht fest, dass die in den Ausgangsverfahren in Rede stehenden Studierenden bei den betroffenen
Hochschuleinrichtungen für das akademische Jahr 2006/2007 ihre Einschreibung beantragt hatten und diese auf der Grundlage
dieses Dekrets abgelehnt worden war. Ihre Anträge müssen also zwangsläufig nach dem 30. April 2006 abgelehnt worden sein.
39 Da der Gerichtshof jedoch nicht über alle Anhaltspunkte verfügt, die es ermöglichen würden, festzustellen, dass die Situation
der Kläger der Ausgangsverfahren auch unter Art. 24 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 fällt, ist es Sache des vorlegenden Gerichts,
zu beurteilen, ob diese Bestimmung tatsächlich auf die Ausgangsrechtsstreitigkeiten Anwendung findet.
Zum Vorliegen einer Ungleichbehandlung
40 Das Diskriminierungsverbot erfasst nicht nur unmittelbare Diskriminierungen aus Gründen der Staatsangehörigkeit, sondern auch
alle Formen der mittelbaren Diskriminierung, die durch die Anwendung anderer Unterscheidungsmerkmale tatsächlich zu dem gleichen
Ergebnis führen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 18. Juli 2007, Hartmann, C‑212/05, Slg. 2007, I‑6303, Randnr. 29).
41 Eine Vorschrift des nationalen Rechts ist, sofern sie nicht objektiv gerechtfertigt ist und in einem angemessenen Verhältnis
zum verfolgten Zweck steht, als mittelbar diskriminierend anzusehen, wenn sie sich ihrem Wesen nach eher auf Angehörige anderer
Mitgliedstaaten als auf Inländer auswirken kann und folglich die Gefahr besteht, dass sie die Erstgenannten besonders benachteiligt
(vgl. in diesem Sinne Urteile vom 30. November 2000, Österreichischer Gewerkschaftsbund, C‑195/98, Slg. 2000, I‑10497, Randnr.
40, und Hartmann, Randnr. 30).
42 Was die Ausgangsverfahren angeht, sieht das Dekret vom 16. Juni 2006 vor, dass zu den von diesem Dekret erfassten medizinischen
und paramedizinischen Studiengängen nur ansässige Studierende unbeschränkten Zugang erhalten, d. h. jene, die die Voraussetzung
des Hauptwohnorts in Belgien und eine der acht weiteren, alternativen Voraussetzungen des Art. 1 Abs. 1 Nrn. 1 bis 8 dieses
Dekrets erfüllen.
43 Studierende, die diese Voraussetzungen nicht erfüllen, erhalten dagegen nur einen beschränkten Zugang zu diesen Einrichtungen,
da die Gesamtzahl solcher Studierenden je Hochschuleinrichtung und Studiengang grundsätzlich auf 30 % aller Einschreibungen
des vorangegangenen akademischen Jahrs begrenzt ist. Im Rahmen dieses für sie vorgesehenen prozentualen Anteils werden die
nichtansässigen Studierenden, die eingeschrieben werden, durch Auslosung ermittelt.
44 Die streitige nationale Regelung bewirkt somit eine Ungleichbehandlung zwischen ansässigen und nichtansässigen Studierenden.
45 Ein Erfordernis der Ansässigkeit wie das nach dieser Regelung geltende wird jedoch von Inländern, die meist in Belgien ansässig
sind, leichter erfüllt als von Angehörigen anderer Mitgliedstaaten, die in der Regel in einem anderen Mitgliedstaat als Belgien
wohnen (vgl. entsprechend Urteile vom 8. Juni 1999, Meeusen, C‑337/97, Slg. 1999, I‑3289, Randnrn. 23 und 24, sowie Hartmann,
Randnr. 31).
46 Folglich wirkt sich die in den Ausgangsverfahren streitige nationale Regelung, wie die belgische Regierung im Übrigen einräumt,
ihrem Wesen nach auf Angehörige anderer Mitgliedstaaten als des Königreichs Belgien eher aus als auf Inländer und benachteiligt
somit die Erstgenannten besonders.
Zur Rechtfertigung der Ungleichbehandlung
47 Wie in Randnr. 41 des vorliegenden Urteils festgestellt, ist eine Ungleichbehandlung wie die durch das Dekret vom 16. Juni
2006 eingeführte eine mittelbare Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit, die verboten ist, sofern sie nicht objektiv
gerechtfertigt ist.
48 Um gerechtfertigt zu sein, muss die betroffene Maßnahme geeignet sein, die Erreichung des mit ihr verfolgten Ziels zu gewährleisten,
und sie darf nicht über das hinausgehen, was zur Erreichung dieses Ziels erforderlich ist (vgl. in diesem Sinne Urteile vom
16. Oktober 2008, Renneberg, C‑527/06, Slg. 2008, I‑7735, Randnr. 81, und vom 19. Mai 2009, Apothekerkammer des Saarlandes
u. a., C‑171/07 und C‑172/07, Slg. 2009, I‑0000, Randnr. 25).
Zur Rechtfertigung mit übermäßigen Belastungen zur Finanzierung des Hochschulunterrichts
49 Die belgische Regierung macht mit Unterstützung der österreichischen Regierung zunächst geltend, die Ungleichbehandlung von
ansässigen und nichtansässigen Studierenden sei notwendig, um übermäßige Belastungen zur Finanzierung des Hochschulunterrichts
zu vermeiden, die sich daraus ergäben, dass ohne unterschiedliche Behandlung die Zahl der an Hochschuleinrichtungen der Französischen
Gemeinschaft eingeschriebenen nichtansässigen Studierenden ein übermäßig hohes Niveau erreichen würde.
50 Hierzu ist festzustellen, dass nach den Ausführungen der Französischen Gemeinschaft, wie sie sich aus der Vorlageentscheidung
ergeben, die finanzielle Belastung keinen entscheidenden Grund für den Erlass des Dekrets vom 16. Juni 2006 darstellt. Diesen
Ausführungen zufolge wird nämlich das Bildungswesen auf der Grundlage eines Systems der „geschlossenen Dotierung“ finanziert,
bei dem die globale Mittelzuweisung nicht von der Gesamtzahl der Studierenden abhängt.
51 Unter diesen Umständen kann die Sorge vor einer übermäßigen Belastung zur Finanzierung des Hochschulunterrichts keine Ungleichbehandlung
zwischen ansässigen und nichtansässigen Studierenden rechtfertigen.
Zur Rechtfertigung mit der Wahrung der Einheitlichkeit des Systems des Hochschulunterrichts
52 Die belgische Regierung macht mit Unterstützung der österreichischen Regierung geltend, dass die Teilnahme von nichtansässigen
Studierenden an den betroffenen Studiengängen ein Niveau erreicht habe, das wegen der immanenten Begrenztheit der Aufnahmekapazität
der Hochschuleinrichtungen und ihrer Personaldecke eine Verringerung der Qualität des Hochschulunterrichts zur Folge haben
könnte. Um die Einheitlichkeit dieses Systems zu wahren und der Bevölkerung der Französischen Gemeinschaft einen breiten und
demokratischen Zugang zu einem Hochschulunterricht von guter Qualität zu sichern, sei es geboten, zwischen den ansässigen
und den nichtansässigen Studierenden eine Ungleichbehandlung einzuführen und die Zahl der Letztgenannten zu begrenzen.
53 Es lässt sich zwar nicht ohne Weiteres ausschließen, dass es zur Vermeidung einer Gefahr für den Bestand eines nationalen
Bildungssystems und seine Einheitlichkeit gerechtfertigt sein könnte, bestimmte Studierende ungleich zu behandeln (vgl. in
diesem Sinne Urteil Kommission/Österreich, Randnr. 66).
54 Die hierzu vorgetragenen Rechtfertigungsgründe stimmen jedoch mit jenen überein, die mit dem Schutz der öffentlichen Gesundheit
zusammenhängen. Sie sind daher allein unter dem Gesichtspunkt der Rechtfertigungen zu prüfen, die aus den mit dem Schutz der
öffentlichen Gesundheit zusammenhängenden Erfordernissen hergeleitet werden.
Zur Rechtfertigung mit Erfordernissen der öffentlichen Gesundheit
– Beim Gerichtshof eingereichte Erklärungen
55 Die belgische Regierung macht mit Unterstützung der österreichischen Regierung geltend, die in den Ausgangsverfahren streitige
Regelung sei erforderlich, um die Qualität und den Fortbestand der medizinischen und paramedizinischen Versorgung in der Französischen
Gemeinschaft sicherzustellen.
56 Die hohe Zahl der nichtansässigen Studierenden führe erstens zu einer erheblichen Minderung der Unterrichtsqualität in den
medizinischen und paramedizinischen Studiengängen, die insbesondere viele Stunden an praktischer Ausbildung erfordere. Es
habe sich herausgestellt, dass eine solche Ausbildung ab einer gewissen Zahl von Studierenden nicht ordnungsgemäß durchgeführt
werden könne, da die Aufnahmekapazität der Hochschuleinrichtungen, ihre Personaldecke und die Möglichkeiten der praktischen
Ausbildung nicht unbegrenzt seien.
57 Zur Verdeutlichung der im Unterricht auftretenden Schwierigkeiten führt die belgische Regierung u. a. die Situation im Bereich
des Studiengangs Veterinärmedizin an. Auf der Grundlage der Qualitätsnormen für die Veterinärausbildung – u. a. müsse jeder
Studierende ein klinisches Praktikum an einer ausreichenden Anzahl von Tieren absolvieren – sei festgestellt worden, dass
in der Französischen Gemeinschaft im zweiten Zyklus des Hochschulstudiums nicht mehr als 200 Veterinäre pro Jahr ausgebildet
werden könnten. Wegen eines Zustroms nichtansässiger Studierender sei jedoch die Gesamtzahl der in den sechs Studienjahren
eingeschriebenen Studierenden von 1 233 im akademischen Jahr 1995/1996 auf 2 343 im akademischen Jahr 2002/2003 gestiegen.
58 In den anderen von dem Dekret vom 16. Juni 2006 erfassten Studiengängen sei die Situation ähnlich.
59 Zweitens könnte die hohe Zahl nichtansässiger Studierender letztlich im gesamten Gebiet zu einer Knappheit an medizinischen
Fachkräften führen, was das öffentliche Gesundheitssystem in der Französischen Gemeinschaft gefährden würde. Diese Gefahr
ergebe sich daraus, dass die nichtansässigen Studierenden nach dem Studium in ihre Herkunftsländer zurückkehrten, um dort
ihren Beruf auszuüben, während es in bestimmten Fachgebieten weiter zu wenig ansässige Absolventen gebe.
60 Die Kläger der Ausgangsverfahren machen insbesondere geltend, sofern diese zur Rechtfertigung angeführten Gründe zulässig
sein sollten, habe die belgische Regierung das tatsächliche Vorliegen der genannten Umstände nicht nachgewiesen.
61 Die Kommission trägt vor, sie nehme die von der belgischen Regierung angeführten Gefahren sehr ernst. Doch reiche ihr bisheriger
Kenntnisstand nicht aus, um sich zur sachlichen Richtigkeit der Rechtfertigung zu äußern.
– Antwort des Gerichtshofs
62 Aus der Rechtsprechung geht hervor, dass eine mittelbar auf der Staatsangehörigkeit beruhende Ungleichbehandlung durch das
Ziel der Aufrechterhaltung einer qualitativ hochwertigen, ausgewogenen und allgemein zugänglichen medizinischen Versorgung
gerechtfertigt sein kann, wenn es zur Erreichung eines hohen Niveaus des Gesundheitsschutzes beiträgt (vgl. in diesem Sinne
Urteil vom 10. März 2009, Hartlauer, C‑169/07, Slg. 2009, I‑0000, Randnr. 47 und die dort angeführte Rechtsprechung).
63 Somit ist zu prüfen, ob die in den Ausgangsverfahren streitige Regelung geeignet ist, die Erreichung dieses Ziels zu gewährleisten,
und ob sie nicht über das hinausgeht, was zu dessen Erreichung erforderlich ist.
64 Es ist letztlich Sache des nationalen Gerichts, das allein für die Beurteilung des Sachverhalts des Ausgangsrechtsstreits
sowie für die Auslegung des nationalen Rechts zuständig ist, zu bestimmen, ob und inwieweit eine solche Regelung diesen Anforderungen
entspricht (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 13. Juli 1989, Rinner-Kühn, 171/88, Slg. 1989, 2743, Randnr. 15, und vom 23.
Oktober 2003, Schönheit und Becker, C‑4/02 und C‑5/02, Slg. 2003, I‑12575, Randnr. 82).
65 Der Gerichtshof, der dazu aufgerufen ist, dem nationalen Gericht zweckdienliche Antworten zu geben, ist jedoch befugt, dem
vorlegenden Gericht auf der Grundlage der Akten des Ausgangsverfahrens und der vor ihm abgegebenen schriftlichen und mündlichen
Erklärungen Hinweise zu geben, die diesem Gericht eine Entscheidung ermöglichen (Urteile vom 20. März 2003, Kutz-Bauer, C‑187/00,
Slg. 2003, I‑2741, Randnr. 52, sowie Schönheit und Becker, Randnr. 83).
66 Als Erstes wird das vorlegende Gericht zu prüfen haben, ob der Schutz der öffentlichen Gesundheit wirklich gefährdet ist.
67 Dabei kann nicht von vornherein ausgeschlossen werden, dass eine etwaige Verringerung der Qualität der Ausbildung des künftigen
medizinischen Personals letztlich die Qualität der Versorgung in dem betroffenen Gebiet beeinträchtigt, da die Qualität der
medizinischen oder paramedizinischen Versorgung in einem bestimmten Gebiet von den Befähigungen des dort tätigen medizinischen
Personals abhängt.
68 Auch ist nicht auszuschließen, dass eine etwaige Begrenzung der Gesamtzahl der Studierenden in den betreffenden Studiengängen
– u. a. um die Qualität der Ausbildung sicherzustellen – einen entsprechenden Rückgang der Zahl der Absolventen zur Folge
hat, die für die Gewährleistung der Gesundheitsversorgung in dem betroffenen Gebiet letztlich zur Verfügung stehen, was sich
dann auf das Niveau des Schutzes der öffentlichen Gesundheit auswirken könnte. Insoweit ist einzuräumen, dass ein Mangel an
medizinischem Personal schwerwiegende Probleme für den Schutz der öffentlichen Gesundheit mit sich brächte und dass es zur
Vermeidung dieser Gefahr erforderlich ist, dass in ausreichender Zahl Absolventen in dieses Gebiet ziehen, um dort einen der
von dem Dekret vom 16. Juni 2006 erfassten medizinischen oder paramedizinischen Berufe auszuüben.
69 Bei der Prüfung dieser Gefahren hat das vorlegende Gericht zunächst zu berücksichtigen, dass zwischen der Ausbildung des künftigen
medizinischen Personals und dem Ziel der Aufrechterhaltung einer qualitativ hochwertigen, ausgewogenen und allgemein zugänglichen
medizinischen Versorgung nur ein mittelbarer Zusammenhang besteht, der weniger kausal ist als der Zusammenhang zwischen dem
Ziel der öffentlichen Gesundheit und der Tätigkeit des bereits auf dem Markt verfügbaren medizinischen Personals (vgl. Urteile
Hartlauer, Randnrn. 51 bis 53, sowie Apothekerkammer des Saarlandes u. a., Randnrn. 34 bis 40). Die Würdigung eines solchen
Zusammenhangs hängt nämlich u. a. von einer Untersuchung der voraussichtlichen Entwicklung ab, bei der ausgehend von vielen
zufallsabhängigen und ungewissen Elementen extrapoliert und die künftige Entwicklung des betreffenden Gesundheitssektors berücksichtigt
werden muss, aber auch von einer Untersuchung der zum Ausgangszeitpunkt, d. h. gegenwärtig, bestehenden Situation.
70 Sodann hat das vorlegende Gericht bei der konkreten Würdigung des Sachverhalts der Ausgangsverfahren den Umstand zu berücksichtigen,
dass der Mitgliedstaat, wenn eine Ungewissheit hinsichtlich des Vorliegens oder der Bedeutung der Gefahren für die öffentliche
Gesundheit bleibt, Schutzmaßnahmen treffen kann, ohne warten zu müssen, bis es an medizinischem Personal fehlt (vgl. entsprechend
Urteil Apothekerkammer des Saarlandes u. a., Randnr. 30 und die dort angeführte Rechtsprechung). Dies hat auch dann zu gelten,
wenn die Qualität des Unterrichts in diesem Bereich gefährdet ist.
71 Der Nachweis, dass solche Gefahren tatsächlich bestehen, obliegt daher den zuständigen nationalen Stellen (vgl. entsprechend
Urteil Apothekerkammer des Saarlandes u. a., Randnr. 39). Nach ständiger Rechtsprechung ist es nämlich deren Sache, wenn sie
eine Maßnahme erlassen, die von einem im Unionsrecht verankerten Grundsatz abweicht, in jedem Einzelfall nachzuweisen, dass
diese Maßnahme geeignet ist, die Erreichung des mit ihr angestrebten Ziels zu gewährleisten, und nicht über das zu dessen
Erreichung Erforderliche hinausgeht. Neben den Rechtfertigungsgründen, die ein Mitgliedstaat geltend machen kann, muss dieser
daher eine Untersuchung zur Geeignetheit und Verhältnismäßigkeit der von ihm erlassenen Maßnahme vorlegen sowie genaue Angaben
zur Stützung seines Vorbringens machen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 18. März 2004, Leichtle, C‑8/02, Slg. 2004, I‑2641,
Randnr. 45, und Kommission/Österreich, Randnr. 63). Anhand einer solchen objektiven, eingehenden und auf Zahlenangaben gestützten
Untersuchung muss sich mittels zuverlässiger, übereinstimmender und beweiskräftiger Daten nachweisen lassen, dass die öffentliche
Gesundheit tatsächlich gefährdet ist.
72 In den Ausgangsverfahren muss diese Untersuchung u. a. für jeden der neun von dem Dekret vom 16. Juni 2006 erfassten Studiengänge
eine Bewertung ermöglichen, wie viele Studierende unter Beachtung der gewünschten Standards für die Ausbildungsqualität höchstens
ausgebildet werden können. Zudem muss darin angegeben werden, wie viele Absolventen zur Ausübung eines medizinischen oder
paramedizinischen Berufs in das Gebiet der Französischen Gemeinschaft ziehen müssen, damit eine ausreichende öffentliche Gesundheitsversorgung
gewährleistet ist.
73 Im Übrigen darf in der genannten Untersuchung nicht lediglich mit Zahlen der Studierenden dieser oder jener Gruppe gearbeitet
werden, die insbesondere auf der Extrapolation beruhen, dass sämtliche nichtansässigen Studierenden nach ihrem Studium zur
Ausübung eines der in den Ausgangsverfahren fraglichen Berufe in den Staat ziehen, in dem sie vor Aufnahme des Studiums ansässig
waren. In der Untersuchung muss folglich in Rechnung gestellt werden, welches Gewicht der Gruppe der nichtansässigen Studierenden
bei der Verfolgung des Ziels zukommt, in der Französischen Gemeinschaft eine Verfügbarkeit an Berufsangehörigen zu gewährleisten.
Überdies ist die Möglichkeit zu berücksichtigen, dass ansässige Studierende beschließen, nach ihrem Studium ihrem Beruf in
einem anderen Staat als dem Königreich Belgien nachzugehen. Ebenso ist zu berücksichtigen, in welchem Umfang Personen, die
nicht in der Französischen Gemeinschaft studiert haben, später dorthin ziehen, um einen der genannten Berufe auszuüben.
74 Die zuständigen Stellen haben dem vorlegenden Gericht eine diesen Anforderungen entsprechende Untersuchung vorzulegen.
75 Als Zweites hat das vorlegende Gericht, sofern es den Schutz der öffentlichen Gesundheit für tatsächlich gefährdet hält, zu
prüfen, ob in Anbetracht der Angaben der zuständigen Stellen die in den Ausgangsverfahren streitige Regelung als geeignet
angesehen werden kann, die Erreichung des Ziels des Schutzes der öffentlichen Gesundheit zu gewährleisten.
76 In diesem Zusammenhang hat es u. a. zu bewerten, ob eine Begrenzung der Zahl der nichtansässigen Studierenden tatsächlich
geeignet ist, die Zahl der Absolventen zu erhöhen, die für die Gewährleistung der Gesundheitsversorgung in der Französischen
Gemeinschaft letztlich zur Verfügung stehen.
77 Als Drittes hat das vorlegende Gericht zu beurteilen, ob die in den Ausgangsverfahren fragliche Regelung nicht über das hinausgeht,
was zur Erreichung des angeführten Ziels erforderlich ist, ob sich also dieses Ziel nicht mit weniger einschränkenden Maßnahmen
erreichen ließe.
78 Insoweit ist festzustellen, dass es Sache dieses Gerichts ist, insbesondere nachzuprüfen, ob das angeführte im Allgemeininteresse
liegende Ziel nicht durch weniger einschränkende Maßnahmen erreicht werden könnte, mit denen für Studierende, die ihr Studium
in der Französischen Gemeinschaft absolvieren, ein Anreiz geschaffen würde, nach Abschluss des Studiums dort zu bleiben, oder
für außerhalb der Französischen Gemeinschaft ausgebildete Berufsangehörige ein Anreiz, sich dort niederzulassen.
79 Ebenso ist es Sache des vorlegenden Gerichts, zu prüfen, ob die zuständigen Stellen die Erreichung dieses Ziels angemessen
mit den sich aus dem Unionsrecht ergebenden Erfordernissen in Einklang gebracht haben, insbesondere mit dem den Studierenden
aus anderen Mitgliedstaaten zustehenden Recht auf Zugang zum Hochschulunterricht, das zum Kernbereich des Grundsatzes der
Freizügigkeit der Studierenden gehört (vgl. in diesem Sinne Urteil Kommission/Österreich, Randnr. 70). Von einem Mitgliedstaat
eingeführte Einschränkungen des Zugangs zu diesem Unterricht müssen daher auf das beschränkt sein, was zur Erreichung der
verfolgten Ziele erforderlich ist, und müssen den genannten Studierenden einen ausreichend weiten Zugang zum Hochschulunterricht
lassen.
80 Hierzu geht aus den Akten hervor, dass die an dem Hochschulunterricht interessierten nichtansässigen Studierenden, die eingeschrieben
werden, durch Auslosung ermittelt werden, bei der als solcher ihre Kenntnisse und Erfahrungen nicht berücksichtigt werden.
81 Daher ist es Sache des vorlegenden Gerichts, nachzuprüfen, ob das Verfahren zur Auswahl der nichtansässigen Studierenden allein
in der Auslosung besteht und, falls dem so sein sollte, ob diese Auswahlmethode, bei der nicht die Kapazitäten der betroffenen
Kandidaten zugrunde gelegt werden, sondern der Zufall den Ausschlag gibt, zur Erreichung der verfolgten Ziele erforderlich
ist.
82 Folglich ist auf die erste und die zweite Vorlagefrage zu antworten, dass die Art. 18 und 21 AEUV einer nationalen Regelung
wie der in den Ausgangsverfahren streitigen entgegenstehen, die die Zahl der nichtansässigen Studierenden, die sich zum ersten
Mal für einen medizinischen oder paramedizinischen Studiengang an einer Hochschuleinrichtung einschreiben können, beschränkt,
es sei denn, das vorlegende Gericht stellt nach Würdigung aller von den zuständigen Stellen angeführten relevanten Gesichtspunkte
fest, dass diese Regelung im Hinblick auf das Ziel des Schutzes der öffentlichen Gesundheit gerechtfertigt ist.
Zur dritten Frage
83 Mit seiner dritten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, welche Auswirkungen die nach Art. 13 Abs. 2 Buchst. c des Paktes
an die Mitgliedstaaten gestellten Anforderungen auf die in den Ausgangsverfahren streitige Situation haben.
84 Die belgische Regierung macht geltend, der Erlass des Dekrets vom 16. Juni 2006 sei unerlässlich für die Wahrung des Rechts
der Bevölkerung der Französischen Gemeinschaft auf Bildung, wie es sich aus Art. 13 Abs. 2 Buchst. c des Paktes ergebe. Diese
Bestimmung enthalte nämlich eine Stillhalteverpflichtung, nach der diese Gemeinschaft einen breiten und demokratischen Zugang
zu einem Hochschulunterricht von guter Qualität aufrechtzuerhalten habe. Ohne dieses Dekret wäre die Aufrechterhaltung eines
solchen Zugangs gefährdet.
85 Hierzu ist jedoch festzustellen, dass es zwischen dem Pakt und den Anforderungen aus den Art. 18 bzw. 21 AEUV keine Unvereinbarkeit
gibt.
86 Nach dem Wortlaut von Art. 13 Abs. 2 Buchst. c des Paktes dient dieser nämlich im Wesentlichen demselben Ziel wie die Art. 18
und 21 AEUV, nämlich, den Grundsatz der Nichtdiskriminierung beim Zugang zum Hochschulunterricht zu gewährleisten. Dies wird
durch Art. 2 Abs. 2 des Paktes bestätigt, wonach die Vertragsstaaten des Paktes sich verpflichten, zu gewährleisten, dass
die in diesem verkündeten Rechte ohne Diskriminierung u. a. hinsichtlich der nationalen Herkunft ausgeübt werden.
87 Dagegen verlangt Art. 13 Abs. 2 Buchst. c des Paktes von einem Vertragsstaat nicht und gestattet es ihm auch nicht, einen
breiten Zugang zu einem Hochschulunterricht von guter Qualität nur für seine eigenen Staatsangehörigen zu gewährleisten.
88 Nach alledem ist auf die dritte Frage zu antworten, dass sich die zuständigen Stellen nicht auf Art. 13 Abs. 2 Buchst. c des
Paktes berufen können, wenn das vorlegende Gericht feststellt, dass das Dekret vom 16. Juni 2006 nicht mit den Art. 18 und
21 AEUV vereinbar ist.
Zu den zeitlichen Wirkungen des Urteils
89 Die belgische Regierung beantragt für den Fall, dass das Unionsrecht nach Auffassung des Gerichtshofs der in den Ausgangsverfahren
streitigen Regelung entgegensteht, die Wirkungen des verkündeten Urteils zeitlich zu beschränken. Diese Beschränkung sei notwendig,
weil in großer Zahl gutgläubig Rechtsverhältnisse eingegangen worden seien, denn viele nichtansässige Studierende hätten für
das akademische Jahr 2006/2007 ihre Einschreibung für einen der von dem Dekret vom 16. Juni 2006 erfassten Studiengänge beantragt.
Würden diese Rechtsverhältnisse in Frage gestellt, könne dies daher schwerwiegende wirtschaftliche Auswirkungen haben, die
den Haushalt für Bildung der Französischen Gemeinschaft aus dem Gleichgewicht bringen könnten.
90 Nach ständiger Rechtsprechung wird durch die Auslegung einer Vorschrift des Unionsrechts, die der Gerichtshof in Ausübung
seiner Befugnisse aus Art. 267 AEUV vornimmt, erläutert und verdeutlicht, in welchem Sinne und mit welcher Tragweite diese
Vorschrift seit ihrem Inkrafttreten zu verstehen und anzuwenden ist oder gewesen wäre. Daraus folgt, dass die Gerichte die
Vorschriften in dieser Auslegung auch auf Rechtsverhältnisse, die vor Erlass des auf das Ersuchen um Auslegung ergangenen
Urteils entstanden sind, anwenden können und müssen, wenn alle sonstigen Voraussetzungen für die Anrufung der zuständigen
Gerichte in einem die Anwendung dieser Vorschriften betreffenden Streit vorliegen (vgl. Urteile vom 2. Februar 1988, Blaizot,
24/86, Slg. 1988, 379, Randnr. 27, und vom 15. Dezember 1995, Bosman, C‑415/93, Slg. 1995, I‑4921, Randnr. 141).
91 Der Gerichtshof kann die für die Betroffenen bestehende Möglichkeit, sich auf die Auslegung, die er einer Bestimmung gegeben
hat, zu berufen, um in gutem Glauben begründete Rechtsverhältnisse in Frage zu stellen, nur ausnahmsweise aufgrund des allgemeinen
gemeinschaftsrechtlichen Grundsatzes der Rechtssicherheit beschränken. Eine solche Beschränkung ist nur dann zulässig, wenn
zwei grundlegende Kriterien erfüllt sind, nämlich guter Glaube der Betroffenen und die Gefahr schwerwiegender Störungen (vgl.
u. a. Urteile vom 28. September 1994, Vroege, C‑57/93, Slg. 1994, I‑4541, Randnr. 21, sowie vom 10. Januar 2006, Skov und
Bilka, C‑402/03, Slg. 2006, I‑199, Randnr. 51).
92 Ferner können nach ständiger Rechtsprechung die finanziellen Konsequenzen, die sich aus einem im Vorabentscheidungsverfahren
ergangenen Urteil für einen Mitgliedstaat ergeben können, für sich allein nicht die zeitliche Begrenzung der Wirkungen dieses
Urteils rechtfertigen (Urteile vom 20. September 2001, Grzelczyk, C‑184/99, Slg. 2001, I‑6193, Randnr. 52).
93 Der Gerichtshof hat nämlich auf diese Lösung nur unter ganz bestimmten Umständen zurückgegriffen, wenn zum einen die Gefahr
schwerwiegender wirtschaftlicher Auswirkungen bestand, die insbesondere mit der großen Zahl von Rechtsverhältnissen zusammenhingen,
die gutgläubig auf der Grundlage der als gültig betrachteten Regelung eingegangen worden waren, und sich zum anderen herausstellte,
dass die Einzelnen und die nationalen Behörden zu einem mit der Unionsregelung unvereinbaren Verhalten veranlasst worden waren,
weil eine objektive, bedeutende Unsicherheit hinsichtlich der Tragweite der Unionsbestimmungen bestand, zu der eventuell auch
das Verhalten anderer Mitgliedstaaten oder der Kommission beigetragen hatte (vgl. Urteil Grzelczyk, Randnr. 53).
94 In Bezug auf die Ausgangsverfahren ist festzustellen, dass die belgische Regierung dem Gerichtshof keinen konkreten Anhaltspunkt
dafür vorgetragen hat, dass die Verfasser des Dekrets vom 16. Juni 2006 etwa zu einem mit der Unionsregelung unvereinbaren
Verhalten veranlasst wurden, weil eine objektive, bedeutende Unsicherheit hinsichtlich der Tragweite der Unionsbestimmungen
bestand.
95 Ebenso wenig hat diese Regierung ihr Vorbringen durch konkrete Angaben untermauert, dass das vorliegende Urteil ohne zeitliche
Beschränkung seiner Wirkungen schwerwiegende finanzielle Folgen haben könnte.
96 Daher sind die Wirkungen des vorliegenden Urteils nicht zeitlich zu beschränken.
Kosten
97 Für die Parteien der Ausgangsverfahren ist das Verfahren ein Zwischenstreit in den bei dem vorlegenden Gericht anhängigen
Rechtsstreitigkeiten; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe
von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Große Kammer) für Recht erkannt:
1. Die Art. 18 und 21 AEUV stehen einer nationalen Regelung wie der in den Ausgangsverfahren streitigen entgegen, die die Zahl
der als nicht in Belgien ansässig angesehenen Studierenden, die sich zum ersten Mal für einen medizinischen oder paramedizinischen
Studiengang an einer Hochschuleinrichtung einschreiben können, beschränkt, es sei denn, das vorlegende Gericht stellt nach
Würdigung aller von den zuständigen Stellen angeführten relevanten Gesichtspunkte fest, dass diese Regelung im Hinblick auf
das Ziel des Schutzes der öffentlichen Gesundheit gerechtfertigt ist.
2. Die zuständigen Stellen können sich nicht auf Art. 13 Abs. 2 Buchst. c des von der Generalversammlung der Vereinten Nationen
am 16. Dezember 1966 angenommenen und am 3. Januar 1976 in Kraft getretenen Internationalen Paktes über wirtschaftliche, soziale
und kulturelle Rechte berufen, wenn das vorlegende Gericht feststellt, dass das Dekret der Französischen Gemeinschaft vom
16. Juni 2006 zur Regelung der Studierendenzahl in bestimmten Studiengängen des ersten Zyklus des Hochschulunterrichts nicht
mit den Art. 18 und 21 AEUV vereinbar ist.
Unterschriften
* Verfahrenssprache: Französisch.
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Urteil des Gerichtshofs (Große Kammer) vom 16. Juli 2020.#Data Protection Commissioner gegen Facebook Ireland Limited und Maximillian Schrems.#Vorabentscheidungsersuchen des High Court (Irland).#Vorlage zur Vorabentscheidung – Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten – Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Art. 7, 8 und 47 – Verordnung (EU) 2016/679 – Art. 2 Abs. 2 – Anwendungsbereich – Übermittlungen personenbezogener Daten zu gewerblichen Zwecken in Drittländer – Art. 45 – Angemessenheitsbeschluss der Kommission – Art. 46 – Datenübermittlung vorbehaltlich geeigneter Garantien – Art. 58 – Befugnisse der Aufsichtsbehörden – Verarbeitung der übermittelten Daten für Zwecke der nationalen Sicherheit durch die Behörden eines Drittlands – Beurteilung der Angemessenheit des im Drittland gebotenen Schutzniveaus – Beschluss 2010/87/EU – Standardschutzklauseln für die Übermittlung personenbezogener Daten in Drittländer – Angemessene Garantien seitens des Verantwortlichen – Gültigkeit – Durchführungsbeschluss (EU) 2016/1250 – Angemessenheit des vom EU-US-Datenschutzschild gebotenen Schutzes – Gültigkeit – Beschwerde einer natürlichen Person, deren Daten aus der Europäischen Union in die Vereinigten Staaten übermittelt wurden.#Rechtssache C-311/18.
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62018CJ0311
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ECLI:EU:C:2020:559
| 2020-07-16T00:00:00 |
Saugmandsgaard Øe, Gerichtshof
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62018CJ0311
URTEIL DES GERICHTSHOFS (Große Kammer)
16. Juli 2020 (*1)
„Vorlage zur Vorabentscheidung – Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten – Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Art. 7, 8 und 47 – Verordnung (EU) 2016/679 – Art. 2 Abs. 2 – Anwendungsbereich – Übermittlungen personenbezogener Daten zu gewerblichen Zwecken in Drittländer – Art. 45 – Angemessenheitsbeschluss der Kommission – Art. 46 – Datenübermittlung vorbehaltlich geeigneter Garantien – Art. 58 – Befugnisse der Aufsichtsbehörden – Verarbeitung der übermittelten Daten für Zwecke der nationalen Sicherheit durch die Behörden eines Drittlands – Beurteilung der Angemessenheit des im Drittland gebotenen Schutzniveaus – Beschluss 2010/87/EU – Standardschutzklauseln für die Übermittlung personenbezogener Daten in Drittländer – Angemessene Garantien seitens des Verantwortlichen – Gültigkeit – Durchführungsbeschluss (EU) 2016/1250 – Angemessenheit des vom EU-US-Datenschutzschild gebotenen Schutzes – Gültigkeit – Beschwerde einer natürlichen Person, deren Daten aus der Europäischen Union in die Vereinigten Staaten übermittelt wurden“
In der Rechtssache C‑311/18
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom High Court (Hoher Gerichtshof, Irland) mit Entscheidung vom 4. Mai 2018, beim Gerichtshof eingegangen am 9. Mai 2018, in dem Verfahren
Data Protection Commissioner
gegen
Facebook Ireland Ltd,
Maximillian Schrems,
Beteiligte:
The United States of America,
Electronic Privacy Information Centre,
BSA Business Software Alliance Inc.,
Digitaleurope,
erlässt
DER GERICHTSHOF (Große Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten K. Lenaerts, der Vizepräsidentin R. Silva de Lapuerta, des Kammerpräsidenten A. Arabadjiev, der Kammerpräsidentin A. Prechal, der Kammerpräsidenten M. Vilaras, M. Safjan, S. Rodin und P. G. Xuereb, der Kammerpräsidentin L. S. Rossi, des Kammerpräsidenten I. Jarukaitis sowie der Richter M. Ilešič, T. von Danwitz (Berichterstatter) und D. Šváby,
Generalanwalt: H. Saugmandsgaard Øe,
Kanzler: C. Strömholm, Verwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 9. Juli 2019,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
–
des Data Protection Commissioner, vertreten durch D. Young, Solicitor, B. Murray und M. Collins, SC, sowie C. Donnelly, BL,
–
der Facebook Ireland Ltd, vertreten durch P. Gallagher und N. Hyland, SC, A. Mulligan und F. Kieran, BL, sowie P. Nolan, C. Monaghan, C. O’Neill und R. Woulfe, Solicitors,
–
von Herrn Schrems, vertreten durch Rechtsanwalt H. Hofmann, E. McCullough, J. Doherty und S. O’Sullivan, SC, sowie G. Rudden, Solicitor,
–
von The United States of America, vertreten durch E. Barrington, SC, S. Kingston, BL, sowie S. Barton und B. Walsh, Solicitors,
–
des Electronic Privacy Information Centre, vertreten durch S. Lucey, Solicitor, G. Gilmore und A. Butler, BL, sowie C. O’Dwyer, SC,
–
der BSA Business Software Alliance Inc., vertreten durch B. Van Vooren und K. Van Quathem, advocaten,
–
von Digitaleurope, vertreten durch N. Cahill, Barrister, J. Cahir, Solicitor, und M. Cush, SC,
–
Irlands, vertreten durch A. Joyce und M. Browne als Bevollmächtigte im Beistand von D. Fennelly, BL,
–
der belgischen Regierung, vertreten durch J.‑C. Halleux und P. Cottin als Bevollmächtigte,
–
der tschechischen Regierung, vertreten durch M. Smolek, J. Vláčil, O. Serdula und A. Kasalická als Bevollmächtigte,
–
der deutschen Regierung, vertreten durch J. Möller, D. Klebs und T. Henze als Bevollmächtigte,
–
der französischen Regierung, vertreten durch A.-L. Desjonquères als Bevollmächtigte,
–
der niederländischen Regierung, vertreten durch C. S. Schillemans, M. K. Bulterman und M. Noort als Bevollmächtigte,
–
der österreichischen Regierung, vertreten durch J. Schmoll und G. Kunnert als Bevollmächtigte,
–
der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna als Bevollmächtigten,
–
der portugiesischen Regierung, vertreten durch L. Inez Fernandes, A. Pimenta und C. Vieira Guerra als Bevollmächtigte,
–
der Regierung des Vereinigten Königreichs, vertreten durch S. Brandon als Bevollmächtigten im Beistand von J. Holmes, QC, und C. Knight, Barrister,
–
des Europäischen Parlaments, vertreten durch M. J. Martínez Iglesias und A. Caiola als Bevollmächtigte,
–
der Europäischen Kommission, vertreten durch D. Nardi, H. Krämer und H. Kranenborg als Bevollmächtigte,
–
des Europäischen Datenschutzausschusses (EDSA), vertreten durch A. Jelinek und K. Behn als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 19. Dezember 2019
folgendes
Urteil
1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft im Wesentlichen
–
die Auslegung von Art. 3 Abs. 2 erster Gedankenstrich, der Art. 25 und 26 sowie von Art. 28 Abs. 3 der Richtlinie 95/46/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 24. Oktober 1995 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten und zum freien Datenverkehr (ABl. 1995, L 281, S. 31) im Licht von Art. 4 Abs. 2 EUV sowie der Art. 7, 8 und 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta),
–
die Auslegung und die Gültigkeit des Beschlusses 2010/87/EU der Kommission vom 5. Februar 2010 über Standardvertragsklauseln für die Übermittlung personenbezogener Daten an Auftragsverarbeiter in Drittländern nach der Richtlinie 95/46 (ABl. 2010, L 39, S. 5) in der durch den Durchführungsbeschluss (EU) 2016/2297 der Kommission vom 16. Dezember 2016 (ABl. 2016, L 344, S. 100) geänderten Fassung (im Folgenden: SDK-Beschluss) sowie
–
die Auslegung und die Gültigkeit des Durchführungsbeschlusses (EU) 2016/1250 der Kommission vom 12. Juli 2016 gemäß der Richtlinie 95/46 über die Angemessenheit des vom EU-US-Datenschutzschild gebotenen Schutzes (ABl. 2016, L 207, S. 1, im Folgenden: DSS-Beschluss).
2 Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen dem Data Protection Commissioner (Datenschutzbeauftragter, Irland) (im Folgenden: Commissioner) auf der einen Seite und der Facebook Ireland Ltd sowie Herrn Maximillian Schrems auf der anderen Seite wegen einer Beschwerde von Herrn Schrems in Bezug auf die Übermittlung seiner personenbezogenen Daten durch Facebook Ireland an die Facebook Inc. in den Vereinigten Staaten.
Rechtlicher Rahmen
Richtlinie 95/46
3 Art. 3 („Anwendungsbereich“) der Richtlinie 95/46 bestimmte in Abs. 2:
„Diese Richtlinie findet keine Anwendung auf die Verarbeitung personenbezogener Daten,
–
die für die Ausübung von Tätigkeiten erfolgt, die nicht in den Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts fallen, beispielsweise Tätigkeiten gemäß den Titeln V und VI des Vertrags über die Europäische Union, und auf keinen Fall auf Verarbeitungen betreffend die öffentliche Sicherheit, die Landesverteidigung, die Sicherheit des Staates (einschließlich seines wirtschaftlichen Wohls, wenn die Verarbeitung die Sicherheit des Staates berührt) und die Tätigkeiten des Staates im strafrechtlichen Bereich;
…“
4 Art. 25 der Richtlinie bestimmte:
„(1) Die Mitgliedstaaten sehen vor, dass die Übermittlung personenbezogener Daten … in ein Drittland vorbehaltlich der Beachtung der aufgrund der anderen Bestimmungen dieser Richtlinie erlassenen einzelstaatlichen Vorschriften zulässig ist, wenn dieses Drittland ein angemessenes Schutzniveau gewährleistet.
(2) Die Angemessenheit des Schutzniveaus, das ein Drittland bietet, wird unter Berücksichtigung aller Umstände beurteilt, die bei einer Datenübermittlung oder einer Kategorie von Datenübermittlungen eine Rolle spielen; …
…
(6) Die Kommission kann nach dem Verfahren des Artikels 31 Absatz 2 feststellen, dass ein Drittland aufgrund seiner innerstaatlichen Rechtsvorschriften oder internationaler Verpflichtungen, die es insbesondere infolge der Verhandlungen gemäß Absatz 5 eingegangen ist, hinsichtlich des Schutzes der Privatsphäre sowie der Freiheiten und Grundrechte von Personen ein angemessenes Schutzniveau im Sinne des Absatzes 2 gewährleistet.
Die Mitgliedstaaten treffen die aufgrund der Feststellung der Kommission gebotenen Maßnahmen.“
5 Art. 26 Abs. 2 und 4 der Richtlinie sah vor:
„(2) Unbeschadet des Absatzes 1 kann ein Mitgliedstaat eine Übermittlung oder eine Kategorie von Übermittlungen personenbezogener Daten in ein Drittland genehmigen, das kein angemessenes Schutzniveau im Sinne des Artikels 25 Absatz 2 gewährleistet, wenn der für die Verarbeitung Verantwortliche ausreichende Garantien hinsichtlich des Schutzes der Privatsphäre, der Grundrechte und der Grundfreiheiten der Personen sowie hinsichtlich der Ausübung der damit verbundenen Rechte bietet; diese Garantien können sich insbesondere aus entsprechenden Vertragsklauseln ergeben.
…
(4) Befindet die Kommission nach dem Verfahren des Artikels 31 Absatz 2, dass bestimmte Standardvertragsklauseln ausreichende Garantien gemäß Absatz 2 bieten, so treffen die Mitgliedstaaten die aufgrund der Feststellung der Kommission gebotenen Maßnahmen.“
6 Art. 28 Abs. 3 der Richtlinie bestimmte:
„Jede Kontrollstelle verfügt insbesondere über:
–
Untersuchungsbefugnisse, wie das Recht auf Zugang zu Daten, die Gegenstand von Verarbeitungen sind, und das Recht auf Einholung aller für die Erfüllung ihres Kontrollauftrags erforderlichen Informationen;
–
wirksame Einwirkungsbefugnisse, wie beispielsweise die Möglichkeit, im Einklang mit Artikel 20 vor der Durchführung der Verarbeitungen Stellungnahmen abzugeben und für eine geeignete Veröffentlichung der Stellungnahmen zu sorgen, oder die Befugnis, die Sperrung, Löschung oder Vernichtung von Daten oder das vorläufige oder endgültige Verbot einer Verarbeitung anzuordnen, oder die Befugnis, eine Verwarnung oder eine Ermahnung an den für die Verarbeitung Verantwortlichen zu richten oder die Parlamente oder andere politische Institutionen zu befassen;
–
das Klagerecht oder eine Anzeigebefugnis bei Verstößen gegen die einzelstaatlichen Vorschriften zur Umsetzung dieser Richtlinie.
…“
DSGVO
7 Die Richtlinie 95/46 wurde durch die Verordnung (EU) 2016/679 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 27. April 2016 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten, zum freien Datenverkehr und zur Aufhebung der Richtlinie 95/46 (Datenschutz-Grundverordnung) (ABl. 2016, L 119, S. 1, berichtigt im ABl. 2016, L 314, S. 72, und im ABl. 2018, L 127, S. 2, im Folgenden: DSGVO) aufgehoben und ersetzt.
8 In den Erwägungsgründen 6, 10, 101, 103, 104, 107 bis 109, 114, 116 und 141 der DSGVO heißt es:
„(6)
Rasche technologische Entwicklungen und die Globalisierung haben den Datenschutz vor neue Herausforderungen gestellt. Das Ausmaß der Erhebung und des Austauschs personenbezogener Daten hat eindrucksvoll zugenommen. Die Technik macht es möglich, dass private Unternehmen und Behörden im Rahmen ihrer Tätigkeiten in einem noch nie dagewesenen Umfang auf personenbezogene Daten zurückgreifen. Zunehmend machen auch natürliche Personen Informationen öffentlich weltweit zugänglich. Die Technik hat das wirtschaftliche und gesellschaftliche Leben verändert und dürfte den Verkehr personenbezogener Daten innerhalb der Union sowie die Datenübermittlung an Drittländer und internationale Organisationen noch weiter erleichtern, wobei ein hohes Datenschutzniveau zu gewährleisten ist.
…
(10) Um ein gleichmäßiges und hohes Datenschutzniveau für natürliche Personen zu gewährleisten und die Hemmnisse für den Verkehr personenbezogener Daten in der Union zu beseitigen, sollte das Schutzniveau für die Rechte und Freiheiten von natürlichen Personen bei der Verarbeitung dieser Daten in allen Mitgliedstaaten gleichwertig sein. Die Vorschriften zum Schutz der Grundrechte und Grundfreiheiten von natürlichen Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten sollten unionsweit gleichmäßig und einheitlich angewandt werden. Hinsichtlich der Verarbeitung personenbezogener Daten zur Erfüllung einer rechtlichen Verpflichtung oder zur Wahrnehmung einer Aufgabe, die im öffentlichen Interesse liegt oder in Ausübung öffentlicher Gewalt erfolgt, die dem Verantwortlichen übertragen wurde, sollten die Mitgliedstaaten die Möglichkeit haben, nationale Bestimmungen, mit denen die Anwendung der Vorschriften dieser Verordnung genauer festgelegt wird, beizubehalten oder einzuführen. In Verbindung mit den allgemeinen und horizontalen Rechtsvorschriften über den Datenschutz zur Umsetzung der Richtlinie 95/46/EG gibt es in den Mitgliedstaaten mehrere sektorspezifische Rechtsvorschriften in Bereichen, die spezifischere Bestimmungen erfordern. Diese Verordnung bietet den Mitgliedstaaten zudem einen Spielraum für die Spezifizierung ihrer Vorschriften, auch für die Verarbeitung besonderer Kategorien von personenbezogenen Daten (im Folgenden ‚sensible Daten‘). Diesbezüglich schließt diese Verordnung nicht Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten aus, in denen die Umstände besonderer Verarbeitungssituationen festgelegt werden, einschließlich einer genaueren Bestimmung der Voraussetzungen, unter denen die Verarbeitung personenbezogener Daten rechtmäßig ist.
…
(101) Der Fluss personenbezogener Daten aus Drittländern und internationalen Organisationen und in Drittländer und internationale Organisationen ist für die Ausweitung des internationalen Handels und der internationalen Zusammenarbeit notwendig. Durch die Zunahme dieser Datenströme sind neue Herausforderungen und Anforderungen in Bezug auf den Schutz personenbezogener Daten entstanden. Das durch diese Verordnung unionsweit gewährleistete Schutzniveau für natürliche Personen sollte jedoch bei der Übermittlung personenbezogener Daten aus der Union an Verantwortliche, Auftragsverarbeiter oder andere Empfänger in Drittländern oder an internationale Organisationen nicht untergraben werden, und zwar auch dann nicht, wenn aus einem Drittland oder von einer internationalen Organisation personenbezogene Daten an Verantwortliche oder Auftragsverarbeiter in demselben oder einem anderen Drittland oder an dieselbe oder eine andere internationale Organisation weiterübermittelt werden. In jedem Fall sind derartige Datenübermittlungen an Drittländer und internationale Organisationen nur unter strikter Einhaltung dieser Verordnung zulässig. Eine Datenübermittlung könnte nur stattfinden, wenn die in dieser Verordnung festgelegten Bedingungen zur Übermittlung personenbezogener Daten an Drittländer oder internationale Organisationen vorbehaltlich der übrigen Bestimmungen dieser Verordnung von dem Verantwortlichen oder dem Auftragsverarbeiter erfüllt werden.
…
(103) Die Kommission darf mit Wirkung für die gesamte Union beschließen, dass ein bestimmtes Drittland, ein Gebiet oder ein bestimmter Sektor eines Drittlands oder eine internationale Organisation ein angemessenes Datenschutzniveau bietet, und auf diese Weise in Bezug auf das Drittland oder die internationale Organisation, das bzw. die für fähig gehalten wird, ein solches Schutzniveau zu bieten, in der gesamten Union Rechtssicherheit schaffen und eine einheitliche Rechtsanwendung sicherstellen. In derartigen Fällen dürfen personenbezogene Daten ohne weitere Genehmigung an dieses Land oder diese internationale Organisation übermittelt werden. Die Kommission kann, nach Abgabe einer ausführlichen Erklärung, in der dem Drittland oder der internationalen Organisation eine Begründung gegeben wird, auch entscheiden, eine solche Feststellung zu widerrufen.
(104) In Übereinstimmung mit den Grundwerten der Union, zu denen insbesondere der Schutz der Menschenrechte zählt, sollte die Kommission bei der Bewertung des Drittlands oder eines Gebiets oder eines bestimmten Sektors eines Drittlands berücksichtigen, inwieweit dort die Rechtsstaatlichkeit gewahrt ist, der Rechtsweg gewährleistet ist und die internationalen Menschenrechtsnormen und -standards eingehalten werden und welche allgemeinen und sektorspezifischen Vorschriften, wozu auch die Vorschriften über die öffentliche Sicherheit, die Landesverteidigung und die nationale Sicherheit sowie die öffentliche Ordnung und das Strafrecht zählen, dort gelten. Die Annahme eines Angemessenheitsbeschlusses in Bezug auf ein Gebiet oder einen bestimmten Sektor eines Drittlands sollte unter Berücksichtigung eindeutiger und objektiver Kriterien wie bestimmter Verarbeitungsvorgänge und des Anwendungsbereichs anwendbarer Rechtsnormen und geltender Rechtsvorschriften in dem Drittland erfolgen. Das Drittland sollte Garantien für ein angemessenes Schutzniveau bieten, das dem innerhalb der Union gewährleisteten Schutzniveau der Sache nach gleichwertig ist, insbesondere in Fällen, in denen personenbezogene Daten in einem oder mehreren spezifischen Sektoren verarbeitet werden. Das Drittland sollte insbesondere eine wirksame unabhängige Überwachung des Datenschutzes gewährleisten und Mechanismen für eine Zusammenarbeit mit den Datenschutzbehörden der Mitgliedstaaten vorsehen, und den betroffenen Personen sollten wirksame und durchsetzbare Rechte sowie wirksame verwaltungsrechtliche und gerichtliche Rechtsbehelfe eingeräumt werden.
…
(107) Die Kommission kann feststellen, dass ein Drittland, ein Gebiet oder ein bestimmter Sektor eines Drittlands oder eine internationale Organisation kein angemessenes Datenschutzniveau mehr bietet. Die Übermittlung personenbezogener Daten an dieses Drittland oder an diese internationale Organisation sollte daraufhin verboten werden, es sei denn, die Anforderungen dieser Verordnung in Bezug auf die Datenübermittlung vorbehaltlich geeigneter Garantien, einschließlich verbindlicher interner Datenschutzvorschriften und auf Ausnahmen für bestimmte Fälle werden erfüllt. In diesem Falle sollten Konsultationen zwischen der Kommission und den betreffenden Drittländern oder internationalen Organisationen vorgesehen werden. Die Kommission sollte dem Drittland oder der internationalen Organisation frühzeitig die Gründe mitteilen und Konsultationen aufnehmen, um Abhilfe für die Situation zu schaffen.
(108) Bei Fehlen eines Angemessenheitsbeschlusses sollte der Verantwortliche oder der Auftragsverarbeiter als Ausgleich für den in einem Drittland bestehenden Mangel an Datenschutz geeignete Garantien für den Schutz der betroffenen Person vorsehen. Diese geeigneten Garantien können darin bestehen, dass auf verbindliche interne Datenschutzvorschriften, von der Kommission oder von einer Aufsichtsbehörde angenommene Standarddatenschutzklauseln oder von einer Aufsichtsbehörde genehmigte Vertragsklauseln zurückgegriffen wird. Diese Garantien sollten sicherstellen, dass die Datenschutzvorschriften und die Rechte der betroffenen Personen auf eine der Verarbeitung innerhalb der Union angemessene Art und Weise beachtet werden; dies gilt auch hinsichtlich der Verfügbarkeit von durchsetzbaren Rechten der betroffenen Person und von wirksamen Rechtsbehelfen einschließlich des Rechts auf wirksame verwaltungsrechtliche oder gerichtliche Rechtsbehelfe sowie des Rechts auf Geltendmachung von Schadenersatzansprüchen in der Union oder in einem Drittland. Sie sollten sich insbesondere auf die Einhaltung der allgemeinen Grundsätze für die Verarbeitung personenbezogener Daten, die Grundsätze des Datenschutzes durch Technik und durch datenschutzfreundliche Voreinstellungen beziehen. …
(109) Die dem Verantwortlichen oder dem Auftragsverarbeiter offenstehende Möglichkeit, auf die von der Kommission oder einer Aufsichtsbehörde festgelegten Standard-Datenschutzklauseln zurückzugreifen, sollte den Verantwortlichen oder den Auftragsverarbeiter weder daran hindern, die Standard-Datenschutzklauseln auch in umfangreicheren Verträgen, wie zum Beispiel Verträgen zwischen dem Auftragsverarbeiter und einem anderen Auftragsverarbeiter, zu verwenden, noch ihn daran hindern, ihnen weitere Klauseln oder zusätzliche Garantien hinzuzufügen, solange diese weder mittelbar noch unmittelbar im Widerspruch zu den von der Kommission oder einer Aufsichtsbehörde erlassenen Standard-Datenschutzklauseln stehen oder die Grundrechte und Grundfreiheiten der betroffenen Personen beschneiden. Die Verantwortlichen und die Auftragsverarbeiter sollten ermutigt werden, mit vertraglichen Verpflichtungen, die die Standard-Schutzklauseln ergänzen, zusätzliche Garantien zu bieten.
…
(114) In allen Fällen, in denen kein Kommissionsbeschluss zur Angemessenheit des in einem Drittland bestehenden Datenschutzniveaus vorliegt, sollte der Verantwortliche oder der Auftragsverarbeiter auf Lösungen zurückgreifen, mit denen den betroffenen Personen durchsetzbare und wirksame Rechte in Bezug auf die Verarbeitung ihrer personenbezogenen Daten in der Union nach der Übermittlung dieser Daten eingeräumt werden, damit sie weiterhin die Grundrechte und Garantien genießen können.
…
(116) Wenn personenbezogene Daten in ein anderes Land außerhalb der Union übermittelt werden, besteht eine erhöhte Gefahr, dass natürliche Personen ihre Datenschutzrechte nicht wahrnehmen können[, um] sich insbesondere gegen die unrechtmäßige Nutzung oder Offenlegung dieser Informationen zu schützen. Ebenso kann es vorkommen, dass Aufsichtsbehörden Beschwerden nicht nachgehen oder Untersuchungen nicht durchführen können, die einen Bezug zu Tätigkeiten außerhalb der Grenzen ihres Mitgliedstaats haben. Ihre Bemühungen um grenzüberschreitende Zusammenarbeit können auch durch unzureichende Präventiv- und Abhilfebefugnisse, widersprüchliche Rechtsordnungen und praktische Hindernisse wie Ressourcenknappheit behindert werden. …
…
(141) Jede betroffene Person sollte das Recht haben, bei einer einzigen Aufsichtsbehörde insbesondere in dem Mitgliedstaat ihres gewöhnlichen Aufenthalts eine Beschwerde einzureichen und gemäß Artikel 47 der Charta einen wirksamen gerichtlichen Rechtsbehelf einzulegen, wenn sie sich in ihren Rechten gemäß dieser Verordnung verletzt sieht oder wenn die Aufsichtsbehörde auf eine Beschwerde hin nicht tätig wird, eine Beschwerde teilweise oder ganz abweist oder ablehnt oder nicht tätig wird, obwohl dies zum Schutz der Rechte der betroffenen Person notwendig ist. …“
9 Art. 2 Abs. 1 und 2 der DSGVO sieht vor:
„(1) Diese Verordnung gilt für die ganz oder teilweise automatisierte Verarbeitung personenbezogener Daten sowie für die nichtautomatisierte Verarbeitung personenbezogener Daten, die in einem Dateisystem gespeichert sind oder gespeichert werden sollen.
(2) Diese Verordnung findet keine Anwendung auf die Verarbeitung personenbezogener Daten
a)
im Rahmen einer Tätigkeit, die nicht in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fällt,
b)
durch die Mitgliedstaaten im Rahmen von Tätigkeiten, die in den Anwendungsbereich von Titel V Kapitel 2 EUV fallen,
c)
durch natürliche Personen zur Ausübung ausschließlich persönlicher oder familiärer Tätigkeiten,
d)
durch die zuständigen Behörden zum Zwecke der Verhütung, Ermittlung, Aufdeckung oder Verfolgung von Straftaten oder der Strafvollstreckung, einschließlich des Schutzes vor und der Abwehr von Gefahren für die öffentliche Sicherheit.“
10 Art. 4 der DSGVO bestimmt:
„Im Sinne dieser Verordnung bezeichnet der Ausdruck:
…
2. ‚Verarbeitung‘ jeden mit oder ohne Hilfe automatisierter Verfahren ausgeführten Vorgang oder jede solche Vorgangsreihe im Zusammenhang mit personenbezogenen Daten wie das Erheben, das Erfassen, die Organisation, das Ordnen, die Speicherung, die Anpassung oder Veränderung, das Auslesen, das Abfragen, die Verwendung, die Offenlegung durch Übermittlung, Verbreitung oder eine andere Form der Bereitstellung, den Abgleich oder die Verknüpfung, die Einschränkung, das Löschen oder die Vernichtung;
…
7. ‚Verantwortlicher‘ die natürliche oder juristische Person, Behörde, Einrichtung oder andere Stelle, die allein oder gemeinsam mit anderen über die Zwecke und Mittel der Verarbeitung von personenbezogenen Daten entscheidet; sind die Zwecke und Mittel dieser Verarbeitung durch das Unionsrecht oder das Recht der Mitgliedstaaten vorgegeben, so kann der Verantwortliche beziehungsweise können die bestimmten Kriterien seiner Benennung nach dem Unionsrecht oder dem Recht der Mitgliedstaaten vorgesehen werden;
8. ‚Auftragsverarbeiter‘ eine natürliche oder juristische Person, Behörde, Einrichtung oder andere Stelle, die personenbezogene Daten im Auftrag des Verantwortlichen verarbeitet;
9. ‚Empfänger‘ eine natürliche oder juristische Person, Behörde, Einrichtung oder andere Stelle, der personenbezogene Daten offengelegt werden, unabhängig davon, ob es sich bei ihr um einen Dritten handelt oder nicht. Behörden, die im Rahmen eines bestimmten Untersuchungsauftrags nach dem Unionsrecht oder dem Recht der Mitgliedstaaten möglicherweise personenbezogene Daten erhalten, gelten jedoch nicht als Empfänger; die Verarbeitung dieser Daten durch die genannten Behörden erfolgt im Einklang mit den geltenden Datenschutzvorschriften gemäß den Zwecken der Verarbeitung;
…“
11 In Art. 23 der DSGVO heißt es:
„(1) Durch Rechtsvorschriften der Union oder der Mitgliedstaaten, denen der Verantwortliche oder der Auftragsverarbeiter unterliegt, können die Pflichten und Rechte gemäß den Artikeln 12 bis 22 und Artikel 34 sowie Artikel 5, insofern dessen Bestimmungen den in den Artikeln 12 bis 22 vorgesehenen Rechten und Pflichten entsprechen, im Wege von Gesetzgebungsmaßnahmen beschränkt werden, sofern eine solche Beschränkung den Wesensgehalt der Grundrechte und Grundfreiheiten achtet und in einer demokratischen Gesellschaft eine notwendige und verhältnismäßige Maßnahme darstellt, die Folgendes sicherstellt:
a)
die nationale Sicherheit;
b)
die Landesverteidigung;
c)
die öffentliche Sicherheit;
d)
die Verhütung, Ermittlung, Aufdeckung oder Verfolgung von Straftaten oder die Strafvollstreckung, einschließlich des Schutzes vor und der Abwehr von Gefahren für die öffentliche Sicherheit;
…
(2) Jede Gesetzgebungsmaßnahme im Sinne des Absatzes 1 muss insbesondere gegebenenfalls spezifische Vorschriften enthalten zumindest in Bezug auf
a)
die Zwecke der Verarbeitung oder die Verarbeitungskategorien,
b)
die Kategorien personenbezogener Daten,
c)
den Umfang der vorgenommenen Beschränkungen,
d)
die Garantien gegen Missbrauch oder unrechtmäßigen Zugang oder unrechtmäßige Übermittlung,
e)
die Angaben zu dem Verantwortlichen oder den Kategorien von Verantwortlichen,
f)
die jeweiligen Speicherfristen sowie die geltenden Garantien unter Berücksichtigung von Art, Umfang und Zwecken der Verarbeitung oder der Verarbeitungskategorien,
g)
die Risiken für die Rechte und Freiheiten der betroffenen Personen und
h)
das Recht der betroffenen Personen auf Unterrichtung über die Beschränkung, sofern dies nicht dem Zweck der Beschränkung abträglich ist.“
12 Kapitel V („Übermittlungen personenbezogener Daten an Drittländer oder an internationale Organisationen“) der DSGVO enthält ihre Art. 44 bis 50. Art. 44 („Allgemeine Grundsätze der Datenübermittlung“) lautet:
„Jedwede Übermittlung personenbezogener Daten, die bereits verarbeitet werden oder nach ihrer Übermittlung an ein Drittland oder eine internationale Organisation verarbeitet werden sollen, ist nur zulässig, wenn der Verantwortliche und der Auftragsverarbeiter die in diesem Kapitel niedergelegten Bedingungen einhalten und auch die sonstigen Bestimmungen dieser Verordnung eingehalten werden; dies gilt auch für die etwaige Weiterübermittlung personenbezogener Daten aus dem betreffenden Drittland oder der betreffenden internationalen Organisation an ein anderes Drittland oder eine andere internationale Organisation. Alle Bestimmungen dieses Kapitels sind anzuwenden, um sicherzustellen, dass das durch diese Verordnung gewährleistete Schutzniveau für natürliche Personen nicht untergraben wird.“
13 Art. 45 („Datenübermittlung auf der Grundlage eines Angemessenheitsbeschlusses“) der DSGVO sieht in den Abs. 1 bis 3 vor:
„(1) Eine Übermittlung personenbezogener Daten an ein Drittland oder eine internationale Organisation darf vorgenommen werden, wenn die Kommission beschlossen hat, dass das betreffende Drittland, ein Gebiet oder ein oder mehrere spezifische Sektoren in diesem Drittland oder die betreffende internationale Organisation ein angemessenes Schutzniveau bietet. Eine solche Datenübermittlung bedarf keiner besonderen Genehmigung.
(2) Bei der Prüfung der Angemessenheit des gebotenen Schutzniveaus berücksichtigt die Kommission insbesondere das Folgende:
a)
die Rechtsstaatlichkeit, die Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten, die in dem betreffenden Land bzw. bei der betreffenden internationalen Organisation geltenden einschlägigen Rechtsvorschriften sowohl allgemeiner als auch sektoraler Art – auch in Bezug auf öffentliche Sicherheit, Verteidigung, nationale Sicherheit und Strafrecht sowie Zugang der Behörden zu personenbezogenen Daten – sowie die Anwendung dieser Rechtsvorschriften, Datenschutzvorschriften, Berufsregeln und Sicherheitsvorschriften einschließlich der Vorschriften für die Weiterübermittlung personenbezogener Daten an ein anderes Drittland bzw. eine andere internationale Organisation, die Rechtsprechung sowie wirksame und durchsetzbare Rechte der betroffenen Person und wirksame verwaltungsrechtliche und gerichtliche Rechtsbehelfe für betroffene Personen, deren personenbezogene Daten übermittelt werden,
b)
die Existenz und die wirksame Funktionsweise einer oder mehrerer unabhängiger Aufsichtsbehörden in dem betreffenden Drittland oder denen eine internationale Organisation untersteht und die für die Einhaltung und Durchsetzung der Datenschutzvorschriften, einschließlich angemessener Durchsetzungsbefugnisse, für die Unterstützung und Beratung der betroffenen Personen bei der Ausübung ihrer Rechte und für die Zusammenarbeit mit den Aufsichtsbehörden der Mitgliedstaaten zuständig sind, und
c)
die von dem betreffenden Drittland bzw. der betreffenden internationalen Organisation eingegangenen internationalen Verpflichtungen oder andere Verpflichtungen, die sich aus rechtsverbindlichen Übereinkünften oder Instrumenten sowie aus der Teilnahme des Drittlands oder der internationalen Organisation an multilateralen oder regionalen Systemen insbesondere in Bezug auf den Schutz personenbezogener Daten ergeben.
(3) Nach der Beurteilung der Angemessenheit des Schutzniveaus kann die Kommission im Wege eines Durchführungsrechtsaktes beschließen, dass ein Drittland, ein Gebiet oder ein oder mehrere spezifische Sektoren in einem Drittland oder eine internationale Organisation ein angemessenes Schutzniveau im Sinne des Absatzes 2 des vorliegenden Artikels bieten. In dem Durchführungsrechtsakt ist ein Mechanismus für eine regelmäßige Überprüfung, die mindestens alle vier Jahre erfolgt, vorzusehen, bei der allen maßgeblichen Entwicklungen in dem Drittland oder bei der internationalen Organisation Rechnung getragen wird. Im Durchführungsrechtsakt werden der territoriale und der sektorale Anwendungsbereich sowie gegebenenfalls die in Absatz 2 Buchstabe b des vorliegenden Artikels genannte Aufsichtsbehörde bzw. genannten Aufsichtsbehörden angegeben. Der Durchführungsrechtsakt wird gemäß dem in Artikel 93 Absatz 2 genannten Prüfverfahren erlassen.“
14 Art. 46 („Datenübermittlung vorbehaltlich geeigneter Garantien“) der DSGVO bestimmt in den Abs. 1 bis 3:
„(1) Falls kein Beschluss nach Artikel 45 Absatz 3 vorliegt, darf ein Verantwortlicher oder ein Auftragsverarbeiter personenbezogene Daten an ein Drittland oder eine internationale Organisation nur übermitteln, sofern der Verantwortliche oder der Auftragsverarbeiter geeignete Garantien vorgesehen hat und sofern den betroffenen Personen durchsetzbare Rechte und wirksame Rechtsbehelfe zur Verfügung stehen.
(2) Die in Absatz 1 genannten geeigneten Garantien können, ohne dass hierzu eine besondere Genehmigung einer Aufsichtsbehörde erforderlich wäre, bestehen in
a)
einem rechtlich bindenden und durchsetzbaren Dokument zwischen den Behörden oder öffentlichen Stellen,
b)
verbindlichen internen Datenschutzvorschriften gemäß Artikel 47,
c)
Standarddatenschutzklauseln, die von der Kommission gemäß dem Prüfverfahren nach Artikel 93 Absatz 2 erlassen werden,
d)
von einer Aufsichtsbehörde angenommenen Standarddatenschutzklauseln, die von der Kommission gemäß dem Prüfverfahren nach Artikel 93 Absatz 2 genehmigt wurden,
e)
genehmigten Verhaltensregeln gemäß Artikel 40 zusammen mit rechtsverbindlichen und durchsetzbaren Verpflichtungen des Verantwortlichen oder des Auftragsverarbeiters in dem Drittland zur Anwendung der geeigneten Garantien, einschließlich in Bezug auf die Rechte der betroffenen Personen, oder
f)
einem genehmigten Zertifizierungsmechanismus gemäß Artikel 42 zusammen mit rechtsverbindlichen und durchsetzbaren Verpflichtungen des Verantwortlichen oder des Auftragsverarbeiters in dem Drittland zur Anwendung der geeigneten Garantien, einschließlich in Bezug auf die Rechte der betroffenen Personen.
(3) Vorbehaltlich der Genehmigung durch die zuständige Aufsichtsbehörde können die geeigneten Garantien gemäß Absatz 1 auch insbesondere bestehen in
a)
Vertragsklauseln, die zwischen dem Verantwortlichen oder dem Auftragsverarbeiter und dem Verantwortlichen, dem Auftragsverarbeiter oder dem Empfänger der personenbezogenen Daten im Drittland oder der internationalen Organisation vereinbart wurden, oder
b)
Bestimmungen, die in Verwaltungsvereinbarungen zwischen Behörden oder öffentlichen Stellen aufzunehmen sind und durchsetzbare und wirksame Rechte für die betroffenen Personen einschließen.“
15 Art. 49 („Ausnahmen für bestimmte Fälle“) der DSGVO lautet:
„(1) Falls weder ein Angemessenheitsbeschluss nach Artikel 45 Absatz 3 vorliegt noch geeignete Garantien nach Artikel 46, einschließlich verbindlicher interner Datenschutzvorschriften, bestehen, ist eine Übermittlung oder eine Reihe von Übermittlungen personenbezogener Daten an ein Drittland oder an eine internationale Organisation nur unter einer der folgenden Bedingungen zulässig:
a)
[D]ie betroffene Person hat in die vorgeschlagene Datenübermittlung ausdrücklich eingewilligt, nachdem sie über die für sie bestehenden möglichen Risiken derartiger Datenübermittlungen ohne Vorliegen eines Angemessenheitsbeschlusses und ohne geeignete Garantien unterrichtet wurde,
b)
die Übermittlung ist für die Erfüllung eines Vertrags zwischen der betroffenen Person und dem Verantwortlichen oder zur Durchführung von vorvertraglichen Maßnahmen auf Antrag der betroffenen Person erforderlich,
c)
die Übermittlung ist zum Abschluss oder zur Erfüllung eines im Interesse der betroffenen Person von dem Verantwortlichen mit einer anderen natürlichen oder juristischen Person geschlossenen Vertrags erforderlich,
d)
die Übermittlung ist aus wichtigen Gründen des öffentlichen Interesses notwendig,
e)
die Übermittlung ist zur Geltendmachung, Ausübung oder Verteidigung von Rechtsansprüchen erforderlich,
f)
die Übermittlung ist zum Schutz lebenswichtiger Interessen der betroffenen Person oder anderer Personen erforderlich, sofern die betroffene Person aus physischen oder rechtlichen Gründen außerstande ist, ihre Einwilligung zu geben,
g)
die Übermittlung erfolgt aus einem Register, das gemäß dem Recht der Union oder der Mitgliedstaaten zur Information der Öffentlichkeit bestimmt ist und entweder der gesamten Öffentlichkeit oder allen Personen, die ein berechtigtes Interesse nachweisen können, zur Einsichtnahme offensteht, aber nur soweit die im Recht der Union oder der Mitgliedstaaten festgelegten Voraussetzungen für die Einsichtnahme im Einzelfall gegeben sind.
Falls die Übermittlung nicht auf eine Bestimmung der Artikel 45 oder 46 – einschließlich der verbindlichen internen Datenschutzvorschriften – gestützt werden könnte und keine der Ausnahmen für einen bestimmten Fall gemäß dem ersten Unterabsatz anwendbar ist, darf eine Übermittlung an ein Drittland oder eine internationale Organisation nur dann erfolgen, wenn die Übermittlung nicht wiederholt erfolgt, nur eine begrenzte Zahl von betroffenen Personen betrifft, für die Wahrung der zwingenden berechtigten Interessen des Verantwortlichen erforderlich ist, sofern die Interessen oder die Rechte und Freiheiten der betroffenen Person nicht überwiegen, und der Verantwortliche alle Umstände der Datenübermittlung beurteilt und auf der Grundlage dieser Beurteilung geeignete Garantien in Bezug auf den Schutz personenbezogener Daten vorgesehen hat. Der Verantwortliche setzt die Aufsichtsbehörde von der Übermittlung in Kenntnis. Der Verantwortliche unterrichtet die betroffene Person über die Übermittlung und seine zwingenden berechtigten Interessen; dies erfolgt zusätzlich zu den der betroffenen Person nach den Artikeln 13 und 14 mitgeteilten Informationen.
(2) Datenübermittlungen gemäß Absatz 1 Unterabsatz 1 Buchstabe g dürfen nicht die Gesamtheit oder ganze Kategorien der im Register enthaltenen personenbezogenen Daten umfassen. Wenn das Register der Einsichtnahme durch Personen mit berechtigtem Interesse dient, darf die Übermittlung nur auf Anfrage dieser Personen oder nur dann erfolgen, wenn diese Personen die Adressaten der Übermittlung sind.
(3) Absatz 1 Unterabsatz 1 Buchstaben a, b und c und … Absatz 1 Unterabsatz 2 gelten nicht für Tätigkeiten, die Behörden in Ausübung ihrer hoheitlichen Befugnisse durchführen.
(4) Das öffentliche Interesse im Sinne des Absatzes 1 Unterabsatz 1 Buchstabe d muss im Unionsrecht oder im Recht des Mitgliedstaats, dem der Verantwortliche unterliegt, anerkannt sein.
(5) Liegt kein Angemessenheitsbeschluss vor, so können im Unionsrecht oder im Recht der Mitgliedstaaten aus wichtigen Gründen des öffentlichen Interesses ausdrücklich Beschränkungen der Übermittlung bestimmter Kategorien von personenbezogenen Daten an Drittländer oder internationale Organisationen vorgesehen werden. Die Mitgliedstaaten teilen der Kommission derartige Bestimmungen mit.
(6) Der Verantwortliche oder der Auftragsverarbeiter erfasst die von ihm vorgenommene Beurteilung sowie die angemessenen Garantien im Sinne des Absatzes 1 Unterabsatz 2 des vorliegenden Artikels in der Dokumentation gemäß Artikel 30.“
16 Art. 51 Abs. 1 der DSGVO bestimmt:
„Jeder Mitgliedstaat sieht vor, dass eine oder mehrere unabhängige Behörden für die Überwachung der Anwendung dieser Verordnung zuständig sind, damit die Grundrechte und Grundfreiheiten natürlicher Personen bei der Verarbeitung geschützt werden und der freie Verkehr personenbezogener Daten in der Union erleichtert wird (im Folgenden ‚Aufsichtsbehörde‘).“
17 Gemäß Art. 55 Abs. 1 der DSGVO ist „[j]ede Aufsichtsbehörde … für die Erfüllung der Aufgaben und die Ausübung der Befugnisse, die ihr mit dieser Verordnung übertragen wurden, im Hoheitsgebiet ihres eigenen Mitgliedstaats zuständig“.
18 Art. 57 Abs. 1 der DSGVO sieht vor:
„Unbeschadet anderer in dieser Verordnung dargelegter Aufgaben muss jede Aufsichtsbehörde in ihrem Hoheitsgebiet
a)
die Anwendung dieser Verordnung überwachen und durchsetzen;
…
f)
sich mit Beschwerden einer betroffenen Person … befassen, den Gegenstand der Beschwerde in angemessenem Umfang untersuchen und den Beschwerdeführer innerhalb einer angemessenen Frist über den Fortgang und das Ergebnis der Untersuchung unterrichten, insbesondere, wenn eine weitere Untersuchung oder Koordinierung mit einer anderen Aufsichtsbehörde notwendig ist;
…“
19 In Art. 58 Abs. 2 und 4 der DSGVO heißt es:
„(2) Jede Aufsichtsbehörde verfügt über sämtliche folgenden Abhilfebefugnisse, die es ihr gestatten,
…
f)
eine vorübergehende oder endgültige Beschränkung der Verarbeitung, einschließlich eines Verbots, zu verhängen,
…
j)
die Aussetzung der Übermittlung von Daten an einen Empfänger in einem Drittland oder an eine internationale Organisation anzuordnen.
…
(4) Die Ausübung der der Aufsichtsbehörde gemäß diesem Artikel übertragenen Befugnisse erfolgt vorbehaltlich geeigneter Garantien einschließlich wirksamer gerichtlicher Rechtsbehelfe und ordnungsgemäßer Verfahren gemäß dem Unionsrecht und dem Recht des Mitgliedstaats im Einklang mit der Charta.“
20 Art. 64 Abs. 2 der DSGVO lautet:
„Jede Aufsichtsbehörde, der Vorsitz des [Europäischen Datenschutzausschusses (EDSA)] oder die Kommission können beantragen, dass eine Angelegenheit mit allgemeiner Geltung oder mit Auswirkungen in mehr als einem Mitgliedstaat vom Ausschuss geprüft wird, um eine Stellungnahme zu erhalten, insbesondere wenn eine zuständige Aufsichtsbehörde den Verpflichtungen zur Amtshilfe gemäß Artikel 61 oder zu gemeinsamen Maßnahmen gemäß Artikel 62 nicht nachkommt.“
21 In Art. 65 Abs. 1 der DSGVO heißt es:
„Um die ordnungsgemäße und einheitliche Anwendung dieser Verordnung in Einzelfällen sicherzustellen, erlässt der Ausschuss in den folgenden Fällen einen verbindlichen Beschluss:
…
c)
wenn eine zuständige Aufsichtsbehörde in den in Artikel 64 Absatz 1 genannten Fällen keine Stellungnahme des Ausschusses einholt oder der Stellungnahme des Ausschusses gemäß Artikel 64 nicht folgt. In diesem Fall kann jede betroffene Aufsichtsbehörde oder die Kommission die Angelegenheit dem Ausschuss vorlegen.“
22 Art. 77 („Recht auf Beschwerde bei einer Aufsichtsbehörde“) der DSGVO lautet:
„(1) Jede betroffene Person hat unbeschadet eines anderweitigen verwaltungsrechtlichen oder gerichtlichen Rechtsbehelfs das Recht auf Beschwerde bei einer Aufsichtsbehörde, insbesondere in dem Mitgliedstaat ihres gewöhnlichen Aufenthaltsorts, ihres Arbeitsplatzes oder des Orts des mutmaßlichen Verstoßes, wenn die betroffene Person der Ansicht ist, dass die Verarbeitung der sie betreffenden personenbezogenen Daten gegen diese Verordnung verstößt.
(2) Die Aufsichtsbehörde, bei der die Beschwerde eingereicht wurde, unterrichtet den Beschwerdeführer über den Stand und die Ergebnisse der Beschwerde einschließlich der Möglichkeit eines gerichtlichen Rechtsbehelfs nach Artikel 78.“
23 Art. 78 („Recht auf wirksamen gerichtlichen Rechtsbehelf gegen eine Aufsichtsbehörde“) der DSGVO sieht in den Abs. 1 und 2 vor:
„(1) Jede natürliche oder juristische Person hat unbeschadet eines anderweitigen verwaltungsrechtlichen oder außergerichtlichen Rechtsbehelfs das Recht auf einen wirksamen gerichtlichen Rechtsbehelf gegen einen sie betreffenden rechtsverbindlichen Beschluss einer Aufsichtsbehörde.
(2) Jede betroffene Person hat unbeschadet eines anderweitigen verwaltungsrechtlichen oder außergerichtlichen Recht[s]behelfs das Recht auf einen wirksamen gerichtlichen Rechtsbehelf, wenn die nach den Artikeln 55 und 56 zuständige Aufsichtsbehörde sich nicht mit einer Beschwerde befasst oder die betroffene Person nicht innerhalb von drei Monaten über den Stand oder das Ergebnis der gemäß Artikel 77 erhobenen Beschwerde in Kenntnis gesetzt hat.“
24 Art. 94 der DSGVO bestimmt:
„(1) Die Richtlinie [95/46] wird mit Wirkung vom 25. Mai 2018 aufgehoben.
(2) Verweise auf die aufgehobene Richtlinie gelten als Verweise auf die vorliegende Verordnung. Verweise auf die durch Artikel 29 der Richtlinie [95/46] eingesetzte Gruppe für den Schutz von Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten gelten als Verweise auf den kraft dieser Verordnung errichteten Europäischen Datenschutzausschuss.“
25 Art. 99 der DSGVO lautet:
„(1) Diese Verordnung tritt am zwanzigsten Tag nach ihrer Veröffentlichung im Amtsblatt der Europäischen Union in Kraft.
(2) Sie gilt ab dem 25. Mai 2018.“
SDK-Beschluss
26 Der elfte Erwägungsgrund des SDK-Beschlusses lautet:
„Die Kontrollstellen der Mitgliedstaaten spielen eine Schlüsselrolle in diesem Vertragsmechanismus, weil sie sicherstellen, dass personenbezogene Daten nach der Übermittlung angemessen geschützt werden. In Ausnahmefällen, in denen Datenexporteure es ablehnen oder nicht in der Lage sind, dem Datenimporteur angemessene Anweisungen zu geben, und in denen eine hohe Wahrscheinlichkeit besteht, dass den betroffenen Personen ein schwerwiegender Schaden entsteht, sollten die Standardvertragsklauseln es den Kontrollstellen ermöglichen, Datenimporteure und Unterauftragsverarbeiter einer Prüfung zu unterziehen und gegebenenfalls Entscheidungen zu treffen, denen Datenimporteure und Unterauftragsverarbeiter Folge leisten müssen. Die Kontrollstellen sollten befugt sein, eine Datenübermittlung oder eine Reihe von Datenübermittlungen auf der Grundlage der Standardvertragsklauseln zu untersagen oder zurückzuhalten; dies gilt für jene Ausnahmefälle, für die feststeht, dass sich eine Übermittlung auf Vertragsbasis wahrscheinlich sehr nachteilig auf die Garantien und Pflichten auswirkt, die den betroffenen Personen angemessenen Schutz bieten sollen.“
27 Art. 1 des SDK-Beschlusses bestimmt:
„Die Standardvertragsklauseln im Anhang gelten als angemessene Garantien hinsichtlich des Schutzes der Privatsphäre, der Grundrechte und der Grundfreiheiten von Personen sowie hinsichtlich der Ausübung der damit verbundenen Rechte nach Artikel 26 Absatz 2 der Richtlinie [95/46].“
28 Gemäß Art. 2 Abs. 2 des SDK-Beschlusses „gilt [dieser] für die Übermittlung personenbezogener Daten durch für die Verarbeitung Verantwortliche, die in der Europäischen Union niedergelassen sind, an Empfänger außerhalb der Europäischen Union, die ausschließlich als Auftragsverarbeiter fungieren“.
29 In Art. 3 des SDK-Beschlusses heißt es:
„Für die Zwecke dieses Beschlusses gelten die folgenden Begriffsbestimmungen:
…
c)
der Begriff ‚Datenexporteur‘ bezeichnet den für die Verarbeitung Verantwortlichen, der die personenbezogenen Daten übermittelt;
d)
der Begriff ‚Datenimporteur‘ bezeichnet den in einem Drittland niedergelassenen Auftragsverarbeiter, der sich bereit erklärt, vom Datenexporteur nach dessen Anweisungen und den Vorschriften dieses Beschlusses personenbezogene Daten entgegenzunehmen und sie nach der Übermittlung in dessen Auftrag zu verarbeiten, und der nicht dem System eines Drittlands unterliegt, das ein angemessenes Schutzniveau im Sinne von Artikel 25 Absatz 1 der Richtlinie [95/46] bietet;
…
f)
der Begriff ‚anwendbares Datenschutzrecht‘ bezeichnet die Vorschriften zum Schutz der Grundrechte und Grundfreiheiten der Personen, insbesondere des Rechts auf Schutz der Privatsphäre im Hinblick auf die Verarbeitung personenbezogener Daten, die in dem Mitgliedstaat, in dem der Datenexporteur niedergelassen ist, für den für die Verarbeitung Verantwortlichen gelten;
…“
30 In seiner ursprünglichen Fassung, die vor dem Inkrafttreten des Durchführungsbeschlusses 2016/2297 galt, sah Art. 4 des SDK-Beschlusses vor:
„(1) Unbeschadet ihrer Befugnisse, tätig zu werden, um die Einhaltung nationaler Vorschriften gemäß den Kapiteln II, III, V und VI der Richtlinie [95/46] zu gewährleisten, können die zuständigen Kontrollstellen in den Mitgliedstaaten ihre Befugnisse ausüben und zum Schutz von Privatpersonen bei der Verarbeitung ihrer personenbezogenen Daten die Datenübermittlung in Drittländer verbieten oder aussetzen, wenn
a)
feststeht, dass der Datenimporteur oder Unterauftragsverarbeiter nach den für ihn geltenden Rechtsvorschriften Anforderungen unterliegt, die ihn zwingen, vom anwendbaren Datenschutzrecht in einem Maß abzuweichen, das über die Beschränkungen hinausgeht, die im Sinne von Artikel 13 der Richtlinie [95/46] für eine demokratische Gesellschaft erforderlich sind, und dass sich diese Anforderungen wahrscheinlich sehr nachteilig auf die Garantien auswirken würden, die das anwendbare Datenschutzrecht und die Standardvertragsklauseln bieten,
b)
eine zuständige Behörde festgestellt hat, dass der Datenimporteur oder ein Unterauftragsverarbeiter die Standardvertragsklauseln im Anhang nicht eingehalten hat, oder
c)
eine hohe Wahrscheinlichkeit besteht, dass die im Anhang enthaltenen Standardvertragsklauseln derzeit oder künftig nicht eingehalten werden und die Fortsetzung der Übermittlung den betroffenen Personen einen schwerwiegenden Schaden zufügen könnte.
(2) Das Verbot oder die Aussetzung gemäß Absatz 1 wird aufgehoben, sobald die Gründe für das Verbot oder die Aussetzung nicht mehr vorliegen.
(3) Wenn die Mitgliedstaaten Maßnahmen gemäß den Absätzen 1 und 2 ergreifen, informieren sie unverzüglich die Kommission, die ihrerseits die Informationen an die anderen Mitgliedstaaten weiterleitet.“
31 Der fünfte Erwägungsgrund des Durchführungsbeschlusses 2016/2297, der im Anschluss an die Verkündung des Urteils vom 6. Oktober 2015, Schrems (C‑362/14, EU:C:2015:650), erlassen wurde, lautet:
„Folglich ist eine gemäß Artikel 26 Absatz 4 der Richtlinie [95/46] angenommene Entscheidung der Kommission für alle Organe der Mitgliedstaaten bindend, an die sie gerichtet ist, einschließlich ihrer unabhängigen Aufsichtsbehörden, insoweit hiermit anerkannt wird, dass die Datenübermittlungen auf der Grundlage der in diesem Artikel genannten Standardvertragsklauseln ausreichende Garantien im Sinne von Artikel 26 Absatz 2 dieser Richtlinie bieten. Dies hindert eine nationale Aufsichtsbehörde jedoch nicht daran, Datenübermittlungen zu kontrollieren und unter anderem eine Übermittlung personenbezogener Daten auszusetzen oder zu verbieten, wenn sie feststellt, dass durch die Übermittlung EU- oder nationale Datenschutzvorschriften verletzt werden, beispielsweise wenn der Datenimporteur die Standardvertragsklauseln missachtet.“
32 In seiner aktuellen, aus dem Durchführungsbeschluss 2016/2297 hervorgegangenen Fassung sieht Art. 4 des SDK-Beschlusses vor:
„Wenn die zuständigen Behörden in den Mitgliedstaaten ihre Befugnisse gemäß Artikel 28 Absatz 3 der Richtlinie [95/46] ausüben und die Datenübertragungen an Drittstaaten aussetzen oder endgültig verbieten, um Privatpersonen im Hinblick auf die Verarbeitung ihrer personenbezogenen Daten zu schützen, informiert der betreffende Mitgliedstaat unverzüglich die Kommission, die ihrerseits die Informationen an die anderen Mitgliedstaaten weiterleitet.“
33 Der Anhang („Standardvertragsklauseln [Auftragsverarbeiter]“) des SDK-Beschlusses enthält zwölf Standardklauseln. Klausel 3 („Drittbegünstigtenklausel“) des Anhangs sieht vor:
„(1) Die betroffenen Personen können diese Klausel sowie Klausel 4 Buchstaben b bis i, Klausel 5 Buchstaben a bis e und g bis j, Klausel 6 Absätze 1 und 2, Klausel 7, Klausel 8 Absatz 2 sowie die Klauseln 9 bis 12 gegenüber dem Datenexporteur als Drittbegünstigte geltend machen.
(2) Die betroffene Person kann diese Klausel, Klausel 5 Buchstaben a bis e und g, die Klauseln 6 und 7, Klausel 8 Absatz 2 sowie die Klauseln 9 bis 12 gegenüber dem Datenimporteur geltend machen, wenn das Unternehmen des Datenexporteurs faktisch oder rechtlich nicht mehr besteht, es sei denn, ein Rechtsnachfolger hat durch einen Vertrag oder kraft Gesetzes sämtliche rechtlichen Pflichten des Datenexporteurs übernommen; in letzterem Fall kann die betroffene Person die Klauseln gegenüber dem Rechtsnachfolger als Träger sämtlicher Rechte und Pflichten des Datenexporteurs geltend machen.
…“
34 In Klausel 4 („Pflichten des Datenexporteurs“) dieses Anhangs heißt es:
„Der Datenexporteur erklärt sich bereit und garantiert, dass:
a)
die Verarbeitung der personenbezogenen Daten einschließlich der Übermittlung entsprechend den einschlägigen Bestimmungen des anwendbaren Datenschutzrechts durchgeführt wurde und auch weiterhin so durchgeführt wird (und gegebenenfalls den zuständigen Behörden des Mitgliedstaats mitgeteilt wurde, in dem der Datenexporteur niedergelassen ist) und nicht gegen die einschlägigen Vorschriften dieses Staates verstößt;
b)
er den Datenimporteur angewiesen hat und während der gesamten Dauer der Datenverarbeitungsdienste anweisen wird, die übermittelten personenbezogenen Daten nur im Auftrag des Datenexporteurs und in Übereinstimmung mit dem anwendbaren Datenschutzrecht und den Klauseln zu verarbeiten;
…
f)
die betroffene Person bei der Übermittlung besonderer Datenkategorien vor oder so bald wie möglich nach der Übermittlung davon in Kenntnis gesetzt worden ist oder gesetzt wird, dass ihre Daten in ein Drittland übermittelt werden könnten, das kein angemessenes Schutzniveau im Sinne der Richtlinie [95/46] bietet;
g)
er die gemäß Klausel 5 Buchstabe b sowie Klausel 8 Absatz 3 vom Datenimporteur oder von einem Unterauftragsverarbeiter erhaltene Mitteilung an die Kontrollstelle weiterleitet, wenn der Datenexporteur beschließt, die Übermittlung fortzusetzen oder die Aussetzung aufzuheben;
…“
35 Klausel 5 („Pflichten des Datenimporteurs …“) des Anhangs bestimmt:
„Der Datenimporteur erklärt sich bereit und garantiert, dass:
a)
er die personenbezogenen Daten nur im Auftrag des Datenexporteurs und in Übereinstimmung mit dessen Anweisungen und den vorliegenden Klauseln verarbeitet; dass er sich, falls er dies aus irgendwelchen Gründen nicht einhalten kann, bereit erklärt, den Datenexporteur unverzüglich davon in Kenntnis zu setzen, der unter diesen Umständen berechtigt ist, die Datenübermittlung auszusetzen und/oder vom Vertrag zurückzutreten;
b)
er seines Wissens keinen Gesetzen unterliegt, die ihm die Befolgung der Anweisungen des Datenexporteurs und die Einhaltung seiner vertraglichen Pflichten unmöglich machen, und eine Gesetzesänderung, die sich voraussichtlich sehr nachteilig auf die Garantien und Pflichten auswirkt, die die Klauseln bieten sollen, dem Datenexporteur mitteilen wird, sobald er von einer solchen Änderung Kenntnis erhält; unter diesen Umständen ist der Datenexporteur berechtigt, die Datenübermittlung auszusetzen und/oder vom Vertrag zurückzutreten;
…
d)
er den Datenexporteur unverzüglich informiert über
i)
alle rechtlich bindenden Aufforderungen einer Vollstreckungsbehörde zur Weitergabe der personenbezogenen Daten, es sei denn, dies wäre anderweitig untersagt, beispielsweise durch ein strafrechtliches Verbot zur Wahrung des Untersuchungsgeheimnisses bei strafrechtlichen Ermittlungen;
ii)
jeden zufälligen oder unberechtigten Zugang und
iii)
alle Anfragen, die direkt von den betroffenen Personen an ihn gerichtet werden, ohne diese zu beantworten, es sei denn, er wäre anderweitig dazu berechtigt;
…“
36 In der Fußnote zur Überschrift von Klausel 5 heißt es:
„Zwingende Erfordernisse des für den Datenimporteur geltenden innerstaatlichen Rechts, die nicht über das hinausgehen, was in einer demokratischen Gesellschaft für den Schutz eines der in Artikel 13 Absatz 1 der Richtlinie [95/46] aufgelisteten Interessen erforderlich ist, widersprechen nicht den Standardvertragsklauseln, wenn sie zur Gewährleistung der Sicherheit des Staates, der Landesverteidigung, der öffentlichen Sicherheit, der Verhütung, Ermittlung, Feststellung und Verfolgung von Straftaten oder Verstößen gegen die berufsständischen Regeln bei reglementierten Berufen, eines wichtigen wirtschaftlichen oder finanziellen Interesses eines Mitgliedstaats, des Schutzes der betroffenen Person und der Rechte und Freiheiten anderer Personen erforderlich sind. …“
37 Klausel 6 („Haftung“) im Anhang des SDK-Beschlusses sieht vor:
„(1) Die Parteien vereinbaren, dass jede betroffene Person, die durch eine Verletzung der in Klausel 3 oder 11 genannten Pflichten durch eine Partei oder den Unterauftragsverarbeiter Schaden erlitten hat, berechtigt ist, vom Datenexporteur Schadenersatz für den erlittenen Schaden zu erlangen.
(2) Ist die betroffene Person nicht in der Lage, gemäß Absatz 1 gegenüber dem Datenexporteur wegen Verstoßes des Datenimporteurs oder seines Unterauftragsverarbeiters gegen in den Klauseln 3 und 11 genannte Pflichten Schadenersatzansprüche geltend zu machen, weil das Unternehmen des Datenexporteurs faktisch oder rechtlich nicht mehr besteht oder zahlungsunfähig ist, ist der Datenimporteur damit einverstanden, dass die betroffene Person Ansprüche gegenüber ihm statt gegenüber dem Datenexporteur geltend macht …
…“
38 Klausel 8 („Zusammenarbeit mit Kontrollstellen“) des Anhangs bestimmt in Abs. 2:
„Die Parteien vereinbaren, dass die Kontrollstelle befugt ist, den Datenimporteur und etwaige Unterauftragsverarbeiter im gleichen Maße und unter denselben Bedingungen einer Prüfung zu unterziehen, unter denen die Kontrollstelle gemäß dem anwendbaren Datenschutzrecht auch den Datenexporteur prüfen müsste.“
39 In Klausel 9 („Anwendbares Recht“) des Anhangs wird klargestellt, dass für die Klauseln das Recht des Mitgliedstaats gilt, in dem der Datenexporteur niedergelassen ist.
40 In Klausel 11 („Vergabe eines Unterauftrags“) des Anhangs heißt es:
„(1) Der Datenimporteur darf ohne die vorherige schriftliche Einwilligung des Datenexporteurs keinen nach den Klauseln auszuführenden Verarbeitungsauftrag dieses Datenexporteurs an einen Unterauftragnehmer vergeben. Vergibt der Datenimporteur mit Einwilligung des Datenexporteurs Unteraufträge, die den Pflichten der Klauseln unterliegen, ist dies nur im Wege einer schriftlichen Vereinbarung mit dem Unterauftragsverarbeiter möglich, die diesem die gleichen Pflichten auferlegt, die auch der Datenimporteur nach den Klauseln erfüllen muss …
(2) Die vorherige schriftliche Vereinbarung zwischen dem Datenimporteur und dem Unterauftragsverarbeiter muss gemäß Klausel 3 auch eine Drittbegünstigtenklausel für Fälle enthalten, in denen die betroffene Person nicht in der Lage ist, einen Schadenersatzanspruch gemäß Klausel 6 Absatz 1 gegenüber dem Datenexporteur oder dem Datenimporteur geltend zu machen, weil diese faktisch oder rechtlich nicht mehr bestehen oder zahlungsunfähig sind und kein Rechtsnachfolger durch Vertrag oder kraft Gesetzes sämtliche rechtlichen Pflichten des Datenexporteurs oder des Datenimporteurs übernommen hat. Eine solche Haftpflicht des Unterauftragsverarbeiters ist auf dessen Verarbeitungstätigkeiten nach den Klauseln beschränkt.
…“
41 Klausel 12 („Pflichten nach Beendigung der Datenverarbeitungsdienste“) im Anhang des SDK-Beschlusses bestimmt in Abs. 1:
„Die Parteien vereinbaren, dass der Datenimporteur und der Unterauftragsverarbeiter bei Beendigung der Datenverarbeitungsdienste je nach Wunsch des Datenexporteurs alle übermittelten personenbezogenen Daten und deren Kopien an den Datenexporteur zurückschicken oder alle personenbezogenen Daten zerstören und dem Datenexporteur bescheinigen, dass dies erfolgt ist, sofern die Gesetzgebung, der der Datenimporteur unterliegt, diesem die Rückübermittlung oder Zerstörung sämtlicher oder Teile der übermittelten personenbezogenen Daten nicht untersagt. …“
DSS-Beschluss
42 Mit Urteil vom 6. Oktober 2015, Schrems (C‑362/14, EU:C:2015:650), hat der Gerichtshof die Entscheidung 2000/520/EG der Kommission vom 26. Juli 2000 gemäß der Richtlinie 95/46 über die Angemessenheit des von den Grundsätzen des „sicheren Hafens“ und der diesbezüglichen „Häufig gestellten Fragen“ (FAQ) gewährleisteten Schutzes, vorgelegt vom Handelsministerium der USA (ABl. 2000, L 215, S. 7), in der die Kommission festgestellt hatte, dass dieses Drittland ein angemessenes Schutzniveau gewährleiste, für ungültig erklärt.
43 Im Anschluss an die Verkündung dieses Urteils erließ die Kommission den DSS-Beschluss, nachdem sie zu diesem Zweck das amerikanische Recht analysiert hatte, wie im 65. Erwägungsgrund dieses Beschlusses dargelegt wird:
„Die Kommission hat die Einschränkungen und Garantien bewertet, die im amerikanischen Recht für im Rahmen des EU-US-Datenschutzschilds übermittelte Daten gelten, welche durch staatliche Einrichtungen der USA aus Gründen der nationalen Sicherheit, der Strafverfolgung oder anderer im öffentlichen Interesse liegender Ziele gesammelt und genutzt werden. Überdies hat die Regierung der USA über das Amt des Director of National Intelligence (ODNI) der Kommission gegenüber detaillierte Erklärungen abgegeben und Zusagen gemacht, die in Anhang VI dieses Beschlusses enthalten sind. In einem Schreiben, das vom Außenminister unterzeichnet wurde und diesem Beschluss als Anhang III beigefügt ist, hat sich die Regierung der USA zudem verpflichtet, eine neue Aufsichtsinstanz für Eingriffe aus Gründen der nationalen Sicherheit ins Leben zu rufen, die Ombudsperson des Datenschutzschilds (Privacy Shield Ombudsperson), die von der Intelligence Community unabhängig ist. Außerdem werden in einer Erklärung des Justizministeriums der USA, die in Anhang VII des vorliegenden Beschlusses enthalten ist, die Einschränkungen und Garantien dargelegt, die für die Sammlung und Nutzung von Daten durch staatliche Stellen für Zwecke der Strafverfolgung und andere im öffentlichen Interesse liegende Ziele gelten. Um für größere Transparenz zu sorgen und die Rechtsverbindlichkeit dieser Zusagen zu unterstreichen, werden alle aufgeführten und diesem Beschluss beigefügten Schriftstücke im Bundesregister der USA veröffentlicht.“
44 Die von der Kommission durchgeführte Analyse bezüglich dieser Einschränkungen und Garantien wird in den Erwägungsgründen 67 bis 135 des DSS-Beschlusses zusammengefasst, während ihre Schlussfolgerungen betreffend den angemessenen Rechtsschutz im Rahmen des EU-US-Datenschutzschilds in den Erwägungsgründen 136 bis 141 dieses Beschlusses dargelegt werden.
45 Im Einzelnen heißt es in den Erwägungsgründen 68, 69, 76, 77, 109, 112 bis 116, 120, 136 und 140 des DSS-Beschlusses:
„(68)
Nach der Verfassung der USA fällt die Gewährleistung der nationalen Sicherheit in die Zuständigkeit des Präsidenten als Oberbefehlshaber, Staatsoberhaupt und, soweit die Auslandsaufklärung betroffen ist, Verantwortlicher für die Außenpolitik der USA … Der Kongress ist zwar befugt, ihm Beschränkungen aufzuerlegen, und hat von diesem Recht mehrfach Gebrauch gemacht, doch kann der Präsident innerhalb dieser Grenzen die Aktivitäten der amerikanischen Intelligence Community lenken, insbesondere durch Executive Orders oder Presidential Directives. … Zwei zentrale Rechtsvorschriften dieser Art sind die Executive Order 12333 (‚E.O. 12333‘) und die Presidential Policy Directive 28.
(69) Die am 17. Januar 2014 erlassene Presidential Policy Directive 28 (‚PPD-28‘) bringt eine Reihe von Einschränkungen für die ‚Signalaufklärung‘ mit sich … Diese Verordnung ist für die Nachrichtendienste der USA verbindlich … und bleibt auch bei einem Regierungswechsel in Kraft … Die PPD-28 ist für Personen außerhalb der USA, darunter Betroffene in der EU, von besonderer Bedeutung. …
…
(76) [Die] Prinzipien [der PPD-28] bringen den Wesensinhalt der Grundsätze der Notwendigkeit und der Verhältnismäßigkeit zum Ausdruck, auch wenn diese Begriffe nicht ausdrücklich verwendet werden. …
(77) Da es sich um eine Direktive des Präsidenten in seiner Eigenschaft als Staatsoberhaupt handelt, sind ihre Bestimmungen für die gesamte Intelligence Community verbindlich und inzwischen durch Regeln und Verfahren der Nachrichtendienste weiter ausgestaltet worden, die die allgemeinen Grundsätze in konkrete Anleitungen für die alltägliche Praxis umsetzen. …
…
(109) Hingegen autorisiert [der United States Foreign Intelligence Surveillance Court (FISC) (Gericht für die Überwachung der Auslandsgeheimdienste der Vereinigten Staaten)] nach [Section] 702 des [Foreign Intelligence Surveillance Act (FISA) (Gesetz zur Überwachung in der Auslandsaufklärung)] keine individuellen Überwachungsmaßnahmen; vielmehr genehmigt [er] Überwachungsprogramme (wie PRISM oder UPSTREAM) auf der Grundlage jährlicher Zertifizierungen, die vom [United States Attorney General (Justizminister)] und [vom] Director of National Intelligence vorgenommen werden. … Wie bereits angemerkt, enthalten die vom FISC zu bestätigenden Zertifizierungen keine Informationen über die einzelnen zu überwachenden Personen, sondern beziehen sich auf Kategorien von Auslandsaufklärungsdaten … D[er] FISC beurteilt nicht – anhand eines hinreichenden Verdachts oder sonstigen Kriteriums –, ob die Personen vorschriftsgemäß als Zielpersonen für die Beschaffung von Auslandsaufklärungsdaten ausgewählt wurden …, sondern überprüft die Einhaltung der Bestimmung, dass ‚ein wesentlicher Zweck der Datenerhebung darin besteht, Auslandsaufklärungsdaten zu erlangen‘ …
…
(112) Erstens bietet der [FISA] eine Reihe von Rechtsschutzinstrumenten, die auch Nicht-US-Bürger in Anspruch nehmen können, um gegen rechtswidrige elektronische Überwachung … vorzugehen. Beispielsweise haben Privatpersonen die Möglichkeit, eine Zivilklage auf Schadenersatz gegen die Vereinigten Staaten anzustrengen, wenn Informationen, die sie betreffen, gesetzwidrig und vorsätzlich genutzt oder offengelegt wurden[,] US-Regierungsbeamte in persönlicher Eigenschaft (nach dem Grundsatz der Rechtsscheinhaftung) auf Schadenersatz zu verklagen … und die Rechtmäßigkeit der Überwachung anzufechten (und auf die Unterdrückung der Informationen hinzuwirken), sofern die US-Regierung beabsichtigt, in den Vereinigten Staaten direkt oder mittelbar aus der elektronischen Überwachung gewonnene Erkenntnisse in einem Gerichts- oder Verwaltungsverfahren gegen die betroffene Person zu verwenden oder offenzulegen …
(113) Zweitens hat die US-Regierung die Kommission auf eine Reihe zusätzlicher Möglichkeiten hingewiesen, die betroffene Personen in der EU nutzen könnten, um rechtlich gegen Regierungsbeamte wegen des rechtswidrigen Zugangs zu [personenbezogenen Daten] oder der Verarbeitung personenbezogener Daten, auch für vorgebliche Ziele der nationalen Sicherheit, vorzugehen …
(114) Darüber hinaus benannte die US-Regierung den Freedom of Information Act [(FOIA) (Informationsfreiheitsgesetz)] als Mittel, mit dem Nicht-US-Bürger Zugang zu vorhandenen Unterlagen von Bundesbehörden erlangen können, auch zu solchen, die personenbezogene Daten der betreffenden Personen enthalten … Aufgrund seines zentralen Anliegens eröffnet der FOIA einerseits keine Möglichkeit für individuellen Recht[s]schutz gegen Eingriffe in personenbezogene Daten als solche, wobei das Gesetz andererseits vom Grundsatz her Privatpersonen den Zugang zu relevanten Informationen ermöglichen könnte, die sich im Besitz von bundesweit operierenden Nachrichtendiensten befinden. …
(115) Auch wenn Privatpersonen, einschließlich Betroffene[n] in der EU, eine Reihe von Rechtsschutzinstrumenten zur Verfügung steht, wenn sie aus Gründen der nationalen Sicherheit rechtswidrig (elektronisch) überwacht wurden, steht doch fest, dass zumindest einige Rechtsgrundlagen, die US-Nachrichtendienste nutzen können (z. B. [die] E.O. 12333), [davon nicht erfasst werden]. Selbst wenn Nicht-US-Bürger im Prinzip auf gerichtliche Rechtsbehelfe zurückgreifen können, beispielsweise auf der Grundlage des FISA im Falle der Überwachung, sind die verfügbaren Klagemöglichkeiten begrenzt …, denn Klagen von Einzelpersonen (auch US-Bürgern) werden abgewiesen, wenn diese ihre ‚Klagebefugnis‘ nicht nachweisen können …, was den Zugang zu den ordentlichen Gerichten einschränkt …
(116) Um eine zusätzliche Rechtsschutzmöglichkeit zu schaffen, die allen Betroffenen in der EU offensteht, hat die US-Regierung beschlossen, als neue Einrichtung einen Ombudsmechanismus ins Leben zu rufen, wie er im Schreiben des US-Außenministers an die Kommission beschrieben wird, das Bestandteil von Anhang III zum vorliegenden Beschluss ist. Er basiert auf der gemäß [der] PPD-28 erfolgenden Benennung eines Senior Coordinator [(Hauptkoordinator)] (im Range eines Under-Secretary [Staatssekretärs]) im Außenministerium, der als Ansprechpartner für ausländische Regierungen fungiert, die Bedenken im Zusammenhang mit der US-Signalaufklärung vorbringen, geht aber deutlich darüber hinaus.
…
(120) [D]ie US-Regierung [sichert] zu, dafür zu sorgen, dass sich die Ombudsperson des Datenschutzschilds bei der Erfüllung ihrer Aufgaben auf die Zusammenarbeit mit anderen im amerikanischen Recht vorgesehenen unabhängigen Überwachungs- und Kontrollgremien stützen kann. … Wenn eines der Kontrollgremien Verstöße feststellt, muss die betreffende Einrichtung der Intelligence Community (z. B. ein Nachrichtendienst) die Verstöße abstellen, da die Ombudsperson nur dann in der Lage ist, der betroffenen Person eine ‚positive‘ Antwort zu geben (in dem Sinne, dass etwaige Verstöße abgestellt worden sind), wozu sich die US-Regierung verpflichtet hat. …
…
(136) Im Licht dieser Feststellungen geht die Kommission davon aus, dass die Vereinigten Staaten einen angemessenen Rechtsschutz für personenbezogene Daten gewährleisten, die im Rahmen des EU-US-Datenschutzschilds aus der Europäischen Union an selbstzertifizierte Organisationen in den Vereinigten Staaten übermittelt werden.
…
(140) Schließlich kommt die Kommission aufgrund der verfügbaren Informationen über die Rechtsordnung der USA, einschließlich der Erklärungen und Zusagen der US-Regierung, zu dem Schluss, dass jegliche Eingriffe in die Grundrechte von Personen, deren Daten im Rahmen des EU-US-Datenschutzschilds aus Gründen der nationalen Sicherheit, der Strafverfolgung oder für andere im öffentlichen Interesse liegende Zwecke aus der Europäischen Union in die Vereinigten Staaten übermittelt werden, sowie die deshalb den selbstzertifizierten Organisationen bei der Einhaltung der Grundsätze auferlegten Beschränkungen auf das für die Erreichung solcher legitimen Ziele absolut notwendige Maß beschränkt werden und dass damit ein wirksamer Rechtsschutz vor derartigen Eingriffen gewährleistet ist.“
46 Art. 1 des DSS-Beschlusses lautet:
„(1) Im Sinne von Artikel 25 Absatz 2 der Richtlinie [95/46] gewährleisten die Vereinigten Staaten ein angemessenes Schutzniveau für personenbezogene Daten, die im Rahmen des EU-US-Datenschutzschilds aus der Europäischen Union an Organisationen in den Vereinigten Staaten übermittelt werden.
(2) Der EU-US-Datenschutzschild besteht aus den Grundsätzen, die am 7. Juli 2016 vom US-Handelsministerium herausgegeben wurden und in Anhang II aufgeführt sind, und den offiziellen Erklärungen und Zusagen, die in den Schriftstücken der Anhänge I und III bis VII enthalten sind.
(3) Im Sinne von Absatz 1 werden personenbezogene Daten im Rahmen des EU-US-Datenschutzschilds übermittelt, wenn sie aus der Europäischen Union an US-Organisationen übermittelt werden, die in der ‚Datenschutzschild-Liste‘ aufgeführt sind, welche in Übereinstimmung mit [den] Abschnitt[en] I und III der Grundsätze in Anhang II vom US-Handelsministerium geführt und der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wird.“
47 Anhang II („Grundsätze des EU-US-Datenschutzschilds[,] vorgelegt vom amerikanischen Handelsministerium“) des DSS-Beschlusses sieht in Abschnitt I.5 vor, dass die Einhaltung dieser Grundsätze begrenzt sein kann, u. a. „insoweit, als Erfordernissen der nationalen Sicherheit, des öffentlichen Interesses oder der Durchführung von Gesetzen Rechnung getragen werden muss“.
48 Anhang III des DSS-Beschlusses enthält ein Schreiben von John Kerry, dem damaligen Secretary of State (Außenminister, Vereinigte Staaten), an die Kommissarin für Justiz, Verbraucher und Gleichstellung vom 7. Juli 2016, dem als Anlage A eine mit „Ombudsstelle des EU-U.S.-Datenschutzschilds für die signalerfassende Aufklärung“ überschriebene Absichtserklärung mit folgenden Angaben beigefügt ist:
„In Anerkennung der Bedeutung des EU-U.S.-Datenschutzschilds gibt die vorstehende Absichtserklärung einen Überblick über das Verfahren zur Umsetzung eines neuen Mechanismus für die signalerfassende Aufklärung, der mit der [PPD-28] im Einklang steht.
… Präsident Obama kündigte die Veröffentlichung einer neuen Presidential Directive, der ‚PPD-28‘, an mit ‚klaren Vorschriften dazu, was wir unternehmen und was nicht, wenn es um unsere Auslandsaufklärung geht‘.
In [Section] 4 Buchstabe d der PPD-28 wird der Außenminister beauftragt, einen ‚Senior Coordinator for International Information Technology Diplomacy‘ (Senior Coordinator) zu benennen, ‚der … als Ansprechpartner für ausländische Regierungen fungiert, die Bedenken im Zusammenhang mit der Signalaufklärung der Vereinigten Staaten vorbringen‘.
…
1. … Der Senior Coordinator fungiert als Ombudsperson des Datenschutzschilds und … arbeitet eng mit den jeweiligen Beamten aus anderen Regierungsstellen zusammen, die dem geltendem Recht und der bestehenden Auslegungspraxis der Vereinigten Staaten entsprechend für die Bearbeitung von Anträgen zuständig sind. Die Ombuds[person] untersteht unmittelbar dem Außenminister, der dafür Sorge trägt, dass [sie] ihre Aufgabe objektiv und frei von unzulässiger Einflussnahme erfüllt, die sich auf die zu erteilende Antwort auswirken kann.
…“
49 Anhang VI des DSS-Beschlusses enthält ein Schreiben des Office of the Director of National Intelligence an den amerikanischen Handelsminister sowie an die International Trade Administration vom 21. Juni 2016, in dem es heißt, dass die PPD-28 es ermögliche, eine „‚Sammelerhebung‘ … einer relativ großen Menge von signalerfassenden Aufklärungsdaten unter Bedingungen [durchzuführen], in denen die Intelligence Community keinen mit einer bestimmten Zielperson verbundenen Identifikator … für eine zielgerichtete Erhebung verwenden kann“.
Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefragen
50 Herr Schrems, ein in Österreich wohnhafter österreichischer Staatsangehöriger, nutzt seit 2008 das soziale Netzwerk Facebook (im Folgenden: Facebook).
51 Alle im Unionsgebiet wohnhaften Personen, die Facebook nutzen wollen, müssen bei ihrer Anmeldung einen Vertrag mit Facebook Ireland abschließen, einer Tochtergesellschaft der in den Vereinigten Staaten ansässigen Facebook Inc. Die personenbezogenen Daten der im Unionsgebiet wohnhaften Nutzer von Facebook werden ganz oder teilweise an Server der Facebook Inc., die sich in den Vereinigten Staaten befinden, übermittelt und dort verarbeitet.
52 Am 25. Juni 2013 legte Herr Schrems beim Commissioner eine Beschwerde ein, mit der er ihn im Wesentlichen aufforderte, Facebook Ireland die Übermittlung seiner personenbezogenen Daten in die Vereinigten Staaten zu untersagen. Dabei machte er geltend, das Recht und die Praxis der Vereinigten Staaten gewährleisteten keinen ausreichenden Schutz der in diesem Land gespeicherten personenbezogenen Daten vor den Überwachungstätigkeiten der dortigen Behörden. Die Beschwerde wurde u. a. mit der Begründung zurückgewiesen, die Kommission habe in der Entscheidung 2000/520 festgestellt, dass die Vereinigten Staaten ein angemessenes Schutzniveau gewährleisteten.
53 Der High Court (Hoher Gerichtshof, Irland), vor dem Herr Schrems Klage gegen die Zurückweisung seiner Beschwerde erhoben hatte, befasste den Gerichtshof mit einem Vorabentscheidungsersuchen betreffend die Auslegung und die Gültigkeit der Entscheidung 2000/520. Mit Urteil vom 6. Oktober 2015, Schrems (C‑362/14, EU:C:2015:650), erklärte der Gerichtshof diese Entscheidung für ungültig.
54 Im Anschluss an dieses Urteil hob das vorlegende Gericht die Entscheidung, mit der die Beschwerde von Herrn Schrems zurückgewiesen worden war, auf und verwies die Sache an den Commissioner zurück. Im Rahmen der von ihm eingeleiteten Untersuchung erklärte Facebook Ireland, ein großer Teil der personenbezogenen Daten werde auf der Grundlage der im Anhang des SDK-Beschlusses enthaltenen Standarddatenschutzklauseln an die Facebook Inc. übermittelt. Vor diesem Hintergrund forderte der Commissioner Herrn Schrems auf, seine Beschwerde umzuformulieren.
55 Mit seiner dementsprechend umformulierten, am 1. Dezember 2015 eingereichten Beschwerde machte Herr Schrems insbesondere geltend, dass die Facebook Inc. nach amerikanischem Recht verpflichtet sei, die ihr übermittelten personenbezogenen Daten amerikanischen Behörden wie der National Security Agency (NSA) und dem Federal Bureau of Investigation (FBI) zur Verfügung zu stellen. Da diese Daten im Rahmen verschiedener Überwachungsprogramme in einer mit den Art. 7, 8 und 47 der Charta unvereinbaren Weise verwendet würden, könne der SDK-Beschluss ihre Übermittlung in die Vereinigten Staaten nicht rechtfertigen. Herr Schrems forderte den Commissioner daher auf, die Übermittlung seiner personenbezogenen Daten an die Facebook Inc. zu verbieten oder auszusetzen.
56 Am 24. Mai 2016 veröffentlichte der Commissioner einen „Entscheidungsentwurf“, in dem er die vorläufigen Schlussfolgerungen seiner Untersuchung zusammenfasste. Darin äußerte er die vorläufige Auffassung, es sei zu befürchten, dass die amerikanischen Behörden die in die Vereinigten Staaten übermittelten personenbezogenen Daten von Unionsbürgern in einer mit den Art. 7 und 8 der Charta unvereinbaren Weise abfragten und verarbeiteten; insoweit biete das Recht der Vereinigten Staaten den Unionsbürgern keine mit Art. 47 der Charta vereinbaren Rechtsbehelfe. Die Standarddatenschutzklauseln im Anhang des SDK-Beschlusses seien nicht geeignet, diesem Mangel abzuhelfen, da sie den betroffenen Personen nur vertragliche Rechte gegenüber dem Datenexporteur und dem Datenimporteur einräumten, ohne die amerikanischen Behörden zu binden.
57 Der Commissioner war der Auffassung, dass die umformulierte Beschwerde von Herrn Schrems unter diesen Umständen die Frage der Gültigkeit des SDK-Beschlusses aufwerfe, und rief daher am 31. Mai 2016 unter Verweis auf die mit dem Urteil vom 6. Oktober 2015, Schrems (C‑362/14, EU:C:2015:650, Rn. 65), begründete Rechtsprechung den High Court (Hoher Gerichtshof) an, damit er den Gerichtshof hierzu befragen möge. Mit Entscheidung vom 4. Mai 2018 befasste der High Court (Hoher Gerichtshof) den Gerichtshof mit dem vorliegenden Vorabentscheidungsersuchen.
58 Der High Court (Hoher Gerichtshof) fügte seinem Vorabentscheidungsersuchen ein Urteil vom 3. Oktober 2017 bei, in dem er das Ergebnis der Würdigung der ihm im nationalen Verfahren – an dem die amerikanische Regierung beteiligt gewesen war – vorgelegten Beweise dargelegt hatte.
59 In diesem Urteil, auf das im Vorabentscheidungsersuchen mehrfach Bezug genommen wird, führte das vorlegende Gericht aus, grundsätzlich sei es nicht nur berechtigt, sondern auch verpflichtet, sämtliche vor ihm geltend gemachten Tatsachen und Argumente zu prüfen, um auf deren Grundlage zu entscheiden, ob eine Vorlage zur Vorabentscheidung erforderlich sei. Jedenfalls müsse es etwaige Rechtsänderungen berücksichtigen, die zwischen der Klageerhebung und der von ihm anberaumten mündlichen Verhandlung eingetreten seien. Im Ausgangsverfahren sei seine eigene Beurteilung nicht auf die vom Commissioner geltend gemachten Ungültigkeitsgründe beschränkt, so dass es auch von Amts wegen weitere Ungültigkeitsgründe aufwerfen und auf deren Grundlage ein Vorabentscheidungsersuchen einreichen könne.
60 Nach den Feststellungen in diesem Urteil stützen sich die nachrichtendienstlichen Tätigkeiten der amerikanischen Behörden, was die in die Vereinigten Staaten übermittelten personenbezogenen Daten anbelangt, namentlich auf Section 702 des FISA und die E.O. 12333.
61 Zu Section 702 des FISA führt das vorlegende Gericht in diesem Urteil aus, der Justizminister und der Direktor der nationalen Nachrichtendienste könnten gemäß dieser Vorschrift nach Billigung durch den FISC gemeinsam zur Beschaffung von „Informationen im Bereich der Auslandsaufklärung“ die Überwachung von Personen genehmigen, die keine amerikanischen Staatsbürger seien (im Folgenden: Nicht-US-Personen) und sich außerhalb des Hoheitsgebiets der Vereinigten Staaten aufhielten. Insbesondere diene die Vorschrift als Grundlage für die Überwachungsprogramme PRISM und UPSTREAM. Im Rahmen des PRISM-Programms seien die Anbieter von Internetdiensten verpflichtet, der NSA die gesamte Kommunikation vorzulegen, die von einem „Selektor“ versandt oder empfangen worden sei. Ein Teil davon werde auch dem FBI und der Central Intelligence Agency (CIA) (Zentraler Nachrichtendienst) übermittelt.
62 Im Rahmen des UPSTREAM-Programms seien die Telekommunikationsunternehmen, die das „backbone“ (Rückgrat) des Internets – d. h. das Netz von Kabeln, Switches und Routern – betrieben, verpflichtet, der NSA zu gestatten, die Internetverkehrsflüsse zu kopieren und zu filtern, um Zugang zu der Kommunikation zu erlangen, die von einer von einem „Selektor“ erfassten Nicht-US-Person versandt oder von ihr empfangen worden sei oder sie betreffe. Im Rahmen dieses Programms habe die NSA Zugriff sowohl auf die Metadaten als auch auf den Inhalt der betreffenden Kommunikation.
63 Die E.O. 12333 erlaube der NSA den Zugang zu Daten, die „auf dem Weg“ in die Vereinigten Staaten seien, mittels Zugriff auf die am Grund des Atlantiks verlegten Seekabel, sowie die Sammlung und Speicherung dieser Daten, bevor sie in den Vereinigten Staaten ankämen und dort den Bestimmungen des FISA unterlägen. Die auf die E.O. 12333 gestützten Tätigkeiten seien nicht gesetzlich geregelt.
64 Hinsichtlich der für nachrichtendienstliche Tätigkeiten eingeführten Beschränkungen sei hervorzuheben, dass Nicht-US-Personen nur von der PPD-28 erfasst würden, in der es lediglich heiße, dass nachrichtendienstliche Tätigkeiten „as tailored as feasible“ (so gezielt wie möglich) sein müssten. Auf der Grundlage dieser Feststellungen sei davon auszugehen, dass die Vereinigten Staaten eine massenhafte Datenverarbeitung durchführten, ohne einen Schutz zu gewährleisten, der dem durch die Art. 7 und 8 der Charta garantierten Schutz der Sache nach gleichwertig sei.
65 Was den gerichtlichen Rechtsschutz anbelange, verfügten Unionsbürger nicht über dieselben Rechtsbehelfe wie amerikanische Staatsbürger, um sich gegen die Verarbeitung personenbezogener Daten durch amerikanische Behörden zu wehren, da der Vierte Zusatzartikel zur Constitution of the United States (Verfassung der Vereinigten Staaten), der im amerikanischen Recht den wichtigsten Schutz vor illegaler Überwachung darstelle, nicht für Unionsbürger gelte. Den übrigen Rechtsbehelfen, über die sie verfügten, stünden erhebliche Hindernisse entgegen, insbesondere die übermäßig schwer zu erfüllende Obliegenheit, ihre Klagebefugnis nachzuweisen. Zudem unterlägen die auf die E.O. 12333 gestützten Tätigkeiten der NSA keiner gerichtlichen Überwachung und könnten nicht Gegenstand eines gerichtlichen Rechtsbehelfs sein. Schließlich sei, da die Ombudsperson des Datenschutzschilds kein Gericht im Sinne von Art. 47 der Charta sei, davon auszugehen, dass das amerikanische Recht den Unionsbürgern kein Schutzniveau gewährleiste, das dem Niveau, das durch das in diesem Artikel niedergelegte Grundrecht garantiert werde, der Sache nach gleichwertig sei.
66 In seinem Vorabentscheidungsersuchen weist das vorlegende Gericht außerdem darauf hin, dass sich die Parteien des Ausgangsverfahrens insbesondere darüber uneins seien, ob das Unionsrecht auf die Übermittlung personenbezogener Daten in ein Drittland, die von den Behörden dieses Drittlands u. a. für Zwecke der nationalen Sicherheit verarbeitet werden könnten, überhaupt anwendbar sei und welche Gesichtspunkte zu berücksichtigen seien, um zu beurteilen, ob das Schutzniveau in diesem Land angemessen sei. Insbesondere sei Facebook Ireland der Auffassung, dass die Feststellungen der Kommission bezüglich der Angemessenheit des von einem Drittland gewährleisteten Schutzniveaus, wie sie im DSS-Beschluss getroffen würden, für die Aufsichtsbehörden auch im Zusammenhang mit einer Übermittlung personenbezogener Daten auf der Grundlage der Standarddatenschutzklauseln im Anhang des SDK-Beschlusses bindend seien.
67 Hinsichtlich dieser Standarddatenschutzklauseln wirft das vorlegende Gericht die Frage auf, ob der SDK-Beschluss als gültig angesehen werden könne, obwohl die Klauseln die staatlichen Behörden des betreffenden Drittlands nicht bänden und daher nicht geeignet seien, dem etwaigen Fehlen eines angemessenen Schutzniveaus in diesem Land abzuhelfen. Die den zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten durch Art. 4 Abs. 1 Buchst. a des Beschlusses 2010/87 in seiner Fassung vor dem Inkrafttreten des Durchführungsbeschlusses 2016/2297 zuerkannte Möglichkeit des Verbots von Übermittlungen personenbezogener Daten in ein Drittland, das dem Datenimporteur Pflichten auferlege, die mit den in den Schutzklauseln enthaltenen Garantien unvereinbar seien, zeige, dass die Rechtslage im Drittland das Verbot einer Datenübermittlung rechtfertigen könne, selbst wenn sie auf der Grundlage der Standarddatenschutzklauseln im Anhang des SDK-Beschlusses erfolge, und mache somit deutlich, dass diese Klauseln unzureichend sein könnten, um einen angemessenen Schutz zu gewährleisten. Indessen sei fraglich, wie weit die Befugnis des Commissioner reiche, eine auf diese Klauseln gestützte Datenübermittlung zu verbieten. Insoweit könne eine Ermessensbefugnis nicht genügen, um angemessenen Schutz zu gewährleisten.
68 Unter diesen Umständen hat der High Court (Hoher Gerichtshof) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
1. Findet in dem Fall, dass personenbezogene Daten aufgrund des SDK-Beschlusses von einem privaten Unternehmen aus einem Mitgliedstaat der Union zu einem gewerblichen Zweck an ein privates Unternehmen in einem Drittland übermittelt und in dem Drittland durch dessen Behörden für Zwecke der nationalen Sicherheit, aber auch der Durchführung von Gesetzen und der Außenpolitik des Drittlands weiter verarbeitet werden können, das Unionsrecht (einschließlich der Charta) ungeachtet der Bestimmungen des Art. 4 Abs. 2 EUV über die nationale Sicherheit und der Bestimmungen des Art. 3 Abs. 2 erster Gedankenstrich der Richtlinie 95/46 über die öffentliche Sicherheit, die Landesverteidigung und die Sicherheit des Staates auf die Übermittlung der Daten Anwendung?
2. a)
Sind bei der Beurteilung des Vorliegens einer Verletzung der Rechte einer natürlichen Person durch die Übermittlung von Daten aus der Union in ein Drittland, die aufgrund des SDK-Beschlusses erfolgt, soweit diese für Zwecke der nationalen Sicherheit weiterverarbeitet werden können, der relevante Vergleichsmaßstab im Sinne der Richtlinie 95/46
i)
die Charta, der EU-Vertrag, der AEU-Vertrag, die Richtlinie 95/46, die am 4. November 1950 in Rom unterzeichnete Europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (oder eine sonstige Bestimmung des Unionsrechts) oder
ii)
die nationalen Rechtsvorschriften eines oder mehrerer Mitgliedstaaten?
b)
Falls der relevante Vergleichsmaßstab derjenige nach Ziff. ii ist, ist in diesen auch die im Kontext der nationalen Sicherheit in einem oder mehreren Mitgliedstaaten bestehende Praxis einzubeziehen?
3. Richtet sich die Beurteilung, ob ein Drittland das nach dem Unionsrecht erforderliche Schutzniveau für in dieses Land übermittelte personenbezogene Daten im Sinne von Art. 26 der Richtlinie 95/46 gewährleistet,
a)
nach den geltenden Rechtsnormen in dem Drittland, die sich aus seinen innerstaatlichen Rechtsvorschriften oder internationalen Verpflichtungen ergeben, und der Praxis im Hinblick darauf, wie die Einhaltung dieser Normen sichergestellt werden soll, einschließlich der in dem Drittland geltenden Standesregeln und Sicherheitsmaßnahmen,
oder
b)
nach den in Buchst. a genannten Rechtsnormen ebenso wie der Praxis der Verwaltung, Regulierung und Einhaltung von Normen sowie Schutzmaßnahmen, Verfahren, Vorgehensweisen, Kontrollmechanismen und außergerichtlichen Rechtsbehelfen, die in dem Drittland bestehen?
4. Verletzt angesichts der vom High Court (Hoher Gerichtshof) in Bezug auf das Recht der Vereinigten Staaten getroffenen Feststellungen eine Übermittlung personenbezogener Daten aus der Union in die Vereinigten Staaten, die aufgrund des SDK-Beschlusses erfolgt, die Rechte von natürlichen Personen nach Art. 7 und/oder 8 der Charta?
5. Wird angesichts der vom High Court (Hoher Gerichtshof) in Bezug auf das Recht der Vereinigten Staaten getroffenen Feststellungen bei einer Übermittlung personenbezogener Daten aus der Union in die Vereinigten Staaten, die aufgrund des SDK-Beschlusses erfolgt,
a)
durch das von den Vereinigten Staaten gewährte Schutzniveau der Wesensgehalt des durch Art. 47 der Charta garantierten Rechts einer natürlichen Person auf einen gerichtlichen Rechtsbehelf wegen einer Verletzung ihrer Datenschutzrechte geachtet?
Falls Frage 5 a) bejaht wird:
b)
Sind die Einschränkungen, denen das Recht einer natürlichen Person auf einen gerichtlichen Rechtsbehelf nach dem Recht der Vereinigten Staaten im Kontext der nationalen Sicherheit der Vereinigten Staaten unterliegt, im Sinne von Art. 52 der Charta verhältnismäßig, und gehen sie nicht über das in einer demokratischen Gesellschaft für Zwecke der nationalen Sicherheit erforderliche Maß hinaus?
6. a)
Welches Schutzniveau muss personenbezogenen Daten bei einer Übermittlung in ein Drittland, die aufgrund von Standardvertragsklauseln erfolgt, die im Einklang mit einer Feststellung der Kommission nach Art. 26 Abs. 4 der Richtlinie 95/46 angewendet werden, nach den Bestimmungen dieser Richtlinie, insbesondere ihren Art. 25 und 26 in Verbindung mit der Charta, gewährt werden?
b)
Welche Gesichtspunkte sind bei der Beurteilung zu berücksichtigen, ob das Schutzniveau, das Daten bei einer Übermittlung in ein Drittland, die aufgrund des SDK-Beschlusses erfolgt, gewährt wird, den Anforderungen der Richtlinie und der Charta entspricht?
7. Führt der Umstand, dass die Standardvertragsklauseln im Verhältnis zwischen Datenexporteur und Datenimporteur gelten und keine Bindungswirkung für nationale Behörden eines Drittlands haben, die den Datenimporteur verpflichten können, die personenbezogenen Daten, die aufgrund der im SDK-Beschluss genannten Klauseln übermittelt werden, ihren Sicherheitsbehörden zur weiteren Verarbeitung zugänglich zu machen, dazu, dass die Klauseln keine ausreichenden Garantien im Sinne von Art. 26 Abs. 2 der Richtlinie 95/46 bieten?
8. Ist eine Datenschutzbehörde in dem Fall, dass ein Datenimporteur eines Drittlands Überwachungsgesetzen unterliegt, die nach Ansicht einer Datenschutzbehörde mit den Klauseln im Anhang des SDK-Beschlusses oder den Art. 25 oder 26 der Richtlinie 95/46 und/oder der Charta unvereinbar sind, verpflichtet, von ihren Durchsetzungsbefugnissen nach Art. 28 Abs. 3 der Richtlinie 95/46 Gebrauch zu machen, um Datenübermittlungen auszusetzen, oder ist die Ausübung dieser Befugnisse im Licht des elften Erwägungsgrundes des SDK-Beschlusses lediglich auf Ausnahmefälle begrenzt, oder kann eine Datenschutzbehörde ihr Ermessen dahin ausüben, von einer Aussetzung von Datenübermittlungen abzusehen?
9. a)
Stellt der DSS-Beschluss im Sinne von Art. 25 Abs. 6 der Richtlinie 95/46 eine allgemeingültige Feststellung dar, die für die Datenschutzbehörden und Gerichte der Mitgliedstaaten dahin gehend verbindlich ist, dass die Vereinigten Staaten aufgrund ihrer innerstaatlichen Rechtsvorschriften oder der von ihnen eingegangenen internationalen Verpflichtungen ein angemessenes Schutzniveau im Sinne von Art. 25 Abs. 2 der Richtlinie gewährleisten?
b)
Wenn dies nicht der Fall ist, welche Bedeutung kommt gegebenenfalls dem DSS-Beschluss bei der Beurteilung der Angemessenheit der Garantien zu, die für Daten bei einer Übermittlung in die Vereinigten Staaten, die aufgrund des SDK-Beschlusses erfolgt, gewährt werden?
10. Wird angesichts der Feststellungen des High Court (Hoher Gerichtshof) in Bezug auf das Recht der Vereinigten Staaten durch die Einrichtung der „Datenschutzschild“-Ombudsstelle nach Anlage A von Anhang III des DSS-Beschlusses in Verbindung mit der in den Vereinigten Staaten bestehenden Regelung gewährleistet, dass die Vereinigten Staaten betroffenen Personen, deren personenbezogene Daten aufgrund des SDK-Beschlusses in die Vereinigten Staaten übermittelt werden, einen Rechtsbehelf bieten, der mit Art. 47 der Charta im Einklang steht?
11. Verstößt der SDK-Beschluss gegen Art. 7, 8 und/oder 47 der Charta?
Zur Zulässigkeit des Vorabentscheidungsersuchens
69 Facebook Ireland, die deutsche Regierung und die Regierung des Vereinigten Königreichs machen geltend, das Vorabentscheidungsersuchen sei unzulässig.
70 Facebook Ireland führt zu ihrer Einrede aus, die Bestimmungen der Richtlinie 95/46, auf die sich die Vorlagefragen bezögen, seien durch die DSGVO aufgehoben worden.
71 Insoweit trifft es zwar zu, dass die Richtlinie 95/46 durch Art. 94 Abs. 1 der DSGVO mit Wirkung vom 25. Mai 2018 aufgehoben wurde, doch war sie noch in Kraft, als das am 9. Mai 2018 beim Gerichtshof eingegangene Vorabentscheidungsersuchen am 4. Mai 2018 formuliert wurde. Zudem wurden Art. 3 Abs. 2 erster Gedankenstrich, die Art. 25 und 26 sowie Art. 28 Abs. 3 der Richtlinie 95/46, auf die sich die Vorlagefragen beziehen, im Wesentlichen in Art. 2 Abs. 2 sowie in den Art. 45, 46 und 58 der DSGVO übernommen. Im Übrigen ist es die Aufgabe des Gerichtshofs, alle Bestimmungen des Unionsrechts auszulegen, die die nationalen Gerichte benötigen, um die bei ihnen anhängigen Rechtsstreitigkeiten zu entscheiden, auch wenn diese Bestimmungen in den dem Gerichtshof von diesen Gerichten vorgelegten Fragen nicht ausdrücklich genannt sind (Urteil vom 2. April 2020, Ruska Federacija,C‑897/19 PPU, EU:C:2020:262, Rn. 43 und die dort angeführte Rechtsprechung). Aus diesen verschiedenen Gründen kann der Umstand, dass das vorlegende Gericht die Vorlagefragen nur unter Bezugnahme auf die Bestimmungen der Richtlinie 95/46 formuliert hat, nicht zur Unzulässigkeit seines Vorabentscheidungsersuchens führen.
72 Die deutsche Regierung führt zur Begründung ihrer Unzulässigkeitseinrede aus, zum einen habe der Commissioner hinsichtlich der Frage der Gültigkeit des SDK-Beschlusses nur Zweifel und keine abschließende Meinung geäußert, und zum anderen habe das vorlegende Gericht nicht geprüft, ob Herr Schrems ohne jeden Zweifel in die Übermittlung der fraglichen Daten eingewilligt habe, was die Beantwortung dieser Frage entbehrlich machen würde. Schließlich vertritt die Regierung des Vereinigten Königreichs die Auffassung, die Vorlagefragen seien hypothetischer Natur, da das vorlegende Gericht nicht festgestellt habe, dass die fraglichen Daten tatsächlich auf der Grundlage des SDK-Beschlusses übermittelt worden seien.
73 Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs ist es allein Sache des nationalen Gerichts, das mit dem Rechtsstreit befasst ist und in dessen Verantwortungsbereich die zu erlassende Entscheidung fällt, anhand der Besonderheiten der Rechtssache sowohl die Erforderlichkeit einer Vorabentscheidung für den Erlass seines Urteils als auch die Erheblichkeit der Fragen zu beurteilen, die es dem Gerichtshof vorlegt. Daher ist der Gerichtshof grundsätzlich gehalten, über ihm vorgelegte Fragen zu befinden, wenn sie die Auslegung oder die Gültigkeit einer Vorschrift des Unionsrechts betreffen. Folglich gilt für Fragen nationaler Gerichte eine Vermutung der Entscheidungserheblichkeit. Der Gerichtshof kann die Beantwortung einer Vorlagefrage eines nationalen Gerichts nur ablehnen, wenn die erbetene Auslegung ersichtlich in keinem Zusammenhang mit der Realität oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits steht, wenn das Problem hypothetischer Natur ist oder wenn der Gerichtshof nicht über die tatsächlichen und rechtlichen Angaben verfügt, die für eine zweckdienliche Beantwortung der ihm vorgelegten Fragen erforderlich sind (Urteile vom 16. Juni 2015, Gauweiler u. a., C‑62/14, EU:C:2015:400, Rn. 24 und 25, vom 2. Oktober 2018, Ministerio Fiscal, C‑207/16, EU:C:2018:788, Rn. 45, sowie vom 19. Dezember 2019, Dobersberger, C‑16/18, EU:C:2019:1110, Rn. 18 und 19).
74 Im vorliegenden Fall enthält das Vorabentscheidungsersuchen genügend tatsächliche und rechtliche Angaben, um die Tragweite der Vorlagefragen zu verstehen. Zudem und vor allem enthalten die dem Gerichtshof vorliegenden Akten keinen Anhaltspunkt dafür, dass die begehrte Auslegung des Unionsrechts in keinem Zusammenhang mit der Realität oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits stünde oder hypothetischer Natur wäre, etwa weil die Übermittlung der fraglichen personenbezogenen Daten auf die ausdrückliche Einwilligung des Betroffenen und nicht auf den SDK-Beschluss gestützt wäre. Nach den Angaben im Vorabentscheidungsersuchen hat Facebook Ireland nämlich eingeräumt, dass sie die personenbezogenen Daten ihrer in der Union wohnhaften Nutzer an die Facebook Inc. übermittle und dass ein großer Teil dieser Transfers – deren Zulässigkeit Herr Schrems in Abrede stellt – auf der Grundlage der Standarddatenschutzklauseln im Anhang des SDK-Beschlusses erfolge.
75 Im Übrigen ist es für die Zulässigkeit des Vorabentscheidungsersuchens unerheblich, dass sich der Commissioner nicht abschließend zur Gültigkeit des SDK-Beschlusses geäußert hat, da das vorlegende Gericht der Auffassung ist, dass die Beantwortung der – die Auslegung und die Gültigkeit unionsrechtlicher Bestimmungen betreffenden – Vorlagefragen für die Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits erforderlich sei.
76 Folglich ist das Vorabentscheidungsersuchen zulässig.
Zu den Vorlagefragen
77 Einleitend ist darauf hinzuweisen, dass das Vorabentscheidungsersuchen auf eine Beschwerde von Herrn Schrems zurückgeht, die auf eine Anordnung des Commissioner abzielt, mit der die Übermittlung seiner personenbezogenen Daten durch Facebook Ireland an die Facebook Inc. für die Zukunft ausgesetzt oder verboten wird. Auch wenn sich die Vorlagefragen auf die Bestimmungen der Richtlinie 95/46 beziehen, steht aber fest, dass der Commissioner die Beschwerde noch nicht endgültig beschieden hatte, als diese Richtlinie mit Wirkung vom 25. Mai 2018 durch die DSGVO aufgehoben und ersetzt wurde.
78 Aufgrund dieses Fehlens einer nationalen Entscheidung unterscheidet sich das Ausgangsverfahren von den Sachverhalten, die den Urteilen vom 24. September 2019, Google (Räumliche Reichweite der Auslistung) (C‑507/17, EU:C:2019:772), und vom 1. Oktober 2019, Planet49 (C‑673/17, EU:C:2019:801), zugrunde lagen, in denen es um Entscheidungen ging, die vor der Aufhebung der Richtlinie 95/46 ergangen waren.
79 Daher sind die Vorlagefragen anhand der Bestimmungen der DSGVO und nicht der Richtlinie 95/46 zu beantworten.
Zur ersten Frage
80 Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 2 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 2 Buchst. a, b und d der DSGVO in Verbindung mit Art. 4 Abs. 2 EUV dahin auszulegen sind, dass eine Übermittlung personenbezogener Daten durch einen in einem Mitgliedstaat ansässigen Wirtschaftsteilnehmer an einen anderen, in einem Drittland ansässigen Wirtschaftsteilnehmer in den Anwendungsbereich dieser Verordnung fällt, wenn die Daten bei ihrer Übermittlung oder im Anschluss daran von den Behörden dieses Drittlands für Zwecke der öffentlichen Sicherheit, der Landesverteidigung und der Sicherheit des Staates verarbeitet werden können.
81 Hierzu ist zunächst festzustellen, dass die in Art. 4 Abs. 2 EUV enthaltene Bestimmung, wonach innerhalb der Union die nationale Sicherheit in die alleinige Verantwortung der einzelnen Mitgliedstaaten fällt, ausschließlich die Mitgliedstaaten der Union betrifft. Folglich ist diese Bestimmung im vorliegenden Fall für die Auslegung von Art. 2 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 2 Buchst. a, b und d der DSGVO nicht maßgeblich.
82 Gemäß ihrem Art. 2 Abs. 1 gilt die DSGVO für die ganz oder teilweise automatisierte Verarbeitung personenbezogener Daten sowie für die nicht automatisierte Verarbeitung personenbezogener Daten, die in einem Dateisystem gespeichert sind oder gespeichert werden sollen. Nach Art. 4 Nr. 2 dieser Verordnung bezeichnet der Ausdruck „Verarbeitung“„jeden mit oder ohne Hilfe automatisierter Verfahren ausgeführten Vorgang oder jede solche Vorgangsreihe im Zusammenhang mit personenbezogenen Daten“. Hierfür wird beispielhaft „die Offenlegung durch Übermittlung, Verbreitung oder eine andere Form der Bereitstellung“ angeführt, ohne Unterscheidung danach, ob diese Vorgänge innerhalb der Union stattfinden oder eine Verknüpfung mit einem Drittland aufweisen. Darüber hinaus unterwirft die DSGVO die Übermittlung personenbezogener Daten in Drittländer bestimmten Regeln, die in ihrem Kapitel V („Übermittlungen personenbezogener Daten an Drittländer oder an internationale Organisationen“) festgelegt werden, und weist den Aufsichtsbehörden in dieser Hinsicht spezifische, in ihrem Art. 58 Abs. 2 Buchst. j genannte Befugnisse zu.
83 Folglich stellt die Übermittlung personenbezogener Daten aus einem Mitgliedstaat in ein Drittland als solche eine Verarbeitung personenbezogener Daten im Sinne von Art. 4 Nr. 2 der DSGVO dar, die im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats vorgenommen wird. Auf eine derartige Verarbeitung findet die DSGVO gemäß ihrem Art. 2 Abs. 1 Anwendung (vgl. entsprechend, zu Art. 2 Buchst. b und Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 95/46, Urteil vom 6. Oktober 2015, Schrems, C‑362/14, EU:C:2015:650, Rn. 45 und die dort angeführte Rechtsprechung).
84 Was die Frage anbelangt, ob ein solcher Vorgang gemäß Art. 2 Abs. 2 der DSGVO als vom Anwendungsbereich dieser Verordnung ausgenommen angesehen werden kann, ist darauf hinzuweisen, dass diese Vorschrift Ausnahmen vom Anwendungsbereich der Verordnung – wie in deren Art. 2 Abs. 1 definiert – vorsieht, die eng auszulegen sind (vgl. entsprechend, zu Art. 3 Abs. 2 der Richtlinie 95/46, Urteil vom 10. Juli 2018, Jehovan todistajat, C‑25/17, EU:C:2018:551, Rn. 37 und die dort angeführte Rechtsprechung).
85 Im vorliegenden Fall fällt die fragliche Übermittlung personenbezogener Daten, da sie von Facebook Ireland an die Facebook Inc., d. h. zwischen zwei juristischen Personen, erfolgt, nicht unter Art. 2 Abs. 2 Buchst. c der DSGVO, der die Datenverarbeitung durch natürliche Personen zur Ausübung ausschließlich persönlicher oder familiärer Tätigkeiten betrifft. Sie fällt auch nicht unter die in Art. 2 Abs. 2 Buchst. a, b und d der DSGVO genannten Ausnahmen, da die Tätigkeiten, die in dieser Vorschrift beispielhaft aufgeführt sind, allesamt spezifische Tätigkeiten des Staates oder staatlicher Stellen sind, die mit den Tätigkeitsbereichen von Privatpersonen nichts zu tun haben (vgl. entsprechend, zu Art. 3 Abs. 2 der Richtlinie 95/46, Urteil vom 10. Juli 2018, Jehovan todistajat, C‑25/17, EU:C:2018:551, Rn. 38 und die dort angeführte Rechtsprechung).
86 Indes kann die Möglichkeit, dass personenbezogene Daten, die zwischen zwei Wirtschaftsteilnehmern zu gewerblichen Zwecken übermittelt werden, bei ihrer Übermittlung oder im Anschluss daran von den Behörden des betreffenden Drittlands für Zwecke der öffentlichen Sicherheit, der Landesverteidigung und der Sicherheit des Staates verarbeitet werden, nicht dazu führen, dass ihre Übermittlung vom Anwendungsbereich der DSGVO ausgenommen wäre.
87 Im Übrigen wird schon aus dem Wortlaut von Art. 45 Abs. 2 Buchst. a der DSGVO deutlich, dass die etwaige Verarbeitung der betreffenden Daten durch ein Drittland für Zwecke der öffentlichen Sicherheit, der Landesverteidigung und der Sicherheit des Staates die Anwendbarkeit der DSGVO auf die fragliche Übermittlung nicht in Frage stellt. Diese Vorschrift verpflichtet die Kommission nämlich ausdrücklich dazu, bei der Prüfung der Angemessenheit des von einem Drittland gebotenen Schutzniveaus u. a. „die … einschlägigen Rechtsvorschriften sowohl allgemeiner als auch sektoraler Art – auch in Bezug auf öffentliche Sicherheit, Verteidigung, nationale Sicherheit und Strafrecht sowie Zugang der Behörden zu personenbezogenen Daten – sowie die Anwendung dieser Rechtsvorschriften“ zu berücksichtigen.
88 Demnach kann eine solche Übermittlung dem Anwendungsbereich der DSGVO nicht deshalb entzogen sein, weil die fraglichen Daten bei ihrer Übermittlung oder im Anschluss daran von den Behörden des betreffenden Drittlands für Zwecke der öffentlichen Sicherheit, der Landesverteidigung und der Sicherheit des Staates verarbeitet werden können.
89 Folglich ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 2 Abs. 1 und 2 der DSGVO dahin auszulegen ist, dass eine zu gewerblichen Zwecken erfolgende Übermittlung personenbezogener Daten durch einen in einem Mitgliedstaat ansässigen Wirtschaftsteilnehmer an einen anderen, in einem Drittland ansässigen Wirtschaftsteilnehmer in den Anwendungsbereich dieser Verordnung fällt, ungeachtet dessen, ob die Daten bei ihrer Übermittlung oder im Anschluss daran von den Behörden des betreffenden Drittlands für Zwecke der öffentlichen Sicherheit, der Landesverteidigung und der Sicherheit des Staates verarbeitet werden können.
Zu den Fragen 2, 3 und 6
90 Mit seinen Fragen 2, 3 und 6 möchte das vorlegende Gericht wissen, welches Schutzniveau durch Art. 46 Abs. 1 und Art. 46 Abs. 2 Buchst. c der DSGVO verlangt wird, wenn personenbezogene Daten auf der Grundlage von Standarddatenschutzklauseln in ein Drittland übermittelt werden. Insbesondere ersucht das vorlegende Gericht den Gerichtshof um nähere Angaben dazu, welche Gesichtspunkte zu berücksichtigen sind, um festzustellen, ob dieses Schutzniveau im Rahmen einer solchen Datenübermittlung gewährleistet wird.
91 In Bezug auf das erforderliche Schutzniveau ergibt sich aus einer Gesamtbetrachtung der genannten Vorschriften, dass ein Verantwortlicher oder ein Auftragsverarbeiter, falls kein gemäß Art. 45 Abs. 3 der DSGVO ergangener Angemessenheitsbeschluss vorliegt, personenbezogene Daten nur dann in ein Drittland übermitteln darf, wenn er „geeignete Garantien“ vorgesehen hat und den betroffenen Personen „durchsetzbare Rechte und wirksame Rechtsbehelfe“ zur Verfügung stehen, wobei die geeigneten Garantien u. a. in von der Kommission erlassenen Standarddatenschutzklauseln bestehen können.
92 Art. 46 der DSGVO präzisiert zwar nicht die Art der Anforderungen, die sich aus dieser Bezugnahme auf „geeignete Garantien“, „durchsetzbare Rechte“ und „wirksame Rechtsbehelfe“ ergeben. Dazu ist jedoch festzustellen, dass dieser Artikel zu Kapitel V der Verordnung gehört und daher im Licht ihres Art. 44 („Allgemeine Grundsätze der Datenübermittlung“) zu sehen ist, wonach „[a]lle Bestimmungen dieses Kapitels … anzuwenden [sind], um sicherzustellen, dass das durch diese Verordnung gewährleistete Schutzniveau für natürliche Personen nicht untergraben wird“. Dieses Schutzniveau muss folglich gewährleistet werden, unabhängig davon, aufgrund welcher Bestimmung dieses Kapitels eine Übermittlung personenbezogener Daten in ein Drittland erfolgt.
93 Wie der Generalanwalt in Nr. 117 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, sollen die Bestimmungen in Kapitel V der DSGVO nämlich – im Einklang mit dem in ihrem sechsten Erwägungsgrund genannten Ziel – den Fortbestand des hohen Schutzniveaus bei der Übermittlung personenbezogener Daten in ein Drittland gewährleisten.
94 Art. 45 Abs. 1 Satz 1 der DSGVO sieht vor, dass eine Übermittlung personenbezogener Daten in ein Drittland aufgrund eines Beschlusses der Kommission zulässig sein kann, dem zufolge dieses Drittland, ein Gebiet oder ein oder mehrere spezifische Sektoren in diesem Land ein angemessenes Schutzniveau bieten. Auch wenn der Ausdruck „angemessenes Schutzniveau“ nicht bedeutet, dass das betreffende Drittland ein Schutzniveau gewährleisten müsste, das mit dem in der Unionsrechtsordnung garantierten Niveau identisch ist, ist er, wie der 104. Erwägungsgrund der DSGVO bestätigt, so zu verstehen, dass verlangt wird, dass das Drittland aufgrund seiner innerstaatlichen Rechtsvorschriften oder seiner internationalen Verpflichtungen tatsächlich ein Schutzniveau der Freiheiten und Grundrechte gewährleistet, das dem in der Union durch die DSGVO im Licht der Charta garantierten Niveau der Sache nach gleichwertig ist. Ohne ein solches Erfordernis würde nämlich das in der vorstehenden Randnummer erwähnte Ziel missachtet (vgl. entsprechend, zu Art. 25 Abs. 6 der Richtlinie 95/46, Urteil vom 6. Oktober 2015, Schrems, C‑362/14, EU:C:2015:650, Rn. 73).
95 In diesem Zusammenhang besagt der 107. Erwägungsgrund der DSGVO, dass, wenn „ein Drittland, ein Gebiet oder ein bestimmter Sektor eines Drittlands … kein angemessenes Datenschutzniveau mehr bietet …, [d]ie Übermittlung personenbezogener Daten an dieses Drittland … verboten werden [sollte], es sei denn, die Anforderungen dieser Verordnung in Bezug auf die Datenübermittlung vorbehaltlich geeigneter Garantien … werden erfüllt“. Hierzu wird im 108. Erwägungsgrund der DSGVO näher ausgeführt, dass, wenn kein Angemessenheitsbeschluss vorliegt, die geeigneten Garantien, die der Verantwortliche oder der Auftragsverarbeiter gemäß Art. 46 Abs. 1 der DSGVO vorsehen muss, einen „Ausgleich für den [im] Drittland bestehenden Mangel an Datenschutz“ bewirken müssen, um „sicher[zu]stellen, dass die Datenschutzvorschriften und die Rechte der betroffenen Personen auf eine der Verarbeitung innerhalb der Union angemessene Art und Weise beachtet werden“.
96 Demnach müssen, wie der Generalanwalt in Nr. 115 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, die geeigneten Garantien so beschaffen sein, dass sie für Personen, deren personenbezogene Daten auf der Grundlage von Standarddatenschutzklauseln in ein Drittland übermittelt werden – wie im Rahmen einer auf einen Angemessenheitsbeschluss gestützten Übermittlung –, ein Schutzniveau gewährleisten, das dem in der Union garantierten Schutzniveau der Sache nach gleichwertig ist.
97 Das vorlegende Gericht hat außerdem Zweifel daran, ob dieses Schutzniveau, das dem in der Union garantierten Niveau der Sache nach gleichwertig ist, anhand des Unionsrechts, insbesondere der durch die Charta garantierten Rechte, und/oder anhand der in der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (im Folgenden: EMRK) verankerten Grundrechte oder anhand des nationalen Rechts der Mitgliedstaaten zu bestimmen ist.
98 Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass die in der EMRK niedergelegten Grundrechte zwar, wie Art. 6 Abs. 3 EUV bestätigt, als allgemeine Grundsätze Teil des Unionsrechts sind und dass nach Art. 52 Abs. 3 der Charta die in ihr enthaltenen Rechte, die den durch die EMRK garantierten Rechten entsprechen, die gleiche Bedeutung und Tragweite haben, wie sie ihnen in der EMRK verliehen werden; die EMRK stellt jedoch, solange die Union ihr nicht beigetreten ist, kein Rechtsinstrument dar, das formell in die Unionsrechtsordnung übernommen wurde (Urteile vom 26. Februar 2013, Åkerberg Fransson, C‑617/10, EU:C:2013:105, Rn. 44 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie vom 20. März 2018, Menci, C‑524/15, EU:C:2018:197, Rn. 22).
99 Unter diesen Umständen hat der Gerichtshof entschieden, dass die Auslegung des Unionsrechts und die Prüfung der Gültigkeit von Unionsrechtsakten anhand der durch die Charta verbürgten Grundrechte vorzunehmen sind (vgl. entsprechend Urteil vom 20. März 2018, Menci, C‑524/15, EU:C:2018:197, Rn. 24).
100 Im Übrigen entspricht es ständiger Rechtsprechung, dass die Gültigkeit unionsrechtlicher Bestimmungen und, sofern darin kein ausdrücklicher Verweis auf das nationale Recht der Mitgliedstaaten erfolgt, ihre Auslegung nicht anhand dieses nationalen Rechts zu beurteilen sind, selbst wenn es im Verfassungsrang steht, insbesondere nicht anhand der Grundrechte, wie sie in den nationalen Verfassungen der Mitgliedstaaten ausgestaltet sind (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 17. Dezember 1970, Internationale Handelsgesellschaft, 11/70, EU:C:1970:114, Rn. 3, vom 13. Dezember 1979, Hauer, 44/79, EU:C:1979:290, Rn. 14, sowie vom 18. Oktober 2016, Nikiforidis, C‑135/15, EU:C:2016:774, Rn. 28 und die dort angeführte Rechtsprechung).
101 Angesichts dessen, dass eine Übermittlung personenbezogener Daten wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende, die von einem in einem Mitgliedstaat ansässigen Wirtschaftsteilnehmer zu gewerblichen Zwecken an einen in einem Drittland ansässigen Wirtschaftsteilnehmer erfolgt, in den Anwendungsbereich der DSGVO fällt, wie aus der Antwort auf die erste Frage hervorgeht, und dass diese Verordnung, wie sich aus ihrem zehnten Erwägungsgrund ergibt, namentlich darauf abzielt, innerhalb der Union ein gleichmäßiges und hohes Datenschutzniveau für natürliche Personen zu gewährleisten und zu diesem Zweck für eine unionsweit gleichmäßige und einheitliche Anwendung der Vorschriften zum Schutz der Grundrechte und Grundfreiheiten dieser Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten zu sorgen, muss folglich das nach Art. 46 Abs. 1 der DSGVO erforderliche Niveau des Grundrechtsschutzes auf der Grundlage der Bestimmungen dieser Verordnung im Licht der durch die Charta verbürgten Grundrechte ermittelt werden.
102 Das vorlegende Gericht möchte ferner wissen, welche Gesichtspunkte zu berücksichtigen sind, um festzustellen, ob ein angemessenes Schutzniveau besteht, wenn personenbezogene Daten auf der Grundlage gemäß Art. 46 Abs. 2 Buchst. c der DSGVO erarbeiteter Standarddatenschutzklauseln in ein Drittland übermittelt werden.
103 Zwar werden in dieser Vorschrift nicht die verschiedenen Elemente aufgezählt, die bei der Beurteilung der Angemessenheit des im Rahmen einer solchen Übermittlung einzuhaltenden Schutzniveaus zu berücksichtigen sind, doch wird in Art. 46 Abs. 1 der DSGVO klargestellt, dass den betroffenen Personen geeignete Garantien zugutekommen und durchsetzbare Rechte sowie wirksame Rechtsbehelfe zur Verfügung stehen müssen.
104 Bei der insoweit im Zusammenhang mit einer solchen Übermittlung erforderlichen Beurteilung sind insbesondere die vertraglichen Regelungen zu berücksichtigen, die zwischen dem in der Union ansässigen Verantwortlichen bzw. seinem dort ansässigen Auftragsverarbeiter und dem im betreffenden Drittland ansässigen Empfänger der Übermittlung vereinbart wurden, sowie, was einen etwaigen Zugriff der Behörden dieses Drittlands auf die übermittelten personenbezogenen Daten betrifft, die maßgeblichen Elemente der Rechtsordnung dieses Landes. In der letztgenannten Hinsicht entsprechen die Elemente, die im Kontext von Art. 46 der DSGVO zu berücksichtigen sind, denen, die in ihrem Art. 45 Abs. 2 in nicht abschließender Weise aufgezählt werden.
105 Folglich ist auf die Fragen 2, 3 und 6 zu antworten, dass Art. 46 Abs. 1 und Art. 46 Abs. 2 Buchst. c der DSGVO dahin auszulegen sind, dass die nach diesen Vorschriften erforderlichen geeigneten Garantien, durchsetzbaren Rechte und wirksamen Rechtsbehelfe gewährleisten müssen, dass die Rechte der Personen, deren personenbezogene Daten auf der Grundlage von Standarddatenschutzklauseln in ein Drittland übermittelt werden, ein Schutzniveau genießen, das dem in der Union durch die DSGVO im Licht der Charta garantierten Niveau der Sache nach gleichwertig ist. Bei der insoweit im Zusammenhang mit einer solchen Übermittlung vorzunehmenden Beurteilung sind insbesondere die vertraglichen Regelungen zu berücksichtigen, die zwischen dem in der Union ansässigen Verantwortlichen bzw. seinem dort ansässigen Auftragsverarbeiter und dem im betreffenden Drittland ansässigen Empfänger der Übermittlung vereinbart wurden, sowie, was einen etwaigen Zugriff der Behörden dieses Drittlands auf die übermittelten personenbezogenen Daten betrifft, die maßgeblichen Elemente der Rechtsordnung dieses Landes, insbesondere die in Art. 45 Abs. 2 der DSGVO genannten Elemente.
Zur achten Frage
106 Mit seiner achten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 58 Abs. 2 Buchst. f und j der DSGVO dahin auszulegen ist, dass die zuständige Aufsichtsbehörde verpflichtet ist, eine auf Standarddatenschutzklauseln, die von der Kommission erlassen wurden, gestützte Übermittlung personenbezogener Daten in ein Drittland auszusetzen oder zu verbieten, wenn sie der Auffassung ist, dass die Klauseln in diesem Drittland nicht eingehalten werden oder nicht eingehalten werden können und dass der nach dem Unionsrecht, insbesondere nach den Art. 45 und 46 der DSGVO sowie nach der Charta, erforderliche Schutz der übermittelten Daten nicht gewährleistet werden kann, oder ob der besagte Artikel dahin auszulegen ist, dass die Ausübung dieser Befugnisse auf Ausnahmefälle beschränkt ist.
107 Gemäß Art. 8 Abs. 3 der Charta sowie Art. 51 Abs. 1 und Art. 57 Abs. 1 Buchst. a der DSGVO haben die nationalen Aufsichtsbehörden die Einhaltung der Unionsvorschriften über den Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten zu überwachen. Folglich ist jede von ihnen zu der Prüfung befugt, ob bei einer Übermittlung personenbezogener Daten aus ihrem Mitgliedstaat in ein Drittland die in der DSGVO aufgestellten Anforderungen eingehalten werden (vgl. entsprechend, zu Art. 28 der Richtlinie 95/46, Urteil vom 6. Oktober 2015, Schrems, C‑362/14, EU:C:2015:650, Rn. 47).
108 Aus diesen Bestimmungen folgt, dass die Aufsichtsbehörden primär die Aufgabe haben, die Anwendung der DSGVO zu überwachen und für ihre Einhaltung zu sorgen. Besonders wichtig ist die Erfüllung dieser Aufgabe im Zusammenhang mit einer Übermittlung personenbezogener Daten in ein Drittland, da, wie bereits aus dem Wortlaut des 116. Erwägungsgrundes dieser Verordnung hervorgeht, „[w]enn personenbezogene Daten in ein anderes Land außerhalb der Union übermittelt werden, … eine erhöhte Gefahr [besteht], dass natürliche Personen ihre Datenschutzrechte nicht wahrnehmen können[, um] sich insbesondere gegen die unrechtmäßige Nutzung oder Offenlegung dieser Informationen zu schützen“. In diesem Fall kann es, wie im selben Erwägungsgrund hinzugefügt wird, „vorkommen, dass Aufsichtsbehörden Beschwerden nicht nachgehen oder Untersuchungen nicht durchführen können, die einen Bezug zu Tätigkeiten außerhalb der Grenzen ihres Mitgliedstaats haben“.
109 Des Weiteren ist jede Aufsichtsbehörde nach Art. 57 Abs. 1 Buchst. f der DSGVO verpflichtet, sich in ihrem Hoheitsgebiet mit Beschwerden zu befassen, die jede Person gemäß Art. 77 Abs. 1 der DSGVO einlegen kann, wenn sie der Ansicht ist, dass eine Verarbeitung sie betreffender personenbezogener Daten gegen diese Verordnung verstößt, und den Gegenstand der Beschwerde in angemessenem Umfang zu untersuchen. Die Aufsichtsbehörde muss eine solche Beschwerde mit aller gebotenen Sorgfalt bearbeiten (vgl. entsprechend, zu Art. 25 Abs. 6 der Richtlinie 95/46, Urteil vom 6. Oktober 2015, Schrems, C‑362/14, EU:C:2015:650, Rn. 63).
110 Nach Art. 78 Abs. 1 und 2 der DSGVO hat jede Person u. a. dann das Recht auf einen wirksamen gerichtlichen Rechtsbehelf, wenn sich die Aufsichtsbehörde nicht mit ihrer Beschwerde befasst. Auch im 141. Erwägungsgrund der DSGVO wird auf dieses „Recht[,] gemäß Artikel 47 der Charta einen wirksamen gerichtlichen Rechtsbehelf einzulegen“, für den Fall Bezug genommen, dass die Aufsichtsbehörde „nicht tätig wird, … obwohl dies zum Schutz der Rechte der betroffenen Person notwendig ist“.
111 Hinsichtlich der Bearbeitung von Beschwerden verleiht Art. 58 Abs. 1 der DSGVO jeder Aufsichtsbehörde weitreichende Untersuchungsbefugnisse. Ist eine solche Behörde am Ende ihrer Untersuchung der Ansicht, dass die betroffene Person, deren personenbezogene Daten in ein Drittland übermittelt wurden, dort kein angemessenes Schutzniveau genießt, ist sie nach dem Unionsrecht verpflichtet, in geeigneter Weise zu reagieren, um der festgestellten Unzulänglichkeit abzuhelfen, und zwar unabhängig davon, welchen Ursprungs und welcher Art sie ist. Zu diesem Zweck werden in Art. 58 Abs. 2 der DSGVO die verschiedenen der Aufsichtsbehörde zur Verfügung stehenden Abhilfebefugnisse aufgezählt.
112 Auch wenn es Sache der Aufsichtsbehörde ist, unter Berücksichtigung aller Umstände der fraglichen Übermittlung personenbezogener Daten das geeignete und erforderliche Mittel zu wählen, ist sie gleichwohl verpflichtet, mit aller gebotenen Sorgfalt ihre Aufgabe zu erfüllen, die darin besteht, über die umfassende Einhaltung der DSGVO zu wachen.
113 Insoweit ist die Aufsichtsbehörde, wie auch der Generalanwalt in Nr. 148 seiner Schlussanträge festgestellt hat, nach Art. 58 Abs. 2 Buchst. f und j der DSGVO verpflichtet, eine Übermittlung personenbezogener Daten in ein Drittland auszusetzen oder zu verbieten, wenn sie im Licht aller Umstände dieser Übermittlung der Auffassung ist, dass die Standarddatenschutzklauseln in diesem Drittland nicht eingehalten werden oder nicht eingehalten werden können und dass der nach dem Unionsrecht erforderliche Schutz der übermittelten Daten nicht durch andere Mittel gewährleistet werden kann, es sei denn, der in der Union ansässige Verantwortliche bzw. sein dort ansässiger Auftragsverarbeiter hat die Übermittlung selbst ausgesetzt oder beendet.
114 Die in der vorstehenden Randnummer dargelegte Auslegung wird nicht durch das Vorbringen des Commissioner in Frage gestellt, wonach Art. 4 des Beschlusses 2010/87 in seiner vor dem Inkrafttreten des Durchführungsbeschlusses 2016/2297 geltenden Fassung, im Licht des elften Erwägungsgrundes dieses Beschlusses betrachtet, die Befugnis der Aufsichtsbehörden, eine Übermittlung personenbezogener Daten in ein Drittland auszusetzen oder zu verbieten, auf bestimmte Ausnahmefälle beschränke. In seiner aus dem Durchführungsbeschluss 2016/2297 hervorgegangenen Fassung nimmt Art. 4 des SDK-Beschlusses nämlich auf die – nunmehr auf Art. 58 Abs. 2 Buchst. f und j der DSGVO beruhende – Befugnis der Aufsichtsbehörden Bezug, eine solche Übermittlung auszusetzen oder zu verbieten, ohne die Ausübung dieser Befugnis in irgendeiner Weise auf außergewöhnliche Umstände zu beschränken.
115 Jedenfalls berechtigt die Durchführungsbefugnis, die Art. 46 Abs. 2 Buchst. c der DSGVO der Kommission für den Erlass von Standarddatenschutzklauseln einräumt, die Kommission nicht, die den Aufsichtsbehörden nach Art. 58 Abs. 2 dieser Verordnung zustehenden Befugnisse zu beschränken (vgl. entsprechend, zu Art. 25 Abs. 6 und Art. 28 der Richtlinie 95/46, Urteil vom 6. Oktober 2015, Schrems, C‑362/14, EU:C:2015:650, Rn. 102 und 103). Im Übrigen bestätigt der fünfte Erwägungsgrund des Durchführungsbeschlusses 2016/2297, dass der SDK-Beschluss „eine … Aufsichtsbehörde … nicht daran [hindert], Datenübermittlungen zu kontrollieren und unter anderem eine Übermittlung personenbezogener Daten auszusetzen oder zu verbieten, wenn sie feststellt, dass durch die Übermittlung EU- oder nationale Datenschutzvorschriften verletzt werden“.
116 Die Befugnisse der zuständigen Aufsichtsbehörde sind allerdings unter umfassender Beachtung eines etwaigen Beschlusses wahrzunehmen, mit dem die Kommission gemäß Art. 45 Abs. 1 Satz 1 der DSGVO feststellt, dass ein bestimmtes Drittland ein angemessenes Schutzniveau bietet. Für einen solchen Fall geht nämlich aus Art. 45 Abs. 1 Satz 2 dieser Verordnung in Verbindung mit deren 103. Erwägungsgrund hervor, dass die Übermittlung personenbezogener Daten in das betreffende Drittland keiner besonderen Genehmigung bedarf.
117 Nach Art. 288 Abs. 4 AEUV bindet ein Angemessenheitsbeschluss der Kommission in allen seinen Teilen alle Mitgliedstaaten und ist damit für alle ihre Organe verbindlich, soweit darin festgestellt wird, dass das betreffende Drittland ein angemessenes Schutzniveau gewährleistet, und die Übermittlung personenbezogener Daten im Ergebnis genehmigt wird (vgl. entsprechend, zu Art. 25 Abs. 6 der Richtlinie 95/46, Urteil vom 6. Oktober 2015, Schrems, C‑362/14, EU:C:2015:650, Rn. 51 und die dort angeführte Rechtsprechung).
118 Solange der Angemessenheitsbeschluss vom Gerichtshof nicht für ungültig erklärt wurde, können die Mitgliedstaaten und ihre Organe, zu denen ihre unabhängigen Aufsichtsbehörden gehören, somit zwar keine diesem Beschluss zuwiderlaufenden Maßnahmen treffen, wie etwa Rechtsakte, mit denen verbindlich festgestellt wird, dass das Drittland, auf das sich der Beschluss bezieht, kein angemessenes Schutzniveau gewährleistet (Urteil vom 6. Oktober 2015, Schrems, C‑362/14, EU:C:2015:650, Rn. 52 und die dort angeführte Rechtsprechung), und mit denen infolgedessen die Übermittlung personenbezogener Daten in dieses Drittland ausgesetzt oder verboten wird.
119 Ein nach Art. 45 Abs. 3 der DSGVO ergangener Angemessenheitsbeschluss der Kommission kann Personen, deren personenbezogene Daten in ein Drittland übermittelt wurden oder werden könnten, jedoch nicht daran hindern, gemäß Art. 77 Abs. 1 der DSGVO die zuständige nationale Aufsichtsbehörde mit einer Beschwerde bezüglich des Schutzes ihrer Rechte und Freiheiten bei der Verarbeitung solcher Daten zu befassen. Desgleichen kann ein derartiger Beschluss die den nationalen Aufsichtsbehörden durch Art. 8 Abs. 3 der Charta sowie durch Art. 51 Abs. 1 und Art. 57 Abs. 1 Buchst. a der DSGVO ausdrücklich zuerkannten Befugnisse weder beseitigen noch beschränken (vgl. entsprechend, zu Art. 25 Abs. 6 und Art. 28 der Richtlinie 95/46, Urteil vom 6. Oktober 2015, Schrems, C‑362/14, EU:C:2015:650, Rn. 53).
120 Auch wenn die Kommission einen Angemessenheitsbeschluss erlassen hat, muss die zuständige nationale Aufsichtsbehörde, an die sich eine Person mit einer Beschwerde bezüglich des Schutzes ihrer Rechte und Freiheiten bei der Verarbeitung ihrer personenbezogenen Daten wendet, daher in völliger Unabhängigkeit prüfen können, ob bei der Übermittlung dieser Daten die in der DSGVO aufgestellten Anforderungen gewahrt werden, und gegebenenfalls Klage vor den nationalen Gerichten erheben können, damit diese, wenn sie die Zweifel der Aufsichtsbehörde an der Gültigkeit des Angemessenheitsbeschlusses teilen, um eine Vorabentscheidung über dessen Gültigkeit ersuchen (vgl. entsprechend, zu Art. 25 Abs. 6 und Art. 28 der Richtlinie 95/46, Urteil vom 6. Oktober 2015, Schrems, C‑362/14, EU:C:2015:650, Rn. 57 und 65).
121 Nach alledem ist auf die achte Frage zu antworten, dass Art. 58 Abs. 2 Buchst. f und j der DSGVO dahin auszulegen ist, dass die zuständige Aufsichtsbehörde, sofern kein gültiger Angemessenheitsbeschluss der Kommission vorliegt, verpflichtet ist, eine auf Standarddatenschutzklauseln, die von der Kommission erarbeitet wurden, gestützte Übermittlung personenbezogener Daten in ein Drittland auszusetzen oder zu verbieten, wenn diese Behörde im Licht aller Umstände dieser Übermittlung der Auffassung ist, dass die Klauseln in diesem Drittland nicht eingehalten werden oder nicht eingehalten werden können und dass der nach dem Unionsrecht, insbesondere nach den Art. 45 und 46 der DSGVO sowie nach der Charta, erforderliche Schutz der übermittelten Daten nicht mit anderen Mitteln gewährleistet werden kann, es sei denn, der in der Union ansässige Verantwortliche bzw. sein dort ansässiger Auftragsverarbeiter hat die Übermittlung selbst ausgesetzt oder beendet.
Zur siebten und zur elften Frage
122 Mit seinen zusammen zu prüfenden Fragen 7 und 11 befragt das vorlegende Gericht den Gerichtshof nach der Gültigkeit des SDK-Beschlusses im Hinblick auf die Art. 7, 8 und 47 der Charta.
123 Insbesondere möchte das vorlegende Gericht, wie aus dem Wortlaut der siebten Frage und den sie betreffenden Erläuterungen im Vorabentscheidungsersuchen hervorgeht, wissen, ob der SDK-Beschluss vor dem Hintergrund, dass die darin vorgesehenen Standarddatenschutzklauseln drittstaatliche Behörden nicht binden, ein angemessenes Schutzniveau für die in Drittländer übermittelten personenbezogenen Daten zu gewährleisten vermag.
124 Art. 1 des SDK-Beschlusses bestimmt, dass die Standarddatenschutzklauseln im Anhang dieses Beschlusses entsprechend den Anforderungen von Art. 26 Abs. 2 der Richtlinie 95/46 als angemessene Garantien hinsichtlich des Schutzes der Privatsphäre, der Grundrechte und der Grundfreiheiten von Personen gelten. Die letztgenannte Bestimmung wurde in Art. 46 Abs. 1 und Art. 46 Abs. 2 Buchst. c der DSGVO im Wesentlichen übernommen.
125 Während diese Klauseln für den in der Union ansässigen Verantwortlichen und den in einem Drittland ansässigen Empfänger der Übermittlung personenbezogener Daten verbindlich sind, sofern sie einen Vertrag unter Bezugnahme auf diese Klauseln geschlossen haben, steht allerdings außer Frage, dass sie die Behörden dieses Drittlands nicht binden können, da diese nicht Vertragspartei sind.
126 Demnach gibt es zwar Situationen, in denen der Empfänger einer solchen Übermittlung in Anbetracht der Rechtslage und der Praxis im betreffenden Drittland den erforderlichen Datenschutz allein auf der Grundlage der Standarddatenschutzklauseln garantieren kann, aber auch Situationen, in denen die in diesen Klauseln enthaltenen Regelungen möglicherweise kein ausreichendes Mittel darstellen, um in der Praxis den effektiven Schutz der in das betreffende Drittland übermittelten personenbezogenen Daten zu gewährleisten. So verhält es sich etwa, wenn das Recht dieses Drittlands dessen Behörden Eingriffe in die Rechte der betroffenen Personen bezüglich dieser Daten erlaubt.
127 Somit stellt sich die Frage, ob ein nach Art. 46 Abs. 2 Buchst. c der DSGVO ergangener Beschluss der Kommission zu Standarddatenschutzklauseln ungültig ist, wenn er keine Garantien enthält, die den Behörden des Drittlands, in das personenbezogene Daten auf der Grundlage dieser Klauseln übermittelt werden oder übermittelt werden könnten, entgegengehalten werden können.
128 Nach Art. 46 Abs. 1 der DSGVO darf ein Verantwortlicher oder ein Auftragsverarbeiter, falls kein Angemessenheitsbeschluss vorliegt, personenbezogene Daten an ein Drittland nur übermitteln, sofern er geeignete Garantien vorgesehen hat und den betroffenen Personen durchsetzbare Rechte und wirksame Rechtsbehelfe zur Verfügung stehen. Nach Art. 46 Abs. 2 Buchst. c der DSGVO können diese Garantien in von der Kommission erlassenen Standarddatenschutzklauseln bestehen. Nach diesen Bestimmungen müssen aber nicht sämtliche Garantien zwangsläufig in einem Beschluss der Kommission wie dem SDK-Beschluss vorgesehen sein.
129 Insoweit unterscheidet sich ein solcher Beschluss von einem nach Art. 45 Abs. 3 der DSGVO ergangenen Angemessenheitsbeschluss, der darauf abzielt – im Anschluss an eine Untersuchung des Rechts des betreffenden Drittlands, bei der insbesondere die maßgeblichen Vorschriften im Bereich der nationalen Sicherheit und des Zugangs der Behörden zu personenbezogenen Daten berücksichtigt werden –, verbindlich festzustellen, dass ein Drittland, ein Gebiet oder ein oder mehrere spezifische Sektoren in diesem Drittland ein angemessenes Schutzniveau bieten, so dass der Zugang der Behörden dieses Landes zu solchen Daten ihrer Übermittlung in dieses Land nicht entgegensteht. Die Kommission darf einen solchen Angemessenheitsbeschluss also nur erlassen, wenn sie festgestellt hat, dass die einschlägigen Rechtsvorschriften des Drittlands tatsächlich alle erforderlichen Garantien bieten, so dass angenommen werden kann, dass sie ein angemessenes Schutzniveau gewährleisten.
130 Bei einem Beschluss der Kommission wie dem SDK-Beschluss, mit dem Standarddatenschutzklauseln aufgestellt werden, kann hingegen, da ein solcher Beschluss nicht ein Drittland, ein Gebiet oder ein oder mehrere spezifische Sektoren in diesem Drittland betrifft, aus Art. 46 Abs. 1 und Art. 46 Abs. 2 Buchst. c der DSGVO nicht abgeleitet werden, dass die Kommission verpflichtet wäre, vor seinem Erlass die Angemessenheit des Schutzniveaus zu beurteilen, das in den Drittländern geboten wird, in die personenbezogene Daten auf der Grundlage solcher Klauseln übermittelt werden könnten.
131 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass es gemäß Art. 46 Abs. 1 der DSGVO, falls kein Angemessenheitsbeschluss der Kommission vorliegt, Sache des in der Union ansässigen Verantwortlichen bzw. des dort ansässigen Auftragsverarbeiters ist, insbesondere geeignete Garantien vorzusehen. Die Erwägungsgründe 108 und 114 dieser Verordnung bestätigen, dass der Verantwortliche oder gegebenenfalls sein Auftragsverarbeiter, wenn die Kommission keine Entscheidung in Bezug auf die Angemessenheit des Datenschutzniveaus in einem Drittland getroffen hat, „als Ausgleich für den [im] Drittland bestehenden Mangel an Datenschutz geeignete Garantien für den Schutz der betroffenen Person vorsehen [sollte]“ und dass „[d]iese Garantien … sicherstellen [sollten], dass die Datenschutzvorschriften und die Rechte der betroffenen Personen auf eine der Verarbeitung innerhalb der Union angemessene Art und Weise beachtet werden; dies gilt auch hinsichtlich der Verfügbarkeit von durchsetzbaren Rechten der betroffenen Person und von wirksamen Rechtsbehelfen … in der Union oder in einem Drittland“.
132 Da Standarddatenschutzklauseln, wie aus Rn. 125 des vorliegenden Urteils hervorgeht, aufgrund ihres Vertragscharakters naturgemäß keine drittstaatlichen Behörden binden können, während Art. 44, Art. 46 Abs. 1 und Art. 46 Abs. 2 Buchst. c der DSGVO – ausgelegt im Licht der Art. 7, 8 und 47 der Charta –verlangen, dass das durch die DSGVO verbürgte Schutzniveau für natürliche Personen nicht beeinträchtigt wird, kann es sich als notwendig erweisen, die in den Standarddatenschutzklauseln enthaltenen Garantien zu ergänzen. Dazu heißt es im 109. Erwägungsgrund dieser Verordnung, dass „[d]ie dem Verantwortlichen … offenstehende Möglichkeit, auf die von der Kommission … festgelegten Standard-Datenschutzklauseln zurückzugreifen, … den Verantwortlichen [nicht] daran hindern [sollte], ihnen weitere Klauseln oder zusätzliche Garantien hinzuzufügen“, und dass der Verantwortliche insbesondere „ermutigt werden [sollte], [durch Ergänzung der Standarddatenschutzklauseln] zusätzliche Garantien zu bieten“.
133 Somit ist davon auszugehen, dass die von der Kommission gemäß Art. 46 Abs. 2 Buchst. c DSGVO erlassenen Standarddatenschutzklauseln nur darauf abzielen, den in der Union ansässigen Verantwortlichen bzw. ihren dort ansässigen Auftragsverarbeitern vertragliche Garantien zu bieten, die in allen Drittländern einheitlich gelten, d. h. unabhängig vom dort jeweils garantierten Schutzniveau. Da diese Standarddatenschutzklauseln ihrer Natur nach keine Garantien bieten können, die über die vertragliche Verpflichtung, für die Einhaltung des unionsrechtlich verlangten Schutzniveaus zu sorgen, hinausgehen, kann es je nach der in einem bestimmten Drittland gegebenen Lage erforderlich sein, dass der Verantwortliche zusätzliche Maßnahmen ergreift, um die Einhaltung dieses Schutzniveaus zu gewährleisten.
134 Wie der Generalanwalt hierzu in Nr. 126 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, beruht der in Art. 46 Abs. 2 Buchst. c der DSGVO vorgesehene vertragliche Mechanismus auf der Eigenverantwortlichkeit des in der Union ansässigen Verantwortlichen bzw. seines dort ansässigen Auftragsverarbeiters und, in zweiter Linie, der zuständigen Aufsichtsbehörde. Folglich obliegt es vor allem diesem Verantwortlichen bzw. seinem Auftragsverarbeiter, in jedem Einzelfall – gegebenenfalls in Zusammenarbeit mit dem Empfänger der Übermittlung – zu prüfen, ob das Recht des Bestimmungsdrittlands nach Maßgabe des Unionsrechts einen angemessenen Schutz der auf der Grundlage von Standarddatenschutzklauseln übermittelten personenbezogenen Daten gewährleistet, und erforderlichenfalls mehr Garantien als die durch diese Klauseln gebotenen zu gewähren.
135 Kann der in der Union ansässige Verantwortliche bzw. sein dort ansässiger Auftragsverarbeiter keine hinreichenden zusätzlichen Maßnahmen ergreifen, um einen solchen Schutz zu gewährleisten, ist er – bzw. in zweiter Linie die zuständige Aufsichtsbehörde – verpflichtet, die Übermittlung personenbezogener Daten in das betreffende Drittland auszusetzen oder zu beenden. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn das Recht dieses Drittlands dem Empfänger aus der Union übermittelter personenbezogener Daten Verpflichtungen auferlegt, die den genannten Klauseln widersprechen und daher geeignet sind, die vertragliche Garantie eines angemessenen Schutzniveaus hinsichtlich des Zugangs der Behörden dieses Drittlands zu diesen Daten zu untergraben.
136 Der bloße Umstand, dass Standarddatenschutzklauseln, die wie die im Anhang des SDK-Beschlusses befindlichen in einem gemäß Art. 46 Abs. 2 Buchst. c der DSGVO ergangenen Beschluss der Kommission enthalten sind, die Behörden der Drittländer, in die möglicherweise personenbezogene Daten übermittelt werden, nicht binden, kann folglich die Gültigkeit dieses Beschlusses nicht berühren.
137 Vielmehr hängt die Gültigkeit eines solchen Beschlusses davon ab, ob er – im Einklang mit dem aus Art. 46 Abs. 1 und Art. 46 Abs. 2 Buchst. c der DSGVO im Licht der Art. 7, 8 und 47 der Charta resultierenden Erfordernis – wirksame Mechanismen enthält, die in der Praxis gewährleisten können, dass das vom Unionsrecht verlangte Schutzniveau eingehalten wird und dass auf solche Klauseln gestützte Übermittlungen personenbezogener Daten ausgesetzt oder verboten werden, wenn gegen diese Klauseln verstoßen wird oder ihre Einhaltung unmöglich ist.
138 Was die in den Standarddatenschutzklauseln im Anhang des SDK-Beschlusses enthaltenen Garantien betrifft, geht aus Klausel 4 Buchst. a und b, Klausel 5 Buchst. a, Klausel 9 sowie Klausel 11 Abs. 1 dieses Anhangs hervor, dass sich der in der Union ansässige Verantwortliche, der Empfänger der Übermittlung personenbezogener Daten sowie der etwaige Auftragsverarbeiter dieses Empfängers gegenseitig verpflichten, zu gewährleisten, dass die Verarbeitung der Daten, einschließlich ihrer Übermittlung, im Einklang mit dem „anwendbaren Datenschutzrecht“ erfolgt ist und weiterhin erfolgen wird, d. h. gemäß der Definition in Art. 3 Buchst. f des SDK-Beschlusses, im Einklang mit den „Vorschriften zum Schutz der Grundrechte und Grundfreiheiten der Personen, insbesondere des Rechts auf Schutz der Privatsphäre im Hinblick auf die Verarbeitung personenbezogener Daten, die in dem Mitgliedstaat, in dem der Datenexporteur niedergelassen ist, für den für die Verarbeitung Verantwortlichen gelten“. Die Bestimmungen der DSGVO – im Licht der Charta betrachtet – gehören zu diesen Vorschriften.
139 Des Weiteren verpflichtet sich der in einem Drittland ansässige Empfänger der Übermittlung personenbezogener Daten gemäß Klausel 5 Buchst. a des Anhangs des SDK-Beschlusses dazu, den in der Union ansässigen Verantwortlichen unverzüglich in Kenntnis zu setzen, falls er seine vertraglichen Pflichten nicht einhalten kann. Insbesondere versichert der Empfänger gemäß Klausel 5 Buchst. b, dass er seines Wissens keinen Gesetzen unterliegt, die die Einhaltung seiner vertraglichen Pflichten unmöglich machen, und verpflichtet sich, dem Verantwortlichen, sobald er davon Kenntnis erhält, jede Änderung der ihn betreffenden nationalen Rechtsvorschriften mitzuteilen, die sich voraussichtlich sehr nachteilig auf die Garantien und Pflichten auswirkt, die die Standarddatenschutzklauseln im Anhang des SDK-Beschlusses bieten sollen. Im Übrigen ist der Empfänger der Übermittlung personenbezogener Daten zwar nach Klausel 5 Buchst. d Ziff. i berechtigt, den in der Union ansässigen Verantwortlichen nicht über rechtlich bindende Aufforderungen einer Vollstreckungsbehörde zur Weitergabe der personenbezogenen Daten zu informieren, falls ihm diese Information rechtlich untersagt ist, beispielsweise durch ein strafrechtliches Verbot zur Wahrung des Untersuchungsgeheimnisses bei strafrechtlichen Ermittlungen. Allerdings ist er auch in diesem Fall gemäß Klausel 5 Buchst. a verpflichtet, den Verantwortlichen davon in Kenntnis zu setzen, dass er die Standarddatenschutzklauseln nicht einhalten kann.
140 In den beiden von ihr erfassten Fällen räumt Klausel 5 Buchst. a und b dem in der Union ansässigen Verantwortlichen das Recht ein, die Datenübermittlung auszusetzen und/oder vom Vertrag zurückzutreten. In Anbetracht der Anforderungen, die sich aus Art. 46 Abs. 1 und Abs. 2 Buchst. c der DSGVO im Licht der Art. 7 und 8 der Charta ergeben, ist der Verantwortliche zur Aussetzung der Datenübermittlung und/oder zum Rücktritt vom Vertrag verpflichtet, wenn der Empfänger der Übermittlung nicht oder nicht mehr in der Lage ist, die Standarddatenschutzklauseln einzuhalten. Unterließe der Verantwortliche dies, würde er die Pflichten verletzen, die ihm nach Klausel 4 Buchst. a des Anhangs des SDK-Beschlusses, ausgelegt im Licht der DSGVO und der Charta, obliegen.
141 Somit verpflichten Klausel 4 Buchst. a sowie Klausel 5 Buchst. a und b dieses Anhangs den in der Union ansässigen Verantwortlichen und den Empfänger der Übermittlung personenbezogener Daten, sich vor der Übermittlung personenbezogener Daten in ein Drittland zu vergewissern, dass das Recht des Bestimmungsdrittlands es dem Empfänger erlaubt, die Standarddatenschutzklauseln im Anhang des SDK-Beschlusses einzuhalten. Hinsichtlich dieser Prüfung wird in der Fußnote zu Klausel 5 klargestellt, dass zwingende Erfordernisse dieses Rechts, die nicht über das hinausgehen, was in einer demokratischen Gesellschaft zur Gewährleistung u. a. der Sicherheit des Staates, der Landesverteidigung und der öffentlichen Sicherheit erforderlich ist, nicht den Standarddatenschutzklauseln widersprechen. Umgekehrt ist es, wie der Generalanwalt in Nr. 131 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, als Verstoß gegen diese Klauseln anzusehen, wenn einer aus dem Recht des Bestimmungsdrittlands folgenden Verpflichtung nachgekommen wird, die über das hinausgeht, was für Zwecke wie die oben genannten erforderlich ist. Bei ihrer Beurteilung, ob eine solche Verpflichtung erforderlich ist, müssen die genannten Akteure gegebenenfalls berücksichtigen, dass das vom betreffenden Drittland gebotene Schutzniveau in einem gemäß Art. 45 Abs. 3 der DSGVO erlassenen Angemessenheitsbeschluss der Kommission für angemessen erklärt wurde.
142 Demzufolge sind der in der Union ansässige Verantwortliche und der Empfänger der Übermittlung personenbezogener Daten verpflichtet, vorab zu prüfen, ob im betreffenden Drittland das unionsrechtlich geforderte Schutzniveau eingehalten wird. Der Empfänger der Übermittlung ist nach Klausel 5 Buchst. b des Anhangs des SDK-Beschlusses gegebenenfalls verpflichtet, dem Verantwortlichen mitzuteilen, dass er die Klauseln nicht einhalten kann, woraufhin der Verantwortliche die Datenübermittlung aussetzen und/oder vom Vertrag zurücktreten muss.
143 Teilt der Empfänger der in ein Drittland erfolgenden Übermittlung personenbezogener Daten dem Verantwortlichen gemäß Klausel 5 Buchst. b des Anhangs des SDK-Beschlusses mit, dass das Recht des betreffenden Drittlands es ihm nicht erlaube, die Standarddatenschutzklauseln in diesem Anhang einzuhalten, folgt aus dessen Klausel 12, dass die bereits in dieses Drittland übermittelten Daten und deren Kopien – sämtlich – zurückgeschickt oder zerstört werden müssen. In jedem Fall sieht Klausel 6 des Anhangs eine Sanktion für den Verstoß gegen die Standarddatenschutzklauseln vor, indem sie der betroffenen Person einen Schadensersatzanspruch verschafft.
144 Zu ergänzen ist, dass sich der in der Union ansässige Verantwortliche gemäß Klausel 4 Buchst. f des Anhangs des SDK-Beschlusses verpflichtet, für den Fall, dass besondere Datenkategorien in ein Drittland, das kein angemessenes Schutzniveau bietet, übermittelt werden könnten, die betroffene Person vor oder so bald wie möglich nach der Übermittlung davon in Kenntnis zu setzen. Durch diese Mitteilung wird die betroffene Person in die Lage versetzt, die ihr durch Klausel 3 Abs. 1 dieses Anhangs zuerkannten rechtlichen Mittel gegenüber dem Verantwortlichen wahrzunehmen, damit er die beabsichtigte Übermittlung aussetzt, von dem mit dem Empfänger der Übermittlung personenbezogener Daten geschlossenen Vertrag zurücktritt oder gegebenenfalls von ihm verlangt, die bereits übermittelten Daten zurückzuschicken oder zu zerstören.
145 Wenn der Empfänger der Übermittlung personenbezogener Daten dem in der Union ansässigen Verantwortlichen gemäß Klausel 5 Buchst. b des Anhangs des SDK-Beschlusses mitteilt, dass die ihn betreffenden Rechtsvorschriften in einer Weise geändert worden seien, die sich sehr nachteilig auf die durch die Standarddatenschutzklauseln gebotenen Garantien und Pflichten auswirken könnte, muss der Verantwortliche diese Mitteilung nach Klausel 4 Buchst. g dieses Anhangs an die zuständige Aufsichtsbehörde weiterleiten, falls er trotz der Mitteilung beschließt, die Übermittlung fortzusetzen oder die Aussetzung aufzuheben. Die Weiterleitung einer solchen Mitteilung an die Aufsichtsbehörde und deren Recht, den Empfänger der Übermittlung personenbezogener Daten gemäß Klausel 8 Abs. 2 des Anhangs einer Prüfung zu unterziehen, ermöglichen es der Aufsichtsbehörde, zu prüfen, ob die beabsichtigte Übermittlung ausgesetzt oder verboten werden muss, um ein angemessenes Schutzniveau zu wahren.
146 In diesem Zusammenhang bestätigt Art. 4 des SDK-Beschlusses im Licht des fünften Erwägungsgrundes des Durchführungsbeschlusses 2016/2297, dass der SDK-Beschluss die zuständige Aufsichtsbehörde keineswegs daran hindert, eine auf die Standarddatenschutzklauseln im Anhang dieses Beschlusses gestützte Übermittlung personenbezogener Daten in ein Drittland gegebenenfalls auszusetzen oder zu verbieten. Insoweit muss, wie sich aus der Antwort auf die achte Frage ergibt, die zuständige Aufsichtsbehörde, sofern kein gültiger Angemessenheitsbeschluss der Kommission vorliegt, gemäß Art. 58 Abs. 2 Buchst. f und j der DSGVO eine solche Übermittlung aussetzen oder verbieten, wenn sie im Licht aller Umstände der Übermittlung der Auffassung ist, dass die Klauseln in diesem Drittland nicht eingehalten werden oder nicht eingehalten werden können und dass der nach dem Unionsrecht erforderliche Schutz der übermittelten Daten nicht mit anderen Mitteln gewährleistet werden kann, es sei denn, der in der Union ansässige Verantwortliche bzw. sein dort ansässiger Auftragsverarbeiter hat die Übermittlung selbst ausgesetzt oder beendet.
147 Was den vom Commissioner angeführten Umstand betrifft, dass die Aufsichtsbehörden verschiedener Mitgliedstaaten unter Umständen divergierende Entscheidungen in Bezug auf Übermittlungen personenbezogener Daten in ein solches Drittland treffen könnten, ist zu ergänzen, dass, wie aus Art. 55 Abs. 1 und Art. 57 Abs. 1 Buchst. a der DSGVO hervorgeht, mit der Aufgabe, die Einhaltung dieser Verordnung zu überwachen, grundsätzlich jede Aufsichtsbehörde im Hoheitsgebiet ihres eigenen Mitgliedstaats betraut ist. Um divergierende Entscheidungen zu vermeiden, sieht Art. 64 Abs. 2 der DSGVO überdies vor, dass eine Aufsichtsbehörde, die der Auffassung ist, dass Datenübermittlungen in ein Drittland generell verboten werden müssen, eine Stellungnahme des Europäischen Datenschutzausschusses (EDSA) einholen kann, der seinerseits nach Art. 65 Abs. 1 Buchst. c der DSGVO u. a. dann einen verbindlichen Beschluss erlassen kann, wenn eine Aufsichtsbehörde seiner Stellungnahme nicht folgt.
148 Folglich sieht der SDK-Beschluss wirksame Mechanismen vor, mit denen in der Praxis gewährleistet werden kann, dass die auf die Standarddatenschutzklauseln im Anhang dieses Beschlusses gestützte Übermittlung personenbezogener Daten in ein Drittland ausgesetzt oder verboten wird, wenn der Empfänger der Übermittlung diese Klauseln nicht einhält oder nicht einhalten kann.
149 Nach alledem ist auf die siebte und die elfte Frage zu antworten, dass die Prüfung des SDK-Beschlusses anhand der Art. 7, 8 und 47 der Charta nichts ergeben hat, was seine Gültigkeit berühren könnte.
Zu den Fragen 4, 5, 9 und 10
150 Mit seiner neunten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob und inwieweit eine Aufsichtsbehörde eines Mitgliedstaats an die Feststellungen im DSS-Beschluss gebunden ist, wonach die Vereinigten Staaten ein angemessenes Schutzniveau gewährleisten. Mit seinen Fragen 4, 5 und 10 möchte es im Kern wissen, ob – in Anbetracht seiner eigenen Feststellungen zum Recht der Vereinigten Staaten – die auf die Standarddatenschutzklauseln im Anhang des SDK-Beschlusses gestützte Übermittlung personenbezogener Daten in dieses Drittland die durch die Art. 7, 8 und 47 der Charta verbürgten Rechte verletzt. Insbesondere ersucht es den Gerichtshof, sich zu der Frage zu äußern, ob die Einsetzung der in Anhang III des DSS-Beschlusses erwähnten Ombudsperson mit Art. 47 der Charta im Einklang steht.
151 Zunächst ist festzustellen, dass mit der vom Commissioner im Ausgangsverfahren erhobenen Klage zwar nur die Gültigkeit des SDK-Beschlusses in Frage gestellt wird, doch wurde sie vor dem Erlass des DSS-Beschlusses beim vorlegenden Gericht erhoben. Da es mit seiner vierten und seiner fünften Frage vom Gerichtshof allgemein wissen möchte, welcher Schutz nach den Art. 7, 8 und 47 der Charta im Rahmen einer solchen Übermittlung zu gewährleisten ist, muss der Gerichtshof bei seiner Prüfung die Folgen berücksichtigen, die sich aus dem zwischenzeitlichen Erlass des DSS-Beschlusses ergeben. Dies gilt umso mehr, als das vorlegende Gericht mit seiner zehnten Frage explizit wissen möchte, ob der nach Art. 47 der Charta erforderliche Schutz durch die in diesem Beschluss erwähnte Ombudsperson gewährleistet wird.
152 Zudem geht aus den Angaben im Vorabentscheidungsersuchen hervor, dass Facebook Ireland im Rahmen des Ausgangsverfahrens geltend gemacht hat, der DSS-Beschluss binde den Commissioner in Bezug auf die Feststellung der Angemessenheit des von den Vereinigten Staaten gebotenen Schutzniveaus und damit hinsichtlich der Zulässigkeit einer auf die Standarddatenschutzklauseln im Anhang des SDK-Beschlusses gestützten Übermittlung personenbezogener Daten in dieses Drittland.
153 Wie sich aus Rn. 59 des vorliegenden Urteils ergibt, hat das vorlegende Gericht in seinem Urteil vom 3. Oktober 2017, das dem Vorabentscheidungsersuchen beigefügt ist, hervorgehoben, dass es die zwischen der Klageerhebung und der von ihm anberaumten mündlichen Verhandlung eingetretenen Rechtsänderungen berücksichtigen müsse. Demnach muss es offenbar bei der Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits die aus dem Erlass des DSS-Beschlusses resultierende Veränderung der Umstände sowie etwaige verbindliche Wirkungen dieses Beschlusses berücksichtigen.
154 Die Frage der Verbindlichkeit der Feststellung im DSS-Beschluss, dass in den Vereinigten Staaten ein angemessenes Schutzniveau bestehe, ist insbesondere relevant sowohl für die Beurteilung der in den Rn. 141 und 142 des vorliegenden Urteils dargelegten Pflichten des Verantwortlichen und des Empfängers einer auf die Standarddatenschutzklauseln im Anhang des SDK-Beschlusses gestützten Übermittlung personenbezogener Daten in ein Drittland als auch für die Beurteilung der etwaigen Pflichten der Aufsichtsbehörde, eine solche Übermittlung auszusetzen oder zu verbieten.
155 Zur Verbindlichkeit des DSS-Beschlusses wird in dessen Art. 1 Abs. 1 nämlich festgestellt, dass im Sinne von Art. 45 Abs. 1 der DSGVO „die Vereinigten Staaten ein angemessenes Schutzniveau für personenbezogene Daten [gewährleisten], die im Rahmen des EU-US-Datenschutzschilds aus der Europäischen Union an Organisationen in den Vereinigten Staaten übermittelt werden“. Gemäß Art. 1 Abs. 3 des DSS-Beschlusses gelten personenbezogene Daten als im Rahmen dieses Datenschutzschilds übermittelt, wenn sie aus der Union an Organisationen in den Vereinigten Staaten übermittelt werden, die in der „Datenschutzschild-Liste“ aufgeführt sind, die in Übereinstimmung mit den Abschnitten I und III der Grundsätze in Anhang II dieses Beschlusses vom amerikanischen Handelsministerium geführt und der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wird.
156 Wie sich aus der in den Rn. 117 und 118 des vorliegenden Urteils wiedergegebenen Rechtsprechung ergibt, ist der DSS-Beschluss für die Aufsichtsbehörden insofern verbindlich, als in diesem Beschluss festgestellt wird, dass die Vereinigten Staaten ein angemessenes Schutzniveau gewährleisten, und als der Beschluss damit die Genehmigung von Übermittlungen personenbezogener Daten bewirkt, die im Rahmen des EU-US-Datenschutzschilds erfolgen. Solange dieser Beschluss vom Gerichtshof nicht für ungültig erklärt wurde, darf die zuständige Aufsichtsbehörde daher eine Übermittlung personenbezogener Daten an eine Organisation, die in der Schutzschild-Liste aufgeführt ist, nicht mit der Begründung aussetzen oder verbieten, dass sie entgegen der Beurteilung durch die Kommission im DSS-Beschluss der Auffassung sei, dass die Rechtsvorschriften der Vereinigten Staaten, die den Zugang zu den im Rahmen dieses Schutzschilds übermittelten personenbezogenen Daten und ihre Verwendung durch die Behörden dieses Drittlands aus Gründen der nationalen Sicherheit, der Strafverfolgung oder des öffentlichen Interesses regelten, kein angemessenes Schutzniveau gewährleisteten.
157 Gleichwohl muss die zuständige Aufsichtsbehörde gemäß der in den Rn. 119 und 120 des vorliegenden Urteils wiedergegebenen Rechtsprechung, wenn sich eine Person mit einer Beschwerde an sie wendet, in völliger Unabhängigkeit prüfen, ob bei der fraglichen Übermittlung personenbezogener Daten die in der DSGVO aufgestellten Anforderungen gewahrt werden, und, falls sie die von dieser Person zur Infragestellung der Gültigkeit eines Angemessenheitsbeschlusses vorgebrachten Rügen für begründet hält, Klage vor den nationalen Gerichten erheben, damit diese den Gerichtshof um Vorabentscheidung über die Gültigkeit dieses Beschlusses ersuchen.
158 Eine Beschwerde im Sinne von Art. 77 Abs. 1 der DSGVO, mit der eine Person, deren personenbezogene Daten in ein Drittland übermittelt wurden oder werden könnten, geltend macht, dass ungeachtet der Feststellungen der Kommission in einem nach Art. 45 Abs. 3 der DSGVO ergangenen Beschluss das Recht und die Praxis dieses Landes kein angemessenes Schutzniveau gewährleisteten, ist nämlich dahin zu verstehen, dass sie der Sache nach die Vereinbarkeit dieses Beschlusses mit dem Schutz der Privatsphäre sowie der Freiheiten und Grundrechte von Personen betrifft (vgl. entsprechend, zu Art. 25 Abs. 6 und Art. 28 Abs. 4 der Richtlinie 95/46, Urteil vom 6. Oktober 2015, Schrems, C‑362/14, EU:C:2015:650, Rn. 59).
159 Im vorliegenden Fall hat Herr Schrems der Sache nach den Commissioner aufgefordert, die Übermittlung seiner personenbezogenen Daten durch Facebook Ireland an die in den Vereinigten Staaten ansässige Facebook Inc. zu verbieten oder auszusetzen, weil dieses Drittland kein angemessenes Schutzniveau gewährleiste. Im Anschluss an eine Untersuchung des Vorbringens von Herrn Schrems hat der Commissioner das vorlegende Gericht angerufen. Für dieses Gericht stellt sich in Anbetracht der vorgelegten Beweise und der vor ihm erfolgten kontradiktorischen Erörterung offenbar die Frage, ob die Zweifel von Herrn Schrems an der Angemessenheit des im genannten Drittland gewährleisteten Schutzniveaus – entgegen den von der Kommission zwischenzeitlich im DSS-Beschluss getroffenen Feststellungen – berechtigt sind. Dies hat das vorlegende Gericht dazu veranlasst, dem Gerichtshof die Vorlagefragen 4, 5 und 10 zu stellen.
160 Wie der Generalanwalt in Nr. 175 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, sind diese Vorlagefragen daher so zu verstehen, dass mit ihnen im Kern die von der Kommission im DSS-Beschluss getroffene Feststellung, die Vereinigten Staaten gewährleisteten ein angemessenes Schutzniveau für die aus der Union dorthin übermittelten Daten, und folglich die Gültigkeit dieses Beschlusses in Frage gestellt werden.
161 In Anbetracht der Erwägungen in den Rn. 121 und 157 bis 160 des vorliegenden Urteils und um dem vorlegenden Gericht eine vollständige Antwort zu geben, ist daher zu prüfen, ob der DSS-Beschluss den Anforderungen entspricht, die sich aus der im Licht der Charta ausgelegten DSGVO ergeben (vgl. entsprechend Urteil vom 6. Oktober 2015, Schrems, C‑362/14, EU:C:2015:650, Rn. 67).
162 Der Erlass eines Angemessenheitsbeschlusses der Kommission nach Art. 45 Abs. 3 der DSGVO erfordert die gebührend begründete Feststellung dieses Organs, dass das betreffende Drittland aufgrund seiner innerstaatlichen Rechtsvorschriften oder internationalen Verpflichtungen tatsächlich ein Schutzniveau der Grundrechte gewährleistet, das dem in der Rechtsordnung der Union garantierten Niveau der Sache nach gleichwertig ist (vgl. entsprechend, zu Art. 25 Abs. 6 der Richtlinie 95/46, Urteil vom 6. Oktober 2015, Schrems, C‑362/14, EU:C:2015:650, Rn. 96).
Zum Inhalt des DSS-Beschlusses
163 Nach den Feststellungen der Kommission in Art. 1 Abs. 1 des DSS-Beschlusses gewährleisten die Vereinigten Staaten für personenbezogene Daten, die im Rahmen des EU-US-Datenschutzschilds aus der Union an Organisationen in den Vereinigten Staaten übermittelt werden, ein angemessenes Schutzniveau. Gemäß Art. 1 Abs. 2 dieses Beschlusses besteht dieser Schutzschild namentlich aus den Grundsätzen, die am 7. Juli 2016 vom amerikanischen Handelsministerium herausgegeben wurden und in Anhang II des Beschlusses aufgeführt sind, sowie aus den offiziellen Erklärungen und Zusagen, die in den Schriftstücken der Anhänge I und III bis VII des Beschlusses enthalten sind.
164 Allerdings wird in Abschnitt I.5 des Anhangs II („Grundsätze des EU-US-Datenschutzschilds[,] vorgelegt vom amerikanischen Handelsministerium“) des DSS-Beschlusses auch ausgeführt, dass die Einhaltung dieser Grundsätze u. a. insoweit begrenzt sein könne, „als Erfordernissen der nationalen Sicherheit, des öffentlichen Interesses oder der Durchführung von Gesetzen Rechnung getragen werden muss“. Somit wird in diesem Beschluss, ebenso wie in der Entscheidung 2000/520, diesen Erfordernissen Vorrang vor den genannten Grundsätzen eingeräumt. Aufgrund dieses Vorrangs sind die selbstzertifizierten US-Organisationen, die aus der Union personenbezogene Daten erhalten, ohne jede Einschränkung verpflichtet, diese Grundsätze unangewendet zu lassen, wenn sie in Widerstreit zu den genannten Erfordernissen stehen und sich deshalb als mit ihnen unvereinbar erweisen (vgl. entsprechend, zur Entscheidung 2000/520, Urteil vom 6. Oktober 2015, Schrems, C‑362/14, EU:C:2015:650, Rn. 86).
165 Angesichts ihres generellen Charakters ermöglicht die Ausnahme in Abschnitt I.5 des Anhangs II des DSS-Beschlusses es also, gestützt auf Erfordernisse der nationalen Sicherheit, des öffentlichen Interesses oder auf Rechtsvorschriften der Vereinigten Staaten in die Grundrechte der Personen einzugreifen, deren personenbezogene Daten aus der Union in die Vereinigten Staaten übermittelt werden oder werden könnten (vgl. entsprechend, zur Entscheidung 2000/520, Urteil vom 6. Oktober 2015, Schrems, C‑362/14, EU:C:2015:650, Rn. 87). Solche Eingriffe können, wie auch im DSS-Beschluss festgestellt wird, insbesondere daraus resultieren, dass die amerikanischen Behörden auf die aus der Union in die Vereinigten Staaten übermittelten personenbezogenen Daten zugreifen und sie verwenden, was sowohl im Rahmen der auf Section 702 des FISA gestützten Überwachungsprogramme PRISM und UPSTREAM als auch auf der Grundlage der E.O. 12333 geschehen kann.
166 In diesem Zusammenhang hat die Kommission in den Erwägungsgründen 67 bis 135 des DSS-Beschlusses die Einschränkungen und Garantien bewertet, die im amerikanischen Recht, insbesondere nach Section 702 des FISA, der E.O. 12333 und der PPD-28, für den Zugang zu den im Rahmen des EU-US-Datenschutzschilds übermittelten Daten gelten, die durch staatliche Einrichtungen der Vereinigten Staaten aus Gründen der nationalen Sicherheit, der Strafverfolgung oder anderer im öffentlichen Interesse liegender Ziele gesammelt und genutzt werden.
167 Am Ende dieser Bewertung hat die Kommission im 136. Erwägungsgrund des DSS-Beschlusses festgestellt, dass „die Vereinigten Staaten einen angemessenen Rechtsschutz für personenbezogene Daten gewährleisten, die im Rahmen des EU-US-Datenschutzschilds aus der … Union an selbstzertifizierte Organisationen in den Vereinigten Staaten übermittelt werden“, und im 140. Erwägungsgrund „aufgrund der verfügbaren Informationen über die Rechtsordnung der [Vereinigten Staaten]“ die Auffassung vertreten, dass „jegliche Eingriffe in die Grundrechte von Personen, deren Daten im Rahmen des EU-US-Datenschutzschilds aus Gründen der nationalen Sicherheit, der Strafverfolgung oder für andere im öffentlichen Interesse liegende Zwecke aus der Europäischen Union in die Vereinigten Staaten übermittelt werden, sowie die deshalb den selbstzertifizierten Organisationen bei der Einhaltung der Grundsätze auferlegten Beschränkungen auf das für die Erreichung solcher legitimen Ziele absolut notwendige Maß beschränkt werden und dass damit ein wirksamer Rechtsschutz vor derartigen Eingriffen gewährleistet ist“.
Zur Feststellung eines angemessenen Schutzniveaus
168 Das vorlegende Gericht hegt in Anbetracht der von der Kommission im DSS-Beschluss angeführten und der von ihm selbst im Rahmen des Ausgangsverfahrens festgestellten Umstände Zweifel daran, ob das Recht der Vereinigten Staaten tatsächlich das nach Art. 45 der DSGVO im Licht der durch die Art. 7, 8 und 47 der Charta verbürgten Grundrechte erforderliche Schutzniveau gewährleistet. Insbesondere ist es der Auffassung, dass das Recht dieses Drittlands hinsichtlich der nach seinem nationalen Recht zulässigen Eingriffe nicht die erforderlichen Einschränkungen und Garantien vorsehe und auch keinen effektiven gerichtlichen Rechtsschutz vor solchen Eingriffen gewährleiste. Zum letztgenannten Punkt fügt es hinzu, die Einsetzung der Ombudsperson des Datenschutzschilds könne seines Erachtens keinem dieser Mängel abhelfen, da sie einem Gericht im Sinne von Art. 47 der Charta nicht gleichgestellt werden könne.
169 Was erstens die Art. 7 und 8 der Charta anbelangt, die für das in der Union erforderliche Schutzniveau maßgebend sind und deren Einhaltung von der Kommission festgestellt werden muss, bevor sie einen Angemessenheitsbeschluss im Sinne von Art. 45 Abs. 1 der DSGVO erlässt, ist festzustellen, dass Art. 7 der Charta jeder Person das Recht auf Achtung ihres Privat- und Familienlebens, ihrer Wohnung und ihrer Kommunikation garantiert. Art. 8 Abs. 1 der Charta räumt jeder Person das Recht auf Schutz der sie betreffenden personenbezogenen Daten ein.
170 Der Zugriff auf personenbezogene Daten einer natürlichen Person zum Zweck ihrer Speicherung oder Verwendung berührt das durch Art. 7 der Charta garantierte Grundrecht dieser Person auf Achtung des Privatlebens, das sich auf jede Information erstreckt, die eine bestimmte oder bestimmbare natürliche Person betrifft. Außerdem fallen solche Datenverarbeitungen unter Art. 8 der Charta, weil sie Verarbeitungen personenbezogener Daten im Sinne dieses Artikels darstellen und deshalb zwangsläufig die dort vorgesehenen Erfordernisse des Datenschutzes erfüllen müssen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 9. November 2010, Volker und Markus Schecke und Eifert, C‑92/09 und C‑93/09, EU:C:2010:662, Rn. 49 und 52, und vom 8. April 2014, Digital Rights Ireland u. a., C‑293/12 und C‑594/12, EU:C:2014:238, Rn. 29, sowie Gutachten 1/15 [PNR-Abkommen EU-Kanada] vom 26. Juli 2017, EU:C:2017:592, Rn. 122 und 123).
171 Der Gerichtshof hat bereits entschieden, dass die Weitergabe personenbezogener Daten an einen Dritten, etwa eine Behörde, unabhängig von der späteren Verwendung der übermittelten Informationen einen Eingriff in die in den Art. 7 und 8 der Charta verankerten Grundrechte darstellt. Dasselbe gilt für die Speicherung personenbezogener Daten und den Zugang zu ihnen für ihre Nutzung durch die Behörden, wobei es nicht darauf ankommt, ob die betreffenden Informationen über das Privatleben sensiblen Charakter haben oder ob die Betroffenen durch den Eingriff Nachteile erlitten haben könnten (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 20. Mai 2003, Österreichischer Rundfunk u. a., C‑465/00, C‑138/01 und C‑139/01, EU:C:2003:294, Rn. 74 und 75, und vom 8. April 2014, Digital Rights Ireland u. a., C‑293/12 und C‑594/12, EU:C:2014:238, Rn. 33 bis 36, sowie Gutachten 1/15 [PNR-Abkommen EU-Kanada] vom 26. Juli 2017, EU:C:2017:592, Rn. 124 und 126).
172 Die in den Art. 7 und 8 der Charta niedergelegten Rechte können jedoch keine uneingeschränkte Geltung beanspruchen, sondern müssen im Hinblick auf ihre gesellschaftliche Funktion gesehen werden (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 9. November 2010, Volker und Markus Schecke und Eifert, C‑92/09 und C‑93/09, EU:C:2010:662, Rn. 48 und die dort angeführte Rechtsprechung, und vom 17. Oktober 2013, Schwarz, C‑291/12, EU:C:2013:670, Rn. 33 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie Gutachten 1/15 [PNR-Abkommen EU-Kanada] vom 26. Juli 2017, EU:C:2017:592, Rn. 136).
173 Insoweit ist ferner darauf hinzuweisen, dass nach Art. 8 Abs. 2 der Charta personenbezogene Daten nur „für festgelegte Zwecke und mit Einwilligung der betroffenen Person oder auf einer sonstigen gesetzlich geregelten legitimen Grundlage“ verarbeitet werden dürfen.
174 Zudem muss gemäß Art. 52 Abs. 1 Satz 1 der Charta jede Einschränkung der Ausübung der in der Charta anerkannten Rechte und Freiheiten gesetzlich vorgesehen sein und den Wesensgehalt dieser Rechte und Freiheiten achten. Nach Art. 52 Abs. 1 Satz 2 der Charta dürfen Einschränkungen dieser Rechte und Freiheiten unter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit nur vorgenommen werden, wenn sie erforderlich sind und den von der Union anerkannten dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen oder den Erfordernissen des Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer tatsächlich entsprechen.
175 Zum letztgenannten Punkt ist hinzuzufügen, dass das Erfordernis einer gesetzlichen Grundlage für jede Einschränkung der Ausübung der Grundrechte bedeutet, dass die gesetzliche Grundlage für den Eingriff in die Grundrechte den Umfang der Einschränkung der Ausübung des betreffenden Rechts selbst festlegen muss (Gutachten 1/15 [PNR-Abkommen EU-Kanada] vom 26. Juli 2017, EU:C:2017:592, Rn. 139 und die dort angeführte Rechtsprechung).
176 Schließlich muss die fragliche, den Eingriff enthaltende Regelung, um dem Erfordernis der Verhältnismäßigkeit zu genügen, wonach sich die Ausnahmen und Einschränkungen in Bezug auf den Schutz personenbezogener Daten auf das absolut Notwendige beschränken müssen, klare und präzise Regeln für die Tragweite und die Anwendung der betreffenden Maßnahme vorsehen und Mindesterfordernisse aufstellen, so dass die Personen, deren Daten übermittelt wurden, über ausreichende Garantien verfügen, die einen wirksamen Schutz ihrer personenbezogenen Daten vor Missbrauchsrisiken ermöglichen. Sie muss insbesondere angeben, unter welchen Umständen und unter welchen Voraussetzungen eine Maßnahme, die die Verarbeitung solcher Daten vorsieht, getroffen werden darf, damit gewährleistet ist, dass der Eingriff auf das absolut Notwendige beschränkt wird. Das Erfordernis, über solche Garantien zu verfügen, ist umso bedeutsamer, wenn die personenbezogenen Daten automatisch verarbeitet werden (vgl. in diesem Sinne Gutachten 1/15 [PNR-Abkommen EU-Kanada] vom 26. Juli 2017, EU:C:2017:592, Rn. 140 und 141 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).
177 Hierzu bestimmt Art. 45 Abs. 2 Buchst. a der DSGVO, dass die Kommission bei der Prüfung der Angemessenheit des von einem Drittland gebotenen Schutzniveaus u. a. „wirksame und durchsetzbare Rechte der betroffenen Person“, deren personenbezogene Daten übermittelt werden, berücksichtigt.
178 Im vorliegenden Fall ist die von der Kommission im DSS-Beschluss getroffene Feststellung, dass die Vereinigten Staaten ein Schutzniveau gewährleisteten, das dem in der Union durch die DSGVO im Licht der Art. 7 und 8 der Charta garantierten Niveau der Sache nach gleichwertig sei, u. a. mit der Begründung in Frage gestellt worden, dass die Eingriffe, die sich aus den auf Section 702 des FISA und die E.O. 12333 gestützten Überwachungsprogrammen ergäben, keinen Anforderungen unterlägen, mit denen unter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit ein Schutzniveau gewährleistet werde, das dem durch Art. 52 Abs. 1 Satz 2 der Charta garantierten Niveau der Sache nach gleichwertig sei. Daher ist zu prüfen, ob diese Überwachungsprogramme unter Einhaltung solcher Anforderungen durchgeführt werden, ohne dass vorab untersucht werden müsste, ob im genannten Drittland Bedingungen eingehalten werden, die den in Art. 52 Abs. 1 Satz 1 der Charta vorgesehenen Bedingungen der Sache nach gleichwertig sind.
179 Insoweit hat die Kommission im 109. Erwägungsgrund des DSS-Beschlusses zu den auf Section 702 des FISA gestützten Überwachungsprogrammen festgestellt, dass „d[er] FISC nach [dieser Vorschrift] keine individuellen Überwachungsmaßnahmen [autorisiert]; vielmehr genehmigt e[r] Überwachungsprogramme (wie PRISM oder UPSTREAM) auf der Grundlage jährlicher Zertifizierungen, die vom Justizminister und [vom] Director of National Intelligence vorgenommen werden“. Wie aus diesem Erwägungsgrund hervorgeht, zielt die vom FISC ausgeübte Kontrolle darauf ab, zu prüfen, ob diese Überwachungsprogramme dem Ziel entsprechen, Auslandsaufklärungsdaten zu erlangen, betrifft aber nicht die Frage, „ob die Personen vorschriftsgemäß als Zielpersonen für die Beschaffung von Auslandsaufklärungsdaten ausgewählt wurden“.
180 Demzufolge lässt Section 702 des FISA in keiner Weise erkennen, dass für die darin enthaltene Ermächtigung zur Durchführung von Überwachungsprogrammen zum Zweck der Auslandsaufklärung Einschränkungen bestehen. Genauso wenig ist erkennbar, dass für potenziell von diesen Programmen erfasste Nicht-US-Personen Garantien existieren. Unter diesen Umständen ist diese Vorschrift, wie der Generalanwalt in den Nrn. 291, 292 und 297 seiner Schlussanträge der Sache nach festgestellt hat, nicht geeignet, ein Schutzniveau zu gewährleisten, das dem durch die Charta – in ihrer Auslegung durch die in den Rn. 175 und 176 des vorliegenden Urteils wiedergegebene Rechtsprechung, wonach eine gesetzliche Grundlage für Eingriffe in Grundrechte, um dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu genügen, den Umfang, in dem die Ausübung des betreffenden Rechts eingeschränkt wird, selbst festlegen sowie klare und präzise Regeln für die Tragweite und die Anwendung der betreffenden Maßnahme vorsehen und Mindesterfordernisse aufstellen muss – garantierten Niveau der Sache nach gleichwertig ist.
181 Nach den Feststellungen im DSS-Beschluss müssen die auf Section 702 des FISA gestützten Überwachungsprogramme zwar unter Beachtung der aus der PPD-28 folgenden Anforderungen durchgeführt werden. Während die Kommission in den Erwägungsgründen 69 und 77 des DSS-Beschlusses hervorgehoben hat, dass solche Anforderungen für die amerikanischen Nachrichtendienste verbindlich seien, hat die amerikanische Regierung jedoch auf eine Frage des Gerichtshofs eingeräumt, dass die PPD-28 den betroffenen Personen keine Rechte verleihe, die gegenüber den amerikanischen Behörden gerichtlich durchgesetzt werden könnten. Folglich ist die PPD-28 nicht geeignet, ein Schutzniveau zu gewährleisten, das dem aus der Charta resultierenden Niveau der Sache nach gleichwertig wäre, entgegen den Anforderungen von Art. 45 Abs. 2 Buchst. a der DSGVO, wonach die Feststellung dieses Niveaus u. a. davon abhängt, ob die Personen, deren Daten in das fragliche Drittland übermittelt wurden, über wirksame und durchsetzbare Rechte verfügen.
182 Was die auf die E.O. 12333 gestützten Überwachungsprogramme anbelangt, geht aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten hervor, dass auch dieses Dekret keine Rechte verleiht, die gegenüber den amerikanischen Behörden gerichtlich durchgesetzt werden können.
183 Hinzuzufügen ist, dass die PPD-28, die bei der Anwendung der in den beiden vorstehenden Randnummern genannten Programme zu beachten ist, die „‚Sammelerhebung‘ … einer relativ großen Menge von signalerfassenden Aufklärungsdaten unter Bedingungen, in denen die Intelligence Community keinen mit einer bestimmten Zielperson verbundenen Identifikator … für eine zielgerichtete Erhebung verwenden kann“, erlaubt, wie dem in Anhang VI des DSS-Beschlusses enthaltenen Schreiben des Office of the Director of National Intelligence an das amerikanische Handelsministerium sowie an die International Trade Administration vom 21. Juni 2016 zu entnehmen ist. Hinsichtlich dieser im Rahmen der auf die E.O. 12333 gestützten Überwachungsprogramme bestehenden Möglichkeit, auf Daten während ihrer Übermittlung in die Vereinigten Staaten zuzugreifen, ohne dass dieser Zugriff irgendeiner gerichtlichen Kontrolle unterläge, besteht jedenfalls keine hinreichend klare und präzise Eingrenzung des Umfangs einer solchen Sammelerhebung personenbezogener Daten.
184 Folglich ist davon auszugehen, dass weder Section 702 des FISA noch die E.O. 12333 in Verbindung mit der PPD-28 den im Unionsrecht nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit bestehenden Mindestanforderungen genügen, so dass nicht angenommen werden kann, dass die auf diese Vorschriften gestützten Überwachungsprogramme auf das zwingend erforderliche Maß beschränkt sind.
185 Unter diesen Umständen sind die von der Kommission im DSS-Beschluss bewerteten Einschränkungen des Schutzes personenbezogener Daten, die sich daraus ergeben, dass die amerikanischen Behörden nach dem Recht der Vereinigten Staaten auf solche Daten, die aus der Union in die Vereinigten Staaten übermittelt werden, zugreifen und sie verwenden dürfen, nicht dergestalt geregelt, dass damit Anforderungen erfüllt würden, die den im Unionsrecht nach Art. 52 Abs. 1 Satz 2 der Charta bestehenden Anforderungen der Sache nach gleichwertig wären.
186 Was zweitens Art. 47 der Charta anbelangt, der ebenfalls für das in der Union erforderliche Schutzniveau maßgebend ist und dessen Einhaltung die Kommission feststellen muss, bevor sie einen Angemessenheitsbeschluss im Sinne von Art. 45 Abs. 1 der DSGVO erlässt, ist darauf hinzuweisen, dass nach Art. 47 Abs. 1 der Charta jede Person, deren unionsrechtlich garantierte Rechte oder Freiheiten verletzt worden sind, das Recht hat, nach Maßgabe der in diesem Artikel vorgesehenen Bedingungen bei einem Gericht einen wirksamen Rechtsbehelf einzulegen. Nach Art. 47 Abs. 2 hat jede Person ein Recht darauf, dass ihre Sache vor einem unabhängigen und unparteiischen Gericht verhandelt wird.
187 Nach ständiger Rechtsprechung ist es dem Wesen eines Rechtsstaats inhärent, dass eine wirksame, zur Gewährleistung der Einhaltung des Unionsrechts dienende gerichtliche Kontrolle vorhanden sein muss. Daher verletzt eine Regelung, die keine Möglichkeit für den Bürger vorsieht, mittels eines Rechtsbehelfs Zugang zu den ihn betreffenden personenbezogenen Daten zu erlangen oder ihre Berichtigung oder Löschung zu erwirken, den Wesensgehalt des in Art. 47 der Charta verankerten Grundrechts auf wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz (Urteil vom 6. Oktober 2015, Schrems, C‑362/14, EU:C:2015:650, Rn. 95 und die dort angeführte Rechtsprechung).
188 In diesem Rahmen verlangt Art. 45 Abs. 2 Buchst. a der DSGVO, dass die Kommission bei ihrer Prüfung der Angemessenheit des von einem Drittland gebotenen Schutzniveaus u. a. „wirksame verwaltungsrechtliche und gerichtliche Rechtsbehelfe für betroffene Personen, deren personenbezogene Daten übermittelt werden“, berücksichtigt. Insoweit wird im 104. Erwägungsgrund der DSGVO hervorgehoben, dass das Drittland „eine wirksame unabhängige Überwachung des Datenschutzes gewährleisten und Mechanismen für eine Zusammenarbeit mit den Datenschutzbehörden der Mitgliedstaaten vorsehen [sollte]“ und dass „den betroffenen Personen … wirksame und durchsetzbare Rechte sowie wirksame verwaltungsrechtliche und gerichtliche Rechtsbehelfe eingeräumt werden [sollten]“.
189 Das Bestehen solcher wirksamer Rechtsbehelfe im betreffenden Drittland ist im Kontext einer Übermittlung personenbezogener Daten in dieses Drittland besonders wichtig. Wie aus dem 116. Erwägungsgrund der DSGVO hervorgeht, können die betroffenen Personen nämlich mit dem Problem konfrontiert sein, dass die Verwaltungsbehörden und die Gerichte der Mitgliedstaaten nicht über hinreichende Befugnisse und Mittel verfügen, um ihre Beschwerden, mit denen sie eine rechtswidrige Verarbeitung ihrer in das Drittland übermittelten Daten geltend machen, zweckdienlich zu bearbeiten, so dass die betroffenen Personen nicht umhin können, sich an die nationalen Behörden und Gerichte des Drittlands zu wenden.
190 Im vorliegenden Fall ist die von der Kommission im DSS-Beschluss getroffene Feststellung, dass die Vereinigten Staaten ein Schutzniveau gewährleisteten, das dem durch Art. 47 der Charta garantierten Niveau der Sache nach gleichwertig sei, u. a. mit der Begründung in Frage gestellt worden, dass die Einsetzung der Ombudsperson des Datenschutzschilds den von der Kommission selbst festgestellten Mängeln hinsichtlich des gerichtlichen Schutzes von Personen, deren personenbezogene Daten in dieses Drittland übermittelt würden, nicht abzuhelfen vermöge.
191 Hierzu hat die Kommission im 115. Erwägungsgrund des DSS-Beschlusses ausgeführt: „Auch wenn Privatpersonen, einschließlich Betroffene[n] in der [Union], eine Reihe von Rechtsschutzinstrumenten zur Verfügung steht, wenn sie aus Gründen der nationalen Sicherheit rechtswidrig (elektronisch) überwacht wurden, steht doch fest, dass zumindest einige Rechtsgrundlagen, die US-Nachrichtendienste nutzen können (z. B. [die] E.O. 12333), [davon nicht erfasst werden].“ Sie hat also in diesem 115. Erwägungsgrund hinsichtlich der E.O. 12333 das Fehlen jeglichen Rechtsbehelfs hervorgehoben. Nach der in Rn. 187 des vorliegenden Urteils wiedergegebenen Rechtsprechung steht eine solche Lücke im gerichtlichen Rechtsschutz gegen Eingriffe, die mit den auf dieses Präsidialdekret gestützten Aufklärungsprogrammen verbunden sind, der von der Kommission im DSS-Beschluss getroffenen Feststellung entgegen, dass das Recht der Vereinigten Staaten ein Schutzniveau gewährleiste, das dem durch Art. 47 der Charta garantierten Niveau der Sache nach gleichwertig sei.
192 Im Übrigen ist sowohl hinsichtlich der auf Section 702 des FISA gestützten als auch hinsichtlich der auf die E.O. 12333 gestützten Überwachungsprogramme in den Rn. 181 und 182 des vorliegenden Urteils festgestellt worden, dass weder die PPD-28 noch die E.O. 12333 den betroffenen Personen Rechte verleihen, die gegenüber den amerikanischen Behörden gerichtlich durchgesetzt werden können, so dass diese Personen nicht über einen wirksamen Rechtsbehelf verfügen.
193 Die Kommission hat jedoch in den Erwägungsgründen 115 und 116 des DSS-Beschlusses festgestellt, dass aufgrund des von den amerikanischen Behörden geschaffenen Ombudsmechanismus, wie er in dem in Anhang III dieses Beschlusses enthaltenen Schreiben des amerikanischen Außenministers an die europäische Kommissarin für Justiz, Verbraucher und Gleichstellung vom 7. Juli 2016 beschrieben werde, sowie aufgrund der Funktion der Ombudsperson als „Senior Coordinator for International Information Technology Diplomacy“ davon ausgegangen werden könne, dass die Vereinigten Staaten ein Schutzniveau gewährleisteten, das dem durch Art. 47 der Charta garantierten Niveau der Sache nach gleichwertig sei.
194 Die Prüfung der Frage, ob der im DSS-Beschluss angeführte Ombudsmechanismus tatsächlich die von der Kommission festgestellten Einschränkungen des Rechts auf gerichtlichen Rechtsschutz auszugleichen vermag, muss nach den Anforderungen, die sich aus Art. 47 der Charta und der in Rn. 187 des vorliegenden Urteils wiedergegebenen Rechtsprechung ergeben, von dem Grundsatz ausgehen, dass Einzelne über die Möglichkeit verfügen müssen, Rechtsbehelfe vor einem unabhängigen und unparteiischen Gericht einzulegen, um Zugang zu den sie betreffenden personenbezogenen Daten zu erlangen oder die Berichtigung oder Löschung solcher Daten zu erwirken.
195 In dem in Rn. 193 des vorliegenden Urteils genannten Schreiben wurde die Ombudsperson des Datenschutzschilds zwar als „von den Nachrichtendiensten unabhängig“ beschrieben, aber weiter heißt es dort, dass sie „unmittelbar dem Außenminister [untersteht], der dafür Sorge trägt, dass [sie] ihre Aufgabe objektiv und frei von unzulässiger Einflussnahme erfüllt, die sich auf die zu erteilende Antwort auswirken kann“. Im Übrigen enthält der DSS-Beschluss, wie der Generalanwalt in Nr. 337 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, über die Feststellung der Kommission in seinem 116. Erwägungsgrund hinaus, dass die Ombudsperson vom Außenminister ernannt werde und einen Posten im Außenministerium der Vereinigten Staaten bekleide, keinen Hinweis darauf, dass die Abberufung der Ombudsperson oder der Widerruf ihrer Ernennung mit besonderen Garantien versehen wäre, was Zweifel daran weckt, ob sie von der Exekutive unabhängig ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 21. Januar 2020, Banco de Santander, C‑274/14, EU:C:2020:17, Rn. 60 und 63 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).
196 Desgleichen wird zwar im 120. Erwägungsgrund des DSS-Beschlusses festgestellt, dass sich die amerikanische Regierung dazu verpflichtet habe, dass der betroffene Teil der Nachrichtendienste jeden von der Ombudsperson des Datenschutzschilds festgestellten Verstoß gegen die geltenden Bestimmungen abstellen müsse, doch enthält er, wie der Generalanwalt in Nr. 338 seiner Schlussanträge hervorgehoben hat, keinen Hinweis darauf, dass die Ombudsperson ermächtigt wäre, gegenüber den Nachrichtendiensten verbindliche Entscheidungen zu treffen. Zudem werden in diesem Beschluss keine gesetzlichen Garantien angeführt, die mit dieser Verpflichtung einhergingen und auf die sich die betroffenen Personen berufen könnten.
197 Demnach eröffnet der im DSS-Beschluss genannte Ombudsmechanismus keinen Rechtsweg zu einem Organ, das den Personen, deren Daten in die Vereinigten Staaten übermittelt werden, Garantien böte, die den nach Art. 47 der Charta erforderlichen Garantien der Sache nach gleichwertig wären.
198 Daher hat die Kommission bei ihrer Feststellung in Art. 1 Abs. 1 des DSS-Beschlusses, dass die Vereinigten Staaten für personenbezogene Daten, die im Rahmen des EU-US-Datenschutzschilds aus der Union an Organisationen in diesem Drittland übermittelt würden, ein angemessenes Schutzniveau gewährleisteten, die Anforderungen verkannt, die sich aus Art. 45 Abs. 1 der DSGVO im Licht der Art. 7, 8 und 47 der Charta ergeben.
199 Daraus folgt, dass Art. 1 des DSS-Beschlusses mit Art. 45 Abs. 1 der DSGVO, ausgelegt im Licht der Art. 7, 8 und 47 der Charta, unvereinbar und somit ungültig ist.
200 Da Art. 1 des DSS-Beschlusses untrennbar mit dessen Art. 2 bis 6 sowie dessen Anhängen verbunden ist, führt seine Ungültigkeit zur Ungültigkeit des gesamten Beschlusses.
201 Nach alledem ist festzustellen, dass der DSS-Beschluss ungültig ist.
202 Zu der Frage, ob die Wirkungen dieses Beschlusses aufrechtzuerhalten sind, um die Entstehung eines rechtlichen Vakuums zu vermeiden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 28. April 2016, Borealis Polyolefine u. a., C‑191/14, C‑192/14, C‑295/14, C‑389/14 und C‑391/14 bis C‑393/14, EU:C:2016:311, Rn. 106), ist festzustellen, dass in Anbetracht von Art. 49 der DSGVO durch die Nichtigerklärung eines Angemessenheitsbeschlusses wie des DSS-Beschlusses jedenfalls kein solches rechtliches Vakuum entstehen kann. In dieser Vorschrift ist nämlich klar geregelt, unter welchen Voraussetzungen personenbezogene Daten in Drittländer übermittelt werden können, falls weder ein Angemessenheitsbeschluss nach Art. 45 Abs. 3 der DSGVO vorliegt noch geeignete Garantien im Sinne ihres Art. 46 bestehen.
Kosten
203 Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Große Kammer) für Recht erkannt:
1. Art. 2 Abs. 1 und 2 der Verordnung (EU) 2016/679 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 27. April 2016 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten, zum freien Datenverkehr und zur Aufhebung der Richtlinie 95/46/EG (Datenschutz-Grundverordnung) ist dahin auszulegen, dass eine zu gewerblichen Zwecken erfolgende Übermittlung personenbezogener Daten durch einen in einem Mitgliedstaat ansässigen Wirtschaftsteilnehmer an einen anderen, in einem Drittland ansässigen Wirtschaftsteilnehmer in den Anwendungsbereich dieser Verordnung fällt, ungeachtet dessen, ob die Daten bei ihrer Übermittlung oder im Anschluss daran von den Behörden des betreffenden Drittlands für Zwecke der öffentlichen Sicherheit, der Landesverteidigung und der Sicherheit des Staates verarbeitet werden können.
2. Art. 46 Abs. 1 und Art. 46 Abs. 2 Buchst. c der Verordnung 2016/679 sind dahin auszulegen, dass die nach diesen Vorschriften erforderlichen geeigneten Garantien, durchsetzbaren Rechte und wirksamen Rechtsbehelfe gewährleisten müssen, dass die Rechte der Personen, deren personenbezogene Daten auf der Grundlage von Standarddatenschutzklauseln in ein Drittland übermittelt werden, ein Schutzniveau genießen, das dem in der Europäischen Union durch diese Verordnung im Licht der Charta der Grundrechte der Europäischen Union garantierten Niveau der Sache nach gleichwertig ist. Bei der insoweit im Zusammenhang mit einer solchen Übermittlung vorzunehmenden Beurteilung sind insbesondere die vertraglichen Regelungen zu berücksichtigen, die zwischen dem in der Europäischen Union ansässigen Verantwortlichen bzw. seinem dort ansässigen Auftragsverarbeiter und dem im betreffenden Drittland ansässigen Empfänger der Übermittlung vereinbart wurden, sowie, was einen etwaigen Zugriff der Behörden dieses Drittlands auf die übermittelten personenbezogenen Daten betrifft, die maßgeblichen Elemente der Rechtsordnung dieses Landes, insbesondere die in Art. 45 Abs. 2 der Verordnung 2016/679 genannten Elemente.
3. Art. 58 Abs. 2 Buchst. f und j der Verordnung 2016/679 ist dahin auszulegen, dass die zuständige Aufsichtsbehörde, sofern kein gültiger Angemessenheitsbeschluss der Kommission vorliegt, verpflichtet ist, eine auf Standarddatenschutzklauseln, die von der Kommission erarbeitet wurden, gestützte Übermittlung personenbezogener Daten in ein Drittland auszusetzen oder zu verbieten, wenn diese Behörde im Licht aller Umstände dieser Übermittlung der Auffassung ist, dass die Klauseln in diesem Drittland nicht eingehalten werden oder nicht eingehalten werden können und dass der nach dem Unionsrecht, insbesondere nach den Art. 45 und 46 dieser Verordnung sowie nach der Charta der Grundrechte, erforderliche Schutz der übermittelten Daten nicht mit anderen Mitteln gewährleistet werden kann, es sei denn, der in der Union ansässige Verantwortliche bzw. sein dort ansässiger Auftragsverarbeiter hat die Übermittlung selbst ausgesetzt oder beendet.
4. Die Prüfung des Beschlusses 2010/87/EU der Kommission vom 5. Februar 2010 über Standardvertragsklauseln für die Übermittlung personenbezogener Daten an Auftragsverarbeiter in Drittländern nach der Richtlinie 95/46/EG des Europäischen Parlaments und des Rates in der durch den Durchführungsbeschluss (EU) 2016/2297 der Kommission vom 16. Dezember 2016 geänderten Fassung anhand der Art. 7, 8 und 47 der Charta der Grundrechte hat nichts ergeben, was seine Gültigkeit berühren könnte.
5. Der Durchführungsbeschluss (EU) 2016/1250 der Kommission vom 12. Juli 2016 gemäß der Richtlinie 95/46/EG des Europäischen Parlaments und des Rates über die Angemessenheit des vom EU-US-Datenschutzschild gebotenen Schutzes ist ungültig.
Unterschriften
(*1) Verfahrenssprache: Englisch.
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Urteil des Gerichtshofs (Große Kammer) vom 8. Mai 2018.#K.A. u. a. gegen Belgische Staat.#Vorabentscheidungsersuchen des Raad voor Vreemdelingenbetwistingen.#Vorlage zur Vorabentscheidung – Grenzkontrolle, Asyl, Einwanderung – Art. 20 AEUV – Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Art. 7 und 24 – Richtlinie 2008/115/EG – Art. 5 und 11 – Drittstaatsangehöriger, gegen den ein Einreiseverbot verhängt wurde – Antrag auf Aufenthaltsgewährung zum Zweck einer Familienzusammenführung mit einem Unionsbürger, der nie von seiner Freizügigkeit Gebrauch gemacht hat – Weigerung, den Antrag zu prüfen.#Rechtssache C-82/16.
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62016CJ0082
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ECLI:EU:C:2018:308
| 2018-05-08T00:00:00 |
Sharpston, Gerichtshof
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Sammlung der Rechtsprechung – allgemein
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62016CJ0082
URTEIL DES GERICHTSHOFS (Große Kammer)
8. Mai 2018 (*1)
„Vorlage zur Vorabentscheidung – Grenzkontrolle, Asyl, Einwanderung – Art. 20 AEUV – Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Art. 7 und 24 – Richtlinie 2008/115/EG – Art. 5 und 11 – Drittstaatsangehöriger, gegen den ein Einreiseverbot verhängt wurde – Antrag auf Aufenthaltsgewährung zum Zweck einer Familienzusammenführung mit einem Unionsbürger, der nie von seiner Freizügigkeit Gebrauch gemacht hat – Weigerung, den Antrag zu prüfen“
In der Rechtssache C‑82/16
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Raad voor Vreemdelingenbetwistingen (Rat für Ausländerstreitsachen, Belgien) mit Entscheidung vom 8. Februar 2016, beim Gerichtshof eingegangen am 12. Februar 2016, in den Verfahren
K.A.,
M.Z.,
M.J.,
N.N.N.,
O.I.O.,
R.I.,
B.A.
gegen
Belgische Staat
erlässt
DER GERICHTSHOF (Große Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten K. Lenaerts, des Vizepräsidenten A. Tizzano, der Kammerpräsidentin R. Silva de Lapuerta, der Kammerpräsidenten M. Ilešič und C. Vajda, der Richter J.‑C. Bonichot und A. Arabadjiev, der Richterin C. Toader sowie der Richter M. Safjan, E. Jarašiūnas, S. Rodin, F. Biltgen und C. Lycourgos (Berichterstatter),
Generalanwältin: E. Sharpston,
Kanzler: C. Strömholm, Verwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 28. Februar 2017,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
–
von K.A., M.Z. und B.A., vertreten durch J. De Lien, advocaat,
–
von M.J., vertreten durch W. Goossens, advocaat,
–
von N.N.N., vertreten durch B. Brijs, advocaat,
–
der belgischen Regierung, vertreten durch C. Pochet und M. Jacobs als Bevollmächtigte im Beistand von C. Decordier, D. Matray und T. Bricout, advocaten,
–
der hellenischen Regierung, vertreten durch T. Papadopoulou als Bevollmächtigte,
–
der Europäischen Kommission, vertreten durch E. Montaguti, C. Cattabriga und P. J. O. Van Nuffel als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge der Generalanwältin in der Sitzung vom 26. Oktober 2017
folgendes
Urteil
1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 20 AEUV, der Art. 7 und 24 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) sowie der Art. 5 und 11 der Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger (ABl. 2008, L 348, S. 98).
2 Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen von sieben Rechtsstreitigkeiten zwischen K.A., M.Z., M.J., N.N.N., O.I.O., R.I. und B.A. auf der einen Seite und dem Gemachtigde van de staatssecretaris voor Asiel en Migratie, Maatschappelijke Integratie en Armoedebestrijding (Beauftragter des für Asyl und Migration, soziale Integration und Armutsbekämpfung zuständigen Staatssekretärs, im Folgenden: zuständige nationale Behörde) auf der anderen Seite wegen der von Letzterem getroffenen Entscheidungen, die jeweiligen Anträge der Erstgenannten auf Aufenthaltsgewährung zum Zweck einer Familienzusammenführung nicht zu bearbeiten und ihnen je nach Fall die Anweisung zu erteilen, das Staatsgebiet zu verlassen, oder ihnen aufzugeben, einer Anweisung, das Staatsgebiet zu verlassen, nachzukommen.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
3 Die Erwägungsgründe 2 und 6 der Richtlinie 2008/115 lauten:
„(2)
Auf seiner Tagung am 4. und 5. November 2004 in Brüssel forderte der Europäische Rat zur Festlegung einer wirksamen Rückkehr- und Rückübernahmepolitik auf, die auf gemeinsamen Normen beruht, die gewährleisten, dass die betreffenden Personen unter vollständiger Achtung der Grundrechte auf menschenwürdige Weise zurückgeführt werden.
…
(6) Die Mitgliedstaaten sollten gewährleisten, dass der illegale Aufenthalt von Drittstaatsangehörigen im Wege eines fairen und transparenten Verfahrens beendet wird. Im Einklang mit allgemeinen Grundsätzen des EU-Rechts sollten Entscheidungen gemäß dieser Richtlinie auf Grundlage des Einzelfalls und anhand objektiver Kriterien getroffen werden, was bedeutet, dass die Erwägungen über den bloßen Tatbestand des illegalen Aufenthalts hinausreichen sollten. Wenn die Mitgliedstaaten Standardformulare für Entscheidungen in Bezug auf die Rückkehr (nämlich Rückkehrentscheidungen sowie – gegebenenfalls – Entscheidungen über ein Einreiseverbot oder eine Abschiebung) verwenden, sollten sie diesen Grundsatz wahren und alle anwendbaren Bestimmungen dieser Richtlinie strikt beachten.“
4 Art. 1 der Richtlinie sieht vor:
„Diese Richtlinie enthält gemeinsame Normen und Verfahren, die in den Mitgliedstaaten bei der Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger im Einklang mit den Grundrechten als allgemeinen Grundsätzen des [Unions‑] und des Völkerrechts, einschließlich der Verpflichtung zum Schutz von Flüchtlingen und zur Achtung der Menschenrechte, anzuwenden sind.“
5 Art. 2 Abs. 1 der Richtlinie bestimmt:
„Diese Richtlinie findet Anwendung auf illegal im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats aufhältige Drittstaatsangehörige.“
6 In Art. 3 der Richtlinie heißt es:
„Im Sinne dieser Richtlinie bezeichnen die Ausdrücke
…
2. ‚illegaler Aufenthalt‘: die Anwesenheit von Drittstaatsangehörigen, die nicht oder nicht mehr die Einreisevoraussetzungen nach Artikel 5 [der Verordnung (EG) Nr. 562/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. März 2006 über einen Gemeinschaftskodex für das Überschreiten der Grenzen durch Personen (Schengener Grenzkodex) (ABl. 2006, L 105, S. 1)] oder andere Voraussetzungen für die Einreise in einen Mitgliedstaat oder den dortigen Aufenthalt erfüllen, im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats;
3. ‚Rückkehr‘: die Rückreise von Drittstaatsangehörigen – in freiwilliger Erfüllung einer Rückkehrverpflichtung oder erzwungener Rückführung – in
–
deren Herkunftsland oder
–
ein Transitland gemäß gemeinschaftlichen oder bilateralen Rückübernahmeabkommen oder anderen Vereinbarungen oder
–
ein anderes Drittland, in das der betreffende Drittstaatsangehörige freiwillig zurückkehren will und in dem er aufgenommen wird;
4. ‚Rückkehrentscheidung‘: die behördliche oder richterliche Entscheidung oder Maßnahme, mit der der illegale Aufenthalt von Drittstaatsangehörigen festgestellt und eine Rückkehrverpflichtung auferlegt oder festgestellt wird;
5. ‚Abschiebung‘: die Vollstreckung der Rückkehrverpflichtung, d. h. die tatsächliche Verbringung aus dem Mitgliedstaat;
6. ‚Einreiseverbot‘: die behördliche oder richterliche Entscheidung oder Maßnahme, mit der die Einreise in das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten und der dortige Aufenthalt für einen bestimmten Zeitraum untersagt wird und die mit einer Rückkehrentscheidung einhergeht;
…“
7 Art. 5 der Richtlinie 2008/115 sieht vor:
„Bei der Umsetzung dieser Richtlinie berücksichtigen die Mitgliedstaaten in gebührender Weise:
a)
das Wohl des Kindes,
b)
die familiären Bindungen,
c)
den Gesundheitszustand der betreffenden Drittstaatsangehörigen,
und halten den Grundsatz der Nichtzurückweisung ein.“
8 Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie lautet:
„Unbeschadet der Ausnahmen nach den Absätzen 2 bis 5 erlassen die Mitgliedstaaten gegen alle illegal in ihrem Hoheitsgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen eine Rückkehrentscheidung.
…“
9 Art. 7 Abs. 4 der Richtlinie hat folgenden Wortlaut:
„Besteht Fluchtgefahr oder ist der Antrag auf einen Aufenthaltstitel als offensichtlich unbegründet oder missbräuchlich abgelehnt worden oder stellt die betreffende Person eine Gefahr für die öffentliche Ordnung, die öffentliche Sicherheit oder die nationale Sicherheit dar, so können die Mitgliedstaaten davon absehen, eine Frist für die freiwillige Ausreise zu gewähren, oder sie können eine Ausreisefrist von weniger als sieben Tagen einräumen.“
10 Art. 11 der Richtlinie bestimmt:
„(1) Rückkehrentscheidungen gehen mit einem Einreiseverbot einher,
a)
falls keine Frist für eine freiwillige Ausreise eingeräumt wurde oder
b)
falls der Rückkehrverpflichtung nicht nachgekommen wurde.
In anderen Fällen kann eine Rückkehrentscheidung mit einem Einreiseverbot einhergehen.
(2) Die Dauer des Einreiseverbots wird in Anbetracht der jeweiligen Umstände des Einzelfalls festgesetzt und überschreitet grundsätzlich nicht fünf Jahre. Sie kann jedoch fünf Jahre überschreiten, wenn der Drittstaatsangehörige eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Ordnung, die öffentliche Sicherheit oder die nationale Sicherheit darstellt.
(3) Die Mitgliedstaaten prüfen die Aufhebung oder Aussetzung eines Einreiseverbots, wenn Drittstaatsangehörige, gegen die ein Einreiseverbot nach Absatz 1 Unterabsatz 2 verhängt wurde, nachweisen können, dass sie das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats unter uneingeschränkter Einhaltung einer Rückkehrentscheidung verlassen haben.
Gegen Opfer des Menschenhandels, denen nach Maßgabe der Richtlinie 2004/81/EG des Rates vom 29. April 2004 über die Erteilung von Aufenthaltstiteln für Drittstaatsangehörige, die Opfer des Menschenhandels sind oder denen Beihilfe zur illegalen Einwanderung geleistet wurde und die mit den zuständigen Behörden kooperieren [(ABl. 2004, L 261, S. 19),] ein Aufenthaltstitel erteilt wurde, wird unbeschadet des Absatzes 1 Unterabsatz 1 Buchstabe b kein Einreiseverbot verhängt, sofern die betreffenden Drittstaatsangehörigen keine Gefahr für die öffentliche Ordnung, die öffentliche Sicherheit oder die nationale Sicherheit darstellen.
Die Mitgliedstaaten können in Einzelfällen aus humanitären Gründen von der Verhängung eines Einreiseverbots absehen oder ein Einreiseverbot aufheben oder aussetzen.
Die Mitgliedstaaten können in Einzelfällen oder bestimmten Kategorien von Fällen ein Einreiseverbot aus sonstigen Gründen aufheben oder aussetzen.
…“
Belgisches Recht
11 Art. 7 Abs. 1 des Gesetzes vom 15. Dezember 1980 über die Einreise ins Staatsgebiet, den Aufenthalt, die Niederlassung und das Entfernen von Ausländern (Belgisches Staatsblatt vom 31. Dezember 1980, S. 14584) in der im Ausgangsverfahren anwendbaren Fassung (im Folgenden: Gesetz vom 15. Dezember 1980) bestimmt:
„Unbeschadet günstigerer Bestimmungen eines internationalen Vertrags kann der Minister oder sein Beauftragter den Ausländer, dem es weder erlaubt noch gestattet ist, sich länger als drei Monate im Königreich aufzuhalten oder sich dort niederzulassen, anweisen, das Staatsgebiet binnen einer bestimmten Frist zu verlassen, oder muss ihm in den in Nr. 1, 2, 5, 11 oder 12 erwähnten Fällen eine an eine bestimmte Frist gebundene Anweisung, das Staatsgebiet zu verlassen, ausstellen:
…
12. wenn gegen den Ausländer ein Einreiseverbot verhängt worden ist, das weder ausgesetzt noch aufgehoben ist.
…“
12 Art. 40bis § 2 des Gesetzes sieht vor:
„Folgende Personen werden als Familienmitglieder eines Unionsbürgers betrachtet:
1. sein Ehepartner oder der Ausländer, mit dem er eine registrierte Partnerschaft führt, die in Belgien einer Ehe gleichgesetzt ist, und der ihn begleitet oder ihm nachkommt,
2. der Lebenspartner, mit dem der Unionsbürger durch eine einem Gesetz entsprechend registrierte Partnerschaft verbunden ist und der ihn begleitet oder ihm nachkommt.
Die Lebenspartner müssen folgende Bedingungen erfüllen:
a)
belegen, dass sie eine ordnungsgemäß nachgewiesene dauerhafte und stabile Beziehung führen.
Der dauerhafte und stabile Charakter dieser Beziehung ist erwiesen:
–
wenn die Partner nachweisen, dass sie ununterbrochen während mindestens eines Jahres vor dem Antrag in Belgien oder in einem anderen Land zusammengewohnt haben,
–
wenn die Partner nachweisen, dass sie sich seit mindestens zwei Jahren vor Einreichung des Antrags kennen …,
–
wenn die Partner ein gemeinsames Kind haben,
b)
eine gemeinsame Wohnung beziehen,
c)
beide älter als einundzwanzig Jahre sein,
d)
ledig sein und keine dauerhafte und stabile Beziehung mit einer anderen Person führen,
…
3. seine Verwandten in absteigender Linie und diejenigen seines Ehepartners beziehungsweise des in Nr. 1 oder 2 erwähnten Lebenspartners, die jünger als einundzwanzig Jahre oder zu ihren Lasten sind und die sie begleiten oder ihnen nachkommen …,
…
5. der Vater/die Mutter eines in Artikel 40 § 4 Absatz 1 Nr. 2 erwähnten minderjährigen Unionsbürgers, sofern Letzterer zu Lasten des Vaters/der Mutter ist und er/sie tatsächlich das Sorgerecht hat.“
13 Art. 40ter des Gesetzes bestimmt:
„Die Bestimmungen des vorliegenden Kapitels finden Anwendung auf Familienmitglieder eines Belgiers, sofern es sich um:
–
in Artikel 40bis § 2 Absatz 1 Nr. 1 bis 3 erwähnte Familienmitglieder handelt, die den Belgier begleiten oder ihm nachkommen,
–
in Artikel 40bis § 2 Absatz 1 Nr. 4 erwähnte Familienmitglieder handelt, die Eltern eines minderjährigen Belgiers sind, ihre Identität durch ein Identitätsdokument nachweisen und den Belgier begleiten oder ihm nachkommen.
In Bezug auf die in Artikel 40bis § 2 Absatz 1 Nr. 1 bis 3 erwähnten Familienmitglieder müssen die betreffenden belgischen Staatsangehörigen nachweisen, dass:
–
sie über stabile, genügende und regelmäßige Existenzmittel verfügen. …
–
sie über angemessene Unterkunftsmöglichkeiten verfügen, um das Mitglied/die Mitglieder ihrer Familie aufzunehmen, die ihnen nachkommen möchten …“
14 In Art. 43 des Gesetzes, der gemäß dessen Art. 40ter auch auf Familienmitglieder eines belgischen Staatsangehörigen Anwendung findet, heißt es:
„Die Einreise und der Aufenthalt dürfen Unionsbürgern und ihren Familienmitgliedern nur aus Gründen der öffentlichen Ordnung, der nationalen Sicherheit oder der Volksgesundheit verweigert werden, und dies unter Beachtung nachstehender Einschränkungen:
1. Diese Gründe dürfen nicht zu wirtschaftlichen Zwecken geltend gemacht werden.
2. Bei Maßnahmen aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder der nationalen Sicherheit ist der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zu wahren und darf ausschließlich das persönliche Verhalten des Betreffenden ausschlaggebend sein. Vorherige strafrechtliche Verurteilungen allein können ohne Weiteres diese Maßnahmen nicht begründen. Das persönliche Verhalten des Betreffenden muss eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr darstellen, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt. Vom Einzelfall losgelöste oder auf Generalprävention verweisende Begründungen sind nicht zulässig.
…
Wenn der Minister oder sein Beauftragter dem Aufenthalt eines Unionsbürgers oder eines Mitglieds seiner Familie aus Gründen der öffentlichen Ordnung, der nationalen Sicherheit oder der Volksgesundheit ein Ende setzen möchte, berücksichtigt er die Dauer des Aufenthalts des Betreffenden im Königreich, sein Alter, seinen Gesundheitszustand, seine familiäre und wirtschaftliche Lage, seine soziale und kulturelle Eingliederung und das Maß, in dem er mit seinem Herkunftsland verbunden ist.“
15 Art. 74/11 des Gesetzes vom 15. Dezember 1980 bestimmt:
„§ 1 – Die Dauer des Einreiseverbots wird in Anbetracht der jeweiligen Umstände des Einzelfalls festgesetzt.
Entfernungsbeschlüsse gehen in folgenden Fällen mit einem Einreiseverbot von maximal drei Jahren einher:
1. falls keine Frist für eine freiwillige Ausreise eingeräumt wurde oder
2. falls ein früherer Entfernungsbeschluss nicht ausgeführt worden ist.
Die in Absatz 2 vorgesehene Frist von maximal drei Jahren wird auf maximal fünf Jahre angehoben, wenn:
1. der betreffende Drittstaatsangehörige einen Betrug begangen oder andere illegale Mittel in Anspruch genommen hat, damit ihm der Aufenthalt gestattet wird oder er sein Aufenthaltsrecht behält,
2. der betreffende Drittstaatsangehörige eine Ehe oder Partnerschaft eingegangen ist beziehungsweise eine Adoption vorgenommen hat, die dem alleinigen Zweck dienten, dass ihm der Aufenthalt gestattet wird oder er sein Recht auf Aufenthalt im Königreich behält.
Entfernungsbeschlüsse können mit einem Einreiseverbot von mehr als fünf Jahren einhergehen, wenn der Drittstaatsangehörige eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Ordnung oder die nationale Sicherheit darstellt.
§ 2 – …
Der Minister oder sein Beauftragter kann in Einzelfällen aus humanitären Gründen von der Verhängung eines Einreiseverbots absehen.
§ 3 – Das Einreiseverbot tritt am Tag seiner Notifizierung in Kraft.
Das Einreiseverbot darf nicht gegen das Recht auf internationalen Schutz verstoßen, so wie er in den Artikeln 9ter, 48/3 und 48/4 bestimmt ist.“
16 In Art. 74/12 des Gesetzes heißt es:
„§ 1 – Der Minister oder sein Beauftragter kann ein Einreiseverbot aus humanitären Gründen aufheben oder aussetzen.
…
Außer bei Abweichungen, die durch einen internationalen Vertrag, durch Gesetz oder durch einen Königlichen Erlass bestimmt sind, reicht der Drittstaatsangehörige bei der belgischen diplomatischen oder berufskonsularischen Vertretung, die für seinen Wohnort oder für seinen Aufenthaltsort im Ausland zuständig ist, einen mit Gründen versehenen Antrag ein.
§ 2 – Der Drittstaatsangehörige kann beim Minister oder seinem Beauftragten einen Antrag auf Aufhebung oder Aussetzung des Einreiseverbots einreichen mit der Begründung, dass die zu einem früheren Zeitpunkt auferlegte Verpflichtung zur Entfernung befolgt wurde; dazu übermittelt er einen schriftlichen Nachweis, dass er das belgische Staatsgebiet unter uneingeschränkter Einhaltung des Entfernungsbeschlusses verlassen hat.
§ 3 – Spätestens vier Monate nach Einreichung des Antrags auf Aufhebung oder Aussetzung des Einreiseverbots wird ein Beschluss gefasst. Ist binnen vier Monaten kein Beschluss gefasst worden, wird dies als negativer Beschluss angesehen.
§ 4 – Während der Prüfung des Antrags auf Aufhebung oder Aussetzung hat der betreffende Drittstaatsangehörige kein Recht, ins Königreich einzureisen oder sich dort aufzuhalten.
…“
17 Art. 74/13 des Gesetzes bestimmt:
„Fasst der Minister oder sein Beauftragter einen Entfernungsbeschluss, berücksichtigt er das Wohl des Kindes, die familiären Bindungen und den Gesundheitszustand des betreffenden Drittstaatsangehörigen.“
Ausgangsverfahren und Vorlagefragen
18 Aus der Vorlageentscheidung geht hervor, dass es sich bei sämtlichen Beschwerdeführern der Ausgangsverfahren um Drittstaatsangehörige und zugleich um Familienangehörige belgischer Staatsangehöriger handelt, die von ihrem Recht auf Freizügigkeit keinen Gebrauch gemacht haben. Gegen die Beschwerdeführer wurden Rückkehrentscheidungen erlassen, die jeweils mit einem Verbot der Einreise in das Hoheitsgebiet des betroffenen Mitgliedstaats einhergingen. Diese Entscheidungen sind nach den Angaben des vorlegenden Gerichts bezüglich aller Beschwerdeführer bestandskräftig geworden und können nach dem nationalen Recht grundsätzlich nur aufgehoben oder ausgesetzt werden, wenn im Ausland ein Antrag auf Aufhebung oder Aussetzung gestellt wird.
19 Die Beschwerdeführer der Ausgangsverfahren haben in der Folge in Belgien Anträge auf Aufenthaltsgewährung als unterhaltsberechtigte Abkömmlinge eines belgischen Staatsangehörigen (K.A. und M.Z.), als Elternteile eines minderjährigen belgischen Kindes (M.J., N.N.N., O.I.O. und R.I.) bzw. als mit einem belgischen Staatsangehörigen in einer dauerhaften stabilen Beziehung gesetzlich zusammenwohnender Partner gestellt (B.A.). Diese Anträge wurden von der zuständigen nationalen Behörde mit der Begründung nicht bearbeitet, dass gegen die Beschwerdeführer der Ausgangsverfahren Entscheidungen ergangen seien, mit denen ein Einreiseverbot verhängt worden sei und die noch in Kraft seien. Die Beschwerdeführer haben die streitigen Entscheidungen vor dem vorlegenden Gericht angefochten.
20 Im Einzelnen geht aus der Vorlageentscheidung erstens hervor, dass K.A., die armenische Staatsangehörige ist, am 27. Februar 2013 eine Rückkehrentscheidung notifiziert wurde, die mit einem Einreiseverbot für die Dauer von drei Jahren einherging und damit begründet wurde, dass sie ihrer Rückkehrverpflichtung nicht nachgekommen sei und ihr keine Frist für die freiwillige Rückkehr eingeräumt worden sei, da sie als Gefahr für die öffentliche Ordnung angesehen werde, nachdem sie auf frischer Tat bei einem Ladendiebstahl gefasst worden sei. Am 10. Februar 2014 stellten K.A. und ihre beiden Söhne während eines Aufenthalts im belgischen Hoheitsgebiet einen Antrag auf Aufenthaltsgewährung zum Zweck einer Familienzusammenführung als unterhaltsberechtigte Verwandte in absteigender Linie mit dem Vater von K.A., der die belgische Staatsangehörigkeit besitzt. Am 28. März 2014 erließ die zuständige nationale Behörde eine Entscheidung in Form einer Anweisung, das Staatsgebiet zu verlassen, mit der sie es wegen des am 27. Februar 2013 notifizierten Einreiseverbots ablehnte, den Antrag auf Aufenthaltsgewährung zum Zweck einer Familienzusammenführung zu bearbeiten.
21 Zweitens geht aus der Vorlageentscheidung hervor, dass M.Z., der russischer Staatsangehöriger ist, am 2. Juli 2014 eine Rückkehrentscheidung und ein Einreiseverbot für die Dauer von drei Jahren notifiziert wurden, was damit begründet wurde, dass er seiner Rückkehrverpflichtung nicht nachgekommen sei und ihm keine Frist für die freiwillige Rückkehr eingeräumt worden sei, da er als Gefahr für die öffentliche Ordnung angesehen werde, nachdem gegen ihn ein Protokoll wegen Garagendiebstahls erstellt worden sei. Am 8. September 2014 wurde M.Z. zwangsweise nach Russland zurückgeführt. Am 5. November 2014 beantragte der Betroffene während eines erneuten Aufenthalts im belgischen Hoheitsgebiet als gegenüber seinem belgischen Vater unterhaltsberechtigter Verwandter in absteigender Linie eine Aufenthaltskarte. Am 29. April 2015 wies die zuständige nationale Behörde diesen Antrag wegen des gegen ihn verhängten Einreiseverbots zurück und wies ihn außerdem an, einer Rückkehrentscheidung nachzukommen.
22 Drittens geht aus der Vorlageentscheidung hervor, dass M.J. ugandische Staatsangehörige ist und zweimal angewiesen wurde, das Staatsgebiet zu verlassen, nämlich am 13. Januar und am 12. November 2012. Am 11. Januar 2013 wurde ihr ein Einreiseverbot für die Dauer von drei Jahren notifiziert, das damit begründet wurde, dass sie diesen Rückkehrverpflichtungen nicht nachgekommen sei und ihr in Anbetracht der Fluchtgefahr wegen Fehlens einer offiziellen Anschrift in Belgien und aufgrund dessen, dass sie als Gefahr für die öffentliche Ordnung angesehen werde, weil gegen sie ein Protokoll wegen Körperverletzung erstellt worden sei, keine Frist für die freiwillige Rückkehr gewährt worden sei. Am 20. Februar 2014 beantragte M.J. während eines Aufenthalts im belgischen Hoheitsgebiet als Elternteil eines am 26. Oktober 2013 geborenen minderjährigen Kindes belgischer Staatsangehörigkeit eine Aufenthaltskarte. Mit Entscheidung vom 30. April 2014 lehnte die zuständige nationale Behörde es wegen des geltenden Einreiseverbots vom 11. Januar 2013 ab, ihren Antrag auf Aufenthaltsgewährung zum Zweck einer Familienzusammenführung zu bearbeiten, und wies sie zugleich an, das Staatsgebiet zu verlassen.
23 Viertens geht aus der Vorlageentscheidung hervor, dass N.N.N. kenianische Staatsangehörige ist und gegen sie zwei Rückkehrentscheidungen ergangen sind, die vom 11. September 2012 und vom 22. Februar 2013 datieren. In der Folgezeit brachte N.N.N. eine Tochter zur Welt, die am 3. April 2014 über ihren Vater die belgische Staatsangehörigkeit erwarb. Am 24. April 2014 wurde gegen N.N.N. erneut eine Rückkehrentscheidung erlassen und ihr ein Einreiseverbot für die Dauer von drei Jahren notifiziert, da sie ihrer Rückkehrverpflichtung nicht nachgekommen sei. Am 9. September 2014 beantragte N.N.N. während eines Aufenthalts im belgischen Hoheitsgebiet als Elternteil eines minderjährigen Kindes belgischer Staatsangehörigkeit eine Aufenthaltskarte. Zur Stützung dieses Antrags legte sie Nachweise über Unterhaltszahlungen, die der Vater ihrer Tochter geleistet hatte, sowie einen Brief vor, worin der Vater erklärt, dass er sich nicht ganztägig um seine Tochter kümmern könne und es vorzuziehen sei, dass diese bei ihrer Mutter verbleibe. Am 4. März 2015 wies die zuständige nationale Behörde den Antrag auf Aufenthaltsgewährung zum Zweck einer Familienzusammenführung wegen des gegen N.N.N. verhängten Einreiseverbots zurück und wies sie außerdem an, einer Rückkehrentscheidung nachzukommen.
24 Fünftens geht aus der Vorlageentscheidung hervor, dass O.I.O. nigerianischer Staatsangehöriger ist und mit R.C., einer belgischen Staatsangehörigen, verheiratet ist, mit der eine Tochter hat, die ebenfalls belgische Staatsangehörige ist. Am 11. Mai 2010 wurde O.I.O. wegen vorsätzlicher Körperverletzung verurteilt. Nach ihrer Scheidung von O.I.O. wurde R.C. am 6. April 2011 das alleinige elterliche Sorgerecht für ihre Tochter zugesprochen. Die Tochter wohnt bei ihrer Mutter, die das Kindergeld und andere soziale Vergünstigungen bezieht. Außerdem ist das Recht zum persönlichen Umgang von O.I.O. mit seiner Tochter vorläufig ausgesetzt. Aufgrund seiner Scheidung von R.C. erging gegen O.I.O. ein Beschluss zur Beendigung seines Aufenthaltsrechts, verbunden mit der Anweisung, das Staatsgebiet zu verlassen. Am 28. Mai 2013 wurde ihm ein Einreiseverbot für die Dauer von acht Jahren notifiziert, weil er seiner Rückkehrverpflichtung nicht nachgekommen sei und ihm keine Frist für die freiwillige Rückkehr eingeräumt worden sei, da er eine ernsthafte, tatsächliche und gegenwärtige Gefahr für die öffentliche Ordnung darstelle. Am 6. November 2013 beantragte O.I.O. während eines Aufenthalts im belgischen Hoheitsgebiet als Elternteil eines minderjährigen belgischen Kindes eine Aufenthaltskarte. Am 30. April 2014 lehnte die zuständige nationale Behörde es wegen des geltenden Einreiseverbots vom 28. Mai 2013 ab, diesen Antrag zu bearbeiten, und wies O.I.O. zugleich an, das Staatsgebiet zu verlassen.
25 Sechstens geht aus der Vorlageentscheidung zur Situation von R.I., der albanischer Staatsangehöriger ist, hervor, dass er Vater eines belgischen Kindes ist. Nach der Geburt dieses Kindes wurde sein Aufenthaltsrecht widerrufen, das er auf betrügerische Weise erlangt hatte. Außerdem wurde ihm am 17. Dezember 2012 ein Einreiseverbot für die Dauer von fünf Jahren notifiziert, da er einen Betrug begangen oder andere illegale Mittel in Anspruch genommen habe, damit ihm der Aufenthalt gestattet werde oder er sein Aufenthaltsrecht behalte. In der Folgezeit heiratete R.I. in Albanien die Mutter seines Kindes, die belgische Staatsangehörige ist. Am 21. August 2014 beantragte R.I. während eines erneuten Aufenthalts im belgischen Hoheitsgebiet als Elternteil eines minderjährigen belgischen Kindes eine Aufenthaltskarte. Am 13. Februar 2015 lehnte es die zuständige nationale Behörde wegen des gegen ihn verhängten Einreiseverbots ab, diesen Antrag zu bearbeiten, und wies ihn an, einer Rückkehrentscheidung nachzukommen.
26 Siebtens geht aus der Vorlageentscheidung hervor, dass gegen B.A., der guineischer Staatsangehöriger ist, zwei Rückkehrentscheidungen ergangen sind, nämlich am 23. Januar und am 29. Mai 2013. Am 13. Juni 2014 wurde ihm ein Einreiseverbot für die Dauer von drei Jahren mit der Begründung notifiziert, dass er seiner Rückkehrverpflichtung nicht nachgekommen sei. In der Folgezeit schloss B.A. während eines Aufenthalts in Belgien einen Vertrag zur Regelung des Zusammenlebens mit seinem Partner, der belgischer Staatsangehöriger ist, und beantragte eine Aufenthaltskarte als gesetzlich in einer dauerhaften stabilen Beziehung mit einem belgischen Staatsangehörigen zusammenwohnender Partner. Am 21. Mai 2015 lehnte die zuständige nationale Behörde es wegen des Einreiseverbots vom 13. Juni 2014 ab, den Antrag auf Aufenthaltsgewährung zum Zweck einer Familienzusammenführung zu bearbeiten, und wies B.A. außerdem an, einer Rückkehrentscheidung nachzukommen.
27 Das vorlegende Gericht stellt zunächst klar, dass die von den Beschwerdeführern der Ausgangsverfahren gestellten Anträge auf Aufenthaltsgewährung zum Zweck einer Familienzusammenführung gemäß einer nationalen Praxis, die in allen Fällen ohne die Möglichkeit einer Anpassung an die konkrete Situation angewandt werde, nicht bearbeitet und somit nicht in der Sache geprüft worden seien, da gegen diese Drittstaatsangehörigen Einreiseverbote verhängt worden seien. Somit sei im Zusammenhang mit diesen Anträgen weder den familiären Bindungen noch, in den betreffenden Fällen, dem Wohl des Kindes oder der Unionsbürgerschaft der Familienmitglieder, die belgische Staatsangehörige seien, Rechnung getragen worden. Außerdem weist das vorlegende Gericht darauf hin, dass die Beschwerdeführer der Ausgangsverfahren nach den Angaben der zuständigen nationalen Behörde zunächst Belgien verlassen und sodann die Aussetzung oder die Aufhebung des Einreiseverbots beantragen müssten, bevor sie einen Antrag auf Aufenthaltsgewährung im Rahmen einer Familienzusammenführung stellen könnten.
28 Insoweit müsse nach nationalem Recht spätestens vier Monate, nachdem der Antrag auf Aufhebung oder Aussetzung des Einreiseverbots im Herkunftsland der betreffenden Personen gestellt worden sei, ein Beschluss gefasst werden. Geschehe dies nicht, so gelte dies als negativer Beschluss. Im Übrigen müsse zunächst der Beschluss über die Aufhebung oder Aussetzung des Einreiseverbots ergehen, bevor innerhalb einer Frist von sechs Monaten über den von dem Drittstaatsangehörigen in seinem Herkunftsland im Rahmen einer Familienzusammenführung gestellten Visumantrag entschieden werde.
29 Das vorlegende Gericht stellt weiter fest, dass die bei ihm anhängig gemachten Rechtssachen weder in den Anwendungsbereich der Richtlinie 2003/86/EG des Rates vom 22. September 2003 betreffend das Recht auf Familienzusammenführung (ABl. 2003, L 251, S. 12) noch in den der Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 und zur Aufhebung der Richtlinien 64/221/EWG, 68/360/EWG, 72/194/EWG, 73/148/EWG, 75/34/EWG, 75/35/EWG, 90/364/EWG, 90/365/EWG und 93/96/EWG (ABl. 2004, L 158, S. 77) fielen. Außerdem begäben sich die verschiedenen Unionsbürger, um die es in diesen Rechtssachen gehe, nicht wegen der familiären Bindungen, die sie jeweils mit dem entsprechenden Beschwerdeführer der Ausgangsverfahren verbänden, regelmäßig als Arbeitnehmer oder Erbringer von Dienstleistungen in einen anderen Mitgliedstaat und hätten auch nicht mit den Beschwerdeführern anlässlich eines tatsächlichen Aufenthalts in einem anderen Mitgliedstaat als Belgien ein Familienleben entwickelt oder gefestigt.
30 Allerdings weist das vorlegende Gericht darauf hin, dass die Lage eines Unionsbürgers, der von seinem Recht auf Freizügigkeit keinen Gebrauch gemacht habe, nach den Urteilen vom 8. März 2011, Ruiz Zambrano (C‑34/09, EU:C:2011:124), und vom 5. Mai 2011, McCarthy (C‑434/09, EU:C:2011:277), nicht allein aus diesem Grund einer rein internen Situation gleichgestellt werden könne.
31 Die im Urteil vom 8. März 2011, Ruiz Zambrano (C‑34/09, EU:C:2011:124), aufgestellten Grundsätze seien zwar nur unter außergewöhnlichen Umständen anwendbar, doch ergebe sich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs nicht, dass sie Sachverhalten vorbehalten wären, in denen zwischen dem Drittstaatsangehörigen, für den ein Aufenthaltsrecht beantragt werde, und dem Unionsbürger – einem minderjährigen Kind – eine biologische Verbindung bestehe. Aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs gehe hervor, dass das Abhängigkeitsverhältnis zwischen dem minderjährigen Unionsbürger und dem Drittstaatsangehörigen zu berücksichtigen sei, da sich der Unionsbürger aufgrund dieser Abhängigkeit de facto gezwungen sähe, das Unionsgebiet zu verlassen, wenn dem Drittstaatsangehörigen, von dem er abhängig sei, der Aufenthalt nicht gestattet würde.
32 Unter diesen Umständen hat der Raad voor Vreemdelingenbetwistingen (Rat für Ausländerstreitsachen, Belgien) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
Zum Antrag auf Wiedereröffnung des mündlichen Verfahrens
33 Im Anschluss an die Verlesung der Schlussanträge der Generalanwältin hat die belgische Regierung mit Schriftsatz, der am 12. Dezember 2017 bei der Kanzlei des Gerichtshofs eingegangen ist, die Wiedereröffnung des mündlichen Verfahrens beantragt, um die Möglichkeit zu erhalten, zum einen auf die Schlussanträge zu reagieren, da diese nach Ansicht der belgischen Regierung eine unzutreffende Auslegung der Richtlinie 2008/115 enthalten, und zum anderen eine Stellungnahme zu den Urteilen vom 26. Juli 2017, Ouhrami (C‑225/16, EU:C:2017:59), und vom 14. September 2017, Petrea (C‑184/16, EU:C:2017:684), abzugeben.
34 Hinsichtlich der Kritik an den Schlussanträgen der Generalanwältin ist zum einen darauf hinzuweisen, dass die Satzung des Gerichtshofs und seine Verfahrensordnung keine Möglichkeit für die Beteiligten vorsehen, eine Stellungnahme zu den Schlussanträgen des Generalanwalts einzureichen (Urteil vom 25. Oktober 2017, Polbud – Wykonawstwo, C‑106/16, EU:C:2017:804, Rn. 23 und die dort angeführte Rechtsprechung).
35 Zum anderen hat der Generalanwalt nach Art. 252 Abs. 2 AEUV die Aufgabe, öffentlich in völliger Unparteilichkeit und Unabhängigkeit begründete Schlussanträge zu den Rechtssachen zu stellen, in denen nach der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union seine Mitwirkung erforderlich ist. Der Gerichtshof ist dabei weder an die Schlussanträge des Generalanwalts noch an ihre Begründung gebunden. Dass eine Partei nicht mit den Schlussanträgen des Generalanwalts einverstanden ist, kann folglich unabhängig von den darin untersuchten Fragen für sich genommen kein Grund sein, der die Wiedereröffnung des mündlichen Verfahrens rechtfertigt (Urteil vom 25. Oktober 2017, Polbud – Wykonawstwo, C‑106/16, EU:C:2017:804, Rn. 24 und die dort angeführte Rechtsprechung).
36 Im Übrigen ist darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof gemäß Art. 83 seiner Verfahrensordnung jederzeit nach Anhörung des Generalanwalts die Wiedereröffnung des mündlichen Verfahrens beschließen kann, insbesondere wenn er sich für unzureichend unterrichtet hält oder wenn ein zwischen den Beteiligten nicht erörtertes Vorbringen entscheidungserheblich ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 22. Juni 2017, Federatie Nederlandse Vakvereniging u. a., C‑126/16, EU:C:2017:489, Rn. 33).
37 In der vorliegenden Rechtssache ist der Gerichtshof jedoch nach Anhörung der Generalanwältin der Ansicht, dass er über alle Angaben verfügt, die erforderlich sind, um über das Vorabentscheidungsersuchen zu entscheiden, und dass dieses Ersuchen nicht im Hinblick auf ein Vorbringen zu prüfen ist, das vor ihm nicht erörtert worden ist.
38 In Anbetracht dieser Erwägungen hält es der Gerichtshof nicht für angebracht, das mündliche Verfahren wiederzueröffnen.
Zu den Vorlagefragen
Vorbemerkungen
39 Einleitend ist zunächst darauf hinzuweisen, dass alle in den Ausgangsverfahren in Rede stehenden Sachverhalte die Weigerung der zuständigen nationalen Behörde betreffen, den Antrag auf Aufenthaltsgewährung zum Zweck einer Familienzusammenführung zu bearbeiten, der in Belgien von einem Drittstaatsangehörigen, der Familienangehöriger eines belgischen Staatsangehörigen ist, als Abkömmling, Elternteil oder gesetzlich zusammenwohnender Partner dieses belgischen Staatsangehörigen gestellt wurde, wobei die Weigerung damit begründet wird, dass gegen den Drittstaatsangehörigen ein Einreiseverbot verhängt worden sei. Das vorlegende Gericht weist darauf hin, dass die Beschwerdeführer der Ausgangsverfahren nach nationalem Recht grundsätzlich in ihrem Herkunftsland einen Antrag auf Aussetzung oder Aufhebung des gegen sie verhängten Einreiseverbots stellen müssten, bevor sie rechtswirksam einen Antrag auf Aufenthaltsgewährung zum Zweck einer Familienzusammenführung stellen könnten.
40 Sodann stellt das vorlegende Gericht klar, dass in allen der sieben verbundenen Ausgangsverfahren der betreffende belgische Staatsangehörige nie von seiner Freizügigkeit innerhalb der Union Gebrauch gemacht habe. Daher könnten die Drittstaatsangehörigen, die Familienangehörige dieser belgischen Staatsangehörigen seien, weder aus der Richtlinie 2004/38 noch aus Art. 21 AEUV ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht herleiten (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 10. Mai 2017, Chavez-Vilchez u. a., C‑133/15, EU:C:2017:354, Rn. 52 bis 54).
41 Schließlich geht aus der Vorlageentscheidung hervor, dass die von der zuständigen nationalen Behörde erlassenen „Entfernungsbeschlüsse“ die Verpflichtung für die Beschwerdeführer der Ausgangsverfahren beinhalten, das belgische Staatsgebiet zu verlassen, und dass sie mit einem Einreiseverbot einhergehen. Wie die Generalanwältin in Nr. 44 ihrer Schlussanträge ausgeführt hat, sind solche Beschlüsse somit für die Zwecke der Prüfung der dem Gerichtshof gestellten Fragen als „Rückkehrentscheidungen“ im Sinne von Art. 3 Nr. 4 der Richtlinie 2008/115 anzusehen (vgl. in diesem Sinne auch Urteil vom 18. Dezember 2014, Abdida, C‑562/13, EU:C:2014:2453, Rn. 39).
Zu den ersten beiden Fragen
42 Mit seinen ersten beiden Fragen, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht Folgendes wissen:
–
Sind die Art. 5 und 11 der Richtlinie 2008/115 sowie Art. 20 AEUV, gegebenenfalls in Verbindung mit den Art. 7 und 24 der Charta, dahin auszulegen, dass sie einer Praxis eines Mitgliedstaats entgegenstehen, die darin besteht, dass ein Antrag auf Aufenthaltsgewährung zum Zweck einer Familienzusammenführung, den ein einem Drittstaat angehörender Familienangehöriger eines Unionsbürgers, der Staatsangehöriger dieses Mitgliedstaats ist und nie von seinem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch gemacht hat, in dessen Hoheitsgebiet stellt, allein deshalb nicht bearbeitet wird, weil gegen den Drittstaatsangehörigen ein Verbot der Einreise in dieses Hoheitsgebiet verhängt wurde, ohne dass geprüft worden wäre, ob ein Abhängigkeitsverhältnis zwischen dem Unionsbürger und dem Drittstaatsangehörigen besteht, das den Unionsbürger im Fall der Weigerung, dem Drittstaatsangehörigen ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht zu gewähren, de facto zwingen würde, das Unionsgebiet als Ganzes zu verlassen, so dass ihm dadurch der tatsächliche Genuss des Kernbestands der Rechte, die ihm sein Status verleiht, vorenthalten würde?
–
Bejahendenfalls: Welche Gesichtspunkte sind bei der Beurteilung des Vorliegens eines solchen Abhängigkeitsverhältnisses zu berücksichtigen, und – wenn der Unionsbürger minderjährig ist – welche Bedeutung ist dem Bestehen einer familiären Bindung, sei sie biologischer oder rechtlicher Natur, und den Modalitäten der Unterbringung dieses Unionsbürgers, der Staatsangehöriger des betreffenden Mitgliedstaats ist, und seines Unterhalts beizumessen?
–
Welche Auswirkungen können in diesem Zusammenhang folgende Umstände haben:
–
der Umstand, dass das Abhängigkeitsverhältnis, auf das der Drittstaatsangehörige seinen Antrag auf Aufenthaltsgewährung zum Zweck einer Familienzusammenführung stützt, erst entstanden ist, nachdem gegen ihn ein Einreiseverbot verhängt wurde;
–
der Umstand, dass dieses Verbot bestandskräftig geworden war, als der Drittstaatsangehörige seinen Antrag auf Aufenthaltsgewährung zum Zweck einer Familienzusammenführung stellte, und
–
der Umstand, dass dieses Verbot mit der Nichtbefolgung einer Rückkehrverpflichtung oder mit Gründen der öffentlichen Ordnung gerechtfertigt wird?
Zur Weigerung, einen Antrag auf Aufenthaltsgewährung zum Zweck einer Familienzusammenführung zu bearbeiten, weil gegen den Antragsteller ein Verbot der Einreise in den betreffenden Mitgliedstaat verhängt wurde
43 Als Erstes ist zu klären, ob die Art. 5 und 11 der Richtlinie 2008/115 oder Art. 20 AEUV, gegebenenfalls in Verbindung mit den Art. 7 und 24 der Charta, dahin auszulegen sind, dass sie der Praxis eines Mitgliedstaats entgegenstehen, die darin besteht, dass ein Antrag auf Aufenthaltsgewährung zum Zweck einer Familienzusammenführung, den ein Drittstaatsangehöriger, gegen den ein Einreiseverbot verhängt wurde, im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats stellt, nicht bearbeitet wird.
– Zur Richtlinie 2008/115
44 Zunächst ist festzustellen, dass sich die Richtlinie 2008/115 nur auf die Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger bezieht und somit nicht zum Ziel hat, die Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über den Aufenthalt von Ausländern insgesamt zu harmonisieren (Urteil vom 1. Oktober 2015, Celaj, C‑290/14, EU:C:2015:640, Rn. 20). Daher beziehen sich die mit der Richtlinie 2008/115 geschaffenen gemeinsamen Normen und Verfahren nur auf den Erlass von Rückkehrentscheidungen und deren Vollstreckung (Urteil vom 6. Dezember 2011, Achughbabian, C‑329/11, EU:C:2011:807, Rn. 29).
45 Insbesondere regelt keine Bestimmung dieser Richtlinie die Art und Weise, in der ein Antrag auf Aufenthaltsgewährung zum Zweck einer Familienzusammenführung zu behandeln ist, der wie in den Ausgangsverfahren nach Erlass einer mit einem Einreiseverbot verbundenen Rückkehrentscheidung gestellt wird. Außerdem ist die Weigerung, einen solchen Antrag unter den in Rn. 27 des vorliegenden Urteils beschriebenen Umständen zu bearbeiten, nicht geeignet, die Anwendung des in der Richtlinie vorgesehenen Rückkehrverfahrens scheitern zu lassen.
46 Daraus folgt, dass die Richtlinie 2008/115, insbesondere deren Art. 5 und 11, dahin auszulegen ist, dass sie einer Praxis eines Mitgliedstaats nicht entgegensteht, die darin besteht, dass ein Antrag auf Aufenthaltsgewährung zum Zweck einer Familienzusammenführung, den ein einem Drittstaat angehörender Familienangehöriger eines Unionsbürgers, der Staatsangehöriger dieses Mitgliedstaats ist und nie von seinem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch gemacht hat, in dessen Hoheitsgebiet stellt, allein deshalb nicht bearbeitet wird, weil gegen den Drittstaatsangehörigen ein Verbot der Einreise in dieses Hoheitsgebiet verhängt wurde.
– Zu Art. 20 AEUV
47 Einleitend ist darauf hinzuweisen, dass Art. 20 AEUV nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs jeder Person, die die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzt, den Status eines Unionsbürgers verleiht, der dazu bestimmt ist, der grundlegende Status der Angehörigen der Mitgliedstaaten zu sein (vgl. u. a. Urteile vom 20. September 2001, Grzelczyk, C‑184/99, EU:C:2001:458, Rn. 31, vom 8. März 2011, Ruiz Zambrano, C‑34/09, EU:C:2011:124, Rn. 41, und vom 13. September 2016, Rendón Marín, C‑165/14, EU:C:2016:675, Rn. 69 und die dort angeführte Rechtsprechung).
48 Die Unionsbürgerschaft verleiht jedem Unionsbürger ein elementares, persönliches Recht, sich vorbehaltlich der im Vertrag vorgesehenen Beschränkungen und Bedingungen und der Maßnahmen zu ihrer Durchführung frei im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten zu bewegen und aufzuhalten (Urteil vom 13. September 2016, Rendón Marín, C‑165/14, EU:C:2016:675, Rn. 70 und die dort angeführte Rechtsprechung).
49 Vor diesem Hintergrund hat der Gerichtshof entschieden, dass Art. 20 AEUV nationalen Maßnahmen einschließlich Entscheidungen, mit denen Familienangehörigen eines Unionsbürgers der Aufenthalt verweigert wird, entgegensteht, die bewirken, dass den Unionsbürgern der tatsächliche Genuss des Kernbestands der Rechte, die ihnen ihr Status verleiht, verwehrt wird (Urteile vom 8. März 2011, Ruiz Zambrano, C‑34/09, EU:C:2011:124, Rn. 42, vom 6. Dezember 2012, O. u. a., C‑356/11 und C‑357/11, EU:C:2012:776, Rn. 45, und vom 10. Mai 2017, Chavez-Vilchez u. a., C‑133/15, EU:C:2017:354, Rn. 61).
50 Dagegen verleihen die Vertragsbestimmungen über die Unionsbürgerschaft Drittstaatsangehörigen keine eigenständigen Rechte. Die etwaigen Rechte, die die Vertragsbestimmungen über die Unionsbürgerschaft den Drittstaatsangehörigen verleihen, sind nämlich nicht deren eigene Rechte, sondern aus den Rechten des Unionsbürgers abgeleitete. Ihr Zweck und ihre Rechtfertigung beruhen auf der Feststellung, dass ihre Nichtanerkennung den Unionsbürger insbesondere in seiner Freizügigkeit beeinträchtigen könnte (Urteil vom 10. Mai 2017, Chavez-Vilchez u. a., C‑133/15, EU:C:2017:354, Rn. 62 und die dort angeführte Rechtsprechung).
51 Insoweit hat der Gerichtshof bereits festgestellt, dass es ganz besondere Sachverhalte gibt, in denen einem Drittstaatsangehörigen, der Familienangehöriger eines Unionsbürgers ist, ein Aufenthaltsrecht eingeräumt werden muss, obwohl das für das Aufenthaltsrecht von Drittstaatsangehörigen geltende Sekundärrecht nicht anwendbar ist und der betreffende Unionsbürger sein Recht auf Freizügigkeit nicht ausgeübt hat, da sonst die Unionsbürgerschaft ihrer praktischen Wirksamkeit beraubt würde, wenn sich der Unionsbürger infolge der Verweigerung des Aufenthaltsrechts de facto gezwungen sähe, das Gebiet der Union als Ganzes zu verlassen, und ihm dadurch der tatsächliche Genuss des Kernbestands der Rechte, die ihm dieser Status verleiht, verwehrt würde (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 8. März 2011, Ruiz Zambrano, C‑34/09, EU:C:2011:124, Rn. 43 und 44, sowie vom 10. Mai 2017, Chavez-Vilchez u. a., C‑133/15, EU:C:2017:354, Rn. 63).
52 Die Weigerung, einem Drittstaatsangehörigen ein Aufenthaltsrecht zu gewähren, kann die praktische Wirksamkeit der Unionsbürgerschaft jedoch nur dann beeinträchtigen, wenn zwischen ihm und dem Unionsbürger, der sein Familienangehöriger ist, ein Abhängigkeitsverhältnis besteht, das dazu führen würde, dass der Unionsbürger gezwungen wäre, den betreffenden Drittstaatsangehörigen zu begleiten und das Gebiet der Union als Ganzes zu verlassen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 15. November 2011, Dereci u. a., C‑256/11, EU:C:2011:734, Rn. 65 bis 67, vom 6. Dezember 2012, O. u. a., C‑356/11 und C‑357/11, EU:C:2012:776, Rn. 56, und vom 10. Mai 2017, Chavez-Vilchez u. a., C‑133/15, EU:C:2017:354, Rn. 69).
53 Im vorliegenden Fall ist festzustellen, dass die in den Ausgangsverfahren in Rede stehende Praxis die Verfahrensmodalitäten betrifft, nach denen ein Drittstaatsangehöriger im Rahmen eines Antrags auf Aufenthaltsgewährung zum Zweck einer Familienzusammenführung das Bestehen eines abgeleiteten Rechts nach Art. 20 AEUV geltend machen kann.
54 Insoweit ist es zwar Sache der Mitgliedstaaten, die Modalitäten der Umsetzung des abgeleiteten Aufenthaltsrechts festzulegen, das einem Drittstaatsangehörigen in den ganz besonderen Sachverhalten, die in Rn. 51 des vorliegenden Urteils angeführt sind, nach Art. 20 AEUV zuzuerkennen ist, doch dürfen diese Verfahrensmodalitäten die praktische Wirksamkeit von Art. 20 nicht beeinträchtigen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 10. Mai 2017, Chavez-Vilchez u. a., C‑133/15, EU:C:2017:354, Rn. 76).
55 Die in den Ausgangsverfahren in Rede stehende nationale Praxis macht die Prüfung des Antrags auf Aufenthaltsgewährung zum Zweck einer Familienzusammenführung und die etwaige Gewährung eines abgeleiteten Aufenthaltsrechts nach Art. 20 AEUV aber von der Verpflichtung des betreffenden Drittstaatsangehörigen abhängig, zuvor das Unionsgebiet zu verlassen, um einen Antrag auf Aufhebung oder Aussetzung des gegen ihn verhängten Einreiseverbots zu stellen. Aus der Vorlageentscheidung geht außerdem hervor, dass die Prüfung des etwaigen Bestehens eines Abhängigkeitsverhältnisses zwischen dem Drittstaatsangehörigen und seinem Familienangehörigen, der Unionsbürger ist, in dem in Rn. 52 des vorliegenden Urteils beschriebenen Sinne unterbleibt, solange der Drittstaatsangehörige nicht die Aufhebung oder die Aussetzung des gegen ihn verhängten Einreiseverbots erreicht hat.
56 Entgegen dem Vorbringen der belgischen Regierung kann die dem Drittstaatsangehörigen somit durch die in Rede stehende nationale Praxis auferlegte Verpflichtung, das Unionsgebiet zu verlassen, um die Aufhebung oder die Aussetzung des gegen ihn verhängten Einreiseverbots zu beantragen, die praktische Wirksamkeit von Art. 20 AEUV beeinträchtigen, wenn die Befolgung dieser Verpflichtung aufgrund des Bestehens eines Abhängigkeitsverhältnisses zwischen dem Drittstaatsangehörigen und einem Unionsbürger, der sein Familienangehöriger ist, dazu führt, dass der Unionsbürger de facto gezwungen wäre, den Drittstaatsangehörigen zu begleiten und folglich ebenfalls das Unionsgebiet für einen Zeitraum zu verlassen, der, worauf das vorlegende Gericht hinweist, von unbestimmter Dauer wäre.
57 Folglich darf zwar die Weigerung eines Drittstaatsangehörigen, der Rückkehrverpflichtung nachzukommen und im Rahmen eines Abschiebungsverfahrens zu kooperieren, es ihm nicht ermöglichen, sich den Rechtswirkungen eines Einreiseverbots ganz oder teilweise zu entziehen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 26. Juli 2017, Ouhrami, C‑225/16, EU:C:2017:590, Rn. 52), doch darf die zuständige nationale Behörde, wenn sie mit einem Antrag eines Drittstaatsangehörigen auf Gewährung eines Aufenthaltsrechts zum Zweck einer Familienzusammenführung mit einem Unionsbürger, der Staatsangehöriger des betreffenden Mitgliedstaats befasst ist, die Bearbeitung dieses Antrags nicht allein deshalb verweigern, weil gegen den Drittstaatsangehörigen ein Verbot der Einreise in das Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats verhängt wurde. Sie ist vielmehr verpflichtet, den Antrag zu prüfen und zu beurteilen, ob zwischen dem betreffenden Drittstaatsangehörigen und dem betreffenden Unionsbürger ein Abhängigkeitsverhältnis besteht, so dass dem Drittstaatsangehörigen grundsätzlich nach Art. 20 AEUV ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht zu gewähren ist, da andernfalls der Unionsbürger de facto gezwungen wäre, das Unionsgebiet als Ganzes zu verlassen, und ihm dadurch der tatsächliche Genuss des Kernbestands der Rechte, die ihm sein Status verleiht, vorenthalten würde. Wenn dies der Fall ist, muss der betreffende Mitgliedstaat die gegen den Drittstaatsangehörigen ergangene Rückkehrentscheidung und das ihm auferlegte Einreiseverbot aufheben, zumindest aber aussetzen.
58 Es liefe nämlich dem mit Art. 20 AEUV verfolgten Ziel zuwider, den Drittstaatsangehörigen zu zwingen, das Unionsgebiet für unbestimmte Zeit zu verlassen, um die Aufhebung oder die Aussetzung des gegen ihn verhängten Verbots der Einreise in dieses Gebiet zu erreichen, ohne dass zuvor geprüft worden wäre, ob nicht zwischen ihm und dem Unionsbürger, der sein Familienangehöriger ist, ein Abhängigkeitsverhältnis besteht, das den Unionsbürger zwingen würde, den Drittstaatsangehörigen in sein Herkunftsland zu begleiten, obwohl diesem gerade aufgrund des Abhängigkeitsverhältnisses grundsätzlich nach Art. 20 AEUV ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht gewährt werden müsste.
59 Entgegen dem Vorbringen der belgischen Regierung können Art. 3 Nr. 6 und Art. 11 Abs. 3 der Richtlinie 2008/115 dieses Ergebnis nicht in Frage stellen.
60 Zwar können die Mitgliedstaaten nach Art. 11 Abs. 3 Unterabs. 1 der Richtlinie 2008/115 die Möglichkeit einer Aufhebung oder einer Aussetzung eines mit einer Rückkehrentscheidung, in der eine Frist für die freiwillige Ausreise gesetzt wird, einhergehenden Einreiseverbots prüfen, wenn der Drittstaatsangehörige das Hoheitsgebiet unter Einhaltung dieser Entscheidung verlassen hat. In den Unterabs. 3 und 4 von Art. 11 Abs. 3 hat der Unionsgesetzgeber jedoch vorgesehen, dass die Mitgliedstaaten ein solches Verbot in Einzelfällen aus anderen als den in Unterabs. 1 genannten Gründen aufheben oder aussetzen können, ohne dass es in den Unterabs. 3 und 4 hieße, dass der Drittstaatsangehörige, gegen den ein Einreiseverbot verhängt wurde, das Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats verlassen haben muss.
61 Folglich untersagen Art. 3 Nr. 6 und Art. 11 Abs. 3 der Richtlinie 2008/115 es entgegen dem Vorbringen der belgischen Regierung den Mitgliedstaaten nicht, ein Einreiseverbot aufzuheben oder auszusetzen, wenn die Rückkehrentscheidung nicht durchgeführt wurde und sich der Drittstaatsangehörige in ihrem Hoheitsgebiet aufhält.
62 Demnach ist Art. 20 AEUV dahin auszulegen, dass er einer Praxis eines Mitgliedstaats entgegensteht, die darin besteht, dass ein Antrag auf Aufenthaltsgewährung zum Zweck einer Familienzusammenführung, den ein einem Drittstaat angehörender Familienangehöriger eines Unionsbürgers, der Staatsangehöriger dieses Mitgliedstaats ist und nie von seinem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch gemacht hat, in dessen Hoheitsgebiet stellt, allein deshalb nicht bearbeitet wird, weil gegen den Drittstaatsangehörigen ein Verbot der Einreise in dieses Hoheitsgebiet verhängt wurde, ohne dass geprüft worden wäre, ob ein Abhängigkeitsverhältnis zwischen dem Unionsbürger und dem Drittstaatsangehörigen besteht, das den Unionsbürger im Fall der Weigerung, dem Drittstaatsangehörigen ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht zu gewähren, de facto zwingen würde, das Unionsgebiet als Ganzes zu verlassen, so dass ihm dadurch der tatsächliche Genuss des Kernbestands der Rechte, die ihm sein Status verleiht, vorenthalten würde.
Zum Bestehen eines Abhängigkeitsverhältnisses, das in den Ausgangsverfahren ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht nach Art. 20 AEUV begründen kann
63 Als Zweites sind die Umstände zu prüfen, aufgrund deren in den verbundenen Ausgangsverfahren ein Abhängigkeitsverhältnis bestehen kann, das geeignet ist, ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht nach Art. 20 AEUV zu begründen.
64 Hierzu ist festzustellen, dass die in den Ausgangsverfahren von K.A., M.Z. und B.A. erhobenen Beschwerden Anträge auf Aufenthaltsgewährung zum Zweck einer Familienzusammenführung betreffen, die von volljährigen Drittstaatsangehörigen gestellt wurden, deren Vater oder ebenfalls volljähriger Partner belgischer Staatsangehöriger ist. Hingegen betreffend die in den Ausgangsverfahren von M.J., N.N.N., O.I.O. und R.I. erhobenen Beschwerden Anträge auf Aufenthaltsgewährung zum Zweck einer Familienzusammenführung, die von volljährigen Drittstaatsangehörigen gestellt wurden, deren minderjähriges Kind belgischer Staatsangehöriger ist.
65 Zum einen ist in Bezug auf die Ausgangsverfahren, in denen K.A., M.Z. und B.A. Beschwerdeführer sind, zunächst darauf hinzuweisen, dass ein Erwachsener im Unterschied zu Minderjährigen – erst recht, wenn es sich bei diesen um Kleinkinder wie die Unionsbürger handelt, um die es in der Rechtssache ging, in der das Urteil vom 8. März 2011, Ruiz Zambrano (C‑34/09, EU:C:2011:124), ergangen ist – grundsätzlich in der Lage ist, ein von seinen Familienangehörigen unabhängiges Leben zu führen. Daraus folgt, dass die Anerkennung eines Abhängigkeitsverhältnisses, das geeignet ist, ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht nach Art. 20 AEUV zu rechtfertigen, zwischen zwei Erwachsenen, die derselben Familie angehören, nur in außergewöhnlichen Fällen in Betracht kommt, in denen die betreffende Person in Anbetracht aller relevanten Umstände keinesfalls von dem Familienangehörigen getrennt werden darf, von dem sie abhängig ist.
66 Im vorliegenden Fall scheint bei keinem der drei Ausgangsverfahren, in denen es um eine familiäre Beziehung zwischen Volljährigen geht, aus den dem Gerichtshof vorgelegten Akten ein Abhängigkeitsverhältnis hervorzugehen, das die Gewährung eines abgeleiteten Aufenthaltsrechts nach Art. 20 AEUV gegenüber dem Drittstaatsangehörigen rechtfertigen würde.
67 So beschränkt sich das vorlegende Gericht erstens, was K.A. betrifft, auf die Feststellung, dass diese gegenüber ihrem Vater, einem belgischen Staatsangehörigen, unterhaltsberechtigt sei, ohne dass aus der Vorlageentscheidung oder den von K.A. eingereichten Erklärungen hervorginge, dass dieses Abhängigkeitsverhältnis geeignet sein könnte, ihren Vater zu zwingen, das Unionsgebiet zu verlassen, wenn K.A. ein Aufenthaltsrecht in Belgien verweigert würde.
68 Was zweitens M.Z. betrifft, so ist diese nur in finanzieller Hinsicht von ihrem belgischen Vater abhängig. Ein solches rein finanzielles Abhängigkeitsverhältnis ist aber, wie die Generalanwältin im Wesentlichen in Nr. 79 ihrer Schlussanträge ausgeführt hat, offenkundig nicht geeignet, den Vater von M.Z., einen belgischen Staatsangehörigen, zu zwingen, das Gebiet der Union als Ganzes zu verlassen, falls M.Z. ein Aufenthaltsrecht in Belgien verweigert würde.
69 Drittens enthält die Vorlageentscheidung keine Hinweise darauf, dass ein irgendwie geartetes Abhängigkeitsverhältnis zwischen B.A. und seinem eingetragenen Partner bestünde.
70 Zum anderen ist in Bezug auf die in den Ausgangsverfahren von M.J., N.N.N., O.I.O. und R.I. erhobenen Beschwerden darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof bereits entschieden hat, dass bei der Prüfung, ob eine Verweigerung eines abgeleiteten Aufenthaltsrechts des einem Drittstaat angehörenden Elternteils dessen Kind, das Unionsbürger ist, die Möglichkeit nähme, den Kernbestand der mit seinem Status verbundenen Rechte in Anspruch zu nehmen, indem sie das Kind de facto zwingen würde, den Elternteil zu begleiten und damit das Unionsgebiet als Ganzes zu verlassen, die Frage des Sorgerechts für das Kind und die Frage, ob die rechtliche, finanzielle oder affektive Sorge für das Kind von dem einem Drittstaat angehörenden Elternteil ausgeübt wird, relevante Gesichtspunkte sind (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 10. Mai 2017, Chavez-Vilchez u. a., C‑133/15, EU:C:2017:354, Rn. 68 und die dort angeführte Rechtsprechung).
71 Genauer gesagt obliegt es dem vorlegenden Gericht, zur Beurteilung des Risikos, dass sich das betreffende Kind, das Unionsbürger ist, gezwungen sähe, das Unionsgebiet zu verlassen, wenn seinem Elternteil mit Drittstaatsangehörigkeit ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht im betreffenden Mitgliedstaat verweigert würde, in jedem der Ausgangsverfahren zu ermitteln, welcher Elternteil die tatsächliche Sorge für das Kind wahrnimmt und ob ein tatsächliches Abhängigkeitsverhältnis zwischen dem Kind und dem Elternteil mit Drittstaatsangehörigkeit besteht. Im Rahmen dieser Beurteilung haben die zuständigen Behörden dem Recht auf Achtung des Familienlebens Rechnung zu tragen, das in Art. 7 der Charta niedergelegt ist, wobei diese Vorschrift in Zusammenschau mit der Verpflichtung auszulegen ist, das in Art. 24 Abs. 2 der Charta der Grundrechte anerkannte Kindeswohl zu berücksichtigen (Urteil vom 10. Mai 2017, Chavez-Vilchez u. a., C‑133/15, EU:C:2017:354, Rn. 70).
72 Der Umstand, dass der andere Elternteil, wenn er Unionsbürger ist, wirklich in der Lage und bereit ist, die tägliche und tatsächliche Sorge für das Kind allein wahrzunehmen, bildet einen relevanten Gesichtspunkt, der aber allein nicht für die Feststellung genügt, dass zwischen dem Elternteil mit Drittstaatsangehörigkeit und dem Kind kein Abhängigkeitsverhältnis besteht, das das Kind zum Verlassen des Unionsgebiets zwingen würde, wenn dem Drittstaatsangehörigen ein Aufenthaltsrecht verweigert würde. Denn einer solchen Feststellung muss im Interesse des Kindeswohls die Berücksichtigung sämtlicher Umstände des Einzelfalls zugrunde liegen, insbesondere des Alters des Kindes, seiner körperlichen und emotionalen Entwicklung, des Grades seiner affektiven Bindung sowohl an den Elternteil, der Unionsbürger ist, als auch an den Elternteil mit Drittstaatsangehörigkeit und des Risikos, das mit der Trennung von Letzterem für das innere Gleichgewicht des Kindes verbunden wäre (Urteil vom 10. Mai 2017, Chavez-Vilchez u. a., C‑133/15, EU:C:2017:354, Rn. 71).
73 Somit gehört der Umstand, dass der Elternteil, der Drittstaatsangehöriger ist, mit dem minderjährigen Kind, das Unionsbürger ist, zusammenlebt, zu den relevanten Gesichtspunkten, die zu berücksichtigen sind, um zu bestimmen, ob zwischen ihnen ein Abhängigkeitsverhältnis besteht, ohne jedoch eine notwendige Bedingung dafür darzustellen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. Dezember 2012, O. u. a., C‑356/11 und C‑357/11, EU:C:2012:776, Rn. 54).
74 Hingegen rechtfertigt die bloße Tatsache, dass es für einen Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats aus wirtschaftlichen Gründen oder zur Aufrechterhaltung der Familiengemeinschaft im Unionsgebiet wünschenswert erscheinen könnte, dass sich Familienangehörige, die nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzen, mit ihm zusammen im Unionsgebiet aufhalten können, für sich genommen nicht die Annahme, dass der Unionsbürger gezwungen wäre, das Unionsgebiet zu verlassen, wenn kein Aufenthaltsrecht gewährt würde (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 15. November 2011, Dereci u. a., C‑256/11, EU:C:2011:734, Rn. 68, und vom 6. Dezember 2012, O. u. a., C‑356/11 und C‑357/11, EU:C:2012:776, Rn. 52).
75 Somit kann das Bestehen einer familiären Bindung zwischen dem minderjährigen Unionsbürger und dem Elternteil, der Drittstaatsangehöriger ist, sei sie biologischer oder rechtlicher Natur, nicht ausreichen, um es zu rechtfertigen, dass diesem Elternteil nach Art. 20 AEUV ein abgeleitetes Recht zum Aufenthalt im Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats zuerkannt wird, dessen Staatsangehörigkeit das minderjährige Kind besitzt.
76 Aus den Rn. 64 bis 75 des vorliegenden Urteils ergibt sich, dass Art. 20 AEUV wie folgt auszulegen ist:
–
Bei einem erwachsenen Unionsbürger kommt ein Abhängigkeitsverhältnis, das geeignet ist, die Gewährung eines abgeleiteten Aufenthaltsrechts nach dieser Vorschrift gegenüber dem betreffenden Drittstaatsangehörigen zu rechtfertigen, nur in außergewöhnlichen Fällen in Betracht, in denen die betreffende Person in Anbetracht aller relevanten Umstände keinesfalls von dem Familienangehörigen getrennt werden darf, von dem sie abhängig ist.
–
Bei einem minderjährigen Unionsbürger muss der Beurteilung des Bestehens eines solchen Abhängigkeitsverhältnisses im Interesse des Kindeswohls die Berücksichtigung sämtlicher Umstände des Einzelfalls zugrunde liegen, insbesondere des Alters des Kindes, seiner körperlichen und emotionalen Entwicklung, des Grades seiner affektiven Bindung an jeden Elternteil und des Risikos, das für sein inneres Gleichgewicht mit der Trennung von dem Elternteil mit Drittstaatsangehörigkeit verbunden wäre. Zur Feststellung eines solchen Abhängigkeitsverhältnisses reicht weder das Bestehen einer familiären Bindung an den Drittstaatsangehörigen, sei sie biologischer oder rechtlicher Natur, aus, noch ist ein Zusammenleben mit ihm erforderlich.
Zur Bedeutung des Zeitpunkts, zu dem das Abhängigkeitsverhältnis entstanden ist
77 Als Drittes ist zu klären, ob Art. 20 AEUV dahin auszulegen ist, dass es unerheblich ist, dass das Abhängigkeitsverhältnis, das der Drittstaatsangehörige zur Stützung seines Antrags auf Aufenthaltsgewährung zum Zweck einer Familienzusammenführung geltend macht, erst entstanden ist, nachdem gegen ihn ein Einreiseverbot verhängt wurde.
78 Insoweit ist zum einen darauf hinzuweisen, dass das Aufenthaltsrecht, das nach Art. 20 AEUV Drittstaatsangehörigen gewährt wird, die Familienangehörige eines Unionsbürgers sind, ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht ist, das den Schutz der Freizügigkeit und der Aufenthaltsfreiheit des Unionsbürgers bezweckt, und zum anderen, dass dem Drittstaatsangehörigen, der Familienangehöriger dieses Unionsbürgers ist, aufgrund des zwischen ihnen bestehenden Abhängigkeitsverhältnisses in dem in Rn. 52 des vorliegenden Urteils genannten Sinne ein Recht zum Aufenthalt im Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats zuzuerkennen ist, dessen Staatsangehörigkeit der Unionsbürger besitzt.
79 Vor diesem Hintergrund würde die praktische Wirksamkeit der Unionsbürgerschaft beeinträchtigt, falls ein Antrag auf Aufenthaltsgewährung zum Zweck einer Familienzusammenführung automatisch zurückgewiesen werden müsste, wenn ein solches Abhängigkeitsverhältnis zwischen dem Unionsbürger und seinem Familienangehörigen, der Drittstaatsangehöriger ist, zu einem Zeitpunkt entsteht, zu dem gegen Letzteren bereits eine mit einem Einreiseverbot einhergehende Rückkehrentscheidung ergangen war, und er somit um seinen unerlaubten Aufenthalt wusste. In einem solchen Fall konnte das Bestehen eines solchen Abhängigkeitsverhältnisses zwischen dem Unionsbürger und dem Drittstaatsangehörigen nämlich bei der mit einem Einreiseverbot einhergehenden Rückkehrentscheidung, die gegen Letzteren verhängt wurde, zwangsläufig nicht berücksichtigt werden.
80 Im Übrigen hat der Gerichtshof in den Urteilen vom 8. März 2011, Ruiz Zambrano (C‑34/09, EU:C:2011:124), und vom 10. Mai 2017, Chavez-Vilchez u. a. (C‑133/15, EU:C:2017:354), bereits anerkannt, dass Drittstaatsangehörigen, die Eltern minderjähriger Unionsbürger sind, die noch nie von ihrem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch gemacht haben, ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht nach Art. 20 AEUV zuzuerkennen ist, obwohl sie sich zum Zeitpunkt der Geburt der Kinder illegal im Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats aufhielten.
81 Nach alledem ist Art. 20 AEUV dahin auszulegen, dass es unerheblich ist, dass das Abhängigkeitsverhältnis, das der Drittstaatsangehörige zur Stützung seines Antrags auf Aufenthaltsgewährung zum Zweck einer Familienzusammenführung geltend macht, erst entstanden ist, nachdem gegen ihn ein Einreiseverbot verhängt wurde.
Zur Bestandskraft des Einreiseverbots
82 Als Viertes ist zu klären, ob Art. 20 AEUV dahin auszulegen ist, dass es unerheblich ist, dass die Entscheidung, mit der gegen den Drittstaatsangehörigen ein Einreiseverbot verhängt wird, bereits bestandskräftig war, als er seinen Antrag auf Aufenthaltsgewährung zum Zweck einer Familienzusammenführung stellte.
83 Insoweit geht aus den Rn. 57 bis 61 des vorliegenden Urteils hervor, dass die praktische Wirksamkeit von Art. 20 AEUV die Aufhebung oder Aussetzung eines solchen Einreiseverbots auch dann gebietet, wenn es bestandskräftig geworden ist, sofern zwischen dem Drittstaatsangehörigen und dem Unionsbürger, der sein Familienangehöriger ist, ein Abhängigkeitsverhältnis besteht, das die Gewährung eines abgeleiteten Rechts zum Aufenthalt im Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats nach Art. 20 rechtfertigt.
84 Folglich ist Art. 20 AEUV dahin auszulegen, dass es unerheblich ist, dass die Entscheidung, mit der gegen den Drittstaatsangehörigen ein Einreiseverbot verhängt wird, bereits bestandskräftig war, als er seinen Antrag auf Aufenthaltsgewährung zum Zweck einer Familienzusammenführung stellte.
Zu den Gründen für das Einreiseverbot
85 Als Fünftes ist zu klären, ob Art. 20 AEUV dahin auszulegen ist, dass es unerheblich ist, dass die Entscheidung, mit der ein Einreiseverbot gegen einen Drittstaatsangehörigen verhängt wird, der einen Antrag auf Aufenthaltsgewährung zum Zweck einer Familienzusammenführung gestellt hat, damit gerechtfertigt wird, dass er seiner Rückkehrverpflichtung nicht nachgekommen ist, oder mit Gründen der öffentlichen Ordnung.
86 Zunächst ist hervorzuheben, dass die Mitgliedstaaten nach Art. 11 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 verpflichtet sind, eine Entscheidung zu erlassen, mit der ein Einreiseverbot verhängt wird, wenn der Drittstaatsangehörige, gegen den eine Rückkehrentscheidung ergangen ist, seiner Rückkehrverpflichtung nicht nachgekommen ist oder wenn ihm keine Frist für die freiwillige Ausreise eingeräumt worden ist, was nach Art. 7 Abs. 4 der Richtlinie der Fall sein kann, wenn die betreffende Person eine Gefahr für die öffentliche Ordnung, die öffentliche Sicherheit oder die nationale Sicherheit darstellt.
87 Was erstens die Nichtbefolgung der Rückkehrverpflichtung anbelangt, ist es unerheblich, dass das Einreiseverbot aus einem solchen Grund erlassen wurde.
88 Aus den in den Rn. 53 bis 62 sowie den Rn. 79 und 80 des vorliegenden Urteils genannten Gründen darf ein Mitgliedstaat die Bearbeitung eines in seinem Hoheitsgebiet durch einen Drittstaatsangehörigen gestellten Antrags auf Aufenthaltsgewährung zum Zweck einer Familienzusammenführung nämlich nicht allein deshalb verweigern, weil sich der Drittstaatsangehörige, da er seiner Rückkehrverpflichtung nicht nachgekommen ist, illegal in seinem Hoheitsgebiet aufhält, sondern er muss zuvor geprüft haben, ob nicht zwischen dem Drittstaatsangehörigen und dem Unionsbürger, der sein Familienangehöriger ist, ein Abhängigkeitsverhältnis besteht, das es gebietet, dem Drittstaatsangehörigen ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht nach Art. 20 AEUV zuzuerkennen.
89 Außerdem ist zum einen darauf hinzuweisen, dass sich das Recht zum Aufenthalt im Aufnahmemitgliedstaat, das Art. 20 AEUV dem Drittstaatsangehörigen gewährt, der Familienangehöriger eines Unionsbürgers ist, unmittelbar aus dieser Vorschrift ergibt und nicht voraussetzt, dass der Drittstaatsangehörige bereits über einen anderen Aufenthaltstitel verfügt, der ihn zum Aufenthalt im Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats berechtigt, und zum anderen, dass der Drittstaatsangehörige, da ihm dieses Aufenthaltsrecht ab der Entstehung des Abhängigkeitsverhältnisses zwischen ihm und dem Unionsbürger zuzuerkennen ist, von da an für die Dauer des Abhängigkeitsverhältnisses nicht mehr als im Sinne von Art. 3 Nr. 2 der Richtlinie 2008/115 im Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats illegal aufhältig angesehen werden kann.
90 Was zweitens den Umstand anbelangt, dass das Einreiseverbot auf Gründen der öffentlichen Ordnung beruht, hat der Gerichtshof bereits entschieden, dass Art. 20 AEUV die Möglichkeit der Mitgliedstaaten unberührt lässt, sich u. a. auf eine Ausnahme im Zusammenhang mit der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und dem Schutz der öffentlichen Sicherheit zu berufen. Da die Situation der Beschwerdeführer der Ausgangsverfahren in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fällt, ist bei ihrer Beurteilung allerdings das in Art. 7 der Charta genannte Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens zu berücksichtigen, wobei diese Vorschrift gegebenenfalls im Zusammenhang mit der Verpflichtung zu sehen ist, das Wohl des Kindes, wie es in Art. 24 Abs. 2 der Charta anerkannt wird, zu berücksichtigen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 13. September 2016, Rendón Marín, C‑165/14, EU:C:2016:675, Rn. 81, und vom 13. September 2016, CS, C‑304/14, EU:C:2016:674, Rn. 36).
91 Im Übrigen sind die Begriffe „öffentliche Ordnung“ und „öffentliche Sicherheit“ als Rechtfertigung für eine Abweichung vom Aufenthaltsrecht der Unionsbürger oder ihrer Familienangehörigen eng auszulegen. Der Begriff „öffentliche Ordnung“ setzt dabei jedenfalls voraus, dass außer der Störung der sozialen Ordnung, die jeder Gesetzesverstoß darstellt, eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr vorliegt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt. Zum Begriff „öffentliche Sicherheit“ geht aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs hervor, dass er sowohl die innere als auch die äußere Sicherheit eines Mitgliedstaats umfasst, so dass die Beeinträchtigung des Funktionierens der Einrichtungen des Staates und seiner wichtigen öffentlichen Dienste sowie das Überleben der Bevölkerung ebenso wie die Gefahr einer erheblichen Störung der auswärtigen Beziehungen oder des friedlichen Zusammenlebens der Völker oder eine Beeinträchtigung der militärischen Interessen die öffentliche Sicherheit berühren können. Der Gerichtshof hat außerdem entschieden, dass der Begriff „öffentliche Sicherheit“ die Bekämpfung der mit bandenmäßigem Handel mit Betäubungsmitteln verbundenen Kriminalität oder des Terrorismus umfasst (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 13. September 2016, Rendón Marín, C‑165/14, EU:C:2016:675, Rn. 82 und 83, sowie vom 13. September 2016, CS, C‑304/14, EU:C:2016:674, Rn. 37 bis 39).
92 In diesem Kontext ist davon auszugehen, dass die Verweigerung des Aufenthaltsrechts wegen des Vorliegens einer tatsächlichen, gegenwärtigen und erheblichen Gefahr für die öffentliche Ordnung oder Sicherheit aufgrund u. a. von Straftaten, die ein Drittstaatsangehöriger begangen hat, mit dem Unionsrecht vereinbar wäre, selbst wenn sie die Verpflichtung für den Unionsbürger, der dessen Familienangehöriger ist, zur Folge hätte, das Gebiet der Union zu verlassen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 13. September 2016, Rendón Marín, C‑165/14, EU:C:2016:675, Rn. 84, und vom 13. September 2016, CS, C‑304/14, EU:C:2016:674, Rn. 40).
93 Ein solcher Schluss kann jedoch nicht automatisch allein auf der Grundlage der Vorstrafen des Betroffenen gezogen werden. Vorausgehen muss stets eine konkrete Beurteilung sämtlicher aktueller, relevanter Umstände des Einzelfalls im Licht des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit, des Wohls des Kindes und der Grundrechte, deren Beachtung der Gerichtshof sichert (Urteile vom 13. September 2016, Rendón Marín, C‑165/14, EU:C:2016:675, Rn. 85, und vom 13. September 2016, CS, C‑304/14, EU:C:2016:674, Rn. 41).
94 Bei dieser Beurteilung sind daher u. a. das persönliche Verhalten des Betroffenen, Dauer und Rechtmäßigkeit seines Aufenthalts im Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats, Art und Schwere der begangenen Straftat, der Grad der gegenwärtigen Gefährlichkeit des Betroffenen für die Gesellschaft, das Alter etwa betroffener Kinder und ihr Gesundheitszustand sowie ihre familiäre und wirtschaftliche Situation zu berücksichtigen (Urteile vom 13. September 2016, Rendón Marín, C‑165/14, EU:C:2016:675, Rn. 86, und vom 13. September 2016, CS, C‑304/14, EU:C:2016:674, Rn. 42).
95 Aus der Vorlageentscheidung geht aber hervor, dass die in den Ausgangsverfahren in Rede stehende nationale Praxis der zuständigen nationalen Behörde nicht vorschreibt, eine solche konkrete Beurteilung aller relevanten Umstände des Einzelfalls vorzunehmen, bevor sie einen unter Umständen wie denen der Ausgangsverfahren gestellten Antrag auf Aufenthaltsgewährung zum Zweck einer Familienzusammenführung zurückweist.
96 Außerdem weist das vorlegende Gericht darauf hin, dass aus den bei ihm angefochtenen Entscheidungen nicht hervorgehe, dass eine solche konkrete Beurteilung anlässlich des Erlasses der mit einem Einreiseverbot einhergehenden Rückkehrentscheidungen gegen die Beschwerdeführer der Ausgangsverfahren vorgenommen worden wäre. Selbst wenn dies der Fall sein sollte, wäre die zuständige nationale Behörde jedenfalls verpflichtet, in dem Moment, in dem sie den Antrag des Drittstaatsangehörigen auf Aufenthaltsgewährung zum Zweck einer Familienzusammenführung zurückweisen möchte, zu prüfen, ob sich die tatsächlichen Umstände seit dem Erlass der Rückkehrentscheidung nicht geändert haben, so dass ihm nunmehr ein Aufenthaltsrecht nicht mehr verweigert werden kann (vgl. entsprechend Urteile vom 29. April 2004, Orfanopoulos und Oliveri, C‑482/01 und C‑493/01, EU:C:2004:262, Rn. 79 und 82, sowie vom 11. November 2004, Cetinkaya, C‑467/02, EU:C:2004:708, Rn. 45 und 47).
97 Folglich ist Art. 20 AEUV dahin auszulegen, dass es unerheblich ist, dass die Entscheidung, mit der ein Einreiseverbot gegen einen Drittstaatsangehörigen verhängt wird, der einen Antrag auf Aufenthaltsgewährung zum Zweck einer Familienzusammenführung gestellt hat, damit gerechtfertigt wird, dass einer Rückkehrverpflichtung nicht nachgekommen worden sei. Wurde eine solche Entscheidung mit Gründen der öffentlichen Ordnung gerechtfertigt, können diese nur dann dazu führen, dem Drittstaatsangehörigen ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht nach diesem Artikel zu verweigern, wenn sich aus einer konkreten Beurteilung aller Umstände des Einzelfalls im Licht des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes, des Wohls etwaiger betroffener Kinder und der Grundrechte ergibt, dass der Betroffene eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr für die öffentliche Ordnung darstellt.
Zur dritten Frage
98 Mit seiner dritten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 5 der Richtlinie 2008/115 sowie die Art. 7 und 24 der Charta dahin auszulegen sind, dass sie einer nationalen Praxis entgegenstehen, wonach in Bezug auf einen Drittstaatsangehörigen, gegen den bereits eine mit einem Einreiseverbot einhergehende Rückkehrentscheidung erlassen wurde, die noch in Kraft ist, eine Rückkehrentscheidung ergeht, ohne dass dabei die in einem nach Verhängung eines solchen Einreiseverbots gestellten Antrag auf Aufenthaltsgewährung zum Zweck einer Familienzusammenführung erwähnten Aspekte seines Familienlebens – insbesondere das Wohl seines minderjährigen Kindes – berücksichtigt werden.
99 In Anbetracht der Antwort auf die erste und die zweite Frage ist die dritte Frage dahin zu verstehen, dass sie sich ausschließlich auf die Fälle bezieht, in denen der Drittstaatsangehörige nicht in den Genuss eines abgeleiteten Aufenthaltsrechts nach Art. 20 AEUV kommen kann.
100 Insoweit ist zunächst darauf hinzuweisen, dass mit der Richtlinie 2008/115 nach ihrem zweiten Erwägungsgrund eine wirksame Rückkehr- und Rückübernahmepolitik festgelegt werden soll, die auf gemeinsamen Normen beruht, die gewährleisten, dass die betreffenden Personen unter vollständiger Achtung der Grundrechte auf menschenwürdige Weise zurückgeführt werden. Wie sich sowohl aus ihrem Titel als auch aus ihrem Art. 1 ergibt, werden durch die Richtlinie 2008/115 „gemeinsame Normen und Verfahren“ geschaffen, die von jedem Mitgliedstaat bei der Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger anzuwenden sind (Urteil vom 5. November 2014, Mukarubega, C‑166/13, EU:C:2014:2336, Rn. 39 und die dort angeführte Rechtsprechung).
101 Zudem geht aus dem sechsten Erwägungsgrund der Richtlinie hervor, dass die Mitgliedstaaten verpflichtet sind, gegen illegal in ihrem Hoheitsgebiet aufhältige Drittstaatsangehörige nach Abschluss eines fairen und transparenten Verfahrens gemäß Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie eine Rückkehrentscheidung zu erlassen.
102 Insbesondere müssen die Mitgliedstaaten gemäß Art. 5 („Grundsatz der Nichtzurückweisung, Wohl des Kindes, familiäre Bindungen und Gesundheitszustand“) der Richtlinie 2008/115 bei deren Umsetzung zum einen in gebührender Weise das Wohl des Kindes, die familiären Bindungen und den Gesundheitszustand der betreffenden Drittstaatsangehörigen berücksichtigen und zum anderen den Grundsatz der Nichtzurückweisung einhalten (Urteil vom 11. Dezember 2014, Boudjlida, C‑249/13, EU:C:2014:2431, Rn. 48).
103 Folglich muss die zuständige nationale Behörde, wenn sie eine Rückkehrentscheidung zu erlassen beabsichtigt, zwingend die Verpflichtungen nach Art. 5 der Richtlinie 2008/115 einhalten und den Betroffenen hierzu anhören. Insoweit obliegt es Letzterem, bei seiner Anhörung mit der zuständigen nationalen Behörde zu kooperieren, um ihr alle relevanten Informationen über seine persönliche und familiäre Situation zu geben, insbesondere jene, die es rechtfertigen können, dass von einer Rückkehrentscheidung abgesehen wird (Urteil vom 11. Dezember 2014, Boudjlida, C‑249/13, EU:C:2014:2431, Rn. 49 und 50).
104 Art. 5 der Richtlinie 2008/115 verwehrt es somit einem Mitgliedstaat, eine Rückkehrentscheidung zu erlassen, ohne die relevanten Aspekte des Familienlebens des betreffenden Drittstaatsangehörigen zu berücksichtigen, die er – sei es auch zur Stützung eines Antrags auf Aufenthaltsgewährung zum Zweck einer Familienzusammenführung – geltend macht, um den Erlass einer solchen Entscheidung zu verhindern; dies gilt auch dann, wenn gegen den Drittstaatsangehörigen bereits eine mit einem Einreiseverbot verbundene Rückkehrentscheidung ergangen ist.
105 Wie in Rn. 103 des vorliegenden Urteils hervorgehoben, ist der Betroffene jedoch zur loyalen Zusammenarbeit mit der zuständigen nationalen Behörde verpflichtet. Aufgrund dieser Pflicht zur loyalen Zusammenarbeit muss er die Behörde unverzüglich über jede relevante Veränderung seines Familienlebens informieren. Der Anspruch des Drittstaatsangehörigen darauf, dass eine Veränderung seiner familiären Verhältnisse berücksichtigt wird, bevor eine Rückkehrentscheidung ergeht, darf nämlich nicht instrumentalisiert werden, um das Verwaltungsverfahren immer wieder zu eröffnen oder unbegrenzt zu verlängern (vgl. entsprechend Urteil vom 5. November 2014, Mukarubega, C‑166/13, EU:C:2014:2336, Rn. 71).
106 Ist wie in den Ausgangsverfahren gegen den Drittstaatsangehörigen bereits eine Rückkehrentscheidung ergangen und konnte er im Lauf dieses ersten Verfahrens die Aspekte seines Familienlebens geltend machen, die zu dieser Zeit bereits bestanden und auf denen sein Antrag auf Aufenthaltsgewährung zum Zweck einer Familienzusammenführung beruht, kann der zuständigen nationalen Behörde daher nicht zum Vorwurf gemacht werden, diese Aspekte, die der Betroffene in einem früheren Verfahrensstadium hätte anführen müssen, im später eröffneten Rückkehrverfahren nicht berücksichtigt zu haben.
107 Auf die dritte Frage ist daher zu antworten, dass Art. 5 der Richtlinie 2008/115 dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Praxis entgegensteht, wonach in Bezug auf einen Drittstaatsangehörigen, gegen den bereits eine mit einem Einreiseverbot einhergehende Rückkehrentscheidung erlassen wurde, die noch in Kraft ist, eine Rückkehrentscheidung ergeht, ohne dass dabei die in einem nach Verhängung eines solchen Einreiseverbots gestellten Antrag auf Aufenthaltsgewährung zum Zweck einer Familienzusammenführung erwähnten Aspekte seines Familienlebens – insbesondere das Wohl seines minderjährigen Kindes – berücksichtigt werden, es sei denn, der Betroffene hätte diese Aspekte schon früher anführen können.
Zur vierten Frage
108 In Anbetracht der Antworten auf die ersten drei Fragen ist die vierte Frage nicht zu beantworten.
Kosten
109 Für die Parteien der Ausgangsverfahren ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreitigkeiten; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Große Kammer) für Recht erkannt:
1. Die Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger, insbesondere deren Art. 5 und 11, ist dahin auszulegen, dass sie einer Praxis eines Mitgliedstaats nicht entgegensteht, die darin besteht, dass ein Antrag auf Aufenthaltsgewährung zum Zweck einer Familienzusammenführung, den ein einem Drittstaat angehörender Familienangehöriger eines Unionsbürgers, der Staatsangehöriger dieses Mitgliedstaats ist und nie von seinem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch gemacht hat, in dessen Hoheitsgebiet stellt, allein deshalb nicht bearbeitet wird, weil gegen den Drittstaatsangehörigen ein Verbot der Einreise in dieses Hoheitsgebiet verhängt wurde.
2. Art. 20 AEUV ist wie folgt auszulegen:
–
Er steht einer Praxis eines Mitgliedstaats entgegen, die darin besteht, dass ein solcher Antrag allein aus dem genannten Grund nicht bearbeitet wird, ohne dass geprüft worden wäre, ob ein Abhängigkeitsverhältnis zwischen dem Unionsbürger und dem Drittstaatsangehörigen besteht, das den Unionsbürger im Fall der Weigerung, dem Drittstaatsangehörigen ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht zu gewähren, de facto zwingen würde, das Unionsgebiet als Ganzes zu verlassen, so dass ihm dadurch der tatsächliche Genuss des Kernbestands der Rechte, die ihm sein Status verleiht, vorenthalten würde.
–
Bei einem erwachsenen Unionsbürger kommt ein Abhängigkeitsverhältnis, das geeignet ist, die Gewährung eines abgeleiteten Aufenthaltsrechts nach dieser Vorschrift gegenüber dem betreffenden Drittstaatsangehörigen zu rechtfertigen, nur in außergewöhnlichen Fällen in Betracht, in denen die betreffende Person in Anbetracht aller relevanten Umstände keinesfalls von dem Familienangehörigen getrennt werden darf, von dem sie abhängig ist.
–
Bei einem minderjährigen Unionsbürger muss der Beurteilung des Bestehens eines solchen Abhängigkeitsverhältnisses im Interesse des Kindeswohls die Berücksichtigung sämtlicher Umstände des Einzelfalls zugrunde liegen, insbesondere des Alters des Kindes, seiner körperlichen und emotionalen Entwicklung, des Grades seiner affektiven Bindung an jeden Elternteil und des Risikos, das für sein inneres Gleichgewicht mit der Trennung von dem Elternteil mit Drittstaatsangehörigkeit verbunden wäre. Zur Feststellung eines solchen Abhängigkeitsverhältnisses reicht weder das Bestehen einer familiären Bindung an den Drittstaatsangehörigen, sei sie biologischer oder rechtlicher Natur, aus, noch ist ein Zusammenleben mit ihm erforderlich.
–
Es ist unerheblich, dass das Abhängigkeitsverhältnis, das der Drittstaatsangehörige zur Stützung seines Antrags auf Aufenthaltsgewährung zum Zweck einer Familienzusammenführung geltend macht, erst entstanden ist, nachdem gegen ihn ein Einreiseverbot verhängt wurde.
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Es ist unerheblich, dass die Entscheidung, mit der gegen den Drittstaatsangehörigen ein Einreiseverbot verhängt wird, bereits bestandskräftig war, als er seinen Antrag auf Aufenthaltsgewährung zum Zweck einer Familienzusammenführung stellte.
–
Es ist unerheblich, dass die Entscheidung, mit der ein Einreiseverbot gegen einen Drittstaatsangehörigen verhängt wird, der einen Antrag auf Aufenthaltsgewährung zum Zweck einer Familienzusammenführung gestellt hat, damit gerechtfertigt wird, dass einer Rückkehrverpflichtung nicht nachgekommen worden sei. Wurde eine solche Entscheidung mit Gründen der öffentlichen Ordnung gerechtfertigt, können diese nur dann dazu führen, dem Drittstaatsangehörigen ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht nach diesem Artikel zu verweigern, wenn sich aus einer konkreten Beurteilung aller Umstände des Einzelfalls im Licht des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes, des Wohls etwaiger betroffener Kinder und der Grundrechte ergibt, dass der Betroffene eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr für die öffentliche Ordnung darstellt.
3. Art. 5 der Richtlinie 2008/115 ist dahin auszulegen, dass er einer nationalen Praxis entgegensteht, wonach in Bezug auf einen Drittstaatsangehörigen, gegen den bereits eine mit einem Einreiseverbot einhergehende Rückkehrentscheidung erlassen wurde, die noch in Kraft ist, eine Rückkehrentscheidung ergeht, ohne dass dabei die in einem nach Verhängung eines solchen Einreiseverbots gestellten Antrag auf Aufenthaltsgewährung zum Zweck einer Familienzusammenführung erwähnten Aspekte seines Familienlebens – insbesondere das Wohl seines minderjährigen Kindes – berücksichtigt werden, es sei denn, der Betroffene hätte diese Aspekte schon früher anführen können.
Unterschriften
(*1) Verfahrenssprache: Niederländisch.
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Urteil des Gerichtshofs (Große Kammer) vom 6. Oktober 2015.#Thierry Delvigne gegen Commune de Lesparre Médoc und Préfet de la Gironde.#Vorabentscheidungsersuchen des Tribunal d'instance de Bordeaux.#Vorlage zur Vorabentscheidung – Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Art. 39 und 49 – Europäisches Parlament – Wahlen – Aktives Wahlrecht – Unionsbürgerschaft – Rückwirkung des milderen Strafgesetzes – Nationale Rechtsvorschriften, die bei einer vor dem 1. März 1994 ergangenen letztinstanzlichen Verurteilung wegen einer Straftat den Verlust des aktiven Wahlrechts vorsehen.#Rechtssache C-650/13.
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62013CJ0650
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ECLI:EU:C:2015:648
| 2015-10-06T00:00:00 |
Gerichtshof, Cruz Villalón
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Sammlung der Rechtsprechung – allgemein
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62013CJ0650
URTEIL DES GERICHTSHOFS (Große Kammer)
6. Oktober 2015 (*
)
„Vorlage zur Vorabentscheidung — Charta der Grundrechte der Europäischen Union — Art. 39 und 49 — Europäisches Parlament — Wahlen — Aktives Wahlrecht — Unionsbürgerschaft — Rückwirkung des milderen Strafgesetzes — Nationale Rechtsvorschriften, die bei einer vor dem 1. März 1994 ergangenen letztinstanzlichen Verurteilung wegen einer Straftat den Verlust des aktiven Wahlrechts vorsehen“
In der Rechtssache C‑650/13
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Tribunal d’instance de Bordeaux (Frankreich) mit Entscheidung vom 7. November 2013, beim Gerichtshof eingegangen am 9. Dezember 2013, in dem Verfahren
Thierry Delvigne
gegen
Commune de Lesparre-Médoc,
Préfet de la Gironde
erlässt
DER GERICHTSHOF (Große Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten V. Skouris, des Vizepräsidenten K. Lenaerts, des Kammerpräsidenten A. Tizzano, der Kammerpräsidentin R. Silva de Lapuerta, der Kammerpräsidenten M. Ilešič, C. Vajda und S. Rodin, der Kammerpräsidentin K. Jürimäe (Berichterstatterin) sowie der Richter A. Rosas, E. Juhász, A. Borg Barthet, J. Malenovský und F. Biltgen,
Generalanwalt: P. Cruz Villalón,
Kanzler: L. Carrasco Marco, Verwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 20. Januar 2015,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
—
von Herrn Delvigne, vertreten durch J. Fouchet, avocat,
—
der Commune de Lesparre-Médoc, vertreten durch M.-C. Baltazar und A. Pagnoux, avocats,
—
der französischen Regierung, vertreten durch G. de Bergues, D. Colas und F.-X. Bréchot als Bevollmächtigte,
—
der deutschen Regierung, vertreten durch T. Henze und J. Kemper als Bevollmächtigte,
—
der spanischen Regierung, vertreten durch L. Banciella Rodríguez-Miñón als Bevollmächtigten,
—
der Regierung des Vereinigten Königreichs, vertreten durch M. Holt als Bevollmächtigten im Beistand von J. Coppel, QC,
—
des Europäischen Parlaments, vertreten durch D. Moore und P. Schonard als Bevollmächtigte,
—
der Europäischen Kommission, vertreten durch P. Van Nuffel und H. Krämer als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 4. Juni 2015
folgendes
Urteil
1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Art. 39 und 49 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta).
2 Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits, den Herr Delvigne gegen die Commune de Lesparre-Médoc (Gemeinde Lesparre-Médoc, Frankreich) und den Préfet de la Gironde (Präfekt der Gironde) wegen seiner Streichung im Wählerverzeichnis der genannten Gemeinde führt.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
3 Art. 1 des Akts zur Einführung allgemeiner unmittelbarer Wahlen der Mitglieder des Europäischen Parlaments im Anhang des Beschlusses 76/787/EGKS, EWG, Euratom des Rates vom 20. September 1976 (ABl. L 278, S. 1) in der durch den Beschluss 2002/772/EG, Euratom des Rates vom 25. Juni 2002 und 23. September 2002 (ABl. L 283, S. 1) geänderten Fassung (im Folgenden: Akt von 1976) bestimmt:
„(1) In jedem Mitgliedstaat werden die Mitglieder des Europäischen Parlaments nach dem Verhältniswahlsystem auf der Grundlage von Listen oder von übertragbaren Einzelstimmen gewählt.
…
(3) Die Wahl erfolgt allgemein, unmittelbar, frei und geheim.“
4 Art. 7 des Akts von 1976 lautet:
„Vorbehaltlich der Vorschriften dieses Akts bestimmt sich das Wahlverfahren in jedem Mitgliedstaat nach den innerstaatlichen Vorschriften.
Diese innerstaatlichen Vorschriften, die gegebenenfalls den Besonderheiten in den Mitgliedstaaten Rechnung tragen können, dürfen das Verhältniswahlsystem insgesamt nicht in Frage stellen.“
Französisches Recht
5 Art. 28 Abs. 1 des durch das Gesetz vom 12. Februar 1810 eingeführten Code pénal (Strafgesetzbuch) in der auf das Ausgangsverfahren anwendbaren Fassung (im Folgenden: alter Code pénal) sah vor:
„Eine Verurteilung wegen eines Verbrechens führt zum Verlust der bürgerlichen Rechte.“
6 Art. 34 des alten Code pénal bestimmte:
„Der Verlust der bürgerlichen Rechte besteht im
…
2°
Entzug des Stimmrechts, des Wahlrechts, der Wählbarkeit und allgemein sämtlicher bürgerlicher und politischer Rechte …
…“
7 Der alte Code pénal wurde mit Wirkung vom 1. März 1994 durch das Gesetz Nr. 92‑1336 vom 16. Dezember 1992„relative à l’entrée en vigueur du nouveau code pénal et à la modification de certaines dispositions de droit pénal et de procédure pénale rendue nécessaire par cette entrée en vigueur“ (betreffend das Inkrafttreten des neuen Code pénal und die dadurch erforderliche Änderung bestimmter straf- und strafverfahrensrechtlicher Vorschriften) (JORF vom 23. Dezember 1992, S. 17568) aufgehoben. Nach Art. 131‑26 des neuen Code pénal können die bürgerlichen Rechte bei einer Verurteilung wegen eines Verbrechens für die Dauer von bis zu zehn Jahren und bei einer Verurteilung wegen eines Vergehens für die Dauer von bis zu fünf Jahren ganz oder teilweise gerichtlich aberkannt werden.
8 Art. 370 des Gesetzes Nr. 92‑1336 vom 16. Dezember 1992 in der durch das Gesetz Nr. 94‑89 vom 1. Februar 1994„instituant une peine incompressible et relative au nouveau code pénal et à certaines dispositions de procédure pénale“ (zur Einführung einer Strafe, deren Vollstreckung nicht modifiziert werden kann, sowie betreffend den neuen Code pénal und bestimmte strafverfahrensrechtliche Vorschriften) (JORF vom 2. Februar 1994, S. 1803) geänderten Fassung lautet:
„Unbeschadet der Bestimmungen des Artikels 702‑1 des Code de procédure pénale [Strafprozessordnung] bleiben der mit einer vor dem Inkrafttreten dieses Gesetzes ergangenen letztinstanzlichen Verurteilung wegen einer Straftat von Rechts wegen einhergegangene Verlust der bürgerlichen, zivilen und familiären Rechte sowie der Fähigkeit zur Bekleidung des Amts eines Geschworenen bestehen.“
9 Art. 702‑1 Abs. 1 des Code de procédure pénale in der durch das Gesetz Nr. 2009‑1436 vom 24. November 2009„pénitentiaire“ (über den Strafvollzug) (JORF vom 25. November 2009, S. 20192) geänderten Fassung lautet:
„Bei einem von Rechts wegen mit einer Verurteilung wegen einer Straftat einhergehenden oder im Strafurteil als Nebenstrafe verhängten Verbot, Verlust oder Ausschluss oder einer mit einer Verurteilung wegen einer Straftat einhergehenden oder im Strafurteil als Nebenstrafe verhängten Maßnahme der Bekanntgabe kann der Betroffene bei dem Gericht, das die Verurteilung ausgesprochen hat, bei mehreren Verurteilungen bei dem Gericht, das zuletzt entschieden hat, ihre völlige oder teilweise Aufhebung beantragen, bei einem Verbot, einem Verlust oder einem Ausschluss auch hinsichtlich der Dauer. Bei einer Verurteilung durch eine Cour d’assises ist für die Entscheidung über den Antrag die Chambre de l’instruction des Gerichtsbezirks des Sitzes der Cour d’assises zuständig.“
10 Das Gesetz Nr. 77‑729 vom 7. Juli 1977„relative à l’élection des représentants au Parlement européen“ (betreffend die Wahl der Abgeordneten des Europäischen Parlaments) (JORF vom 8. Juli 1977, S. 3579) in geänderter Fassung regelt das für Wahlen zum Europäischen Parlament gültige Wahlverfahren. Art. 2 Abs. 1 des Gesetzes bestimmt:
„Für die Wahl der Abgeordneten des Europäischen Parlaments gemäß dem Akt im Anhang des Beschlusses des Rates der Europäischen Gemeinschaften vom 20. September 1976, der nach dem Gesetz Nr. 77‑680 vom 30. Juni 1977 anwendbar ist, gelten Titel I des Ersten Buchs des Code électoral [Wahlgesetzbuch] und die Bestimmungen der folgenden Kapitel. …“
11 Kapitel 1 des Titels I des Ersten Buchs des Code électoral enthält die Vorschriften über die Voraussetzungen der Wahlberechtigung. Nach dem zu diesem Kapitel gehörenden Art. L 2 sind „[w]ahlberechtigt … alle Französinnen und Franzosen, die das 18. Lebensjahr vollendet haben, Inhaber ihrer bürgerlichen und politischen Rechte sind und bei denen kein gesetzlicher Ausschlussgrund vorliegt“.
12 In Art. L 5 des Code électoral war in seiner ursprünglichen Fassung bestimmt:
„Nicht in das Wählerverzeichnis eingetragen werden darf,
1°
wer wegen eines Verbrechens verurteilt ist;
…“
13 Art. L 6 des Code électoral lautet in der auf das Ausgangsverfahren anwendbaren Fassung:
„Wem das aktive und passive Wahlrecht in Anwendung entsprechender gesetzlicher Vorschriften gerichtlich aberkannt worden ist, darf während der im Urteil festgelegten Dauer nicht in das Wählerverzeichnis eingetragen werden.“
Ausgangsverfahren und Vorlagefragen
14 Herr Delvigne wurde am 30. März 1988 wegen eines schweren Verbrechens letztinstanzlich zu einer Freiheitsstrafe von zwölf Jahren verurteilt.
15 Aus den beim Gerichtshof eingereichten Erklärungen geht hervor, dass Herr Delvigne aufgrund dieser Verurteilung gemäß den Art. 28 und 34 des alten Code pénal von Rechts wegen seine bürgerlichen Rechte, insbesondere sein Stimmrecht, sein Wahlrecht und seine Wählbarkeit verlor.
16 Mit Gesetz vom 16. Dezember 1992 wurde die Nebenfolge des mit einer Verurteilung wegen eines Verbrechens von Rechts wegen einhergehenden Verlusts der bürgerlichen Rechte im neuen, am 1. März 1994 in Kraft getretenen Code pénal abgeschafft. Dieser sieht nun vor, dass eine vollständige oder teilweise Aberkennung der bürgerlichen Rechte von einem Gericht angeordnet werden muss und bei Verurteilung wegen eines Verbrechens für die Dauer von höchstens zehn Jahren verhängt werden kann.
17 Bei Herrn Delvigne blieb der Verlust der bürgerlichen Rechte nach Art. 370 des Gesetzes vom 16. Dezember 1992 in geänderter Fassung jedoch auch nach dem 1. März 1994 bestehen, da er auf einer Verurteilung zu einer vor dem Inkrafttreten des neuen Code pénal rechtskräftig gewordenen Strafe beruhte.
18 Im Jahr 2012 erließ die zuständige Commission administrative (Verwaltungsausschuss) gegen Herrn Delvigne eine auf Art. L 6 des Code électoral gestützte Entscheidung, mit der seine Streichung im Wählerverzeichnis der Gemeinde Lesparre-Médoc, in der er wohnt, angeordnet wurde. Herr Delvigne erhob beim vorlegenden Gericht gegen diese Streichung eine Anfechtungsklage.
19 Herr Delvigne beantragte beim vorlegenden Gericht, den Gerichtshof im Wege eines Vorabentscheidungsersuchens um die Auslegung des Unionsrechts zu ersuchen, weil sich aus der Anwendung des Gesetzes vom 16. Dezember 1992 in geänderter Fassung eine Ungleichbehandlung ergebe. Er macht insbesondere geltend, Art. 370 dieses Gesetzes werfe ein „problème de conventionnalité“ („Problem der Vereinbarkeit mit internationalen Übereinkünften“) auf, denn er verstoße u. a. gegen mehrere Bestimmungen der Charta.
20 Das Tribunal d’instance de Bordeaux hat das Verfahren daher ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:
1. Ist Art. 49 der Charta dahin auszulegen, dass er einem durch ein nationales Gesetz aufrechterhaltenen – und zudem unbeschränkten und unverhältnismäßigen – Verbot entgegensteht, eine mildere Strafe zugunsten von Personen anzuwenden, die vor Inkrafttreten des milderen Strafgesetzes, des Gesetzes Nr. 94‑89 vom 1. Februar 1994, verurteilt wurden?
2. Ist der auf die Wahlen zum Europäischen Parlament anwendbare Art. 39 der Charta dahin auszulegen, dass er die Mitgliedstaaten der Europäischen Union verpflichtet, keine generelle, unbeschränkte und automatische Versagung der Ausübung bürgerlicher und politischer Rechte vorzusehen, damit es nicht zu einer Ungleichbehandlung der Angehörigen der Mitgliedstaaten kommt?
Zu den Vorlagefragen
Vorbemerkungen
21 Im Ausgangsverfahren geht es um die Rechtmäßigkeit der Streichung von Herrn Delvigne im Wählerverzeichnis, die gemäß Art. L 6 des Code électoral aufgrund des von Rechts wegen mit dessen Verurteilung wegen eines Verbrechens im Jahr 1988 einhergegangenen Verlusts des Wahlrechts erfolgte.
22 Wie die französische Regierung in ihren schriftlichen und mündlichen Erklärungen vor dem Gerichtshof erläutert hat, wurde die strafrechtliche Regelung der Nebenfolge 1994 im Zuge der Reform des Code pénal abgeschafft. Auf das Wahlrecht von Herrn Delvigne wirkte sich diese Gesetzesänderung jedoch nicht aus, da der Verlust seines Wahlrechts gemäß den Art. L 2 und L 6 des Code électoral in Verbindung mit Art. 370 des Gesetzes vom 16. Dezember 1992 in geänderter Fassung bestehen bleibt.
23 Dem vorlegenden Gericht geht es mit seinen Fragen, die zusammen zu prüfen sind, also um eine Auslegung der Art. 39 und 49 Abs. 1 Satz 3 der Charta, und zwar im Hinblick darauf, ob mit ihnen der Verlust des Wahlrechts von Herrn Delvigne gemäß den Art. L 2 und L 6 des Code électoral in Verbindung mit Art. 370 des Gesetzes vom 16. Dezember 1992 in geänderter Fassung, aufgrund deren Herr Delvigne im Wählerverzeichnis gestrichen wurde, vereinbar ist.
Zur Zuständigkeit des Gerichtshofs
24 Die französische und die spanische Regierung sowie die Regierung des Vereinigten Königreichs erheben die Einrede, der Gerichtshof sei für die Beantwortung der Vorlagefragen nicht zuständig, da die nationalen Rechtsvorschriften, um die es im Ausgangsverfahren gehe, außerhalb des Anwendungsbereichs des Unionsrechts lägen. Sie machen insbesondere geltend, das nationale Gericht führe keine Bestimmung des Unionsrechts an, anhand deren sich ein Zusammenhang zwischen den nationalen Rechtsvorschriften und dem Unionsrecht herstellen ließe. Die nationalen Rechtsvorschriften stellten mithin keine Durchführung des Unionsrechts im Sinne von Art. 51 Abs. 1 der Charta dar.
25 Hierzu ist festzustellen, dass der Anwendungsbereich der Charta, was das Handeln der Mitgliedstaaten betrifft, in ihrem Art. 51 Abs. 1 definiert ist. Danach gilt sie für die Mitgliedstaaten ausschließlich bei der Durchführung des Unionsrechts (Urteil Åkerberg Fransson, C‑617/10, EU:C:2013:105, Rn. 17).
26 Art. 51 Abs. 1 der Charta bestätigt die ständige Rechtsprechung des Gerichtshofs, nach der die in der Unionsrechtsordnung garantierten Grundrechte in allen unionsrechtlich geregelten Fallgestaltungen, aber nicht außerhalb derselben Anwendung finden (vgl. Urteile Åkerberg Fransson, C‑617/10, EU:C:2013:105, Rn. 19, und Torralbo Marcos, C‑265/13, EU:C:2014:187, Rn. 29).
27 Wird eine rechtliche Situation nicht vom Unionsrecht erfasst, ist der Gerichtshof also nicht zuständig, um über sie zu entscheiden, und die möglicherweise angeführten Bestimmungen der Charta können als solche keine entsprechende Zuständigkeit begründen (vgl. Urteile Åkerberg Fransson, C‑617/10, EU:C:2013:105, Rn. 22, und Torralbo Marcos, C‑265/13, EU:C:2014:187, Rn. 30 und die dort angeführte Rechtsprechung).
28 Somit ist zu prüfen, ob der Fall eines Unionsbürgers, der wie Herr Delvigne durch eine Entscheidung der Behörden eines Mitgliedstaats im Wählerverzeichnis gestrichen wird, so dass er sein Wahlrecht für die Wahlen zum Europäischen Parlament verliert, in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fällt.
29 Hierzu sieht Art. 7 des Akts von 1976 vor, dass sich das Wahlverfahren vorbehaltlich der Vorschriften dieses Akts in jedem Mitgliedstaat nach den innerstaatlichen Vorschriften bestimmt.
30 Im vorliegenden Fall wurde Herr Delvigne im Wählerverzeichnis gestrichen, weil er wegen seiner im Jahr 1988 wegen eines schweren Verbrechens erfolgten Verurteilung zu den Personen gehört, die nach den Bestimmungen des Code électoral in Verbindung mit Art. 370 des Gesetzes vom 16. Dezember 1992 in geänderter Fassung auf nationaler Ebene nicht die Voraussetzungen der Wahlberechtigung erfüllen. Wie das Parlament in seinen Erklärungen hervorgehoben hat, verweist Art. 2 des gemäß dem Akt von 1976 erlassenen Gesetzes vom 7. Juli 1977 betreffend die Wahl der Abgeordneten des Europäischen Parlaments speziell hinsichtlich des Wahlrechts für diese Wahl aber ausdrücklich auf die genannten Voraussetzungen.
31 Zwar hat der Gerichtshof zu den Personen, die das aktive Wahlrecht für die Wahlen zum Europäischen Parlament haben, in den Urteilen Spanien/Vereinigtes Königreich (C‑145/04, EU:C:2006:543, Rn. 70 und 78) sowie Eman und Sevinger (C‑300/04, EU:C:2006:545, Rn. 43 und 45) entschieden, dass Art. 1 Abs. 3 und Art. 8 des Akts von 1976 nicht ausdrücklich und genau bestimmen, wer dieses Recht hat, so dass beim derzeitigen Stand des Unionsrechts die einzelnen Mitgliedstaaten dafür zuständig sind, unter Beachtung des Unionsrechts die Personen zu bestimmen, denen es zusteht.
32 Jedoch sind die Mitgliedstaaten, wie die deutsche Regierung, das Parlament und die Europäische Kommission in ihren Erklärungen geltend gemacht haben, bei der Ausübung dieser Zuständigkeit gemäß Art. 1 Abs. 3 des Akts von 1976 in Verbindung mit Art. 14 Abs. 3 EUV verpflichtet, dafür Sorge zu tragen, dass die Wahl der Mitglieder des Europäischen Parlaments allgemein, unmittelbar, frei und geheim erfolgt.
33 Daher liegt, wenn ein Mitgliedstaat im Rahmen der Erfüllung seiner Verpflichtung aus Art. 14 Abs. 3 EUV und Art. 1 Abs. 3 des Akts von 1976 im nationalen Recht vorsieht, dass Unionsbürger, die wie Herr Delvigne vor dem 1. März 1994 rechtskräftig wegen einer Straftat verurteilt wurden, von den Wahlberechtigten bei den Wahlen zum Europäischen Parlament ausgeschlossen sind, eine Durchführung des Rechts der Union im Sinne von Art. 51 Abs. 1 der Charta vor.
34 Folglich ist der Gerichtshof für die Beantwortung der Vorlagefragen zuständig.
Zur Zulässigkeit
35 Die französische Regierung hält die Vorlagefragen für unzulässig, weil die Antworten des Gerichtshofs für die Entscheidung des vorlegenden Gerichts im Ausgangsverfahren nicht erforderlich seien und weil das vorlegende Gericht den tatsächlichen und rechtlichen Kontext der Vorlagefragen nicht hinreichend definiert habe.
36 Hierzu ist festzustellen, dass es nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs im Rahmen der durch Art. 267 AEUV geschaffenen Zusammenarbeit zwischen ihm und den nationalen Gerichten allein Sache des nationalen Gerichts ist, das mit dem Rechtsstreit befasst ist und in dessen Verantwortungsbereich die zu erlassende Entscheidung fällt, im Hinblick auf die Besonderheiten der Rechtssache sowohl die Erforderlichkeit einer Vorabentscheidung für den Erlass seines Urteils als auch die Erheblichkeit der dem Gerichtshof vorzulegenden Fragen zu beurteilen. Daher ist der Gerichtshof grundsätzlich gehalten, über ihm vorgelegte Fragen zu befinden, wenn diese die Auslegung des Unionsrechts betreffen (vgl. u. a. Urteile Kamberaj, C‑571/10, EU:C:2012:233, Rn. 40 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie Gauweiler u. a., C‑62/14, EU:C:2015:400, Rn. 24).
37 Die Zurückweisung des Vorabentscheidungsersuchens eines nationalen Gerichts ist somit nur möglich, wenn offensichtlich ist, dass die erbetene Auslegung des Unionsrechts in keinem Zusammenhang mit der Realität oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits steht, wenn das Problem hypothetischer Natur ist oder wenn der Gerichtshof nicht über die tatsächlichen und rechtlichen Angaben verfügt, die für eine zweckdienliche Beantwortung der ihm vorgelegten Fragen erforderlich sind (vgl. Urteile Kamberaj, C‑571/10, EU:C:2012:233, Rn. 42 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie Gauweiler u. a., C‑62/14, EU:C:2015:400, Rn. 25).
38 Im vorliegenden Fall geht aus den tatsächlichen und rechtlichen Angaben, über die der Gerichtshof verfügt und die auch in den Rn. 22 bis 24 des vorliegenden Urteils wiedergegeben sind, eindeutig hervor, dass das vorlegende Gericht den Gerichtshof um die Auslegung der Art. 39 und 49 der Charta im Hinblick auf die Beurteilung der Vereinbarkeit des nationalen Rechts, auf dessen Grundlage Herr Delvigne im Wählerverzeichnis gestrichen wurde, mit den genannten Bestimmungen der Charta ersucht.
39 Die Vorlagefragen stehen folglich in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits und sind daher zulässig.
Zur Beantwortung der Fragen
40 Zunächst ist festzustellen, dass die Ausübung der durch die Charta anerkannten Rechte, die in den Verträgen geregelt sind, nach Art. 52 Abs. 2 der Charta im Rahmen der in den Verträgen festgelegten Bedingungen und Grenzen erfolgt.
41 Nach den Erläuterungen zur Charta, die gemäß Art. 6 Abs. 1 Unterabs. 3 EUV und Art. 52 Abs. 7 der Charta bei ihrer Auslegung zu berücksichtigen sind, entspricht Art. 39 Abs. 1 der Charta dem Recht, das durch Art. 20 Abs. 2 AEUV garantiert ist, und Art. 39 Abs. 2 der Charta dem Art. 14 Abs. 3 EUV. Ferner heißt es in den Erläuterungen, dass Art. 39 Abs. 2 der Charta die Grundprinzipien für die Durchführung von Wahlen in einem demokratischen System wiedergibt.
42 Zu Art. 20 Abs. 2 Buchst. b AEUV hat der Gerichtshof bereits entschieden, dass sich diese Bestimmung darauf beschränkt, das Verbot der Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit auf die Ausübung des aktiven Wahlrechts bei den Wahlen zum Europäischen Parlament anzuwenden, indem sie vorsieht, dass jeder Unionsbürger mit Wohnsitz in einem Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit er nicht besitzt, in dem Mitgliedstaat, in dem er seinen Wohnsitz hat, das aktive Wahlrecht für die genannten Wahlen besitzt, wobei für ihn dieselben Bedingungen gelten wie für die Angehörigen des betreffenden Staates (vgl. in diesem Sinne Urteil Spanien/Vereinigtes Königreich, C‑145/04, EU:C:2006:543, Rn. 66).
43 Auf den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens ist Art. 39 Abs. 1 der Charta daher nicht anwendbar. Wie aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten ersichtlich, geht es dort nämlich um das aktive Wahlrecht eines Unionsbürgers in dem Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt.
44 Zu Art. 39 Abs. 2 der Charta ist festzustellen, dass in dieser Bestimmung das aktive Wahlrecht der Unionsbürger bei den Wahlen zum Europäischen Parlament gemäß Art. 14 Abs. 3 EUV und Art. 1 Abs. 3 des Akts von 1976 in der Charta Ausdruck gefunden hat, wie sich aus den Erwägungen in Rn. 41 des vorliegenden Urteils ergibt.
45 Der Verlust des aktiven Wahlrechts von Herrn Delvigne gemäß den nationalen Vorschriften, um die es im Ausgangsverfahren geht, stellt aber eindeutig eine Einschränkung der Ausübung des in Art. 39 Abs. 2 der Charta garantierten Rechts dar.
46 Art. 52 Abs. 1 der Charta lässt Einschränkungen der Ausübung von Rechten wie derjenigen zu, die in ihrem Art. 39 Abs. 2 verankert sind, sofern diese Einschränkungen gesetzlich vorgesehen sind, den Wesensgehalt dieser Rechte und Freiheiten achten und unter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit erforderlich sind und den von der Union anerkannten dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen oder den Erfordernissen des Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer tatsächlich entsprechen (vgl. in diesem Sinne Urteile Volker und Markus Schecke und Eifert, C‑92/09 und C‑93/09, EU:C:2010:662, Rn. 50, sowie Lanigan, C‑237/15 PPU, EU:C:2015:474, Rn. 55).
47 Im Ausgangsverfahren ergibt sich der Verlust des aktiven Wahlrechts aus der Anwendung der Bestimmungen des Code électoral in Verbindung mit den Bestimmungen des Code pénal, so dass davon auszugehen ist, dass er gesetzlich vorgesehen ist.
48 Außerdem achtet eine solche Einschränkung den Wesensgehalt des aktiven Wahlrechts gemäß Art. 39 Abs. 2 der Charta. Sie stellt dieses Recht als solches nämlich nicht in Frage, denn sie führt dazu, dass bestimmte Personen unter ganz bestimmten Voraussetzungen wegen ihres Verhaltens von den Wahlberechtigten bei den Wahlen zum Parlament ausgeschlossen werden, und zwar nur, sofern diese Voraussetzungen erfüllt sind.
49 Schließlich ist eine Einschränkung wie die, um die es im Ausgangsverfahren geht, verhältnismäßig. Sie berücksichtigt nämlich Art und Schwere der begangenen Straftat sowie die Dauer der Strafe.
50 Wie die französische Regierung in ihren beim Gerichtshof eingereichten Erklärungen dargelegt hat, galt der bei Herrn Delvigne aufgrund seiner Verurteilung wegen eines schweren Verbrechens zu einer Freiheitsstrafe von zwölf Jahren eingetretene Verlust des aktiven Wahlrechts nämlich nur für Personen, die wegen einer mit Freiheitsstrafe von fünf Jahren bis zu lebenslänglich bedrohten Straftat verurteilt wurden.
51 Die französische Regierung hat ferner darauf hingewiesen, dass für eine Person in der Situation von Herrn Delvigne nach dem nationalen Recht, insbesondere Art. 702‑1 des Code de procédure pénale in geänderter Fassung, die Möglichkeit bestehe, die Aufhebung der Nebenfolge des Verlusts der bürgerlichen Rechte, die zum Verlust seines aktiven Wahlrechts geführt habe, zu beantragen und zu erreichen.
52 Daraus folgt, dass es mit Art. 39 Abs. 2 der Charta vereinbar ist, wenn Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats wie die, um die es im Ausgangsverfahren geht, Personen wie den Kläger des Ausgangsverfahrens, deren Verurteilung wegen eines schweren Verbrechens vor dem 1. März 1994 rechtskräftig geworden ist, von Rechts wegen von den Wahlberechtigten bei den Wahlen zum Europäischen Parlament ausschließen.
53 Nach der in Art. 49 Abs. 1 Satz 3 der Charta enthaltenen Regel der Rückwirkung des milderen Strafgesetzes ist, wenn nach Begehung einer Straftat durch Gesetz eine mildere Strafe eingeführt wird, diese zu verhängen.
54 Wie oben in den Rn. 16 und 22 ausgeführt, wurde im vorliegenden Fall der von Rechts wegen als Nebenfolge mit einer Verurteilung wegen einer Straftat einhergehende Verlust des Wahlrechts im Zuge der Reform des alten Code pénal im Jahr 1994 abgeschafft und durch eine Nebenstrafe ersetzt, die gemäß Art. 131‑26 des neuen Code pénal von einem Gericht im Fall der Verurteilung wegen eines Verbrechens für nicht mehr als zehn Jahre und im Fall der Verurteilung wegen eines Vergehens für nicht mehr als fünf Jahre verhängt werden kann.
55 Auf die Situation von Herrn Delvigne hatte diese Änderung jedoch keinen Einfluss, denn seine vor dem 1. März 1994 erfolgte Verurteilung wegen eines schweren Verbrechens ist nach den Bestimmungen des Code électoral in Verbindung mit Art. 370 des Gesetzes vom 16. Dezember 1992 in geänderter Fassung von Rechts wegen weiterhin mit dem Verlust des aktiven Wahlrechts für unbestimmte Zeit verbunden. Die französische Regierung hat in der mündlichen Verhandlung erläutert, dass die Aufrechterhaltung der Wirkungen vor dem 1. März 1994 rechtskräftig gewordener Verurteilungen damit begründet worden sei, dass der nationale Gesetzgeber habe verhindern wollen, dass der mit einer Verurteilung wegen einer Straftat einhergehende Verlust des aktiven Wahlrechts mit dem Inkrafttreten des neuen Code pénal sofort automatisch entfalle, obwohl darin der Verlust des aktiven Wahlrechts in Gestalt einer Nebenstrafe weiterhin vorgesehen sei.
56 Insoweit kann es aber mit der Feststellung sein Bewenden haben, dass die in Art. 49 Abs. 1 Satz 3 der Charta enthaltene Regel der Rückwirkung des milderen Strafgesetzes nationalen Rechtsvorschriften wie denen, um die es im Ausgangsverfahren geht, nicht entgegenstehen kann. Denn wie sich aus dem Wortlaut von Art. 370 des Gesetzes vom 16. Dezember 1992 in geänderter Fassung ergibt, wird mit diesen Rechtsvorschriften der von Rechts wegen mit einer Verurteilung wegen einer Straftat einhergehende Verlust des aktiven Wahlrechts ausschließlich bei rechtskräftigen Verurteilungen beibehalten, die letztinstanzlich unter der Geltung des alten Code pénal ergangen waren.
57 Wie oben in Rn. 51 ausgeführt, sehen die nationalen Rechtsvorschriften für Personen, die ihr Wahlrecht auf diese Weise verloren haben, jedenfalls ausdrücklich die Möglichkeit vor, die Aufhebung des Verbots zu beantragen und zu erreichen. Nach dem Wortlaut von Art. 702‑1 des Code de procédure pénale in geänderter Fassung gilt dies für jede Person, der das Wahlrecht aberkannt wurde, unabhängig davon, ob sie es in Anwendung des alten Code pénal aufgrund einer Verurteilung wegen einer Straftat von Rechts wegen verloren hat oder aufgrund einer gemäß den Bestimmungen des neuen Code pénal von einem Gericht verhängten Nebenstrafe. Die Anrufung eines zuständigen nationalen Gerichts nach dieser Bestimmung durch eine Person, die sich in der Situation von Herrn Delvigne befindet und die Aufhebung eines gemäß den Bestimmungen des alten Code pénal von Rechts wegen mit einer Verurteilung wegen einer Straftat einhergegangenen Verlusts des Wahlrechts begehrt, eröffnet mithin die Möglichkeit, dass ihre individuelle Situation neu bewertet wird, auch hinsichtlich der Dauer des Verlusts des Wahlrechts.
58 Nach alledem ist auf die Vorlagefragen zu antworten, dass die Art. 39 Abs. 2 und 49 Abs. 1 Satz 3 der Charta dahin auszulegen sind, dass sie Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats nicht entgegenstehen, die wie die, um die es im Ausgangsverfahren geht, von den Wahlberechtigten bei den Wahlen zum Europäischen Parlament von Rechts wegen Personen wie Herrn Delvigne ausschließen, deren Verurteilung wegen eines schweren Verbrechens vor dem 1. März 1994 rechtskräftig geworden war.
Kosten
59 Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Große Kammer) für Recht erkannt:
Die Art. 39 Abs. 2 und 49 Abs. 1 Satz 3 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union sind dahin auszulegen, dass sie Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats nicht entgegenstehen, die wie die, um die es im Ausgangsverfahren geht, von den Wahlberechtigten bei den Wahlen zum Europäischen Parlament von Rechts wegen Personen wie Herrn Delvigne ausschließen, deren Verurteilung wegen eines schweren Verbrechens vor dem 1. März 1994 rechtskräftig geworden war.
Unterschriften
(*
) Verfahrenssprache: Französisch.
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Urteil des Gerichtshofes (Große Kammer) vom 14. September 2010.#Akzo Nobel Chemicals Ltd und Akcros Chemicals Ltd gegen Europäische Kommission.#Rechtsmittel - Wettbewerb - Beweisaufnahme - Nachprüfungsbefugnisse der Kommission - Schutz der Vertraulichkeit von Kommunikation - Beschäftigungsverhältnis zwischen einem Rechtsanwalt und einem Unternehmen - Austausch von E-Mails.#Rechtssache C-550/07 P.
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62007CJ0550
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ECLI:EU:C:2010:512
| 2010-09-14T00:00:00 |
Gerichtshof, Kokott
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Sammlung der Rechtsprechung 2010 I-08301
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Rechtssache C-550/07 P
Akzo Nobel Chemicals Ltd
und
Akcros Chemicals Ltd
gegen
Europäische Kommission
„Rechtsmittel – Wettbewerb – Beweisaufnahme – Nachprüfungsbefugnisse der Kommission – Schutz der Vertraulichkeit von Kommunikation – Beschäftigungsverhältnis zwischen einem Rechtsanwalt und einem Unternehmen – Austausch von E-Mails“
Leitsätze des Urteils
1. Rechtsmittel – Rechtsschutzinteresse – Voraussetzung – Rechtsmittel, das geeignet ist, dem Rechtsmittelführer einen Vorteil
zu verschaffen
2. Wettbewerb – Verwaltungsverfahren – Nachprüfungsbefugnisse der Kommission – Befugnis, die Vorlage eines Schriftwechsels zwischen
Rechtsanwalt und Mandant zu fordern – Grenzen – Schutz der Vertraulichkeit einer solchen Kommunikation –Geltungsbereich –
Ausschluss der Kommunikation mit unternehmensangehörigen Syndikusanwälten
3. Unionsrecht – Grundsätze – Gleichbehandlung – Begriff – Grenzen
(Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 20 und 21)
4. Wettbewerb – Verwaltungsverfahren – Nachprüfungsbefugnisse der Kommission – Befugnis, die Vorlage eines Schriftwechsels zwischen
Rechtsanwalt und Mandant zu fordern – Grenzen – Schutz der Vertraulichkeit einer solchen Kommunikation –Geltungsbereich –
Ausschluss der Kommunikation mit unternehmensangehörigen Syndikusanwälten
(Verordnung Nr. 1/2003 des Rates)
5. Unionsrecht – Grundsätze – Verteidigungsrechte – Geltung für Verfahren, die zu Sanktionen führen können
(Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 48, Abs. 2)
6. Wettbewerb – Verwaltungsverfahren – Nachprüfungsbefugnisse der Kommission – Befugnis, die Vorlage eines Schriftwechsels zwischen
Rechtsanwalt und Mandant zu fordern – Grenzen – Schutz der Vertraulichkeit einer solchen Kommunikation –Geltungsbereich –
Ausschluss der Kommunikation mit unternehmensangehörigen Syndikusanwälten
(Art. 101 AEUV und 102 AEUV; Verordnungen Nr. 17 und Nr. 1/2003 des Rates)
7. Unionsrecht – Unmittelbare Wirkung – Individuelle Rechte – Schutz durch die nationalen Gerichte – Gerichtliche Rechtsbehelfe
– Grundsatz der nationalen Verfahrensautonomie
8. Wettbewerb – Verwaltungsverfahren – Nachprüfungsbefugnisse der Kommission – Befugnis, die Vorlage eines Schriftwechsels zwischen
Rechtsanwalt und Mandant zu fordern
(Verordnungen Nr. 17, Art. 14 Abs. 6, und Nr. 1/2003, Art. 20 Abs. 6 des Rates)
9. Europäische Union – Ausschließliche Zuständigkeiten – Für das Funktionieren des Binnenmarkts erforderliche Bestimmungen –
Verfahrensvorschriften auf dem Gebiet des Wettbewerbs – Einbeziehung
(Art. 3 Abs. 1 Buchst. b AEUV, 101 AEUV bis 103 AEUV und 105 AEUV; Verordnungen Nr. 17, Art. 14 und Nr. 1/2003, Art. 20 des
Rates)
1. Das Rechtsschutzinteresse ist eine Zulässigkeitsvoraussetzung, die unverändert bis zum Erlass der gerichtlichen Sachentscheidung
vorliegen muss.
Im Rahmen eines Rechtsmittels besteht das Rechtsschutzinteresse im Übrigen, solange das Rechtsmittel der Partei, die es eingelegt
hat, im Ergebnis einen Vorteil verschaffen kann.
Auf dem Gebiet des Wettbewerbs ist das Interesse eines Unternehmens, gegen eine Entscheidung der Kommission vorzugehen, mit
der ihm die Rückgabe von Schriftstücken und die Vernichtung etwaiger Kopien wegen Verletzung der Vertraulichkeit der Kommunikation
zwischen Rechtsanwalt und Mandant bei Nachprüfungen verweigert wird, zumindest so lange gegeben, wie die Kommission diese
Schriftstücke oder eine Kopie hiervon in Besitz hat. Die etwaige Verletzung der Vertraulichkeit der Kommunikation zwischen
Rechtsanwalt und Mandant tritt bei Nachprüfungen nämlich nicht erst dann ein, wenn sich die Kommission in einer Sachentscheidung
auf ein geschütztes Schriftstück stützt, sondern bereits zu dem Zeitpunkt, zu dem ein Bediensteter der Kommission ein solches
Schriftstück beschlagnahmt.
(vgl. Randnrn. 22-23, 25)
2. Der Schutz der Vertraulichkeit der Kommunikation zwischen Rechtsanwalt und Mandant hängt vom gleichzeitigen Vorliegen zweier
Voraussetzungen ab. Der Schriftwechsel mit dem Rechtsanwalt muss zum einen mit der Ausübung des Rechts des Mandanten auf Verteidigung
in Zusammenhang stehen und zum anderen muss es sich um einen Schriftwechsel handeln, der von unabhängigen Rechtsanwälten ausgeht,
d. h. von Anwälten, die nicht durch einen Dienstvertrag an den Mandanten gebunden sind.
Das Erfordernis der Unabhängigkeit setzt das Fehlen jedes Beschäftigungsverhältnisses zwischen dem Rechtsanwalt und seinem
Mandanten voraus, so dass sich der kraft des Grundsatzes der Vertraulichkeit gewährte Schutz nicht auf den unternehmens- oder
konzerninternen Schriftwechsel mit Syndikusanwälten erstreckt.
Der Begriff der Unabhängigkeit des Rechtsanwalts wird nicht nur positiv, d. h. durch eine Bezugnahme auf die standesrechtlichen
Bindungen, sondern auch negativ, d. h. durch das Fehlen eines Dienst- bzw. Beschäftigungsverhältnisses, bestimmt. Ein Syndikusanwalt
genießt trotz seiner Zulassung als Rechtsanwalt und der damit einhergehenden standesrechtlichen Bindungen nicht denselben
Grad an Unabhängigkeit von seinem Arbeitgeber wie der in einer externen Anwaltskanzlei tätige Rechtsanwalt gegenüber seinen
Mandanten. Unter diesen Umständen kann der Syndikusanwalt etwaige Spannungen zwischen seinen Berufspflichten und den Zielen
seines Mandanten weniger leicht ausräumen als ein externer Anwalt.
Der Syndikusanwalt, über welche Garantien er bei der Ausübung seines Berufs auch immer verfügt, kann deshalb nicht einem externen
Rechtsanwalt gleichgestellt werden, weil er sich in der Situation eines abhängig Beschäftigten befindet, die es naturgemäß
nicht zulässt, dass der Syndikusanwalt von seinem Arbeitgeber verfolgte Geschäftsstrategien außer Acht lässt, und die dadurch
seine Fähigkeit, in beruflicher Unabhängigkeit zu handeln, in Frage stellt.
Hinzu kommt, dass der Syndikusanwalt im Rahmen seines Arbeitsvertrags zur Erfüllung anderer Aufgaben verpflichtet sein kann,
die Auswirkungen auf die Geschäftspolitik des Unternehmens haben und die engen Bindungen des Rechtsanwalts an seinen Arbeitgeber
nur verstärken können.
Demnach genießt der Syndikusanwalt aufgrund sowohl seiner wirtschaftlichen Abhängigkeit als auch der engen Bindungen an seinen
Arbeitgeber keine berufliche Unabhängigkeit, die der eines externen Rechtsanwalts vergleichbar ist.
Da sich der Syndikusanwalt in einer Position befindet, die sich von derjenigen eines externen Rechtsanwalts grundlegend unterscheidet,
so dass die jeweiligen Situationen nicht vergleichbar sind, ergibt sich daraus, dass diese Berufsangehörigen im Hinblick auf
den Schutz der Vertraulichkeit der Kommunikation zwischen Rechtsanwalt und Mandant unterschiedlich behandelt werden, kein
Verstoß gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung.
Selbst wenn die Hinzuziehung von bei dem Unternehmen oder Konzern beschäftigten Syndikusanwälten als von dem Recht, sich beraten,
verteidigen und vertreten zu lassen, umfasst anzusehen sein sollte, schließt dies im Fall des Tätigwerdens von Syndikusanwälten
die Anwendung bestimmter, die Berufsausübung betreffender Beschränkungen und Modalitäten nicht aus, ohne dass dies als Eingriff
in die Verteidigungsrechte anzusehen wäre.
Schließlich läuft der Umstand, dass im Rahmen einer von der Kommission durchgeführten Nachprüfung der Schutz der Kommunikation
auf den Schriftwechsel mit externen Rechtsanwälten beschränkt ist, dem Grundsatz der Rechtssicherheit nicht zuwider.
(vgl. Randnrn. 40-41, 44-45, 47-49, 58-59, 95, 106)
3. Der Grundsatz der Gleichbehandlung, der verlangt, dass vergleichbare Sachverhalte nicht unterschiedlich und unterschiedliche
Sachverhalte nicht gleich behandelt werden dürfen, es sei denn, dass eine solche Behandlung objektiv gerechtfertigt ist, ist
ein allgemeiner Grundsatz des Unionsrechts, der in den Art. 20 und 21 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union verankert
ist.
(vgl. Randnrn. 54-55)
4. Der Gerichtshof hat im Urteil vom 18. Mai 1982, AM & S Europe/Kommission (155/79) in Bezug auf den Grundsatz des Schutzes
der Vertraulichkeit in Verfahren der Nachprüfung auf dem Gebiet des Wettbewerbsrechts unterstrichen, dass in diesem Bereich
des Unionsrechts den den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten gemeinsamen Grundsätzen und Konzepten hinsichtlich der Wahrung
der Vertraulichkeit von u. a. bestimmter Kommunikation zwischen Rechtsanwälten und ihren Mandanten Rechnung zu tragen ist.
Zu diesem Zweck hat der Gerichtshof verschiedene nationale Rechtsordnungen miteinander verglichen. Er hat auf der Grundlage
dieses Vergleichs anerkannt, dass die Vertraulichkeit des Schriftverkehrs zwischen Rechtsanwalt und Mandant nach dem Unionsrecht
geschützt werden muss, sofern bestimmte Voraussetzungen erfüllt sind.
In den Jahren seit der Verkündung des Urteils AM & S Europe/Kommission kann in Bezug auf die Rechtsordnungen der 27 Mitgliedstaaten
der Europäischen Union keine überwiegende Tendenz zugunsten des Schutzes der Vertraulichkeit der unternehmens- oder konzerninternen
Kommunikation mit Syndikusanwälten festgestellt werden. Die Rechtslage in den Mitgliedstaaten der Union hat sich daher nicht
in einem Maße entwickelt, das es rechtfertigen würde, eine Weiterentwicklung der Rechtsprechung in dem Sinne zu rechtfertigen,
dass Syndikusanwälten der Schutz der Vertraulichkeit zuerkannt wird.
Durch die Verordnung Nr. 1/2003 zur Durchführung der in den Artikeln 81 und 82 des Vertrags niedergelegten Wettbewerbsregeln
wurden zwar die verfahrensrechtlichen Vorschriften des Wettbewerbsrechts der Union in großer Zahl geändert, doch enthalten
diese Vorschriften keinen Hinweis darauf, dass sie im Hinblick auf das Rechtsanwaltsgeheimnis eine Gleichstellung von selbständig
praktizierenden und angestellten Rechtsanwälten gebieten, da dieser Grundsatz in keiner Weise Gegenstand dieser Verordnung
ist, die darauf gerichtet ist, den Umfang der Nachprüfungsbefugnisse der Kommission, insbesondere was die Unterlagen betrifft,
die Gegenstand solcher Maßnahmen sein können, zu verstärken. Daher kann auch die sich insbesondere aus dieser Verordnung ergebende
Änderung der Verfahrensvorschriften auf dem Gebiet des Wettbewerbsrechts keine Änderung der durch das Urteil AM & S Europe/Kommission
begründeten Rechtsprechung rechtfertigen.
(vgl. Randnrn. 69-70, 74, 76, 83, 86-87)
5. Die Wahrung der Verteidigungsrechte stellt in allen Verfahren, die zu Sanktionen, namentlich zu Geldbußen oder Zwangsgeldern,
führen können, einen fundamentalen Grundsatz des Unionsrechts dar, der in Art. 48 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen
Union verankert worden ist.
(vgl. Randnr. 92)
6. Die Befugnisse, über die die Kommission nach der Verordnung Nr. 17 und nach der Verordnung Nr. 1/2003 zur Durchführung der
in den Artikeln 81 und 82 des Vertrags niedergelegten Wettbewerbsregeln verfügt, unterscheiden sich vom Umfang der Ermittlungen,
die auf nationaler Ebene durchgeführt werden können. Denn beide Verfahrensarten beruhen auf einer Aufteilung der Zuständigkeiten
zwischen den einzelnen Wettbewerbsbehörden. Daher können die Vorschriften über den Schutz der Vertraulichkeit der Kommunikation
zwischen Rechtsanwalt und Mandant nach Maßgabe dieser Zuständigkeitsverteilung und der für sie geltenden Regelungen Unterschiede
aufweisen.
Das Wettbewerbsrecht der Union und das nationale Wettbewerbsrecht beurteilen die restriktiven Praktiken unter unterschiedlichen
Aspekten. Während die Art. 101 AEUV und 102 AEUV solche Praktiken wegen der Hemmnisse erfassen, die sie für den Handel zwischen
Mitgliedstaaten bewirken können, beruhen die innerstaatlichen Wettbewerbsvorschriften auf eigenen Ansätzen und beurteilen
die restriktiven Praktiken allein in diesem Rahmen.
Unter diesen Umständen können Unternehmen, deren Geschäftsräume im Rahmen wettbewerbsrechtlicher Ermittlungen durchsucht werden,
feststellen, welche Rechte und Pflichten ihnen gegenüber den zuständigen Behörden und nach dem geltenden Recht zustehen, wie
beispielsweise bei der Frage nach der Behandlung der Unterlagen, die im Zuge solcher Ermittlungen beschlagnahmt werden können,
oder der Frage, ob sie berechtigt sind, sich auf den Schutz der Vertraulichkeit der Kommunikation mit den Syndikusanwälten
zu berufen oder nicht. Die Unternehmen können sich daher nach Maßgabe der Zuständigkeiten dieser Behörden und ihrer konkreten
Befugnisse hinsichtlich der Beschlagnahme von Unterlagen sachgerecht orientieren.
Der Grundsatz der Rechtssicherheit gebietet daher nicht, auf diese beiden Verfahrensarten in Bezug auf die Vertraulichkeit
der Kommunikation zwischen Rechtsanwalt und Mandant die gleichen Kriterien anzuwenden.
(vgl. Randnrn. 102-105)
7. Im Einklang mit dem Grundsatz der nationalen Verfahrensautonomie ist es mangels einer einschlägigen Unionsregelung Sache des
innerstaatlichen Rechts der einzelnen Mitgliedstaaten, die zuständigen Gerichte zu bestimmen und die Verfahrensmodalitäten
für Klagen zu regeln, die den Schutz der dem Einzelnen aus dem Unionsrecht erwachsenden Rechte gewährleisten sollen.
Gegenüber einer Entscheidung, die ein Unionsorgan auf der Grundlage einer auf der Ebene der Union ergangenen Regelung erlassen
hat, die zudem keinerlei Verweis auf das nationale Recht enthält, ist eine Berufung auf diesen Grundsatz nicht möglich.
(vgl. Randnrn. 113-114)
8. Eine unionsweit einheitliche Auslegung und Anwendung des Grundsatzes der Vertraulichkeit der Kommunikation zwischen Rechtsanwalt
und Mandant ist unerlässlich, damit die Nachprüfungen der Kommission in Kartellverfahren unter Bedingungen stattfinden können,
die die Gleichbehandlung der betreffenden Unternehmen gewährleisten. Wäre dem nicht so, würde durch die Anwendung von Normen
oder Grundsätzen des nationalen Rechts, die zu den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats gehören, die einheitliche Geltung
des Unionsrechts beeinträchtigt. Eine solche einheitliche Auslegung und Anwendung dieser Rechtsordnung kann nicht vom Ort
der Nachprüfungen und etwaigen Besonderheiten des nationalen Rechts abhängen.
Bei Nachprüfungen der Kommission als europäischer Kartellbehörde kommt nationales Recht nur insoweit zum Einsatz, als die
Behörden der Mitgliedstaaten ihr Amtshilfe leisten, insbesondere wenn es darum geht, Widerstand der betroffenen Unternehmen
gemäß Art. 14 Abs. 6 der Verordnung Nr. 17 bzw. Art. 20 Abs. 6 der Verordnung Nr. 1/2003 zur Durchführung der in den Artikeln
81 und 82 des Vertrags niedergelegten Wettbewerbsregeln durch Anwendung unmittelbaren Zwangs zu überwinden. Hingegen bestimmt
sich allein nach Unionsrecht, welche Schriftstücke und Unterlagen die Kommission im Rahmen ihrer kartellrechtlichen Durchsuchungen
prüfen und kopieren darf.
(vgl. Randnrn. 115, 119)
9. Die wettbewerbsrechtlichen Verfahrensvorschriften, wie sie in Art. 14 der Verordnung Nr. 17 und in Art. 20 der Verordnung
Nr. 1/2003 zur Durchführung der in den Artikeln 81 und 82 des Vertrags niedergelegten Wettbewerbsregeln geregelt sind, gehören
zu den für das Funktionieren des Binnenmarkts erforderlichen Bestimmungen, deren Erlass in die der Union durch Art. 3 Abs. 1
Buchst. b AEUV übertragene ausschließliche Zuständigkeit fällt.
Nach Art. 103 AEUV ist es Sache der Union, die zweckdienlichen Verordnungen oder Richtlinien zur Verwirklichung der in den
Art. 101 AEUV und 102 AEUV niedergelegten Grundsätze betreffend die für die Unternehmen geltenden Wettbewerbsregeln zu beschließen.
Diese Zuständigkeit soll u. a. die Beachtung der in diesen Artikeln genannten Verbote durch die Einführung von Geldbußen und
Zwangsgeldern gewährleisten und die Aufgaben der Kommission bei der Anwendung dieser Vorschriften abgrenzen.
In diesem Zusammenhang sieht Art. 105 AEUV vor, dass die Kommission auf die Verwirklichung der in den Art. 101 AEUV und 102
AEUV niedergelegten Grundsätze achtet und die Fälle untersucht, in denen Zuwiderhandlungen vermutet werden.
Gegenüber den Nachprüfungsbefugnissen der Kommission auf dem Gebiet des Wettbewerbs ist eine Berufung auf den Grundsatz der
begrenzten Einzelermächtigung daher nicht möglich.
(vgl. Randnrn. 116-118, 120)
URTEIL DES GERICHTSHOFS (Große Kammer)
14. September 2010(*)
„Rechtsmittel – Wettbewerb – Beweisaufnahme – Nachprüfungsbefugnisse der Kommission – Schutz der Vertraulichkeit von Kommunikation – Beschäftigungsverhältnis zwischen einem Rechtsanwalt und einem Unternehmen – Austausch von E-Mails“
In der Rechtssache C‑550/07 P
betreffend ein Rechtsmittel nach Art. 56 der Satzung des Gerichtshofs, eingelegt am 30. November 2007,
Akzo Nobel Chemicals Ltd mit Sitz in Hersham (Vereinigtes Königreich),
Akcros Chemicals Ltd mit Sitz in Hersham,
Prozessbevollmächtigte: M. Mollica, avocate, dann M. van der Woude, avocat, und C. Swaak, advocaat,
Rechtsmittelführerinnen,
unterstützt durch
Vereinigtes Königreich Großbritannien und Nordirland, vertreten durch V. Jackson und E. Jenkinson als Bevollmächtigte im Beistand von M. Hoskins, Barrister,
Irland, vertreten durch D. O’Hagan als Bevollmächtigten im Beistand von M. Collins, SC, Zustellungsanschrift in Luxemburg,
Königreich der Niederlande, vertreten durch C. Wissels, Y. de Vries und M. de Grave als Bevollmächtigte,
Streithelfer im Rechtsmittelverfahren,
andere Verfahrensbeteiligte:
Europäische Kommission, vertreten durch F. Castillo de la Torre und X. Lewis als Bevollmächtigte, Zustellungsanschrift in Luxemburg,
Beklagte im ersten Rechtszug,
Conseil des barreaux européens mit Sitz in Brüssel (Belgien), vertreten durch J. Flynn, QC,
Algemene Raad van de Nederlandse Orde van Advocaten mit Sitz in Den Haag (Niederlande), vertreten durch O. Brouwer und C. Schillemans, advocaten,
European Company Lawyers Association mit Sitz in Brüssel, vertreten durch M. Dolmans und K. Nordlander, avocats, sowie durch J. Temple Lang, Solicitor,
American Corporate Counsel Association (ACCA) – European Chapter mit Sitz in Paris (Frankreich), vertreten durch G. Berrisch, Rechtsanwalt, beauftragt durch D. Hull, Solicitor,
International Bar Association mit Sitz in London (Vereinigtes Königreich), vertreten durch J. Buhart und I. Michou, avocats,
Streithelfer im ersten Rechtszug,
erlässt
DER GERICHTSHOF (Große Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten V. Skouris, der Kammerpräsidenten A. Tizzano, J. N. Cunha Rodrigues, K. Lenaerts, J.‑C. Bonichot,
der Kammerpräsidentin R. Silva de Lapuerta (Berichterstatterin) und des Kammerpräsidenten E. Levits sowie der Richter A. Rosas,
U. Lõhmus, M. Safjan und D. Šváby,
Generalanwältin: J. Kokott,
Kanzler: L. Hewlett, Hauptverwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 9. Februar 2010,
nach Anhörung der Schlussanträge der Generalanwältin in der Sitzung vom 29. April 2010
folgendes
Urteil
1 Mit ihrem Rechtsmittel beantragen die Akzo Nobel Chemicals Ltd (im Folgenden: Akzo) und die Akcros Chemicals Ltd (im Folgenden:
Akcros) die Aufhebung des Urteils des Gerichts erster Instanz der Europäischen Gemeinschaften vom 17. September 2007, Akzo
Nobel Chemicals und Akcros Chemicals/Kommission (T‑125/03 und T‑253/03, im Folgenden: angefochtenes Urteil), insoweit, als
das Gericht den Antrag auf Schutz der Vertraulichkeit des Schriftwechsels mit dem internen Rechtsberater von Akzo zurückgewiesen
hat.
I – Unionsrecht
2 Art. 14 der Verordnung Nr. 17 des Rates vom 6. Februar 1962, Erste Durchführungsverordnung zu den Artikeln [81] und [82] des
Vertrages (ABl. 1962, Nr. 13, S. 204), sieht vor:
„1. Die Kommission kann zur Erfüllung der ihr in Artikel [105 AEUV] und in Vorschriften nach Artikel [103 AEUV] übertragenen Aufgaben
bei Unternehmen und Unternehmensvereinigungen alle erforderlichen Nachprüfungen vornehmen.
Zu diesem Zweck verfügen die beauftragten Bediensteten der Kommission über folgende Befugnisse:
a) die Bücher und sonstigen Geschäftsunterlagen zu prüfen;
b) Abschriften oder Auszüge aus Büchern und Geschäftsunterlagen anzufertigen;
c) mündliche Erklärungen an Ort und Stelle anzufordern;
d) alle Räumlichkeiten, Grundstücke und Transportmittel der Unternehmen zu betreten.
2. Die mit der Nachprüfung beauftragten Bediensteten der Kommission üben ihre Befugnisse unter Vorlage eines schriftlichen Prüfungsauftrags
aus …
3. Unternehmen und Unternehmensvereinigungen sind verpflichtet, die Nachprüfungen zu dulden, welche die Kommission in einer Entscheidung
angeordnet hat. Die Entscheidung bezeichnet den Gegenstand und den Zweck der Nachprüfung, bestimmt den Zeitpunkt des Beginns
der Nachprüfung und weist auf die … Zwangsmaßnahmen sowie auf das Recht hin, vor dem Gerichtshof gegen die Entscheidung Klage
zu erheben.
…“
II – Sachverhalt
3 Im angefochtenen Urteil hat das Gericht den maßgebenden Sachverhalt wie folgt zusammengefasst:
„1 Am 10. Februar 2003 erließ die Kommission die Entscheidung C (2003) 559/4 zur Änderung der Entscheidung C (2003) 85/4 der
Kommission vom 30. Januar 2003, mit denen insbesondere den Unternehmen Akzo … und Akcros … sowie ihren Tochtergesellschaften
aufgegeben wurde, nach Art. 14 Abs. 3 der Verordnung Nr. 17 … angeordnete Nachprüfungen zu dulden, mit denen Beweise für etwaige
wettbewerbswidrige Praktiken beigebracht werden sollten (im Folgenden insgesamt: Nachprüfungsanordnung).
2 Am 12. und 13. Februar 2003 führten Bedienstete der Kommission mit Unterstützung von Vertretern des Office of Fair Trading
(OFT, britische Wettbewerbsbehörde) aufgrund der Nachprüfungsanordnung eine Nachprüfung in den Geschäftsräumen der Klägerinnen
in Eccles, Manchester (Vereinigtes Königreich), durch. Hierbei fertigten die Bediensteten der Kommission Kopien einer größeren
Anzahl von Schriftstücken an.
3 Bei diesen Maßnahmen wiesen die Vertreter der Klägerinnen die Bediensteten der Kommission darauf hin, dass bestimmte Unterlagen
unter den Schutz der Vertraulichkeit der Kommunikation zwischen Rechtsanwalt und Mandant fallen könnten (legal professional
privilege, LPP; Rechtsanwaltsgeheimnis).
4 Die Bediensteten der Kommission wiesen die Vertreter der Klägerinnen sodann darauf hin, dass sie die betreffenden Unterlagen
summarisch durchsehen müssten, um sich ihre eigene Meinung über den möglicherweise erforderlichen Schutz dieser Schriftstücke
zu bilden. Nach längerer Erörterung und nachdem die Bediensteten der Kommission und des OFT die Vertreter der Klägerinnen
auf die Folgen einer Behinderung der Untersuchungsmaßnahmen hingewiesen hatten, wurde beschlossen, dass der für die Nachprüfung
Verantwortliche die betreffenden Unterlagen im Beisein eines Vertreters der Klägerinnen summarisch prüfen solle.
5 Bei der Prüfung der betreffenden Unterlagen entstand Streit über fünf Schriftstücke, die letztlich von der Kommission in zweifacher
Weise behandelt wurden.
…
8 Die dritten streitigen Unterlagen bestehen aus einer Reihe handschriftlicher Notizen des leitenden Geschäftsführers von Akcros …,
die nach Darstellung der Klägerinnen bei Gesprächen mit Angestellten gefertigt und für die Abfassung des maschinengeschriebenen
Vermerks der Serie A verwendet wurden. Die beiden letzten Unterlagen schließlich sind zwei E-Mails zwischen dem leitenden
Geschäftsführer von Akcros … und dem Koordinator von Akzo … für das Wettbewerbsrecht, Herrn S., einem in den Niederlanden
zugelassenen Rechtsanwalt, der zum entscheidungserheblichen Zeitpunkt der Rechtsabteilung von Akzo … angehörte und mithin
im festen Angestelltenverhältnis in diesem Unternehmen stand.
9 Nach Durchsicht der drei letztgenannten Unterlagen gelangte die für die Nachprüfung Verantwortliche nach den Erläuterungen
der Klägerinnen zu dem Schluss, dass diese Unterlagen mit Sicherheit nicht durch die Vertraulichkeit der Kommunikation zwischen
Rechtsanwalt und Mandant geschützt seien. Folglich fertigte sie davon eine Kopie an und gab diese zu den Akten, ohne sie in
einem versiegelten Umschlag getrennt zu halten. Die Klägerinnen ordneten diese drei Unterlagen in die ‚Serie B‘ ein.
10 Am 17. Februar 2003 übermittelten die Klägerinnen der Kommission ein Schreiben mit den Gründen, weshalb ihres Erachtens die
Schriftstücke … der Serie B durch die Vertraulichkeit geschützt sind.
11 Mit Schreiben vom 1. April 2003 teilte die Kommission den Klägerinnen mit, dass deren Argumente im Schreiben vom 17. Februar
2003 sie nicht davon überzeugt hätten, dass die genannten Schriftstücke tatsächlich unter die Vertraulichkeit fielen. Sie
wies indessen darauf hin, dass die Klägerinnen die Möglichkeit hätten, zu diesen ersten Schlussfolgerungen binnen einer Frist
von zwei Wochen Stellung zu nehmen, nach deren Ablauf sie eine endgültige Entscheidung treffen werde.
…
14 Am 8. Mai 2003 erließ die Kommission die Entscheidung C (2003) 1533 final, mit der für die streitigen Unterlagen der Antrag
auf Schutz der Vertraulichkeit der Kommunikation zwischen Rechtsanwalt und Mandant gemäß Art. 14 Abs. 3 der Verordnung Nr. 17
abgelehnt wurde (im Folgenden: Ablehnungsentscheidung vom 8. Mai 2003). In Art. 1 dieser Entscheidung weist die Kommission
den Antrag der Klägerinnen zurück, ihnen die Unterlagen … der Serie B zurückzugeben und die Vernichtung sämtlicher im Besitz
der Kommission befindlicher Kopien dieser Schriftstücke zu bestätigen. …
…
18 Am 8. September 2003 hat die Kommission … auf Anordnung des Präsidenten des Gerichts diesem vertraulich eine Kopie der Schriftstücke
der Serie B … vorgelegt.“
III – Verfahren vor dem Gericht und angefochtenes Urteil
4 Gegenstand der beiden Klagen, die die Klägerinnen am 11. April und 4. Juli 2003 beim Gericht erhoben hatten, waren erstens
ein Antrag auf Nichtigerklärung der Entscheidung C (2003) 559/4 der Kommission vom 10. Februar 2003 und, soweit erforderlich,
der Entscheidung C (2003) 85/4 der Kommission vom 30. Januar 2003, mit denen Akzo und Akcros sowie ihren Tochtergesellschaften
aufgegeben wurde, nach Art. 14 Abs. 3 der Verordnung Nr. 17 angeordnete Nachprüfungen zu dulden (Sache COMP/E-1/38.589), sowie
auf Erteilung einer Anordnung an die Kommission, mit der ihr die Rückgabe bestimmter im Rahmen der besagten Nachprüfung beschlagnahmter
Schriftstücke aufgegeben und die Verwendung ihres Inhalts untersagt wird (Rechtssache T‑125/03), und zweitens ein Antrag auf
Nichtigerklärung der Ablehnungsentscheidung vom 8. Mai 2003 (Rechtssache T‑253/03).
5 Mit dem angefochtenen Urteil hat das Gericht die Klage auf Nichtigerklärung der Nachprüfungsanordnung (Rechtssache T‑125/03)
als unzulässig und die Klage auf Nichtigerklärung der Ablehnungsentscheidung vom 8. Mai 2003 (Rechtssache T‑253/03) als unbegründet
abgewiesen.
IV – Anträge der Verfahrensbeteiligten
6 Akzo und Akcros beantragen,
– das angefochtene Urteil aufzuheben, soweit das Gericht den Antrag auf Schutz des Anwaltsgeheimnisses für den Verkehr mit dem
internen Rechtsberater von Akzo zurückgewiesen hat;
– die Ablehnungsentscheidung vom 8. Mai 2003 für nichtig zu erklären, soweit damit die Rückgabe der (zu den Unterlagen der Serie B
zählenden) E-Mail-Korrespondenz mit dem internen Rechtsberater von Akzo verweigert wird, und
– der Kommission die Kosten des Rechtsmittels und die durch die Klage vor dem Gericht entstandenen Kosten aufzuerlegen, soweit
sie den mit dem vorliegenden Rechtsmittel geltend gemachten Rechtsmittelgrund betreffen.
7 Der Conseil des barreaux européens, Streithelfer im ersten Rechtszug, beantragt,
– das angefochtene Urteil aufzuheben, soweit das Gericht es abgelehnt hat, der Kommunikation zwischen Akzo und Herrn S. den
Schutz der Vertraulichkeit zugutekommen zu lassen, und die Ablehnungsentscheidung vom 8. Mai 2003 insoweit für nichtig zu
erklären oder, hilfsweise, die Sache, sollte der Gerichtshof der Auffassung sein, dass sie hinsichtlich der Klage nicht entscheidungsreif
sei, an das Gericht zurückzuverweisen und
– der Kommission die ihm im Rechtsmittelverfahren und im Verfahren vor dem Gericht entstandenen Kosten aufzuerlegen, soweit
sie die mit dem Rechtsmittel aufgeworfenen Fragen betreffen.
8 Der Algemene Raad van de Nederlandse Orde van Advocaten, Streithelfer im ersten Rechtszug, beantragt,
– das angefochtene Urteil aufzuheben, soweit das Gericht den von Akzo geltend gemachten Klagegrund des fehlenden Schutzes zweier
zwischen dem leitenden Geschäftsführer von Akcros und dem bei Akzo angestellten Rechtsanwalt gewechselter E‑Mails durch den
gemeinschaftsrechtlichen Grundsatz des Schutzes des Geheimnisses der Kommunikation zwischen Rechtsanwalt und Mandant wegen
des Beschäftigungsverhältnisses zwischen diesem angestellten Rechtsanwalt und Akzo zurückgewiesen hat;
– der Kommission die ihm im Verfahren vor dem Gericht und in diesem Rechtsmittelverfahren entstandenen Kosten aufzuerlegen.
9 Die European Company Lawyers Association, Streithelferin im ersten Rechtszug, beantragt,
– das angefochtene Urteil aufzuheben, soweit das Gericht zu dem Ergebnis gelangt ist, dass der Kommunikationsaustausch zwischen
Akcros und dem Mitglied der Rechtsabteilung von Akzo nicht dem Privileg der Vertraulichkeit der Kommunikation unterlag;
– der Kommission die Erstattung der von ihr verauslagten Kosten aufzuerlegen.
10 Die American Corporate Counsel Association (ACCA) – European Chapter, Streithelferin im ersten Rechtszug, beantragt,
– das angefochtene Urteil aufzuheben, soweit das Gericht den Antrag auf Schutz des Geheimnisses der E-Mail-Korrespondenz mit
dem internen Rechtsberater von Akzo (Teil der Unterlagen der Serie B) zurückgewiesen hat;
– die Ablehnungsentscheidung vom 8. Mai 2003 für nichtig zu erklären, soweit damit die Rückgabe der Kopie dieser E-Mail-Korrespondenz
an die Rechtsmittelführerinnen verweigert wird, oder, hilfsweise, die Sache an das Gericht zurückzuverweisen und
– der Kommission die Kosten des Rechtsmittels und des Verfahrens vor dem Gericht aufzuerlegen, soweit sie den mit dem vorliegenden
Rechtsmittel geltend gemachten Rechtsmittelgrund betreffen.
11 Die International Bar Association, Streithelferin im ersten Rechtszug, beantragt,
– das angefochtene Urteil aufzuheben, soweit mit ihm den zwischen Akzo und Herrn S. gewechselten E‑Mails der Serie B der Schutz
der Vertraulichkeit vorenthalten wird, und
– der Kommission die der International Bar Association im Rechtsmittelverfahren und im Verfahren vor dem Gericht entstandenen
Kosten aufzuerlegen, soweit sie die im Rahmen des Rechtsmittels geprüften Fragen betreffen.
12 Das Vereinigte Königreich Großbritannien und Nordirland sowie Irland und das Königreich der Niederlande, Streithelfer im Rechtsmittelverfahren,
schließen sich den Anträgen von Akzo und Akcros an.
13 Die Kommission beantragt,
– das Rechtsmittel zurückzuweisen und
– den Rechtsmittelführerinnen die Kosten aufzuerlegen.
V – Zum Rechtsmittel
A – Zum Gegenstand des Rechtsmittels
14 Das Rechtsmittel betrifft ausschließlich einen Teil der Unterlagen der Serie B, nämlich die beiden zwischen dem leitenden
Geschäftsführer von Akcros und Herrn S. gewechselten E‑Mails. Der Letztgenannte war zu dem Zeitpunkt, zu dem die Nachprüfungen
in den Geschäftsräumen der Rechtsmittelführerinnen im Vereinigten Königreich durchgeführt wurden, in der Rechtsabteilung von
Akzo, einer Gesellschaft britischen Rechts, beschäftigt und als Rechtsanwalt in den Niederlanden zugelassen. Die Kommission
hat die Kopien dieser E-Mails zu den Akten gegeben.
15 Die Kommission hat von den Rechtsmittelführerinnen unwidersprochen vorgetragen, dass sie sich in ihrer Entscheidung vom 11.
November 2009, mit der sie in dem Verfahren, das Anlass zu den im Jahr 2003 in den Geschäftsräumen von Akzo und Akcros durchgeführten
Nachprüfungen gegeben hatte (Verfahren COMP/38.589 – Wärmestabilisatoren; SEC[2009] 1559 und SEC[2009] 1560), Geldbußen verhängt
habe, nicht auf die beiden streitigen E-Mails gestützt habe. Auch der Behauptung der Kommission, dass es hinsichtlich dieser
E-Mails keinen Informationsaustausch mit den nationalen Wettbewerbsbehörden gegeben habe, ist nicht widersprochen worden.
B – Zum Rechtsschutzinteresse der Rechtsmittelführerinnen
1. Vorbringen der Verfahrensbeteiligten
16 Die Kommission wirft zunächst die Frage nach dem Rechtsschutzinteresse von Akzo und Akcros auf. Die beiden E-Mails erfüllten
nämlich nicht die in den Randnrn. 21 und 23 des Urteils vom 18. Mai 1982, AM & S Europe/Kommission (155/79, Slg. 1982, 1575),
genannte erste Voraussetzung für die Vertraulichkeit der Kommunikation zwischen Rechtsanwalt und Mandant, dass eine Rechtsauskunft
im Rahmen der Ausübung der Verteidigungsrechte erbeten und erteilt werde. Die erste E‑Mail sei nur eine Bitte um Anmerkungen
zum Entwurf eines an einen Dritten zu sendenden Schreibens. Die zweite E‑Mail enthalte einfache Formulierungsänderungen.
17 Dementsprechend könnten die beiden Schriftstücke jedenfalls nicht als juristische Korrespondenz zwischen Rechtsanwalt und
Mandant geschützt sein.
18 Zudem behaupteten die Rechtsmittelführerinnen nicht, dass die streitigen Schriftstücke die in den Randnrn. 21 und 23 des Urteils
AM & S Europe/Kommission genannte erste Voraussetzung für die Vertraulichkeit der Kommunikation zwischen Rechtsanwalt und
Mandant erfüllten.
19 Schließlich sei das Rechtsschutzinteresse von Akzo und Akcros spätestens am Tag des Erlasses der Entscheidung vom 11. November
2009, mit der die Kommission Geldbußen gegen sie verhängt habe, erloschen.
20 Akzo und Akcros erwidern, dass das Gericht den Inhalt der beiden E-Mails zu keinem Zeitpunkt untersucht habe. Es habe die
Ablehnungsentscheidung vom 8. Mai 2003 dadurch bestätigt, dass es entschieden habe, dass der Grundsatz der Vertraulichkeit
auf die in Rede stehenden Unterlagen deshalb keine Anwendung finden könne, weil sie keine Kommunikation mit einem externen
Rechtsanwalt darstellten. Im Übrigen sei mit dieser Entscheidung der Schutz der Vertraulichkeit nicht des Inhalts der in Rede
stehenden Schriftstücke wegen, sondern ausschließlich auf der Grundlage des Status des betreffenden Rechtsanwalts ausgeschlossen
worden.
21 Sie schließen daraus, dass die Frage, ob die beiden E‑Mails die erste Voraussetzung erfüllten, die für die Gewährung des Schutzes
nach dem Grundsatz der Vertraulichkeit erforderlich sei, eine Tatfrage sei, über die noch nicht entschieden worden sei. Diese
Frage könne im vorliegenden Verfahren nicht entschieden werden, da dieses auf Rechtsfragen beschränkt sei.
2. Würdigung durch den Gerichtshof
22 Zu der von der Kommission erhobenen Einrede ist darauf hinzuweisen, dass das Rechtsschutzinteresse eine Zulässigkeitsvoraussetzung
ist, die unverändert bis zum Erlass der gerichtlichen Sachentscheidung vorliegen muss (vgl. Urteil vom 17. April 2008, Flaherty
u. a./Kommission, C‑373/06 P, C‑379/06 P und C‑382/06 P, Slg. 2008, I‑2649, Randnr. 25 und die dort angeführte Rechtsprechung).
23 Der Gerichtshof hat weiter ausgeführt, dass das Rechtsschutzinteresse besteht, solange das Rechtsmittel der Partei, die es
eingelegt hat, im Ergebnis einen Vorteil verschaffen kann (vgl. Urteile vom 3. April 2003, Parlament/Samper, C‑277/01 P, Slg.
2003, I‑3019, Randnr. 28, und vom 7. Juni 2007, Wunenburger/Kommission, C‑362/05 P, Slg. 2007, I‑4333, Randnr. 42, sowie Beschluss
vom 8. April 2008, Saint-Gobain Glass Deutschland/Kommission, C‑503/07 P, Slg. 2008, I‑2217, Randnr. 48 und die dort angeführte
Rechtsprechung).
24 Im vorliegenden Rechtsmittelverfahren ist das Vorbringen der Kommission, für die beiden zwischen dem leitenden Geschäftsführer
von Akcros und Herrn S. gewechselten E‑Mails könne die Vertraulichkeit der Kommunikation zwischen Rechtsanwalt und Mandant
offensichtlich nicht in Anspruch genommen werden, nicht geeignet, das Rechtsschutzinteresse der Rechtsmittelführerinnen zu
beeinträchtigen. Diese Argumentation, mit der dargetan werden soll, dass das Gericht zu Recht entschieden habe, dass der Schutz
der Vertraulichkeit zwischen Rechtsanwalt und Mandant nicht für die beiden fraglichen E‑Mails in Anspruch genommen werden
könne, betrifft nämlich nicht die Zulässigkeit, sondern die Begründetheit des Rechtsmittels.
25 Zu der von der Kommission vorgetragenen Erwägung, der Erlass der Entscheidung vom 11. November 2009 habe das Interesse der
Rechtsmittelführerinnen an der Fortsetzung des vorliegenden Verfahrens entfallen lassen, ist festzustellen, dass sich die
Kommission mit der Ablehnungsentscheidung vom 8. Mai 2003, die Gegenstand des angefochtenen Urteils ist, geweigert hat, dem
Antrag der Rechtsmittelführerinnen stattzugeben, der u. a. darauf gerichtet war, ihnen die beiden zwischen dem leitenden Geschäftsführer
von Akcros und Herrn S. gewechselten E-Mails zurückzugeben, sowie darauf, dass die Kommission die Vernichtung aller in ihrem
Besitz befindlichen Kopien dieser Schriftstücke bestätigt. Die etwaige Verletzung der Vertraulichkeit der Kommunikation zwischen
Rechtsanwalt und Mandant tritt bei Nachprüfungen nicht erst dann ein, wenn sich die Kommission in einer Sachentscheidung auf
ein geschütztes Schriftstück stützt, sondern bereits zu dem Zeitpunkt, zu dem ein Bediensteter der Kommission ein solches
Schriftstück beschlagnahmt. Demnach ist das Rechtsschutzinteresse der Rechtsmittelführerinnen zumindest so lange gegeben,
wie die Kommission die von der Ablehnungsentscheidung vom 8. Mai 2003 erfassten Schriftstücke oder eine Kopie hiervon in Besitz
hat.
26 Unter diesen Umständen ist im Rahmen des vorliegenden Verfahrens ein Rechtsschutzinteresse von Akzo und Akcros gegeben.
C – Zur Begründetheit
27 Akzo und Akcros stützen ihr Rechtsmittel auf drei Rechtsmittelgründe, von denen der erste als Hauptrüge und der zweite und
der dritte als Hilfsrügen geltend gemacht werden.
28 Sämtliche Rechtsmittelgründe sind gegen die Randnrn. 165 bis 180 des angefochtenen Urteils gerichtet. Die Rechtsmittelführerinnen
machen im Wesentlichen geltend, dass das Gericht es zu Unrecht abgelehnt habe, den beiden mit Herrn S. gewechselten E-Mails
den Schutz der Vertraulichkeit der Kommunikation zwischen Rechtsanwalt und Mandant zugutekommen zu lassen.
29 Zum Vorbringen der European Company Lawyers Association, Streithelferin im ersten Rechtszug, und Irlands, Streithelfer vor
dem Gerichtshof, die geltend gemacht haben, dass das Gericht durch das angefochtene Urteil das Eigentumsrecht und die Berufsfreiheit
verletzt habe, ist festzustellen, dass diese Gründe weder von Akzo noch von Akcros im ersten Rechtszug vorgetragen worden
sind. Sie sind daher als unzulässig zurückzuweisen.
1. Zum ersten Rechtsmittelgrund
30 Akzo und Akcros führen zur Begründung des ersten Rechtsmittelgrundes zwei Argumente an. Erstens habe das Gericht die zweite
Voraussetzung des Grundsatzes der Vertraulichkeit, wie sie im Urteil AM & S Europe/Kommission dargelegt sei, in Bezug auf
den beruflichen Status des Rechtsanwalts, mit dem die Kommunikation stattgefunden habe, falsch ausgelegt, und zweitens habe
es durch diese Auslegung den Grundsatz der Gleichbehandlung verletzt.
31 Die Kommission hält den Rechtsmittelgrund für unbegründet.
a) Zum ersten Argument
i) Vorbringen der Verfahrensbeteiligten
32 Akzo und Akcros tragen vor, das Gericht habe in den Randnrn. 166 und 167 des angefochtenen Urteils in Bezug auf die zweite
Voraussetzung des Grundsatzes der Vertraulichkeit betreffend den Status des Rechtsanwalts zu Unrecht eine „am Wortlaut haftende
und unvollständige“ Auslegung des Urteils AM & S Europe/Kommission vorgenommen. Es hätte diese Voraussetzung „teleologisch“
auslegen und zu dem Ergebnis gelangen müssen, dass der streitige Schriftwechsel durch den genannten Grundsatz geschützt sei.
33 Die Zusammenschau der Randnrn. 21 und 24 des Urteils AM & S Europe/Kommission zeige, dass der Gerichtshof das Vorliegen eines
Beschäftigungsverhältnisses nicht mit fehlender Unabhängigkeit des Rechtsanwalts gleichgesetzt habe.
34 Akzo und Akcros sowie eine Reihe von Streithelfern betonen, dass das Kriterium der anwaltlichen Unabhängigkeit nicht so ausgelegt
werden dürfe, dass die Syndikusanwälte ausgeschlossen seien. Ein als Rechtsanwalt zugelassener unternehmensangehöriger Jurist
sei nämlich allein aufgrund seiner Berufs- und Standespflichten genauso unabhängig wie ein externer Rechtsanwalt. Außerdem
komme den Garantien für die Unabhängigkeit, die ein „advocaat in dienstbetrekking“, d. h. ein in einem Beschäftigungsverhältnis
nach niederländischem Recht stehender Rechtsanwalt, genieße, besondere Bedeutung zu.
35 Die im vorliegenden Fall geltenden Berufs- und Standesregeln machten das Beschäftigungsverhältnis mit dem Begriff des unabhängigen
Rechtsanwalts vereinbar. Der Vertrag, der Herrn S. an die Gesellschaft binde, bei der er angestellt sei, sehe nämlich vor,
dass die Gesellschaft die unabhängige Ausübung der Aufgaben des Rechtsanwalts zu achten und sich jeder Handlung zu enthalten
habe, die Einfluss auf diese Aufgabe haben könnte. Aufgrund dieses Vertrags sei Herr S. auch berechtigt, alle ihm durch die
niederländische Rechtsanwaltskammer auferlegten beruflichen Verpflichtungen zu erfüllen.
36 Ferner unterliege der angestellte Rechtsanwalt, um den es sich in der vorliegenden Rechtssache handele, einem Verhaltenskodex
und der Aufsicht durch die niederländische Rechtsanwaltskammer. Außerdem würden durch Rechtsvorschriften eine Reihe zusätzlicher
Garantien festgelegt, die darauf gerichtet seien, etwaige Meinungsverschiedenheiten zwischen dem Unternehmen und seinem Syndikusanwalt
in unparteiischer Weise auszuräumen.
37 Nach Ansicht der Kommission hat das Gericht den Grundsatz der Vertraulichkeit richtig angewandt. Den Randnrn. 24 bis 26 des
Urteils AM & S Europe/Kommission sei nämlich zu entnehmen, dass das erforderliche grundlegende Merkmal dafür, dass die Kommunikation
mit einem Rechtsanwalt nach diesem Grundsatz geschützt werden könne, darin bestehe, dass der Rechtsanwalt kein Angestellter
des Mandanten sei.
38 Hätte der Gerichtshof gewollt, dass der Grundsatz der Vertraulichkeit auch für die Kommunikation mit Rechtsanwälten gelte,
die bei demjenigen, der sie um Auskunft ersuche, beschäftigt seien, hätte er daher den Anwendungsbereich der zweiten Voraussetzung,
wie sie im Urteil AM & S Europe/Kommission dargelegt sei, nicht begrenzt.
39 Im Urteil AM & S Europe/Kommission habe der Gerichtshof die Rechtsanwälte in eine der beiden folgenden Kategorien eingestuft,
nämlich zum einen die abhängig beschäftigten und angestellten Rechtsanwälte und zum anderen die Rechtsanwälte, die nicht durch
einen Arbeitsvertrag gebunden seien. Lediglich die von Rechtsanwälten der zweiten Kategorie verfassten Schriftstücke seien
als durch den Grundsatz der Vertraulichkeit geschützt angesehen worden.
ii) Würdigung durch den Gerichtshof
40 Im Urteil AM & S Europe/Kommission hat der Gerichtshof unter Berücksichtigung der damals in den internen Rechtsordnungen der
Mitgliedstaaten bestehenden gemeinsamen Kriterien und vergleichbaren Voraussetzungen in Randnr. 21 dieses Urteils entschieden,
dass die Vertraulichkeit der Kommunikation zwischen Rechtsanwalt und Mandant auf der Ebene der Europäischen Gemeinschaft geschützt
werden muss. Er hat dort jedoch präzisiert, dass die Gewährung dieses Schutzes vom gleichzeitigen Vorliegen zweier Voraussetzungen
abhängt.
41 Der Gerichtshof hat insoweit betont, dass der Schriftwechsel mit dem Rechtsanwalt zum einen mit der Ausübung des „Rechts des
Mandanten auf Verteidigung“ in Zusammenhang stehen und es sich zum anderen um einen Schriftwechsel handeln muss, der von „unabhängigen
Rechtsanwälten“ ausgeht, d. h. von „Anwälten …, die nicht durch einen Dienstvertrag an den Mandanten gebunden sind“.
42 Zu dieser zweiten Voraussetzung hat der Gerichtshof in Randnr. 24 des Urteils AM & S Europe/Kommission ausgeführt, dass die
Anforderung, dass der Rechtsanwalt einen unabhängigen Status haben muss, damit der von ihm geführte Schriftwechsel schutzwürdig
ist, auf der spezifischen Vorstellung von der Funktion des Anwalts als eines Mitgestalters der Rechtspflege beruht, der in
völliger Unabhängigkeit und in deren vorrangigem Interesse dem Mandanten die rechtliche Unterstützung zu gewähren hat, die
dieser benötigt. Diesem Schutz stehen auf der anderen Seite die Berufs‑ und Standespflichten gegenüber, die im allgemeinen
Interesse festgelegt und kontrolliert werden. Eine solche Konzeption entspricht, wie der Gerichtshof in dieser Randnummer
jenes Urteils weiter ausgeführt hat, den gemeinsamen Rechtstraditionen der Mitgliedstaaten; sie hat auch in der Unionsrechtsordnung
ihren Niederschlag gefunden, wie sich aus Art. 19 der Satzung des Gerichtshofs ergibt.
43 Auf der Grundlage dieser Erwägungen hat der Gerichtshof in Randnr. 27 jenes Urteils geschlossen, dass der Schriftverkehr,
dem der Schutz der Vertraulichkeit zugutekommen kann, mit einem „unabhängigen, d. h. nicht durch ein Beschäftigungsverhältnis
an seinen Mandanten gebundenen Rechtsanwalt“ stattfinden muss.
44 Demnach setzt das Erfordernis der Unabhängigkeit das Fehlen jedes Beschäftigungsverhältnisses zwischen dem Rechtsanwalt und
seinem Mandanten voraus, so dass sich der kraft des Grundsatzes der Vertraulichkeit gewährte Schutz nicht auf den unternehmens-
oder konzerninternen Schriftwechsel mit Syndikusanwälten erstreckt.
45 Wie die Generalanwältin in den Nrn. 60 und 61 ihrer Schlussanträge ausgeführt hat, wird nämlich der Begriff der Unabhängigkeit
des Rechtsanwalts nicht nur positiv, d. h. durch eine Bezugnahme auf die standesrechtlichen Bindungen, sondern auch negativ,
d. h. durch das Fehlen eines Dienst- bzw. Beschäftigungsverhältnisses, bestimmt. Ein Syndikusanwalt genießt trotz seiner Zulassung
als Rechtsanwalt und der damit einhergehenden standesrechtlichen Bindungen nicht denselben Grad an Unabhängigkeit von seinem
Arbeitgeber wie der in einer externen Anwaltskanzlei tätige Rechtsanwalt gegenüber seinen Mandanten. Unter diesen Umständen
kann der Syndikusanwalt etwaige Spannungen zwischen seinen Berufspflichten und den Zielen seines Mandanten weniger leicht
ausräumen als ein externer Anwalt.
46 Was die Berufsregeln betrifft, die die Rechtsmittelführerinnen herangezogen haben, um die Unabhängigkeit von Herrn S. darzutun,
ist festzustellen, dass die von Akzo und Akcros genannten Regeln der beruflichen Organisation im niederländischen Recht zwar
die Stellung des Syndikusanwalts im Unternehmen stärken können, dass sie aber gleichwohl nicht geeignet sind, eine Unabhängigkeit
zu gewährleisten, die mit der eines externen Rechtsanwalts vergleichbar wäre.
47 Ungeachtet der aufgrund von Sondervorschriften des niederländischen Rechts im vorliegenden Fall geltenden Berufsregelung kann
der Syndikusanwalt, über welche Garantien er bei der Ausübung seines Berufs auch immer verfügt, nämlich deshalb nicht einem
externen Rechtsanwalt gleichgestellt werden, weil er sich in der Situation eines abhängig Beschäftigten befindet, die es naturgemäß
nicht zulässt, dass der Syndikusanwalt von seinem Arbeitgeber verfolgte Geschäftsstrategien außer Acht lässt, und die dadurch
seine Fähigkeit, in beruflicher Unabhängigkeit zu handeln, in Frage stellt.
48 Hinzu kommt, dass der Syndikusanwalt im Rahmen seines Arbeitsvertrags zur Erfüllung anderer Aufgaben verpflichtet sein kann,
etwa, wie im vorliegenden Fall, der des Koordinators für das Wettbewerbsrecht, die Auswirkungen auf die Geschäftspolitik des
Unternehmens haben können. Solche Aufgaben können aber die engen Bindungen des Rechtsanwalts an seinen Arbeitgeber nur verstärken.
49 Demnach genießt der Syndikusanwalt aufgrund sowohl seiner wirtschaftlichen Abhängigkeit als auch der engen Bindungen an seinen
Arbeitgeber keine berufliche Unabhängigkeit, die der eines externen Rechtsanwalts vergleichbar ist.
50 Folglich ist dem Gericht bei der Anwendung der zweiten im Urteil AM & S Europe/Kommission genannten Voraussetzung des Grundsatzes
der Vertraulichkeit kein Rechtsfehler unterlaufen.
51 Dementsprechend kann dem im Rahmen des ersten Rechtsmittelgrundes von Akzo und Akcros vorgetragenen ersten Argument nicht
gefolgt werden.
b) Zum zweiten Argument
i) Vorbringen der Verfahrensbeteiligten
52 Akzo und Akcros tragen vor, das Gericht habe in Randnr. 174 des angefochtenen Urteils zu Unrecht die Rüge zurückgewiesen,
dass die Weigerung, die Kommunikation mit einem Syndikusanwalt gemäß dem Grundsatz der Vertraulichkeit zu schützen, gegen
den Grundsatz der Gleichbehandlung verstoße. Die durch die im vorliegenden Fall geltenden Berufs- und Standespflichten gewährleistete
Unabhängigkeit müsse das grundlegende Kriterium für die Ermittlung der Tragweite dieses Grundsatzes sein. Nach diesem Kriterium
unterscheide sich die Situation der bei einer Kammer oder einer Anwaltsvereinigung zugelassenen Syndikusanwälte nicht von
derjenigen externer Rechtsanwälte.
53 Nach Ansicht der Kommission ist das Gericht in der genannten Randnummer des angefochtenen Urteils zu Recht zu dem Ergebnis
gelangt, dass Syndikusanwälte und externe Anwälte sich offensichtlich in einer unterschiedlichen, insbesondere wegen der personellen,
funktionalen, strukturellen und hierarchischen Zugehörigkeit der Ersteren zum Unternehmen, bei dem sie beschäftigt seien,
nicht vergleichbaren Lage befinden.
ii) Würdigung durch den Gerichtshof
54 Der Grundsatz der Gleichbehandlung ist ein allgemeiner Grundsatz des Unionsrechts, der in den Art. 20 und 21 der Charta der
Grundrechte der Europäischen Union verankert ist.
55 Nach ständiger Rechtsprechung verlangt dieser Grundsatz, dass vergleichbare Sachverhalte nicht unterschiedlich und unterschiedliche
Sachverhalte nicht gleich behandelt werden dürfen, es sei denn, dass eine solche Behandlung objektiv gerechtfertigt ist (vgl.
Urteile vom 10. Januar 2006, IATA und ELFAA, C‑344/04, Slg. 2006, I‑403, Randnr. 95, vom 3. Mai 2007, Advocaten voor de Wereld,
C‑303/05, Slg. 2007, I‑3633, Randnr. 56, und vom 16. Dezember 2008, Arcelor Atlantique et Lorraine u. a., C‑127/07, Slg. 2008,
I‑9895, Randnr. 23).
56 Was die wesentlichen Merkmale der beiden Kategorien von Rechtsanwälten betrifft, nämlich ihren jeweiligen beruflichen Status,
geht aus den Randnrn. 45 bis 49 des vorliegenden Urteils hervor, dass ein angestellter Anwalt ungeachtet seiner etwaigen Zulassung
als Rechtsanwalt und seiner Bindung an eine Reihe standesrechtlicher Regeln nicht denselben Grad an Unabhängigkeit von seinem
Arbeitgeber genießt wie ein in einer externen Anwaltskanzlei tätiger Rechtsanwalt gegenüber seinen Mandanten.
57 Wie die Generalanwältin in Nr. 83 ihrer Schlussanträge ausgeführt hat, wird dieser Unterschied hinsichtlich der Unabhängigkeit
nicht allein deswegen unbeachtlich, weil der nationale Gesetzgeber – im vorliegenden Fall der niederländische – versucht hat,
externe Rechtsanwälte und Syndikusanwälte gleichzustellen. Denn eine solche Gleichstellung bezieht sich allein auf den formalen
Akt der Zulassung eines unternehmensangehörigen Juristen als Rechtsanwalt und auf die standesrechtlichen Bindungen, die für
ihn aus einer solchen Anwaltszulassung folgen. Hingegen ändern diese rechtlichen Rahmenbedingungen nichts an der wirtschaftlichen
Abhängigkeit und an der persönlichen Identifizierung des in einem Beschäftigungsverhältnis stehenden Anwalts mit seinem Unternehmen.
58 Aus diesen Erwägungen folgt, dass sich der Syndikusanwalt in einer Position befindet, die sich von derjenigen eines externen
Rechtsanwalts grundlegend unterscheidet, so dass die jeweiligen Situationen nicht im Sinne der in Randnr. 55 dieses Urteils
angeführten Rechtsprechung vergleichbar sind.
59 Das Gericht ist somit zu Recht zu dem Ergebnis gelangt, dass kein Verstoß gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung festgestellt
werden konnte.
60 Dementsprechend kann auch dem im Rahmen des ersten Rechtsmittelgrundes vorgetragenen zweiten Argument nicht gefolgt werden.
61 Somit ist dieser Rechtsmittelgrund in vollem Umfang zurückzuweisen.
2. Zum zweiten Rechtsmittelgrund
62 Für den Fall, dass der Gerichtshof die Auffassung vertreten sollte, das Gericht habe das Urteil AM & S Europe/Kommission zutreffend
ausgelegt und der Gerichtshof habe mit diesem im Jahr 1982 verkündeten Urteil die Kommunikation mit Rechtsanwälten, die durch
ein Beschäftigungsverhältnis gebunden seien, vom Schutz nach dem Grundsatz der Vertraulichkeit ausschließen wollen, machen
Akzo und Akcros hilfsweise einen zweiten Rechtsmittelgrund geltend, zu dessen Begründung sie zwei, jeweils in zwei Teile untergliederte
Argumente vortragen.
63 Im Rahmen ihres ersten Arguments stützen sich die Rechtsmittelführerinnen, unterstützt durch eine Reihe von Streithelfern,
auf die Entwicklung der nationalen Rechtssysteme auf der einen und die der Unionsrechtsordnung auf der anderen Seite. Mit
ihrem zweiten Argument berufen sich Akzo und Akcros zum einen auf die Verteidigungsrechte und zum anderen auf den Grundsatz
der Rechtssicherheit.
64 Nach Ansicht der Kommission vermag keines der vorgebrachten Argumente den Rechtsmittelgrund zu stützen.
a) Zum ersten Teil des ersten Arguments (Entwicklung der nationalen Rechtssysteme)
i) Vorbringen der Verfahrensbeteiligten
65 Akzo und Akcros machen geltend, dass in Anbetracht der bedeutsamen Entwicklungen „im rechtlichen Umfeld“ seit dem Jahr 1982
das Gericht eine „Neuauslegung“ des Urteils AM & S Europe/Kommission in Bezug auf den Grundsatz der Vertraulichkeit der Kommunikation
zwischen Rechtsanwalt und Mandant hätte vornehmen müssen.
66 Das Gericht habe in den Randnrn. 170 und 171 des angefochtenen Urteils eine Ausdehnung des persönlichen Anwendungsbereichs
des Grundsatzes der Vertraulichkeit zu Unrecht mit der Begründung abgelehnt, dass der Schutz der Vertraulichkeit der Kommunikation
mit unternehmensangehörigen Juristen in den nationalen Rechtsordnungen nicht übereinstimmend und klar anerkannt sei. Trotz
des Fehlens einer einheitlichen Tendenz auf nationaler Ebene könnte das Unionsrecht rechtliche Kriterien für den Schutz der
Verteidigungsrechte festlegen, die einen höheren Rang als die in einigen nationalen Rechtsordnungen festgelegten hätten.
67 Die Kommission bemerkt, dass die Rechtsmittelführerinnen mit dem geltend gemachten Rechtsmittelgrund im Wesentlichen den Gerichtshof
ersuchten, die Rechtsprechung, wie sie sich aus dem Urteil AM & S Europe/Kommission ergebe, zu ändern.
68 Sie stellten nicht die Schlussfolgerung des Gerichts in Frage, wonach es in den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten keine
mehrheitliche Tendenz dahin gebe, dass die Kommunikation mit Syndikusanwälten gemäß dem Grundsatz der Vertraulichkeit geschützt
wäre.
ii) Würdigung durch den Gerichtshof
69 Der Gerichtshof hat bei seinen Ausführungen im Urteil AM & S Europe/Kommission in Bezug auf den Grundsatz des Schutzes der
Vertraulichkeit in Verfahren der Nachprüfung auf dem Gebiet des Wettbewerbsrechts unterstrichen, dass in diesem Bereich des
Unionsrechts den den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten gemeinsamen Grundsätzen und Konzepten hinsichtlich der Wahrung der
Vertraulichkeit von u. a. bestimmter Kommunikation zwischen Rechtsanwälten und ihren Mandanten Rechnung zu tragen ist (vgl.
Randnr. 18 jenes Urteils). Zu diesem Zweck hat der Gerichtshof verschiedene nationale Rechtsordnungen miteinander verglichen.
70 In den Randnrn. 19 und 20 des Urteils AM & S Europe/Kommission hat der Gerichtshof festgestellt, dass der Schutz des Schriftverkehrs
zwischen Rechtsanwalt und Mandant zwar im Grundsatz anerkannt ist, dass es jedoch Unterschiede hinsichtlich seines Geltungsbereichs
und der Kriterien für seine Anwendung in den verschiedenen nationalen Rechtsvorschriften gibt. Der Gerichtshof hat auf der
Grundlage dieses Vergleichs allerdings anerkannt, dass die Vertraulichkeit des Schriftverkehrs zwischen Rechtsanwalt und Mandant
nach dem Unionsrecht geschützt werden muss, sofern die beiden in Randnr. 21 jenes Urteils genannten Voraussetzungen erfüllt
sind.
71 Das Gericht hat in Randnr. 170 des angefochtenen Urteils seinerseits festgestellt, dass zwar die spezielle Anerkennung der
Rolle des unternehmensangehörigen Juristen und der Schutz der Vertraulichkeit der Kommunikation mit diesem im Jahr 2004 verhältnismäßig
stärker verbreitet sei als zur Zeit der Verkündung des Urteils AM & S Europe/Kommission, dass jedoch einheitliche oder eindeutig
mehrheitliche Tendenzen in den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten nicht erkennbar seien.
72 Darüber hinaus ergibt sich aus Randnr. 171 des angefochtenen Urteils, dass nach einer vom Gericht vorgenommenen rechtsvergleichenden
Prüfung noch immer eine große Zahl von Mitgliedstaaten unternehmensangehörige Juristen vom Schutz der Vertraulichkeit der
Kommunikation zwischen Rechtsanwalt und Mandant ausschließen. Zudem können in vielen Mitgliedstaaten unternehmensangehörige
Juristen nicht als Rechtsanwälte zugelassen werden und somit nicht den Rechtsanwaltstatus erlangen.
73 Insoweit haben Akzo und Akcros selbst eingeräumt, dass in den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten keine allgemeine Tendenz
hin zu einer Gleichstellung von Syndikusanwälten und selbständig praktizierenden Rechtsanwälten festgestellt werden könne.
74 Daher kann in Bezug auf die Rechtsordnungen der 27 Mitgliedstaaten der Europäischen Union keine überwiegende Tendenz zugunsten
des Schutzes der Vertraulichkeit der unternehmens- oder konzerninternen Kommunikation mit Syndikusanwälten festgestellt werden.
75 Unter diesen Umständen und entgegen dem, was die Rechtsmittelführerinnen darzutun bestrebt sind, kann die in den Niederlanden
bestehende rechtliche Regelung weder als Indikator für eine Tendenz angesehen werden, die unter den Mitgliedstaaten zunehmend
Bestätigung findet, noch als ein maßgebender Anhaltspunkt dafür, die Tragweite des Grundsatzes der Vertraulichkeit zu ermitteln.
76 Nach Auffassung des Gerichtshofs hat sich die Rechtslage in den Mitgliedstaaten der Union in den Jahren seit der Verkündung
des Urteils AM & S Europe/Kommission nicht in einem Maße entwickelt, das es rechtfertigen würde, eine Weiterentwicklung der
Rechtsprechung in dem Sinne zu rechtfertigen, dass Syndikusanwälten der Schutz der Vertraulichkeit zuerkannt wird.
77 Der erste Teil des ersten Arguments ist daher zurückzuweisen.
b) Zum zweiten Teil des ersten Arguments (Entwicklung der Unionsrechtsordnung)
i) Vorbringen der Verfahrensbeteiligten
78 Akzo und Akcros tragen vor, das Gericht habe in den Randnrn. 172 und 173 des angefochtenen Urteils die Bedeutung der sich
insbesondere aus dem Inkrafttreten der Verordnung (EG) Nr. 1/2003 des Rates vom 16. Dezember 2002 zur Durchführung der in
den Artikeln 81 und 82 des Vertrags niedergelegten Wettbewerbsregeln (ABl. L 1, S. 1) ergebenden Entwicklung der Unionsrechtsordnung
verkannt.
79 Die „Modernisierung“ des Kartellverfahrensrechts habe nämlich zu einem steigenden Bedarf an unternehmensinterner Rechtsberatung
geführt, deren präventive Funktion bei der Verhinderung von Kartellrechtsverstößen nicht unterschätzt werden dürfe, da sich
die angestellten Rechtsanwälte auf intime Kenntnisse der Unternehmen und ihrer Geschäfte stützen könnten.
80 Ferner setze die im Hinblick auf die ordnungsgemäße Anwendung des Wettbewerbsrechts der Union wünschenswerte Durchführung
von Compliance-Programmen voraus, dass die unternehmens- oder konzerninterne Kommunikation mit Syndikusanwälten in vertrauensvoller
Atmosphäre stattfinden könne.
81 Nach Ansicht der Kommission weisen die Ausführungen des Gerichts im angefochtenen Urteil zu der von Akzo und Akcros erhobenen
Rüge keinen Rechtsfehler auf.
82 Sie unterstreicht, dass die Bestimmungen der Verordnung Nr. 1/2003 keinerlei Auswirkung auf den Geltungsbereich des Schutzes
der Vertraulichkeit der Kommunikation zwischen Rechtsanwalt und Mandant hätten.
ii) Würdigung durch den Gerichtshof
83 Durch die Verordnung Nr. 1/2003 wurden zwar die verfahrensrechtlichen Vorschriften des Wettbewerbsrechts der Union in großer
Zahl geändert, es steht aber auch fest, dass diese Vorschriften keinen Hinweis darauf enthalten, dass sie im Hinblick auf
das Rechtsanwaltsgeheimnis eine Gleichstellung von selbständig praktizierenden und angestellten Rechtsanwälten gebieten, da
dieser Grundsatz in keiner Weise Gegenstand dieser Verordnung ist.
84 Den Bestimmungen von Art. 20 der Verordnung Nr. 1/2003 ist nämlich zu entnehmen, dass die Kommission bei Unternehmen alle
erforderlichen Nachprüfungen vornehmen und in diesem Zusammenhang die Bücher und sonstigen Geschäftsunterlagen, unabhängig
davon, in welcher Form sie vorliegen, prüfen sowie Kopien oder Auszüge gleich welcher Art von bzw. aus diesen Büchern und
Unterlagen anfertigen oder erlangen kann.
85 Diese Verordnung hat, wie auch Art. 14 Abs. 1 Buchst. a und b der Verordnung Nr. 17, den Befugnissen der Kommission somit
einen weiten Rahmen gesetzt. Wie aus den Erwägungsgründen 25 und 26 der Verordnung Nr. 1/2003 hervorgeht, ist es, da es zunehmend
schwieriger wird, Verstöße gegen die Wettbewerbsregeln aufzudecken, für einen wirksamen Schutz des Wettbewerbs notwendig und
liegt im Interesse effizienter Nachprüfungen, dass die Kommission zum Betreten aller Räumlichkeiten befugt ist, in denen sich
Geschäftsunterlagen befinden können, einschließlich Privatwohnungen.
86 Somit ist die Verordnung Nr. 1/2003, entgegen dem, was die Rechtsmittelführerinnen nahelegen wollen, nicht darauf gerichtet,
eine Gleichstellung von Syndikusanwälten mit externen Anwälten hinsichtlich des Schutzes der Vertraulichkeit der Kommunikation
mit ihren Mandanten vorzuschreiben, sondern darauf, den Umfang der Nachprüfungsbefugnisse der Kommission, insbesondere was
die Unterlagen betrifft, die Gegenstand solcher Maßnahmen sein können, zu verstärken.
87 Dementsprechend kann auch die sich insbesondere aus der Verordnung Nr. 1/2003 ergebende Änderung der Verfahrensvorschriften
auf dem Gebiet des Wettbewerbsrechts keine Änderung der durch das Urteil AM & S Europe/Kommission begründeten Rechtsprechung
rechtfertigen.
88 Daher ist auch der zweite Teil des ersten Arguments zurückzuweisen.
89 Folglich ist das erste im Rahmen des zweiten Rechtsmittelgrundes vorgebrachte Argument insgesamt zurückzuweisen.
c) Zum ersten Teil des zweiten Arguments (Verteidigungsrechte)
i) Vorbringen der Verfahrensbeteiligten
90 Akzo und Akcros machen geltend, dass durch die vom Gericht in Randnr. 176 des angefochtenen Urteils vorgenommene Auslegung
des Geltungsbereichs des Schutzes der Kommunikation zwischen Anwalt und Mandant das Niveau des Schutzes der Verteidigungsrechte
der Unternehmen gesenkt werde. Die Inanspruchnahme der Rechtsberatung durch einen Syndikusanwalt wäre nämlich nicht so wertvoll
und ihr Nutzen wäre begrenzt, wenn der unternehmens‑ oder konzerninterne Schriftverkehr mit einem solchen Anwalt nicht unter
dem Schutz des Anwaltsgeheimnisses stünde.
91 Die Kommission vertritt die Ansicht, entgegen dem Vorbringen der Rechtsmittelführerinnen seien durch die vom Gericht zugrunde
gelegte Auslegung des Anwendungsbereichs des Grundsatzes der Vertraulichkeit die Verteidigungsrechte keineswegs beeinträchtigt.
ii) Würdigung durch den Gerichtshof
92 Die Wahrung der Verteidigungsrechte stellt in allen Verfahren, die zu Sanktionen, namentlich zu Geldbußen oder Zwangsgeldern,
führen können, einen fundamentalen Grundsatz des Unionsrechts dar, der in der Rechtsprechung des Gerichtshofs wiederholt bekräftigt
worden ist (vgl. Urteile vom 2. Oktober 2003, Thyssen Stahl/Kommission, C‑194/99 P, Slg. 2003, I‑10821, Randnr. 30, vom 29.
Juni 2006, Showa Denko/Kommission, C‑289/04 P, Slg. 2006, I‑5859, Randnr. 68, und vom 8. Februar 2007, Groupe Danone/Kommission,
C‑3/06 P, Slg. 2007, I‑1331, Randnr. 68) und in Art. 48 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Union verankert worden ist.
93 Mit ihrer Rüge versuchen die Rechtsmittelführerinnen darzutun, dass die Verteidigungsrechte die Möglichkeit umfassen müssten,
sich auf der Grundlage einer freien Wahl eines Rechtsberaters beraten, verteidigen und vertreten zu lassen, und dass der Schutz
der Vertraulichkeit der Kommunikation zwischen Rechtsanwalt und Mandant unabhängig vom beruflichen Status des betreffenden
Rechtsanwalts zu diesen Rechten zähle.
94 Hierzu ist festzustellen, dass ein Unternehmen bei Einschaltung seines Syndikusanwalts es nicht mit einem unabhängigen Dritten,
sondern mit einer Person zu tun hat, die ungeachtet etwaiger sich aus der Zulassung als Rechtsanwalt ergebender Berufspflichten
zu seinen Beschäftigten gehört.
95 Hinzu kommt, dass, selbst wenn die Hinzuziehung von bei dem Unternehmen oder Konzern beschäftigten Syndikusanwälten als von
dem Recht, sich beraten, verteidigen und vertreten zu lassen, umfasst anzusehen sein sollte, dies im Fall des Tätigwerdens
von Syndikusanwälten die Anwendung bestimmter, die Berufsausübung betreffender Beschränkungen und Modalitäten nicht ausschließt,
ohne dass dies als Eingriff in die Verteidigungsrechte anzusehen wäre. So sind unternehmensangehörige Juristen nicht immer
befugt, ihren Arbeitgeber vor sämtlichen nationalen Gerichten zu vertreten, und solche Vorschriften beschränken sehr wohl
die Möglichkeiten für potenzielle Mandanten, den für sie am besten geeigneten Rechtsberater zu wählen.
96 Aus diesen Erwägungen geht hervor, dass jeder Rechtssuchende, der sich anwaltlicher Beratung versichern möchte, solche Beschränkungen
und Bedingungen hinnehmen muss, mit denen die Ausübung dieses Berufs verbunden ist. Zu diesen Beschränkungen und Bedingungen
gehören auch die Modalitäten des Schutzes der Vertraulichkeit der Kommunikation zwischen Anwalt und Mandant.
97 Die Rüge einer Verletzung der Verteidigungsrechte greift daher nicht durch.
d) Zum zweiten Teil des zweiten Arguments (Grundsatz der Rechtssicherheit)
i) Vorbringen der Verfahrensbeteiligten
98 Nach Ansicht von Akzo und Akcros laufen die Ausführungen des Gerichts auch auf einen Verstoß gegen den Grundsatz der Rechtssicherheit
hinaus, da Art. 101 AEUV häufig neben den entsprechenden Bestimmungen des innerstaatlichen Rechts angewandt werde. Der Schutz
der Kommunikation mit den Syndikusanwälten dürfe daher nicht davon abhängen, ob eine Nachprüfung von der Kommission oder von
einer nationalen Wettbewerbsbehörde vorgenommen werde.
99 Die Kommission betont, dass sich im Gegenteil für alle Beteiligten dann komplexe und ungewisse Situationen ergäben, wenn der
für die von ihr durchgeführten Nachprüfungen geltende Grundsatz der Vertraulichkeit der Kommunikation zwischen Rechtsanwalt
und Mandant nicht mehr auf der Ebene der Union, sondern im Rahmen des nationalen Rechts definiert wäre; dies würde dem Grundsatz
der Rechtssicherheit zuwiderlaufen, auf den sich Akzo und Akcros beriefen.
ii) Würdigung durch den Gerichtshof
100 Der Grundsatz der Rechtssicherheit stellt einen allgemeinen Grundsatz des Unionsrechts dar, der u. a. gebietet, dass eine
Regelung, die nachteilige Folgen für Einzelne hat, klar und bestimmt und ihre Anwendung für die Einzelnen voraussehbar sein
muss (vgl. Urteile vom 14. April 2005, Belgien/Kommission, C‑110/03, Slg. 2005, I‑2801, Randnr. 30, vom 7. Juni 2007, Britannia
Alloys & Chemicals/Kommission, C‑76/06 P, Slg. 2007, I‑4405, Randnr. 79, und vom 14. Januar 2010, Stadt Papenburg, C‑226/08,
Slg. 2010, I‑0000, Randnr. 45).
101 Zu der auf diesen Grundsatz gestützten Rüge ist festzustellen, dass die vom Gericht im angefochtenen Urteil vorgenommene Auslegung,
wonach dem unternehmens‑ oder konzerninternen Schriftwechsel mit Syndikusanwälten im Rahmen einer von der Kommission durchgeführten
Nachprüfung der Schutz der Kommunikation nicht zugutekommt, nicht zu Rechtsunsicherheit hinsichtlich des Geltungsbereichs
dieses Schutzes führt.
102 Die Befugnisse, über die die Kommission nach der Verordnung Nr. 17 und nach der Verordnung Nr. 1/2003 verfügt, unterscheiden
sich nämlich vom Umfang der Ermittlungen, die auf nationaler Ebene durchgeführt werden können. Denn beide Verfahrensarten
beruhen auf einer Aufteilung der Zuständigkeiten zwischen den einzelnen Wettbewerbsbehörden. Daher können die Vorschriften
über den Schutz der Vertraulichkeit der Kommunikation zwischen Rechtsanwalt und Mandant nach Maßgabe dieser Zuständigkeitsverteilung
und der für sie geltenden Regelungen Unterschiede aufweisen.
103 Der Gerichtshof hat hierzu entschieden, dass das Wettbewerbsrecht der Union und das nationale Wettbewerbsrecht die restriktiven
Praktiken unter unterschiedlichen Aspekten beurteilen. Während die Art. 101 AEUV und 102 AEUV solche Praktiken wegen der Hemmnisse
erfassen, die sie für den Handel zwischen Mitgliedstaaten bewirken können, beruhen die innerstaatlichen Wettbewerbsvorschriften
auf eigenen Ansätzen und beurteilen die restriktiven Praktiken allein in diesem Rahmen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 16.
Juli 1992, Asociación Española de Banca Privada u. a., C‑67/91, Slg. 1992, I‑4785, Randnr. 11).
104 Unter diesen Umständen können Unternehmen, deren Geschäftsräume im Rahmen wettbewerbsrechtlicher Ermittlungen durchsucht werden,
feststellen, welche Rechte und Pflichten ihnen gegenüber den zuständigen Behörden und nach dem geltenden Recht zustehen, wie
beispielsweise bei der Frage nach der Behandlung der Unterlagen, die im Zuge solcher Ermittlungen beschlagnahmt werden können,
oder der Frage, ob sie berechtigt sind, sich auf den Schutz der Vertraulichkeit der Kommunikation mit den Syndikusanwälten
zu berufen oder nicht. Die Unternehmen können sich daher nach Maßgabe der Zuständigkeiten dieser Behörden und ihrer konkreten
Befugnisse hinsichtlich der Beschlagnahme von Unterlagen sachgerecht orientieren.
105 Der Grundsatz der Rechtssicherheit gebietet daher nicht, auf diese beiden Verfahrensarten in Bezug auf die Vertraulichkeit
der Kommunikation zwischen Rechtsanwalt und Mandant die gleichen Kriterien anzuwenden.
106 Folglich läuft der Umstand, dass im Rahmen einer von der Kommission durchgeführten Nachprüfung der Schutz der Kommunikation
auf den Schriftwechsel mit externen Rechtsanwälten beschränkt ist, dem von Akzo und Akcros angeführten Grundsatz nicht zuwider.
107 Die auf den Grundsatz der Rechtssicherheit gestützte Rüge ist daher unbegründet.
108 Der zweite Rechtsmittelgrund greift folglich insgesamt nicht durch.
3. Zum dritten Rechtsmittelgrund
a) Vorbringen der Verfahrensbeteiligten
109 Äußerst hilfsweise machen Akzo und Akcros geltend, dass die Ausführungen des Gerichts, in ihrer Gesamtheit gesehen, gegen
den Grundsatz der nationalen Verfahrensautonomie und gegen den Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung verstießen.
110 Art. 22 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1/2003 bringe den Grundsatz der nationalen Verfahrensautonomie auf dem betreffenden Gebiet
zum Ausdruck. Der Unionsgesetzgeber habe ausdrücklich festgelegt, dass die Bevollmächtigten der nationalen Wettbewerbsbehörde
ihre Befugnisse selbst dann im Einklang mit ihrem nationalen Recht ausübten, wenn Nachprüfungen auf Ersuchen der Kommission
durchgeführt würden, um einen Verstoß gegen die Bestimmungen des Art. 101 AEUV oder des Art. 102 AEUV festzustellen. Der Gesetzgeber
habe keine harmonisierte Definition des Grundsatzes der Vertraulichkeit der Kommunikation zwischen Rechtsanwalt und Mandant
gegeben, was bedeute, dass die Mitgliedstaaten weiterhin befugt seien, diesen speziellen Aspekt des Schutzes der Verteidigungsrechte
festzulegen.
111 Nach Ansicht der Kommission enthält das angefochtene Urteil keinen Verstoß gegen die mit dem dritten Rechtsmittelgrund angesprochenen
Grundsätze. Der Grundsatz der nationalen Verfahrensautonomie gelte nämlich in Situationen, in denen die Gerichte und Verwaltungen
der Mitgliedstaaten das Unionsrecht durchzuführen hätten, finde jedoch keine Anwendung, wenn es darum gehe, die rechtlichen
Grenzen des Handelns der Organe selbst zu ermitteln.
112 Daraus folge, dass das Gericht mit der Festlegung eines in der gesamten Union einheitlichen Geltungsbereichs der Vertraulichkeit
der Kommunikation zwischen Rechtsanwalt und Mandant für Verfahren, die auf die Feststellung eines Verstoßes gegen die Art. 101
AEUV und 102 AEUV gerichtet seien, das Urteil AM & S Europe/Kommission korrekt angewandt habe. Folglich sei auch der Grundsatz
der begrenzten Einzelermächtigung nicht verletzt.
b) Würdigung durch den Gerichtshof
113 Im Einklang mit dem Grundsatz der nationalen Verfahrensautonomie ist es mangels einer einschlägigen Unionsregelung Sache des
innerstaatlichen Rechts der einzelnen Mitgliedstaaten, die zuständigen Gerichte zu bestimmen und die Verfahrensmodalitäten
für Klagen zu regeln, die den Schutz der dem Einzelnen aus dem Unionsrecht erwachsenden Rechte gewährleisten sollen (vgl.
in diesem Sinne Urteile vom 16. Dezember 1976, Rewe, 33/76, Slg. 1976, 1989, Randnr. 5, vom 19. Juni 1990, Factortame u. a.,
C‑213/89, Slg. 1990, I‑2433, Randnr. 19, vom 14. Dezember 1995, Peterbroeck, C‑312/93, Slg. 1995, I‑4599, Randnr. 12, und
vom 11. September 2003, Safalero, C‑13/01, Slg. 2003, I‑8679, Randnr. 49).
114 In der vorliegenden Rechtssache hat der Gerichtshof jedoch über die Rechtmäßigkeit einer Entscheidung zu befinden, die ein
Unionsorgan auf der Grundlage einer auf der Ebene der Union ergangenen Regelung erlassen hat, die zudem keinerlei Verweis
auf das nationale Recht enthält.
115 Eine unionsweit einheitliche Auslegung und Anwendung des Grundsatzes der Vertraulichkeit der Kommunikation zwischen Rechtsanwalt
und Mandant ist unerlässlich, damit die Nachprüfungen der Kommission in Kartellverfahren unter Bedingungen stattfinden können,
die die Gleichbehandlung der betreffenden Unternehmen gewährleisten. Wäre dem nicht so, würde durch die Anwendung von Normen
oder Grundsätzen des nationalen Rechts, die zu den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats gehören, die einheitliche Geltung
des Unionsrechts beeinträchtigt. Eine solche einheitliche Auslegung und Anwendung dieser Rechtsordnung kann nicht vom Ort
der Nachprüfungen und etwaigen Besonderheiten des nationalen Rechts abhängen.
116 Zum Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung ist darauf hinzuweisen, dass die wettbewerbsrechtlichen Verfahrensvorschriften,
wie sie in Art. 14 der Verordnung Nr. 17 und in Art. 20 der Verordnung Nr. 1/2003 geregelt sind, zu den für das Funktionieren
des Binnenmarkts erforderlichen Bestimmungen gehören, deren Erlass in die der Union durch Art. 3 Abs. 1 Buchst. b AEUV übertragene
ausschließliche Zuständigkeit fällt.
117 Nach Art. 103 AEUV ist es Sache der Union, die zweckdienlichen Verordnungen oder Richtlinien zur Verwirklichung der in den
Art. 101 AEUV und 102 AEUV niedergelegten Grundsätze betreffend die für die Unternehmen geltenden Wettbewerbsregeln zu beschließen.
Diese Zuständigkeit soll u. a. die Beachtung der in diesen Artikeln genannten Verbote durch die Einführung von Geldbußen und
Zwangsgeldern gewährleisten und die Aufgaben der Kommission bei der Anwendung dieser Vorschriften abgrenzen.
118 In diesem Zusammenhang sieht Art. 105 AEUV vor, dass die Kommission auf die Verwirklichung der in den Art. 101 AEUV und 102
AEUV niedergelegten Grundsätze achtet und die Fälle untersucht, in denen Zuwiderhandlungen vermutet werden.
119 Wie die Generalanwältin in Nr. 172 ihrer Schlussanträge ausgeführt hat, kommt bei Nachprüfungen der Kommission als europäischer
Kartellbehörde nationales Recht nur insoweit zum Einsatz, als die Behörden der Mitgliedstaaten ihr Amtshilfe leisten, insbesondere
wenn es darum geht, Widerstand der betroffenen Unternehmen gemäß Art. 14 Abs. 6 der Verordnung Nr. 17 bzw. Art. 20 Abs. 6
der Verordnung Nr. 1/2003 durch Anwendung unmittelbaren Zwangs zu überwinden. Hingegen bestimmt sich allein nach Unionsrecht,
welche Schriftstücke und Unterlagen die Kommission im Rahmen ihrer kartellrechtlichen Durchsuchungen prüfen und kopieren darf.
120 Folglich ist gegenüber den Befugnissen, mit denen die Kommission in dem fraglichen Bereich ausgestattet ist, weder eine Berufung
auf den Grundsatz der nationalen Verfahrensautonomie noch auf den der begrenzten Einzelermächtigung möglich.
121 Daher kann auch der dritte Rechtsmittelgrund keinen Erfolg haben.
122 Nach alledem ist das Rechtsmittel unbegründet.
VI – Kosten
123 Nach Art. 69 § 2 der Verfahrensordnung, der gemäß Art. 118 der Verfahrensordnung auf das Rechtsmittelverfahren entsprechende
Anwendung findet, ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Da die Kommission die Verurteilung
von Akzo und Akcros beantragt hat und diese mit ihrem Vorbringen unterlegen sind, sind Letzteren die Kosten aufzuerlegen.
Da sie das Rechtsmittel gemeinsam eingelegt haben, haben sie die Kosten als Gesamtschuldnerinnen zu tragen.
124 Das Vereinigte Königreich Großbritannien und Nordirland sowie Irland und das Königreich der Niederlande als Streithelfer im
Verfahren vor dem Gerichtshof tragen gemäß Art. 69 § 4 Abs. 1 der Verfahrensordnung jeweils ihre eigenen Kosten.
125 Die übrigen Verfahrensbeteiligten, die das Rechtsmittel unterstützt haben und mit ihrem Vorbringen unterlegen sind, haben
in entsprechender Anwendung von Art. 69 § 4 Abs. 3 der Verfahrensordnung ihre eigenen Kosten zu tragen.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Große Kammer) für Recht erkannt und entschieden:
1. Das Rechtsmittel wird zurückgewiesen.
2. Das Vereinigte Königreich Großbritannien und Nordirland sowie Irland und das Königreich der Niederlande tragen jeweils ihre
eigenen Kosten.
3. Der Conseil des barreaux européens, der Algemene Raad van de Nederlandse Orde van Advocaten, die European Company Lawyers
Association, die American Corporate Counsel Association (ACCA) – European Chapter und die International Bar Association tragen
jeweils ihre eigenen Kosten.
4. Im Übrigen tragen die Akzo Nobel Chemicals Ltd und die Akcros Chemicals Ltd die Kosten gesamtschuldnerisch.
Unterschriften
* Verfahrenssprache: Englisch.
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Urteil des Gerichts (Große Kammer) vom 2. Oktober 2024.#Ordre néerlandais des avocats du barreau de Bruxelles u. a. gegen Rat der Europäischen Union.#Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik – Restriktive Maßnahmen angesichts der Handlungen Russlands, die die Lage in der Ukraine destabilisieren – Verbot der Erbringung von Dienstleistungen im Bereich der Rechtsberatung für die Regierung Russlands oder für in Russland niedergelassene Organisationen – Grundlegende Aufgabe der Anwälte in einer demokratischen Gesellschaft – Recht der Anwälte, Dienstleistungen im Bereich der Rechtsberatung zu erbringen – Recht, sich von einem Anwalt beraten zu lassen – Art. 7 und 47 sowie Art. 52 Abs. 2 der Charta der Grundrechte – Anwaltliche Unabhängigkeit – Rechtsstaatlichkeit – Verhältnismäßigkeit – Rechtssicherheit.#Rechtssache T-797/22.
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62022TJ0797
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ECLI:EU:T:2024:670
| 2024-10-02T00:00:00 |
Gericht
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Sammlung der Rechtsprechung – allgemein
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62022TJ0797
URTEIL DES GERICHTS (Große Kammer)
2. Oktober 2024 (*1)
„Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik – Restriktive Maßnahmen angesichts der Handlungen Russlands, die die Lage in der Ukraine destabilisieren – Verbot der Erbringung von Dienstleistungen im Bereich der Rechtsberatung für die Regierung Russlands oder für in Russland niedergelassene Organisationen – Grundlegende Aufgabe der Anwälte in einer demokratischen Gesellschaft – Recht der Anwälte, Dienstleistungen im Bereich der Rechtsberatung zu erbringen – Recht, sich von einem Anwalt beraten zu lassen – Art. 7 und 47 sowie Art. 52 Abs. 2 der Charta der Grundrechte – Anwaltliche Unabhängigkeit – Rechtsstaatlichkeit – Verhältnismäßigkeit – Rechtssicherheit“
In der Rechtssache T‑797/22,
Ordre néerlandais des avocats du barreau de Bruxelles, mit Sitz in Brüssel (Belgien) und die weiteren im Anhang namentlich aufgeführten Kläger (1 ), vertreten durch Rechtsanwalt P. de Bandt, Rechtsanwältin T. Ghysels, Rechtsanwalt T. Bontinck und Rechtsanwältin A. Guillerme,
Kläger,
unterstützt durch
Bundesrechtsanwaltskammer mit Sitz in Berlin (Deutschland), vertreten durch Rechtsanwälte J.‑P. Buyle, D. Van Gerven und N. Azizollahoff,
und durch
Ordre des avocats de Genève mit Sitz in Genf (Schweiz), vertreten durch Rechtsanwalt F. Zimeray,
Streithelfer,
gegen
Rat der Europäischen Union, vertreten durch V. Piessevaux und S. Lejeune als Bevollmächtigte,
Beklagte,
unterstützt durch
Republik Estland, vertreten durch M. Kriisa als Bevollmächtigte,
durch
Europäische Kommission, vertreten durch J.‑F. Brakeland, C. Giolito, M. Carpus Carcea und C. Georgieva als Bevollmächtigte,
und durch
Hoher Vertreter der Union für Außen- und Sicherheitspolitik, vertreten durch F. Hoffmeister, L. Havas und M. Almeida Veiga als Bevollmächtigte,
Streithelfer,
erlässt
DAS GERICHT (Große Kammer),
unter Mitwirkung des Präsidenten M. van der Woude, der Richter S. Papasavvas, R. da Silva Passos, A. Kornezov, L. Truchot und S. Gervasoni (Berichterstatter), der Richterin N. Półtorak, der Richter P. Nihoul, U. Öberg und C. Mac Eochaidh, der Richterin T. Pynnä, des Richters J. Martín y Pérez de Nanclares, der Richterin M. Brkan sowie der Richter P. Zilgalvis und I. Gâlea,
Kanzler: V. Di Bucci,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens, insbesondere
–
der am 26. Dezember 2022 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangenen Klageschrift,
–
der am 4. Mai, 12. Mai, 22. Juni, 25. Juli und 21. August 2023 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangenen Streithilfeschriftsätze der Kommission, des Hohen Vertreters der Union für die Außen- und Sicherheitspolitik, der Republik Estland, der Bundesrechtsanwaltskammer und des Ordre des avocats de Genève,
–
des am 5. Mai 2023 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangenen Schriftsatzes zur Anpassung der Klageschrift,
–
der schriftlichen Frage des Gerichts an die Kläger und ihrer am 27. Februar 2024 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangenen Antwort auf diese Frage,
auf die gemeinsame mündliche Verhandlung vom 12. März 2024
folgendes
Urteil
1 Mit ihrer Klage nach Art. 263 AEUV beantragen die Kläger, der Ordre néerlandais des avocats du barreau de Bruxelles (Niederländische Rechtsanwaltskammer der Brüsseler Anwaltschaft) und die weiteren im Anhang namentlich aufgeführten natürlichen und juristischen Personen erstens die Nichtigerklärung von Art. 1 Nr. 12 der Verordnung (EU) 2022/1904 des Rates vom6. Oktober 2022 zur Änderung der Verordnung (EU) Nr. 833/2014 über restriktive Maßnahmen angesichts der Handlungen Russlands, die die Lage in der Ukraine destabilisieren (ABl. 2022, L 259 I, S. 3), soweit er Art. 5n Abs. 2 und 4 bis 12 der Verordnung (EU) Nr. 833/2014 des Rates vom 31. Juli 2014 über restriktive Maßnahmen angesichts der Handlungen Russlands, die die Lage in der Ukraine destabilisieren (ABl. 2014, L 229, S. 1) in Bezug auf Dienstleistungen im Bereich der Rechtsberatung ersetzt und ändert, zweitens die Nichtigerklärung von Art. 1 Nr. 13 der Verordnung (EU) 2022/2474 des Rates vom 16. Dezember 2022 zur Änderung der Verordnung Nr. 833/2014 (ABl. 2022, L 322 I, S. 1), soweit er Art. 5n Abs. 2 und 4 bis 11 der Verordnung Nr. 833/2014 in Bezug auf Dienstleistungen im Bereich der Rechtsberatung ersetzt und ändert, und drittens die Nichtigerklärung von Art. 1 Nr. 13 der Verordnung (EU) 2023/427 des Rates vom 25. Februar 2023 zur Änderung der Verordnung Nr. 833/2014 (ABl. 2023, L 59 I, S. 6), soweit er einen Art. 12b Abs. 2a in Bezug auf Dienstleistungen im Bereich der Rechtsberatung in die Verordnung Nr. 833/2014 einfügt.
I. Vorgeschichte des Rechtsstreits
2 Die Kläger sind Anwaltskammern und belgische Anwälte.
3 Im März 2014 annektierte die Russische Föderation rechtswidrig die Autonome Republik Krim sowie die Stadt Sewastopol (Ukraine) und nimmt seitdem kontinuierlich Handlungen vor, die die Lage im Osten der Ukraine destabilisieren. Als Reaktion auf dieses Vorgehen führte die Europäische Union restriktive Maßnahmen angesichts von Handlungen der Russischen Föderation, die die territoriale Unversehrtheit, Souveränität und Unabhängigkeit der Ukraine untergraben oder bedrohen, sowie restriktive Maßnahmen als Reaktion auf die rechtswidrige Eingliederung der Autonomen Republik Krim und der Stadt Sewastopol durch Annexion seitens der Russischen Föderation ein.
4 So wurden am 17. März 2014 der Beschluss 2014/145/GASP des Rates über restriktive Maßnahmen angesichts von Handlungen, die die territoriale Unversehrtheit, Souveränität und Unabhängigkeit der Ukraine untergraben oder bedrohen (ABl. 2014, L 78, S. 16) und die Verordnung (EU) Nr. 269/2014 des Rates über restriktive Maßnahmen angesichts von Handlungen, die die territoriale Unversehrtheit, Souveränität und Unabhängigkeit der Ukraine untergraben oder bedrohen (ABl. 2014, L 78, S. 6) erlassen.
5 In der Folge wurde der Beschluss 2014/512/GASP des Rates vom 31. Juli 2014 über restriktive Maßnahmen angesichts der Handlungen Russlands, die die Lage in der Ukraine destabilisieren (ABl. 2014, L 229, S. 13) erlassen, um in den Bereichen des Zugangs zu den Kapitalmärkten, der Verteidigung, der Güter mit doppeltem Verwendungszweck und der sensiblen Technologien, unter Einschluss des Energiesektors, zielgerichtete Maßnahmen einzuführen. Da der Rat der Europäischen Union der Auffassung war, dass diese Maßnahmen in den Geltungsbereich des AEU-Vertrags fielen und für ihre Umsetzung Rechtsvorschriften auf Unionsebene erforderlich seien, erließ er die Verordnung Nr. 833/2014, die detailliertere Vorschriften enthält, um die Vorgaben des Beschlusses 2014/512 sowohl auf Unionsebene als auch in den Mitgliedstaaten umzusetzen.
6 Am 15. Februar 2022 stimmte die Gossudarstwennaja Duma Federalnogo Sobranija Rossiiskoi Federazi (Staatsduma der Föderationsversammlung der Russischen Föderation) einer Resolution zu, mit der der Präsident der Russischen Föderation aufgefordert wurde, die von Separatisten beanspruchten Teile des Ostens der Ukraine als unabhängige Staaten anzuerkennen. Am21. Februar 2022 unterzeichnete der Präsident der Russischen Föderation ein Dekret, mit dem die selbstproklamierte Unabhängigkeit und Souveränität der „Volksrepublik Donezk“ und der „Volksrepublik Lugansk“ anerkannt wurde, und ordnete die Entsendung russischer Streitkräfte in diese Gebiete an. Am 24. Februar 2022 kündigte der Präsident der Russischen Föderation eine Militäroperation in der Ukraine an, und am selben Tag griffen russische Streitkräfte die Ukraine an mehreren Stellen des Landes an.
7 Ebenfalls am 24. Februar 2022 veröffentlichte der Hohe Vertreter der Union für Außen- und Sicherheitspolitik im Namen der Union eine Erklärung, in der er die „grundlose Invasion“ der Ukraine durch Streitkräfte der Russischen Föderation auf das Schärfste verurteilte und ankündigte, dass die Reaktion der Union sowohl sektorspezifische als auch individuelle restriktive Maßnahmen umfassen werde. Der Europäische Rat verurteilte in den am selben Tag auf seiner außerordentlichen Tagung angenommenen Schlussfolgerungen diese „grundlose und ungerechtfertigte militärische Aggression“ auf das Schärfste und vertrat die Auffassung, dass die Russische Föderation durch ihre rechtswidrigen militärischen Handlungen, für die sie zur Rechenschaft gezogen werde, massiv gegen das Völkerrecht und die Grundsätze der Charta der Vereinten Nationen verstoße und die Sicherheit und Stabilität Europas und der Welt gefährde.
8 In seinen Schlussfolgerungen vom 23. und 24. Juni 2022 erklärte der Europäische Rat, dass die Arbeit an „Sanktionen“ fortgeführt werde, u. a., um die Durchführung der Sanktionen zu stärken und deren Umgehung zu verhindern.
9 Am 21. September 2022 beschloss die Russische Föderation, ihre Aggression gegen die Ukraine weiter zu eskalieren, indem sie in den von Russland besetzten Teilen der Regionen Donezk, Cherson, Luhansk und Saporischschja die Organisation illegaler „Referenden“ unterstützte, eine Mobilmachung in Russland ankündigte und erneut mit dem Einsatz von Massenvernichtungswaffen drohte. Im Anschluss an diese „Referenden“ bestätigte der Präsident der Russischen Föderation offiziell die Annexion der ukrainischen Regionen Donezk, Luhansk, Saporischschja und Cherson durch Russland.
10 Am 30. September 2022 nahmen die Mitglieder des Europäischen Rates eine Erklärung an, in der sie die illegale Annexion der ukrainischen Regionen Donezk, Luhansk, Saporischschja und Cherson verurteilten und erklärten, dass Russland die Sicherheit der Welt gefährde. Die Mitglieder des Europäischen Rates erklärten, dass sie ihre restriktiven Maßnahmen gegen die illegalen Handlungen Russlands verschärfen und den Druck auf Russland, seinen Angriffskrieg zu beenden, weiter verstärken würden.
11 Am 6. Oktober 2022 erließ der Rat den Beschluss (GASP) 2022/1909 zur Änderung des Beschlusses 2014/512 (ABl. 2022, L 259 I, S. 122). Ebenfalls am 6. Oktober 2022 erließ der Rat auf der Grundlage von Art. 215 AEUV die Verordnung 2022/1904.
12 Der 19. Erwägungsgrund der Verordnung 2022/1904 grenzt die nach dieser Verordnung verbotenen Dienstleistungen im Bereich der Rechtsberatung wie folgt ab:
„[M]it dem Beschluss (GASP) 2022/1909 [wird] das bestehende Verbot der Erbringung bestimmter Dienstleistungen für die Russische Föderation ausgeweitet, indem die Erbringung von Dienstleistungen in den Bereichen Architektur und Ingenieurwesen sowie IT‑Beratung und Rechtsberatung verboten wird. … ‚Rechtsberatungsdienstleistungen‘ umfassen die Rechtsberatung für Mandanten in nichtstreitigen Angelegenheiten, einschließlich Handelsgeschäften, bei denen es um die Anwendung oder Auslegung von Rechtsvorschriften geht; die Teilnahme mit oder im Namen von Mandanten an Handelsgeschäften, Verhandlungen und sonstigen Geschäften mit Dritten; die Ausarbeitung, Ausfertigung und Überprüfung von Rechtsdokumenten. ‚Rechtsberatungsdienstleistungen‘ umfass[en] nicht die Vertretung, Beratung, Ausarbeitung von Dokumenten oder Überprüfung von Dokumenten im Rahmen von Rechtsvertretungsdienstleistungen, insbesondere in Angelegenheiten oder Verfahren vor Verwaltungsbehörden, Gerichten, anderen ordnungsgemäß eingerichteten offiziellen Gerichten oder in Schieds- oder Mediationsverfahren.“
13 Mit Art. 1 Nr. 12 der Verordnung 2022/1904 wurde ein neuer Art. 5n in die Verordnung Nr. 833/2014 eingefügt, der den alten Art. 5n ersetzte und u. a. ein Verbot der Erbringung von Dienstleistungen im Bereich der Rechtsberatung (im Folgenden: streitiges Verbot) mit folgendem Wortlaut vorsah:
„(2) Es ist verboten, unmittelbar oder mittelbar Dienstleistungen in den Bereichen Architektur und Ingenieurwesen, Rechtsberatung und IT‑Beratung zu erbringen für
a)
die Regierung Russlands oder
b)
in Russland niedergelassene juristische Personen, Organisationen oder Einrichtungen.
…
(4) Absatz 2 gilt nicht für die Erbringung von Dienstleistungen, die unbedingt erforderlich sind, um vor dem 7. Oktober 2022 geschlossene Verträge, die mit diesem Artikel nicht vereinbar sind, oder für deren Erfüllung erforderliche akzessorische Verträge bis zum 8. Januar 2023 zu beenden.
(5) Die Absätze 1 und 2 gelten nicht für die Erbringung von Dienstleistungen, die für die Wahrnehmung des Rechts auf Verteidigung in Gerichtsverfahren und des Rechts auf einen wirksamen Rechtsbehelf unbedingt erforderlich sind.
(6) Die Absätze 1 und 2 gelten nicht für die Erbringung von Dienstleistungen, die zur Gewährleistung des Zugangs zu Gerichts‑, Verwaltungs- oder Schiedsverfahren in einem Mitgliedstaat oder für die Anerkennung oder Vollstreckung eines Gerichtsurteils oder eines Schiedsspruchs aus einem Mitgliedstaat unbedingt erforderlich sind, sofern … die Erbringung dieser Dienstleistungen mit den Zielen dieser Verordnung und der Verordnung … Nr. 269/2014 des Rates im Einklang steht.
(7) Die Absätze 1 und 2 gelten nicht für die Erbringung von Dienstleistungen, die zur ausschließlichen Nutzung durch in Russland niedergelassene juristische Personen, Organisationen oder Einrichtungen bestimmt sind, welche sich im Eigentum oder unter der alleinigen oder gemeinsamen Kontrolle einer nach dem Recht eines Mitgliedstaats, eines dem Europäischen Wirtschaftsraum angehörenden Landes, der Schweiz oder eines in Anhang VIII aufgeführten Partnerlandes gegründeten oder eingetragenen juristischen Person, Organisation oder Einrichtung befinden.
(8) Absatz 2 gilt nicht für die Erbringung von Dienstleistungen, die für Notlagen im Bereich der öffentlichen Gesundheit, die dringende Abwendung oder Eindämmung eines Ereignisses, das voraussichtlich schwerwiegende und wesentliche Auswirkungen auf die Gesundheit und Sicherheit von Menschen oder die Umwelt haben wird, oder für die Bewältigung von Naturkatastrophen erforderlich sind.
(9) Absatz 2 gilt nicht für die Erbringung von Dienstleistungen, die für Softwareaktualisierungen für nichtmilitärische Zwecke und für nichtmilitärische Endnutzer, die gemäß Artikel 2 Absatz 3 Buchstabe d und Artikel 2a Absatz 3 Buchstabe d hinsichtlich der in Anhang VII aufgeführten Erzeugnisse erlaubt sind, erforderlich sind.
(10) Abweichend von den Absätzen 1 und 2 können die zuständigen Behörden die dort genannten Dienstleistungen unter ihnen angemessen erscheinenden Bedingungen genehmigen, nachdem sie festgestellt haben, dass diese erforderlich sind für
a)
humanitäre Zwecke wie die Durchführung oder die Erleichterung von Hilfsleistungen einschließlich der Versorgung mit medizinischen Hilfsgütern und Nahrungsmitteln oder den Transport humanitärer Helfer und damit verbundener Hilfe oder für Evakuierungen,
b)
zivilgesellschaftliche Aktivitäten zur direkten Förderung der Demokratie, der Menschenrechte oder der Rechtsstaatlichkeit in Russland … oder
c)
die Tätigkeit der diplomatischen und konsularischen Vertretungen der Union und der Mitgliedstaaten oder von Partnerländern in Russland, einschließlich Delegationen, Botschaften und Missionen, oder internationaler Organisationen in Russland, die nach dem Völkerrecht Immunität genießen.
(11) Abweichend von den Absätzen 1 und 2 können die zuständigen Behörden die dort genannten Dienstleistungen unter ihnen angemessen erscheinenden Bedingungen genehmigen, nachdem sie festgestellt haben, dass diese erforderlich sind für
a)
die Sicherstellung der kritischen Energieversorgung in der Union und den Kauf von Titan, Aluminium, Kupfer, Nickel, Palladium und Eisenerz oder deren Einfuhr oder Beförderung in die Union;
b)
die Gewährleistung des kontinuierlichen Betriebs von Infrastrukturen, Hardware und Software, die für die Gesundheit und Sicherheit von Menschen oder die Sicherheit der Umwelt von grundlegender Bedeutung sind;
c)
die Einrichtung und den Betrieb ziviler nuklearer Kapazitäten, ihre Instandhaltung, ihre Versorgung mit und die Wiederaufbereitung von Brennelementen und ihre Sicherheit und die Weiterführung der Planung, des Baus und die Abnahmetests für die Indienststellung ziviler Atomanlagen, die Lieferung von Ausgangsstoffen zur Herstellung medizinischer Radioisotope und ähnlicher medizinischer Anwendungen oder kritischer Technologien zur radiologischen Umweltüberwachung sowie für die zivile nukleare Zusammenarbeit, insbesondere im Bereich Forschung und Entwicklung, oder
d)
die Erbringung elektronischer Kommunikationsdienste durch Telekommunikationsbetreiber der Union, die für den Betrieb, die Instandhaltung und die Sicherheit, einschließlich der Cybersicherheit, elektronischer Kommunikationsdienste in Russland, der Ukraine, der Union, zwischen Russland und der Union sowie zwischen der Ukraine und der Union sowie für Rechenzentrumsdienste in der Union erforderlich sind.
(12) Der betreffende Mitgliedstaat unterrichtet die anderen Mitgliedstaaten und die Kommission über jede nach den Absätzen 10 und 11 erteilte Genehmigung innerhalb von zwei Wochen nach deren Erteilung.“
14 Am 16. Dezember 2022 erließ der Rat den Beschluss (GASP) 2022/2478 zur Änderung des Beschlusses 2014/512 (ABl. 2022, L 322 I, S. 614) und – auf der Grundlage von Art. 215 AEUV – die Verordnung 2022/2474.
15 Mit Art. 1 Nr. 13 der Verordnung 2022/2474 wurde Art. 5n der Verordnung Nr. 833/2014 in Bezug auf das Verbot der Erbringung von Dienstleistungen im Bereich der Rechtsberatung rein formal geändert. Art. 5n Abs. 10 der Verordnung Nr. 833/2014 führte somit die früheren Abs. 10 und 11 ohne Änderung des normativen Inhalts dieser Absätze zusammen.
16 Am 25. Februar 2023 erließ der Rat den Beschluss (GASP) 2023/434 zur Änderung des Beschlusses 2014/512 (ABl. 2023, L 59 I, S. 593) und – auf der Grundlage von Art. 215 AEUV – die Verordnung 2023/427.
17 Die Verordnung 2023/427 hat den Wortlaut von Art. 5n der Verordnung Nr. 833/2014 nicht geändert. Art. 1 Nr. 13 der Verordnung 2023/427 führte jedoch eine weitere Ausnahme von dem streitigen Verbot ein, und zwar durch einen in Art. 12b der Verordnung Nr. 833/2014 eingefügten neuen Abs. 2a, der wie folgt lautet:
„(2a) Abweichend von Artikel 5n [der Verordnung Nr. 833/2014] können die zuständigen Behörden die weitere Erbringung der darin genannten Dienstleistungen bis zum 31. Dezember 2023 genehmigen, wenn diese Dienstleistungen für den Abzug von Investitionen aus Russland oder die Abwicklung von Geschäftstätigkeiten in Russland unbedingt erforderlich sind, sofern die folgenden Bedingungen erfüllt sind:
a)
Die Dienstleistungen werden für die aus dem Abzug von Investitionen hervorgehenden juristischen Personen, Organisationen oder Einrichtungen und ausschließlich zu deren Gunsten erbracht[,] und
b)
die zuständigen Behörden haben bei der Entscheidung über Anträge auf Genehmigungen keine hinreichenden Gründe zu der Annahme, dass die Dienstleistungen mittelbar oder unmittelbar für die Regierung Russlands oder für einen militärischen Endnutzer erbracht werden oder eine militärische Endverwendung in Russland haben könnten.“
II. Anträge der Parteien
18 Die Kläger, unterstützt durch die Bundesrechtsanwaltskammer und den Ordre des avocats de Genève (Anwaltskammer Genf, Schweiz) beantragen,
–
Art. 1 Nr. 12 der Verordnung 2022/1904, soweit er Art. 5n Abs. 2 und 4 bis 12 der Verordnung Nr. 833/2014 in Bezug auf Dienstleistungen im Bereich der Rechtsberatung ersetzt und ändert, Art. 1 Nr. 13 der Verordnung 2022/2474, soweit er Art. 5n Abs. 2 und 4 bis 11 der Verordnung Nr. 833/2014 in Bezug auf Dienstleistungen im Bereich der Rechtsberatung ersetzt und ändert, und Art. 1 Nr. 13 der Verordnung 2023/427, soweit er einen Art. 12b Abs. 2a in Bezug auf Dienstleistungen im Bereich der Rechtsberatung in die Verordnung Nr. 833/2014 einfügt, für nichtig zu erklären;
–
dem Rat die Kosten aufzuerlegen.
19 Der Rat, unterstützt durch die Republik Estland, die Europäische Kommission und den Hohen Vertreter der Union für Außen- und Sicherheitspolitik, beantragt im Wesentlichen,
–
die Klage als unzulässig abzuweisen, soweit sie auf die Nichtigerklärung von Art. 5n Abs. 10 und Art. 12b Abs. 2a der Verordnung Nr. 833/2014 (im Folgenden: Befreiungsbestimmungen) gerichtet ist;
–
die Klage als unbegründet abzuweisen;
–
den Klägern die Kosten aufzuerlegen.
20 Die Republik Estland, die Kommission und der Hohe Vertreter der Union für Außen- und Sicherheitspolitik beantragen außerdem, die Klage als insgesamt unzulässig abzuweisen.
III. Rechtliche Würdigung
A. Zur Zulässigkeit
21 Der Rat hält die Klage für zulässig, soweit sie sich auf Art. 5n Abs. 2, 4 bis 9 und 11 der Verordnung Nr. 833/2014 bezieht. Dagegen bestreitet er die Zulässigkeit der Klage, soweit sie auf die Nichtigerklärung der Befreiungsbestimmungen gerichtet ist. Nur die Republik Estland, die Kommission und der Hohe Vertreter der Union für Außen- und Sicherheitspolitik sind der Ansicht, dass die Klage insgesamt unzulässig sei.
22 Der Rat, unterstützt durch die Republik Estland, die Kommission und den Hohen Vertreter der Union für Außen- und Sicherheitspolitik ist außerdem der Auffassung, dass der von den Klägern eingereichte Anpassungsschriftsatz, mit dem die Rechtmäßigkeit des durch die Verordnung 2023/427 eingeführten Art. 12b Abs. 2a der Verordnung Nr. 833/2014 in Abrede gestellt werde, unzulässig sei.
23 Es ist darauf hinzuweisen, dass das Unionsgericht prüfen kann, ob es unter den Umständen des Einzelfalls nach den Grundsätzen einer geordneten Rechtspflege gerechtfertigt ist, die Klage als unbegründet zurückzuweisen, ohne zuvor über ihre Zulässigkeit zu entscheiden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 26. Februar 2002, Rat/Boehringer, C‑23/00 P, EU:C:2002:118, Rn. 52).
24 Unter den Umständen des vorliegenden Falles und aus Gründen der Verfahrensökonomie ist die Klage in der Sache zu prüfen, ohne zuvor über ihre Zulässigkeit zu entscheiden, da die Klage aus den nachstehend dargelegten Gründen jedenfalls unbegründet ist.
B. Zur Begründetheit
25 Die Kläger stützen ihre Klage auf drei Gründe, mit denen sie im Wesentlichen erstens einen Verstoß gegen die Art. 7 und 47 sowie Art. 52 Abs. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta), zweitens einen Eingriff in die anwaltliche Unabhängigkeit und in die Werte der Rechtsstaatlichkeit sowie einen Verstoß gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und drittens einen Verstoß gegen den Grundsatz der Rechtssicherheit geltend machen.
1. Zum ersten Klagegrund: Verstoß gegen die Art. 7 und 47 sowie Art. 52 Abs. 1 der Charta
26 Der erste Klagegrund gliedert sich in drei Teile, die einen Verstoß gegen die Charta betreffen und im Folgenden geprüft werden.
27 Mit dem ersten und dem zweiten Teil machen die Kläger, unterstützt durch die Bundesrechtsanwaltskammer und die Anwaltskammer Genf, geltend, das streitige Verbot führe zum einen zu einem Verstoß gegen das Grundrecht auf Zugang zu anwaltlicher Rechtsberatung und zum anderen zu einem Eingriff in das anwaltliche Berufsgeheimnis. Das streitige Verbot verstoße somit gegen die Art. 7 und 47 der Charta.
28 Mit dem dritten Teil machen die Kläger, unterstützt durch die Bundesrechtsanwaltskammer und die Anwaltskammer Genf, geltend, dass die mit dem streitigen Verbot einhergehenden Eingriffe in die durch die Charta garantierten Rechte nicht im Sinne von Art. 52 Abs. 1 der Charta gerechtfertigt werden könnten.
29 Dieser dritte Teil wird im Rahmen der Antwort des Gerichts auf den ersten und den zweiten Teil geprüft.
a)
Zum ersten Teil: Verletzung des Rechts, sich an einen Rechtsanwalt zu wenden, um Rechtsberatung in Anspruch zu nehmen
30 Der erste Teil des ersten Klagegrundes besteht aus zwei Rügen. Mit der ersten Rüge wird ein Verstoß gegen Art. 47 der Charta geltend gemacht. Die zweite Rüge ist auf einen Verstoß gegen Art. 7 der Charta gestützt. Nach Auffassung der Kläger begründen diese beiden Artikel nämlich ein Grundrecht auf Zugang zu anwaltlicher Rechtsberatung, das jeder Person sowohl in streitigen als auch in nicht streitigen Angelegenheiten garantiert werde.
31 Die Kläger, unterstützt durch die Bundesrechtsanwaltskammer und die Anwaltskammer Genf, machen geltend, dass das Recht, Rechtsberatung in Anspruch zu nehmen, untrennbar mit dem Recht auf Zugang zu einem Anwalt im Rahmen eines Gerichts- oder Verwaltungsverfahrens verbunden sei. Im Übrigen sei das Recht, sich an einen Anwalt zu wenden, auch um Rechtsrat einzuholen und die eigene Rechtslage beurteilen zu lassen, in allen Mitgliedstaaten anerkannt und sei in einem Rechtsstaat wesentlich. Die Kläger berufen sich auf die Rechtsprechung des Gerichtshofs und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), um geltend zu machen, dass ein Recht darauf bestehe, sich an einen Anwalt zu wenden, um – auch außerhalb der Aufgabe, einen Mandanten in einem Gerichtsverfahren zu vertreten – Rechtsrat einzuholen.
32 Der durch Art. 7 der Charta gewährte Schutz gelte auch außerhalb eines streitigen Verfahrens. Die vom Rat vorgenommene Unterscheidung, wonach Dienstleistungen im Bereich der Rechtsberatung, die für die Ausübung des durch Art. 47 der Charta geschützten Rechts auf einen wirksamen Rechtsbehelf erforderlich seien, unter die Ausnahmen vom Anwendungsbereich des streitigen Verbots fielen, sei künstlich und unangemessen. Es könne nicht von vornherein festgestellt werden, ob die Rechtsberatung, bevor sie dem Mandanten erteilt werde, einen Bezug zu einem künftigen Rechtsstreit habe. Das Recht auf Inanspruchnahme von Rechtsrat könne untrennbar mit dem Recht auf Zugang zu einem Anwalt verbunden sein.
33 Die Anwaltskammer Genf fügt hinzu, dass die Rechtsberatung in der Praxis erst im Nachhinein als Teil einer streitigen oder „nichtstreitigen“ Angelegenheit eingestuft werden könne. Ganz allgemein gehe es um den Zugang zum Recht, der im vorliegenden Fall aufgrund der Mehrdeutigkeit des Wortlauts des streitigen Verbots – das in der Praxis zu einer Selbstzensur durch die Anwälte führe – eingeschränkt sei.
34 Der Umstand, dass den Anwälten ein Monopol für die Vertretung ihrer Mandanten vor Gericht zustehe, könne das Bestehen eines Grundrechts auf Inanspruchnahme von Rechtsberatung durch einen Anwalt, auch in nicht streitigen Angelegenheiten, nicht in Frage stellen. Das Recht auf Zugang zu einem Anwalt sei als ein unteilbares Ganzes anzusehen, das sich sowohl auf die Verteidigungs- und Vertretungsaufgabe des Anwalts als auch seine Aufgabe als Berater erstrecke.
35 Außerdem begründe das streitige Verbot keine Pflicht zur Zurückhaltung, sondern schlicht und einfach ein Verbot. Dass Anwälte verpflichtet seien, einen Genehmigungsantrag zu stellen, hindere sie jedenfalls daran, selbst zu entscheiden und zu beurteilen, welche Situationen in den Anwendungsbereich der Befreiungsbestimmungen fielen.
36 Der Rat, unterstützt durch die Republik Estland, die Kommission und den Hohen Vertreter der Union für Außen- und Sicherheitspolitik, tritt dem Vorbringen der Kläger entgegen.
37 Insoweit stellt das Gericht fest, dass die von den Klägern im ersten Teil des vorliegenden Klagegrundes aufgeworfene Frage im Wesentlichen auf die Prüfung hinausläuft, ob die Anwendung von Art. 7 in Verbindung mit Art. 47 der Charta das Bestehen eines Grundrechts auf Zugang zu einem Anwalt auch in Situationen begründen kann, die nicht mit einem Gerichtsverfahren zusammenhängen. Da das streitige Verbot u. a. Dienstleistungen im Bereich der Rechtsberatung erfasse, die von Anwälten in nicht streitigen Angelegenheiten erbracht würden, stelle es einen Eingriff in das Grundrecht auf Zugang zu einem Anwalt dar.
38 Die Antwort auf diese Frage erfordert eine Prüfung der Rechtsprechung des Gerichtshofs zu Art. 47 der Charta und zu Art. 7 der Charta sowie der Rechtsprechung des EGMR.
39 Gemäß Art. 52 Abs. 3 der Charta, der die notwendige Kohärenz zwischen den in der Charta enthaltenen Rechten und den entsprechenden durch die am 4. November 1950 in Rom unterzeichnete Europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (im Folgenden: EMRK) garantierten Rechten gewährleisten soll, ohne dass dadurch die Eigenständigkeit des Unionsrechts berührt wird, muss das Gericht bei der Auslegung der durch die Art. 7 und 47 der Charta garantierten Rechte die entsprechenden durch Art. 8 Abs. 1 und Art. 6 Abs. 1 EMRK in deren Auslegung durch den EGMR garantierten Rechte als Mindestschutzstandard berücksichtigen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 8. Dezember 2022, Orde van Vlaamse Balies u. a., C‑694/20, EU:C:2022:963, Rn. 26 und die dort angeführte Rechtsprechung).
40 Für den Gerichtshof kommt dem in Art. 47 der Charta vorgesehenen Grundrecht als Garant für den Schutz sämtlicher dem Einzelnen aus dem Unionsrecht erwachsender Rechte und für die Wahrung der in Art. 2 EUV genannten Werte, die den Mitgliedstaaten gemeinsam sind, u. a. des Wertes der Rechtsstaatlichkeit, grundlegende Bedeutung zu (Urteil vom 20. April 2021, Repubblika, C‑896/19, EU:C:2021:311, Rn. 51). Der in Art. 2 EUV verankerte Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit verlangt einen freien Zugang zum Unionsrecht für alle natürlichen und juristischen Personen der Union sowie die Möglichkeit für den Einzelnen, seine Rechte und Pflichten eindeutig zu erkennen (Urteil vom 5. März 2024, Public.Resource.Org und Right to Know/Kommission u. a., C‑588/21 P, EU:C:2024:201, Rn. 81).
41 Das Recht auf ein faires Verfahren umfasst nach Art. 47 Abs. 2 Satz 2 der Charta die jeder Person gewährleistete Möglichkeit, sich anwaltlich beraten, verteidigen und vertreten zu lassen. Dieses Recht besteht aus verschiedenen Elementen. Es umfasst u. a. die Verteidigungsrechte, den Grundsatz der Waffengleichheit, das Recht auf Zugang zu den Gerichten und das Recht auf Zugang zu einem Anwalt sowohl in Zivil- als auch in Strafsachen (Urteil vom 8. Dezember 2022, Orde van Vlaamse Balies u. a., C‑694/20, EU:C:2022:963, Rn. 60).
42 Art. 47 der Charta trägt die Überschrift „Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf und ein unparteiisches Gericht“. Abs. 3 dieses Artikels sieht eine Prozesskostenhilfe vor, um „den Zugang zu den Gerichten wirksam zu gewährleisten“. In diesem Zusammenhang ist die in Abs. 2 dieses Artikels vorgesehene Möglichkeit, sich beraten, verteidigen und vertreten zu lassen, nur dann anzuerkennen, wenn ein Bezug zu einem Gerichtsverfahren besteht (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 8. Dezember 2022, Orde van Vlaamse Balies u. a., C‑694/20, EU:C:2022:963, Rn. 61).
43 In diesem Sinne hat der Gerichtshof die grundlegende Aufgabe der Anwälte in einem Rechtsstaat nur insoweit anerkannt, als sie zum ordnungsgemäßen Funktionieren der Rechtspflege beitragen und den Schutz und die Verteidigung der Interessen des Mandanten gewährleisten. Der Gerichtshof hat nämlich festgestellt, dass es „dem Einzelnen“, d. h. jedem, der seine Rechte gerichtlich anerkennen lassen und ausüben möchte, möglich sein muss, sich völlig frei an seinen Anwalt zu wenden, zu dessen Beruf schon dem Wesen nach die Aufgabe gehört, all denen unabhängig Rechtsberatung zu erteilen, die sie benötigen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 18. Mai 1982, AM & S Europe/Kommission, 155/79, EU:C:1982:157, Rn. 18). Der Gerichtshof hat die Aufgabe der Anwälte, die in völliger Unabhängigkeit und im vorrangigen Interesse der Rechtspflege dem Mandanten die rechtliche Unterstützung zu gewähren haben, die dieser benötigt, allgemein anerkannt (Urteil vom 18. Mai 1982, AM & S Europe/Kommission, 155/79, EU:C:1982:157, Rn. 24). Ferner hat der Gerichtshof entschieden, dass die in der Vertretung einer Partei bestehende Aufgabe eines Anwalts zwar im Interesse einer geordneten Rechtspflege auszuüben ist, dass diese Aufgabe aber vor allem darin besteht, die Interessen des Mandanten bestmöglich zu schützen und zu verteidigen, damit dieser sein Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf wahrnehmen kann (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 4. Februar 2020, Uniwersytet Wrocławski und Polen/REA, C‑515/17 P sowie C‑561/17 P, EU:C:2020:73, Rn. 62). Der Anwalt erfüllt somit in einer demokratischen Gesellschaft eine grundlegende Aufgabe, nämlich die Verteidigung der Rechtsuchenden (Urteil vom 8. Dezember 2022, Orde van Vlaamse Balies u. a., C‑694/20, EU:C:2022:963, Rn. 28).
44 Im Gegensatz zu Art. 47 der Charta zielt ihr Art. 7 nicht auf den Schutz des Rechts auf einen wirksamen Rechtsbehelf ab, sondern auf den Schutz des Privatlebens einer jeden Person, insbesondere ihrer Kommunikation, unabhängig von jedem Bezug zu einem Gerichtsverfahren. Aus dieser Bestimmung ergibt sich der Schutz des anwaltlichen Berufsgeheimnisses, das grundsätzlich gewährleistet wird, wenn der Anwalt seine Aufgabe der Verteidigung oder Vertretung der Interessen seines Mandanten vor Gericht ausübt oder wenn er einer Person die von ihr erbetene Rechtsberatung erteilt.
45 Insoweit hat der EGMR festgestellt, dass sich der Schutz des Berufsgeheimnisses nach Art. 8 EMRK, dem Art. 7 der Charta entspricht, unabhängig vom Vorliegen eines Rechtsstreits auf die Rechtsberatungstätigkeit im Allgemeinen erstreckt (vgl. in diesem Sinne Urteil des EGMR vom 9. April 2019, Altay/Türkei [Nr. 2], CE:ECHR:2019:0409JUD001123609, § 49).
46 Ebenso hat der Gerichtshof ausdrücklich entschieden, dass Personen, die einen Anwalt konsultieren, abgesehen von Ausnahmefällen „mit Recht darauf vertrauen dürfen, dass ihr Anwalt ohne ihre Zustimmung niemandem offenlegen wird, dass sie ihn konsultieren“ (Urteil vom 8. Dezember 2022, Orde van Vlaamse Balies u. a., C‑694/20, EU:C:2022:963, Rn. 27).
47 Der in Art. 7 der Charta verankerte Schutz des Berufsgeheimnisses ermöglicht es einem Anwalt zwar, seinen Aufgaben bei der Beratung, der Verteidigung und der Vertretung seines Mandanten in angemessener Weise gerecht zu werden, um dessen in Art. 47 der Charta verankertes Recht auf ein faires Verfahren zu gewährleisten (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 8. Dezember 2022, Orde van Vlaamse Balies u. a., C‑694/20, EU:C:2022:963, Rn. 60).
48 Der Schutz von Art. 47 der Charta und der von Art. 7 der Charta haben jedoch nicht die gleiche Tragweite. Zum einen wird der in Art. 7 der Charta verankerte Schutz des Berufsgeheimnisses unabhängig von einem Bezug zu einem Gerichtsverfahren anerkannt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 8. Dezember 2022, Orde van Vlaamse Balies u. a., C‑694/20, EU:C:2022:963, Rn. 61 bis 65). Zum anderen hat der Gerichtshof nicht festgestellt, dass dieser Schutz – unabhängig von jedem Bezug zu einem Gerichtsverfahren – ein Grundrecht auf Zugang zu einem Anwalt und auf Rechtsberatung durch diesen gewährleisten soll, sondern dass er im Hinblick auf das Recht auf Achtung des Privatlebens allein den Zweck hat, die Vertraulichkeit des Schriftverkehrs zwischen dem Anwalt und seinem Mandanten zu wahren.
49 Folglich kann aus der Rechtsprechung des EGMR oder der des Gerichtshofs nicht abgeleitet werden, dass der durch die Art. 7 und 47 der Charta gewährleistete Schutz, einzeln oder zusammen betrachtet, die Grundlage für ein Grundrecht jeder Person bilden kann, außerhalb des Kontexts eines gegenwärtigen oder zu erwartenden Rechtsstreits Zugang zu einem Anwalt und Rechtsberatung durch diesen zu erhalten.
50 Im Übrigen ist im Verfahren vor dem Gericht nicht nachgewiesen worden, dass sich ein solches Recht aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten im Sinne von Art. 6 Abs. 3 EUV ergibt.
51 Das in Art. 47 der Charta verankerte Grundrecht auf Zugang zu einem Anwalt und auf Rechtsberatung durch diesen ist daher nur dann anzuerkennen, wenn ein Bezug zu einem Gerichtsverfahren besteht, unabhängig davon, ob dieses bereits eingeleitet wurde oder ob ihm aufgrund von Umständen, die in der Phase, in der der Anwalt die Rechtslage des Mandanten beurteilt, greifbar sind, vorgebeugt werden oder es abgewendet werden kann.
52 Im vorliegenden Fall verbietet das in Art. 5n Abs. 2 der Verordnung Nr. 833/2014 enthaltene streitige Verbot die unmittelbare oder mittelbare Erbringung von Dienstleistungen im Bereich der Rechtsberatung für die russische Regierung und für in Russland niedergelassene juristische Personen, Organisationen und Einrichtungen.
53 Nach dem 19. Erwägungsgrund der Verordnung 2022/1904 umfassen die verbotenen Rechtsberatungsdienstleistungen nicht „die Vertretung, Beratung, Ausarbeitung von Dokumenten oder Überprüfung von Dokumenten im Rahmen von Rechtsvertretungsdienstleistungen, insbesondere in Angelegenheiten oder Verfahren vor Verwaltungsbehörden, Gerichten, anderen ordnungsgemäß eingerichteten offiziellen Gerichten oder in Schieds- oder Mediationsverfahren“. Dagegen umfassen die verbotenen Rechtsberatungsdienstleistungen „die Rechtsberatung für Mandanten in nichtstreitigen Angelegenheiten, einschließlich Handelsgeschäften, bei denen es um die Anwendung oder Auslegung von Rechtsvorschriften geht“, „die Teilnahme mit oder im Namen von Mandanten an Handelsgeschäften, Verhandlungen und sonstigen Geschäften mit Dritten“ und „die Ausarbeitung, Ausfertigung und Überprüfung von Rechtsdokumenten“.
54 Zwar sind die Erwägungsgründe eines Rechtsakts der Union nicht rechtlich verbindlich und können nicht herangezogen werden, um von den eigentlichen Bestimmungen des betreffenden Rechtsakts abzuweichen (Urteil vom 19. November 1998, Nilsson u. a., C‑162/97, EU:C:1998:554, Rn. 54), doch ermöglicht es der 19. Erwägungsgrund der Verordnung 2022/1904, eine erste Abgrenzung des streitigen Verbots zu verdeutlichen. Nach seinem Wortlaut fallen Rechtsberatungsdienstleistungen, die im Rahmen eines Gerichts‑, Verwaltungs- oder Schiedsverfahrens erbracht werden, nicht unter dieses Verbot.
55 In Art. 5n Abs. 5 und 6 der Verordnung Nr. 833/2014 wird die Tragweite des streitigen Verbots im Licht des 19. Erwägungsgrundes der Verordnung 2022/1904 genauer eingegrenzt. In den vorgenannten Abs. 5 und 6 heißt es, dass das streitige Verbot nicht für die Erbringung von Dienstleistungen gilt, die „für die Wahrnehmung des Rechts auf Verteidigung in Gerichtsverfahren und des Rechts auf einen wirksamen Rechtsbehelf unbedingt erforderlich sind“, bzw. für die Erbringung von Dienstleistungen, die „zur Gewährleistung des Zugangs zu Gerichts‑, Verwaltungs- oder Schiedsverfahren in einem Mitgliedstaat oder für die Anerkennung oder Vollstreckung eines Gerichtsurteils oder eines Schiedsspruchs aus einem Mitgliedstaat unbedingt erforderlich sind, sofern … die Erbringung dieser Dienstleistungen mit den Zielen dieser Verordnung und der Verordnung … Nr. 269/2014 des Rates im Einklang steht“.
56 Somit ergibt sich aus dem Wortlaut von Art. 5n Abs. 6 der Verordnung Nr. 833/2014, insbesondere soweit er sich auf Dienstleistungen im Bereich der Rechtsberatung bezieht, die „zur Gewährleistung des Zugangs zu Gerichts‑, Verwaltungs- oder Schiedsverfahren … unbedingt erforderlich sind“, dass das streitige Verbot nicht für Dienstleistungen im Bereich der Rechtsberatung gilt, die ab dem Zeitpunkt erfolgen, zu dem ein Anwalt um Beistand im Zusammenhang mit der Verteidigung, der Vertretung vor Gericht oder einer Beratung über das Betreiben oder Vermeiden eines Gerichtsverfahrens ersucht wird (vgl. in diesem Sinne und entsprechend Urteil vom 26. Juni 2007, Ordre des barreaux francophones et germanophone u. a., C‑305/05, EU:C:2007:383, Rn. 34). Dieser Artikel steht daher nicht der Erbringung von Dienstleistungen im Bereich der Rechtsberatung entgegen, deren einziger Zweck in diesem Vorstadium darin besteht, die Rechtslage des Betroffenen zu beurteilen, um festzustellen, ob ein – insbesondere gerichtliches – Verfahren in Anbetracht der Situation dieser Person auszuschließen ist oder ob es im Gegenteil wahrscheinlich oder sogar unvermeidlich ist. Im Übrigen wäre es ohne eine solche vorläufige Beurteilung, wie die Kläger hervorgehoben haben, nicht möglich, den Gegenstand der Beratung in Erfahrung zu bringen und zu ermitteln, ob der erbetene Rechtsrat einen Bezug zu einem Gerichtsverfahren haben und damit, wie oben in Rn. 51 ausgeführt, unter das Grundrecht auf Zugang zu einem Anwalt fallen könnte.
57 Dagegen gilt das streitige Verbot u. a. dann, wenn ein Anwalt einen Mandanten in nicht streitigen Angelegenheiten unterstützt oder in dessen Namen und Auftrag bei der Vorbereitung oder Durchführung bestimmter Geschäfte im Wesentlichen finanzieller und kommerzieller Art tätig wird. Diese Tätigkeiten finden in der Regel schon aufgrund ihrer Art in einem Rahmen statt, der keinen Bezug zu einem Gerichtsverfahren aufweist, und fallen daher nicht in den Anwendungsbereich der durch Art. 47 der Charta garantierten Rechte auf einen wirksamen Rechtsbehelf und auf ein faires Verfahren. Wenn ein Anwalt in einem derart frühen Stadium eine juristische Dienstleistung erbringt und nicht als Verteidiger seines Mandanten in einem Rechtsstreit handelt, bedeutet der bloße Umstand, dass die Ratschläge des Anwalts oder der Gegenstand seiner Konsultation in einem späteren Stadium zu einem Rechtsstreit führen können, nicht, dass das Tätigwerden des Anwalts im Rahmen oder im Interesse des Rechts auf Verteidigung seines Mandanten erfolgt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 8. Dezember 2022, Orde van Vlaamse Balies u. a., C‑694/20, EU:C:2022:963, Rn. 63 und 64).
58 Im Übrigen ist darauf hinzuweisen, dass ein Rechtsakt der Union so weit wie möglich in einer seine Gültigkeit nicht in Frage stellenden Weise und im Einklang mit dem gesamten Primärrecht und insbesondere mit den Bestimmungen der Charta auszulegen ist. Lässt nämlich eine Vorschrift des abgeleiteten Unionsrechts mehr als eine Auslegung zu, ist die Auslegung, bei der die Bestimmung mit dem Primärrecht vereinbar ist, derjenigen vorzuziehen, die zur Feststellung ihrer Unvereinbarkeit mit dem Primärrecht führt (vgl. Urteile vom 26. Juni 2007, Ordre des barreaux francophones et germanophone u. a., C‑305/05, EU:C:2007:383, Rn. 28 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie vom 21. Juni 2022, Ligue des droits humains, C‑817/19, EU:C:2022:491, Rn. 86 und die dort angeführte Rechtsprechung).
59 Es ist daher zu prüfen, ob das streitige Verbot so ausgelegt werden kann, dass das in Art. 47 der Charta garantierte Recht, sich anwaltlich beraten, verteidigen und vertreten zu lassen, gewahrt bleibt.
60 Nach den Ausführungen des Rates in seinen Schriftsätzen und in der mündlichen Verhandlung soll das in Art. 5n Abs. 5 und 6 der Verordnung Nr. 833/2014 enthaltene Kriterium der unbedingten Erforderlichkeit nur eine missbräuchliche Inanspruchnahme der in diesen Absätzen vorgesehenen Ausnahmen verhindern und kann nicht als Argument dafür herangezogen werden, dass dieses Verbot das Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand für die Zwecke eines Gerichtsverfahrens beeinträchtige.
61 Wie der Rat zutreffend ausführt, spricht der Wortlaut von Art. 5n Abs. 5 der Verordnung Nr. 833/2014 dafür, dass Rechtsberatungsdienstleistungen im Zusammenhang mit einem vorgerichtlichen Verfahren, d. h. einem Verwaltungsverfahren, oder der ersten Phase eines Gerichtsverfahrens, die die Parteien nach dem anwendbaren nationalen Recht notwendigerweise durchlaufen müssen, nicht unter das streitige Verbot fallen.
62 Ebenso wenig steht der Wortlaut von Art. 5n Abs. 6 der Verordnung Nr. 833/2014 der Durchführung einer vorläufigen rechtlichen Beurteilung, die zu dem Ergebnis führt, dass die Einleitung eines Gerichts‑, Verwaltungs- oder Schiedsverfahrens erforderlich ist oder nicht, oder der Erbringung von Beratungsdienstleistungen entgegen, die es ermöglichen, ein solches Verfahren – u. a. durch einen Vergleich – zu vermeiden. Der Rat weist zu Recht darauf hin, dass diese Auslegung mit dem Urteil vom 26. Juni 2007, Ordre des barreaux francophones et germanophone u. a. (C‑305/05, EU:C:2007:383), im Einklang steht.
63 Art. 5n Abs. 5 und 6 der Verordnung Nr. 833/2014 erlaubt es einem Anwalt daher, eine vorherige Bewertung der rechtlichen Situation der in Russland niedergelassenen juristischen Personen, Organisationen und Einrichtungen vorzunehmen, die ihn konsultieren, um festzustellen, ob die Beratung, um die er gebeten wird, unbedingt erforderlich ist, um den Zugang u. a. zu einem Gerichtsverfahren zu gewährleisten, einem solchen Verfahren vorzubeugen oder es abzuwenden oder sicherzustellen, dass es, sofern es bereits eingeleitet wurde, ordnungsgemäß durchgeführt wird.
64 Aus dem Vorstehenden ergibt sich zum einen, dass das streitige Verbot nicht das durch Art. 47 der Charta geschützte Recht verletzt, sich anwaltlich beraten, verteidigen und vertreten zu lassen. Da Art. 7 der Charta weder im Rahmen eines Gerichtsverfahrens noch in einem nicht streitigen Kontext ein Recht auf Zugang zu einem Anwalt gewährleistet, kann das streitige Verbot zum anderen keinen Eingriff in ein sich aus diesem Artikel ergebendes Recht darstellen.
65 Folglich ist der erste Teil des ersten Klagegrundes, mit dem ein Verstoß gegen die Art. 7 und 47 der Charta, jeweils einzeln oder in Verbindung miteinander, gerügt wird, zurückzuweisen.
66 Da das Gericht nicht festgestellt hat, dass durch das streitige Verbot in das durch Art. 47 der Charta garantierte Recht eingegriffen wurde, sich anwaltlich beraten, verteidigen und vertreten zu lassen, um Rechtsberatung zu erhalten, ist der dritte Teil des ersten Klagegrundes zurückzuweisen, soweit damit geltend gemacht wird, dass das streitige Verbot einen solchen Eingriff darstelle, der nicht im Sinne von Art. 52 Abs. 1 der Charta gerechtfertigt werden könne.
b)
Zum zweiten Teil: Eingriff in das anwaltliche Berufsgeheimnis
67 Die Kläger, unterstützt durch die Bundesrechtsanwaltskammer und die Anwaltskammer Genf, sind der Ansicht, dass die in den Befreiungsbestimmungen vorgesehenen Genehmigungsverfahren zu einem Eingriff in das anwaltliche Berufsgeheimnis führten, das in Art. 7 der Charta, in Art. 8 EMRK und in der Rechtsprechung verankert sei.
68 Ein Anwalt, der eine Genehmigung beantragen wolle, müsse der zuständigen Behörde nämlich Einzelheiten über seinen potenziellen Mandanten und die Art der gewünschten Beratung mitteilen. Es werde bereits offengelegt, dass eine Konsultation stattgefunden habe. Dies stelle einen unmittelbaren Eingriff in das Recht auf Achtung der Kommunikation zwischen Anwalt und Mandant dar. Außerdem könnten nur Anwälte als Erbringer der von dem streitigen Verbot erfassten Rechtsberatungsdienstleistungen einen Befreiungsantrag stellen.
69 Der Rat, unterstützt durch die Republik Estland, die Europäische Kommission und den Hohen Vertreter der Union für Außen- und Sicherheitspolitik, tritt dem Vorbringen der Kläger entgegen.
70 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass Art. 7 der Charta jeder Person das Recht auf Achtung ihres Privat- und Familienlebens, ihrer Wohnung sowie ihrer Kommunikation zuerkennt. Nach Art. 52 Abs. 3 der Charta muss das Gericht bei der Prüfung dieses Rechts die Auslegung von Art. 8 Abs. 1 EMRK durch den EGMR berücksichtigen.
71 Ebenso wie diese Bestimmung der EMRK garantiert Art. 7 der Charta notwendigerweise das Geheimnis der Rechtsberatung, und zwar sowohl im Hinblick auf ihren Inhalt als auch im Hinblick auf ihre Existenz. Abgesehen von Ausnahmefällen muss jede Person daher mit Recht darauf vertrauen dürfen, dass ihr Anwalt ohne ihre Zustimmung niemandem offenlegen wird, dass sie ihn konsultiert (Urteil vom 8. Dezember 2022, Orde van Vlaamse Balies u. a., C‑694/20, EU:C:2022:963, Rn. 27).
72 Weder Art. 7 der Charta noch Art. 8 EMRK verbieten es jedoch, Anwälten eine Reihe von Verpflichtungen aufzuerlegen, die die Beziehungen zu ihren Mandanten betreffen können, insbesondere wenn plausible Indizien für die Beteiligung eines Anwalts an einer Straftat vorliegen oder im Rahmen der Bekämpfung bestimmter Praktiken. Solche Maßnahmen müssen jedoch streng eingegrenzt sein und ausreichende Verfahrensgarantien gegen Willkür bieten (vgl. in diesem Sinne Urteil des EGMR vom 16. November 2021, Särgava/Estland, CE:ECHR:2021:1116JUD000069819, § 89 und die dort angeführte Rechtsprechung).
73 Der Gerichtshof hat bereits entschieden, dass eine Meldepflicht, die einem Anwalt vorschreibt, einem Drittintermediär, der nicht sein Mandant war, seine Identität, seine Beurteilung zu der in Rede stehenden Meldepflicht sowie die Tatsache selbst, dass er konsultiert wurde, zu offenbaren, zu einem Eingriff in das in Art. 7 der Charta garantierte Recht auf Achtung der Kommunikation zwischen Anwalt und Mandant führt (Urteil vom 8. Dezember 2022, Orde van Vlaamse Balies u. a., C‑694/20, EU:C:2022:963, Rn. 29 und 30). Im Übrigen führt diese Meldepflicht dadurch, dass sie den Drittintermediär zwingt, der Verwaltung die Identität und die Tatsache mitzuteilen, dass der betreffende Anwalt konsultiert wurde, zu einem weiteren Eingriff in das in Art. 7 der Charta garantierte Recht (Urteil vom 8. Dezember 2022, Orde van Vlaamse Balies u. a., C‑694/20, EU:C:2022:963, Rn. 31). Daraus folgt, dass es einen Eingriff in das in Art. 7 der Charta garantierte Recht darstellt, wenn ein Anwalt u. a. seine Identität oder den Umstand offenlegt, dass eine Konsultation, mit der er betraut war, stattgefunden hat, sofern diese Offenlegung zwingend ist und ohne die Zustimmung seines Mandanten erfolgt.
74 Nach Art. 5n Abs. 10 der Verordnung Nr. 833/2014 „können“ die zuständigen Behörden Dienstleistungen im Bereich der Rechtsberatung „unter ihnen geeignet erscheinenden Bedingungen“ genehmigen, nachdem sie festgestellt haben, dass diese für die in diesem Absatz abschließend aufgeführten Zwecke erforderlich sind.
75 Art. 12b Abs. 2a der Verordnung Nr. 833/2014 sieht vor, dass die zuständigen Behörden die Erbringung von Dienstleistungen, die dem streitigen Verbot unterliegen, genehmigen „können“, wenn diese Dienstleistungen für den Abzug von Investitionen aus Russland oder die Abwicklung von Geschäftstätigkeiten in Russland unbedingt erforderlich sind, sofern zwei kumulative Voraussetzungen erfüllt sind. Diese Voraussetzungen bestehen im Wesentlichen darin, dass die in Rede stehende Beratung nur für die aus dem Abzug von Investitionen hervorgehenden Organisationen erbracht wird und dass „keine hinreichenden Gründe zu der Annahme [bestehen], dass die Dienstleistungen mittelbar oder unmittelbar für die Regierung Russlands oder für einen militärischen Endnutzer erbracht werden oder eine militärische Endverwendung in Russland haben könnten“.
76 Die Befreiungsbestimmungen erlauben es den zuständigen Behörden somit, das streitige Verbot in genau umschriebenen Situationen aufzuheben.
77 Diese Befreiungsbestimmungen lassen den zuständigen Behörden einen Gestaltungsspielraum hinsichtlich der Modalitäten, nach denen ein Antrag auf Befreiung zu stellen, einzureichen und zu bearbeiten ist. Beispielsweise regeln diese Bestimmungen nicht, durch wen der Antrag bei den zuständigen nationalen Behörden gestellt wird. So steht es den Mitgliedstaaten frei, vorzusehen, dass dieser Antrag vom Anwalt oder einem Dritten oder sogar von der russischen Regierung oder der betreffenden in Russland niedergelassenen Organisation selbst gestellt werden kann, wobei diese im letztgenannten Fall weiterhin die Möglichkeit haben, gemäß Art. 5n Abs. 6 der Verordnung Nr. 833/2014 die – auch informelle – Unterstützung eines Anwalts in Anspruch zu nehmen.
78 Ebenso wenig legen die streitigen Bestimmungen ausdrücklich oder auch nur implizit nahe, dass der Anwalt verpflichtet wäre, den zuständigen Behörden ohne Zustimmung seines Mandanten Informationen mitzuteilen, die unter das durch Art. 7 der Charta garantierte Berufsgeheimnis fallen.
79 Was die für die Bearbeitung des Befreiungsantrags erforderlichen Informationen angeht, wird in den Befreiungsbestimmungen auch nicht erwähnt, über welche Informationen die zuständige Behörde verfügen muss, um ihre Prüfung durchzuführen. Zwar erfordern die allgemeinen Voraussetzungen, unter denen die Befreiungen gewährt werden können, dass diese Behörde im Rahmen der Anwendung von Art. 5n Abs. 10 der Verordnung Nr. 833/2014 den ihr unterbreiteten Sachverhalt sorgfältig prüft, da die zuständige Behörde für die Erteilung einer Genehmigung „feststellen“ muss, dass diese für einen der in den Befreiungsbestimmungen genannten Zwecke erforderlich ist. Gleiches gilt für Art. 12b Abs. 2a dieser Verordnung, da er vorsieht, dass sich die zuständige Behörde vergewissern muss, dass die Erbringung der Dienstleistungen für die festgelegten Tätigkeiten unbedingt erforderlich ist und die hierfür vorgesehenen Voraussetzungen erfüllt.
80 Allerdings ist darauf hinzuweisen, dass die Mitgliedstaaten nach Art. 51 Abs. 1 der Charta verpflichtet sind, bei der Durchführung des Rechts der Union die in der Charta verankerten Rechte zu achten. Sie haben daher bei der Festlegung der Modalitäten für die Durchführung der Befreiungsverfahren dafür Sorge zu tragen, dass Art. 7 der Charta unter Einhaltung der Voraussetzungen ihres Art. 52 Abs. 1 beachtet wird (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. Oktober 2020, Privacy International, C‑623/17, EU:C:2020:790, Rn. 62 und 63).
81 Folglich führen die Befreiungsbestimmungen für sich genommen nicht zu einem Eingriff in das in Art. 7 der Charta garantierte Recht.
82 Darüber hinaus machen die Kläger geltend, dass Art. 5n Abs. 4 der Verordnung Nr. 833/2014, da er die Anwälte verpflichte, alle Verträge mit in Russland niedergelassenen juristischen Personen, Organisationen und Einrichtungen – auch solche, die vor dem 7. Oktober 2022 abgeschlossen worden seien – zu beenden, der durch Art. 7 der Charta geschützte Loyalitätspflicht des Anwalts jeden Inhalt nehme.
83 Da die Kläger ihr Vorbringen jedoch nicht weiter untermauert haben, haben sie nicht dargelegt, inwiefern Art. 5n Abs. 4 der Verordnung Nr. 833/2014 zu einem Eingriff in die Loyalitätspflicht des Rechtsanwalts und in das in Art. 7 der Charta garantierte Recht führen soll.
84 Somit ist der zweite Teil des ersten Klagegrundes zurückzuweisen.
85 Selbst wenn sich aus den Befreiungsbestimmungen ein Eingriff in das in Art. 7 der Charta garantierte anwaltliche Berufsgeheimnis ergeben sollte, ist jedenfalls darauf hinzuweisen, dass Art. 52 Abs. 1 der Charta Einschränkungen der Ausübung der in der Charta verankerten Rechte zulässt, sofern die betreffenden Einschränkungen gesetzlich vorgesehen sind. Diese müssen auch den Wesensgehalt des in Rede stehenden Grundrechts achten sowie unter Wahrung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes erforderlich sein und den von der Europäischen Union anerkannten dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen tatsächlich entsprechen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 28. März 2017, Rosneft, C‑72/15, EU:C:2017:236, Rn. 148, vom 8. Dezember 2022, Orde van Vlaamse Balies u. a., C‑694/20, EU:C:2022:963, Rn. 34, und vom 27. Juli 2022, RT France/Rat, T‑125/22, EU:T:2022:483, Rn. 77 und 144).
86 Was erstens das Erfordernis einer gesetzlichen Grundlage für jede Einschränkung der Ausübung der Grundrechte angeht, bedeutet dieses, dass der Rechtsakt, der den Eingriff in die Grundrechte ermöglicht, den Umfang der Einschränkung der Ausübung des betreffenden Rechts selbst festlegen muss. Dieses Erfordernis schließt zum einen aber nicht aus, dass die fragliche Einschränkung hinreichend offen formuliert ist, um Anpassungen an verschiedene Fallgruppen und an Änderungen der Lage zu erlauben. Zum anderen kann der Gerichtshof gegebenenfalls die konkrete Tragweite der Einschränkung im Wege der Auslegung präzisieren, und zwar anhand sowohl des Wortlauts als auch der Systematik und der Ziele der fraglichen Unionsregelung, wie sie im Licht der durch die Charta garantierten Grundrechte auszulegen sind (vgl. Urteil vom 8. Dezember 2022, Orde van Vlaamse Balies u. a., C‑694/20, EU:C:2022:963, Rn. 35 und die dort angeführte Rechtsprechung).
87 Insoweit begrenzen Art. 5n Abs. 4 bis 9 der Verordnung Nr. 833/2014 (im Folgenden: Ausnahmebestimmungen) und die Befreiungsbestimmungen den Umfang des in Art. 5n Abs. 2 der Verordnung Nr. 833/2014 aufgestellten Verbots für Anwälte, Dienstleistungen im Bereich der Rechtsberatung für die russische Regierung und für in Russland niedergelassene Organisationen zu erbringen. Entgegen dem Vorbringen der Anwaltskammer Genf ergibt sich aus den vorstehenden Rn. 52 bis 63, dass die dem streitigen Verbot unterliegenden Dienstleistungen im Bereich der Rechtsberatung ausdrücklich bezeichnet werden.
88 Unter diesen Umständen ist davon auszugehen, dass das streitige Verbot im Sinne von Art. 52 Abs. 1 der Charta gesetzlich vorgesehen ist.
89 Was zweitens die Achtung des Wesensgehalts des in Art. 7 der Charta garantierten Rechts auf Achtung der Kommunikation zwischen Anwalt und Mandant betrifft, ist darauf hinzuweisen, dass die Befreiungsbestimmungen weder eine Verpflichtung noch auch nur eine Erlaubnis für den Anwalt vorsehen, der zuständigen Behörde ohne die Zustimmung seines Mandanten Informationen über den Inhalt ihrer Kommunikation oder den genauen Inhalt der erbetenen Konsultation mitzuteilen. Im Übrigen können die Befreiungsbestimmungen nur in Situationen geltend gemacht werden, die keinen Bezug zu einem Gerichts‑, Verwaltungs- oder Schiedsverfahren aufweisen, so dass sie in keiner Weise zur Offenlegung von Informationen im Zusammenhang mit solchen gegenwärtigen oder zu erwartenden Verfahren führen können.
90 Unter diesen Umständen kann nicht davon ausgegangen werden, dass die Befreiungsbestimmungen den Wesensgehalt des in Art. 7 der Charta verankerten Rechts auf Achtung der Kommunikation zwischen Anwalt und Mandant beeinträchtigen.
91 Drittens ist hinsichtlich der Geeignetheit der Befreiungsbestimmungen zu prüfen, ob die Beschränkungen des Berufsgeheimnisses, zu denen sie führen können, durch von der Europäischen Union anerkannte dem Gemeinwohl dienende Zielsetzungen gerechtfertigt sind und ob sie diesen dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen tatsächlich entsprechen.
92 Die Prüfung der Verhältnismäßigkeit der Befreiungsbestimmungen ist untrennbar mit der Prüfung der Verhältnismäßigkeit des streitigen Verbots selbst verbunden. Die Befreiungsbestimmungen stellen nämlich nur eine Eingrenzung des streitigen Verbots dar.
93 In diesem Zusammenhang hat das Gericht entschieden, dass die Bedeutung der mit den Verordnungen 2022/1904, 2022/2474 und 2023/427 verfolgten Ziele, nämlich der Schutz der territorialen Unversehrtheit, der Souveränität und der Unabhängigkeit der Ukraine und die Unterstützung einer friedlichen Beilegung der Krise in diesem Land – die sich in das übergeordnete Ziel der Erhaltung des Friedens und der internationalen Sicherheit in Einklang mit den in Art. 21 EUV genannten Zielen des auswärtigen Handelns der Union einfügen –, auch erhebliche negative Folgen für bestimmte Wirtschaftsteilnehmer rechtfertigt, die für die Situation, die zum Erlass der Sanktionen geführt hat, nicht verantwortlich sind (Urteil vom 13. September 2018, Gazprom Neft/Rat, T‑735/14 und T‑799/14, EU:T:2018:548, Rn. 171; vgl. in diesem Sinne auch Urteil vom 27. Juli 2022, RT France/Rat, T‑125/22, EU:T:2022:483, Rn. 202).
94 Aus dem zweiten Erwägungsgrund des Beschlusses 2022/1909 ergibt sich, dass „[d]ie Union … nach wie vor uneingeschränkt die Souveränität und territoriale Unversehrtheit der Ukraine [unterstützt]“. In den Erwägungsgründen 3 bis 8 dieses Beschlusses wird der Ernst der Lage in der Ukraine dargelegt und der Schluss gezogen, dass die „Mitglieder des Europäischen Rates erklärten, dass sie die restriktiven Maßnahmen der Union gegen die illegalen Handlungen Russlands verschärfen und den Druck auf Russland, seinen Angriffskrieg zu beenden, weiter verstärken werden“. Ferner heißt es im neunten Erwägungsgrund des Beschlusses 2022/1909, dass „[es a]ngesichts des Ernstes der Lage … angezeigt [ist], neue restriktive Maßnahmen einzuführen“, zu denen gemäß den Erwägungsgründen 12 und 13 dieses Beschlusses auch das streitige Verbot gehört.
95 Aus dem dritten Erwägungsgrund der Verordnung 2022/1904 geht im Übrigen hervor, dass diese neuen restriktiven Maßnahmen „[a]ngesichts der weiteren Aggression der Russischen Föderation gegen die Ukraine“ angenommen wurden. Im 19. Erwägungsgrund dieser Verordnung, der den 13. Erwägungsgrund des Beschlusses 2022/1909 aufgreift, werden sodann die Arten der verbotenen Rechtsberatungsdienstleistungen dargelegt.
96 Der Rat trägt vor, aus den einschlägigen Erwägungsgründen des Beschlusses 2022/1909 und der Verordnung 2022/1904 gehe hervor, dass das streitige Verbot zum Ziel habe, den Druck auf die Russische Föderation weiter zu verstärken, damit sie ihren Angriffskrieg beende. Zu diesem Zweck ziele das streitige Verbot darauf ab, die Schwierigkeit für die russische Regierung und die in Russland niedergelassenen Organisationen bei der Beschaffung von Waren und Dienstleistungen oder Kapital in der Union zu erhöhen, indem ihnen die für solche Geschäfte erforderliche technisch-rechtliche Unterstützung vorenthalten werde.
97 Aus den vorgenannten Erwägungsgründen ergibt sich, dass die Mitglieder des Europäischen Rates und damit der Rat angesichts der sich verschlechternden Lage in der Ukraine den Druck auf die Russische Föderation durch zusätzliche restriktive Maßnahmen erhöhen wollten, deren Ziel darin bestand, zur Beendigung des Angriffskriegs der Russischen Föderation gegen die Ukraine beizutragen. Da die von Juristen der Union erbrachten Rechtsberatungsdienstleistungen für die Ausübung der wirtschaftlichen Tätigkeiten der russischen Regierung und jeder in Russland niedergelassenen Organisation in der Union wesentlich sind, ist ein Verbot dieser Dienstleistungen geeignet, die Ausübung solcher Tätigkeiten zu beschränken. Eine solche Beschränkung kann daher die wirtschaftlichen und finanziellen Ressourcen des russischen Regimes begrenzen und dadurch die Kosten für die Handlungen der Russischen Föderation zur Untergrabung der territorialen Unversehrtheit, Souveränität und Unabhängigkeit der Ukraine in die Höhe treiben.
98 In diesem Zusammenhang ist hervorzuheben, dass das fragliche Verbot mit den Ausnahme- und den Befreiungsbestimmungen versehen ist, die die Auswirkungen dieses Verbots hinsichtlich seines sowohl sachlichen als auch persönlichen Anwendungsbereichs abschwächen können.
99 Zunächst beschränken nämlich die Ausnahmebestimmungen die Tragweite des allgemeinen Verbots der Erbringung von Rechtsberatungsdienstleistungen, indem sie u. a. Rechtsberatungsdienstleistungen, die im Zusammenhang mit einem Gerichts‑, Verwaltungs- oder Schiedsverfahren erbracht werden, vom sachlichen Anwendungsbereich dieses Verbots ausnehmen. Somit unterliegt diesem Verbot nur die Rechtsberatung in nicht streitigen Angelegenheiten.
100 Sodann sieht zum einen Art. 5n Abs. 10 der Verordnung Nr. 833/2014 die Möglichkeit vor, für bestimmte Rechtsberatungsdienstleistungen, die sich in Anbetracht der dort aufgeführten Bereiche als besonders notwendig oder nützlich für die Union erweisen können und mit den Zielen des auswärtigen Handelns der Union in Einklang stehen, vom streitigen Verbot abzuweichen, indem in diesem Absatz Sektoren aufgeführt sind, die nicht unter die sektorspezifischen restriktiven Maßnahmen fallen.
101 Zum anderen sieht Art. 12b Abs. 2a der Verordnung Nr. 833/2014 ferner die Möglichkeit vor, für bestimmte Dienstleistungen im Bereich der Rechtsberatung von dem streitigen Verbot abzuweichen, wenn diese Dienstleistungen für den Abzug von Investitionen aus Russland oder die Abwicklung von Geschäftstätigkeiten in Russland unbedingt erforderlich sind, sofern zwei Voraussetzungen erfüllt sind. Im Übrigen ist darauf hinzuweisen, dass diese Befreiung zwar zeitlich begrenzt war (ursprünglich bis zum 31. Dezember 2023), jedoch durch die Verordnung (EU) 2023/1214 des Rates vom 23. Juni 2023 zur Änderung der Verordnung Nr. 833/2014 (ABl. 2023, L 159 I, S. 1) bis zum 31. März 2024 und anschließend durch die Verordnung (EU) 2023/2878 des Rates vom 18. Dezember 2023 zur Änderung der Verordnung Nr. 833/2014 (ABl. L, 2023/2878) bis zum 31. Juli 2024 verlängert wurde.
102 Schließlich ist auch der persönliche Anwendungsbereich dieses Verbots begrenzt. Es betrifft nämlich nur juristischen Dienstleistungen, die für die russische Regierung und in Russland niedergelassene juristische Personen, Organisationen und Einrichtungen erbracht werden. Somit fallen Rechtsberatungen, die u. a. für natürliche Personen erbracht werden, nicht unter dieses Verbot.
103 Folglich entspricht das streitige Verbot in angemessener und kohärenter Weise dem Ziel, den Druck auf die Russische Föderation weiter zu verstärken, damit sie ihren Angriffskrieg beendet. Da die Befreiungsbestimmungen es erlauben, das streitige Verbot in genau umschriebenen Situationen aufzuheben, verfolgen sie selbst diese dem Gemeinwohl dienende Zielsetzung.
104 Viertens ist zu prüfen, ob der Eingriff in das Grundrecht auf Achtung der Kommunikation zwischen Anwalt und Mandant, der sich aus den Befreiungsbestimmungen ergeben kann, auf das beschränkt ist, was zur Erreichung der mit den Verordnungen 2022/1904, 2022/2474 und 2023/427 verfolgten Ziele erforderlich ist.
105 Insoweit ist festzustellen, dass die Befreiungsbestimmungen, wie insbesondere oben in Rn. 100 dargelegt, darauf abzielen, das streitige Verbot aus politischen, humanitären, strategischen und wirtschaftlichen Gründen – insbesondere in Situationen, die sich als vorteilhaft für die Union erweisen können – aufzuheben. Wie sich oben aus den Rn. 100 und 101 ergibt, beschränken diese Befreiungsbestimmungen insoweit die Tragweite des streitigen Verbots und gewährleisten somit dessen Verhältnismäßigkeit. Im Übrigen können diese Bestimmungen insofern, als sie die Strenge des streitigen Verbots mildern, die Verfolgung des mit diesem Verbot verfolgten legitimen Gesamtziels beeinträchtigen, das darin besteht, die wirtschaftlichen und finanziellen Ressourcen des russischen Regimes zu begrenzen, damit dieses seinen Angriffskrieg in der Ukraine beendet. Daher ist es gerechtfertigt, dass die zuständigen Behörden das streitige Verbot erst aufheben können, nachdem sie festgestellt haben, dass dies erforderlich ist und die in den Befreiungsbestimmungen aufgeführten Voraussetzungen erfüllt sind.
106 Es kann somit davon ausgegangen werden, dass die Befreiungsbestimmungen nicht über das hinausgehen, was erforderlich ist, um die Ziele des streitigen Verbots wirksam zu erreichen und zugleich dessen Verhältnismäßigkeit zu gewährleisten.
107 Der dritte Teil des ersten Klagegrundes, mit dem geltend gemacht wird, dass das streitige Verbot einen Eingriff in Art. 7 der Charta darstelle, ist somit jedenfalls unbegründet. Folglich ist der erste Klagegrund insgesamt zurückzuweisen.
2. Zum zweiten Klagegrund: Eingriff in die anwaltliche Unabhängigkeit und die Werte der Rechtsstaatlichkeit sowie Verstoß gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit
108 Der zweite Klagegrund gliedert sich in zwei Teile.
a)
Zum ersten Teil: Eingriff in die anwaltliche Unabhängigkeit und die Werte der Rechtsstaatlichkeit
109 Der erste Teil des zweiten Klagegrundes umfasst zwei Rügen. Mit diesen beiden Rügen ersuchen die Kläger das Gericht, die Rechtmäßigkeit des streitigen Verbots im Licht von Art. 2 EUV zu prüfen.
110 Der Rat, unterstützt durch die Republik Estland, die Kommission und den Hohen Vertreter der Union für Außen- und Sicherheitspolitik, hält das auf die in Art. 2 EUV verankerten Werte der Union gestützte Vorbringen der Kläger für unzulässig, da es nicht hinreichend untermauert sei.
111 Daher ist zunächst die vom Rat erhobene Einrede der Unzulässigkeit zu prüfen, sodann die Rüge eines Eingriffs in die anwaltliche Unabhängigkeit und schließlich die Rüge eines Eingriffs in die Werte der Rechtsstaatlichkeit.
1) Zur Einrede der Unzulässigkeit gemäß Art. 76 der Verfahrensordnung
112 Nach Art. 76 Buchst. d der Verfahrensordnung des Gerichts muss die Klageschrift u. a. eine kurze Darstellung der Klagegründe enthalten. Diese Darstellung muss zudem nach ständiger Rechtsprechung so klar und genau sein, dass der Beklagte seine Verteidigung vorbereiten und das Gericht – gegebenenfalls, ohne weitere Angaben einholen zu müssen – über die Klage entscheiden kann. Um die Rechtssicherheit und eine geordnete Rechtspflege zu gewährleisten, ist nämlich für die Zulässigkeit einer Klage erforderlich, dass sich die wesentlichen tatsächlichen und rechtlichen Umstände, auf die sich die Klage stützt, zumindest in gedrängter Form, aber zusammenhängend und verständlich unmittelbar aus der Klageschrift ergeben. Ebenso entspricht es der ständigen Rechtsprechung, dass Klagegründe, die in der Klageschrift nicht hinreichend substantiiert angeführt worden sind, als unzulässig anzusehen sind. Entsprechende Erfordernisse gelten für eine zur Stützung eines Klagegrundes vorgebrachte Rüge (vgl. Urteil vom 12. Februar 2020, Kampete/Rat, T‑164/18, nicht veröffentlicht, EU:T:2020:54, Rn. 112 und die dort angeführte Rechtsprechung).
113 Im vorliegenden Fall machen die Kläger unter Berufung auf die Rechtsprechung des EGMR und des Gerichtshofs geltend, dass die Wahrung der grundlegenden Aufgabe des Anwalts, nämlich der Verteidigung der Rechtsuchenden, erforderlich sei, um innerhalb der Union die in Art. 2 EUV aufgeführten Grundwerte wie Demokratie, Rechtsstaatlichkeit oder auch die Menschenrechte sowie die Gewährleistung der in den Art. 7 und 47 der Charta verankerten Grundrechte zu fördern.
114 Der Eingriff in die anwaltliche Unabhängigkeit ergebe sich insbesondere daraus, dass das streitige Verbot durch seine Befreiungsbestimmungen die Möglichkeit für Anwälte einschränke, Mandate anzunehmen und anschließend auszuführen. Insoweit beeinträchtige das streitige Verbot die grundlegende Aufgabe des Anwalts und damit die in Art. 2 EUV aufgeführten Grundwerte.
115 Die Kläger machen somit geltend, dass das streitige Verbot dadurch, dass es die Erbringung von Rechtsberatungsdienstleistungen durch Anwälte grundsätzlich einschränke, gegen die in Art. 2 EUV aufgeführten Grundwerte verstoßen könne.
116 Daraus folgt, dass die Kläger die wesentlichen tatsächlichen und rechtlichen Umstände, auf die sie sich stützen, wenn auch in gedrängter Form, zusammenhängend und verständlich in der Klageschrift dargelegt haben.
117 Folglich ist die auf Art. 76 Buchst. d der Verfahrensordnung gestützte Einrede der Unzulässigkeit zurückzuweisen.
2) Zur ersten Rüge: Eingriff in die anwaltliche Unabhängigkeit
118 Die Kläger, unterstützt durch die Bundesrechtsanwaltskammer und die Anwaltskammer Genf, machen geltend, dass die Pflicht, eine Genehmigung zur Erbringung von Dienstleistungen im Bereich der Rechtsberatung einzuholen, einen Eingriff in die anwaltliche Unabhängigkeit darstelle, die notwendig sei, um die Achtung der in Art. 2 EUV verankerten Werte der Union wie Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte zu gewährleisten. Die anwaltliche Unabhängigkeit sei somit notwendig, um die Rechtsstaatlichkeit zu gewährleisten.
119 Die angefochtenen Bestimmungen beeinträchtigten die Unabhängigkeit von Anwälten sowohl gegenüber der staatlichen Behörde als auch gegenüber ihren Mandanten und hinderten sie daran, ihren Loyalitätspflichten diesen gegenüber nachzukommen. Die in diesen Vorschriften vorgesehenen Ausnahmen seien begrenzt und beträfen nur einen Teil der Rechtsberatungsdienstleistungen. Die Kläger weisen darauf hin, dass die vom Rat der Europäischen Anwaltschaften verfassten Berufsregeln der europäischen Rechtsanwälte dem entgegenstünden, dass ein Dritter, und erst recht eine Behörde, Einfluss auf das Verfahren zur Annahme und Durchführung der Mandate des Anwalts ausübe.
120 Die Kläger weisen außerdem darauf hin, dass die Behörden keine Maßnahmen ergreifen dürften, die die anwaltliche Unabhängigkeit gefährdeten. Der Umstand, dass nationale oder europäische Behörden die Bereiche, in denen Anwälte tätig werden dürften, oder den Personenkreis, den sie beraten dürften, beschränken könnten, sei ein Eingriff in die Unabhängigkeit der Anwälte und nicht nur in ihre Freiheit, bestimmte Dienstleistungen zu erbringen.
121 Die Anwaltskammer Genf fügt hinzu, dass die Unabhängigkeit des Anwalts gegenüber Behörden, Dritten und seinen Mandanten durch Art. 47 der Charta und Art. 2 EUV geschützt sei. Das streitige Verbot beeinträchtige diese Unabhängigkeit in ungerechtfertigter Weise; der Anwalt müsse jedoch frei entscheiden können, ob er einen Fall bearbeite oder nicht, um für niemanden die Möglichkeit zu beschränken, seine Rechte geltend zu machen.
122 Der Rat, unterstützt durch die Republik Estland, die Europäische Kommission und den Hohen Vertreter der Union für Außen- und Sicherheitspolitik, bestreitet jeden Eingriff in die anwaltliche Unabhängigkeit.
123 Insoweit weist das Gericht darauf hin, dass aus Art. 2 EUV insbesondere hervorgeht, dass sich die Union auf Werte wie die Rechtsstaatlichkeit gründet, die allen Mitgliedstaaten in einer Gesellschaft, die sich u. a. durch Gerechtigkeit auszeichnet, gemeinsam sind (Urteil vom 20. April 2021, Repubblika, C‑896/19, EU:C:2021:311, Rn. 62). Jede Person, deren durch das Recht der Union garantierte Rechte oder Freiheiten verletzt worden sind, hat das Recht, bei einem Gericht einen wirksamen Rechtsbehelf einzulegen, da eine wirksame, zur Gewährleistung der Einhaltung des Unionsrechts dienende gerichtliche Kontrolle dem Wesen eines Rechtsstaats inhärent ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 28. März 2017, Rosneft, C‑72/15, EU:C:2017:236, Rn. 73 und die dort angeführte Rechtsprechung).
124 Aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs ergibt sich, dass der Anwalt ein Hilfsorgan der Rechtspflege ist, der dem Mandanten in völliger Unabhängigkeit die von diesem benötigte rechtliche Unterstützung gewährt. Der Gerichtshof hat nämlich die Aufgabe der Anwälte anerkannt, die darin besteht, in völliger Unabhängigkeit und im höheren Interesse der Rechtspflege dem Mandanten die rechtliche Unterstützung zu gewähren, die dieser benötigt (Urteil vom 18. Mai 1982, AM & S Europe/Kommission, 155/79, EU:C:1982:157, Rn. 24). Ferner weist der Gerichtshof darauf hin, dass die grundlegende Aufgabe des Anwalts zum einen das Erfordernis, dessen Bedeutung in allen Mitgliedstaaten anerkannt wird, umfasst, wonach es dem Einzelnen möglich sein muss, sich völlig frei an seinen Anwalt zu wenden, zu dessen Beruf es schon seinem Wesen nach gehört, all denen unabhängig Rechtsberatung zu erteilen, die sie benötigen, und zum anderen das damit zusammenhängende Erfordernis der Loyalität des Anwalts seinem Mandanten gegenüber (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 8. Dezember 2022, Orde van Vlaamse Balies u. a., C‑694/20, EU:C:2022:963, Rn. 28).
125 Außerdem ist der Gerichtshof der Ansicht, dass die Unabhängigkeit des Anwalts für die Wahrung des Rechts seines Mandanten auf einen wirksamen Rechtsbehelf von besonderer Bedeutung ist und macht die Zulässigkeit von Klagen, die von Privatpersonen erhoben werden, davon abhängig, dass der Kläger durch einen unabhängigen Dritten vertreten wird. Das Ziel der in Art. 19 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union genannten, in der Vertretung einer Partei bestehenden Aufgabe eines Anwalts besteht nämlich vor allem darin, unter Beachtung der Berufs- und Standesregeln die Interessen des Mandanten zu schützen und zu verteidigen. Das Unabhängigkeitserfordernis ist nicht nur negativ, d. h. durch das Fehlen eines Beschäftigungsverhältnisses, sondern auch positiv, d. h. unter Bezugnahme auf die berufsständischen Pflichten, zu definieren. In Bezug auf den letztgenannten Punkt ist die Unabhängigkeit nicht als das Fehlen jeglicher Verbindung des Anwalts zu seinem Mandanten zu verstehen, sondern lediglich dahin, dass es keine Verbindung geben darf, die offensichtlich seine Fähigkeit beeinträchtigt, seiner Aufgabe nachzukommen, die darin besteht, die Verteidigung seines Mandanten durch den bestmöglichen Schutz von dessen Interessen unter Beachtung der Berufs- und Standesregeln sicherzustellen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 24. März 2022, PJ und PC/EUIPO, C‑529/18 P und C‑531/18 P, EU:C:2022:218, Rn. 65, 66 und 69 sowie die dort angeführte Rechtsprechung). Das Recht des Rechtsuchenden auf in völliger Unabhängigkeit erteilte Rechtsberatung durch einen Anwalt ist somit untrennbar mit dem Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf verbunden.
126 Schließlich hat der Gerichtshof in der Rechtssache, in der das Urteil vom 19. Februar 2002, Wouters u. a. (C‑309/99, EU:C:2002:98), ergangen ist, nach der Feststellung, dass es keine Unionsvorschriften zur anwaltlichen Unabhängigkeit gibt, den anwendbaren nationalen Rechtsrahmen, nämlich die vom Nederlandse Orde van Advocaten (Niederländische Anwaltskammer) erlassene Samenwerkingsverordening 1993 (Zusammenarbeitsverordnung von 1993) herangezogen, um die Grenzen der anwaltlichen Unabhängigkeit zu bestimmen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 19. Februar 2002, Wouters u. a., C‑309/99, EU:C:2002:98, Rn. 99 bis 102).
127 Aus den vorstehenden Erwägungen ergibt sich, dass der Gerichtshof trotz des Fehlens einer primärrechtlichen Norm, in der die anwaltliche Unabhängigkeit verankert und definiert wird, die Bedeutung einer solchen Unabhängigkeit für die Gewährleistung des Rechts des Einzelnen auf einen wirksamen Rechtsbehelf in Situationen, die einen Bezug zu einem Gerichtsverfahren aufweisen, anerkannt hat.
128 Zwar ergibt sich aus den von den Klägern angeführten Bestimmungen der Berufsregeln der europäischen Rechtsanwälte, wonach die anwaltliche Unabhängigkeit „für die außergerichtliche Tätigkeit ebenso wichtig [ist] wie für die Tätigkeit vor Gericht“, dass sich die Unabhängigkeit auch auf Rechtsberatungstätigkeiten erstrecken kann, die keinen Bezug zu einem Gerichtsverfahren aufweisen.
129 Die Bestimmungen der Berufsregeln für europäische Rechtsanwälte sind jedoch keine unionsrechtlichen Vorschriften und können keine Rechtsgrundlage für die Anerkennung der anwaltlichen Unabhängigkeit auf Unionsebene darstellen. Außerdem beeinträchtigen diese Bestimmungen nicht die Freiheit der einzelnen Mitgliedstaaten, die Ausübung des Anwaltsberufs in ihrem Hoheitsgebiet zu regeln. Die für diesen Beruf geltenden Regeln können daher in den einzelnen Mitgliedstaaten erheblich voneinander abweichen (Urteil vom 19. Februar 2002, Wouters u. a., C‑309/99, EU:C:2002:98, Rn. 99). Im Übrigen ist zwischen den Parteien unstreitig, dass die Kläger nicht angegeben haben, wie die anwaltliche Unabhängigkeit in Belgien konkret aufgefasst wird. Jedenfalls ergibt sich aus den Bestimmungen der Berufsregeln für europäische Rechtsanwälte, dass mit der dort vertretenen Unabhängigkeit im Bereich der außergerichtlichen Tätigkeit sichergestellt werden soll, dass der Anwalt seinen Mandanten nicht aus Gefälligkeit, unabhängig von jedem persönlichen Interesse und ohne Druck dritter Personen berät. Diese Bestimmungen betreffen somit die Art und Weise, in der der Anwalt seine Beratungstätigkeit ausüben muss. Die Bestimmungen der Berufsregeln für europäische Rechtsanwälte können daher nicht als Rechtfertigung dafür angeführt werden, dass die anwaltliche Unabhängigkeit, die vom Gerichtshof als notwendig für den Schutz des Rechts auf einen wirksamen Rechtsbehelf anerkannt wird, den Anwälten völlige Freiheit bei der Wahl ihres Mandats in allen Bereichen der Rechtsberatung garantieren kann.
130 Im vorliegenden Fall ergibt sich aus der Prüfung des ersten Teils des ersten Klagegrundes, dass das streitige Verbot nicht für anwaltliche Rechtsberatungsdienstleistungen gilt, die einen Bezug zu einem Gerichtsverfahren aufweisen, und dass es daher keinen Eingriff in das durch Art. 47 der Charta gewährleistete Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf darstellt.
131 Somit ist nicht erwiesen, dass das streitige Verbot zu einem Eingriff in die anwaltliche Unabhängigkeit führen kann, wie sie in der Rechtsprechung des Gerichtshofs zum Schutz dieses Rechts anerkannt ist.
132 Selbst wenn man davon ausginge, dass die anwaltliche Unabhängigkeit – ebenso wie der Schutz des Berufsgeheimnisses nach Art. 7 der Charta – auch außerhalb eines Rechtsstreits anerkannt werden müsste und ein Eingriff in diese Unabhängigkeit festgestellt würde, ist im Übrigen darauf hinzuweisen, dass eine solche Unabhängigkeit nicht bedeutet, dass der Anwaltsberuf keinen Einschränkungen unterworfen werden darf. Diese Unabhängigkeit kann nämlich Beschränkungen unterworfen werden, die durch im Allgemeininteresse liegende Ziele der Union gerechtfertigt sind, sofern diese Beschränkungen keinen im Hinblick auf den verfolgten Zweck unverhältnismäßigen und nicht tragbaren Eingriff darstellen, der die anwaltliche Unabhängigkeit in ihrem Wesensgehalt antasten würde (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 28. März 2017, Rosneft, C‑72/15, EU:C:2017:236, Rn. 148).
133 Zum einen ergibt sich jedoch aus den vorstehenden Rn. 94 bis 103, dass das streitige Verbot, wie es u. a. durch die Befreiungsbestimmungen abgegrenzt wird, dem Gemeinwohl dienende Zielsetzungen verfolgt.
134 Zum anderen ermöglichen es die Befreiungsbestimmungen den zuständigen Behörden zwar, das streitige Verbot für bestimmte Dienstleistungen im Bereich der Rechtsberatung aufzuheben, erlauben ihnen jedoch nicht, auf den Inhalt der Beratung, die der Anwalt gegebenenfalls für die russische Regierung oder eine in Russland niedergelassene Organisation erbringt, Einfluss zu nehmen. Gleiches gilt für das streitige Verbot selbst. Kann der Anwalt eine Befreiung oder sogar eine Ausnahme in Anspruch nehmen, so bleibt er bei der Ausübung seiner Beratungstätigkeit für seinen Mandanten frei. Das streitige Verbot und insbesondere die Befreiungsbestimmungen stellen somit keinen unverhältnismäßigen und nicht tragbaren Eingriff dar, der die anwaltliche Unabhängigkeit in ihrem Wesensgehalt antasten würde.
135 Selbst wenn ein Eingriff in die anwaltliche Unabhängigkeit vorliegen sollte, wäre dieser daher gerechtfertigt und verhältnismäßig.
136 Folglich ist die erste Rüge des ersten Teils des zweiten Klagegrundes zurückzuweisen
3) Zur zweiten Rüge: Eingriff in die Werte der Rechtsstaatlichkeit
137 Die Kläger, unterstützt durch die Bundesrechtsanwaltskammer und die Anwaltskammer Genf, machen geltend, dass die Wahrung der Aufgabe der Anwälte zur Förderung der in Art. 2 EUV verankerten Grundwerte erforderlich sei. Das streitige Verbot untergrabe somit die Rechtsstaatlichkeit, die mehrere Grundsätze umfasse, einschließlich der Grundsätze der Rechtssicherheit, des Zugangs zu Gerichten und der Gerechtigkeit sowie die Achtung der Menschenrechte. Der Zugang zu anwaltlicher Rechtsberatung, auch in nicht streitigen Angelegenheiten, ermögliche es, die Achtung der Rechtsstaatlichkeit zu gewährleisten, was durch eine Vielzahl von Dokumenten politischer und rechtlicher Art bestätigt werde. Diese Beeinträchtigung der Rechtsstaatlichkeit sei offensichtlich unverhältnismäßig, und das streitige Verbot könne nicht im Einklang mit höherrangigen Rechtsnormen ausgelegt werden.
138 Der Rat, unterstützt durch die Republik Estland, die Europäische Kommission und den Hohen Vertreter der Union für Außen- und Sicherheitspolitik, tritt dem Standpunkt der Kläger entgegen. Insbesondere ist der Rat der Ansicht, dass die von den Klägern im Stadium der Erwiderung hinzugefügten Angaben über eine bloße Erweiterung hinausgingen und daher nach Art. 84 der Verfahrensordnung unzulässig seien.
139 Nacheinander sind die Einrede der Unzulässigkeit des Rates und die Begründetheit der zweiten Rüge des ersten Teils des zweiten Klagegrundes der Kläger zu prüfen.
i) Zur Einrede der Unzulässigkeit gemäß Art. 84 der Verfahrensordnung
140 Nach Art. 84 Abs. 1 der Verfahrensordnung ist das Vorbringen neuer Klage- und Verteidigungsgründe im Laufe des Verfahrens unzulässig, es sei denn, dass sie auf rechtliche oder tatsächliche Gesichtspunkte gestützt werden, die erst während des Verfahrens zutage getreten sind.
141 Im vorliegenden Fall haben die Kläger bereits in der Klageschrift vorgetragen, dass die Beurteilung der rechtlichen Situation einer Person, die durch die Rechtsberatung ermöglicht werde, eine wesentliche Tätigkeit in einem Rechtsstaat sei. Die Erteilung einer solchen Beratung durch einen Anwalt sei daher durch die Art. 7 und 47 der Charta garantiert und stelle zudem einen allen Mitgliedstaaten gemeinsamen Wert dar.
142 Die Kläger haben sodann in der Erwiderung darauf hingewiesen, dass der Begriff „Rechtsstaatlichkeit“ u. a. die Grundsätze der Rechtssicherheit, des Zugangs zu Gerichten und der Gerechtigkeit umfasse, wie der Rat in seiner Klagebeantwortung selbst festgestellt habe. Im Anschluss an ihre Klageschrift haben sie ferner darauf hingewiesen, dass die Menschenrechte in Art. 2 EUV verankert seien.
143 Weiter führten die Kläger aus, dass der – durch das streitige Verbot eingeschränkte – Zugang zu anwaltlicher Rechtsberatung notwendig sei, um die Achtung der genannten Rechte und Grundsätze sicherzustellen. Der Zugang zu anwaltlicher Rechtsberatung sei daher erforderlich, um die Achtung der Rechtsstaatlichkeit zu garantieren.
144 Damit stellen die von den Klägern in der Erwiderung vorgetragenen Argumente eine Erweiterung der in der Klageschrift enthaltenen Klagegründe und Rügen dar und sind daher zulässig.
145 Die Einrede der Unzulässigkeit ist daher zurückzuweisen.
ii) Zum Eingriff in die Werte der Rechtsstaatlichkeit
146 Das Gericht weist darauf hin, dass der Grundsatz, wonach sich die Union namentlich auf den Wert des Rechtsstaats gründet, sowohl aus Art. 2 EUV, der zu den gemeinsamen Bestimmungen des EU-Vertrags gehört, als auch aus dem das auswärtige Handeln der Union betreffenden Art. 21 EUV hervorgeht, auf den der die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) betreffende Art. 23 EUV Bezug nimmt (Urteil vom 22. Juni 2021, Venezuela/Rat [Betroffenheit eines Drittstaats], C‑872/19 P, EU:C:2021:507, Rn. 49).
147 Wie oben in den Rn. 40 und 41 ausgeführt, kommt dem in Art. 47 der Charta verankerten Grundrecht auf einen wirksamen Rechtsbehelf und auf ein faires Verfahren als Garant des Wertes der Rechtsstaatlichkeit, die verlangt, dass alle natürlichen und juristischen Personen der Union freien Zugang zum Unionsrecht und die Einzelnen die Möglichkeit haben, ihre Rechte und Pflichten eindeutig zu erkennen, grundlegende Bedeutung zu.
148 Das Gericht hat im Übrigen darauf hingewiesen, dass es eine nicht erschöpfende Aufzählung der Grundsätze und Normen gibt, die die „Rechtsstaatlichkeit“ ausmachen. Dazu gehören u. a. die Grundsätze der Rechtmäßigkeit und der Rechtssicherheit, das Recht auf eine wirksame gerichtliche Kontrolle einschließlich der Wahrung der Grundrechte sowie der Grundsatz der Gleichheit vor dem Gesetz (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 15. September 2016, Klyuyev/Rat, T‑340/14, EU:T:2016:496, Rn. 88).
149 Vorab ist darauf hinzuweisen, dass die Kläger mit ihrem Vorbringen keinen Verstoß gegen die Rechtsstaatlichkeit als solche rügen, sondern einen Verstoß gegen die Werte, die die Rechtsstaatlichkeit ausmachen und in den Grundsätzen des Unionsrechts ihre rechtliche Ausprägung finden.
150 Mit ihrem ersten Argument machen die Kläger geltend, dass die Möglichkeit für jede Person, sowohl in streitigen als auch in nicht streitigen Angelegenheiten freien Zugang zu anwaltlicher Rechtsberatung zu erhalten, durch den Grundsatz der Rechtssicherheit gewährleistet sei.
151 Dieser elementare Grundsatz des Unionsrechts verlangt insbesondere, dass eine Regelung klar und deutlich ist, damit die Betroffenen ihre Rechte und Pflichten unzweideutig erkennen und sich somit in ihrem Verhalten darauf einstellen können (Urteil vom 28. März 2017, Rosneft, C‑72/15, EU:C:2017:236, Rn. 161).
152 Der Grundsatz der Rechtssicherheit bezieht sich mithin auf die Merkmale, die Rechtsvorschriften ihrem Wesen nach aufweisen müssen. Wie der Rat zu Recht ausführt, besteht dieser Grundsatz dagegen nicht darin, Anwälten oder anderen Angehörigen der Rechtsberufe die Möglichkeit zu garantieren, Beratung dazu zu erteilen, wie diese Regeln zu verstehen sind.
153 Das erste Argument der Kläger ist daher zurückzuweisen.
154 Mit ihrem zweiten Argument tragen die Kläger vor, dass die Möglichkeit für jede Person, sowohl in streitigen als auch in nicht streitigen Angelegenheiten freien Zugang zu anwaltlicher Rechtsberatung zu erhalten, den Zugang zu Gerichten sicherstelle.
155 Wie der Rat feststellt, wird das Recht auf Zugang zu Gerichten durch Art. 47 der Charta garantiert. Wie sich aus der Antwort auf den ersten Teil des ersten Klagegrundes ergibt, wird das Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand zur Wahrung der sich aus Art. 47 der Charta ergebenden Garantien nur anerkannt, wenn ein Bezug zu einem Gerichtsverfahren besteht. Im vorliegenden Fall gilt das streitige Verbot nach der oben in den Rn. 51 und 60 bis 63 dargestellten Auslegung jedoch gerade nicht für Dienstleistungen im Bereich der Rechtsberatung, die einen solchen Bezug aufweisen.
156 Wie in der Antwort auf den ersten Klagegrund dargelegt, ist im Übrigen in keiner Vorschrift des Unionsrechts, einschließlich Art. 2 EUV, ein Grundrecht auf Einholung anwaltlicher Beratung in nicht streitigen Angelegenheiten verankert.
157 Das zweite Argument der Kläger ist daher zurückzuweisen.
158 Mit ihrem dritten Argument machen die Kläger geltend, dass die Möglichkeit für jede Person, sowohl in streitigen als auch in nicht streitigen Angelegenheiten freien Zugang zu anwaltlicher Rechtsberatung zu erhalten, in einer Gesellschaft die Achtung der Menschenrechte, insbesondere des in Art. 7 der Charta verankerten Grundrechts auf Achtung des Privatlebens, gewährleiste.
159 Es ist festzustellen, dass die Kläger neben dem in Art. 7 der Charta verankerten Recht auf Achtung der Kommunikation zwischen Anwalt und Mandant hinaus keine anderen Rechte benennen, die durch das streitige Verbot und die Befreiungsbestimmungen beeinträchtigt sein sollen. Wie jedoch im Rahmen der Prüfung des zweiten Teils des ersten Klagegrundes ausgeführt, bewirkt dieses Verbot, einschließlich der Befreiungsbestimmungen, keinen Eingriff in das in Art. 7 der Charta verankerte Grundrecht.
160 Das dritte Argument der Kläger ist daher nicht stichhaltig.
161 Mit ihrem vierten Argument tragen die Kläger vor, dass die Erbringung von Rechtsberatungsdienstleistungen in nicht streitigen Angelegenheiten Teil der wesentlichen, durch die Werte der Rechtsstaatlichkeit geschützten anwaltlichen Tätigkeit sei.
162 Wie sich oben aus den Rn. 52 bis 63 ergibt, kann aus der Rechtsprechung des EGMR oder des Gerichtshofs jedoch nicht abgeleitet werden, dass die Art. 7 und 47 der Charta, einzeln oder zusammen betrachtet, ein Recht auf anwaltliche Beratung in nicht streitigen Angelegenheiten verleihen. Das in Art. 47 der Charta garantierte Recht auf anwaltliche Beratung findet nur Anwendung, wenn ein Bezug zu einem Gerichtsverfahren besteht.
163 Außerdem wird die Erbringung von Rechtsberatung durch einen Anwalt in nicht streitigen Angelegenheiten weder durch Art. 2 EUV noch durch das Unionsrecht im weiteren Sinn gewährleistet.
164 Das vierte Argument der Kläger ist daher nicht stichhaltig.
165 Mit ihrem fünften Argument machen die Kläger geltend, das streitige Verbot könne nicht in einem Sinn ausgelegt werden, der mit der Rechtsstaatlichkeit vereinbar sei. Dieses Verbot bestehe nämlich darin, die Erbringung von Dienstleistungen im Bereich der Rechtsberatung vollständig zu verbieten, was mit den Grundsätzen der Rechtssicherheit, des Zugangs zu Gerichten, der Gerechtigkeit und der Achtung der Menschenrechte unvereinbar sei.
166 Wie der Rat vorträgt, ist der Anwendungsbereich des streitigen Verbots jedoch begrenzt. Es ist durch die Ausnahme- und die Befreiungsbestimmungen eingegrenzt worden. In Anbetracht dieser Bestimmungen hat das Gericht in Beantwortung des ersten Klagegrundes festgestellt, dass das streitige Verbot keinen Eingriff in die durch die Art. 7 und 47 der Charta garantierten Rechte darstellt und dass ein Eingriff, sein Vorliegen in Bezug auf Art. 7 der Charta unterstellt, nicht gegen Art. 52 Abs. 1 der Charta verstieße. Aus denselben Gründen verkennt das streitige Verbot daher auch nicht die von Klägern geltend gemachten Grundsätze des Zugangs zu Gerichten, der Gerechtigkeit und der Achtung der Menschenrechte. Im Übrigen ist festzustellen, dass das Vorbringen, mit dem ein Verstoß gegen den Grundsatz der Rechtssicherheit geltend gemacht wird, im Rahmen des vorliegenden Klagegrundes ins Leere geht.
167 Das fünfte Argument der Kläger ist daher zurückzuweisen.
168 Mit ihrem sechsten und letzten Argument machen die Kläger geltend, die behauptete Beeinträchtigung der Werte der Rechtsstaatlichkeit stelle eine Maßnahme dar, die zur Verfolgung der vom Rat genannten Ziele offensichtlich ungeeignet sei.
169 Aus den vorstehenden Erwägungen ergibt sich jedoch, dass keine Beeinträchtigung der Werte der Rechtsstaatlichkeit nachgewiesen worden ist.
170 Das sechste Argument der Kläger ist daher zurückzuweisen.
171 Nach alledem ist die zweite Rüge des ersten Teils des zweiten Klagegrundes zurückzuweisen.
b)
Zum zweiten Teil: Verstoß gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit
172 Die Kläger, unterstützt durch die Bundesrechtsanwaltskammer und die Anwaltskammer Genf, machen hilfsweise geltend, dass die Verordnungen 2022/1904, 2022/2474 und 2023/427 gegen den in Art. 5 EUV verankerten Grundsatz der Verhältnismäßigkeit als allgemeinen Grundsatz des Unionsrechts verstießen. Die Einführung einer allgemeinen Regelung zum Verbot der Erbringung von Dienstleistungen im Bereich der Rechtsberatung sei nämlich nicht geeignet, die verfolgten legitimen Ziele zu erreichen, und gehe über das hinaus, was zur Erreichung dieser Ziele unbedingt erforderlich sei.
173 Der Rat, unterstützt durch die Republik Estland, die Europäische Kommission und den Hohen Vertreter der Union für Außen- und Sicherheitspolitik, tritt dem Vorbringen der Kläger entgegen.
174 Hierzu weist das Gericht darauf hin, dass der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, der zu den allgemeinen Grundsätzen des Unionsrechts gehört, verlangt, dass die von einer Bestimmung des Unionsrechts eingesetzten Mittel zur Erreichung der mit der betreffenden Regelung verfolgten Ziele geeignet sind und nicht über das dazu Erforderliche hinausgehen (Urteil vom 13. März 2012, Melli Bank/Rat, C‑380/09 P, EU:C:2012:137, Rn. 52).
175 Ferner ist in Bezug auf die gerichtliche Kontrolle der Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit darauf hinzuweisen, dass der Unionsgesetzgeber in Bereichen, in denen er politische, wirtschaftliche und soziale Entscheidungen treffen und komplexe Beurteilungen vornehmen muss, über einen großen Wertungsspielraum verfügt. Eine in einem solchen Bereich erlassene Maßnahme ist nur dann rechtswidrig, wenn sie zur Erreichung des vom zuständigen Organ verfolgten Ziels offensichtlich ungeeignet ist (Urteile vom 28. März 2017, Rosneft, C‑72/15, EU:C:2017:236, Rn. 146, und vom 15. Februar 2023, Belaeronavigatsia/Rat, T‑536/21, EU:T:2023:66, Rn. 68).
176 Wie oben in den Rn. 93 bis 103 ausgeführt, entspricht das streitige Verbot in angemessener und kohärenter Weise dem Ziel, den Druck auf die Russische Föderation weiter zu verstärken, damit sie ihren Angriffskrieg beendet, und kann jedenfalls nicht als im Hinblick auf dieses Ziel offensichtlich ungeeignet angesehen werden. Schon aus diesem Grund ist festzustellen, dass das streitige Verbot nicht gegen Art. 5 EUV verstößt.
177 Selbst wenn die Kläger mit dem zweiten Teil des zweiten Klagegrundes einen unverhältnismäßigen Eingriff in die grundlegende Aufgabe der Anwälte, die Rechtsstaatlichkeit zu wahren und zu verteidigen, geltend machen sollten, ist darüber hinaus jedenfalls festzustellen, dass diese Aufgabe nicht uneingeschränkt besteht und Beschränkungen unterworfen werden kann, die durch im Allgemeininteresse liegende Ziele der Union gerechtfertigt sind, sofern die Beschränkungen keinen im Hinblick auf den verfolgten Zweck unverhältnismäßigen und nicht tragbaren Eingriff darstellen, der die Aufgabe, die Anwälten in einem Rechtsstaat anvertraut wird, in ihrem Wesensgehalt antasten würde (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 28. März 2017, Rosneft, C‑72/15, EU:C:2017:236, Rn. 148).
178 Da die Kläger weder einen Eingriff in die anwaltliche Unabhängigkeit, wie sie im Hinblick auf das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf anerkannt ist, noch in die Werte der Rechtsstaatlichkeit dargetan haben, ist auch nicht erwiesen, dass das streitige Verbot den Wesensgehalt der von Anwälten in einem Rechtsstaat wahrgenommenen Aufgabe antastet.
179 Somit ist der zweite Teil des zweiten Klagegrundes unbegründet und ist zurückzuweisen.
3. Zum dritten Klagegrund: Verstoß gegen den Grundsatz der Rechtssicherheit
180 Die Kläger, unterstützt durch die Bundesrechtsanwaltskammer und die Anwaltskammer Genf, machen geltend, dass die Bestimmungen, durch die das streitige Verbot eingeführt werde, gegen den Grundsatz der Rechtssicherheit verstießen. Sie seien weder klar noch präzise und ließen keine Vorhersehbarkeit hinsichtlich ihrer Anwendung zu.
181 Erstens lasse sich dem 19. Erwägungsgrund der Verordnung 2022/1904 in Verbindung mit Art. 5n Abs. 5 und 6 der Verordnung Nr. 833/2014 in geänderter Fassung nicht entnehmen, welche Dienstleistungen vom streitigen Verbot ausgenommen seien.
182 Zweitens sei die in Art. 5n Abs. 6 der Verordnung Nr. 833/2014 in Bezug auf den Einklang mit den Zielen der Verordnungen 2022/2474 und 2023/427 sowie der Verordnung Nr. 269/2014 vorgesehene Ausnahme nicht hinreichend bestimmt, da in diesen Verordnungen nicht festgelegt sei, welche Ziele sie verfolgten.
183 Drittens sei der in Art. 5n Abs. 7 der Verordnung Nr. 833/2014 verwendete Begriff der „gemeinsamen oder alleinigen Kontrolle“ durch eine nach dem Recht eines Mitgliedstaats, eines dem Europäischen Wirtschaftsraum angehörenden Landes, der Schweiz oder eines Partnerlands gegründete oder eingetragene juristische Person, Organisation oder Einrichtung unverständlich.
184 Viertens lasse sich dem Wortlaut des streitigen Verbots nicht entnehmen, ob Tätigkeiten wie die Rechtsvertretungsdienstleistungen in vorgerichtlichen Verfahren, Dienstleistungen im Zusammenhang mit dem Abzug von Investitionen oder der Abwicklung von Geschäftstätigkeiten von Unternehmen in Russland, die Erstellung einer Anteilsübertragungsurkunde im Zusammenhang mit einem von einer Organisation der Union vorgenommenen Erwerb eigener Anteile von russischen Anteilsinhabern, die Fortführung einer Konsultation auf der Grundlage einer vor dem 7. Oktober 2022 geschlossenen Vereinbarung oder auch ein Wortbeitrag auf einer Konferenz zu Rechtsfragen oder die Organisation einer solchen Konferenz, wenn es sich bei den Teilnehmern um Beschäftigte einer in Russland niedergelassenen Organisation handele, verboten seien oder nicht.
185 Die Kläger fügen hinzu, dass der Rat Anpassungen und Klarstellungen der Tragweite der Bestimmungen vorgenommen habe, durch die das streitige Verbot eingeführt werde, ohne damit jedoch den Verstoß gegen den Grundsatz der Rechtssicherheit zu beheben. Es handele sich um Klarstellungen, die nach dem Erlass des streitigen Verbots vorgenommen und größtenteils nicht veröffentlicht worden seien, während der Begriff der – verbotenen – „Rechtsberatungsdienstleistungen in nichtstreitigen Angelegenheiten“ noch immer nicht klar bestimmt sei.
186 Der Rat, unterstützt durch die Republik Estland, die Europäische Kommission und den Hohen Vertreter der Union für Außen- und Sicherheitspolitik, tritt dem Vorbringen der Kläger entgegen.
187 In diesem Zusammenhang weist das Gericht darauf hin, dass nach ständiger Rechtsprechung der Grundsatz der Rechtssicherheit, der ein allgemeiner Grundsatz des Unionsrechts ist, insbesondere gebietet, dass Rechtsvorschriften – vor allem dann, wenn sie nachteilige Folgen für Einzelne und Unternehmen haben können – klar, bestimmt und in ihren Auswirkungen vorhersehbar sind. Eine Sanktion, selbst wenn sie keinen strafrechtlichen Charakter besitzt, darf nur dann verhängt werden, wenn sie auf einer klaren und eindeutigen Rechtsgrundlage beruht. Der Grundsatz der Rechtssicherheit verlangt u. a., dass jede Unionsregelung, insbesondere wenn sie die Verhängung von Sanktionen vorschreibt oder gestattet, klar und bestimmt ist, damit die Betroffenen ihre Rechte und Pflichten unzweideutig erkennen und somit ihre Vorkehrungen treffen können (vgl. Urteil vom 16. Juli 2014, National Iranian Oil Company/Rat, T‑578/12, nicht veröffentlicht, EU:T:2014:678, Rn. 112 und die dort angeführte Rechtsprechung).
188 Ebenso ergibt sich aus der Rechtsprechung, dass die Existenz vager Begriffe in einer Bestimmung nicht zwangsläufig zu einem Verstoß gegen Art. 7 EMRK führt und die Tatsache, dass ein Gesetz einen Wertungsspielraum verleiht, als solche nicht das Erfordernis der Vorhersehbarkeit verletzt, sofern der Umfang und die Modalitäten der Ausübung eines solchen Wertungsspielraums im Hinblick auf das in Rede stehende legitime Ziel hinreichend deutlich festgelegt sind, um dem Einzelnen angemessenen Schutz vor Willkür zu bieten. Dabei berücksichtigt die Rechtsprechung neben dem Wortlaut des Gesetzes die Frage, ob die verwendeten unbestimmten Begriffe durch eine ständige und veröffentlichte Rechtsprechung präzisiert wurden (vgl. Urteil vom 4. September 2015, NIOC u. a./Rat, T‑577/12, nicht veröffentlicht, EU:T:2015:596, Rn. 135 und die dort angeführte Rechtsprechung).
189 Außerdem steht das mit dem Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Strafen – der verlangt, dass das Gesetz die Straftaten und die Strafen klar definieren muss – einhergehende Erfordernis der Vorhersehbarkeit einem durch das Gesetz verliehenen Wertungsspielraum, dessen Umfang und Ausübungsmodalitäten hinreichend deutlich festgelegt sind, nicht entgegen. Diese Rechtsprechungsgrundsätze gelten auch für restriktive Maßnahmen, die zwar an und für sich keine Maßnahmen zur Ahndung von Zuwiderhandlungen, sondern Präventivmaßnahmen darstellen, aber die Rechte und Freiheiten der Betroffenen stark beeinträchtigen (vgl. Urteil vom 4. September 2015, NIOC u. a./Rat, T‑577/12, nicht veröffentlicht, EU:T:2015:596, Rn. 136 und die dort angeführte Rechtsprechung).
190 Das Vorbringen der Kläger ist im Licht dieser Grundsätze zu prüfen.
191 Mit ihrem ersten Argument machen die Kläger geltend, dass dem Wortlaut des 19. Erwägungsgrundes der Verordnung 2022/1904 und der Bestimmungen über das streitige Verbot nicht zu entnehmen sei, welche Rechtsberatungsdienstleistungen verboten seien.
192 Der 19. Erwägungsgrund der Verordnung 2022/1904 beschränkt sich zwar darauf, die weit gefassten Kategorien von Rechtsberatungsdienstleistungen, die dem streitigen Verbot unterliegen, und diejenigen, die diesem Verbot nicht unterliegen, zu bestimmen, doch wird das streitige Verbot in Art. 5n Abs. 5 und 6 der Verordnung Nr. 833/2014 genauer eingegrenzt.
193 Selbst wenn man annimmt, dass die Rechtsanwälte die fraglichen Bestimmungen eng ausgelegt haben könnten, indem sie keine zur Vorbeugung, Abwendung oder Vorbereitung eines Gerichts- oder Verwaltungsverfahrens erforderliche Rechtsberatung erbracht haben, genügt jedenfalls der Hinweis, dass, wie in Beantwortung des ersten Klagegrundes ausgeführt wurde, der Wortlaut von Art. 5n der Verordnung Nr. 833/2014, insbesondere dessen Abs. 5 und 6, es den Klägern jedenfalls ermöglicht, zwischen Dienstleistungen im Bereich der Rechtsberatung, die nicht unter das streitige Verbot fallen, und denjenigen, die davon erfasst werden, zu unterscheiden.
194 Das erste Argument der Kläger greift daher nicht durch.
195 Mit ihrem zweiten Argument tragen die Kläger vor, das in Art. 5n Abs. 6 der Verordnung Nr. 833/2014 vorgesehene Erfordernis des Einklangs mit den Zielen der Verordnung Nr. 833/2014 und der Verordnung Nr. 269/2014 sei ungenau.
196 Im zweiten Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 833/2014 heißt es, dass die Annahme restriktiver Maßnahmen es ermöglichen soll, „die Kosten für die Handlungen Russlands zu erhöhen, die die territoriale Unversehrtheit, Souveränität und Unabhängigkeit der Ukraine untergraben, und … eine friedliche Beilegung der Krise zu unterstützen“.
197 Darüber hinaus wird im dritten Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 269/2014 klargestellt, dass „eine Lösung der Krise durch Verhandlungen zwischen den Regierungen der Ukraine und der Russischen Föderation gefunden werden sollte … und dass die Union über weitere Maßnahmen, wie beispielsweise Reiseverbote, das Einfrieren von Vermögenswerten und die Absage des Gipfeltreffens EU-Russland, entscheiden wird, falls innerhalb eines begrenzten Zeitrahmens keine Ergebnisse zu verzeichnen sind“. Der sechste Erwägungsgrund weist darauf hin, dass diese Verordnung „im Einklang mit den Grundrechten und Grundsätzen [steht], die insbesondere mit der Charta … anerkannt wurden, insbesondere mit dem Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf und ein unparteiisches Gericht und dem Recht auf Schutz personenbezogener Daten“.
198 Mit dem in Art. 5n Abs. 6 der Verordnung Nr. 833/2014 vorgesehenen Erfordernis des Einklangs mit den mit der Verordnung Nr. 833/2014 und der Verordnung Nr. 269/2014 verfolgten Zielen soll somit sichergestellt werden, dass die in dieser Bestimmung vorgesehene Ausnahme nicht das Ziel in Frage stellt, unter Wahrung der durch die Charta garantierten Grundsätze Druck auf die Russische Föderation auszuüben, damit sie ihren Angriffskrieg gegen die Ukraine beendet. Wie der Rat hervorhebt, soll dieses Erfordernis jede missbräuchliche Inanspruchnahme der im vorgenannten Abs. 6 genannten Ausnahme verhindern und ist somit hinreichend deutlich.
199 Das zweite Argument der Kläger ist daher zurückzuweisen.
200 Mit ihrem dritten Argument machen die Kläger geltend, der Begriff „Kontrolle“ in Art. 5n Abs. 7 der Verordnung Nr. 833/2014, der die Begriffe „alleinige Kontrolle“ und „gemeinsame Kontrolle“ umfasse, sei unverständlich, da er nicht in dieser Verordnung definiert sei.
201 Der Rat weist jedoch zu Recht darauf hin, dass der Gerichtshof im Bereich der restriktiven Maßnahmen bereits entschieden hat, dass eine „Gesellschaft als Gesellschaft, die ‚im Eigentum oder unter der Kontrolle‘ einer anderen Einrichtung steht, eingestuft werden kann, wenn Letztere in der Lage ist, auf die Entscheidungen der betreffenden Gesellschaft Einfluss zu nehmen, auch wenn zwischen den beiden Wirtschaftsteilnehmern weder in rechtlicher Hinsicht noch in Bezug auf das Eigentum oder die Kapitalbeteiligung Beziehungen bestehen“ (Urteil vom 10. September 2019, HTTS/Rat, C‑123/18 P, EU:C:2019:694, Rn. 75).
202 Folglich ist das dritte Argument der Kläger zurückzuweisen.
203 Mit ihrem vierten Argument machen die Kläger geltend, dass das angefochtene Verbot eine Reihe von Ungenauigkeiten hinsichtlich seiner Tragweite enthalte.
204 Keine der behaupteten Ungenauigkeiten kann jedoch zu einem Verstoß gegen den Grundsatz der Rechtssicherheit führen.
205 Zunächst erlaubt der Wortlaut von Art. 5n Abs. 5 der Verordnung Nr. 833/2014, wie oben aus Rn. 61 hervorgeht, Rechtsberatungsdienstleistungen im Rahmen vorgerichtlicher Verfahren zu erbringen.
206 Was sodann den Abzug von Investitionen oder die Abwicklung von Geschäftstätigkeiten von Unternehmen in Russland anbelangt, ergibt sich aus Art. 5n Abs. 2 der Verordnung Nr. 833/2014, dass die Rechtsberatung in Bezug auf solche Geschäfte verboten ist, wenn sie für die russische Regierung und für in Russland niedergelassene Organisationen bestimmt ist. Ein solches Verbot kann nur unter den Voraussetzungen aufgehoben werden, die zum einen in Art. 5n Abs. 7 und zum anderen in Art. 12b Abs. 2a der Verordnung Nr. 833/2014 vorgesehen sind.
207 Im Übrigen verbietet Art. 5n Abs. 2 der Verordnung Nr. 833/2014 die Rechtsberatung in Bezug auf eine Anteilsübertragungsurkunde für und im Zusammenhang mit einem von einer Organisation der Union vorgenommenen Erwerb eigener Anteile von aktuellen russischen Anteilsinhabern, sofern diese Beratung unmittelbar oder mittelbar für die russische Regierung oder für in Russland niedergelassene Organisationen bestimmt ist. Insoweit ist es unerheblich, ob das in Rede stehende, auf der Grundlage dieser Rechtsberatung durchgeführte Geschäft letztlich mittelbar der russischen Regierung oder in Russland niedergelassenen Organisationen zugutekommen kann.
208 Darüber hinaus ist das streitige Verbot gemäß Art. 2 der Verordnung 2022/1904 am 7. Oktober 2022 in Kraft getreten. Daraus folgt, dass es Anwälten grundsätzlich untersagt ist, der russischen Regierung oder in Russland niedergelassenen Organisationen im Rahmen der Fortführung einer Konsultation auf der Grundlage einer Mandatsvereinbarung oder eines vor dem 7. Oktober 2022 geschlossenen Vertrags Rechtsberatung zu erteilen. Dieses Verbot kann nur unter den in Art. 5n Abs. 4 der Verordnung Nr. 833/2014 festgelegten Voraussetzungen aufgehoben werden, d. h. für Rechtsberatung, die gerade deshalb zu erbringen ist, um vor dem 7. Oktober 2022 geschlossene Verträge vor dem in diesem Absatz genannten Stichtag zu beenden.
209 Schließlich ist darauf hinzuweisen, dass Art. 5n Abs. 2 der Verordnung Nr. 833/2014 verbietet, für die russische Regierung oder in Russland niedergelassene Organisationen auch nur mittelbar Dienstleistungen im Bereich der Rechtsberatung zu erbringen. Dieses Verbot steht jedoch einem Wortbeitrag auf einer Konferenz, an dem ein Beschäftigter der russischen Regierung oder einer in Russland niedergelassenen Organisation teilnimmt, nicht entgegen, sofern dieser Wortbeitrag allgemein gehalten ist und nicht darauf hinausläuft, eine Beratung zur Auslegung und Anwendung einer Rechtsnorm auf eine bestimmte Situation zu erteilen, die die Entscheidungsfindung der russischen Regierung, einer russischen Organisation oder einer bestimmten Kategorie russischer Organisationen erleichtern kann.
210 Folglich ist der dritte Klagegrund zurückzuweisen.
211 Da die drei von den Klägern geltend gemachten Klagegründe zurückgewiesen worden sind, ist die Klage jedenfalls abzuweisen, ohne dass über ihre Zulässigkeit entschieden zu werden braucht.
IV. Kosten
212 Nach Art. 134 Abs. 1 der Verfahrensordnung ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen.
213 Da die Kläger unterlegen sind, sind ihnen gemäß dem Antrag des Rates ihre eigenen Kosten sowie die Kosten des Rates aufzuerlegen.
214 Nach Art. 138 Abs. 1 und 3 der Verfahrensordnung tragen die Bundesrechtsanwaltskammer, die Anwaltskammer Genf, die Republik Estland, die Kommission und der Hohe Vertreter der Union für Außen- und Sicherheitspolitik ihre eigenen Kosten.
Aus diesen Gründen hat
DAS GERICHT (Große Kammer)
für Recht erkannt und entschieden:
1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Der Ordre néerlandais des avocats du barreau de Bruxelles und die weiteren Kläger, die im Anhang des Urteils namentlich aufgeführt sind, tragen ihre eigenen Kosten sowie die Kosten des Rates der Europäischen Union.
3. Die Bundesrechtsanwaltskammer, der Ordre des avocats de Genève, die Republik Estland, die Europäische Kommission und der Hohe Vertreter der Union für Außen- und Sicherheitspolitik tragen ihre eigenen Kosten.
van der Woude
Papasavvas
da Silva Passos
Kornezov
Truchot
Gervasoni
Półtorak
Nihoul
Öberg
Mac Eochaidh
Pynnä
Martín y Pérez de Nanclares
Brkan
Zilgalvis
Gâlea
Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 2. Oktober 2024.
Unterschriften
(*1) Verfahrenssprache: Französisch.
(1 ) Das Verzeichnis der weiteren Kläger ist nur der den Parteien zugestellten Fassung beigefügt.
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Urteil des Gerichts (Achte erweiterte Kammer) vom 15. Oktober 2020.#Maria Teresa Coppo Gavazzi u. a. gegen Europäisches Parlament.#Institutionelles Recht – Einheitliches Statut des Europaabgeordneten – In italienischen Wahlkreisen gewählte Europaabgeordnete – Erlass des Ruhegehälter betreffenden Beschlusses Nr. 14/2018 durch das Ufficio di Presidenza della Camera dei deputati (Präsidium der Abgeordnetenkammer, Italien) – Änderung der Höhe der Ruhegehälter der nationalen italienischen Abgeordneten – Entsprechende Änderung der Höhe der Ruhegehälter bestimmter ehemaliger, in Italien gewählter Europaabgeordneter durch das Europäische Parlament – Zuständigkeit des Urhebers der Handlung – Begründungspflicht – Erworbene Rechte – Rechtssicherheit – Vertrauensschutz – Eigentumsrecht – Verhältnismäßigkeit – Gleichbehandlung.#Verbundene Rechtssachen T-389/19 bis T-394/19, T-397/19, T-398/19, T-403/19, T-404/19, T-406/19, T-407/19, T-409/19 bis T-414/19, T-416/19 bis T-418/19, T-420/19 bis T-422/19, T-425/19 bis T-427/19, T-429/19 bis T-432/19, T-435/19, T-436/19, T-438/19 bis T-442/19, T-444/19 bis T-446/19, T-448/19, T-450/19 bis T-454/19, T-463/19 und T-465/19.
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62019TJ0389
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ECLI:EU:T:2020:494
| 2020-10-15T00:00:00 |
Gericht
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62019TJ0389
URTEIL DES GERICHTS (Achte erweiterte Kammer)
15. Oktober 2020 (*1)
„Institutionelles Recht – Einheitliches Statut des Europaabgeordneten – In italienischen Wahlkreisen gewählte Europaabgeordnete – Erlass des Ruhegehälter betreffenden Beschlusses Nr. 14/2018 durch das Ufficio di Presidenza della Camera dei deputati (Präsidium der Abgeordnetenkammer, Italien) – Änderung der Höhe der Ruhegehälter der nationalen italienischen Abgeordneten – Entsprechende Änderung der Höhe der Ruhegehälter bestimmter ehemaliger, in Italien gewählter Europaabgeordneter durch das Europäische Parlament – Zuständigkeit des Urhebers der Handlung – Begründungspflicht – Erworbene Rechte – Rechtssicherheit – Vertrauensschutz – Eigentumsrecht – Verhältnismäßigkeit – Gleichbehandlung“
In den verbundenen Rechtssachen T‑389/19 bis T‑394/19, T‑397/19, T‑398/19, T‑403/19, T‑404/19, T‑406/19, T‑407/19, T‑409/19 bis T‑414/19, T‑416/19 bis T‑418/19, T‑420/19 bis T‑422/19, T‑425/19 bis T‑427/19, T‑429/19 bis T‑432/19, T‑435/19, T‑436/19, T‑438/19 bis T‑442/19, T‑444/19 bis T‑446/19, T‑448/19, T‑450/19 bis T‑454/19, T‑463/19 und T‑465/19,
Maria Teresa Coppo Gavazzi, wohnhaft in Mailand (Italien), und die übrigen Kläger, deren Namen im Anhang aufgeführt sind (1 ), Prozessbevollmächtigter: Rechtsanwalt M. Merola,
Kläger,
gegen
Europäisches Parlament, vertreten durch S. Seyr und S. Alves als Bevollmächtigte,
Beklagter,
betreffend einen Antrag nach Art. 263 AEUV auf Nichtigerklärung der Mitteilungen vom 11. April 2019 sowie im Fall des Klägers in der Rechtssache T‑465/19 vom 11. Juni 2019, die das Parlament für die einzelnen Kläger erstellt hat und die die Anpassung der von ihnen bezogenen Ruhegehälter nach dem Inkrafttreten des Beschlusses Nr. 14/2018 des Ufficio di Presidenza della Camera dei deputati (Präsidium der Abgeordnetenkammer, Italien) am 1. Januar 2019 betreffen,
erlässt
DAS GERICHT (Achte erweiterte Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten J. Svenningsen sowie der Richter R. Barents und C. Mac Eochaidh (Berichterstatter), der Richterin T. Pynnä und des Richters J. Laitenberger,
Kanzler: J. Palacio González, Hauptverwaltungsrat,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 7. Juli 2020
folgendes
Urteil
1 Mit ihren Klagen ersuchen die Kläger, bei denen es sich um ehemalige, in Italien gewählte Mitglieder des Europäischen Parlaments bzw. um deren Hinterbliebene handelt, das Gericht um Nichtigerklärung der Entscheidungen des Parlaments, mit denen die Berechnung ihres Altersruhegehalts bzw. ihrer Hinterbliebenenrente an die Berechnung der Höhe der Ruhegehälter, die die Mitglieder der Abgeordnetenkammer der Italienischen Republik beziehen, angepasst und der Betrag ihres Altersruhegehalts bzw. ihrer Hinterbliebenenrente gegebenenfalls herabgesetzt worden ist.
I. Rechtlicher Rahmen
A. Unionsrecht
2 Die Kostenerstattungs- und Vergütungsregelung für die Mitglieder des Europäischen Parlaments (im Folgenden: KVR) in ihrer bis zum 14. Juli 2009 geltenden Fassung sah in ihrer Anlage III (im Folgenden: Anlage III) u. a. vor:
„Artikel 1
1. Alle Mitglieder des Parlaments haben Anspruch auf ein Altersruhegehalt.
2. Bis zur Einführung eines endgültigen gemeinschaftlichen Altersversorgungssystems für alle Mitglieder des Parlaments … wird – sofern das nationale System keine Altersversorgung vorsieht oder die Höhe und/oder die Modalitäten der vorgesehenen Versorgung nicht mit denen übereinstimmen, die für die Mitglieder des nationalen Parlaments des Mitgliedstaates gelten, in dem das betreffende Mitglied des Parlaments gewählt wurde – aus dem Haushaltsplan der Europäischen Union, Einzelplan Parlament, auf Antrag des betreffenden Mitglieds ein vorläufiges Altersruhegehalt gezahlt.
Artikel 2
1. Höhe und Bedingungen des vorläufigen Altersruhegehalts sind identisch mit Höhe und Bedingungen des Altersruhegehalts für Mitglieder der Abgeordnetenkammer des Mitgliedstaates, in dem das Mitglied des Parlaments gewählt wurde.
2. Ein gemäß Artikel 1 Absatz 2 anspruchsberechtigtes Mitglied hat beim Beitritt zu dieser Regelung einen Beitrag zugunsten des Haushalts der Europäischen Union zu leisten, der so berechnet ist, dass seine Zahlungen insgesamt dem Beitrag entsprechen, den ein Mitglied der Abgeordnetenkammer des Mitgliedstaates, in dem das Mitglied gewählt wurde, nach den nationalen Bestimmungen zu entrichten hat.
Artikel 3
1. Der Antrag auf Beitritt zu dieser vorläufigen Ruhegehaltsregelung muss binnen zwölf Monaten nach Beginn des Mandats des Betroffenen gestellt werden.
Nach Ablauf dieser Frist wird der Beitritt zur Ruhegehaltsregelung am ersten Kalendertag des Monats wirksam, in dem der Antrag eingegangen ist.
2. Der Antrag auf Auszahlung des Ruhegehalts muss binnen sechs Monaten nach Entstehen des Anspruchs gestellt werden.
Nach Ablauf dieser Frist wird der Ruhegehaltsanspruch am ersten Kalendertag des Monats wirksam, in dem der Antrag eingegangen ist.
…“
3 Das Abgeordnetenstatut des Europäischen Parlaments ist mit dem Beschluss 2005/684/EG, Euratom des Parlaments vom 28. September 2005 zur Annahme des Abgeordnetenstatuts des Parlaments (ABl. 2005, L 262, S. 1, im Folgenden: Abgeordnetenstatut) angenommen worden und am 14. Juli 2009, dem ersten Tag der siebten Wahlperiode, in Kraft getreten.
4 Art. 25 des Abgeordnetenstatuts lautet:
„(1) Die Abgeordneten, die vor Inkrafttreten des Statuts dem Parlament bereits angehörten und wiedergewählt wurden, können sich hinsichtlich der Entschädigung, des Übergangsgeldes, des Ruhegehaltes und der Hinterbliebenenversorgung für die gesamte Dauer ihrer Tätigkeit für das bisherige nationale System entscheiden.
(2) Diese Zahlungen werden aus dem Haushalt des Mitgliedstaates geleistet.“
5 Art. 28 des Abgeordnetenstatuts sieht vor:
„(1) Ein Anspruch auf Ruhegehalt, den ein Abgeordneter zum Zeitpunkt der Anwendung dieses Statuts nach einzelstaatlichen Regelungen erworben hat, bleibt in vollem Umfang erhalten.
…“
6 Mit Beschluss vom 19. Mai und 9. Juli 2008 hat das Präsidium des Parlaments die Durchführungsbestimmungen zum Abgeordnetenstatut (ABl. 2009, C 159, S. 1, im Folgenden: Durchführungsbestimmungen) erlassen.
7 Art. 49 der Durchführungsbestimmungen, der sich auf die Ruhegehaltsansprüche bezieht, sieht vor:
„(1) Die Abgeordneten, die ihr Mandat mindestens ein volles Jahr ausgeübt haben, haben nach Ende des Mandats Anspruch auf ein lebenslanges Ruhegehalt, das ab dem ersten Tag des Monats zahlbar ist, nach dem sie das 63. Lebensjahr vollenden.
Außer in Fällen höherer Gewalt stellt der ehemalige Abgeordnete oder sein gesetzlicher Vertreter den Antrag auf Auszahlung des Ruhegehalts innerhalb von sechs Monaten nach Eintritt der Anspruchsberechtigung. Nach Ablauf dieser Frist wird der Ruhegehaltsanspruch am ersten Tag des Monats wirksam, in dem der Antrag eingegangen ist.
…“
8 Gemäß ihrem Art. 73 sind die Durchführungsbestimmungen am Tag des Inkrafttretens des Abgeordnetenstatuts, nämlich am 14. Juli 2009, in Kraft getreten.
9 In Art. 74 der Durchführungsbestimmungen heißt es, dass die KVR vorbehaltlich der in Titel IV dieser Durchführungsbestimmungen vorgesehenen Übergangsbestimmungen, insbesondere von Art. 75 derselben Durchführungsbestimmungen (im Folgenden: Art. 75), am Tag des Inkrafttretens des Abgeordnetenstatuts ungültig wird.
10 Art. 75, der sich u. a. auf die Ruhegehälter bezieht, bestimmt:
„(1) Die Hinterbliebenenversorgung, das Ruhegehalt wegen Dienstunfähigkeit, das für die unterhaltsberechtigten Kinder gewährte zusätzliche Ruhegehalt wegen Dienstunfähigkeit und das Ruhegehalt gemäß den Anlagen I, II und III der KVR für die Mitglieder werden gemäß diesen Anlagen auch weiterhin den Personen gezahlt, die diese Leistungen bereits vor dem Zeitpunkt des Inkrafttretens des Statuts erhalten haben.
Falls ein ehemaliger Abgeordneter, der das Ruhegehalt wegen Dienstunfähigkeit bezieht, nach dem 14. Juli 2009 verstirbt, werden die Hinterbliebenenbezüge nach den Bedingungen gemäß Anlage I der KVR an seinen Ehegatten, seinen festen Lebenspartner oder seine unterhaltsberechtigten Kinder gezahlt.
(2) Die bis zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des Statuts gemäß Anlage III erworbenen Ruhegehaltsansprüche bleiben bestehen. Die Personen, die im Rahmen dieser Ruhegehaltsregelung Ansprüche erworben haben, erhalten ein Ruhegehalt, das auf der Grundlage ihrer gemäß der oben genannten Anlage III erworbenen Ansprüche berechnet wird, sofern sie die in den nationalen Rechtsvorschriften des betreffenden Mitgliedstaates vorgesehenen Bedingungen erfüllen und den Antrag im Sinne des Artikels 3 Absatz 2 der genannten Anlage III gestellt haben.“
11 Schließlich ist Art. 75 in Verbindung mit dem siebten Erwägungsgrund derselben Durchführungsbestimmungen zu lesen, der ausführt:
„Darüber hinaus soll in den Übergangsbestimmungen gewährleistet werden, dass die Personen, die auf der Grundlage der KVR bestimmte Leistungen erhalten, diese auch nach der Aufhebung dieser Regelung gemäß dem Grundsatz des Vertrauensschutzes weiterhin in Anspruch nehmen können. Ferner soll die Einhaltung der Ruhegehaltsansprüche gewährleistet sein, die auf der Grundlage der KVR vor Inkrafttreten des Statuts erworben wurden. Darüber hinaus ist es notwendig, die Sonderregelung für diejenigen Abgeordneten zu berücksichtigen, die während eines Übergangszeitraums und bezüglich der finanziellen Bedingungen für die Ausübung des Mandats gemäß Artikel 25 oder Artikel 29 des Statuts unter die nationalen Systeme des Mitgliedstaates, in dem sie gewählt wurden, fallen[.]“
B. Italienisches Recht
12 Am 12. Juli 2018 erließ das Ufficio di Presidenza della Camera dei deputati (Präsidium der Abgeordnetenkammer, Italien) den Beschluss Nr. 14/2018, der eine Neufestsetzung der Höhe der lebenslangen Versorgungsbezüge und des Versorgungsbezügen entsprechenden Teiles der Vorsorgeleistungen sowie der Hinterbliebenenleistungen für die bis zum 31. Dezember 2011 zurückgelegte Amtszeit zum Gegenstand hat (im Folgenden: Beschluss Nr. 14/2018).
13 Art. 1 des Beschlusses Nr. 14/2018 sieht vor:
„(1) Mit Wirkung vom 1. Januar 2019 wird die Höhe der lebenslangen Versorgungsbezüge (Direkt- und Hinterbliebenenleistungen) sowie die des Versorgungsbezügen entsprechenden Teiles der Vorsorgeleistungen (Direkt- und Hinterbliebenenleistungen), deren Ansprüche auf der Grundlage der am 31. Dezember 2011 geltenden Regelung erworben worden sind, nach den neuen in diesem Beschluss vorgesehenen Modalitäten berechnet.
(2) Die Neuberechnung im Sinne des vorstehenden Absatzes erfolgt durch Multiplikation der Höhe des individuellen Beitrags mit dem Verarbeitungskoeffizienten, der sich auf das Alter des Abgeordneten zum Zeitpunkt des Erwerbs des Anspruchs auf lebenslange Versorgungsbezüge oder auf die anteilige Vorsorgeleistung bezieht.
(3) Die Verarbeitungskoeffizienten in der dem vorliegenden Beschluss als Anhang beigefügten Tabelle 1 werden angewandt.
(4) Die Höhe der lebenslangen Versorgungsbezüge (Direkt- und Hinterbliebenenleistungen) sowie die des Versorgungsbezügen entsprechenden Teiles der Vorsorgeleistungen (Direkt- und Hinterbliebenenleistungen), die gemäß dem vorliegenden Beschluss neu berechnet worden sind, darf keinesfalls die Höhe der lebenslangen Versorgungsbezüge (Direkt- oder Hinterbliebenenleistung) oder die des Versorgungsbezügen entsprechenden Teiles der Vorsorgeleistungen (Direkt- und Hinterbliebenenleistungen) übersteigen, die in der zum Zeitpunkt des Beginns des parlamentarischen Mandats geltenden Regelung für jeden Abgeordneten vorgesehen sind.
(5) Die Höhe der lebenslangen Versorgungsbezüge (Direkt- und Hinterbliebenenleistungen) sowie die des Versorgungsbezügen entsprechenden Teiles der Vorsorgeleistungen (Direkt- und Hinterbliebenenleistungen), die gemäß dem vorliegenden Beschluss neu berechnet worden sind, darf keinesfalls geringer ausfallen als der Betrag, der durch Multiplikation der individuellen Beiträge eines Abgeordneten, der das Parlamentsmandat lediglich während der XVII. Wahlperiode ausgeübt hat, mit dem am 31. Dezember 2018 geltenden Verarbeitungskoeffizienten, der dem Alter von 65 Jahren entspricht, berechnet und gemäß nachstehendem Artikel 2 neu bewertet worden ist.
(6) Fällt die neue Höhe der lebenslangen Versorgungsbezüge (Direkt- und Hinterbliebenenleistungen) sowie die des Versorgungsbezügen entsprechenden Teiles der Vorsorgeleistungen (Direkt- und Hinterbliebenenleistungen) nach der Neuberechnung im Sinne des vorliegenden Beschlusses in Relation zur Höhe der lebenslangen Versorgungsbezüge (Direkt- oder Hinterbliebenenleistung) oder der des Versorgungsbezügen entsprechenden Teiles der Vorsorgeleistungen (Direkt- und Hinterbliebenenleistungen), die in der zum Zeitpunkt des Beginns des parlamentarischen Mandats geltenden Regelung für jeden Abgeordneten vorgesehen ist, um mehr als 50 % niedriger aus, wird der gemäß Absatz 5 ermittelte Mindestbetrag um die Hälfte erhöht.
(7) Das Präsidium kann den Betrag der lebenslangen Versorgungsbezüge (Direkt- und Hinterbliebenenleistungen) sowie die des Versorgungsbezügen entsprechenden Teiles der Vorsorgeleistungen (Direkt- und Hinterbliebenenleistungen), die gemäß dem vorliegenden Beschluss neu berechnet worden sind, auf Vorschlag des Kollegiums der Abgeordneten-Quästoren um bis zu 50 % zugunsten von Personen erhöhen, die dies beantragen und folgende Voraussetzungen erfüllen:
a)
Sie beziehen keine anderen jährlichen Einkünfte, die über dem jährlichen Betrag der Sozialhilfe liegen, ausgenommen solche, die gegebenenfalls aus einer als Erstwohnung dienenden Immobilie stammen;
b)
sie leiden an schweren Krankheiten, die die Anwendung lebenswichtiger Therapien erforderlich machen und durch geeignete Dokumente öffentlicher Gesundheitseinrichtungen belegt sind, oder an Erkrankungen, die zu einer Invalidität von 100 % führen, die von den zuständigen Behörden anerkannt worden ist.
(8) Die Dokumentation, die belegt, dass die Voraussetzungen nach Absatz 7 erfüllt sind, ist vom Antragsteller zum Zeitpunkt der Antragstellung, spätestens aber am 31. Dezember eines jeden Jahres vorzulegen.“
II. Vorgeschichte des Rechtsstreits
14 Bei den Klägern – Frau Maria Teresa Coppo Gavazzi und den übrigen natürlichen Personen, deren Namen im Anhang aufgeführt sind – handelt es sich entweder um ehemalige in Italien gewählte Mitglieder des Europäischen Parlaments oder – was Frau Vanda Novati, Frau Maria Di Meo, Frau Leda Frittelli, Frau Mirella Musoni, Frau Jitka Frantova und Frau Ida Panusa in den Rechtssachen T‑397/19, T‑409/19, T‑414/19, T‑426/19, T‑427/19 und T‑453/19 anbelangt – um überlebende Ehepartnerinnen ehemaliger in demselben Mitgliedstaat gewählter Europaabgeordneter. Sie beziehen allesamt ein Altersruhegehalt bzw. eine Hinterbliebenenrente.
15 Nach Maßgabe der Bestimmungen des Beschlusses Nr. 14/2018 wurde das Ruhegehalt einiger ehemaliger italienischer Abgeordneter (bzw. die Rente ihrer überlebenden Ehepartnerinnen) mit Wirkung vom 1. Januar 2019 herabgesetzt.
16 Nach der Erhebung einer Klage gegen den Beschluss Nr. 14/2018 durch von den genannten Herabsetzungen betroffene italienische nationale Abgeordnete wird die Rechtmäßigkeit dieses nationalen Beschlusses derzeit vom Consiglio di giurisdizione della Camera dei deputati (Schlichtungsrat der Abgeordnetenkammer, Italien) geprüft.
17 Durch Hinzufügung einer Anmerkung zu den Ruhegehaltsabrechnungen für den Monat Januar 2019 teilte das Parlament den Klägern mit, dass die Höhe ihres Ruhegehalts gemäß dem Beschluss Nr. 14/2018 überprüft werden und diese Neuberechnung gegebenenfalls zu einer Rückforderung der zu Unrecht geleisteten Zahlungen führen könne.
18 In Anbetracht von Anlage III Art. 2 Abs. 1, der vorsieht, dass „Höhe und Bedingungen des vorläufigen Altersruhegehalts … identisch mit Höhe und Bedingungen des Altersruhegehalts für Mitglieder der Abgeordnetenkammer des Mitgliedstaates [sind], in dem das Mitglied des Parlaments gewählt wurde“ (im Folgenden: Regelung über ein identisches Ruhegehalt), war das Parlament seinen eigenen Angaben zufolge nämlich verpflichtet, den Beschluss Nr. 14/2018 anzuwenden und folglich die Höhe der Ruhegehälter der Kläger neu zu berechnen.
19 Mit undatierter Mitteilung des Leiters des Referats „Entschädigung und soziale Rechte der Mitglieder“ der Generaldirektion (GD) Finanzen des Parlaments, die den Ruhegehaltsabrechnungen der Kläger für den Monat Februar 2019 als Anhang beigefügt war, setzte das Parlament die Kläger darüber in Kenntnis, dass sein Juristischer Dienst die automatische Anwendbarkeit des Beschlusses Nr. 14/2018 auf ihre Situation mit seinem Gutachten Nr. SJ‑0836/18 vom 11. Januar 2019 (im Folgenden: Gutachten des Juristischen Dienstes) bestätigt habe. In dieser Mitteilung hieß es weiter, dass das Parlament, sobald es die erforderlichen Informationen seitens der Camera dei deputati (Abgeordnetenkammer, Italien) erhalten habe, den Klägern die Neufestsetzung der Höhe ihres Ruhegehalts mitteilen und eine etwaige Differenz in den folgenden zwölf Monaten zurückfordern werde. Schließlich wurden die Kläger in der genannten Mitteilung darüber informiert, dass die endgültige Festsetzung der Höhe ihres Ruhegehalts durch einen formellen Rechtsakt erfolge, gegen den auf der Grundlage von Art. 72 der Durchführungsbestimmungen Beschwerde eingelegt oder auf der Grundlage von Art. 263 AEUV Nichtigkeitsklage erhoben werden könne.
20 Mit Mitteilungen vom 11. April 2019 (in Bezug auf Herrn Luigi Andrea Florio in der Rechtssache T‑465/19 im Folgenden: Entscheidungsentwurf) informierte der Leiter des Referats „Entschädigung und soziale Rechte der Mitglieder“ der GD Finanzen des Parlaments die Kläger darüber, dass die Höhe ihres Ruhegehalts, wie er in seiner Mitteilung von Februar 2019 angekündigt habe, in Anwendung von Anlage III Art. 2 Abs. 1 in Höhe der Kürzungen der entsprechenden Ruhegehälter der ehemaligen italienischen nationalen Abgeordneten der Abgeordnetenkammer gemäß dem Beschluss Nr. 14/2018 angepasst werde. In diesen Mitteilungen hieß es weiter, dass die Höhe der Ruhegehälter der Kläger nach Maßgabe der im Anhang der Schreiben übermittelten Entwürfe zur Festsetzung der neuen Höhe der Ruhegehälter ab April 2019 (rückwirkend zum 1. Januar 2019) angepasst werde. Schließlich wurde den Klägern in denselben Mitteilungen eine Frist zur Stellungnahme von 30 Tagen ab Eingang gewährt. In Ermangelung einer solchen Stellungnahme würden die Wirkungen dieser Mitteilungen als endgültig betrachtet und führten u. a. zur Rückforderung rechtsgrundlos gezahlter Beträge für die Monate Januar bis März 2019.
21 Abgesehen von Herrn Florio in der Rechtssache T‑465/19 gab kein Kläger eine solche Stellungnahme ab, so dass die oben in Rn. 20 genannten Mitteilungen ihnen gegenüber endgültige Wirkungen zeitigten.
22 Mit E‑Mail vom 14. Mai 2019 übermittelte Herr Florio der zuständigen Dienststelle des Parlaments seine Stellungnahme.
23 Mit Schreiben vom 11. Juni 2019 (im Folgenden: endgültige Entscheidung) stellte der Leiter des Referats „Entschädigung und soziale Rechte der Mitglieder“ der GD Finanzen des Parlaments fest, dass die von Herrn Florio übermittelte Stellungnahme nichts enthalte, was eine Revision des Standpunkts des Parlaments, wie er im Entscheidungsentwurf zum Ausdruck gekommen sei, rechtfertigen könne. Deshalb seien zum Zeitpunkt der Zustellung der endgültigen Entscheidung die Höhe der Ruhegehälter und der sich daraus ergebende Rückzahlungsplan für rechtsgrundlos gezahlte Beträge, die im Anhang des genannten Entscheidungsentwurfs neu berechnet und übermittelt worden seien, endgültig geworden.
III. Verfahren und Anträge der Parteien
24 Mit Klageschriften, die am 27. Juni (Rechtssachen T‑389/19 bis T‑393/19), 28. Juni (Rechtssachen T‑394/19, T‑397/19, T‑398/19, T‑403/19, T‑404/19, T‑406/19, T‑407/19, T‑409/19 bis T‑414/19, T‑416/19 und T‑417/19), 1. Juli (Rechtssachen T‑435/19, T‑436/19, T‑438/19 bis T‑442/19, T‑444/19 bis T‑446/19), 2. Juli (Rechtssachen T‑421/19, T‑422/19, T‑425/19 bis T‑427/19, T‑429/19 bis T‑432/19), 3. Juli (T‑418/19, T‑420/19, T‑448/19, T‑450/19 bis T‑453/19), 4. Juli (Rechtssachen T‑454/19 und T‑463/19) und 5. Juli 2019 (Rechtssache T‑465/19) bei der Kanzlei des Gerichts eingegangen sind, haben die Kläger die vorliegenden Klagen erhoben.
25 Am 10. Juli (Rechtssachen T‑389/19 bis T‑393/19, T‑394/19, T‑397/19, T‑398/19, T‑403/19, T‑404/19, T‑406/19, T‑407/19, T‑409/19 bis T‑414/19, T‑416/19 und T‑417/19) und 18. Juli 2019 (Rechtssachen T‑418/19, T‑420/19 bis T‑422/19, T‑425/19 bis T‑427/19, T‑429/19 bis T‑432/19, T‑435/19, T‑436/19, T‑438/19 bis T‑442/19, T‑444/19 bis T‑446/19, T‑448/19, T‑450/19 bis T‑454/19, T‑463/19 und T‑465/19) hat das Parlament gemäß Art. 68 Abs. 1 der Verfahrensordnung des Gerichts die Verbindung der Rechtssachen beantragt.
26 Am 19. Juli (Rechtssachen T‑389/19 bis T‑393/19, T‑394/19, T‑397/19, T‑398/19, T‑403/19, T‑404/19, T‑406/19, T‑407/19, T‑409/19 und T‑410/19) und 22. Juli 2019 (Rechtssachen T‑411/19 bis T‑414/19 und T‑416/19 bis T‑418/19, T‑420/19 bis T‑422/19, T‑425/19 bis T‑427/19, T‑429/19 bis T‑432/19, T‑435/19, T‑436/19, T‑438/19 bis T‑442/19, T‑444/19 bis T‑446/19, T‑448/19, T‑450/19 bis T‑454/19, T‑463/19 und T‑465/19) hat das Parlament gemäß Art. 69 Buchst. c der Verfahrensordnung die Aussetzung der Verfahren in Erwartung der Entscheidung des über die Gültigkeit des Beschlusses Nr. 14/2018 befindenden Consiglio di giurisdizione della Camera dei deputati (Schlichtungsrat der Abgeordnetenkammer) beantragt.
27 Am 11. September (Rechtssachen T‑391/19 und T‑392/19), 12. September (Rechtssache T‑389/19), 13. September (Rechtssache T‑393/19), 16. September (Rechtssachen T‑394/19, T‑403/19, T‑410/19, T‑412/19 und T‑416/19), 17. September (Rechtssachen T‑397/19, T‑398/19, T‑409/19 und T‑414/19), 18. September (Rechtssachen T‑390/19, T‑404/19, T‑406/19, T‑407/19, T‑411/19, T‑413/19, T‑417/19, T‑418/19, T‑420/19 bis T‑422/19, T‑425/19, T‑429/19 bis T‑431/19, T‑436/19 und T‑438/19), 19. September (Rechtssachen T‑426/19, T‑427/19, T‑435/19, T‑439/19, T‑442/19, T‑445/19 und T‑446/19), 20. September (Rechtssachen T‑432/19, T‑440/19, T‑448/19, T‑450/19, T‑451/19, T‑454/19 und T‑463/19), 23. September (Rechtssachen T‑441/19, T‑444/19, T‑452/19 und T‑465/19) und 24. September 2019 (Rechtssache T‑453/19) hat das Parlament die Klagebeantwortungen eingereicht.
28 Am 27. September (Rechtssachen T‑389/19 und T‑390/19), 30. September (Rechtssachen T‑391/19 bis T‑394/19, T‑397/19 und T‑398/19), 1. Oktober (Rechtssachen T‑403/19, T‑404/19, T‑406/19, T‑407/19 und T‑409/19 bis T‑411/19), 2. Oktober (Rechtssachen T‑412/19 bis T‑414/19, T‑416/19 bis T‑418/19, T‑420/19 bis T‑422/19 und T‑430/19 bis T‑432/19), 3. Oktober (Rechtssachen T‑425/19, T‑435/19, T‑436/19, T‑438/19 bis T‑442/19, T‑444/19 bis T‑446/19, T‑448/19 und T‑450/19 bis T‑454/19) und 4. Oktober 2019 (Rechtssachen T‑426/19, T‑427/19, T‑429/19, T‑463/19 und T‑465/19) hat das Gericht die Parteien zu der Möglichkeit befragt, unter den 84 ähnlichen Rechtssachen, mit denen es zu dieser Zeit befasst war, zum einen eine kleinere Zahl von Pilotverfahren zu benennen und zum anderen die übrigen Verfahren entsprechend auszusetzen, bis die das Verfahren beendende Entscheidung in den als Pilotverfahren benannten Rechtssachen rechtskräftig werde. Darüber hinaus hat das Gericht das Parlament gebeten, die KVR in vollem Umfang vorzulegen.
29 Am 15. Oktober (Rechtssache T‑452/19), 18. Oktober (Rechtssachen T‑389/19, T‑390/19, T‑410/19 bis T‑414/19, T‑416/19, T‑418/19, T‑420/19 und T‑421/19), 22. Oktober (Rechtssachen T‑391/19 bis T‑394/19, T‑397/19, T‑398/19, T‑403/19, T‑404/19, T‑406/19, T‑407/19, T‑409/19, T‑417/19, T‑422/19 und T‑430/19 bis T‑432/19), 24. Oktober (Rechtssachen T‑425/19 bis T‑427/19, T‑429/19, T‑435/19, T‑436/19, T‑438/19 bis T‑442/19, T‑444/19 bis T‑446/19, T‑448/19, T‑450/19, T‑451/19, T‑453/19 und T‑454/19) und 28. Oktober 2019 (Rechtssachen T‑463/19 und T‑465/19) hat das Parlament die Frage des Gerichts beantwortet und eine vollständige Fassung der KVR übermittelt.
30 Am 21. Oktober 2019 haben die Kläger die Frage des Gerichts beantwortet.
31 Mit Beschlüssen vom 4. November (Rechtssachen T‑389/19 bis T‑394/19, T‑397/19 und T‑398/19), 5. November (Rechtssachen T‑403/19 und T‑404/19), 6. November (Rechtssachen T‑406/19, T‑407/19, T‑409/19, T‑414/19 und T‑416/19), 7. November (Rechtssachen T‑410/19 bis T‑412/19, T‑417/19, T‑418/19 und T‑420/19), 8. November (Rechtssachen T‑413/19, T‑421/19, T‑422/19 und T‑425/19), 11. November (Rechtssachen T‑426/19, T‑427/19, T‑429/19 bis T‑431/19 und T‑452/19), 12. November (Rechtssachen T‑432/19, T‑435/19 und T‑436/19), 13. November (Rechtssachen T‑438/19 bis T‑442/19, T‑444/19 bis T‑446/19 und T‑448/19), 14. November (Rechtssachen T‑450/19, T‑451/19, T‑453/19 und T‑454/19) und 15. November 2019 (Rechtssachen T‑463/19 und T‑465/19) sind die Rechtssachen infolge einer Änderung der Zusammensetzung der Kammern des Gerichts der Achten Kammer neu zugewiesen worden.
32 Mit Schreiben vom 5. und 28. November 2019 hat das Parlament das Gericht über den Tod von Herrn Luigi Caligaris, den Kläger in der Rechtssache T‑435/19, informiert. Unter Berücksichtigung dieser Umstände hat das Gericht den Rechtsbeistand des Klägers am 2. Dezember 2019 befragt, wie er in dem Verfahren weiter vorzugehen gedenke. Am 20. Dezember 2019 hat der Rechtsbeistand von Herrn Caligaris das Gericht darüber in Kenntnis gesetzt, dass dessen Witwe, Frau Paola Chiaramello, das Verfahren weiterführen wolle. Am 30. September 2020 hat der Rechtsbeistand von Frau Chiaramello das Gericht über den Tod seiner Mandantin informiert. Am 7. Oktober 2020 hat der Rechtsbeistand von Frau Chiaramello das Gericht darüber in Kenntnis gesetzt, dass Herr Enrico Caligaris und Frau Valentina Caligaris, die Erben von Frau Chiaramello, beabsichtigten, das Verfahren weiterzuführen.
33 Am 28. November 2019 hat das Gericht entschieden, dass ein zweiter Schriftwechsel nicht erforderlich ist.
34 Am 3. Dezember (Rechtssache T‑389/19), 4. Dezember (Rechtssachen T‑390/19 bis T‑394/19), 5. Dezember (Rechtssachen T‑397/19, T‑398/19, T‑403/19, T‑404/19, T‑406/19, T‑407/19, T‑409/19 bis T‑412/19, T‑418/19, T‑420/19 bis T‑422/19, T‑425/19 bis T‑427/19, T‑429/19 bis T‑432/19, T‑435/19, T‑436/19 und T‑438/19 bis T‑441/19), 6. Dezember (Rechtssachen T‑413/19, T‑414/19, T‑416/19 und T‑417/19), 9. Dezember (Rechtssachen T‑442/19, T‑444/19 bis T‑446/19, T‑448/19, T‑450/19, T‑451/19, T‑454/19, T‑463/19 und T‑465/19) und 10. Dezember 2019 (Rechtssachen T‑452/19 und T‑453/19) hat das Gericht die Kläger aufgefordert, zum Aussetzungsantrag des Parlaments Stellung zu nehmen.
35 Am 3. Dezember (Rechtssache T‑389/19), 4. Dezember (Rechtssachen T‑390/19 bis T‑394/19), 5. Dezember (Rechtssachen T‑397/19, T‑398/19, T‑403/19, T‑404/19, T‑406/19, T‑407/19, T‑409/19 bis T‑412/19, T‑418/19, T‑420/19 bis T‑422/19, T‑425/19 bis T‑427/19, T‑429/19 bis T‑432/19, T‑435/19, T‑436/19 und T‑438/19 bis T‑441/19), 6. Dezember (Rechtssachen T‑413/19, T‑414/19, T‑416/19 und T‑417/19), 9. Dezember (Rechtssachen T‑442/19, T‑444/19 bis T‑446/19, T‑448/19, T‑450/19, T‑451/19, T‑454/19, T‑463/19 und T‑465/19) und 10. Dezember 2019 (Rechtssachen T‑452/19 und T‑453/19) hat das Gericht die Kläger aufgefordert, zur Möglichkeit einer Verbindung der Rechtssachen T‑389/19 bis T‑394/19, T‑397/19, T‑398/19, T‑403/19, T‑404/19, T‑406/19, T‑407/19, T‑409/19 bis T‑418/19, T‑420/19 bis T‑422/19, T‑425/19 bis T‑427/19, T‑429/19 bis T‑432/19, T‑435/19, T‑436/19, T‑438/19 bis T‑442/19, T‑444/19 bis T‑446/19, T‑448/19, T‑450/19 bis T‑454/19, T‑463/19 und T‑465/19 Stellung zu nehmen.
36 Am 16. Dezember (Rechtssachen T‑389/19 bis T‑394/19, T‑397/19, T‑398/19, T‑403/19, T‑404/19, T‑406/19, T‑407/19 und T‑409/19 bis T‑414/19, T‑416/19 und T‑417/19), 17. Dezember (Rechtssachen T‑418/19, T‑420/19 bis T‑422/19, T‑425/19 bis T‑427/19, T‑429/19 bis T‑432/19, T‑435/19, T‑436/19, T‑438/19 bis T‑442/19, T‑444/19 und T‑445/19) und 19. Dezember 2019 (Rechtssachen T‑446/19, T‑448/19, T‑450/19 bis T‑454/19, T‑463/19 und T‑465/19) hat das Parlament zum Verbindungsvorschlag Stellung genommen.
37 Mit Schreiben vom 18. Dezember 2019 hat die Klägerin in der Rechtssache T‑389/19 das Gericht darum ersucht, seine Entscheidung vom 28. November 2019 zu revidieren und ihr zu erlauben, eine Erwiderung einzureichen.
38 Am 8. Januar 2020 haben die Kläger mit Ausnahme der Kläger in den Rechtssachen T‑409/19 und T‑446/19 zum Aussetzungsantrag des Parlaments Stellung genommen.
39 Am 9. Januar 2020 haben die Kläger zum Verbindungsvorschlag Stellung genommen.
40 Am 16. Januar (Rechtssachen T‑389/19 bis T‑393/19, T‑397/19, T‑398/19, T‑403/19, T‑404/19, T‑406/19, T‑407/19, T‑410/19 bis T‑414/19, T‑418/19 und T‑420/19) und 17. Januar (Rechtssachen T‑394/19, T‑409/19, T‑416/19, T‑417/19, T‑421/19, T‑422/19, T‑425/19 bis T‑427/19, T‑429/19 bis T‑432/19, T‑435/19, T‑436/19, T‑438/19 bis T‑442/19, T‑444/19 bis T‑446/19, T‑448/19, T‑450/19 bis T‑454/19, T‑463/19 und T‑465/19) hat der Präsident der Achten Kammer beschlossen, das Verfahren nicht auszusetzen.
41 Mit Beschluss des Präsidenten der Achten Kammer des Gerichts vom 21. Januar 2020 sind die vorliegenden Rechtssachen und die Rechtssache T‑415/19, Laroni/Parlament, gemäß Art. 68 der Verfahrensordnung zu gemeinsamem schriftlichen und mündlichen Verfahren sowie zu gemeinsamer das Verfahren beendender Entscheidung verbunden worden.
42 Am 23. Januar 2020 hat das Gericht das Parlament aufgefordert, alle vorbereitenden Dokumente betreffend den Erlass von Art. 75 und Anlage III vorzulegen. Darüber hinaus hat das Gericht das Parlament zu seiner Verwaltungspraxis im Bereich des Entgelts und der Ruhegehälter befragt. Das Parlament hat die Frage beantwortet und die angefragten vorbereitenden Dokumente am 11. Februar 2020 übermittelt.
43 Am 4. März 2020 haben die Kläger gemäß Art. 106 Abs. 2 der Verfahrensordnung die Durchführung einer mündlichen Verhandlung beantragt.
44 Am 20. April 2020 hat der Präsident der Achten Kammer gemäß Art. 67 Abs. 2 der Verfahrensordnung entschieden, die vorliegenden Rechtssachen mit Vorrang zu entscheiden.
45 Mit Schreiben vom 30. April 2020 hat das Parlament das Gericht über den Tod von Herrn Giulietto Chiesa, des Klägers in der Rechtssache T‑445/19, informiert. Unter Berücksichtigung dieser Umstände hat das Gericht den Rechtsbeistand des Klägers am 8. Mai 2020 befragt, wie er in dem Verfahren weiter vorzugehen gedenke. Am 8. Juni 2020 hat der Rechtsbeistand von Herrn Chiesa das Gericht darüber in Kenntnis gesetzt, dass dessen Witwe, Frau Fiammetta Cucurnia, beabsichtige, das Verfahren weiterzuführen.
46 Am 30. April 2020 hat das Gericht die Parteien aufgefordert, zur Möglichkeit einer Verbindung der vorliegenden Klagen und der Rechtssache T‑415/19, Laroni/Parlament, mit den verbundenen Rechtssachen T‑345/19, Santini/Parlament, T‑346/19, Ceravolo/Parlament, T‑364/19, Moretti/Parlament, T‑365/19, Capraro/Parlament, T‑366/19, Sboarina/Parlament, T‑372/19, Cellai/Parlament, T‑373/19, Gatti/Parlament, T‑374/19, Wuhrer/Parlament, T‑375/19, Pisoni/Parlament, und T‑385/19, Mazzone/Parlament, sowie den Rechtssachen T‑519/19, Forte/Parlament, und T‑695/19, Falqui/Parlament, zu gemeinsamem mündlichen Verfahren Stellung zu nehmen.
47 Auf Vorschlag der Achten Kammer hat das Gericht gemäß Art. 28 der Verfahrensordnung am 15. Mai 2020 entschieden, die Rechtssache an einen erweiterten Spruchkörper zu verweisen.
48 Am 19. Mai 2020 hat das Gericht die Parteien zu verschiedenen Aspekten der vorliegenden Rechtssachen befragt.
49 Am 2. bzw. 3. Juni 2020 haben das Parlament und die Kläger zu dem oben in Rn. 46 erwähnten Vorschlag einer Verbindung zu gemeinsamem mündlichen Verfahren Stellung genommen.
50 Am 5. Juni 2020 hat der Präsident der Achten Kammer entschieden, die vorliegenden Rechtssachen und die Rechtssache T‑415/19, Laroni/Parlament, mit den verbundenen Rechtssachen T‑345/19, Santini/Parlament, T‑346/19, Ceravolo/Parlament, T‑364/19, Moretti/Parlament, T‑365/19, Capraro/Parlament, T‑366/19, Sboarina/Parlament, T‑372/19, Cellai/Parlament, T‑373/19, Gatti/Parlament, T‑374/19, Wuhrer/Parlament, T‑375/19, Pisoni/Parlament, und T‑385/19, Mazzone/Parlament, sowie den Rechtssachen T‑519/19, Forte/Parlament, und T‑695/19, Falqui/Parlament, zu gemeinsamem mündlichen Verfahren zu verbinden.
51 Am 17. Juni 2020 haben die Kläger und das Parlament die Fragen beantwortet, die das Gericht am 19. Mai 2020 an sie gerichtet hatte.
52 Mit Schreiben vom 1. Juli 2020 haben die Kläger beim Gericht beantragt, ihnen mehr Zeit für ihre Ausführungen in der mündlichen Verhandlung einzuräumen. Am 3. Juli 2020 hat das Gericht diesem Antrag teilweise stattgegeben.
53 Mit Schreiben vom 2. Juli 2020 hat das Parlament das Gericht über den Tod von Frau Frantova, der Klägerin in der Rechtssache T‑427/19, informiert. Mit Schreiben vom 13. Juli und 5. August 2020 hat auch der Rechtsbeistand von Frau Frantova das Gericht über den Tod seiner Mandantin informiert und mitgeteilt, dass er dem Gericht alle erforderlichen Informationen über das Erbe und den weiteren Fortgang des Verfahrens übermitteln werde. Am 16. September 2020 hat der Rechtsbeistand von Frau Frantova das Gericht darüber in Kenntnis gesetzt, dass Frau Daniela Concardia, die Erbin der Klägerin, beabsichtige, das Verfahren weiterzuführen.
54 Die Parteien haben in der Sitzung vom 7. Juli 2020 mündlich verhandelt sowie schriftliche und mündliche Fragen des Gerichts beantwortet.
55 Mit Entscheidung vom 8. Oktober 2020 hat der Präsident der Achten Kammer nach Anhörung der Parteien gemäß Art. 68 Abs. 3 der Verfahrensordnung die Verbindung der Rechtssache T‑415/19, Laroni/Parlament, mit den anderen Rechtssachen aufgehoben.
56 Abgesehen von Herrn Florio in der Rechtssache T‑465/19 beantragen die Kläger,
–
die oben in Rn. 20 erwähnten Mitteilungen vom 11. April 2019 für inexistent oder nichtig zu erklären;
–
dem Parlament die Erstattung aller unrechtmäßig einbehaltenen Beträge zuzüglich der gesetzlichen Zinsen vom Zeitpunkt des Einbehalts bis zur Auszahlung aufzugeben und das Parlament zu verurteilen, das zu erlassende Urteil durchzuführen und alle Initiativen, Handlungen oder Maßnahmen zu ergreifen, die erforderlich sind, um die sofortige und vollständige Wiederherstellung der ursprünglichen Ruhegehaltsmaßnahme sicherzustellen;
–
dem Parlament die Kosten aufzuerlegen.
57 In der Rechtssache T‑465/19 beantragt Herr Florio,
–
den Entscheidungsentwurf und alle vorherigen, damit zusammenhängenden oder darauf folgenden Maßnahmen für inexistent oder nichtig zu erklären;
–
dem Parlament die Erstattung aller unrechtmäßig einbehaltenen Beträge zuzüglich der gesetzlichen Zinsen vom Zeitpunkt des Einbehalts bis zur Auszahlung aufzugeben und das Parlament zu verurteilen, das zu erlassende Urteil durchzuführen und alle Initiativen, Handlungen oder Maßnahmen zu ergreifen, die erforderlich sind, um die sofortige und vollständige Wiederherstellung der ursprünglichen Ruhegehaltsmaßnahme sicherzustellen;
–
dem Parlament die Kosten aufzuerlegen.
58 Das Parlament beantragt,
–
die Klagen als teilweise unzulässig und teilweise unbegründet abzuweisen;
–
den Klägern die Kosten aufzuerlegen.
IV. Rechtliche Würdigung
A. Klagegegenstand und Zuständigkeit des Gerichts
59 Einleitend ist zu bemerken, dass die Kläger, worauf sie in ihrer Klageschrift ausdrücklich hingewiesen haben, nicht beabsichtigen, im Rahmen der vorliegenden Klageverfahren die Rechtmäßigkeit des Beschlusses Nr. 14/2018 anzufechten.
60 In der mündlichen Verhandlung hat der Rechtsbeistand der Kläger jedoch erklärt, dass er auf die mündlichen Ausführungen von Herrn Maurizio Paniz, dem Rechtsanwalt der Kläger in den verbundenen Rechtssachen Santini u. a./Parlament, T‑345/19, T‑346/19, T‑364/19 bis T‑366/19, T‑372/19 bis T‑375/19 und T‑385/19, Bezug nehme.
61 Da Herr Paniz im Rahmen seiner mündlichen Ausführungen die Gültigkeit des Beschlusses Nr. 14/2018 angefochten und während des mündlichen Verfahrens Beweismittel zur Stützung dieser Auffassung vorgelegt hat, ist auf die Grenzen hinzuweisen, die der Zuständigkeit des Gerichts im Rahmen einer Klage nach Art. 263 AEUV gesetzt sind.
62 In diesem Zusammenhang sind die Gerichte der Europäischen Union gemäß Art. 263 AEUV nicht dafür zuständig, über die Rechtmäßigkeit von Handlungen einer nationalen Behörde zu entscheiden (vgl. in diesem Sinne Beschluss vom 28. Februar 2017, NF/Europäischer Rat, T‑192/16, EU:T:2017:128, Rn. 44 und die dort angeführte Rechtsprechung).
63 Unter Berücksichtigung dieser Rechtsprechung fällt die Beurteilung der Rechtmäßigkeit des Beschlusses Nr. 14/2018 nicht in die Zuständigkeit des Gerichts.
64 Das Gericht stellt weiter fest, dass sich die von Herrn Paniz während des mündlichen Verfahrens vorgelegten Beweismittel, auf die er in der mündlichen Verhandlung verwiesen hat, nicht auf den Ausgang der vorliegenden Klageverfahren auswirken. Zum einen hat Herr Paniz eine Kopie des Beschlusses Nr. 2/2020 vom 22. April 2020 übermittelt, mit dem der Consiglio di giurisdizione della Camera dei deputati (Schlichtungsrat der Abgeordnetenkammer) Art. 1 Abs. 7 des Beschlusses Nr. 14/2018 teilweise für nichtig erklärt hatte. Diese Nichtigerklärung hat für den vorliegenden Fall jedoch keine Folgen, da das Parlament nicht darum ersucht worden ist, Bestimmungen, die mit denen von Art. 1 Abs. 7 des Beschlusses Nr. 14/2018 identisch sind, auf die Kläger anzuwenden, und solche Bestimmungen daher auch nicht auf die Kläger angewandt hat. Zum anderen hat Herr Paniz darüber hinaus eine Kopie des verfügenden Teils des Urteils der Commissione contenziosa del senato (Kommission für Streitsachen des Senats, Italien) vom 25. Juni 2020 eingereicht. Dieses Urteil hat jedoch den Beschluss Nr. 6/2018 des Ufficio di Presidenza del Senato (Präsidium des Senats, Italien) und nicht den Beschluss Nr. 14/2018 zum Gegenstand. Es steht aber fest, dass das Parlament im Einklang mit Anlage III Art. 2 Abs. 1 lediglich Vorschriften angewandt hat, die mit denen des Beschlusses Nr. 14/2018 identisch sind. Wie das Gericht schließlich feststellt, hat das Parlament in der mündlichen Verhandlung bestätigt, dass es im Einklang mit der Regelung über ein identisches Ruhegehalt in Zukunft alle Änderungen des italienischen Rechts und insbesondere des Beschlusses Nr. 14/2018, die sich aus laufenden Verfahren vor dem Consiglio di giurisdizione della Camera dei deputati (Schlichtungsrat der Abgeordnetenkammer) ergeben könnten, anwenden werde.
65 Auch wenn das Gericht auf der Grundlage von Art. 263 AEUV somit nicht die Gültigkeit des Beschlusses Nr. 14/2018 kontrollieren kann, ist es doch für die Prüfung der Rechtmäßigkeit der Handlungen des Parlaments zuständig. Daher kann das Gericht im Rahmen der vorliegenden Nichtigkeitsklagen prüfen, ob Art. 75 und Anlage III Art. 2 Abs. 1, mit denen die Regelung über ein identisches Ruhegehalt eingeführt worden ist, nicht gegen höherrangige Normen des Unionsrechts verstoßen. Ebenso kann das Gericht untersuchen, ob die Tatsache, dass das Parlament im Rahmen der Regelung über ein identisches Ruhegehalt die Bestimmungen des Beschlusses Nr. 14/2018 angewandt hat, mit dem Unionsrecht im Einklang steht. Schließlich ist das Gericht auch dafür zuständig, sicherzustellen, dass die oben in Rn. 20 erwähnten Mitteilungen vom 11. April 2019 und – was Herrn Florio in der Rechtssache T‑465/19 angeht – die endgültige Entscheidung das Unionsrecht beachten.
B. Zulässigkeit der Klage in der Rechtssache T‑453/19, Panusa/Parlament
66 In der mündlichen Verhandlung hat das Parlament die Unzulässigkeit der Klage in der Rechtssache T‑453/19, Panusa/Parlament, geltend gemacht und dies damit begründet, dass die die Klägerin betreffende angefochtene Entscheidung deren Interessen nicht berührt habe. Die genannte Entscheidung habe nämlich zu keiner Verringerung der Höhe des von der Klägerin bezogenen Ruhegehalts geführt.
67 Frau Panusa hat – ebenfalls in der mündlichen Verhandlung – erwidert, dass sie trotz allem weiterhin ein Rechtsschutzinteresse habe.
68 Insoweit ist nach ständiger Rechtsprechung eine Nichtigkeitsklage einer natürlichen oder juristischen Person nur dann zulässig, wenn der Kläger ein Interesse an der Nichtigerklärung der angefochtenen Handlung hat. Ein solches Interesse setzt voraus, dass die Nichtigerklärung der angefochtenen Handlung als solche Rechtswirkungen haben kann und dass der Rechtsbehelf der Partei, die ihn eingelegt hat, damit im Ergebnis einen Vorteil verschaffen kann (vgl. Urteil vom 27. März 2019, Canadian Solar Emea u. a./Rat, C‑237/17 P, EU:C:2019:259, Rn. 75 und die dort angeführte Rechtsprechung). Das Rechtsschutzinteresse muss bestehend und gegenwärtig sein, wobei auf den Zeitpunkt der Klageerhebung abzustellen ist. Es muss jedoch bis zum Erlass der gerichtlichen Entscheidung weiter vorliegen – anderenfalls ist der Rechtsstreit in der Hauptsache erledigt (Urteil vom 7. Juni 2007, Wunenburger/Kommission, C‑362/05 P, EU:C:2007:322, Rn. 42).
69 Im vorliegenden Fall hat das Parlament unwidersprochen vorgetragen, die angefochtene Entscheidung habe zu keiner Verringerung der Höhe des von der Klägerin bezogenen Ruhegehalts geführt.
70 Demnach kann die Nichtigerklärung der Frau Panusa betreffenden angefochtenen Entscheidung als solche ihr keinen Vorteil verschaffen. Folglich ist die Klage in der Rechtssache T‑453/19, Panusa/Parlament, als unzulässig abzuweisen.
C. Begründetheit
71 Die Kläger stützen ihre Nichtigkeitsklage auf vier Gründe. Der erste Klagegrund wird aus der Unzuständigkeit des Urhebers der oben in Rn. 20 erwähnten Mitteilungen vom 11. April 2019 und der endgültigen Entscheidung (im Folgenden zusammen: angefochtene Entscheidungen) sowie aus einer Verletzung der Begründungspflicht hergeleitet. Mit dem zweiten Klagegrund werden das Fehlen einer Rechtsgrundlage und eine fehlerhafte Anwendung von Art. 75 gerügt. Der dritte Klagegrund bezieht sich auf einen Rechtsfehler bei der Einordnung des Beschlusses Nr. 14/2018 und auf eine fehlerhafte Anwendung des in Art. 75 Abs. 2 vorgesehenen „Gesetzesvorbehalts“. Mit dem vierten Klagegrund wird ein Verstoß gegen die Grundsätze der Rechtssicherheit, des Vertrauensschutzes, der Verhältnismäßigkeit und der Gleichheit sowie eine Verletzung des Eigentumsrechts beanstandet.
72 Vor Prüfung der Klagegründe in der Sache hält es das Gericht für angebracht, den Antrag der Kläger auf Feststellung der Inexistenz der angefochtenen Entscheidungen zu untersuchen.
73 Insoweit spricht für die Rechtsakte der Unionsorgane nach ständiger Rechtsprechung grundsätzlich die Vermutung der Rechtmäßigkeit; sie entfalten daher selbst dann, wenn sie fehlerhaft sind, Rechtswirkungen, solange sie nicht für nichtig erklärt oder zurückgenommen worden sind (vgl. Urteile vom 15. Juni 1994, Kommission/BASF u. a., C‑137/92 P, EU:C:1994:247, Rn. 48, sowie vom 9. Dezember 2014, Lucchini/Kommission, T‑91/10, EU:T:2014:1033, Rn. 70 und die dort angeführte Rechtsprechung).
74 Als Ausnahme von diesem Grundsatz ist indessen bei Rechtsakten, die offenkundig mit einem derart schweren Fehler behaftet sind, dass die Unionsrechtsordnung ihn nicht hinnehmen kann, davon auszugehen, dass sie nicht einmal vorläufig Rechtswirkungen entfaltet haben, was bedeutet, dass sie als rechtlich inexistent anzusehen sind. Diese Ausnahme soll einen Ausgleich zwischen zwei grundlegenden, manchmal jedoch einander widerstreitenden Erfordernissen herstellen, denen eine Rechtsordnung genügen muss, nämlich zwischen der Stabilität der Rechtsbeziehungen und der Wahrung der Rechtmäßigkeit (vgl. Urteile vom 15. Juni 1994, Kommission/BASF u. a., C‑137/92 P, EU:C:1994:247, Rn. 49, sowie vom 9. Dezember 2014, Lucchini/Kommission, T‑91/10, EU:T:2014:1033, Rn. 71 und die dort angeführte Rechtsprechung).
75 Die Schwere der Folgen, die mit der Feststellung der Inexistenz eines Rechtsakts der Unionsorgane verbunden sind, verlangt aus Gründen der Rechtssicherheit, dass diese Feststellung auf ganz außergewöhnliche Fälle beschränkt wird (vgl. Urteile vom 15. Juni 1994, Kommission/BASF u. a., C‑137/92 P, EU:C:1994:247, Rn. 50, sowie vom 9. Dezember 2014, Lucchini/Kommission, T‑91/10, EU:T:2014:1033, Rn. 72 und die dort angeführte Rechtsprechung).
76 Abschließend ist noch darauf hinzuweisen, dass Unregelmäßigkeiten, die geeignet sind, den Unionsrichter dazu zu veranlassen, einen Rechtsakt als rechtlich inexistent anzusehen, sich nicht ihrer Natur nach, sondern aufgrund ihrer Schwere und aufgrund ihrer Offensichtlichkeit von den Verstößen unterscheiden, deren Feststellung grundsätzlich zur Aufhebung der Rechtsakte führt, die der im Vertrag vorgesehenen Rechtsmäßigkeitskontrolle unterliegen. Denn Rechtsakte, die mit Unregelmäßigkeiten behaftet sind, die derart schwerwiegend sind, dass sie ihre wesentlichen Voraussetzungen berühren, sind als rechtlich inexistent anzusehen (vgl. Urteil vom 9. September 2011, dm-drogerie markt/HABM – Distribuciones Mylar [dm], T‑36/09, EU:T:2011:449, Rn. 86).
77 Die von den Klägern geltend gemachten Unregelmäßigkeiten erscheinen nicht als derart offenkundig schwerwiegend, dass die angefochtenen Entscheidungen als rechtlich inexistent anzusehen wären, und zwar aufgrund folgender Erwägungen.
1. Erster Klagegrund: Unzuständigkeit des Urhebers der angefochtenen Entscheidungen und Verletzung der Begründungspflicht
78 Der erste Klagegrund besteht aus zwei Teilen. Der erste Teil bezieht sich auf die Unzuständigkeit des Urhebers der angefochtenen Entscheidungen. Der zweite Teil betrifft einen Begründungsmangel.
a)
Erster Teil des ersten Klagegrundes: Unzuständigkeit des Urhebers der angefochtenen Entscheidungen
79 Im Rahmen der ersten Rüge des ersten Teils tragen die Kläger vor, die angefochtenen Entscheidungen hätten vom Präsidium des Parlaments und nicht vom Leiter des Referats „Entschädigung und soziale Rechte der Mitglieder“ der GD Finanzen des Parlaments erlassen werden müssen. Dies sei insbesondere in Anbetracht von Art. 11a Abs. 6 und Art. 25 Abs. 3 der Geschäftsordnung des Parlaments in der zum maßgeblichen Zeitpunkt – nämlich während der achten Wahlperiode – geltenden Fassung (im Folgenden: Geschäftsordnung) geboten. Diese beiden Vorschriften verliehen dem Präsidium des Parlaments eine allgemeine Zuständigkeit für die finanziellen Rechte der Mitglieder. Deshalb habe das Präsidium des Parlaments die KVR erlassen. Eine weitere Bestätigung für diese allgemeine Zuständigkeit des Präsidiums des Parlaments sei im ersten Erwägungsgrund der Durchführungsbestimmungen enthalten, in dem es heißt, dass „[f]ür die Umsetzung der finanziellen Aspekte des [Abgeordneten‑]Statuts … ausschließlich das Präsidium zuständig [ist]“. Das Präsidium des Parlaments habe sich jedoch nie zu einer Herabsetzung ihrer Ruhegehaltsansprüche geäußert. Vor diesem Hintergrund seien die Ruhegehaltsansprüche der Kläger von einer völlig unzuständigen Stelle, nämlich dem Leiter des Referats „Entschädigung und soziale Rechte der Mitglieder“ der GD Finanzen des Parlaments, neu berechnet worden, so dass die angefochtenen Entscheidungen rechtswidrig seien.
80 In der zweiten Rüge tragen die Kläger vor, die angefochtenen Entscheidungen seien auch insofern rechtswidrig, als sie entgegen Art. 28 der Geschäftsordnung nicht Gegenstand einer Beurteilung oder Prüfung durch das Kollegium der Quästoren gewesen seien. Insoweit hätte sich das Parlament nicht auf die Anwendung des Beschlusses Nr. 14/2018 beschränken dürfen und zwingend zusätzliche Schritte unternehmen müssen, um die neue Höhe der Ruhegehaltsansprüche zu berechnen. Diese Anpassung in der Umsetzung des Beschlusses Nr. 14/2018 auf Unionsebene hätte, so die Kläger, Gegenstand interner Beurteilungen auf der Grundlage einer Konsultation der im Bereich der Mitgliederrechte zuständigen Stellen sein müssen und nicht an ein Referat des Parlaments delegiert werden dürfen.
81 Das Parlament beantragt, den ersten Teil des ersten Klagegrundes als unbegründet zurückzuweisen.
82 Was die erste Rüge angeht, so stimmen die Parteien darin überein, dass das Präsidium des Parlaments gemäß Art. 25 Abs. 3 der Geschäftsordnung auf Vorschlag des Generalsekretärs des Parlaments oder einer Fraktion finanzielle, organisatorische und administrative Entscheidungen in Angelegenheiten der Mitglieder trifft. Das Parlament vertritt jedoch die Auffassung, diese Vorschrift beschränke das Handeln des Präsidiums auf die Annahme allgemeiner und abstrakter Regeln und nicht auf den Erlass individueller Entscheidungen. Die Kläger sind demgegenüber der Ansicht, die angefochtenen Entscheidungen hätten selbst dann auf der Grundlage des erwähnten Art. 25 Abs. 3 erlassen werden müssen, wenn sie individuelle Rechtsakte darstellten.
83 Insoweit geht aus einer ständigen Rechtsprechung hervor, dass Art. 25 Abs. 3 der Geschäftsordnung dem Präsidium des Parlaments eine allgemeine Zuständigkeit – u. a. für finanzielle Entscheidungen in Angelegenheiten der Mitglieder – verleiht. Diese Vorschrift bildet daher die Grundlage, auf die sich das Parlament stützen kann, wenn es darum geht, auf Vorschlag seines Generalsekretärs oder einer Fraktion die die genannten Entscheidungen betreffende Regelung zu erlassen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 18. Oktober 2011, Purvis/Parlament, T‑439/09, EU:T:2011:600, Rn. 64 und die dort angeführte Rechtsprechung).
84 Darüber hinaus ist auch bereits entschieden worden, dass durch die vom Präsidium des Parlaments erlassenen Durchführungsbestimmungen, wie aus ihrem dritten Erwägungsgrund hervorgeht, insbesondere die KVR ersetzt werden soll. In diesem Sinne werden mit den Durchführungsbestimmungen finanzielle Entscheidungen in Angelegenheiten der Mitglieder im Sinne von Art. 25 Abs. 3 der Geschäftsordnung getroffen (Urteil vom 29. November 2017, Montel/Parlament, T‑634/16, nicht veröffentlicht, EU:T:2017:848, Rn. 50 und 51).
85 Zwar verfügt das Präsidium des Parlaments somit gemäß Art. 25 Abs. 3 der Geschäftsordnung und – aus ähnlichen Gründen – gemäß Art. 11a Abs. 6 der Geschäftsordnung über die Zuständigkeit für den Erlass allgemeiner und abstrakter Normen, doch bedeutet dies noch nicht, dass es auch für den Erlass individueller Entscheidungen im Bereich der finanziellen Fragen betreffend die Mitglieder zuständig wäre.
86 Die Verwaltung des Parlaments kann vielmehr ohne Verstoß gegen Art. 25 Abs. 3 der Geschäftsordnung mit einer solchen Zuständigkeit betraut werden, sobald deren Grenzen und Ausübungsmodalitäten vom Präsidium dieses Organs festgelegt worden sind (vgl. in diesem Sinne Beschluss vom 6. September 2018, Bilde/Parlament, C‑67/18 P, nicht veröffentlicht, EU:C:2018:692, Rn. 36 und 37).
87 Außerdem ist in Anbetracht der Zuständigkeitsverteilung zwischen dem Präsidium des Parlaments und der Verwaltung dieses Organs insbesondere bereits entschieden worden, dass eine individuelle Entscheidung, die die Ruhegehaltsansprüche der Abgeordneten festlegt, nicht nur insofern eine Entscheidung im Rahmen einer gebundenen Zuständigkeit ist, als die Verwaltung bei der Bestimmung der Ruhegehaltsansprüche über kein Ermessen verfügt, sondern im Hinblick auf den Inhalt dieser Ansprüche sogar rein deklaratorischer Natur ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 18. Oktober 2011, Purvis/Parlament, T‑439/09, EU:T:2011:600, Rn. 38).
88 Nichts hindert das Parlament folglich daran, seiner Verwaltung die Befugnis zum Erlass individueller Entscheidungen – u. a. im Bereich der Ruhegehaltsansprüche und auf dem Gebiet der Festsetzung der Höhe der Ruhegehälter – zu übertragen. Gleichwohl bleibt zu prüfen, ob der Leiter des Referats „Entschädigung und soziale Rechte der Mitglieder“ der GD Finanzen des Parlaments über eine solche Befugnis verfügte.
89 In dieser Hinsicht sieht Art. 73 Abs. 3 der Verordnung (EU, Euratom) 2018/1046 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 18. Juli 2018 über die Haushaltsordnung für den Gesamthaushaltsplan der Union, zur Änderung der Verordnungen (EU) Nr. 1296/2013, (EU) Nr. 1301/2013, (EU) Nr. 1303/2013, (EU) Nr. 1304/2013, (EU) Nr. 1309/2013, (EU) Nr. 1316/2013, (EU) Nr. 223/2014, (EU) Nr. 283/2014 und des Beschlusses Nr. 541/2014/EU sowie zur Aufhebung der Verordnung (EU, Euratom) Nr. 966/2012 (ABl. 2018, L 193, S. 1) vor, dass jedes Unionsorgan die Anweisungsbefugnis unter Einhaltung der in seiner Geschäftsordnung vorgesehenen Bedingungen Bediensteten angemessenen Ranges überträgt. In seinen internen Verwaltungsvorschriften gibt es an, wem es diese Befugnis überträgt und welches der Umfang der übertragenen Befugnisse ist; außerdem sieht es darin vor, ob die Anweisungsbefugnis weiterübertragen werden kann.
90 In Beantwortung einer schriftlichen Frage des Gerichts hat das Parlament – unter Vorlage von Beweisen – darauf hingewiesen, dass der Leiter des Referats „Entschädigung und soziale Rechte der Mitglieder“ der GD Finanzen dieses Organs durch die Entscheidung FINS/2019‑01 des Generaldirektors für Finanzen des Parlaments vom 23. November 2018 zum nachgeordnet bevollmächtigten Anweisungsbefugten für die Haushaltslinie 1030, die sich auf die in Anlage III der KVR aufgeführten Ruhegehälter bezieht, ernannt worden sei. Zudem wird in der Entscheidung FINS/2019‑01 gemäß Art. 73 Abs. 3 der Verordnung 2018/1046 ausdrücklich darauf hingewiesen, dass diese Weiterübertragung von Befugnissen es dem Leiter des Referats „Entschädigung und soziale Rechte der Mitglieder“ der GD Finanzen des Parlaments u. a. gestattet, rechtliche Verpflichtungen einzugehen, Mittelbindungen vorzunehmen, Ausgaben abzurechnen und Zahlungen anzuordnen, aber auch Forderungsvorausschätzungen zu erstellen, Forderungen festzustellen und Einziehungsanordnungen zu erteilen.
91 Ferner steht fest, dass die in den Durchführungsbestimmungen und der KVR festgelegten Regeln, die das Präsidium des Parlaments erlassen hat, vom Leiter des Referats „Entschädigung und soziale Rechte der Mitglieder“ der GD Finanzen dieses Organs nicht geändert, sondern lediglich umgesetzt worden sind. Im Übrigen soll die Frage, ob der genannte Referatsleiter im vorliegenden Fall die Bestimmungen dieser beiden Regelungen beachtet hat, weiter unten – im Rahmen der Prüfung der übrigen Klagegründe – beurteilt werden.
92 Entgegen dem Vorbringen der Kläger war der Leiter des Referats „Entschädigung und soziale Rechte der Mitglieder“ der GD Finanzen des Parlaments somit für den Erlass der angefochtenen Entscheidungen zuständig.
93 Was die zweite Rüge betrifft, so ist das Argument der Kläger, wonach die Quästoren vor Erlass der angefochtenen Entscheidungen hätten konsultiert werden müssen, als unbegründet zurückzuweisen.
94 Zwar sieht Art. 28 der Geschäftsordnung, worauf die Kläger zu Recht hinweisen, vor, dass die „Quästoren … gemäß der vom Präsidium erlassenen Leitlinien mit Verwaltungs- und Finanzaufgaben betraut [sind], die die Mitglieder direkt betreffen, und für weitere Aufgaben zuständig [sind], die ihnen übertragen werden“. Diese Vorschrift ist jedoch im Licht von Art. 25 Abs. 8 der Geschäftsordnung zu lesen, in dem es heißt, dass das „Präsidium … die Leitlinien für die Quästoren [erlässt] und … die Quästoren zur Durchführung bestimmter Aufgaben auffordern [kann]“.
95 Aus den Schriftsätzen der Kläger geht mitnichten hervor, dass das Präsidium des Parlaments im Sinne von Art. 25 Abs. 8 und Art. 28 der Geschäftsordnung Leitlinien erlassen oder spezifische Aufgaben definiert hätte, wonach die Quästoren vor Erlass der angefochtenen Entscheidungen hätten konsultiert werden oder noch allgemeiner die Urheber der – schließlich doch einzelfallbezogenen – angefochtenen Entscheidungen hätten sein müssen. Daher kann dem Parlament nicht vorgeworfen werden, dass es die Quästoren nicht konsultiert hat, wo doch eine solche Konsultation unter derartigen Umständen nach keiner Vorschrift erforderlich war.
96 Schließlich legen die Kläger dem Parlament zur Last, dass es den Beschluss Nr. 14/2018 angewandt, ihn für Zwecke der Berechnung der neuen Höhe der Ruhegehälter gleichzeitig aber angepasst habe, um der persönlichen Situation der einzelnen Kläger Rechnung zu tragen. Eine solche Anpassung des Beschlusses Nr. 14/2018 hätte Gegenstand interner Beurteilungen – durch Konsultation der im Bereich der Mitgliederrechte zuständigen Stellen – sein müssen und nicht an ein Referat des Parlaments delegiert werden dürfen.
97 Selbst wenn unterstellt wird, dass das Parlament den Beschluss Nr. 14/2018 angepasst hat, was weiter unten im Rahmen der übrigen Klagegründe untersucht werden soll, genügt jedenfalls der Hinweis, dass der Leiter des Referats „Entschädigung und soziale Rechte der Mitglieder“ der GD Finanzen des Parlaments, wie oben in den Rn. 90 bis 95 festgestellt, für den Erlass der angefochtenen Entscheidungen zuständig und keinerlei Verpflichtung zur vorherigen Konsultation des Kollegiums der Quästoren vorgesehen war.
98 Folglich ist der erste Teil des ersten Klagegrundes als unbegründet zurückzuweisen.
b)
Zweiter Teil des ersten Klagegrundes: Verletzung der Begründungspflicht
99 Im Rahmen des zweiten Teils tragen die Kläger vor, den angefochtenen Entscheidungen fehle es insoweit an einer Begründung, als das Parlament lediglich vortrage, dass der Beschluss Nr. 14/2018 auf Unionsebene automatisch Anwendung finde, ohne klar darzulegen, welche Überlegungen zu dieser Schlussfolgerung geführt hätten, und sich dabei zu Unrecht auf Art. 75 stütze. Außerdem habe das Parlament auch die Begründungspflicht verletzt, da dem Erlass dieser Entscheidungen weder eine eingehende interne Prüfung noch eine Beurteilung durch das Präsidium des Parlaments oder die Quästoren vorausgegangen sei. Darüber hinaus stützten sich dieselben Entscheidungen anscheinend auf das Gutachten des Juristischen Dienstes. Dieses Gutachten sei in den angefochtenen Entscheidungen jedoch weder angeführt noch den Entscheidungen als Anhang beigefügt worden. Schließlich legen die Kläger dem Parlament zum einen zur Last, nicht geprüft zu haben, inwieweit die rückwirkende Anwendung einer weniger günstigen Ruhegehaltsregelung mit dem Unionsrecht vereinbar sein könne, und zum anderen, sich auf das Vorbringen beschränkt zu haben, dass es für die Prüfung der Gültigkeit des Beschlusses Nr. 14/2018 nicht zuständig sei. In diesem Sinne habe das Parlament sowohl gegen Art. 296 AEUV als auch gegen Art. 41 Abs. 2 Buchst. c der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) verstoßen.
100 Das Parlament beantragt, den zweiten Teil des ersten Klagegrundes als unbegründet zurückzuweisen.
101 Hierbei ist darauf hinzuweisen, dass die nach Art. 296 Abs. 2 AEUV und Art. 41 Abs. 2 Buchst. c der Charta vorgeschriebene Begründung der Natur des betreffenden Rechtsakts angepasst sein und die Überlegungen des Organs, das den Rechtsakt erlassen hat, so klar und eindeutig zum Ausdruck bringen muss, dass die Betroffenen ihr die Gründe für die erlassene Maßnahme entnehmen können und das zuständige Gericht seine Kontrollaufgabe wahrnehmen kann. In der Begründung brauchen nicht alle tatsächlich oder rechtlich einschlägigen Gesichtspunkte genannt zu werden, da die Frage, ob die Begründung eines Rechtsakts den Erfordernissen des Art. 296 Abs. 2 AEUV genügt, nicht nur anhand des Wortlauts des Rechtsakts zu beurteilen ist, sondern auch anhand seines Kontexts sowie sämtlicher Rechtsvorschriften auf dem betreffenden Gebiet (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 17. März 2011, AJD Tuna, C‑221/09, EU:C:2011:153, Rn. 58 und die dort angeführte Rechtsprechung). Was insbesondere die Begründung von Einzelentscheidungen angeht, hat die Pflicht zur Begründung solcher Entscheidungen neben der Ermöglichung einer gerichtlichen Überprüfung den Zweck, den Betroffenen so ausreichend zu unterrichten, dass er erkennen kann, ob die Entscheidung eventuell mit einem Mangel behaftet ist, der ihre Anfechtung ermöglicht (vgl. Urteil vom 10. November 2017, Icap u. a./Kommission, T‑180/15, EU:T:2017:795, Rn. 287 und die dort angeführte Rechtsprechung).
102 Im vorliegenden Fall ist zu prüfen, ob die angefochtenen Entscheidungen, abgesehen von derjenigen, die Herrn Florio betrifft und deren Rechtmäßigkeit weiter unten in den Rn. 108 und 109 untersucht werden soll, im Sinne der oben in Rn. 101 genannten Rechtsprechung angemessen begründet sind.
103 Insoweit wird im ersten Absatz der angefochtenen Entscheidungen darauf hingewiesen, dass das Präsidium der Abgeordnetenkammer den Beschluss Nr. 14/2018 erlassen habe, der eine Kürzung der Ruhegehälter für die bis zum 31. Dezember 2011 zurückgelegte Amtszeit mit Wirkung vom 1. Januar 2019 vorsieht.
104 Im zweiten Absatz verweisen die angefochtenen Entscheidungen auf Art. 75, aber auch auf Anlage III Art. 2 Abs. 1, der vorsieht, dass Höhe und Bedingungen des vorläufigen Altersruhegehalts mit Höhe und Bedingungen des Altersruhegehalts für Mitglieder der Abgeordnetenkammer des Mitgliedstaats, in dem sie gewählt wurden, identisch sein müssen. In den angefochtenen Entscheidungen wird somit ausdrücklich ihre Rechtsgrundlage erwähnt.
105 Im dritten Absatz der angefochtenen Entscheidungen wird klargestellt, dass die Höhe der Altersruhegehälter der Kläger unter Berücksichtigung des Beschlusses Nr. 14/2018 und der oben in Rn. 104 genannten Vorschriften entsprechend angepasst werden müsse, um der Höhe der von der Abgeordnetenkammer an seine Mitglieder ausgezahlten Altersruhegehälter zu entsprechen. In diesem Zusammenhang verweisen die angefochtenen Entscheidungen auf die den Ruhegehaltsabrechnungen der Kläger für den Monat Februar 2019 als Anhang beigefügte Mitteilung des Leiters des Referats „Entschädigung und soziale Rechte der Mitglieder“ der GD Finanzen des Parlaments, in der dieser angekündigt hat, dass er den Klägern die Neufestsetzung der Höhe ihres Ruhegehalts mitteilen und eine etwaige Differenz in den folgenden zwölf Monaten zurückfordern werde.
106 Im vierten und im fünften Absatz der angefochtenen Entscheidungen werden die Kläger darüber informiert, dass die Höhe ihres Ruhegehalts ab April 2019 im Einklang mit den diesen Entscheidungen als Anhang beigefügten Entwürfen zur Festsetzung der neuen Höhe der Ruhegehälter berechnet werde. Darüber hinaus werden die rechtsgrundlos erhaltenen Beträge für die Monate Januar bis März 2019 angegeben, und es wird klar geregelt, wie das Parlament sie einzuziehen gedenkt.
107 In den Absätzen 6 bis 8 der angefochtenen Entscheidungen werden die Kläger schließlich über die Möglichkeit zur Stellungnahme innerhalb von 30 Tagen in Kenntnis gesetzt. Auch wird darauf hingewiesen, dass die angefochtenen Entscheidungen in Ermangelung einer solchen fristgerecht eingereichten Stellungnahme verbindlich würden und in diesem Fall Gegenstand einer Nichtigkeitsklage vor dem Gericht gemäß Art. 263 AEUV sein könnten. Schließlich wird in den genannten Entscheidungen die Möglichkeit erwähnt, beim Generalsekretär des Parlaments gemäß Art. 72 Abs. 1 der Durchführungsbestimmungen schriftlich Beschwerde einzulegen.
108 Was speziell Herrn Florio in der Rechtssache T‑465/19 betrifft, so beschränkt sich die endgültige Entscheidung auf die Feststellung, dass erstens das Parlament nicht dafür zuständig sei, die Gültigkeit des Beschlusses Nr. 14/2018 in Frage zu stellen, zweitens das Gutachten des Juristischen Dienstes ein auf der Internetseite dieser Einrichtung öffentlich zugängliches Dokument darstelle und drittens die von Herrn Florio am 14. Mai 2019 übermittelte Stellungnahme nichts enthalte, was es rechtfertigen könne, den im Entscheidungsentwurf zum Ausdruck gebrachten Standpunkt zu revidieren. Sodann wird klargestellt, dass folglich die Höhe seines Altersruhegehalts und der sich daraus ergebende Rückzahlungsplan, die im Anhang des erwähnten Entwurfs neu berechnet bzw. übermittelt worden seien, zum Zeitpunkt der Bekanntgabe der endgültigen Entscheidung verbindlich festgelegt geworden seien. Schließlich wird in der endgültigen Entscheidung erwähnt, dass die Möglichkeit bestehe, gegen sie Nichtigkeitsklage gemäß Art. 263 AEUV zu erheben, darauf hingewiesen, dass gemäß Art. 228 AEUV eine Beschwerde an den Europäischen Bürgerbeauftragten gerichtet werden könne, falls Herr Florio die Ansicht vertrete, dass er von einem Missstand in der Verwaltungstätigkeit betroffen gewesen sei, und mitgeteilt, dass gemäß Art. 72 Abs. 1 der Durchführungsbestimmungen schriftlich Beschwerde beim Generalsekretär des Parlaments eingelegt werden könne.
109 Auch wenn es daher zutrifft, dass die endgültige Entscheidung nur wenig begründet wird, kann sich doch die Prüfung der Frage, ob die Begründungspflicht beachtet worden ist, nicht allein auf dieses Dokument beschränken. Nach der oben in Rn. 101 angeführten Rechtsprechung muss die Prüfung auch den tatsächlichen und rechtlichen Rahmen berücksichtigen, in den sich der Erlass der endgültigen Entscheidung eingefügt hat. Ein solches Vorgehen ist umso mehr sachdienlich, als zum einen die endgültige Entscheidung ausdrücklich auf den Entscheidungsentwurf verweist und zum anderen Herr Florio in seiner Klageschrift gleichermaßen auf den Entscheidungsentwurf und die endgültige Entscheidung abstellt. In Bezug auf Herrn Florio in der Rechtssache T‑465/19 sind somit auch die oben in den Rn. 103 bis 107 beschriebenen Aspekte zu berücksichtigen.
110 Wie die Kläger vortragen, werden die Gründe, die das Parlament zu der Annahme veranlasst haben, dass die Bestimmungen des Beschlusses Nr. 14/2018 auch auf sie Anwendung fänden, in Wahrheit zwar erst im Gutachten des Juristischen Dienstes dargelegt. So erläutert das Parlament in den Rn. 9 bis 14 und 16 dieses Gutachtens im Wesentlichen, dass Anlage III insofern keine eigenständige Ruhegehaltsregelung schaffe, als das genannte Organ aufgrund der Regelung über ein identisches Ruhegehalt verpflichtet sei, die Bestimmungen des Beschlusses Nr. 14/2018 anzuwenden.
111 Auch machen die Kläger zu Recht geltend, das Gutachten des Juristischen Dienstes werde in den angefochtenen Entscheidungen weder erwähnt, noch sei es diesen bzw. – was Herrn Florio in der Rechtssache T‑465/19 betrifft – dem Entscheidungsentwurf als Anhang beigefügt worden.
112 Mit diesen beiden Feststellungen der Kläger wird indessen nicht nachgewiesen, dass das Parlament die in Art. 296 AEUV und Art. 41 Abs. 2 Buchst. c der Charta vorgesehene Begründungspflicht verletzt hätte.
113 Die Begründungspflicht verlangt nicht, dass alle tatsächlich oder rechtlich einschlägigen Gesichtspunkte im Einzelnen genannt werden, erst recht dann nicht, wenn die angefochtenen Entscheidungen – wie im vorliegenden Fall – in einem ihrem Adressaten bekannten Kontext ergehen.
114 Insoweit räumen die Kläger selbst ein, dass das Gutachten des Juristischen Dienstes in der Mitteilung des Leiters des Referats „Entschädigung und soziale Rechte der Mitglieder“ der GD Finanzen des Parlaments erwähnt wurde, die den Ruhegehaltsabrechnungen für den Monat Februar 2019 als Anhang beigefügt war. Zum einen waren die Kläger allesamt Adressaten der genannten Mitteilung, und zum anderen verweisen die angefochtenen Entscheidungen bzw. – was Herrn Florio in der Rechtssache T‑465/19 betrifft – der Entscheidungsentwurf ausdrücklich darauf.
115 Es stand den Klägern frei, Zugang zum Gutachten des Juristischen Dienstes zu beantragen. Darüber hinaus enthielt die endgültige Entscheidung einen direkten Link auf die Internetseite des Parlaments, auf der dieses Gutachten öffentlich zugänglich war. Jedenfalls ist festzustellen, dass alle Kläger ihrer Klageschrift das genannte Gutachten als Anhang beigefügt haben.
116 Vor diesem Hintergrund haben die Kläger vor Klageerhebung folglich freien Zugang und umfassende Kenntnis vom Inhalt des Gutachtens des Juristischen Dienstes gehabt. Es ist ihnen mithin möglich gewesen, sich zum besseren Verständnis der angefochtenen Entscheidungen über den Inhalt des Gutachtens kundig zu machen.
117 Nach alledem hat das Parlament klar und unmissverständlich die Gründe dargelegt, die es dazu veranlasst haben, die Bestimmungen des Beschlusses Nr. 14/2018 anzuwenden und die angefochtenen Entscheidungen zu erlassen. Außerdem haben die Kläger ihre Rechte vor dem Gericht geltend machen können, wie u. a. der Inhalt ihrer im Rahmen der vorliegenden Klageverfahren dargelegten tatsächlichen und rechtlichen Argumente zeigt. Daher ist davon auszugehen, dass die angefochtenen Entscheidungen rechtlich hinreichend begründet sind.
118 Schließlich ist darauf hinzuweisen, dass es sich bei der Begründungspflicht um ein wesentliches Formerfordernis handelt, das von der Frage der Stichhaltigkeit der Begründung zu unterscheiden ist, die zur materiellen Rechtmäßigkeit des streitigen Rechtsakts gehört. Die Begründung einer Entscheidung soll nämlich förmlich die Gründe zum Ausdruck bringen, auf denen diese beruht. Diese Begründung kann ausreichend sein, obwohl sie fehlerhafte Gründe enthält (vgl. Urteil vom 31. Mai 2018, Korwin-Mikke/Parlament, T‑352/17, EU:T:2018:319, Rn. 20 und die dort angeführte Rechtsprechung). Die Rügen und Argumente, die die Begründetheit eines Rechtsakts in Frage stellen sollen, sind daher im Rahmen eines Klagegrundes unerheblich, mit dem eine fehlende oder unzureichende Begründung gerügt wird (vgl. Urteil vom 19. Dezember 2019, ZQ/Kommission, T‑647/18, nicht veröffentlicht, EU:T:2019:884, Rn. 120 und die dort angeführte Rechtsprechung).
119 Folglich ist das Argument der Kläger, wonach dem Erlass der angefochtenen Entscheidungen weder eine eingehende interne Prüfung noch eine Beurteilung durch das Präsidium des Parlaments oder die Quästoren vorausgegangen sei, unerheblich, da es sich nicht auf die Begründung der angefochtenen Entscheidungen bezieht. Jedenfalls ist dieses Argument im Rahmen des ersten Teils des ersten Klagegrundes für unbegründet befunden worden.
120 Ebenso wenig kann auf das Vorbringen der Kläger abgestellt werden, wonach das Parlament erstens die Anwendung des Beschlusses Nr. 14/2018 auf sie zu Unrecht mit Art. 75 begründet habe, zweitens im Anschluss an das Gutachten des Juristischen Dienstes festgestellt habe, dass es für die Kontrolle der Rechtmäßigkeit des Beschlusses Nr. 14/2018 nicht zuständig sei, und drittens hätte überprüfen müssen, ob die angeblich automatische und rückwirkende Anwendung des Beschlusses Nr. 14/2018 auf die Kläger mit dem Unionsrecht, insbesondere den Bestimmungen der Charta, vereinbar sei, was es nicht getan habe. Ein solches Vorbringen hat nämlich nichts mit der Begründungspflicht zu tun. Die Begründetheit dieses Vorbringens soll jedoch weiter unten im Rahmen der übrigen Klagegründe geprüft werden.
121 Demnach ist der zweite Teil des ersten Klagegrundes und damit der Klagegrund insgesamt zurückzuweisen.
2. Zweiter Klagegrund: Fehlen einer gültigen Rechtsgrundlage und fehlerhafte Anwendung von Art. 75 der Durchführungsbestimmungen
122 Zur Stützung des zweiten Klagegrundes machen die Kläger im Wesentlichen geltend, die angefochtenen Entscheidungen hätten keine gültige Rechtsgrundlage. Anlage III sei nämlich als solche nicht mehr anwendbar. Außerdem gestatte Art. 75 es dem Parlament nicht, die Behandlung seiner ehemaligen Mitglieder in einem nachteiligen Sinne zu ändern. Mit der letztgenannten Vorschrift sollten im Gegenteil die erworbenen Rechte dieser ehemaligen Mitglieder gewahrt werden. Die angefochtenen Entscheidungen stützten sich somit zu Unrecht auf Anlage III und den erwähnten Art. 75.
123 Jedenfalls habe das Parlament einen schweren Fehler bei der Anwendung von Art. 75 begangen. Diese Vorschrift hindere das Parlament nämlich daran, die Ruhegehälter seiner ehemaligen Mitglieder herabzusetzen. Außerdem habe der in Anlage III vorgesehene Verweis auf das nationale Recht nur zu dem Zeitpunkt gegolten, zu dem sich das ehemalige Mitglied für den Beitritt zu der durch diese Anlage eingeführten Ruhegehaltsregelung entschieden habe, und nicht später, um die Regeln für die Berechnung dieser Ruhegehälter zu ändern. Schließlich sei auch Art. 29 des Abgeordnetenstatuts, der von den Bestimmungen dieses Statuts abweichende Regelungen der Mitgliedstaaten im Bereich der Altersruhegehälter auf eine Dauer beschränke, die zwei Wahlperioden des Parlaments nicht überschreiten dürfe, entsprechend zu berücksichtigen.
124 Letztendlich haben die Kläger noch in Beantwortung einer schriftlichen Frage des Gerichts im Wege der Einrede die Rechtswidrigkeit von Anlage III Art. 2 Abs. 1 für den Fall gerügt, dass dieser Artikel dahin ausgelegt werden sollte, dass es dem Parlament erlaubt sei, endgültig abgeschlossene Sachverhalte in Frage zu stellen. Eine solche Befugnis verstoße nämlich gegen Art. 28 des Abgeordnetenstatuts.
125 Das Parlament beantragt, den zweiten Klagegrund als unbegründet zurückzuweisen.
126 Vorab stellt das Gericht fest, dass die KVR gemäß Art. 74 der Durchführungsbestimmungen am Tag des Inkrafttretens des Abgeordnetenstatuts, nämlich am 14. Juli 2009, ungültig geworden ist. In Abweichung von dieser Regel bleibt die in Anlage III vorgesehene Regelung über ein identisches Ruhegehalt gemäß Art. 74 in Verbindung mit Art. 75 der Durchführungsbestimmungen jedoch übergangsweise bestehen. Folglich ist festzustellen, dass die Bestimmungen dieser Anlage nicht aufgehoben worden und noch immer anwendbar sind, im vorliegenden Fall auch auf die Kläger.
127 Die vorstehende Schlussfolgerung wird durch das aus einer entsprechenden Anwendung von Art. 29 des Abgeordnetenstatuts hergeleitete Argument der Kläger nicht in Frage gestellt. Art. 29 des Abgeordnetenstatuts sieht zwar vor, dass von den Bestimmungen dieses Statuts abweichende Regelungen der Mitgliedstaaten u. a. über das Ruhegehalt für eine Übergangszeit gelten, die die Dauer von zwei Wahlperioden des Parlaments nicht überschreiten darf. Aus diesem Artikel, der Regelungen der Mitgliedstaaten zum Gegenstand hat, lässt sich jedoch nicht ableiten, dass auch das Parlament verpflichtet wäre, jede Abweichung vom Abgeordnetenstatut im Bereich der Ruhegehälter auf eine Höchstdauer von zwei Wahlperioden zu beschränken. Selbst wenn unterstellt wird, dass die in Art. 29 des Abgeordnetenstatuts vorgesehene zeitliche Beschränkung auf die Art. 74 und 75 angewandt werden kann, könnte dies zudem jedenfalls weder zur Ungültigkeit der beiden genannten Artikel noch in der Folge zur Nichtigerklärung der angefochtenen Entscheidungen führen. Zwischen dem Inkrafttreten der Durchführungsbestimmungen und dem Tag des Erlasses der angefochtenen Entscheidungen ist nämlich kein Zeitraum verstrichen, der zwei Wahlperioden, also zehn Jahren, entspricht. Die Durchführungsbestimmungen sind am 14. Juli 2009 in Kraft getreten, während die angefochtenen Entscheidungen am 11. April 2019 und – was Herrn Florio in der Rechtssache T‑465/19 angeht – am 11. Juni 2019 ergangen sind. Selbst wenn die in Art. 29 des Abgeordnetenstatuts vorgesehene zeitliche Beschränkung entsprechend auf die Art. 74 und 75 angewandt werden könnte, würde sich diese Anwendung im vorliegenden Fall daher jedenfalls nicht auswirken.
128 Nach diesen Klarstellungen hält es das Gericht für angebracht, vor der Prüfung des übrigen Vorbringens der Kläger den Anwendungsbereich von Art. 75 zu klären.
a)
Anwendungsbereich von Art. 75 der Durchführungsbestimmungen
129 Das Gericht stellt fest, dass Art. 75 aus zwei Absätzen besteht. Abs. 1 Unterabs. 1 und Abs. 2 dieses Artikels beziehen sich beide auf die Ruhegehaltsansprüche ehemaliger Abgeordneter; ihre Anwendungsbereiche betreffen die Situation ehemaliger Abgeordneter, die ihr Ruhegehalt bereits vor Inkrafttreten des Abgeordnetenstatuts, nämlich am 14. Juli 2009, bezogen haben, bzw. auf die Situation ehemaliger Abgeordneter, die das Ruhegehalt erst nach diesem Zeitpunkt bezogen haben.
130 Einerseits gilt Art. 75 Abs. 1 Unterabs. 1 für ehemalige Abgeordnete, die ihr Ruhegehalt bereits vor Inkrafttreten des Abgeordnetenstatuts erhalten haben. Nach dem Wortlaut der Vorschrift fallen diese ehemaligen Abgeordneten auch nach diesem Zeitpunkt weiterhin unter die durch Anlage III geschaffene Ruhegehaltsregelung. Demnach liegen der Berechnung und Auszahlung ihres Ruhegehalts die Bestimmungen dieser Anlage zugrunde.
131 Andererseits garantiert Art. 75 Abs. 2 in seinem ersten Satz, dass die bis zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des Abgeordnetenstatuts gemäß Anlage III erworbenen Ruhegehaltsansprüche bestehen bleiben. Auch wenn diese Ruhegehaltsansprüche nach Inkrafttreten des Abgeordnetenstatuts erhalten bleiben, stellt der zweite Satz von Art. 75 Abs. 2 klar, dass der tatsächliche Bezug des Ruhegehalts von zwei Voraussetzungen abhängt. Erstens müssen die ehemaligen Abgeordneten die in den nationalen Rechtsvorschriften des betreffenden Mitgliedstaats vorgesehenen Bedingungen erfüllen. Zweitens müssen sie ihren Antrag auf Auszahlung des Ruhegehalts gemäß Anlage III Art. 3 Abs. 2 innerhalb von sechs Monaten nach Entstehung des Anspruchs gestellt haben. Demnach liegen der Berechnung und Auszahlung ihres Ruhegehalts auch hier die Bestimmungen der Anlage III zugrunde, der Beginn des tatsächlichen Bezugs dieser Ruhegehälter hängt aber von der Voraussetzung ab, dass die Anforderungen von Art. 75 Abs. 2 Satz 2 erfüllt sind.
132 Eine systematische Auslegung von Art. 75 schließt somit die Anwendung von Abs. 1 Unterabs. 1 dieses Artikels auf ehemalige Abgeordnete aus, die ihr Ruhegehalt erstmals nach Inkrafttreten des Abgeordnetenstatuts bezogen haben. Art. 75 Abs. 1 Unterabs. 1 gilt nämlich schon nach seinem Wortlaut nur für ehemalige Abgeordnete, die bereits „vor“ Inkrafttreten des Abgeordnetenstatuts ein Ruhegehalt bezogen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 12. Mai 2017, Costa/Parlament, T‑15/15 und T‑197/15, nicht veröffentlicht, EU:T:2017:332, Rn. 42).
133 Dieselbe systematische Auslegung führt konsequenterweise zum Ausschluss der Anwendung von Art. 75 Abs. 2 auf ehemalige Abgeordnete, die ihr Ruhegehalt bereits vor Inkrafttreten des Abgeordnetenstatuts bezogen haben. Diese ehemaligen Abgeordneten können nämlich nicht unter Art. 75 Abs. 2 fallen, es sei denn, es wird davon ausgegangen, dass die beiden Absätze dieses Artikels ähnliche und redundante Vorschriften enthalten. Im Übrigen würde es wenig Sinn ergeben, wenn von denselben ehemaligen Abgeordneten auf der Grundlage von Art. 75 Abs. 2 Satz 2 erneut verlangt würde, dass sie ihren Antrag auf Auszahlung des Ruhegehalts innerhalb von sechs Monaten nach Entstehung des Anspruchs gestellt haben, obwohl diese Förmlichkeit zwingend vor dem 14. Juli 2009 zu erfüllen war, da sie bereits davor ein solches Ruhegehalt bezogen.
134 Demnach ist bei der Prüfung des Vorbringens der Kläger zwischen denjenigen von ihnen, die ihr Ruhegehalt bereits vor dem 14. Juli 2009 bezogen haben, und denjenigen zu unterscheiden, die das Ruhegehalt erstmals nach diesem Zeitpunkt erhalten haben. Außerdem ist, da die Parteien darin übereinstimmen, dass der in Rede stehende Anspruch auf Hinterbliebenenversorgung einen Anspruch darstellt, der vom Ruhegehaltsanspruch des verstorbenen ehemaligen Abgeordneten abhängt und sich von diesem ableitet, für die Feststellung, welcher der Absätze von Art. 75 anwendbar ist, auf den Zeitpunkt abzustellen, ab dem dieser ehemalige Abgeordnete sein Ruhegehalt auf der Grundlage der Anlage III erstmals bezogen hatte.
b)
Situation der Kläger, die unter Art. 75 Abs. 1 Unterabs. 1 der Durchführungsbestimmungen fallen
135 Unter Berücksichtigung der vorstehenden Erwägungen gilt Art. 75 Abs. 1 Unterabs. 1 für die Situation der Kläger, die ihr Ruhegehalt bereits vor dem 14. Juli 2009 bezogen haben, und damit unter Ausschluss der Kläger in den Rechtssachen T‑390/19, T‑393/19, T‑404/19, T‑406/19, T‑407/19, T‑411/19, T‑413/19, T‑417/19, T‑425/19, T‑430/19, T‑436/19, T‑441/19, T‑442/19, T‑444/19, T‑445/19, T‑452/19 und T‑465/19. Art. 75 Abs. 1 Unterabs. 1 gilt auch für sämtliche Klägerinnen, die eine Hinterbliebenenversorgung erhalten, nämlich die Klägerinnen in den Rechtssachen T‑397/19, T‑409/19, T‑414/19, T‑426/19 und 427/19. Die verstorbenen Ehegatten hatten ihr Ruhegehalt nämlich sämtlich bereits vor dem 14. Juli 2009 bezogen.
136 Insoweit ist daran zu erinnern, dass Art. 75 Abs. 1 Unterabs. 1 vorsieht: „Die … [Ruhegehälter] gemäß … [Anlage] III der KVR für die Mitglieder werden gemäß diese[r Anlage] … auch weiterhin den Personen gezahlt, die diese Leistungen bereits vor dem Zeitpunkt des Inkrafttretens des Statuts erhalten haben.“
137 Darüber hinaus legt Anlage III Art. 2 Abs. 1 seinerseits die im Mittelpunkt der vorliegenden Rechtssachen stehende Regelung über ein identisches Ruhegehalt mit folgendem Wortlaut fest:
„Höhe und Bedingungen des vorläufigen Altersruhegehalts sind identisch mit Höhe und Bedingungen des Altersruhegehalts für Mitglieder der Abgeordnetenkammer des Mitgliedstaates, in dem das Mitglied des Parlaments gewählt wurde.“
138 Die zwingende Formulierung dieser Vorschrift – „Höhe und Bedingungen des vorläufigen Altersruhegehalts sind identisch“ – lässt dem Parlament keinerlei Spielraum für eine eigenständige Berechnungsmethode. Vorbehaltlich der Einhaltung höherrangiger Normen des Unionsrechts einschließlich der allgemeinen Rechtsgrundsätze und der Charta ist das Parlament verpflichtet, Höhe und Bedingungen des Altersruhegehalts eines ehemaligen Europaabgeordneten, der in den Anwendungsbereich der Anlage III fällt, auf der Grundlage der Höhe und Bedingungen zu bestimmen, die im anwendbaren nationalen Recht definiert worden sind, nämlich im vorliegenden Fall auf der Grundlage der im Beschluss Nr. 14/2018 festgelegten Vorschriften. Das Gericht stellt fest, dass bei den Parteien über diese Auslegung Einvernehmen besteht.
139 Ebenso impliziert die Verwendung des Indikativ Präsens – „sind identisch“ –, dass sich diese Verpflichtung, die gleichen Vorschriften über die Höhe und die Bedingungen anzuwenden, wie sie im Recht des betreffenden Mitgliedstaats festgelegt sind, nicht darauf beschränkt, die frühere Situation der ehemaligen Abgeordneten, d. h. die Situation vor Annahme des Abgeordnetenstatuts, zu regeln, sondern weiterhin ihre Wirkungen entfaltet, solange die Ruhegehälter ausgezahlt werden.
140 Diese doppelte Auslegung wird durch Art. 75 Abs. 1 Unterabs. 1 bekräftigt, in dem ausdrücklich darauf hingewiesen wird, dass die Ruhegehälter gemäß Anlage III „weiterhin … gezahlt [werden]“. Die Tatsache, dass auch hier auf eine zwingende Formulierung und den Indikativ Präsens zurückgegriffen wird, bestätigt zum einen den Fortbestand der in Anlage III Art. 2 Abs. 1 enthaltenen Vorschriften auch nach Inkrafttreten des Abgeordnetenstatuts und zum anderen den fehlenden Handlungsspielraum des Parlaments hinsichtlich ihrer Anwendung.
141 Aus dem Vorstehenden folgt, dass das Parlament gemäß Art. 75 Abs. 1 Unterabs. 1 in Verbindung mit Anlage III Art. 2 Abs. 1 ausdrücklich verpflichtet ist, jederzeit die gleichen Vorschriften über Höhe und Bedingungen der Altersruhegehälter anzuwenden, wie sie im Recht des betreffenden Mitgliedstaats festgelegt sind. Das Parlament kann sich, worauf bereits oben in Rn. 138 hingewiesen worden ist, von dieser Verpflichtung nur befreien, wenn die Umsetzung der genannten Vorschriften in Anbetracht des Grundsatzes der Hierarchie der Normen zu einem Verstoß gegen eine höherrangige Norm des Unionsrechts führen würde.
142 Auch wenn die Anwendung der besagten Vorschriften – wie im vorliegenden Fall – eine Kürzung der Ruhegehälter mit sich bringt, kann dies im Übrigen dennoch nicht als eine Verletzung der von den Ruhegehaltsempfängern erworbenen Ruhegehaltsansprüche angesehen werden.
143 Eine Auslegung von Art. 75 Abs. 1 Unterabs. 1 in Verbindung mit Anlage III deutet nämlich darauf hin, dass die erworbenen Ruhegehaltsansprüche aus Beiträgen der ehemaligen Abgeordneten nur die Berechnungsgrundlage für die genannten Ruhegehälter darstellen. Keine Bestimmung von Art. 75 Abs. 1 Unterabs. 1 und Anlage III garantiert hingegen Ruhegehälter in unveränderlicher Höhe. Die erworbenen Ruhegehaltsansprüche, von denen im erwähnten Art. 75 die Rede ist, dürfen nicht mit einem vermeintlichen Anspruch auf einen festen Ruhegehaltsbetrag verwechselt werden.
144 Die vorstehende Auslegung der Regelung über ein identisches Ruhegehalt wird nicht durch den siebten Erwägungsgrund der Durchführungsbestimmungen entkräftet, auf den sich die Kläger beziehen. In diesem Erwägungsgrund wird nämlich lediglich klargestellt, dass die vor Inkrafttreten des Abgeordnetenstatuts erworbenen Ruhegehaltsansprüche auch danach noch gewährleistet sind. Er besagt hingegen nicht, dass die Höhe der genannten Ruhegehälter nicht revidiert werden könnte, sei es nach oben oder nach unten. Daher wird Art. 75 Abs. 1 Unterabs. 1 in Verbindung mit Anlage III Art. 2 Abs. 1 durch den erwähnten Erwägungsgrund lediglich inhaltlich bestätigt.
145 Die vorstehende Auslegung wird auch nicht durch Art. 75 Abs. 2 Satz 1 entkräftet. Diese Vorschrift sieht zwar vor, dass „[d]ie bis zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des Statuts gemäß Anlage III erworbenen Ruhegehaltsansprüche … bestehen [bleiben]“. Ebenso wenig wie der siebte Erwägungsgrund der Durchführungsbestimmungen besagt Art. 75 Abs. 2 Satz 1 jedoch, dass sich die Höhe der Ruhegehälter nicht ändern könnte, sei es zugunsten oder zu Ungunsten der Ruhegehaltsbezieher. Außerdem führt eine systematische Auslegung dieses Art. 75, wie oben aus den Rn. 132 und 133 hervorgeht, jedenfalls zur Unanwendbarkeit seines Abs. 2 auf ehemalige Abgeordnete wie die oben in Rn. 135 erwähnten Kläger, die ihr Ruhegehalt bereits vor dem 14. Juli 2009 bezogen haben.
146 Entgegen dem von den Klägern in ihrer oben in Rn. 124 erwähnten Rechtswidrigkeitseinrede angeführten Vorbringen führt die vorstehende Auslegung auch nicht zu einem Verstoß gegen Art. 28 des Abgeordnetenstatuts. Wie das Parlament zu Recht bemerkt hat, genügt nämlich die Feststellung, dass Art. 28 des Abgeordnetenstatuts schon nach seinem eigenen Wortlaut nur für Ruhegehaltsansprüche gilt, die die Abgeordneten „nach einzelstaatlichen Regelungen“ erworben haben. Im vorliegenden Fall sind die Ruhegehälter der Kläger jedoch nicht nach einer einzelstaatlichen Regelung erworben worden, sondern auf der Grundlage der Bestimmungen von Anlage III. Außerdem erkennen die Kläger in ihren Schriftsätzen selbst an, dass ihre Ruhegehälter nicht zulasten der Italienischen Republik gehen, sondern zulasten des Parlaments. Art. 28 des Abgeordnetenstatuts gilt somit nicht für die Ruhegehälter der Kläger, da diese Ruhegehälter unter eine Ruhegehaltsregelung der Union und nicht unter eine nationale Ruhegehaltsregelung fallen. Ihre Rechtswidrigkeitseinrede ist zurückzuweisen.
147 Schließlich stellt das Gericht fest, dass die Veränderlichkeit der Höhe der gemäß Anlage III Art. 2 Abs. 1 gezahlten Ruhegehälter durch die Praxis bestätigt wird. In Beantwortung der schriftlichen Fragen des Gerichts hat das Parlament nämlich unter Vorlage von Beweisen darauf hingewiesen, dass vor dem Erlass des Beschlusses Nr. 14/2018 circa zehn ehemaligen in Italien gewählten Europaabgeordneten bereits die Ruhegehälter gekürzt worden seien, um dem Beschluss Nr. 210/2017 des Präsidiums der Abgeordnetenkammer Rechnung zu tragen. Umgekehrt hat das Parlament – ebenfalls beweisgestützt – ausgeführt, dass die Ruhegehälter einiger ehemaliger in Italien gewählter Europaabgeordneter zwischen 2002 und 2005 nach Maßgabe der vom Präsidium der Abgeordnetenkammer beschlossenen Erhöhung der parlamentarischen Entschädigung gestiegen seien.
c)
Situation der Kläger, die unter Art. 75 Abs. 2 der Durchführungsbestimmungen fallen
148 Unter Berücksichtigung der oben in den Rn. 129 bis 134 dargelegten Erwägungen gilt Art. 75 Abs. 2 nur für die Kläger in den Rechtssachen T‑390/19, T‑393/19, T‑404/19, T‑406/19, T‑407/19, T‑411/19, T‑413/19, T‑417/19, T‑425/19, T‑430/19, T‑436/19, T‑441/19, T‑442/19, T‑444/19, T‑445/19, T‑452/19 und T‑465/19.
149 Hierbei ist daran zu erinnern, dass Art. 75 Abs. 2 Folgendes bestimmt:
„Die bis zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des Statuts gemäß Anlage III erworbenen Ruhegehaltsansprüche bleiben bestehen. Die Personen, die im Rahmen dieser Ruhegehaltsregelung Ansprüche erworben haben, erhalten ein Ruhegehalt, das auf der Grundlage ihrer gemäß der oben genannten Anlage III erworbenen Ansprüche berechnet wird, sofern sie die in den nationalen Rechtsvorschriften des betreffenden Mitgliedstaates vorgesehenen Bedingungen erfüllen und den Antrag im Sinne des Artikels 3 Absatz 2 der genannten Anlage III gestellt haben.“
150 Der erste Satz von Art. 75 Abs. 2 kann nicht so ausgelegt werden, als garantiere er eine unveränderliche Höhe des Ruhegehalts der betreffenden ehemaligen Europaabgeordneten. Ein erworbener Anspruch auf ein Ruhegehalt mit einem nicht revidierbaren Endbetrag wird in diesem Artikel nämlich nicht festgeschrieben.
151 In Wirklichkeit hat das Parlament mit dem Hinweis, wonach „[d]ie bis zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des Statuts gemäß Anlage III erworbenen Ruhegehaltsansprüche … bestehen [bleiben]“, lediglich bestätigt, dass sämtliche auf der Grundlage der bis zum 14. Juli 2009 gezahlten Beiträge erworbenen Ruhegehaltsansprüche auch nach diesem Zeitpunkt gewahrt wurden. Aus den Rn. 142 bis 144 sowie 146 und 147 weiter oben geht hervor, dass die erwähnten erworbenen Ansprüche ausschließlich als Grundlage für die Berechnung der Höhe des Ruhegehalts dienen. Der Ausdruck „erworbene Ansprüche“ kann hingegen nicht so verstanden werden, als führe er zu einem endgültigen und unabänderlichen Ergebnis hinsichtlich der Berechnung der Höhe dieser Ruhegehälter.
152 Außerdem lassen sich mit diesem Hinweis auch die jeweiligen Anwendungsbereiche von Art. 49 der Durchführungsbestimmungen und Art. 75 Abs. 2 in Bezug auf ehemalige Abgeordnete unterscheiden, die ihr Ruhegehalt zum Stichtag 14. Juli 2009 noch nicht erstmals bezogen hatten.
153 Wie die Kläger und das Parlament zutreffend ausführen, fallen die nach dem Inkrafttreten des Abgeordnetenstatuts erworbenen Ruhegehaltsansprüche nämlich ausschließlich unter Art. 49 der Durchführungsbestimmungen. Die bis zu diesem Zeitpunkt erworbenen Ruhegehaltsansprüche werden ausschließlich durch Art. 75 Abs. 2 und Anlage III geregelt. Seit dem 14. Juli 2009 ist es somit nicht mehr möglich, Ruhegehaltsansprüche auf der Grundlage dieser Vorschriften zu erwerben. Daraus ergeben sich zwei aufeinanderfolgende Ruhegehaltsregelungen, die zu zwei Arten von Ruhegehaltsansprüchen führen: den bis zum 14. Juli 2009 auf der Grundlage von Art. 75 und Anlage III erworbenen Ruhegehaltsansprüchen und den seit dem 14. Juli 2009 auf der Grundlage von Art. 49 der Durchführungsbestimmungen erworbenen Ruhegehaltsansprüchen. Zwischen den Parteien ist insoweit unstreitig, dass die von dieser Regelungskumulation betroffenen ehemaligen Abgeordneten zwei unterschiedliche Ruhegehälter beziehen und nur das Ruhegehalt, das über Art. 75 Abs. 2 und Anlage III geregelt wird, gekürzt worden ist.
154 Mit der Klarstellung, dass die bis zum Tag des Inkrafttretens des Statuts erworbenen Ruhegehaltsansprüche auch danach noch bestehen bleiben, besagt Art. 75 Abs. 2 Satz 1 somit implizit, aber im Einklang mit Art. 49 der Durchführungsbestimmungen, dass diese Garantie keine neuen, nach dem erwähnten Zeitpunkt erworbenen Ruhegehaltsansprüche betreffen kann, da ein solcher Erwerb gerade rechtlich unmöglich geworden ist. Aus sämtlichen oben dargelegten Gründen kann Art. 75 Abs. 2 Satz 1 hingegen nicht so ausgelegt werden, als bekräftige er die Unveränderlichkeit der Ruhegehälter in der Höhe.
155 Sodann ist festzustellen, dass die Höhe des Ruhegehalts, worauf Art. 75 Abs. 2 Satz 2 in seinem ersten Teil hinweist, gemäß den in Anlage III festgelegten Regeln berechnet wird. Der zweite Teil dieses Satzes verlangt außerdem, dass zwei Anforderungen erfüllt sind, nämlich dass die einschlägigen Bestimmungen des auf dem Gebiet der Gewährung eines Ruhegehalts anwendbaren nationalen Rechts eingehalten werden und dass der Antrag auf Auszahlung dieses Ruhegehalts gestellt worden ist.
156 Das Gericht stellt fest, dass Art. 75 Abs. 2 Satz 2 klar zwischen „erworbenen Ruhegehaltsansprüchen“ und „Ruhegehältern“ unterscheidet. Zum einen ist offenkundig, dass sich das Adjektiv „erworben“ nicht auf den Begriff „Ruhegehälter“ bezieht, was zu bestätigen scheint, dass es nicht unmöglich ist, sie ihrer Höhe nach zu ändern. Zum anderen werden die genannten Ruhegehälter zwar auf der Grundlage der erwähnten „erworbenen Ruhegehaltsansprüche“ bestimmt, dies geschieht aber „gemäß“ den in Anlage III festgelegten Berechnungsregeln. In diesem Punkt nimmt der genannte Art. 75 Abs. 2 Satz 2 auf Anlage III und damit implizit auf Art. 2 Abs. 1 dieser Anlage Bezug. Folglich wird auf die oben in den Rn. 138 bis 141 angestellten Überlegungen verwiesen, denen zufolge das Parlament vorbehaltlich der Einhaltung höherrangiger Normen des Unionsrechts verpflichtet ist, die im Recht des betreffenden Mitgliedstaats festgelegten Vorschriften über Höhe und Bedingungen der Ruhegehälter anzuwenden.
157 Was die beiden in Art. 75 Abs. 2 Satz 2 genannten zusätzlichen Anforderungen betrifft, genügt die Feststellung, dass sie nicht bezwecken, wie die Kläger geltend machen, die Inanspruchnahme eines vermeintlichen Schutzes ihrer „erworbenen Ansprüche“ – in dem Sinne, dass die Ruhegehälter nicht in ihrer Höhe geändert werden könnten – von bestimmten Bedingungen abhängig zu machen, sondern den tatsächlichen Bezug dieser Ruhegehälter an die Einhaltung bestimmter Voraussetzungen knüpfen. Ein ehemaliger Abgeordneter kann nämlich nur dann Anspruch auf sein Ruhegehalt erheben, wenn er die in den nationalen Rechtsvorschriften des betreffenden Mitgliedstaats dafür vorgesehenen Bedingungen erfüllt und außerdem den Auszahlungsantrag im Sinne von Anlage III Art. 3 Abs. 2 gestellt hat. Diese Anforderungen haben somit nichts mit irgendeiner Garantie zu tun, dass die Ruhegehälter in ihrer Höhe unveränderlich wären.
158 Das Gericht stellt schließlich fest, dass das Parlament einziger Schuldner der in Anlage III auferlegten Verpflichtung ist, die im Recht des betreffenden Mitgliedstaats festgelegten Vorschriften über Höhe und Bedingungen der Ruhegehälter anzuwenden. Dagegen trifft die Verpflichtung, die beiden oben in Rn. 157 beschriebenen Anforderungen zu erfüllen, ihrerseits ausschließlich die Empfänger der genannten Ruhegehälter.
d)
Ergebnis
159 Im vorliegenden Fall hat das Parlament weder Art. 75 noch Anlage III Art. 2 Abs. 1 abgeändert. Diese Vorschriften sind unverändert geblieben. Ebenso wenig hat das Parlament die von den Klägern vor dem 14. Juli 2009 erworbenen Ruhegehaltsansprüche in Frage gestellt.
160 Konkret hat das Parlament gemäß Art. 75 und Anlage III Art. 2 Abs. 1 lediglich Höhe und Bedingungen der Altersruhegehälter bzw. Hinterbliebenenbezüge der Kläger angepasst, um den neuen Berechnungsregeln des Beschlusses Nr. 14/2018 Rechnung zu tragen. So sind in Anwendung der neuen Vorgaben des Beschlusses Nr. 14/2018 nur die Regeln für die Berechnung der Höhe dieser Ruhegehälter bzw. Hinterbliebenenbezüge geändert worden. Die Kläger haben im Übrigen nicht vorgetragen, dass das Parlament die Bestimmungen des Beschlusses Nr. 14/2018 fehlerhaft angewandt habe.
161 Überdies stellt das Gericht vergleichshalber fest, dass die Rechtsprechung die Möglichkeit einer Änderung der Höhe der Ruhegehälter bereits im Rahmen von Rechtsstreitigkeiten auf dem Gebiet des öffentlichen Dienstes der Union anerkannt hat. Dieser Rechtsprechung zufolge ist deutlich zwischen der Festsetzung des Ruhegehaltsanspruchs und der Auszahlung der daraus resultierenden Leistungen zu unterscheiden. Nach der Rechtsprechung werden die hinsichtlich der Festsetzung eines Ruhegehalts erworbenen Ansprüche daher nicht verletzt, wenn die Änderungen bei den tatsächlich ausgezahlten Beträgen auf Entwicklungen bei den Rechts- oder Verwaltungsvorschriften zurückgehen, die den eigentlichen Ruhegehaltsanspruch nicht beeinträchtigen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 29. November 2006, Campoli/Kommission, T‑135/05, EU:T:2006:366, Rn. 79 und 80 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).
162 In Anbetracht der vorstehenden Erwägungen ist das Parlament seiner Verpflichtung aus Art. 75 und Anlage III Art. 2 Abs. 1 nachgekommen, indem es die Bestimmungen des Beschlusses Nr. 14/2018 angewandt und dementsprechend die angefochtenen Entscheidungen erlassen hat. Die Frage, ob diese Anwendung der Bestimmungen des Beschlusses Nr. 14/2018 durch das Parlament gegen andere höherrangige Normen des Unionsrechts als den genannten Art. 75 oder Anlage III verstößt, soll im Rahmen des vierten Klagegrundes untersucht werden.
163 Nach alledem durfte sich das Parlament beim Erlass der angefochtenen Entscheidungen auf Art. 75 und die Vorschriften von Anlage III stützen, ohne gegen deren Bestimmungen zu verstoßen.
164 Demnach ist der zweite Klagegrund zurückzuweisen.
3. Dritter Klagegrund: Rechtsfehler bei der Einordnung des Beschlusses Nr. 14/2018 und fehlerhafte Anwendung des in Art. 75 Abs. 2 der Durchführungsbestimmungen vorgesehenen „Gesetzesvorbehalts“
165 Zur Stützung dieses dritten Klagegrundes machen die Kläger geltend, Art. 75 Abs. 2 verweise nur auf das in Form eines „Gesetzes“ erlassene nationale Recht. Dadurch, dass dieser Bereich dem Gesetzgeber vorbehalten sei, solle vorrangig und noch vor dem Schutz der einzelnen Abgeordneten die Legislativfunktion geschützt werden. Der Beschluss Nr. 14/2018 sei indessen bloß ein schlichter interner Beschluss der Abgeordnetenkammer bar jeder Gesetzeskraft. Deshalb gelte er nur für Personen, denen gegenüber die Abgeordnetenkammer ihre Regelungszuständigkeiten ausübe, nämlich ihr Personal und die Mitglieder dieser Kammer bis zum Ende ihrer Amtszeit.
166 Darüber hinaus erfasse der Verweis in Art. 75 Abs. 2 auf die „nationalen Rechtsvorschriften“ nur die vom betreffenden Mitgliedstaat festgelegten Bedingungen für die Gewährung eines Ruhegehaltsanspruchs an einen ehemaligen Europaabgeordneten. Dieser Verweis könne es dem Parlament hingegen nicht ermöglichen, die Methoden zur Berechnung dieser Ruhegehälter zu ändern.
167 Schließlich verstießen die angefochtenen Entscheidungen gegen Art. 17 der Charta sowie gegen Art. 1 des ersten Zusatzprotokolls zu der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (im Folgenden: EMRK). Diese Vorschriften gewährleisteten nämlich, dass jemandem sein Eigentum nur unter den durch „Gesetz“ vorgesehenen Bedingungen entzogen werden dürfe.
168 Das Parlament beantragt, den dritten Klagegrund als unbegründet zurückzuweisen.
169 Soweit die Kläger dem Parlament zum Vorwurf machen, ihr Eigentumsrecht verletzt zu haben, da die Kürzung ihres Ruhegehalts nicht in einem „Gesetz“ vorgesehen gewesen sei, ist vorab festzustellen, dass dieses Argument mit der im Rahmen des vierten Klagegrundes entwickelten Argumentation zusammenfällt. Auf ihn wird daher verwiesen.
170 Sodann ist der vorliegende dritte Klagegrund in Bezug auf die oben in Rn. 135 genannten Kläger als ins Leere gehend zurückzuweisen. Wie im Rahmen des zweiten Klagegrundes, insbesondere oben in Rn. 135, dargelegt worden ist, fallen diese Kläger nämlich nicht in den Anwendungsbereich von Art. 75 Abs. 2, sondern in den Anwendungsbereich von Art. 75 Abs. 1 Unterabs. 1, da sie ihr Ruhegehalt bereits vor Inkrafttreten des Abgeordnetenstatuts bezogen haben. Folglich kann ein etwaiger Verstoß gegen Art. 75 Abs. 2 durch das Parlament jedenfalls nicht zur Nichtigerklärung der die erwähnten Kläger betreffenden angefochtenen Entscheidungen führen.
171 Die Prüfung des vorliegenden dritten Klagegrundes ist somit auf die oben in Rn. 148 genannten Kläger, d. h. auf die Kläger in den Rechtssachen T‑390/19, T‑393/19, T‑404/19, T‑406/19, T‑407/19, T‑411/19, T‑413/19, T‑417/19, T‑425/19, T‑430/19, T‑436/19, T‑441/19, T‑442/19, T‑444/19, T‑445/19, T‑452/19 und T‑465/19, beschränkt.
172 Art. 75 Abs. 2 Satz 2 sieht Folgendes vor:
„Die Personen, die im Rahmen dieser Ruhegehaltsregelung Ansprüche erworben haben, erhalten ein Ruhegehalt, das auf der Grundlage ihrer gemäß der oben genannten Anlage III erworbenen Ansprüche berechnet wird, sofern sie die in den nationalen Rechtsvorschriften des betreffenden Mitgliedstaates vorgesehenen Bedingungen erfüllen und den Antrag im Sinne des Artikels 3 Absatz 2 der genannten Anlage III gestellt haben.“
173 Wie oben in den Rn. 155 bis 157 ausgeführt worden ist, unterscheidet Art. 75 Abs. 2 Satz 2 zwischen den Modalitäten für die Berechnung der Höhe der Ruhegehälter, die ausschließlich durch Anlage III Art. 2 Abs. 1 geregelt werden, einerseits und den Anforderungen, die erfüllt sein müssen, damit die genannten Ruhegehälter tatsächlich zur Auszahlung gelangen, wozu u. a. die „in den nationalen Rechtsvorschriften des betreffenden Mitgliedstaates vorgesehenen Bedingungen“ gehören, andererseits. Darüber hinaus geht aus der obigen Rn. 158 hervor, dass die Verpflichtung zur Beachtung der erwähnten Anforderungen die Empfänger der Ruhegehälter trifft und nicht das Parlament.
174 Zum einen ist es – selbst wenn unterstellt wird, dass sich der in Art. 75 Abs. 2 Satz 2 verwendete Begriff „nationale Rechtsvorschriften“ ausschließlich auf nationale Rechtsakte mit Gesetzesrang bezieht – im vorliegenden Fall jedenfalls ohne Bedeutung, dass der Beschluss Nr. 14/2018 nach italienischem Recht nicht die Form eines „Gesetzes“ aufweist. Der Beschluss Nr. 14/2018 hat nämlich, wie sogar die Kläger einräumen, nicht zum Ziel, die Anforderungen zu ändern, von denen die tatsächliche Inanspruchnahme der Ruhegehälter abhängig gemacht wird, wie beispielsweise das Erreichen des gesetzlichen Alters, ab dem ein ehemaliger Abgeordneter zum Bezug seines Ruhegehalts berechtigt ist, oder auch die Nichtausübung bestimmter vom italienischen Gesetzgeber als unvereinbar erachteter Funktionen. Wie die Kläger selbst angeben und wie seine Überschrift – „Neufestsetzung der Höhe der lebenslangen Versorgungsbezüge und des Pro-rata-Anteils der Vorsorgeleistungen an den lebenslangen Versorgungsbezügen sowie der Hinterbliebenenleistungen …“ – belegt, sind mit dem Beschluss Nr. 14/2018 einfach nur die Modalitäten für die Berechnung der Ruhegehälter angepasst worden.
175 Zum anderen stellt Art. 2 Abs. 1 der Anlage III, der die Berechnung der Höhe der genannten Ruhegehälter gerade dadurch regelt, dass er auf das Recht des betreffenden Mitgliedstaats verweist, nicht klar, dass diese nationalen Rechtsvorschriften ihrer Form nach ein „Gesetz“ sein müssten. Hinzu kommt, dass überhaupt keine Bestimmung der Anlage III auf die „Rechtsvorschriften“ des betreffenden Mitgliedstaats verweist.
176 Folglich beruht der vorliegende Klagegrund auf einer offensichtlich falschen Auslegung von Art. 75 Abs. 2, da diese Vorschrift – ebenso wie Art. 75 Abs. 1 – nicht verlangt, dass die Modalitäten für die Berechnung der Ruhegehälter im Recht des betreffenden Mitgliedstaats durch ein „Gesetz“ festgelegt werden. Es spielt somit keine Rolle, dass der Beschluss Nr. 14/2018 nicht in Form eines Gesetzes erlassen worden ist.
177 Demnach ist der dritte Klagegrund zurückzuweisen.
4. Vierter Klagegrund: Verstoß gegen mehrere allgemeine Grundsätze des Unionsrechts
178 Der vorliegende vierte Klagegrund besteht aus drei Teilen. Der erste bezieht sich auf einen Verstoß gegen die Grundsätze der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes sowie auf eine Verletzung des Eigentumsrechts. Der zweite Teil betrifft einen Verstoß gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Der dritte Teil hat eine Verletzung des Gleichheitssatzes zum Gegenstand.
179 Vorab stellt das Gericht fest, dass das Parlament, wie es im Wesentlichen vorträgt, gemäß Art. 75 und Anlage III verpflichtet ist, die Höhe der Ruhegehälter, die ehemaligen, in Italien gewählten und unter diese Vorschriften fallenden Europaabgeordneten gezahlt werden, zu berechnen und gegebenenfalls zu aktualisieren, wobei die Folgerungen aus dem Beschluss Nr. 14/2018 zu ziehen sind, solange dieser nationale Beschluss in Kraft ist, was gegenwärtig der Fall ist, da er von der Abgeordnetenkammer weder aufgehoben noch zurückgenommen worden und auch nicht vom Consiglio di giurisdizione della Camera dei deputati (Schlichtungsrat der Abgeordnetenkammer) für nichtig erklärt worden ist.
180 Bei der Durchführung von Art. 75 und Anlage III Art. 2 Abs. 1 ist das Parlament als Unionsorgan jedoch gemäß Art. 51 Abs. 1 der Charta verpflichtet, deren Bestimmungen einzuhalten. Dies gilt zum einen ungeachtet dessen, dass die Abgeordnetenkammer beim Erlass des Beschlusses Nr. 14/2018 nicht das Recht der Union durchgeführt hat und somit nicht verpflichtet war, die in der Charta enthaltenen Bestimmungen einzuhalten, und zum anderen, wie der Gerichtshof in einem vertraglichen Kontext hervorgehoben hat (Urteil vom 16. Juli 2020, ADR Center/Kommission, C‑584/17 P, EU:C:2020:576, Rn. 86), selbst dann, wenn das italienische Recht nicht die gleichen Garantien wie die Charta und die allgemeinen Grundsätze des Unionsrechts bietet.
181 Demnach hätte sich das Parlament bei der Bestimmung der Höhe der Ruhegehälter der Kläger nur dann über die neuen Modalitäten für die Berechnung der Ruhegehälter ehemaliger Mitglieder der Abgeordnetenkammer, wie sie im Beschluss Nr. 14/2018 vorgesehen sind, hinwegsetzen dürfen, wenn die Anwendung der Bestimmungen des Beschlusses Nr. 14/2018 zu einem Verstoß gegen die Charta oder die allgemeinen Grundsätze des Unionsrechts geführt hätte (vgl. in diesem Sinne entsprechend Urteile vom 5. April 2016, Aranyosi und Căldăraru, C‑404/15 und C‑659/15 PPU, EU:C:2016:198, Rn. 88, vom 25. Juli 2018, Minister for Justice and Equality [Mängel des Justizsystems], C‑216/18 PPU, EU:C:2018:586, Rn. 59, 73 und 78, sowie vom 25. Juli 2018, Generalstaatsanwaltschaft [Haftbedingungen in Ungarn], C‑220/18 PPU, EU:C:2018:589, Rn. 59).
182 Angesichts der Tatsache, dass das Gericht nicht dafür zuständig ist, die Rechtmäßigkeit des Beschlusses Nr. 14/2018 und insbesondere seine Übereinstimmung mit der Charta unmittelbar zu prüfen, hat es im vorliegenden Fall unter diesen Umständen lediglich anhand des Vorbringens der Kläger zu untersuchen, ob die Anwendung der in dem erwähnten nationalen Beschluss nunmehr vorgesehenen Berechnungsmodalitäten durch das Parlament dazu geführt hat, dass dieses Organ, wie die genannten Kläger vortragen, gegen die Bestimmungen der Charta und die allgemeinen Grundsätze des Unionsrechts verstoßen hat.
a)
Erster Teil des vierten Klagegrundes: Verstoß gegen die Grundsätze der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes sowie Verletzung des Eigentumsrechts
183 Im Rahmen des ersten Teils tragen die Kläger vor, die angefochtenen Entscheidungen liefen der Unveränderlichkeit ihrer erworbenen Ansprüche zuwider und verletzten das berechtigte Vertrauen, das der während ihrer Amtszeit geltende Rechtsrahmen geschaffen habe. Genauer gesagt habe das Parlament gegen die Grundsätze der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes verstoßen, als es davon ausgegangen sei, dass der Beschluss Nr. 14/2018 automatisch auf die Ruhegehaltsregelungen der Kläger Anwendung finde. Aus der Rechtsprechung, insbesondere dem Urteil vom 18. Oktober 2011, Purvis/Parlament (T‑439/09, EU:T:2011:600), gehe vielmehr hervor, dass erworbene Rechte von Maßnahmen, mit denen das System der Ruhegehaltsansprüche in einem nachteiligen Sinne geändert werde, nicht berührt werden könnten. Zudem habe das Parlament diese erworbenen Ansprüche rückwirkend und vollkommen unvorhersehbar abgeändert. Auch seien die Kläger, da sie ihre Ruhegehaltsansprüche unter der Geltung der KVR erworben hätten, nunmehr außenstehende Dritte und fielen daher nicht unter die Regelungszuständigkeit des Parlaments und der Abgeordnetenkammer. Außerdem mache die Verletzung der Ruhegehaltsansprüche durch die angefochtenen Entscheidungen den Verstoß gegen den Grundsatz des Vertrauensschutzes umso schwerwiegender, als der Ruhegehaltsregelung, so wie sie in Anlage III ausgestaltet sei, die freiwillige Entscheidung der Abgeordneten für einen Beitritt zugrunde liege.
184 In Beantwortung einer schriftlichen Frage des Gerichts haben die Kläger darüber hinaus eine Einrede der Rechtswidrigkeit in Bezug auf Art. 75 und Anlage III Art. 2 Abs. 1 erhoben, falls diese beiden Vorschriften so ausgelegt werden sollten, dass sie es dem Parlament unter Verstoß gegen die Grundsätze der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes gestatteten, Maßnahmen zu ergreifen, die sich rückwirkend auf endgültig erworbene Ruhegehaltsansprüche auswirkten.
185 Die Kläger tragen ferner vor, durch die Kürzung der Ruhegehälter, zu der die angefochtenen Entscheidungen führten, werde ihr Eigentumsrecht verletzt, ohne dass dies im vorliegenden Fall durch ein allgemeines Interesse, das vom Parlament nicht einmal angeführt werde, gerechtfertigt sei. Auch werde in den angefochtenen Entscheidungen weder die den Kläger auferlegte finanzielle Belastung geprüft noch eine Abwägung der auf dem Spiel stehenden Interessen vorgenommen. Die angefochtenen Entscheidungen verstießen somit dadurch gegen Art. 17 der Charta, dass sie, ohne durch ein legitimes Ziel gerechtfertigt zu sein, eine rückwirkende Änderung der Ruhegehaltsregelungen der Kläger vorsähen.
186 Das Parlament beantragt, den ersten Teil des vierten Klagegrundes als unbegründet zurückzuweisen.
1) Rüge eines Verstoßes gegen den Grundsatz der Rechtssicherheit
187 Der Grundsatz der Rechtssicherheit, der zu den allgemeinen Grundsätzen des Unionsrechts gehört, verlangt, dass Rechtsvorschriften klar und präzise sind, und soll die Voraussehbarkeit der unter das Unionsrecht fallenden Tatbestände und Rechtsbeziehungen gewährleisten (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 18. Oktober 2011, Purvis/Parlament, T‑439/09, EU:T:2011:600, Rn. 65 und die dort angeführte Rechtsprechung).
188 Bei der Prüfung der von den Klägern erhobenen Rechtswidrigkeitseinrede ist zu bestimmen, ob Art. 75 und Anlage III Art. 2 Abs. 1, wie die Kläger vortragen, dem Parlament den Erlass von Maßnahmen gestatten, die sich rückwirkend auf endgültig erworbene Ruhegehaltsansprüche auswirken, selbst wenn eine solche Auslegung gegen den Grundsatz der Rechtssicherheit verstieße.
189 Diese Rechtswidrigkeitseinrede ist zurückzuweisen, da sie von der unzutreffenden Prämisse ausgeht, dass das Parlament zur Änderung erworbener Ruhegehaltsansprüche berechtigt sei. Allerdings verleihen weder Art. 75 noch Anlage III Art. 2 Abs. 1 dem Parlament eine solche Befugnis. Im Gegenteil: Diese Vorschriften verlangen die Wahrung der erworbenen Ruhegehaltsansprüche.
190 Das bedeutet jedoch nicht, dass die Höhe der genannten Ruhegehälter vor Inkrafttreten des Abgeordnetenstatuts endgültig festgesetzt worden wäre und nicht abgeändert werden könnte.
191 Wie aus den im Rahmen der Prüfung des zweiten Klagegrundes oben in den Rn. 126 bis 161 dargelegten Erwägungen hervorgeht, sind „erworbene Ruhegehaltsansprüche“ und „Ruhegehälter“ nämlich von der „Höhe der Ruhegehälter“ zu unterscheiden. Auch wenn „Ruhegehaltsansprüche“ endgültig erworben sind und nicht abgeändert werden können und auch wenn die Ruhegehälter weiterhin gezahlt werden, steht nichts einer Anpassung der Höhe der Ruhegehälter nach oben oder unten entgegen. In Anbetracht von Art. 75 und der Regelung über ein identisches Ruhegehalt ist das Parlament im Gegenteil verpflichtet, die Höhe der genannten Ruhegehälter unter Anwendung der gleichen Vorschriften über Höhe und Modalitäten der Ruhegehälter, wie sie im Recht des betreffenden Mitgliedstaats festgelegt sind, zu berechnen.
192 Die Kläger haben somit nicht nachgewiesen, dass Art. 75 und Anlage III Art. 2 Abs. 1 gegen den Grundsatz der Rechtssicherheit verstießen. Die Rechtswidrigkeitseinrede ist daher unbegründet.
193 Sodann ist zu prüfen, ob der Erlass der angefochtenen Entscheidungen auf der Grundlage dieser Vorschriften gegen den Grundsatz der Rechtssicherheit verstoßen hat.
194 Aus der Prüfung des zweiten Klagegrundes geht hervor, dass die Höhe der Ruhegehälter, wie Art. 75 klar und präzise vorsieht, gemäß Art. 2 Abs. 1 der Anlage III berechnet wird, der die Regelung über ein identisches Ruhegehalt einführt und bestimmt, dass „Höhe und Bedingungen [der Altersruhegehälter] … identisch [sind]“ mit der Höhe und den Bedingungen der Altersruhegehälter, die Mitglieder der Abgeordnetenkammer im vorliegenden Fall erhalten.
195 In diesen Vorschriften, die seit Inkrafttreten des Abgeordnetenstatuts nicht geändert worden sind, wird somit ausdrücklich die Möglichkeit einer Anpassung der Höhe der Altersruhegehälter nach oben oder unten ins Auge gefasst, um den relevanten Entwicklungen des Rechts des betreffenden Mitgliedstaats Rechnung zu tragen. Außerdem ist daran zu erinnern, dass die angefochtenen Entscheidungen, wie im Rahmen der Prüfung des zweiten Klagegrundes festgestellt worden ist, im Einklang mit Art. 75 und Anlage III Art. 2 Abs. 1 erlassen worden sind.
196 Damit die rückwirkende Anwendung eines Rechtsakts nicht gegen den Grundsatz der Rechtssicherheit verstößt, muss ein in seinem Wortlaut oder seinen Zielen hinreichend klarer Hinweis den Schluss zulassen, dass die Bestimmungen dieses Rechtsakts nicht nur für die Zukunft gelten (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 17. Juli 2014, Panasonic Italia u. a., C‑472/12, EU:C:2014:2082, Rn. 57 und die dort angeführte Rechtsprechung).
197 Es trifft zwar zu, dass die angefochtenen Entscheidungen am 11. April 2019 und – was Herrn Florio in der Rechtssache T‑465/19 anbelangt – am 11. Juni 2019 ergangen sind und ihre Wirkungen schon zu einem früheren Zeitpunkt, nämlich am 1. Januar 2019, entfaltet haben. Diese Gesichtspunkte allein reichen jedoch nicht für die Feststellung aus, dass das Parlament gegen den Grundsatz der Rechtssicherheit verstoßen hätte, indem es die neu bestimmte Höhe der Ruhegehälter ab diesem Zeitpunkt angewandt hat.
198 Die Tatsache, dass die Höhe der Ruhegehälter der Kläger ab dem 1. Januar 2019 geändert worden ist, erklärt sich durch die das Parlament gemäß Anlage III Art. 2 Abs. 1 treffende Verpflichtung, die im Recht des betreffenden Mitgliedstaats festgelegten Bedingungen auch auf die Ruhegehälter anzuwenden. Die Festlegung des Zeitpunkts, ab dem die die neuen Regeln für die Berechnung der genannten Ruhegehälter anzuwenden sind, ist unbestreitbar Teil dieser „Bedingungen“.
199 Insoweit geht aus Art. 1 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 14/2018 ausdrücklich hervor, dass die Höhe der Ruhegehälter „[m]it Wirkung vom 1. Januar 2019 … nach den neuen in diesem Beschluss vorgesehenen Modalitäten berechnet [wird]“.
200 Gemäß Anlage III Art. 2 Abs. 1 konnten die Kläger ab dem 1. Januar 2019 demnach nicht länger Anspruch auf Bezug ihres Ruhegehalts erheben, so wie es vor diesem Zeitpunkt berechnet worden war. Im Gegenteil: Seit dem 1. Januar 2019 waren nur Ruhegehälter fällig und zahlbar, deren Höhe unter Einhaltung der im Beschluss Nr. 14/2018 festgelegten Regeln angepasst worden war.
201 Es wäre zwar vorzugswürdig gewesen, wenn die angefochtenen Entscheidungen vor dem 1. Januar 2019 und nicht danach ergangen wären. Dieser Umstand ist im vorliegenden Fall jedoch ohne Bedeutung. Die Verpflichtung, die neuen Berechnungsregeln mit Wirkung von diesem Zeitpunkt auf die Ruhegehälter der Kläger anzuwenden, geht nicht auf die angefochtenen Entscheidungen, sondern auf Anlage III Art. 2 Abs. 1 zurück. In diesem Sinne werden in den angefochtenen Entscheidungen lediglich die Konsequenzen gezogen, die sich unmittelbar aus Anlage III Art. 2 Abs. 1 ergeben und folglich dazu führen, dass Beträge, die zwischen dem 1. Januar 2019 und dem Tag des Erlasses der betreffenden Entscheidungen, also dem 11. April bzw. 11. Juni 2019, rechtsgrundlos gezahlt worden sind, zurückerstattet werden müssen.
202 Hieraus folgt, dass die Kläger nicht nachgewiesen haben, dass im vorliegenden Fall gegen den Grundsatz der Rechtssicherheit verstoßen worden wäre. Gemäß den Bestimmungen der Anlage III gelten die neuen Beträge der Ruhegehälter der Kläger nämlich seit dem 1. Januar 2019. Die Bestimmungen der Anlage III sind weit vor dem 1. Januar 2019 und nicht danach erlassen worden. Außerdem haben die Kläger weder vorgetragen noch lässt sich dem Akteninhalt entnehmen, dass das Parlament diese neuen Beträge vor dem 1. Januar 2019, d. h. vor dem im Beschluss Nr. 14/2018 genannten Zeitpunkt, angewandt hätte. Schließlich hatte das Parlament, wie oben in Rn. 17 erwähnt, die Kläger im Januar 2019 über eine mögliche Anwendung der Bestimmungen des Beschlusses Nr. 14/2018 auf sie informiert. Auch hatte das Parlament, wie oben in Rn. 19 erwähnt, den Klägern im Februar 2019 die automatische Anwendbarkeit dieses Beschlusses auf ihre Situation bestätigt. Damit waren die Kläger über die Änderung der für die Berechnung der Höhe ihres Ruhegehalts geltenden Regeln unterrichtet worden, bevor die angefochtenen Entscheidungen ergangen sind.
203 Diese Schlussfolgerung wird nicht durch das von den Klägern angeführte Urteil vom 18. Oktober 2011, Purvis/Parlament (T‑439/09, EU:T:2011:600), entkräftet. Insoweit ist zum einen festzustellen, dass der Kläger jener Rechtssache seinen Ruhegehaltsanspruch noch nicht erworben hatte. Zum anderen rügte dieser Kläger nicht eine Kürzung seines Ruhegehalts, sondern die Ablehnung seines Antrags, einen Teil seines zusätzlichen Ruhegehalts als Kapitalleistung zu beziehen. Daher weisen die Umstände des Urteils vom 18. Oktober 2011, Purvis/Parlament (T‑439/09, EU:T:2011:600), zu der Situation der Kläger in den vorliegenden Klageverfahren keinen Bezug auf. Zudem genügt, soweit die Kläger aus diesem Urteil ableiten, dass erworbene Ruhegehaltsansprüche unbeeinträchtigt bleiben müssen, der Hinweis, dass das Parlament, wie u. a. oben in Rn. 191 erwähnt worden ist, Rücksicht auf ihre erworbenen Ruhegehaltsansprüche genommen hat und lediglich die Höhe ihres Ruhegehalts geändert worden ist.
204 Die erste Rüge eines Verstoßes gegen den Grundsatz der Rechtssicherheit ist somit zurückzuweisen.
2) Rüge eines Verstoßes gegen den Grundsatz des Vertrauensschutzes
205 Nach ständiger Rechtsprechung steht das Recht auf Vertrauensschutz jedem Einzelnen zu, wenn sich herausstellt, dass die Unionsverwaltung bei ihm begründete Erwartungen geweckt hat. Konkrete, nicht an Bedingungen geknüpfte und übereinstimmende Auskünfte von zuständiger und zuverlässiger Seite stellen Zusicherungen dar, die solche Erwartungen wecken können. Dagegen kann niemand eine Verletzung dieses Grundsatzes geltend machen, dem die Verwaltung keine konkreten Zusicherungen gegeben hat. Schließlich müssen die gegebenen Zusicherungen den geltenden Normen entsprechen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 3. Dezember 2019, Tschechische Republik/Parlament und Rat, C‑482/17, EU:C:2019:1035, Rn. 153 und die dort angeführte Rechtsprechung).
206 Zunächst ist die Rechtswidrigkeitseinrede der Kläger, mit der diese vortragen, dass, wenn Art. 75 und Anlage III Art. 2 Abs. 1 so ausgelegt werden sollten, dass sie es dem Parlament gestatteten, Maßnahmen zu ergreifen, die sich rückwirkend auf endgültig erworbene Ruhegehaltsansprüche auswirkten, eine solche Auslegung gegen den Grundsatz des Vertrauensschutzes verstieße, aus ähnlichen wie den oben in den Rn. 189 bis 191 dargelegten Gründen zurückzuweisen.
207 Diese Rechtswidrigkeitseinrede beruht nämlich auf der falschen Prämisse, dass das Parlament zur Änderung erworbener Ruhegehaltsansprüche berechtigt sei, was nicht der Fall ist. Erlaubt ist lediglich nach Art. 75 und Anlage III Art. 2 Abs. 1 eine Änderung der Höhe der Ruhegehälter.
208 Darüber hinaus haben die Kläger weder nachgewiesen noch vorgetragen, dass das Parlament ihnen andere Zusicherungen als die in Art. 75 und Anlage III Art. 2 Abs. 1 enthaltene gegeben hätte. Es ist indessen offenkundig, dass diese beiden Artikel nicht die Unveränderlichkeit der Höhe der Ruhegehälter der Kläger vorsehen.
209 Die Prüfung des zweiten Klagegrundes, insbesondere oben in den Rn. 138 bis 141, hat nämlich verdeutlicht, dass die einzige konkrete und nicht an Bedingungen geknüpfte Zusicherung, die das Parlament den Klägern gegeben hat, darin bestand, ihnen den Bezug eines Altersruhegehalts zu garantieren, dessen Höhe und Bedingungen mit Höhe und Bedingungen des Altersruhegehalts identisch ist, das Mitglieder der Abgeordnetenkammer desjenigen Mitgliedstaats, in dem die Kläger gewählt wurden, erhalten: Im vorliegenden Fall sind dies die Mitglieder der italienischen Abgeordnetenkammer.
210 Indem das Parlament beim Erlass der angefochtenen Entscheidungen getreu den Regeln des Beschlusses Nr. 14/2018 verfuhr, ist es somit nicht von der Zusicherung abgerückt, die es den Klägern gegeben hatte, als diese der in Anlage III festgelegten Ruhegehaltsregelung beigetreten sind.
211 Die zweite Rüge eines Verstoßes gegen den Grundsatz des Vertrauensschutzes ist mithin zurückzuweisen.
3) Rüge einer Verletzung des Eigentumsrechts
212 Nach der Rechtsprechung stellt das in Art. 17 Abs. 1 der Charta garantierte Eigentumsrecht ein Grundrecht des Unionsrechts dar, dessen Beachtung eine Voraussetzung für die Rechtmäßigkeit von Unionsakten ist. Des Weiteren ist diese Bestimmung, nach der jede Person das Recht hat, ihr rechtmäßig erworbenes Eigentum zu besitzen, eine Rechtsnorm, die Einzelnen Rechte verleihen soll (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 23. Mai 2019, Steinhoff u. a./EZB, T‑107/17, EU:T:2019:353, Rn. 96 und die dort angeführte Rechtsprechung).
213 Es ist jedoch darauf hinzuweisen, dass das in Art. 17 Abs. 1 der Charta verbürgte Eigentumsrecht nicht uneingeschränkt gilt und seine Ausübung Beschränkungen unterworfen werden kann, die durch dem Gemeinwohl dienende Ziele der Union gerechtfertigt sind. Wie aus Art. 52 Abs. 1 der Charta hervorgeht, kann die Ausübung des Eigentumsrechts folglich Einschränkungen unterworfen werden, sofern diese gesetzlich vorgesehen sind, tatsächlich dem Gemeinwohl dienenden Zielen entsprechen und nicht einen im Hinblick auf den verfolgten Zweck unverhältnismäßigen, nicht tragbaren Eingriff darstellen, der das so gewährleistete Recht in seinem Wesensgehalt antastet (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 13. Juni 2017, Florescu u. a., C‑258/14, EU:C:2017:448, Rn. 51 und 53 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).
214 Schließlich ist in Anbetracht von Art. 52 Abs. 3 der Charta zur Bestimmung des Umfangs des Grundrechts auf Achtung des Eigentums Art. 1 des ersten Zusatzprotokolls zur EMRK heranzuziehen, in dem dieses Recht verankert ist (vgl. Urteil vom 13. Juni 2017, Florescu u. a., C‑258/14, EU:C:2017:448, Rn. 49 und die dort angeführte Rechtsprechung).
215 Im vorliegenden Fall ist daran zu erinnern, dass in den angefochtenen Entscheidungen im Einklang mit der Regelung über ein identisches Ruhegehalt die neue im Beschluss Nr. 14/2018 festgelegte Berechnungsmethode auf die Ruhegehälter bzw. Hinterbliebenenversorgung der Kläger angewandt wird. Die Prüfung der Rechtmäßigkeit des Beschlusses Nr. 14/2018 anhand des italienischen Rechts ist den zuständigen italienischen Behörden vorbehalten, während dem Unionsrichter die Prüfung obliegt, ob das Parlament durch die Anwendung der Vorschriften dieses Beschlusses in den angefochtenen Entscheidungen gegen die Bestimmungen der Charta verstoßen hat (vgl. oben, Rn. 62 bis 65 und 182). Was insbesondere die hier in Rede stehende Rüge einer Verletzung des in Art. 17 Abs. 1 der Charta garantierten Eigentumsrechts betrifft, ist festzustellen, dass die Kläger nichts Konkretes dafür vorbringen, dass dieses Recht ein Schutzniveau gewährleisten würde, das sich von den im italienischen Recht zugesicherten Garantien unterschiede oder diese sogar überträfe. Das Gericht stellt fest, dass die Rechtmäßigkeit des Beschlusses Nr. 14/2018 derzeit vor dem Consiglio di giurisdizione della Camera dei deputati (Schlichtungsrat der Abgeordnetenkammer) geprüft wird und dass das Parlament in der mündlichen Verhandlung erklärt hat, dass es im Einklang mit der Regelung über ein identisches Ruhegehalt in Zukunft alle von den zuständigen italienischen Behörden vorgenommenen Änderungen des Beschlusses Nr. 14/2018 auf die Ruhegehälter der Kläger anwenden werde.
216 Im vorliegenden Fall ist unstreitig, dass das Parlament den Klägern nicht einen Teil ihrer Ruhegehaltsansprüche vorenthalten, sondern lediglich die in den einschlägigen Bestimmungen vorgesehene Kürzung dieser Ruhegehälter vorgenommen hat. Zudem hat das Parlament in Beantwortung einer schriftlichen Frage des Gerichts eine Tabelle vorgelegt, in der für jeden Kläger der Umfang dieser Kürzung ausgewiesen wird. Den vom Parlament übermittelten Daten zufolge schwanken die prozentualen Kürzungen nach Maßgabe der persönlichen Situation der einzelnen Kläger zwischen 9 % und 65 %. Auf vier Kläger ist eine Kürzung um mindestens 50 % angewandt worden, und die fraglichen neuen Beträge ihres Ruhegehalts liegen zwischen 1569,14 Euro und 1985,42 Euro. Festzustellen ist, dass sich die Ruhegehälter dieser vier Kläger auf Amtszeiten der betreffenden ehemaligen Abgeordneten von einer Dauer von fünf bzw. zehn Jahren beziehen und dass die Neuberechnung gemäß Art. 1 Abs. 2 des Beschlusses Nr. 14/2018 auf der Grundlage der individuellen Beiträge erfolgt. Jedenfalls legen die Kläger keine substantiierte und fallbezogene Argumentation vor, die auf das Ausmaß der Kürzung des Ruhegehalts in ihrem spezifischen Fall abstellt. Sie bringen lediglich Argumente allgemeinerer Natur vor, wonach Kürzungen der Ruhegehälter aufgrund ihrer angeblichen Rückwirkung und des vermeintlichen Fehlens eines übergeordneten öffentlichen Interesses im vorliegenden Fall nach Maßgabe des Eigentumsrechts ausgeschlossen seien. Darüber hinaus ist darauf hinzuweisen, dass die Beurteilung der Rechtmäßigkeit eines Unionsrechtsakts im Hinblick auf die Grundrechte nicht auf einem Vorbringen beruhen kann, das sich auf die Konsequenzen dieses Rechtsakts in einem Einzelfall stützt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 8. September 2020, Kommission und Rat/Carreras Sequeros u. a., C‑119/19 P und C‑126/19 P, EU:C:2020:676, Rn. 153 und die dort angeführte Rechtsprechung).
217 Hierbei ist Folgendes hinzuzufügen.
218 Es ist bereits entschieden worden, dass, wenn die Gewährung von Sozialleistungen, etwa ein Ruhegehalt oder eine Hinterbliebenenversorgung, gesetzlich vorgesehen ist, diese Gesetzgebung für Personen, die die Voraussetzungen hierfür erfüllen, ein vermögensrechtliches Interesse schafft, das in den Anwendungsbereich von Art. 17 der Charta fällt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 13. Juni 2017, Florescu u. a., C‑258/14, EU:C:2017:448, Rn. 50 und die dort angeführte Rechtsprechung). Die Ruhegehälter der Kläger fallen somit in den sachlichen Anwendungsbereich von Art. 17 der Charta.
219 Darüber hinaus fallen die Ruhegehälter der Kläger, auch wenn sie diesen durch die angefochtenen Entscheidungen nicht schlechthin vorenthalten werden, aufgrund der angefochtenen Entscheidungen gleichwohl niedriger aus. Insoweit schränken die angefochtenen Entscheidungen das Eigentumsrecht der Kläger ein (vgl. in diesem Sinne EGMR, 1. September 2015, Da Silva Carvalho Rico/Portugal, CE:ECHR:2015:0901DEC001334114, §§ 31 bis 33 und die dort angeführte Rechtsprechung). Im Übrigen hat das Parlament während der mündlichen Verhandlung das Vorliegen einer solchen Einschränkung eingeräumt.
220 Somit ist zu prüfen, ob diese Einschränkung den Wesensgehalt des Eigentumsrechts der Kläger achtet, gesetzlich vorgesehen ist, einer dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzung entspricht und hierfür erforderlich ist.
221 Die Tatsache, dass das Parlament diese Prüfung nicht vorgenommen hat, ist für die vorliegenden Rechtssachen insoweit ohne Belang. Eine solche Prüfung stellt nämlich keine obligatorische Verfahrensformalität dar, zu der das Parlament vor dem Erlass der angefochtenen Entscheidungen verpflichtet gewesen wäre. Es kommt allein darauf an, dass die konkreten Folgen dieser Entscheidungen das Eigentumsrecht der Kläger nicht in seinem Wesensgehalt antasten.
222 Erstens kann das in Art. 17 der Charta verankerte Eigentumsrecht nicht dahin ausgelegt werden, dass es einen Anspruch auf ein Ruhegehalt in bestimmter Höhe gewährt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 13. Juni 2017, Florescu u. a., C‑258/14, EU:C:2017:448, Rn. 50 und die dort angeführte Rechtsprechung).
223 Zweitens ist die im vorliegenden Fall in Rede stehende Beschränkung des Eigentumsrechts der Kläger gesetzlich vorgesehen.
224 Zum einen stützen sich die angefochtenen Entscheidungen auf Art. 75 und Anlage III Art. 2 Abs. 1. In diesem Zusammenhang ist oben in Rn. 195 festgestellt worden, dass die Bestimmungen der Anlage III seit Inkrafttreten des Abgeordnetenstatuts nicht geändert worden sind. Zudem verlangt Anlage III Art. 2 Abs. 1, dass die Höhe der Altersruhegehälter nach oben oder unten angepasst wird, um den relevanten Entwicklungen der Rechts- und Verwaltungsvorschriften im betreffenden Mitgliedstaat Rechnung zu tragen. Daher haben die angefochtenen Entscheidungen, obwohl mit ihnen die Ruhegehälter der Kläger ihrer Höhe nach angepasst worden sind, den Inhalt des Ruhegehaltsanspruchs, wie er im Unionsrecht definiert ist, nicht geändert.
225 Zum anderen stellt das Gericht fest, dass die neuen Regeln für die Berechnung dieser Ruhegehälter hinreichend klar und präzise durch die Bestimmungen des Beschlusses Nr. 14/2018 festgelegt werden, was die Kläger im Übrigen nicht in Abrede stellen. Außerdem ist der von den Klägern ins Feld geführte Umstand ohne Belang, dass der Beschluss im italienischen Recht nicht die Form eines „Gesetzes“ hat. Nach ständiger Rechtsprechung ist der Gesetzesbegriff in seiner „materiellen“ und nicht in seiner „formellen“ Bedeutung zu verstehen. Daher schließt er das geschriebene Recht in seiner Gesamtheit ein, einschließlich Vorschriften untergesetzlichen Ranges und Rechtsprechung zu seiner Auslegung (vgl. EGMR, 18. Januar 2018, Fédération nationale des associations et syndicats de sportifs [FNASS] u. a./Frankreich, CE:ECHR:2018:0118JUD004815111, § 160 und die dort angeführte Rechtsprechung).
226 Drittens macht das Parlament geltend, die Rechtfertigung der Beschränkung des Eigentumsrechts der Kläger sei im Beschluss Nr. 14/2018 enthalten, da sich das Präsidium der Abgeordnetenkammer dazu entschlossen habe, die Methode zur Berechnung der an die Mitglieder dieser Kammer gezahlten Ruhegehälter anzupassen. Genauer gesagt sei der Beschluss Nr. 14/2018 durch das Ziel gerechtfertigt, die Höhe der an die Abgeordneten gezahlten Ruhegehälter an das System der Berechnung nach Beiträgen anzupassen. Darüber hinaus gehe aus der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte hervor, dass die Mitgliedstaaten über einen weiten Wertungsspielraum verfügten, insbesondere was die Annahme von Politiken zur Einsparung öffentlicher Gelder oder von Gesetzen zur Einführung von Sparmaßnahmen angehe, die aufgrund einer schweren Wirtschaftskrise geboten seien.
227 Insoweit weist das Gericht darauf hin, dass der Erlass der angefochtenen Entscheidungen unter Berücksichtigung von Anlage III Art. 2 Abs. 1 zwangsläufig von den Vorgaben der zuständigen italienischen Behörden abhängt. Auch können bei der Würdigung der dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzung nicht die Ziele außer Acht gelassen werden, die dem Erlass des Beschlusses Nr. 14/2018 zugrunde gelegen haben.
228 Hierzu ist festzustellen, dass die vom Parlament geltend gemachte Zielsetzung in der Präambel des Beschlusses Nr. 14/2018 ausdrücklich erwähnt wird. Darin heißt es nämlich, dass dieser Beschluss darauf abzielt, „eine Neuberechnung der Höhe der lebenslangen Versorgungsbezüge, des solchen Versorgungsbezügen entsprechenden Teiles der Vorsorgeleistungen und der Hinterbliebenenleistungen, deren Ansprüche auf der Grundlage der am 31. Dezember 2011 geltenden Regelung erworben worden sind, nach der beitragsabhängigen Methode vorzunehmen“, und dass „die Neuberechnung der geltenden Leistung [nicht] zu einem höheren als dem derzeit gezahlten Betrag führen [darf]“.
229 Außerdem räumen die Kläger in den Klageschriften selbst ein, dass „sich die Anwendung des Beschlusses Nr. 14/2018 auf nationaler Ebene in den Rahmen eines allgemeineren Vorgehens einfügt und darauf abzielt, die zulasten des [italienischen] Staates gehenden Ausgaben zu senken“. Diese Aussage wird durch eine ihrer Antworten auf die schriftlichen Fragen des Gerichts bestätigt. Darin stellen sie fest, dass „der Normzweck der mit dem Beschluss Nr. 14/2018 vorgenommenen Kürzung darin besteht, Einsparungen zugunsten der Kassen des [italienischen] Staates zu generieren“.
230 Hieraus lässt sich ableiten, dass der Beschluss Nr. 14/2018 die Zielsetzung verfolgt, die öffentlichen Ausgaben in einem durch sparsame Haushaltsführung gekennzeichneten Kontext zu rationalisieren. Der Unionsrichter hat bereits anerkannt, dass ein solches Ziel eine dem Gemeinwohl dienende Zielsetzung darstellt, die einen Eingriff in ein Grundrecht rechtfertigen kann (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 13. Juni 2017, Florescu u. a., C‑258/14, EU:C:2017:448, Rn. 56 und die dort angeführte Rechtsprechung; vgl. in diesem Sinne auch entsprechend Urteil vom 14. Dezember 2018, FV/Rat, T‑750/16, EU:T:2018:972, Rn. 108).
231 Dieses legitime Ziel muss auch für die angefochtenen Entscheidungen bejaht werden, da sie nicht auf eigenständiger Grundlage erlassen wurden, sondern ihr Erlass vielmehr, wie oben in Rn. 227 ausgeführt wird, in Abhängigkeit von Vorgaben der zuständigen italienischen Behörden steht. Zudem verfolgen die angefochtenen Entscheidungen gleichzeitig das legitime – in Anlage III Art. 2 Abs. 1 ausdrücklich genannte – Ziel, den Klägern Ruhegehälter zu gewähren, deren Höhe und Bedingungen mit denjenigen des Ruhegehalts für Mitglieder der Abgeordnetenkammer identisch sind.
232 Viertens hat der Gerichtshof in Bezug auf die Erforderlichkeit des Beschlusses Nr. 14/2018 und mithin der angefochtenen Entscheidungen bereits entschieden, dass die Mitgliedstaaten unter Berücksichtigung der seit mehreren Jahren herrschenden besonderen wirtschaftlichen Zusammenhänge über einen weiten Wertungsspielraum bei Entscheidungen auf wirtschaftlichem Gebiet verfügen und dass sie am besten in der Lage sind, diejenigen Maßnahmen zu bestimmen, die zur Verwirklichung des angestrebten Ziels geeignet sind (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 13. Juni 2017, Florescu u. a., C‑258/14, EU:C:2017:448, Rn. 57). Auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat bereits die Auffassung vertreten, dass die Entscheidung, im Bereich der Sozialleistungen gesetzgeberisch tätig zu werden, gewöhnlich eine Prüfung politischer, wirtschaftlicher und sozialer Fragen voraussetzt. Folglich wird den Staaten – insbesondere bei der Annahme von Politiken zur Einsparung öffentlicher Gelder oder von Gesetzen zur Einführung von Sparmaßnahmen, die aufgrund einer schweren Wirtschaftskrise geboten sind – ein weiter Wertungsspielraum belassen (vgl. in diesem Sinne EGMR, 10. Juli 2018, Achille Claudio Aielli u. a./Italien sowie Giovanni Arboit u. a./Italien, CE:ECHR:2018:0710DEC002716618, § 26 und die dort angeführte Rechtsprechung).
233 Die Kläger haben indessen nicht dargetan, dass die im Beschluss Nr. 14/2018 festgelegten Regeln zur Erreichung der oben in den Rn. 230 und 231 beschriebenen Ziele nicht erforderlich waren. Sie haben auch nicht geltend gemacht, es gebe andere, weniger einschneidende Maßnahmen, mit denen sich die genannten Ziele hätten erreichen lassen.
234 Darüber hinaus geht aus den Rn. 13 und 16 des Gutachtens des Juristischen Dienstes hervor, dass der Beschluss Nr. 14/2018 eine Reihe von Bestimmungen zur Gewährleistung seiner Verhältnismäßigkeit enthält, insbesondere Art. 1 Abs. 6 und 7 dieses Beschlusses. Insoweit hat das Parlament in Beantwortung einer schriftlichen Frage des Gerichts eine Tabelle vorgelegt, aus der sich ergibt, dass es die Regeln aus Art. 1 Abs. 6 des Beschlusses Nr. 14/2018 zugunsten von zwölf der Kläger angewandt hat. Im Einklang mit diesen Regeln ist der neue Betrag des Ruhegehalts dieser Kläger, wie er aus der Neuberechnung hervorging, um die Hälfte erhöht worden. Auch hat das Parlament in der mündlichen Verhandlung – von den Klägern unwidersprochen – vorgetragen, dass keiner von ihnen von sich aus die Anwendung von Art. 1 Abs. 7 des Beschlusses Nr. 14/2018 beantragt habe. Nach diesem Absatz lässt sich der Betrag des Ruhegehalts von Personen erhöhen, die keine anderen jährlichen Einkünfte beziehen, deren Betrag den der jährlichen Sozialhilfe übersteigt, die an einer schweren Krankheit leiden, die die Anwendung lebenswichtiger Therapien erforderlich macht, oder an Erkrankungen leiden, die zu einer Invalidität von 100 % führen.
235 In Bezug auf die Konsequenzen der angefochtenen Entscheidungen für die Kläger schließt das Gericht zwar nicht aus, dass diese Konsequenzen einen gewissen Schweregrad erreichen können. Dieser Schweregrad lässt als solcher jedoch nicht den Schluss zu, dass die angefochtenen Entscheidungen Nachteile verursachten, die angesichts der verfolgten Ziele überzogen wären, insbesondere wenn man den Umfang der fraglichen Kürzungen der Ruhegehälter, deren neue absolute Beträge, die in Relation zur Amtszeit des betreffenden ehemaligen Europaabgeordneten bewertet worden sind, sowie die Tatsache betrachtet, dass die neue Berechnungsmethode dem individuellem Beitrag dieses Abgeordneten Rechnung trägt. Darüber hinaus wird keine der von den Klägern in ihren Schriftsätzen aufgeführten Folgen belegt oder bewiesen. Mangels konkreter Anhaltspunkte lässt sich daher nicht feststellen, dass jeder einzelne Kläger eine gemessen an den verfolgten Zielen übermäßige individuelle Belastung tragen würde. Jedenfalls kann die Beurteilung der Rechtmäßigkeit eines Unionsrechtsakts im Hinblick auf die Grundrechte nicht auf einem Vorbringen beruhen, das sich auf die Konsequenzen dieses Rechtsakts in einem Einzelfall stützt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 8. September 2020, Kommission und Rat/Carreras Sequeros u. a., C‑119/19 P und C‑126/19 P, EU:C:2020:676, Rn. 153 und die dort angeführte Rechtsprechung).
236 Somit ist die dritte Rüge einer Verletzung des Eigentumsrechts und damit der erste Teil des vierten Klagegrundes insgesamt zurückzuweisen.
b)
Zweiter Teil des vierten Klagegrundes: Verstoß gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit
237 Im Rahmen des zweiten Teils tragen die Kläger vor, die angefochtenen Entscheidungen stellten eine unverhältnismäßige Verletzung ihres Eigentumsrechts dar, wie dieses durch Art. 17 der Charta gewährleistet werde. Jeder einzelne der Kläger trage unbilligerweise eine übermäßig hohe individuelle Belastung, ohne dass dafür ein dies rechtfertigender Grund bestehe.
238 Das Parlament beantragt, den zweiten Teil des vierten Klagegrundes als unbegründet zurückzuweisen.
239 Da die Kläger lediglich wiederholen, dass die angefochtenen Entscheidungen eine unverhältnismäßige und nicht gerechtfertigte Verletzung ihres Eigentumsrechts darstellten, ist der zweite Teil des vierten Klagegrundes insoweit aus den gleichen wie den oben in den Rn. 222 bis 235 dargelegten Gründen zurückzuweisen.
c)
Dritter Teil des vierten Klagegrundes: Verletzung des Gleichheitssatzes
240 Im Rahmen des dritten Teils tragen die Kläger vor, die angefochtenen Entscheidungen verletzten den Gleichheitssatz. Sie behandelten ehemalige Abgeordnete, die unter Anlage III fielen, und italienische Abgeordnete, auf die sich der Beschluss Nr. 14/2018 unmittelbar beziehe, gleich. Es bestünden jedoch große Unterschiede zwischen den Ruhegehaltsregelungen dieser beiden Gruppen von Abgeordneten. Zum einen sei die in Anlage III der KVR vorgesehene Regelung eine Ruhegehaltsregelung, die auf einem freiwilligen Beitritt beruhe, während die fraglichen italienischen Abgeordneten automatisch der nationalen Ruhegehaltsregelung unterworfen würden. Zum anderen ziele der Beschluss Nr. 14/2018 auf eine Senkung der zulasten der Italienischen Republik gehenden Ausgaben ab, wohingegen die notwendigen Finanzmittel für die Ruhegehälter der Kläger im Haushalt des Parlaments bereitgestellt würden.
241 Auch behandelten die angefochtenen Entscheidungen ehemalige in Italien gewählte Europaabgeordnete anders als ehemalige in Frankreich oder Luxemburg gewählte Europaabgeordnete, obwohl sie allesamt unter dieselbe Anlage III fielen.
242 Schließlich haben die Kläger in Beantwortung einer schriftlichen Frage des Gerichts darüber hinaus eine Einrede der Rechtswidrigkeit in Bezug auf Art. 75 und Anlage III Art. 2 Abs. 1 erhoben. Sollte für die KVR, so die Kläger, davon auszugehen sein, dass sie es dem Parlament ermögliche, endgültig erworbene Ruhegehaltsansprüche in Frage zu stellen, ergäbe sich daraus nämlich eine gekünstelte Gleichbehandlung unterschiedlicher Sachverhalte.
243 Das Parlament beantragt, den dritten Teil des vierten Klagegrundes als unbegründet zurückzuweisen.
244 Nach ständiger Rechtsprechung besagt der Gleichheitsgrundsatz, dass vergleichbare Sachverhalte nicht unterschiedlich und unterschiedliche Sachverhalte nicht gleichbehandelt werden dürfen, es sei denn, dass eine solche Behandlung objektiv gerechtfertigt ist (vgl. Urteil vom 26. November 2013, Kendrion/Kommission, C‑50/12 P, EU:C:2013:771, Rn. 62 und die dort angeführte Rechtsprechung).
245 Festzustellen ist, dass die Kläger dem Parlament im Wesentlichen zum Vorwurf machen, sie Mitgliedern der Abgeordnetenkammer gleichgestellt zu haben, obwohl sich ihre jeweiligen Situationen unterschieden. Darüber hinaus habe das Parlament den Gleichheitssatz auch dadurch verletzt, dass es die Kläger anders als andere ehemalige Europaabgeordnete behandelt habe, obwohl diese unter dieselbe rechtliche Regelung, nämlich Anlage III, fielen.
246 Die vorstehenden Rügen, die in den Klageschriften gegen die angefochtenen Entscheidungen gerichtet werden, ergeben sich jedoch nicht aus diesen Entscheidungen, sondern aus Art. 75 und Art. 2 Abs. 1 der Anlage III. Somit ist das Vorbringen der Kläger ausschließlich anhand dieser beiden Artikel, die im Übrigen Gegenstand der Rechtswidrigkeitseinrede der Kläger sind, zu prüfen.
247 In ihrer Rechtswidrigkeitseinrede tragen die Kläger vor, dass, sollte für die KVR davon auszugehen sein, dass sie es dem Parlament ermögliche, ihre endgültig erworbenen Ruhegehaltsansprüche in Frage zu stellen, Art. 75 und Anlage III Art. 2 Abs. 1 gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung verstießen.
248 In diesem Zusammenhang ist die Rechtswidrigkeitseinrede aus ähnlichen wie den oben in den Rn. 189 bis 191 dargelegten Gründen zurückzuweisen. Sie beruht nämlich auf der unzutreffenden Prämisse, dass das Parlament zur Änderung erworbener Ruhegehaltsansprüche berechtigt sei, was jedoch nicht der Fall ist. Lediglich eine Änderung der Höhe der genannten Ruhegehälter wird auf der Grundlage von Art. 75 und Anlage III Art. 2 Abs. 1 ermöglicht.
249 Des Weiteren vermag keines der von den Klägern vorgebrachten Argumente die Rechtswidrigkeit von Art. 75 oder Anlage III Art. 2 Abs. 1 zu belegen.
250 Erstens rügen die Kläger, dass das Parlament sie nicht genauso wie ehemalige in Frankreich oder Luxemburg gewählte Europaabgeordnete behandele, die sich ebenfalls dazu entschlossen hätten, der Ruhegehaltsregelung von Anlage III beizutreten. Mithin seien die Kläger unterschiedlich behandelt worden, obwohl sie sich in der gleichen Lage wie diese anderen ehemaligen Abgeordneten befänden, da während desselben Zeitraums allesamt die gleichen Funktionen innegehabt hätten.
251 Nach ständiger Rechtsprechung sind die Merkmale unterschiedlicher Sachverhalte und ist somit deren Vergleichbarkeit u. a. im Licht des Ziels und des Zwecks der Unionsmaßnahme, die die fragliche Unterscheidung einführt, zu bestimmen und zu beurteilen (vgl. Urteil vom 16. Dezember 2008, Arcelor Atlantique und Lorraine u. a., C‑127/07, EU:C:2008:728, Rn. 26 und die dort angeführte Rechtsprechung).
252 Es steht insoweit fest, dass die Ruhegehaltsregelung von Anlage III konzipiert worden ist, um eine Gleichbehandlung, insbesondere zwischen ehemaligen in Italien gewählten Europaabgeordneten und Mitgliedern der Abgeordnetenkammer, zu gewährleisten. Dieses Ziel wird in Anlage III Art. 1 Abs. 2 und Art. 2 Abs. 1 ausdrücklich formuliert. Die Gleichbehandlung stellt daher das zentrale Merkmal der in Anlage III festgelegten Regelung dar. Überdies war diese Gleichbehandlung, wie oben in Rn. 209 erwähnt, die einzige konkrete und nicht an Bedingungen geknüpfte Zusicherung des Parlaments an die Kläger, als diese der Ruhegehaltsregelung von Anlage III beigetreten sind.
253 Ziel und Zweck der Anlage III bestehen somit im vorliegenden Fall darin, eine Gleichbehandlung zwischen ehemaligen in Italien gewählten Europaabgeordneten und Mitgliedern der Abgeordnetenkammer zu gewährleisten.
254 Folglich befinden sich die Kläger nicht in der gleichen Lage wie ehemalige in Frankreich oder Luxemburg gewählte Europaabgeordnete, die sich ebenfalls dazu entschlossen haben, der besagten Ruhegehaltsregelung beizutreten. Die Ruhegehälter ehemaliger in diesen beiden Mitgliedstaaten gewählter Europaabgeordneter sollen nämlich nicht durch die im italienischen Recht festgelegten Vorschriften, sondern durch andere, speziell für sie geltende nationale Vorschriften geregelt werden.
255 Zweitens machen die Kläger geltend, das Parlament habe sie genauso wie ehemalige Mitglieder der Abgeordnetenkammer behandelt, obwohl sich ihre jeweiligen Situationen in drei Punkten unterschieden. Zunächst sei der Beitritt zu der in Anlage III festgelegten Regelung freiwillig, während der Beitritt zur italienischen Ruhegehaltsregelung für Mitglieder der Abgeordnetenkammer automatisch erfolge. Sodann habe der Beschluss Nr. 14/2018 zum Ziel, die zulasten der Italienischen Republik gehenden Ausgaben zu senken, während ein solches Ziel nicht für die Kläger gelten könne. Schließlich ergebe sich daraus ein Problem in Bezug auf den effektiven gerichtlichen Rechtsschutz, da ein ehemaliger in Italien gewählter Europaabgeordneter, der nicht auch Mitglied der Abgeordnetenkammer gewesen sei, vor dem Consiglio di giurisdizione della Camera dei deputati (Schlichtungsrat der Abgeordnetenkammer) nicht die Rechtswidrigkeit des Beschlusses Nr. 14/2018 und seiner Erstreckung auf ehemalige Europaabgeordnete geltend machen könne.
256 Im Licht des Zwecks und des Zieles der Anlage III, wie diese oben in den Rn. 252 und 253 beschrieben worden sind, ist das Vorbringen der Kläger im Hinblick auf den Grundsatz der Gleichbehandlung für die Gültigkeit von Art. 75 und Anlage III Art. 2 Abs. 1 ohne Belang.
257 Nach der oben in Rn. 244 angeführten Rechtsprechung verlangt der Grundsatz der Gleichbehandlung nämlich keine vollkommene Identität der Sachverhalte, damit diese gleich behandelt werden dürfen. Diese Sachverhalte müssen lediglich vergleichbar sein. Keines der drei von den Klägern vorgebrachten Argumente lässt jedoch die Annahme zu, dass sich die Situation der Kläger grundlegend von der Situation ehemaliger Mitglieder der Abgeordnetenkammer unterschiede.
258 Das Gericht weist vorsorglich darauf hin, dass die Auffassung der Kläger im Wesentlichen darauf hinausläuft, jegliche Gleichbehandlung zwischen ihnen und den Mitgliedern der Abgeordnetenkammer abzulehnen. Würde dieser Auffassung gefolgt, würde Anlage III jede praktische Wirksamkeit genommen und würde der Wesenskern der Ruhegehaltsregelung schlechthin in Frage gestellt. Die genannte Auffassung würde widersinnigerweise dazu führen, dass die Ruhegehälter der Kläger nicht mehr berechnet und gezahlt werden können, da deren Höhe und die Bedingungen für die Gewährung dieser Ruhegehälter gerade von den italienischen Rechtsvorschriften abhängen.
259 Was speziell den Umstand betrifft, dass es einigen Klägern nicht möglich ist, die Rechtmäßigkeit des Beschlusses Nr. 14/2018 vor dem Consiglio di giurisdizione della Camera dei deputati (Schlichtungsrat der Abgeordnetenkammer) anzufechten, stellt das Gericht schließlich fest, dass sich dieses Verfahrenshindernis nicht aus dem Unionsrecht ergibt, sondern dem italienischen Recht inhärent ist. Jedenfalls bleibt das Gericht im Rahmen einer Klage nach Art. 263 AEUV unzuständig für eine unmittelbare Prüfung der Grundrechtskonformität des italienischen Rechts, und insbesondere im Hinblick auf Recht auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz.
260 Demnach ist der dritte Teil des vierten Klagegrundes und damit dieser Klagegrund insgesamt zurückzuweisen, so dass die Klagen in vollem Umfang abzuweisen sind, ohne dass über die Zulässigkeit des ersten Antrags in der Rechtssache T‑465/19 und über die Zulässigkeit der zweiten Anträge entschieden zu werden braucht (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 26. Februar 2002, Rat/Boehringer, C‑23/00 P, EU:C:2002:118, Rn. 52).
Kosten
261 Nach Art. 134 Abs. 1 der Verfahrensordnung ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Da die Kläger unterlegen sind, sind ihnen gemäß dem Antrag des Parlaments ihre eigenen Kosten und die Kosten des Parlaments aufzuerlegen.
Aus diesen Gründen hat
DAS GERICHT (Achte erweiterte Kammer)
für Recht erkannt und entschieden:
1. Die Klage in der Rechtssache T‑453/19, Panusa/Parlament, wird als unzulässig abgewiesen.
2. Die anderen Klagen werden abgewiesen.
3. Frau Maria Teresa Coppo Gavazzi und die weiteren im Anhang des Urteils namentlich aufgeführten Kläger tragen neben ihren eigenen Kosten die Kosten des Europäischen Parlaments.
Svenningsen
Barents
Mac Eochaidh
Pynnä
Laitenberger
Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 15. Oktober 2020.
Unterschriften
(*1) Verfahrenssprache: Italienisch.
(1 ) Die Liste der übrigen Kläger ist nur der den Parteien zugestellten Fassung als Anhang beigefügt.
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Urteil des Gerichts (Fünfte Kammer) vom 20. Oktober 2016.#Dr. August Wolff GmbH & Co. KG Arzneimittel und Remedia d.o.o. gegen Europäische Kommission.#Humanarzneimittel – Art. 31 der Richtlinie 2001/83/EG – Art. 116 der Richtlinie 2001/83 – Wirkstoff Estradiol – Beschluss der Kommission, mit dem gegenüber den Mitgliedstaaten der Widerruf bzw. die Änderung der nationalen Genehmigungen für das Inverkehrbringen von Arzneimitteln zur topischen Anwendung mit einem Massenanteil von 0,01 % Estradiol angeordnet wird – Beweislast – Verhältnismäßigkeit – Gleichbehandlung.#Rechtssache T-672/14.
|
62014TJ0672
|
ECLI:EU:T:2016:623
| 2016-10-20T00:00:00 |
Gericht
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EUR-Lex - CELEX:62014TJ0672 - EN - EUR-Lex
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Urteil des Gerichtshofs (Vierte Kammer) vom 3. Juli 2025.#Strafverfahren gegen P. B. und R. S.#Vorabentscheidungsersuchen des Wojskowy Sąd Okręgowy w Warszawie.#Vorlage zur Vorabentscheidung – Rechtsstaatlichkeit – Unabhängigkeit der Justiz – Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV – Wirksamer Rechtsschutz in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen – Grundsatz der Unabsetzbarkeit von Richtern – Militärrichter, der im Hinblick auf den beruflichen Militärdienst für untauglich erklärt wurde – Nationale Regelung, die die Versetzung dieses Richters in den vorzeitigen Ruhestand vorschreibt.#Verbundene Rechtssachen C-646/23 und C-661/23.
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62023CJ0646
|
ECLI:EU:C:2025:519
| 2025-07-03T00:00:00 |
Ćapeta, Gerichtshof
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62023CJ0646
URTEIL DES GERICHTSHOFS (Vierte Kammer)
3. Juli 2025 (*1)
„Vorlage zur Vorabentscheidung – Rechtsstaatlichkeit – Unabhängigkeit der Justiz – Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV – Wirksamer Rechtsschutz in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen – Grundsatz der Unabsetzbarkeit von Richtern – Militärrichter, der im Hinblick auf den beruflichen Militärdienst für untauglich erklärt wurde – Nationale Regelung, die die Versetzung dieses Richters in den vorzeitigen Ruhestand vorschreibt“
In den verbundenen Rechtssachen C‑646/23 [Lita] und C‑661/23 [Jeszek] (i
)
betreffend zwei Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Wojskowy Sąd Okręgowy w Warszawie (Regionalmilitärgericht Warschau, Polen) mit Entscheidungen vom 25. Oktober 2023 und vom 9. November 2023, beim Gerichtshof eingegangen am 27. Oktober 2023 und am 9. November 2023, in den Strafverfahren gegen
P. B. (C‑646/23),
R. S. (C‑661/23),
Beteiligte:
Prokuratura Rejonowa w Lublinie (C‑646/23),
Prokuratura Rejonowa Warszawa-Ursynów w Warszawie (C‑661/23),
erlässt
DER GERICHTSHOF (Vierte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten I. Jarukaitis (Berichterstatter), der Richter N. Jääskinen, A. Arabadjiev und M. Condinanzi sowie der Richterin R. Frendo,
Generalanwältin: T. Ćapeta,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
–
der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna und S. Żyrek als Bevollmächtigte,
–
der Europäischen Kommission, vertreten durch K. Herrmann, P. Stancanelli und P. J. O. Van Nuffel als Bevollmächtigte,
aufgrund der nach Anhörung der Generalanwältin ergangenen Entscheidung, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,
folgendes
Urteil
1 Die Vorabentscheidungsersuchen betreffen die Auslegung von Art. 2, Art. 4 Abs. 2 und 3 sowie Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV in Verbindung mit der Richtlinie (EU) 2016/343 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. März 2016 über die Stärkung bestimmter Aspekte der Unschuldsvermutung und des Rechts auf Anwesenheit in der Verhandlung in Strafverfahren (ABl. 2016, L 65, S. 1), von Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta), von Art. 267 AEUV sowie der Grundsätze des Vorrangs und der Effektivität des Unionsrechts und der Gewaltenteilung.
2 Sie ergehen im Rahmen von Strafverfahren, die gegen P. B. wegen Kraftstoffdiebstahls (Rechtssache C‑646/23) und gegen R. S. wegen Verletzung seiner Pflicht zur Anwesenheit in seiner Militäreinheit (Rechtssache C‑661/23) eingeleitet wurden.
Polnisches Recht
Verfassung
3 Art. 175 Abs. 1 der Konstytucja Rzeczypospolitej Polskiej (Verfassung der Republik Polen, im Folgenden: Verfassung) bestimmt:
„Die Rechtsprechung in der Republik Polen üben [der Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht, Polen)], ordentliche Gerichte, Verwaltungs- und Militärgerichte aus. …“
4 Art. 176 Abs. 2 der Verfassung lautet:
„Den Aufbau und die Zuständigkeiten der Gerichte sowie das Gerichtsverfahren regeln Gesetze.“
5 Art. 179 der Verfassung sieht vor:
„Die Richter werden vom Präsidenten der Republik auf Vorschlag [der Krajowa Rada Sądownictwa (Landesjustizrat, Polen, im Folgenden: KRS)] auf unbestimmte Zeit ernannt.“
6 Art. 180 der Verfassung sieht vor:
„1. Die Richter sind unabsetzbar.
2. Gegen seinen Willen darf ein Richter nur durch eine gerichtliche Entscheidung und nur in den gesetzlich bestimmten Fällen seines Amtes enthoben werden, von der Amtsausübung suspendiert oder an einen anderen Ort oder auf eine andere Stelle versetzt werden.
3. Ein Richter kann wegen einer Krankheit oder eines Gebrechens, aufgrund deren er sein Amt nicht ausüben kann, in den Ruhestand versetzt werden. Das Verfahren und der Rechtsweg werden gesetzlich geregelt. …“
Gesetz über die ordentlichen Gerichte
7 Art. 70 §§ 1 und 2 der Ustawa – Prawo o ustroju sądów powszechnych (Gesetz über die Verfassung der ordentlichen Gerichte) vom 27. Juli 2001 (Dz. U. Nr. 98, Pos. 1070) in der auf die Ausgangsverfahren anwendbaren Fassung (im Folgenden: Gesetz über die ordentlichen Gerichte) sieht vor:
„§ 1. Ein Richter wird auf seinen Antrag oder auf Antrag des zuständigen Kollegiums des Gerichts in den Ruhestand versetzt, wenn er infolge einer Krankheit oder eines Gebrechens … für dauerhaft untauglich erklärt worden ist, das Richteramt auszuüben.
§ 2. Der Antrag auf Versetzung in den Ruhestand und auf Prüfung sowie Entscheidung, ob ein Richter nicht tauglich ist, sein Amt auszuüben, kann von dem betreffenden Richter oder dem zuständigen Kollegium des Gerichts gestellt werden. …“
8 Art. 71 §§ 2 und 3 des Gesetzes über die ordentlichen Gerichte bestimmt:
„§ 2. Ein Richter kann in den Ruhestand versetzt werden, wenn er sich ohne triftigen Grund nicht der Prüfung nach Art. 70 § 2 unterzogen hat, wenn die Prüfung vom Kollegium des Gerichts oder vom Justizminister beantragt worden ist.
§ 3. Ein Richter kann auf Antrag des Justizministers auch im Fall von Änderungen im Aufbau des Gerichtswesens oder einer Änderung der Grenzen der Gerichtsbezirke in den Ruhestand versetzt werden, wenn er nicht an ein anderes Gericht versetzt worden ist.“
9 In Art. 73 §§ 1 bis 3 des Gesetzes über die ordentlichen Gerichte heißt es:
„§ 1. Bei Versetzung eines Richters in den Ruhestand im Sinne der Art. 70 und 71 entscheidet die [KRS] auf Antrag des Richters, des Kollegiums des zuständigen Gerichts oder des Justizministers.
§ 2. Gegen die Entscheidungen der [KRS] in den Fällen der Art. 70 und 71 kann beim [Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht)] ein Rechtsbehelf eingelegt werden.
§ 3. Der Rechtsbehelf ist über die [KRS] … einzulegen. Der Rechtsbehelf kann von dem Richter, dem Präsidenten des zuständigen Gerichts und dem Justizminister eingelegt werden …“
Gesetz über die Militärgerichte
10 Art. 22 § 1 der Ustawa – Prawo o ustroju sądów wojskowych (Gesetz über die Verfassung der Militärgerichte) vom 21. August 1997 (Dz. U. Nr. 117, Pos. 753) in der auf die Ausgangsverfahren anwendbaren Fassung (im Folgenden: Gesetz über die Militärgerichte) sieht vor:
„Richter eines Militärgerichts … kann ein Offizier sein, der sich im beruflichen Militärdienst befindet …“
11 Art. 23 § 1 des Gesetzes über die Militärgerichte bestimmt:
„Ein Richter eines Militärgerichts ist eine Person, die vom Präsidenten der Republik Polen in dieses Amt ernannt wurde und ihm gegenüber einen Eid geleistet hat. …“
12 Art. 35 §§ 1 und 4 des Gesetzes über die Militärgerichte sieht vor:
„§ 1. Ein Richter kann nicht vor Beendigung seines Dienstverhältnisses von Rechts wegen oder vor dem Verlust seines Amtes oder vor seiner Versetzung in den Ruhestand aus dem beruflichen Militärdienst entlassen werden.
…
§ 4. Wird ein Richter durch eine Entscheidung des militärischen Ärzteausschusses für dauerhaft untauglich für den beruflichen Militärdienst erklärt, schlägt die [KRS] auf Initiative des Betroffenen dem Präsidenten der Republik Polen – ohne Konsultation der zuständigen Richterversammlung – vor, den Richter des Militärgerichts zum Richter eines ordentlichen Gerichts zu ernennen.“
13 Art. 70 §§ 1 und 2 des Gesetzes über die Militärgerichte bestimmt:
„§ 1. Die Bestimmungen der … Art. 70, 71 [und] 73… des [Gesetzes über die ordentlichen Gerichte] gelten entsprechend für Militärgerichte …
§ 2. In Angelegenheiten, die durch [dieses] Gesetz nicht geregelt sind, richten sich die Rechte und Pflichten der Richter der Militärgerichte nach den Bestimmungen über den Berufsmilitärdienst.“
Gesetz über die Landesverteidigung
14 In Art. 226 Nr. 3 der Ustawa o obronie Ojczyzny (Gesetz über die Landesverteidigung) vom 11. März 2022 (Dz. U., Pos. 655) in der am 23. März 2022 in Kraft getretenen Fassung (im Folgenden: Gesetz über die Landesverteidigung) heißt es:
„Ein Berufssoldat wird aus dem beruflichen Militärdienst entlassen aufgrund: … der Feststellung der Dienstuntauglichkeit durch den militärischen Ärzteausschuss. …“
15 Art. 229 Abs. 2 des Gesetzes über die Landesverteidigung sieht vor:
„Die Entlassung aus dem beruflichen Militärdienst in dem in Art. 226 [Nr. 3] [genannten Fall] wird, vorbehaltlich von Art. 233, von Rechts wegen wirksam ab dem Tag, an dem das betreffende Urteil rechtskräftig oder die Entscheidung bestandskräftig geworden ist, oder ab dem Tag, an dem die Umstände eingetreten sind, die zur Entlassung des Berufssoldaten aus dem Dienst geführt haben. …“
16 Art. 233 des Gesetzes über die Landesverteidigung bestimmt:
„Wird ein Richter am Militärgericht oder ein Militärstaatsanwalt, der Berufssoldat ist, aus dem beruflichen Militärdienst entlassen, verbleibt er im Amt als Richter oder Staatsanwalt in der betreffenden Organisationseinheit des Gerichts oder der Staatsanwaltschaft, unabhängig von der Anzahl der Stellen in dieser Einheit. …“
Änderungsgesetz
17 Durch Art. 10 der Ustawa o zmianie ustawy – Kodeks cywilny oraz niektórych innych ustaw (Gesetz zur Änderung des Zivilgesetzbuchs und einiger anderer Gesetze) vom 28. Juli 2023 (Dz. U., Pos. 1615, im Folgenden: Änderungsgesetz) wurde Art. 233 des Gesetzes über die Landesverteidigung wie folgt geändert:
„Wird ein Militärstaatsanwalt, der Berufssoldat ist, aus dem beruflichen Militärdienst entlassen, bleibt er als Staatsanwalt in der betreffenden Organisationseinheit der Staatsanwaltschaft tätig, unabhängig von der Anzahl der staatsanwaltschaftlichen Stellen in dieser Einheit.“
18 Art. 13 des Änderungsgesetzes bestimmt:
„Ein Richter am Militärgericht, der aus dem beruflichen Militärdienst entlassen wurde und am Tag des Inkrafttretens dieses Gesetzes weiterhin ein Richteramt bekleidet, wird an diesem Tag in den Ruhestand versetzt.“
19 Nach Art. 14 dieses Gesetzes traten seine Art. 10 und 13 am 15. November 2023 in Kraft.
Ausgangsverfahren und Vorlagefragen
20 P. B. und R. S., bei denen es sich um Berufssoldaten handelt, werden in den Ausgangsverfahren strafrechtlich verfolgt – P. B. wegen Diebstahls von Kraftstoff und R. S. wegen Verletzung seiner Pflicht zur Anwesenheit in seiner Militäreinheit. Mit zwei verschiedenen Urteilen sprach der Wojskowy Sąd Garnizonowy w Warszawie (Garnisonsgericht erster Instanz Warschau, Polen) P. B. und R. S. schuldig, diese Straftaten begangen zu haben. P. B. wurde zur Zahlung von „Tagessätzen“ verurteilt, während bei R. S. ein Strafvorbehalt mit einer Bewährungszeit von einem Jahr ausgesprochen wurde.
21 P. B. und R. S. legten gegen diese Urteile Berufung beim Wojskowy Sąd Okręgowy w Warszawie (Regionalmilitärgericht Warschau, Polen), dem vorlegenden Gericht, ein. Die beiden Rechtssachen wurden einem Spruchkörper dieses Gerichts zugewiesen, der mit Richter P. R. als Einzelrichter besetzt war, der am 25. Oktober 2023 in der Rechtssache betreffend P. B. und am 9. November 2023 in der Rechtssache betreffend R. S. jeweils eine mündliche Verhandlung durchführte.
22 Nach den Angaben des vorlegenden Gerichts in seinen Vorabentscheidungsersuchen wurde Richter P. R., der am 29. Januar 2013 an diesem Gericht ernannt worden war, im Juli 2017 wegen seines Gesundheitszustands im Hinblick auf den beruflichen Militärdienst für untauglich erklärt, zugleich aber für tauglich, sein Richteramt weiter auszuüben. Daher beantragte er gemäß Art. 35 § 4 des Gesetzes über die Militärgerichte seine Versetzung auf eine gleichwertige Stelle als Richter an einem ordentlichen Gericht.
23 Am 25. Juli 2017 schlug die KRS dem Präsidenten der Republik Polen vor, diesem Antrag stattzugeben. Am 27. Dezember 2021, d. h. mehr als vier Jahre später, lehnte dieser jedoch die Ernennung von Richter P. R. auf die gewünschte Stelle ab.
24 Außerdem legte der Justizminister im Dezember 2019 der KRS einen Vorschlag zur Versetzung von Richter P. R. in den Ruhestand vor. Die KRS wies den Vorschlag zurück, weil Richter P. R. nicht für untauglich erklärt worden sei, das Richteramt auszuüben. Nachdem der Verteidigungsminister im Januar 2022 einen ähnlichen Antrag gestellt hatte, lehnte es die KRS am 12. Juni 2023 ab, eine solche Maßnahme anzuordnen, da am 24. April 2022 Art. 233 des Gesetzes über die Landesverteidigung in Kraft getreten sei, der es jedem Militärrichter, der aus seinem beruflichen Militärdienst entlassen worden sei, gestatte, sein Amt weiter auszuüben.
25 Aus demselben Grund entließ der Präsident des Wojskowy Sąd Okręgowy w Warszawie (Regionalmilitärgericht Warschau) Richter P. R. aus seinem beruflichen Militärdienst und behielt ihn im Dienst des vorlegenden Gerichts, wo er ab März 2023 erneut tätig war.
26 Mit dem Änderungsgesetz änderte der Sejm Rzeczypospolitej Polskiej (Erste Kammer des Parlaments der Republik Polen) jedoch zum einen Art. 233 des Gesetzes über die Landesverteidigung dahin gehend, dass die Möglichkeit für einen Militärrichter oder ‑staatsanwalt, nach seiner Entlassung aus dem beruflichen Militärdienst sein Amt weiter auszuüben, nur noch für Militärstaatsanwälte gilt, und legte zum anderen fest, dass jeder Richter, der aus seinem beruflichen Militärdienst entlassen wurde, aber am Tag des Inkrafttretens des Änderungsgesetzes noch im Amt war, an diesem Tag von Amts wegen in den Ruhestand zu versetzen war.
27 Das vorlegende Gericht hat Zweifel, ob es nach dieser Gesetzesänderung die Kriterien eines „unabhängigen und unparteiischen, zuvor durch Gesetz errichteten Gerichts“ im Sinne des Unionsrechts erfüllt.
28 Die Bestimmung, die dem Richter eines Militärgerichts die Möglichkeit genommen habe, in seinem Amt zu verbleiben, wenn er aus seinem beruflichen Militärdienst entlassen worden sei, während sie diese Möglichkeit aber für Militärstaatsanwälte, die sich in einer ähnlichen Situation befänden, beibehalten habe, sei ohne zwingendes öffentliches Interesse und sogar ohne jegliche Begründung erlassen worden und verstoße gegen Art. 180 Abs. 3 der Verfassung, der die Versetzung eines Richters in den vorzeitigen Ruhestand nur bei Krankheit oder Gebrechen, aufgrund deren er sein Amt nicht ausüben könne, vorsehe.
29 Die Versetzung von Richter P. R. in den vorzeitigen Ruhestand infolge des Änderungsgesetzes wirke sich auf die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit des vorlegenden Gerichts und damit auf die Rechtmäßigkeit der Strafverfahren gegen P. B. und R. S. sowie auf die Wahrung der Unschuldsvermutung aus, die durch die Richtlinie 2016/343 gewährleistet werden solle.
30 Das vorlegende Gericht weist außerdem darauf hin, dass die Bestimmungen der Art. 10 und 13 des Änderungsgesetzes in keinem Zusammenhang mit dem ursprünglichen Zweck dieses Gesetzes stünden, der nichts mit der Organisation der Justiz zu tun gehabt habe.
31 In Anbetracht der derzeitigen Zusammensetzung und Rechtsprechung des Trybunał Konstytucyjny (Verfassungsgerichtshof, Polen) könne die Verfassungsmäßigkeit dieser Bestimmungen nicht überprüft werden; zudem sei die gegen Richter P. R. von Amts wegen erlassene Maßnahme der Versetzung in den Ruhestand nicht gerichtlich überprüfbar.
32 Im Übrigen seien die Art. 10 und 13 des Änderungsgesetzes in Wirklichkeit Ad-hominem-Bestimmungen, die nur auf Richter P. R. abzielten. Die Einführung dieser Bestimmungen erkläre sich mit dem Willen der polnischen Regierung, diesen Richter aufgrund seiner öffentlichen Stellungnahmen zugunsten der Rechtsstaatlichkeit und seiner früheren Tätigkeit als Vizepräsident der KRS – in ihrer früheren Zusammensetzung – aus dem Amt zu drängen. Richter P. R. sei sowohl von staatlichen Behörden als auch von Medien, die der polnischen Regierung nahe stünden, drangsaliert worden. Es seien falsche Informationen über sein Privatleben verbreitet worden, und gegen ihn seien grundlos Strafverfahren eingeleitet worden. Darüber hinaus sei er ohne Grund seines Amtes als Präsident des Wojskowy Sąd Garnizonowy w Warszawie (Garnisonsgericht erster Instanz Warschau, Polen) enthoben worden und sei mehrfach unter Druck gesetzt worden, vorzeitig in den Ruhestand zu treten.
33 In diesem Zusammenhang stellt sich das vorlegende Gericht erstens die Frage, ob das Unionsrecht der im Änderungsgesetz vorgesehenen Maßnahme der Versetzung in den Ruhestand entgegensteht. Insoweit sei zunächst zu bedenken, dass diese Maßnahme nur einen einzigen Richter betreffe und keine Militärstaatsanwälte erfasse, obwohl diese sich in einer ähnlichen Situation wie dieser Richter befänden, und dass diese Bestimmung Teil eines Gesetzes sei, das nicht die Organisation der Gerichte betreffe. Sodann sei diese Maßnahme durch keinen Grund des öffentlichen Interesses gerechtfertigt, sondern habe vielmehr Strafcharakter gegenüber dem betreffenden Richter, der aufgrund seiner Tätigkeiten zum Schutz der richterlichen Unabhängigkeit dem Vergeltungsdrang der Exekutive ausgesetzt sei. Schließlich stehe diesem Richter kein Rechtsbehelf zur Verfügung, um seine Versetzung in den vorzeitigen Ruhestand anzufechten.
34 Zweitens möchte das vorlegende Gericht wissen, ob das Unionsrecht ihm erlaubt, die Anwendung der Art. 10 und 13 des Änderungsgesetzes bis zur Beantwortung seiner Vorlagefragen durch den Gerichtshof vorläufig auszusetzen. Hierzu führt das vorlegende Gericht aus, dass das polnische Recht keinen Mechanismus vorsehe, der die Aussetzung dieser Bestimmungen erlaube, und ist der Ansicht, dass allein eine solche Maßnahme, die es Richter P. R. ermögliche, bis zum Erlass des Urteils des Gerichtshofs seine richterlichen Funktionen weiter auszuüben, die volle Wirksamkeit des Unionsrechts gewährleisten könne.
35 Drittens und letztens wirft das vorlegende Gericht die Frage auf, ob es in dem Fall, dass der Gerichtshof der Auffassung sein sollte, dass Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV der Anwendung von Art. 13 des Änderungsgesetzes entgegensteht, verpflichtet wäre, diese Bestimmung unangewendet zu lassen, und ob die Folge davon wäre, dass Richter P. R. nicht in den Ruhestand versetzt würde.
36 Unter diesen Umständen hat der Wojskowy Sąd Okręgowy w Warszawie (Regionalmilitärgericht Warschau) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof in der Rechtssache C‑646/23 folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
1. Sind Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV und Art. 47 der Charta in Verbindung mit den Bestimmungen der Richtlinie 2016/343 dahin auszulegen, dass sie nationalen Vorschriften wie den Art. 10 und 13 des Änderungsgesetzes, wonach ein Richter, der mit einem Berufungsverfahren in einer den Bestimmungen der Richtlinie 2016/343 unterliegenden Rechtssache befasst ist, von Rechts wegen in den Ruhestand versetzt wird, entgegenstehen, wenn erstens diese Vorschriften so konstruiert wurden, dass sie nur einen von allen im aktiven Dienst befindlichen Richtern betreffen, zweitens die Vorschriften die sich in einer vergleichbaren Situation befindenden Staatsanwälte nicht erfassen, obwohl nach der bisherigen Rechtslage Staatsanwälte und Richter, die sich in einer Situation befanden, die mit der des mit dem Berufungsverfahren befassten Richters vergleichbar war, gleich behandelt wurden, drittens das Gesetz, in dem diese Vorschriften enthalten sind, nicht die Organisation der Gerichte, sondern einen vollkommen anderen Bereich betrifft und die Begründung dieses Gesetzes in keiner Weise die Gründe für die Einführung dieser Vorschriften erläutert, weder ein wichtiges öffentliches Interesse nennt, dem ihre Einführung dienen würde, noch die Gründe darlegt, aus denen ihre Einführung im Hinblick auf diese Ziele verhältnismäßig ist, und viertens weder diese Vorschriften noch eine andere nationale Rechtsvorschrift die Möglichkeit vorsehen, dass ein Gericht oder eine andere Stelle über ein Rechtsmittel oder einen sonstigen Rechtsbehelf des Richters, den diese Vorschriften betreffen, entscheidet, um zu überprüfen, ob seine Versetzung in den Ruhestand begründet ist oder diese Vorschriften mit höherrangigen nationalen Rechtsvorschriften, den Bestimmungen des Unionsrechts oder dem Völkerrecht vereinbar sind?
2. Ist es für die Beantwortung der ersten Frage von Bedeutung, dass der Richter, den Art. 13 des Änderungsgesetzes betrifft, zuvor aufgrund seiner Tätigkeit zum Schutz der Unabhängigkeit der Gerichte und der richterlichen Unabhängigkeit Repressionen durch die Exekutive ausgesetzt war, die versuchte, ihn auf der Grundlage der zuvor geltenden Vorschriften in den Ruhestand zu versetzen, und die genannte nationale Rechtsvorschrift aufgrund des Scheiterns dieser Versuche erlassen wurde? Ist es für die Antwort von Bedeutung, dass diese Vorschrift nach Ansicht des vorlegenden Gerichts keinem wichtigen öffentlichen Interesse dient, sondern repressiven Charakter hat?
3. Sind Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV, Art. 47 der Charta, Art. 2 und Art. 4 Abs. 3 EUV sowie die Grundsätze des Vorrangs des Unionsrechts und des wirksamen gerichtlichen Rechtsschutzes im Licht des Urteils des Gerichtshofs vom 13. März 2007, Unibet (C‑432/05, EU:C:2007:163), dahin auszulegen, dass ein Gericht, an dem der von den ersten beiden Fragen erfasste Richter tätig ist, befugt ist, die Anwendung der in der ersten Frage genannten nationalen Rechtsvorschrift, die die Versetzung dieses Richters in den Ruhestand vorsieht, von Amts wegen auszusetzen und in dieser sowie in anderen Rechtssachen bis zur Antwort des Gerichtshofs weiter Recht zu sprechen, soweit es eine solche Antwort für erforderlich hält, um über den bei ihm anhängigen Fall im Einklang mit den anwendbaren Bestimmungen des Unionsrechts zu entscheiden?
4. Sind die in der dritten Frage genannten Bestimmungen und Grundsätze dahin auszulegen, dass, sofern der Gerichtshof die erste Frage unter Berücksichtigung der in der zweiten Frage dargelegten Umstände bejaht, die in der ersten Frage genannte nationale Rechtsvorschrift, die die Versetzung eines Richters in den Ruhestand vorsieht, nicht angewendet werden kann und der Richter nicht in den Ruhestand versetzt wird, es sei denn, es besteht eine andere Rechtsgrundlage hierfür?
37 In der Rechtssache C‑661/23 hat der Wojskowy Sąd Okręgowy w Warszawie (Regionalmilitärgericht Warschau) ebenfalls beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
1. Ist das Unionsrecht – darunter Art. 2 EUV und der darin zum Ausdruck kommende Wert der Rechtsstaatlichkeit sowie Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV in Verbindung mit Art. 47 der Charta – dahin auszulegen, dass es nationalen Vorschriften wie den folgenden entgegensteht:
a)
Art. 233 des Gesetzes über die Landesverteidigung in der durch das Änderungsgesetz geänderten Fassung, wonach das Recht eines Richters an einem nationalen Militärgericht, nach seiner Entlassung aus dem beruflichen Militärdienst (weil er in Bezug auf den beruflichen Militärdienst für dauerhaft untauglich erklärt wurde) im Amt als Richter an dem betreffenden Gericht zu verbleiben, aufgehoben wurde, was auch das Recht dieses Richters umfasst, den Spruchkörpern dieses Gerichts in Rechtssachen anzugehören, die ihm vor dem Inkrafttreten dieser Vorschriften zugewiesen worden sind;
b)
Art. 13 des Änderungsgesetzes, wonach ein Richter an einem nationalen Militärgericht, der unter den oben beschriebenen Umständen aus dem beruflichen Militärdienst entlassen wurde, zum Zeitpunkt des Inkrafttretens der unter Buchst. a genannten Vorschriften von Gesetzes wegen in den Ruhestand versetzt wird?
Ist es für die Beantwortung dieser Frage von Bedeutung, dass sich die in Frage 1 Buchst. b genannte Vorschrift zu diesem Zeitpunkt und in der Zukunft ausschließlich an einen Richter, der dem Spruchkörper des vorlegenden Gerichts angehört, richtet und richten wird (sogenannte lex ad hominem) und dass gleichzeitig gegenüber den Militärstaatsanwälten deren Recht, trotz Entlassung aus dem beruflichen Militärdienst auf ihrem Posten als Militärstaatsanwalt tätig zu bleiben, aufrechterhalten wurde?
2. Ist das Unionsrecht – einschließlich der in der ersten Frage genannten Vorschriften – dahin auszulegen, dass die unter den in der ersten Frage genannten Umständen von Rechts wegen erfolgende Versetzung eines Richters an einem nationalen Militärgericht in den Ruhestand unwirksam ist, so dass dieser Richter weiterhin dem Spruchkörper des vorlegenden Gerichts angehören kann und alle Organe des Staates, einschließlich der Organe des Gerichts, verpflichtet sind, ihm zu ermöglichen, diesem Spruchkörper weiterhin nach den bisherigen Grundsätzen anzugehören?
3. Ist das Unionsrecht – darunter Art. 2 EUV und der darin zum Ausdruck kommende Wert der Rechtsstaatlichkeit, Art. 4 Abs. 3 EUV und der darin zum Ausdruck kommende Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit, Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV, Art. 267 AEUV und die Grundsätze der Wirksamkeit und des Vorrangs des Unionsrechts einerseits und Art. 2 EUV und der darin zum Ausdruck kommende Wert der Demokratie, Art. 4 Abs. 2 EUV und der Grundsatz der Gewaltenteilung andererseits – dahin auszulegen, dass sich das Recht bzw. die Pflicht des nationalen Gerichts, die Anwendung der nationalen Vorschriften, die Gegenstand des Vorabentscheidungsersuchens sind, einschließlich der Vorschriften mit Gesetzesrang, auszusetzen, unmittelbar aus dem Unionsrecht ergibt?
Ist es für die Beantwortung dieser Frage von Bedeutung, dass das nationale Recht die Möglichkeit einer Aussetzung der Anwendung der nationalen Vorschriften durch ein Gericht, das ein Vorabentscheidungsersuchen eingereicht hat, nicht vorsieht und dass es unter den Umständen des Ausgangsverfahrens erforderlich ist, eine Entscheidung über eine solche Aussetzung zu erlassen, bis das vorlegende Gericht die in der Antwort auf dieses Vorabentscheidungsersuchen enthaltenen Hinweise zur Auslegung des Unionsrechts berücksichtigt hat?
Verfahren vor dem Gerichtshof
Zur Verbindung der Rechtssachen
38 Mit Entscheidung des Präsidenten des Gerichtshofs vom 6. Dezember 2023 sind die Rechtssachen C‑646/23 und C‑661/23 zu gemeinsamem schriftlichen und mündlichen Verfahren sowie zu gemeinsamem Urteil verbunden worden.
Zu den Anträgen auf Anwendung des beschleunigten Vorabentscheidungsverfahrens
39 Das vorlegende Gericht hat beantragt, die vorliegenden Vorabentscheidungsersuchen dem beschleunigten Verfahren nach Art. 105 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs zu unterwerfen.
40 Zur Stützung dieser Anträge hat es im Wesentlichen geltend gemacht, dass die Vorlagefragen das Grundrecht auf wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz vor einem unabhängigen, unparteiischen und zuvor durch Gesetz errichteten Gericht beträfen und dass derart wesentliche Erwägungen eine zügige Antwort des Gerichtshofs rechtfertigten.
41 Nach Art. 105 Abs. 1 der Verfahrensordnung kann der Präsident des Gerichtshofs auf Antrag des vorlegenden Gerichts oder ausnahmsweise von Amts wegen, nach Anhörung des Berichterstatters und des Generalanwalts, entscheiden, eine Vorlage zur Vorabentscheidung einem beschleunigten Verfahren unter Abweichung von den Bestimmungen dieser Verfahrensordnung zu unterwerfen, wenn die Art der Rechtssache ihre rasche Erledigung erfordert.
42 Mit Beschluss vom 30. Januar 2024, Lita (C‑646/23 und C‑661/23, EU:C:2024:107), hat der Präsident des Gerichtshofs nach Anhörung des Berichterstatters und der Generalanwältin entschieden, dass die Anträge, die vorliegenden Vorabentscheidungsersuchen dem beschleunigten Verfahren zu unterwerfen, zurückzuweisen sind, weil zum einen die nationale Regelung, die vorsieht, dass ein Richter eines Militärgerichts, der im Hinblick auf den beruflichen Militärdienst für untauglich erklärt wurde, am 15. November 2023 von Amts wegen in den Ruhestand versetzt wird, nur einen einzigen Militärrichter und nicht eine beträchtliche Zahl von Richtern betrifft, so dass die Anwendung dieser Regelung nicht geeignet ist, das Funktionieren der polnischen Justiz grundlegend in Frage zu stellen, und weil zum anderen die Anwendung eines beschleunigten Verfahrens es dem Gerichtshof nicht ermöglicht hätte, eine Entscheidung innerhalb einer Frist zu erlassen, die das vorlegende Gericht in die Lage versetzt hätte, die Ausgangsverfahren vor dem Inkrafttreten dieser Regelung zu entscheiden.
Zu den nach der Einreichung der Vorabentscheidungsersuchen eingetretenen Entwicklungen
43 Mit Schreiben vom 19. April 2024 hat das vorlegende Gericht darauf hingewiesen, dass Richter P. R. beim Sąd Rejonowy dla Warszawy-Śródmieścia w Warszawie (Rayongericht Warschau-Śródmieście, Polen) einen Antrag auf Feststellung des Bestehens seines Arbeitsverhältnisses gestellt habe und dass er infolge von Sicherungsmaßnahmen dieses Gerichts vom Präsidenten des Wojskowy Sąd Okręgowy w Warszawie (Regionalmilitärgericht Warschau) vorübergehend in seine richterlichen Funktionen wiedereingesetzt worden sei.
44 In Beantwortung eines Auskunftsersuchens des Gerichtshofs hat das vorlegende Gericht jedoch klargestellt, dass der Sąd Rejonowy dla Warszawy-Śródmieścia w Warszawie (Rayongericht Warschau-Śródmieście) im Rahmen des Verfahrens, in dem geprüft werde, ob in Bezug auf Richter P. R. ein Arbeitsverhältnis bestehe, weder über die Gültigkeit der Art. 10 und 13 des Änderungsgesetzes entscheiden noch die bereits durch diese Bestimmungen hervorgerufenen Wirkungen in Frage stellen könne.
45 Am 29. Januar 2025 hat das vorlegende Gericht dem Gerichtshof einen Beschluss vom 7. Januar 2025 übermittelt, mit dem der Sąd Rejonowy dla Warszawy-Śródmieścia w Warszawie (Rayongericht Warschau-Śródmieście) das bei ihm anhängige Verfahren bis zur Entscheidung des Gerichtshofs ausgesetzt hat.
Zur Zuständigkeit des Gerichtshofs
46 Zunächst ist daran zu erinnern, dass es nach ständiger Rechtsprechung Sache des Gerichtshofs selbst ist, die Umstände, unter denen er vom nationalen Gericht angerufen wurde, zu untersuchen, um seine eigene Zuständigkeit oder die Zulässigkeit des ihm vorgelegten Ersuchens zu überprüfen (Urteil vom 11. Juli 2024, Hann‑Invest u. a., C‑554/21, C‑622/21 und C‑727/21, EU:C:2024:594, Rn. 29 und die dort angeführte Rechtsprechung).
47 Die Vorlagefragen betreffen die Auslegung von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV in Verbindung mit den Art. 2 und 4 EUV und der Richtlinie 2016/343 sowie die Auslegung von Art. 47 der Charta.
48 Was erstens Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV betrifft, ist diese Bestimmung in materieller Hinsicht auf jedes nationale Gericht anwendbar, das über Fragen der Auslegung oder der Anwendung des Unionsrechts, die somit zu den vom Unionsrecht erfassten Bereichen im Sinne dieser Bestimmung gehören, zu entscheiden haben kann (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 27. Februar 2018, Associação Sindical dos Juízes Portugueses,C‑64/16, EU:C:2018:117, Rn. 32 bis 40, vom 26. März 2020, Miasto Łowicz und Prokurator Generalny, C‑558/18 und C‑563/18, EU:C:2020:234, Rn. 34, und vom 25. Februar 2025, Sąd Rejonowy w Białymstoku und Adoreikė, C‑146/23 und C‑374/23, EU:C:2025:109, Rn. 34 und die dort angeführte Rechtsprechung).
49 Aus den Angaben in den Vorabentscheidungsersuchen, die durch die Erläuterungen der polnischen Regierung in ihren schriftlichen Erklärungen bestätigt werden, geht hervor, dass dies im vorliegenden Fall auf das vorlegende Gericht zutrifft, das als Militärgericht möglicherweise über Fragen im Zusammenhang mit der Anwendung oder Auslegung des Unionsrechts zu entscheiden hat.
50 Was zweitens Art. 47 der Charta anbelangt, ergibt sich aus ständiger Rechtsprechung, dass der Gerichtshof im Rahmen eines Vorabentscheidungsersuchens nach Art. 267 AEUV das Unionsrecht nur in den Grenzen der ihm übertragenen Zuständigkeiten auslegen kann (Urteil vom 6. März 2025, D. K. [Entbindung eines Richters von seinen Verpflichtungen], C‑647/21 und C‑648/21, EU:C:2025:143, Rn. 37 und die dort angeführte Rechtsprechung).
51 Art. 51 Abs. 1 der Charta sieht aber vor, dass sie für die Mitgliedstaaten nur bei der Durchführung des Rechts der Union gilt; diese Bestimmung bestätigt die ständige Rechtsprechung, nach der die in der Unionsrechtsordnung garantierten Grundrechte in allen unionsrechtlich geregelten Fallgestaltungen, aber nicht außerhalb derselben, Anwendung finden (Urteil vom 14. November 2024, S. [Änderung des Spruchkörpers], C‑197/23, EU:C:2024:956, Rn. 37 und die dort angeführte Rechtsprechung).
52 Im vorliegenden Fall hat das vorlegende Gericht keine Angaben dazu gemacht, wie die Ausgangsverfahren die Auslegung oder Anwendung einer auf nationaler Ebene umgesetzten Vorschrift des Unionsrechts betreffen könnten. Auch wenn sich die erste Frage in der Rechtssache C‑646/23 auf die Richtlinie 2016/343 bezieht, wird sie nämlich nicht im Hinblick auf die Bestimmungen dieser Richtlinie gestellt und erläutert das vorlegende Gericht nicht, welcher Zusammenhang zwischen dieser Richtlinie und dieser Rechtssache bestehen soll (vgl. entsprechend Urteil vom 6. März 2025, D. K. [Entbindung eines Richters von seinen Verpflichtungen], C‑647/21 und C‑648/21, EU:C:2025:143, Rn. 39).
53 Daher ist gemäß Art. 51 Abs. 1 der Charta deren Art. 47 als solcher nicht auf die Ausgangsverfahren anwendbar.
54 Gleichwohl ist, da Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV alle Mitgliedstaaten verpflichtet, die erforderlichen Rechtsbehelfe zu schaffen, damit in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen ein wirksamer Rechtsschutz im Sinne u. a. von Art. 47 der Charta gewährleistet ist, die letztgenannte Bestimmung bei der Auslegung von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV gebührend zu berücksichtigen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 2. März 2021, A. B. u. a. [Ernennung von Richtern am Obersten Gericht – Rechtsbehelf], C‑824/18, EU:C:2021:153, Rn. 143, und vom 25. Februar 2025, Sąd Rejonowy w Białymstoku und Adoreikė, C‑146/23 und C‑374/23, EU:C:2025:109, Rn. 43 und die dort angeführte Rechtsprechung).
55 Der Gerichtshof ist daher für die Beantwortung der vom vorlegenden Gericht gestellten Fragen zuständig.
Zu den Vorlagefragen
Zu den ersten beiden Fragen in der Rechtssache C‑646/23 und zur ersten Frage in der Rechtssache C‑661/23
56 Mit seinen ersten beiden Fragen in der Rechtssache C‑646/23 und der ersten Frage in der Rechtssache C‑661/23, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung, wonach ein Militärrichter, der im Hinblick auf den beruflichen Militärdienst für untauglich erklärt wurde, ab dem Inkrafttreten dieser Regelung von Amts wegen in den vorzeitigen Ruhestand zu versetzen ist, entgegensteht, wenn erstens in dieser Regelung weder dargelegt wird, welche Gründe die Einführung ihrer Bestimmungen rechtfertigen, noch irgendein öffentliches Interesse genannt wird, dem diese Bestimmungen dienen sollen, zweitens diese Regelung nicht für Militärstaatsanwälte gilt, die im Hinblick auf den beruflichen Militärdienst für untauglich erklärt wurden, obwohl Richter und Staatsanwälte zuvor denselben Regeln unterlagen, und de facto nur einen einzigen Richter betrifft, wobei sie sich in eine Reihe von Maßnahmen gegenüber diesem Richter einfügt, die Sanktionscharakter haben, und drittens diesem Richter kein gerichtlicher Rechtsbehelf offensteht, um die gegen ihn von Amts wegen getroffene Maßnahme der Versetzung in den vorzeitigen Ruhestand anzufechten.
57 Zur Beantwortung dieser Fragen ist als Erstes darauf hinzuweisen, dass die Mitgliedstaaten nach Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV die erforderlichen Rechtsbehelfe zu schaffen haben, damit ein wirksamer Rechtsschutz in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen gewährleistet ist.
58 Der Grundsatz des effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes, auf den sich dieser Artikel bezieht, ist ein allgemeiner Grundsatz des Unionsrechts, der u. a. in Art. 6 Abs. 1 der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (im Folgenden: EMRK), dem Art. 47 Abs. 2 der Charta entspricht, verankert ist.
59 Da ferner die in der Charta enthaltenen Rechte den durch die EMRK garantierten Rechten entsprechen, soll mit Art. 52 Abs. 3 der Charta die notwendige Kohärenz zwischen den in der Charta enthaltenen Rechten und den durch die EMRK gewährleisteten entsprechenden Rechten geschaffen werden, ohne dass dadurch die Eigenständigkeit des Unionsrechts berührt wird. Nach den Erläuterungen zur Charta der Grundrechte (ABl. 2007, C 303, S. 17) entspricht Art. 47 Abs. 2 der Charta Art. 6 Abs. 1 EMRK. Der Gerichtshof muss daher darauf achten, dass seine Auslegung in den vorliegenden Rechtssachen ein Schutzniveau gewährleistet, das das in Art. 6 Abs. 1 EMRK in seiner Auslegung durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte garantierte Schutzniveau nicht verletzt (vgl. entsprechend Urteile vom 15. Februar 2016, N.,C‑601/15 PPU, EU:C:2016:84, Rn. 47 und 77, vom 11. Juli 2024, Hann‑Invest u. a., C‑554/21, C‑622/21 und C‑727/21, EU:C:2024:594, Rn. 46, sowie vom 6. März 2025, D. K. [Entbindung eines Richters von seinen Verpflichtungen], C‑647/21 und C‑648/21, EU:C:2025:143, Rn. 64 und die dort angeführte Rechtsprechung).
60 Als Zweites ist es nach ständiger Rechtsprechung, um zu gewährleisten, dass ein Gericht, das dazu berufen ist, über Fragen im Zusammenhang mit der Anwendung oder Auslegung des Unionsrechts zu entscheiden, in der Lage ist, den nach Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV erforderlichen wirksamen Rechtsschutz sicherzustellen, von grundlegender Bedeutung, dass seine Unabhängigkeit gewahrt ist, wie Art. 47 Abs. 2 der Charta bestätigt, wonach zu den Anforderungen im Zusammenhang mit dem Grundrecht auf einen wirksamen Rechtsbehelf u. a. der Zugang zu einem „unabhängigen“ Gericht gehört (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 27. Februar 2018, Associação Sindical dos Juízes Portugueses,C‑64/16, EU:C:2018:117, Rn. 41, und vom 7. September 2023, Asociaţia Forumul Judecătorilor din România,C‑216/21, EU:C:2023:628, Rn. 61 und die dort angeführte Rechtsprechung).
61 Dieses Erfordernis der Unabhängigkeit der Gerichte, das dem richterlichen Auftrag inhärent ist, gehört zum Wesensgehalt des Rechts auf wirksamen Rechtsschutz und des Grundrechts auf ein faires Verfahren, denen als Garantien für den Schutz sämtlicher dem Einzelnen aus dem Unionsrecht erwachsender Rechte und für die Wahrung der in Art. 2 EUV genannten Werte, die den Mitgliedstaaten gemeinsam sind, u. a. des Wertes der Rechtsstaatlichkeit, grundlegende Bedeutung zukommt (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 25. Juli 2018, Minister for Justice and Equality [Mängel des Justizsystems], C‑216/18 PPU, EU:C:2018:586, Rn. 48 und 63, sowie vom 6. März 2025, D. K. [Entbindung eines Richters von seinen Verpflichtungen], C‑647/21 und C‑648/21, EU:C:2025:143, Rn. 66 und die dort angeführte Rechtsprechung).
62 Der Gerichtshof hat daher entschieden, dass diese Garantien voraussetzen, dass es Regeln insbesondere für die Zusammensetzung des Spruchkörpers sowie für die Ernennung, die Amtsdauer und die Gründe für Enthaltung, Ablehnung und Abberufung von dessen Mitgliedern gibt, die es ermöglichen, bei den Rechtsunterworfenen jeden berechtigten Zweifel an der Unempfänglichkeit des Spruchkörpers für äußere Faktoren und an dessen Neutralität in Bezug auf die widerstreitenden Interessen auszuräumen (Urteile vom 25. Juli 2018, Minister for Justice and Equality [Mängel des Justizsystems], C‑216/18 PPU, EU:C:2018:586, Rn. 66, und vom 13. Januar 2022, Minister Sprawiedliwości,C‑55/20, EU:C:2022:6‚ Rn. 65 und die dort angeführte Rechtsprechung).
63 Außerdem erfordert nach ständiger Rechtsprechung die unerlässliche Freiheit der Richter von jeglichen Interventionen oder jeglichem Druck von außen bestimmte Garantien, die geeignet sind, die mit der Aufgabe des Richtens Betrauten in ihrer Person zu schützen, wie z. B. die Unabsetzbarkeit (Urteile vom 25. Juli 2018, Minister for Justice and Equality [Mängel des Justizsystems], C‑216/18 PPU, EU:C:2018:586, Rn. 64, und vom 13. Januar 2022, Minister Sprawiedliwości,C‑55/20, EU:C:2022:6, Rn. 66 und die dort angeführte Rechtsprechung).
64 Der Grundsatz der Unabsetzbarkeit, dessen entscheidende Bedeutung der Gerichtshof mehrfach hervorgehoben hat, erfordert insbesondere, dass Richter im Amt bleiben dürfen, bis sie das obligatorische Ruhestandsalter erreicht haben oder ihre Amtszeit, sofern diese befristet ist, abgelaufen ist. Dieser Grundsatz gilt zwar nicht schrankenlos, doch dürfen Ausnahmen von ihm nur unter der Voraussetzung gemacht werden, dass dies durch legitime und zwingende Gründe gerechtfertigt ist und dabei der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz beachtet wird. So ist allgemein anerkannt, dass Richter abberufen werden können, wenn sie wegen Dienstunfähigkeit oder einer schweren Verfehlung nicht mehr zur Ausübung ihres Amtes geeignet sind, wobei angemessene Verfahren einzuhalten sind (Urteile vom 24. Juni 2019, Kommission/Polen [Unabhängigkeit des Obersten Gerichts], C‑619/18, EU:C:2019:531, Rn. 76, vom 5. November 2019, Kommission/Polen [Unabhängigkeit der ordentlichen Gerichte], C‑192/18, EU:C:2019:924, Rn. 113, und vom 17. Mai 2024, NADA u. a.,C‑115/22, EU:C:2024:384, Rn. 43 und die dort angeführte Rechtsprechung).
65 Die Unabsetzbarkeit der Mitglieder eines Gerichts ist nur dann gewährleistet, wenn die Fälle, in denen seine Mitglieder abberufen werden können, in besonderen Regelungen durch ausdrückliche gesetzliche Bestimmungen festgelegt sind, die Garantien bieten, die über das hinausgehen, was die allgemeinen Regeln des Verwaltungs- und des Arbeitsrechts im Fall einer missbräuchlichen Abberufung vorsehen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 17. Mai 2024, NADA u. a.,C‑115/22, EU:C:2024:384, Rn. 44 und die dort angeführte Rechtsprechung).
66 Als Drittes ergibt sich aus der Rechtsprechung, dass ein Mitgliedstaat seine Rechtsvorschriften nicht dergestalt ändern darf, dass der Schutz des Wertes der Rechtsstaatlichkeit vermindert wird, eines Wertes, der namentlich durch Art. 19 EUV konkretisiert wird. Die Mitgliedstaaten müssen somit dafür Sorge tragen, dass sie in ihren Rechtsvorschriften über die Justizorganisation im Hinblick auf diesen Wert jeden Rückschritt vermeiden, indem sie davon absehen, Regeln zu erlassen, die die richterliche Unabhängigkeit untergraben würden (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 20. April 2021, Repubblika,C‑896/19, EU:C:2021:311, Rn. 63 und 64, sowie vom 7. September 2023, Asociaţia Forumul Judecătorilor din România,C‑216/21, EU:C:2023:628, Rn. 69 und die dort angeführte Rechtsprechung).
67 In diesem Zusammenhang hat der Gerichtshof bereits der Sache nach entschieden, dass Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV dahin auszulegen ist, dass er nationalen Vorschriften über die Organisation der Justiz entgegensteht, die eine Verminderung des Schutzes des Wertes der Rechtsstaatlichkeit im betreffenden Mitgliedstaat, insbesondere eine Verminderung der Garantien für die richterliche Unabhängigkeit, darstellen können (Urteil vom 20. April 2021, Repubblika,C‑896/19, EU:C:2021:311, Rn. 65 und die dort angeführte Rechtsprechung).
68 Im vorliegenden Fall ergibt sich aus den Angaben des vorlegenden Gerichts, dass die in den Ausgangsverfahren in Rede stehende nationale Regelung, die die Situation eines im Hinblick auf den beruflichen Militärdienst für untauglich erklären Militärrichters regelt, mehrfach geändert wurde.
69 In einer ersten Phase konnte ein Militärrichter, der sich in einer solchen Situation befand, unter der Geltung von Art. 35 § 4 des Gesetzes über die Militärgerichte die KRS anrufen, damit diese dem Präsidenten der Republik Polen seine Ernennung in ein gleichwertiges Amt an einem ordentlichen Gericht vorschlug. Die Ernennung stand sodann im Ermessen des Präsidenten.
70 In einer zweiten Phase führte der polnische Gesetzgeber in Art. 233 des am 23. März 2022 in Kraft getretenen Gesetzes über die Landesverteidigung die Regel ein, dass ein aus dem beruflichen Militärdienst entlassener Militärrichter oder ‑staatsanwalt von Rechts wegen im Amt blieb.
71 In einer dritten Phase wurde diese Regel des Verbleibs im Amt durch die mit Art. 10 des Änderungsgesetzes bewirkte Änderung von Art. 233 des Gesetzes über die Landesverteidigung in Bezug auf Militärrichter aufgehoben. Aus den Erläuterungen der polnischen Regierung in ihren schriftlichen Erklärungen geht hervor, dass diese Änderung zur Wiederherstellung der vor dem Inkrafttreten des Gesetzes über die Landesverteidigung bestehenden Rechtslage geführt hat, so dass Militärrichter, die aus dem beruflichen Militärdienst entlassen werden, grundsätzlich wieder beantragen können, gemäß Art. 35 § 4 des Gesetzes über die Militärgerichte vom Präsidenten der Republik Polen auf Vorschlag der KRS in ein gleichwertiges Amt an einem ordentlichen Gericht ernannt zu werden. Nach Art. 13 des Änderungsgesetzes gilt jedoch eine Ausnahme von diesem Grundsatz für Militärrichter, die vor dem Inkrafttreten dieses Gesetzes, d. h. vor dem 15. November 2023, aus dem beruflichen Militärdienst entlassen wurden, aber gemäß Art. 233 des Gesetzes über die Landesverteidigung in ihrem Amt als Militärrichter verblieben sind. Nach diesem Art. 13 werden die betreffenden Richter ab dem Tag des Inkrafttretens des Änderungsgesetzes von Amts wegen in den Ruhestand versetzt.
72 Es ist Sache des vorlegenden Gerichts, zu beurteilen, ob diese nationale Regelung, nach der unter den in der vorstehenden Randnummer genannten Umständen Militärrichter, die aus dem beruflichen Militärdienst entlassen wurden, in den vorzeitigen Ruhestand zu versetzen sind, gegen die Anforderungen verstößt, die sich aus dem Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit ergeben, wie er aus Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV hervorgeht. Art. 267 AEUV gibt dem Gerichtshof nämlich nicht die Befugnis, die Normen des Unionsrechts auf einen Einzelfall anzuwenden, sondern nur die, sich zur Auslegung der Verträge und der Rechtsakte der Unionsorgane zu äußern. Nach ständiger Rechtsprechung kann der Gerichtshof aber im Rahmen der durch Art. 267 AEUV begründeten justiziellen Zusammenarbeit anhand der ihm vorliegenden Akten dem nationalen Gericht die Hinweise zur Auslegung des Unionsrechts geben, die ihm bei der Beurteilung der Wirkungen einer unionsrechtlichen Bestimmung dienlich sein könnten (Urteil vom 17. Oktober 2024, NFŠ,C‑28/23, EU:C:2024:893, Rn. 39 und die dort angeführte Rechtsprechung).
73 Erstens geht aus den Vorabentscheidungsersuchen und den Erklärungen der polnischen Regierung hervor, dass insbesondere in den Vorarbeiten zum Änderungsgesetz keinerlei Begründung für die nationale Regelung zu finden ist, nach der Militärrichter, die ungeachtet ihrer Entlassung aus dem beruflichen Militärdienst weiterhin als solche tätig waren, am 15. November 2023 von Amts wegen in den vorzeitigen Ruhestand zu versetzen waren. Außerdem gilt dieses Gesetz offenbar nur für Militärrichter und nicht für Militärstaatsanwälte, obwohl Richter und Staatsanwälte zuvor in Bezug auf die Weiterbeschäftigung nach der Entlassung aus dem beruflichen Militärdienst denselben Regeln unterlagen. Ferner geht aus den genannten Quellen hervor, dass der polnische Gesetzgeber diese Ungleichbehandlung nicht damit begründet hat, dass zwischen der Situation von Richtern und der von Staatsanwälten ein objektiver Unterschied bestehe, auf den sich der Zweck der fraglichen Regelung beziehe. Unter diesen Umständen dürfte eine nationale Regelung wie die in den Ausgangsverfahren in Rede stehende – vorbehaltlich der dem nationalen Gericht obliegenden Überprüfungen – gegen das in Rn. 64 des vorliegenden Urteils genannte Erfordernis verstoßen, dass Ausnahmen vom Grundsatz der Unabsetzbarkeit von Richtern durch legitime und zwingende Gründe gerechtfertigt sein müssen.
74 Zweitens ergibt sich aus den Angaben in den Vorabentscheidungsersuchen, die von der polnischen Regierung in ihren schriftlichen Erklärungen bestätigt wurden, zum einen, dass das Änderungsgesetz aus einem parlamentarischen Änderungsantrag hervorgegangen ist, ohne dass zwischen diesem die Militärgerichte betreffenden Änderungsantrag und dem Gegenstand des ursprünglichen Gesetzentwurfs irgendein Zusammenhang erkennbar wäre. Zum anderen wird angegeben, Art. 13 dieses Gesetzes habe de facto nur Richter P. R. betroffen. Er sei nämlich der einzige Militärrichter gewesen, der am 15. November 2023 weiterhin an einem Militärgericht tätig gewesen sei, nachdem er aus dem beruflichen Militärdienst entlassen worden sei. Wenn dies zutrifft, handelt es sich aber bei der fraglichen Regelung, auch wenn sie in Form einer allgemeingültigen Vorschrift erlassen wurde, in Wirklichkeit um eine individuelle Maßnahme.
75 Insoweit hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte im Einklang mit seiner ständigen Rechtsprechung u. a. in den §§ 59 und 115 bis 117 des Urteils vom 23. Juni 2016, Baka/Ungarn (CE:ECHR:2016:0623JUD002026112), im Wesentlichen hervorgehoben, dass ein Eingriff in die Ausübung eines Rechts grundsätzlich auf ein Instrument mit allgemeiner Geltung gestützt werden muss.
76 Drittens geht sowohl aus den Vorabentscheidungsersuchen als auch aus den schriftlichen Erklärungen der polnischen Regierung hervor, dass Richter P. R. nicht etwa deshalb in den vorzeitigen Ruhestand versetzt wurde, weil er wegen Dienstunfähigkeit oder infolge einer schweren Pflichtverletzung sein Amt nicht weiter ausüben konnte, sondern weil er die Justizreform in Polen öffentlich kritisiert hatte. Wie die Kommission in ihren schriftlichen Erklärungen ausführt, spricht im Übrigen auch die in den Rn. 22 bis 26 des vorliegenden Urteils zusammengefasste Entwicklung der Laufbahn und des Status dieses Richters dafür, dass zwischen der Ausübung seiner Meinungsfreiheit in Bezug auf Fragen im Zusammenhang mit den Reformen des polnischen Justizsystems einerseits und seiner Versetzung in den vorzeitigen Ruhestand nach Art. 13 des Änderungsgesetzes andererseits ein Kausalzusammenhang besteht. Vorbehaltlich der vom vorlegenden Gericht vorzunehmenden Überprüfungen scheint sich diese Maßnahme daher in eine Reihe von Maßnahmen gegenüber diesem Richter einzufügen, die Sanktionscharakter haben.
77 Viertens geht aus den Angaben in den Vorabentscheidungsersuchen hervor, dass Art. 73 §§ 2 und 3 des Gesetzes über die ordentlichen Gerichte zwar vorsieht, dass gegen die Entscheidung, mit der ein Richter von Amts wegen in den vorzeitigen Ruhestand versetzt wird, weil er nicht in der Lage ist, seine Aufgaben zu erfüllen, ein Rechtsbehelf eingelegt werden kann, hingegen aber das Änderungsgesetz für einen Richter, der nach Art. 13 dieses Gesetzes in den vorzeitigen Ruhestand versetzt wurde – und zwar nicht etwa wegen seiner mangelnden Eignung für die Ausübung des Richteramts, sondern wegen seiner Untauglichkeit für den beruflichen Militärdienst –, keinen Rechtsbehelf vorsieht. Vorbehaltlich der vom vorlegenden Gericht vorzunehmenden Überprüfungen wird diese Feststellung nicht dadurch widerlegt, dass Richter P. R. beim Sąd Rejonowy dla Warszawy-Śródmieścia w Warszawie (Rayongericht Warschau-Śródmieście) Klage auf Feststellung des Bestehens seines Arbeitsverhältnisses erheben konnte. Wie sich nämlich aus Rn. 44 des vorliegenden Urteils ergibt, hat das vorlegende Gericht auf das Auskunftsersuchen des Gerichtshofs hin klargestellt, dass eine Entscheidung, mit der festgestellt würde, dass das Arbeitsverhältnis von Richter P. R. fortbestehe, von begrenzter Tragweite wäre, da sie weder zur rückwirkenden Aufhebung der Wirkungen, die durch die Versetzung in den vorzeitigen Ruhestand nach Art. 13 des Änderungsgesetzes bereits eingetreten sind, noch zur Wiedereinsetzung dieses Richters in sein Richteramt bei dem Gericht, an dem er tätig war, führen würde.
78 Aus der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte ergibt sich jedoch, dass Richter und Staatsanwälte ein Recht auf Schutz vor Willkür haben und dass dieses Recht nur dann zur Geltung kommen kann, wenn die Rechtmäßigkeit einer Abberufungsentscheidung durch ein unabhängiges Justizorgan kontrolliert wird (vgl. in diesem Sinne EGMR, 24. Oktober 2023, Pająk u. a./Polen, CE:ECHR:2023:1024JUD002522618, § 194 und die dort angeführte Rechtsprechung).
79 Fünftens sind die Bestimmungen der Art. 10 und 13 des Änderungsgesetzes insofern, als sie das Recht eines aus dem beruflichen Militärdienst entlassenen Militärrichters, in seinem Amt bei dem Militärgericht, an dem er ernannt wurde, zu verbleiben, aufheben und vorschreiben, dass ein kraft Gesetzes im Amt verbliebener Militärrichter am 15. November 2023 in den vorzeitigen Ruhestand versetzt wird, vorbehaltlich der vom vorlegenden Gericht vorzunehmenden Überprüfungen geeignet, zu einem Rückschritt der polnischen Rechtsvorschriften im Bereich der Justizorganisation zu führen und damit gegen das in den Rn. 66 und 67 des vorliegenden Urteils angeführte Rückschrittsverbot zu verstoßen.
80 Nach alledem ist auf die ersten beiden Fragen in der Rechtssache C‑646/23 und auf die erste Frage in der Rechtssache C‑661/23 zu antworten, dass Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung, wonach ein Militärrichter, der im Hinblick auf den beruflichen Militärdienst für untauglich erklärt wurde, ab dem Inkrafttreten dieser Regelung von Amts wegen in den vorzeitigen Ruhestand zu versetzen ist, entgegensteht, wenn erstens in dieser Regelung weder dargelegt wird, welche Gründe die Einführung ihrer Bestimmungen rechtfertigen, noch irgendein öffentliches Interesse genannt wird, dem diese Bestimmungen dienen sollen, zweitens diese Regelung nicht für Militärstaatsanwälte gilt, die im Hinblick auf den beruflichen Militärdienst für untauglich erklärt wurden, obwohl Richter und Staatsanwälte zuvor denselben Regeln unterlagen, und de facto nur einen einzigen Richter betrifft, wobei sie sich in eine Reihe von Maßnahmen gegenüber diesem Richter einfügt, die Sanktionscharakter haben, und drittens diesem Richter kein gerichtlicher Rechtsbehelf offensteht, um die gegen ihn von Amts wegen getroffene Maßnahme der Versetzung in den vorzeitigen Ruhestand anzufechten.
Zur zweiten Frage in der Rechtssache C‑661/23 und zur vierten Frage in der Rechtssache C‑646/23
81 Mit seiner zweiten Frage in der Rechtssache C‑661/23 und seiner vierten Frage in der Rechtssache C‑646/23 möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV und der Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts dahin auszulegen sind, dass sie ein nationales Gericht und jede andere Behörde des betreffenden Mitgliedstaats verpflichten, eine nationale Regelung, die die Versetzung eines Richters in den vorzeitigen Ruhestand vorschreibt, unangewendet zu lassen, wenn diese Regelung unter Verstoß gegen Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV erlassen wurde, und ob daraus folgt, dass ein in Anwendung dieser Regelung in den Ruhestand versetzter Richter in sein Amt wiedereinzusetzen ist.
82 Zur Beantwortung dieser Fragen ist darauf hinzuweisen, dass der Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts nach ständiger Rechtsprechung besagt, dass das Unionsrecht dem Recht der Mitgliedstaaten vorgeht. Dieser Grundsatz verpflichtet daher alle mitgliedstaatlichen Stellen, den verschiedenen unionsrechtlichen Vorschriften volle Wirksamkeit zu verschaffen, wobei das Recht der Mitgliedstaaten die diesen Vorschriften zuerkannte Wirkung in ihrem Hoheitsgebiet nicht beeinträchtigen darf (Urteile vom 19. November 2019, A. K. u. a. [Unabhängigkeit der Disziplinarkammer des Obersten Gerichts], C‑585/18, C‑624/18 und C‑625/18, EU:C:2019:982, Rn. 157 und 158, sowie vom 6. März 2025, D. K. [Entbindung eines Richters von seinen Verpflichtungen], C‑647/21 und C‑648/21, EU:C:2025:143, Rn. 88 und die dort angeführte Rechtsprechung).
83 Dieser Grundsatz verpflichtet somit u. a. jedes nationale Gericht, das im Rahmen seiner Zuständigkeit die Bestimmungen des Unionsrechts anzuwenden hat, dazu, für die volle Wirksamkeit der Anforderungen des Unionsrechts in dem bei ihm anhängigen Rechtsstreit Sorge zu tragen, indem es erforderlichenfalls jede nationale Regelung oder Praxis, die einer Bestimmung des Unionsrechts mit unmittelbarer Wirkung zuwiderläuft, aus eigener Entscheidungsbefugnis unangewendet lässt, ohne dass es die vorherige Beseitigung dieser nationalen Regelung oder Praxis auf gesetzgeberischem Wege oder durch irgendein anderes verfassungsrechtliches Verfahren beantragen oder abwarten müsste (Urteile vom 9. März 1978, Simmenthal,106/77, EU:C:1978:49, Rn. 24, vom 24. Juni 2019, Popławski,C‑573/17, EU:C:2019:530, Rn. 58, und vom 6. März 2025, D. K. [Entbindung eines Richters von seinen Verpflichtungen], C‑647/21 und C‑648/21, EU:C:2025:143, Rn. 89 und die dort angeführte Rechtsprechung).
84 Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV – ausgelegt im Licht von Art. 47 der Charta –, der den Mitgliedstaaten eine klare und präzise und an keine Bedingung geknüpfte Ergebnispflicht auferlegt, insbesondere in Bezug auf die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der zur Auslegung und Anwendung des Unionsrechts berufenen Gerichte sowie das Erfordernis, dass diese Gerichte zuvor durch Gesetz errichtet worden sein müssen, hat eine solche unmittelbare Wirkung, die bedeutet, dass jede nationale Bestimmung, Rechtsprechung oder Praxis, die mit diesen unionsrechtlichen Bestimmungen in ihrer Auslegung durch den Gerichtshof unvereinbar ist, unangewendet bleiben muss (Urteil vom 6. März 2025, D. K. [Entbindung eines Richters von seinen Verpflichtungen], C‑647/21 und C‑648/21, EU:C:2025:143, Rn. 90 und die dort angeführte Rechtsprechung).
85 Der Gerichtshof hat im Zusammenhang mit einer von einer Disziplinarinstanz unter Verstoß gegen Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV getroffenen Maßnahme der Suspendierung eines Richters vom Dienst entschieden, dass das nationale Gericht, um insbesondere den in den Rn. 82 bis 84 des vorliegenden Urteils genannten Verpflichtungen nachzukommen, diese Maßnahme unangewendet lassen muss, wenn dies in Anbetracht der in Rede stehenden Verfahrenslage unerlässlich ist, um den Vorrang des Unionsrechts zu gewährleisten (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 13. Juli 2023, YP u. a. [Aufhebung der Immunität und Suspendierung eines Richters], C‑615/20 und C‑671/20, EU:C:2023:562, Rn. 65 und die dort angeführte Rechtsprechung).
86 Diese Auslegung gilt auch in dem damit vergleichbaren Kontext der Ausgangsverfahren, der durch den Erlass einer Regelung gekennzeichnet ist, die unter Verstoß gegen Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV die Versetzung eines Richters in den vorzeitigen Ruhestand vorschreibt.
87 Da im Rahmen eines Verfahrens nach Art. 267 AEUV allein das vorlegende Gericht für die endgültige Beurteilung des Sachverhalts sowie für die Anwendung und Auslegung des nationalen Rechts zuständig ist, wird es Sache dieses Gerichts sein, die konkreten Folgen zu bestimmen, die sich aus dem in der vorstehenden Randnummer angeführten Grundsatz für die Ausgangsverfahren ergeben. Wie oben in Rn. 72 ausgeführt, kann der Gerichtshof jedoch anhand der ihm vorliegenden Akten dem vorlegenden Gericht die Hinweise zur Auslegung des Unionsrechts geben, die ihm insoweit dienlich sein könnten.
88 Insoweit ergibt sich aus der Antwort auf die ersten beiden Fragen in der Rechtssache C‑646/23 und auf die erste Frage in der Rechtssache C‑661/23, dass der Vorrang und die unmittelbare Wirkung von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV erfordern, dass das vorlegende Gericht eine nationale Regelung unangewendet lässt, die unter Verstoß gegen diese Bestimmung vorschreibt, dass der bei diesem Gericht zuständige Einzelrichter in den vorzeitigen Ruhestand versetzt wird. Dieses Gericht muss außerdem in der Lage sein, die Prüfung der Verfahren, mit denen es zum Zeitpunkt der Versetzung dieses Richters in den Ruhestand befasst war, in derselben Besetzung fortzusetzen, so dass dieser Richter in sein Amt wiedereingesetzt werden muss, wobei die für die Bestimmung und Änderung der Besetzung der Spruchkörper des nationalen Gerichts zuständigen Justizorgane verpflichtet sind, diese Wiedereinsetzung sicherzustellen (vgl. entsprechend Urteile vom 13. Juli 2023, YP u. a. [Aufhebung der Immunität und Suspendierung eines Richters], C‑615/20 und C‑671/20, EU:C:2023:562, Rn. 72, sowie vom 6. März 2025, D. K. [Entbindung eines Richters von seinen Verpflichtungen], C‑647/21 und C‑648/21, EU:C:2025:143, Rn. 95 und die dort angeführte Rechtsprechung).
89 Daher ist auf die zweite Frage in der Rechtssache C‑661/23 und die vierte Frage in der Rechtssache C‑646/23 zu antworten, dass Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV und der Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts dahin auszulegen sind, dass sie ein nationales Gericht und jede andere Behörde des betreffenden Mitgliedstaats verpflichten, eine nationale Regelung, die die Versetzung eines Richters in den vorzeitigen Ruhestand vorschreibt, unangewendet zu lassen, wenn diese Regelung unter Verstoß gegen Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV erlassen wurde, was bedeutet, dass ein in Anwendung dieser Regelung in den Ruhestand versetzter Richter in sein Amt wiedereinzusetzen ist. Die für die Bestimmung und Änderung der Besetzung der Spruchkörper zuständigen Justizorgane sind verpflichtet, diese Wiedereinsetzung sicherzustellen.
Zur jeweils dritten Frage in den Rechtssachen C‑646/23 und C‑661/23
90 Mit seiner jeweils dritten Frage in den Rechtssachen C‑646/23 und C‑661/23 möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV dahin auszulegen ist, dass ein nationales Gericht, das beschließt, ein Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen, berechtigt ist, die Anwendung einer nationalen Regelung, wonach der bei diesem Gericht zuständige Einzelrichter von Amts wegen in den vorzeitigen Ruhestand zu versetzen ist, bis zur Verkündung seiner Entscheidung im Anschluss an die Antwort des Gerichtshofs vorläufig auszusetzen, auch wenn es nach nationalem Recht nicht befugt ist, eine solche Aussetzung anzuordnen. Das vorlegende Gericht möchte ferner wissen, ob eine solche Aussetzung gegebenenfalls zur Folge hat, dass der betreffende Richter berechtigt sein muss, die Prüfung der anderen Rechtssachen fortzusetzen, mit denen er befasst war, als die gegen ihn gerichtete Maßnahme der Versetzung in den vorzeitigen Ruhestand wirksam wurde.
91 Nach ständiger Rechtsprechung erfordert die volle Wirksamkeit des Unionsrechts, dass ein mit einem nach Unionsrecht zu beurteilenden Rechtsstreit befasstes Gericht einstweilige Anordnungen erlassen kann, die es ermöglichen, die volle Wirksamkeit der späteren Gerichtsentscheidung über das Bestehen der aus dem Unionsrecht hergeleiteten Rechte zu gewährleisten. Die praktische Wirksamkeit des mit Art. 267 AEUV geschaffenen Systems würde nämlich beeinträchtigt, wenn ein nationales Gericht, das das Verfahren bis zur Beantwortung seiner Vorlagefrage durch den Gerichtshof aussetzt, nicht so lange einstweiligen Rechtsschutz gewähren könnte, bis es auf der Grundlage der Antwort des Gerichtshofs seine eigene Entscheidung erlässt. Die Wirksamkeit dieses Systems würde auch dann beeinträchtigt, wenn die Verbindlichkeit solcher einstweiligen Anordnungen insbesondere von einer Behörde des Mitgliedstaats, in dem diese Anordnungen ergangen sind, missachtet werden könnte (Urteil vom 6. Oktober 2021, W. Ż. [Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten des Obersten Gerichts – Ernennung], C‑487/19, EU:C:2021:798, Rn. 142 und die dort angeführte Rechtsprechung).
92 Der Gerichtshof hat außerdem klargestellt, dass ein nationales Gericht gegebenenfalls Vorschriften des innerstaatlichen Rechts unangewendet lassen muss, die dieser Befugnis zum Erlass einstweiliger Anordnungen entgegenstehen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 19. Juni 1990, Factortame u. a., C‑213/89, EU:C:1990:257, Rn. 21, sowie Beschluss des Präsidenten des Gerichtshofs vom 25. Februar 2021, Sea Watch, C‑14/21 und C‑15/21, EU:C:2021:149, Rn. 32 und die dort angeführte Rechtsprechung).
93 Daraus folgt, dass das vorlegende Gericht in der Lage sein muss, die Anwendung der Bestimmungen des Änderungsgesetzes, die bewirken, dass ihm von Amts wegen eine Versetzung in den Ruhestand vorgeschrieben wird, auszusetzen, bis es im Anschluss an die Antwort des Gerichtshofs über die Ausgangsstrafverfahren entschieden hat. Diese vorläufige Aussetzung der Anwendung dieser Regelung und damit auch der Maßnahme der Versetzung des bei diesem Gericht zuständigen Einzelrichters in den vorzeitigen Ruhestand bedeutet zudem, dass diesem Gericht in den anderen Rechtssachen, mit denen es zum Zeitpunkt des Wirksamwerdens dieser Maßnahme befasst war, nicht aus Gründen, die mit ihrer Anwendung zusammenhängen, die Zuständigkeit entzogen werden darf, so dass es die Prüfung dieser Rechtssachen zumindest während des von der vorläufigen Aussetzung erfassten Zeitraums fortsetzen können muss.
94 Nach alledem ist auf die jeweils dritte Frage in den Rechtssachen C‑646/23 und C‑661/23 zu antworten, dass Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV dahin auszulegen ist, dass ein nationales Gericht, das beschließt, ein Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen, berechtigt ist, die Anwendung einer nationalen Regelung, wonach der bei diesem Gericht zuständige Einzelrichter von Amts wegen in den vorzeitigen Ruhestand zu versetzen ist, bis zur Verkündung seiner Entscheidung im Anschluss an die Antwort des Gerichtshofs vorläufig auszusetzen, auch wenn es nach nationalem Recht nicht befugt ist, eine solche Aussetzung anzuordnen. Diese vorläufige Aussetzung hat zur Folge, dass der von Amts wegen in den Ruhestand versetzte Richter in der Lage sein muss, die Prüfung der anderen Rechtssachen fortzusetzen, mit denen er befasst war, als seine Versetzung in den Ruhestand wirksam wurde.
Kosten
95 Für die Beteiligten der Ausgangsverfahren ist das Verfahren Teil der beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahren; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Vierte Kammer) für Recht erkannt:
1. Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV
ist dahin auszulegen, dass
er einer nationalen Regelung, wonach ein Militärrichter, der im Hinblick auf den beruflichen Militärdienst für untauglich erklärt wurde, ab dem Inkrafttreten dieser Regelung von Amts wegen in den vorzeitigen Ruhestand zu versetzen ist, entgegensteht, wenn erstens in dieser Regelung weder dargelegt wird, welche Gründe die Einführung ihrer Bestimmungen rechtfertigen, noch irgendein öffentliches Interesse genannt wird, dem diese Bestimmungen dienen sollen, zweitens diese Regelung nicht für Militärstaatsanwälte gilt, die im Hinblick auf den beruflichen Militärdienst für untauglich erklärt wurden, obwohl Richter und Staatsanwälte zuvor denselben Regeln unterlagen, und de facto nur einen einzigen Richter betrifft, wobei sie sich in eine Reihe von Maßnahmen gegenüber diesem Richter einfügt, die Sanktionscharakter haben, und drittens diesem Richter kein gerichtlicher Rechtsbehelf offensteht, um die gegen ihn von Amts wegen getroffene Maßnahme der Versetzung in den vorzeitigen Ruhestand anzufechten.
2. Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV und der Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts
sind dahin auszulegen, dass
sie ein nationales Gericht und jede andere Behörde des betreffenden Mitgliedstaats verpflichten, eine nationale Regelung, die die Versetzung eines Richters in den vorzeitigen Ruhestand vorschreibt, unangewendet zu lassen, wenn diese Regelung unter Verstoß gegen Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV erlassen wurde, was bedeutet, dass ein in Anwendung dieser Regelung in den Ruhestand versetzter Richter in sein Amt wiedereinzusetzen ist. Die für die Bestimmung und Änderung der Besetzung der Spruchkörper zuständigen Justizorgane sind verpflichtet, diese Wiedereinsetzung sicherzustellen.
3. Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV
ist dahin auszulegen, dass
ein nationales Gericht, das beschließt, ein Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen, berechtigt ist, die Anwendung einer nationalen Regelung, wonach der bei diesem Gericht zuständige Einzelrichter von Amts wegen in den vorzeitigen Ruhestand zu versetzen ist, bis zur Verkündung seiner Entscheidung im Anschluss an die Antwort des Gerichtshofs vorläufig auszusetzen, auch wenn es nach nationalem Recht nicht befugt ist, eine solche Aussetzung anzuordnen. Diese vorläufige Aussetzung hat zur Folge, dass der von Amts wegen in den Ruhestand versetzte Richter in der Lage sein muss, die Prüfung der anderen Rechtssachen fortzusetzen, mit denen er befasst war, als seine Versetzung in den Ruhestand wirksam wurde.
Unterschriften
(*1) Verfahrenssprache: Polnisch.
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) Die vorliegenden Rechtssachen sind mit fiktiven Namen bezeichnet, die nicht den echten Namen von Verfahrensbeteiligten entsprechen.
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Urteil des Gerichtshofs (Große Kammer) vom 3. Juni 2025.#Strafverfahren gegen OB.#Vorabentscheidungsersuchen des Tribunale di Bologna.#Vorlage zur Vorabentscheidung – Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts – Grenzkontrollen, Asyl und Einwanderung – Richtlinie 2002/90/EG – Allgemeiner Tatbestand der Beihilfe zur unerlaubten Ein- und Durchreise und zum unerlaubten Aufenthalt – Art. 1 Abs. 1 Buchst. a – Auslegung im Einklang mit der Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Art. 7 – Achtung des Privat- und Familienlebens – Art. 24 – Rechte des Kindes – Art. 52 Abs. 1 – Verletzung des Wesensgehalts der Grundrechte – Art. 18 – Asylrecht – Person, die minderjährige Drittstaatsangehörige, die sie begleiten und für die sie die tatsächliche elterliche Sorge ausübt, unerlaubt in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats bringt.#Rechtssache C-460/23.
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62023CJ0460
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ECLI:EU:C:2025:392
| 2025-06-03T00:00:00 |
RICHARD DE LA TOUR, Gerichtshof
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Sammlung der Rechtsprechung – allgemein
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62023CJ0460
URTEIL DES GERICHTSHOFS (Große Kammer)
3. Juni 2025 (*1)
„Vorlage zur Vorabentscheidung – Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts – Grenzkontrollen, Asyl und Einwanderung – Richtlinie 2002/90/EG – Allgemeiner Tatbestand der Beihilfe zur unerlaubten Ein- und Durchreise und zum unerlaubten Aufenthalt – Art. 1 Abs. 1 Buchst. a – Auslegung im Einklang mit der Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Art. 7 – Achtung des Privat- und Familienlebens – Art. 24 – Rechte des Kindes – Art. 52 Abs. 1 – Verletzung des Wesensgehalts der Grundrechte – Art. 18 – Asylrecht – Person, die minderjährige Drittstaatsangehörige, die sie begleiten und für die sie die tatsächliche elterliche Sorge ausübt, unerlaubt in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats bringt“
In der Rechtssache C‑460/23 [Kinsa] (i
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betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Tribunale di Bologna (Gericht Bologna, Italien) mit Entscheidung vom 17. Juli 2023, beim Gerichtshof eingegangen am 21. Juli 2023, in dem Strafverfahren gegen
OB,
Beteiligte:
Procura della Repubblica presso il Tribunale di Bologna,
erlässt
DER GERICHTSHOF (Große Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten K. Lenaerts, des Vizepräsidenten T. von Danwitz, des Kammerpräsidenten F. Biltgen, der Kammerpräsidentin K. Jürimäe, des Kammerpräsidenten C. Lycourgos, der Kammerpräsidentin M. L. Arastey Sahún, der Kammerpräsidenten S. Rodin, A. Kumin und M. Gavalec, der Richter E. Regan, N. Piçarra (Berichterstatter) und Z. Csehi sowie der Richterin O. Spineanu-Matei,
Generalanwalt: J. Richard de la Tour,
Kanzler: C. Di Bella, Verwaltungsrat,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 18. Juni 2024,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
–
von OB, vertreten durch F. Cancellaro, Avvocata,
–
der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von S. Faraci und W. Ferrante, Avvocati dello Stato,
–
der ungarischen Regierung, vertreten durch M. Z. Fehér und R. Kissné Berta als Bevollmächtigte,
–
des Rates der Europäischen Union, vertreten durch R. Meyer, K. Pleśniak und A. Ştefănuc als Bevollmächtigte,
–
der Europäischen Kommission, vertreten durch A. Katsimerou, P. A. Messina und J. Vondung als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 7. November 2024
folgendes
Urteil
1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 52 Abs. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) in Verbindung mit deren Art. 2, 3, 6, 7, 17 und 18 einerseits und die Gültigkeit der Richtlinie 2002/90/EG des Rates vom 28. November 2002 zur Definition der Beihilfe zur unerlaubten Ein- und Durchreise und zum unerlaubten Aufenthalt (ABl. 2002, L 328, S. 17) sowie des Rahmenbeschlusses 2002/946/JI des Rates vom 28. November 2002 betreffend die Verstärkung des strafrechtlichen Rahmens für die Bekämpfung der Beihilfe zur unerlaubten Ein- und Durchreise und zum unerlaubten Aufenthalt (ABl. 2002, L 328, S. 1) im Hinblick auf diese Vorschriften andererseits.
2 Es ergeht im Rahmen eines Strafverfahrens gegen OB, Angehörige eines Drittstaats, wegen Beihilfe zur unerlaubten Einreise zweier sie begleitender minderjähriger Angehöriger dieses Drittstaats, für die sie die tatsächliche Sorge ausübt, in das italienische Hoheitsgebiet.
Rechtlicher Rahmen
Völkerrecht
Genfer Abkommen
3 Art. 31 („Flüchtlinge, die sich nicht rechtmäßig im Aufnahmeland aufhalten“) Abs. 1 des am 28. Juli 1951 in Genf unterzeichneten Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (United Nations Treaty Series, Bd. 189, S. 150, Nr. 2545 [1954]), das am 22. April 1954 in Kraft getreten und durch das am 31. Januar 1967 in New York abgeschlossene und am 4. Oktober 1967 in Kraft getretene Protokoll über die Rechtsstellung der Flüchtlinge ergänzt worden ist (im Folgenden: Genfer Abkommen), sieht vor:
„Die vertragschließenden Staaten werden wegen unrechtmäßiger Einreise oder unrechtmäßigen Aufenthalts keine Strafen gegen Flüchtlinge verhängen, die unmittelbar aus einem Gebiet kommen, in dem ihr Leben oder ihre Freiheit im Sinne von Artikel 1 bedroht waren und die ohne Erlaubnis in das Gebiet der vertragschließenden Staaten einreisen oder sich dort aufhalten, vorausgesetzt, dass sie sich unverzüglich bei den Behörden melden und Gründe darlegen, die ihre unrechtmäßige Einreise oder ihren unrechtmäßigen Aufenthalt rechtfertigen.“
Palermo-Protokoll über die Schleusung von Migranten
4 Das Zusatzprotokoll gegen die Schleusung von Migranten auf dem Land‑, See- und Luftweg zum Übereinkommen der Vereinten Nationen gegen die grenzüberschreitende organisierte Kriminalität wurde von der Europäischen Gemeinschaft am 12. Dezember 2000 im Einklang mit dem Beschluss 2001/87/EG des Rates vom 8. Dezember 2000 (ABl. 2001, L 30, S. 44) unterzeichnet (im Folgenden: Palermo-Protokoll über die Schleusung von Migranten). Dieses Protokoll wurde mit dem Beschluss 2006/616/EG des Rates vom 24. Juli 2006 (ABl. 2006, L 262, S. 24) genehmigt, soweit die Bestimmungen des Protokolls in den Anwendungsbereich der Art. 179 und 181a EG fielen, und mit dem Beschluss 2006/617/EG des Rates vom 24. Juli 2006 (ABl. 2006, L 262, S. 34), soweit diese Bestimmungen in den Anwendungsbereich von Titel IV des Dritten Teils des EG-Vertrags fielen. Art. 2 des Palermo-Protokolls über die Schleusung von Migranten bestimmt:
„Zweck dieses Protokolls ist es, die Schleusung von Migranten zu verhüten und zu bekämpfen sowie die diesbezügliche Zusammenarbeit zwischen den Vertragsstaaten zu fördern und dabei gleichzeitig die Rechte der geschleusten Migranten zu schützen.“
Übereinkommen über die Rechte des Kindes
5 Art. 27 Abs. 2 des am 20. November 1989 von der Generalversammlung der Vereinten Nationen angenommenen Übereinkommens über die Rechte des Kindes (United Nations Treaty Series, Bd. 1577, S. 3) sieht vor:
„Es ist in erster Linie Aufgabe der Eltern oder anderer für das Kind verantwortlicher Personen, im Rahmen ihrer Fähigkeiten und finanziellen Möglichkeiten die für die Entwicklung des Kindes notwendigen Lebensbedingungen sicherzustellen.“
Unionsrecht
Charta
6 Art. 7 („Achtung des Privat- und Familienlebens“) der Charta lautet:
„Jede Person hat das Recht auf Achtung ihres Privat- und Familienlebens, ihrer Wohnung sowie ihrer Kommunikation.“
7 Art. 18 der Charta hat folgenden Wortlaut:
„Das Recht auf Asyl wird nach Maßgabe des [Genfer Abkommens] sowie nach Maßgabe des [EU‑]Vertrags … und des [AEU‑]Vertrags … gewährleistet.“
8 Art. 24 („Rechte des Kindes“) der Charta bestimmt:
„(1) Kinder haben Anspruch auf den Schutz und die Fürsorge, die für ihr Wohlergehen notwendig sind. Sie können ihre Meinung frei äußern. Ihre Meinung wird in den Angelegenheiten, die sie betreffen, in einer ihrem Alter und ihrem Reifegrad entsprechenden Weise berücksichtigt.
(2) Bei allen Kinder betreffenden Maßnahmen öffentlicher Stellen oder privater Einrichtungen muss das Wohl des Kindes eine vorrangige Erwägung sein.
(3) Jedes Kind hat Anspruch auf regelmäßige persönliche Beziehungen und direkte Kontakte zu beiden Elternteilen, es sei denn, dies steht seinem Wohl entgegen.“
9 Art. 52 („Tragweite und Auslegung der Rechte und Grundsätze“) Abs. 1 der Charta sieht vor:
„Jede Einschränkung der Ausübung der in dieser Charta anerkannten Rechte und Freiheiten muss gesetzlich vorgesehen sein und den Wesensgehalt dieser Rechte und Freiheiten achten. Unter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit dürfen Einschränkungen nur vorgenommen werden, wenn sie erforderlich sind und den von der Union anerkannten dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen oder den Erfordernissen des Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer tatsächlich entsprechen.“
Richtlinie 2002/90
10 In den Erwägungsgründen 1 bis 5 der Richtlinie 2002/90 heißt es:
„(1)
Eines der Ziele der Europäischen Union ist der schrittweise Aufbau eines Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts; dies bedeutet unter anderem, dass die illegale Einwanderung bekämpft werden muss.
(2) Daher sollten Maßnahmen getroffen werden, um die Beihilfe zur illegalen Einwanderung zu bekämpfen, und zwar sowohl, wenn diese den unerlaubten Grenzübertritt im engeren Sinne betrifft, als auch, wenn dadurch ein Netzwerk zur Ausbeutung von Menschen unterhalten wird.
(3) Zu diesem Zweck ist es von wesentlicher Bedeutung, die bestehenden Rechtsvorschriften anzunähern; insbesondere umfasst dies zum einen die genaue Definition des betreffenden Tatbestands und der Ausnahmen – dies ist Gegenstand dieser Richtlinie – und zum anderen Mindestvorschriften für Strafen …, die Gegenstand des Rahmenbeschlusses [2002/946] sind.
(4) Mit dieser Richtlinie soll die Beihilfe zur illegalen Einwanderung definiert und somit die Umsetzung des Rahmenbeschlusses zur Verhinderung dieser Straftat praxisgerechter gestaltet werden.
(5) Diese Richtlinie ergänzt andere Rechtsinstrumente, die zur Bekämpfung von illegaler Einwanderung, illegaler Beschäftigung, Menschenhandel und sexueller Ausbeutung von Kindern beschlossen wurden.“
11 Art. 1 („Allgemeiner Tatbestand“) dieser Richtlinie bestimmt:
„(1) Jeder Mitgliedstaat legt angemessene Sanktionen für diejenigen fest, die
a)
einer Person, die nicht Angehörige eines Mitgliedstaats ist, vorsätzlich dabei helfen, in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats unter Verletzung der Rechtsvorschriften des betreffenden Staates über die Einreise oder die Durchreise von Ausländern einzureisen oder durch dessen Hoheitsgebiet zu reisen;
…
(2) Jeder Mitgliedstaat kann beschließen, wegen der in Absatz 1 Buchstabe a) beschriebenen Handlungen in Anwendung seiner innerstaatlichen Rechtsvorschriften und Rechtspraktiken keine Sanktionen zu verhängen, wenn das Ziel der Handlungen die humanitäre Unterstützung der betroffenen Person ist.“
Rahmenbeschluss 2002/946
12 Art. 1 („Strafen“) Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/946 sieht vor:
„Jeder Mitgliedstaat trifft die erforderlichen Maßnahmen[,] um sicherzustellen, dass die in den Artikeln 1 und 2 der Richtlinie [2002/90] beschriebenen Handlungen mit wirksamen, angemessenen und abschreckenden Strafen bedroht sind, die zu einer Auslieferung führen können.“
13 Art. 6 („Internationales Flüchtlingsrecht“) dieses Rahmenbeschlusses lautet:
„Dieser Rahmenbeschluss gilt unbeschadet des Schutzes, der Flüchtlingen und Asylbewerbern nach dem internationalen Flüchtlingsrecht und anderen internationalen Menschenrechtsübereinkünften zu gewähren ist, insbesondere unbeschadet der Einhaltung der internationalen Verpflichtungen, die die Mitgliedstaaten nach den Artikeln 31 und 33 des [Genfer Abkommens] eingegangen sind.“
Richtlinie 2011/95/EU
14 In den Erwägungsgründen 16 und 18 der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. 2011, L 337, S. 9) heißt es:
„(16)
… [Diese Richtlinie] zielt insbesondere darauf ab, die uneingeschränkte Wahrung der Menschenwürde und des Asylrechts für Asylsuchende und die sie begleitenden Familienangehörigen sicherzustellen sowie die Anwendung der Artikel 1, 7, 11, 14, 15, 16, 18, 21, 24, 34 und 35 der Charta zu fördern, und sollte daher entsprechend umgesetzt werden.
…
(18) Bei der Umsetzung dieser Richtlinie sollten die Mitgliedstaaten im Einklang mit dem [Übereinkommen über die Rechte des Kindes] vorrangig das ‚Wohl des Kindes‘ berücksichtigen. Bei der Bewertung der Frage, was dem Wohl des Kindes dient, sollten die Mitgliedstaaten insbesondere dem Grundsatz des Familienverbands … Rechnung tragen.“
15 Art. 23 („Wahrung des Familienverbands“) Abs. 1 dieser Richtlinie sieht vor:
„Die Mitgliedstaaten tragen dafür Sorge, dass der Familienverband aufrechterhalten werden kann.“
Richtlinie 2013/33/EU
16 Im neunten Erwägungsgrund der Richtlinie 2013/33/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung von Normen für die Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen (ABl. 2013, L 180, S. 96) heißt es:
„Die Mitgliedstaaten sollten bei der Anwendung dieser Richtlinie bestrebt sein, im Einklang mit der [Charta], dem [Übereinkommen über die Rechte des Kindes] und der [am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten] Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten die uneingeschränkte Achtung der Grundsätze des Kindeswohls und der Einheit der Familie zu gewährleisten.“
Schengener Grenzkodex
17 Art. 3 („Anwendungsbereich“) der Verordnung (EU) 2016/399 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. März 2016 über einen Unionskodex für das Überschreiten der Grenzen durch Personen (Schengener Grenzkodex) (ABl. 2016, L 77, S. 1, im Folgenden: Schengener Grenzkodex) bestimmt:
„Diese Verordnung findet Anwendung auf alle Personen, die die Binnengrenzen oder die Außengrenzen eines Mitgliedstaats überschreiten, unbeschadet
…
b)
der Rechte der Flüchtlinge und Personen, die um internationalen Schutz ersuchen, insbesondere hinsichtlich der Nichtzurückweisung.“
18 Art. 4 („Grundrechte“) des Schengener Grenzkodex bestimmt:
„Bei der Anwendung dieser Verordnung handeln die Mitgliedstaaten unter umfassender Einhaltung der einschlägigen Rechtsvorschriften der Union, einschließlich der [Charta], und des einschlägigen Völkerrechts, darunter auch des [Genfer Abkommens] und der Verpflichtungen im Zusammenhang mit dem Zugang zu internationalem Schutz, insbesondere des Grundsatzes der Nichtzurückweisung, sowie der Grundrechte. …“
Italienisches Recht
19 Art. 12 („Bestimmungen zur Bekämpfung der illegalen Einwanderung“) Abs. 1 und 2 des Decreto legislativo n. 286 – Testo unico delle disposizioni concernenti la disciplina dell’immigrazione e norme sulla condizione dello straniero (Gesetzesvertretendes Dekret Nr. 286 – Einheitstext der Bestimmungen über die Regelung der Einwanderung und die Rechtsstellung des Ausländers) vom 25. Juli 1998 (GURI Nr. 191 vom 18. August 1998, Supplemento Ordinario Nr. 139) in der auf den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens anwendbaren Fassung (im Folgenden: Einheitstext über die Einwanderung) bestimmt:
„(1) Sofern die Handlung nicht den Tatbestand einer schwereren Straftat erfüllt, wird, wer unter Verstoß gegen den vorliegenden Einheitstext die Beförderung von Ausländern nach Italien fördert, leitet, organisiert, finanziert oder durchführt oder andere Handlungen vornimmt, die darauf gerichtet sind, ihnen die unerlaubte Einreise nach Italien oder in einen anderen Staat, dessen Angehörige sie nicht sind oder in dem sie nicht über eine Niederlassungserlaubnis verfügen, zu ermöglichen, mit Freiheitsstrafe von einem bis fünf Jahren und Geldstrafe von 15000 Euro für jede Person bestraft.
(2) Unbeschadet der Bestimmungen in Art. 54 des [Codice penale (Strafgesetzbuch)] stellen in Italien geleistete Rettungs- und humanitäre Unterstützungsmaßnahmen für bedürftige Ausländer, die sich im Hoheitsgebiet Italiens aufhalten, keine Straftaten dar.“
Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefragen
20 Am 27. August 2019 erschien OB an der Luftgrenze von Bologna (Italien), als sie in Begleitung zweier minderjähriger Mädchen im Alter von acht und 13 Jahren aus einem Drittland einreiste. Alle hatten gefälschte Reisepässe bei sich.
21 Am 28. August 2019 wurde OB festgenommen und die beiden minderjährigen Mädchen auf Anordnung des Tribunale per i minorenni (Jugendgericht, Italien) in einer Aufnahmeeinrichtung untergebracht. Gegen OB wurde vor dem Tribunale di Bologna (Gericht Bologna, Italien), dem vorlegenden Gericht, ein Verfahren wegen Beihilfe zur unerlaubten Einreise von Drittstaatsangehörigen gemäß Art. 12 Abs. 1 des Einheitstexts über die Einwanderung in Verbindung mit Besitz falscher Ausweisdokumente gemäß Art. 497a des italienischen Strafgesetzbuchs eingeleitet. Dagegen wird OB nicht wegen unerlaubter Einreise in das italienische Hoheitsgebiet strafrechtlich verfolgt.
22 Am 29. August 2019 sagte OB in der Anhörung zur Bestätigung ihrer Festnahme vor dem für die Voruntersuchung zuständigen Richter des Tribunale di Bologna (Gericht Bologna) aus, aus ihrem Herkunftsland geflohen zu sein, um den Morddrohungen zu entgehen, denen sie und ihre Familie seitens ihres früheren Lebensgefährten ausgesetzt gewesen seien. Darüber hinaus fürchte sie um die körperliche Unversehrtheit der sie begleitenden minderjährigen Mädchen, bei denen es sich um ihre Tochter und ihre Nichte handle, wobei Letztere nach dem Tod ihrer Mutter in ihre Obhut gegeben worden sei.
23 Mit Beschluss vom selben Tag bestätigte der für die Voruntersuchung zuständige Richter die Festnahme von OB und lehnte den Antrag der Staatsanwaltschaft ab, sie in Untersuchungshaft zu nehmen. Diese Ablehnung wurde im Rechtsmittelverfahren mit der Begründung bestätigt, dass es keine Anhaltspunkte für Zweifel an der Richtigkeit der von OB im Stadium der Ermittlungen gemachten Aussagen gebe.
24 Am 9. Oktober 2019 stellte OB einen Antrag auf internationalen Schutz. Das mit diesem Antrag verbundene Verfahren war zum Zeitpunkt der Einreichung des Vorabentscheidungsersuchens noch nicht abgeschlossen.
25 Mit Entscheidung vom 30. September 2021 stellte das Tribunale per i minorenni (Jugendgericht) nach einer gerichtsmedizinischen Untersuchung fest, dass zwischen OB und einem der beiden minderjährigen Mädchen ein Abstammungsverhältnis bestehe, so dass OB die elterliche Sorge für dieses minderjährige Mädchen wieder übertragen wurde. Dagegen konnte das Tribunale nicht feststellen, dass zwischen OB und dem anderen minderjährigen Mädchen ein Verwandtschaftsverhältnis bestand, da das Mädchen die Aufnahmeeinrichtung, in der es untergebracht worden war, am 10. September 2019 von sich aus verlassen hatte.
26 Das vorlegende Gericht weist darauf hin, dass es sich bei dem zweiten minderjährigen Mädchen nach dem Bericht der Sozialdienste, der im Anschluss an die mit den beiden minderjährigen Mädchen geführten Gespräche erstellt worden war, tatsächlich um die Nichte von OB handle, der sie nach dem Tod ihrer Mutter anvertraut worden sei. Die beiden minderjährigen Mädchen stünden unter „[der] Verantwortung und [dem] Schutz“ von OB.
27 Das Verhalten von OB, das darauf abgezielt habe, die beiden minderjährigen Mädchen unerlaubt in das italienische Hoheitsgebiet zu bringen, falle in materieller Hinsicht unter den in Art. 12 Abs. 1 des Einheitstexts über die Einwanderung vorgesehenen Straftatbestand und nicht unter Abs. 2 dieses Artikels, der vorsehe, dass nur „in Italien geleistete Rettungs- und humanitäre Unterstützungsmaßnahmen für bedürftige Ausländer, die sich im Hoheitsgebiet Italiens aufhalten“, keine Straftat darstellten.
28 Das vorlegende Gericht leitet daraus ab, dass der besagte Art. 12 nicht nur unter dem Gesichtspunkt der Erforderlichkeit des Eingriffs in die in den Art. 2, 3, 6, 7, 17 und 18 der Charta garantierten Grundrechte zur Verfolgung der mit der Richtlinie 2002/90 und dem Rahmenbeschluss 2002/946 verfolgten Ziele, sondern auch unter dem Gesichtspunkt der Abwägung der widerstreitenden schutzbedürftigen Interessen gegen den sich aus Art. 52 Abs. 1 der Charta ergebenden Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verstoße.
29 Auch wenn ein Verhalten wie das von OB vom Anwendungsbereich von Art. 12 Abs. 2 des Einheitstexts über die Einwanderung ausgenommen sei, könne es jedoch als eine Handlung eingestuft werden, die zum Zweck der „humanitären Unterstützung“ im Sinne von Art. 1 Abs. 2 der Richtlinie 2002/90 begangen worden sei. Folglich dürfe dieses Verhalten nicht unter Art. 1 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie subsumiert werden, da es darin bestehe, den betroffenen minderjährigen Mädchen die Ausübung erstens ihrer durch die Art. 2, 3 bzw. 6 der Charta garantierten Rechte auf Leben, körperliche Unversehrtheit sowie Freiheit und Sicherheit, da diese Rechte in ihrem Herkunftsland bedroht seien, zweitens ihres durch Art. 7 der Charta garantierten Rechts auf Achtung des Familienlebens unter Berücksichtigung des zwischen OB und den minderjährigen Mädchen bestehenden Abstammungs- bzw. Verwandtschaftsverhältnisses und drittens ihres durch Art. 18 der Charta garantierten Asylrechts im Zusammenhang mit dem von OB gestellten Antrag auf internationalen Schutz zu erleichtern.
30 Unter Berücksichtigung der Übereinstimmung von Art. 12 Abs. 1 des Einheitstexts über die Einwanderung mit dem „durch die Richtlinie 2002/90 und den Rahmenbeschluss 2002/946 vorgegebenen Regelungsrahmen“ hält es das vorlegende Gericht allerdings für unangebracht, die Anwendung dieser Vorschrift mit der Begründung auszuschließen, dass sie gegen Art. 52 Abs. 1 der Charta verstoße. Es erscheint ihm vielmehr notwendig, den Gerichtshof sowohl zur Auslegung von Art. 52 Abs. 1 im Verhältnis zu Art. 12 Abs. 1 des Einheitstexts über die Einwanderung als auch zur Gültigkeit von Art. 1 Abs. 1 Buchst. a und Abs. 2 der Richtlinie 2002/90 sowie von Art. 1 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/946 im Hinblick auf die Charta zu befragen, da sich aus den drei letztgenannten Vorschriften ergebe, dass sie lediglich das Recht, nicht aber die Pflicht der Mitgliedstaaten vorsähen, Verhaltensweisen nicht unter Strafe zu stellen, die darauf abzielten, Beihilfe zur unerlaubten Einreise in ihr Hoheitsgebiet zu leisten, wenn das Ziel dieser Verhaltensweisen die humanitäre Unterstützung sei.
31 Unter diesen Umständen beschloss das Tribunale di Bologna (Gericht Bologna), das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
1. Steht die Charta, insbesondere der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz aus Art. 52 Abs. 1 in Verbindung mit dem Recht auf persönliche Freiheit und dem Eigentumsrecht aus den Art. 6 und 17, dem Recht auf Leben und Unversehrtheit aus den Art. 2 und 3, dem Asylrecht aus Art. 18 und dem Recht auf Achtung des Familienlebens aus Art. 7, den Bestimmungen der Richtlinie 2002/90 und des Rahmenbeschlusses 2002/946 (der mit Art. 12 des Einheitstexts über die Einwanderung in italienisches Recht umgesetzt worden ist) entgegen, soweit diese die Mitgliedstaaten verpflichten, strafrechtliche Sanktionen gegen jeden vorzusehen, der vorsätzlich Handlungen unterstützt oder vornimmt, die darauf gerichtet sind, die unerlaubte Einreise von Ausländern in das Hoheitsgebiet der Union zu unterstützen, auch wenn dieses Verhalten ohne Gewinnerzielungsabsicht erfolgt, ohne gleichzeitig die Verpflichtung der Mitgliedstaaten vorzusehen, die strafrechtliche Relevanz von Beihilfehandlungen zur unerlaubten Einreise auszuschließen, die darauf gerichtet sind, Ausländern humanitäre Unterstützung zu leisten?
2. Steht die Charta, insbesondere der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz aus Art. 52 Abs. 1 in Verbindung mit dem Recht auf persönliche Freiheit und dem Eigentumsrecht aus den Art. 6 und 17, dem Recht auf Leben und Unversehrtheit aus den Art. 2 und 3, dem Asylrecht aus Art. 18 und dem Recht auf Achtung des Familienlebens aus Art. 7, einem Straftatbestand wie Art. 12 des Einheitstexts über die Einwanderung entgegen, soweit dieser das Verhalten von Personen sanktioniert, die Handlungen vornehmen, die darauf gerichtet sind, einem Ausländer die unerlaubte Einreise in das Hoheitsgebiet des Staates zu ermöglichen, auch wenn dieses Verhalten ohne Gewinnerzielungsabsicht erfolgt, ohne gleichzeitig die strafrechtliche Relevanz von Beihilfehandlungen zur unerlaubten Einreise auszuschließen, die darauf gerichtet sind, Ausländern humanitäre Unterstützung zu leisten?
32 In seinem Vorabentscheidungsersuchen hat das vorlegende Gericht beantragt, die vorliegende Rechtssache im beschleunigten Verfahren nach Art. 105 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs zu behandeln. Mit Beschluss vom 10. Oktober 2023, Kinsa (C‑460/23, EU:C:2023:784), hat der Präsident des Gerichtshofs diesen Antrag abgelehnt, weil die Art der Rechtssache ihre rasche Erledigung nicht erfordert.
Zu den Vorlagefragen
33 Mit seinen beiden Fragen, die zusammen zu prüfen sind, fragt das vorlegende Gericht den Gerichtshof im Wesentlichen nach der Gültigkeit von Art. 1 der Richtlinie 2002/90 und Art. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/946 im Hinblick auf die Charta sowie nach der Auslegung der Charta, um feststellen zu können, ob sie den nationalen Vorschriften, mit denen diese Artikel in die italienische Rechtsordnung umgesetzt worden sind, entgegensteht.
34 Nach ständiger Rechtsprechung ist es im Rahmen der durch Art. 267 AEUV geschaffenen Zusammenarbeit zwischen den nationalen Gerichten und dem Gerichtshof dessen Aufgabe, dem vorlegenden Gericht eine für die Entscheidung des bei ihm anhängigen Rechtsstreits sachdienliche Antwort zu geben. Hierzu hat er die ihm vorgelegten Fragen gegebenenfalls umzuformulieren (Urteile vom 28. November 2000, Roquette Frères, C‑88/99, EU:C:2000:652, Rn. 18, und vom 20. März 2025, Porcellino Grasso, C‑116/24, EU:C:2025:198, Rn. 34). Außerdem kann der Gerichtshof veranlasst sein, unionsrechtliche Vorschriften zu berücksichtigen, die das nationale Gericht in seiner Frage nicht angeführt hat, indem er aus allem, was dieses vorgelegt hat, insbesondere aus der Begründung der Vorlageentscheidung, diejenigen Elemente des Unionsrechts herausarbeitet, die unter Berücksichtigung des Gegenstands des Rechtsstreits einer Auslegung bedürfen (Urteile vom 20. März 1986, Tissier, 35/85, EU:C:1986:143, Rn. 9, sowie vom 22. Juni 2023, K. B. und F. S. [Prüfung von Amts wegen im Strafverfahren], C‑660/21, EU:C:2023:498, Rn. 26 und 27 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).
35 Im vorliegenden Fall steht fest, dass OB vor dem vorlegenden Gericht u. a. wegen Beihilfe zur unerlaubten Einreise in das italienische Hoheitsgebiet gemäß Art. 12 Abs. 1 des Einheitstexts über die Einwanderung – der Art. 1 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2002/90 und Art. 1 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/946 in die italienische Rechtsordnung umsetzt – verfolgt wird, weil sie zwei sie begleitende minderjährige Drittstaatsangehörige unerlaubt in dieses Hoheitsgebiet gebracht hat. Darüber hinaus geht aus den Feststellungen des vorlegenden Gerichts hervor, dass die beiden minderjährigen Mädchen, die Tochter bzw. Nichte von OB sind, deren „Verantwortung“ und „Schutz“ unterstellt waren.
36 Unter den gegebenen Umständen ist zum einen zu bemerken, dass die vorgelegten Fragen auf der Prämisse beruhen, dass das Verhalten von OB unter den allgemeinen Tatbestand der Beihilfe zur unerlaubten Einreise fällt, wie er in Art. 1 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2002/90 definiert ist, und sich Art. 12 des Einheitstexts über die Einwanderung darauf beschränkt, diese unionsrechtliche Vorschrift in die italienische Rechtsordnung umzusetzen. Falls eine Bestimmung der Charta der Anwendung des genannten Art. 1 Abs. 1 Buchst. a auf ein Verhalten wie das von OB entgegenstünde, beträfe eine solche Unvereinbarkeit damit zwangsläufig auch den erwähnten Art. 12, wenn er als auf dieses Verhalten anwendbar auszulegen wäre.
37 Abgesehen davon ist darauf hinzuweisen, dass ein Rechtsakt der Union nach einem allgemeinen Auslegungsgrundsatz möglichst in einer Weise auszulegen ist, die seine Gültigkeit nicht in Frage stellt und mit dem gesamten Primärrecht, insbesondere den Bestimmungen der Charta, im Einklang steht. Ist eine Bestimmung des abgeleiteten Rechts auslegungsbedürftig, ist sie daher möglichst so auszulegen, dass sie mit den Verträgen und den allgemeinen Grundsätzen des Unionsrechts vereinbar ist (Urteile vom 21. März 1991, Rauh, C‑314/89, EU:C:1991:143, Rn. 17, und vom 13. Juni 2024, Kommission/Niederlande [Beurteilung der Vereinbarkeit einer nicht als staatliche Beihilfe eingestuften Maßnahme], C‑40/23 P, EU:C:2024:492, Rn. 40).
38 Zum anderen ist festzustellen, dass angesichts der Darstellung des Sachverhalts des Ausgangsverfahrens, wie sie sich aus dem Vorabentscheidungsersuchen ergibt, nicht nur Art. 7 der Charta, der das Recht auf Achtung des Familienlebens festschreibt, und Art. 18 der Charta betreffend die Garantie des Asylrechts, auf die sich das vorlegende Gericht bezieht, für die Beantwortung der Fragen dieses Gerichts von entscheidender Bedeutung sind, sondern auch, wie die Europäische Kommission in ihren schriftlichen Erklärungen hervorgehoben hat, Art. 24 der Charta, in dem die Rechte des Kindes verankert sind.
39 Somit ist davon auszugehen, dass das vorlegende Gericht mit seinen Fragen im Wesentlichen wissen möchte, ob zum einen Art. 1 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2002/90 insbesondere im Licht der Art. 7, 18 und 24 der Charta dahin auszulegen ist, dass das Verhalten einer Person, die unter Verstoß gegen die Regelung für den Grenzübertritt von Personen minderjährige Drittstaatsangehörige, die sie begleiten und für die sie die tatsächliche Sorge ausübt, in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats bringt, nicht unter den allgemeinen Tatbestand der Beihilfe zur unerlaubten Einreise fällt, und ob zum anderen diese Artikel der Charta dahin auszulegen sind, dass sie nationalen Rechtsvorschriften entgegenstehen, die ein solches Verhalten strafrechtlich ahnden.
40 Gemäß Art. 1 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2002/90 muss jeder Mitgliedstaat angemessene strafrechtliche Sanktionen „für diejenigen fest[legen], die einer Person, die nicht Angehörige eines Mitgliedstaats ist, vorsätzlich dabei helfen, in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats unter Verletzung der Rechtsvorschriften des betreffenden Staates über die Einreise oder die Durchreise von Ausländern einzureisen oder durch dessen Hoheitsgebiet zu reisen“.
41 Aus dem Wortlaut dieser Vorschrift, insbesondere den darin enthaltenen Begriffen „diejenigen“ und „helfen“, ergibt sich, dass der Unionsgesetzgeber den „allgemeinen Tatbestand“ im Sinne der Vorschrift abstrakt definiert hat, indem er weder eine der Formen, die die Beihilfe zur unerlaubten Einreise in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats annehmen kann, noch eine der Personen, die diese Hilfe leisten können, von vornherein ausgeschlossen hat. Gleiches gilt für die Personen, die eine solche Hilfe erhalten können.
42 Diese offene Definition des allgemeinen Tatbestands der Beihilfe zur unerlaubten Einreise erklärt sich durch die Tatsache, dass der Unionsgesetzgeber, wie in den Erwägungsgründen 1 und 2 der Richtlinie 2002/90 bestätigt wird, gegen „die Beihilfe zur illegalen Einwanderung“ in ihren verschiedenen Formen vorgehen wollte, um eine solche Einwanderung wirksam zu bekämpfen, und zwar sowohl, wenn diese den unerlaubten Grenzübertritt im engeren Sinne betrifft, als auch, wenn dadurch ein Netzwerk zur Ausbeutung von Menschen unterhalten wird. Außerdem geht aus den Erwägungsgründen 3 und 4 dieser Richtlinie hervor, dass mit ihr der Tatbestand der Beihilfe zur illegalen Einwanderung genau definiert werden soll, um eine wirksame Umsetzung des Rahmenbeschlusses 2002/946 zu gewährleisten, der Mindestvorschriften für Strafen, die Verantwortlichkeit von juristischen Personen und die Gerichtsbarkeit festlegt. Schließlich ergibt sich aus dem fünften Erwägungsgrund der Richtlinie, dass sie andere Rechtsinstrumente ergänzt, die zur Bekämpfung von illegaler Einwanderung, illegaler Beschäftigung, Menschenhandel und sexueller Ausbeutung von Kindern beschlossen wurden.
43 Zwar lässt der offene Wortlaut von Art. 1 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2002/90 auf den ersten Blick unterschiedliche Auslegungen zu. Insbesondere stellt diese Vorschrift zwar nicht ausdrücklich auf das Verhalten einer Person ab, die unter Verstoß gegen die Regelung für den Grenzübertritt von Personen minderjährige Drittstaatsangehörige, die sie begleiten und für die sie die tatsächliche Sorge ausübt, in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats bringt, schließt als solche aber auch nicht ausdrücklich eine Auslegung aus, wonach ein solches Verhalten unter den in ihr vorgesehenen allgemeinen Tatbestand fällt.
44 Der letztgenannten Auslegung kann jedoch nicht gefolgt werden.
45 Als Erstes sprechen die Ziele der Richtlinie 2002/90 gegen diese Auslegung. Wie die Kommission in ihren schriftlichen Erklärungen bemerkt hat, stellt ein solches Verhalten nämlich keine Beihilfe zur illegalen Einwanderung dar, die mit dieser Richtlinie bekämpft werden soll, sondern ergibt sich daraus, dass die betreffende Person die persönliche Verantwortung übernimmt, die ihr aufgrund des Sorgerechts obliegt, das sie für die Minderjährigen ausübt.
46 Die vorstehende Schlussfolgerung ist als Zweites im Hinblick auf die Art. 7 und 24 der Charta umso mehr geboten.
47 Art. 7 der Charta garantiert jeder Person u. a. das Recht auf Achtung ihres Familienlebens, wobei es sich bei der Frage, ob ein Familienleben besteht, um die tatsächliche Frage handelt, ob enge persönliche Bindungen wirklich und tatsächlich vorhanden sind, und das Zusammenleben eines Elternteils mit seinem Kind ein wesentliches Element des Familienlebens ist (Urteil vom 14. Dezember 2021, Stolichna obshtina, rayon Pancharevo, C‑490/20, EU:C:2021:1008, Rn. 61).
48 Art. 24 Abs. 1 der Charta wiederum bestimmt u. a., dass Kinder Anspruch auf den Schutz und die Fürsorge haben, die für ihr Wohlergehen notwendig sind. Außerdem sieht dieser Art. 24 in seinem Abs. 2 vor, dass das Wohl des Kindes als vorrangige Erwägung bei allen Kinder betreffenden Maßnahmen öffentlicher Stellen oder privater Einrichtungen berücksichtigt werden muss. Die letztgenannte Vorschrift gilt auch für Entscheidungen, die nicht an den Minderjährigen gerichtet sind, aber weitreichende Folgen für ihn haben (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 21. Dezember 2023, GN [Ablehnung aus Gründen des Kindeswohls], C‑261/22, EU:C:2023:1017, Rn. 41 und die dort angeführte Rechtsprechung). Schließlich erkennt der besagte Art. 24 in seinem Abs. 3 grundsätzlich jedem Kind den Anspruch auf regelmäßige persönliche Beziehungen und direkte Kontakte zu beiden Elternteilen zu.
49 Nach ständiger Rechtsprechung ist Art. 7 der Charta in Verbindung mit der Verpflichtung zur Berücksichtigung des durch Art. 24 Abs. 2 der Charta anerkannten Kindeswohls und unter Berücksichtigung des Erfordernisses zu lesen, dass ein Kind regelmäßig die in Art. 24 Abs. 3 genannten Beziehungen unterhält (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 17. November 2022, Belgische Staat [Weiblicher verheirateter minderjähriger Flüchtling], C‑230/21, EU:C:2022:887, Rn. 48, und vom 30. Januar 2024, Landeshauptmann von Wien [Familienzusammenführung mit einem minderjährigen Flüchtling], C‑560/20, EU:C:2024:96, Rn. 49 und die dort angeführte Rechtsprechung).
50 Außerdem ist, da Art. 24 der Charta ausweislich der Erläuterungen zu dieser die wichtigsten Rechte des Kindes, die in dem von allen Mitgliedstaaten ratifizierten Übereinkommen über die Rechte des Kindes verankert sind, in das Unionsrecht integriert, bei der Auslegung dieses Artikels den Bestimmungen dieses Übereinkommens gebührend Rechnung zu tragen (Urteil vom 14. Dezember 2021, Stolichna obshtina, rayon Pancharevo, C‑490/20, EU:C:2021:1008, Rn. 63). Insbesondere ist es gemäß Art. 27 Abs. 2 des genannten Übereinkommens in erster Linie Aufgabe der Eltern oder anderer für das Kind verantwortlicher Personen, im Rahmen ihrer Fähigkeiten und finanziellen Möglichkeiten die für die Entwicklung des Kindes notwendigen Lebensbedingungen sicherzustellen.
51 In Anbetracht der Art. 7 und 24 der Charta, in deren Licht Art. 1 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2002/90 auszulegen ist, kann das Verhalten einer Person, die minderjährige Drittstaatsangehörige, die sie begleiten und für die sie die tatsächliche Sorge ausübt, unerlaubt in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats bringt, nicht unter den allgemeinen Tatbestand der Beihilfe zur unerlaubten Einreise im Sinne der letztgenannten Vorschrift fallen, und zwar auch dann nicht, wenn die betreffende Person selbst unerlaubt in dieses Hoheitsgebiet eingereist ist.
52 Eine gegenteilige Auslegung der besagten Vorschrift würde zu einem besonders schweren Eingriff in das Recht auf Achtung des Familienlebens und die Rechte des Kindes gemäß Art. 7 bzw. 24 der Charta führen und hätte zur Folge, dass der Wesensgehalt dieser Grundrechte im Sinne von Art. 52 Abs. 1 der Charta angetastet würde.
53 Ließe man zu, dass eine Person dafür bestraft werden kann, dass sie Minderjährigen, für die sie die tatsächliche Sorge ausübt, schlicht und ergreifend dabei geholfen hat, unerlaubt in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats einzureisen, würde das nämlich eine Verletzung dieses Wesensgehalts darstellen.
54 Eine Person wie OB, die drittstaatsangehörige Minderjährige, die sie begleiten und für die sie die tatsächliche Sorge ausübt, unerlaubt in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats bringt, nimmt in der Regel lediglich eine auf ihrer persönlichen Verantwortung beruhende und aus ihrer familiären Beziehung zu diesen Minderjährigen herrührende konkrete Verpflichtung wahr, mit dem Ziel, den Schutz und die Fürsorge sicherzustellen, die für deren Wohlergehen und deren Entwicklung notwendig sind. Das Verhalten dieser Person ist in erster Linie der konkrete Ausdruck ihrer allgemeinen Verantwortung für die Minderjährigen.
55 Demnach kann Art. 1 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2002/90, wenn der Wesensgehalt des Rechts auf Achtung des Familienlebens und der Rechte des Kindes gemäß Art. 7 bzw. 24 der Charta gewahrt werden soll, nicht dahin ausgelegt werden, dass er darauf abzielt, das Verhalten einer Person wie OB, die in Begleitung ihres Kindes oder eines anderen Minderjährigen, für den sie die tatsächliche Sorge ausübt, unerlaubt in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats einreist, als „Beihilfe zur unerlaubten Einreise“ in dieses Hoheitsgebiet einzustufen und deshalb strafrechtlich zu verfolgen.
56 Folglich ist Art. 1 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2002/90 im Licht der Art. 7 und 24 der Charta dahin auszulegen, dass das Verhalten einer Person, die unter Verstoß gegen die Regelung für den Grenzübertritt von Personen minderjährige Drittstaatsangehörige, die sie begleiten und für die sie die tatsächliche Sorge ausübt, in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats bringt, nicht in den Anwendungsbereich des allgemeinen Tatbestands der Beihilfe zur unerlaubten Einreise fällt.
57 Als Drittes ist die vorstehende Auslegung von Art. 1 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2002/90 auch im Licht von Art. 18 der Charta geboten, der einschlägig ist, wenn – wie im vorliegenden Fall – die betreffende Person, nachdem sie in das Hoheitsgebiet des fraglichen Mitgliedstaats eingereist war, einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat.
58 In diesem Zusammenhang ist erstens hervorzuheben, dass das Recht auf Asyl gemäß Art. 18 der Charta nach Maßgabe des Genfer Abkommens sowie nach Maßgabe des EU-Vertrags und des AEU-Vertrags gewährleistet wird. Zur Einhaltung der entsprechenden Vorschriften sind die Mitgliedstaaten bei der Umsetzung sowohl der Richtlinie 2002/90 als auch des Rahmenbeschlusses 2002/946 verpflichtet.
59 Wie Art. 6 dieses Rahmenbeschlusses bestätigt, gelten daher sowohl der Rahmenbeschluss als auch die Richtlinie 2002/90 unbeschadet des Schutzes, der Flüchtlingen und Asylbewerbern zu gewähren ist, insbesondere unbeschadet der Einhaltung der internationalen Verpflichtungen, die die Mitgliedstaaten u. a. nach Art. 31 des Genfer Abkommens eingegangen sind. Der letztgenannte Artikel verbietet es diesen Staaten, gegen Flüchtlinge, die unmittelbar aus einem Gebiet kommen, in dem ihr Leben oder ihre Freiheit bedroht waren und die ohne Erlaubnis in das Hoheitsgebiet der genannten Staaten einreisen oder sich dort aufhalten, wegen unrechtmäßiger Einreise oder unrechtmäßigen Aufenthalts Strafen zu verhängen, vorausgesetzt, dass sie sich unverzüglich bei den Behörden melden und Gründe darlegen, die ihre unrechtmäßige Einreise oder ihren unrechtmäßigen Aufenthalt rechtfertigen.
60 Zweitens verpflichtet der Schengener Grenzkodex, der nach seinem Art. 3 Buchst. b auf alle Personen Anwendung findet, die die Binnengrenzen oder die Außengrenzen eines Mitgliedstaats überschreiten, unbeschadet der Rechte der Flüchtlinge und Personen, die um internationalen Schutz ersuchen, insbesondere hinsichtlich der Nichtzurückweisung, die Mitgliedstaaten gemäß seinem Art. 4 dazu, „unter umfassender Einhaltung der einschlägigen Rechtsvorschriften der Union, einschließlich der [Charta], und des einschlägigen Völkerrechts, darunter auch [des Genfer Abkommens] und der Verpflichtungen im Zusammenhang mit dem Zugang zu internationalem Schutz, insbesondere des Grundsatzes der Nichtzurückweisung …“, zu handeln.
61 Drittens muss jedem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen das Recht zuerkannt werden, im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats – auch an den Grenzen oder in Transitzonen – einen Antrag auf internationalen Schutz zu stellen, selbst wenn er sich illegal in diesem Hoheitsgebiet aufhält, ohne dass es darauf ankommt, welche Erfolgsaussichten sein Antrag hat. Mit der Stellung eines solchen Antrags kann der Antragsteller grundsätzlich nicht als illegal im Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats aufhältig angesehen werden, solange über seinen Antrag nicht erstinstanzlich entschieden worden ist, es sei denn, dadurch würde die Wirksamkeit des durch Art. 18 der Charta gewährleisteten Asylrechts gefährdet (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 17. Dezember 2020, Kommission/Ungarn [Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen], C‑808/18, EU:C:2020:1029, Rn. 102, sowie vom 16. November 2021, Kommission/Ungarn [Pönalisierung der Unterstützung von Asylbewerbern], C‑821/19, EU:C:2021:930, Rn. 136 und 137).
62 Außerdem ergibt sich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs, dass Maßnahmen, die ohne vernünftige Rechtfertigung dazu führen, dass ein Drittstaatsangehöriger davon abgehalten wird, seinen Antrag auf internationalen Schutz bei den zuständigen Behörden zu stellen, die Wirksamkeit des in Art. 18 der Charta gewährleisteten Asylrechts beeinträchtigen könnten (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 17. Dezember 2020, Kommission/Ungarn [Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen], C‑808/18, EU:C:2020:1029, Rn. 102, 103, 118 und 119, sowie vom 22. Juni 2023, Kommission/Ungarn [Absichtserklärung im Vorfeld eines Asylantrags], C‑823/21, EU:C:2023:504, Rn. 47 bis 51).
63 Viertens geht aus dem neunten Erwägungsgrund der Richtlinie 2013/33 hervor, dass die Mitgliedstaaten bestrebt sein sollten, bei der Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen, die uneingeschränkte Achtung der Grundsätze des Kindeswohls und der Einheit der Familie zu gewährleisten.
64 Darüber hinaus wird in der Schlussakte der Konferenz der Bevollmächtigten der Vereinten Nationen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge und Staatenlosen vom 25. Juli 1951, in der der Text des Genfer Abkommens ausgearbeitet worden ist, hervorgehoben, dass „die Einheit der Familie … ein wesentliches Recht des Flüchtlings“ ist. Auch die Richtlinie 2011/95 zielt nach ihrem 16. Erwägungsgrund darauf ab, die uneingeschränkte Wahrung des Asylrechts für Asylsuchende und die sie begleitenden Familienangehörigen sicherzustellen sowie die Anwendung u. a. der Art. 7 und 24 der Charta zu fördern. Im 18. Erwägungsgrund dieser Richtlinie wird klargestellt, dass die Mitgliedstaaten bei der Umsetzung der Richtlinie vorrangig das Wohl des Kindes berücksichtigen und bei der Bewertung der Frage, was dem Wohl des Kindes dient, insbesondere dem Grundsatz des Familienverbands Rechnung tragen sollten. So verpflichtet Art. 23 Abs. 1 derselben Richtlinie die Mitgliedstaaten ausdrücklich dazu, dafür Sorge zu tragen, dass der Familienverband aufrechterhalten werden kann.
65 Im vorliegenden Fall genießt OB, da sie einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, die Rechte, die sich aus der Stellung eines solchen Antrags ergeben, so dass gegen sie weder wegen ihrer eigenen unrechtmäßigen Einreise in das italienische Hoheitsgebiet noch wegen der Tatsache Strafen verhängt werden dürfen, dass sie in Begleitung ihrer Tochter und ihrer Nichte eingereist ist, für die sie die tatsächliche Sorge ausübt.
66 Als Viertes wird die in den Rn. 45 bis 65 des vorliegenden Urteils vorgenommene Auslegung von Art. 1 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2002/90, wie die Kommission in ihren schriftlichen Erklärungen bemerkt hat, durch das Palermo-Protokoll über die Schleusung von Migranten untermauert, in dessen Licht die Richtlinie auszulegen ist. Nach Art. 2 des Protokolls zielt dieses nämlich darauf ab, die Schleusung von Migranten zu kriminalisieren, gleichzeitig aber die Rechte der Migranten selbst zu schützen.
67 Die vorstehende Auslegung führt keineswegs dazu, dass Verhaltensweisen dem Anwendungsbereich des Strafrechts entzogen werden, die unter dem Vorwand der Rechtfertigung durch familiäre Bindungen in Wirklichkeit andere Zwecke wie illegale Einwanderung, illegale Beschäftigung, Menschenhandel oder sexuelle Ausbeutung von Kindern verfolgen könnten, wodurch die Kinder schweren Verletzungen ihrer Grundrechte ausgesetzt würden. In diesem Zusammenhang ist hervorzuheben, dass die Richtlinie 2002/90, wie es in ihrem fünften Erwägungsgrund heißt, andere Rechtsinstrumente, die zur Bekämpfung von illegaler Einwanderung, illegaler Beschäftigung, Menschenhandel und sexueller Ausbeutung von Kindern beschlossen wurden, ergänzt, aber nicht ersetzt.
68 Als Fünftes und Letztes hat eine mit den Art. 7 und 24 der Charta sowie deren Art. 52 Abs. 1 im Einklang stehende Auslegung von Art. 1 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2002/90 zur Folge, dass ein Verhalten wie das im Ausgangsverfahren in Rede stehende vom Anwendungsbereich des Tatbestands der Beihilfe zur unerlaubten Einreise im Sinne der letztgenannten Vorschrift ausgenommen ist, so dass es nicht erforderlich ist, die Gültigkeit von Art. 1 der Richtlinie 2002/90 zu prüfen oder dessen Abs. 2 auszulegen, der sich auf die Befreiung von der strafrechtlichen Verantwortlichkeit bezieht, wenn das Ziel des fraglichen Verhaltens die humanitäre Unterstützung der betroffenen Person ist.
69 In Anbetracht der Fragen des vorlegenden Gerichts nach der Vereinbarkeit der nationalen Vorschrift, mit der u. a. Art. 1 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2002/90 in die italienische Rechtsordnung umgesetzt wurde, ist außerdem darauf hinzuweisen, dass die Behörden und Gerichte der Mitgliedstaaten bei der Durchführung der Maßnahmen zur Umsetzung einer Richtlinie nach ständiger Rechtsprechung nicht nur ihr nationales Recht im Einklang mit dieser Richtlinie auszulegen, sondern auch darauf zu achten haben, dass sie sich nicht auf eine Auslegung der Richtlinie stützen, die mit den durch die Rechtsordnung der Union geschützten Grundrechten oder mit anderen in dieser Rechtsordnung anerkannten allgemeinen Grundsätzen kollidiert (Urteile vom 29. Januar 2008, Promusicae, C‑275/06, EU:C:2008:54, Rn. 68, sowie vom 21. Juni 2022, Ligue des droits humains, C‑817/19, EU:C:2022:491, Rn. 87 und die dort angeführte Rechtsprechung).
70 Wie in Rn. 42 des vorliegenden Urteils bemerkt worden ist, ergibt sich in diesem Zusammenhang aus den Erwägungsgründen 3 und 4 der Richtlinie 2002/90 ferner, dass deren Art. 1 Abs. 1 darauf abzielt, den Tatbestand der Beihilfe zur illegalen Einwanderung genau zu definieren, um so die Umsetzung des Rahmenbeschlusses 2002/946 wirksamer zu gestalten.
71 Folglich dürfen die Mitgliedstaaten bei der Umsetzung von Art. 1 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2002/90 nicht unter Verstoß gegen die Art. 7 und 24 sowie Art. 52 Abs. 1 der Charta im nationalen Recht Vorschriften einführen, die über den Anwendungsbereich des in der erstgenannten Bestimmung definierten allgemeinen Tatbestands der Beihilfe zur unerlaubten Einreise hinausgehen, indem sie Verhaltensweisen einbeziehen, die von dieser Bestimmung nicht erfasst werden.
72 Im Übrigen entfalten die besagten Art. 7 und 24 aus sich heraus Wirkung und müssen nicht durch Bestimmungen des Unionsrechts oder des nationalen Rechts konkretisiert werden, um dem Einzelnen Rechte zu verleihen, die er als solche geltend machen kann. Sollte das vorlegende Gericht feststellen, dass eine unionsrechtskonforme Auslegung seines nationalen Rechts nicht in Betracht kommt, wäre es daher verpflichtet, im Rahmen seiner Befugnisse den dem Einzelnen aus diesen Artikeln erwachsenden Rechtsschutz zu gewährleisten und für die volle Wirksamkeit dieser Bestimmungen zu sorgen, indem es erforderlichenfalls Art. 12 des Einheitstexts über die Einwanderung unangewendet lässt (vgl. entsprechend Urteil vom 17. April 2018, Egenberger, C‑414/16, EU:C:2018:257, Rn. 78 und 79).
73 Aus den vorstehenden Gründen ist auf die vorgelegten Fragen zu antworten, dass Art. 1 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2002/90 im Licht der Art. 7 und 24 sowie von Art. 52 Abs. 1 der Charta dahin auszulegen ist, dass zum einen das Verhalten einer Person, die unter Verstoß gegen die Regelung für den Grenzübertritt von Personen minderjährige Drittstaatsangehörige, die sie begleiten und für die sie die tatsächliche Sorge ausübt, in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats bringt, nicht unter den allgemeinen Tatbestand der Beihilfe zur unerlaubten Einreise fällt und zum anderen diese Artikel der Charta nationalen Rechtsvorschriften entgegenstehen, die ein solches Verhalten strafrechtlich ahnden.
Kosten
74 Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Große Kammer) für Recht erkannt:
Art. 1 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2002/90/EG des Rates vom 28. November 2002 zur Definition der Beihilfe zur unerlaubten Ein- und Durchreise und zum unerlaubten Aufenthalt ist im Licht der Art. 7 und 24 sowie von Art. 52 Abs. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union
dahin auszulegen, dass
zum einen das Verhalten einer Person, die unter Verstoß gegen die Regelung für den Grenzübertritt von Personen minderjährige Drittstaatsangehörige, die sie begleiten und für die sie die tatsächliche Sorge ausübt, in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats bringt, nicht unter den allgemeinen Tatbestand der Beihilfe zur unerlaubten Einreise fällt und zum anderen diese Artikel der Charta nationalen Rechtsvorschriften entgegenstehen, die ein solches Verhalten strafrechtlich ahnden.
Unterschriften
(*1) Verfahrenssprache: Italienisch.
(i
) Die vorliegende Rechtssache ist mit einem fiktiven Namen bezeichnet, der nicht dem echten Namen eines Verfahrensbeteiligten entspricht.
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Urteil des Gerichts (Siebte erweiterte Kammer) vom 19. März 2025 (Auszüge).#LG Chem, Ltd. gegen Europäische Kommission.#Dumping – Einfuhr von superabsorbierenden Polymeren mit Ursprung in der Republik Korea – Durchführungsverordnung (EU) 2022/547 – Endgültiger Antidumpingzoll – Art. 3 Abs. 2, 3, 5, 6 und 7 der Verordnung (EU) 2016/1036 – Art. 9 Abs. 4 der Verordnung 2016/1036 – Feststellung der Schädigung – Prüfung der Auswirkungen der gedumpten Einfuhren auf die Preise gleichartiger Waren, die auf dem Unionsmarkt verkauft werden – Analyse der Preisunterbietung – Anwendung der Methode der Warenkennnummern – Ursächlicher Zusammenhang – Prüfung der Zurechenbarkeit bzw. Nichtzurechenbarkeit – Andere bekannte Faktoren – Höhe des Antidumpingzolls – Verteidigungsrechte – Grundsatz der guten Verwaltung.#Rechtssache T-356/22.
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62022TJ0356
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ECLI:EU:T:2025:319
| 2025-03-19T00:00:00 |
Gericht
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62022TJ0356_EXT
URTEIL DES GERICHTS (Siebte erweiterte Kammer)
19. März 2025 (*1)
„Dumping – Einfuhr von superabsorbierenden Polymeren mit Ursprung in der Republik Korea – Durchführungsverordnung (EU) 2022/547 – Endgültiger Antidumpingzoll – Art. 3 Abs. 2, 3, 5, 6 und 7 der Verordnung (EU) 2016/1036 – Art. 9 Abs. 4 der Verordnung 2016/1036 – Feststellung der Schädigung – Prüfung der Auswirkungen der gedumpten Einfuhren auf die Preise gleichartiger Waren, die auf dem Unionsmarkt verkauft werden – Analyse der Preisunterbietung – Anwendung der Methode der Warenkennnummern – Ursächlicher Zusammenhang – Prüfung der Zurechenbarkeit bzw. Nichtzurechenbarkeit – Andere bekannte Faktoren – Höhe des Antidumpingzolls – Verteidigungsrechte – Grundsatz der guten Verwaltung“
In der Rechtssache T‑356/22,
LG Chem, Ltd. mit Sitz in Seoul (Südkorea), vertreten durch Rechtsanwältin P. Vander Schueren, Rechtsanwalt E. Gergondet und Rechtsanwältin A. Nosowicz,
Klägerin,
gegen
Europäische Kommission, vertreten durch G. Luengo und J. Zieliński als Bevollmächtigte,
Beklagte,
unterstützt durch
BASF Antwerpen NV mit Sitz in Antwerpen (Belgien)
und
Nippon Shokubai Europe NV mit Sitz in Antwerpen,
vertreten durch Rechtsanwältin M.‑S. Dibling und Rechtsanwalt J. Pauwelyn,
und durch
Evonik Superabsorber GmbH mit Sitz in Essen (Deutschland), vertreten durch Rechtsanwälte T. Wessely und T. Oeyen sowie A. Çelebi, Solicitor,
Streithelferinnen,
erlässt
DAS GERICHT (Siebte erweiterte Kammer)
unter Mitwirkung der Präsidentin K. Kowalik-Bańczyk, der Richter E. Buttigieg, G. Hesse und I. Dimitrakopoulos (Berichterstatter) sowie der Richterin B. Ricziová,
Kanzler: M. Zwozdziak-Carbonne, Verwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
auf die mündliche Verhandlung vom 11. April 2024
folgendes
Urteil (1 )
1 Mit ihrer Klage nach Art. 263 AEUV beantragt die Klägerin, die LG Chem, Ltd. die Nichtigerklärung der Durchführungsverordnung (EU) 2022/547 der Kommission vom 5. April 2022 zur Einführung eines endgültigen Antidumpingzolls auf die Einfuhren von superabsorbierenden Polymeren mit Ursprung in der Republik Korea (ABl. 2022, L 107, S. 27, im Folgenden: angefochtene Verordnung), soweit sie sie betrifft.
[nicht wiedergegeben]
II. Anträge der Parteien
23 Die Klägerin beantragt,
–
die angefochtene Verordnung für nichtig zu erklären, soweit sie sie betrifft;
–
der Kommission die Kosten aufzuerlegen.
24 Die Kommission, unterstützt durch BASF, NSE und Evonik, beantragt,
–
die Klage als unbegründet abzuweisen;
–
der Klägerin die Kosten aufzuerlegen.
III. Rechtliche Würdigung
25 Die Klägerin stützt ihre Klage auf vier Gründe. Mit dem ersten Klagegrund macht sie im Wesentlichen geltend, die Kommission habe bei der Untersuchung der Auswirkungen der Einfuhren aus der Republik Korea auf die Preise offensichtliche Beurteilungsfehler begangen, gegen Art. 3 Abs. 3 der Verordnung (EU) 2016/1036 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 8. Juni 2016 über den Schutz gegen gedumpte Einfuhren aus nicht zur Europäischen Union gehörenden Ländern (ABl. 2017, L 388, S. 21) (im Folgenden: Grundverordnung) verstoßen und die Verteidigungsrechte der Klägerin verletzt. Mit dem zweiten Klagegrund macht sie im Wesentlichen geltend, die Kommission habe offensichtliche Beurteilungsfehler begangen und gegen Art. 3 Abs. 2, 5, 6 und 7 der Grundverordnung sowie die Begründungspflicht verstoßen, indem sie die Schädigung der Unionshersteller voreingenommen untersucht habe und damit den geltend gemachten Schaden den koreanischen Einfuhren anstatt anderen bekannten Faktoren zugeschrieben habe. Mit dem dritten Klagegrund macht sie im Wesentlichen geltend, die Kommission habe offensichtliche Beurteilungsfehler begangen und gegen Art. 3 Abs. 3 und Art. 9 Abs. 4 der Grundverordnung verstoßen sowie die Verteidigungsrechte der Klägerin verletzt, indem sie die Schadensspanne auf der Grundlage einer vereinfachten Warenkennnummer [(Product Control Number, im Folgenden PCN)] ermittelt habe, keine nicht vertraulichen Zusammenfassungen geeigneter Berechnungen der Schadensspanne vorgelegt habe und keine anderen bekannten Schadensfaktoren bei ihrer Ermittlung der Schadensspanne berücksichtigt habe. Mit dem vierten Klagegrund macht die Klägerin im Wesentlichen geltend, die Kommission habe die Untersuchung unter Verletzung ihrer Verteidigungsrechte und des Rechts auf eine gute Verwaltung durchgeführt.
[nicht wiedergegeben]
C.
Zum dritten Klagegrund: offensichtliche Beurteilungsfehler sowie Verstoß gegen Art. 3 Abs. 3 und Art. 9 Abs. 4 der Grundverordnung und Verletzung der Verteidigungsrechte, weil die Schadensspanne auf der Grundlage einer vereinfachten PCN ermittelt worden sei, keine nicht vertraulichen Zusammenfassungen geeigneter Berechnungen der Schadensspanne vorgelegt worden seien und andere bekannte Schadensfaktoren bei der Ermittlung der Schadensspanne nicht berücksichtigt worden seien
266 Im Rahmen des dritten Klagegrundes macht die Klägerin im Wesentlichen geltend, die von der Kommission in der angefochtenen Verordnung ermittelte Schadensspanne sei mit Art. 3 Abs. 3 und Art. 9 Abs. 4 der Grundverordnung unvereinbar und die Kommission habe die Verteidigungsrechte der Klägerin verletzt. Dieser Klagegrund wird auf zwei Rügen gestützt.
[nicht wiedergegeben]
268 Im Rahmen der zweiten Rüge trägt die Klägerin vor, die Kommission hätte nach Art. 9 Abs. 4 der Grundverordnung einen Antidumpingzoll verhängen müssen, der nicht über das hinausgehe, was erforderlich sei, um die schädigenden Auswirkungen der fraglichen Einfuhren abzuwenden, und der Betrag dürfe daher nicht so hoch sein, dass er schädigende Auswirkungen abwende, die durch andere Faktoren als diese Einfuhren verursacht worden seien. Die Klägerin meint, mit dem dritten Teil des zweiten Klagegrundes nachgewiesen zu haben, dass andere bekannte Schadensfaktoren vorgelegen hätten, die von der Kommission zu prüfen gewesen wären. Da die von der Kommission durchgeführten Berechnungen der Schadensspanne diese anderen Faktoren nicht berücksichtigt hätten, gebe es keine Garantie dafür, dass die Höhe des verhängten Antidumpingzolls nicht auch schädigende Auswirkungen anderer Faktoren als der Einfuhren aus der Republik Korea abwende. Darüber hinaus habe die Klägerin im Verwaltungsverfahren die Höhe des Schadens, der anderen bekannten Faktoren zugerechnet werden müsse, zurückhaltend bewertet. Das Vorbringen der Kommission, die Berechnung der Zielpreisunterbietung berücksichtige die Auswirkungen anderer Schadensursachen per definitionem nicht, stehe im Widerspruch zur Verpflichtung, den untersuchten Einfuhren keine schädigenden Auswirkungen anderer Faktoren zuzurechnen, und sei insofern fehlerhaft, als die koreanischen Preise in gleichem Maß durch die Auswirkungen von Billigeinfuhren aus Japan und der Türkei wie durch die Kampfpreisstrategie von NSE und die Preisformel für superabsorbierende Polymere [(im Folgenden: SAP)] unter Druck ständen, wohingegen die Kosten des Wirtschaftszweigs der Union durch hohe Investitionskosten in die Höhe getrieben würden.
269 Die Kommission tritt, unterstützt von den Streithelferinnen, dem Vorbringen der Klägerin entgegen. Sie macht im Wesentlichen geltend, die von ihr in der angefochtenen Verordnung berechnete Schadensspanne berücksichtige ausschließlich die Differenz zwischen den Verkaufspreisen der Klägerin und dem hypothetischen Zielpreis des Wirtschaftszweigs der Union. Die Schadensspanne drücke daher den Zoll aus, der erforderlich sei, um die allein durch die Einfuhren der Klägerin verursachte Schädigung zu beseitigen.
270 Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass Art. 9 Abs. 4 Unterabs. 2 der Grundverordnung vorsieht, dass „[d]er Antidumpingzoll … die festgestellte Dumpingspanne nicht übersteigen [darf]; er sollte jedoch unter der Dumpingspanne liegen, wenn ein niedrigerer Zoll ausreicht, um die Schädigung des Wirtschaftszweigs der Union zu beseitigen“ und dass „Artikel 7 Absätze 2a, 2b, 2c und 2d … entsprechend [gilt]“.
271 Art. 7 Abs. 2c der Grundverordnung in der durch die Verordnung (EU) 2018/825 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 30. Mai 2018 (ABl. 2018, L 143, S. 1) geänderten Fassung lautet:
„Wird die Schädigungsspanne auf der Grundlage eines Zielpreises berechnet, so wird die herangezogene Zielgewinnspanne unter Berücksichtigung von Faktoren wie der Höhe der Rentabilität vor der Steigerung der Einfuhren aus dem Land, das Gegenstand der Untersuchung ist, der Höhe der Rentabilität, die zur Deckung sämtlicher Kosten und Investitionen, Forschung und Entwicklung (FuE) sowie Innovation erforderlich ist, und der Höhe der Rentabilität, die unter normalen Wettbewerbsbedingungen zu erwarten ist, festgelegt. Diese Gewinnspanne darf nicht niedriger als 6 % sein.“
272 In Art. 7 Abs. 2d der Grundverordnung in der durch die Verordnung 2018/825 geänderten Fassung heißt es:
„Bei der Festlegung des Zielpreises werden die tatsächlichen Herstellungskosten des Wirtschaftszweigs der Union, wie sie sich aus den multilateralen Umweltübereinkünften und den zugehörigen Protokollen, deren Vertragspartei die Union ist, oder aus den in Anhang Ia dieser Verordnung aufgeführten Übereinkommen der Internationalen Arbeitsorganisation (IAO) ergeben, gebührend berücksichtigt. Darüber hinaus werden künftige, nicht unter Absatz 2c dieses Artikels fallende Kosten, die sich aus diesen Übereinkünften und Übereinkommen ergeben und die dem Wirtschaftszweig der Union während des Zeitraums der Anwendung der Maßnahme nach Artikel 11 Absatz 2 entstehen, berücksichtigt.“
273 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass Art. 9 Abs. 4 der Grundverordnung die „Regel des niedrigeren Zolls“ enthält, d. h. der Antidumpingzoll muss niedriger als die festgestellte Dumpingspanne sein, wenn ein niedrigerer Zoll ausreicht, um die Schädigung des Wirtschaftszweigs der Union zu beseitigen. Diese Regel soll verhindern, dass der festgesetzte Antidumpingzoll über das hinausgeht, was erforderlich ist, um die Schädigung dieses Wirtschaftszweigs durch die gedumpten Einfuhren zu beseitigen. Eine solche Regel ist im Hinblick auf das Wesen und den Zweck der Antidumpingzölle gerechtfertigt, die weder Sanktionen noch Ausgleichsmaßnahmen zur Kompensation der entstandenen Schäden darstellen, sondern Maßnahmen zum Schutz gegen unlauteren Wettbewerb infolge gedumpter Einfuhren. Diese Zölle zielen nur darauf ab, gedumpte Einfuhren zu verhindern oder wirtschaftlich uninteressant zu machen und so ein durch dieses Dumping verursachtes Ungleichgewicht auf dem nationalen Markt zu beseitigen (vgl. Urteil vom 8. Juni 2023, Severstal und NLMK/Kommission, C‑747/21 P und C‑748/21 P, EU:C:2023:459, Rn. 72 und 73 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).
274 Außerdem enthält Art. 9 Abs. 4 der Grundverordnung zwar keine Anleitung für die konkrete Berechnung des Antidumpingzolls und verpflichtet die Unionsorgane zu keiner bestimmten Methodik, um sicherzustellen, dass der Antidumpingzoll nicht über das hinausgeht, was erforderlich ist, um die schädigenden Auswirkungen der Einfuhren der betreffenden gedumpten Ware abzuwenden. Die Organe müssen jedoch in diesem Rahmen die Ergebnisse berücksichtigen, zu denen sie bei den nach Art. 3 Abs. 6 und 7 der Grundverordnung vorgenommenen Prüfungen der Zurechenbarkeit bzw. Nichtzurechenbarkeit gelangt sind (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 27. März 2019, Canadian Solar Emea u. a./Rat, C‑236/17 P, EU:C:2019:258, Rn. 161 und 163).
275 Damit die durch Art. 9 Abs. 4 der Grundverordnung vorgeschriebene Höhe des Antidumpingzolls nicht über das hinausgeht, was erforderlich ist, um die schädigenden Auswirkungen der gedumpten Einfuhren abzuwenden, dürfen darin keine schädigenden Auswirkungen Berücksichtigung finden, die durch andere Faktoren als diese Einfuhren verursacht wurden. Mit anderen Worten müssen die Organe für die Festsetzung der Höhe die Ergebnisse berücksichtigen, zu denen sie infolge der Prüfung bezüglich der Feststellung der Schädigung im Sinne von Art. 3 Abs. 6 und 7 der Grundverordnung gelangt sind. Dies wird im Übrigen durch den Wortlaut von Art. 9 Abs. 4 der Grundverordnung bestätigt, in dem von „Dumping und eine[r] dadurch verursachte[n] Schädigung“ die Rede ist. Der Begriff „Schädigung“ in diesem Absatz ist gleichermaßen als Bezugnahme auf die aus Dumping resultierende Schädigung zu verstehen, d. h. auf die Schädigung, die allein durch die gedumpten Einfuhren verursacht wurde (Urteil vom 27. März 2019, Canadian Solar Emea u. a./Rat, C‑236/17 P, EU:C:2019:258, Rn. 169 und 170; vgl. in diesem Sinne Urteil vom 3. Dezember 2020, Changmao Biochemical Engineering/Distillerie Bonollo u. a., C‑461/18 P, EU:C:2020:979, Rn. 65).
276 Zu Art. 7 Abs. 2c der Grundverordnung ist darauf hinzuweisen, dass darin das im Rahmen der Methode der Berechnung der „Zielpreisunterbietung“ gewählte Vorgehen zur Bestimmung der Schadensspanne weitgehend kodifiziert wird (vgl. in diesem Sinne Schlussanträge des Generalanwalts Emiliou in den verbundenen Rechtssachen Severstal und Novolipetsk Steel/Kommission, C‑747/21 P und C‑748/21 P, EU:C:2023:20, Nrn. 33 bis 35 und 57).
277 Nach dieser Methode wird die Schadensspanne berechnet, indem der Preis der gedumpten Einfuhren mit dem Zielverkaufspreis des Wirtschaftszweigs der Union verglichen wird. Der letztgenannte Preis entspricht dem Preis, den der Wirtschaftszweig der Union auf dem Unionsmarkt ohne diese Einfuhren vernünftigerweise erwarten konnte. Um einen solchen hypothetischen Preis zu ermitteln, wird zu den Herstellungskosten des Wirtschaftszweigs der Union eine angestrebte Gewinnspanne hinzugerechnet. Diese angestrebte Gewinnspanne entspricht der Gewinnspanne, die der Wirtschaftszweig der Union unter normalen Marktbedingungen vernünftigerweise erwarten konnte (Urteil vom 8. Juni 2023, Severstal und NLMK/Kommission, C‑747/21 P und C‑748/21 P, EU:C:2023:459, Rn. 74).
278 Der Gerichtshof hat im Wesentlichen entschieden, dass die Anwendung dieser Methode in den Beurteilungsspielraum der Kommission fällt. Die Verwendung eines Zielpreises zur Bestimmung der Schadensspanne anstelle des tatsächlichen Verkaufspreises des Wirtschaftszweigs der Union ermöglicht es, dem Abwärtsdruck der gedumpten Einfuhren auf die Verkaufspreise des Wirtschaftszweigs der Union Rechnung zu tragen. Die Berücksichtigung dieses Drucks trägt aber dazu bei, dass die mit dieser Methode erzielten Ergebnisse wirklichkeitsnah sind (Urteil vom 8. Juni 2023, Severstal und NLMK/Kommission, C‑747/21 P und C‑748/21 P, EU:C:2023:459, Rn. 77).
279 Schließlich ist festzustellen, dass Art. 7 Abs. 2c der Grundverordnung auf Verfahren anwendbar ist, die ab dem 8. Juni 2018 eingeleitet wurden. Daher ist er im vorliegenden Fall anwendbar.
280 Im vorliegenden Fall hat die Kommission Art. 7 Abs. 2c der Grundverordnung angewandt und die Schadensspanne auf Grundlage eines Zielpreises berechnet.
281 Im Einzelnen hat die Kommission in Abschnitt 5 der angefochtenen Verordnung ausgeführt, dass die Einfuhren aus der Republik Korea aufgrund ihrer Menge und ihrer Preise eine bedeutende Schädigung des Wirtschaftszweigs der Union im Sinne von Art. 3 Abs. 6 der Grundverordnung verursacht hätten. Im Rahmen der Prüfung von Art. 3 Abs. 7 der Grundverordnung hat die Kommission zwar eingeräumt, dass die Einfuhren aus der Türkei und aus Japan Faktoren darstellten, die zur Schädigung des Wirtschaftszweigs der Union beigetragen hätten, ist aber in der Sache zu dem Ergebnis gekommen, dass diese Faktoren nicht hinreichend erheblich seien, um den ursächlichen Zusammenhang abzuschwächen.
282 In Abschnitt 7 der angefochtenen Verordnung hat die Kommission geprüft, ob ein Zoll, der niedriger als die Dumpingspanne ist, ausreichen würde, um gemäß Art. 9 Abs. 4 der Grundverordnung die Schädigung des Wirtschaftszweigs der Union durch die gedumpten Einfuhren zu beseitigen. Im 378. Erwägungsgrund der angefochtenen Verordnung hat die Kommission festgestellt, dass dies der Fall wäre, wenn der Wirtschaftszweig der Union in der Lage wäre, seine Herstellkosten zu decken und durch Verkäufe zu einem Zielpreis im Sinne von Art. 7 Abs. 2c und 2d der Grundverordnung einen angemessenen Gewinn (anders ausgedrückt eine „Zielgewinnspanne“) zu erzielen.
283 In den Erwägungsgründen 378 bis 380 sowie 383 und 384 der angefochtenen Verordnung hat die Kommission ihre Methodik wie folgt dargelegt:
„(378)
Die Kommission ermittelte zunächst den Zollsatz, der zur Beseitigung der Schädigung des Wirtschaftszweigs der Union erforderlich ist. In diesem Fall würde die Schädigung dann beseitigt, wenn der Wirtschaftszweig der Union in der Lage wäre, seine Herstellkosten – einschließlich der Kosten, die durch von der Union geschlossene multilaterale Umweltübereinkünfte und die dazugehörigen Protokolle sowie durch die in Anhang Ia der Grundverordnung aufgeführten Übereinkommen der IAO entstehen – zu decken und durch Verkäufe zu einem Zielpreis im Sinne des Artikels 7 Absätze 2c und 2d der Grundverordnung einen angemessenen Gewinn (im Folgenden ‚Zielgewinnspanne‘) zu erzielen.
(379) Nach Artikel 7 Absatz 2c der Grundverordnung berücksichtigte die Kommission zur Ermittlung der Zielgewinnspanne die Höhe der Rentabilität vor der Steigerung der Einfuhren aus dem betroffenen Land und die Höhe der Rentabilität, die unter normalen Wettbewerbsbedingungen zu erwarten ist. Diese Gewinnspanne sollte nicht niedriger als 6 % sein.
(380) Die Kommission legte einen Grundgewinn fest, mit dem sämtliche Kosten unter normalen Wettbewerbsbedingungen gedeckt werden. Der Wirtschaftszweig der Union verzeichnete im gesamten Bezugszeitraum Verluste. Da dieser Wert unter dem in Artikel 7 Absatz 2c der Grundverordnung vorgeschriebenen Mindestwert von 6 % lag, wurde diese Gewinnspanne durch 6 % ersetzt.
…
(383) Auf dieser Grundlage berechnete die Kommission einen nicht schädigenden Preis der gleichartigen Ware für den Wirtschaftszweig der Union, indem sie auf die Herstellkosten, die den in die Stichprobe einbezogenen Unionsherstellern im Untersuchungszeitraum entstanden sind, die Zielgewinnspanne von 6 % anwandte und dann für jeden Warentyp getrennt die Berichtigungen nach Artikel 7 Absatz 2d der Grundverordnung aufschlug.
(384) Anschließend ermittelte die Kommission die Schadensbeseitigungsschwelle für jeden Warentyp getrennt anhand eines Vergleichs des gewogenen durchschnittlichen Einfuhrpreises der in die Stichprobe einbezogenen ausführenden Hersteller in dem betroffenen Land, wie er bei den Preisunterbietungsberechnungen ermittelt wurde, mit dem gewogenen durchschnittlichen nicht schädigenden Preis der von den in die Stichprobe einbezogenen Unionsherstellern im Untersuchungszeitraum auf dem freien Unionsmarkt verkauften gleichartigen Ware. Die sich aus diesem Vergleich ergebende Differenz wurde als Prozentsatz des gewogenen durchschnittlichen CIF‑Einfuhrwerts [(Kosten, Versicherung und Fracht)] ausgedrückt.“
284 Die Schadenbeseitigungsschwelle (endgültige Schadensspanne) wurde damit bezogen auf die Klägerin auf 34,4 % festgesetzt (vgl. 385. Erwägungsgrund der angefochtenen Verordnung).
285 Schließlich hat die Kommission Folgendes ausgeführt:
„(386)
Nach der endgültigen Unterrichtung brachte [die Klägerin] vor, dass die Ermittlung der Schadensspanne mit demselben Fehler behaftet sei wie die Berechnungen der Preisunterbietung, und dass [ihre] für die Preisunterbietung angestellten Überlegungen entsprechend gelten würden. Auch sollte die Schadensspanne um die Auswirkungen der anderen von [der Klägerin] angeführten Faktoren berichtigt werden.
(387) Die Kommission verwies auf ihre Argumente in den Erwägungsgründen 184 bis 188 sowie auf ihre Widerlegung der Argumente [der Klägerin] zu den Auswirkungen der Einfuhren aus anderen Ländern, der SAP-Preisformel und den Investitionen des Wirtschaftszweigs der Union, die in den jeweiligen Abschnitten der Schadensanalyse ausgeführt wurde. Diese Vorbringen wurden daher auch in Bezug auf die Ermittlung der Schadensspanne zurückgewiesen.“
[nicht wiedergegeben]
288 Als Zweites rügt die Klägerin, die von der Kommission in der angefochtenen Verordnung verwendete Methodik sei nicht geeignet gewesen, um sicherzustellen, dass schädigende Auswirkungen anderer Faktoren als der koreanischen Einfuhren – nämlich der SAP-Preisformel sowie der Auswirkungen der Investitionen des Wirtschaftszweigs der Union zum einen und der Einfuhren aus der Türkei und aus Japan zum anderen – bei der Höhe des Antidumpingzolls keine Berücksichtigung fänden.
289 Erstens ergibt sich zur SAP-Preisformel und zu den Auswirkungen der Investitionen des Wirtschaftszweigs der Union aus der Prüfung der ersten Rüge des dritten Teils des zweiten Klagegrundes (siehe oben, Rn. 227 bis 232), dass die Klägerin keinen Nachweis dafür erbracht hat, dass solche Faktoren zur Schädigung des Wirtschaftszweigs der Union beigetragen hätten. Folglich kann die Klägerin der Kommission nicht vorwerfen, es versäumt zu haben, die behaupteten schädigenden Auswirkungen dieser Faktoren unberücksichtigt zu lassen.
290 Zweitens ist zu den Einfuhren aus der Türkei und aus Japan darauf hinzuweisen, dass die Klägerin keinen Nachweis dafür erbracht hat, dass die von der Kommission verwendete Methodik für die Bestimmung einer angemessenen Höhe des Zolls, um die Schädigung des Wirtschaftszweigs der Union durch die gedumpten Einfuhren gemäß Art. 9 Abs. 4 der Grundverordnung zu beseitigen, nicht geeignet gewesen wäre. Hierzu ist hervorzuheben, dass die Kommission, indem sie darauf geachtet hat, dass die Schadensspanne lediglich die Differenz zwischen dem gewogenen durchschnittlichen Einfuhrpreis und einem nach Art. 7 Abs. 2c der Grundverordnung berechneten Zielpreis des Wirtschaftszweigs der Union widerspiegelt, dafür Sorge getragen hat, dass die durch andere Faktoren als die gedumpten Einfuhren verursachte Schädigung nicht einbezogen wird.
291 Wie oben in den Rn. 276 bis 278 ausgeführt, beruht die von der Kommission in Anwendung von Art. 7 Abs. 2c der Grundverordnung angewandte Methode der Berechnung der „Zielpreisunterbietung“ auf der Verwendung eines hypothetischen Zielpreises des Wirtschaftszweigs der Union, der im Gegensatz zu den tatsächlichen Verkaufspreisen des Wirtschaftszweigs der Union nicht durch die Auswirkungen der anderen von der Kommission anerkannten Schadensfaktoren beeinflusst wird.
292 Hierzu bringt die Klägerin in ihren beim Gericht eingereichten Schriftsätzen unter Berufung auf das Urteil vom 27. März 2019, Canadian Solar Emea u. a./Rat (C‑236/17 P, EU:C:2019:258), vor, diese Methode widerspreche der in Rn. 169 dieses Urteils genannten Verpflichtung, schädigende Auswirkungen anderer Faktoren nicht den untersuchten Einfuhren zuzurechnen. Die Klägerin beruft sich allerdings auf das vorgenannte Urteil nur, um darzutun, dass eine solche Verpflichtung bestehe, ohne jedoch konkret und substantiiert geltend zu machen, dass dieses Urteil die Verwendung der angesprochenen Methode bei Vorliegen anderer Schadensfaktoren in Frage gestellt habe. Überdies lässt sich dem Urteil nirgends entnehmen, dass der Gerichtshof eine Verwendung der Methode der Berechnung der „Zielpreisunterbietung“, die mittlerweile in Art. 7 Abs. 2c der Grundverordnung kodifiziert ist, mit der Begründung beanstandet hat, dass diese Methode gegen die Regel verstoße, wonach die Höhe des Antidumpingzolls die durch andere Faktoren als die gedumpten Einfuhren verursachten schädigenden Auswirkungen nicht berücksichtigen darf.
293 Außerdem hat die Klägerin den von der Kommission für die Feststellung der Preisunterbietung verwendeten gewogenen durchschnittlichen Einfuhrpreis in der Klageschrift nicht konkret und substantiiert angegriffen. In ihrer Erwiderung macht sie dagegen erstmals geltend, dass die koreanischen Preise ebenfalls durch die Auswirkungen anderer Faktoren, namentlich der japanischen und der türkischen Billigeinfuhren, unter Druck ständen. Da diese Behauptung erstmals in der Erwiderung vorgebracht wird, ist sie unzulässig. In jedem Fall wird die Behauptung, die außerdem nie dazu vorgebracht wurde, um den ursächlichen Zusammenhang zwischen den Einfuhren aus Korea und der Schädigung des Wirtschaftszweigs der Union zu bestreiten, weder in der Erwiderung konkret und detailliert erläutert noch durch konkrete Beweise bezüglich der Auswirkungen dieser anderen Faktoren auf die koreanischen Preise untermauert.
294 Nach alledem ist festzustellen, dass die Klägerin keinen Nachweis dafür erbracht hat, dass die Kommission mit der Anwendung ihrer Berechnungsmethode für die Schadensspanne bzw. für den Antidumpingzoll offensichtliche Beurteilungsfehler begangen und gegen Art. 3 Abs. 3 oder Art. 9 Abs. 4 der Grundverordnung verstoßen hat oder dass die Kommission ihre Verteidigungsrechte verletzt hat.
295 Folglich ist der dritte Klagegrund insgesamt zurückzuweisen.
[nicht wiedergegeben]
E.
Ergebnis
341 Nach alledem ist die Klage in vollem Umfang abzuweisen.
[nicht wiedergegeben]
Aus diesen Gründen hat
DAS GERICHT (Siebte erweiterte Kammer)
für Recht erkannt und entschieden:
1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Die LG Chem, Ltd. trägt ihre eigenen Kosten und die Kosten, die der Europäischen Kommission, der BASF Antwerpen NV, der Nippon Shokubai Europe NV und der Evonik Superabsorber GmbH entstanden sind.
Kowalik-Bańczyk
Buttigieg
Hesse
Dimitrakopoulos
Ricziová
Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 19. März 2025.
Unterschriften
(*1) Verfahrenssprache: Englisch.
(1 ) Es werden nur die Randnummern des Urteils wiedergegeben, deren Veröffentlichung das Gericht für zweckdienlich erachtet.
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Urteil des Gerichtshofs (Fünfte Kammer) vom 6. März 2025.#D. K. u. a.#Vorabentscheidungsersuchen des Sąd Okręgowy w Słupsku.#Vorlage zur Vorabentscheidung – Rechtsstaatlichkeit – Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV – Grundsatz der Unabsetzbarkeit und Unabhängigkeit von Richtern – Beschluss des Kollegiums eines Gerichts, einem Richter alle seine Rechtssachen zu entziehen – Fehlen objektiver Kriterien für den Erlass einer Entscheidung, mit der Rechtssachen entzogen werden – Keine Pflicht zur Begründung einer solchen Entscheidung – Vorrang des Unionsrechts – Pflicht, eine solche Entscheidung, mit der Rechtssachen entzogen werden, unangewendet zu lassen.#Verbundene Rechtssachen C-647/21 und C-648/21.
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62021CJ0647
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ECLI:EU:C:2025:143
| 2025-03-06T00:00:00 |
Gerichtshof, Collins
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Sammlung der Rechtsprechung – allgemein
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62021CJ0647
URTEIL DES GERICHTSHOFS (Fünfte Kammer)
6. März 2025 (*1)
„Vorlage zur Vorabentscheidung – Rechtsstaatlichkeit – Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV – Grundsatz der Unabsetzbarkeit und Unabhängigkeit von Richtern – Beschluss des Kollegiums eines Gerichts, einem Richter alle seine Rechtssachen zu entziehen – Fehlen objektiver Kriterien für den Erlass einer Entscheidung, mit der Rechtssachen entzogen werden – Keine Pflicht zur Begründung einer solchen Entscheidung – Vorrang des Unionsrechts – Pflicht, eine solche Entscheidung, mit der Rechtssachen entzogen werden, unangewendet zu lassen“
In den verbundenen Rechtssachen C‑647/21 und C‑648/21
betreffend Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Sąd Okręgowy w Słupsku (Regionalgericht Słupsk, Polen) mit Entscheidungen vom 20. Oktober 2021, beim Gerichtshof eingegangen am 25. Oktober 2021, in den Strafverfahren gegen
D. K. (C‑647/21),
M. C.,
M. F. (C‑648/21),
Beteiligte:
Prokuratura Rejonowa w Bytowie,
Prokuratura Okręgowa w Łomży,
erlässt
DER GERICHTSHOF (Fünfte Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten der Vierten Kammer I. Jarukaitis (Berichterstatter) in Wahrnehmung der Aufgaben des Präsidenten der Fünften Kammer sowie der Richter D. Gratsias und E. Regan,
Generalanwalt: A. M. Collins,
Kanzler: M. Siekierzyńska, Verwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 24. Januar 2024,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
–
der Prokuratura Rejonowa w Bytowie, vertreten durch T. Rutkowska-Szmydyńska, Prokurator Regionalny w Gdańsku,
–
der Prokuratura Okręgowa w Łomży, vertreten durch A. Bałazy, Zastępca Prokuratora Okręgowego w Łomży,
–
der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna und S. Żyrek als Bevollmächtigte,
–
der dänischen Regierung, vertreten durch D. Elkan, V. Pasternak Jørgensen und M. Søndahl Wolff als Bevollmächtigte,
–
der niederländischen Regierung, vertreten durch M. K. Bulterman und J. Langer als Bevollmächtigte,
–
der schwedischen Regierung, vertreten durch A. M. Runeskjöld und H. Shev als Bevollmächtigte,
–
der Europäischen Kommission, vertreten durch K. Herrmann, P. Stancanelli und P. J. O. Van Nuffel als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 11. April 2024
folgendes
Urteil
1 Die Vorabentscheidungsersuchen betreffen die Auslegung von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV und Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta).
2 Sie ergehen im Rahmen von Strafverfahren gegen D. K. (Rechtssache C‑647/21) sowie gegen M. C. und M. F. (Rechtssache C‑648/21).
Rechtlicher Rahmen
Verfassung der Republik Polen
3 Art. 178 Abs. 1 der Konstytucja Rzeczypospolitej Polskiej (Verfassung der Republik Polen) bestimmt:
„Bei der Ausübung ihres Amtes sind Richter unabhängig und nur der Verfassung und den Gesetzen unterworfen.“
4 Art. 179 dieser Verfassung sieht vor:
„Die Richter werden vom Präsidenten der Republik auf Vorschlag der Krajowa Rada Sądownictwa [(Landesjustizrat, Polen, im Folgenden: KRS)] auf unbestimmte Zeit ernannt.“
5 Art. 180 der Verfassung bestimmt:
„(1) Die Richter sind unabsetzbar.
(2) Gegen seinen Willen darf ein Richter nur durch eine gerichtliche Entscheidung und nur in den gesetzlich bestimmten Fällen seines Amtes enthoben werden, von der Amtsausübung suspendiert oder an einen anderen Ort oder auf eine andere Stelle versetzt werden.“
Gesetz über die ordentliche Gerichtsbarkeit
6 Art. 11 § 3 der Ustawa – Prawo o ustroju sądów powszechnych (Gesetz über den Aufbau der ordentlichen Gerichtsbarkeit) vom 27. Juli 2001 (Dz. U. Nr. 98, Pos. 1070) in der auf die Ausgangsverfahren anwendbaren Fassung (im Folgenden: Gesetz über die ordentliche Gerichtsbarkeit) bestimmt:
„Der Vorsitzende einer Abteilung wird vom Präsidenten des Gerichts ernannt. … Vor der Ernennung des Vorsitzenden einer Abteilung eines Sąd Okręgowy [(Regionalgericht)] oder eines Sąd Rejonowy [(Rayongericht)] konsultiert der Präsident des Gerichts das Kollegium des Sąd Okręgowy [(Regionalgericht)].“
7 Nach Art. 21 § 1 Nr. 2 dieses Gesetzes sind die Organe eines Sąd Okręgowy (Regionalgericht) der Präsident des Gerichts, das Kollegium des Gerichts und der Direktor des Gerichts.
8 In Art. 22a dieses Gesetzes heißt es:
„§ 1. Der Geschäftsverteilungsplan des Sąd Okręgowy [(Regionalgericht)] wird … vom Präsidenten des Sąd Okręgowy [(Regionalgericht)] nach Anhörung des Kollegiums des Sąd Okręgowy [(Regionalgericht)] beschlossen und legt Folgendes fest:
1)
die Zuteilung der Richter … an die Abteilungen des Gerichts;
2)
den Aufgabenbereich der Richter … sowie die Modalitäten ihrer Beteiligung an der Zuweisung von Rechtssachen;
3)
einen Bereitschaftsdienstplan und die Vertretung von Richtern, …
–
unter Berücksichtigung der Spezialisierung der Richter … auf den einzelnen Rechtsgebieten, des Erfordernisses, eine angemessene Zuteilung der Richter … an die Abteilungen des Gerichts und eine gerechte Verteilung ihrer Aufgaben zu gewährleisten, sowie der Notwendigkeit, eine ordnungsgemäße Rechtspflege sicherzustellen.
…
§ 4. Der Präsident des Gerichts kann jederzeit eine vollständige oder teilweise Neuverteilung der Aufgabenbereiche beschließen, wenn die in § 1 genannten Gründe dies rechtfertigen. …
§ 4a. Die Versetzung eines Richters in eine andere Abteilung ist von seiner Zustimmung abhängig.
§ 4b. Die Versetzung eines Richters in eine andere Abteilung ist nicht von seiner Zustimmung abhängig, wenn:
1)
die Versetzung in eine Abteilung erfolgt, die sich mit Sachen aus dem gleichen Bereich befasst;
2)
kein anderer Richter der Abteilung, von der aus die Versetzung erfolgt, seiner Versetzung zugestimmt hat;
3)
der versetzte Richter der Grundbuchabteilung oder der Handelsabteilung der Pfandrechtsregister zugewiesen ist.
§ 4c. § 4b Nrn. 1 und 2 findet keine Anwendung auf einen Richter, der innerhalb von drei Jahren ohne seine Zustimmung in eine andere Abteilung versetzt worden ist. Bei Versetzung eines Richters in eine andere Abteilung ohne seine Zustimmung im Fall des § 4b Nr. 2 ist insbesondere das Dienstalter der Richter in der Abteilung zu berücksichtigen, von der aus sie versetzt werden.
§ 5. Ein Richter oder Richter auf Probe, dessen Aufgaben- und infolgedessen Zuständigkeitsbereich geändert wurde, insbesondere durch Versetzung in eine andere Abteilung des betreffenden Gerichts, kann innerhalb von sieben Tagen ab Zuweisung des neuen Aufgabenbereichs Widerspruch bei der Krajowa Rada Sądownictwa [KRS] einlegen. Der Widerspruch ist nicht statthaft, wenn
1)
er in eine Abteilung versetzt wurde, die sich mit Sachen aus dem gleichen Bereich befasst;
2)
ihm Aufgaben innerhalb derselben Abteilung nach den Grundsätzen übertragen wurden, die auch für die übrigen Richter gelten, insbesondere wenn er von einem Referat oder einer anderen spezialisierten Organisationseinheit abberufen wurde.
§ 6. Der in § 5 genannte Widerspruch ist bei dem Präsidenten des betreffenden Gerichts einzulegen, der die Aufgabenänderung vorgenommen hat, gegen die der Widerspruch gerichtet ist. Der Präsident des Gerichts leitet den Widerspruch innerhalb von 14 Tagen nach Eingang mit seiner Stellungnahme [an die KRS] weiter. Die [KRS] fasst unter Berücksichtigung der in § 1 genannten Kriterien einen Beschluss, mit dem sie dem Widerspruch des Richters stattgibt oder ihn zurückweist. Der Beschluss der [KRS] über den in § 5 genannten Widerspruch muss nicht begründet werden. Der Beschluss der [KRS] kann nicht angefochten werden. Bis zum Zeitpunkt der Beschlussfassung nimmt der Richter oder Richter auf Probe seine bisherigen Aufgaben wahr.“
9 Art. 24 § 1 des Gesetzes über die ordentliche Gerichtsbarkeit sieht vor:
„Der Präsident des Sąd Okręgowy [(Regionalgericht)] wird vom Justizminister aus dem Kreis der Richter des Sąd Apelacyjny [(Berufungsgericht)], des Sąd Okręgowy [(Regionalgericht)] oder des Sąd Rejonowy [(Rayongericht)] ernannt. Nachdem er den Präsidenten des Sąd Okręgowy [(Regionalgericht)] ernannt hat, stellt der Justizminister ihn der Generalversammlung der Richter des Sąd Okręgowy [(Regionalgericht)] vor.“
10 Nach Art. 30 § 1 dieses Gesetzes besteht das Kollegium des Sąd Okręgowy (Regionalgericht) aus dem Präsidenten des Sąd Okręgowy (Regionalgericht) und den Präsidenten der Sądy Rejonowe (Rayongerichte) im Zuständigkeitsbereich des Sąd Okręgowy (Regionalgericht).
11 Art. 42a dieses Gesetzes lautet:
„§ 1. Im Rahmen der Tätigkeiten der Gerichte oder der Organe der Gerichte darf die Legitimität der Gerichte und Gerichtshöfe, der Verfassungsorgane des Staates oder der Organe zur Kontrolle und zum Schutz des Rechts nicht in Frage gestellt werden.
§ 2. Ein ordentliches Gericht oder ein anderes Organ der Staatsgewalt darf die Rechtmäßigkeit der Ernennung eines Richters oder der sich daraus ergebenden Befugnis zur Wahrnehmung von Aufgaben im Bereich der Rechtsprechung weder feststellen noch beurteilen.“
12 In Art. 47a des Gesetzes über die ordentliche Gerichtsbarkeit heißt es:
„§ 1. „Die Rechtssachen werden den Richtern und Richtern auf Probe in den einzelnen Kategorien von Rechtssachen nach dem Zufallsprinzip zugewiesen, soweit eine Rechtssache nicht dem Richter zuzuweisen ist, der den Bereitschaftsdienst ausübt.
§ 2. Die Rechtssachen werden innerhalb der einzelnen Kategorien zu gleichen Teilen verteilt, es sei denn, der Anteil wird aufgrund der ausgeübten Funktion, der Beteiligung an der Zuweisung von Rechtssachen einer anderen Kategorie oder aus anderen gesetzlich vorgesehenen Gründen verringert.“
13 Art. 47b dieses Gesetzes bestimmt:
„§ 1. Eine Änderung der Besetzung eines Gerichts ist nur dann zulässig, wenn die Behandlung der Rechtssache in der bisherigen Besetzung unmöglich ist oder ihr ein dauerhaftes Hindernis entgegensteht. Art. 47a gilt entsprechend.
…
§ 3. Die Entscheidungen in den in [§ 1] genannten Sachen werden vom Präsidenten des Gerichts oder von einem von ihm hierzu ermächtigten Richter getroffen.
§ 4. Die Versetzung eines Richters oder seine Abordnung an ein anderes Gericht sowie die Beendigung einer Abordnung hindern den Richter nicht daran, in den ihm an seinem bisherigen Dienstort oder gegenwärtigen Tätigkeitsort zugewiesenen Rechtssachen bis zu deren Abschluss [prozessuale] Handlungen vorzunehmen.
§ 5. Das für den neuen Dienstort des Richters oder den Ort seiner Abordnung zuständige Gerichtskollegium kann auf Antrag des Richters oder von Amts wegen insbesondere aufgrund der Entfernung zwischen dem betreffenden Gericht und dem neuen Dienstort des Richters oder dem Ort seiner Abordnung und unter Berücksichtigung des Standes der bei ihm anhängigen Rechtssachen den Richter von diesen Rechtssachen ganz oder teilweise entbinden. Vor dem Erlass einer Entscheidung hört das Kollegium des Gerichts die Präsidenten der zuständigen Gerichte an.
§ 6. Die Bestimmungen der §§ 4 und 5 gelten sinngemäß bei einer Versetzung in eine andere Abteilung desselben Gerichts.“
14 Art. 17 § 1 der Ustawa o zmianie ustawy – Prawo o ustroju sądów powszechnych oraz niektórych innych ustaw (Gesetz zur Änderung des Gesetzes über die ordentliche Gerichtsbarkeit und einiger anderer Gesetze) vom 12. Juli 2017 (Dz. U. von 2017, Pos. 1452) bestimmt:
„Die Präsidenten und Vizepräsidenten der Gerichte, die auf der Grundlage der Bestimmungen des durch Art. 1 geänderten Gesetzes in der bisher geltenden Fassung ernannt wurden, können vom Justizminister innerhalb einer Frist von höchstens sechs Monaten nach Inkrafttreten dieses Gesetzes ihres Amtes enthoben werden, ohne dass hierbei die Anforderungen nach Art. 27 des durch Art. 1 geänderten Gesetzes in der durch dieses Gesetz geänderten Fassung beachtet werden müssen.“
Ausgangsverfahren und Vorlagefragen
15 Die Vorabentscheidungsersuchen wurden vom selben Richter anlässlich der Prüfung zweier getrennter Strafverfahren eingereicht.
16 In der Rechtssache C‑647/21 geht das Ausgangsverfahren auf ein Strafverfahren gegen D. K. zurück. Mit Entscheidung des erstinstanzlichen Gerichts wurde D. K. zu einer Freiheitsstrafe verurteilt. Gegen diese Entscheidung legte er beim Sąd Okręgowy w Słupsku (Regionalgericht Słupsk, Polen), dem vorlegenden Gericht, Berufung ein. In dieser Rechtssache tagt der Spruchkörper als Einzelrichter, wobei die Richterin, die die beiden vorliegenden Vorabentscheidungsersuchen übermittelt hat, sowohl Berichterstatterin als auch Vorsitzende des Spruchkörpers ist.
17 In der Rechtssache C‑648/21 geht das Ausgangsverfahren auf ein Strafverfahren gegen M. C. und M. F. zurück. Mit Entscheidung eines erstinstanzlichen Gerichts wurden M. C. und M. F. verurteilt. Das zweitinstanzliche Gericht, bei dem sie Berufung einlegten, sprach M. C. frei und bestätigte die Verurteilung von M. F. Der Prokurator Generalny (Generalstaatsanwalt, Polen) legte gegen die Entscheidung des zweitinstanzlichen Gerichts betreffend M. C. beim Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht, Polen) Rechtsmittel ein. Dieses hob diese Entscheidung auf und verwies die Sache an den Sąd Okręgowy w Słupsku (Regionalgericht Słupsk), das vorlegende Gericht, zurück. In dieser Rechtssache tagt der Spruchkörper als Kammer mit drei Richtern, die aus der Vorsitzenden des Spruchkörpers, dem Präsidenten des vorlegenden Gerichts und einem dritten Richter besteht. Das Vorabentscheidungsersuchen ist allein von der Vorsitzenden des Spruchkörpers eingereicht worden, die dieselbe Richterin wie in der Rechtssache C‑647/21 ist.
18 Im September 2021 erließ die Richterin, die die beiden vorliegenden Vorabentscheidungsersuchen übermittelt hat, in einem Verfahren, das keinen Bezug zu den Ausgangsverfahren hatte, eine Entscheidung, mit der sie den Präsidenten der Berufungsabteilung des Sąd Okręgowy w Słupsku (Regionalgericht Słupsk) aufforderte, eine Rechtssache einem anderen Richter zuzuweisen oder im Spruchkörper in diesem Verfahren den Präsidenten des Sąd Okręgowy w Słupsku (Regionalgericht Słupsk) durch einen anderen Richter zu ersetzen. Sie begründete dies damit, dass der Präsident des vorlegenden Gerichts auf der Grundlage eines Beschlusses der KRS in ihrer neuen Zusammensetzung ernannt worden sei. Somit verletze die Anwesenheit eines solchen Richters im Spruchkörper das Recht auf ein zuvor durch Gesetz errichtetes Gericht im Sinne von Art. 19 Abs. 1 EUV, Art. 47 der Charta und Art. 6 der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (im Folgenden: EMRK). Der Vizepräsident des vorlegenden Gerichts, der ebenfalls auf Vorschlag der KRS in ihrer neuen Zusammensetzung ernannt worden war, hob die diese Aufforderung der Richterin enthaltende Entscheidung auf.
19 Im Oktober 2021 hob die Richterin in einer anderen Rechtssache ein Urteil eines erstinstanzlichen Gerichts auf, das von einer Person erlassen worden war, die auf der Grundlage eines Beschlusses der KRS in ihrer neuen Zusammensetzung zum Richter ernannt worden war. Sie stützte ihre Aufhebungsentscheidung u. a. auf Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV und Art. 47 der Charta.
20 Am 11. Oktober 2021 fasste das Kollegium des Sąd Okręgowy w Słupsku (Regionalgericht Słupsk), das aus dem Präsidenten dieses Gerichts und den Präsidenten der fünf Sądy Rejonowe (Rayongerichte) im Zuständigkeitsbereich des Sąd Okręgowy w Słupsku (Regionalgericht Słupsk) bestand, den Beschluss, der Richterin, die die beiden vorliegenden Vorabentscheidungsersuchen übermittelt hat, etwa 70 Rechtssachen – einschließlich der Ausgangsverfahren –, die ihr innerhalb der für Berufungen zuständigen Sechsten Abteilung für Strafsachen zugewiesen worden waren, zu entziehen (im Folgenden: Beschluss des Kollegiums). Diese Richterin weist darauf hin, dass ihr dieser Beschluss nicht zugestellt und die Beschlussbegründung nicht mitgeteilt worden sei. Der Präsident des vorlegenden Gerichts habe ihr lediglich mitgeteilt, dass sie von ihren Verpflichtungen entbunden werde. Zudem habe er es zweimal abgelehnt, ihren Anträgen auf Zugang zum Inhalt dieses Beschlusses stattzugeben.
21 Am 13. Oktober 2021 erließ der Präsident des Sąd Okręgowy w Słupsku (Regionalgericht Słupsk) eine Anordnung über die Versetzung dieser Richterin von der Berufungsabteilung dieses Gerichts, bei der die Ausgangsverfahren anhängig sind, in die erstinstanzliche Abteilung dieses Gerichts (im Folgenden: Versetzungsanordnung). Ein anderer Richter wurde an ihre Stelle versetzt, um in der Berufungsabteilung tätig zu sein.
22 Nach Ansicht des vorlegenden Gerichts beschränkt sich die Begründung der Versetzungsanordnung auf die lakonische Erwähnung der Notwendigkeit, die ordnungsgemäße Arbeitsweise der beiden Abteilungen zu gewährleisten. Die Versetzungsanordnung verweise auch auf einen nicht näher bezeichneten Schriftwechsel zwischen dem Präsidenten des Sąd Okręgowy w Słupsku (Regionalgericht Słupsk) und dem Vorsitzenden einer dieser Abteilungen.
23 Am 18. Oktober 2021 trat die Versetzungsanordnung in Kraft. Sie enthält keine Rechtsbehelfsbelehrung.
24 Unter diesen Umständen möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob die Richterin, die die beiden vorliegenden Vorabentscheidungsersuchen übermittelt hat, weiterhin als Einzelrichterin im Ausgangsverfahren der Rechtssache C‑647/21 und als Vorsitzende des Spruchkörpers im Ausgangsverfahren der Rechtssache C‑648/21 tätig sein kann.
25 Das vorlegende Gericht vertritt die Ansicht, in Anbetracht der oben in den Rn. 18 bis 23 dargelegten Umstände, die dazu geführt hätten, dass ihm die Rechtssachen, in denen die Richterin Berichterstatterin gewesen sei, einschließlich der Ausgangsverfahren, entzogen worden seien, sei es mit der Notwendigkeit konfrontiert, über die Frage zu entscheiden, ob solche Handlungen gegen Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV in Verbindung mit Art. 47 der Charta verstießen. Sollte dies der Fall sein, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob es verpflichtet ist, den Beschluss des Kollegiums und die weiteren nachfolgenden Handlungen, wie die Entscheidung, die Rechtssachen, die dieser Richterin entzogen wurden, einschließlich der Ausgangsverfahren, einem anderen Richter zuzuweisen, außer Acht zu lassen.
26 Das vorlegende Gericht vertritt die Auffassung, dass der Umstand, dass der Richterin, die die beiden vorliegenden Vorabentscheidungsersuchen übermittelt habe, die ihr zugewiesenen Rechtssachen entzogen worden seien, sowie ihre Versetzung gegen die Erfordernisse der Unabhängigkeit und Unabsetzbarkeit verstießen. Außerdem hätten die gegen diese Richterin ergriffenen Maßnahmen eine Reaktion auf ihre Versuche der Prüfung, ob das erstinstanzliche Gericht dem Erfordernis eines durch Gesetz errichteten Gerichts genügt habe, dargestellt und die Verhinderung künftiger derartiger Versuche bezweckt.
27 Unter diesen Umständen hat der Sąd Okręgowy w Słupsku (Regionalgericht Słupsk) beschlossen, die Vollziehung des Beschlusses des Kollegiums auszusetzen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof in jedem der Ausgangsverfahren folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
1. Ist Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV in Verbindung mit Art. 47 der Charta dahin auszulegen, dass er einer nationalen Regelung wie Art. 47b §§ 5 und 6 in Verbindung mit Art. 30 § 1 und Art. 24 § 1 des Gesetzes über die ordentliche Gerichtsbarkeit entgegensteht, wonach ein Organ eines nationalen Gerichts, z. B. das Kollegium des Gerichts, befugt ist, einen Richter dieses Gerichts teilweise oder ganz von seiner Verpflichtung zu entbinden, die ihm zugewiesenen Rechtssachen zu entscheiden, wenn:
a)
dem Kollegium des Gerichts, von Rechts wegen, Gerichtspräsidenten angehören, die von einem Organ der Exekutive, wie dem Justizminister, der auch Generalstaatsanwalt ist, auf diese Posten berufen wurden;
b)
die Entbindung des Richters von der Verpflichtung, die ihm zugewiesenen Rechtssachen zu entscheiden, ohne seine Zustimmung erfolgt;
c)
im nationalen Recht weder Kriterien, die das Kollegium des Gerichts bei der Entbindung eines Richters von seiner Verpflichtung zur Entscheidung der ihm zugewiesenen Rechtssachen anzuwenden hat, noch eine Begründungspflicht und eine gerichtliche Überprüfung einer solchen Entbindung vorgesehen sind;
d)
einige Mitglieder des Kollegiums des Gerichts unter Umständen, die mit den im Urteil des Gerichtshofs vom 15. Juli 2021, Kommission/Polen (Disziplinarordnung für Richter) (C‑791/19, EU:C:2021:596), genannten vergleichbar sind, in das Richteramt berufen worden sind?
2. Sind die in der ersten Frage genannten Bestimmungen und der Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts dahin auszulegen, dass sie ein nationales Gericht, das mit einer in den Anwendungsbereich der Richtlinie (EU) 2016/343 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. März 2016 über die Stärkung bestimmter Aspekte der Unschuldsvermutung und des Rechts auf Anwesenheit in der Verhandlung in Strafverfahren (ABl. 2016, L 65, S. 1) fallenden Strafsache befasst ist und in dem ein Richter in der in der ersten Frage beschriebenen Weise von seiner Verpflichtung zur Entscheidung von Rechtssachen entbunden wurde, und alle staatlichen Behörden berechtigen (oder verpflichten), die Handlung des Kollegiums des Gerichts und andere, nachfolgende Handlungen, wie z. B. Anordnungen zur Neuverteilung von Rechtssachen, einschließlich der Rechtssachen des Ausgangsverfahrens, ohne Berücksichtigung des von seiner Verpflichtung entbundenen Richters, unangewendet zu lassen, damit dieser weiterhin dem mit dieser Rechtssache befassten Spruchkörper angehören kann?
3. Sind die in der ersten Frage genannten Bestimmungen und der Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts dahin auszulegen, dass die innerstaatliche Rechtsordnung in Strafverfahren, die in den Anwendungsbereich der Richtlinie 2016/343 fallen, Wege vorsehen muss, die gewährleisten, dass die Verfahrensbeteiligten (wie die Angeklagten im Ausgangsverfahren) die in der ersten Frage genannten Entscheidungen – die zu einer Änderung der Zusammensetzung des mit der Rechtssache befassten Gerichts und folglich dazu führen sollen, dass der bisher zuständige Richter in der in der ersten Frage beschriebenen Weise von der Verpflichtung zur Entscheidung der Rechtssache entbunden wird – überprüfen lassen und Rechtsmittel gegen sie einlegen können?
Verfahren vor dem Gerichtshof
Zur Verbindung der Rechtssachen
28 Mit Entscheidung des Präsidenten des Gerichtshofs vom 29. November 2021 sind die Rechtssachen C‑647/21 und C‑648/21 zu gemeinsamem schriftlichen und mündlichen Verfahren und zu gemeinsamem Urteil verbunden worden.
Zu den Anträgen auf Anwendung des beschleunigten Vorabentscheidungsverfahrens
29 Das vorlegende Gericht hat beantragt, die vorliegenden Vorabentscheidungsersuchen einem beschleunigten Verfahren nach Art. 105 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs zu unterwerfen. Dabei hat es sich im Wesentlichen darauf gestützt, dass die Anwendung des beschleunigten Verfahrens angesichts der Tatsache gerechtfertigt sei, dass die Vorlagefragen grundlegende Fragen des polnischen Rechts, insbesondere des Verfassungsrechts, beträfen, nämlich den Grundsatz der Unabsetzbarkeit der Richter und das Recht der Verfahrensbeteiligten auf ein durch Gesetz errichtetes, unparteiisches und unabhängiges Gericht. Es gebe zudem berechtigte Gründe für die Annahme, dass der Erlass weiterer Maßnahmen in den Ausgangsverfahren zum Wegfall der Gründe führen würde, aus denen die Vorlage von Fragen an den Gerichtshof erforderlich gewesen sei, und dass die Umsetzung der Antworten des Gerichtshofs beeinträchtigt werden könnte, wodurch die Wirksamkeit des Unionsrechts und ein wirksamer Rechtsschutz nicht gewährleistet werden könnten.
30 Nach Art. 105 Abs. 1 der Verfahrensordnung kann der Präsident des Gerichtshofs auf Antrag des vorlegenden Gerichts oder ausnahmsweise von Amts wegen, nach Anhörung des Berichterstatters und des Generalanwalts, entscheiden, eine Vorlage zur Vorabentscheidung einem beschleunigten Verfahren zu unterwerfen, wenn die Art der Rechtssache ihre rasche Erledigung erfordert.
31 Ein solches beschleunigtes Verfahren ist ein Verfahrensinstrument, mit dem auf eine außerordentliche Dringlichkeitssituation reagiert werden soll (Urteil vom 21. Dezember 2021, Randstad Italia, C‑497/20, EU:C:2021:1037, Rn. 37 und die dort angeführte Rechtsprechung).
32 Im vorliegenden Fall hat der Präsident des Gerichtshofs am 29. November 2021 nach Anhörung des Berichterstatters und des Generalanwalts entschieden, den Anträgen, die vorliegenden Vorabentscheidungsersuchen einem beschleunigten Verfahren zu unterwerfen, nicht stattzugeben. Die Argumente, die das vorlegende Gericht zur Rechtfertigung dieser Anträge vorbringt, sind nämlich allgemeiner Art und beinhalten keine konkreten Gründe für die beschleunigte Bearbeitung dieser Vorabentscheidungsersuchen. Vor allem stellt der Umstand, dass die vorgelegten Fragen grundlegende Fragen des polnischen Rechts, insbesondere des Verfassungsrechts, betreffen, keine außerordentliche Dringlichkeitssituation dar, die erforderlich ist, um eine Behandlung im beschleunigten Verfahren zu rechtfertigen. Schließlich rechtfertigt der Umstand, dass die Ausgangsverfahren Strafsachen betreffen, als solcher noch keine beschleunigte Behandlung.
Zur Aussetzung der Verfahren und zu den Ersuchen um Klarstellung
33 Am 18. Oktober 2022 hat der Gerichtshof die verbundenen Rechtssachen C‑647/21 und C‑648/21 bis zum Erlass des Urteils in den verbundenen Rechtssachen C‑615/20 und C‑671/20 ausgesetzt. Am 20. Juli 2023 hat der Gerichtshof dem vorlegenden Gericht das Urteil vom 13. Juli 2023, YP u. a. (Aufhebung der Immunität und Suspendierung eines Richters) (C‑615/20 und C‑671/20, EU:C:2023:562), zugestellt und es aufgefordert, mitzuteilen, ob es seine Vorabentscheidungsersuchen in den verbundenen Rechtssachen C‑647/21 und C‑648/21 aufrechterhalten wolle.
34 Auf Anweisung des Präsidenten des Sąd Okręgowy w Słupsku (Regionalgericht Słupsk) hat die Richterin, die die beiden vorliegenden Vorabentscheidungsersuchen übermittelt hat, am 25. September 2023 geantwortet, dass das vorlegende Gericht seine Vorabentscheidungsersuchen aufrechterhalten wolle.
35 Wegen einiger Unklarheiten in dieser Antwort hat der Gerichtshof an dieses Gericht ein zweites Ersuchen um Klarstellung gemäß Art. 101 Abs. 1 seiner Verfahrensordnung gerichtet. Der Gerichtshof hat insbesondere gefragt, ob die Richterin, die die beiden vorliegenden Vorabentscheidungsersuchen übermittelt hat, weiterhin den Spruchkörpern angehört, die mit den Ausgangsverfahren befasst sind, die Gegenstand der Vorabentscheidungsersuchen in den verbundenen Rechtssachen C‑647/21 und C‑648/21 sind, und, wenn ja, in welcher Eigenschaft. Das vorlegende Gericht hat dieses Ersuchen um Klarstellung am 17. Oktober 2023 durch die Richterin, die die vorliegenden Vorabentscheidungsersuchen vorgelegt hat, beantwortet.
Zur Zuständigkeit des Gerichtshofs
36 Zum einen machen die dänische Regierung und die Europäische Kommission im Wesentlichen geltend, dass Art. 47 der Charta auf die Ausgangsverfahren nicht anwendbar sei. Insbesondere weist die Kommission darauf hin, dass, auch wenn sich die Vorabentscheidungsersuchen, insbesondere der Wortlaut der Fragen des vorlegenden Gerichts, auf die Richtlinie 2016/343 bezögen, nicht um eine Auslegung dieser Richtlinie ersucht werde.
37 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof im Rahmen eines Vorabentscheidungsersuchens nach Art. 267 AEUV das Unionsrecht nur in den Grenzen der ihm übertragenen Zuständigkeiten prüfen kann (Urteil vom 11. Juli 2024, Hann‑Invest u. a., C‑554/21, C‑622/21 et C‑727/21, EU:C:2024:594, Rn. 30 und die dort angeführte Rechtsprechung).
38 Der Anwendungsbereich der Charta ist, was das Handeln der Mitgliedstaaten betrifft, in ihrem Art. 51 Abs. 1 definiert. Danach gilt sie für die Mitgliedstaaten bei der Durchführung des Rechts der Union; diese Bestimmung bestätigt die ständige Rechtsprechung des Gerichtshofs, nach der die in der Unionsrechtsordnung garantierten Grundrechte in allen unionsrechtlich geregelten Fallgestaltungen, aber nicht außerhalb derselben Anwendung finden (Urteil vom 11. Juli 2024, Hann‑Invest u. a., C‑554/21, C‑622/21 und C‑727/21, EU:C:2024:594, Rn. 31 und die dort angeführte Rechtsprechung).
39 Im vorliegenden Fall hat das vorlegende Gericht im Hinblick auf das Ersuchen um Auslegung von Art. 47 der Charta keine Angaben dazu gemacht, wie die Ausgangsverfahren die Auslegung oder Anwendung einer auf nationaler Ebene umgesetzten Vorschrift des Unionsrechts betreffen könnten. Auch wenn sich die zweiten Vorlagefragen auf die Richtlinie 2016/343 beziehen, werden sie nämlich nicht im Hinblick auf die Bestimmungen dieser Richtlinie gestellt und erläutert das vorlegende Gericht nicht, welcher Zusammenhang zwischen dieser Richtlinie und diesen Rechtssachen bestehen soll.
40 Daher ist der Gerichtshof nicht für die Auslegung von Art. 47 der Charta als solchem zuständig.
41 Zum anderen machen die Prokuratura Rejonowa w Bytowie (Rayonstaatsanwaltschaft Bytów, Polen) und die Prokuratura Okręgowa w Łomży (Regionalstaatsanwaltschaft Łomża, Polen) im Wesentlichen geltend, dass Fragen der Gerichtsorganisation der Mitgliedstaaten, wie sie in den Vorlagefragen aufgeworfen würden, betreffend insbesondere die Entbindung eines Richters von den ihm zugewiesenen Rechtssachen, in die ausschließliche Zuständigkeit der Mitgliedstaaten und nicht in den sachlichen Anwendungsbereich des Unionsrechts fielen. Dagegen hat die polnische Regierung in der mündlichen Verhandlung erklärt, dass der Gerichtshof für die Beantwortung der Vorlagefragen zuständig sei.
42 Hierzu ist festzustellen, dass nach ständiger Rechtsprechung die Organisation der Justiz in den Mitgliedstaaten zwar in deren Zuständigkeit fällt, die Mitgliedstaaten bei der Ausübung dieser Zuständigkeit jedoch die Verpflichtungen einzuhalten haben, die sich für sie aus dem Unionsrecht ergeben. Dies gilt insbesondere für nationale Vorschriften betreffend den Erlass von Entscheidungen über die Ernennung von Richtern und gegebenenfalls für Vorschriften betreffend die im Zusammenhang mit solchen Ernennungsverfahren anwendbare gerichtliche Kontrolle (Urteil vom 9. Januar 2024, G. u. a. [Ernennung von Richtern der ordentlichen Gerichtsbarkeit in Polen], C‑181/21 und C‑269/21, EU:C:2024:1, Rn. 57 und die dort angeführte Rechtsprechung).
43 Außerdem geht aus dem Wortlaut der Vorlagefragen klar hervor, dass sie nicht die Auslegung des polnischen Rechts, sondern insbesondere von Art. 19 Abs. 1 EUV betreffen.
44 Daraus folgt, dass der Gerichtshof für die Entscheidung über die Vorabentscheidungsersuchen zuständig ist, nicht aber für die Auslegung von Art. 47 der Charta als solchem.
Zur Zulässigkeit der Vorabentscheidungsersuchen
45 Die Rayonstaatsanwaltschaft Bytów und die Regionalstaatsanwaltschaft Łomża bestreiten die Zulässigkeit der Vorabentscheidungsersuchen. Sie machen erstens geltend, dass die vorlegende Richterin diese Ersuchen nach der Annahme des Beschlusses des Kollegiums eingereicht habe, d. h. zu einem Zeitpunkt, zu dem die Richterin, der damit die Ausgangsverfahren entzogen worden seien, nicht mehr befugt gewesen sei, die Vorlageentscheidungen zu erlassen. Zweitens beträfen die Vorlagefragen die individuelle Situation der vorlegenden Richterin, so dass es sich um persönliche Fragen handle. Drittens genügten die Vorabentscheidungsersuchen nicht den Anforderungen von Art. 94 Buchst. a und b der Verfahrensordnung. Demgegenüber hat die polnische Regierung in der mündlichen Verhandlung erklärt, dass die Vorabentscheidungsersuchen zulässig seien.
46 Die Kommission vertritt im Übrigen die Auffassung, die dritten Vorlagefragen seien unzulässig, weil die Frage, ob es für die Angeklagten der Ausgangsverfahren möglicherweise einen wirksamen Rechtsbehelf gebe, weder eine Vorfrage, die sich in limine litis stelle, noch eine für die Entscheidung in diesen Verfahren erforderliche Frage sei.
47 Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs ist es im Rahmen der durch Art. 267 AEUV geschaffenen Zusammenarbeit zwischen ihm und den nationalen Gerichten allein Sache des mit dem Rechtsstreit befassten nationalen Gerichts, in dessen Verantwortungsbereich die zu erlassende gerichtliche Entscheidung fällt, anhand der Besonderheiten der Rechtssache sowohl die Erforderlichkeit einer Vorabentscheidung zum Erlass seines Urteils als auch die Erheblichkeit der dem Gerichtshof von ihm vorgelegten Fragen zu beurteilen. Daher ist der Gerichtshof grundsätzlich gehalten, über die ihm vorgelegten Fragen zu befinden, wenn sie die Auslegung des Unionsrechts betreffen (Urteil vom 24. November 2020, Openbaar Ministerie [Urkundenfälschung], C‑510/19, EU:C:2020:953, Rn. 25 und die dort angeführte Rechtsprechung).
48 Wie sich bereits aus dem Wortlaut von Art. 267 AEUV ergibt, muss die beantragte Vorabentscheidung „erforderlich“ sein, um dem vorlegenden Gericht den „Erlass seines Urteils“ in der bei ihm anhängigen Rechtssache zu ermöglichen (Urteil vom 11. Juli 2024, Hann‑Invest u. a., C‑554/21, C‑622/21 und C‑727/21, EU:C:2024:594, Rn. 40 und die dort angeführte Rechtsprechung).
49 Hierzu hat der Gerichtshof bereits entschieden, dass eine Antwort auf Vorlagefragen erforderlich sein kann, um den vorlegenden Gerichten eine Auslegung des Unionsrechts zu liefern, die es ihnen ermöglicht, über Verfahrensfragen des innerstaatlichen Rechts zu entscheiden, um dann in den Rechtsstreitigkeiten, die bei ihnen anhängig sind, in der Sache entscheiden zu können (Urteil vom 16. November 2021, Prokuratura Rejonowa w Mińsku Mazowieckim u. a., C‑748/19 bis C‑754/19, EU:C:2021:931, Rn. 48 und die dort angeführte Rechtsprechung).
50 Zur ersten Unzulässigkeitsrüge, mit der geltend gemacht wird, dass die in Rede stehende Richterin die Vorabentscheidungsersuchen eingereicht habe, nachdem ihr die Ausgangsverfahren entzogen worden seien, ist zum einen festzustellen, dass sich aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten ergibt, dass diese Richterin zu dem Zeitpunkt, zu dem sie die Vorabentscheidungsersuchen eingereicht hat, d. h. am 20. Oktober 2021, mit den Ausgangsverfahren befasst war, und zum anderen, dass das vorlegende Gericht die Vorabentscheidungsersuchen nach Entziehung der Ausgangsverfahren nicht zurückgezogen hat.
51 In seiner Antwort auf das zweite Ersuchen des Gerichtshofs um Klarstellung hat das vorlegende Gericht nämlich bestätigt, dass die betreffende Richterin zum Zeitpunkt des Erlasses der Vorlageentscheidungen, d. h. am 20. Oktober 2021, die Berichterstatterin bzw. die Vorsitzende des Spruchkörpers in den beiden Ausgangsverfahren war. Es hat ferner darauf hingewiesen, dass das Verfahren, das dem Vorabentscheidungsersuchen in der Rechtssache C‑648/21 zugrunde liegt, mit Beschluss vom 21. Oktober 2021, der nach dem Erlass der Vorlageentscheidungen erging, einem anderen Berichterstatter zugewiesen wurde, der zuvor dem für dieses Verfahren zuständigen Spruchkörper mit drei Richtern angehört hatte, und dass die Einzelrichterbesetzung in dem Verfahren, das dem Vorabentscheidungsersuchen in der Rechtssache C‑647/21 zugrunde liegt, ebenfalls am 21. Oktober 2021 geändert wurde. Das vorlegende Gericht hat außerdem bestätigt, dass diese beiden Verfahren aufgrund der vorliegenden Vorabentscheidungsersuchen ausgesetzt wurden und immer noch ausgesetzt sind.
52 Zur zweiten Unzulässigkeitsrüge, mit der geltend gemacht wird, dass die Vorlagefragen im Wesentlichen die individuelle Situation der Richterin beträfen, die die beiden vorliegenden Vorabentscheidungsersuchen übermittelt habe, und daher in keinem Zusammenhang mit den Ausgangsverfahren stünden, ist festzustellen, dass das vorlegende Gericht im Kontext der Ausgangsverfahren mit verfahrensrechtlichen Fragen konfrontiert ist, über die es in limine litis zu entscheiden hat und deren Entscheidung von einer Auslegung der Bestimmungen und Grundsätze des Unionsrechts abhängt, auf die sich die Vorlagefragen beziehen. Mit den Vorlagefragen soll nämlich im Wesentlichen geklärt werden, ob die Richterin in Anbetracht dieser Bestimmungen und Grundsätze des Unionsrechts berechtigt bleibt, die Prüfung der Ausgangsverfahren trotz des Beschlusses des Kollegiums fortzusetzen, mit dem ihr diese Verfahren entzogen wurden.
53 Wie sich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs ergibt, sind Vorlagefragen, die es einem vorlegenden Gericht so ermöglichen sollen, vorab über verfahrensrechtliche Schwierigkeiten zu entscheiden, etwa im Zusammenhang mit seiner eigenen Zuständigkeit für die Entscheidung einer bei ihm anhängigen Rechtssache oder auch mit den Rechtswirkungen, die einer gerichtlichen Entscheidung, die der Fortsetzung der Prüfung einer solchen Rechtssache durch dieses Gericht potenziell entgegensteht, gegebenenfalls zuzuerkennen sind, nach Art. 267 AEUV zulässig (Urteil vom 13. Juli 2023, YP u. a. [Aufhebung der Immunität und Suspendierung eines Richters], C‑615/20 und C‑671/20, EU:C:2023:562, Rn. 47 und die dort angeführte Rechtsprechung).
54 Zur dritten Unzulässigkeitsrüge, wonach die Vorabentscheidungsersuchen nicht die Anforderungen nach Art. 94 Buchst. a und b der Verfahrensordnung erfüllten, genügt der Hinweis, dass – wie oben aus den Rn. 6 bis 14 bzw. 15 bis 26 hervorgeht – diese Vorabentscheidungsersuchen, wie sie vom vorlegenden Gericht in seiner Antwort auf die beiden Ersuchen des Gerichtshofs um Klarstellung erläutert worden sind, in Bezug auf einen Teil der ersten Fragen und die zweiten Fragen alle nach Art. 94 Buchst. a und b der Verfahrensordnung erforderlichen Angaben enthalten, insbesondere den Wortlaut der vorliegend möglicherweise anwendbaren nationalen Vorschriften, eine Darstellung der Gründe, aus denen das vorlegende Gericht Zweifel bezüglich der Auslegung von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV hat, und den Zusammenhang, den das vorlegende Gericht zwischen dieser Vorschrift und den angeführten nationalen Vorschriften herstellt, so dass der Gerichtshof insofern in der Lage ist, über die Vorlagefragen zu entscheiden.
55 Was den Teil der ersten Fragen anbelangt, der die Zusammensetzung des Kollegiums eines Gerichts betrifft, nämlich zum einen den Umstand, dass der Justizminister, der auch der Generalstaatsanwalt ist, befugt ist, die Präsidenten der Sądy Rejonowe (Rayongerichte) zu ernennen, die das Kollegium eines Sąd Okręgowy (Regionalgericht) bilden, und zum anderen den Umstand, dass einige Mitglieder des Kollegiums auf Vorschlag der KRS in ihrer neuen Zusammensetzung in das Richteramt berufen worden sind, die keine hinreichenden Garantien für ihre Unabhängigkeit bietet, ist darauf hinzuweisen, dass das nationale Gericht angesichts dessen, dass die Vorlageentscheidung als Grundlage für das Verfahren nach Art. 267 AEUV dient, gehalten ist, in der Vorlageentscheidung selbst den tatsächlichen und rechtlichen Rahmen des Ausgangsverfahrens darzulegen und die erforderlichen Erläuterungen zu den Gründen für die Wahl der Vorschriften des Unionsrechts, um deren Auslegung es ersucht, und zu dem Zusammenhang zu geben, den es zwischen diesen Vorschriften und der auf den bei ihm anhängigen Rechtsstreit anzuwendenden nationalen Regelung herstellt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 4. Juni 2020, C. F. [Steuerprüfung], C‑430/19, EU:C:2020:429, Rn. 23 und die dort angeführte Rechtsprechung).
56 Im vorliegenden Fall wird jedoch in den Vorlageentscheidungen, abgesehen von einigen begrenzten Erläuterungen zur Zusammensetzung des Kollegiums eines Gerichts, der nationale Rechtsrahmen für die Ernennung der Mitglieder dieses Kollegiums nicht hinreichend ausgeführt. Es wird darin auch nicht erläutert, inwiefern es erforderlich sein soll, dass der Gerichtshof den Teil der ersten Fragen beantwortet, der sich auf die Zusammensetzung des Kollegiums eines Gerichts bezieht. Unter diesen Umständen verfügt der Gerichtshof nicht über ausreichende Angaben, um diesen Teil der ersten Fragen zweckdienlich beantworten zu können, so dass die Vorabentscheidungsersuchen insoweit nicht die Voraussetzungen nach Art. 94 Buchst. a und b der Verfahrensordnung erfüllen.
57 Zu den dritten Vorlagefragen, mit denen das vorlegende Gericht wissen möchte, ob für die Angeklagten der Ausgangsverfahren ein wirksamer Rechtsbehelf besteht, ist festzustellen, dass sie keine Vorfragen sind, die sich in limine litis stellen, und auch nicht für die Entscheidung der Ausgangsverfahren erforderlich sind. Insbesondere geht aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten nicht hervor, dass sich im Ausgangsverfahren die Frage stellen würde, ob es den Angeklagten möglich ist, die Ordnungsmäßigkeit des Spruchkörpers, der über ihre Rechtssachen zu entscheiden hat, anzufechten.
58 Nach alledem ist festzustellen, dass die Vorabentscheidungsersuchen zulässig sind, mit Ausnahme des Teils der ersten Fragen, der die Zusammensetzung des Kollegiums eines Gerichts betrifft, und der dritten Vorlagefragen.
Zu den Vorlagefragen
Zu den ersten Fragen
59 Vorab ist zunächst darauf hinzuweisen, dass mit den ersten Vorlagefragen die Befugnis eines Organs eines nationalen Gerichts, wie etwa dessen Kollegiums, einem Richter dieses Gerichts einige oder alle der ihm zugewiesenen Rechtssachen zu entziehen, zwar ausdrücklich auf ihre Vereinbarkeit mit Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV geprüft werden soll, jedoch geht aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten hervor, dass diese ersten Fragen im Wesentlichen die nationale Regelung des Verfahrens betreffen, nach dem einem Richter seine Rechtssachen entzogen werden dürfen.
60 Auch wenn die Versetzung der Richterin, die die vorliegenden beiden Vorabentscheidungsersuchen übermittelt hat, von der Berufungsabteilung des vorlegenden Gerichts, bei der die Ausgangsverfahren anhängig sind, in die erstinstanzliche Abteilung dieses Gerichts einen wichtigen Gesichtspunkt darstellt, der zu berücksichtigen ist, um die vom vorlegenden Gericht in seinen Fragen in Betracht gezogene Situation zu erfassen, lassen diese Akten allerdings nicht den Schluss zu, dass die ersten Fragen dahin zu verstehen sind, dass sie sich auch auf die Vereinbarkeit einer Versetzungsentscheidung oder allgemeiner einer Regelung über das Versetzungsverfahren, wie sie im Ausgangsverfahren in Rede stehen, mit Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV beziehen.
61 In Anbetracht dieser Feststellungen ist davon auszugehen, dass das vorlegende Gericht mit seinen ersten Fragen im Wesentlichen wissen möchte, ob Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung entgegensteht, nach der ein Organ eines nationalen Gerichts, wie etwa dessen Kollegium, einem Richter dieses Gerichts einige oder alle der ihm zugewiesenen Rechtssachen entziehen kann, ohne dass in dieser Regelung die Kriterien festgelegt sind, von denen sich dieses Organ leiten lassen muss, wenn es eine solche Entscheidung der Entziehung trifft, die Verpflichtung normiert ist, diese Entscheidung zu begründen, oder die Möglichkeit verankert ist, diese Entscheidung gerichtlich überprüfen zu lassen.
62 In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass die Organisation der Justiz in den Mitgliedstaaten, u. a. die Errichtung, die Besetzung, die Zuständigkeiten und die Arbeitsweise der nationalen Gerichte, zwar in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten fällt, dass diese bei der Ausübung dieser Zuständigkeit aber die Verpflichtungen einzuhalten haben, die sich für sie aus dem Unionsrecht, insbesondere aus Art. 19 EUV, ergeben (Urteil vom 11. Juli 2024, Hann‑Invest u. a., C‑554/21, C‑622/21 und C‑727/21, EU:C:2024:594, Rn. 44 und die dort angeführte Rechtsprechung).
63 Der Grundsatz des wirksamen Rechtsschutzes, von dem in Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV die Rede ist, stellt einen allgemeinen Grundsatz des Unionsrechts dar, der insbesondere in Art. 6 Abs. 1 EMRK verankert ist, dem Art. 47 Abs. 2 der Charta entspricht. Diese letztere Bestimmung ist daher bei der Auslegung von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV gebührend zu berücksichtigen (Urteil vom 11. Juli 2024, Hann‑Invest u. a., C‑554/21, C‑622/21 und C‑727/21, EU:C:2024:594, Rn. 45 und die dort angeführte Rechtsprechung).
64 Da ferner die in der Charta enthaltenen Rechte den durch die EMRK garantierten Rechten entsprechen, soll mit Art. 52 Abs. 3 der Charta die notwendige Kohärenz zwischen den in der Charta enthaltenen Rechten und den durch die EMRK gewährleisteten entsprechenden Rechten geschaffen werden, ohne dass dadurch die Eigenständigkeit des Unionsrechts berührt wird. Nach den Erläuterungen zur Charta der Grundrechte (ABl. 2007, C 303, S. 17) entspricht Art. 47 Abs. 2 der Charta Art. 6 Abs. 1 EMRK. Der Gerichtshof muss daher darauf achten, dass seine Auslegung in den vorliegenden Rechtssachen ein Schutzniveau gewährleistet, das das in Art. 6 Abs. 1 EMRK in seiner Auslegung durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte garantierte Schutzniveau nicht verletzt (Urteil vom 11. Juli 2024, Hann‑Invest u. a., C‑554/21, C‑622/21 und C‑727/21, EU:C:2024:594, Rn. 46 und die dort angeführte Rechtsprechung).
65 Nach dieser Klarstellung ist als Erstes darauf hinzuweisen, dass jeder Mitgliedstaat nach Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV dafür zu sorgen hat, dass Einrichtungen, die als „Gerichte“ im unionsrechtlichen Sinne dazu berufen sind, über Fragen im Zusammenhang mit der Anwendung oder Auslegung des Unionsrechts zu entscheiden, und damit Bestandteil seines Rechtsbehelfssystems in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen sind, den Anforderungen an einen wirksamen Rechtsschutz, u. a. dem Erfordernis der Unabhängigkeit, gerecht werden (Urteil vom 11. Juli 2024, Hann‑Invest u. a., C‑554/21, C‑622/21 und C‑727/21, EU:C:2024:594, Rn. 47 und die dort angeführte Rechtsprechung).
66 Dieses Erfordernis der Unabhängigkeit der Gerichte, das dem Auftrag des Richters inhärent ist, gehört zum Wesensgehalt des Rechts auf wirksamen Rechtsschutz und des Grundrechts auf ein faires Verfahren, denen als Garantien für den Schutz sämtlicher dem Einzelnen aus dem Unionsrecht erwachsenden Rechte und für die Wahrung der in Art. 2 EUV genannten Werte, die den Mitgliedstaaten gemeinsam sind, u. a. des Wertes der Rechtsstaatlichkeit, grundlegende Bedeutung zukommen (Urteil vom 11. Juli 2024, Hann‑Invest u. a., C‑554/21, C‑622/21 und C‑727/21, EU:C:2024:594, Rn. 49 und die dort angeführte Rechtsprechung).
67 Dieses Erfordernis der Unabhängigkeit umfasst zwei Aspekte. Der erste, das Außenverhältnis betreffende Aspekt erfordert, dass die betreffende Einrichtung ihre Funktionen in völliger Autonomie ausübt, ohne mit irgendeiner Stelle hierarchisch verbunden oder ihr untergeordnet zu sein und ohne von irgendeiner Stelle Anordnungen oder Anweisungen zu erhalten, so dass sie auf diese Weise vor Interventionen oder Druck von außen geschützt ist, die die Unabhängigkeit des Urteils ihrer Mitglieder gefährden und deren Entscheidungen beeinflussen könnten. Der zweite, das Innenverhältnis betreffende Aspekt steht mit dem Begriff der „Unparteilichkeit“ in Zusammenhang und bezieht sich darauf, dass den Parteien des Rechtsstreits und ihren jeweiligen Interessen am Streitgegenstand mit dem gleichen Abstand begegnet wird. Dieser Aspekt verlangt, dass Sachlichkeit obwaltet und neben der strikten Anwendung der Rechtsnormen keinerlei Interesse am Ausgang des Rechtsstreits besteht (Urteil vom 11. Juli 2024, Hann‑Invest u. a., C‑554/21, C‑622/21 und C‑727/21, EU:C:2024:594, Rn. 50 und 51 und die dort angeführte Rechtsprechung).
68 Zwar zielt der das „Außenverhältnis“ betreffende Aspekt der Unabhängigkeit in erster Linie darauf ab, die Unabhängigkeit der Gerichte gegenüber der Legislative und der Exekutive gemäß dem für einen Rechtsstaat kennzeichnenden Grundsatz der Gewaltenteilung zu wahren, er soll die Richter aber auch vor unzulässigen Einflussnahmen innerhalb des betreffenden Gerichts schützen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 11. Juli 2024, Hann‑Invest u. a., C‑554/21, C‑622/21 und C‑727/21, EU:C:2024:594, Rn. 54 und die dort angeführte Rechtsprechung).
69 Ferner ist hervorzuheben, dass die Ausübung des Richteramts nicht nur vor jeder unmittelbaren Einflussnahme in Form von Weisungen geschützt sein muss, sondern auch vor Formen der mittelbaren Einflussnahme, die zur Steuerung von Gerichtsentscheidungen geeignet sein könnten (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 11. Juli 2024, Hann‑Invest u. a., C‑554/21, C‑622/21 und C‑727/21, EU:C:2024:594, Rn. 53 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie vom 14. November 2024, S. [Änderung des Spruchkörpers], C‑197/23, EU:C:2024:956, Rn. 62 und die dort angeführte Rechtsprechung).
70 Diese Garantien der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit setzen voraus, dass es Regeln insbesondere für die Zusammensetzung der betreffenden Einrichtung gibt, die es ermöglichen, bei den Rechtsuchenden jeden berechtigten Zweifel an der Unempfänglichkeit dieser Einrichtung für äußere Faktoren und an ihrer Neutralität in Bezug auf die widerstreitenden Interessen auszuräumen (Urteil vom 11. Juli 2024, Hann‑Invest u. a., C‑554/21, C‑622/21 und C‑727/21, EU:C:2024:594, Rn. 52).
71 Im Übrigen hat auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hervorgehoben, dass die überragende Bedeutung u. a. der richterlichen Unabhängigkeit und der Rechtssicherheit für die Rechtsstaatlichkeit eine besondere Klarheit der in jedem Einzelfall angewandten Regeln und klare Garantien erfordert, um Objektivität und Transparenz zu gewährleisten und vor allem jeden Anschein von Willkür bei der Zuweisung bestimmter Rechtssachen an Richter zu vermeiden (Urteil des EGMR vom 5. Oktober 2010, DMD GROUP, a.s./Slowakei, CE:ECHR:2010:1005JUD001933403, § 66).
72 Als Zweites verlangt Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV auch, dass es sich um ein „zuvor durch Gesetz errichtetes“ Gericht handelt, angesichts des untrennbaren Zusammenhangs, der zwischen dem Zugang zu einem solchen Gericht und den Garantien der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der Richter besteht (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 11. Juli 2024, Hann‑Invest u. a., C‑554/21, C‑622/21 und C‑727/21, EU:C:2024:594, Rn. 55 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie vom 14. November 2024, S. [Änderung des Spruchkörpers], C‑197/23, EU:C:2024:956, Rn. 63 und die dort angeführte Rechtsprechung).
73 Der auch in Art. 47 Abs. 2 der Charta enthaltene Verweis auf ein „durch Gesetz errichtetes Gericht“ spiegelt insbesondere das Rechtsstaatsprinzip wider und umfasst nicht nur die Rechtsgrundlage für die Existenz des Gerichts, sondern auch die Zusammensetzung des Spruchkörpers in der jeweiligen Rechtssache sowie alle weiteren Vorschriften des innerstaatlichen Rechts, deren Nichtbeachtung dazu führt, dass die Teilnahme eines oder mehrerer Richter an der Verhandlung über die Rechtssache eine Regelwidrigkeit darstellt (vgl. entsprechend Urteil vom 29. März 2022, Getin Noble Bank, C‑132/20, EU:C:2022:235, Rn. 121 und die dort angeführte Rechtsprechung).
74 Somit sind die Vorschriften über die Zuweisung und Neuzuweisung von Rechtssachen Teil des Begriffs des „zuvor durch Gesetz errichteten“ Gerichts, der nicht nur eine Rechtsgrundlage für die Existenz des Gerichts selbst verlangt, sondern auch die Beachtung der Zusammensetzung des Spruchkörpers in jeder Rechtssache sowie das Vorhandensein weiterer Vorschriften des innerstaatlichen Rechts, deren Nichtbeachtung die Teilnahme eines oder mehrerer Richter an der Verhandlung über die Rechtssache rechtswidrig macht.
75 Folglich verlangt Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV insoweit auch, dass sich mit den Vorschriften über die Besetzung der Spruchkörper ausschließen lässt, dass Personen, die nicht dem mit einer bestimmten Rechtssache befassten Spruchkörper angehören und vor denen die Parteien nicht Stellung nehmen konnten, in den diese Rechtssache betreffenden Entscheidungsprozess unzulässigerweise eingreifen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 11. Juli 2024, Hann‑Invest u. a., C‑554/21, C‑622/21 und C‑727/21, EU:C:2024:594, Rn. 59).
76 Im vorliegenden Fall sieht Art. 47b § 1 des Gesetzes über die ordentliche Gerichtsbarkeit vorbehaltlich der vom vorlegenden Gericht vorzunehmenden Prüfungen vor, dass eine Änderung der Besetzung eines Gerichts zulässig ist, wenn der „Behandlung der Rechtssache in der bisherigen Besetzung“ ein „dauerhaftes Hindernis“ entgegensteht, ohne dass dies näher erläutert würde. Zwar sieht dieser Art. 47b § 4 im Wesentlichen vor, dass ein Richter mit den ihm zugewiesenen Rechtssachen bis zum Abschluss befasst bleibt, auch wenn er an einen anderen Ort versetzt oder an ein anderes Gericht abgeordnet wird, jedoch bestimmt Art. 47b § 5, dass ihm seine Rechtssachen durch Entscheidung des Kollegiums des betreffenden Gerichts entzogen werden können, ohne hierfür Kriterien aufzustellen. Schließlich hat das Kollegium des Gerichts nach Art. 47b § 6 auch die Möglichkeit, einem Richter seine Rechtssachen zu entziehen, wenn er in eine andere Abteilung versetzt wird, jedoch ist diese Möglichkeit wiederum mit keinen genauen Kriterien versehen.
77 Daher ist festzustellen, dass eine nationale Regelung wie die in der vorstehenden Randnummer beschriebene nicht nur keine objektiven Kriterien für die Möglichkeit vorsieht, einem Richter eine oder mehrere seiner Rechtssachen zu entziehen, sondern es dem Kollegium des betreffenden Gerichts auch erlaubt, einem Richter seine Rechtssachen ohne Begründung zu entziehen. Die Bezugnahme auf das Vorliegen eines „dauerhaften Hindernisses“ für die „Behandlung der Rechtssache in der bisherigen Besetzung“ ist nämlich zu vage, um als geeignet angesehen werden zu können, jede Willkür bei der Entscheidung über die Änderung der Besetzung eines Spruchkörpers zu vermeiden. Außerdem hat die polnische Regierung in der mündlichen Verhandlung vor dem Gerichtshof bestätigt, dass es nach polnischem Recht keiner Begründung bedarf, wenn nach Art. 47b §§ 5 und 6 des Gesetzes über die ordentliche Gerichtsbarkeit einem Richter Rechtssachen entzogen werden.
78 Was im Übrigen die Entziehung der Ausgangsverfahren betrifft, geht aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten hervor, dass der Beschluss des Kollegiums, mit dem der betreffenden Richterin die Ausgangsverfahren entzogen wurden, mit keiner Begründung versehen ist.
79 Zudem kann dieser Beschluss des Kollegiums offenbar nicht durch die Versetzungsanordnung gerechtfertigt werden, mit der der Präsident des Sąd Okręgowy w Słupsku (Regionalgericht Słupsk) am 13. Oktober 2021 gemäß Art. 22a § 4 des Gesetzes über die ordentliche Gerichtsbarkeit die Versetzung der Richterin, die die vorliegenden Ersuchen übermittelt hat, in eine andere Abteilung desselben Gerichts beschlossen hat.
80 Zum einen wurde die Versetzungsanordnung nämlich lakonisch mit der Notwendigkeit begründet, „die ordnungsgemäße Arbeitsweise der für Berufungen zuständigen Sechsten Abteilung für Strafsachen und der Zweiten Abteilung für Strafsachen“ des Sąd Okręgowy w Słupsku (Regionalgericht Słupsk) „zu gewährleisten“.
81 Zum anderen wurde der Beschluss des Kollegiums zwei Tage vor der Versetzungsanordnung angenommen.
82 Was darüber hinaus die nicht einvernehmliche Versetzung eines Richters an ein anderes Gericht oder die nicht einvernehmliche Versetzung eines Richters zwischen zwei Abteilungen desselben Gerichts betrifft, hat der Gerichtshof bereits entschieden, dass solche Versetzungen ein Mittel zur Kontrolle des Inhalts gerichtlicher Entscheidungen sein können, da sie nicht nur den Umfang der Befugnisse der betreffenden Richter und die Bearbeitung der ihnen zugewiesenen Fälle beeinflussen können, sondern auch erhebliche Auswirkungen auf ihr Leben und ihre Laufbahn und damit entsprechende Wirkungen wie eine Disziplinarstrafe haben können (Urteil vom 6. Oktober 2021, W. Ż. [Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten des Obersten Gerichts – Ernennung], C‑487/19, EU:C:2021:798, Rn. 115).
83 In ähnlicher Weise lässt es sich nicht ausschließen, dass es Willkür oder eine verdeckte Disziplinarstrafe darstellt, wenn einem Richter Rechtssachen, für die er zuständig ist, entzogen werden, ohne dass die einschlägige nationale Regelung objektive Kriterien hierfür vorsieht und sogar ohne dass es hierfür einer Begründung bedarf. Dies gilt umso mehr, wenn auf eine solche Entziehung die Versetzung des betreffenden Richters in eine andere Abteilung desselben Gerichts folgt.
84 Somit können organisatorische Maßnahmen, mit denen wie in den Ausgangsverfahren Rechtssachen entzogen werden und für die es weder hinreichend genaue Kriterien noch eine ausreichende Begründungspflicht gibt, die Frage aufwerfen, ob es womöglich eine Reaktion auf frühere Handlungen des betreffenden Richters darstellt, wenn diesem Rechtssachen entzogen werden und er anschließend versetzt wird.
85 Um keinen Raum für Willkür zu lassen, die sich aus einem intransparenten Verfahren ergeben könnte, das gegen die Grundsätze der Unabhängigkeit und der Unabsetzbarkeit der Richter verstoßen könnte, ist es daher wichtig, dass die nationalen Vorschriften über die Entziehung von Rechtssachen klar formulierte objektive Kriterien, auf deren Grundlage einem Richter seine Rechtssachen entzogen werden können, sowie die Pflicht vorsehen, Entscheidungen, mit denen Rechtssachen entzogen werden, zu begründen. Dies gilt insbesondere für Fälle, in denen dem betreffenden Richter Rechtssachen ohne sein Einverständnis entzogen werden, um zu gewährleisten, dass die Unabhängigkeit der Richter nicht durch unzulässige Einflussnahme von außen beeinträchtigt wird.
86 Nach alledem ist auf die ersten Vorlagefragen zu antworten, dass Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung entgegensteht, nach der ein Organ eines nationalen Gerichts, wie etwa dessen Kollegium, einem Richter dieses Gerichts einige oder alle der ihm zugewiesenen Rechtssachen entziehen kann, ohne dass in dieser Regelung die Kriterien festgelegt sind, von denen sich dieses Organ leiten lassen muss, wenn es eine solche Entscheidung der Entziehung trifft, oder die Verpflichtung normiert ist, diese Entscheidung zu begründen.
Zu den zweiten Fragen
87 Mit seinen zweiten Fragen möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV und der Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts dahin auszulegen sind, dass sie ein nationales Gericht und jede andere Behörde des betreffenden Mitgliedstaats verpflichten, zum einen einen Beschluss des Kollegiums dieses Gerichts, mit dem einem Richter dieses Gerichts die ihm zugewiesenen Rechtssachen entzogen wurden, und zum anderen weitere nachfolgende Handlungen, wie die Entscheidungen über die Neuzuweisung dieser Rechtssachen, unangewendet zu lassen, wenn dieser Beschluss unter Verstoß gegen Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV erlassen wurde.
88 Nach ständiger Rechtsprechung besagt der Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts, dass das Unionsrecht dem Recht der Mitgliedstaaten vorgeht. Dieser Grundsatz verpflichtet daher alle mitgliedstaatlichen Stellen, den verschiedenen unionsrechtlichen Vorschriften volle Wirksamkeit zu verschaffen, wobei das Recht der Mitgliedstaaten die diesen Vorschriften zuerkannte Wirkung in ihrem Hoheitsgebiet nicht beeinträchtigen darf (Urteil vom 13. Juli 2023, YP u. a. [Aufhebung der Immunität und Suspendierung eines Richters], C‑615/20 und C‑671/20, EU:C:2023:562, Rn. 61 und die dort angeführte Rechtsprechung).
89 Dieser Grundsatz verpflichtet somit u. a. jedes nationale Gericht, das im Rahmen seiner Zuständigkeit die Bestimmungen des Unionsrechts anzuwenden hat, dazu, für die volle Wirksamkeit der Anforderungen des Unionsrechts in dem bei ihm anhängigen Rechtsstreit Sorge zu tragen, indem es erforderlichenfalls jede nationale Regelung oder Praxis, die einer Bestimmung des Unionsrechts mit unmittelbarer Wirkung zuwiderläuft, aus eigener Entscheidungsbefugnis unangewendet lässt, ohne dass es die vorherige Beseitigung dieser nationalen Regelung oder Praxis auf gesetzgeberischem Wege oder durch irgendein anderes verfassungsrechtliches Verfahren beantragen oder abwarten müsste (Urteil vom 13. Juli 2023, YP u. a. [Aufhebung der Immunität und Suspendierung eines Richters], C‑615/20 und C‑671/20, EU:C:2023:562, Rn. 62 und die dort angeführte Rechtsprechung).
90 Der Gerichtshof hat indessen bereits entschieden, dass Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV – ausgelegt im Licht von Art. 47 der Charta –, der den Mitgliedstaaten eine klare und präzise und an keine Bedingung geknüpfte Ergebnispflicht auferlegt, insbesondere in Bezug auf die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der zur Auslegung und Anwendung des Unionsrechts berufenen Gerichte sowie das Erfordernis, dass diese Gerichte zuvor durch Gesetz errichtet worden sein müssen, eine solche unmittelbare Wirkung hat, die bedeutet, dass jede nationale Bestimmung, Rechtsprechung oder Praxis, die mit diesen unionsrechtlichen Bestimmungen in ihrer Auslegung durch den Gerichtshof unvereinbar ist, unangewendet bleiben muss (Urteil vom 13. Juli 2023, YP u. a. [Aufhebung der Immunität und Suspendierung eines Richters], C‑615/20 und C‑671/20, EU:C:2023:562, Rn. 63 und die dort angeführte Rechtsprechung).
91 Nach ebenfalls ständiger Rechtsprechung obliegt es den nationalen Gerichten, selbst wenn eine vom Gerichtshof festgestellte Vertragsverletzung nicht durch nationale gesetzgeberische Maßnahmen abgestellt wurde, alle Maßnahmen zu ergreifen, um entsprechend den Vorgaben des Urteils, mit dem diese Vertragsverletzung festgestellt wurde, die volle Wirksamkeit des Unionsrechts zu erleichtern. Im Übrigen sind diese Gerichte nach dem in Art. 4 Abs. 3 EUV vorgesehenen Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit verpflichtet, die rechtswidrigen Folgen eines Verstoßes gegen das Unionsrecht zu beheben (Urteil vom 13. Juli 2023, YP u. a. [Aufhebung der Immunität und Suspendierung eines Richters], C‑615/20 und C‑671/20, EU:C:2023:562, Rn. 64 und die dort angeführte Rechtsprechung).
92 Um den oben in den Rn. 88 bis 91 genannten Verpflichtungen nachzukommen, muss ein nationales Gericht daher eine Maßnahme wie einen Beschluss des Kollegiums dieses Gerichts, mit dem unter Verstoß gegen Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV angeordnet wurde, dass einem Richter dieses Gerichts seine Rechtssachen entzogen werden, unangewendet lassen, wenn dies in Anbetracht der in Rede stehenden Verfahrenslage unerlässlich ist, um den Vorrang des Unionsrechts zu gewährleisten (vgl. entsprechend Urteil vom 13. Juli 2023, YP u. a. [Aufhebung der Immunität und Suspendierung eines Richters], C‑615/20 und C‑671/20, EU:C:2023:562, Rn. 65 und die dort angeführte Rechtsprechung).
93 Da im Rahmen eines Verfahrens nach Art. 267 AEUV allein das vorlegende Gericht für die endgültige Beurteilung des Sachverhalts sowie die Anwendung und die Auslegung des nationalen Rechts zuständig ist, wird es Sache dieses Gerichts sein, die konkreten Folgen, die sich aus dem in der vorstehenden Randnummer angeführten Grundsatz für die Ausgangsverfahren ergeben, abschließend zu bestimmen. Nach ständiger Rechtsprechung kann der Gerichtshof dem vorlegenden Gericht jedoch anhand der Akten Hinweise zur Auslegung des Unionsrechts geben, die ihm insoweit von Nutzen sein könnten (Urteil vom 13. Juli 2023, YP u. a. [Aufhebung der Immunität und Suspendierung eines Richters], C‑615/20 und C‑671/20, EU:C:2023:562, Rn. 66 und die dort angeführte Rechtsprechung).
94 Insoweit ergibt sich aus der Antwort auf die ersten Fragen, dass Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV einer nationalen Regelung über die Entziehung von Rechtssachen, wie sie vom vorlegenden Gericht beschrieben wird, entgegensteht.
95 In einer solchen Situation muss ein Spruchkörper berechtigt sein, jeden auf der Grundlage dieser Regelung gefassten Beschluss unangewendet zu lassen und damit die Prüfung der Ausgangsverfahren mit der gleichen Besetzung fortzusetzen, ohne dass die für die Bestimmung und Änderung der Besetzung der Spruchkörper des nationalen Gerichts zuständigen Justizorgane dies verwehren könnten (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 13. Juli 2023, YP u. a. [Aufhebung der Immunität und Suspendierung eines Richters], C‑615/20 und C‑671/20, EU:C:2023:562, Rn. 72 und die dort angeführte Rechtsprechung).
96 In derselben Situation müssen die für die Bestimmung und Änderung der Besetzung dieses Spruchkörpers zuständigen Organe einen solchen Beschluss unangewendet lassen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 13. Juli 2023, YP u. a. [Aufhebung der Immunität und Suspendierung eines Richters], C‑615/20 und C‑671/20, EU:C:2023:562, Rn. 80).
97 Nach alledem ist auf die zweiten Fragen zu antworten, dass Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV und der Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts dahin auszulegen sind, dass sie ein nationales Gericht verpflichten, einen Beschluss des Kollegiums dieses Gerichts, mit dem einem Richter dieses Gerichts die ihm zugewiesenen Rechtssachen entzogen wurden, und weitere nachfolgende Handlungen, wie die Entscheidungen über die Neuzuweisung dieser Rechtssachen, unangewendet zu lassen, wenn dieser Beschluss unter Verstoß gegen Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV erlassen wurde. Die für die Bestimmung und Änderung der Besetzung dieses Spruchkörpers zuständigen Justizorgane müssen einen solchen Beschluss unangewendet lassen.
Kosten
98 Für die Beteiligten der Ausgangsverfahren ist das Verfahren Teil der beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahren; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Fünfte Kammer) für Recht erkannt:
1. Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV
ist dahin auszulegen, dass
er einer nationalen Regelung entgegensteht, nach der ein Organ eines nationalen Gerichts, wie etwa dessen Kollegium, einem Richter dieses Gerichts einige oder alle der ihm zugewiesenen Rechtssachen entziehen kann, ohne dass in dieser Regelung die Kriterien festgelegt sind, von denen sich dieses Organ leiten lassen muss, wenn es eine solche Entscheidung der Entziehung trifft, oder die Verpflichtung normiert ist, diese Entscheidung zu begründen.
2. Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV und der Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts
sind dahin auszulegen, dass
sie ein nationales Gericht verpflichten, einen Beschluss des Kollegiums dieses Gerichts, mit dem einem Richter dieses Gerichts die ihm zugewiesenen Rechtssachen entzogen wurden, und weitere nachfolgende Handlungen, wie die Entscheidungen über die Neuzuweisung dieser Rechtssachen, unangewendet zu lassen, wenn dieser Beschluss unter Verstoß gegen Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV erlassen wurde. Die für die Bestimmung und Änderung der Besetzung dieses Spruchkörpers zuständigen Justizorgane müssen einen solchen Beschluss unangewendet lassen.
Unterschriften
(*1) Verfahrenssprache: Polnisch.
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Urteil des Gerichtshofs (Vierte Kammer) vom 19. Dezember 2024.#„Vivacom Bulgaria“ EAD gegen Varhoven administrativen sad und Natsionalna agentsia za prihodite.#Vorabentscheidungsersuchen des Varhoven administrativen sad.#Vorlage zur Vorabentscheidung – Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV – Wirksamer Rechtsschutz in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen – Art. 47 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Zugang zu einem unabhängigen und unparteiischen Gericht – Haftung eines Mitgliedstaats für Schäden, die dem Einzelnen durch einen Verstoß gegen das Unionsrecht entstanden sind – Verstoß eines auf dem Gebiet der Mehrwertsteuer letztinstanzlich entscheidenden nationalen Gerichts – Zuständigkeit eines Gerichts, das letztinstanzlich entscheidet und dabei die Eigenschaft des Beklagten des Rechtsstreits hat – Besetzung des Spruchkörpers.#Rechtssache C-369/23.
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62023CJ0369
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ECLI:EU:C:2024:1043
| 2024-12-19T00:00:00 |
Ćapeta, Gerichtshof
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62023CJ0369
URTEIL DES GERICHTSHOFS (Vierte Kammer)
19. Dezember 2024 (*1)
„Vorlage zur Vorabentscheidung – Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV – Wirksamer Rechtsschutz in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen – Art. 47 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Zugang zu einem unabhängigen und unparteiischen Gericht – Haftung eines Mitgliedstaats für Schäden, die dem Einzelnen durch einen Verstoß gegen das Unionsrecht entstanden sind – Verstoß eines auf dem Gebiet der Mehrwertsteuer letztinstanzlich entscheidenden nationalen Gerichts – Zuständigkeit eines Gerichts, das letztinstanzlich entscheidet und dabei die Eigenschaft des Beklagten des Rechtsstreits hat – Besetzung des Spruchkörpers“
In der Rechtssache C‑369/23
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Varhoven administrativen sad (Oberstes Verwaltungsgericht, Bulgarien) mit Entscheidung vom 9. Juni 2023, beim Gerichtshof eingegangen am 9. Juni 2023, in dem Verfahren
„Vivacom Bulgaria“ EAD
gegen
Varhoven administrativen sad,
Natsionalna agentsia za prihodite
erlässt
DER GERICHTSHOF (Vierte Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten des Gerichtshofs K. Lenaerts in Wahrnehmung der Aufgaben des Präsidenten der Vierten Kammer, des Präsidenten der Dritten Kammer C. Lycourgos (Berichterstatter), der Richter S. Rodin und J. Passer sowie der Richterin O. Spineanu-Matei,
Generalanwältin: T. Ćapeta,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
–
der „Vivacom Bulgaria“ EAD, vertreten durch S. Kostov und S. Yordanova, Advokati,
–
des Varhoven administrativen sad, vertreten durch A. Adamova-Petkova, T. Kutsarova-Hristova und M. Semov,
–
der bulgarischen Regierung, vertreten durch T. Mitova und R. Stoyanov als Bevollmächtigte,
–
der Europäischen Kommission, vertreten durch K. Herrmann, E. Rousseva und P. J. O. Van Nuffel als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge der Generalanwältin in der Sitzung vom 11. Juli 2024
folgendes
Urteil
1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV und Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta).
2 Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der „Vivacom Bulgaria“ EAD auf der einen Seite und dem Varhoven administrativen sad (Oberstes Verwaltungsgericht, Bulgarien) und der Natsionalna agentsia za prihodite (Nationale Agentur für Einnahmen, Bulgarien) (im Folgenden: NAP) auf der anderen Seite über den Ersatz des Schadens, der der Balgarska telekomunikatsionna kompania EAD (im Folgenden: BTK), nunmehr Vivacom Bulgaria, durch einen Verstoß gegen das Unionsrecht entstanden sein soll.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
3 Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV bestimmt:
„Die Mitgliedstaaten schaffen die erforderlichen Rechtsbehelfe, damit ein wirksamer Rechtsschutz in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen gewährleistet ist.“
4 Art. 47 der Charta sieht vor:
„Jede Person, deren durch das Recht der Union garantierte Rechte oder Freiheiten verletzt worden sind, hat das Recht, nach Maßgabe der in diesem Artikel vorgesehenen Bedingungen bei einem Gericht einen wirksamen Rechtsbehelf einzulegen.
Jede Person hat ein Recht darauf, dass ihre Sache von einem unabhängigen, unparteiischen und zuvor durch Gesetz errichteten Gericht in einem fairen Verfahren, öffentlich und innerhalb angemessener Frist verhandelt wird. Jede Person kann sich beraten, verteidigen und vertreten lassen.
Personen, die nicht über ausreichende Mittel verfügen, wird Prozesskostenhilfe bewilligt, soweit diese Hilfe erforderlich ist, um den Zugang zu den Gerichten wirksam zu gewährleisten.“
Bulgarisches Recht
Verwaltungsprozessordnung
5 Art. 1 Nr. 3 des Administrativnoprotsesualen kodeks (Verwaltungsprozessordnung) in seiner auf das Ausgangsverfahren anwendbaren Fassung (DV Nr. 94 vom 29. November 2019) (im Folgenden: Verwaltungsprozessordnung) lautet:
„Diese Verwaltungsprozessordnung regelt das Verfahren zum Ersatz von Schäden, die durch rechtswidrige Rechtsakte, Handlungen oder Unterlassungen von Verwaltungsbehörden und Bediensteten verursacht wurden, sowie von Schäden, die sich aus der Rechtsprechungstätigkeit der Verwaltungsgerichte und des Varhoven administrativen sad (Oberstes Verwaltungsgericht) ergeben.“
6 Art. 128 Abs. 1 Nr. 6 der Verwaltungsprozessordnung sieht vor:
„In die Zuständigkeit der Verwaltungsgerichte fallen alle Rechtssachen im Zusammenhang mit Anträgen auf … Ersatz von Schäden, die sich aus der Rechtsprechungstätigkeit der Verwaltungsgerichte und des Varhoven administrativen sad (Oberstes Verwaltungsgericht) ergeben.“
7 Art. 203 der Verwaltungsprozessordnung bestimmt:
„(1) Klagen auf Ersatz von Schäden, die Bürgern oder juristischen Personen aufgrund von rechtswidrigen Rechtsakten, Handlungen oder Unterlassungen von Verwaltungsbehörden und deren Bediensteten entstanden sind, werden nach dem in diesem Kapitel vorgesehenen Verfahren geprüft.
(2) Die in dieser Verwaltungsprozessordnung nicht geregelten Fragen betreffend die finanzielle Haftung nach Abs. 1 werden durch die Bestimmungen des Zakon za otgovornostta na darzhavata i obshtinite za vredi [(Gesetz über die Haftung des Staates und der Gemeinden für Schäden (DV Nr. 60 vom 5. August 1988)] oder des Zakon za izpalnenie na nakazaniyata i zadarzhaneto pod strazha [(Gesetz über die Strafvollstreckung und die Untersuchungshaft (DV Nr. 25 vom 3. April 2009)] geregelt.
(3) Dieses Kapitel betrifft auch Klagen auf Ersatz von Schäden, die durch einen hinreichend qualifizierten Verstoß gegen das Unionsrecht verursacht wurden, wobei sich die finanzielle Haftung und die Zulässigkeit der Klage nach den Vorschriften über die außervertragliche Haftung des Staates wegen Verstoßes gegen das Unionsrecht richten.“
Gesetz über die Haftung des Staates und der Gemeinden für Schäden
8 Art. 2c des Zakon za otgovornostta na darzhavata i obshtinite za vredi (Gesetz über die Haftung des Staates und der Gemeinden für Schäden) in seiner auf das Ausgangsverfahren anwendbaren Fassung (DV Nr. 94 vom 29. November 2019) (im Folgenden: Gesetz über die Haftung des Staates und der Gemeinden für Schäden) sieht vor:
„(1) Ist der Schaden auf einen hinreichend qualifizierten Verstoß gegen das Unionsrecht zurückzuführen, so prüfen die Gerichte die Klagen nach den Modalitäten
1. der Verwaltungsprozessordnung in Bezug auf Schäden …, die durch die Rechtsprechungstätigkeit der Verwaltungsgerichte und des Varhoven administrativen sad [(Oberstes Verwaltungsgericht)] verursacht wurden;
2. der Zivilprozessordnung in anderen als den in Nr. 1 genannten Fällen …
(2) Richtet sich eine Klage nach Abs. 1 gegen mehrere Beklagte, so wird sie, wenn Partei des Verfahrens ein Verwaltungsgericht, der Varhoven administrativen sad [(Oberstes Verwaltungsgericht)] oder eine juristische Person ist, für Schäden, die bei oder aufgrund einer Verwaltungstätigkeit verursacht wurden, nach den Modalitäten der Verwaltungsprozessordnung geprüft.“
Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefrage
9 Von 2007 bis 2008 stellte die BTK Mobile EOOD, deren Rechtsnachfolgerin BTK ist, zwei rumänischen Gesellschaften Rechnungen über die Lieferung von Prepaid-Karten und Gutscheinen für Telekommunikationsdienstleistungen aus. In den Rechnungen wurden diese Umsätze als Dienstleistungen angesehen, deren Ort der Lieferung in Rumänien liege und die folglich in Bulgarien nicht mehrwertsteuerpflichtig seien.
10 Am 20. Juni 2012 erließ die NAP gegenüber BTK einen Steuerprüfungsbescheid, mit dem Mehrwertsteuerschulden für diese Rechnungen festgestellt wurden. Nach Ansicht der NAP waren die in Rede stehenden Umsätze nämlich als Dienstleistungen einzustufen, deren Ort der Lieferung in Bulgarien liege, so dass sie in diesem Mitgliedstaat steuerpflichtig seien.
11 Mit Urteil vom 22. November 2013, ergänzt durch Urteil vom 28. Januar 2014, bestätigte der Administrativen sad Sofia grad (Verwaltungsgericht der Stadt Sofia, Bulgarien) diesen Steuerprüfungsbescheid hinsichtlich der Steuerzeiträume von Dezember 2007 bis Juni 2008, wobei er annahm, dass es sich bei den in Rede stehenden Umsätzen um Lieferungen von Gegenständen handele, deren Ort der Lieferung in Bulgarien liege. Mit rechtskräftigem Urteil vom 16. Dezember 2014 bestätigte der Varhoven administrativen sad (Oberstes Verwaltungsgericht) das erstinstanzliche Urteil in vollem Umfang.
12 Mit einer am 12. Dezember 2019 beim Administrativen sad Sofia grad (Verwaltungsgericht der Stadt Sofia) gegen die NAP und den Varhoven administrativen sad (Oberstes Verwaltungsgericht) erhobenen Klage beantragte BTK auf der Grundlage von Art. 2c des Gesetzes über die Haftung des Staates und der Gemeinden für Schäden in Verbindung mit Art. 4 Abs. 3 EUV die Zuerkennung von Schadensersatz in Höhe des gemäß dem Steuerprüfungsbescheid entrichteten Betrags zuzüglich gesetzlicher Zinsen, d. h. eines Betrags von insgesamt 1808638,32 bulgarischen Lewa (BGN) (ca. 925000 Euro). Außerdem beantragte BTK die Zuerkennung gesetzlicher Zinsen auf einen Teil dieses Betrags für den Zeitraum von der Klageerhebung bis zu seiner endgültigen Zahlung.
13 Diese Beträge entsprächen dem Schaden, der sich aus einem hinreichend qualifizierten Verstoß der NAP und des Varhoven administrativen sad (Oberstes Verwaltungsgericht) gegen bestimmte Vorschriften der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. 2006, L 347, S. 1) in ihrer zwischen Dezember 2007 und Juni 2008 geltenden Fassung (im Folgenden: Mehrwertsteuerrichtlinie) in ihrer Auslegung durch den Gerichtshof im Urteil vom 3. Mai 2012, Lebara (C‑520/10, EU:C:2012:264), ergebe.
14 Mit Urteil vom 18. April 2022 wies der Administrativen sad Sofia grad (Verwaltungsgericht der Stadt Sofia) die Klage von BTK u. a. mit der Begründung ab, dass weder die NAP noch der Varhoven administrativen sad (Oberstes Verwaltungsgericht) in qualifizierter Weise gegen das Unionsrecht verstoßen hätten. Die NAP habe die in Rede stehenden Umsätze zu Recht als Dienstleistungen eingestuft und dadurch, dass sie davon ausgegangen sei, dass eine der Voraussetzungen für die Festlegung des Ortes der Lieferung dieser Leistungen in einem anderen Mitgliedstaat als der Republik Bulgarien – nämlich der Erhalt der Prepaid-Karten und Gutscheine durch in diesem Mitgliedstaat ansässige Steuerpflichtige – nicht erfüllt sei, nicht gegen das Unionsrecht verstoßen.
15 Der Administrativen sad Sofia grad (Verwaltungsgericht der Stadt Sofia) war ferner der Auffassung, dass die Einstufung der in Rede stehenden Umsätze durch den Varhoven administrativen sad (Oberstes Verwaltungsgericht) als Lieferungen von Gegenständen und nicht als Erbringung von Dienstleistungen gegen die Mehrwertsteuerrichtlinie und das Urteil vom 3. Mai 2012, Lebara (C‑520/10, EU:C:2012:264), verstoße. Unabhängig von diesem Fehler habe die Klage gegen den Steuerprüfungsbescheid jedoch nicht zu einem anderen Ergebnis führen können, da nicht bewiesen sei, dass die Empfänger der Lieferungen der Prepaid-Karten und Gutscheine tatsächlich in einem anderen Mitgliedstaat ansässige Steuerpflichtige seien. Im Übrigen habe der Varhoven administrativen sad (Oberstes Verwaltungsgericht) zu Recht festgestellt, dass die Umstände der Rechtssache, in der das Urteil vom 3. Mai 2012, Lebara (C‑520/10, EU:C:2012:264), ergangen sei, nicht mit denen identisch seien, die dem Erlass des in Rede stehenden Steuerprüfungsbescheids zugrunde gelegen hätten.
16 BTK legte beim Varhoven administrativen sad (Oberstes Verwaltungsgericht) Kassationsbeschwerde ein, mit der sie die Aufhebung des erstinstanzlichen Urteils vom 18. April 2022 begehrte, das eine Verletzung materiellen Rechts, einen wesentlichen Verstoß gegen Verfahrensvorschriften und einen Begründungsmangel aufweise. BTK macht u. a. geltend, der Verstoß gegen das Unionsrecht, der sich aus der fehlerhaften Einstufung der in Rede stehenden Umsätze durch den Varhoven administrativen sad (Oberstes Verwaltungsgericht) ergebe, folge aus dem von der Europäischen Kommission gegen die Republik Bulgarien eingeleiteten Vertragsverletzungsverfahrens EU Pilot 8498/1/TAXU. Dieser Verstoß, der auf einer offensichtlichen Verkennung der Rechtsprechung des Gerichtshofs beruhe, sei im Hinblick auf die in Rn. 43 des Urteils vom 13. Juni 2006, Traghetti del Mediterraneo (C‑173/03, EU:C:2006:391), genannten Kriterien hinreichend qualifiziert.
17 In diesem Zusammenhang beantragte BTK beim Varhoven administrativen sad (Oberstes Verwaltungsgericht), dem vorlegenden Gericht, den Gerichtshof um Vorabentscheidung zu ersuchen. Sie räumt ein, dass sich der Spruchkörper dieses Gerichts, bei dem der Ausgangsrechtsstreit anhängig sei, von dem Spruchkörper unterscheide, der – das in Rn. 11 des vorliegenden Urteils genannte – Urteil vom 16. Dezember 2014 erlassen habe. Es bestünden jedoch berechtigte Zweifel an der Unparteilichkeit aller Spruchkörper dieses Gerichts, da es Beklagter im ersten Rechtszug gewesen sei und bereits die Auffassung vertreten habe, dass die gegen das Gericht erhobene Klage unzulässig oder jedenfalls unbegründet sei.
18 Das vorlegende Gericht weist darauf hin, dass BTK keine konkreten Argumente zur subjektiven oder objektiven Unparteilichkeit des Spruchkörpers vorgebracht habe, ist jedoch der Ansicht, dass es Klarstellungen zu seiner Zuständigkeit für die Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits benötige, bevor es in der Sache entscheiden könne.
19 Es führt aus, der bulgarische Gesetzgeber habe in Anbetracht der Besonderheiten von Verwaltungsstreitsachen vorgesehen, dass Klagen auf Ersatz von Schäden, die sich aus der Rechtsprechungstätigkeit der Verwaltungsgerichte und des Varhoven administrativen sad (Oberstes Verwaltungsgericht) ergäben, in die Zuständigkeit der Verwaltungsgerichte fielen, deren letztinstanzlich entscheidendes Gericht das vorlegende Gericht sei. Es wirft die Frage auf, ob diese Rechtsvorschriften den Anforderungen von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV, in dem der wirksame Rechtsschutz in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen verankert sei, und Art. 47 Abs. 2 der Charta in Bezug auf das Erfordernis eines unabhängigen und unparteiischen Gerichts genügten.
20 Die einschlägige Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu Beschwerden gegen die Republik Bulgarien lasse keine abschließende Feststellung darüber zu, ob ein Gericht über eine Klage, in deren Rahmen es Beklagter sei, entscheiden könne, ohne dass dies zu einer Verletzung von Art. 6 Abs. 1 der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (im Folgenden: EMRK) führe.
21 So weist das vorlegende Gericht darauf hin, dass der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in den Urteilen vom 10. April 2008, Mihalkov/Bulgarien (CE:ECHR:2008:0410JUD006771901), und vom 5. April 2018, Boyan Gospodinov/Bulgarien (CE:ECHR:2018:0405JUD002841707), im Zusammenhang mit Haftungsklagen gegen den Staat in Bezug auf die Tätigkeit eines Gerichts eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK festgestellt habe, da die Richter mit diesem Gericht, das Partei des Rechtsstreits sei, beruflich verbunden seien und da die Entschädigungen, die zuerkannt werden könnten, aus dem Haushalt des betreffenden Gerichts gezahlt werden müssten.
22 Dagegen habe der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in seinen Urteilen vom 18. Juni 2013, Valcheva und Abrashev/Bulgarien (CE:ECHR:2013:0618DEC000619411), sowie vom 18. Juni 2013, Balakchiev u. a./Bulgarien (CE:ECHR:2013:0618DEC006518710), festgestellt, dass keine Verletzung der EMRK vorliege, da die Entschädigung für die durch die Tätigkeit der Gerichte verursachten Schäden aus einem gesonderten Posten des Haushalts des jeweiligen Gerichts stamme.
23 Das vorlegende Gericht weist darauf hin, dass im vorliegenden Fall die Haushaltsvorschriften, die für die Zahlung eines etwaigen Schadensersatzes infolge der Entscheidung über den Ausgangsrechtsstreit gälten, denen entsprächen, die in den – in der vorstehenden Randnummer – angeführten Rechtssachen beschrieben worden seien, und dass gegebenenfalls die zur Entschädigung bestimmten Haushaltsposten der Gerichte auf Antrag des betreffenden Gerichts vom Obersten Justizrat erhöht werden könnten. Somit hingen die Vergütung der Richter und ihre Arbeitsbedingungen bei einem Gericht nicht von dem Schadensersatz ab, den dieses möglicherweise schulde.
24 Vor diesem Hintergrund hat der Varhoven administrativen sad (Oberstes Verwaltungsgericht) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:
Stehen Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV und Art. 47 der Charta einer nationalen Regelung wie Art. 2c Abs. 1 Nr. 1 des Gesetzes über die Haftung des Staates und der Gemeinden für Schäden in Verbindung mit Art. 203 Abs. 3 und Art. 128 Abs. 1 Nr. 6 der Verwaltungsprozessordnung entgegen, wonach eine Klage auf Ersatz des durch einen Verstoß des Varhoven administrativen sad (Oberstes Verwaltungsgericht) gegen das Unionsrecht verursachten Schadens, bei der dieses Gericht Beklagter ist, von diesem Gericht in letzter Instanz zu prüfen ist?
Zur Vorlagefrage
25 Mit seiner Vorlagefrage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV und Art. 47 Abs. 2 der Charta dahin auszulegen sind, dass sie einer nationalen Regelung entgegenstehen, nach der ein Gericht im Rahmen einer Kassationsbeschwerde letztinstanzlich über eine Rechtssache entscheidet, die die Haftung des Staates wegen eines behaupteten Verstoßes gegen das Unionsrecht durch ein von diesem Gericht erlassenes Urteil betrifft und in der dieses Gericht die Eigenschaft des Beklagten hat.
26 Insoweit ist zum einen darauf hinzuweisen, dass die Mitgliedstaaten nach Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV die erforderlichen Rechtsbehelfe schaffen, damit den Einzelnen die Wahrung ihres Rechts auf wirksamen Rechtsschutz in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen, zu denen der im Ausgangsverfahren in Rede stehende Bereich der Mehrwertsteuer gehört, gewährleistet wird.
27 Zum anderen ist festzustellen, dass Art. 47 Abs. 2 der Charta, in dem u. a. das Grundrecht auf ein unabhängiges und unparteiisches Gericht niedergelegt ist, gemäß Art. 51 Abs. 1 der Charta für die Mitgliedstaaten bei der Durchführung des Rechts der Union gilt. Um einen solchen Fall handelt es sich vorliegend, da der Ausgangsrechtsstreit die Haftung des Staates für einen behaupteten Verstoß gegen die Mehrwertsteuerrichtlinie betrifft.
28 Da die in der Charta enthaltenen Rechte den durch die EMRK garantierten Rechten entsprechen, soll mit Art. 52 Abs. 3 der Charta die notwendige Kohärenz zwischen den in der Charta enthaltenen Rechten und den durch die EMRK gewährleisteten entsprechenden Rechten geschaffen werden, ohne dass dadurch die Eigenständigkeit des Unionsrechts berührt wird. Nach den Erläuterungen zur Charta der Grundrechte (ABl. 2007, C 303, S. 17) entspricht Art. 47 Abs. 2 der Charta Art. 6 Abs. 1 EMRK. Der Gerichtshof muss daher darauf achten, dass seine Auslegung in der vorliegenden Rechtssache ein Schutzniveau gewährleistet, das das in Art. 6 Abs. 1 EMRK in seiner Auslegung durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte garantierte Schutzniveau nicht verletzt (Urteil vom 11. Juli 2024, Hann‑Invest u. a., C‑554/21, C‑622/21 und C‑727/21, EU:C:2024:594, Rn. 46 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).
29 Im Übrigen ist darauf hinzuweisen, dass das Erfordernis der Unabhängigkeit der Gerichte, das dem Auftrag des Richters inhärent ist, zum Wesensgehalt des Rechts auf wirksamen Rechtsschutz und des Grundrechts auf ein faires Verfahren gehört, dem als Garant für den Schutz sämtlicher dem Einzelnen aus dem Unionsrecht erwachsender Rechte und für die Wahrung der in Art. 2 EUV genannten Werte, die den Mitgliedstaaten gemeinsam sind, u. a. des Wertes der Rechtsstaatlichkeit, grundlegende Bedeutung zukommt (Urteil vom 11. Juli 2024, Hann‑Invest u. a., C‑554/21, C‑622/21 und C‑727/21, EU:C:2024:594, Rn. 49 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).
30 Nach ständiger Rechtsprechung umfasst dieses Erfordernis der Unabhängigkeit zwei Aspekte. Der erste, das Außenverhältnis betreffende Aspekt erfordert, dass die betreffende Einrichtung ihre Funktionen in völliger Autonomie ausübt, ohne mit irgendeiner Stelle hierarchisch verbunden oder ihr untergeordnet zu sein und ohne von irgendeiner Stelle Anordnungen oder Anweisungen zu erhalten, so dass sie auf diese Weise vor Interventionen oder Druck von außen geschützt ist, die die Unabhängigkeit des Urteils ihrer Mitglieder gefährden und deren Entscheidungen beeinflussen könnten (Urteil vom 11. Juli 2024, Hann‑Invest u. a., C‑554/21, C‑622/21 und C‑727/21, EU:C:2024:594, Rn. 50 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).
31 Der zweite, das Innenverhältnis betreffende Aspekt steht mit dem Begriff der Unparteilichkeit in Zusammenhang und bezieht sich darauf, dass den Parteien des Rechtsstreits und ihren jeweiligen Interessen am Streitgegenstand mit dem gleichen Abstand begegnet wird. Dieser Aspekt verlangt, dass Sachlichkeit obwaltet und neben der strikten Anwendung der Rechtsnormen keinerlei Interesse am Ausgang des Rechtsstreits besteht (Urteil vom 11. Juli 2024, Hann‑Invest u. a., C‑554/21, C‑622/21 und C‑727/21, EU:C:2024:594, Rn. 51 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).
32 Somit setzen die nach dem Unionsrecht erforderlichen Garantien der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit voraus, dass es Regeln gibt, die es ermöglichen, bei den Rechtsuchenden jeden berechtigten Zweifel an der Neutralität der betreffenden Einrichtung in Bezug auf die widerstreitenden Interessen auszuräumen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 8. Mai 2024, AsociaţiaForumul Judecătorilor din România [Verbände von Richtern bzw. Staatsanwälten], C‑53/23, EU:C:2024:388, Rn. 51 und die dort angeführte Rechtsprechung).
33 Was die Voraussetzung der „Unparteilichkeit“ im Sinne von Art. 6 Abs. 1 EMRK betrifft, besteht ihre objektive Beurteilung – die im vorliegenden Fall im Hinblick auf die Fragestellungen des vorlegenden Gerichts allein relevant ist – darin, festzustellen, ob diese Einrichtung u. a. durch ihre Zusammensetzung hinreichende Gewähr für den Ausschluss berechtigter Zweifel an ihrer Unparteilichkeit bietet. Somit ist zu fragen, ob unabhängig vom persönlichen Verhalten der Richter bestimmte nachprüfbare Umstände Zweifel an ihrer Unparteilichkeit aufkommen lassen können. Hierbei kann auch ein Eindruck von Bedeutung sein. Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte wird bei der Entscheidung, ob Anlass zu der Befürchtung besteht, dass die Erfordernisse der Unabhängigkeit oder objektiven Unparteilichkeit in einem bestimmten Fall nicht erfüllt sind, der Standpunkt einer Partei zwar berücksichtigt, spielt aber keine entscheidende Rolle. Entscheidend ist, ob die Befürchtungen als objektiv gerechtfertigt angesehen werden können (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 19. November 2019, A. K. u. a. [Unabhängigkeit der Disziplinarkammer des Obersten Gerichts], C‑585/18, C‑624/18 und C‑625/18, EU:C:2019:982, Rn. 128 und 129 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).
34 Im Licht dieser Rechtsprechung ist der besondere Fall zu prüfen, der Gegenstand der dem Gerichtshof vorgelegten Frage ist, nämlich der eines Gerichts, das im Rahmen einer Kassationsbeschwerde letztinstanzlich über eine Rechtssache entscheidet, die die Haftung des Staates wegen eines behaupteten Verstoßes gegen das Unionsrecht durch ein von diesem Gericht erlassenes Urteil betrifft und in der dieses Gericht die Eigenschaft des Beklagten hat.
35 Hierzu ist als Erstes festzustellen, dass es bei dem Grundsatz dieser Haftung nicht um die persönliche Haftung des Richters, sondern um die des Staates geht. Es ist nicht ersichtlich, dass die Unabhängigkeit eines letztinstanzlichen Gerichts durch die Möglichkeit, unter bestimmten Voraussetzungen die Haftung des Staates für unionsrechtswidrige Gerichtsentscheidungen feststellen zu lassen, gefährdet würde (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 30. September 2003, Köbler, C‑224/01, EU:C:2003:513, Rn. 42).
36 Der Gerichtshof hat außerdem darauf hingewiesen, dass es mangels einer einschlägigen unionsrechtlichen Regelung Sache der innerstaatlichen Rechtsordnung jedes Mitgliedstaats ist, die zuständigen Gerichte zu bestimmen und die Verfahrensmodalitäten für Klagen zu regeln, die den Schutz der dem Einzelnen aus dem Unionsrecht erwachsenden Rechte gewährleisten sollen. Unter dem Vorbehalt, dass die Mitgliedstaaten für den wirksamen Schutz der individuellen, aus der Unionsrechtsordnung hergeleiteten Rechte in jedem Einzelfall verantwortlich sind, ist es nicht Aufgabe des Gerichtshofs, bei der Lösung von Zuständigkeitsfragen mitzuwirken, die die Qualifizierung einer bestimmten, auf dem Unionsrecht beruhenden Rechtslage im Bereich der nationalen Gerichtsbarkeit aufwirft (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 30. September 2003, Köbler, C‑224/01, EU:C:2003:513, Rn. 46 und 47 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).
37 Daher ist es einem Mitgliedstaat nicht grundsätzlich verwehrt, ein Gericht für zuständig zu erklären, im Rahmen einer Kassationsbeschwerde über die Haftung des Staates für dem Einzelnen durch Verstöße gegen das Unionsrecht entstandene Schäden, die sich gegebenenfalls aus einem der Urteile dieses Gerichts ergeben, letztinstanzlich zu entscheiden, sofern im Sinne der in den Rn. 30 bis 33 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung die erforderlichen Maßnahmen ergriffen werden, um die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit dieses Gerichts zu gewährleisten.
38 Was als Zweites den Umstand betrifft, dass in einem Rechtsstreit wie dem des Ausgangsverfahrens das letztinstanzliche Gericht als Beklagter im ersten Rechtszug möglicherweise zu den Sach- und Rechtsfragen, die Gegenstand dieses Rechtsstreits sind, Stellung genommen hat, ist festzustellen, dass diese verfahrensrechtliche Stellung nicht geeignet ist, die Unparteilichkeit dieses Gerichts in Frage zu stellen, vorausgesetzt, die Mitglieder des mit dem Rechtsstreit in letzter Instanz befassten Spruchkörpers waren in keiner Weise an der Verteidigung dieses Gerichts im ersten Rechtszug beteiligt.
39 Hierzu ist festzustellen, dass der Umstand, dass der Gerichtshof der Europäischen Union als Organ Beklagter in einem Verfahren ist, der Entscheidung eines Rechtsstreits durch den Gerichtshof nicht entgegensteht (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 25. Mai 2000, Kögler/Gerichtshof, C‑82/98 P, EU:C:2000:282, und vom 4. Mai 2023, KY/Gerichtshof der Europäischen Union, C‑100/22 P, EU:C:2023:377). Ebenso wenig wird das in Art. 47 Abs. 2 der Charta verankerte Grundrecht auf ein unabhängiges und unparteiisches Gericht verletzt, wenn der Gerichtshof das Gericht ist, bei dem ein von der Europäischen Union, vertreten durch das Organ Gerichtshof der Europäischen Union, eingelegtes Rechtsmittel anhängig ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 13. Dezember 2018, Europäische Union/Kendrion, C‑150/17 P, EU:C:2018:1014, Rn. 36).
40 Andererseits wird, wenn der Präsident des Gerichtshofs der Europäischen Union als Präsident dieses Organs die Entscheidung getroffen hat, ein Rechtsmittel gegen ein dieses Organ betreffendes Urteil des Gerichts einzulegen, das Grundrecht der anderen Partei auf ein unabhängiges und unparteiisches Gericht nur dann als gewährleistet angesehen, wenn der Präsident des Gerichtshofs als Gericht nicht an der gerichtlichen Behandlung der Rechtssache beteiligt ist und seine Aufgaben durch den Vizepräsidenten wahrgenommen werden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 13. Dezember 2018, Europäische Union/Kendrion, C‑150/17 P, EU:C:2018:1014, Rn. 38).
41 Zwar ist es Sache des vorlegenden Gerichts, zu prüfen, ob die in Rn. 38 des vorliegenden Urteils genannte Voraussetzung im Ausgangsrechtsstreit erfüllt ist, doch kann der Gerichtshof das Unionsrecht im Rahmen der durch Art. 267 AEUV begründeten Zusammenarbeit zwischen den Gerichten unter Berücksichtigung der Akten auslegen, soweit dies dem innerstaatlichen Gericht bei der Beurteilung der Wirkungen einer unionsrechtlichen Bestimmung dienlich sein könnte (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 11. Juli 2024, Hann‑Invest u. a., C‑554/21, C‑622/21 und C‑727/21, EU:C:2024:594, Rn. 60 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).
42 Im vorliegenden Fall wurde, wie Vivacom Bulgaria ausgeführt hat und wie sich aus den Erklärungen des Beklagten des Ausgangsverfahrens ergibt, der Standpunkt des Varhoven administrativen sad (Oberstes Verwaltungsgericht) als Beklagter im ersten Rechtszug von einem von dessen Präsidenten beauftragten Beamten dieses Gerichts vertreten. Dagegen geht aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten nicht hervor, dass die Mitglieder des mit dem Ausgangsverfahren befassten Spruchkörpers irgendeine Rolle bei der Verteidigung des Varhoven administrativen sad (Oberstes Verwaltungsgericht) gespielt hätten. Es ist jedoch Sache des vorlegenden Gerichts, diese Angaben zu überprüfen.
43 Unter diesen Umständen – sollten sie bestätigt werden – stünde die von Vivacom Bulgaria angeführte Rechtsprechung, wonach der Begriff der Unabhängigkeit bedeutet, dass die betreffende Einrichtung gegenüber der Stelle, die die mit einem Rechtsbehelf angefochtene Entscheidung erlassen hat, die Eigenschaft eines Dritten hat (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 21. Januar 2020, Banco de Santander, C‑274/14, EU:C:2020:17, Rn. 62, und vom 7. Mai 2024, NADA u. a., C‑115/22, EU:C:2024:384, Rn. 46), der Zuständigkeit eines letztinstanzlich entscheidenden Gerichts für die Entscheidung über eine Kassationsbeschwerde in einer Rechtssache, in der es die Eigenschaft des Beklagten hat, nicht entgegen.
44 Was als Drittes das Erfordernis der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der Richter anbelangt, ist darauf hinzuweisen, dass die für ihren Status und die Ausübung ihres Richteramts geltenden Vorschriften es ermöglichen müssen, nicht nur jede Form der unmittelbaren Einflussnahme in Form von Weisungen auszuschließen, sondern auch die Formen der mittelbaren Einflussnahme, die zur Steuerung der Entscheidungen der betreffenden Richter geeignet sein könnten, und damit auszuschließen, dass diese Richter den Eindruck vermitteln, nicht unabhängig und unparteiisch zu sein, wodurch das Vertrauen beeinträchtigt werden könnte, das die Justiz in einer demokratischen Gesellschaft und in einem Rechtsstaat bei den Rechtsuchenden schaffen muss (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 11. Juli 2024, Hann‑Invest u. a., C‑554/21, C‑622/21 und C‑727/21, EU:C:2024:594, Rn. 53 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).
45 Insoweit geht zunächst aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten nicht hervor, dass den Richtern des Varhoven administrativen sad (Oberstes Verwaltungsgericht) nach der bulgarischen Regelung keine Garantien zugutekämen, die geeignet wären, ihre Unabhängigkeit und Unparteilichkeit zu gewährleisten. Dies zu prüfen ist jedoch Sache des vorlegenden Gerichts.
46 Sodann heißt es in der Vorlageentscheidung, dass die Vergütung und die Arbeitsbedingungen dieser Richter nicht von der Zahlung eines etwaigen Schadensersatzes durch dieses Gericht abhingen. Unter diesen Umständen sind die Haushaltsvorschriften, die die Zahlung eines etwaigen Schadensersatzes infolge der Entscheidung über den Ausgangsrechtsstreit regeln, nicht geeignet, bei den Rechtsuchenden einen berechtigten Zweifel an der Unabhängigkeit oder Unparteilichkeit dieser Richter aufkommen zu lassen.
47 Schließlich ist darauf hinzuweisen, dass der bloße Umstand, dass mehrere Spruchkörper eines Gerichts nacheinander mit Rechtssachen befasst sind, die unterschiedliche, sich aus derselben Situation ergebende Rechtsfragen betreffen, nicht ausreichen kann, um bei den Rechtsuchenden berechtigte Zweifel an der Unabhängigkeit oder Unparteilichkeit dieses Gerichts in jeder dieser Rechtssache aufkommen zu lassen.
48 Wie die Generalanwältin in Nr. 39 ihrer Schlussanträge ausgeführt hat, ergibt sich vielmehr aus den Urteilen des EGMR vom 29. Juli 2004, San Leonard Band Club/Malta (CE:ECHR:2004:0729JUD007756201), und vom 7. Juli 2020, Scerri/Malta (CE:ECHR:2020:0707JUD003631818), dass, wenn dieselben Richter in einem bestimmten Verfahren darüber zu entscheiden haben, ob sie in einer früheren Entscheidung Fehler bei der Rechtsauslegung oder ‑anwendung gemacht haben, eine Verletzung von Art. 6 EMRK festgestellt werden müsste.
49 Ferner ist darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof entschieden hat, dass das Grundrecht auf ein unabhängiges und unparteiisches Gericht im Sinne von Art. 47 Abs. 2 der Charta gewahrt ist, wenn das Gericht der Europäischen Union, das mit einer Schadensersatzklage befasst wird, die auf Ersatz des angeblich auf einer Überschreitung der angemessenen Dauer des Gerichtsverfahrens beruhenden Schadens gerichtet ist, darüber in einer anderen Besetzung als derjenigen entscheidet, in der es mit dem als überlang gerügten Verfahren befasst war (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 26. November 2013, Gascogne Sack Deutschland/Kommission, C‑40/12 P, EU:C:2013:768, Rn. 96, und vom 13. Dezember 2018, Europäische Union/Kendrion,C‑150/17 P, EU:C:2018:1014, Rn. 36 und 37 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).
50 Im vorliegenden Fall ergibt sich aus der Vorlageentscheidung sowie aus den schriftlichen Erklärungen von Vivacom Bulgaria, dass keiner der Richter, die den mit dem Ausgangsverfahren befassten Spruchkörper bildeten, dem Spruchkörper angehörte, der das diesem Rechtsstreit zugrunde liegende Urteil erlassen hat. Ohne dass sich der Gerichtshof zu der Frage äußern müsste, ob es mit den Bestimmungen des Unionsrechts, um deren Auslegung er ersucht wird, vereinbar wäre, wenn die beiden Spruchkörper, sei es auch nur teilweise, mit denselben Richtern besetzt wären, genügt daher die Feststellung, dass sich unter den Umständen des Ausgangsverfahrens bei den Rechtsuchenden kein berechtigter Zweifel an der Unabhängigkeit oder Unparteilichkeit des Varhoven administrativen sad (Oberstes Verwaltungsgericht) aus der jeweiligen Zusammensetzung dieser beiden Spruchkörper ergeben kann.
51 Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV und Art. 47 Abs. 2 der Charta dahin auszulegen sind, dass sie einer nationalen Regelung, nach der ein Gericht im Rahmen einer Kassationsbeschwerde letztinstanzlich über eine Rechtssache entscheidet, die die Haftung des Staates wegen eines behaupteten Verstoßes gegen das Unionsrecht durch ein von diesem Gericht erlassenes Urteil betrifft und in der dieses Gericht die Eigenschaft des Beklagten hat, nicht entgegenstehen, sofern diese nationale Regelung und die zur Behandlung dieser Rechtssache getroffenen Maßnahmen es ermöglichen, bei den Rechtsuchenden jeden berechtigten Zweifel an der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit des betreffenden Gerichts auszuräumen.
Kosten
52 Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Vierte Kammer) für Recht erkannt:
Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV und Art. 47 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union sind dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Regelung, nach der ein Gericht im Rahmen einer Kassationsbeschwerde letztinstanzlich über eine Rechtssache entscheidet, die die Haftung des Staates wegen eines behaupteten Verstoßes gegen das Unionsrecht durch ein von diesem Gericht erlassenes Urteil betrifft und in der dieses Gericht die Eigenschaft des Beklagten hat, nicht entgegenstehen, sofern diese nationale Regelung und die zur Behandlung dieser Rechtssache getroffenen Maßnahmen es ermöglichen, bei den Rechtsuchenden jeden berechtigten Zweifel an der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit des betreffenden Gerichts auszuräumen.
Unterschriften
(*1) Verfahrenssprache: Bulgarisch.
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Urteil des Gerichtshofs (Vierte Kammer) vom 14. November 2024.#S. S.A. gegen C. sp. z o.o.#Vorabentscheidungsersuchen des Sąd Apelacyjny w Warszawie.#Vorlage zur Vorabentscheidung – Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV – Rechtsbehelfe – Wirksamer gerichtlicher Rechtsschutz – Unabhängiges, unparteiisches und durch Gesetz errichtetes Gericht – Nationale Vorschriften über die nach dem Zufallsprinzip vorgenommene Zuweisung von Rechtssachen an Richter eines Gerichts und über die Änderung der Spruchkörper – Bestimmung, die es verbietet, Verstöße gegen diese Vorschriften in einem Berufungsverfahren geltend zu machen.#Rechtssache C-197/23.
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62023CJ0197
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ECLI:EU:C:2024:956
| 2024-11-14T00:00:00 |
Medina, Gerichtshof
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62023CJ0197
URTEIL DES GERICHTSHOFS (Vierte Kammer)
14. November 2024 (*1)
„Vorlage zur Vorabentscheidung – Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV – Rechtsbehelfe – Wirksamer gerichtlicher Rechtsschutz – Unabhängiges, unparteiisches und durch Gesetz errichtetes Gericht – Nationale Vorschriften über die nach dem Zufallsprinzip vorgenommene Zuweisung von Rechtssachen an Richter eines Gerichts und über die Änderung der Spruchkörper – Bestimmung, die es verbietet, Verstöße gegen diese Vorschriften in einem Berufungsverfahren geltend zu machen“
In der Rechtssache C‑197/23
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Sąd Apelacyjny w Warszawie (Berufungsgericht Warschau, Polen) mit Entscheidung vom 28. April 2022, beim Gerichtshof eingegangen am 24. März 2023, in dem Verfahren
S. S.A.
gegen
C. sp. z o.o.,
Beteiligter:
Prokurator Prokuratury Regionalnej w Warszawie,
erlässt
DER GERICHTSHOF (Vierte Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten der Dritten Kammer C. Lycourgos in Wahrnehmung der Aufgaben des Präsidenten der Vierten Kammer, des Richters S. Rodin und der Richterin O. Spineanu-Matei (Berichterstatterin),
Generalanwältin: L. Medina,
Kanzler: M. Siekierzyńska, Verwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 7. März 2024,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
–
der C. sp. z o.o., vertreten durch M. Mioduszewski, Z. Ochońska-Borowska und J. Sroczyński, Radcowie prawni,
–
des Prokurator Prokuratury Regionalnej w Warszawie, vertreten durch M. Dejak,
–
der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna und S. Żyrek als Bevollmächtigte,
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der Europäischen Kommission, vertreten durch K. Herrmann, P. Stancanelli und P. J. O. Van Nuffel als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge der Generalanwältin in der Sitzung vom 20. Juni 2024
folgendes
Urteil
1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 2, Art. 6 Abs. 1 und 3 sowie Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV in Verbindung mit Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta).
2 Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der S. S.A. und der C. sp. z o.o. über die Rechtmäßigkeit von Prämien, die C. im Rahmen der Durchführung eines Handelsrahmenvertrags erhalten hat.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
3 Art. 2 EUV sieht vor:
„Die Werte, auf die sich die [Europäische] Union gründet, sind die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte einschließlich der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören. Diese Werte sind allen Mitgliedstaaten in einer Gesellschaft gemeinsam, die sich durch Pluralismus, Nichtdiskriminierung, Toleranz, Gerechtigkeit, Solidarität und die Gleichheit von Frauen und Männern auszeichnet.“
4 Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV bestimmt:
„Die Mitgliedstaaten schaffen die erforderlichen Rechtsbehelfe, damit ein wirksamer Rechtsschutz in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen gewährleistet ist.“
5 In Art. 47 der Charta heißt es:
„Jede Person, deren durch das Recht der Union garantierte Rechte oder Freiheiten verletzt worden sind, hat das Recht, nach Maßgabe der in diesem Artikel vorgesehenen Bedingungen bei einem Gericht einen wirksamen Rechtsbehelf einzulegen.
Jede Person hat ein Recht darauf, dass ihre Sache von einem unabhängigen, unparteiischen und zuvor durch Gesetz errichteten Gericht in einem fairen Verfahren, öffentlich und innerhalb angemessener Frist verhandelt wird. …
…“
Polnisches Recht
Zivilprozessordnung
6 Art. 47 § 1 der Ustawa – Kodeks postępowania cywilnego (Zivilprozessordnung) vom 17. November 1964 (Dz. U. Nr. 43, Position 296) in konsolidierter Fassung (Dz. U. 2019, Position 1460) (im Folgenden: Zivilprozessordnung) lautet:
„In erster Instanz verhandelt das Gericht in Einzelrichterbesetzung, sofern nicht durch eine gesonderte Regelung etwas anderes bestimmt wird.“
7 Art. 379 Nr. 4 der Zivilprozessordnung bestimmt:
„Das Verfahren ist ungültig, … wenn das Gericht, das die Sache entschieden hat, nicht gemäß den gesetzlichen Bestimmungen zusammengesetzt war oder das Verfahren im Beisein eines Richters geführt wurde, der von Rechts wegen ausgeschlossen war.“
8 Art. 386 § 2 der Zivilprozessordnung sieht vor:
„Wenn das Verfahren für ungültig erklärt wird, hebt das Gericht zweiter Instanz das angefochtene Urteil auf, hebt das Verfahren auf, soweit es ungültig ist, und verweist die Sache zu erneuter Verhandlung an das Gericht erster Instanz zurück.“
Gerichtsverfassungsgesetz
9 Die Ustawa – Prawo o ustroju sądów powszechnych (Gesetz über die Verfassung der ordentlichen Gerichte) vom 27. Juli 2001 (Dz. U. Nr. 98, Position 1070) in konsolidierter Fassung (Dz. U. 2019, Position 52), mit den Änderungen durch die Ustawa o zmianie ustawy – Prawo o ustroju sądów powszechnych, ustawy o Sądzie Najwyższym oraz niektórych innych ustaw (Gesetz zur Änderung des Gesetzes über die Verfassung der ordentlichen Gerichte, des Gesetzes über das Oberste Gericht und einiger anderer Gesetze) vom 20. Dezember 2019 (Dz. U. 2020, Position 190) (im Folgenden: Gerichtsverfassungsgesetz bzw. Gesetz vom 20. Dezember 2019), bestimmt in Art. 45:
„§ 1. Ein Richter oder Richter auf Probe kann in seinem Amt durch einen Richter oder Richter auf Probe desselben Gerichts oder durch einen gemäß Art. 77 § 1 oder § 8 abgeordneten Richter ersetzt werden.
§ 2. Die Ersetzung nach § 1 kann durch eine Verfügung des Vorsitzenden der Abteilung oder des Präsidenten des Gerichts erfolgen, die auf Antrag des Richters oder des Richters auf Probe oder von Amts wegen getroffen wird, um einen ordnungsgemäßen Ablauf des Verfahrens zu gewährleisten.“
10 Art. 47a des Gerichtsverfassungsgesetzes bestimmt:
„§ 1. Die Rechtssachen werden den Richtern und Richtern auf Probe in den einzelnen Kategorien von Rechtssachen nach dem Zufallsprinzip zugewiesen, soweit eine Rechtssache nicht dem Richter zuzuweisen ist, der den Bereitschaftsdienst ausübt.
§ 2. Die Rechtssachen werden innerhalb der einzelnen Kategorien zu gleichen Teilen verteilt, es sei denn, der Anteil wird aufgrund der ausgeübten Funktion, der Zuweisung von Rechtssachen einer anderen Kategorie oder aus anderen gesetzlich vorgesehenen Gründen verringert.“
11 Art. 47b des Gerichtsverfassungsgesetzes bestimmt:
„§ 1. Eine Änderung der Zusammensetzung eines Gerichts ist nur dann zulässig, wenn die Behandlung der Rechtssache in der bisherigen Zusammensetzung unmöglich ist oder ihr ein dauerhaftes Hindernis entgegensteht. Art. 47a gilt entsprechend.
§ 2. Müssen in einer Rechtssache Maßnahmen ergriffen werden, insbesondere wenn dies durch gesonderte Regelungen vorgeschrieben oder aus Gründen des ordnungsgemäßen Verfahrensablaufs gerechtfertigt ist, und kann der Spruchkörper, dem die Rechtssache zugewiesen wurde, dies nicht tun, so werden die Maßnahmen von dem nach dem Vertretungsplan bestimmten Spruchkörper und, wenn die Maßnahmen nicht durch den Vertretungsplan gedeckt sind, von dem nach Art. 47a bestimmten Spruchkörper getroffen.
§ 3. Die Entscheidungen in den in § 1 und § 2 genannten Sachen werden vom Präsidenten des Gerichts oder von einem von ihm hierzu ermächtigten Richter getroffen.“
12 Mit dem Gesetz vom 20. Dezember 2019 wurde Art. 55 des Gerichtsverfassungsgesetzes um folgenden § 4 ergänzt:
„Ein Richter kann über alle Sachen an seinem Dienstort und in den gesetzlich vorgesehenen Fällen in anderen Gerichten entscheiden (Zuständigkeit des Richters). Die Vorschriften über die Zuweisung von Sachen sowie über die Bestimmung und Änderung der Spruchkörper beschränken nicht die Zuständigkeit des Richters und können keine Grundlage für die Feststellung sein, dass ein Spruchkörper im Widerspruch zu Rechtsvorschriften steht, dass ein Gericht nicht ordnungsgemäß besetzt ist oder dass eine Person an der Entscheidung beteiligt war, die dazu nicht befugt oder befähigt ist.“
13 Gemäß Art. 8 des Gesetzes vom 20. Dezember 2019 ist Art. 55 § 4 des Gerichtsverfassungsgesetzes auch auf Rechtssachen anzuwenden, die vor dem Inkrafttreten des Gesetzes vom 20. Dezember 2019 eingeleitet oder beendet wurden.
Geschäftsordnung der ordentlichen Gerichte
14 Das Rozporządzenie Ministra Sprawiedliwości – Regulamin urzędowania sądów powszechnych (Verordnung des Justizministers – Geschäftsordnung der ordentlichen Gerichte) vom 23. Dezember 2015 (Dz. U. 2015, Position 2316) (im Folgenden: Geschäftsordnung der ordentlichen Gerichte), das im Rahmen des Ausgangsverfahrens anwendbar war, sah in § 43 Abs. 1 vor:
„Die Rechtssachen werden den Berichterstattern (Richtern und Richtern auf Probe) nach dem Zufallsprinzip entsprechend der festgelegten Geschäftsverteilung mittels eines IT‑Tools auf Basis eines Zufallszahlengenerators für jedes Register, jede Liste oder jedes andere Aufzeichnungsmittel gesondert zugewiesen, sofern nicht in dieser Geschäftsordnung eine andere Zuweisungsregelung vorgesehen ist. …“
15 § 52b der Geschäftsordnung der ordentlichen Gerichte bestimmte:
„1. Der Vertretungsplan benennt für jeden Arbeitstag die jeweiligen Vertreter (Richter, Richter auf Probe und Schöffen).
2. Der Bereitschaftsplan benennt für jeden Tag die Richter und die Richter auf Probe im Bereitschaftsdienst [(Bereitschaftsrichter)].
3. Der Vertretungsplan und der Bereitschaftsplan legen die Zahl der Vertreter und der [Bereitschaftsrichter] nach Zeiträumen, nach Abteilungen oder nach Art der den Vertretern und den [Bereitschaftsrichtern] zugewiesenen Rechtssachen fest sowie für den Fall, dass es mehr als einen Vertreter oder [Bereitschaftsrichter] gibt, die Reihenfolge der Vertretungen und der Zuweisungen der Rechtssachen an die [Bereitschaftsrichter].
…“
16 § 52c der Geschäftsordnung der ordentlichen Gerichte sah vor:
„1. Kann der Berichterstatter nicht an der Verhandlung teilnehmen, so hebt der Vorsitzende der Abteilung den Verhandlungstermin auf, sofern die betroffenen Personen informiert werden können, es sei denn, der ordnungsgemäße Ablauf des Verfahrens erfordert offenkundig die Durchführung der Verhandlung.
2. Wird der Verhandlungstermin nicht aufgehoben, so wird die Rechtssache von dem Vertreter gemäß dem Vertretungsplan für den jeweiligen Tag verhandelt. Sofern sich der Vertreter nicht angemessen vorbereiten konnte oder die Prüfung der Rechtssache durch den Vertreter die Wiederholung eines wesentlichen Teils des Verfahrens erfordert, ordnet der Vorsitzende der Abteilung die Aufhebung des Verhandlungstermins an. …
…“
Gesetz zur Bekämpfung des unlauteren Wettbewerbs
17 Die Ustawa o zwalczeniu nieuczciwej konkurencji (Gesetz zur Bekämpfung des unlauteren Wettbewerbs) vom 16. April 1993 (konsolidierte Fassung, Dz. U. 2022, Position 1233) bestimmt in Art. 15 Abs. 1 Nr. 4:
„Die Behinderung des Marktzugangs anderer Unternehmer, insbesondere durch … die Erhebung anderer Entgelte als der Handelsspanne für die Annahme von Waren zum Verkauf, stellt eine unlautere Wettbewerbshandlung dar.“
Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefragen
18 Am 27. April 2018 befasste S. den Sąd Okręgowy w Warszawie (Regionalgericht Warschau, Polen) mit einem Rechtsstreit in Handelssachen. Als Zessionar einer Forderung gegen C., eine im Bereich des Einzelhandels tätige Gesellschaft, beantragt sie, C. zur Zahlung eines Betrags von 4572648 polnischen Zloty (PLN) (etwa 1045000 Euro) zu verurteilen, der Barprämien für den in einem bestimmten Geschäftsjahr erzielten Umsatz (rückwirkende Anpassung der Margen) entspreche, die C. im Rahmen eines mit dem Zedenten geschlossenen Rahmenvertrags über die Lieferung von Waren zum Weiterverkauf rechtswidrig erhalten habe. Nach Ansicht von S. verstieß die Erhebung dieser Prämien gegen § 15 Abs. 1 Nr. 4 des Gesetzes zur Bekämpfung des unlauteren Wettbewerbs, da es sich bei ihnen um „andere Entgelte als die Handelsspanne für die Annahme von Waren zum Verkauf“ im Sinne dieser Bestimmung gehandelt habe.
19 Diese Rechtssache wurde der XVI. Abteilung für Handelssachen dieses Gerichts und in Anwendung des Systems zur Zuweisung von Rechtssachen nach dem Zufallsprinzip der Richterin E. T., Vizepräsidentin dieser Abteilung, zur Entscheidung als Einzelrichterin zugewiesen.
20 Am 25. März 2019, dem Tag der mündlichen Verhandlung in dieser Rechtssache, war die Richterin E. T. aufgrund eines auf ihren Antrag hin gewährten Urlaubs abwesend. Die Präsidentin der XVI. Abteilung für Handelssachen benannte deshalb die Richterin J. K., die an diesem Tag Bereitschaftsdienst hatte, um die mündliche Verhandlung abzuhalten. Die Rechtssache wurde somit dieser Richterin zugewiesen.
21 Mit Urteil vom 16. September 2019, das von der Richterin J. K. als Einzelrichterin des Sąd Okręgowy w Warszawie (Regionalgericht Warschau) erlassen wurde, wurde die Klage von S. abgewiesen.
22 S. legte am 27. Oktober 2019 beim Sąd Apelacyjny w Warszawie (Berufungsgericht Warschau, Polen), dem vorlegenden Gericht, Berufung ein.
23 Im Rahmen dieser Berufung machte S. die Ungültigkeit des Verfahrens vor dem erstinstanzlichen Gericht auf der Grundlage von Art. 379 Nr. 4 der Zivilprozessordnung mit der Begründung geltend, dass der Spruchkörper wegen Verstoßes gegen den Grundsatz der Unveränderlichkeit des Spruchkörpers gesetzwidrig gewesen sei, da eine andere Richterin als die, der die Rechtssache ursprünglich zugewiesen worden sei, die mündliche Verhandlung abgehalten und das Urteil erlassen habe.
24 Nachdem das vorlegende Gericht verschiedene Ermittlungs- bzw. Überprüfungsmaßnahmen durchgeführt hatte, um die Ordnungsmäßigkeit des Verfahrens vor dem erstinstanzlichen Gericht zu kontrollieren, gelangte es zu der Überzeugung, dass die Ersetzung der Richterin E. T. durch die Richterin J. K. unter Umständen erfolgt sei, die gegen den im nationalen Recht aufgestellten Grundsatz der Unveränderlichkeit des Spruchkörpers verstießen. Der Grund für die Ersetzung der Richterin E. T. verstoße nämlich gegen Art. 47b des Gerichtsverfassungsgesetzes. Außerdem führt das vorlegende Gericht aus, dass nicht alle Formalitäten erfüllt worden seien, die mit dieser Ersetzung hätten einhergehen müssen, wobei es den Verdacht hegt, dass das erstinstanzliche Gericht bestimmte Dokumente geändert habe, um zu versuchen, diese Mängel nachträglich zu beheben.
25 Dem vorlegenden Gericht sind die Gründe für diese Ersetzung, die es für rechtswidrig hält, nicht bekannt, und es weist darauf hin, dass die Anwendung eines solchen Verfahrens dazu führen könnte, dass eine relativ große Zahl von Rechtssachen von einem Richter auf einen anderen übertragen werde.
26 Außerdem sei es „theoretisch“ nicht ausgeschlossen, dass die Besetzung eines Spruchkörpers mit einem Einzelrichter in sensiblen Rechtssachen bewusst durch ein Verfahren geändert werden könne, das darin bestehe, dass der Richter, dem eine Rechtssache ursprünglich nach dem Zufallsprinzip zugewiesen worden sei, eine mündliche Verhandlung zu einem Zeitpunkt anberaume, zu dem er auf seinen Antrag in Urlaub sei, wobei seine Abwesenheit zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung genutzt werde, um seine Ersetzung durch den Richter herbeizuführen, der zu diesem Zeitpunkt auf der Vertretungs- oder Bereitschaftsdienstliste stehe, dessen Name im Voraus bekannt sein könne.
27 Schließlich weist das vorlegende Gericht auf Entscheidungen des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht, Polen) hin, wonach die Besetzung eines Spruchkörpers, die gegen die nationalen Rechtsvorschriften über die Geschäftsverteilung sowie die Festlegung und Änderung der Zusammensetzung des Gerichts verstoße, einen Grund für die Anwendung der Sanktion der Ungültigerklärung des Verfahrens nach Art. 379 Nr. 4 der Zivilprozessordnung darstellen könne.
28 Es weist jedoch darauf hin, dass jede diesbezügliche Überprüfung im Rahmen einer Berufung seit der Einfügung von Art. 55 § 4 in das Gerichtsverfassungsgesetz verboten sei.
29 Unter diesen Umständen hat der Sąd Apelacyjny w Warszawie (Berufungsgericht Warschau) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
1. Sind Art. 2, Art. 6 Abs. 1 und 3 sowie Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV in Verbindung mit Art. 47 der Charta dahin auszulegen, dass ein erstinstanzliches Gericht eines Mitgliedstaats, das mit einem Richter dieses Gerichts als Einzelrichter besetzt ist, dem das Verfahren unter eklatanter Verletzung der nationalen Rechtsvorschriften über die Geschäftsverteilung sowie die Festlegung und Änderung der Zusammensetzung des Gerichts zugewiesen worden ist, kein unabhängiges, unparteiisches und zuvor durch Gesetz errichtetes Gericht ist, das einen wirksamen Rechtsschutz gewährleistet?
2. Sind Art. 2, Art. 6 Abs. 1 und 3 sowie Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV in Verbindung mit Art. 47 der Charta dahin auszulegen, dass sie der Anwendung von nationalen Rechtsvorschriften wie Art. 55 § 4 Satz 2 des Gerichtsverfassungsgesetzes entgegenstehen, soweit diese es dem Gericht zweiter Instanz verbieten, ein vor einem erstinstanzlichen nationalen Gericht geführtes Verfahren für ungültig zu erklären, weil der Spruchkörper dieses Gerichts gesetzwidrig zusammengesetzt war, das Gericht nicht ordnungsgemäß besetzt war oder eine Person an der Entscheidung beteiligt war, die dazu nicht befugt oder befähigt war, was eine rechtliche Sanktion darstellt, die einen effektiven Rechtsschutz für den Fall sicherstellen soll, dass das Verfahren einem Richter unter eklatanter Verletzung der nationalen Rechtsvorschriften über die Geschäftsverteilung sowie die Festlegung und Änderung der Zusammensetzung des Gerichts zugeteilt worden ist?
Zur Zuständigkeit des Gerichtshofs und zur Zulässigkeit des Vorabentscheidungsersuchens
30 Der Staatsanwalt der Regionalstaatsanwaltschaft Warschau (im Folgenden: Staatsanwalt der Regionalstaatsanwaltschaft) hält das Vorabentscheidungsersuchen für unzulässig, da aus der Vorlageentscheidung nicht hervorgehe, dass das Ausgangsverfahren einen Bezug zum Unionsrecht aufweise. Mit der Beklagten des Ausgangsverfahrens vertritt er die Auffassung, dass die vorgelegten Fragen die Auslegung von Vorschriften des nationalen Rechts über die Organisation des Gerichtssystems eines Mitgliedstaats in Bezug auf die Modalitäten der Zuweisung von Rechtssachen und der Änderung der Besetzung eines Spruchkörpers beträfen, insbesondere hinsichtlich der Frage, ob die Missachtung dieser Bestimmungen zur Ungültigkeit des Verfahrens nach Art. 379 Nr. 4 der Zivilprozessordnung führen könne. Solche Fragen fielen wie alle Fragen betreffend die Organisation und die Tätigkeit von Staatsorganen in die ausschließliche Zuständigkeit des Staates. Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV gebe den Mitgliedstaaten ein zu erreichendes Ziel vor, nämlich die Schaffung eines Regelwerks zur Gewährleistung eines wirksamen Rechtsschutzes, ohne dass sich daraus indessen Normen in Bezug auf eine bestimmte Organisation der Justiz ableiten ließen.
31 Insoweit ist, soweit der Staatsanwalt der Regionalstaatsanwaltschaft und die Beklagte des Ausgangsverfahrens mit diesem Vorbringen in Wirklichkeit die Zuständigkeit des Gerichtshofs für die Entscheidung über das Vorabentscheidungsersuchen in Frage stellen wollen, darauf hinzuweisen, dass die Organisation der Justiz in den Mitgliedstaaten zwar in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten fällt, diese bei der Ausübung dieser Zuständigkeit jedoch die Verpflichtungen einzuhalten haben, die sich für sie aus dem Unionsrecht ergeben (Urteil vom 7. September 2023, Asociaţia Forumul Judecătorilor din România,C‑216/21, EU:C:2023:628, Rn. 45 und die dort angeführte Rechtsprechung).
32 Was den Anwendungsbereich von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV anbelangt, ergibt sich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs, dass diese Bestimmung die „vom Unionsrecht erfassten Bereiche“ betrifft, ohne dass es insoweit darauf ankäme, in welchem Kontext die Mitgliedstaaten Unionsrecht im Sinne von Art. 51 Abs. 1 der Charta durchführen (Urteil vom 26. März 2020, Miasto Łowicz und Prokurator Generalny, C‑558/18 und C‑563/18, EU:C:2020:234, Rn. 33 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).
33 Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV ist daher u. a. auf jede nationale Einrichtung anwendbar, die als Gericht über Fragen der Anwendung oder der Auslegung des Unionsrechts und somit über Fragen aus den vom Unionsrecht erfassten Bereichen zu entscheiden hat (Urteil vom 26. März 2020, Miasto Łowicz und Prokurator Generalny, C‑558/18 und C‑563/18, EU:C:2020:234, Rn. 34 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).
34 Es besteht jedoch kein Zweifel daran, dass dies hier der Fall ist, da, wie die Generalanwältin in Nr. 29 ihrer Schlussanträge ausgeführt hat, sowohl das erstinstanzliche Gericht, dessen ordnungsgemäße Besetzung vor dem vorlegenden Gericht in Frage gestellt wird, als auch das vorlegende Gericht, dem es nach nationalem Recht untersagt ist, diese Ordnungsmäßigkeit zu überprüfen, zur Entscheidung über Fragen der Anwendung oder der Auslegung des Unionsrechts berufen sein können. Daher müssen diese Gerichte den Anforderungen genügen, die sich aus dem Recht auf wirksamen Rechtsschutz ergeben.
35 Im Übrigen machen der Staatsanwalt der Regionalstaatsanwaltschaft und die Europäische Kommission geltend, dass aus der Vorlageentscheidung nicht hervorgehe, dass es im Ausgangsrechtsstreit um eine Durchführung des Rechts der Union im Sinne von Art. 51 Abs. 1 der Charta gehe, und dass Art. 47 der Charta daher nicht anwendbar sei.
36 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof im Rahmen eines Vorabentscheidungsersuchens nach Art. 267 AEUV das Unionsrecht nur in den Grenzen der ihm übertragenen Zuständigkeiten prüfen kann (Urteil vom 19. November 2019, A. K. u. a. [Unabhängigkeit der Disziplinarkammer des Obersten Gerichts], C‑585/18, C‑624/18 und C‑625/18, EU:C:2019:982, Rn. 77 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).
37 Was die Charta betrifft, so ist ihr Anwendungsbereich, soweit es um das Handeln der Mitgliedstaaten geht, in ihrem Art. 51 Abs. 1 definiert. Danach gilt sie für die Mitgliedstaaten bei der Durchführung des Rechts der Union; diese Bestimmung bestätigt die ständige Rechtsprechung, nach der die in der Unionsrechtsordnung garantierten Grundrechte in allen unionsrechtlich geregelten Fallgestaltungen, aber nicht außerhalb derselben, Anwendung finden (Urteil vom 19. November 2019, A. K. u. a. [Unabhängigkeit der Disziplinarkammer des Obersten Gerichts], C‑585/18, C‑624/18 und C‑625/18, EU:C:2019:982, Rn. 78 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).
38 Im vorliegenden Fall ist speziell zu Art. 47 der Charta festzustellen, dass der dem Ausgangsverfahren zugrunde liegende Rechtsstreit keinen Bezug zu einer Bestimmung des Unionsrechts aufweist. Der Antrag auf Verurteilung der Beklagten des Ausgangsverfahrens ist nämlich ausschließlich auf eine Bestimmung des nationalen Rechts gestützt. Außerdem hat das vorlegende Gericht keine Angaben gemacht, die darauf hindeuten würden, dass der Ausgangsrechtsstreit die Auslegung oder Anwendung einer auf nationaler Ebene durchgeführten Vorschrift des Unionsrechts betrifft.
39 Folglich ist Art. 47 der Charta als solcher auf das Ausgangsverfahren nicht anwendbar.
40 Da Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV jedoch alle Mitgliedstaaten verpflichtet, die erforderlichen Rechtsbehelfe zu schaffen, damit in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen ein wirksamer Rechtsschutz insbesondere im Sinne von Art. 47 der Charta gewährleistet ist, ist letztere Bestimmung, auch wenn sie auf das Ausgangsverfahren nicht anwendbar ist, bei der Auslegung von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV gebührend zu berücksichtigen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 20. April 2021, Repubblika, C‑896/19, EU:C:2021:311, Rn. 45 und die dort angeführte Rechtsprechung).
41 Außerdem macht der Staatsanwalt der Regionalstaatsanwaltschaft geltend, eine Vorabentscheidung sei nicht erforderlich, um dem vorlegenden Gericht eine Entscheidung im Ausgangsverfahren zu ermöglichen. Dieses Gericht überschreite nämlich mit einer Kontrolle der ordnungsgemäßen Besetzung des erstinstanzlichen Gerichts seine Befugnisse. Die Beklagte des Ausgangsverfahrens macht ihrerseits geltend, die vorgelegten Fragen seien so allgemein, dass eine Antwort des Gerichtshofs die Zweifel hinsichtlich der Rechtsfrage des Verhältnisses zwischen den Vorschriften über die Zuweisung einer Rechtssache an einen Richter und der Ungültigkeit des erstinstanzlichen Verfahrens in der Ausgangsrechtssache nicht ausräumen könne.
42 Es ist jedoch zum einen darauf hinzuweisen, dass das Vorabentscheidungsersuchen gerade die Frage betrifft, ob das Unionsrecht dem dem vorlegenden Gericht auferlegten Verbot, die ordnungsgemäße Besetzung des erstinstanzlichen Gerichts zu überprüfen, entgegensteht, was die Auslegung dieses Rechts, insbesondere von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV, erfordert, so dass die Prüfung des Einwands, das vorlegende Gericht überschreite seine Befugnisse, mit der Prüfung der Vorlagefragen zusammenfällt.
43 Zum anderen ist darauf hinzuweisen, dass nach ständiger Rechtsprechung eine Vermutung für die Entscheidungserheblichkeit der Vorlagefragen des nationalen Gerichts spricht, die es zur Auslegung des Unionsrechts in dem rechtlichen und tatsächlichen Rahmen stellt, den es in eigener Verantwortung festlegt und dessen Richtigkeit der Gerichtshof nicht zu prüfen hat. Der Gerichtshof kann das Ersuchen eines nationalen Gerichts nur dann zurückweisen, wenn die erbetene Auslegung des Unionsrechts offensichtlich in keinem Zusammenhang mit den Gegebenheiten oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits steht, wenn das Problem hypothetischer Natur ist oder wenn er nicht über die tatsächlichen und rechtlichen Angaben verfügt, die für eine zweckdienliche Beantwortung der ihm vorgelegten Fragen erforderlich sind (Urteil vom 6. Juni 2024, INGSTEEL, C‑547/22, EU:C:2024:478, Rn. 26 und die dort angeführte Rechtsprechung).
44 Im vorliegenden Fall weist das vorlegende Gericht darauf hin, dass die Art der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Unregelmäßigkeiten die Gefahr einer Manipulation der Zuweisungen in sensiblen Fällen mit sich bringe und dass es durch eine Bestimmung des nationalen Rechts daran gehindert sei, die Konsequenzen aus solchen Unregelmäßigkeiten zu ziehen, und meint, dass es unter diesen Umständen vor der Frage stehe, ob diese Bestimmung entsprechend der ihm nach dem Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts obliegenden Verpflichtung, gegen Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV verstoßende Vorschriften des nationalen Rechts nicht anzuwenden, unangewendet bleiben müsse.
45 Mit diesen Erwägungen macht das vorlegende Gericht rechtlich hinreichend deutlich, dass die begehrte Vorabentscheidung im Sinne von Art. 267 AEUV „erforderlich“ ist, um ihm den „Erlass seines Urteils“ in der bei ihm anhängigen Rechtssache zu ermöglichen.
46 Schließlich ist mit dem Staatsanwalt der Regionalstaatsanwaltschaft festzustellen, dass das vorlegende Gericht entgegen den Vorgaben von Art. 94 Buchst. c der Verfahrensordnung des Gerichtshofs nicht die Gründe darlegt, aus denen es den Gerichtshof um eine Auslegung von Art. 2 und Art. 6 Abs. 1 und 3 EUV ersucht.
47 Zu Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV ist jedoch festzustellen, dass die Vorlageentscheidung hinreichende Ausführungen enthält, um die Gründe für das Ersuchen um Auslegung dieser Bestimmung verstehen zu können, und dass die Vorlagefragen in Anbetracht von Rn. 34 des vorliegenden Urteils zulässig sind, soweit sie diese Bestimmung betreffen. Diese Bestimmung, die den in Art. 2 EUV proklamierten Wert der Rechtsstaatlichkeit konkretisiert, überträgt den nationalen Gerichten und dem Gerichtshof die Aufgabe, die volle Anwendung des Unionsrechts in allen Mitgliedstaaten und den gerichtlichen Schutz, der den Einzelnen aus diesem Recht erwächst, zu gewährleisten (Urteil vom 22. Februar 2022, RS [Wirkung der Urteile eines Verfassungsgerichts], C‑430/21, EU:C:2022:99, Rn. 39 und die dort angeführte Rechtsprechung). Daher ist, wie die Generalanwältin in Nr. 41 ihrer Schlussanträge ausgeführt hat, die Auslegung von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV im Licht von Art. 2 EUV vorzunehmen.
48 Nach alledem ist festzustellen, dass der Gerichtshof für die Entscheidung über das Vorabentscheidungsersuchen zuständig und dieses zulässig ist, soweit es die Auslegung von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV im Licht von Art. 2 EUV und Art. 47 der Charta betrifft.
Zu den Vorlagefragen
49 Einleitend ist erstens festzustellen, dass sich die Beklagte des Ausgangsverfahrens und der Staatsanwalt der Regionalstaatsanwaltschaft gegen die Darstellung des nationalen Rechts in der Vorlageentscheidung wenden, die sie als unvollständig und parteiisch ansehen.
50 Was außerdem die Rechtsprechung des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) betrifft, so weist das vorlegende Gericht auf Entscheidungen hin, wonach ein Verstoß gegen den Grundsatz der Unveränderlichkeit der Spruchkörper gemäß Art. 379 Nr. 4 der Zivilprozessordnung zur Ungültigkeit des Verfahrens wegen der Behandlung der Rechtssache durch einen Spruchkörper führe, dessen Besetzung gegen die gesetzlichen Bestimmungen verstoße, während der Staatsanwalt der Regionalstaatsanwaltschaft ältere gegenteilige Entscheidungen anführt. Der Staatsanwalt der Regionalstaatsanwaltschaft trägt ferner vor, dass das nationale Recht nicht den Begriff einer „eklatanten Verletzung“ der Vorschriften über die Zuweisung von Rechtssachen und die Änderung des Spruchkörpers enthalte, den das vorlegende Gericht verwende und dem Begriff einer „einfachen Verletzung“ dieser Vorschriften gegenüberstelle.
51 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass nach ständiger Rechtsprechung allein das vorlegende Gericht für die Auslegung und Anwendung des einzelstaatlichen Rechts zuständig ist. Der Gerichtshof hat demnach im Rahmen der Verteilung der Zuständigkeiten zwischen ihm und den nationalen Gerichten in Bezug auf den rechtlichen Kontext, in den sich die Vorlagefragen einfügen, von den Feststellungen in der Vorlageentscheidung auszugehen (Urteil vom 27. Januar 2021, Dexia Nederland, C‑229/19 und C‑289/19, EU:C:2021:68, Rn. 44 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).
52 Daraus folgt, dass sich der Gerichtshof auf die Beurteilung des vorlegenden Gerichts zu stützen hat, wonach zum einen die Abwesenheit der Richterin des erstinstanzlichen Gerichts, der die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Rechtssache zugewiesen worden war, an dem für eine mündliche Verhandlung anberaumten Tag wegen eines auf ihren Antrag hin gewährten Urlaubs unter den Umständen jener Rechtssache keinen Grund dafür darstellte, sie gemäß Art. 47b § 1 des Gerichtsverfassungsgesetzes zu ersetzen, und zum anderen die Anwendung von Art. 379 Nr. 4 der Zivilprozessordnung grundsätzlich zur Ungültigerklärung des erstinstanzlichen Verfahrens wegen dieser Unregelmäßigkeit führen müsste, wobei jedoch feststeht, dass Art. 55 § 4 des Gerichtsverfassungsgesetzes dem entgegensteht.
53 Zweitens machen die Beklagte des Ausgangsverfahrens und der Staatsanwalt der Regionalstaatsanwaltschaft im Wesentlichen geltend, dass die Vorschriften des nationalen Rechts über die Zuweisung von Rechtssachen und die Änderung der Spruchkörper Verwaltungsvorschriften seien, die eine gerechte Verteilung der Arbeitsbelastung zwischen den Mitgliedern eines Gerichts gewährleisten sollten. Diese Vorschriften könnten ihrem Wesen nach nicht dazu führen, dass von außen Einfluss genommen werde.
54 Es ist jedoch darauf hinzuweisen, dass das Erfordernis der Unabhängigkeit der Gerichte, das sich aus dem Unionsrecht ergibt, nicht nur unzulässige Einflussnahmen betrifft, die von der Legislative und der Exekutive ausgeübt werden können, sondern auch unzulässige Einflussnahmen, die innerhalb des betreffenden Gerichts ausgeübt werden können (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 11. Juli 2024, Hann‑Invest u. a., C‑554/21, C‑622/21 und C‑727/21, EU:C:2024:594, Rn. 54).
55 Das vorlegende Gericht hat indessen festgestellt, dass die ernsthafte Gefahr bestehe, dass Verstöße gegen die nationalen Vorschriften über die Neuzuweisung von Rechtssachen dem Zweck dienen könnten, es einem bestimmten Richter zu ermöglichen, in einer bestimmten Rechtssache oder in einer bestimmten Art von Rechtssachen zu entscheiden. Unter diesen Umständen reichen, wie die Generalanwältin in Nr. 48 ihrer Schlussanträge ausgeführt hat, die vom vorlegenden Gericht derart geäußerten Zweifel aus, um davon auszugehen, dass die Fragen zur Anwendung dieser Vorschriften im Hinblick auf die sich aus dem Unionsrecht ergebenden Anforderungen in Bezug auf die Garantie eines unabhängigen, unparteiischen und zuvor durch Gesetz errichteten Gerichts zu beurteilen sind.
56 Mit seinen Fragen, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV im Licht von Art. 2 EUV und Art. 47 der Charta dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Bestimmung entgegensteht, die das Berufungsgericht unter allen Umständen an der Überprüfung hindert, ob die Neuzuweisung der Rechtssache an den Spruchkörper, der in erster Instanz darüber entschieden hat, nicht unter Verstoß gegen die nationalen Vorschriften über die Neuzuweisung von Rechtssachen innerhalb der Gerichte erfolgt ist.
57 Nach Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV hat jeder Mitgliedstaat dafür zu sorgen, dass Einrichtungen, die als „Gerichte“ im unionsrechtlichen Sinne dazu berufen sind, über Fragen im Zusammenhang mit der Anwendung oder Auslegung des Unionsrechts zu entscheiden, und damit Bestandteil seines Rechtsbehelfssystems in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen sind, den Anforderungen an einen wirksamen Rechtsschutz, u. a. dem Erfordernis der Unabhängigkeit, gerecht werden (Urteil vom 11. Juli 2024, Hann‑Invest u. a., C‑554/21, C‑622/21 und C‑727/21, EU:C:2024:594, Rn. 47 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).
58 Um zu gewährleisten, dass ein solches Gericht in der Lage ist, diesen wirksamen Rechtsschutz zu gewährleisten, ist erstens seine Unabhängigkeit zu wahren, wie Art. 47 Abs. 2 der Charta bestätigt, wonach zu den Anforderungen im Zusammenhang mit dem Grundrecht auf einen wirksamen Rechtsbehelf der Zugang zu einem „unabhängigen“ Gericht gehört (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 16. November 2021, Prokuratura Rejonowa w Mińsku Mazowieckim u. a., C‑748/19 bis C‑754/19, EU:C:2021:931, Rn. 65 und die dort angeführte Rechtsprechung).
59 Dieses Erfordernis der Unabhängigkeit der Gerichte, das dem Auftrag des Richters inhärent ist, gehört zum Wesensgehalt des Rechts auf wirksamen Rechtsschutz und des Grundrechts auf ein faires Verfahren, dem als Garant für den Schutz sämtlicher dem Rechtsunterworfenen aus dem Unionsrecht erwachsenden Rechte und für die Wahrung der in Art. 2 EUV genannten Werte, die den Mitgliedstaaten gemeinsam sind, u. a. des Wertes der Rechtsstaatlichkeit, grundlegende Bedeutung zukommt (Urteil vom 16. November 2021, Prokuratura Rejonowa w Mińsku Mazowieckim u. a., C‑748/19 bis C‑754/19, EU:C:2021:931, Rn. 66 und die dort angeführte Rechtsprechung).
60 Dieses Erfordernis der Unabhängigkeit umfasst zwei Aspekte. Der erste, das Außenverhältnis betreffende Aspekt erfordert, dass die betreffende Einrichtung ihre Funktionen in völliger Autonomie ausübt, ohne mit irgendeiner Stelle hierarchisch verbunden oder ihr untergeordnet zu sein und ohne von irgendeiner Stelle Anordnungen oder Anweisungen zu erhalten, so dass sie auf diese Weise vor Interventionen oder Druck von außen geschützt ist, die die Unabhängigkeit des Urteils ihrer Mitglieder gefährden und deren Entscheidungen beeinflussen könnten. Der zweite, das Innenverhältnis betreffende Aspekt steht mit dem Begriff der „Unparteilichkeit“ in Zusammenhang und bezieht sich darauf, dass den Parteien des Rechtsstreits und ihren jeweiligen Interessen am Streitgegenstand mit dem gleichen Abstand begegnet wird. Dieser Aspekt verlangt, dass Sachlichkeit obwaltet und neben der strikten Anwendung der Rechtsnormen keinerlei Interesse am Ausgang des Rechtsstreits besteht (Urteil vom 11. Juli 2024, Hann‑Invest u. a., C‑554/21, C‑622/21 und C‑727/21, EU:C:2024:594, Rn. 50 und 51 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).
61 Wie in Rn. 54 des vorliegenden Urteils ausgeführt, zielt der das „Außenverhältnis“ betreffende Aspekt zwar im Wesentlichen darauf ab, die Unabhängigkeit der Gerichte gegenüber der Legislative und der Exekutive gemäß dem für einen Rechtsstaat kennzeichnenden Grundsatz der Gewaltenteilung zu wahren, er soll die Richter aber auch vor unzulässigen Einflussnahmen innerhalb des betreffenden Gerichts schützen.
62 Ferner ist hervorzuheben, dass die Ausübung des Richteramts nicht nur vor jeder unmittelbaren Einflussnahme in Form von Weisungen geschützt sein muss, sondern auch vor Formen der mittelbaren Einflussnahme, die zur Steuerung von Gerichtsentscheidungen geeignet sein könnten (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 11. Juli 2024, Hann‑Invest u. a., C‑554/21, C‑622/21 und C‑727/21, EU:C:2024:594, Rn. 53 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).
63 Zweitens verlangt Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV auch, dass es sich um ein „zuvor durch Gesetz errichtetes“ Gericht handelt, angesichts des untrennbaren Zusammenhangs, der zwischen dem Zugang zu einem solchen Gericht und den Garantien der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der Richter besteht (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 11. Juli 2024, Hann‑Invest u. a., C‑554/21, C‑622/21 und C‑727/21, EU:C:2024:594, Rn. 55 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).
64 Außerdem spiegelt der auch in Art. 47 Abs. 2 der Charta enthaltene Verweis auf ein „durch Gesetz errichtetes Gericht“ insbesondere das Rechtsstaatsprinzip wider und umfasst nicht nur die Rechtsgrundlage für die Existenz des Gerichts, sondern auch die Zusammensetzung des Spruchkörpers in der jeweiligen Rechtssache sowie alle weiteren Vorschriften des innerstaatlichen Rechts, deren Nichtbeachtung dazu führt, dass die Teilnahme eines oder mehrerer Richter an der Verhandlung über die Rechtssache eine Regelwidrigkeit darstellt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 29. März 2022, Getin Noble Bank, C‑132/20, EU:C:2022:235, Rn. 121 und die dort angeführte Rechtsprechung).
65 Im Übrigen ist die Möglichkeit, die Einhaltung dieser Garantien zu überprüfen, für das Vertrauen erforderlich, das die Gerichte einer demokratischen Gesellschaft bei den Rechtsuchenden wecken müssen. So hat der Gerichtshof entschieden, dass es sich bei der Kontrolle der Einhaltung des Erfordernisses, dass jedes Gericht aufgrund seiner Zusammensetzung ein unabhängiges, unparteiisches und zuvor durch Gesetz errichtetes Gericht darstellt, um ein wesentliches Formerfordernis handelt, das zwingend zu beachten ist (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 1. Juli 2008, Chronopost und La Poste/UFEX u. a., C‑341/06 P und C‑342/06 P, EU:C:2008:375, Rn. 46, sowie vom 8. Mai 2024, Asociaţia Forumul Judecătorilor din România [Verbände von Richtern bzw. Staatsanwälten], C‑53/23, EU:C:2024:388, Rn. 55 und die dort angeführte Rechtsprechung). Eine solche Kontrolle ist im Rahmen der Prüfung eines Rechtsbehelfs von Amts wegen vorzunehmen, wenn insoweit ein ernsthafter Zweifel besteht (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 26. März 2020, Überprüfung Simpson/Rat und HG/Kommission, C‑542/18 RX‑II und C‑543/18 RX‑II, EU:C:2020:232, Rn. 57 und 58).
66 Ein wirksamer Rechtsschutz lässt sich nämlich nur gewährleisten, wenn die Einhaltung der Vorschriften, die einem Gericht die Eigenschaft eines „unabhängigen, unparteiischen und zuvor durch Gesetz errichteten Gerichts“ verleihen, auf Antrag einer Partei oder, bei Bestehen eines ernsthaften Zweifels, von Amts wegen Gegenstand einer gerichtlichen Kontrolle und einer etwaigen Sanktion im Fall der Nichtbeachtung sein kann, da sie sonst missachtet werden könnten, ohne dass dies irgendeine Folge hätte. Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass das Vorhandensein einer wirksamen, der Gewährleistung der Einhaltung der Rechtsvorschriften dienenden gerichtlichen Kontrolle dem Begriff „Rechtsstaat“ inhärent ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. Oktober 2020, Bank Refah Kargaran/Rat, C‑134/19 P, EU:C:2020:793, Rn. 36 und die dort angeführte Rechtsprechung).
67 Daher verlangt Art. 19 Abs. 2 EUV bei einer Auslegung im Licht von Art. 2 EUV und Art. 47 der Charta dann, wenn ein Mitgliedstaat Rechtsvorschriften über die Zusammensetzung des mit jeder Rechtssache befassten Spruchkörpers und über die Neuzuweisung von Rechtssachen erlässt, dass die Einhaltung dieser Vorschriften gerichtlich überprüft werden kann.
68 Als mit den Anforderungen aus Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV unvereinbar ist daher eine nationale Regelung anzusehen, die die Berufungsgerichte daran hindert, die Einhaltung der nationalen Vorschriften über die Neuzuweisung von Rechtssachen innerhalb der Gerichte oder über die Änderung der Spruchkörper zu kontrollieren, um festzustellen, ob der Spruchkörper, der im ersten Rechtszug entschieden hat, ein unabhängiges, unparteiisches und zuvor durch Gesetz errichtetes Gericht ist, indem sie es den Berufungsgerichten unter allen Umständen verbietet, gegebenenfalls die Ungültigkeit des erstinstanzlichen Verfahrens festzustellen, wenn dieses Verfahren durch ein Urteil eines Spruchkörpers abgeschlossen wurde, dem die Rechtssache unter Verstoß gegen diese Vorschriften neu zugewiesen wurde oder der unter Verstoß gegen diese Vorschriften geändert wurde.
69 Im Übrigen ist darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof nach Einreichung des vorliegenden Vorabentscheidungsersuchens im Rahmen einer gegen die Republik Polen erhobenen Vertragsverletzungsklage in dem besonderen Kontext, dass dieser Mitgliedstaat als Reaktion auf eine Reihe von Vorabentscheidungsersuchen mehrerer polnischer Gerichte zur Vereinbarkeit verschiedener die Organisation der Justiz in Polen betreffender Gesetzesänderungen mit dem Unionsrecht in großer Eile verschiedene Bestimmungen verfahrensrechtlicher Art erlassen hat, in den Rn. 226 und 227 des Urteils vom 5. Juni 2023, Kommission/Polen (Unabhängigkeit und Privatleben von Richtern) (C‑204/21, EU:C:2023:442), entschieden hat, dass die Bestimmung des nationalen Rechts, die einer solchen Kontrolle allgemein entgegensteht, nämlich Art. 55 § 4 des Gerichtsverfassungsgesetzes, gegen Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV in Verbindung mit Art. 47 der Charta verstößt. Daraus folgt, dass das vorlegende Gericht diese Bestimmung im Ausgangsverfahren unangewendet lassen muss, wie die Generalanwältin in Nr. 84 ihrer Schlussanträge ausgeführt hat.
70 Nach alledem ist auf die Vorlagefragen zu antworten, dass Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV im Licht von Art. 2 EUV und Art. 47 der Charta dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Bestimmung entgegensteht, die das Berufungsgericht unter allen Umständen an der Überprüfung hindert, ob die Neuzuweisung einer Rechtssache an den Spruchkörper, der in erster Instanz darüber entschieden hat, nicht unter Verstoß gegen die nationalen Vorschriften über die Neuzuweisung von Rechtssachen innerhalb der Gerichte erfolgt ist.
Kosten
71 Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Vierte Kammer) für Recht erkannt:
Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV ist im Licht von Art. 2 EUV und Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union
dahin auszulegen, dass
er einer nationalen Bestimmung entgegensteht, die das Berufungsgericht unter allen Umständen an der Überprüfung hindert, ob die Neuzuweisung einer Rechtssache an den Spruchkörper, der in erster Instanz darüber entschieden hat, nicht unter Verstoß gegen die nationalen Vorschriften über die Neuzuweisung von Rechtssachen innerhalb der Gerichte erfolgt ist.
Unterschriften
(*1) Verfahrenssprache: Polnisch.
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Urteil des Gerichtshofs (Zweite Kammer) vom 26. September 2024.#F SCS und Ordre des avocats du barreau de Luxembourg gegen Administration des contributions directes.#Vorabentscheidungsersuchen der Cour administrative.#Vorlage zur Vorabentscheidung – Zusammenarbeit der Verwaltungsbehörden im Bereich der Besteuerung – Richtlinie 2011/16/ EU – Informationsaustausch auf Ersuchen – Anordnung an einen Rechtsanwalt, Informationen zu übermitteln – Anwaltliches Berufsgeheimnis – Art. 7 und Art. 52 Abs. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union.#Rechtssache C-432/23.
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62023CJ0432
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ECLI:EU:C:2024:791
| 2024-09-26T00:00:00 |
Kokott, Gerichtshof
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Sammlung der Rechtsprechung – allgemein – Abschnitt „Informationen über nicht veröffentlichte Entscheidungen“
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62023CJ0432
URTEIL DES GERICHTSHOFS (Zweite Kammer)
26. September 2024 (*1)
„Vorlage zur Vorabentscheidung – Zusammenarbeit der Verwaltungsbehörden im Bereich der Besteuerung – Richtlinie 2011/16/EU – Informationsaustausch auf Ersuchen – Anordnung an einen Rechtsanwalt, Informationen zu übermitteln – Anwaltliches Berufsgeheimnis – Art. 7 und Art. 52 Abs. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union“
In der Rechtssache C‑432/23
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Cour administrative (Verwaltungsgerichtshof, Luxemburg) mit Beschluss vom 11. Juli 2023, beim Gerichtshof eingegangen am 12. Juli 2023, in dem Verfahren
F SCS,
Ordre des avocats du barreau de Luxembourg
gegen
Administration des contributions directes
erlässt
DER GERICHTSHOF (Zweite Kammer)
unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin A. Prechal, der Richter F. Biltgen, N. Wahl und J. Passer (Berichterstatter) sowie der Richterin M. L. Arastey Sahún,
Generalanwältin: J. Kokott,
Kanzler: A. Calot Escobar,
unter Berücksichtigung des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
–
des Ordre des avocats du barreau de Luxembourg, vertreten durch P. Mellina und A. Steichen, Avocats,
–
der luxemburgischen Regierung, vertreten durch A. Germeaux und T. Schell als Bevollmächtigte,
–
der deutschen Regierung, vertreten durch J. Möller, J. Heitz und M. Hellmann als Bevollmächtigte,
–
der spanischen Regierung, vertreten durch L. Aguilera Ruiz als Bevollmächtigten,
–
der österreichischen Regierung, vertreten durch A. Posch und J. Schmoll als Bevollmächtigte,
–
des Rates der Europäischen Union, vertreten durch K. Pavlaki, S. Santoro und A. Sikora-Kalėda als Bevollmächtigte,
–
der Europäischen Kommission, vertreten durch A. Ferrand und W. Roels als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge der Generalanwältin in der Sitzung vom 30. Mai 2024
folgendes
Urteil
1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 17 Abs. 1 und 4 und Art. 18 Abs. 1 der Richtlinie 2011/16/EU des Rates vom 15. Februar 2011 über die Zusammenarbeit der Verwaltungsbehörden im Bereich der Besteuerung und zur Aufhebung der Richtlinie 77/799/EWG (ABl. 2011, L 64, S. 1) sowie von Art. 7 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) und die Gültigkeit der Richtlinie 2011/16 im Hinblick auf Art. 7 und Art. 52 Abs. 1 der Charta.
2 Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der F SCS (im Folgenden: Gesellschaft F), einer als Kommanditgesellschaft in Luxemburg gegründeten Anwaltskanzlei, und dem Ordre des avocats du barreau de Luxembourg (Rechtsanwaltskammer Luxemburg, im Folgenden: OABL) gegen die Administration des contributions directes (Verwaltung für direkte Abgaben, Luxemburg) wegen einer von dieser Verwaltung an die Gesellschaft F gerichteten Entscheidung über die Anordnung der Übermittlung von Auskünften und Unterlagen sowie wegen einer Geldbuße, die gegen die Gesellschaft F verhängt wurde, weil sie dieser Anordnungsentscheidung nicht nachgekommen war.
Rechtsrahmen
Unionsrecht
Richtlinie 2011/16
3 Die Richtlinie 2011/16 schafft ein System der Zusammenarbeit zwischen den Steuerbehörden der Mitgliedstaaten und legt die Regeln und Verfahren fest, die beim Informationsaustausch zwischen den Mitgliedstaaten für steuerliche Zwecke anzuwenden sind.
4 Art. 1 Abs. 1 dieser Richtlinie bestimmt:
„Diese Richtlinie legt die Regeln und Verfahren fest, nach denen die Mitgliedstaaten untereinander im Hinblick auf den Austausch von Informationen zusammenarbeiten, die für die Anwendung und Durchsetzung des innerstaatlichen Rechts der Mitgliedstaaten über die in Artikel 2 genannten Steuern voraussichtlich erheblich sind.“
5 Art. 3 („Begriffsbestimmungen“) dieser Richtlinie sieht vor:
„Für die Zwecke dieser Richtlinie bezeichnet der Ausdruck:
…
8. ‚Austausch von Informationen auf Ersuchen‘ den Austausch von Informationen auf der Grundlage eines Ersuchens, das der ersuchende Mitgliedstaat an den ersuchten Mitgliedstaat in einem bestimmten Fall stellt;
…“
6 Art. 5 der Richtlinie 2011/16, die erste Bestimmung in Abschnitt I („Informationsaustausch auf Ersuchen“) des Kapitels II dieser Richtlinie, lautet wie folgt:
„Auf Ersuchen der ersuchenden Behörde übermittelt die ersuchte Behörde der ersuchenden Behörde alle in Artikel 1 Absatz 1 genannten Informationen, die sie besitzt oder die sie im Anschluss an behördliche Ermittlungen erhalten hat.“
7 Art. 6 („Behördliche Ermittlungen“) der genannten Richtlinie hat folgenden Wortlaut:
„(1) Die ersuchte Behörde trifft Vorkehrungen dafür, dass alle behördlichen Ermittlungen durchgeführt werden, die zur Beschaffung der in Artikel 5 genannten Informationen notwendig sind.
…
(3) Zur Beschaffung der erbetenen Informationen oder zur Durchführung der erbetenen behördlichen Ermittlungen geht die ersuchte Behörde nach denselben Verfahren vor, die sie anwenden würde, wenn sie von sich aus oder auf Ersuchen einer anderen Behörde des eigenen Mitgliedstaats handeln würde.
…“
8 In Art. 17 („Beschränkungen“) in Kapitel IV („Bedingungen für die Zusammenarbeit der Verwaltungsbehörden“) dieser Richtlinie heißt es:
„(1) Eine ersuchte Behörde eines Mitgliedstaats erteilt einer ersuchenden Behörde eines anderen Mitgliedstaats die Informationen gemäß Artikel 5 unter der Voraussetzung, dass die ersuchende Behörde die üblichen Informationsquellen ausgeschöpft hat, die sie unter den gegebenen Umständen zur Erlangung der erbetenen Informationen genutzt haben könnte, ohne die Erreichung ihres Ziels zu gefährden.
(2) Die vorliegende Richtlinie verpflichtet einen ersuchten Mitgliedstaat nicht zu Ermittlungen oder zur Übermittlung von Informationen, wenn die Durchführung solcher Ermittlungen bzw. die Beschaffung der betreffenden Informationen durch diesen Mitgliedstaat für seine eigenen Zwecke mit seinen Rechtsvorschriften unvereinbar wäre.
…
(4) Die Übermittlung von Informationen kann abgelehnt werden, wenn sie zur Preisgabe eines Handels‑, Gewerbe- oder Berufsgeheimnisses oder eines Geschäftsverfahrens führen würde oder wenn die Preisgabe der betreffenden Information die öffentliche Ordnung verletzen würde.
…“
9 Art. 18 („Pflichten“) in demselben Kapitel IV der Richtlinie 2011/16 sieht vor:
„(1) Ersucht ein Mitgliedstaat im Einklang mit dieser Richtlinie um Informationen, so trifft der ersuchte Mitgliedstaat die ihm zur Beschaffung von Informationen zur Verfügung stehenden Maßnahmen, um sich die erbetenen Informationen zu verschaffen, auch wenn dieser Mitgliedstaat solche Informationen möglicherweise nicht für eigene Steuerzwecke benötigt. Diese Verpflichtung gilt unbeschadet des Artikels 17 Absätze 2 … und 4, der jedoch nicht so ausgelegt werden kann, dass sich ein ersuchter Mitgliedstaat darauf berufen kann, um die Bereitstellung der Informationen allein deshalb abzulehnen, weil er kein eigenes Interesse daran hat.
(2) Artikel 17 Absätze 2 und 4 ist in keinem Fall so auszulegen, dass die ersuchte Behörde eines Mitgliedstaats die Erteilung von Informationen nur deshalb ablehnen kann, weil die Informationen sich bei einer Bank, einem sonstigen Finanzinstitut, einem Bevollmächtigten, Vertreter oder Treuhänder befinden oder sich auf Eigentumsanteile an einer Person beziehen.
…“
Richtlinie 2018/822
10 Die Richtlinie 2011/16 wurde mehrfach geändert, insbesondere durch die Richtlinie (EU) 2018/822 des Rates vom 25. Mai 2018 zur Änderung der Richtlinie 2011/16/EU bezüglich des verpflichtenden automatischen Informationsaustauschs im Bereich der Besteuerung über meldepflichtige grenzüberschreitende Gestaltungen (ABl. 2018, L 139, S. 1), mit der eine Meldepflicht für potenziell aggressive grenzüberschreitende Steuerplanungsgestaltungen bei den zuständigen Behörden eingeführt wurde.
11 Art. 8ab („Umfang und Voraussetzungen des verpflichtenden automatischen Informationsaustauschs über meldepflichtige grenzüberschreitende Gestaltungen“) der Richtlinie 2011/16 in der durch die Richtlinie 2018/822 geänderten Fassung legt in den Abs. 1 und 5 fest:
„(1) Jeder Mitgliedstaat ergreift die erforderlichen Maßnahmen, um die Intermediäre zur Vorlage der ihnen bekannten, in ihrem Besitz oder unter ihrer Kontrolle befindlichen Informationen über meldepflichtige grenzüberschreitende Gestaltungen bei den zuständigen Steuerbehörden zu verpflichten, und zwar innerhalb von 30 Tagen …
…
(5) Jeder Mitgliedstaat kann die erforderlichen Maßnahmen ergreifen, um den Intermediären das Recht auf Befreiung von der Pflicht zu gewähren, Informationen über eine meldepflichtige grenzüberschreitende Gestaltung vorzulegen, wenn mit der Meldepflicht nach dem nationalen Recht dieses Mitgliedstaats gegen eine gesetzliche Verschwiegenheitspflicht verstoßen würde. In solchen Fällen ergreift jeder Mitgliedstaat die erforderlichen Maßnahmen, um die Intermediäre zu verpflichten, andere Intermediäre oder, falls es keine solchen gibt, den relevanten Steuerpflichtigen unverzüglich über ihre Meldepflichten gemäß Absatz 6 zu unterrichten.
Intermediäre können die in Unterabsatz 1 genannte Befreiung nur insoweit in Anspruch nehmen, als sie ihre Tätigkeit im Rahmen der für ihren Beruf relevanten nationalen Rechtsvorschriften ausüben.“
Luxemburgisches Recht
Gesetz vom 29. März 2013
12 § 6 des Gesetzes vom 29. März 2013 zur Umsetzung der Richtlinie 2011/16 und 1. zur Änderung des allgemeinen Steuergesetzes und 2. zur Aufhebung des geänderten Gesetzes vom 15. März 1979 über die internationale Amtshilfe im Bereich der direkten Steuern (Mémorial A 2013, S. 756, im Folgenden: Gesetz vom 29. März 2013) bestimmt:
„Auf Ersuchen der ersuchenden Behörde übermittelt die ersuchte luxemburgische Behörde ihr alle für die Anwendung und Durchsetzung des innerstaatlichen Rechts des ersuchenden Mitgliedstaats über die in Art. 1 genannten Steuern voraussichtlich erheblichen Informationen, die sie besitzt oder die sie im Anschluss an behördliche Ermittlungen erhalten hat.“
13 § 7 Abs. 1 und 3 des Gesetzes vom 29. März 2013 lautet:
„(1) Die ersuchte luxemburgische Behörde veranlasst die Durchführung aller behördlichen Ermittlungen, die für die Beschaffung der in § 6 genannten Informationen erforderlich sind.
…
(3) Zur Beschaffung der erbetenen Informationen oder zur Durchführung der erbetenen behördlichen Ermittlungen geht die ersuchte luxemburgische Behörde nach denselben Verfahren vor, die sie anwenden würde, wenn sie von sich aus oder auf Ersuchen einer anderen luxemburgischen Behörde handeln würde.“
14 § 18 Abs. 2 und 4 dieses Gesetzes sieht vor:
„(2) Die ersuchte luxemburgische Behörde ist nicht verpflichtet, Ermittlungen durchzuführen oder Informationen zu übermitteln, wenn die Durchführung solcher Ermittlungen oder die Beschaffung der betreffenden Informationen für ihre eigenen Zwecke gegen ihre Rechtsvorschriften verstoßen würde.
…
(4) Die Übermittlung von Informationen kann abgelehnt werden, wenn sie zur Preisgabe eines Handels‑, Gewerbe- oder Berufsgeheimnisses oder eines Geschäftsverfahrens führen würde oder wenn die Preisgabe der betreffenden Information die öffentliche Ordnung verletzen würde.“
Gesetz vom 25. November 2014
15 Mit dem Gesetz vom 25. November 2014 über das auf den Informationsaustausch auf Ersuchen in Steuerangelegenheiten anzuwendende Verfahren sowie zur Änderung des Gesetzes vom 31. März 2010 über die Genehmigung der Besteuerungsübereinkünfte und über das darauf anzuwendende Verfahren für den Informationsaustausch auf Ersuchen (Mémorial A 2014, S. 4170) in der durch das Gesetz vom 1. März 2019 (Mémorial A 2019, Nr. 112) geänderten Fassung (im Folgenden: Gesetz vom 25. November 2014) wurde die Richtlinie 2011/16 in Bezug auf ihre verfahrensrechtlichen Aspekte in luxemburgisches Recht umgesetzt.
16 § 1 Abs. 1 dieses Gesetzes bestimmt:
„Dieses Gesetz findet ab seinem Inkrafttreten auf Ersuchen um Austausch von Informationen in Steuerangelegenheiten Anwendung, die von der zuständigen Behörde des ersuchenden Staates auf folgender Grundlage gestellt werden:
…
4. nach dem [Gesetz vom 29. März 2013];
…“
17 § 2 Abs. 1 und 2 des Gesetzes vom 25. November 2014 sieht vor:
„(1) Die Steuerbehörden sind befugt, die zur Durchführung des in den Übereinkünften und Gesetzen vorgesehenen Informationsaustauschs erbetenen Informationen aller Art von demjenigen zu verlangen, der über sie verfügt.
(2) Der Informationsinhaber ist verpflichtet, die verlangten Auskünfte vollständig, genau und unverändert innerhalb eines Monats nach Zustellung der die verlangten Auskünfte anordnenden Entscheidung zu erteilen. Diese Verpflichtung schließt die Übermittlung der unveränderten Schriftstücke ein, auf denen diese Auskünfte beruhen.“
18 § 3 Abs. 3 und 5 dieses Gesetzes lautet wie folgt:
„(3) Verfügt die zuständige Steuerverwaltung nicht über die erbetenen Informationen, stellt der Leiter der zuständigen Steuerbehörde oder dessen Vertreter dem Informationsinhaber seine die Erteilung der erbetenen Auskünfte anordnende Entscheidung durch eingeschriebenen Brief zu.
…
(5) Zusätzlich zu dem in Absatz 3 vorgesehenen Anordnungsverfahren hat die zuständige Steuerverwaltung die gleichen Ermittlungsbefugnisse wie im Rahmen von Besteuerungsverfahren zur Festsetzung oder Kontrolle von Steuern, Abgaben und Gebühren, mit allen dort vorgesehenen Garantien.“
AO
19 § 171 der Loi générale des impôts du 22 mai 1931 („Abgabenordnung“) (Mémorial A 1931, Nr. 900), in ihrer geänderten Fassung (im Folgenden: AO), bestimmt in Abs. 2:
„[Der Steuerpflichtige] hat Aufzeichnungen, Bücher und Geschäftspapiere sowie die für die Festsetzung der Steuer relevanten Unterlagen auf Verlangen (§ 207) zur Einsicht und Prüfung vorzulegen.“
20 § 175 Abs. 1 und 2 AO sieht vor:
„(1) Mit Ausnahme der als nahe Angehörige bezeichneten Personen müssen auch diejenigen, die nicht steuerpflichtig sind, … der Steuerprüfungsbehörde über Tatsachen Auskunft erteilen, die für die Ausübung der Steuerprüfung oder in einem Steuerermittlungsverfahren für die Feststellung von Steuerforderungen von Bedeutung sind. …
(2) Die Auskunft soll, soweit dies durchführbar ist und nicht aus besonderen Gründen Abweichungen geboten sind, schriftlich erbeten und erteilt werden; die Steuerprüfungsbehörde kann jedoch das Erscheinen des Auskunftspflichtigen anordnen.“
21 In § 177 AO heißt es:
„(1) Die Auskunft können ferner verweigern:
1. Verteidiger und Rechtsanwälte, soweit sie in Strafsachen tätig gewesen sind,
…
3. Rechtsanwälte über das, was ihnen bei Ausübung ihres Berufs anvertraut ist,
4. die Gehilfen der zu 1 bis 3 bezeichneten Personen hinsichtlich der Tatsachen, die sie in dieser ihrer Eigenschaft erfahren haben.
(2) Diese Bestimmung findet auf die zu 3 und 4 bezeichneten Personen insoweit keine Anwendung, als es sich um Tatsachen handelt, die ihnen bei der Beratung oder Vertretung in Steuerangelegenheiten zur Kenntnis gekommen sind, es sei denn, dass es sich um Fragen handelt, deren Bejahung oder Verneinung ihre Auftraggeber der Gefahr einer Strafverfolgung aussetzen würde.“
Ausgangsverfahren und Vorlagefragen
22 Nachdem spanische Steuerbehörden ein auf die Richtlinie 2011/16 gestütztes Auskunftsersuchen an die Verwaltung für direkte Abgaben gerichtet hatten, erließ diese Verwaltung am 28. Juni 2022 eine an die Gesellschaft F gerichtete Anordnungsentscheidung, der zufolge diese Gesellschaft sämtliche verfügbaren Unterlagen und Informationen über Dienstleistungen vorlegen sollte, die von ihr an K, eine Gesellschaft spanischen Rechts, im Rahmen des Erwerbs eines Unternehmens und einer Mehrheitsbeteiligung an einer Gesellschaft, beide ebenfalls spanischen Rechts, erbracht worden waren.
23 Diese Entscheidung hatte folgenden Wortlaut:
„…
Ich bitte Sie, uns für den Zeitraum vom 1. Januar 2016 bis 31. Dezember 2019 folgende Informationen und Unterlagen bis zum 3. August 2022 vorzulegen:
–
… sämtliche verfügbaren Unterlagen (Auftragsschreiben, Verträge mit der Mandantin, Berichte, Memoranden, Mitteilungen, Rechnungen usw.) über die von [Ihrer Gesellschaft F] an die spanische Gesellschaft [K] erbrachten Dienstleistungen im Rahmen:
o des Erwerbs von 80 % der Beteiligungen an [N] durch die Investmentgruppe [O] im Jahr 2015 (Rechnung Nr. … …. vom 04. März 2016);
o des Erwerbs eines weiteren spanischen Unternehmens durch die Gruppe im Jahr 2018 (Rechnung Nr. … … vom 13. Dezember 2018);
–
… eine ausführliche Beschreibung des Ablaufs der oben genannten Transaktionen von der Beauftragung der Dienste der Gesellschaft [F] bis zu deren Abschluss, sowie eine Erläuterung ihrer Beteiligung an diesen Vorgängen, eine Auflistung ihrer Gesprächspartner (Verkäufer, Käufer und Dritte) und die Rechnungen;
–
… eine Ablichtung aller Unterlagen, die im Hinblick auf die vorstehenden Gedankenstriche von Bedeutung sind.
Ich möchte Sie darauf aufmerksam machen, dass der Informationsinhaber gemäß Artikel 2 [Absatz 2] des [Gesetzes vom 25. November 2014] … verpflichtet ist, die verlangten Auskünfte vollständig, genau und unverändert zu erteilen sowie die Schriftstücke, auf denen diese Auskünfte beruhen, zu übermitteln.
…“
24 In ihrer Antwort mit E‑Mail vom 8. Juli 2022 teilte die Gesellschaft F mit, sie habe als rechtsberatende Anwältin der Unternehmensgruppe, zu der die Gesellschaft K gehöre, gehandelt, so dass es ihr aus diesem Grund und aufgrund des ihr obliegenden Berufsgeheimnisses nicht möglich sei, Informationen über ihre Mandantin weiterzugeben.
25 Mit E‑Mail vom 11. Juli 2022 forderte die Verwaltung für direkte Abgaben die Gesellschaft F unter Bezugnahme auf § 2 Abs. 1 und 2 des Gesetzes vom 25. November 2014 auf, der Anordnungsentscheidung vom 28. Juni 2022 nachzukommen.
26 Mit Schreiben vom 8. August 2022 antwortete die Gesellschaft F, sie verfüge über keine Informationen, die nicht unter das Berufsgeheimnis gemäß § 177 Abs. 1 AO fielen, und wies darauf hin, dass ihr Mandat in dem in dieser Anordnungsentscheidung beschriebenen Fall nicht steuerlicher, sondern rein gesellschaftsrechtlicher Art gewesen sei.
27 Mit Entscheidung vom 19. August 2022 forderte diese Verwaltung die Gesellschaft F unter Androhung einer Geldbuße erneut auf, die angeforderten Auskünfte und Schriftstücke zu übermitteln, und erinnerte daran, dass deren vollständige, genaue und unveränderte Übermittlung gemäß § 2 Abs. 2 des Gesetzes vom 25. November 2014 zwingend vorgeschrieben sei.
28 Mit Entscheidung vom 16. September 2022 verhängte diese Verwaltung gegen die Gesellschaft F wegen der Nichtbefolgung der Anordnungsentscheidung vom 19. August 2022 eine Geldbuße.
29 Am 18. Oktober 2022 reichte die Gesellschaft F beim Tribunal administratif (Verwaltungsgericht, Luxemburg) eine Klage auf Abänderung der Entscheidung vom 16. September 2022 sowie am 25. November 2022 eine Klage auf Nichtigerklärung der Anordnungsentscheidung vom 19. August 2022 (im Folgenden: streitige Anordnung) ein. Der OABL beantragte, in Bezug auf diese zweite Klage zur Unterstützung der Gesellschaft F dem Verfahren als Streithelfer beitreten zu können.
30 Mit Urteil vom 23. Februar 2023 wies dieses Gericht die Nichtigkeitsklage und damit auch den Streithilfeantrag des OABL als in zeitlicher Hinsicht unzulässig ab.
31 Die Gesellschaft F und der OABL legten gegen dieses Urteil bei der Cour administrative (Verwaltungsgerichtshof, Luxemburg) – dem vorlegenden Gericht – Berufung ein.
32 Mit Urteil vom 4. Mai 2023 erklärte dieses Gericht die von der Gesellschaft F gegen die streitige Anordnung erhobene Nichtigkeitsklage und den Streithilfeantrag des OABL für zulässig und beschloss, über die Begründetheit der Klage zu entscheiden.
33 In der Sache weist das vorlegende Gericht darauf hin, dass die Klägerin und der Streithelfer ihre Vorbringen zur Rechtswidrigkeit der streitigen Anordnung auf Art. 17 Abs. 2 und 4 der Richtlinie 2011/16 und § 18 Abs. 2 und 4 des Gesetzes vom 29. März 2013 zur Umsetzung dieser Richtlinie in luxemburgisches Recht stützten und sich in diesem Zusammenhang auf das Urteil vom 8. Dezember 2022, Orde van Vlaamse Balies u. a. (C‑694/20, im Folgenden: Urteil Orde van Vlaamse Balies u. a., EU:C:2022:963), sowie auf Bestimmungen der Charta, insbesondere ihren Art. 7, beriefen.
34 Insoweit vertritt dieses Gericht die Auffassung, dass der Gerichtshof, damit es über diese Vorbringen und den bei ihm anhängigen Rechtsstreit entscheiden könne, verschiedene Klarstellungen vornehmen müsse, um es ihm zu ermöglichen, die Vereinbarkeit der streitigen Anordnung mit dem Unionsrecht zu beurteilen, und zwar unabhängig von der Frage, ob die Gesellschaft F im vorliegenden Fall gegebenenfalls auch von der Verpflichtung zur Übermittlung der verlangten Auskünfte und Unterlagen oder einiger davon nach § 177 AO befreit sein könnte, soweit die von ihr geleistete Beratung nicht „in Steuerangelegenheiten“ im Sinne von Abs. 2 dieses Artikels erfolgt sei.
35 Dabei weist das vorlegende Gericht zunächst darauf hin, dass nach den Feststellungen des Gerichtshofs im Urteil Orde van Vlaamse Balies u. a. die durch Art. 8ab der Richtlinie 2011/16 in der durch die Richtlinie 2018/822 geänderten Fassung eingeführte Verpflichtung eines Rechtsanwalts, der eine grenzüberschreitende Gestaltung konzipiere, vermarkte oder organisiere, einem Dritten seine Identität, seine Einschätzung zum Inhalt der grenzüberschreitenden Gestaltung und die Tatsache, dass er konsultiert worden sei, offenzulegen, sowie die Weitergabe dieser Informationen an die Steuerverwaltung einen Eingriff in das in Art. 7 der Charta garantierte Recht auf Achtung der Kommunikation zwischen Rechtsanwalt und Mandant darstellten. Im vorliegenden Fall würde die streitige Anordnung die Gesellschaft F jedoch dazu verpflichten, der Verwaltung für direkte Abgaben sämtliche Unterlagen über ihre Beziehungen zu ihrer Mandantin im Zusammenhang mit der Einrichtung bestimmter gesellschaftsrechtlicher Investitionsstrukturen zur Verfügung zu stellen. Es erscheine daher nur folgerichtig, daraus den Schluss zu ziehen, dass auch diese Anordnung einen Eingriff in dieses Recht darstelle. Angesichts des Unterschieds zwischen den Regelungen zum Informationsaustausch und den diesbezüglichen Maßnahmen, wie sie einerseits im Urteil Orde van Vlaamse Balies u. a. und andererseits in der bei ihm anhängigen Rechtssache in Rede stünden, ist das vorlegende Gericht jedoch der Auffassung, dass eine Bestätigung dieser Beurteilung erforderlich sei.
36 Sodann weist dieses Gericht für den Fall, dass der Schutz von Art. 7 der Charta Anwendung finde und das Vorliegen eines Eingriffs festgestellt werde, darauf hin, dass der Gerichtshof in Rn. 34 des Urteils Orde van Vlaamse Balies u. a. daran erinnert habe, dass die in diesem Art. 7 verankerten Rechte keine uneingeschränkte Geltung beanspruchen könnten, sondern im Hinblick auf ihre gesellschaftliche Funktion gesehen werden müssten, und dass nach Art. 52 Abs. 1 der Charta Einschränkungen der Ausübung dieser Rechte zulässig seien, sofern sie u. a. gesetzlich vorgesehen seien. Dieses Gericht stellt jedoch auch fest, dass die Richtlinie 2011/16 über ihren Art. 17 Abs. 4 hinaus im Bereich des Informationsaustauschs auf Ersuchen keine Bestimmung enthalte, die eine Sonderregelung mit spezifischen Einschränkungen der Verpflichtung eines Rechtsanwalts, als Drittinhaber solche Informationen zur Verfügung zu stellen, vorsehe. Da es keine Bestimmungen über eine solche Sonderregelung gebe, stelle sich die Frage, ob die Richtlinie 2011/16 mit Art. 7 und Art. 52 Abs. 1 der Charta vereinbar sei.
37 Das vorlegende Gericht ist ferner der Ansicht, dass, sollte der Gerichtshof zu dem Ergebnis gelangen, dass die Richtlinie 2011/16 unter dem in der vorstehenden Randnummer genannten Gesichtspunkt mit der Charta vereinbar sei, sich die Frage stelle, ob der Umfang der Mitwirkungspflicht von Rechtsanwälten im Rahmen des in dieser Richtlinie geregelten Informationsaustauschs auf Ersuchen unter Berücksichtigung der Auswirkungen ihres Berufsgeheimnisses nach der Verweisung in Art. 18 Abs. 1 dieser Richtlinie durch innerstaatliche Rechtsvorschriften der einzelnen Mitgliedstaaten ermittelt werden könne. Es stellt klar, dass in diesem Fall § 177 AO – als innerstaatliche Rechtsvorschrift, die diese Mitwirkungspflicht von Rechtsanwälten als Dritte regle – im vorliegenden Fall angewendet werden müsse.
38 Insoweit weist das vorlegende Gericht ferner darauf hin, dass nach den Ausführungen des Gerichtshofs in Rn. 39 des Urteils Orde van Vlaamse Balies u. a. eine Aufhebung dieser Vertraulichkeit nur in begrenztem Maße zulässig sei, damit die Achtung des Wesensgehalts der Vertraulichkeit der Kommunikation zwischen Rechtsanwalt und Mandant gewährleistet werde. Im vorliegenden Fall verpflichte die streitige Anordnung die Gesellschaft F, sämtliche Unterlagen über ihre Beziehungen zu ihrer Mandantin vorzulegen, die sich auf die Einrichtung bestimmter gesellschaftsrechtlicher Investitionsstrukturen bezögen. Unter diesen Umständen könne nicht ausgeschlossen werden, dass diese Anordnung den Wesensgehalt des Rechts auf Achtung der Kommunikation zwischen Rechtsanwalt und Mandant berühre. Da diese Anordnung jedoch mit § 177 AO im Einklang stehe, stelle sich auch die Frage, ob sowohl diese nationale Bestimmung als auch diese Anordnung mit Art. 7 der Charta im Einklang stünden.
39 Schließlich weist das vorlegende Gericht darauf hin, dass im Fall des Verstoßes der letztgenannten Bestimmung gegen Art. 7 der Charta eine solche Schlussfolgerung dennoch nicht automatisch zur vollständigen Nichtigerklärung der genannten Anordnungsentscheidung führen müsse, da sie eine Entscheidung darstelle, die je nach den jeweils angeforderten Auskünften geteilt werden könne. Das luxemburgische Gericht könnte daher die Verpflichtung des Rechtsanwalts zur Erteilung von Informationen, bei denen nicht davon auszugehen sei, dass sie den Wesensgehalt des Rechts auf Achtung seiner Kommunikation mit seinem Mandanten beträfen, weiter als wirksam erachten.
40 Folglich dürfe sich die Prüfung des vorlegenden Gerichts nicht auf die Feststellung eines möglichen Eingriffs in den Wesensgehalt der Vertraulichkeit der Kommunikation zwischen einem Rechtsanwalt und seinem Mandanten beschränken, sondern es sollte danach auch geprüft werden, ob weitere vom Gerichtshof im Urteil Orde van Vlaamse Balies u. a. – insbesondere in Bezug auf den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit – berücksichtigte Erwägungen gegebenenfalls geeignet seien, die Informationen, die im Rahmen eines auf der Richtlinie 2011/16 beruhenden Informationsaustauschs auf Ersuchen zulässigerweise von einem Rechtsanwalt verlangt werden könnten, weiter zu beschränken.
41 Unter diesen Umständen hat die Cour administrative (Verwaltungsgerichtshof) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
1. Fällt die Rechtsberatung eines Rechtsanwalts im Bereich des Gesellschaftsrechts – im vorliegenden Fall im Hinblick auf die Einrichtung einer gesellschaftsrechtlichen Investitionsstruktur – in den Bereich des von Art. 7 der Charta gewährten verstärkten Schutzes des Schriftwechsels zwischen Rechtsanwalt und Mandant?
2. Falls die erste Frage bejaht wird: Stellt eine Entscheidung der zuständigen Behörde eines ersuchten Mitgliedstaats, die erlassen wurde, um einem Ersuchen eines anderen Mitgliedstaats um Informationsaustausch auf Ersuchen auf der Grundlage der Richtlinie 2011/16 nachzukommen, und die die Anordnung an einen Rechtsanwalt enthält, der Behörde im Großen und Ganzen sämtliche verfügbare Unterlagen über seine Beziehungen zu seinem Mandanten, eine detaillierte Beschreibung der Transaktionen, die Gegenstand seiner Beratungen waren, eine Erläuterung seiner Beteiligung an diesen Vorgängen und die Auflistung seiner Gesprächspartner vorzulegen, einen Eingriff in das in Art. 7 der Charta garantierte Recht auf Achtung der Kommunikation zwischen Rechtsanwalt und Mandant dar?
3. Falls die zweite Frage bejaht wird: Ist die Richtlinie 2011/16 mit Art. 7 und Art. 52 Abs. 1 der Charta vereinbar, insofern als sie über Art. 17 Abs. 4 hinaus keine Bestimmung enthält, die einen Eingriff in die Vertraulichkeit des Schriftwechsels zwischen Rechtsanwalt und Mandant im Rahmen der Regelung des Informationsaustauschs auf Ersuchen ausdrücklich zulässt und die den Umfang der Einschränkung der Ausübung des betreffenden Rechts selbst festlegt?
4. Falls die dritte Frage bejaht wird: Können die Regelung der Mitwirkungspflicht von Rechtsanwälten (oder einer Anwaltskanzlei) als Drittinhaber im Rahmen der Anwendung des durch die Richtlinie 2011/16 geschaffenen Mechanismus des Informationsaustauschs auf Ersuchen und insbesondere die spezifischen Einschränkungen zur Berücksichtigung der Auswirkungen ihres Berufsgeheimnisses gemäß der Verweisung in Art. 18 Abs. 1 dieser Richtlinie durch innerstaatliche Rechtsvorschriften der einzelnen Mitgliedstaaten erfolgen, die die Mitwirkungspflicht von Rechtsanwälten als Dritte bei der Steuerfahndung im Rahmen der Anwendung des innerstaatlichen Steuerrechts regeln?
5. Falls die vierte Frage bejaht wird: Muss eine nationale Rechtsvorschrift wie die im vorliegenden Fall anwendbare, in der die Mitwirkungspflicht von Rechtsanwälten als Drittinhaber geregelt ist, um mit Art. 7 der Charta vereinbar zu sein, besondere Regelungen enthalten, die
–
die Wahrung des Wesensgehalts der Vertraulichkeit der Kommunikation zwischen Rechtsanwalt und Mandant sicherstellen und
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besondere Voraussetzungen festlegen, um sicherzustellen, dass die Mitwirkungspflicht von Rechtsanwälten auf das zur Erreichung des Ziels der Richtlinie 2011/16 geeignete und erforderliche Maß beschränkt wird?
6. Falls die fünfte Frage bejaht wird: Müssen die besonderen Voraussetzungen, mit denen sichergestellt werden soll, dass die Mitarbeit von Rechtsanwälten bei der Steuerfahndung auf das zur Erreichung des Ziels der Richtlinie 2011/16 geeignete und erforderliche Maß beschränkt wird, die Pflicht der zuständigen Behörde des ersuchten Mitgliedstaats umfassen,
–
eine verstärkte Kontrolle darüber durchzuführen, ob der ersuchende Mitgliedstaat – wie in Art. 17 Abs. 1 der Richtlinie 2011/16 vorgesehen – tatsächlich zuvor die üblichen Informationsquellen ausgeschöpft hat, die er unter den gegebenen Umständen zur Erlangung der erbetenen Informationen genutzt haben könnte, ohne die Erreichung dieses Ziels zu gefährden, und/oder
–
sich zuvor vergeblich an andere potenzielle Informationsinhaber gewandt zu haben, um sich als letztes Mittel an einen Rechtsanwalt in seiner Eigenschaft als potenzieller Informationsinhaber wenden zu dürfen, und/oder
–
in jedem Einzelfall eine Abwägung zwischen der dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzung einerseits und den fraglichen Rechten andererseits in der Weise vorzunehmen, dass eine gegen einen Rechtsanwalt gerichtete Anordnung nur dann rechtsgültig erlassen werden könnte, wenn zusätzliche Voraussetzungen erfüllt sind, wie etwa das Erfordernis, dass die finanziellen Auswirkungen der im ersuchenden Staat laufenden Kontrolle einen gewissen Umfang erreichen oder erreichen könnten oder strafrechtlich relevant sein könnten?
Zur Zuständigkeit des Gerichtshofs
42 Die österreichische Regierung hat Zweifel an der Zuständigkeit des Gerichtshofs geäußert und im Wesentlichen geltend gemacht, dass, da die Richtlinie 2011/16 nicht festlege, unter welchen Bedingungen Ermittlungen bzw. Übermittlungen zulässigerweise durchgeführt werden könnten und insbesondere unter welchen Voraussetzungen ein Rechtsunterworfener die Herausgabe von Informationen unter Verweis auf ein Berufsgeheimnis verweigern könne, solche Fragen ausschließlich vom nationalen Recht abhingen, so dass der Ausgangsrechtsstreit nicht in den Anwendungsbereich dieser Richtlinie und damit auch nicht in den des Unionsrechts falle.
43 Es ist daran zu erinnern, dass die Richtlinie 2011/16 den Informationsaustausch auf Ersuchen zwischen den Mitgliedstaaten regelt und in diesem Rahmen in Art. 18 Abs. 1 bestimmt, dass der ersuchte Mitgliedstaat die ihm zur Beschaffung von Informationen zur Verfügung stehenden Maßnahmen trifft, um sich die vom ersuchenden Mitgliedstaat erbetenen Informationen zu verschaffen. Wenn also der ersuchte Mitgliedstaat auf ein gemäß Kapitel II Abschnitt I der Richtlinie 2011/16 gestelltes Ersuchen um Informationsaustausch Ermittlungen nach seinen innerstaatlichen Verfahren durchführt und an den Informationsinhaber eine Anordnung zur Übermittlung dieser Informationen richtet, führt er diese Richtlinie und damit das Unionsrecht durch.
44 Insoweit hat der Gerichtshof entschieden, dass der Erlass von Rechtsvorschriften durch einen Mitgliedstaat, die die Modalitäten des durch die Richtlinie 2011/16 eingeführten Verfahrens zum Informationsaustausch auf Ersuchen regeln, indem sie u. a. vorsehen, dass die zuständige Behörde eine Entscheidung erlassen kann, die einen Informationsinhaber dazu verpflichtet, ihr diese Informationen zu erteilen, eine solche Durchführung darstellt, die, wie sich aus Art. 51 Abs. 1 der Charta ergibt, zur Anwendbarkeit der Charta führt (Urteil vom 6. Oktober 2020, État luxembourgeois [Rechtsbehelf gegen ein Auskunftsersuchen in Steuersachen], C‑245/19 und C‑246/19, EU:C:2020:795, Rn. 45 und 46 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).
45 Unter diesen Umständen ist festzustellen, dass der Gerichtshof für die Prüfung zuständig ist, ob und inwieweit die Bestimmungen der Charta der Anwendung nationaler Bestimmungen, wie sie im Ausgangsverfahren in Rede stehen, durch einen Mitgliedstaat im Rahmen und zum Zweck der Ausführung eines Ersuchens um Informationsaustausch nach Kapitel II Abschnitt I der Richtlinie 2011/16 entgegenstehen.
Zu den ersten beiden Vorlagefragen
46 Mit den ersten beiden Fragen, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 7 der Charta dahin auszulegen ist, dass eine anwaltliche Rechtsberatung auf dem Gebiet des Gesellschaftsrechts in den Bereich des durch diesen Artikel gewährleisteten verstärkten Schutzes der Kommunikation zwischen Rechtsanwalt und Mandant fällt, so dass eine Entscheidung, mit der ein Rechtsanwalt angewiesen wird, der Verwaltung des ersuchten Mitgliedstaats zum Zweck eines durch die Richtlinie 2011/16 vorgesehenen Informationsaustauschs auf Ersuchen sämtliche Unterlagen und Informationen über seine Beziehungen zu seinem Mandanten, die eine solche Rechtsberatung betreffen, vorzulegen, einen Eingriff in das durch diesen Artikel garantierte Recht auf Achtung der Kommunikation zwischen Rechtsanwalt und Mandant darstellt.
47 Es ist darauf hinzuweisen, dass Art. 7 der Charta, der jeder Person das Recht auf Achtung ihres Privat- und Familienlebens, ihrer Wohnung sowie ihrer Kommunikation zuerkennt, Art. 8 Abs. 1 der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (im Folgenden: EMRK) entspricht (Urteil Orde van Vlaamse Balies u. a., Rn. 25).
48 Gemäß Art. 52 Abs. 3 der Charta, der die notwendige Kohärenz zwischen den in der Charta enthaltenen Rechten und den entsprechenden durch die EMRK garantierten Rechten gewährleisten soll, ohne dass dadurch die Eigenständigkeit des Unionsrechts berührt wird, muss der Gerichtshof daher bei der Auslegung der durch Art. 7 der Charta garantierten Rechte die entsprechenden durch Art. 8 Abs. 1 EMRK in deren Auslegung durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte garantierten Rechte als Mindestschutzstandard berücksichtigen (Urteil Orde van Vlaamse Balies u. a., Rn. 26).
49 Wie der Gerichtshof ausgeführt hat, ergibt sich aus der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, dass Art. 8 Abs. 1 EMRK die Vertraulichkeit jeder Korrespondenz zwischen Privatpersonen schützt und dem Schriftwechsel zwischen Rechtsanwälten und ihren Mandanten einen verstärkten Schutz zuweist. Ebenso wie diese Bestimmung, deren Schutz nicht nur die Verteidigungstätigkeit, sondern auch die Rechtsberatung umfasst, garantiert Art. 7 der Charta notwendigerweise das Geheimnis dieser Rechtsberatung, und zwar sowohl im Hinblick auf ihren Inhalt als auch im Hinblick auf ihre Existenz. Denn Personen, die einen Rechtsanwalt konsultieren, können vernünftigerweise erwarten, dass ihre Kommunikation privat und vertraulich bleibt. Abgesehen von Ausnahmefällen müssen diese Personen daher mit Recht darauf vertrauen dürfen, dass ihr Anwalt ohne ihre Zustimmung niemandem offenlegen wird, dass sie ihn konsultieren (Urteil Orde van Vlaamse Balies u. a., Rn. 27 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).
50 Der besondere Schutz, den Art. 7 der Charta und Art. 8 Abs. 1 EMRK dem anwaltlichen Berufsgeheimnis gewähren, der vor allem in Pflichten besteht, die ihnen obliegen, wird dadurch gerechtfertigt, dass den Rechtsanwälten in einer demokratischen Gesellschaft eine grundlegende Aufgabe übertragen wird, nämlich die Verteidigung der Rechtsunterworfenen. Diese grundlegende Aufgabe umfasst zum einen das Erfordernis, dessen Bedeutung in allen Mitgliedstaaten anerkannt wird, dass es dem Einzelnen möglich sein muss, sich völlig frei an seinen Rechtsanwalt zu wenden, zu dessen Beruf es schon seinem Wesen nach gehört, all denen unabhängig Rechtsberatung zu erteilen, die sie benötigen, und zum anderen die damit zusammenhängende Anforderung der Loyalität des Rechtsanwalts seinem Mandanten gegenüber (Urteil Orde van Vlaamse Balies u. a., Rn. 28 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).
51 Aus den vorstehenden Erwägungen folgt, dass eine anwaltliche Rechtsberatung unabhängig von dem Rechtsgebiet, auf das sie sich bezieht, den verstärkten Schutz genießt, den Art. 7 der Charta der Kommunikation zwischen einem Rechtsanwalt und seinem Mandanten garantiert. Das hat zur Folge, dass eine Anordnungsentscheidung wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende einen Eingriff in das in diesem Artikel garantierte Recht auf Achtung der Kommunikation zwischen Rechtsanwalt und Mandant darstellt.
52 Die ersten beiden Fragen sind daher dahin zu beantworten, dass Art. 7 der Charta dahin auszulegen ist, dass eine anwaltliche Rechtsberatung im Bereich des Gesellschaftsrechts in den Bereich des durch diesen Artikel gewährleisteten verstärkten Schutzes des Austauschs zwischen Rechtsanwalt und Mandant fällt, so dass eine Entscheidung, mit der ein Rechtsanwalt angewiesen wird, der Verwaltung des ersuchten Mitgliedstaats zum Zweck eines in der Richtlinie 2011/16 vorgesehenen Informationsaustauschs auf Ersuchen sämtliche Unterlagen und Informationen über seine Beziehungen zu seinem Mandanten, die eine solche Rechtsberatung betreffen, vorzulegen, einen Eingriff in das durch diesen Artikel garantierte Recht auf Achtung der Kommunikation zwischen Rechtsanwalt und Mandant darstellt.
Zur dritten und zur vierten Vorlagefrage
53 Mit der dritten und der vierten Frage, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob die Richtlinie 2011/16 im Hinblick auf Art. 7 und Art. 52 Abs. 1 der Charta ungültig ist, soweit diese Richtlinie über Art. 17 Abs. 4 hinaus keine Bestimmung enthält, die zum einen ausdrücklich einen Eingriff in die Kommunikation zwischen Rechtsanwalt und Mandant im Rahmen der Regelung des Informationsaustauschs auf Ersuchen zulässt und die zum anderen den Umfang der Einschränkung der Ausübung des in Art. 7 der Charta garantierten Rechts selbst festlegt, wobei sie, wie sich aus Art. 18 Abs. 1 der genannten Richtlinie ergibt, zugleich vorsieht, dass Rechtsvorschriften der einzelnen Mitgliedstaaten zu bestimmen haben, inwieweit das anwaltliche Berufsgeheimnis einem Auskunftsersuchen des ersuchten Mitgliedstaats entgegenstehen kann.
54 Insoweit geht aus dem Vorabentscheidungsersuchen u. a. hervor, dass das vorlegende Gericht bezweifelt, ob Art. 52 Abs. 1 der Charta von der Richtlinie 2011/16 beachtet wird, insbesondere soweit Art. 52 Abs. 1 der Charta vorsieht, dass jede Einschränkung der Ausübung der in der Charta anerkannten Rechte und Freiheiten gesetzlich vorgesehen sein muss.
55 Die Richtlinie 2011/16 betrifft die Zusammenarbeit der Verwaltungsbehörden und den Informationsaustausch zwischen den Mitgliedstaaten im Bereich der Besteuerung. So bestimmt Art. 1 Abs. 1 dieser Richtlinie, dass diese „die Regeln und Verfahren fest[legt], nach denen die Mitgliedstaaten untereinander im Hinblick auf den Austausch von Informationen zusammenarbeiten, die für die Anwendung und Durchsetzung des innerstaatlichen Rechts der Mitgliedstaaten über die in Artikel 2 genannten Steuern voraussichtlich erheblich sind“.
56 Im Rahmen des in Kapitel II Abschnitt I dieser Richtlinie vorgesehenen Informationsaustauschs auf Ersuchen, um den es im vorliegenden Fall geht, regelt die genannte Richtlinie die Beziehungen zwischen dem ersuchenden und dem ersuchten Mitgliedstaat sowie deren gegenseitige Verpflichtungen. So wird in Art. 6 Abs. 1 und 3 dieser Richtlinie bestimmt, dass die ersuchte Behörde Vorkehrungen dafür trifft, dass alle behördlichen Ermittlungen durchgeführt werden, die zur Beschaffung der erbetenen Informationen notwendig sind, und dass diese Behörde in diesem Rahmen nach denselben Verfahren vorgeht, die sie anwenden würde, wenn sie von sich aus oder auf Ersuchen einer anderen Behörde des eigenen Mitgliedstaats handeln würde. In Kapitel IV der Richtlinie 2011/16 über die Bedingungen für die Zusammenarbeit der Verwaltungsbehörden sieht Art. 18 Abs. 1 dieser Richtlinie vor, dass der ersuchte Mitgliedstaat die ihm zur Beschaffung von Informationen zur Verfügung stehenden Maßnahmen trifft, um sich die erbetenen Informationen zu verschaffen.
57 Dagegen legt die Richtlinie 2011/16 im Rahmen des Informationsaustauschs auf Ersuchen im Gegensatz zu anderen Arten des Informationsaustauschs, die sie regelt, wie den verpflichtenden automatischen Informationsaustausch im Sinne von Kapitel II Abschnitt II dieser Richtlinie in der durch die Richtlinie 2018/822 geänderten Fassung, keine Meldepflicht für Personen oder Betreiber als Informationsinhaber fest.
58 Was Art. 17 Abs. 4 der Richtlinie 2011/16 anbelangt, so betrifft diese Vorschrift zwar die Beziehungen zwischen dem ersuchten und dem ersuchenden Mitgliedstaat und sieht das Recht des ersuchten Mitgliedstaats vor, die Übermittlung von Informationen an den ersuchenden Mitgliedstaat abzulehnen, regelt aber nicht, wie im Rahmen der nationalen Verfahren zur Einholung von Informationen vorzugehen ist. Ferner bestimmt Art. 17 Abs. 2 dieser Richtlinie, dass diese Richtlinie den ersuchten Mitgliedstaat nicht zu Ermittlungen oder zur Übermittlung von Informationen verpflichtet, wenn die Durchführung solcher Ermittlungen bzw. die Beschaffung der betreffenden Informationen durch diesen Mitgliedstaat für seine eigenen Zwecke mit seinen Rechtsvorschriften unvereinbar wäre. Er legt jedoch nicht fest, welche Anforderungen im Rahmen der nationalen Verfahren zur Informationsbeschaffung zu beachten sind.
59 Aus den vorstehenden Erwägungen ergibt sich, dass der Unionsgesetzgeber für die Zwecke des in der Richtlinie 2011/16 vorgesehenen Informationsaustauschs auf Ersuchen lediglich die Verpflichtungen der Mitgliedstaaten untereinander festgelegt hat, wobei er ihnen jedoch gestattet hat, einem Informationsersuchen nicht stattzugeben, wenn die Durchführung der erbetenen Ermittlungen oder die Beschaffung der betreffenden Informationen gegen ihre Rechtsvorschriften verstoßen. So hat der Unionsgesetzgeber den Mitgliedstaaten insbesondere die Aufgabe überlassen, dafür zu sorgen, dass ihre nationalen Verfahren, die für die Beschaffung von Informationen zum Zwecke dieses Austauschs angewandt werden, mit der Charta, insbesondere mit deren Art. 7, vereinbar sind.
60 Daraus folgt, dass der Umstand, wonach die in Kapitel II Abschnitt I der Richtlinie 2011/16 vorgesehene Regelung des Informationsaustauschs auf Ersuchen keine Bestimmungen über den Schutz der Vertraulichkeit der Kommunikation zwischen Rechtsanwalt und Mandant im Rahmen der dem ersuchten Mitgliedstaat obliegenden Informationsbeschaffung enthält, nicht bedeutet, dass diese Richtlinie gegen Art. 7 und Art. 52 Abs. 1 der Charta verstößt. Aus der genannten Richtlinie ergibt sich nämlich, dass es im Einklang mit Art. 51 Abs. 1 der Charta jedem Mitgliedstaat obliegt, im Rahmen der für die Zwecke dieser Beschaffung durchgeführten nationalen Verfahren den von Art. 7 dieser Charta garantierten verstärkten Schutz der Kommunikation zwischen Rechtsanwalt und Mandant zu gewährleisten. So muss jeder Mitgliedstaat insbesondere dafür sorgen, dass jede mögliche Einschränkung der Ausübung der von diesem Art. 7 garantierten Rechte, die sich aus diesen nationalen Verfahren ergibt, im Sinne von Art. 52 Abs. 1 der Charta „gesetzlich vorgesehen“ ist.
61 Unter diesen Umständen ist auf die dritte und die vierte Frage zu antworten, dass die Prüfung der Aspekte, auf die sich diese Fragen beziehen, nichts ergeben hat, was die Gültigkeit der Richtlinie 2011/16 im Hinblick auf Art. 7 und Art. 52 Abs. 1 der Charta beeinträchtigen könnte.
Zur fünften und zur sechsten Vorlagefrage
62 Wie aus den Ausführungen in der Vorlageentscheidung hervorgeht, wird die Gesellschaft F durch die streitige Anordnung verpflichtet, sämtliche Unterlagen über ihre Beziehungen zu ihrem Mandanten, die die Einrichtung von bestimmten gesellschaftlichen Investitionsstrukturen betreffen, eine detaillierte Beschreibung der Transaktionen, die Gegenstand ihrer Beratungen waren, eine Erläuterung ihrer Beteiligung an diesen Vorgängen und die Auflistung ihrer Gesprächspartner vorzulegen. Diese Anordnung, die eine Wiederholung einer früheren Anordnung mit demselben Gegenstand darstellt, wurde von der Steuerbehörde erlassen, nachdem die Gesellschaft F eine Übermittlung der zuvor angeforderten Informationen und Unterlagen mit der Begründung abgelehnt hatte, dass eine solche Übermittlung gegen das anwaltliche Berufsgeheimnis verstoße, zu dem die Gesellschaft F verpflichtet sei, und dass außerdem die betreffenden Beratungen im vorliegenden Fall nicht steuerlicher Art gewesen seien. In dieser streitigen Anordnung wies die Steuerbehörde die Gesellschaft F insbesondere darauf hin, dass sie zur Vermeidung einer Geldbuße die zuvor angeforderten Informationen vollständig, genau und unverändert übermitteln müsse, ohne sich auf das Berufsgeheimnis berufen zu können. Als die Gesellschaft F dieser Aufforderung immer noch nicht nachkam, verhängte die Steuerbehörde schließlich die auf diese Weise angekündigte Geldbuße gegen diese Gesellschaft.
63 Hierzu führt das vorlegende Gericht aus, dass sich angesichts des Umfangs der verlangten Informationen, die sich im Großen und Ganzen auf den Inhalt der gesamten Akte der Gesellschaft F bezögen, darunter insbesondere Einzelheiten über den Inhalt der gesamten Kommunikation zwischen der Gesellschaft F und ihrer Mandantin, vor allem die Frage stelle, ob eine solche Anordnung, die im Übrigen mit dem nationalen Recht und insbesondere mit § 177 AO vereinbar sei, nicht den Wesensgehalt des Rechts auf Achtung der Kommunikation zwischen Rechtsanwalt und Mandant, das nach Art. 7 der Charta verstärkten Schutz genieße, beeinträchtige.
64 Zum Umfang der erbetenen Informationen und zum Stand des nationalen Rechts, auf dessen Grundlage die streitige Anordnung und die später gegen die Gesellschaft F verhängte Geldbuße erlassen wurden, hat das vorlegende Gericht zugleich darauf hingewiesen, dass nach § 177 AO ein Rechtsanwalt, als Adressat einer solchen Anordnungsentscheidung, grundsätzlich jede Auskunft verweigern könne, dass er aber, wenn er als Berater oder Vertreter ausschließlich in Steuersachen tätig sei, alle erbetenen Auskünfte erteilen müsse, es sei denn, die Erteilung dieser Auskünfte würde seinen Mandanten dem Risiko einer strafrechtlichen Verfolgung aussetzen.
65 Unter diesen Umständen ist festzustellen, dass das vorlegende Gericht mit der fünften und der sechsten Frage, die zusammen zu prüfen sind, im Wesentlichen wissen möchte, ob Art. 7 und Art. 52 Abs. 1 der Charta dahin auszulegen sind, dass sie einer Anordnung wie der in Rn. 52 des vorliegenden Urteils beschriebenen entgegenstehen, die auf einer nationalen Regelung beruht, nach der die Beratung und Vertretung durch einen Rechtsanwalt in Steuerangelegenheiten außer bei Gefahr einer strafrechtlichen Verfolgung des Mandanten nicht in den Genuss des durch Art. 7 der Charta gewährleisteten verstärkten Schutzes der Kommunikation zwischen Rechtsanwalt und Mandant kommt.
66 Insoweit ist zunächst daran zu erinnern, dass dieser verstärkte Schutz der Kommunikation zwischen Rechtsanwalt und Mandant, wie aus Rn. 51 des vorliegenden Urteils hervorgeht, unabhängig von dem Rechtsgebiet, in dem der Mandant beraten oder vertreten wird, zur Anwendung kommt.
67 Vor diesem Hintergrund ist darauf hinzuweisen, dass die in Art. 7 der Charta verankerten Rechte keine uneingeschränkte Geltung beanspruchen können, sondern im Hinblick auf ihre gesellschaftliche Funktion gesehen werden müssen. Nach ihrem Art. 52 Abs. 1 der Charta sind nämlich Einschränkungen der Ausübung dieser Rechte zulässig, sofern sie gesetzlich vorgesehen sind und den Wesensgehalt dieser Rechte achten, wobei sie daneben unter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit erforderlich sein müssen und den von der Union anerkannten dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen oder den Erfordernissen des Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer tatsächlich zu entsprechen haben (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 29. Juli 2024, Belgian Association of Tax Lawyers u. a.,C‑623/22, EU:C:2024:639, Rn. 134 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).
68 Im vorliegenden Fall verbietet § 177 Abs. 2 AO dem Rechtsanwalt, von dem die Verwaltung die Übermittlung von Informationen verlangt, den Zugang zu dem zu verweigern, was ihm in Ausübung seines Berufs anvertraut wurde, soweit es sich um Tatsachen handelt, die ihm bei Beratung oder Vertretung in Steuerangelegenheiten zur Kenntnis gekommen sind und es sich nicht um Fragen handelt, deren Beantwortung seinen Mandanten der Gefahr einer strafrechtlichen Verfolgung aussetzen würde. Ein solches Verbot hat somit zur Folge, dass der Inhalt des Austauschs zwischen Anwalt und Mandant in Steuerangelegenheiten, unabhängig davon, ob dieser Austausch im Zusammenhang mit einer Beratung oder einer Vertretung vor Gericht erfolgte, gegenüber der Verwaltung nicht geheim gehalten werden darf, es sei denn, der Inhalt würde diesen Mandanten der Gefahr einer strafrechtlichen Verfolgung aussetzen.
69 Wie in § 177 AO vorgesehen, hat die streitige Anordnung, in der unter Androhung einer Geldbuße nochmals gefordert wurde, die in Rn. 62 des vorliegenden Urteils genannten Informationen vollständig, genau und unverändert vorzulegen, nachdem die Gesellschaft F bekundet hatte, dass das Berufsgeheimnis, dem sie unterliege, eine solche Vorlage nicht zulasse, ihrerseits ebenfalls zur Folge, dass der gesamte Inhalt des Austauschs zwischen der Gesellschaft F und ihrem Mandanten im Zusammenhang mit der Einrichtung der betreffenden gesellschaftlichen Investitionsstrukturen gegenüber der Behörde, die diese Anordnungsentscheidung erlassen hat, nicht geheim gehalten werden kann.
70 In diesem Zusammenhang ist daran zu erinnern, dass Art. 7 der Charta die Vertraulichkeit der Rechtsberatung durch einen Rechtsanwalt im Hinblick auf ihre Existenz und ihren Inhalt garantiert. Daher können Personen, die einen Anwalt konsultieren, vernünftigerweise erwarten, dass ihre Kommunikation privat und vertraulich bleibt, und, von Ausnahmesituationen abgesehen, darauf vertrauen, dass ihr Anwalt ohne ihre Zustimmung niemandem offenlegen wird, dass sie ihn konsultieren.
71 Zwar kann nach den Feststellungen, die der Gerichtshof in diesem Zusammenhang u. a. getroffen hat, nicht davon ausgegangen werden, dass die in Art. 8ab Abs. 5 der durch die Richtlinie 2018/822 geänderten Richtlinie 2011/16 vorgesehene Unterrichtungspflicht den Wesensgehalt des in Art. 7 der Charta verankerten Rechts auf Achtung der Kommunikation zwischen Rechtsanwalt und Mandant beeinträchtigt. Der Gerichtshof kam jedoch zu dieser Schlussfolgerung auf der Grundlage seiner weiteren Feststellung, dass diese Pflicht nur in beschränktem Maß dazu führt, dass die Vertraulichkeit der Kommunikation zwischen dem Rechtsanwalt‑Intermediär und seinem Mandanten gegenüber einem Drittintermediär und der Steuerverwaltung aufgehoben wird und dass diese Bestimmung insbesondere den Rechtsanwalt‑Intermediär nicht verpflichtet oder befugt, ohne Zustimmung seines Mandanten Informationen über den Inhalt dieser Kommunikation zu teilen (Urteil Orde van Vlaamse Balies u. a., Rn. 39 und 40).
72 Im vorliegenden Fall führt § 177 AO, indem er, wie die Generalanwältin in Nr. 50 ihrer Schlussanträge ausgeführt hat, den Inhalt der anwaltlichen Beratung in Steuerangelegenheiten, d. h. die Gesamtheit eines Rechtsgebiets, in dem Rechtsanwälte ihre Mandanten beraten können, quasi vollständig von dem verstärkten Schutz ausnimmt, den das Berufsgeheimnis des Rechtsanwalts nach Art. 7 der Charta genießen muss, dazu, diesen Schutz in diesem Rechtsgebiet in seiner Substanz auszuhöhlen. Da die streitige Anordnung davon auszugehen scheint, dass die Nichteinwendbarkeit des Berufsgeheimnisses des Rechtsanwalts gemäß § 177 AO die Steuerbehörde berechtigt, die gesamte von der Gesellschaft F geführte Akte anzufordern, darunter insbesondere die Einzelheiten über den Inhalt der gesamten Kommunikationen zwischen der Gesellschaft F und ihrem Mandanten, auch wenn die von der Gesellschaft F geleistete Beratung, die sich auf die Einrichtung bestimmter gesellschaftsrechtlicher Investitionsstrukturen bezog, nach deren Angaben nicht den Steuerbereich betraf, wird damit der Eingriff in die Substanz des durch Art. 7 der Charta geschützten Rechts weiter verstärkt.
73 Unter diesen Umständen ist festzustellen, dass eine nationale Bestimmung wie § 177 AO sowie deren Anwendung durch die streitige Anordnung im vorliegenden Fall keineswegs auf Ausnahmesituationen beschränkt sind, sondern allein schon aufgrund des Umfangs der Einschränkung des Berufsgeheimnisses des Rechtsanwalts, die sie in Bezug auf die Kommunikation zwischen Rechtsanwalt und Mandant zulassen, den Wesensgehalt des in Art. 7 der Charta garantierten Rechts beeinträchtigen.
74 Aus allen vorstehenden Erwägungen ergibt sich, dass eine Anordnung wie die streitige Anordnung, die sich auf eine nationale Regelung wie § 177 Abs. 2 AO stützt, eine Beeinträchtigung des Wesensgehalts des Rechts auf Achtung der Kommunikation zwischen Rechtsanwalt und Mandant beinhaltet und damit einen Eingriff darstellt, der nicht gerechtfertigt werden kann.
75 Auf der Grundlage der vorstehenden Erwägungen ist auf die fünfte und die sechste Frage zu antworten, dass Art. 7 und Art. 52 Abs. 1 der Charta dahin auszulegen sind, dass sie einer Anordnungsentscheidung, wie sie in Rn. 52 des vorliegenden Urteils beschrieben worden ist, entgegenstehen, die auf eine nationale Regelung gestützt ist, nach der die Beratung und Vertretung durch einen Rechtsanwalt in Steuerangelegenheiten außer bei Gefahr einer strafrechtlichen Verfolgung des Mandanten nicht in den Genuss des durch diesen Art. 7 gewährleisteten verstärkten Schutzes der Kommunikation zwischen Rechtsanwalt und Mandant kommt.
Kosten
76 Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Zweite Kammer) für Recht erkannt:
1. Art. 7 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union
ist dahin auszulegen, dass
eine anwaltliche Rechtsberatung auf dem Gebiet des Gesellschaftsrechts in den Bereich des durch diesen Artikel gewährleisteten verstärkten Schutzes des Austauschs zwischen Rechtsanwalt und Mandanten fällt, so dass eine Entscheidung, mit der ein Rechtsanwalt angewiesen wird, der Verwaltung des ersuchten Mitgliedstaats zum Zweck eines in der Richtlinie 2011/16/EU des Rates vom 15. Februar 2011 über die Zusammenarbeit der Verwaltungsbehörden im Bereich der Besteuerung und zur Aufhebung der Richtlinie 77/799/EWG vorgesehenen Informationsaustauschs auf Ersuchen sämtliche Unterlagen und Informationen über seine Beziehungen zu seinem Mandanten, die eine solche Rechtsberatung betreffen, vorzulegen, einen Eingriff in das durch diesen Artikel garantierte Recht auf Achtung der Kommunikation zwischen Rechtsanwalt und Mandanten darstellt.
2. Die Prüfung der Aspekte, auf die sich die dritte und die vierte Frage beziehen, hat nichts ergeben, was die Gültigkeit der Richtlinie 2011/16 im Hinblick auf Art. 7 und Art. 52 der Charta der Grundrechte beeinträchtigen könnte.
3. Art. 7 und Art. 52 Abs. 1 der Charta der Grundrechte sind dahin auszulegen, dass sie einer Anordnungsentscheidung, wie sie in Nr. 1 des vorliegenden Tenors beschrieben ist, entgegenstehen, die auf eine nationale Regelung gestützt ist, nach der die Beratung und Vertretung durch einen Rechtsanwalt in Steuerangelegenheiten außer bei Gefahr einer strafrechtlichen Verfolgung des Mandanten nicht in den Genuss des durch diesen Art. 7 gewährleisteten verstärkten Schutzes der Kommunikation zwischen Rechtsanwalt und Mandant kommt.
Unterschriften
(*1) Verfahrenssprache: Französisch.
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Urteil des Gerichtshofs (Große Kammer) vom 29. Juli 2024.#MA.#Vorabentscheidungsersuchen des Supreme Court (Irland).#Vorlage zur Vorabentscheidung – Abkommen über Handel und Zusammenarbeit zwischen der Europäischen Union und der Europäischen Atomgemeinschaft einerseits und dem Vereinigten Königreich Großbritannien und Nordirland andererseits – Übergabe einer Person an das Vereinigte Königreich zur Strafverfolgung – Zuständigkeit der vollstreckenden Justizbehörde – Gefahr der Verletzung eines Grundrechts – Art. 49 Abs. 1 und Art. 52 Abs. 3 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Grundsatz der Gesetzmäßigkeit im Zusammenhang mit Straftaten und Strafen – Für den Betroffenen nachteilige Änderung der für die vorzeitige Haftentlassung unter Auflagen geltenden Regelung.#Rechtssache C-202/24.
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62024CJ0202
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ECLI:EU:C:2024:649
| 2024-07-29T00:00:00 |
Szpunar, Gerichtshof
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Sammlung der Rechtsprechung – allgemein – Abschnitt „Informationen über nicht veröffentlichte Entscheidungen“
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62024CJ0202
URTEIL DES GERICHTSHOFS (Große Kammer)
29. Juli 2024 (*1)
„Vorlage zur Vorabentscheidung – Abkommen über Handel und Zusammenarbeit zwischen der Europäischen Union und der Europäischen Atomgemeinschaft einerseits und dem Vereinigten Königreich Großbritannien und Nordirland andererseits – Übergabe einer Person an das Vereinigte Königreich zur Strafverfolgung – Zuständigkeit der vollstreckenden Justizbehörde – Gefahr der Verletzung eines Grundrechts – Art. 49 Abs. 1 und Art. 52 Abs. 3 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Grundsatz der Gesetzmäßigkeit im Zusammenhang mit Straftaten und Strafen – Für den Betroffenen nachteilige Änderung der für die vorzeitige Haftentlassung unter Auflagen geltenden Regelung“
In der Rechtssache C‑202/24 [Alchaster] (i
)
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Supreme Court (Oberstes Gericht, Irland) mit Entscheidung vom 7. März 2024, beim Gerichtshof eingegangen am 14. März 2024, in dem Verfahren wegen der Vollstreckung von Haftbefehlen gegen
MA,
Beteiligter:
Minister for Justice and Equality,
erlässt
DER GERICHTSHOF (Große Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten K. Lenaerts, des Vizepräsidenten L. Bay Larsen (Berichterstatter), der Kammerpräsidentin K. Jürimäe, der Kammerpräsidenten C. Lycourgos, E. Regan, T. von Danwitz, F. Biltgen und Z. Csehi, der Richter S. Rodin, A. Kumin und N. Jääskinen, der Richterin M. L. Arastey Sahún und des Richters M. Gavalec,
Generalanwalt: M. Szpunar,
Kanzler: A. Lamote, Verwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 4. Juni 2024,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
–
des Minister for Justice and Equality, Irland, vertreten durch M. Browne, Chief State Solicitor, D. Curley, S. Finnegan und A. Joyce als Bevollmächtigte im Beistand von J. Fitzgerald, SC, und A. Hanrahan, BL,
–
von MA, vertreten durch S. Brittain, BL, M. Lynam, SC, C. Mulholland, Solicitor, und R. Munro, SC,
–
der ungarischem Regierung, vertreten durch Z. Biró-Tóth und M. Z. Fehér als Bevollmächtigte,
–
der Regierung des Vereinigten Königreichs, vertreten durch S. Fuller als Bevollmächtigten im Beistand von V. Ailes, J. Pobjoy, Barristers, und J. Eadie, KC,
–
der Europäischen Kommission, vertreten durch H. Leupold, F. Ronkes Agerbeek und J. Vondung als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 27. Juni 2024
folgendes
Urteil
1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung des Abkommens über Handel und Zusammenarbeit zwischen der Europäischen Union und der Europäischen Atomgemeinschaft einerseits und dem Vereinigten Königreich Großbritannien und Nordirland andererseits (ABl. 2021, L 149, S. 10; im Folgenden: AHZ) in Verbindung mit Art. 49 Abs. 1 und Art. 52 Abs. 3 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta).
2 Es ergeht im Rahmen der Vollstreckung von vier Haftbefehlen in Irland, die Gerichte des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland gegen MA zum Zweck der Strafverfolgung erlassen haben.
Rechtlicher Rahmen
Europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten
3 Art. 7 Abs. 1 der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (im Folgenden: EMRK) lautet:
„Niemand darf wegen einer Handlung oder Unterlassung verurteilt werden, die zur Zeit ihrer Begehung nach innerstaatlichem oder internationalem Recht nicht strafbar war. Es darf auch keine schwerere als die zur Zeit der Begehung angedrohte Strafe verhängt werden.“
Unionsrecht
Rahmenbeschluss 2002/584/JI
4 Der sechste Erwägungsgrund des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten (ABl. 2002, L 190, S. 1) lautet:
„Der Europäische Haftbefehl im Sinne des vorliegenden Rahmenbeschlusses stellt im strafrechtlichen Bereich die erste konkrete Verwirklichung des vom Europäischen Rat als ‚Eckstein‘ der justiziellen Zusammenarbeit qualifizierten Prinzips der gegenseitigen Anerkennung dar.“
5 Art. 1 Abs. 1 dieses Rahmenbeschlusses bestimmt:
„Bei dem Europäischen Haftbefehl handelt es sich um eine justizielle Entscheidung, die in einem Mitgliedstaat ergangen ist und die Festnahme und Übergabe einer gesuchten Person durch einen anderen Mitgliedstaat zur Strafverfolgung oder zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe oder einer freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung bezweckt.“
Abkommen über den Austritt des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland aus der Europäischen Union und der Europäischen Atomgemeinschaft
6 Art. 126 des Abkommens über den Austritt des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland aus der Europäischen Union und der Europäischen Atomgemeinschaft (ABl. 2020, L 29, S. 7) bestimmt:
„Es gibt einen Übergangs- oder Durchführungszeitraum, der am Tag des Inkrafttretens dieses Abkommens beginnt und am 31. Dezember 2020 endet.“
Das AHZ
7 Der 23. Erwägungsgrund des AHZ lautet:
„IN DER ERWÄGUNG, dass die Zusammenarbeit zwischen dem Vereinigten Königreich und der [Europäischen] Union bei der Verhütung, Ermittlung, Aufdeckung oder Verfolgung von Straftaten und der Vollstreckung strafrechtlicher Sanktionen, einschließlich des Schutzes vor und der Abwehr von Gefahren für die öffentliche Sicherheit, eine Stärkung der Sicherheit des Vereinigten Königreichs und der Union ermöglichen wird.“
8 Art. 1 AHZ bestimmt:
„Mit diesem Abkommen wird die Grundlage für umfassende Beziehungen zwischen den Vertragsparteien in einem Raum des Wohlstands und der guten Nachbarschaft geschaffen, der sich durch enge, friedliche Beziehungen auf der Grundlage der Zusammenarbeit auszeichnet und die Autonomie und Souveränität der Vertragsparteien wahrt.“
9 In Art. 3 Abs. 1 AHZ heißt es:
„Die Vertragsparteien unterstützen sich gegenseitig in vollem gegenseitigem Respekt und nach Treu und Glauben bei der Erfüllung der Aufgaben, die sich aus diesem Abkommen und jedwedem Zusatzabkommen ergeben.“
10 Art. 522 Abs. 1 AHZ bestimmt:
„Ziel dieses Teils ist es, eine Zusammenarbeit im Bereich der Polizei und der Justiz in strafrechtlichen Angelegenheiten zwischen den Mitgliedstaaten und den Organen, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union einerseits und dem Vereinigten Königreich andererseits zur Verhütung, Ermittlung, Aufdeckung und Verfolgung von Straftaten sowie zur Verhütung und Bekämpfung von Geldwäsche und Terrorismusfinanzierung vorzusehen.“
11 Art. 524 AHZ sieht vor:
„(1) Die in diesem Teil vorgesehene Zusammenarbeit beruht auf der langjährigen Achtung der Vertragsparteien und der Mitgliedstaaten der Demokratie, der Rechtsstaatlichkeit und des Schutzes der Grundrechte und ‑freiheiten des Einzelnen, wie sie unter anderem in der [von der Generalversammlung der Vereinten Nationen am 10. Dezember 1948 verkündeten] Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte und in der [EMRK] niedergelegt sind, sowie auf der Bedeutung der internen Umsetzung der in dieser Konvention verankerten Rechte und Freiheiten.
(2) Dieser Teil ändert nichts an der Verpflichtung zur Achtung der Grundrechte und Rechtsgrundsätze, wie sie insbesondere in der [EMRK] und – im Falle der [Europäischen] Union und ihrer Mitgliedstaaten – in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union zum Ausdruck kommen.“
12 Art. 596 AHZ bestimmt:
„Ziel dieses Titels ist es, sicherzustellen, dass das Auslieferungssystem zwischen den Mitgliedstaaten einerseits und dem Vereinigten Königreich andererseits auf dem Mechanismus der Übergabe infolge eines Haftbefehls gemäß den Bestimmungen dieses Titels basiert.“
13 In Art. 599 Abs. 3 AHZ heißt es:
„Vorbehaltlich des Artikels 600, des Artikels 601 Absatz 1 Buchstaben b bis h und der Artikel 602, 603 und 604 darf ein Staat nicht die Vollstreckung eines Haftbefehls verweigern, der im Zusammenhang mit dem nachstehend aufgeführten Verhalten ausgestellt wurde, sofern dieses mit einer Freiheitsstrafe oder einer freiheitsentziehenden Maßregel der Besserung und Sicherung im Höchstmaß von mindestens zwölf Monaten bedroht ist:
a)
Verhalten jeder Person, die dazu beiträgt, dass eine Gruppe von Personen mit gleichem Ziel eine oder mehrere Straftat(en) im Bereich Terrorismus begeht, die in den Artikeln 1 und 2 des am 27. Januar 1977 in Straßburg geschlossenen Europäischen Übereinkommens zur Bekämpfung des Terrorismus genannt sind, … oder
b)
Terrorismus gemäß der Definition in Anhang 45.“
14 In den Art. 600 und 601 AHZ sind die Gründe, aus denen die Vollstreckung des Haftbefehls abzulehnen ist, bzw. andere Gründe für eine Ablehnung der Vollstreckung des Haftbefehls aufgeführt.
15 Art. 602 Abs. 1 und 2 AHZ sieht vor:
„(1) Die Vollstreckung eines Haftbefehls darf nicht mit der Begründung verweigert werden, dass eine strafbare Handlung vom Vollstreckungsstaat als politische Straftat, als eine mit einer solchen zusammenhängenden Straftat oder als eine auf politischen Beweggründen beruhende Straftat angesehen wird.
(2) Das Vereinigte Königreich und die Europäische Union im Namen eines ihrer Mitgliedstaaten können jedoch jeweils dem Sonderausschuss für die polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit notifizieren, dass Absatz 1 nur in Bezug auf Folgendes angewandt wird:
a)
strafbare Handlungen nach den Artikeln 1 und 2 des Europäischen Übereinkommens zur Bekämpfung des Terrorismus,
b)
Straftaten der Verschwörung oder der Vereinigung zur Begehung einer oder mehrerer der in den Artikeln 1 und 2 des Europäischen Übereinkommens zur Bekämpfung des Terrorismus genannten Straftaten, wenn diese Straftaten der Beschreibung des Verhaltens nach Artikel 599 Absatz 3 dieses Abkommens entsprechen, und
c)
Terrorismus im Sinne des Anhangs 45 dieses Abkommens.“
16 Art. 603 Abs. 1 und 2 AHZ lautet:
„(1) Die Vollstreckung eines Haftbefehls darf nicht mit der Begründung abgelehnt werden, dass die gesuchte Person Staatsangehöriger des Vollstreckungsstaats ist.
(2) Das Vereinigte Königreich und die Europäische Union im Namen eines ihrer Mitgliedstaaten können jeweils dem Sonderausschuss für die polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit notifizieren, dass die jeweils eigenen Staatsangehörigen nicht übergeben werden oder dass die Übergabe der jeweils eigenen Staatsangehörigen nur unter bestimmten angegebenen Bedingungen genehmigt wird. Diese Notifikation ist mit fundamentalen Grundsätzen oder der Praxis der innerstaatlichen Rechtsordnung im Vereinigten Königreich oder in dem Staat, in dessen Namen die Notifikation gemacht wurde, zu begründen. In diesem Fall kann die Union im Namen eines ihrer Mitgliedstaaten bzw. das Vereinigte Königreich innerhalb einer angemessenen Frist nach Eingang der Notifikation der anderen Vertragspartei, dass die vollstreckenden Justizbehörden des Mitgliedstaats bzw. des Vereinigten Königreichs die Übergabe ihrer Staatsangehörigen an diesen Staat verweigern können, oder die Übergabe nur unter bestimmten genau festgelegten Bedingungen genehmigt werden, den Sonderausschuss für die polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit notifizieren.“
17 Art. 604 Buchst. c AHZ bestimmt:
„Die Vollstreckung des Haftbefehls durch die vollstreckende Justizbehörde kann an folgende Bedingungen geknüpft werden:
…
c)
Liegen stichhaltige Gründe für die Annahme vor, dass eine tatsächliche Gefahr für den Schutz der Grundrechte der gesuchten Person besteht, kann die vollstreckende Justizbehörde gegebenenfalls zusätzliche Garantien für die Behandlung der gesuchten Person nach der Übergabe verlangen, bevor sie über die Vollstreckung des Haftbefehls entscheidet.“
18 In Art. 613 Abs. 2 AHZ heißt es:
„Ist die vollstreckende Justizbehörde der Ansicht, dass die vom Ausstellungsstaat übermittelten Informationen nicht ausreichen, um über die Übergabe entscheiden zu können, so bittet sie um die unverzügliche Übermittlung der notwendigen zusätzlichen Informationen insbesondere hinsichtlich des Artikels 597, der Artikel 600 bis 602 sowie der Artikel 604 und 606; sie kann … eine Frist für den Erhalt dieser zusätzlichen Informationen festsetzen.“
Ausgangsverfahren und Vorlagefrage
19 Der District Judge (Bezirksrichter) der Magistrates’ Courts of Northern Ireland (erstinstanzliches Gericht für Strafsachen, Nordirland, Vereinigtes Königreich) erließ vier Haftbefehle gegen MA wegen terroristischer Straftaten, die zwischen dem 18. und dem 20. Juli 2020 begangen worden sein sollen und von denen einige mit lebenslanger Freiheitsstrafe bedroht sind.
20 Mit Urteil vom 24. Oktober 2022 und Beschlüssen vom selben Tag und vom 7. November 2022 ordnete der High Court (Hohes Gericht, Irland) die Übergabe von MA an das Vereinigte Königreich an und lehnte zugleich die Zulassung eines Rechtsmittels zum Court of Appeal (Berufungsgericht, Irland) ab.
21 Mit Entscheidung vom 17. Januar 2023 ließ der Supreme Court (Oberstes Gericht, Irland), das vorlegende Gericht, ein Rechtsmittel von MA gegen das Urteil und die Beschlüsse des High Court (Hohes Gericht) zu.
22 MA macht vor dem vorlegenden Gericht geltend, dass seine Übergabe an das Vereinigte Königreich mit dem Grundsatz der Gesetzmäßigkeit im Zusammenhang mit Straftaten und Strafen unvereinbar sei.
23 Das vorlegende Gericht weist insoweit darauf hin, dass das AHZ einen Übergabemechanismus zwischen dem Vereinigten Königreich und den Mitgliedstaaten vorsehe. Da dieser Mechanismus mit dem Mechanismus, der durch den Rahmenbeschluss 2002/584 sowie die den Rahmenbeschluss und das AHZ umsetzenden irischen Rechtsvorschriften eingerichtet wurde, übereinstimme, sei das Vereinigte Königreich nach diesen irischen Rechtsvorschriften und dem Rahmenbeschluss so zu behandeln, als wäre es ein Mitgliedstaat.
24 Würde MA an das Vereinigte Königreich übergeben und zu einer Freiheitsstrafe verurteilt, würde sich eine etwaige vorzeitige Haftentlassung unter Auflagen nach Rechtsvorschriften des Vereinigten Königreichs richten, die nach Begehung der mutmaßlichen Straftaten, derentwegen er strafrechtlich verfolgt werde, erlassen worden seien.
25 Die Regelung, nach der eine vorzeitige Haftentlassung unter Auflagen in Nordirland (Vereinigtes Königreich) zulässig sei, sei nämlich mit Wirkung vom 30. April 2021 geändert worden. Vor dieser Änderung habe für eine wegen bestimmter Straftaten im Zusammenhang mit dem Terrorismus verurteilte Person nach Verbüßung der Hälfte ihrer Strafe automatisch die Möglichkeit einer vorzeitigen Haftentlassung unter Auflagen bestanden. Nach der ab dem genannten Zeitpunkt geltenden Regelung bedürfe eine solche vorzeitige Haftentlassung unter Auflagen der Genehmigung durch eine spezielle Behörde und sei erst möglich, nachdem die betreffende Person zwei Drittel ihrer Strafe verbüßt habe.
26 Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte habe die Auffassung zurückgewiesen, dass rückwirkende Änderungen von Regelungen über einen Straferlass oder eine vorzeitige Entlassung einen Verstoß gegen Art. 7 EMRK darstellten. In seinem Urteil vom 21. Oktober 2013, Del Río Prada/Spanien (CE:ECHR:2013:1021JUD004275009), habe er jedoch darauf hingewiesen, dass während der Vollstreckung einer Strafe getroffene Maßnahmen Auswirkungen auf ihren Umfang haben könnten. Es sei daher für die Entscheidung über den Ausgangsrechtsstreit von wesentlicher Bedeutung, zu bestimmen, ob dieses Urteil eine Abkehr von der früheren Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte darstelle.
27 Mit Urteil vom 19. April 2023 habe der Supreme Court of the United Kingdom (Oberstes Gericht des Vereinigten Königreichs) entschieden, dass die Anwendung der neuen für die Haftentlassung unter Auflagen geltenden Regelung ab dem 30. April 2021 auf vor ihrem Inkrafttreten begangene Straftaten mit Art. 7 EMRK insoweit nicht unvereinbar sei, als die Regelung lediglich die Art und Weise ändere, wie die Freiheitsstrafen der Betroffenen zu vollstrecken seien, ohne die Dauer der Strafen zu verlängern.
28 In diesem Zusammenhang hat das vorlegende Gericht das Vorbringen von MA, wonach die Gefahr eines Verstoßes gegen Art. 7 EMRK bestehe, unter Hinweis insbesondere darauf zurückgewiesen, dass im Justizsystem des Vereinigten Königreichs Garantien in Bezug auf die Anwendung der EMRK bestünden, dass MA keine systemischen Mängel dargetan habe, die vermuten ließen, dass es im Fall seiner Übergabe zu einem wahrscheinlichen und eklatanten Verstoß gegen die durch die EMRK garantierten Rechte käme, und dass ihm die Möglichkeit offenstehe, eine Beschwerde beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte einzulegen.
29 Das vorlegende Gericht hält jedoch für klärungsbedürftig, ob dies entsprechend auch für die Gefahr eines Verstoßes gegen Art. 49 Abs. 1 der Charta angenommen werden könne.
30 In dieser Hinsicht müsse, soweit Art. 49 Abs. 1 der Charta Art. 7 Abs. 1 EMRK entspreche, beiden Bestimmungen nach Art. 52 Abs. 3 der Charta grundsätzlich die gleiche Tragweite zugemessen werden. Möglicherweise könne daher ohne weitere Prüfung auf die für Art. 7 Abs. 1 EMRK angeführte Begründung verwiesen werden.
31 Der Gerichtshof habe jedoch zu den Auswirkungen von Art. 49 der Charta in Bezug auf eine Änderung der nationalen Bestimmungen über die vorzeitige Haftentlassung unter Auflagen noch nicht Stellung genommen.
32 Da ferner der Vollstreckungsstaat zur Übergabe der gesuchten Person verpflichtet sei, müsse geprüft werden, ob dieser Staat für die Entscheidung über das Vorbringen einer Unvereinbarkeit von Art. 49 Abs. 1 der Charta mit Bestimmungen über Strafen, die im Ausstellungsstaat verhängt werden könnten, zuständig sei, und zwar unter Berücksichtigung dessen, dass der Ausstellungsstaat nicht zur Einhaltung der Charta verpflichtet sei und der Gerichtshof hohe Anforderungen an die Berücksichtigung der Gefahr eines Verstoßes gegen Grundrechte im Ausstellungsmitgliedstaat gestellt habe.
33 Das vorlegende Gericht hält es daher für erforderlich, den Gerichtshof nach den Kriterien zu befragen, nach denen die vollstreckende Justizbehörde zu prüfen hat, ob die Gefahr eines Verstoßes gegen den Grundsatz der Gesetzmäßigkeit im Zusammenhang mit Strafen besteht, wenn der Übergabe weder die nationale Verfassung noch die EMRK entgegensteht.
34 Vor diesem Hintergrund hat der Supreme Court (Oberstes Gericht) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof die folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:
Im Hinblick auf die Beantragung einer Übergabe von Personen im Zusammenhang mit der Verfolgung terroristischer Straftaten nach dem AHZ und in Bezug auf das Bemühen des Betroffenen, der Übergabe mit der Begründung zu widersprechen, es handele sich dabei um einen Verstoß gegen Art. 7 EMRK und Art. 49 Abs. 1 der Charta, da nach dem Zeitpunkt der mutmaßlichen Straftat, in Bezug auf die die Übergabe des Betroffenen verlangt werde, ein Rechtsetzungsakt erlassen worden sei, mit dem sowohl in Bezug auf den Teil der Strafe, der in Form von Haft zu verbüßen sei, als auch hinsichtlich der Bedingungen für eine vorzeitige Haftentlassung unter Auflagen Änderungen vorgenommen worden seien, und im Hinblick auf folgende Erwägungen:
(i)
Der ersuchende Staat (hier das Vereinigte Königreich) ist Vertragspartei der EMRK und hat die Konvention in sein nationales Recht umgesetzt;
(ii)
die Anwendung der fraglichen Maßnahmen auf Häftlinge, die bereits eine von einem Gericht verhängte Strafe verbüßen, wurde von den Gerichten des Vereinigten Königreichs für mit der EMRK vereinbar erklärt;
(iii)
es steht jeder Person, so auch dem Betroffenen, im Fall einer Übergabe, frei, den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte anzurufen;
(iv)
es bestehen keine Anhaltspunkte dafür, dass eine Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom ersuchenden Staat nicht umgesetzt würde;
(v)
der Supreme Court (Oberstes Gericht) ist daher überzeugt, dass nicht erwiesen ist, dass eine Übergabe die konkrete Gefahr eines Verstoßes gegen Art. 7 EMRK oder gegen die nationale Verfassung birgt;
(vi)
es wird nicht behauptet, dass Art. 19 der Charta einer Übergabe entgegenstehe;
(vii)
Art. 49 der Charta gilt nicht für das Verfahren, das zur Verurteilung oder Bestrafung führt;
(viii)
Gründe für die Annahme, es bestehe ein nennenswerter Unterschied in der Anwendung von Art. 7 EMRK und Art. 49 der Charta, wurden nicht vorgetragen.
Ist ein Gericht, dessen Entscheidungen nicht mehr im Sinne von Art. 267 Abs. 3 AEUV angefochten werden können, unter Berücksichtigung von Art. 52 Abs. 3 der Charta und der Verpflichtung zum gegenseitigen Vertrauen zwischen den Mitgliedstaaten und denjenigen, die nach dem AHZ verpflichtet sind, eine Übergabe nach den Bestimmungen zum Europäischen Haftbefehl zu bewirken, zu der Schlussfolgerung berechtigt, dass die gesuchte Person nicht nachgewiesen hat, dass ihre Übergabe die konkrete Gefahr eines Verstoßes gegen Art. 49 Abs. 1 der Charta birgt, oder ist ein solches Gericht verpflichtet, weitere Untersuchungen anzustellen, und, falls ja, welcher Art und in welchem Umfang?
Verfahren vor dem Gerichtshof
35 Mit Beschluss vom 22. April 2024, Alchaster (C‑202/24, EU:C:2024:343), hat der Präsident des Gerichtshofs entschieden, das in Art. 105 Abs. 1 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs vorgesehene beschleunigte Vorabentscheidungsverfahren einzuleiten.
Zur Vorlagefrage
36 Da sich das nationale Gericht sowohl in den Gründen der Vorlageentscheidung als auch in der Vorlagefrage auf den Rahmenbeschluss 2002/584 bezieht, ist vorab, wie der Generalanwalt in Nr. 33 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, darauf hinzuweisen, dass der Rahmenbeschluss nach seinem Art. 1 Abs. 1 nur für die Vollstreckung von Europäischen Haftbefehlen gilt, die von Mitgliedstaaten erlassen wurden. Daraus folgt, dass er keine Anwendung auf die Vollstreckung von Haftbefehlen wie den im Ausgangsverfahren fraglichen findet, die vom Vereinigten Königreich nach Ablauf des Übergangszeitraums erlassen wurden, der gemäß Art. 126 des Abkommens über den Austritt des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland aus der Europäischen Union und der Europäischen Atomgemeinschaft am 31. Dezember 2020 endete.
37 Es ist somit davon auszugehen, dass das vorlegende Gericht mit seiner Frage im Wesentlichen wissen möchte, ob das AHZ in Verbindung mit Art. 49 Abs. 1 der Charta dahin auszulegen ist, dass eine vollstreckende Justizbehörde in dem Fall, dass eine Person, gegen die auf der Grundlage dieses Abkommens ein Haftbefehl erlassen wurde, geltend macht, dass bei einer Übergabe an das Vereinigte Königreich wegen einer für sie ungünstigen und nach der mutmaßlichen Begehung der in Rede stehenden Straftat erfolgten Änderung der Voraussetzungen für eine vorzeitige Haftentlassung unter Auflagen die Gefahr eines Verstoßes gegen Art. 49 Abs. 1 der Charta bestehe, prüfen muss, ob eine solche Gefahr besteht, bevor sie über die Vollstreckung dieses Haftbefehls entscheidet, und zwar auch dann, wenn sie die Gefahr eines Verstoßes gegen Art. 7 EMRK unter Verweis auf die Garantien, die das Vereinigte Königreich im Allgemeinen in Bezug auf die Einhaltung der EMRK bietet, und auf die Möglichkeit der betroffenen Person, eine Beschwerde beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte einzulegen, bereits verneint hat.
38 Der Gerichtshof ist, auch wenn das vorlegende Gericht in seiner Frage nicht ausdrücklich auf eine bestimmte Vorschrift des AHZ Bezug genommen hat, dadurch nicht daran gehindert, dem vorlegenden Gericht alle Hinweise zur Auslegung des Unionsrechts zu geben, die ihm bei der Entscheidung der bei ihm anhängigen Rechtssache von Nutzen sein können, und zwar unabhängig davon, ob es diese Punkte in seiner Frage ausdrücklich angesprochen hat oder nicht (vgl. entsprechend Urteil vom 18. April 2023, E. D. L. [Ablehnung aus gesundheitlichen Gründen], C‑699/21, EU:C:2023:295, Rn. 29).
39 Nach Art. 1 AHZ wird mit diesem Abkommen die Grundlage für umfassende Beziehungen zwischen der Union und dem Vereinigten Königreich in einem Raum des Wohlstands und der guten Nachbarschaft geschaffen, der sich durch enge, friedliche Beziehungen auf der Grundlage der Zusammenarbeit auszeichnet und die Autonomie und Souveränität der Vertragsparteien wahrt.
40 Dementsprechend hat das AHZ, wie sich aus seinem 23. Erwägungsgrund ergibt, u. a. zum Ziel, die Sicherheit des Vereinigten Königreichs und der Union zu stärken, indem es die Zusammenarbeit bei der Verhütung, Ermittlung, Aufdeckung oder Verfolgung von Straftaten und der Vollstreckung strafrechtlicher Sanktionen, einschließlich des Schutzes vor und der Abwehr von Gefahren für die öffentliche Sicherheit, ermöglicht.
41 Dieses spezifische Ziel, das Teil des allgemeinen in Art. 1 AHZ festgelegten Ziels ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 16. November 2021, Governor of Cloverhill Prison u. a.,C‑479/21 PPU, EU:C:2021:929, Rn. 67), wird gemäß Art. 522 Abs. 1 AHZ in Teil Drei des Abkommens umgesetzt.
42 In Bezug auf die allgemeinen Voraussetzungen für die Anwendung von Teil Drei bestimmt Art. 524 Abs. 1 AHZ, dass die in Teil Drei vorgesehene Zusammenarbeit auf der langjährigen Achtung der Union, des Vereinigten Königreichs und der Mitgliedstaaten der Demokratie, der Rechtsstaatlichkeit und des Schutzes der Grundrechte und ‑freiheiten des Einzelnen, wie sie u. a. in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte und in der EMRK niedergelegt sind, sowie auf der Bedeutung der internen Umsetzung der in der EMRK verankerten Rechte und Freiheiten beruht.
43 Im Hinblick auf diese Zusammenarbeit ist es nach Art. 596 AHZ Ziel von Teil Drei Titel VII, sicherzustellen, dass das Auslieferungssystem zwischen den Mitgliedstaaten einerseits und dem Vereinigten Königreich andererseits auf dem Mechanismus der Übergabe infolge eines Haftbefehls gemäß den Bestimmungen dieses Titels basiert.
44 In den Art. 600 und 601 AHZ sind die Gründe aufgeführt, aus denen die Vollstreckung eines auf Grundlage dieses Abkommens erlassenen Haftbefehls abgelehnt werden muss oder kann.
45 Ferner enthalten die Art. 602 und 603 AHZ Bestimmungen zur Ausnahme politischer Straftaten bzw. zur Ausnahme eigener Staatsangehöriger, während in Art. 604 AHZ die vom Ausstellungsstaat in bestimmten Fällen zu gewährenden Garantien geregelt sind.
46 Zwar sieht keine Bestimmung des AHZ ausdrücklich vor, dass die Mitgliedstaaten verpflichtet sind, einem vom Vereinigten Königreich auf der Grundlage dieses Abkommens erlassenen Haftbefehl Folge zu leisten, doch ergibt sich aus dem Aufbau von Teil Drei Titel VII des Abkommens und insbesondere aus dem Zweck der Art. 600 bis 604 AHZ, dass ein Mitgliedstaat, wie der Generalanwalt in Nr. 69 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, die Vollstreckung eines solchen Haftbefehls nur aus Gründen ablehnen kann, die sich aus dem AHZ ergeben (vgl. entsprechend Urteil vom 14. September 2023, Sofiyska gradska prokuratura [Aufeinanderfolgende Haftbefehle], C‑71/21, EU:C:2023:668, Rn. 48).
47 Was insbesondere eine Situation wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende anbelangt, so sieht Art. 599 Abs. 3 AHZ im Übrigen ausdrücklich vor, dass ein Staat vorbehaltlich des Art. 600, Art. 601 Abs. 1 Buchst. b bis h und der Art. 602 bis 604 AHZ nicht die Vollstreckung eines Haftbefehls verweigern darf, der u. a. im Zusammenhang mit Terrorismus ausgestellt wurde, sofern die betreffenden Straftaten mit einer Freiheitsstrafe oder einer freiheitsentziehenden Maßregel der Besserung und Sicherung im Höchstmaß von mindestens zwölf Monaten bedroht sind.
48 Zwar ergibt sich aus dem Vorstehenden, dass eine vollstreckende Justizbehörde grundsätzlich verpflichtet ist, einen Haftbefehl wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden zu vollstrecken, doch ändern nach Art. 524 Abs. 2 AHZ die Bestimmungen von Teil Drei dieses Abkommens nichts an der Verpflichtung zur Achtung der Grundrechte und Rechtsgrundsätze, wie sie insbesondere in der EMRK und – im Fall der Union und ihrer Mitgliedstaaten – in der Charta zum Ausdruck kommen.
49 Die Mitgliedstaaten unterliegen der Verpflichtung zur Einhaltung der Charta, auf die in Art. 524 Abs. 2 AHZ hingewiesen wird, bei der Entscheidung über die Übergabe einer Person an das Vereinigte Königreich, weil die Entscheidung über eine solche Übergabe eine Durchführung des Rechts der Union im Sinne von Art. 51 Abs. 1 der Charta darstellt. Die vollstreckenden Justizbehörden der Mitgliedstaaten müssen daher, wenn sie diese Entscheidung erlassen, dafür Sorge tragen, dass die Grundrechte, die die Charta einer Person gewährt, gegen die sich ein auf der Grundlage des AHZ erlassener Haftbefehl richtet, gewahrt werden; dabei ist es unerheblich, dass die Charta für das Vereinigte Königreich nicht gilt (vgl. entsprechend Urteil vom 6. September 2016, Petruhhin,C‑182/15, EU:C:2016:630, Rn. 52 und 53).
50 Zu diesen Rechten gehören insbesondere die Rechte, die sich aus Art. 49 Abs. 1 der Charta ergeben, der u. a. vorsieht, dass keine schwerere Strafe als die zur Zeit der Begehung der betreffenden Straftat angedrohte Strafe verhängt werden darf.
51 Besteht die Gefahr einer Verletzung dieser Rechte, kann es der vollstreckenden Justizbehörde daher gestattet sein, nach einer angemessenen Prüfung davon abzusehen, einem auf der Grundlage des AHZ ausgestellten Haftbefehl Folge zu leisten (vgl. entsprechend Urteile vom 25. Juli 2018, Minister for Justice and Equality [Mängel des Justizsystems], C‑216/18 PPU, EU:C:2018:586, Rn. 59, vom 31. Januar 2023, Puig Gordi u. a., C‑158/21, EU:C:2023:57, Rn. 72, und vom 21. Dezember 2023, GN [Ablehnung aus Gründen des Kindeswohls], C‑261/22, EU:C:2023:1017, Rn. 43).
52 Hinsichtlich der Modalitäten einer solchen Prüfung ergibt sich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs zum Rahmenbeschluss 2002/584, dass die Frage, ob die Gefahr einer Verletzung der in den Art. 4, 7, 24 und 47 der Charta gewährleisteten Grundrechte besteht, im Verfahren zur Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls grundsätzlich im Rahmen einer Prüfung in zwei getrennten Schritten zu beurteilen ist, die sich nicht überschneiden dürfen, weil sie eine Analyse auf der Grundlage verschiedener Kriterien beinhalten, und daher nacheinander vorzunehmen sind (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 5. April 2016, Aranyosi und Căldăraru, C‑404/15 und C‑659/15 PPU, EU:C:2016:198, Rn. 89 bis 94, vom 25. Juli 2018, Minister for Justice and Equality [Mängel des Justizsystems], C‑216/18 PPU, EU:C:2018:586, Rn. 60, 61 und 68, vom 18. April 2023, E. D. L. [Ablehnung aus gesundheitlichen Gründen], C‑699/21, EU:C:2023:295, Rn. 55, und vom 21. Dezember 2023, GN [Ablehnung aus Gründen des Kindeswohls], C‑261/22, EU:C:2023:1017, Rn. 46 und die dort angeführte Rechtsprechung).
53 Zu diesem Zweck muss die vollstreckende Justizbehörde in einem ersten Schritt ermitteln, ob es objektive, zuverlässige, genaue und gebührend aktualisierte Angaben gibt, die nahelegen, dass im Ausstellungsmitgliedstaat aufgrund systemischer oder allgemeiner Mängel oder aufgrund von Mängeln, die speziell eine objektiv identifizierbare Personengruppe betreffen, eine echte Gefahr der Verletzung eines dieser Grundrechte besteht (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 5. April 2016, Aranyosi und Căldăraru, C‑404/15 und C‑659/15 PPU, EU:C:2016:198, Rn. 89, vom 31. Januar 2023, Puig Gordi u. a., C‑158/21, EU:C:2023:57, Rn. 102, und vom 21. Dezember 2023, GN [Ablehnung aus Gründen des Kindeswohls], C‑261/22, EU:C:2023:1017, Rn. 47).
54 In einem zweiten Schritt muss die vollstreckende Justizbehörde konkret und genau untersuchen, inwieweit sich die Mängel, die im ersten Schritt der in der vorstehenden Randnummer des vorliegenden Urteils genannten Prüfung festgestellt wurden, auf die Person auswirken können, gegen die ein Europäischer Haftbefehl ergangen ist, und ob es in Anbetracht ihrer persönlichen Situation ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme gibt, dass diese Person im Fall ihrer Übergabe an den Ausstellungsmitgliedstaat einer echten Gefahr der Verletzung dieser Grundrechte ausgesetzt wäre (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 5. April 2016, Aranyosi und Căldăraru, C‑404/15 und C‑659/15 PPU, EU:C:2016:198, Rn. 94, vom 31. Januar 2023, Puig Gordi u. a.,C‑158/21, EU:C:2023:57, Rn. 106, und vom 21. Dezember 2023, GN [Ablehnung aus Gründen des Kindeswohls], C‑261/22, EU:C:2023:1017, Rn. 48).
55 Allerdings kann das Erfordernis, eine solche zweistufige Prüfung durchzuführen, wie der Generalanwalt im Wesentlichen in Nr. 76 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, nicht auf die Beurteilung der Frage, ob die Gefahr eines Verstoßes gegen Art. 49 Abs. 1 der Charta besteht, im Verfahren zur Vollstreckung eines auf der Grundlage des AHZ erlassenen Haftbefehls übertragen werden.
56 Das durch den Rahmenbeschluss 2002/584 eingeführte vereinfachte und wirksame System der Übergabe von verurteilten oder verdächtigten Personen setzt ein hohes Maß an Vertrauen zwischen den Mitgliedstaaten voraus und beruht auf dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung, der, wie sich aus dem sechsten Erwägungsgrund dieses Rahmenbeschlusses ergibt, einen „Eckstein“ der justiziellen Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten im strafrechtlichen Bereich darstellt (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 25. Juli 2018, Minister for Justice and Equality [Mängel des Justizsystems], C‑216/18 PPU, EU:C:2018:586, Rn. 40 und 41, und vom 21. Dezember 2023, GN [Ablehnung aus Gründen des Kindeswohls], C‑261/22, EU:C:2023:1017, Rn. 35 und 36).
57 Der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens verlangt, namentlich in Bezug auf den Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, von jedem Mitgliedstaat, dass er, abgesehen von außergewöhnlichen Umständen, davon ausgeht, dass alle anderen Mitgliedstaaten das Unionsrecht und insbesondere die dort anerkannten Grundrechte beachten (vgl. in diesem Sinne Gutachten 2/13 [Beitritt der Europäischen Union zur EMRK] vom 18. Dezember 2014, EU:C:2014:2454, Rn. 191, und Urteil vom 31. Januar 2023, Puig Gordi u. a.,C‑158/21, EU:C:2023:57, Rn. 93).
58 Bei der Durchführung des Unionsrechts können die Mitgliedstaaten somit unionsrechtlich verpflichtet sein, die Beachtung der Grundrechte durch die übrigen Mitgliedstaaten zu unterstellen, so dass sie weder die Möglichkeit haben, von einem anderen Mitgliedstaat ein höheres nationales Schutzniveau der Grundrechte als das durch das Unionsrecht gewährleistete zu verlangen, noch – von Ausnahmefällen abgesehen – prüfen können, ob dieser andere Mitgliedstaat in einem konkreten Fall die durch die Union gewährleisteten Grundrechte tatsächlich beachtet hat (vgl. in diesem Sinne Gutachten 2/13 [Beitritt der Europäischen Union zur EMRK] vom 18. Dezember 2014, EU:C:2014:2454, Rn. 192, und Urteil vom 31. Januar 2023, Puig Gordi u. a.,C‑158/21, EU:C:2023:57, Rn. 94).
59 In diesem Zusammenhang dient die Verpflichtung, festzustellen, ob Mängel wie die in Rn. 53 des vorliegenden Urteils erwähnten bestehen, bevor konkret und genau geprüft werden kann, ob die Person, gegen die ein Europäischer Haftbefehl ergangen ist, einer echten Gefahr der Verletzung eines Grundrechts ausgesetzt ist, gerade dazu, zu verhindern, dass eine solche Prüfung nicht nur ausnahmsweise erfolgt, und beruht somit auf der sich aus dem Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens ergebenden Unterstellung, dass der Ausstellungsmitgliedstaat die Grundrechte beachtet (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 31. Januar 2023, Puig Gordi u. a., C‑158/21, EU:C:2023:57, Rn. 114 bis 116).
60 Die Einhaltung dieser Verpflichtung ermöglicht es insbesondere, die Aufteilung der Zuständigkeiten zwischen dem Ausstellungsmitgliedstaat und dem Vollstreckungsmitgliedstaat in Bezug auf die Wahrung der den Grundrechten innewohnenden Anforderungen sicherzustellen, die sich aus der vollen Anwendung der Grundsätze des gegenseitigen Vertrauens und der gegenseitigen Anerkennung ergibt, auf denen die Funktionsweise des Mechanismus des Europäischen Haftbefehls beruht (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 22. Februar 2022, Openbaar Ministerie [Im Ausstellungsmitgliedstaat durch Gesetz errichtetes Gericht], C‑562/21 PPU und C‑563/21 PPU, EU:C:2022:100, Rn. 46, vom 31. Januar 2023, Puig Gordi u. a.,C‑158/21, EU:C:2023:57, Rn. 72 und 96, und vom 21. Dezember 2023, GN [Ablehnung aus Gründen des Kindeswohls], C‑261/22, EU:C:2023:1017, Rn. 43).
61 Der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens prägt speziell die Beziehungen zwischen den Mitgliedstaaten.
62 Dieser Grundsatz beruht nämlich auf der grundlegenden Prämisse, dass jeder Mitgliedstaat mit allen anderen Mitgliedstaaten eine Reihe gemeinsamer Werte teilt – und anerkennt, dass sie sie mit ihm teilen –, auf die sich, wie es in Art. 2 EUV heißt, die Union gründet (vgl. in diesem Sinne Gutachten 2/13 [Beitritt der Europäischen Union zur EMRK] vom 18. Dezember 2014, EU:C:2014:2454, Rn. 168).
63 Er hat für die Union und ihre Mitgliedstaaten auch insoweit fundamentale Bedeutung, als er die Schaffung und Aufrechterhaltung eines europäischen Raums ohne Binnengrenzen ermöglicht (vgl. in diesem Sinne Gutachten 2/13 [Beitritt der Europäischen Union zur EMRK] vom 18. Dezember 2014, EU:C:2014:2454, Rn. 191).
64 Der Gerichtshof hat überdies klargestellt, dass sich die Beschränkung der Möglichkeit, zu prüfen, ob ein anderer Mitgliedstaat in einem konkreten Fall die durch die Charta gewährleisteten Grundrechte beachtet hat, auf Ausnahmefälle aus dem Wesen der Union ergibt und zu dem Gleichgewicht beiträgt, auf dem die Union beruht (vgl. in diesem Sinne Gutachten 2/13 [Beitritt der Europäischen Union zur EMRK] vom 18. Dezember 2014, EU:C:2014:2454, Rn. 193 und 194).
65 Zwar ist nicht auszuschließen, dass eine internationale Übereinkunft ein hohes Maß an Vertrauen zwischen den Mitgliedstaaten und bestimmten Drittstaaten schaffen kann.
66 So hat der Gerichtshof entschieden, dass dies auf die Beziehungen zwischen den Mitgliedstaaten und dem Königreich Norwegen zutrifft (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 14. September 2023, Sofiyska gradska prokuratura [Aufeinanderfolgende Haftbefehle], C‑71/21, EU:C:2023:668, Rn. 32 und 39).
67 Dieser Drittstaat befindet sich allerdings insoweit in einer besonderen Situation, als er privilegierte Beziehungen zur Union unterhält, die über den Rahmen einer wirtschaftlichen und handelspolitischen Zusammenarbeit hinausgehen, da er Vertragspartei des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum ist, sich am Gemeinsamen Europäischen Asylsystem beteiligt, den Schengen-Besitzstand umsetzt und anwendet und mit der Union das Übereinkommen zwischen den Mitgliedstaaten der Union und Island und Norwegen über das Übergabeverfahren geschlossen hat, das am 1. November 2019 in Kraft getreten ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 17. März 2021, JR [Haftbefehl – Verurteilung in einem EWR-Drittstaat], C‑488/19, EU:C:2021:206, Rn. 60).
68 Der Gerichtshof hat ferner darauf hingewiesen, dass erstens die Vertragsparteien in der Präambel dieses Übereinkommens das gegenseitige Vertrauen auf die Struktur und die Funktionsweise ihrer Rechtssysteme und ihre Fähigkeit, ein faires Verfahren zu gewährleisten, zum Ausdruck gebracht haben und dass zweitens die Bestimmungen dieses Übereinkommens den entsprechenden Bestimmungen des Rahmenbeschlusses 2002/584 sehr ähnlich sind (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 2. April 2020, Ruska Federacija, C‑897/19 PPU, EU:C:2020:262, Rn. 73 und 74).
69 Die oben in Rn. 66 angeführte Erwägung, die auf den besonderen Beziehungen zwischen der Union und bestimmten EWR-Mitgliedstaaten beruht, kann jedoch nicht für alle Drittstaaten gelten.
70 Was speziell die mit dem AHZ eingeführte Regelung betrifft, ist zunächst festzustellen, dass das Abkommen keine Beziehungen zwischen der Union und dem Vereinigten Königreich schafft, die ebenso privilegiert sind wie die Beziehungen, die in der in den Rn. 67 und 68 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung beschrieben sind. Vor allem ist das Vereinigte Königreich nicht Teil des europäischen Raums ohne Binnengrenzen, dessen Aufbau insbesondere durch den Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens ermöglicht wird.
71 Sodann ergibt sich zwar aus dem Wortlaut des in Rn. 42 des vorliegenden Urteils genannten Art. 524 Abs. 1 AHZ, dass die Zusammenarbeit zwischen dem Vereinigten Königreich und den Mitgliedstaaten auf der langjährigen Achtung des Schutzes der Grundrechte und ‑freiheiten des Einzelnen beruht, doch wird diese Zusammenarbeit nicht so dargestellt, als beruhe sie auf dem Erhalt des gegenseitigen Vertrauens zwischen den betreffenden Staaten, das vor dem Austritt des Vereinigten Königreichs aus der Union am 31. Januar 2020 bestand.
72 Schließlich bestehen erhebliche Unterschiede zwischen den Bestimmungen des AHZ über den mit diesem Abkommen geschaffenen Übergabemechanismus und den entsprechenden Bestimmungen des Rahmenbeschlusses 2002/584.
73 In diesem Zusammenhang ist insbesondere darauf hinzuweisen, dass der Rahmenbeschluss keine Ausnahmen vorsieht, die sich auf die politische Natur der Straftaten oder die Staatsangehörigkeit der gesuchten Person beziehen und es in Fällen, die den in Art. 602 Abs. 2 und Art. 603 Abs. 2 AHZ genannten vergleichbar sind, zulassen, die Vollstreckung Europäischer Haftbefehle abzulehnen. Derartige Ausnahmen verdeutlichen aber die Grenzen des zwischen den Vertragsparteien aufgebauten Vertrauens.
74 Auch enthält der Rahmenbeschluss keine Art. 604 Buchst. c AHZ vergleichbare Bestimmung, die ausdrücklich vorsieht, dass die vollstreckende Justizbehörde gegebenenfalls zusätzliche Garantien für die Behandlung der gesuchten Person nach der Übergabe verlangen kann, bevor sie über die Vollstreckung des Haftbefehls entscheidet, falls stichhaltige Gründe für die Annahme vorliegen, dass eine tatsächliche Gefahr für den Schutz der Grundrechte der gesuchten Person besteht.
75 Art. 604 Buchst. c AHZ erlaubt es somit, zusätzliche Garantien einzuholen, um zu versuchen, Zweifel an der Achtung der Grundrechte im Ausstellungsstaat zu zerstreuen, die nicht allein auf Basis des zwischen dem Vereinigten Königreich und den Mitgliedstaaten bestehenden Vertrauens ausgeräumt werden können, ohne dass die Anwendung dieses Mechanismus davon abhinge, dass zuvor entweder systemische oder allgemeine Mängel oder aber Mängel, die speziell eine objektiv identifizierbare Personengruppe betreffen, festgestellt wurden.
76 Zwar sieht Art. 604 Buchst. c AHZ nicht ausdrücklich vor, dass die vollstreckende Justizbehörde es ablehnen kann, einem Haftbefehl Folge zu leisten, wenn sie keine zusätzlichen Garantien erhalten hat oder diese Garantien nicht ausreichen, um die Gründe von der Hand zu weisen, die sie ursprünglich zu der Annahme veranlasst hatten, dass eine tatsächliche Gefahr für den Schutz der Grundrechte der gesuchten Person besteht.
77 Eine andere Auslegung dieser Bestimmung würde dem mit ihr geschaffenen Mechanismus jedoch seine praktische Bedeutung nehmen.
78 Daraus folgt, dass die vollstreckende Justizbehörde, die über einen auf der Grundlage des AHZ erlassenen Haftbefehl zu entscheiden hat, nicht die Übergabe der gesuchten Person anordnen kann, wenn sie nach einer konkreten und genauen Prüfung der Situation dieser Person zu der Auffassung gelangt, dass stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, dass im Fall ihrer Übergabe an das Vereinigte Königreich eine tatsächliche Gefahr für den Schutz ihrer Grundrechte besteht.
79 Daraus folgt, dass die ausstellende Justizbehörde in dem Fall, dass sich die Person, gegen die sich ein auf der Grundlage des AHZ erlassener Haftbefehl richtet, ihr gegenüber geltend macht, dass bei einer Übergabe an das Vereinigte Königreich die Gefahr eines Verstoßes gegen Art. 49 Abs. 1 der Charta bestehe, diese Übergabe nicht anordnen darf, ohne nach einer angemessenen Prüfung im Sinne von Rn. 51 des vorliegenden Urteils konkret bestimmt zu haben, ob stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, dass diese Person einer echten Gefahr eines solchen Verstoßes ausgesetzt ist, da die Behörde sonst gegen ihre Verpflichtung gemäß Art. 524 Abs. 2 AHZ zur Achtung der Grundrechte verstoßen würde.
80 Im Hinblick auf eine solche Bestimmung ist erstens hervorzuheben, dass die Existenz von Erklärungen und der Abschluss völkerrechtlicher Verträge, die grundsätzlich die Beachtung der Grundrechte gewährleisten, zwar für sich genommen nicht ausreichen, um einen angemessenen Schutz vor der Gefahr von Verstößen gegen Grundrechte und ‑freiheiten sicherzustellen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. September 2016, Petruhhin, C‑182/15, EU:C:2016:630, Rn. 57), dass die vollstreckende Justizbehörde jedoch die langjährige Achtung – durch das Vereinigte Königreich – des Schutzes der Grundrechte und ‑freiheiten des Einzelnen, wie sie u. a. in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte und in der EMRK, auf die in Art. 524 Abs. 1 AHZ ausdrücklich Bezug genommen wird, sowie in den Vorschriften niedergelegt sind, die im Recht des Vereinigten Königreichs vorgesehen und umgesetzt werden, um die Achtung der in der EMKR verankerten Grundrechte zu gewährleisten, berücksichtigen muss (vgl. entsprechend Urteil vom 19. September 2018, RO,C‑327/18 PPU, EU:C:2018:733, Rn. 52).
81 Dass die vollstreckende Justizbehörde die Gefahr eines Verstoßes gegen Art. 7 EMRK unter Verweis auf die vom Vereinigten Königreich im Allgemeinen in Bezug auf die Einhaltung der EMRK gebotenen Garantien und die Möglichkeit der gesuchten Person, eine Beschwerde beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte einzulegen, bereits verneint hat, kann allerdings für sich genommen nicht ausschlaggebend sein.
82 Wie in Rn. 78 des vorliegenden Urteils ausgeführt, verlangen Art. 524 Abs. 2 und Art. 604 Buchst. c AHZ in Verbindung mit Art. 49 Abs. 1 der Charta nämlich, dass die vollstreckende Justizbehörde alle relevanten Faktoren prüft, um beurteilen zu können, in welcher Situation sich die gesuchte Person bei einer Übergabe an das Vereinigte Königreich voraussichtlich befinden wird. Dies setzt im Gegensatz zu der in Rn. 52 bis 54 des vorliegenden Urteils beschriebenen zweistufigen Prüfung voraus, dass zugleich sowohl die in diesem Land allgemein geltenden Rechtsvorschriften und Praktiken als auch – falls die Grundsätze des gegenseitigen Vertrauens und der gegenseitigen Anerkennung nicht zur Anwendung kommen – die Besonderheiten der individuellen Situation der gesuchten Person berücksichtigt werden.
83 Daher muss, wie der Generalanwalt in Nr. 78 und 79 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, die vollstreckende Justizbehörde anhand der Bestimmungen der Charta eine eigenständige Prüfung vornehmen und darf sich nicht darauf beschränken, die in Rn. 27 des vorliegenden Urteils erwähnte Rechtsprechung des Supreme Court of the United Kingdom (Oberstes Gericht des Vereinigten Königreichs) oder die in Rn. 28 des vorliegenden Urteils genannten allgemeinen Garantien, die im Justizsystem dieses Staates bestehen, zu berücksichtigen.
84 In diesem Zusammenhang muss eine etwaige Feststellung, dass im Fall der Übergabe der betreffenden Person an das Vereinigte Königreich eine echte Gefahr der Verletzung von Art. 49 Abs. 1 der Charta besteht, auf einer ausreichenden Tatsachengrundlage beruhen (vgl. entsprechend Urteil vom 22. Februar 2022, Openbaar Ministerie [Im Ausstellungsmitgliedstaat durch Gesetz errichtetes Gericht], C‑562/21 PPU und C‑563/21 PPU, EU:C:2022:100, Rn. 60 und 61).
85 Folglich darf die vollstreckende Justizbehörde es nur dann auf der Grundlage von Art. 524 Abs. 2 und Art. 604 Buchst. c AHZ in Verbindung mit Art. 49 Abs. 1 der Charta ablehnen, einem Haftbefehl Folge zu leisten, wenn sie sich im Hinblick auf die individuelle Situation der gesuchten Person auf objektive, zuverlässige, genaue und gebührend aktualisierte Angaben stützen kann, nach denen stichhaltige Gründe für die Annahme vorliegen, dass eine echte Gefahr eines Verstoßes gegen Art. 49 Abs. 1 der Charta besteht (vgl. entsprechend Urteile vom 6. September 2016, Petruhhin, C‑182/15, EU:C:2016:630, Rn. 59, und vom 19. September 2018, RO, C‑327/18 PPU, EU:C:2018:733, Rn. 61).
86 Zweitens muss die vollstreckende Justizbehörde entsprechend ihrer Verpflichtung zur gegenseitigen Unterstützung nach Treu und Glauben gemäß Art. 3 Abs. 1 AHZ bei der Prüfung, ob die Gefahr eines Verstoßes gegen Art. 49 Abs. 1 der Charta besteht, alle Instrumente nutzen, die dieses Abkommen vorsieht, um die Zusammenarbeit zwischen ihr und der ausstellenden Justizbehörde zu fördern.
87 Insoweit sieht Art. 613 Abs. 2 AHZ zum einen vor, dass die vollstreckende Justizbehörde, wenn sie der Ansicht ist, dass die vom Ausstellungsstaat übermittelten Informationen nicht ausreichen, um über die Übergabe entscheiden zu können, um die unverzügliche Übermittlung der notwendigen zusätzlichen Informationen insbesondere hinsichtlich des Art. 604 AHZ bittet.
88 Die vollstreckende Justizbehörde muss daher um die unverzügliche Übermittlung aller zusätzlichen Informationen ersuchen, die sie für erforderlich hält, um eine Entscheidung über die Übergabe der Person, gegen die sich ein auf Grundlage des AHZ erlassener Haftbefehl richtet, treffen zu können.
89 Da also die Feststellung, dass eine ernsthafte Gefahr des Verstoßes gegen Art. 49 Abs. 1 der Charta zwangsläufig auf einer Analyse des Rechts des ausstellenden Staates beruht, kann die vollstreckende Justizbehörde diese Feststellung nur dann treffen, wenn sie zuvor von der ausstellenden Justizbehörde Informationen zu den entsprechenden Rechtsvorschriften sowie der Art und Weise, in der sie auf die individuelle Situation der gesuchten Person Anwendung finden können, angefordert hat, da sie andernfalls gegen ihre in Art. 3 Abs. 1 AHZ geregelte Verpflichtung zur gegenseitigen Unterstützung nach Treu und Glauben verstieße.
90 Zum anderen obliegt es nach Art. 604 Buchst. c AHZ der vollstreckenden Justizbehörde, zusätzliche Garantien zu verlangen, falls sie der Ansicht ist, dass stichhaltige Gründe für die Annahme vorliegen, dass eine tatsächliche Gefahr des Verstoßes gegen Art. 49 Abs. 1 der Charta besteht.
91 Die vollstreckende Justizbehörde kann daher die Vollstreckung eines auf der Grundlage des AHZ erlassenen Haftbefehls nur dann mit der Begründung verweigern, dass eine solche Gefahr bestehe, wenn sie zwar um zusätzliche Garantien ersucht, jedoch keine ausreichenden Garantien erhalten hat, um die Gefahr eines Verstoßes gegen Art. 49 Abs. 1 der Charta, die sie zunächst bejaht hatte, zu verneinen.
92 Drittens ergibt sich, was konkret die Tragweise von Art. 49 Abs. 1 der Charta angeht, aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs, dass Art. 49 der Charta zumindest die gleichen Garantien wie die in Art. 7 EMRK vorgesehenen enthält, die gemäß Art. 52 Abs. 3 der Charta als Mindestschutzstandard zu berücksichtigen sind (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 28. März 2017, Rosneft, C‑72/15, EU:C:2017:236, Rn. 164, vom 5. Dezember 2017, M.A.S. und M.B., C‑42/17, EU:C:2017:936, Rn. 54, vom 2. Februar 2021, Consob, C‑481/19, EU:C:2021:84, Rn. 37, und vom 10. November 2022, DELTA STROY 2003, C‑203/21, EU:C:2022:865, Rn. 46 und die dort angeführte Rechtsprechung).
93 Insoweit weist das vorlegende Gericht darauf hin, dass nach einer Regelung des Vereinigten Königreichs, die nach der mutmaßlichen Begehung der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Straftaten erlassen worden sei, Personen, die bestimmte terroristische Straftaten wie diejenigen, deren MA beschuldigt werde, begangen hätten, nur dann gegen Auflagen vorzeitig aus der Haft entlassen werden könnten, wenn dies von einer speziellen Behörde genehmigt werde, und auch nur nach Verbüßung von zwei Dritteln ihrer Strafe, während die frühere Regelung eine automatische vorzeitige Haftentlassung gegen Auflagen vorgesehen habe, wenn der Verurteilte die Hälfte seiner Strafe verbüßt habe.
94 Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte ist bei der Anwendung von Art. 7 EMRK zwischen einer Maßnahme, die im Wesentlichen eine Strafe darstellt, und einer Maßnahme, die deren „Vollstreckung“ oder „Vollzug“ betrifft, zu unterscheiden. Wenn sich folglich die Art und der Zweck einer Maßnahme auf einen Straferlass oder die Änderung einer Regelung über eine vorzeitige Entlassung beziehen, ist dies nicht Teil der „Strafe“ im Sinne von Art. 7 EMRK (EGMR, 21. Oktober 2013, Del Río Prada/Spanien, CE:ECHR:2013:1021JUD004275009, § 83).
95 Da die Abgrenzung zwischen einer Maßnahme, die eine „Strafe“ darstellt, und einer solchen, die sich auf die „Vollstreckung“ einer Strafe bezieht, in der Praxis nicht immer klar gezogen ist, muss, um festzustellen, ob eine während der Vollstreckung einer Strafe getroffene Maßnahme lediglich die Art der Vollstreckung der Strafe betrifft oder vielmehr Auswirkungen auf ihren Umfang hat, in jedem Einzelfall geprüft werden, was die verhängte „Strafe“ nach dem zum maßgeblichen Zeitpunkt geltenden innerstaatlichen Recht tatsächlich beinhaltete, oder, mit anderen Worten, welcher Art sie war (EGMR, 21. Oktober 2013, Del Río Prada/Spanien, CE:ECHR:2013:1021JUD004275009, §§ 85 und 90).
96 Insoweit hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte kürzlich bestätigt, dass die Vollstreckung der Strafe und nicht die Strafe selbst betroffen ist, wenn sich die Haftsituation möglicherweise dadurch verschärft, dass nach der Verurteilung die zeitliche Schwelle für die Zulässigkeit einer vorzeitigen Haftentlassung unter Auflagen angehoben wird, und dass daraus nicht abgeleitet werden kann, dass die verhängte Strafe schwerer ist als die vom Tatrichter verhängte Strafe (EGMR, 31. August 2021, Devriendt/Belgien, CE:ECHR:2021:0831DEC003556719, § 29).
97 Eine sich auf die Vollstreckung der Strafe beziehende Maßnahme ist daher nur dann mit Art. 49 Abs. 1 der Charta unvereinbar, wenn sie rückwirkend den Umfang der Strafe ändert, die zum Zeitpunkt der Begehung der in Rede stehenden Straftat verwirkt wurde, und somit eine schwerere Strafe verhängt wird als sie zunächst verwirkt wurde. Das ist zwar jedenfalls dann nicht der Fall, wenn diese Maßnahme lediglich die zeitliche Schwelle für die Zulässigkeit einer vorzeitigen Haftentlassung unter Auflagen anhebt, doch mag sich die Situation insbesondere dann anders darstellen, wenn diese Maßnahme die Möglichkeit einer vorzeitigen Haftentlassung unter Auflagen im Wesentlichen aufhebt oder wenn sie Teil einer Reihe von Maßnahmen ist, die dazu führen, dass die ursprünglich verwirkte Strafe ihrer Art nach schwerer wird.
98 Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 524 Abs. 2 und Art. 604 Buchst. c AHZ in Verbindung mit Art. 49 Abs. 1 der Charta dahin auszulegen sind, dass eine vollstreckende Justizbehörde in dem Fall, dass eine Person, gegen die auf Grundlage dieses Abkommens ein Haftbefehl erlassen wurde, geltend macht, dass bei einer Übergabe an das Vereinigte Königreich wegen einer für sie ungünstigen und nach der mutmaßlichen Begehung der in Rede stehenden Straftat erfolgten Änderung der Voraussetzungen für eine vorzeitige Haftentlassung unter Auflagen die Gefahr eines Verstoßes gegen Art. 49 Abs. 1 der Charta bestehe, das Vorliegen dieser Gefahr eigenständig prüfen muss, bevor sie über die Vollstreckung des Haftbefehls entscheidet, und zwar auch dann, wenn sie die Gefahr eines Verstoßes gegen Art. 7 EMRK unter Verweis auf die Garantien, die das Vereinigte Königreich im Allgemeinen in Bezug auf die Einhaltung der EMRK bietet, und auf die Möglichkeit der betroffenen Person, eine Beschwerde beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte einzulegen, bereits verneint hat. Am Ende dieser Prüfung darf die vollstreckende Justizbehörde die Vollstreckung des Haftbefehls nur dann ablehnen, wenn sie, nachdem sie die ausstellende Justizbehörde um zusätzliche Informationen und Garantien ersucht hat, über objektive, zuverlässige, genaue und gebührend aktualisierte Angaben verfügt, nach denen eine echte Gefahr besteht, dass der Umfang der Strafe, die zum Zeitpunkt der Begehung der in Rede stehenden Straftat verwirkt wurde, geändert und somit eine schwerere Strafe verhängt wird als sie ursprünglich verwirkt wurde.
Kosten
99 Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Große Kammer) für Recht erkannt:
Art. 524 Abs. 2 und Art. 604 Buchst. c des Abkommens über Handel und Zusammenarbeit zwischen der Europäischen Union und der Europäischen Atomgemeinschaft einerseits und dem Vereinigten Königreich Großbritannien und Nordirland andererseits in Verbindung mit Art. 49 Abs. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union
sind dahin auszulegen, dass
eine vollstreckende Justizbehörde in dem Fall, dass eine Person, gegen die auf Grundlage dieses Abkommens ein Haftbefehl erlassen wurde, geltend macht, dass bei einer Übergabe an das Vereinigte Königreich Großbritannien und Nordirland wegen einer für sie ungünstigen und nach der mutmaßlichen Begehung der in Rede stehenden Straftat erfolgten Änderung der Voraussetzungen für eine vorzeitige Haftentlassung unter Auflagen die Gefahr eines Verstoßes gegen Art. 49 Abs. 1 der Charta bestehe, das Vorliegen dieser Gefahr eigenständig prüfen muss, bevor sie über die Vollstreckung des Haftbefehls entscheidet, und zwar auch dann, wenn sie die Gefahr eines Verstoßes gegen Art. 7 der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten unter Verweis auf die Garantien, die das Vereinigte Königreich im Allgemeinen in Bezug auf die Einhaltung dieser Konvention bietet, und auf die Möglichkeit der betroffenen Person, eine Beschwerde beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte einzulegen, bereits verneint hat. Am Ende dieser Prüfung darf die vollstreckende Justizbehörde die Vollstreckung des Haftbefehls nur dann ablehnen, wenn sie, nachdem sie die ausstellende Justizbehörde um zusätzliche Informationen und Garantien ersucht hat, über objektive, zuverlässige, genaue und gebührend aktualisierte Angaben verfügt, nach denen eine echte Gefahr besteht, dass der Umfang der Strafe, die zum Zeitpunkt der Begehung der in Rede stehenden Straftat verwirkt wurde, geändert und somit eine schwerere Strafe verhängt wird als sie ursprünglich verwirkt wurde.
Unterschriften
(*1) Verfahrenssprache: Englisch.
(i
) Die vorliegende Rechtssache ist mit einem fiktiven Namen bezeichnet, der nicht dem echten Namen eines Verfahrensbeteiligten entspricht.
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