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Offene Tür bei der Regierung - Das Volk will nur mal gucken
Der Souverän wartet. Auf Einlass. Die Schlange aus meist barbeinigen Besuchern windet sich am Sonntagmittag mehrmals vor dem Bundeskanzleramt. Das Volk ist bunt: Junge Familien, geschniegelte Studenten, gebräunte Rentner. Die Bundesregierung hat die Bürger zum „Staatsbesuch“ geladen: Kanzleramt, Bundespresseamt und vierzehn Bundesministerien öffnen ihre Türen. Warum er gekommen sei, will ein Kamerateam von einem Wartenden wissen. Einfach nur zum Gucken, antwortet ein schlaksiger Mittfünfziger. Zustimmendes Nicken bei den Mitbürgern. In den hellen Fluren des Kanzleramts stillt das Volk seine Neugierde an Glasvitrinen. Staatsgeschenke sind dort ausgestellt: funkelnder Schmuck aus Turkmenistan und hochpolierte Holzkästchen aus Japan. Im Informationsraum läuft in Dauerschleife ein Film über die ehemaligen Regierungssitze. Vor der Kanzlergalerie üben sich die „Staatsgäste“ im Kanzlerraten. Ludwig Erhard und Kurt Georg Kiesinger sind eher wenigen in Erinnerung geblieben. Im Garten auf der gegenüberliegenden Spreeseite wird der Kanzleramtsbesuch zum Volksfest. Vor weißen Imbisszelten warten Einheimische und Touristen auf Bratwürstchen und Ofenkartoffeln. Im Informationszelt versorgen Mitarbeiter der Bundesregierung die Besucher mit bedruckten Stoffbeuteln und Angela Merkel-Porträts. Auf der Bühne zerreißt Zauberer Bert Rex Seidenpapier. Ein „Fest der Demokratie“ sei das, sagte Regierungssprecher Steffen Seibert am Samstagmittag im Bundespresseamt. Die Regierten, ganz nah an den Regierenden. [[nid:54912]] Nah herankommen – das wollen die Regierten im Kanzleramt tatsächlich, vor allem am Sonntag, als die Kanzlerin sich ankündigt. Gegen halb drei am Nachmittag recken sie auf dem Ehrenhof die Hälse und zücken die Handykameras. Das Stabsmusikkorps der Bundeswehr bläst den Marsch. Langsam bahnt sich Angela Merkel den Weg durch die Menge. Sie schüttelt Hände, lächelt und winkt. Dann steht sie in türkisfarbenem Blazer und heller Hose auf der Bühne, vor dem Volk. Nachdem das Bundeswehr-Korps die letzten Töne gespielt hat, fragt Merkel zum Einstieg den Dirigenten, welche Nationalhymne denn am schwierigsten zu spielen sei. Er antwortet: „Die argentinische - dafür ist sie aber auch die schönste.“ Das will Merkel nicht so stehen lassen, verzieht den Mund und lässt ein zweifelndes „Naja“ von den Lippen. Lachen im Publikum. Danach erklärt die Kanzlerin, wie Staatsbesuche ablaufen und warum sie Frankreichs Präsidenten François Hollande nicht immer mit militärischen Ehren empfängt. Dann ist es Zeit, in den Dialog mit den Regierten zu treten: „Waren Sie schon drinnen im Kanzleramt?“ Das Volk nickt und schüttelt den Kopf. „Haben Sie dann noch Fragen?“, fragt Merkel. Ob sie bei Staatsbesuchen den Gästen auch die Kanzlergalerie zeige, will jemand wissen. Nein, meistens nicht, denn die könnten sich ihre Gäste auch selbst angucken, antwortet Merkel. Die zweite Frage ist die letzte: Welchen Traum sie für Berlin habe. „Dass man irgendwann nicht mehr sieht, wo Ost- und wo West-Berlin war“, spricht die Kanzlerin, dankt und geht von der Bühne. Der Beifall ist noch nicht verstummt, schon folgt des Volkes Urteil. „Die ist ja echt klein. Noch kleiner als ich“, gluckst eine ältere Frau. Im Fernsehen sei Merkel anders. Währenddessen versucht Merkel wieder in ihren Regierungssitz zu gelangen. Breitschultrige Sicherheitsleute schieben beherzt die Regierten weg. Ein wenig Distanz, die muss schon sein.
Sascha Brandt
Die Bundesregierung hat am Wochenende die Türen für Besucher geöffnet. Minister und Kanzlerin treffen auf das Volk. Szenen einer Begegnung von Regierenden und Regierten
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innenpolitik
2013-08-26T09:57:42+0200
2013-08-26T09:57:42+0200
https://www.cicero.de//innenpolitik/offene-tuer-bei-der-regierung-das-volk-will-nur-mal-gucken/55530
Frank-Walter Steinmeier - NSA-Affäre wird zum SPD-Problem
Ist die NSA-Affäre vorbei? Aufklären lassen sich Geheimdienstgeschichten ja nie. Aber wenn es stimmt, was Bundesregierung und deutsche Sicherheitsbehörden jetzt insinuieren, dann platzt bald ein riesiger Ballon, der mit viel Empörungsluft aufgepustet worden war. Wir erinnern uns: Im Zentrum der Affäre steht die Krake, das Monster, Big Brother, also die „National Security Agency“ (NSA). Die wird nach den Enthüllungen des Computerspezialisten Edward Snowden bezichtigt, in Deutschland monatlich 500 Millionen Daten abzugreifen. Diese „Totalüberwachung deutscher Staatsbürger“ verstoße eklatant gegen das Grundgesetz, heißt es. Die Bespitzelungspraktiken seien schlimmer als die der Stasi. Nun steht die Gegenthese im Raum. Demnach bestehen die 500 Millionen NSA-Daten pro Monat nicht etwa aus privaten Informationen über unschuldige Deutsche, sondern sind zum größten Teil das Ergebnis der ganz legalen Auslandsaufklärung des Bundesnachrichtendienstes aus Krisenländern wie Afghanistan. Diese Ergebnisse werden der NSA auf der Grundlage eines 2002 geschlossenen Abkommens regelmäßig ganz legal zur Verfügung gestellt. Damals regierte Rot-Grün, der zuständige Kanzleramtsminister war Frank-Walter Steinmeier. Aus der Schlagzeile „Amerikaner spionieren massenhaft Deutsche aus“ wird plötzlich „Deutsche spionieren Afghanen aus“. Die Wut darüber dürfte sich in Grenzen halten. Aus der Schlagzeile „Regierung in NSA-Affäre unter Druck“ wird plötzlich „SPD und Grüne in Erklärungsnot“. Gut möglich, dass die sachliche und chronologische Klärung der Sachverhalte im weiter anschwellenden Wahlkampfgetöse ohnehin untergeht. Doch Zeithistoriker, die sich mit Entstehung und Verlauf von Skandalen befassen, finden hier ein pointenreiches Forschungsfeld, in dem apokalyptische Gesellschaftsvisionen nicht eben selten waren. Denn zum Skandal gerinnt meist das, was böse Ahnungen bestätigt. Von „Patriot Act“ über Drohneneinsätze bis Guantanamo: Die Amerikaner übertreiben es mit ihrem Sicherheitswahn nach Nine-Eleven. Von George Orwell über Google bis Facebook: Technisch ist die globale Überwachung möglich, der „gläserne Mensch“ bald Wirklichkeit. Was lag nach Snowden näher, als zu folgern, der Wust an Datenmengen sei ein weiteres Indiz für die rechtsmissachtenden Tendenzen paranoider und allmachtslüsterner amerikanischer Antiterrorpolitik – womöglich gar wissentlich geduldet von Spitzenpolitikern in Deutschland? Noch steht das endgültige Urteil aus. Die einzige Quelle hält sich mit Asyl in Russland versteckt. Und was ist mit dem Vorwurf der Industriespionage und der Verwanzung europäischer Einrichtungen? Nein, beendet ist die Affäre wohl kaum. Nur sollte, das lehrt der Verlauf der Debatte, nichts an sich schon für bewiesen oder widerlegt gelten. Der Verurteilungsdrang darf dem Wissen- und Verstehenwollen nicht übergeordnet sein. Kein Grund für die Regierung, die über weite Strecken einen kläglich-abwartenden und erschreckend desinformierten Eindruck hinterließ, jetzt hämisch zu kontern. Kein Grund aber auch für Sozialdemokraten und Grüne, jetzt weiterzumachen, als wäre man selbst nicht ebenfalls auf die eine oder andere Art verstrickt. Falls der Ballon tatsächlich platzt, wäre vielleicht sogar eine überparteiliche Entschuldigung wegen einiger grober Unterstellungen an die Adresse der Obama-Regierung angebracht. Zumindest in einer Traumwelt, in der es weder Wahlkampf noch rechthaberischen Groll gibt.
Malte Lehming
Amis spähen Deutsche aus, hieß es vor kurzem. Deutsche spähen Afghanen aus, heißt es nun. Doch das empört niemanden mehr. Nähert sich die NSA-Affäre gar ihrem Ende?
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innenpolitik
2013-08-09T10:42:00+0200
2013-08-09T10:42:00+0200
https://www.cicero.de//innenpolitik/frank-walter-steinmeier-nsa-affaere-wird-zum-spd-problem/55347
Doppelte Staatsbürgerschaft - Merkels Widerstand wird bröckeln
Schnittchen, Händeschütteln, Multi-Kulti-Bildchen: Beim diesjährigen Integrationsgipfel ist Angela Merkel auf einer unteren Treppenstufe stehen geblieben – mal wieder. Ein schmales Bekenntnis zu mehr „Teilhabe in unserem Land“, das war‘s. Allerdings – was hatte man auch erwartet? Im Wahljahr spielt die Kanzlerin wieder einmal jenes Spielchen, das sie seit Jahren am besten beherrscht: effektheischend die Reformagenda zu besetzen, ohne die eigenen Positionen auch nur einen Millimeter weit anzupassen. Sie spulte sechs Integrationsgipfel herunter, leierte etliche Islamkonferenzen ab, zimmerte den „Nationalen Aktionsplan Integration“, holte die Integrationsbeauftragte ins Kanzleramt – aber gegen die doppelte Staatsbürgerschaft stemmt sie sich weiterhin. Merkels Kalkül: Der konservative Unionsflügel wurde in all den Regierungsjahren schon weit genug gestutzt. Ob Eurokrise, Kernenergie, Wehrpflicht, Mindestlohn oder zuletzt die Frauenquote – die Zumutungen waren gewaltig. Von rechts knabbert auch noch die AfD. Jetzt bei der Integrationsfrage einzuknicken, würde ihr die christdemokratische Klientel vermutlich nicht verzeihen. Dabei deckt die Union auch in der Integrationsfrage längst das gesamte gesellschaftliche Spektrum ab. Da gibt es Hardliner vom Schlag des Innenministers Hans-Peter Friedrich (CSU), der wahlweise gegen Roma poltert oder den EU-Ländern Rumänien und Bulgarien die Tür zum Schengen-Beitritt zuschlägt. Da gibt es aber auch Leute wie Cemile Giousouf aus Hagen, die im Herbst wahrscheinlich als erste Muslima für die Union in den Bundestag ziehen wird. Oder Leute wie Serap Güler, seit einem Jahr erste türkischstämmige CDU-Abgeordnete in Nordrhein-Westfalen. Merkel wagt zwischen diesen integrationspolitischen Standpunkten einen schmerzhaften Spagat. Dabei ist die Verrenkung völlig sinnlos. Denn die gefühlte Mehrheit, die die Kanzlerin mit ihrem faktischen Blockadekurs bedienen will, ist längst keine mehr. Die Gesellschaft ist offener und toleranter geworden. Die meisten Menschen haben erkannt, dass Deutschland seinen Wohlstand langfristig nur mit Zuwanderern sichern kann. Die Cicero-Titelgeschichte des Juni-Hefts zeichnet ein farbenfrohes Bild: Mit den richtigen integrationspolitischen Anreizen könnte die Bevölkerung sogar wachsen. Die doppelte Staatsbürgerschaft wäre so ein Signal für eine echte Willkommenskultur. Das bisherige Optionsmodell ist nichts als Zwang und staatliche Bevormundung: Demnach müssen sich Doppelstaatler bis zum vollendeten 23. Lebensjahr für eine ihrer beiden Nationalitäten entscheiden. Es ist auch diskriminierend. Denn das Optionsmodell gilt weder für EU-Bürger noch für Zuwanderer, deren Herkunftsländer die Abgabe der Staatsbürgerschaft verweigern. All das passt nicht zu einer demokratischen Gesellschaft. Das sehen nicht nur alle Oppositionsparteien, sondern auch der eigene Koalitionspartner so. Neben FDP-Wirtschaftsminister Rösler, der sich noch vor dem Gipfel für die Reform eingesetzt hatte, wirkt die Union wie eine Partei aus dem Vorgestern. Merkel glaubt zwar, damit noch konservative Wählerstimmen zu binden. Zumal der Groll der tatsächlich Betroffenen im Wahljahr überschaubar bleiben wird: 2013 müssen sich 3.300 Menschen für oder gegen Deutschland entscheiden. Doch schon in der nächsten Legislaturperiode kommt die Kanzlerin an dem Thema nicht mehr vorbei. Nicht nur, weil Merkel dann eine türkischstämmige Fraktionskollegin hat. Und auch nicht nur, weil mit dem Gesetzentwurf der Türkischen Gemeinde Deutschlands jetzt eine Diskussionsgrundlage für Inklusion auf dem Tisch liegt, die sich schon beim nächsten Gipfeltreffen nicht mehr abräumen lässt. Sondern auch, weil 2018 Experten zufolge schon 40.000 potenzielle Wahlberechtigte vor der Staatsbürgerschafts-Frage stehen. Genau das war übrigens die Zahl, die Ex-Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg einst für eine Reduktion der Truppenstärke nannte. Mit 40.000 Zeit- und Berufssoldaten weniger könne man auch gleich die Wehrpflicht abschaffen, so sein Argument. Was sich der Plagiatsbaron damals noch als Leistung anheftete, war eigentlich ein Kunststück der FDP. Die Liberalen setzten in den Koalitionsverhandlungen eine Verkürzung der Wehrpflicht auf ein halbes Jahr durch. Später fand sich nicht einmal mehr in der Union noch jemand, der das sechsmonatige Kasernenpraktikum verteidigt hätte – das Aus für die Wehrpflicht. So hatte die FDP nonchalant ein jahrzehntelanges Bollwerk konservativer Werte geschleift. Wenn es im Herbst zu einer Neuauflage von Schwarz-Gelb kommt, sollten sich die Liberalen beim Streit um die Integrationspolitik an diesen Trick erinnern. Die Erfolgschancen stehen gar nicht mal so schlecht: Dann könnte sich Merkel die Reform – wie einst ihr Skandalminister – als eigene Idee anheften. Denn die doppelte Staatsbürgerschaft ist die logische Fortsetzung ihres Integrationsgipfels.
Petra Sorge
Noch lehnt Angela Merkel die doppelte Staatsbürgerschaft aus parteitaktischen Gründen ab. Dabei deutet alles darauf hin, dass ihr Widerstand schon in der nächsten Legislaturperiode einbricht. Bei der Integrationspolitik könnte es so ablaufen wie bei der Wehrpflicht
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innenpolitik
2013-05-29T09:31:58+0200
2013-05-29T09:31:58+0200
https://www.cicero.de//innenpolitik/doppelte-staatsbuergerschaft-merkels-widerstand-wird-broeckeln/54558
Townies – Sturm im Wasserglas
In den vergangen Kolumnen ging es vor allem um Bücher. Ich frage mich, ob ich mir vielleicht nicht zu viel vorgenommen habe für diese kleinen Samstagstexte, die ja auch ein paar Empfehlungen für das Berliner Alltagsleben geben sollen. Dass ich in den vergangenen Wochen viel auf meinem Sofa lag und las, ist dafür sicherlich ein wenig kontraproduktiv. Mir war einfach nur nach Lesen. Ich habe nicht einmal die ganzen amerikanischen Fernsehserien geschaut, die ich sonst im Netz verfolge. Ganze drei Episoden der Tina-Fey-Sitcom „30 Rock“ warten noch auf mich, ganz zu schweigen von den beiden letzten Folgen des Anwaltsdramas „The Good Wife“, die ich noch aufholen muss – beides wirklich großartige Shows, die sich um meinen Büroalltag zu drehen scheinen, irgendwo zwischen Irrenhaus und Kanzlei. Stattdessen: Romane. [gallery:Die Bilder zur Kolumne] Ich glaube, nach Trennungen ist das oft so. Wochenlang kann man nichts essen und unterhält sich mit all seinen Freunden darüber, warum man die E-Mail, die man am Tag zuvor bekommen hat,  besser nicht mit „Go fuck yourself“ oder „Burn in hell“ beantworten sollte, auch wenn man es wirklich, wirklich will. Romane können in einer solchen Situation für eine innere Ruhe sorgen, mit der aufmerksamkeitsgeile Bewegtbilder nicht dienen. Bücher sind offener, man kann beim Lesen viel besser fröhlich vor sich hinprojizieren. An der ganzen psychoanalytischen Literaturtheorie, die den geisteswissenschaftlichen Studenten seit Jahren eingetrichtert wird, ist, denke ich, wirklich etwas dran. Mein Bearbeitungsbuch der vergangenen Woche war übrigens Olga Grjasnowas „Der Russe ist einer, der Birken liebt“, und ich kann es nur weiterempfehlen. Eine junge, hoch traumatisierte Dolmetscherstudentin aus dem ehemaligen Aserbaidschan geistert darin durch Frankfurt und Tel Aviv und versucht, irgendwie mit dem Tod ihres Freundes zurande zu kommen. Es ist ein wunderschönes Buch ohne große Hoffnung, mit einer Menge Wut und gut dosiertem Drama. Man versinkt darin wie in einem klaren, warmen Sommerwasserstrudel. Ein Zustand aber ist das natürlich nicht. Irgendwann muss man raus aus Wohnung und Büro. Über seine Probleme kann man sich schließlich auch im Museum oder bei einer Galerieeröffnung unterhalten. An dieser Stelle könnte ich eine Reihe von Ausstellungen empfehlen, die man sich unbedingt anschauen sollte. Nicht nur, weil es die letzten Reste des bildungsbürgerlichen Gewissens gebieten (die Westküstenkunstausstellung „Pacific Standard Time“ im Martin-Gropius-Bau etwa), sondern auch, weil man sonst einfach Bewegendes verpasst (Boris Mikhailovs Ode ans dysfunktionale Scheißleben in der Berlinischen Galerie zum Beispiel) oder richtig Großes (wie Gerhard Richters „Betty“ in der Nationalgalerie, ein Bild, das man schon tausendmal reproduziert gesehen hat und dessen heimliche Trauer einen doch wochenlang umtreibt, wenn man es sich live anschaut). Aber viele der Bilder, die in Erinnerung bleiben, findet man auch in kleineren Ausstellungen, von denen es in Berlin glücklicherweise viele gibt. Eine dieser Ausstellungen ist „Upon Paper“, ein von außen recht unscheinbarer, kürzlich gegründeter Projektraum in der Max-Beer-Straße in Mitte, der vom Boutique-Papierhersteller Hahnemühle Fine Art ins Leben gerufen wurde. Die dortigen Schauen – zurzeit heißt das Thema „Planet L.A.“ – werden jeweils durch ein großformatiges Magazin in Kunstbuchqualität ergänzt. Eigentlich ist es nicht mehr besonders originell, über den leeren Mythos Los Angeles zu sprechen, in der Kunst zumindest ist die Stadt schon lange zu einem Allerweltstopos allererster Güte geworden. Aber viele der Arbeiten, die gezeigt werden, sind dann doch ziemlich umwerfend. Terrence Kohs ironischer „White Cock“ leuchtet an der Wand und spielt mit Finesse mit unseren schmutzigen Gedanken und unseren Ideen von Sex und Ethnie. Ein traumhaft schönes Dries-van-Noten-Kleid steht versetzt vor zwei von James Reeves‘ „Lightscape“-Fotos, deren nächtliche Lichterlandschaften sich melancholisch in den Mustern der dunkelblauen Couture spiegeln. Und ganz hinten in den Ausstellungsräumen hängt ein unglaublich graues, unglaublich berührendes Bild von Jack Pierson, einem meiner liebsten Künstler, der mit traurigen Fotos von schönen Jungs berühmt wurde und mit Installationen aus ausrangierten Leuchtbuchstaben mit glimmenden Ein-Wort-Botschaften wie „LOVE“.  Das großformatige Bild zeigt eine leere Straße, die ins Nirgendwo zu führen scheint. Es wirkt, als sei es ausgebleicht, von einer großen Stille durchtränkt. Doch dann stellt man fest, dass es darauf stürmt, orkanartig und unfassbar laut stürmt und dass nur niemand da ist, um es zu bemerken. Olga Grjasnowa „Der Russe is einer, der Birken liebt“, Hanser-Verlag, 288 Seiten, 18,90 Euro Planet L.A., Upon Paper, Max-Beer Straße 25, 10119 Berlin, Dienstag bis Samstag, 12:00 bis 18:00 Uhr
Runter vom Sofa, ab ins Museum, rät Daniel Schreiber in seiner Samstagskolumne. Auch dort kann man über seine Probleme reden
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kultur
2012-04-13T17:07:08+0200
2012-04-13T17:07:08+0200
https://www.cicero.de//kultur/sturm-im-wasserglas/48959
Fastenzeit – Wie ich versuchte, die Welt zu verbessern
Ich bin nicht religiös. Ich bin nicht übergewichtig. Ich sehe auch nichts, wofür ich büßen müsste. Fasten macht für mich partout keinen Sinn. Aber deswegen auf gute Vorsätze verzichten? Meiner soll darin bestehen, dem Schlechten zu entsagen. Nicht durch Verzicht auf Völlerei. Statt zu fasten, will ich die Welt mit guten Taten füttern. Die Welt ist groß. Ich bin 156 Zentimeter klein. Ich werde also ganz unten anfangen müssen. Ich will versuchen, jeden Tag etwas Gutes zu tun. Etwas ganz  Alltägliches. Etwas Kleines. Etwas, was jeder kann. Etwas, was die Welt vielleicht freundlicher machen würde, wenn es alle täten. Ich nehme mir vor, die Welt zu verbessern. Einen Monat lang. Der Monat des guten Vorsatzes fängt denkbar schlecht an. Zahnarzttermin. Eckzahn oben links braucht neue Verplombung. „Mit oder ohne Betäubung?“ fragt der Dentist meines Vertrauens. „Ohne“ gurgelt es aus meinem aufgesperrten Mund. Mein Martyrium könnte das deutsche Gesundheitssystem um eine Schmerzspritze entlasten. Beim Bohren stellt sich heraus, der Zahn war eh tot. Macht allenfalls einen halben Punkt auf meinem Gute-Taten-Konto. Dann treffe ich Frau T. am Praxisausgang. Hinter dicken Brillengläsern starrt die alte Dame auf die Treppenstufen wie auf einen Abgrund. „Darf ich Ihnen helfen?“ Frau T. guckt etwas ungläubig, als ich sie unterhake. Wenn sie nun stolpert, kugeln wir beide abwärts. „Linkes Bein vor – prima!“ und noch einmal „linkes Bein vor“. Nach drei Minuten haben wir das eine Stockwerk zur Haustür geschafft. „Ging doch gut“, sage ich. Frau T. lächelt ein dankbares „Muss ja“ zum Abschied. Das tut gut, aber eine Nummer weltbewegender darf`s schon sein. Im Internet findet sich eine Protestkampagne gegen Polens Einstieg in die Atomkraft . Ich will kein neues AKW. Nicht in Grenznähe. Und auch sonst nirgendwo. Absender eingeben, Mustereinspruch unterzeichnen. Zwei Mausklicks und die polnische Regierung wird meine Meinung zu ihren Atomplänen kennenlernen! Mein Einspruch ist einer von über 60.000. Er hat keine bindende Wirkung. Aber ein bisschen stolz bin ich schon auf mich. Welt verbessern ist eigentlich nicht sehr anstrengend. „Die Post – ein Päckchen für Sie“ – beim ersten Klingelzeichen spurte ich die fünf Stockwerke zur Haustür hinunter. Die zierliche Postbotin mit der prallen gelben Tasche hat`s eh schwer genug. Heute erspare ich ihr das Treppensteigen und wünsche ihr einen „Guten Morgen!“. Seitdem lachen wir uns an, wenn wir uns auf der Straße begegnen. Geht doch! Nächste Seite: Gutes tun kann eine Win-Win-Situation sein 2012 ist noch frisch und mein Gute-Tatendrang auch. Ich liebäugele mit einem Jahreslos bei dieser Fernseh-Lotterie, die Koffer voller Geld über armen Leuten ausschüttet. Aber erst bekommt der frierende Motzverkäufer seinen Euro. Später sehe ich ihn auf dem U-Bahnhof mit schnapsseligen Kumpels. Ich zweifle, ob meine Spende als gute Tat zählt. Die Weihnachtslektüre stapelt sich immer noch vor dem Bücherregal. Nicht alles muss raus, aber etwas. Ich packe alle Bücher der Kategorie „Ganz nett, aber nicht ein zweites Mal lesen“ in eine Kiste und fahre in meine Neuköllner Stadtbücherei. „Ach, das ist aber nett“, die Freude der Bibliothekarin ist echt. Man ist hier froh über jede Gratis- Vermehrung des Lese-Bestands. Zwei Wochen später ist das erste „meiner“ Bücher ausgeliehen und ich habe Platz im Regal für neue. Gutes tun kann eine Win-Win-Situation sein. Meine erste Woche der guten Taten hat nicht die Welt, aber zumindest meinen Gemütszustand verbessert. Gutes tun kann bedeuten, Schlechtes zu lassen. In der zweiten Woche meines Selbstversuchs verbanne ich alle Plastikverpackungen. Schluss mit eingeschweißtem Parma-Schinken . Beim Einkauf werde ich zur „Nein bitte ohne Tüte“-Kundin. Der türkische Gemüsehändler schaut verständnislos, die Karstadt-Kassiererin beleidigt. Erst nach zweimaliger Aufforderung bringe ich sie dazu, meine frisch erworbene Kugelschreibermine wieder aus der Plastiktüte zu fingern. Sie hat den Auftrag, Kunden ungefragt Gutes zu tun – ich habe den Vorsatz, die Welt vor dem Plastikinfarkt zu retten. Ein Kommunikationsdesaster. So wird das nichts mit dem Weltverbessern. Deshalb auf ins Grüne. Aufs Land! Hier ist die Welt eh ziemlich schön und die Menschen sind freundlich zueinander. Nur: Welche gute Tat soll ich hier tun? Dem Bagger, der hier unberührte Natur zum „Ferienhausidyll“ planiert, Zucker in den Tank schütten? Ich spendiere den Meisen im Garten ein Futterhäuschen. Und komme mir mit meinem täglichen guten Vorsatz lächerlich vor. Zurück in Berlin zeigt sich meine Nachbarschaft einmal mehr von ihrer schlechtesten Seite. Was immer an alten Fernsehern und Sofas Modernerem weichen musste, steht auf dem Bürgersteig. Jeder ärgert sich darüber und jeder weiß: Wo einmal Müll steht, steht bald noch mehr. Ich frage mich zum Ordnungsamt meines Bezirkes durch. Das dauert. Aber schließlich notiert eine freundliche Dame: Straßenname, Fernseher vor Hausnummer sieben, Matratze vor der 13. Vier Tage später ist der Müll tatsächlich futsch. Meine zweite Woche als Weltverbesserin endet mit einem kleinen Erfolgserlebnis. Halbzeit. Ich spüre meinen guten Vorsatz wanken. Die Ideen gehen aus. Die Stadt bibbert vor Kälte und igelt sich ein. Ich verlege meine gute Taten ins weltweite Netz. Dort ist es warm und dort lässt sich schier unbegrenzt Gutes tun: Petitionen unterzeichnen, US-Präsident Obama die Leviten lesen für 10 Jahre Gefangenenlager Guantanamo, Hilfsprojekte unterstützen. Professionell organisierte Spendenportale bieten einen ganzen Katalog guter Taten. Ich könnte Brunnen bohren helfen in Afrika, einem Kinderhospiz unter die Arme greifen, Solarkocher für Indonesien zahlen. Ich kann mich nicht entscheiden. Ich bin nicht reich. Weiß ich, wohin mein Geld fließt bei all diesen Maschen im weltweiten Netz? Ich spende fünf Euro für eine Schulbank in Kenia – und komme mir elendig knickerig vor. Nächste Seite: Wie man eine Revolution adoptiert Die Woche drauf werde ich deshalb „eine Revolution adoptieren“ – so jedenfalls wirbt ein Bündnis von deutschen und syrischen Menschenrechtsgruppen. Meine Spende soll Bloggern einer oppositionellen syrischen Studentenorganisation helfen, ihr Internet zu zahlen. Heute mache ich Muttertag! Eine halbe Stunde stelle ich mich an die Tür eines Einkaufszentrums, um Frauen mit Kinderwagen die sperrigen Glasportale aufzuhalten. Die erste Mutter ist ein Vater mit Buggy. Sieben Mal wuchte ich die schwere Tür auf. Immer ernte ich dankbare Blicke. Es stimmt tatsächlich: Gutes tun, kann Freude machen. Ich hoffe nur, niemand sieht mich. Denn im Souterrain der Einkaufsmeile bitten einige „Profis“ diskret um eine kleine Geldspende für die gleiche Hilfestellung. Um die Woche drei abzurunden, fahre ich fünf U-Bahn-Stationen weit für ein Kilo fair gehandelten Espresso. Endspurt . Das Weltverbessern wird mühsam. Alles kommt mir so albern selbstverständlich vor. Ich biete über dem Stadtplan rätselnden Berlin-Besuchern ein „May I help you?“ an, lasse eine Mutter mit Baby in der Schlange am Postschalter vor, stehe für alte Damen in der U-Bahn auf, um tags darauf selbst mit gequältem „Danke, sehr freundlich“ den Platz abzuwehren, den mir ein junger Mann anbietet. Wie kommt der Lümmel dazu, mich so alt zu machen! Ich verabrede mich mit meinem Neuköllner Patenkind, das ich im Rahmen eines Ehrenamtes betreue. Wir kochen gemeinsam, natürlich fleischlos, auf dass der Elfjährige seine Mutter bei der Hausarbeit entlastet. Er lernt, dass man Nudeln nicht in kaltes Wasser schüttet, um sie zu garen. Ich lerne, dass heutzutage schon Elfjährige fragen: „Duuu, welchen Beruf soll ich machen, damit ich später eine gute Rente kriege?“ Mein Weltverbesserungsvorsatz schwächelt. Am Wochenende vergesse ich ihn ganz. Unter der Woche gibt es Aussetzer. Zum Schluss jedoch gehe ich an meine ganz persönlichen Grenzen. Ich verkleinere meinen ökologischen Fußabdruck. Ich drehe die Heizung zwei Grad runter. Das nützt dem Weltklima und dem Geldbeutel. Ich krame Pulswärmer heraus, sitze mit Skisocken am Laptop. Am frühen Abend gebe ich auf. Für einige gute Vorsätze bin ich einfach anatomisch nicht geschaffen. Für andere schon. Vier Wochen gute Taten haben mich aufmerksamer gemacht für meine Umwelt, für mitmenschliche Freundlichkeiten, für kleine Möglichkeiten, sich einzumischen in die große Politik oder den Alltag, für Rücksichtnahme und Hilfestellungen, die erstaunlich viele Menschen auch ganz ohne gute Vorsätze leisten. Die Welt ist die Gleiche geblieben. Ich auch. Aber ich nehme mir fest vor, einen Teil dieser Achtsamkeit  zu bewahren. Nur ist da nach einem Monat auch die Lust, etwas ganz Gemeines zu machen: knusprige Billig-Masthähnchen essen oder besser noch: allen Handy-Schwätzern in Bus und Bahnen das Smart-Phone vom Ohr pflücken. Ein Monat ganz ohne „Hallo, ich bin gerade“-Plapperei. Das wäre doch mal eine segensreiche Fastenzeit.
Am Aschermittwoch hat die Fastenzeit begonnen. Doch in Zeiten von Überfluss und Übergewicht ist der Verzicht auf ein bisschen Essen kein Zeichen mehr von Umkehr und Buße. Warum stattdessen nicht versuchen, Gutes zu tun – einmal am Tag,  einen Monat lang? Ein Selbstversuch von Vera Gaserow
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kultur
2012-02-22T12:31:35+0100
2012-02-22T12:31:35+0100
https://www.cicero.de//kultur/wie-ich-versuchte-die-welt-zu-verbessern/48333
Flüchtlinge in Deutschland - „Europa ist kein Paradies“
Herr Nkamani, im Film lachen Sie darüber nach Deutschland, in ein Land ohne Schwarze, ziehen zu wollen. Wie gefällt Ihnen das jetzt, wo Sie hier sind? Um ehrlich zu sein, gibt es sehr viele Schwarze hier. Mit dem Flüchtlingsstrom sind viele Afrikaner aus Eritrea, Äthiopien und Westafrika hergekommen. In der Hinsicht hat sich meine Hoffnung also nicht erfüllt (lacht). In Berlin sind die Leute Schwarze auch gewohnt. In Wilmersdorf, dem Berliner Stadtteil wo ich jetzt wohne, leben allerdings nicht so viele. Gegenwärtig arbeiten sie als Krankenpfleger. Wie reagieren ihre Kollegen und Patienten auf Sie? Das ist unterschiedlich. Ich bin dort jetzt seit fast zehn Monaten. Für manche bin ich noch fremd. Aber ich glaube, sie müssen sich einfach nur daran gewöhnen. Für Kollegen, die nicht aus Europa stammen, ist es sowieso kein Problem. Aber eine andere Kollegin fand es am Anfang nicht so gut, dass ein Schwarzer mit ihr zusammenarbeitet. Sagt sie das auch ganz offen? Ja, ein Mal. Ein anderer Kollege hat mich gefragt, ob ich eine Familie oder ein Kind in Deutschland hätte. Das habe  ich verneint. Daraufhin sagte er, dass ich dann später meine Familie und meinen Hund aus Afrika nachholen würde. Das ist häufig die Annahme – wenn einer kommt, kommen alle. Das finde ich nicht richtig. Und die anderen Kollegen? Für die ist das kein Problem. Sagen Ihre Patienten auch manchmal etwas in der Richtung? Mit den Patienten ist es wundervoll. Fast alle sind zufrieden mit mir und wollen mich wiedersehen. Trotzdem merkt man den Generationenunterschied beim Klischee des Ausländers. Viele sind auf eine nette Art neugierig und fragen, woher ich komme. Ich erzähle ihnen dann oft, dass Kamerun mal eine deutsche Kolonie war. Die Meisten wissen das bereits, weil sie das in der Schule im Geschichtsunterricht gelernt haben. Sie finden das nicht so schlimm, denn immerhin bin ich kein Muslim und komme aus keinem islamischen Land. An meiner Kreuzkette erkennen sie auch, dass ich Christ bin und das finden sie gut. Es ist ihnen sogar sehr wichtig, denn die meisten haben den christlichen Glauben. Sie wohnen jetzt bei den Eltern des Regisseurs Jakob Preuss. Ist eine Privatunterkunft die bessere Alternative zum Flüchtlingsheim? Es ist viel besser, bei jemandem zuhause zu sein. Flüchtlingsunterkünfte sind nicht so einfach. In dem Heim, in dem ich hätte bleiben sollen, gibt es zwar große Zimmer. In denen wohnen dann aber vier Leute. Deswegen gibt es keine Privatsphäre. Außerdem legen die Leute ganz unterschiedliche Verhaltensweisen an den Tag. Sie kommen von überall her und manche finden sich hier nicht so gut zurecht, sind sogar wütend. Problematisch ist auch, dass Menschen aus so unterschiedlichen Kultur- und Religionskreisen so eng zusammenleben. In dem Film erzählen sie auch, dass Leute aus Kamerun, die es schon nach Deutschland geschafft haben, sehr positive Bilder über das Leben hier bei Facebook posten. In Kamerun sieht man wirklich nur tolle Bilder aus Europa – saubere Straßen, schöne Autos. Die Leute versuchen zu zeigen, dass Europa ein Paradies ist. Es ist kein Paradies. Auch hier muss man weiter um sein Leben kämpfen. Es gibt nichts umsonst oder geschenkt. Erstmal braucht man einen Asyl-Status und danach Arbeit oder eine Ausbildung. Aber darum muss man sich schon selbst bemühen. Es ist nicht so einfach. Posten Sie das auch auf Facebook? Ich poste eher unfreiwillig. Ich mache das nur, wenn mich die Leute fragen. Meine Familie bittet mich zum Beispiel oft darum. Sie wollen sehen, wie ich gerade aussehe, wie es mir geht. Aber ich poste keine schönen Straßen oder Gebäude und behaupte, dass Flüchtlinge so leben. Natürlich möchte ich auch schöne Fotos von mir haben, aber das ist für mich. Das ist meine Geschichte. Später kann ich die anschauen und sagen, schau, da habe ich in Deutschland gelebt. Aber die teile ich nicht. Im Film sagen Sie auch, dass nicht alle Menschen aus Subsahara-Afrika nach Europa kommen sollten. Warum? Weil Afrika sonst leer wäre (lacht). Nein, aber Spaß beiseite. Europa hat auch eigene wirtschaftliche Probleme. Trotzdem ist es besser als bei uns. Aber wenn alle Leute herkommen, werden sich die Probleme vermehren. Es gäbe dann auch mehr Konkurrenzkampf um die Arbeitsplätze, die Wohnungen und so weiter. Sollte die EU ihre Grenzen also überall so schützen wie am Grenzzaun von Melilla, der spanischen Exklave in Marokko? Die Grenzen zu schließen ist nicht die Lösung. Wenn die reichen Länder Europas mehr in die afrikanischen Länder investieren würden, könnten sie bei uns mehr Arbeitsplätze schaffen. Wenn jemand einen Job in seinem Heimatland hat, warum sollte er nach Europa kommen? Für was? Wenn es keinen Krieg, Aufstände oder Ähnliches gibt und man einen Job hat, gibt es keinen Fluchtgrund. Die Leute wollen immer lieber zuhause bei ihren Familien sein. Wenn es also mehr Investitionen gäbe, würde sich dann niemand mehr auf den gefährlichen Weg durch die Sahara oder über das Mittelmeer machen? Niemand! Selbst wenn Europa nach Aushilfskräften fragen würde, niemand würde kommen. Die Leute gehen nicht nach Europa, weil es hier so schön ist. Afrika ist Europa mehr als hundert Jahre hinterher. Es würde aber nicht so lange dauern, den Rückstand aufzuholen. Um ein Beispiel zu nennen: 1960 waren China, Südkorea und Ostasien auf dem gleichen Entwicklungsstand wie Subsahara-Afrika. Jetzt haben wir 2017 und China und Südkorea sind sehr viel weiter. Dafür haben sie keine 100 Jahre gebraucht. Es kann also auch ziemlich schnell gehen. Aber beide Länder haben einen ziemlich hohen Preis für diese Entwicklung gezahlt.  Ich glaube nicht, dass das heute – im Jahr 2017 – noch so geschehen würde. Dank der heutigen medizinischen Entwicklung könnten im Gegensatz zu China alle Leute davon profitieren. Afrika ist zwar arm und ausgebeutet, aber nicht, weil es keine Technologie gibt. Wenn Europa uns helfen würde, könnten wir das auch schaffen. Mangelnde Liquidität ist ein Problem. Oft wird das aber noch durch Korruption verschlimmert. Viele Länder sind von Partikularismus und Clanstrukturen geprägt. Muss sich dort nicht zuerst etwas ändern? Das geht aber Hand in Hand mit der wirtschaftlichen Entwicklung. Verbessert sich das Eine, verbessert sich auch das Andere. Probleme wie Korruption entstehen aus wenig Möglichkeiten zur Arbeit. In Europa gibt es auch Einzelfälle von Korruption. Es ist aber sehr selten. Warum? Weil es viel zu tun gibt. Man muss das nicht machen. Bei uns bewerben sich zu viele Menschen auf einen Arbeitsplatz. Das fördert die Korruption zusätzlich und macht unsere Gesellschaft kaputt. Mehr Geld bedeutet aber nicht zwingend, dass es besser funktioniert. Das stimmt. Aber nur dank des Marshall-Plans wurde Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg neu aufgebaut. Ohne den wäre das Wachstum nicht möglich gewesen. Das ist wie bei uns. Afrika braucht auch einen Marshall-Plan. Der wurde jetzt ja von unserem Minister für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklungszusammenarbeit vorgelegt. Das ist nur Politikgerede. Das wird wahrscheinlich nicht umgesetzt. Sehen Sie diesen Kaffee? (Deutet auf den Kaffee vor sich) Man trinkt ihn in Europa jeden Tag. Bei uns wird er angebaut, aber ich trinke nicht jeden Morgen einen Kaffee. Europa nimmt sich nur den Rohstoff und verarbeitet ihn bei sich weiter. Danach kommt das Endprodukt wieder zu uns. Warum? Das muss doch normalerweise eine Fabrik bei uns machen. Das schafft auch Arbeitsplätze und nach der Arbeit können wir dann einfach alle zusammen einen Kaffe trinken gehen (lacht). Am 31.8.2017 ist Kinostart des Dokumentarfilms „Als Paul über das kam“, Farbfilm Verleih, 97 Minuten.
Chiara Thies
Paul Nkamani floh von Kamerun nach Deutschland. In Marokko traf er den Regisseur Jakob Preuss, der ihn von dort an auf seiner Flucht begleitete. Ein Gespräch über Integration, Grenzen und warum Europa nicht alle Flüchtlinge aufnehmen darf
[ "Flüchtlinge", "Migration", "Fluchtwege" ]
innenpolitik
2017-08-22T13:22:43+0200
2017-08-22T13:22:43+0200
https://www.cicero.de//innenpolitik/fluechtlinge-in-deutschland-europa-ist-kein-paradies
Demografiegipfel - Wo bleiben die Rentenzahler?
Grob vereinfacht kann man es so beschreiben: In Deutschland leben die Menschen durchschnittlich immer gesünder und immer länger. Gleichzeitig werden aber immer weniger Kinder geboren. Mehr noch: Es sterben mehr Menschen, als neue geboren werden. Und das heißt: Deutschland schrumpft (zumindest ohne Zuwanderung) und wird immer älter. In Zahlen ausgedrückt: 1990 lag der Anteil der über 65-Jährigen noch bei 15 Prozent, 2011 waren es bereits 21 Prozent – so hoch wie in keinem anderen EU-Staat, Tendenz weiter steigend. 2011 wurden 663.000 Kinder geboren, das waren 15.000 weniger als 2010 und der Tiefstand seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Als demografischer Wandel wird das gemeinhin bezeichnet, und Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) hat am Wochenende gefordert, diese Entwicklung nicht immer als Problem, sondern als Chance zu sehen. Aber egal, ob nun das Glas halb voll oder halb leer ist, die Herausforderungen, die hinter den Zahlen stecken, liegen auf der Hand. Wenn immer mehr Menschen immer älter werden und die Bevölkerungszahl gleichzeitig sinkt, heißt das, dass immer weniger Menschen mit ihren Steuern und Sozialabgaben die Leistungen des Staates, insbesondere für ältere, aber auch jüngere Menschen finanzieren müssen. Das betrifft das Rentensystem, aber auch Wohnungs- und Straßenbau, Bildung oder medizinische Versorgung. Dieses Ungleichgewicht betrifft nahezu jeden Lebensbereich, allerdings, und das kommt als zusätzliche Herausforderung hinzu, nicht jede Region gleichermaßen. Sieben Bundesländer verzeichneten 2011 eine Bevölkerungszunahme: Baden-Württemberg, Bayern, Berlin, Bremen, Hamburg, Hessen und Schleswig-Holstein. Im Rest war die Zahl rückläufig. Das Statistische Bundesamt schätzt, dass Deutschland bis 2030 mehr als vier Millionen Einwohner verlieren wird, bis 2050 sollen es sogar rund 14 Millionen sein. Dann dürften weniger als 70 Millionen Menschen in der Bundesrepublik leben. Neu ist diese Entwicklung nicht. Jedoch ist die politische Lösung nicht einfach, weil die verschiedensten Politikfelder betroffen sind – und auch die verschiedensten föderalen Ebenen. Die Bundesregierung hat es zunächst einmal mit Demografiegipfeln versucht. Davon gab es im vergangenen Herbst den ersten. Neun Arbeitsgruppen mit diversen Unterarbeitsgruppen wurden gebildet. An der Spitze steht jeweils ein Kabinettsmitglied. An diesem Dienstag sollen nun erste Zwischenergebnisse präsentiert werden. Im federführenden Bundesinnenministerium warnt man aber vor allzu hohen Erwartungen. Beim Deutschen Städte- und Gemeindebund will man sich mit dem Gipfel nicht zufriedengeben. „Der Demografiegipfel ist ein notwendiger Zwischenschritt, aber er liefert keinen Durchbruch für die zahlreichen Herausforderungen“, sagte Vizepräsident Roland Schäfer dem Tagesspiegel. Eine der Fragen laute: Wie geht es mit der Entwicklung im ländlichen Raum weiter? „Dabei geht es auch um den Ausbau der Breitbandverbindungen. Da hat sich zwar etwas getan, aber längst noch nicht genug. Eine ordentliche digitale Infrastruktur ist eine Frage der Daseinsvorsorge, und da steht der Bund in der Pflicht, vernünftige Rahmenbedingungen zu schaffen“, forderte Schäfer. Für die Lösung des Problems, oder wie es Angela Merkel wohl sagen würde, für die Bewältigung der Herausforderung, sind unterschiedliche Ansätze notwendig, und jeder nimmt unterschiedliche Perspektiven ein. FDP-Chef Philipp Rösler forderte am Montag beispielsweise mehr Zuwanderung von Fachkräften, um dem Bevölkerungsschwund entgegenzuwirken. Vor allem nutzt er das Thema, um ein paar Wahlkampfpunkte gegenüber dem eigenen Koalitionspartner zu sammeln. „Der Demografiegipfel der Regierung am Dienstag bietet eine ideale Möglichkeit auch für die Union, ganz konkret zu liefern“, sagte Rösler. Die FDP plädiere weiter für ein System der gesteuerten Zuwanderung in den Arbeitsmarkt. Andere wie der Direktor des Instituts der Deutschen Wirtschaft, Michael Hüther, fordern, deutlich mehr Ältere zu beschäftigen. Die deutsche Wirtschaft könne den demografischen Wandel nur bewältigen, wenn ältere Arbeitnehmer besser und länger ins Berufsleben einbezogen würden, sagte Hüther. Ältere Mitarbeiter hätten oft mehr Erfahrung und Wissen. „Um das zu nutzen, müssen wir sie aber kontinuierlich weiterbilden – über das gesamte Arbeitsleben.“ Und so werden am heutigen Dienstag nicht nur verschiedene Zwischenergebnisse präsentiert, sondern auch unterschiedliche Forderungen, die sich daraus ableiten. Mit diesen kann sich dann die nächste Bundesregierung auseinandersetzen. Auch eine Herausforderung. Oder eine Chance.
Christian Tretbar
Gipfel gibt es immer dann, wenn keine wirklich konkreten Ergebnisse zu erwarten sind: Klimagipfel, Energiegipfel. Am Dienstag gibt es den zweiten Demografiegipfel. Sogar Zwischenergebnisse soll es geben. Trotzdem dämpfen die Beteiligten die Erwartungen. Dabei drängt das Thema
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innenpolitik
2013-05-14T08:54:33+0200
2013-05-14T08:54:33+0200
https://www.cicero.de//innenpolitik/demografiegipfel-wo-bleiben-die-rentenzahler/54426
Erziehungsratgeber der Amadeu Antonio Stiftung - „Die Stiftung wollte mich mundtot machen“
Er sagt, er habe die Korken knallen lassen, als er die Nachricht erfuhr. Falko Liecke (CDU), Jugendstadtrat von Berlin-Neukölln, darf auf der Homepage seines Bezirks weiterhin von der Nutzung eines Ratgebers der Amadeu Antonio Stiftung  („Ene, mene, muh – und raus bist Du“) abraten, der Erzieherinnen und Erziehern Strategien im Umgang mit Kindern aus rechtsextremen Elternhäusern gibt. Das hat jetzt das Verwaltungsgericht Berlin entschieden. Dem Urteil war ein bizarrer Streit zwischen dem CDU-Politiker und der steuerfinanzierten Stiftung vorausgegangen. Diese hatte Liecke, der zugleich auch stellvertretender Bezirksbürgermeister von Neukölln ist, im Januar eine Unterlassungsaufforderung geschickt. Wenn er die Warnung vor der umstrittenen Broschüre nicht von der Homepage des Bezirksamts lösche, drohe ihm ein Ordnungsgeld von bis zu 250.000 Euro. Was die Sache besonders pikant machte: Das Bundesfamilienministerium hatte den Druck der Broschüre mit 4.600 Euro mitfinanziert. Das Vorwort hatte Familienministerin Franziska Giffey (SPD) geschrieben – und die Herausgeber der Broschüre gegen jede Kritik in Schutz genommen. „Kinder schnappen rassistische Bemerkungen oder antisemitische Einstellungen auf und geben sie weiter. Oder Eltern kommen damit auf die Erzieherinnen und Erzieher zu. Was tun? Wie reagieren, wie vorbeugen?“ Giffey war vor ihrem Wechsel in die Bundesregierung Bezirksbürgermeisterin von Neukölln. Im Streit mit der Amadeo-Antonio-Stiftung hatte sich Liecke auf die Meinungsfreiheit berufen. Es sei nicht Aufgabe des Kita-Personals, die politische Gesinnung der Eltern zu prüfen. Die Herausgeber der 58-seitigen Broschüre wollten Vorurteile bekämpfen, vermittelten sie aber selbst, kritisierte er in Anspielung auf eine Passage aus der Broschüre,  die besonders bei der CDU und in der AfD für Empörung gesorgt hatte. Darin hieß es, Kinder rechtsextremer Eltern erkenne man daran, dass sie schon in jungen Jahren traditionelle Geschlechterrollen übernommen hätten. „Das Mädchen trägt Kleider und Zöpfe, es wird zu Hause zu Haus- und Handarbeiten angeleitet, der Junge wird stark körperlich gefordert und gedrillt. Beide kommen häufig am Morgen in die Einrichtung, nachdem sie bereits einen 1,5-km-Lauf absolviert haben.“ Völkische Klischees aus der Mottenkiste. Das Gericht kam jetzt zu dem Schluss, dass die Amadeo Antonio Stiftung nicht glaubhaft dargelegt hätte, warum der Jugendstadtrat rechtswidrig gehandelt haben soll. Liecke habe sich mit seiner Äußerung sehr wohl „im Rahmen des ihm zugewiesenen Aufgabenbereichs bewegt“ und „das Sachlichkeitsgebot gewahrt.“ Der Angeklagte registrierte das Urteil mit Genugtuung. „Die Stiftung wollte mich mundtot machen“, sagte er dem Cicero. Als oberster Dienstherr der Erzieherinnen und Erzieher trage er die Verantwortung für die pädagogischen Richtlinien in den 200 Kitas in seinem Bezirk. Und diese Broschüre sei ein unzulässiger Eingriff in die Privatsphäre der Familien. In Neukölln gäbe es im übrigen mehr Probleme mit religiösem Extremismus, „wenn Kinder beispielweise zum Tragen des Kopftuches genötigt oder Zwangsehen schon im Kindesalter arrangiert werden.“ Verbieten werde er den Erziehern in Neukölln den Gebrauch der Broschüre nicht. „Es hat aber auch noch keiner danach gefragt.“ Der Bundesfamilienministerin riet Liecke nach dem Urteil, künftig genauer hinzuschauen, was für Broschüren ihr Ministerium mit Steuergeldern fördere – auch solche, die Linksterrorismus oder Islamismus betreffen. Und die Amadeu Antonio Stiftung? Ihr Geschäftsführer, Timo Reinfrank, hält an der Kritik der Kritik des Neuköllner Jugendstadrates fest. Er sieht die Stiftung als Opfer einer Diffamierungskampagne, der sich auch Liecke angeschlossen habe. „Aus der über sechzigseitigen Publikation griff die Pressemitteilung zwei Fallbeispiele auf, die zuvor durch gezielte Auslassung, falsche Zitierung und offenbar bewussten Missinterpretation von rechtspopulistischen Medien in der Öffentlichkeit skandalisiert worden waren.“ In einer Pressemitteilung schreibt Reinfrank, er bedauere, „dass das Wohl der Kinder und die realen Bedarfe der Kitas in der öffentlichen Debatte bisher in den Hintergrund gerückt sind.“ Nach einer Studie des Deutschen Kinderhilfswerks habe die Mehrheit der befragten Kita-Leiter „Erfahrungen mit Rechtspopulismus und gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit gemacht." Es sei gesetzlicher Auftrag der Kitas, sich auch mit Lebensverhältnissen von Familien auseinanderzusetzen. Und diesem Auftrag habe die Stiftung mit dem Ratgeber Rechnung getragen. Mit Blick auf Falko Liecke und die anderen Kritiker der Broschüre sagte Reinfrank, die Debatte um Rechtspopulismus müsse nun endlich sachlich geführt werden.
Antje Hildebrandt
Falko Liecke (CDU), Jugendstadtrat von Berlin-Neukölln, darf weiterhin vor dem Erziehungsratgeber „Ene, mene, muh – und raus bist Du“ warnen. Das hat das Verwaltungsgericht Berlin entschieden. Der Herausgeber – die Amadeu Antonio Stiftung – spricht weiter von gezielter Diffamierung
[ "Amadeu Antonio Stiftung", "Rechtsextremismus", "Kindergarten", "Falko Liecke", "Neukölln", "Bezirksbürgermeister", "Franziska Giffey" ]
innenpolitik
2019-04-16T15:03:16+0200
2019-04-16T15:03:16+0200
https://www.cicero.de//innenpolitik/amadeu-antonio-stiftung-falko-liecke-bezirksamt-neukoelln-ratgeber-ene-mene-muh-verwaltungsgericht/plus
Statistisches Bundesamt - Die Inflation sinkt im November auf 3,2 Prozent
Die Inflationsrate in Deutschland wird im November 2023 voraussichtlich +3,2 % betragen, wie das Statistische Bundesamt in Wiesbaden am Mittwoch nach einer ersten Schätzung mitteilte. Das ist der niedrigste Stand seit Juni 2021 (+2,4 %). Gemessen wird die Inflationsrate als Veränderung des Verbraucherpreisindex (VPI) zum Vorjahresmonat. Wie das Statistische Bundesamt (Destatis) nach bisher vorliegenden Ergebnissen weiter mitteilt, sinken die Verbraucherpreise gegenüber Oktober 2023 voraussichtlich um 0,4 %. Die Inflationsrate ohne Nahrungsmittel und Energie, oftmals auch als Kerninflation bezeichnet, beträgt voraussichtlich +3,8 %. Dämpfend auf die Inflationsrate wirkte im November 2023 insbesondere der Rückgang der Energiepreise um 4,5 % gegenüber dem Vorjahresmonat. Hier kam ein Basiseffekt infolge des sehr hohen Energiepreisniveaus im Vorjahr zum Tragen. Zudem stiegen die Preise für Nahrungsmittel im November 2023 mit +5,5 % gegenüber dem Vorjahresmonat nicht mehr so stark wie noch in den Vormonaten.
Cicero-Redaktion
Die Teuerungsrate ist in Deutschland erneut gefallen, steht aber weiter deutlich über dem offiziellen Inflationsziel von zwei Prozent.
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wirtschaft
2023-11-29T14:18:25+0100
2023-11-29T14:18:25+0100
https://www.cicero.de//wirtschaft/statistisches-bundesamt-die-inflation-sinkt-im-november-auf-32-prozent
Social Media - Wie das TV-Duell bei Twitter einschlug
Soziale Netze und besonders Twitter werden bei großen TV-Ereignissen zunehmend als „Second Screen“ genutzt: Während auf dem ersten Bildschirm die Sendung gesehen wird, diskutieren Nutzer auf dem zweiten Bildschirm das Gesehene mit anderen Nutzern, machen Witze oder decken Logikfehler auf. In Deutschland hat sich dies zum Beispiel beim sonntäglichen Tatort oder bei Sport-Events eingebürgert. Dass es ein politisches Event in Deutschland mit der Masse an Tweets zum #Tatort aufnehmen kann, ist da schon eher ungewöhnlich, liegt aber sicher auch darin begründet, dass es in diesem Wahlkampf nur dieses eine direkte Aufeinandertreffen von Merkel und Steinbrück geben sollte. Twitter selbst verkündete gar, dass das deutsche #tvduell am Abend weltweit das am häufigsten genannte Hashtag war. Während der TV-Übertragung wurden demnach über 173.000 Tweets verschickt - für die doch eher geringe Anzahl deutscher Twitternutzer ein beachtlicher Wert. [[nid:55612]] Blickt man auf die Twitter-Accounts, die im Zusammenhang mit dem Hashtag #tvduell am häufigsten genannt wurden, gibt es einige Überraschungen. An vorderster Stelle liegt hier neben dem offiziellen Tagesschau-Account das Profil von Peer Steinbrück, der sogar während seines TV-Auftritts twitterte bzw. twittern ließ. Auch wenn in Steinbrücks Profil offen angegeben wird, dass sein Team die meisten Tweets schreibt, zeigten sich doch viele User verwundert bis verärgert über diese offensichtliche Diskrepanz und auch die politische Konkurrenz nahm die Steilvorlage dankend an. Ein weiterer sehr häufig genannter Account wurde erst während des Duells angemeldet. So war schon nach wenigen Minuten diversen Usern Merkels Halskette in den Deutschlandfarben aufgefallen, auch wenn einige darauf hinwiesen, dass die Reihenfolge der Farben wohl eher auf Belgien schließen lasse. Dies nahm ein gedankenschneller Twitter-User zum Anlass den Account @schlandkette anzumelden und während des Duells einige Statements zu twittern. Mit Aussagen wie „Also ich häng hier so rum... und ihr?” schaffte es der anonyme User innerhalb weniger Stunden auf über 6.000 Abonnenten. Ein ähnliches Phänomen ist der Account @grumpymerkel. In Anlehnung an ein verbreitetes Internet-Meme, die sauertöpfisch blickende „Grumpy Cat”, twittert hier Merkels Alter Ego etwas missmutig „live” vom TV-Duell: „Der Raab soll sich mit der Hand melden, wenn er was fragen will.” Wer den Twitter-Nutzern aber unterstellt, es drehe sich auf der Plattform alles um kleine Witzchen, der unterschätzt die Bandbreite der politischen Diskussion in diesem Medium. Besonders da hier politische Inhalte durch die Kürze der Tweets prägnant und knapp formuliert werden müssen, entstehen oft Statements, die so viel aussagen können wie ganze Leitartikel. Der Journalist Stefan Niggemeier etwa thematisiert in seinem Tweet einen viel sagenden Satz von Merkel während des Duells: „Angela Merkels Regierungsprogramm in einem Satz: Sie kennen mich.“ Auch dass beide Kandidaten oft nicht wirklich auf die gestellten Fragen antworteten, stieß vielen Nutzern auf: „Merkel heute großzügig: Sie hört sich die Frage vorher an, bevor sie sie ignoriert!“. Ein weiterer Vorteil am „Second Screen” Twitter: Falschaussagen der Kandidaten können oft sofort geprüft und widerlegt werden. So behauptete z.B. Steinbrück, dass Snowden kein Asyl in Deutschland beantragt hätte und sich diese Frage deshalb nicht stelle. Dabei hat Snowden, wenn auch rechtlich nicht korrekt, durchaus um Asyl gebeten. Auf Twitter konnte dies wenige Minuten nach dem Statement nachgelesen werden. Aber nicht nur die Statements der beteiligten Politiker wurden diskutiert, sondern auch das Format an sich. Schon im Vorfeld wurde die Kritik laut, dass ein TV-Duell zwischen zwei Kandidaten einen reinen Zweikampf suggeriere und deshalb die politische Vielfalt in Deutschland nur unzureichend abbildet. Marina Weisband von den Piraten brachte dies in einem im Vorfeld des Duells sehr häufig verbreiteten Tweet ironisch auf den Punkt: „Zum Glück gibt es das #TVduell, um uns daran zu erinnern, dass wir eh nur die Wahl zwischen zwei Parteien haben.” Aus den USA, die im Gegensatz zu Deutschland eine lange TV-Duell-Historie haben, stammt der Begriff der Spin-Doktoren. Diese sollen im Anschluss an die TV-Auftritte dafür sorgen, dass die Medienberichterstattung auch den „gewünschten Dreh” in Richtung ihres Wunschkandidaten bekommt. So wurde bisher immer davon ausgegangen, dass die Schlagzeilen am Morgen nach dem TV-Duell den größten Anteil daran haben, wer als Sieger vom Platz geht als die Live-Sendung selbst. [[nid:55612]] Nun stellt sich heute die Frage, wie viele Menschen wirklich noch auf die Schlagzeilen der Tageszeitungen warten oder ob sie nicht bis dahin schon längst die diversen Einordnungen der Online-Medien gelesen haben. Neben diversen Live-Tickern, Live-Votings und Blitzumfragen werden auch hier die Sozialen Netze zum Schauplatz des Kampfs um die Deutungshoheit. Politiker und andere Spin-Doktoren sitzen deshalb nicht mehr nur in den Talkshows nach dem Duell, um den eigenen Kandidaten als Sieger zu küren, sondern kommentieren schon während des Duells und besonders kurz danach auf allen Kanälen. Auf Twitter konnten deshalb von allen Parteien und vielen Politikern mehr oder weniger profunde Einschätzungen des Duells vernommen werden. Manche reagierten dabei erstaunlich schnell. So nutzten etwa die Grünen eine Aussage Merkels zum NSA-Skandal für eine neue Version ihres Wahlplakats. Auf der CDU-Seite fiel besonders auf, dass Hermann Gröhe, der sonst gerne als Sprachrohr der Partei auf Twitter auftritt, wohl während seines ZDF-Auftritts keine Zeit zum twittern hatte und im Gegensatz zu Steinbrück kein angebliches Multitasking betreibt.
Tobias Wagner
Im Netz war das TV-Duell zwischen Angela Merkel und Peer Steinbrück das Thema des Tages. Während die Nutzer Aussagen, Versprecher oder Kleidungsstücke der Kandidaten kommentieren, nutzen Parteien und Politiker den Kanal dazu, den Ausgang des Duells in die gewünschte Richtung zu deuten
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innenpolitik
2013-09-02T13:50:49+0200
2013-09-02T13:50:49+0200
https://www.cicero.de//innenpolitik/tv-duell-twitter/55618
Oberverwaltungsgericht NRW - Urteil: AfD zu Recht rechtsextremistischer Verdachtsfall
Das Bundesamt für Verfassungsschutz hat die AfD nach einem Urteil des nordrhein-westfälischen Oberverwaltungsgerichts zu Recht als rechtsextremistischen Verdachtsfall eingestuft. Das Gericht bestätigte am Montag in Münster ein Urteil aus der Vorinstanz. Damit darf der Verfassungsschutz auch weiterhin nachrichtendienstliche Mittel zur Beobachtung der Partei einsetzen. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig. Das OVG ließ zwar keine Revision zu. Die AfD kann aber Beschwerde beim Bundesverwaltungsgericht in Leipzig einlegen (Az: 5 A 1216/22, 5 A 1217/22 und 5 A 1218/22). Die Befugnisse des Verfassungsschutzes seien „keineswegs grenzenlos weit“, aber eine wehrhafte Demokratie dürfe auch kein „zahnloser Tiger“ sein, betonte Gerald Buck, Vorsitzender Richter des 5. Senats, in der Begründung der Entscheidung. Vor allem bei der Beobachtung einer besonders geschützten politischen Partei müsse der Verfassungsschutz „hinreichend verdichtete Umstände“ vorlegen können, die darauf hinweisen, dass eine Gruppierung möglicherweise Bestrebungen gegen die freiheitliche Grundordnung verfolge. Das sah der Senat im Fall der Einstufung der AfD als rechtsextremistischer Verdachtsfall gegeben. Es gebe nach Überzeugung des Senats den begründeten Verdacht, „dass es den politischen Zielsetzungen jedenfalls eines maßgeblichen Teils der AfD entspricht, deutschen Staatsangehörigen mit Migrationshintergrund nur einen rechtlich abgewerteten Status zuzuerkennen“, hieß es in der Begründung. Das sei laut Grundgesetz eine „unzulässige Diskriminierung“. Die AfD hatte sich in dem Berufungsverfahren dagegen gewehrt, dass der Verfassungsschutz die gesamte Partei, den mittlerweile aufgelösten AfD-„Flügel“ und die Jugendorganisation Junge Alternative als extremistischen Verdachtsfall führt. Beim Flügel geht es zusätzlich um die Einstufung als gesichert extremistische Bestrebung. In erster Instanz hatte das Verwaltungsgericht Köln den Verfassungsschützern recht gegeben: Die Richter sahen ausreichend Anhaltspunkte für verfassungsfeindliche Bestrebungen innerhalb der AfD. Dem schloss sich das OVG jetzt an. Damit darf der Verfassungsschutz die Partei weiterhin mit nachrichtendienstlichen Mitteln beobachten. Bewertungsmaßstab ist das Bundesverfassungsschutzgesetz. Die Anwälte der Partei hatten bereits vor dem Urteil angekündigt, in die nächste Instanz zu ziehen. Dabei würde das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig die Entscheidung des OVG auf Rechtsfehler prüfen. Am Montag vertrat Roman Reusch aus dem Bundesvorstand nach Parteiangaben die AfD. Die Klagen richteten sich gegen das Bundesamt für Verfassungsschutz. Weil das Bundesamt seinen Sitz in Köln hat, waren die Gerichte in NRW zuständig. dpa
Cicero-Redaktion
Nach sieben Tagen mündlicher Verhandlung ziehen die obersten NRW-Verwaltungsrichter einen Schlussstrich unter den jahrelangen Rechtsstreit zwischen der AfD und dem Verfassungsschutz. Zumindest vorläufig.
[ "AfD", "Rechtsextremismus" ]
innenpolitik
2024-05-13T10:20:03+0200
2024-05-13T10:20:03+0200
https://www.cicero.de//innenpolitik/urteil-des-oberverwaltungsgerichts-nrw-afd-bleibt-rechtsextremistischer-verdachtsfall
Regierungsbildung in Italien - Die Schwanzschläge des Krokodils
Und am Ende, als alle das Krokodil für erledigt hielten, hat es mit einem einzigen Schwanzschlag wieder alles umgeworfen: Silvio Berlusconi hat den Weg für eine Regierung der Parteien Fünf-Sterne und Lega freigemacht, indem er sich und seine Partei Forza Italia aus der Allianz mit der Lega zurückgezogen hat. Forza Italia kündigte eine „wohlwollende Enthaltung“ bei der Vertrauensfrage für eine Regierung Lega-Fünf-Sterne an – ein weiteres Oxymoron der an logischen Widersprüchen reichen italienischen Politik. So soll nun bis Sonntag die neue Regierung stehen. Warum Berlusconi diesen Schritt gemacht hat? Natürlich, weil er Neuwahlen fürchtet, genauso wie sein politischer Widersacher Matteo Renzi von der Demokratischen Partei. Laut Umfragen liegt Berlusconis Forza Italia bei 10 Prozent, Renzis Demokratische Partei bei 15 oder sogar 12 Prozent. Renzi hat in seiner zweijährigen Regierungszeit viele politische Niederlagen eingefahren und so seine Partei zum schlechtesten Wahlergebnis in der Geschichte der italienischen Linken geführt. Er ist nicht mehr Generalsekretär, sondern einfacher Senator – bestimmt aber unverändert die Geschicke der unrettbar masochistisch veranlagten Demokratischen Partei. Für Renzi und Berlusconi wären Neuwahlen ihr politisches Ende. Auch aus diesem Grunde jubelte Renzi nach Berlusconis Ankündigung. Er kündigte seinerseits an, es sich jetzt mit Popcorn gemütlich zu machen und zuzusehen, wie die neue Regierung vor die Wand fährt. Die mögliche Koalition verfügt über 346 Stimmen und hat damit 30 mehr als notwendig. Im Falle von Neuwahlen wäre es für Berlusconi bereits ein Traumergebnis, noch mal zehn Prozent zu erlangen. Außerdem ist die Finanzlage seines Medienimperiums angeschlagen. Klar, dass es da besser ist, minimal an der Regierung beteiligt zu sein, als von draußen zusehen zu müssen, wie Gesetze verabschiedet würden, die sein Ende besiegeln. Und genau das ist der Knackpunkt der Verhandlungen zwischen den Fünf-Sternen und der Lega: Berlusconi wird nicht tatenlos zusehen, wenn (notwendige) Gesetze zum Interessenskonflikt und über seine große Medienkonzentration verabschiedet werden. Die Frage ist: Wie weit zieht der Lega-Chef Matteo Salvini mit? Und mit wem? Tatsächlich mit den Fünf-Sternen oder doch mit seinem Bündnispartner, dem Krokodil? Im Senat bringen es Fünf-Sterne und Lega lediglich auf eine Mehrheit von acht Stimmen. Da kommt Berlusconis Ankündigung ins Spiel, gegebenenfalls ein paar von den „Hungerleidern“ der Fünf-Sterne-Bewegung zu kaufen, die nicht bereit sind, sich an die parteiinterne Regel zu halten, einen Teil ihres Gehalts in einen Fonds für Mikrokredite für Kleinunternehmer einzuzahlen.. Berlusconi sitzt also wieder mal als unsichtbarer Gast mit am Tisch. Auch weil er in Kommissionen vertreten sein wird, die traditionell den Oppositionsparteien vorbehalten sind, also Berlusconis Forza Italia und Renzis Demokratischer Partei. Und deshalb war in diesen Tagen der italienischen Regierungsbildung ein kleiner Moment viel aussagekräftiger, als jeder Kommentar und jede blumige und noch so kämpferische Ankündigung der Wahlsieger Luigi Di Maio, Chef der Fünf-Sterne-Bewegung, und Matteo Salvini. Es war, als der 81-jährige Berlusconi nach dem letzten Beratungsgespräch im Präsidentenpalast um einen kleinen Gefallen bat. Darum, ein paar Minuten mit dem Staatspräsidenten Sergio Mattarella unter vier Augen sprechen zu können. Nein, um die Regierungsbildung sei es ihm nicht gegangen. Sondern stattdessen habe er versucht, den Staatspräsidenten zu überzeugen, sich für die vorzeitige Haftentlassung des wegen Unterstützung der Mafia einsitzenden Freundes Marcello Dell’Utri einzusetzen. Dell’Utri, ehemaliger Senator, Gründer von Forza Italia und rechte Hand von Berlusconi, sitzt seit 2014 in Gefängnis, verurteilt zu sieben Jahren Haft. Seine Anwälte haben sich bereits mehrmals vergeblich um seine vorzeitige Entlassung bemüht. Sie wiesen darauf hin, dass ihr illustrer Klient an der Prostata, an Herzbeschwerden und einer Diabetes leide. Die Gerichte lehnten jedoch ab und wiesen darauf hin, dass sein Gesundheitszustand mit den Haftbedingungen kompatibel sei. Die Haft habe ebenfalls erzieherischen Charakter. Der sei umso notwendiger, als die Gesundheitsprobleme Dell’Utri im Jahr 2014 auch nicht davon abgehalten haben, in den Libanon zu flüchten, um der Haft zu entgehen. Jetzt sei die Fluchtgefahr noch immer groß, da er erst vor wenigen Wochen zu weiteren zwölf Jahren Haft verurteilt wurde. Die Gerichte sahen es als bewiesen an, dass Dell’Utri der „Transmissionsriemen“ zwischen der Forderungen der Mafia und der Regierung Berlusconi war. Das ist die traurige Realität in Italien. Silvio Berlusconi ist vorbestraft, darf nicht bei Wahlen kandidieren und für fünf Jahre kein politisches Amt ausüben. Trotzdem darf er den Präsidentenpalast betreten und Gespräche über eine mögliche Regierungsbildung führen. Für ihn ist es normal, einen Staatspräsidenten, dessen Bruder von der Mafia ermordet wurde, darum zu bitten, seinen wegen Unterstützung der Mafia verurteilten Freund aus der Haft zu entlassen. Das hat viele Italiener verbittert – nicht zuletzt die 11 Millionen Italiener, knapp 33 Prozent, die für die Fünf-Sterne-Bewegung gestimmt haben. Dass ein politischer Führer die Politik ausschließlich für seine persönlichen und unternehmerischen Interessen nutzt, ist eine Anomalie, die sich durch die italienische Politik der vergangenen 25 Jahre zieht. Unter dem wohlwollenden Blick der EU übrigens. Diese protestierte nicht, als sich Mitglieder von Forza Italia der Europäischen Volkspartei anschloss. Berlusconi ist der Tumor der italienischen Politik, gegen den nichts hilft. Berlusconi schaffte es, die italienische Linke in eine seiner Krücken zu verwandeln, auf die er sich stützen konnte, wenn es anders nicht mehr ging. Es gelang Berlusconi, Umberto Bossis Meuterei gegen ihn niederzuschlagen und die Lega in einen Selbstbedienungsladen für Parteifunktionäre zu verwandeln. Und er war es auch, der letztlich den Anstoß für die Entstehung der Fünf-Sterne-Bewegung gab. Die lehnte sich dagegen auf, dass es jahrzehntelang keine echte Opposition gegen Silvio Berlusconi gab. Um so mehr grummelt es jetzt im Bauch der Fünf-Sterne-Basis – jenen „Grillini“, die für Berlusconi vor ein paar Tagen noch gerade gut genug waren, bei seinem Fernsehsender Mediaset die Toiletten zu putzen. Natürlich: Die Einigung mit Salvini war für die Fünf-Sterne alternativlos. Die Gespräche mit Demokratischen Partei waren gestoppt worden, noch bevor sie angefangen hatten, als Renzi in der Talkshow „Che tempo che fa“ sein „Nein“ sprach. Jetzt bangt die Basis der Fünf-Sterne darum, dass ihre politischen Ziele auch von der Lega geteilt werden: Wird der Gesetzesvorschlag zur Lösung des Interessenskonflikt in den Koalitionsverhandlungen auftauchen? Wie wird es aussehen mit den Antimafia-Gesetzen? Mit Gesetzen gegen Steuerhinterziehung? Mit Antikorruptionsgesetzen? Wie weit wird Salvini gehen? Sollte die Regierung abgesegnet werden, muss sie sofort über eine umstrittene Rechtsreform zur Regelung der Abhörpraxis und eine Haftstrafenreform entscheiden und außerdem die Geheimdienstchefs, Polizeichefs und den Rundfunkrat ernennen. Zentrale Fragen, auch für Berlusconi. Staatspräsident Mattarella versucht, die beiden Koalitionspartner schon jetzt auf Europakurs zu bringen. Er wird auch die Liste der Minister absegnen. Zu hoffen ist dabei, dass er sich besser verhält als sein Vorgänger Giorgio Napolitano, der den Antimafia-Staatsanwalt Nicola Grattieri als Justizminister verhindert hat. Damit tat er Berlusconi und der Mafia einen großen Gefallen. In den kommenden Tagen, wenn die Namen der Minister und des Premierministers (weder Salvini noch Di Maio), bekannt gegeben werden, wird sich herausstellen, ob das Krokodil wirklich tot ist. Oder ob noch weitere Schwanzschläge zu befürchten sind.
Petra Reski
Bereits am Sonntag sollen die Koalitionsverhandlungen zwischen Lega und Fünf-Sterne enden. Möglich wurde dies, weil Silvio Berlusconi seine Forza Italia zurückgezogen hat. Trotzdem bleibt er eine Schlüsselfigur in der italienischen Politik
[ "Italien", "Lega", "Forza Italia", "Fünf-Sterne-Bewegung", "Silvio Berlusconi" ]
außenpolitik
2018-05-11T13:08:03+0200
2018-05-11T13:08:03+0200
https://www.cicero.de//aussenpolitik/regierungsbildung-italien-renzi-salvini-berlusconi-lega-forza-italia-fuenf-sterne
Jesper Juuls Streitschrift – Mein Kind, das Investitionsobjekt
„Ach, du arbeitest schon wieder?“ Eine Frage,  der ich ein halbes Jahr nach der Geburt meiner Tochter  mit gemischtem Gefühl entgegentrete, einer Melange aus schlechtem Gewissen und Stolz, aus Unsicherheit und dem Wunsch nach Bestätigung. Was danach kommt, zerstört meist entweder die eine oder andere Empfindung: Ein „Das ist aber früh!“ mit hochgezogenen Augenbrauen  etwa lässt mich jedes Mal um zehn Zentimeter zusammensacken. In grün oder blau kennen diese Situation wohl alle Väter und Mütter, die ihre Kleinkinder zeitweise von jemand anderem betreuen lassen. Wir werden das Gefühl nicht los, dass wir unseren Kindern nicht gerecht werden. Dass wir sie zu früh in die Kinderbetreuung geben, dass wir sie zu spät abholen. Gleichzeitig haben wir Angst, dass wir unseren Job vernachlässigen, zu früh nach Hause gehen, zu unflexibel sind. Die Sicherheit, dass man es richtig macht, gibt es nicht. Erst recht nicht, wenn man nicht das Glück hat, einen Partner zuhause zu wissen, der sich mindestens genauso gut mit Brokkoli-Brei und Bäuerchen auskennt wie man selbst. Viele Eltern eint zurzeit ein Gedanke: Die Wut auf die Einführung des Betreuungsgeldes. Denn Wut tut gut, besonders in Momenten der Unsicherheit. Da ist es Balsam für die Seele, einmal verbal draufkloppen zu können – auf die da oben, die CSU und ihre Kuhhändler von der FDP, die sich mit der Abschaffung der Praxisgebühr so einfach kaufen lassen. Wer wettert nicht gegen das Betreuungsgeld. Diese rückwärtsgewandte Herdprämie, diese rasselnde Kette am Fuß der emanzipierten Frau. An den Herd soll sie uns drängen, weg vom Arbeitsplatz. Während heute noch über gläserne Decken und ungleiche Gehälter gesprochen wird, ist für die Zeit nach der Einführung des Betreuungsgeldes eines klar: Mutti wird in ihrer Schürze und mit krakehlenden Kindern am Rockzipfel daheim auf den Mann warten, der nach getaner Arbeit die dampfende Suppe auf dem gewienerten Esszimmertisch erwartet. Man könnte fast den Eindruck bekommen, dass alles gut wäre, gäbe es nur das vermaledeite Betreuungsgeld nicht. Dabei machen wir es der Politik mit unserer einseitigen und schön kanalisierten Rage ziemlich einfach. Leichtes Spiel hat die SPD, die jetzt nur noch, wie Kanzlerkandidat Peer Steinbrück davon faseln muss, das Ganze sei „schwachsinnig“ und man werde es nach der Bundestagswahl, sofern gewählt, sofort wieder abschaffen. Damit aber ist es nicht getan. Das Problem des Betreuungsgeldes ist vor allem, dass es eine Farce ist. 100 Euro soll es  im Monat für die Betreuung eines Kindes zuhause geben, während ein Kitaplatz den Staat etwa 1000 Euro kostet – das ist nicht nur ungerecht, sondern legt den Gedanken nahe, dass die Politik die Empfänger für mathematische Analphabeten hält. So bleibt das Betreuungsgeld vor allem eines: ein Signal an Seehofers CSU. Den Eltern zuhause hilft es nicht. Und der von Betreuungsgeldbefürwortern herbeigeredeten Wahlfreiheit schon gar nicht. Die aber ist oberste Prämisse der Bundesfamilienministerin Kristina Schröder. Sie versagt in ihrem Tun genauso wie der Rest der Republik. Nächste Seite: Kinder müssen „profitabel“ sein Denn die Betreuungslage in Deutschland ist nicht so, dass sie unseren Kindern besonders gut tut. In der vergangenen Woche wurden einmal mehr bedrückenden Zahlen veröffentlicht: Die Kommunen sind nicht in der Lage, die versprochenen Kitaplätze bis zum August 2013 zu  schaffen. Um die 780.000 versprochenen Plätzen zu bewerkstelligen, müssten in den kommenden „neun Monaten mehr zusätzliche Kindergartenplätze geschaffen werden als in den vergangenen vier Jahren insgesamt“. Ein Ding der Unmöglichkeit. Es ist also so gekommen wie befürchtet:  Viele Eltern werden klagen. Vor allem aber werden auf Teufel komm raus Plätze für die Kinder geschaffen. Kindergartenplätze, wie sie heute schon nicht den Ansprüchen genügen. Die „Nationale Untersuchung zur Bildung, Betreuung und Erziehung in der frühen Kindheit“ (NUBBEK) hat nach zwei Jahren des Elaborierens herausgefunden: Höchstens zehn Prozent aller Kinderbetreuungseinrichtungen in Deutschland haben eine gute Qualität was Gruppengröße, Zuwendung durch Erzieher, Zufriedenheit der Kinder und ihrer Eltern angeht. Gerade jetzt erhebt auch Jesper Juul, der Dalai Lama unter den Pädagogen, seine Stimme. In der Streitschrift „Wem gehören unsere Kinder? Dem Staat, den Eltern oder sich selbst?“, die morgen in die Buchläden kommt, geht er auf die Barrikaden. Als Beweis für die unzureichende Qualität in den Betreuungseinrichtungen führt Juul die Zunahme an fälschlich als „problematisch“ titulierten Jungen ins Feld. Außerdem beobachte man viel zu viele Kinder, deren Cortisolspiegel – ein Stresshormon – durch den Kitabesuch ungesund ansteige. Juul trommelt für die Schwächsten in Europa. Er tut das mit Verve und geißelt auch sein Heimatland Dänemark, was hierzulande einige überraschen wird. Denn in Deutschland schielt man seit Jahren auf Länder wie Dänemark und Schweden, vermeintliche Musterschüler in Sachen Kinderbetreuung. Juul aber donnert los: „Kinderkrippen wurden geschaffen, um die Bedürfnisse der Eltern zu erfüllen, nicht die der Kinder“. Nun würden die Kleinsten dazu missbraucht, die Länder konkurrenzfähig zu halten. Um das Potential an gut ausgebildeten Menschen, viele von ihnen jungen Frauen, die zuhause am Herd versauerten, abzuschöpfen, müssten Kinder „profitabel“ sein. Sie würden zu Investitionsobjekten. Neben der Politik nimmt Juul vor allem die Eltern aufs Korn. Sie würden bei dem Thema viel zu passiv bleiben, weil ihre ganze Lebensgestaltung vom Angebot der Kinderbetreuung abhänge und er entlarvt den einen Satz, den jede arbeitende Mutter schon einmal gedacht und ausgesprochen hat: „Wäre es denn besser für mein Kind, den ganzen Tag mit einer unglücklichen und frustrierten Mutter zusammen zu sein?“ Die Antwort lautet: „Natürlich nicht!“, aber das sei – so Juul – noch lange keine Antwort auf die Frage: „Ist eine Tageseinrichtung oder die Betreuung in der Familie besser für ein Kind?“ Für arbeitende Eltern stellt sich diese Frage nicht. Sie ist keine Option. Weil sie weh tut. Und so lässt sie Juuls Schelte dann auch eher ratlos zurück Ich muss jetzt los. Es wird schon dunkel, im Kindergarten wird heute Laterne gelaufen, die Dreijährige wartet bestimmt schon ungeduldig mit ihrem selbstgebastelten Lampion. Meine kinderlosen Kollegen bleiben noch hier. Sie haben zu tun. Und ich ein schlechtes Gewissen. Jesper Juul: Wem gehören unsere Kinder? Dem Staat, den Eltern oder sich selbst? - Ansichten zur Frühbetreuung, 1. Auflage 2012. 40 Seiten. Broschiert. Preis 4,95 €
Kinder müssen "profitabel" sein, schimpft Jesper Juul in seiner neuen Streitschrift. Über das Arbeitsleben mit einem Investitionsobjekt und das ewige schlechte Gewissen. Die Sonntagskolumne
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kultur
2012-11-11T12:24:52+0100
2012-11-11T12:24:52+0100
https://www.cicero.de//kultur/mein-kind-das-investitionsobjekt/52526
Nach Großangriff aus Gaza - In Berlin freuen sich Hamas-Sympathisanten über Terror gegen Israel
Nach dem Großangriff der islamistischen Hamas auf Israel hat der Präsident des Zentralrats der Juden, Josef Schuster, auf die Bedrohung jüdischen Lebens auch anderswo hingewiesen. „Der Terrorkrieg der Hamas und der libanesischen Hisbollah gegen Israel ist an Grausamkeit kaum zu überbieten», sagte Schuster am Sonntag einer Mitteilung zufolge. «Die Gefährdung für jüdische Einrichtungen auch hier in Deutschland zeigt, dass es den Terroristen nicht allein um Israel geht, sondern dass jüdisches Leben überall von ihnen infrage gestellt wird.“ Schuster bezeichnete es als wichtiges Zeichen in dieser «kritischen Zeit» für Israel und alle Juden, dass die Sicherheitsbehörden schnell reagiert hätten, um jüdische Einrichtungen hierzulande zu schützen. Nach dem Großangriff der islamistischen Hamas auf Israel am Samstag hatte Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) den Schutz verstärken lassen. Auch die große Solidarität in Deutschland sei wichtig, machte Schuster deutlich. „Die Unterstützung aus allen Teilen unserer Gesellschaft hilft dabei, diese Zeit zu überstehen“, sagte er. Bei Jubelszenen auch in Deutschland angesichts des barbarischen Terrors gegen #Israel wird einem speiübel. Hier haben wir versagt, da gibt es kein vertun. Der Umgang damit muss sich ändern. Jubel über Terror, Mord u. Leichenschändung ist menschlich& gesellschaftlich inakzeptabel. Der Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung, Felix Klein, warnte, israelbezogener Antisemitismus sei auch hierzulande eine reale Gefahr. „Aus der jüngeren Vergangenheit wissen wir: Wenn Israel von der antisemitischen Terrororganisation Hamas angegriffen wird, steigt auch die Gefahr für Jüdinnen und Juden in Deutschland“, sagte er dem Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND). Mit Blick auf Hamas-Sympathisanten, die am Samstag im Berliner Stadtteil Neukölln mit dem Verteilen von Süßigkeiten den Angriff auf Israel feierten, fügte Klein hinzu: „Eine solch widerwärtige Verherrlichung von Gewalt gegen Jüdinnen und Juden dürfen wir als Gesellschaft nicht hinnehmen.“ Seit heute Morgen um 6.30 Uhr ermorden Terroristen der Hamas wahllos israelische Zivilisten. Alle Demokraten sollten absolut schockiert sein, dass Samidoun diesen Terror nun mitten in Berlin, mitten in Deutschland, feiert. Samidoun missbraucht als Trojanisches Pferd die deutsche… pic.twitter.com/eoNg1FYMhF
Cicero-Redaktion
Während sich der Zentralrat der Juden entsetzt zeigt über den aktuellen Terror gegen Israel, gehen in Berlin Sympathisanten der Hamas auf die Straße – und verteilen sogar Süßigkeiten, um den Großangriff aus Gaza zu feiern.
[ "Israel", "Hamas", "Berlin" ]
innenpolitik
2023-10-08T12:03:34+0200
2023-10-08T12:03:34+0200
https://www.cicero.de/innenpolitik/nach-grossangriff-aus-gaza-in-berlin-freuen-sich-hamas-sympathisanten-uber-terror-gegen-israel
Durchmarsch der Rechten - Ein wahrhaft europäisches Land
Deutschland ist bunt geworden. Wenn demnächst in Stuttgart, Mainz oder Magdeburg Landesregierungen gebildet werden, dann sind dazu die ulkigsten Koalitionsmodelle nötig: Deutschland-Koalition, Kenia-Koalition, Grün-Schwarz, Grün-Rot-Gelb. Es ist unübersehbar: Die rechtspopulistische AfD hat die deutsche Politik an diesem 13. März 2016 aufgemischt. Und zwar ganz gewaltig. Muss einen diese politisch-tektonische Verschiebung beunruhigen? Eine Verschiebung, die ausgelöst wurde durch eine Partei, die in ihren Reihen Rechtsextremisten hat oder führende Köpfe, die vom tausendjährigen Deutschland oder von Schüssen auf Flüchtlinge schwafeln? Nein, beunruhigen muss das nicht. Denn der Durchmarsch der AfD ist zunächst einmal ein Zeichen, dass Deutschland normal geworden ist, zumindest normal im europäischen Maßstab. In den meisten EU-Ländern existieren rechtspopulistische Parteien, die es bei Wahlen in die Parlamente schaffen. In Ungarn, Polen, Griechenland oder Finnland sind sie sogar in der Regierung. Ob es einem passt oder nicht: Es gibt nun einmal rechtspopulistische Anschauungen unter Europas Wählern, und in einer Demokratie ist es völlig normal, dass Parteien, die rechtspopulistisch agitieren, dann auch in den Parlamenten vertreten sind. So paradox es klingen mag: Die ziemlich nationalistische AfD hat Deutschland somit zu einem wahrhaft europäischen Land gemacht. Beunruhigen muss einen der Durchmarsch der selbsternannten Alternative für Deutschland nicht. Aber er sollte nachdenklich machen. Vor allem die etablierten Parteien, die durch massiven Wählerschwund teilweise bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt wurden. Siehe SPD. Die AfD rühmt sich damit, die politikverdrossenen Nichtwähler zurück an die Wahlurnen gebracht zu haben. Das ist keine Parteipropaganda, sondern eine Tatsache. In Sachsen-Anhalt etwa votierten 104.000 frühere Nichtwähler für die AfD – deutlich mehr, als die Rechtspopulisten bei CDU, SPD oder Linkspartei abwerben konnten. Insofern sind die etablierten Parteien gut beraten, einmal zu analysieren, was die AfDler richtig gemacht und sie selber versäumt haben. Es ist nicht so schwierig herauszufinden. Die Wahlforscher von Infratest haben ermittelt, dass es vor allem zwei Themen waren, die der AfD Wähler verschafft haben: Angst und soziale Gerechtigkeit. Der Bauchpolitiker Sigmar Gabriel, Vorsitzender der früheren Volkspartei SPD, hatte also durchaus den richtigen Riecher, als er kurz vor den drei Landtagswahlen vorpreschte und forderte, jetzt müsse endlich auch etwas für Deutsche getan werden – und nicht nur für Flüchtlinge. Gabriel hatte durchaus das richtige Gespür, dass in Sachen soziale Gerechtigkeit etwas im Argen liegt. Aber er hat das Thema völlig falsch intoniert. Deutsche versus Flüchtlinge – dieses Gegeneinander-Ausspielen kann nicht funktionieren. Da zieht zum einen Koalitionspartnerin Angela Merkel nicht mit, zum anderen verschaffte es der AfD weiteren Zulauf. Viele Wähler haben eindeutig Angst: vor Kriminalität, vor „Überfremdung“, vor sozialer und beruflicher Konkurrenz durch Flüchtlinge, vor sozialem Abstieg durch die Kosten der Integration. Es ist relativ unerheblich, ob diese Ängste berechtigt sind. Sie sind da, und wenn die etablierten Parteien nicht von allen guten Geistern verlassen sind, dann gehen sie auf diese Ängste ein. Natürlich sollten sie nicht den „Grenzen dicht!“-Parolen der AfD hinterherlaufen oder gar deren ausländer- oder islamfeindliche Thesen aufgreifen. Zum einen ziehen Wähler meist das Original der Kopie vor. Zum anderen: Selbst in der AfD-Hochburg Sachsen-Anhalt stimmten mehr als 60 Prozent der Wähler für Parteien, die im Grundsatz hinter der aktuellen Flüchtlingspolitik stehen. Und selbst ein hoher Anteil der AfD-Wähler, so fanden die Wahlforscher von Infratest heraus, steht rechtsextremen Parolen sehr skeptisch gegenüber. Die Lösung lautet: Erklären. Erklären. Und noch einmal erklären. Das gilt vor allem für Angela Merkel. Ihr „Wir schaffen das“ klang sehr schön emotional, vor allem für die ansonsten eher unterkühlte Kanzlerin. Aber das alleine reicht nicht. Sie muss auch erklären, wie wir das schaffen wollen. Erklären muss sie auch, weshalb wir Flüchtlinge aufnehmen. Nicht nur zweimal bei Anne Will, sondern immer wieder. Sie muss erklären, dass es mehr Polizisten geben wird, weil durch die Zahl der Flüchtlinge auch die Gesamtbevölkerung gewachsen ist. Dass es mehr Lehrer, mehr Kindergärtner, mehr Kommunalbeamte, mehr Ärzte geben wird. Dass mehr (Sozial-)Wohnungen gebaut werden, dass es dadurch mehr Arbeitsplätze geben wird. Und so weiter und so fort. Mutmaßlich hat Angela Merkel das Gefühl, dies alles schon einmal gesagt zu haben. Aber das reicht eben nicht. Sie muss nicht nur die Gehirne, sondern auch die Herzen der Wähler erreichen. Und das geht offenbar nicht ohne eine gewisse Redundanz. Entscheidend ist aber, dass sie nicht nur ständig darüber redet, dass wir den Untergang des Abendlandes nicht zu befürchten haben. Ganz entscheidend ist, dass sie auch handelt. Zum Beispiel, indem der Bund die Gelder bereitstellt, damit es mehr Wohnungen, Schulen und Lehrer gibt, von denen nicht nur Flüchtlinge, sondern auch Deutsche profitieren. Zum Teil ist dies bereits geschehen, doch offenbar ist dies noch nicht überall angekommen. Also gilt wieder: erklären, erklären und nochmals erklären. Eine andere Wahl haben Merkel und Gabriel gar nicht. Denn nehmen sie die Ängste der Bürger nicht ernst und gehen darauf ein, werden sie in absehbarer Zeit nur noch in einer einzigen Koalitionsvariante regieren können. Die heißt: schwarz-rot-gelb-grün-dunkelrot. Vor mehr als 26 Jahren wurde diese Variante „Regierung der Nationalen Front“ genannt. Und so etwas wird es dann nicht nur in Mainz oder Magdeburg geben.
Andreas Theyssen
Der Erfolg der Rechtspopulisten zeigt deutlich die Defizite der etablierten Parteien. Doch die haben durchaus die Chance gegenzusteuern, indem sie die Sorgen der Bevölkerung ernst nehmen und darauf eingehen
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innenpolitik
2016-03-14T13:16:00+0100
2016-03-14T13:16:00+0100
https://www.cicero.de//innenpolitik/durchmarsch-der-rechten-ein-wahrhaft-europaeisches-land/60630
EU-Report über Rechtsstaatlichkeit und Bulgarien - Bojko Borissows Götterdämmerung strahlt aus bis nach Brüssel
Den sechsundachtzigsten Tag in Folge dröhnte am vergangenen Donnerstagabend eine Kakophonie aus Klängen von Vuvuzelas und Trillerpfeifen durch die Straßen Sofias. Sie bildete den akustischen Hintergrund für skandierte Rufe aus hunderten Kehlen nach der sofortigen Abdankung der Regierung von Ministerpräsident Bojko Borissow. Auch auf seiner Dienstreise zum Rat der Europäischen Union (EU) ereilte den Regierungschef der Ruf nach seinem Rücktritt. Als sich Borissows Fahrzeugkolonne in der belgischen Hauptstadt Brüssel dem Europaviertel näherte, passierte sie Vertreter der bulgarischen Diaspora am Straßenrand. Sie hielten Pappschilder hoch, auf denen geschrieben stand: Ostavka! (Rücktritt). „Zunächst möchte ich der Europäischen Kommission für den ausgesprochen objektiven Bericht danken“, sprach kurze Zeit später ein auffällig ernsthafter Ministerpräsident Borissow in die TV-Kameras. In dem Bulgarien betreffenden Kapitel des am Mittwoch erstmals veröffentlichten Berichts zur Rechtsstaatlichkeit in der Europäischen Union sei „der Fortschritt in Bulgarien verzeichnet“, lobte er. „Es ist auch gut beschrieben, was wir noch tun müssen, um zu den Besten in diesem Bereich zu gehören“. Eine grundsätzlich andere Lesart des Berichts gab Bulgariens Staatspräsident Rumen Radew. Obwohl das bulgarische Staatsoberhaupt eine lediglich repräsentative Funktion innehat, stellt sich der von den oppositionellen Sozialisten ins Amt gehobene Radev in unerhörter Weise auf die Seite der Protestbewegung. Wie sie verpasst er der Regierung Borissow das Prädikat „Mafia“. Das Bulgarien betreffende Kapitel des Berichts der EU-Kommission konstatiere „Probleme, die den Bulgaren seit Jahren offensichtlich sind“, kommentierte Präsident Radev. „Meine Unterstützung gilt all denen Bürgern, die aufgehört haben, Konstatierungen und Entscheidungen von Außen zu erwarten, um mit der politischen Korruption, dem schlechten Medienumfeld und den oligarchischen Abhängigkeiten fertigzuwerden.“ Das systematische Verletzen des Gesetzes und des öffentlichen Interesses seitens des Generalstaatsanwalts in seinem Bestreben, um jeden Preis die Regierung und bestimmte Oligarchen zu schützen und Unbotmäßige zu attackieren, unterhöhlt laut Radev „das Fundament des Rechtsstaats und erfordert eine Reaktion des gesamten Justizsystems“. Im Sommer 2009 hat der ehemalige Leibwächter des in Ungnade gefallenen Diktators Todor Schiwkow sein erstes von inzwischen drei Regierungsmadaten angetreten. Damals erklärte er insbesondere den Kampf gegen Korruption und organisierte Kriminalität zu einer der wichtigsten Prioritäten seiner Regierungspolitik. Kaum hatte er seine ersten hundert Tage im Amt hinter sich gebracht, unternahm er eine in Bulgarien beispiellose Serie großmaßstäblicher Polizeioperationen mit zum Teil bizarren Codenamen wie Oktopod (Octopus), Naglite (die Frechen), Killerite (die Killer), Peperudite (die Schmetterlinge), Fakirite (die Fakire). Hunderte Menschen wurden bei den Polizeiaktionen festgenommen, doch nur ein verschwindend geringer Teil von ihnen wurde schließlich rechtskräftig verurteilt. Zahlreiche Verurteilungen Bulgariens vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg resultierten aus Borissows Offensive gegen die Kriminalität, die entsprechenden Entschädigungszahlungen kamen dem bulgarischen Steuerzahler teuer zu stehen. In den vergangenen elf Jahren hat Borissow ein bis zwei Mal im Jahr Gelegenheit gehabt, sein Land betreffende Evaluationsberichte der Europäischen Kommission zum Stand Inneres, Bekämpfung von Korruption und Verbrechen, zu kommentieren. Für gewöhnlich gelang ihm dies mit Charme und Chupze. Das windelweiche Diplomatensprech des Kooperations- und Überprüfungsmechanismus konnte ihn kaum aus der Reserve locken. Stets erwiesen sich die Brüsseler Autoren als Virtuosen der Ausgewogenheit, erkannten gewisse Fortschritte etwa bei der Reform des Justizwesens an und bemängelten gleichzeitig das Ausbleiben rechtskräftiger Verurteilungen korrupter Staatsbeamter und Politiker. Das Bulgarien-Kapitel des aktuellen Berichts zur Hoheit des Rechts in der EU ist das jüngste Beispiel dafür. So fiel Bojko Borissow auch diesmal sein Versprechen nicht schwer, seine Regierung werde alle Empfehlungen der EU-Kommission umsetzen. Und dennoch ist die Situation für ihn inzwischen eine grundlegend andere. Aufgrund der anhaltenden Demonstrationen wurden Europa und der Welt eine Überfülle an Korruptionsskandalen bekannt, die ernsthafte Zweifel an der Rechtschaffenheit der Regierung Borissow erwecken. Allein im vergangenen Jahr haben spektakuläre Affären das Land erschüttert, die Bezeichnungen tragen wie Romantitel: „Apartmentgate“, „Die acht Zwerge“ oder „Drohnen-Gate“. Abhöraufnahmen von Telefonaten, die Borissows Amtsmissbrauch zu belegen scheinen, oder Filmaufnahmen von Borissows Nachttischschublade vollgestopft mit 500-Euro-Scheinen haben in internationalen Medien ein großes Echo gefunden, erkennbar aufgeklärt wurden sie von der bulgarischen Generalstaatsanwaltschaft indes nicht. Selbst die letzten Hinterbänkler im Europäischen Parlament dürften inzwischen erfahren haben, dass in Bulgarien Beamte des Transportministeriums einen schwunghaften Handel mit Führerscheinen betreiben, Politiker Luxusapartments zu Spottpreisen erwerben können und „Die acht Zwerge“ kein Märchen ist, sondern ein schockierender Erpressungsthriller. Zwischen Borissows Lippenbekenntnissen zum Rechtsstaat und den tatsächlichen Verhältnissen in dem Balkanland klafft unübersehbar eine Kluft. Wenn das Europäische Parlament auf seiner Sitzung am 5. Oktober 2020 über die Hoheit des Rechts in Bulgarien debattiert, dürfte sie ebenso vermessen werden wie im November 2020, wenn sich der Rat der Europäischen Union des leidigen Themas annehmen wird. Neben der Bemängelung des Ausbleibens rechtskräftiger Verurteilungen hoher Staatsbeamter und Politiker und der Kritik an der Unantastbarkeit des Generalstaatsanwalts konstatiert der Bericht der EU-Kommission auch die beklagenswerte Situation der Medien. Bevor Bulgarien zum Januar 2007 der EU beigetreten ist, führte die Pressefreiheitsrangliste von Reportern ohne Grenzen (RoG) das Balkanland noch auf Rang 35. Nach 13 Jahren EU-Mitgliedsschaft und elf Jahren Bojko Borissow liegt Bulgarien in diesem Jahr zum zweiten Mal in Folge auf Rang 111, als am schlechtesten platziertes Land nicht nur der EU, sondern des ganzen Balkans. Der EU-Bericht nennt einige Gründe dafür wie etwa Drohungen und gewalttätige Übergriffe gegen Journalisten oder das oft verschleierte Eigentum an Medien. Einen Eindruck über die Situation der Medien in Bulgarien geben aber auch die Worte von Toma Bikow. Der ehemalige Journalist und jetzige Abgeordnete von Bojko Borissows Regierungspartei Bürger für eine Europäische Entwicklung Bulgariens (GERB) behauptete gegenüber dem Bulgarischen Nationalen Fernsehen (BNT), bei Veröffentlichungen über Bulgarien in den europäischen Medien handle es sich um „von Bulgaren bezahlte Publikationen“. „Da ich keine Beweise habe, kann ich keine konkreten Publikationen nennen, doch bei einem nicht kleinen Teil von ihnen handelt es sich um Auftragsarbeiten“. Toma Bikow ist erst seit wenigen Jahren Bojko Borissows Parteigänger, zählte früher zu dessen schärfsten Kritikern. „Borissow ist kein Diktator, sondern die Karikatur eines Diktators“, schmähte er im Herbst 2012 und räsonierte damals, „Borissow hat keinen Ausweg, entweder noch ein Mandat oder es dürfte gegen ihn ermittelt werden. Es besteht die Chance, dass er der erste Premier ist, der im Gefängnis liegt“.
Frank Stier
Die EU-Kommission hat einen Report zur Lage der Rechtsstaatlichkeit in ihren Mitgliedsländern vorgelegt. Doch dieser geht allzu diplomatisch mit Bulgarien um. Druck auf den skandalumwitterten Ministerpräsident Bojko Borissow macht derweil seine eigene Bevölkerung.
[ "Bulgarien", "Boiko Borissow", "EU", "Rechtsstaatlichkeit", "korruption" ]
außenpolitik
2020-10-02T16:09:44+0200
2020-10-02T16:09:44+0200
https://www.cicero.de//aussenpolitik/eu-report-rechtsstaatlichkeit-bulgarien-bojko-borissow-goetterdammerung-bruessel
5000 Jahre Schulden – David Graeber und die verlorene Wette auf die Zukunft
Diesen Text finden Sie in der neuen Ausgabe von Literaturen. Gemeinsam mit Cicero am Kiosk oder gleich im Online Shop bestellen. „Das winzige Territorium, über das El Rey als ungekrönter König herrscht, findet sich auf keiner Landkarte und besitzt, aus sehr praktischen Gründen, keine offizielle Existenz.“ So beginnt Jim Thompson das Schlusskapitel seines 1958 erschienenen Romans „The Getaway“. Dieses Kapitel ist von der vorangegangenen Handlung weitgehend abgekoppelt, es ist eine beinahe eigenständige Erzählung und als Fabel über die Abgründe unserer Zivilisation mit Franz Kafkas „In der Strafkolonie“. Man könnte El Rey, den allmächtigen Herrscher über das von Thompson ersonnene Fabelreich, für einen ungerechten Mann halten, aber das ist er nicht. El Rey ist bloß unerbittlich. Mit der größten Strenge wacht er über die Einhaltung der Regeln, die er seinen Untertanen auferlegt hat. Da sein Reich auf keiner Karte verzeichnet ist, gibt es auch keine äußere Macht, die ihn daran hindern könnte. Das Territorium ist ein letztes Refugium für Menschen auf der Flucht, hier stranden die, die sonst nirgends mehr ein Versteck finden. Es ist ein Gefängnis, in das sich die Verbrecher – denn es sind ausschließlich Verbrecher, die hier ihr Leben beschließen – freiwillig selbst einliefern. Einmal angekommen, zahlen sie ihre Barschaften auf der Bank ein und genießen vorerst alle Annehmlichkeiten der sogenannten Zivilisation. Da aber kaum einer reiten will, verfetten die Pferde in ihren Ställen, und weil niemand badet, wird das Wasser der Swimmingpools brackig. Das Leben hier scheint bequem zu sein, aber es ist nicht teuer. Eine Villa, die an der Riviera tausend Dollar im Monat kosten würde, wird für wenige hundert Dollar vermietet. Aber auch, wenn die Ausgaben überschaubar sind, haben die Bewohner des Territoriums ein Problem: Es gibt Konsum, aber keine Arbeit; Geld muss ausgegeben, darf aber nicht verdient werden. Und alles fließt direkt und ausschließlich in El Reys Tasche. So geht auch das größte Vermögen, das die Ankömmlinge im Zuge ihrer kriminellen Vorgeschichten erworben haben, unweigerlich einmal zur Neige. Für diesen Fall sind die Vorkehrungen schon getroffen: In einem Dorf abseits der Hauptstadt des Territoriums wandeln die Ausgemergelten vor weißgetünchten Häusern. In der Luft liegt der Geruch von verbranntem Fleisch, er kommt aus den Schornsteinen der Krematorien. Im Territorium endet das Leben unweigerlich mit dem Hungertod. Die böseste Pointe dieser sowieso schon bösen Geschichte ist aber, dass auch ihr Autor, Jim Thompson, im Jahr 1977 tatsächlich verhungert ist. Einsam und verwahrlost hatte er zuletzt aufgehört zu essen. Zu diesem Zeitpunkt war in Amerika kein einziger seiner vielen Romane mehr lieferbar, offensichtlich schienen antikapitalistische Geschichten wie diese gerade hier unzumutbar. Die Ankunft auf dem Territorium ist nur eine Metapher für die Geburt des Menschen. Dieser Mensch, so unterstellt dieser Text, kommt schuldig zur Welt, und als Schuldiger macht er weiterhin Schulden, die er niemals wird zurückzahlen können. Zur Pointierung versetzt Thompson seiner literarischen Laborsituation nur einen einzigen, realitätsfremden Dreh: Von einem Land, in dem es unter allen Umständen untersagt ist, Geld zu verdienen, um Schulden zu begleichen, ist bislang noch nichts bekannt geworden. Dennoch zeigt zum Beispiel die Dritte Welt, dass Schulden auch in der Realität so groß werden können, dass sie faktisch nicht mehr zu begleichen sind. Sie sind dann eine bereits verlorene Wette auf die Zukunft. Wer über Schulden spricht und mit der Literatur beginnt, gerät in den Verdacht, ein Schwätzer zu sein. Schließlich scheint die Ökonomie, zu der die Schulden gehören, eine Expertenwissenschaft und das Sprechen darüber professionell qualifizierten Kennern vorbehalten zu sein. „Sie haben noch nie etwas von der Laffer-Kurve gehört?“ – „Sie brauchen aber unbedingt eine Einführung in das wirtschaftliche Einmaleins“ – so klingen, nach David Graeber, ganz übliche Reaktionen auf die Überlegungen Fachfremder. Auch Graeber ist nicht vom Fach. Als Ethnologe sollte er sich, in den Augen eines Ökonomen, vielleicht auf melanesische Cargo-Kulte konzentrieren, seine Finger aber unbedingt von so etwas Heiklem und Heiligem wie unserer westlichen Wirtschaft lassen. Das aber hat er nicht getan und nun stattdessen ein Standardwerk darüber geschrieben, wie sich die Menschen seit jeher miteinander verbunden, aneinander gekettet und gegenseitig geknechtet haben. Seite 2: Die Geschichte unserer Kultur, ein Horrorroman „Schulden. Die ersten 5000 Jahre“, so der freche Titel, erzählt die Geschichte unserer Kultur als einen Horrorroman. Das Buch handelt von der dunklen Seite der Macht und ihrer perfidesten Erfindung: Schuld und Schulden erscheinen als Hauptübel unserer Kultur und zugleich als Grund für Kriege, Sklaverei und Katastrophen. Als Wissenschaftler genießt David Graeber das größte Ansehen seiner Kollegen: Der berühmte Ethnologe Maurice Bloch hält den 51-jährigen Amerikaner, innerhalb seiner Generation, gar für den herausragenden Vertreter der Disziplin. Zur heroischen Figur ist Graeber aber besonders außerhalb der akademischen Welt geworden: Sein Engagement in globalisierungskritischen Bewegungen, zuletzt Occupy Wall Street, haben ihn wohl seine Professur an der Yale-Universität gekostet. Die Institutsleitung musste sich vorwerfen lassen, die Stelle aus politischen Gründen nicht verlängert zu haben. Heute lehrt er an der Universität von London. Und nun: sein großes Buch, sein Hauptwerk, das auch im deutschen Feuilleton schon gefeiert wurde, bevor die Übersetzung überhaupt vorlag. David Graeber schreibt mit Herzblut und Geduld. Auf über fünfhundert Seiten breitet er die akribisch geführten Nachweise seiner großen These aus. Sein Rüstzeug ist die Ethnologie, was aber etymologisch, philosophisch oder archäologisch grundierte Argumente nicht ausschließt. Die Essenz des Buches fand sich schon auf den wenigen Seiten, die Jim Thompson zur Schilderung des Territoriums von El Rey genügten. Und diese Essenz ist schlicht, sie ist der Kern unserer kulturellen und religiösen Großerzählungen: Schulden stehen am Anfang von allem. Wir werden schuldig geboren und häufen weitere Schulden an, die wir nie wieder werden zurückzahlen können. Das führt zu Sklaverei und Unterdrückung. Aber was ist der Ausweg? Auch Graebers Überlegungen handeln von einer Fiktion, die sich aber nicht als Fiktion zu erkennen gibt. Der Autor nennt sie den „Mythos vom Tauschhandel“, der in zahllosen Varianten immer und immer wieder erzählt wird. Etwa von Adam Smith, der im 18. Jahrhundert den folgenreichen Begriff der unsichtbaren Hand geprägt und unsere moderne Nationalökonomie begründet hat. „Unter Jägern und Hirten“, schrieb Smith, „stellt beispielsweise ein Mitglied des Stammes besonders leicht und geschickt Pfeil und Bogen her. Häufig tauscht er sie bei seinen Gefährten gegen Vieh oder Wildbret ein, und er findet schließlich, dass er auf diese Weise mehr davon bekommen kann, als wenn er selbst hinausgeht, um es zu jagen. Es liegt daher in seinem Interesse, dass er das Anfertigen von Pfeil und Bogen zur Hauptbeschäftigung macht und somit zum Büchsenmacher wird.“ Ein Klassiker: Die Bedürfnisse in einem arbeitsteiligen Gemeinwesen können von Verschiedenen in unterschiedlicher Weise befriedigt werden. Der eine hat das Fleisch, der andere die Waffen, um es zu erbeuten. Ein weiterer ist Schmied, Zimmermann oder Gerber. Und alle profitieren voneinander, indem sie ihre Erzeugnisse untereinander tauschen. Leider stößt diese Praxis aber an Grenzen. Jeder muss Dinge horten, von denen er denkt, dass andere sie würden gebrauchen können. Hat der eine, so formuliert Adam Smith das Dilemma, „gerade nichts zur Hand, was der erste braucht, käme kein Tausch unter ihnen zustande“. Missliche Lage. Und ein ganz logischer Ausweg: Zumindest will es die Legende, dass sich aus dem Tauschhandel heraus nach und nach universell verwendbare Zahlungsmittel entwickelten, die, weil jedem zugänglich und mit einem klaren Wert bemessen, den Handel flexibel und das Einlagern spezieller Tauschwaren überflüssig machten: Je nach Epoche und Weltregion waren solche Zahlungsmittel Salz, Stockfisch, Tabak, Edelmetalle – am Ende lief es aber stets auf Geld hinaus. Geld flexibilisierte den Handel. Wer flüssig war, konnte sich alles Mögliche leisten. Seite 3: Tauschhandels-Gesellschaften, ein märchenhaftes Ungefähr? Eine schöne Geschichte. Und bis heute halten alle einflussreichen ökonomischen Theorien an ihr fest wie an einem biblischen Glaubenssatz. Geld, so ihre Konsequenz, ist etwas wert, Geld hat eine unmittelbare Entsprechung. Und ist all dieses nicht: ein Zeichen, eine Information, eine an sich leere Behauptung. Großer Unsinn, ruft hier Graeber, der Feldforscher. „Niemand tauschte je Pfeilspitzen gegen Fleischstücke.“ Das hat die empirische Wissenschaft längst widerlegt. So der Befund der in Cambridge lehrenden Anthropologin Caroline Humphrey: „Schlicht und ergreifend“, sagt sie, „wurde nicht ein einziges Beispiel einer Tauschwirtschaft jemals beschrieben, ganz zu schweigen davon, dass daraus Geld entstand; nach allen ethnografischen Daten hat es das nicht gegeben.“ Nicht umsonst sind daher Erzählungen von Tauschhandels-Gesellschaften im märchenhaften Ungefähr verortet. Nicht, dass es keinen Tausch gegeben hätte: Unter anderem schildert Graeber den „dzamalag“, ein komplexes Ritual des zeremoniellen Tauschhandels, das der australische Aborigine-Stamm der Gunwinggu mit seinen Nachbarvölkern betreibt. Stets handelt es sich aber um Begegnungen zwischen Fremden, die sich wahrscheinlich niemals wieder begegnen werden – und eben nicht um einen Handel zwischen gleichberechtigten Partnern, wie es die Vertragswerke der westlichen Ökonomie voraussetzen. Dieser Streit um Urszenen ist von allergrößter Bedeutung, schließlich hängt die Legitimation der Ökonomie von seinem Ausgang ab. Und Graeber sagt: Am Anfang stand nicht der Tausch, am Anfang standen die Schulden, das Kreditwesen. Das heißt, wir leben seit Menschengedenken in einer Schuldenkultur. Kredite, also die Verpflichtung zwischen Gläubigern und Schuldnern, sind nach Graeber älter als alle schriftlichen Aufzeichnungen, daher verlieren sich ihre Anfänge im historischen Halbdunkel. Wahrscheinlich aber seien die Schulden von den Tempelverwaltern der mesopotamischen Antike erfunden worden, um ein kompliziertes Kalkül um Erntezyklen und die Transportlogistik entlang von Euphrat und Tigris profitabel zu machen. Und Graeber geht weiter, seine ökonomisch fundierte Kulturtheorie schließt die großen Fragen der Religion und der Moral mit ein: Warum, so fragt er, sprechen wir von Jesus Christus als dem „Erlöser“? Die Bedeutung des lateinischen „redemptio“ sei schließlich das Rückkaufen oder Wiedererlangen von etwas, das als Sicherheit für einen Kredit hinterlegt wurde. Es sei verblüffend, so Graebers lakonischer Befund, dass der Kern der christlichen Botschaft in die Sprache eines Geschäftsakts gekleidet ist. Haben also die Weltreligionen ihre Entstehung ökonomischen Krisen zu verdanken? „Sie alle“, behauptet der Autor, „vom Zoroastrismus bis zum Islam – sind inmitten heftiger Auseinandersetzungen über die Rolle des Geldes und des Marktes im Leben des Menschen entstanden, speziell in Auseinandersetzungen darüber, was diese Einrichtungen hinsichtlich der Fragen, was Menschen einander schulden, zu bedeuten hatten.“ Da haben wir es also: Schuld und Schulden gehören zusammen, weshalb auch die Begriffe der Moral und der Ökonomie nicht voneinander zu trennen sind. Was daraus folgt? Schulden stehen nicht, wie Adam Smith und andere es wollten, einfach auf der Soll-Seite der unbestechlichen doppelten Buchführung. Sie sind auch nicht bloß der gerechte Fluch über jene, denen das Wasser bis zum Hals steht. Schulden sind immer schon ein Produkt der Kultur – eine Setzung, eine Behauptung, ein Instrument der Macht. Seite 4: Vom antiken Schuldenerlass bis zur Occupy-Bewegung Eine Geschichte der Schulden, wie Graeber sie hier von ihren frühesten Ursprüngen an erzählt, stand noch aus. Sie erscheint umso dringlicher, als die Finanzkrisen der Gegenwart, individuelle und nationalstaatliche Überschuldung sowie der drohende wirtschaftliche Kollaps der Drittweltstaaten derzeit mehr Aufmerksamkeit beanspruchen denn je. Die Occupy-Bewegung hat Graeber nicht umsonst zu ihrem intellektuellen Frontmann erkoren. Seine Einsicht, dass Schulden kein ehernes Naturgesetz sind, sondern lediglich eine im Gewand der Moral verkaufte Setzung, treibt die Forderung nach Schuldenerlassen voran. Denn das zeigt Graeber eben auch: Die Geschichte ist reich an Präzedenzfällen für die Lösung von Schuldenkrisen. In diesem Sinne führt der Autor die antiken Schuldenerlasse vor Augen, die sich bereits in Mesopotamien sowie in der griechischen und römischen Polis nachweisen lassen. Zumindest die freien Bürger der Polis mussten keine Steuern zahlen. Die hebräische und im Mittelalter die christliche Kultur schlossen an solche Traditionen der Großzügigkeit an: Im rituell zelebrierten Jubeljahr wurden Sklaven entlassen und verpfändete Grundstücke zurückgegeben. Graeber geht es darum, dass es stets Erlösungs- und Entschuldungsakte waren, die etwas Neues in Gang gesetzt haben: Was tat Gott als Erstes? Er befreite die Juden aus der ägyptischen Knechtschaft. „Drop the Debt!“ Graeber beteiligt sich an politaktivistischen Kampagnen, gegen den IWF und für einen Schuldenerlass gegenüber Drittweltländern. Schulden sind, nach Graeber, eben eher ein politisches Phänomen als ein wirtschaftliches. Und stellen wir uns vor, die Star-Autoren Aristoteles und Platon würden per Zeitmaschine in die Vereinigten Staaten von Amerika befördert, um eine Reportage über die working poor von heute zu verfassen. Sie würden sich wohl die Augen reiben angesichts dieser altbekannten Form der Schuldsklaverei. Das Territorium, das El Rey, dieser unerbittliche, wenn auch ungekrönte König und Herrscher über Schuld und Schulden, regiert, dieses Reich ist gar nicht so klein. Es beginnt gleich hier, vor der Haustür, und reicht weit hinaus in die Welt. David Graeber: Schulden. Die ersten 5000 Jahre, Aus dem Englischen von Ursel Schäfer, Hans Freundl und Stephan Gebauer Klett-Cotta, Stuttgart 2012 536 S., 26,95 €
Ist, wer Schulden hat, auch schuldig? Was hat Wirtschaft mit Moral (oder gar Religion) zu tun? Der Ethnologe David Graeber erschüttert unser Denken über Geld. Und schon jetzt steht fest: "Schulden. Die ersten 5000 Jahre" ist das Sachbuch des Jahres
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kultur
2012-05-29T15:18:13+0200
2012-05-29T15:18:13+0200
https://www.cicero.de/kultur/david-graeber-und-die-verlorene-wette-auf-die-zukunft/49492
Boston-Attentäter - Die Brüder Zarnajew: Je mehr Opfer, desto besser
[[{"fid":"54858","view_mode":"full","type":"media","attributes":{"height":814,"width":596,"style":"width: 120px; height: 164px; margin: 5px; float: left;","class":"media-element file-full"}}]]Dieser Text erschien zunächst in der Printausgabe des Cicero (Juni). Wenn Sie das monatlich erscheinende Magazin für politische Kultur kennenlernen wollen, können Sie hier ein Probeabo bestellen. Am Abend des 12. Februar 1894 warf Émile Henry im Café Terminus am Gare Saint-Lazare einen Blechtopf voller Sprengstoff in die Luft. Von den Angestellten, Arbeitern und kleinen Ladenbesitzern, die gerade ihr Bier tranken, wurden 20 verletzt, eine Frau tödlich. Als man ihm vorwarf, unschuldige Menschen verletzt zu haben, rief der selbst ernannte Anarchist aus: „Il n’y a pas d’innocents!“ – es gibt keine Unschuldigen. An drei Wochenenden im April 1999 zündete David Copeland in London drei Sprengsätze, die er in Sporttaschen versteckt hatte. Die Tatorte waren Treffpunkte von Einwanderern und Homosexuellen. Drei Menschen starben, 129 wurden verwundet. Der „Nagelbomber“ hatte seine Pläne mit niemandem abgesprochen. Neben politischen Gründen gab er an: „Wenn sich niemand daran erinnert, wer du warst, hast du niemals existiert.“ Den Brüdern Zarnajew, die in Boston jüngst drei Menschen töteten und 264 verletzten, sagt man nach, sie hätten den Islam verteidigen wollen. Tamerlan, dem älteren, hatte seine Mutter vor Jahren empfohlen, sich in Palästina am globalen Dschihad zu beteiligen. Bei der Zielauswahl zeigten sich die Brüder flexibel. Da die Bomben vorzeitig fertig waren, zogen sie den Explosionstermin vor. Die Eingebung, weitere Sprengsätze am New Yorker Times Square zu zünden, ereilte sie während der Flucht. Der terroristische Einzeltäter ist keine Erfindung des offenen Netzwerks Al Qaida. Die ideologischen Versatzstücke sind ebenso austauschbar wie die Motive. Der „einsame Wolf“, wie er im Jargon der Geheimdienste heißt, kann Blutbäder im Namen der Gerechtigkeit anrichten, unter der Fahne „rassischer Reinheit“ oder des globalen Kalifats. Doch bedürfen große Verbrechen weder großer Ideen noch extremer Wutanfälle. Massaker sind auch keine Massenkommunikation. Wer sie als Botschaft missversteht, tappt geradewegs in die Propagandafalle der Bedeutung, die der Täter dem Publikum aufgestellt hat. Die Tat soll Angst, Entsetzen, kopflose Panik hervorrufen. Im Gegensatz zum politischen Mörder hat es der Terrorsolist weniger auf einen Tyrannen noch einen Polizeioffizier oder eine Kaiserin abgesehen als vielmehr auf die Menschheit schlechthin. Je mehr Opfer, desto besser. Je lauter der Widerhall, desto leuchtender das Fanal. Häufig wählt er belebte Plätze, an denen es die Opfer wahllos trifft. Der Solist handelt auf eigene Faust. Er gehört keiner Gruppe, keiner Zelle, Sekte oder Miliz an. Sogar ferne Gesinnungsfreunde sind überrascht von seiner Existenz. Er erhält keine Anweisung und keinen Befehl. Der Treibsatz liegt im Täter selbst. Niemand hat ihn überredet oder verführt. Entweder hat er sich die Phrasen, mit denen er sein Tun rechtfertigt, selbstständig zusammengesucht oder sich von Parolen bereitwillig überzeugen lassen. Nicht wenige haben eine Lieblingslektüre. Verstreute Islamisten erbauen sich im Netz an den Fernpredigten radikaler Vorbeter; Copeland oder Timothy McVeigh, der „Oklahoma-Bomber“, ließen sich von den „Turner Diaries“ inspirieren, einer Novelle des Neonazis William Pierce. Dennoch montiert der Einzeltäter sein Hassbild aus eigenen Stücken. Er lebt in einer abgeschirmten Gedankenwelt. Intellektuell ist er ein Eigenbrötler oder Autodidakt. Konvertiten, welche die Frömmigkeit rasch nachholen wollen, meinen es mit sich und der Welt oft besonders streng. Keineswegs kopiert der Einzelgänger blind die Stereotype, die in einer Gruppe sozial verbindlich sind. Sein Denkraum liegt nicht in einem Chatroom, sondern in seiner Einbildungskraft. In der Imagination lässt sich ungestraft alles vorstellen und planen. Die Fantasie befreit von Bedenken und Wankelmut. Da er für sich ist, kann der Terrorsolist seine eigene Gewalttechnik erfinden. Mancher baut lediglich bewährte Vorlagen aus Handbüchern oder Zeitschriften nach. Doch weil niemand seine Kreativität einschränkt, ist er in der Wahl der Ziele und Mittel frei. Mehrere Innovationen gehen auf sein Konto. Einzeltäter sind verantwortlich für die erste Autobombe, die erste Flugzeugentführung, die erste Vergiftung von Nahrungsmitteln, den ersten Anthrax-Brief und – wie im Falle des Norwegers Anders Breivik – den ersten Anschlag, der Explosion und Amoksturm kombinierte. Während der Vorbereitung ist der Solist wenig mitteilsam. Nur Verschwiegenheit schützt ihn zuverlässig. Einige rechnen sich einer Protestbewegung oder welthistorischen Mission zu. Doch dies sind nur Fantasiegebilde. Vereinzelte Bemerkungen werden kaum als Vorzeichen wahrgenommen. Auf die Weltbühne tritt er erst mit der Tat. Das Blut der Opfer beglaubigt seine Existenz. Nun explodiert sein Geheimnis, und er wird seltsam gesprächig. Breivik versandte stolz ein obskures Machwerk von über 1500 Seiten kurz vor dem Osloer Anschlag. Theodore Kaczynski, der „Una­bomber“, der zwischen 1978 und 1995 mit 16 Briefbomben drei Menschen tötete und 23 verletzte, ließ in der New York Times ein Manifest von 35 000 Wörtern gegen die industrielle Zivilisation veröffentlichen. Sein Bruder erkannte den Schreibstil und verriet ihn an das FBI. Émile Henry verfasste für den Gefängnisdirektor einen Essay über den Anarchismus. Auf der Anklagebank trug er seine Konfession so überzeugend vor, dass nicht wenige Sympathisanten ihn klammheimlich bewunderten. Von Dschochar Zarnajew, der die Verfolgungsjagd überlebte, dürften keine großen Reden zu erwarten sein. Er hat weiter nichts zu sagen.
Wolfgang Sofsky
Die Brüder Zarnajew wollten mit ihrem Bomben-Attentat auf den Marathon in Bosten „den Islam verteidigen“. Sind sie der Prototyp des Attentäters?
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außenpolitik
2013-07-27T10:20:12+0200
2013-07-27T10:20:12+0200
https://www.cicero.de//aussenpolitik/boston-attentaeter-die-brueder-zarnajew-je-mehr-opfer-desto-besser/55124
Regierungskrise in Frankreich - Was das Misstrauensvotum gegen die Regierung Barnier bedeutet
Nicht einmal drei Monate nach dem Amtsantritt droht der französischen Regierung von Premierminister Michel Barnier das Aus. Präsident Emmanuel Macron hatte den konservativen Politiker zum Regierungschef gemacht, obwohl er keine eigene Mehrheit in der Nationalversammlung hat. Weil der Streit um Barniers geplanten Sparhaushalt eskalierte, wollen die oppositionellen Abgeordneten der Nationalversammlung, sowohl das Linksbündnis als auch Rassemblement National von Marine Le Pen, über einen Misstrauensantrag abstimmen. Die wichtigsten Fragen und Antworten: Wann wird abgestimmt? Die Abstimmung über beide Misstrauensvoten, das des Linksbündnisses und ein weiteres des Rassembement National von Marine Le Pen, wird am Mittwoch ab 16 Uhr in der Nationalversammlung stattfinden. Ist schon klar, wie das Votum ausgeht? Es ist zu erwarten, dass eine Mehrheit der Abgeordneten der Regierung das Vertrauen entzieht und sie somit stürzt. Das linke Lager aus Kommunisten, Grünen, Sozialisten und Linken hatte einen Antrag eingereicht. Ihre Stimmen gelten als relativ sicher. Die Rechtsnationalen um Marine Le Pen haben angekündigt, dem Antrag des linken Lagers zuzustimmen, allerdings haben sie zusätzlich einen eigenen Antrag gestellt. Zusammen erreichen die Oppositionsparteien die nötige absolute Mehrheit von 289 Stimmen. Wird damit auch Präsident Macron abgewählt? Nein. Das Misstrauensvotum gilt nur für die Regierung, die von Präsident Emmanuel Macron ernannt wurde, der er aber nicht angehört. Aber ein Regierungssturz wird auch ihn unter Druck setzen, denn sein Mitte-Lager regiert mit. Le Pen und die Linke hoffen möglicherweise darauf, Macron mit dem Regierungssturz zu einer vorgezogenen Präsidentschaftswahl zu bewegen. Eigentlich steht das Votum erst 2027 an. Macron kann nach zwei Amtszeiten nicht erneut antreten. Kommen in Frankreich jetzt also wieder Wahlen? Neue Parlamentswahlen wird es auch mit einem Regierungssturz nicht geben. Zur Erinnerung: Macron hatte die Nationalversammlung im Frühjahr aufgelöst und Neuwahlen einberufen. Abermalige Wahlen sind erst ein Jahr nach der zweiten Wahlrunde wieder möglich, also im Juli. Auch ein Regierungssturz würde also nichts an den komplizierten parlamentarischen Verhältnissen ändern. Derzeit haben weder Macrons Mitte-Kräfte und die Konservativen, noch das linke Lager, noch der Rassemblement National und seine Verbündeten eine eigene Mehrheit in der Parlamentskammer. Zwar dürften Teile der Opposition auf eine vorgezogene Präsidentschaftswahl hoffen. Macron hatte jedoch immer wieder betont, bis zum Ende seiner Amtszeit Staatschef bleiben zu wollen – also bis zur regulär anstehenden Wahl 2027. Steht Frankreich dann bald ohne Regierung da? Ist das Misstrauensvotum wie erwartet erfolgreich, muss Premier Barnier bei Präsident Macron seinen Rücktritt und den Rücktritt der Regierung einreichen. Die Ministerinnen und Minister dürfte Macron dann aber geschäftsführend im Amt lassen, bis es eine neue Regierung gibt. Sie könnten sich dann um laufende Regierungsangelegenheiten kümmern, nicht aber neue Gesetzesinitiativen anstoßen. Doch auch mit einem geschäftsführenden Kabinett würde ein Regierungssturz Frankreich erneut in eine politische Krise stürzen. Schon nach den Parlamentswahlen im Sommer war die Regierungsfindung äußert kompliziert und langwierig. Das Ergebnis war mit der Barnier-Regierung nur ein geduldetes Kabinett ohne eigene Mehrheit. Die Situation dürfte bei gleichbleibenden Kräfteverhältnissen nun nicht leichter werden. Hinzu kommt, dass der Haushalt für das kommende Jahr noch nicht verabschiedet wurde. Zwar droht in Frankreich kein Shutdown wie in den USA. Mit den notwendigen anvisierten Sparplänen wird es ohne Regierung jedoch schwierig. Hat Frankreich historische Erfahrungen mit dieser Situation? Nein. Die französischen Regierungen, die stets vom Präsidenten ernannt werden, haben in den letzten Jahren meist kürzer gehalten als etwa in Deutschland und auch während einer parlamentarischen Legislaturperiode gewechselt. Unter Macron, der seit 2017 Präsident ist, gab es je nach Zählweise bereits mindestens sechs Regierungen mit fünf verschiedenen Premierministern. Druck aus dem Parlament hat bei den Regierungswechseln mitunter zwar auch eine Rolle gespielt, aber dass die Abgeordneten das Kabinett abwählten, ist seit über 60 jahren nicht vorgekommen. In der jüngeren französischen Geschichte waren Abgeordnete erst einmal mit einem Misstrauensvotum erfolgreich: 1962 entzogen sie Premier Georges Pompidou und seiner Regierung unter Staatschef Charles de Gaulle das Vertrauen. Es kam zur Neuwahl. dpa
Cicero-Redaktion
Frankreich steht erneut vor einer politischen Krise. Ein Misstrauensvotum könnte am Mittwoch die Mitte-Rechts-Regierung von Barnier stürzen. Was man über Erfolgsaussicht und Folgen wissen muss.
[ "Frankreich", "Emmanuel Macron", "Marine Le Pen" ]
außenpolitik
2024-12-03T10:49:24+0100
2024-12-03T10:49:24+0100
https://www.cicero.de//aussenpolitik/regierungskrise-frankreich-misstrauensvotum-barnier
Bundesamt für Migration und Flüchtlinge - Teure Unternehmensberater in der Asylverwaltung
Im September 2015, auf dem Höhepunkt des Flüchtlingszuzugs nach Deutschland, trat Innenminister Thomas de Maizière mit seinem neuen Krisenbewältiger vor die Presse – Frank-Jürgen Weise, Chef der Bundesagentur für Arbeit und frisch ernannter Präsident des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (Bamf). Weise sollte beim Bamf alles anders machen, besser, effizienter. Heißt vor allem: den Berg an Asylanträgen abtragen. Der war unter seinem Vorgänger Manfred Schmidt angewachsen, ohne, dass die Politik ihm sichtbar zur Seite gesprungen war. Weise hatte Visionen. Seine erste: Er werde McKinsey ins Haus holen, um die Asylverfahren zu beschleunigen. Allerdings zunächst „ohne Bezahlung“. Den Umgang mit Unternehmensberatungen kennt Weise schon von seiner Arbeitsagentur. McKinsey hat auch schon Schweden und Dänemark in Flüchtlingsfragen unterstützt. Die kostenfreie Beratung dauerte aber nur kurz an. Sechs Wochen später, am 30. Oktober, wurde mit McKinsey ein eigener Vertrag geschlossen, wie ein Sprecher des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge auf Cicero-Anfrage einräumte. Es blieb nicht der einzige. Am 11. November wurde die Unternehmensberatung Roland Berger hereingeholt, am 17. Dezember Ernst & Young. Auf die Frage, ob es für die Dienstleistungen eine europaweite Ausschreibung gegeben habe, antwortete die Bamf-Pressestelle: „Nein“. Dabei müssen Bundesbehörden Dienstleistungen ab einem Schwellenwert von 135.000 Euro in der Regel öffentlich ausschreiben. Ausnahmetatbestände sind genau zu begründen. Welchen Umfang die Beraterverträge haben, wie hoch die einzelnen Honorare sind, gab das Bundesamt nicht bekannt. Auch die betroffenen Firmen wollten sich auf Cicero-Anfrage nicht äußern. Das Bundesamt teilte lediglich mit, dass die Unternehmensberater aus einem Topf mit dem Titel „Behördenspezifische fachbezogene Verwaltungsausgaben“ bezahlt werden. Für das Jahr 2016 seien dafür vorsorglich 12 Millionen Euro eingeplant. Aus diesem Titel würden aber auch sonstige Sachverständige wie Dolmetscher und Schriftgutexperten bezahlt. Mitarbeiter des Bundesamtes beobachten, dass Berater häufig mit einem Taxi anreisen. Die Pressestelle sagt dazu: „Reisekosten der Berater werden vom Bamf nicht erstattet.“ Eine freihändige Vergabe eines Auftrags an McKinsey hat in Berlin in diesen Wochen zu einem Eklat geführt. Dort sollte die Beraterfirma den „Masterplan Integration und Sicherheit“ erstellen. Oder besser gesagt: Der SPD-Mann Lutz Diwell, der von McKinsey bezahlt und von SPD-Bürgermeister Michael Müller eingesetzt worden sein soll. Auftragshöhe: 238.000 Euro. Es stand der Vorwurf der Vetternwirtschaft im Raum. Die Betroffenen mussten sich unangenehmen Fragen im Berliner Abgeordnetenhaus stellen. Das Bamf betont: Die Unternehmensberater arbeiten keine Asylanträge ab, sondern sie sollen vor allem das Verfahren verbessern. Dazu zählen Maßnahmen wie ein Online-Buchungssystem, der elektronische Datenaustausch mit den Gerichten und eine schnellere Dokumentenlogistik. Zu den Aufgaben gehöre auch die Organisation in der Fläche: Neben der Nürnberger Zentrale hat das Bundesamt seit Anfang März 17 neue Außenstellen, elf Ankunftszentren, vier Entscheidungszentren, zwei Warteräume, fünf Bearbeitungsstraßen und ein Qualifizierungszentrum. Ziel sei es, den Gesamtprozess „von der Einreise bis zur Asylantragsstellung in ein integriertes Flüchtlingsmanagement“ zu optimieren. Mit den Beratern hat das Bundesamt nach eigenen Angaben die Zahl der Entscheidungen deutlich steigern können. Zwischen Oktober 2015 bis Ende Februar 2016 seien es mehr als 211.000 Entscheidungen gewesen, im Vorjahreszeitraum dagegen nur 78.000. Auch sei die Bearbeitungsdauer von Asylanträgen aus sicheren und unsicheren Herkunftsländern von 152 Tagen auf 48 Stunden gesenkt worden. Das Pilotverfahren soll nun auch in den Außenstellen umgesetzt werden. Indes: Zwischen 2014 und 2015 hat sich die Zahl der Asylanträge auch mehr als verdoppelt, und im Zuge der Flüchtlingskrise hat die Große Koalition immer mehr Länder als „sicher“ eingestuft. Dass ein Antrag aus einem solchen Land schneller – nämlich: abschlägig – beurteilt wird, ist offensichtlich. Und noch immer stapeln sich die unerledigten Asylanträge beim Bundesamt. Ende Februar waren es rund 393.000. Zudem hat das Bundesamt sein Personal zuletzt deutlich aufgestockt, auf inzwischen 5900 Mitarbeiter. Es wurde so rasant eingestellt, dass von mehreren Hundert Mitarbeitern noch in der Probezeit wieder Dutzende kündigten. Der Personalrat hat wegen der Einstellungspraxis der Behörde beim Verwaltungsgericht Ansbach mehrere Klagen eingereicht. Dem Behördensprecher war noch etwas wichtig: darauf hinzuweisen, dass die Zusammenarbeit mit McKinsey „im Rahmen seiner Kooperation mit der Bundesagentur“ für Arbeit begonnen wurde. In anderen Worten: Dass das Bundesamt jetzt mit Beratungsfirmen kooperiert, geht auf das Konto des neuen Doppel-Behörden-Chefs Frank-Jürgen Weise. Denn seine Bundesagentur für Arbeit setzt schon viel länger auf externe Beratung. Am 1. Juli 2014 schloss es einen Vertrag mit der Boston Consulting Group (BCG). Anders als beim Bamf erfolgte die Vergabe nach einer Ausschreibung – „im Rahmen eines europaweiten Verhandlungsverfahren mit Teilnahmewettbewerb“, wie es aus der Behörde heißt. Inhalt der Beratung seien die Weiterentwicklung des durch die Agentur selbst erstellten Zukunftsprogramms „BA 2020“, die Verbesserung von Dienstleistungen und interner Prozesse. 2016 hat die Bundesagentur für den Posten „Honorare und Reisekosten an externe Sachverständige“ vorsorglich zehn Millionen Euro eingeplant. Aus diesem Titel werden auch die Unternehmensberater bezahlt. Die Bundesagentur hat nach eigenen Angaben allein in diesem Jahr für zwei Projekte insgesamt 27 Beratertage abgerufen. Wie hoch das Honorar lag und welchen finanziellen Umfang der Vertrag hat, gab die Behörde nicht bekannt. Auch die Boston Consulting Group ging auf die Cicero-Fragen nicht ein.
Petra Sorge
McKinsey, Roland Berger, Ernst & Young: Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge setzt bei der Bewältigung der Asylanträge auf zahlreiche externe Berater. Behördenchef Frank-Jürgen Weise überträgt damit ein Prinzip, das er schon bei seiner Bundesagentur für Arbeit jahrelang anwendet. Die Bamf-Aufträge wurden nicht ausgeschrieben
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innenpolitik
2016-03-24T15:21:53+0100
2016-03-24T15:21:53+0100
https://www.cicero.de//innenpolitik/asylverwaltung-bundesamt-kauft-sich-unternehmensberater-ein/60685
Debatten um den Supreme Court - Die falschen Propheten
Das Bild, das die meisten US-Amerikaner in den vergangenen Jahrzehnten von den politischen Eliten in Washington, D.C. gewinnen konnten, ist ambivalent. Dies beginnt bei der Frage, ob ein Abgeordneter eher seinen Wählern oder eher Konzernen und Lobbyverbänden verpflichtet sei. Und es endet bei den regelmäßigen gegenseitigen Haushaltsblockaden der Demokraten und Republikaner, die dann einen Shutdown nach sich zogen: Der Staat wurde auf Notbetrieb gestellt und war für den Bürger in verschiedenen Bereichen praktisch ausgeschaltet. Der Eindruck des Versumpfens einer nur mit sich selbst und nicht mit Land und Bürgern befassten politischen Klasse lähmte das Vertrauen in die Demokratie. Dieser Vertrauensverlust hat damals maßgeblich zum Wahlerfolg von Donald Trump beigetragen: Ein Außenseiter, der niemandem in Washington, D.C. einen Gefallen schuldete. Das aber hat auch maßgeblich zu den Abwehrreflexen gegen Trump beigetragen: Wenn es diesem Außenseiter gelänge, erfolgreicher als die Berufspolitiker zu sein, stünde die Systemfrage im Raum. Zwar hat Trump beim Versuch der Wiederwahl drei Millionen Wähler hinzugewinnen können, aber jene Propheten, die auf seine Abwahl gesetzt hatten, lagen dennoch richtig. In dieser Gemengelage hatte der Oberste Gerichtshof, der Supreme Court of the United States (SCOTUS) eine selten zuvor erreichte Strahlkraft erreicht. Schon zuvor galt er als eine geradezu mythische Einrichtung, die weit über den Alltagskämpfen der Washingtoner Politik stand. SCOTUS ist den meisten Amerikanern Garant, dass die Welt nicht aus den Fugen gerät. Und das trotz der Art, wie er besetzt wird. Der Supreme Court ist das einzige Gericht, das in der US-Verfassung ausdrücklich genannt wird. Zunächst hatte er sechs Richter, die meiste Zeit seines Bestehens aber neun. Die jeweilige Anzahl legt der Kongress fest. Wichtige staatliche Positionen in den USA können nur besetzt werden, wenn eine Mehrheit der derzeit 100 Senatoren im Kongress einen Kandidaten bestätigt. Das gilt für Minister, Chefs von Bundesbehörden, aber auch für Generäle. Richter an Bundesgerichten und auch dem Obersten Gerichtshof gelangen ins Amt, indem der Präsident sie nominiert und der Senat sie anschließend bestätigt. Das Procedere: Der jeweilige Fachausschuss des Senats befragt den Kandidaten, um sich eine Meinung über dessen Ansichten und seine Amtsfähigkeit zu bilden. Im Ergebnis empfiehlt der Ausschuss dem Plenum Annahme oder Ablehnung. Sitzt der Kandidat erst einmal auf dem Richterstuhl, so sitzt er dort auf Lebenszeit. Seine Entscheidungen in politischen Angelegenheiten können auch gegen die politische Auffassung Senatoren gerichtet sein, die ihn empfohlen und bestätigt haben. Die Richter sollen aber im Namen des Volkes urteilen, nicht im Namen der Politik. So geraten die Anhörungen von Richterkandidaten immer öfter zu einer Show, die einer alten Demokratie unwürdig ist. Viele deutsche Politik-Propheten kommentierten die Besetzung jener drei Richterposten, die nach der Wahl Trumps ins Amt kamen, mit großem moralischen Eifer. Als etwa 2017 ein Nachfolger für Antonin Scalia gesucht wurde, von vielen als lebende Legende des Rechts angesehen, fiel Trumps Wahl auf Neil Gorsuch. Der damals 49jährige war bis ein erfolgreicher Jurist und bereits in jungen Jahren als Clerk am Supreme Court tätig gewesen. Als der Präsident am 31. Januar 2016 die Nominierung Gorsuchs bekanntgab, geschah, was in den Folgejahren noch allzu oft geschehen sollte: Ein Furor entstand, der nach Meinung mancher Beobachter mehr mit dem Nominierenden als dem Nominierten zu tun hatte. Der Nominierte wurde abermals von der American Bar Association als sehr qualifiziert für das Amt am Supreme Court bewertet. Doch während die Demokraten im Senat durch Filibuster die Abstimmung über Gorsuchs Ernennung herauszögerten geschah in der Öffentlichkeit, was sachliche Auseinandersetzung mit politischen Positionen immer häufiger ersetzt: Journalisten warfen ihm Plagiate in seiner Doktorarbeit vor. Bei der finalen Abstimmung im Senat stimmten zwar alle Republikaner für ihn, aber nur drei Demokraten. Elf Jahre zuvor hatte Gorsuch aufgrund seiner fachlichen Qualifikation noch die seltene Ausnahme einer einstimmigen Senatsbestätigung erreicht – und nun hielten ihn alle Demokraten bis auf drei plötzlich nicht mehr für qualifiziert. Möglicherweise war das ein Schritt auf dem Weg der tiefen Spaltung des Landes, die während der Präsidentschaft Trumps entstand. War das Abstimmungsergebnis gar ein Dammbruch, der Ersatz sachlicher Entscheidung zum Wohle der Nation zur Obstruktion der Handlungsfähigkeit des ungeliebten Präsidenten? Die Kommentare ließen das nicht als abwegig erscheinen. Es sollte verhindert werden, so war häufig zu hören, dass Trumps geistiges Erbe noch Jahre und Jahrzehnte die Rechtsprechung in den USA beeinflussen würde. Schließlich ist Gorsuch einer der jüngsten je ernannten Richter. Bemerkenswerterweise hatten alle Präsidenten der letzten Jahrzehnte oberste Richter nominiert, die ihren Werten nahestanden: Demokratische Präsidenten nominierten liberale Richter, republikanische Präsidenten konservative. Erst unter Trump entwickelte sich daraus vollends eine ideologiegetriebene Schlacht. Als 2018 ein Nachfolger für Supreme-Court-Richter Anthony Kennedy gesucht wurde, war es nicht anders. Trump nominierte Brett Cavanaugh. Wie Gorsuch war er zuvor Richter an einem Bundesberufungsgericht gewesen. Es waren daher nicht fachliche Zweifel, die im Zentrum jenes Sturms standen, der nach Kavanaughs Nominierung losbrach, vielmehr wurde die charakterliche Eignung Kavanaughs von den demokratischen Senatoren in Zweifel gezogen, nachdem er zu einigen Fragen Stellungnahmen abgelehnt hatte. Darunter waren seine Ansichten zur Abtreibung sowie zur Befugnis des Präsidenten, sich selbst zu begnadigen. Und schließlich erhob die ehemalige Mitschülerin und Psychologieprofessorin Christine Blasey Ford schwere Vorwürfe gegen den Kandidaten: Der damals minderjährige und betrunkene Cavanaugh habe sie Jahrzehnte zuvor am Rande einer Feier festgehalten und sich entblößt, so dass sie eine Vergewaltigung gefürchtet habe. Die eingeschaltete Bundespolizei FBI fand nach kurzer Ermittlung und nach Befragung von Zeugen keinen Anhaltspunkt für justiziables Verhalten. Das heißt nicht, dass sich diese Jahrzehnte alten angeblichen oder tatsächlichen Ereignisse – die erst nach der Nominierung Cavanaughs durch Trump vom mutmaßlichen Opfer öffentlich gemacht wurden - nicht abgespielt haben. Nur im Rahmen des Nominierungsverfahrens waren sie nicht aufzuklären. Sie werden aber wohl ewig mit Cavanaughs Namen verbunden bleiben. Am Ende wurde Cavanaugh vom Senat mit knapper Mehrheit bestätigt. Und abermals zeigte sich eine Spaltung im Senat, die nahelegte, dass allein fachliche Qualifikation nicht ausreicht, um gewählt zu werden. Die Demokraten stimmten – mit einer Ausnahme – geschlossen gegen den von Trump nominierten Kandidaten. Dies sollte bei der dritten Nominierung der Trump-Administration für den Supreme Court ähnlich sein. Ebenso wie die beiden zuvor ernannten Richter war Amy Coney Barrett nach dem Studium als Law Clerk bei hohen Richtern tätig gewesen. Sie war also entsprechend qualifiziert als Trump sie 2017 als Richterin am siebten Bundesberufungsgericht nominierte. In den folgenden Senatsanhörungen wurde unter anderem ein rund 20 Jahre alter Fachaufsatz Coney Barretts thematisiert, den sie gemeinsam mit einem fünfundzwanzig Jahre älteren Professor verfasst hatte. Die beiden katholischen Autoren hatten argumentiert, dass katholische Richter sich enthalten sollten, wenn es um die Todesstrafe gehe. Fehlende richterliche Härte beim Thema Todesstrafe ist aber vielen konservativen Amerikanern suspekt. Andererseits wurde ihr zum Vorwurf gemacht, dass sie bei Familienfragen - und damit auch in Sachen Abtreibung und Gleichgeschlechtlichkeit - zu konservativ sein könnte. Am Ende wurde Amy Coney Barrett mit 55:43 Stimmen bestätigt. Gab die Bar Association auch ihr die Höchstnote „sehr qualifiziert“, so geriet sie doch direkt in die Räder des politischen Betriebs – und wurde.  das erste Mitglied des Supreme Courts seit 150 Jahren, das nicht eine einzige Oppositionsstimme erhalten hatte. Mit dem festen Glauben alttestamentarischer Propheten und dem Sendungsbewusstsein der Propheten neuzeitlicher Weltuntergangssekten stand für viele deutsche Experten außer Frage: Die drei von Trump nominierten Richter würden dessen konservative Politik, ja – schlimmer noch – dessen Amtsverständnis über Jahre im US-Recht zementieren. Die Horror-Szenarien gingen gar so weit, dass sie seine schon früh angekündigten gerichtlichen Schritte bei den Präsidentschaftswahlen ebenso blind durchwinken würden wie alle seine nachfolgenden privaten Wünsche – angefangen von seinen Steuerakten bis hin zu Straffreiheit für möglicherweise vor seiner Präsidentschaft begangenen Taten. Doch mit Prophezeiungen ist es so eine Sache: Sie sind ein probates Mittel, sakrosankten Status zu erlangen, wenn das prophezeite Ergebnis eintrifft. Aber sie sind der schnellste Weg zur Narrenecke, wenn man die eigene Hysterie zum Maßstab der Vorhersage des Handelns Anderer gemacht hat und damit falsch lag. Im vorliegenden Fall haben sich beinahe alle Propheten geirrt. Und zwar blamabel. Als Donald Trump eine Einstweilige Verfügung gegen die Ernennung Joe Bidens zum Wahlsieger beantragte, lehnte der Supreme Court dies mit nur einem Satz ab. Rund einen Monat nach seiner Amtszeit lehnte der Supreme Court in einer seiner seltenen einstimmigen Entscheidungen Trumps Antrag ab, dass seine Steuerunterlagen nicht herausgegeben werden dürfen. Doch auch über Trumps persönliche Anliegen hinaus lösen sich viele hysterisch vorgetragene Befürchtungen in Nichts auf. So etwa, dass die konservative 6:3 Mehrheit des Supreme Court Trumps konservative Politik, sein „America First“-Programm oder generell konservative „US-Weltpolizei-Positionen“ weiterverfolgte. Zum Beispiel hat das Gericht 2020 im bahnbrechenden Fall Bostock vs. Clayton County die LGTBQ-Rechte in einem Umfang gestärkt, der von den meisten Amerikanern kaum für möglich gehalten wurde. Bemerkenswerterweise stimmten zwei der drei von Trump nominierten Richter zu Gunsten des Klägers. Der dritte – Gorsuch – stimmte nicht dagegen, sondern kam aus rechtsförmlichen Erwägungen zum Schluss, dass die Entscheidung vom Senat und nicht dem Supreme Court getroffen werden müsse. In demselben Jahr wurden in Sachen McGirt vs. Oklahoma die Rechte von US-Ureinwohnern gestärkt – ein wichtiges Thema für viele Demokraten. Und schließlich lehnte der Supreme Court vor wenigen Wochen im Welfenschatz-Streit die grundsätzliche Zuständigkeit von US-Gerichten bei NS-Raubkunstfällen in Deutschland ab – auch dort wieder einstimmig. Das krachende Scheitern der Propheten sollte Anlass zu Besinnung und Selbstkritik sein, vor allem aber ein Signal zur Umkehr. Die obersten Gerichte müssen in Demokratien ein Ort des Rechts bleiben und nicht der Politisierung und Popularisierung. Jene, die sich bei der Beurteilung der Situation die Positionen der Demokraten im US-Kongress zu eigen gemacht haben, sollten eines bedenken: Wer den Republikanern vorwirft, mit ihrer Mehrheit die Ernennung des letzten von Obama nominierten Richters verhindert, nun aber die letzte Ernennung Trumps ermöglicht zu haben, zeigt ein bedenkliches Demokratieverständnis. Wer dann aber freudig in die Hände klatscht, wenn die Demokraten ankündigen, mittels ihrer gegenwärtigen Mehrheit die Anzahl der Richterstellen zu erhöhen, um das Verhältnis im Supreme Court zu Gunsten der von Demokraten bestätigten Kandidaten zu erhöhen, der sollte seinen demokratischen Kompass überprüfen – vor allem aber sein Verständnis von Recht und Gewaltenteilung.
Julien Reitzenstein
Bei der Besetzung des Supreme Courts durch den letzten US-Präsidenten Donald Trump hat es immer wieder Ängste und Vorbehalte gegeben. Vieles war unnötige Kaffeesatzleserei und falsches Prophetentum. Das belegt auch ein Blick auf die letzten Urteile des Obersten Gerichtshofes der Vereinigten Staaten.
[ "Justiz", "USA", "Supreme Court" ]
außenpolitik
2021-04-01T14:29:07+0200
2021-04-01T14:29:07+0200
https://www.cicero.de/aussenpolitik/supreme-court-usa-unabhaengigkeit-kritik-recht
Abstimmung im Bundestag - Merz im zweiten Anlauf zum Kanzler gewählt
CDU-Chef Friedrich Merz ist im zweiten Anlauf im Bundestag zum zehnten Kanzler der Bundesrepublik Deutschland gewählt worden. Er erhielt in geheimer Abstimmung 325 Ja-Stimmen und damit neun mehr als die nötige Mehrheit von 316. Die Koalitionsfraktionen CDU/CSU und SPD haben zusammen 328 Sitze im Parlament. Merz nahm die Wahl an. „Ich bedanke mich für das Vertrauen, und ich nehme die Wahl an“, sagte er auf eine entsprechende Frage von Bundestagspräsidentin Julia Klöckner Im ersten Wahlgang hatten Merz überraschend sechs Stimmen gefehlt. Das war in der Geschichte der Bundesrepublik in der Form ein Novum: Noch nie war nach einer Bundestagswahl und erfolgreichen Koalitionsverhandlungen ein designierter Kanzler bei der Wahl im Bundestag durchgefallen. Jetzt steht dem Regierungswechsel auf den Tag genau ein halbes Jahr nach dem Bruch der Ampel-Koalition aber nichts mehr im Wege. Merz muss aber im Schloss Bellevue von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier noch die Ernennungsurkunde erhalten und ist erst dann auch rechtlich gesehen Bundeskanzler. Anschließend fährt er zurück in den Bundestag und spricht dort den Amtseid. Auch die Vereidigung der 17 Bundesministerinnen und Bundesminister soll noch heute stattfinden. Dem Kabinett gehören zehn Männer und acht Frauen an. CDU und SPD stellen jeweils sieben Minister und Ministerinnen, die CSU drei. Vizekanzler und damit zweitmächtigster Mann im Kabinett nach Merz ist der künftige Finanzminister Lars Klingbeil (SPD). Der Erfolg der Regierung wird maßgeblich davon abhängen, wie die beiden sich verstehen. In den Koalitionsverhandlungen hat das ganz gut geklappt. Die Erwartungen sind groß. Im Inland hoffen die Menschen vor allem auf die Ankurbelung der seit langem schwächelnden deutschen Wirtschaft. Im Ausland warten die europäischen Verbündeten seit dem radikalen Kurswechsel in der US-Außenpolitik unter Präsident Donald Trump darauf, dass Deutschland als wirtschaftsstärkstes und bevölkerungsreichstes EU-Land wieder voll handlungsfähig wird – gerade mit Blick auf die Bedrohung aus Russland und die Konkurrenz aus China. Besonders große Aufmerksamkeit wird in den ersten Tagen bekommen, was der designierte Innenminister Alexander Dobrindt (CSU) zur Eindämmung der irregulären Migration angekündigt hat. „Die ersten Entscheidungen werden nach Amtsantritt an diesem Mittwoch getroffen. Dazu werden die Grenzkontrollen hochgefahren und die Zurückweisungen gesteigert“, hatte der CSU-Politiker der „Bild am Sonntag“ gesagt. Ebenfalls am Mittwoch will Merz seine ersten Antrittsbesuche in den Nachbarländern Frankreich und Polen absolvieren. Warschau ist alles andere als begeistert von den deutschen Plänen zur Kontrolle der Grenzen. Das dürfte Thema beim Treffen von Merz mit dem polnischen Ministerpräsidenten Donald Tusk sein. Mit dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron wird Merz vor allem darüber sprechen, wie die europäische Souveränität gestärkt werden kann. dpa
Cicero-Redaktion
Es war ein krachender Fehlstart für CDU-Chef Friedrich Merz. Bei der Kanzlerwahl fällt er im ersten Versuch durch. Zu Fall bringen lässt er sich dadurch aber nicht.
[ "Friedrich Merz", "Bundeskanzler" ]
innenpolitik
2025-05-06T16:25:52+0200
2025-05-06T16:25:52+0200
https://www.cicero.de//innenpolitik/abstimmung-im-bundestag-merz-im-zweiten-anlauf-zum-kanzler-gewahlt
Raus aus Deutschland und Europa – Servus, Bayern!
Mir san mir! Das Motto selbstsicherer Bayern hat Konjunktur. Gerade in der Eurokrise. Natürlich, die Stimmen derer, die da weniger Europa fordern, den Euro beklagen, kommen nicht nur aus Bayern. Aber dort fallen sie auf besonders fruchtbaren Boden. Auf selbstbewusste Bürger, für die Subsidiarität mehr ist als eine Rangfolge der Verantwortlichkeiten, und sich Tradition nicht allein in Sonntagsreden erschöpft. Während die bekannten und bekennenden Eurokritiker Griechenland offen mit dem Rausschmiss drohen, gehen nun einige Urbayern voran und sagen sich selbstbewusst: Wenn die Griechen nicht gehen, gehen halt wir. Die Bayernpartei fordert sie schon lange. Die Unabhängigkeit Bayerns. Und nun führt der Straußfreund und Urkonservator Wilfried Scharnagl den Lebewohlprotest an. In seinem Buch „Bayern kann es auch allein“ zementiert er den Glauben, dass das Schicksal der Bayern nur besser werden könne, wenn der Freistaat nicht länger den Zwängen und Ausbeutungen einer doppelten Transferunion, einer deutschen und einer europäischen, ausgeliefert sei. „Wenn man das allgemein für undenkbar Gehaltene ausspricht, wird das Undenkbare denkbar“, erklärte Scharnagl in einem Interview. Er will das Undenkbare denkbar machen. Folgen wir ihm – dankbar – und machen es denkbar: 1. Januar 2013. Bayern erklärt seine Unabhängigkeit. Die Erklärung endet mit den Worten Dobrindts, man wolle ein Exempel statuieren. Die bayerische Landesverfassung von 1946 wird zur Grundlage der Separation. (Da das Grundgesetz eh nie wirklich anerkannt wurde – in Bayern stimmte man seinerzeit dagegen, da man darin einen Angriff auf die Eigenständigkeit sah – ändert sich zunächst nicht viel.) Seehofer als amtierender Ministerpräsident führt sein Volk souverän in die neue Ära. Die Landesfarben sind weiß und blau. Bayern wird laut Verfassung zu einem Volksstaat. Seehofer wird nach einem Volksentscheid über eine Verfassungsänderung zum direkt gewählten Staatspräsidenten. Dobrindt übernimmt das Amt des Ministerpräsidenten und Söder wechselt ins neuerschaffene Verteidigungsministerium. Eine bayerische Wehrpflicht wird eingeführt, Uniformen natürlich in blau-weiß gehalten. Die traditionellen Garnisonsstädte Fürstenfeldbruck, Oberhaus, Lechfeld und Plassenburg werden reaktiviert. Die Franken nutzen die Volksabstimmung, um für den Verbleib in der Bundesrepublik zu stimmen. Bayern verliert ein Drittel seines gerade gewonnen Staatsgebietes. Die Stimmung gegen Franken kippt endgültig. Die Folge: Wer das „R“ übermäßig rollt, wird zur Ausbürgerung angehalten. Durch die Separation sind alle Verträge mit der EU aufgehoben. Der bayerische Gulden wird wieder eingeführt. Neben König Ludwig gibt es Sonderprägungen mit Strauß, Beckenbauer und Seehofer. Bayern wird zur Insel der Glückseligen für alle Eurokritiker und Merkelmüden. Hans-Olaf Henkel und Gertrud Höhler stellen einen Einbürgerungsantrag (Henkel darf einreisen, Höhler muss warten, da zur Einreise die Unterschrift eines männlichen Erziehungsberechtigten laut Einreiseparagraph obligatorisch ist). Zu Guttenberg wird als Heimkehrer gefeiert und zum Außenminister ernannt. Die Grenzposten tragen Lederhosen, die weiß-blauen Maibäume werden zu Schlagbäumen umfunktioniert. Seite 2: Warum Seehofer zum König wird Eine zweite parlamentarische Kammer wird wieder eingeführt, in der Vertreter aus den Bezirken Oberbayern, Niederbayern, Oberpfalz und Schwaben föderalistisch agieren und so dem Zentralstaat Bayern das Leben erschweren. Die CSU schluckt die Bayernpartei und wird zur Staatspartei mit „gesonderten Rechten“. Die FDP wird in FBR (Freie Bayerische Partei), die SPD in SPB unbenannt. Zusammen mit den Grünen (die jetzt die Blauen heißen), der Linken (die sich auf zugereiste Ostdeutsche spezialisiert) und den Piraten (umbenannt in Lederhosen-Taliban)  gehören sie den Bayerischen Blockparteien – kurz „BB“ – an. Artikel 8 der Verfassung, der die Gleichstellung aller Deutschen in Bayern garantierte, wird aufgehoben. Deutsche werden hinter gebürtigen Bayern zu Staatsbürgern zweiter Klasse, in Tabakläden wird ihnen fortan nur noch der grobkörnige Schnupftabak verkauft. Es kommt zu einer Ausreisewelle. Auch sportlich geht man eigene Wege. Bayern trifft in der WM-Qualifikation 2014 auf die Bundesrepublik Deutschland und gewinnt gegen Jogis Multikultitruppe durch ein frühes Tor durch Thomas Müller. Das Spiel wird später annulliert, da man dem Torschützen nachweisen konnte, dass sein Urururgroßvater preußischen Ursprungs war. Beim olympischen Komitee geht zum Jahresende ein Antrag ein, in dem Bayern fordert, dass Fingerhakeln olympisch wird. Kopftücher verschwinden aus  dem öffentlichen Leben, Trachten werden an öffentlichen Institutionen Pflicht. Die Bayernhymne (Gott mit dir, du Land der Bayern, deutsche Erde, Vaterland!) wird als oberste Hymne von Peter Steiner uraufgeführt . Da Brasilien die Internet-Domain „br“ besetzt hält, „ba“ von Bosnien-Herzegowina okkupiert ist und „by“ von Weißrussland genutzt wird, einigt man sich auf die Endung „ww“ in Anlehnung an gelebte Tradition – die Weiß-Wurscht. Unterdessen wird das Berliner Hofbräuhaus zur Interimsbotschaft umfunktioniert. Das dreigliedriges Schulsystem bekommt Verfassungsrang. Frauen irgendwie auch. Die Gelder aus dem nun wegfallenden Solidaritätszuschlag und Länderfinanzausgleich werden in ein neues Heimatschutzministerium investiert. Bilaterale Verträge mit Tirol und dem Inselstaat Palau werden geschlossen. Durch den Wegfall der EU-Agrar-Subventionen und anderer europäischer Förderprogramme stürzt die bayerische Landwirtschaft in die Krise. Die Bauern begehren auf. Es kommt zum Flächenbrand. Rufe nach einem starken Mann werden laut. Per Volksabstimmung führt der „ewige Horst“, wie sie ihn mittlerweile nennen, die konstitutionelle Monarchie ein. Da kein Wittelsbacher Monarch zur Hand ist (leider starb die Königliche Linie des Prinzen Leopold bereits 1997 aus), wird Seehofer kurzerhand selbst  zum König und lässt sich vom Papst später zum Kaiser krönen. Seehofer und sein Kronprinz Dobrindt ziehen von München ins Schloss Neuschwanstein um. Der bayerische Wald wird für Touristen gesperrt und zu Seehofers Jagdrevier erklärt. Währenddessen hat der Euro sich regeneriert. Europa hat die Rezession überstanden. Und in Bayern wird an einigen Stammtischen über die gute alte Zeit sinniert, da man als Teil Deutschlands und Europas großes Ansehen genoss.
CSU-Größen wie Söder oder Dobrindt würden die Griechen am liebsten aus dem Euroraum schmeißen. Einige Bayern drehen den Spieß nun um und fordern den Austritt Bayerns aus Deutschland und Europa. Wie das aussähe? Wir haben recherchiert. Achtung, Glosse
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innenpolitik
2012-08-28T13:00:49+0200
2012-08-28T13:00:49+0200
https://www.cicero.de//innenpolitik/servus-bayern/51655
Trump versus Biden - Die US-Demokratie auf der Intensivstation
Denk ich an Amerika in der Nacht, werd ich um den Schlaf gebracht – und dies in gleich zweierlei Dimension. Zum einen, weil man für das Duell Biden/Trump wie zu den einst legendären Boxkämpfen Muhammad Alis zu nachtschlafender Zeit den Wecker stellen musste. Zum anderen, weil dieses Duell im Ringen um die mächtigste Position auf unserem Erdball zwischen einem Menschen mit bizarrem Verhältnis zur Wahrheit und einem Altersschwachen abläuft und damit geradezu pathologische Züge trägt. Dies führt uns im Kern vor Augen, wie sehr die älteste Demokratie der Welt sich auf der Intensivstation befindet. Ein Zustand, der uns alle mit großer Sorge erfüllen sollte. Man kann es nicht anders formulieren: Dieses Duell war eine Schande für die amerikanische Demokratie und damit die restverbliebene hegemoniale Macht des 21. Jahrhunderts. Vom Sachwalter demokratischen Anstands und diskursfreundlicher Debattenprinzipien war, auch vonseiten der verantwortlichen Senders CNN, weit und breit nichts zu sehen. Da attackiert ein ehemaliger und wahrscheinlich künftiger Präsident in einem aggressiven, mithin beleidigenden und ehrverletzenden Ton seinen Gegner mit Gewehrsalven offensichtlicher Falschbehauptungen, ohne dass er je von einem der moderierenden Journalisten unterbrochen wurde bzw. zu den Thesen Nachfragen gestellt wurden. Selbst im mittlerweile tendenzjournalistischen öffentlich-rechtlichen Rundfunk hierzulande wäre mit Faktenchecks, Ein- und Nachhaken entsprechende journalistische Verantwortung wahrgenommen worden. In Atlanta/Georgia: Fehlanzeige. So verbreitet Trump unwidersprochen und ohne dabei rot zu werden die Mär, dass die Demokraten auch noch bei der Geburt von neun Monate alten Babys für Abtreibungen stehen und Kinder ohne Versorgung nach der Entbindung sterben lassen wollen. Oder Trump behauptet, sich selbst in Rage redend, dass illegale Einwanderer in die USA der hispanischen und schwarzen Arbeitnehmerschaft 20 Millionen Arbeitsplätze weggenommen hätten und dass Biden zusätzlich dem Leben der Schwarzen durch seine „durch ihn induzierte Inflation massiven Schaden“ zufügt. Selbstverständlich sind weder die Zahl noch die Korrelation eines Crowding Outs spezifischer Gruppen am Arbeitsmarkt numerisch belegbar oder haben irgendetwas mit makroökonomischen Realitäten zu tun. Auch die Inflation haben, wenn überhaupt, alle Präsidenten, einschließlich Donald Trump, zu verantworten. Denn die überbordende Verschuldung infolge der Attitüde Amerikas, seine heutigen Partys zu Lasten künftiger Generationen zu feiern, hat in den USA – und es sei erlaubt hinzuzufügen: auch andernorts – keine politische Farbe. „He’s the worst president of our country, he destroyed our country“, giftet Trump in Richtung Biden. Und weiter: „Veterans are living in the streets and these people (gemeint sind Biden und seine Administration) are living in luxury hotels.“ Dies sagt ausgerechnet der Initiator von Luxushotels und Clubs für die Schönen und Reichen. An Heuchelei und Zynismus ist dies kaum zu überbieten. Insbesondere Trump bewegt sich in weiten Teilen unterhalb der für deutsche Verhältnisse auch nur annähernd akzeptablen Gürtellinie. Der Höhepunkt ist sein völlig irrer Vorwurf an Biden: „He is a Manchurian candidate, he gets money from China.“ Respekt als Fundament jeden demokratischen Diskurses konnte man bei diesem Duell wahrlich nicht erkennen. Stattdessen faktenfreie politische Narrative, die von den Moderatoren nicht ein einziges mal korrigiert bzw. durch Nachhaken aufgeklärt wurden. Bei einer solchen Debattenkultur stehen die Verlierer fest: die USA, die Demokratie und nicht zuletzt CNN. Der amtierende Präsident der Vereinigten Staaten hingegen erzeugt mit seiner gebrochenen, heiseren und bisweilen kaum verständlichen Stimme sowie regelmäßigen hör- und sichtbaren zerebralen Ausfällen bzw. häufigem sprachlichen Verheddern den Eindruck, dass er nicht mehr Herr der Lage und zur Führung der wichtigsten Nation der freien Welt befähigt ist. Er wirkt müde, sein Gesicht zur Maske verzerrt. Seine Versuche, mit Fakten den Tiraden Trumps entgegenzutreten, wirken durch seine physische Schwäche stumpf und kraftlos. Biden empfindet offensichtlich und verständlicherweise Unbehagen bei dieser Debatte. Er kann einem fast leid tun, wäre da nicht die berechtigte Forderung an ihn und die Verantwortung für sein Amt, seine persönliche Lage selbstkritisch einzuschätzen und die notwendigen Schlüsse daraus zu ziehen. Beurteilt man das Duell rein vom „energy level“ der beiden Gegner, dann kann man durchaus von einem technischen K.O.-Sieg Trumps sprechen. Trump wiederum antwortet auf keine ihn persönlich in Schwierigkeiten bringende Frage, sondern iteriert sein Tremolo gegen den „schwächsten Präsidenten aller Zeiten“. Er bestreitet offensichtliche Tatsachen, so etwa die, dass er drei Stunden während des Sturms auf das Kapitol in seinem Büro passiv zugesehen hat, statt sich, trotz heftigen Drängens seines Vize-Präsidenten, energisch schützend vor die Demokratie zu stellen. Dennoch: Trump ist wesentlich energetischer und kraftvoller in seinem Auftritt. Biden verliert sich schlapp und müde, bisweilen sogar verwirrt wirkend, in seinen eigenen Sätzen. Der peinlichste Moment entstand, als die beiden wechselseitig über ihre Golfschwünge und Handicaps stritten und Biden zunächst ein Handicap 6 und dann korrigierend eines von 8 für sich reklamierte. Man kann dies selbst wohlmeinend nicht mehr mit einer geradezu infantilen Neigung der Amerikaner zur Überbewertung sportlicher Ambition erklären, sondern nur damit, dass wir es in dieser Nacht mit zwei Kandidaten zu tun hatten, die schlicht, jeder für sich, ein anderes Handicap haben und zwar eines, das die gesamte Welt in Bedrängnis bringen kann und mit gerütteter Wahrscheinlichkeit auch wird. Der Verlierer ist weder Trump noch Biden, sondern die führende Nation der freien Welt, die USA. Wer sich das Niveau dieses Duells vor Augen führt, der muss wahrlich um die Glaubwürdigkeit und damit auch den Fortbestand der ältesten Demokratie auf diesem Erdball bangen und damit in der Konsequenz auch um die Wehrhaftigkeit der Demokratie als Staatsform insgesamt auf unserem von Systemkonkurrenz gezeichneten Globus. Wer nach diesem Duell noch immer an die Führungsstärke Amerikas in und für diese noch freie Welt glauben mag, dem kann man nur noch grenzenlosen Optimismus attestieren. In diesem Format und dieser Form ist Donald Trump nicht zu schlagen, Amerika schon. Die USA drohen mit dieser Wahl vom Sicherheitsgaranten zum Sicherheitsrisiko zu mutieren. Fazit: Europa muss sich mehr denn je auf sich selbst und seine eigenen Kräfte besinnen. Deutschland muss souverän werden.
Dirk Notheis
Respekt als Fundament jeden demokratischen Diskurses ließ sich beim TV-Duell zwischen Biden und Trump nicht erkennen. Stattdessen faktenfreie politische Narrative und Moderatoren, die nicht einschritten. Die Verlierer stehen fest: die USA, die Demokratie und CNN.
[ "Donald Trump", "Joe Biden", "US-Wahlen" ]
außenpolitik
2024-06-28T08:04:06+0200
2024-06-28T08:04:06+0200
https://www.cicero.de//aussenpolitik/trump-versus-biden-die-us-demokratie-auf-der-intensivstation
Schuldenbremse - Bundesrechnungshof rügt Nachtragshaushalt 2023
Der Bundesrechnungshof, die oberste Finanzaufsicht, rügt die Bundesregierung für den Nachtragshaushalt 2023, den die Bundesregierung nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vorlegte. Er soll am 14 Dezember im Bundestag genehmigt werden. Dieser Etat ist laut einer Stellungnahme des Rechnungshofes auch wieder verfassungswidrig. Darüber berichtet die Bild-Zeitung. Die Prüfer kritisieren, dass die Ampel sogenannte Sondervermögen weiterhin „nicht bei der Berechnung der in der Schuldenregel einzubeziehenden Kreditaufnahme“ berücksichtige. „Dies wäre aus Sicht des Bundesrechnungshofes jedoch geboten.“ Weiter heißt es in dem Dokument: „Die Berechnung der Bundesregierung hinsichtlich der für die Schuldenregel maßgeblichen Kreditaufnahme ist nach Auffassung des Bundesrechnungshofs deshalb unvollständig.“ Die Bundesregierung habe damit Schulden in Höhe von 14,3 Milliarden Euro an der Verfassung vorbei getrickst. Die Stellungnahme ist nicht verbindlich. Der Bundesrechnungshof hatte schon vor dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts kritisiert, dass die Konstruktion von Sondervermögen, die zeitlich und thematisch umgebucht werden, nicht verfassungsgemäß sei.
Cicero-Redaktion
Der Bundesrechnungshof sieht auch den Nachtragshaushalt fürs laufende Jahr als eine Verletzung der Schuldenbremse, also einen erneuten Verfassungsbruch.
[]
innenpolitik
2023-12-04T16:38:24+0100
2023-12-04T16:38:24+0100
https://www.cicero.de//innenpolitik/schuldenbremse-bundesrechnungshof-rugt-nachtragshaushalt-2023
Schumpeter verkehrt in Deutschland - Die unschöpferische Zerstörung
Der Prozess der „schöpferischen Zerstörung“ war für Joseph Schumpeter die treibende Kraft für das Wachstum der kapitalistischen Wirtschaft. „Der Prozess der schöpferischen Zerstörung ist die wesentliche Tatsache des Kapitalismus. Er ist das, worin der Kapitalismus besteht und womit jedes kapitalistische Unternehmen leben muss ... Dieser Prozess der industriellen Mutation – wenn ich diesen biologischen Begriff verwenden darf – revolutioniert unaufhörlich die wirtschaftliche Struktur von innen heraus, zerstört unaufhörlich die alte und schafft unaufhörlich eine neue“, schrieb er in seinem 1942 erschienenen Buch „Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie“. Ähnlich sah dies Mancur Olson. In seinem 1982 erschienenen Buch „Aufstieg und Niedergang von Nationen“ argumentierte er, dass stabile Gesellschaften im Laufe der Zeit immer mehr Interessengruppen (wie Gewerkschaften oder Berufsverbände) hervorbringen würden, die darauf abzielen, ihre eigenen Vorteile zu schützen, oft durch Lobbyarbeit für Vorschriften und Schutzmaßnahmen für ihre Mitglieder. Dabei werden diese Gruppen umso mächtiger, je länger die politischen Verhältnisse stabil sind. Indem sie Reformen blockieren, Starrheit fördern, Innovation ausbremsen und Wettbewerb schwächen, schaffen sie wirtschaftliche Ineffizienz. Die Anpassungsfähigkeit der Wirtschaft sinkt und das Wirtschaftswachstum erlischt. Mit seiner Theorie versuchte Olson zu erklären, warum einige Nationen oder Imperien nach langen Perioden der Stabilität einen Niedergang erlebten, während andere, die durch Umwälzungen gingen, danach dynamisch wuchsen. Positive Beispiele dafür sind Deutschland und Japan nach dem Zweiten Weltkrieg. Durch den Krieg wurden viele der mächtigen, fest verwurzelten Interessengruppen in beiden Ländern vernichtet. Da diese Gruppen ausgeschaltet oder zumindest stark geschwächt waren, konnten Deutschland und Japan ihre Volkswirtschaften mit größerer Flexibilität, weniger Widerstand gegen Reformen und offeneren Märkten wiederaufbauen. Olson zufolge trug dies zu dem raschen Wirtschaftswachstum bei, das beide Länder in der Nachkriegszeit erlebten. Ein Beispiel dafür, was geschieht, wenn schöpferische Zerstörung verhindert wird, gibt Japan nach dem Platzen der „Blasenökonomie“ Anfang der neunziger Jahre. Mit enormen Stützungsmaßnahmen konnte die Regierung nach dem Crash des Aktien- und Immobilienmarkts eine Rezession vermeiden. Aber weil eigentlich bankrotte Firmen und Banken gerettet und alte Strukturen konserviert wurden, fiel die Wirtschaft in eine lange Zeit der Stagnation. Bis heute leidet die japanische Wirtschaft an der Verschleppung der schöpferischen Zerstörung. Das jüngste Anschauungsmaterial über die Wirkungen der schöpferischen Zerstörung liefert ein Vergleich der Wirtschaftsentwicklungen in den USA und Deutschland in der Zeit der Coronapandemie. In beiden Ländern gab es während dieser Zeit flächendeckende „Lockdowns“, und die Wirtschaft brach ein. Beide Staaten ergriffen umfangreiche fiskalpolitische Maßnahmen zur Stützung der Wirtschaft, die zu einem erheblichen Teil durch Geldschaffung der Notenbanken finanziert wurden. Auf beiden Seiten des Atlantiks stieg die Inflation, und die Wirtschaft erholte sich nach dem Ende der Lockdowns. Doch die Erholung fiel in Deutschland viel schwächer aus als in den USA. Gängige Erklärungen dafür sind, dass Deutschland viel stärker von der mit dem Ukrainekrieg verbundenen Verteuerung der Energie betroffen und die deutsche Fiskalpolitik möglicherweise weniger expansiv war als die der USA. Zum Teil treffen diese Erklärungen sicherlich zu. Aber ein weiterer, wesentlicher Umstand dürfte gewesen sein, dass in den USA während der Pandemie der Prozess der schöpferischen Zerstörung weit stärker wirken konnte als in Deutschland. In den USA lag der Schwerpunkt der Unterstützung auf direkten Finanzhilfen und Arbeitslosenhilfe, während Deutschland auf Kurzarbeit und Arbeitsplatzsicherung setzte. Folglich fiel in den USA die Beschäftigung mit Jahresraten von bis zu elf Prozent, während der Rückgang in Deutschland nicht mehr als 1,3 Prozent betrug. Nach dem Ende der Lockdowns stieg die Beschäftigung in den USA um bis zu neun Prozent, in Deutschland dagegen nur um bis zu 1,6 Prozent. Viele der in den USA entlassenen Arbeitnehmer kehrten später nicht in ihre alten Jobs zurück, sondern wechselten in andere Bereiche, wo sie produktiver eingesetzt wurden. So stieg zum Beispiel nach der Pandemie die Beschäftigung im Bereich der freiberuflichen und Unternehmensdienstleistungen stärker als vorher, während sie im Bereich der Hotel- und Gaststätten weniger stark zunahm. Nach anfänglichen Schwankungen pendelte sich folglich das jährliche Wachstum der Arbeitsproduktivität pro Stunde in den USA mit knapp drei Prozent auf deutlich höhere Werte ein als vor der Pandemie. In Deutschland, wo ein ähnlicher Strukturwandel nicht zu beobachten ist, schrumpft die stündliche Arbeitsproduktivität mit einer Jahresrate von zuletzt minus 0,3 Prozent. Die Deutschen sind eine alte und wohlstandsverwöhnte Gesellschaft. Man schätzt Sicherheit und Beständigkeit. „Schöpferische Zerstörung“ ist unbeliebt. Das zeigt die strukturerhaltende Wirtschaftspolitik in der Zeit der Pandemie oder jüngst die Aufregung über einen geplanten Abbau der Arbeitsplätze bei der Volkswagen AG vor dem Hintergrund eines allseits beklagten Mangels an Arbeitskräften. Die „Meyer-Werft“ soll vom Staat gerettet werden, um Arbeitsplätze in einem Unternehmen zu sichern, dessen Produkte – Kreuzfahrtschiffe – immer weniger nachgefragt werden. Der von Olson identifizierte Mechanismus zur Erstarrung im Status quo scheint in Deutschland gut zu wirken. Als ob das nicht genug wäre, kommt die Verschränkung von Regulierungen und Recht auf nationaler und europäischer Ebene dazu. Auch wenn der Leidensdruck auf nationaler Ebene so groß wird, dass er den Widerstand von Interessengruppen gegen notwendige Veränderungen brechen könnte, stehen dem oft europäisches Recht und Vorschriften entgegen. Die Debatte um die Möglichkeit, nationale Maßnahmen gegen die unkontrollierte Einwanderung in den deutschen Sozialstaat zu ergreifen, ist ein Beispiel dafür. Auch wenn dies zur Rettung des deutschen Sozialstaats von einer großen Mehrheit der deutschen Wähler als dringend notwendig empfunden und es Mehrheiten im Bundestag für Rechtsänderungen zur Lösung dieses Problems geben würde, stehen Teile des europäischen Rechtsrahmens dem entgegen. So werden Zurückweisungen illegitimer Zuwanderer an den Grenzen als unvereinbar mit dem europäischen Recht betrachtet, während gleichzeitig die im europäischen Recht vorgesehene Rückführung eingereister illegitimer Zuwanderer nach dem „Dublin-Verfahren“ kaum funktioniert. Auch wenn es offensichtlich dysfunktional ist, so ist europäisches Recht noch schwerer zu ändern als nationales Recht, denn es reflektiert nicht nur die Lobbyarbeit verschiedener privater Interessengruppen, sondern auch die verschiedenen Interessen und Lobbyarbeit einer erheblichen Zahl von Staaten. Eine europäische Öffentlichkeit, die für das Gemeinwohl gegen die am Status quo interessierten privaten und staatlichen Lobbygruppen eintreten und Änderungen erzwingen könnte, gibt es nicht. Die rechtliche und institutionelle Verflechtung der Europäischen Union auf den nationalen und europäischen Ebenen hat Olsons Mechanismus zur Verkrustung nahezu perfektioniert. Die Blockade schöpferischer Zerstörung allein wäre schlimm genug. Hinzu kommt jedoch auch eine Zerstörung ohne Schöpfung durch eine ideologiegetriebene staatliche Wirtschaftsplanung. Das vielleicht eindrucksvollste Beispiel ist die fehlgeschlagene „Energiewende“, die den elektrischen Strom für die deutsche Industrie extrem verteuert hat und für die Zukunft eine unsichere Versorgung erwarten lässt. Das Ergebnis ist die Abwanderung ganzer Industriebranchen und die „Deindustrialisierung“ Deutschlands. Ein aktuelles Beispiel für Zerstörung ohne Schöpfung ist die Corporate Sustainability Reporting Directive (CSRD) der Europäischen Union. Diese Direktive soll die Transparenz und Vergleichbarkeit von Nachhaltigkeitsberichten von Unternehmen verbessern. Dafür müssen Unternehmen mit mehr als 250 Mitarbeitern, einem Jahresumsatz von mehr als 40 Millionen Euro oder einer Bilanzsumme von über 20 Millionen Euro detailliertere Informationen zu einer Vielzahl von Nachhaltigkeitskriterien berichten. Dazu gehören Umweltaspekte wie CO₂-Emissionen oder Energieverbrauch, soziale und arbeitsrechtliche Themen wie Arbeitnehmerrechte oder Diversität und „Governance“-Fragen wie Unternehmensführung oder interne Kontrollmechanismen. Die Unternehmen müssen sowohl darüber berichten, wie Nachhaltigkeitsthemen ihr Geschäft beeinflussen, als auch darüber, wie ihre Geschäftstätigkeit die Umwelt und die Gesellschaft beeinflussen. Die Nachhaltigkeitsberichte müssen von einem externen Prüfer oder einer Prüfgesellschaft verifiziert werden. Große Unternehmen müssen schon ab dem Geschäftsjahr 2024 berichten, kleiner Unternehmen sind ab 2026 zur Berichterstattung verpflichtet. Ob die Direktive zu mehr „Nachhaltigkeit“ führt, ist mehr als zweifelhaft, dass sie Bürokratiekosten verursacht und die internationale Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen schwächt, ist dagegen sicher. „Macht kaputt, was euch kaputt macht“ hieß der zerstörerische Spruch der Achtundsechziger. Heute scheinen ihn die Wähler der zerstörerischen Parteien am rechten und linken Rand des politischen Spektrums zu ihrem Motto gemacht zu haben. Zerstörung muss aber mit Schöpfung verbunden sein, um fruchtbar zu werden. Es liegt an den liberal-konservativen Parteien, dies zu leisten. Der erste Schritt dazu wäre, dass die FDP nicht länger zögert und durch ihren Austritt die Ampelregierung zerstört. Der zweite Schritt wäre, dass die Unionsparteien eine neue, schlagkräftige Regierung anführen, die alte Verkrustungen aufbricht, damit Neues entstehen kann. Und wo dysfunktionales EU-Recht dies verhindert, muss es nötigenfalls ebenfalls zerstört werden, um neu aufgebaut werden zu können.
Thomas Mayer
Zerstörung ist gut in einer Marktwirtschaft. Aber nur, wenn durch sie Neues geschaffen wird. Derzeit wird in Deutschland nur ideologiegetrieben zerstört, während der Staat erstarrte Strukturen für Interessengruppen erhält.
[ "Wirtschaftsstandort Deutschland", "Wirtschaftspolitik" ]
wirtschaft
2024-09-09T12:37:50+0200
2024-09-09T12:37:50+0200
https://www.cicero.de//wirtschaft/schumpeter-zerstoerung-schoepfung-olson
Eurokrise – Merkel sollte die Vertrauensfrage stellen
Angela Merkel wird es auch diesmal nicht stören. Am Donnerstag kommt der Bundestag zu einer Sondersitzung  zusammen. Auf der Tagesordnung steht diesmal die Rettung der spanischen Banken. Wieder geht es bei der Eurorettung um Milliardenhilfen. Wieder werden zahlreiche Abgeordnete des Regierungslagers ihrer Kanzlerin die Gefolgschaft verweigern. Wieder wird Merkel die Kanzlermehrheit verfehlen und auf die Stimmen der Opposition angewiesen sein, wie zuvor am 27. Februar beim zweiten Griechenlandpaket oder am 29. Juni bei der Verabschiedung von  Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) und Fiskalpakt. Eigentlich wäre das nun der Zeitpunkt, an dem die Kanzlerin sich der eigenen Mehrheit vergewissert. Eigentlich wäre es überfällig, dass die Bundeskanzlerin nach Artikel 68 des Grundgesetzes im Bundestag die Vertrauensfrage stellt und die eigenen Reihen schließt. Es geht bei der Eurokrise letztlich nicht um eine beliebige politische Sachfrage. Es steht im Bundestag nicht irgendein einfaches Gesetz auf der Tagesordnung. Die milliardenschweren Rettungspakete haben vielmehr eine herausragende politische Bedeutung. Sie berühren die politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Grundfesten Deutschlands und Europas. Eigentlich müsste in solchen Zeiten die Regierungsmehrheit stehen. Doch stattdessen hebt die Eurokrise eine in sechs Jehrzehnten bewährte parlamentarische Praxis aus den Angeln. Angela Merkel denkt schließlich überhaupt nicht daran, die Vertrauensfrage zu stellen. Sie verlässt sich darauf, dass die Oppositionsparteien SPD und Grüne jener staatspolitischen Verantwortung nachkommen, die Teile des eigenen Lagers ihr mittlerweile verweigern. In Sachen Europa regiert in Berlin längst nicht mehr Schwarz-Gelb, sondern eine „Koalition der Verantwortung“. Viel spricht dafür, dass die Kanzlerin sich mit dieser bis zum Ende der Legislaturperiode schleppen wird, um sich nach der Bundestagswahl in eine Große Koalition mit den Sozialdemokraten hinüber zu retten. [gallery:Szenen einer Ehe – Bilder aus dem schwarz-gelben Fotoalbum] Die Chronik der jüngsten Ereignisse im Parlament lässt auch für Donnerstag nichts Gutes erahnen. So erklärt Merkel am frühen Abend des 29. Juni im Bundestag in einer gut 20-minütigen Rede die Veränderungen zum ESM, die auf dem davor stattgefundenen EU-Gipfel mit Italien und Spanien vereinbart worden sind. Müde und abgekämpft von einem nächtlichen Verhandlungsmarathon spricht sie im Bundestag von „Memorandum of Understanding“ und „Preferred Creditor Status“ und dass sich im Prinzip die deutschen Interessen in Brüssel durchgesetzt hätten. So richtig folgen können ihr im Plenarsaal nur wenige Abgeordnete. Es ist der Tag, an dem der Bundestag und der Bundesrat mit Zweidrittelmehrheit den ESM und den Fiskalpakt verabschieden. Zwei Gesetze, die zu diesem Zeitpunkt schon überholt sind, von eben jenen vorangegangen nächtlichen Entscheidungen in Brüssel. Kurz nach Mitternacht, am 30. Juni, wird vermeldet, dass in der Abstimmung zu ESM und Fiskalpakt aus den Reihen von CDU/CSU und FDP 300 Abgeordnete mit „Ja“ gestimmt haben. Damit hat die Kanzlerin nach dem Griechenlandpaket im Februar schon zum zweiten Mal in der Euro-Rettung die Kanzlermehrheit verfehlt. Der Rückhalt für die Kanzlerin schwindet im schwarz-gelben Lager zusehends. Im Februar stimmten immerhin noch 304 schwarz-gelbe Abgeordnete für die Euro-Rettungsmaßnahmen. Als Kanzlermehrheit wird die Mehrheit der Mitglieder des Bundestags bezeichnet. Mit Überhangmandaten hat der Bundestag in der laufenden Legislaturperiode 620 Abgeordnete, das heißt, dass diese qualifizierte Mehrheit gegenwärtig bei 311 Stimmen liegt. Schwarz-Gelb kommt zusammen auf 330 Volksvertreter, so dass sich Merkel sogar bequem 19 Abweichler erlauben könnte. Doch die Kanzlerin schert es wenig, dass es mittlerweile mehr sind. Für sie gilt das Motto „Mehrheit ist Mehrheit“. Im ZDF-Sommerinterview sagte sie dazu, „wenn ich zur Kanzlerin gewählt wurde, habe ich die Kanzlermehrheit jeweils gehabt. Wenn eigene Mehrheiten notwendig waren, bekomme ich sie. Wir bekommen immer die Mehrheiten, die wir brauchen.“ Die Kanzlermehrheit also nur zur Kanzlerwahl? Formal hat Merkel recht. Dennoch war die parlamentarische Praxis bislang eine andere. Jahrzehnte lang war es die vornehmste Aufgabe der Parlamentarischen Geschäftsführer der Regierungsfraktionen, bei wichtigen Entscheidungen die Kanzlermehrheit sicherzustellen. Gelang dies nicht, war die Aufregung groß und eine Regierungskrise nicht weit. Doch plötzlich heißt es nun, darauf käme es nicht an, eine solche Mehrheit sei nicht erforderlich. Die Vertrauensfrage stellt sich der Kanzlerin nicht. Auf der nächsten Seite: Warum die Kanzlerin wohl ohne Vertrauensfrage auskommt Noch bei Rot-Grün war dies anders. Gerhard Schröder ließ sich im November 2001 nicht lange bitten und vor allem nicht von der Opposition verhöhnen. Er verknüpfte damals die Frage, ob Deutschland an der Seite der USA in den Afghanistan-Krieg ziehen solle, mit der Vertrauensfrage. Nicht nur für die Kanzlerwahl bedarf es der Kanzlermehrheit, sondern auch für die Vertrauensfrage. Obwohl die Union und FDP mit der Regierung gestimmt hätten, war Schröder die eigene Mehrheit wichtig. Vor allem die pazifistischen Grünen mussten damals Kröten schlucken. Wäre Schröder mit der Vertrauensfrage gescheitert, hätte es schon nach drei Jahren Rot-Grün Neuwahlen gegeben. Angela Merkel jedoch will von Kanzlermehrheit und Vertrauensfrage nichts wissen. Es sind Krisenzeiten, sie ist die Krisenmanagerin und sie setzt darauf, dass alle, denen Europa und der Euro am Herzen liegen, mithelfen, die Krise zu lösen. Die Tatsache, dass SPD und Grüne seit 2010 alle Rettungsmaßnahmen in Sachen Euro mitgetragen haben, überdeckt Merkels Problem. Die eigenen Leute stehen seit Anfang des Jahres nicht mehr geschlossen hinter ihrer Kanzlerin. Einen vergleichbaren Aufstand bürgerlicher Bundestagsabgeordneter hat es in der Geschichte schwarz-gelber Bundesregierungen noch nicht gegeben, nicht unter Adenauer, nicht unter Erhard und auch nicht unter Kohl. [gallery:Persönlichkeit statt Patriotismus – Die Ahnengalerie deutscher Bundeskanzler] Vielleicht hat dies mit der schwarz-gelben Endzeitstimmung zu tun, die sich in Berlin breit gemacht hat. Kaum noch jemand wettet dort auf eine Neuauflage der bürgerlichen Koalition nach der Bundestagswahl 2013. Die Chancen für Merkel hingegen, im Kanzleramt zu verbleiben, stehen äußerst gut. Es würde dann offiziell, was seit etlichen Monaten informell längst besteht: die Große Koalition.
Bei der Bundestagsabstimmung über die Hilfen für Spanien könnte Merkel zum dritten Mal die Kanzlermehrheit verfehlen. Eigentlich müsste das für Schwarz-Gelb Konsequenzen haben. Doch der Kanzlerin ist es egal. Sie regiert in Sachen Europa längst mit einer Großen Koalition der Verantwortung
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innenpolitik
2012-07-18T17:23:07+0200
2012-07-18T17:23:07+0200
https://www.cicero.de//innenpolitik/merkel-sollte-die-vertrauensfrage-stellen/51260
Russland - Wie weit gehen Putins Expansionspläne?
Wieder geht ein Gespenst um. Und nicht nur in Europa. Die Westukraine fürchtet nach dem Hochgeschwindigkeitsanschluss der Krim einen russischen Einmarsch. Aber Wladimir Putins früherer Wirtschaftsberater Andrei Illarijonow sagte dem Svenska Dagbladet, Russland werde erst Halt machen, wenn es Weißrussland, die baltischen Staaten und Finnland erobert habe. Auch die Washington Post grault sich: Putin sei entschlossen, mit Hilfe von Rüstungs- und Rohstoffexporten potente Drittländer wie China oder Indien an sich zu binden, sogar EU-Mitglieder in seine neue Eurasische Union zu locken. Und er wolle Europa mit Hilfe rechtsradikaler Parteien in Großbritannien, Frankreich, Griechenland, Italien oder Ungarn ideologisch aushöhlen. Angstszenarien, man könnte auch sagen, Fantasien. Es liegen keine Dokumente über neue Annexionspläne des Kremls vor. Der - wachsende - Militärhaushalt Russlands macht immer noch nur ein Zehntel des US-amerikanischen aus, das gemeinsame Bruttoinlandsprodukt der EU, der USA und Japans aber ist knapp 20 mal größer als das Russlands. Da malt wohl jemand den Teufel sehr überlebensgroß an die Wand. Aber auch Russland neigt zurzeit nicht zum Understatement. Man sei ja das einzige Land der Welt, dass Amerika in atomare Asche verwandelten könnte, prahlt Dmitri Kisiljew, Chefmoderator des Staatsfernsehens. Außerdem hat der Kreml mit dem Anschluss der ukrainischen Krim einen Präzedenzfall geschaffen. Präzedenzfälle sind bekanntlich wiederholbar. Moskau beruft sich auf ein Gesetz von 2009. Es gibt der Staatsmacht die Befugnis „für den Einsatz der Streitkräfte zur Gewährleistung des Schutzes ihrer Bürger, die sich außerhalb der Grenzen der russischen Föderation aufhalten“. Wladimir Putin hat sich dieses Einsatzrecht für die Ukraine bewilligen lassen und russische Truppen zur Blockade ukrainischer Garnisonen auf der Krim in Bewegung gesetzt. Wie sehr der promovierte Rechtswissenschaftler dabei seinen eigenen Argumenten traute, zeigt die Tatsache, dass seine Soldaten schamhaft alle Erkennungsabzeichen von ihren Uniformen entfernt hatten. Ideologisch begründet Putin den Anschluss mit heftigem Winken in Richtung Deutschland: Russland habe bei der Wiedervereinigung von BRD und DDR das „ehrliche und unaufhaltsame Drängen“ der Deutschen nach nationaler Einheit vorbehaltslos unterstützt. „Ich rechne darauf, dass die Bürger Deutschlands ebenfalls den Drang der russischen Welt, des historischen Russlands, nach Wiederherstellung der Einheit unterstützen.“ Klingt so, als müsse man künftig öfters mit russischen Einheitswiederherstellungen rechnen. Und was meint Putin mit „russischer Welt“ und „historischem Russland“? Meint er Gebiete, die in der Vergangenheit einmal zum russischen Imperium gehört haben? Oder Regionen und Orte, die die Russen mit ihrer Kultur geprägt haben oder gerade prägen? Alaska, Ostpolen, oder Baden-Baden, wo einst Dostojewski sein Geld verspielte? Auch „Londongrad“, wo russischen Oligarchen ganze Erstligaklubs gehören? Putin drückt sich wohl mit Absicht höchst unklar aus. Und er scheint die Unruhe zu genießen, die jetzt außer in Kiew auch in Riga, im kasachischen Almaty oder Washington herrscht. Russland hat offen die territoriale Unversehrtheit der Ukraine verletzt, die es 1994 im Protokoll von Prag gemeinsam mit den USA und Großbritannien garantierte, im Gegenzug lieferte die Ukraine damals ihre Atomwaffen ab. „Russlands Entscheidung, 20 Jahre später Truppen in die Ukraine zu schicken“, schimpft der kasachische Politologe Erlan Karin, „hat alle Rechtsgrundlagen für die Sicherheit des postsowjetischen Raumes ausradiert.“ Wie die Ukraine und Weißrussland gab damals auch Kasachstan seine Atomwaffen ab. Kasachstan gilt als enger Verbündeter Moskau. Aber 24 Prozent seiner Einwohner sind Russen. Moskauer Schreihälse wie Wladimir Schirinowski oder Eduard Limonow forderten bereits, zur Wiederherstellung des russischen Imperiums müsse man auch Kasachstan Gebiete abnehmen. Staatschef Nursultan Nasarbajew, 73, kränkelt, seine Nachfolge gilt als ungeklärt. Und Kasachstan ist eines der rohstoffreichsten Länder der Welt. Ein Filetstück. Ähnlich wie die einstigen mittelasiatischen Sowjetrepubliken Usbekistan (Gas) und Turkmenistan (Gas), wo ethnische Russen im Gegensatz zur Ukraine wirklich diskriminiert werden. Oder Aserbaidschan (Öl), einer weiteren Einmann-Diktatur, die Moskau bei Bedarf und Gelegenheit zum unverzichtbaren Bestandteil der „Russischen Welt“ erklären könnte. Adschar Kurtow, Analytiker des Russischen Instituts für Strategischen Studien beschwichtigt: „In Turkmenistan hat Russland selbst dann nicht eingegriffen, als der turkmenische Geheimdienst systematisch nach Bürgern fahndete, die ihre russischen Pässe nicht abgeben wollten.“ Aber auch die Krim zeigt, dass der Kreml nur dort Repressalien gegen Russen entdeckt, wo es sich machtpolitisch rechnet. Die vorwiegend russischsprachige Urlaubshalbinsel lebt seit 20 Jahren friedlich bis zur Langeweile. Die „Russische Einheit“, die einzige moskautreue Partei dort, holte bei den jüngsten Regionalwahlen 2010 gerade 4 Prozent der Stimmen. Putin erprobte dort trotzdem eine neue Militärdoktrin: Wir setzen unsere Truppen auch offensiv ein. Dort, wo ein Nachbarstaat in der Krise steckt, wo es ethnische Russen gibt, die wir verteidigen können, wo kein oder nur geringer Widerstand droht. Und wo es sich für uns lohnt! Bettelarme Republiken im geopolitischen Hinterhof der GUS wie Armenien, Tadschikistan oder Kirgistan sind weniger gefährdet, zumal die Russen in Tadschikistan oder Kirgistan bereits Militärbasen unterhalten. Aber Geopolitik ist eine wechselhafte Angelegenheit. Neben der Ukraine ist jetzt vor allem das ebenfalls bettelarme Moldawien in Bedrängnis geraten. Seine Regierung strebt eine EU-Integration an, die kommunistische Opposition aber will mit Moskau paktieren. In der moldawischen Rebellenrepublik Transnistrien stehen seit Jahrzehnten russische Truppen, von gut 550.000 Transnistriern besitzen über 100.000 bereits russische Pässe. Stratege Kurtow schließt eine russische Militäraktion in Moldawien nicht aus. Auch Alexander Lukaschenko, Weißrusslands wortgewaltiger Staatschef, wird es sich zweimal überlegen, bevor er Moskau das nächste Mal androht, sich angesichts zu hoher Ölpreise Richtung Westen umzuorientieren. Estland und Lettland, wo Russen ein Viertel der Bevölkerung stellen und ebenfalls benachteiligt werden, droht dagegen kaum ein russischer Einfall. Sie haben das Glück, Nato-Mitglieder zu sein. Auch das neutrale Finnland betrachten die Russen seit dem Winterkrieg 1940 als sehr wehrhaft. Und all diese Kleinstaaten sind rohstoffarm. Gleichzeitig demonstrieren russische Politiker und Propagandisten, selbst Facebook-Kommentatoren ganz neue verbale Dominanz: „Nein, Berlin wollen wir nicht, da waren wir ja schon. Und warum sollen wir das deutsche Bier verderben? Wir wollen Florida.“ „Wir wollen keine Teilung der Ukraine.“ Anlässlich der Abtrennung der Krim von der Ukraine klingen auch Putins Beschwichtigungen wie Spott. Seine GUS-Nachbarn stehen künftig vor demselben Problem wie die EU oder die Nato: Sie haben es mit einem Russland zu tun, das nur noch beschränkt berechenbar ist.
Stefan Scholl
Neue Nationalidee, neue Militärdoktrin, neues Machtgefühl. Nach Moskaus Intervention auf der Krim befürchten nicht nur Russlands Nachbarn eine Wiederholung
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außenpolitik
2014-04-03T11:25:40+0200
2014-04-03T11:25:40+0200
https://www.cicero.de//aussenpolitik/russische-expansionsplaene-wir-wollen-florida/57337
Energiewende samt Extrawurst - Diese Unternehmen sind von der Öko-Strom-Umlage befreit
Eine Änderung des Erneuerbare-Energien-Gesetzes (EEG) im vergangenen Jahr hat dazu geführt, dass es beim Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontolle (Bafa) derzeit einen Antragsstau gibt. Die Behörde ist dafür zuständig, stromintensiven Unternehmen eine weitgehende Befreiung von der EEG-Umlage, einer Art verbrauchsabhängigem Solidaritätsbeitrag zur Finanzierung der Energiewende, zu bewilligen. Erhielten im vergangenen Jahr noch 979 Unternehmen einen positiven Bescheid (siehe Liste unten), sind nach Informationen des Cicero für 2013 bereits mehr als 1550 Ausnahmen bewilligt worden. Mehr als 500 weitere Anträge will das Bafa bis Ende Februar prüfen. ____________________________________________________ Droht die Energiewende zu scheitern? Lesen Sie im neuen Cicero: Verdunkelungsgefahr. Die Wahrheit über die Energiewende. Die Februar-Ausgabe, ab sofort am Kiosk erhältlich und in unserem Online-Shop. ____________________________________________________ Der Grund für die Antragsflut ist eine Herabsetzung der Voraussetzungen für stromintensive Unternehmen durch die EEG-Änderung. Die Antragsteller müssen jetzt nur noch einen Stromverbrauch von einer Gigawattstunde pro Jahr nachweisen, vorher waren es zehn. Auch das Verhältnis der Stromkosten zur Bruttowertschöpfung bei stromintensiven Betrieben wurde von 15 auf 14 Prozent gesenkt. Experten kritisieren, dass die Ausnahmeregelungen für stromintensive Unternehmen nach der EEG-Novelle 2012 inzwischen viel zu weit gefasst sind. „Mehr als die Hälfte der Unternehmen hat eine solche Privilegierung nicht verdient“, sagt Felix Matthes vom Öko-Institut. Sinn und Zweck der Ausnahmetatbestände des EEG ist nämlich der Erhalt der internationalen Wettbewerbsfähigkeit der privilegierten Unternehmen. Durch die Gesetzesänderung kommen aber inzwischen auch regionale Schokoladen-, Wurst- oder Käsehersteller, Solar- und Bioenergiefirmen sowie Zeitungsverlage in den Genuss der weitgehenden Befreiung von der EEG-Umlage. Eine Abwanderung dieser Unternehmen ins Ausland hält Matthes für unwahrscheinlich. Nach Berechnungen der Grünen wird der finanzielle Vorteil der Unternehmen dieses Jahr bis zu vier Milliarden Euro betragen. Das geht zu Lasten der Privatverbraucher, für die die EEG-Umlage seit Anfang des Jahres von 3,6 Cent auf 5,3 Cent pro Kilowattstunde angestiegen ist. Ein Cent davon fließt in die Subventionierung der stromintensiven Unternehmen. Diese Unternehmen sind von der Öko-Strom-Umlage befreit A & L Tierfrischmehl Produktions - GmbH,Diepholz,Fleischverarbeitung A. Moksel GmbH ,Buchloe,Schlachten (ohne Schlachten von Geflügel) A+C Plastic Kunststoff GmbH ,Eschweiler,Herstellung von Platten, Folien, Schläuchen und Profilen aus Kunststoffen ACO Guss GmbH ,Kaiserslautern,Eisengießereien ACO Guss GmbH ,Aarbergen,Eisengießereien ae guss gmbh ,Gerstungen,Leichtmetallgießereien ae guss gmbh ,Bebra,Leichtmetallgießereien AFM aluminiumfolie merseburg GmbH,Merseburg,Erzeugung und erste Bearbeitung von Aluminium Agrarfrost GmbH & Co. KG ,Oschersleben,Kartoffelverarbeitung Agrarfrost GmbH & Co. KG ,Wildeshausen,Kartoffelverarbeitung AGRAVIS Kraftfutterwerk Oldenburg GmbH,Oldenburg,Herstellung von Futtermitteln für Nutztiere AGRAVIS Kraftfutterwerke Münsterland GmbH,Münster,Herstellung von Futtermitteln für Nutztiere AGRO Steel Wire GmbH ,Bad Essen,Herstellung von Schmiede-, Press-, Zieh- und Stanzteilen, gewalzten Ringen und pulvermetallurgischen Erzeugnissen Ahlstrom Osnabrück GmbH ,Osnabrück,Herstellung von Papier, Karton und Pappe AIR LIQUIDE Deutschland GmbH ,Oberhausen,Herstellung von Industriegasen AIR LIQUIDE Deutschland GmbH ,Duisburg,Herstellung von Industriegasen AIR LIQUIDE Deutschland GmbH ,Neukieritzsch-Lippendorf,Herstellung von Industriegasen AIR LIQUIDE Deutschland GmbH ,Mainz,Herstellung von Industriegasen AIR LIQUIDE Deutschland GmbH ,Gelsenkirchen,Herstellung von Industriegasen AIR LIQUIDE Deutschland GmbH ,Schwarzheide,Herstellung von Industriegasen Air Liquide Industriegase GmbH & Co. KG,Frankfurt,Herstellung von Industriegasen Air Liquide Industriegase GmbH & Co. KG,Kornwestheim,Herstellung von Industriegasen Air Liquide Industriegase GmbH & Co. KG,Worms,Herstellung von Industriegasen Air Liquide Industriegase GmbH & Co. KG,Stade,Herstellung von Industriegasen Air Liquide Industriegase GmbH & Co. KG,Hamburg,Herstellung von Industriegasen Air Products GmbH ,Hattingen,Herstellung von Industriegasen Air Products GmbH ,Lüneburg,Herstellung von Industriegasen Akzo Nobel Industrial Chemicals GmbH,Ibbenbüren,Herstellung von sonstigen anorganischen Grundstoffen und Chemikalien Akzo Nobel Industrial Chemicals GmbH,Bitterfeld,Herstellung von sonstigen anorganischen Grundstoffen und Chemikalien Akzo Nobel Industrial Chemicals GmbH,Frankfurt,Herstellung von sonstigen anorganischen Grundstoffen und Chemikalien Albtal-Verkehrs- Gesellschaft mbH,Karlsruhe,Schienenbahn Alcoa Holding GmbH ,Hannover,Herstellung von Metallkonstruktionen Alkor Folien GmbH ,Rohrdorf,Herstellung von Platten, Folien, Schläuchen und Profilen aus Kunststoffen Alkor GmbH Kunststoffe ,München,Herstellung von Platten, Folien, Schläuchen und Profilen aus Kunststoffen Alpla Lehner GmbH & Co. KG ,Löhne,Herstellung von Verpackungsmitteln aus Kunststoffen Alpla Lehner GmbH & Co. KG ,Bruchsal,Herstellung von Verpackungsmitteln aus Kunststoffen Alpla-Werke Lehner GmbH & Co. KG,Markdorf,Herstellung von Verpackungsmitteln aus Kunststoffen Alpla-Werke Lehner GmbH & Co. KG,Baesweiler,Herstellung von Verpackungsmitteln aus Kunststoffen Alpla-Werke Lehner GmbH & Co. KG,Vlotho,Herstellung von Verpackungsmitteln aus Kunststoffen Alpla-Werke Lehner GmbH & Co. KG,Gemünden,Herstellung von Verpackungsmitteln aus Kunststoffen Alpla-Werke Lehner GmbH & Co. KG,Kaiserslautern,Herstellung von Verpackungsmitteln aus Kunststoffen Altmark-Käserei Uelzena GmbH ,Bismark,Milchverarbeitung Aluminium Norf GmbH ,Dormagen,Erzeugung und erste Bearbeitung von Aluminium Aluminium Oxid Stade GmbH ,Stade,Herstellung von sonstigen anorganischen Grundstoffen und Chemikalien AlzChem AG ,Unterneukirchen,Herstellung von sonstigen anorganischen Grundstoffen und Chemikalien AlzChem AG ,Trostberg,Herstellung von sonstigen anorganischen Grundstoffen und Chemikalien AlzChem AG ,Tacherting,Herstellung von sonstigen anorganischen Grundstoffen und Chemikalien ArcelorMittal Hamburg GmbH ,Hamburg,Erzeugung von Roheisen, Stahl und Ferrolegierungen Arctic Paper Mochenwangen GmbH ,Mochenwangen,Herstellung von Papier, Karton und Pappe Ardagh Glass GmbH ,Drebkau,Herstellung von Hohlglas Ardagh Glass GmbH ,Lünen,Herstellung von Hohlglas Ardagh Glass GmbH ,Bad Münder,Herstellung von Hohlglas Ardagh Glass GmbH ,Neuenhagen,Herstellung von Hohlglas Ardagh Glass GmbH ,Nienburg,Herstellung von Hohlglas Ardagh Glass GmbH ,Wahlstedt,Herstellung von Hohlglas Ardagh Glass GmbH ,Obernkirchen,Herstellung von Hohlglas Ardagh Glass GmbH ,Germersheim,Herstellung von Hohlglas Argelith Bodenkeramik H. Bitter GmbH,Bad Essen,Herstellung von keramischen Wand- und Bodenfliesen und -platten Artenius PET Packaging Deutschland GmbH,Mendig,Herstellung von Verpackungsmitteln aus Kunststoffen Asahi Kasei Spandex Europe GmbH,Dormagen,Herstellung von Chemiefasern ASK Chemicals Metallurgy GmbH ,Unterneukirchen,Herstellung von sonstigen anorganischen Grundstoffen und Chemikalien ATR Landhandel GmbH & Co. KG,Sollerup,Herstellung von Futtermitteln für Nutztiere ATR Landhandel GmbH & Co. KG,Husum,Herstellung von Futtermitteln für Nutztiere ATT Polymers GmbH ,Guben,Herstellung von Kunststoffen in Primärformen Aurubis AG ,Hamburg,Erzeugung und erste Bearbeitung von Kupfer Aurubis AG ,Lünen,Erzeugung und erste Bearbeitung von Kupfer AVEBE Kartoffelstärkefabrik Prignitz/Wendland GmbH,Dallmin,Herstellung von Stärke und Stärkeerzeugnissen AVEBE Kartoffelstärkefabrik Prignitz/Wendland GmbH,Lüchow,Herstellung von Stärke und Stärkeerzeugnissen AVG Abfall-Verwertungs- Gesellschaft mbH,Hamburg,Behandlung und Beseitigung gefährlicher Abfälle Aviko Deutschland GmbH ,Rain,Kartoffelverarbeitung B.E.S. Brandenburger Elektrostahlwerke GmbH,Brandenburg,Erzeugung von Roheisen, Stahl und Ferrolegierungen Badische Drahtwerke GmbH ,Kehl,Herstellung von kaltgezogenem Draht Badische Stahlwerke GmbH ,Kehl,Erzeugung von Roheisen, Stahl und Ferrolegierungen Bagel Roto-Offset GmbH & Co. KG,Unterkaka,Drucken von Zeitungen Baiersbronn Frischfaser Karton GmbH,Baiersbronn,Herstellung von Papier, Karton und Pappe Basell Bayreuth Chemie GmbH ,Bayreuth,Herstellung von Kunststoffen in Primärformen Basell Polyolefine GmbH Abt. OU D240,Frankfurt,Herstellung von Kunststoffen in Primärformen Basell Polyolefine GmbH Abt. OU D240,Hürth,Herstellung von Kunststoffen in Primärformen Basell Polyolefine GmbH Abt. OU D240,Münchsmünster,Herstellung von Kunststoffen in Primärformen Basell Polyolefine GmbH Abt. OU D240,Wesseling,Herstellung von Kunststoffen in Primärformen BASF Leuna GmbH ,Leuna,Herstellung von Kunststoffen in Primärformen BASF Performance Polymers GmbH ,Rudolstadt,Herstellung von Kunststoffen in Primärformen Bavaria Electrodes GmbH ,Röthenbach/ Pegnitz,Herstellung von sonstigen elektrischen Ausrüstungen und Geräten a. n. g. Bayer MaterialScience AG ,Leverkusen,Herstellung von sonstigen anorganischen Grundstoffen und Chemikalien Bayer MaterialScience AG ,Dormagen,Herstellung von sonstigen anorganischen Grundstoffen und Chemikalien Bayer MaterialScience AG ,Krefeld,Herstellung von sonstigen anorganischen Grundstoffen und Chemikalien Bayer MaterialScience AG ,Brunsbüttel,Herstellung von sonstigen anorganischen Grundstoffen und Chemikalien Bayerische Milchindustrie eG ,Zapfendorf,Milchverarbeitung (ohne Herstellung von Speiseeis) Bayerische Milchindustrie eG ,Winzer,Milchverarbeitung (ohne Herstellung von Speiseeis) Bayernoil Raffineriegesellschaft mbH,Vohburg,Mineralölverarbeitung BBS International GmbH i. I. ,Schiltach,Herstellung von sonstigen Teilen und sonstigem Zubehör für Kraftwagen BBS International GmbH i. I. ,Herbolzheim,Herstellung von sonstigen Teilen und sonstigem Zubehör für Kraftwagen Bekuplast GmbH ,Ringe,Herstellung von Verpackungsmitteln aus Kunststoffen BEL Bioenergie Leinetal GmbH ,Hardegsen,Herstellung von Holzwaren a. n. g., Kork-, Flecht- und Korbwaren (ohne Möbel) Bender GmbH ,Frankenthal,Herstellung von Verpackungsmitteln aus Kunststoffen Benteler Steel/Tube GmbH ,Lingen,Erzeugung von Roheisen, Stahl und Ferrolegierungen Bepla Kunststoffverarbeitung GmbH & Co. KG,Berlin,Herstellung von Verpackungsmitteln aus Kunststoffen Bergmann Automotive GmbH ,Barsinghausen,Herstellung von sonstigen Teilen und sonstigem Zubehör für Kraftwagen BEW-Umformtechnik GmbH ,Rosengarten,Herstellung von Schmiede-, Press-, Zieh- und Stanzteilen, gewalzten Ringen und pulvermetallurgischen Erzeugnissen BGH Edelstahl Freital GmbH ,Freital,Erzeugung von Roheisen, Stahl und Ferrolegierungen BGH Edelstahl Siegen GmbH ,Siegen,Erzeugung von Roheisen, Stahl und Ferrolegierungen BGH Edelstahl Siegen GmbH ,Siegen,Erzeugung von Roheisen, Stahl und Ferrolegierungen BHW Beeskow Holzwerkstoffe GmbH,Beeskow,Herstellung von Furnier-, Sperrholz-, Holzfaser- und Holzspanplatten Bischof + Klein GmbH & Co. KG ,Lengerich,Herstellung von Verpackungsmitteln aus Kunststoffen Bischof + Klein GmbH & Co. KG ,Konzell,Herstellung von Verpackungsmitteln aus Kunststoffen Bitburger Braugruppe GmbH ,Bitburg,Elektrizitätsverteilung BKD Biokraftwerk Delitzsch GmbH,Delitzsch,Elektrizitätserzeugung Bochum-Gelsenkirchener Straßenbahnen AG,Bochum,Schienenbahn Boizenburger Fliesenfabrik GmbH & Co. KG i.I.,Boizenburg,Herstellung von keramischen Wand- und Bodenfliesen und -platten Borealis Polymere GmbH ,Burghausen,Herstellung von Kunststoffen in Primärformen Bosch Rexroth AG ,Lohr,Eisengießereien boxXpress.de GmbH ,Hamburg,Schienenbahn Brandenburg Holzmehlmühle GmbH & Co. KG,Goldenstedt,Herstellung von Holzwaren a. n. g., Kork-, Flecht- und Korbwaren (ohne Möbel) Brandenburger Urstromquelle GmbH & Co. KG,Baruth,Herstellung von Verpackungsmitteln aus Kunststoffen Braunschweiger Verkehrs-AG ,Braunschweig,Schienenbahn BREGAL Bremer Galvanisierungs GmbH,Bremen,Oberflächenveredlung und Wärmebehandlung Bremer Rolandmühle Erling GmbH & Co. KG,Bremen,Mahl- und Schälmühlen Bremer Straßenbahn AG ,Bremen,Schienenbahn Bruckmann Tiefdruck GmbH & Co. KG,Oberschleißheim,Drucken von Zeitungen BT Magnet-Technologie GmbH ,Herne,Herstellung von sonstigen Metallwaren a. n. g. Buderus Edelstahl GmbH ,Wetzlar,Erzeugung von Roheisen, Stahl und Ferrolegierungen Buderus Edelstahl Schmiedetechnik GmbH,Wetzlar,Herstellung von Schmiede-, Press-, Zieh- und Stanzteilen, gewalzten Ringen und pulvermetallurgischen Erzeugnissen Buderus Guss GmbH ,Breidenbach,Eisengießereien C. Grossmann Stahlguss GmbH,Solingen,Stahlgießereien C.D. Wälzholz GmbH ,Hagen,Herstellung von Kaltband mit einer Breite von weniger als 600 mm CABB GmbH ,Gersthofen,Herstellung von sonstigen organischen Grundstoffen und Chemikalien CABKA GmbH ,Weira,Rückgewinnung Calcitwerk Schön & Hippelein GmbH & Co. KG,Heidenheim,Herstellung von Kalk und gebranntem Gips Caminauer Kaolinwerk GmbH,Königswartha,Gewinnung von Kies, Sand, Ton und Kaolin CARBO Kohlensäurewerk GmbH Wehr,Wehr,Herstellung von Industriegasen Cargill Deutschland GmbH ,Krefeld,Herstellung von Stärke und Stärkeerzeugnissen Cargill Deutschland GmbH ,Barby,Herstellung von Stärke und Stärkeerzeugnissen Cargill Deutschland GmbH ,Malchin,Herstellung von Stärke und Stärkeerzeugnissen Carl Macher GmbH & Co. KG ,Köditz,Herstellung von Papier, Karton und Pappe CDS Hackner GmbH ,Crailsheim,Schlachten (ohne Schlachten von Geflügel) CEMEX  WestZement GmbH ,Beckum,Herstellung von Zement CEMEX  WestZement GmbH ,Duisburg,Herstellung von Zement CEMEX HüttenZement GmbH ,Dortmund,Herstellung von Zement CEMEX OstZement GmbH ,Rüdersdorf,Herstellung von Zement CEMEX OstZement GmbH ,Eisenhüttenstadt,Herstellung von Zement Centrosolar Glas GmbH & Co. KG ,Fürth,Veredlung und Bearbeitung von Flachglas CFF GmbH & Co. KG ,Gehren,Herstellung von Haushalts-, Hygiene- und Toilettenartikeln aus Zellstoff, Papier und Pappe Chemie Kelheim GmbH ,Kelheim,Herstellung von sonstigen anorganischen Grundstoffen und Chemikalien Chemnitzer Verkehrs- Aktiengesellschaft,Chemnitz,Schienenbahn Cinram GmbH ,Alsdorf,Vervielfältigung von bespielten Ton-, Bild- und Datenträgern CLAAS GUSS GmbH ,Gütersloh,Eisengießereien Clariant Produkte (Deutschland) GmbH,Gersthofen,Herstellung von Seifen, Wasch-, Reinigungs- und Poliermitteln Classen Industries GmbH ,Baruth / Mark,Herstellung von Furnier-, Sperrholz-, Holzfaser- und Holzspanplatten Clopay Dombühl GmbH ,Dombühl,Herstellung von Platten, Folien, Schläuchen und Profilen aus Kunststoffen CMC Consumer Medical Care GmbH,Düren,Herstellung von Haushalts-, Hygiene- und Toilettenartikeln aus Zellstoff, Papier und Pappe COEXPAN Deutschland GmbH ,Bad Kreuznach,Herstellung von Verpackungsmitteln aus Kunststoffen Coil GmbH ,Bernburg,Oberflächenveredlung und Wärmebehandlung Continental Reifen Deutschland GmbH,Hannover,Herstellung und Runderneuerung von Bereifungen coolback GmbH ,Nuthe-Urstromtal,Herstellung von Backwaren (ohne Dauerbackwaren) Cordier Spezialpapier GmbH ,Mühltal,Herstellung von Papier, Karton und Pappe Cordier Spezialpapier GmbH ,Bad Dürkheim,Herstellung von Papier, Karton und Pappe Cotarko GmbH ,Köln,Herstellung von Schmiede-, Press-, Zieh- und Stanzteilen, gewalzten Ringen und pulvermetallurgischen Erzeugnissen crenox GmbH ,Krefeld,Herstellung von Farbstoffen und Pigmenten Crossrail Benelux ,Frankfurt,Schienenbahn CTL Celltechnik Lodenau GmbH & Co. KG,Rothenburg,Herstellung von sonstigen Erzeugnissen aus nichtmetallischen Mineralien a. n. g. Die Unternehmen D-F DB AutoZug GmbH ,Dortmund,Schienenbahn DB Fernverkehr AG ,Frankfurt,Schienenbahn DB Netz AG ,Frankfurt,Schienenbahn DB Regio AG ,Frankfurt,Schienenbahn DB Regio NRW GmbH ,Düsseldorf,Schienenbahn DB Schenker Rail Deutschland AG,Mainz,Schienenbahn DB Station & Service AG ,Berlin,Schienenbahn DEKU Kunststoffabrik Max Bolkart GmbH & Co. KG,Pommelsbrunn,Herstellung von Platten, Folien, Schläuchen und Profilen aus Kunststoffen Delfi Cocoa (Europe) GmbH ,Hamburg,Herstellung von Süßwaren (ohne Dauerbackwaren) Delipapier GmbH ,Arneburg,Herstellung von Haushalts-, Hygiene- und Toilettenartikeln aus Zellstoff, Papier und Pappe Dettmer Verpackungen GmbH ,Lohne,Herstellung von Verpackungsmitteln aus Kunststoffen Deuna Zement GmbH ,Deuna,Herstellung von Zement, Kalk und gebranntem Gips Deutsche Edelstahlwerke GmbH ,Krefeld,Erzeugung von Roheisen, Stahl und Ferrolegierungen Deutsche Edelstahlwerke GmbH ,Siegen,Erzeugung von Roheisen, Stahl und Ferrolegierungen Deutsche Edelstahlwerke GmbH ,Witten,Erzeugung von Roheisen, Stahl und Ferrolegierungen Deutsche Edelstahlwerke GmbH ,Hagen,Erzeugung von Roheisen, Stahl und Ferrolegierungen Deutsche Solar GmbH ,Freiberg,Herstellung von sonstigen chemischen Erzeugnissen a. n. g. Deutsche Solar GmbH ,Hilbersdorf,Herstellung von sonstigen chemischen Erzeugnissen a. n. g. Deutsche Steinzeug Cremer & Breuer AG,Alfter-Witterschlick,Herstellung von keramischen Wand- und Bodenfliesen und -platten Deutsche Steinzeug Cremer & Breuer AG,Sinzig,Herstellung von keramischen Wand- und Bodenfliesen und -platten Deutsche Steinzeug Cremer & Breuer AG,Schwarzenfeld,Herstellung von keramischen Wand- und Bodenfliesen und -platten Deutsche Tiernahrung Cremer GmbH & Co. KG,Düsseldorf,Herstellung von Futtermitteln Deutsche Tiernahrung Cremer GmbH & Co. KG,Höltinghausen,Herstellung von Futtermitteln Deutsche Tiernahrung Cremer GmbH & Co. KG,Regensburg,Herstellung von Futtermitteln Dieckerhoff Guss GmbH ,Gevelsberg,Eisengießereien Diehl Metall Stiftung & Co. KG ,Röthenbach,Erzeugung und erste Bearbeitung von Kupfer Dienes Packaging GmbH ,Kaiserslautern,Herstellung von Kunststoffwaren DMK Deutsches Milchkontor GmbH,Bad Bibra,Milchverarbeitung (ohne Herstellung von Speiseeis) DMK Deutsches Milchkontor GmbH,Hohenwestedt,Milchverarbeitung (ohne Herstellung von Speiseeis) DMK Deutsches Milchkontor GmbH,Nordhackstedt,Milchverarbeitung (ohne Herstellung von Speiseeis) DMK Deutsches Milchkontor GmbH,Warburg - Rimbeck,Milchverarbeitung (ohne Herstellung von Speiseeis) DMK Deutsches Milchkontor GmbH,Coesfeld,Milchverarbeitung (ohne Herstellung von Speiseeis) DMK Deutsches Milchkontor GmbH,Georgsmarienhütte,Milchverarbeitung (ohne Herstellung von Speiseeis) DMK Deutsches Milchkontor GmbH,Erfurt,Milchverarbeitung (ohne Herstellung von Speiseeis) DOMO Caproleuna GmbH ,Leuna,Herstellung von sonstigen organischen Grundstoffen und Chemikalien DOMO Engineering Plastics GmbH,Premnitz,Herstellung von Kunststoffen in Primärformen Dow Deutschland Anlagengesellschaft mbH,Stade,Herstellung von Kunststoffen in Primärformen Dow Deutschland Anlagengesellschaft mbH,Bargstedt/Ohrensen,Herstellung von Kunststoffen in Primärformen Dow Deutschland Anlagengesellschaft mbH,Rheinmünster,Herstellung von Kunststoffen in Primärformen Dow Olefinverbund GmbH ,Schkopau,Herstellung von Kunststoffen in Primärformen Dow Olefinverbund GmbH ,Böhlen,Herstellung von Kunststoffen in Primärformen Dow Olefinverbund GmbH ,Leuna,Herstellung von Kunststoffen in Primärformen Dow Olefinverbund GmbH ,Köln,Herstellung von Kunststoffen in Primärformen Drahtcord Saar GmbH & Co. KG ,Merzig,Herstellung von Drahtwaren, Ketten und Federn Dralon GmbH ,Dormagen,Herstellung von Chemiefasern Dresdner Verkehrsbetriebe AG ,Dresden,Schienenbahn Druckguss Heidenau GmbH ,Dohna,Leichtmetallgießereien Druckguss Hof GmbH ,Hof,Leichtmetallgießereien Druckguss Hoym GmbH ,Hoym,Leichtmetallgießereien DSW21 Dortmunder Stadtwerke AG ,Dortmund,Schienenbahn Duisburger Verkehrsgesellschaft AG,Duisburg,Schienenbahn DWK Drahtwerk Köln GmbH ,Köln,Herstellung von kaltgezogenem Draht Dyckerhoff AG ,Wiesbaden,Herstellung von Zement Dyckerhoff AG ,Göllheim,Herstellung von Zement Dyckerhoff AG ,Neuwied,Herstellung von Zement Dyckerhoff AG ,Neuss,Herstellung von Zement Dyckerhoff AG ,Lengerich,Herstellung von Zement Dyckerhoff AG ,Geseke,Herstellung von Zement E S F Elbe-Stahlwerke Feralpi GmbH,Riesa,Erzeugung von Roheisen, Stahl und Ferrolegierungen E+E Verpackungstechnik GmbH & Co. KG,Jettingen,Herstellung von Verpackungsmitteln aus Kunststoffen ECKART GmbH ,Velden,Herstellung von Farbstoffen und Pigmenten ECKART GmbH ,Wackersdorf,Herstellung von Farbstoffen und Pigmenten ecoform Multifol Verpackungsfolien GmbH & Co. KG,Erlenmoos,Herstellung von Kunststoffwaren Eduard Merkle GmbH & Co. KG ,Blaubeuren,Herstellung von Kalk und gebranntem Gips egeplast Werner Strumann GmbH & Co. KG,Greven,Herstellung von Kunststoffwaren Egger Bevern GmbH & Co. KG ,Bevern,Herstellung von Furnier-, Sperrholz-, Holzfaser- und Holzspanplatten Egger Holzwerkstoffe Brilon GmbH & Co. KG,Brilon,Herstellung von Furnier-, Sperrholz-, Holzfaser- und Holzspanplatten Egger Holzwerkstoffe Wismar GmbH & Co. KG,Wismar,Herstellung von Furnier-, Sperrholz-, Holzfaser- und Holzspanplatten Egger Holzwerkstoffe Wismar GmbH & Co. KG,Brilon,Herstellung von Furnier-, Sperrholz-, Holzfaser- und Holzspanplatten Egger Sägewerk Brilon GmbH,Brilon,Säge-, Hobel- und Holzimprägnierwerke Eisengießerei Baumgarte GmbH ,Bielefeld,Eisengießereien Eisengiesserei Torgelow GmbH,Torgelow,Eisengießereien Eisenwerk Brühl GmbH ,Brühl,Eisengießereien Eisenwerk Erla GmbH ,Schwarzenberg,Eisengießereien Eisenwerk Hasenclever & Sohn GmbH,Battenberg,Eisengießereien Eisenwerk Würth GmbH ,Bad Friedrichshall,Erzeugung von Roheisen, Stahl und Ferrolegierungen Elbekies GmbH ,Mühlberg,Gewinnung von Kies, Sand, Ton und Kaolin Elektrische Bahnen der Stadt Bonn und des Rhein-Sieg-Kreises oHG -SSB-,Bonn,Schienenbahn Elektrostahlwerke Gröditz GmbH ,Gröditz,Erzeugung von Roheisen, Stahl und Ferrolegierungen Elektrowerk Weisweiler GmbH ,Eschweiler,Erzeugung von Roheisen, Stahl und Ferrolegierungen EMG Casting AG ,Waldkraiburg,Eisengießereien Emscher Aufbereitung GmbH ,Duisburg,Steinkohlenbergbau Emsland-Aller Aqua GmbH ,Golßen,Herstellung von sonstigen Nahrungsmitteln Emsland-Stärke GmbH ,Emlichheim,Herstellung von Stärke und Stärkeerzeugnissen Emsland-Stärke GmbH ,Wietzendorf,Herstellung von Stärke und Stärkeerzeugnissen Energie Food Town GbR ,Duisburg,Wärme- und Kälteversorgung Energie- und Medienver- sorgung Sandhofer Straße GmbH & Co. KG,Mannheim,Wärme- und Kälteversorgung EnergieNord GmbH & Co. KG ,Groß-Gerau,Elektrizitätsversorgung EnergieNord GmbH & Co. KG ,Karlsruhe,Elektrizitätsversorgung EnergieNord GmbH & Co. KG ,Bad Kreuznach,Elektrizitätsversorgung EnergieNord GmbH & Co. KG ,Homburg,Elektrizitätsversorgung Energiewerke Nord GmbH ,Rubenow,Installation von Maschinen und Ausrüstungen a. n. g. EPC GmbH ,Torgau,Herstellung von Holzwaren a. n. g., Kork-, Flecht- und Korbwaren (ohne Möbel) Erbacher Härtetechnik GmbH ,Erbach,Oberflächenveredlung und Wärmebehandlung Erfurt & Sohn KG ,Wuppertal,Herstellung von Papier, Karton und Pappe Erfurter Verkehrsbetriebe AG ,Erfurt,Schienenbahn Ergocast Guss GmbH ,Jünkerath,Eisengießereien esco - european salt company GmbH & Co. KG,Rheinberg,Gewinnung von Salz ESE Expert GmbH ,Neuruppin,Herstellung von sonstigen Kunststoffwaren Essener Verkehrs-AG ,Essen,Schienenbahn Essex Germany GmbH ,Bad Arolsen,Herstellung von sonstigen elektronischen und elektrischen Drähten und Kabeln Essex Germany GmbH ,Bramsche,Herstellung von sonstigen elektronischen und elektrischen Drähten und Kabeln ETTLIN Spinnerei und Weberei Produktions GmbH,Ettlingen,Herstellung von sonstigen Textilwaren a. n. g. Euro-Alkohol GmbH ,Lüdinghausen,Herstellung von sonstigen organischen Grundstoffen und Chemikalien Evonik Degussa GmbH ,Niederkassel,Herstellung von sonstigen anorganischen Grundstoffen und Chemikalien ExxonMobil Production Deutschland GmbH,Itterbeck,Erbringung von Dienstleistungen für die Gewinnung von Erdöl und Erdgas ExxonMobil Production Deutschland GmbH,Großenkneten,Erbringung von Dienstleistungen für die Gewinnung von Erdöl und Erdgas ExxonMobil Production Deutschland GmbH,Barenburg,Erbringung von Dienstleistungen für die Gewinnung von Erdöl und Erdgas ExxonMobil Production Deutschland GmbH,Steyerberg,Erbringung von Dienstleistungen für die Gewinnung von Erdöl und Erdgas ExxonMobil Production Deutschland GmbH,Walsrode,Erbringung von Dienstleistungen für die Gewinnung von Erdöl und Erdgas ExxonMobil Production Deutschland GmbH,Brockel,Erbringung von Dienstleistungen für die Gewinnung von Erdöl und Erdgas ExxonMobil Production Deutschland GmbH,Meppen,Erbringung von Dienstleistungen für die Gewinnung von Erdöl und Erdgas ExxonMobil Production Deutschland GmbH,Osterwald,Erbringung von Dienstleistungen für die Gewinnung von Erdöl und Erdgas Facility Service GmbH ,Heilbronn,Elektrizitätsversorgung FAMIS Energieservice GmbH ,Homburg,Wärme- und Kälteversorgung Feinpappenwerk Gebr. Schuster GmbH & Co. KG,Hebertshausen,Herstellung von Papier, Karton und Pappe Fels-Werke GmbH ,Seesen,Herstellung von Kalk und gebranntem Gips Fels-Werke GmbH ,Elbingerode,Herstellung von Kalk und gebranntem Gips Fels-Werke GmbH ,Rübeland,Herstellung von Kalk und gebranntem Gips Fels-Werke GmbH ,Rüdersdorf,Herstellung von Kalk und gebranntem Gips Fels-Werke GmbH ,Saal,Herstellung von Kalk und gebranntem Gips FGL Fürstenwalder F-G-L GmbH,Fürstenwalde,Herstellung von Futtermitteln für Nutztiere Fiberboard GmbH ,Baruth / Mark,Herstellung von Furnier-, Sperrholz-, Holzfaser- und Holzspanplatten Fitesa Germany GmbH ,Peine,Herstellung von Vliesstoff und Erzeugnissen daraus (ohne Bekleidung) FLABEG Deutschland GmbH ,Furth im Wald,Veredlung und Bearbeitung von Flachglas Flachglas Torgau GmbH ,Torgau,Herstellung von Flachglas Flughafen Energie und Wasser GmbH,Berlin,Elektrizitätsverteilung Flughafen Energie und Wasser GmbH,Berlin,Elektrizitätsverteilung Flughafen Stuttgart Energie GmbH,Stuttgart,Wärme- und Kälteversorgung Folienwerk Wolfen GmbH ,Wolfen,Herstellung von Platten, Folien, Schläuchen und Profilen aus Kunststoffen Forum - Plast GmbH ,Amberg,Herstellung von Platten, Folien, Schläuchen und Profilen aus Kunststoffen Franziska Stolle GmbH & Co. Brenz KG,Brenz,Schlachten und Fleischverarbeitung Freiburger Verkehrs AG ,Freiburg,Schienenbahn Freudenberg Vliesstoffe KG,Kaiserslautern,Herstellung von sonstigen Textilwaren a. n. g. Friedrich Wilhelms-Hütte Eisenguss GmbH,Mülheim,Eisengießereien Frießinger Mühle GmbH ,Bad Wimpfen,Mahl- und Schälmühlen Fripa Papierfabrik Albert Friedrich KG,Miltenberg,Herstellung von Haushalts-, Hygiene- und Toilettenartikeln aus Zellstoff, Papier und Pappe Fritz Winter Eisengießerei GmbH & Co. KG,Stadtallendorf,Eisengießereien Fritz Winter Eisengießerei GmbH & Co. KG,Laubach,Eisengießereien Fromm Plastics GmbH ,Kölleda,Herstellung von Kunststoffwaren Fronberg Guss GmbH ,Schwandorf,Eisengießereien FS-Karton GmbH ,Neuss,Herstellung von Papier, Karton und Pappe Die Unternehmen G-H Galvanotechnik Baum GmbH,Zwönitz,Oberflächenveredlung und Wärmebehandlung GEALAN Tanna Fenster-Systeme GmbH,Tanna,Herstellung von Platten, Folien, Schläuchen und Profilen aus Kunststoffen Gebr. Dürrbeck Kunststoffe GmbH,Buttelstedt,Herstellung von Verpackungsmitteln aus Kunststoffen Gebr. Grünewald GmbH & Co. KG ,Kirchhundem,Herstellung von Papier, Karton und Pappe Gebr. Hoffsümmer Spezialpapier GmbH & Co. KG,Düren,Herstellung von Papier, Karton und Pappe Gebr. Ostendorf Kunststoffe GmbH & Co. KG,Vechta,Herstellung von Kunststoffwaren Gebr. Ostendorf Kunststoffe GmbH & Co. KG,Vechta,Herstellung von Kunststoffwaren Gebrüder Lang GmbH Papierfabrik,Ettringen,Herstellung von Papier, Karton und Pappe Geestland Putenspezialitäten GmbH & Co. KG,Wildeshausen,Schlachten von Geflügel Gelsenwasser AG ,Haltern am See,Wasserversorgung Genan NRW GmbH ,Dorsten,Rückgewinnung sortierter Werkstoffe Georg Fischer GmbH ,Leipzig,Eisengießereien Georg Menshen GmbH & Co. KG ,Finnentrop,Herstellung von Verpackungsmitteln aus Kunststoffen Georg Plange GmbH & Co. KG,Neuss,Mahl- und Schälmühlen Georg Plange GmbH & Co. KG,Duisburg Homberg,Mahl- und Schälmühlen Georg Umformtechnik GmbH ,Willroth,Herstellung von Schmiede-, Press-, Zieh- und Stanzteilen, gewalzten Ringen und pulvermetallurgischen Erzeugnissen Georgsmarienhütte GmbH ,Georgsmarienhütte,Erzeugung von Roheisen, Stahl und Ferrolegierungen Geothermie Unterhaching GmbH & Co. KG,Unterhaching,Wärme- und Kälteversorgung German Pellets GmbH ,Ettenheim,Herstellung von Holz- und Zellstoff German Pellets GmbH ,Wismar,Herstellung von Holz- und Zellstoff German Pellets GmbH ,Herbrechtingen,Herstellung von Holz- und Zellstoff Gerodur MPM Kunststoffverarbeitung GmbH & Co. KG,Neustadt,Herstellung von Platten, Folien, Schläuchen und Profilen aus Kunststoffen Gerresheimer Essen GmbH ,Essen,Herstellung von Hohlglas Gerresheimer Lohr GmbH ,Lohr,Herstellung von Hohlglas Gerresheimer Tettau GmbH ,Tettau,Herstellung von Hohlglas GfV Verschlusstechnik GmbH & Co. KG,Alpirsbach-Peterzell,Herstellung von Verpackungsmitteln aus Kunststoffen GHP Glunz Holzwerkstoffproduktions-GmbH,Horn-Bad Meinberg,Herstellung von Furnier-, Sperrholz-, Holzfaser- und Holzspanplatten Giebel Kaltwalzwerk GmbH ,Iserlohn,Erzeugung von Roheisen, Stahl und Ferrolegierungen Gienanth GmbH ,Eisenberg,Eisengießereien Gießerei St. Leon-Rot GmbH ,St. Leon-Rot,Eisengießereien GIZEH Verpackungen GmbH & Co. KG,Bergneustadt,Herstellung von Kunststoffwaren GIZEH Verpackungen Werk Elsterwerda GmbH,Elsterwerda,Herstellung von Kunststoffwaren Glaskontor GmbH ,Mannheim,Herstellung von Glas und Glaswaren Glaswerk Ernstthal GmbH ,Lauscha / Ernstthal,Herstellung von Hohlglas Glatfelder Falkenhagen GmbH,Pritzwalk,Herstellung von Haushalts-, Hygiene- und Toilettenartikeln aus Zellstoff, Papier und Pappe Glatfelter Gernsbach GmbH & Co. KG,Gernsbach,Herstellung von Papier, Karton und Pappe Glunz Aktiengesellschaft ,Meppen,Herstellung von Furnier-, Sperrholz-, Holzfaser- und Holzspanplatten Glunz Aktiengesellschaft ,Nettgau,Herstellung von Furnier-, Sperrholz-, Holzfaser- und Holzspanplatten GMB Glasmanufaktur Brandenburg GmbH,Tschernitz,Herstellung von Flachglas Gontermann-Peipers GmbH ,Siegen,Stahlgießereien Gontermann-Peipers GmbH ,Siegen,Stahlgießereien Gould Electronics GmbH,Eichstetten,Erzeugung und erste Bearbeitung von Kupfer Gräfendorfer Geflügel- und Tiefkühlfeinkost Produktions GmbH,Mockrehna,Schlachten von Geflügel Graphit Kropfmühl AG ,Hauzenberg,Herstellung von sonstigen Erzeugnissen aus nichtmetallischen Mineralien a. n. g. Grünperga Papier GmbH ,Grünhainichen,Herstellung von Papier, Karton und Pappe GS agri eG ,Schneiderkrug,Herstellung von Futtermitteln für Nutztiere GSE Lining Technology GmbH,Rechlin,Herstellung von Kunststoffwaren GTP Glastechnik Piesau GmbH & Co. KG,Piesau,Herstellung von Hohlglas Guttroff GmbH ,Dettelbach,Herstellung von Industriegasen H. D. Lenzen Bandverzinkung GmbH & Co. KG,Hagen,Oberflächenveredlung und Wärmebehandlung H.E.S. Hennigsdorfer Elektrostahlwerke GmbH,Hennigsdorf,Erzeugung von Roheisen, Stahl und Ferrolegierungen HaBeMa Futtermittel GmbH & Co. KG,Hamburg,Herstellung von Futtermitteln für Nutztiere Häfen und Güterverkehr Köln AG ,Köln,Schienenbahn HaGe Produktions GmbH ,Flensburg,Herstellung von Futtermitteln für Nutztiere Hahn GmbH & Co. KG ,Bredenbek,Herstellung von Holz- und Zellstoff Hahn Kunststoffe GmbH ,Hahn-Flughafen,Herstellung von sonstigen Kunststoffwaren Hallesche Verkehrs-AG ,Halle,Schienenbahn Hamberger Flooring GmbH & Co. KG,Stephanskirchen,Herstellung von Parketttafeln Hamburger Hochbahn Aktiengesellschaft,Hamburg,Schienenbahn Hamburger Rieger GmbH & Co. KG,Trostberg,Herstellung von Papier, Karton und Pappe Hamburger Rieger GmbH & Co. KG,Spremberg,Herstellung von Papier, Karton und Pappe Hammerl GmbH & Co. KG ,Gemmrigheim,Herstellung von Platten, Folien, Schläuchen und Profilen aus Kunststoffen Hanomag Lohnhärterei GmbH,Hannover,Oberflächenveredlung und Wärmebehandlung Hans G. Hauri KG Mineralstoffwerke,Bötzingen,Gewinnung von Naturwerksteinen und Natursteinen, Kalk- und Gipsstein, Kreide und Schiefer Hans Kolb Papierfabrik GmbH & Co. KG,Kaufbeuren,Herstellung von Papier, Karton und Pappe Hansa Landhandel Lahde GmbH & Co. KG,Bremen,Herstellung von Futtermitteln für Nutztiere HANSA-HEEMANN AG ,Lehnin,Herstellung von Erfrischungsgetränken, Gewinnung natürlicher Mineralwässer Hansa-Milch AG ,Upahl,Milchverarbeitung (ohne Herstellung von Speiseeis) Harz Guss Zorge GmbH ,Zorge,Eisengießereien HaTeFo Haushalt + Technische Folien GmbH,Calvörde,Herstellung von Verpackungsmitteln aus Kunststoffen Hawle Armaturen GmbH ,Fürstenwalde,Eisengießereien Hay Speed Umformtechnik GmbH,Lüchow,Herstellung von Schmiede-, Press-, Zieh- und Stanzteilen, gewalzten Ringen und pulvermetallurgischen Erzeugnissen HEAG mobilo GmbH ,Darmstadt,Schienenbahn HegerFerrit GmbH ,Sembach,Eisengießereien HegerGuss GmbH ,Enkenbach-Alsenborn,Eisengießereien HeidelbergCement AG ,Hannover,Herstellung von Zement, Kalk und gebranntem Gips HeidelbergCement AG ,Schelklingen,Herstellung von Zement, Kalk und gebranntem Gips HeidelbergCement AG ,Paderborn,Herstellung von Zement, Kalk und gebranntem Gips HeidelbergCement AG ,Geseke,Herstellung von Zement, Kalk und gebranntem Gips HeidelbergCement AG ,Geseke,Herstellung von Zement, Kalk und gebranntem Gips HeidelbergCement AG ,Ennigerloh,Herstellung von Zement, Kalk und gebranntem Gips HeidelbergCement AG ,Wetzlar,Herstellung von Zement, Kalk und gebranntem Gips HeidelbergCement AG ,Mainz,Herstellung von Zement, Kalk und gebranntem Gips HeidelbergCement AG ,Leimen,Herstellung von Zement, Kalk und gebranntem Gips HeidelbergCement AG ,Triefenstein,Herstellung von Zement, Kalk und gebranntem Gips HeidelbergCement AG ,Efringen-Kirchen,Herstellung von Zement, Kalk und gebranntem Gips HeidelbergCement AG ,Burglengenfeld,Herstellung von Zement, Kalk und gebranntem Gips HeidelbergCement AG ,Königs Wusterhausen,Herstellung von Zement, Kalk und gebranntem Gips HeidelbergCement Baustoffe für Geotechnik GmbH & Co. KG,Ennigerloh,Herstellung von Zement, Kalk und gebranntem Gips Heidelberger Druckmaschinen AG,Amstetten,Eisengießereien Heidenheimer Gießerei GmbH & Co. KG,Heidenheim,Eisengießereien Heinr. Aug. Schoeller Söhne GmbH & Co. KG,Düren,Herstellung von Papier, Karton und Pappe Hellma Materials GmbH ,Jena,Herstellung von sonstigen chemischen Erzeugnissen Helmut Kreutz Mahlwerke GmbH ,Haiger,Herstellung von keramischen Erzeugnissen für sonstige technische Zwecke Heraeus Quarzglas GmbH & Co.KG ,Greppin,Herstellung, Veredlung und Bearbeitung von sonstigem Glas einschließlich technischen Glaswaren Heraeus Quarzglas GmbH & Co.KG ,Kleinostheim,Herstellung, Veredlung und Bearbeitung von sonstigem Glas einschließlich technischen Glaswaren Herbstreith & Fox GmbH ,Werder,Herstellung von sonstigen Nahrungsmitteln a. n. g. Hermann Kröner GmbH ,Tecklenburg,Herstellung von Stärke und Stärkeerzeugnissen Hessenwasser GmbH & Co. KG ,Rüsselsheim,Wasserversorgung Heyl GmbH & Co. KG ,Bad Langensalza,Mahl- und Schälmühlen Himmelsberger Mineralbrunnen GmbH,Jessen,Herstellung von Erfrischungsgetränken, Gewinnung natürlicher Mineralwässer Hirschvogel Eisenach GmbH ,Marksuhl,Herstellung von Schmiede-, Press-, Zieh- und Stanzteilen, gewalzten Ringen und pulvermetallurgischen Erzeugnissen HIT Holzindustrie Torgau OHG ,Torgau,Herstellung von Verpackungsmitteln, Lagerbehältern und Ladungsträgern aus Holz Hochtief Energy Management GmbH,Hannover,Elektrizitätsverteilung Hochtief Energy Management GmbH,Hamburg,Elektrizitätsverteilung Hochtief Energy Management GmbH,Kelsterbach,Elektrizitätsverteilung Hochtief Energy Management GmbH,Frankfurt,Elektrizitätsverteilung Hochtief Energy Management GmbH,Augsburg,Elektrizitätsverteilung Hof Garn GmbH ,Hof,Spinnstoffaufbereitung und Spinnerei Hof Garn GmbH ,Hof,Spinnstoffaufbereitung und Spinnerei Hof Weberei GmbH ,Hof,Weberei Holborn Europa Raffinerie GmbH,Hamburg,Mineralölverarbeitung Holcim (Deutschland) AG ,Lägerdorf,Herstellung von Zement Holcim (Deutschland) AG ,Sehnde,Herstellung von Zement Holcim (Deutschland) AG ,Bremen,Herstellung von Zement Hubert Eing Kunststoffverwertung GmbH,Gescher,Behandlung und Beseitigung nicht gefährlicher Abfälle Hulvershorn Eisengießerei GmbH & Co. KG,Bocholt,Eisengießereien Hüttemann Wismar GmbH & Co. KG,Wismar,Herstellung von sonstigen Konstruktionsteilen, Fertigbauteilen, Ausbauelementen und Fertigteilbauten aus Holz Hydro Aluminium Gießerei Hannover GmbH,Hannover,Leichtmetallgießereien Hydro Aluminium Rolled Products GmbH,Neuss,Erzeugung und erste Bearbeitung von Aluminium Hydro Aluminium Rolled Products GmbH,Grevenbroich,Erzeugung und erste Bearbeitung von Aluminium Hydro Aluminium Rolled Products GmbH,Hamburg,Erzeugung und erste Bearbeitung von Aluminium Hydromotive GmbH & Co. KG ,Leuna,Herstellung von Industriegasen Die Unternehmen I-K I. van Roje & Sohn Sägewerk und Holzhandlung GmbH & Co. KG,Oberhonnefeld-Gierend,Säge-, Hobel- und Holzimprägnierwerke Inde Plastik Betriebsgesellschaft mbH,Aldenhoven,Herstellung von Verpackungsmitteln aus Kunststoffen INEOS Chlor Atlantik GmbH ,Wilhelmshaven,Herstellung von sonstigen anorganischen Grundstoffen und Chemikalien INEOS Manufacturing Deutschland GmbH,Köln,Herstellung von sonstigen organischen Grundstoffen und Chemikalien INEOS STYRENICS GmbH ,Marl,Herstellung von sonstigen organischen Grundstoffen und Chemikalien INEOS Styrenics Manufacturing GmbH,Marl,Herstellung von Kunststoffen in Primärformen INEOS Vinyls Deutschland GmbH ,Schkopau,Herstellung von Kunststoffen in Primärformen INEOS Vinyls Deutschland GmbH ,Wilhelmshaven,Herstellung von Kunststoffen in Primärformen InfraLeuna GmbH ,Leuna,Gashandel durch Rohrleitungen InfraServ GmbH & Co. Gendorf KG,Münchsmünster,Elektrizitätsverteilung Infraserv GmbH & Co. Höchst KG ,Frankfurt,Elektrizitätserzeugung Infraserv GmbH & Co. Höchst KG ,Ransbach-Baumbach,Elektrizitätserzeugung Infraserv GmbH & Co. Knapsack KG,Hürth,Elektrizitätsverteilung InfraTec Duisburg GmbH ,Duisburg,Wärme- und Kälteversorgung Infra-Zeitz Servicegesellschaft mbH,Elsteraue,Wasserversorgung Innofol Kunststoffprodukte GmbH,Greiz,Herstellung von Platten, Folien, Schläuchen und Profilen aus Kunststoffen Innospec Leuna GmbH ,Leuna,Herstellung von Kunststoffen in Primärformen IntelligentPower GmbH & Co. KG ,Heppenheim,Elektrizitätsversorgung IntelligentPower GmbH & Co. KG ,Bremerhaven,Elektrizitätsversorgung IntelligentPower GmbH & Co. KG ,Bremerhaven,Elektrizitätsversorgung IntelligentPower GmbH & Co. KG ,Kempten,Elektrizitätsversorgung Interface Solutions Altenkirchen GmbH,Altenkirchen-Almersbach,Herstellung von Papier, Karton und Pappe INVISTA Resins & Fibers GmbH ,Gersthofen,Herstellung von Kunststoffen in Primärformen Isodraht GmbH ,Mannheim,Herstellung von sonstigen elektronischen und elektrischen Drähten und Kabeln ISP Marl GmbH ,Marl,Herstellung von sonstigen organischen Grundstoffen und Chemikalien Isselguss GmbH Gießereierzeugnisse,Isselburg,Eisengießereien ITL-Eisenbahngesellschaft mbH ,Dresden,Schienenbahn J. Rettenmaier & Söhne GmbH & Co. KG,Rosenberg,Herstellung von Holz- und Zellstoff J. Tönnesmann & Vogel GmbH & Co. Papierfabrik Hönnetal,Menden,Herstellung von Papier, Karton und Pappe JELU-Werk Josef Ehrler GmbH & Co. KG,Rosenberg,Herstellung von Holz- und Zellstoff Johann Hay GmbH & Co. KG ,Bockenau,Herstellung von Schmiede-, Press-, Zieh- und Stanzteilen, gewalzten Ringen und pulvermetallurgischen Erzeugnissen Johns Manville GmbH ,Bobingen,Herstellung von Vliesstoff und Erzeugnissen daraus (ohne Bekleidung) Johns Manville GmbH ,Berlin,Herstellung von Vliesstoff und Erzeugnissen daraus (ohne Bekleidung) Johnson Controls Sachsen- Batterien GmbH & Co. KG,Zwickau,Herstellung von Batterien und Akkumulatoren Josef Brechmann GmbH & Co. KG ,Schloß Holte-Stukenbrok,Eisengießereien Josef Schonlau Maschinenfabrik und Eisengießerei GmbH & Co. KG,Geseke,Eisengießereien Julius Glatz GmbH ,Neidenfels,Herstellung von Papier, Karton und Pappe Julius Schulte Trebsen GmbH & Co. KG,Trebsen,Herstellung von Papier, Karton und Pappe Jürgens Gießerei GmbH & Co. KG,Emsdetten,Eisengießereien K Face GmbH ,Heiligengrabe,Herstellung von Furnier-, Sperrholz-, Holzfaser- und Holzspanplatten Kalkwerke H. Oetelshofen GmbH & Co. KG,Wuppertal,Herstellung von Kalk und gebranntem Gips Kartonfabrik Porstendorf GmbH ,Neuengönna,Herstellung von Papier, Karton und Pappe Kasseler Verkehrs- Gesellschaft AG,Kassel,Schienenbahn Katz GmbH & Co. KG ,Weisenbach,Herstellung von Papier, Karton und Pappe Keolis Deutschland GmbH & Co. KG,Berlin,Schienenbahn Keulahütte GmbH ,Krauschwitz,Eisengießereien Kirkeler Erfrischungsgetränke GmbH,Kirkel,Herstellung von Erfrischungsgetränken, Gewinnung natürlicher Mineralwässer Kirschneck GmbH Folienfabrik,Selb,Herstellung von Platten, Folien, Schläuchen und Profilen aus Kunststoffen Klingele Papierwerke GmbH & Co. KG,Weener,Herstellung von Papier, Karton und Pappe Klinik EnergieVersorgungs-Service GmbH,Heidelberg,Elektrizitätsversorgung KME Brass Germany GmbH ,Berlin,Erzeugung und erste Bearbeitung von sonstigen NE-Metallen Knauf Insulation GmbH ,St. Egidien,Herstellung von sonstigen Erzeugnissen aus nichtmetallischen Mineralien a. n. g. Knauf Insulation GmbH ,Bad Berka,Herstellung von sonstigen Erzeugnissen aus nichtmetallischen Mineralien a. n. g. Knauf Integral KG ,Satteldorf,Herstellung von Gipserzeugnissen für den Bau KOB Medical Devices (Deutschland) GmbH,Wolfstein,Weberei Koehler Kehl GmbH ,Kehl,Herstellung von Papier, Karton und Pappe Kölner Verkehrs-Betriebe AG ,Köln,Schienenbahn Kraftwerk Obernburg GmbH ,Obernburg,Elektrizitätserzeugung Kronoply GmbH ,Heiligengrabe,Herstellung von Furnier-, Sperrholz-, Holzfaser- und Holzspanplatten KRONOS TITAN GmbH ,Leverkusen,Herstellung von Farbstoffen und Pigmenten KRONOS TITAN GmbH ,Nordenham,Herstellung von Farbstoffen und Pigmenten KRONOSPAN GmbH ,Steinheim,Herstellung von Furnier-, Sperrholz-, Holzfaser- und Holzspanplatten KRONOSPAN GmbH Lampertswalde,Lampertswalde,Herstellung von Furnier-, Sperrholz-, Holzfaser- und Holzspanplatten Kronotex GmbH & Co. KG ,Heiligengrabe,Herstellung von Furnier-, Sperrholz-, Holzfaser- und Holzspanplatten KS Gleitlager GmbH ,Papenburg,Buntmetallgießereien Kunststoffwerk Kutterer GmbH & Co. KG,Karlsruhe,Herstellung von Verpackungsmitteln aus Kunststoffen Kurt Fülling Tierprodukte GmbH,Dissen,Herstellung von Futtermitteln für Nutztiere Kurtz GmbH ,Hasloch,Eisengießereien Die Unternehmen L-N Lafarge Zement Karsdorf GmbH ,Karsdorf,Herstellung von Zement, Kalk und gebranntem Gips Lafarge Zement Karsdorf GmbH ,Kall,Herstellung von Zement, Kalk und gebranntem Gips Lafarge Zement Wössingen GmbH ,Walzbachtal,Herstellung von Zement, Kalk und gebranntem Gips Landshut Silicon Foundry GmbH,Landshut,Herstellung von elektronischen Bauelementen LANXESS Buna GmbH ,Marl,Herstellung von synthetischem Kautschuk in Primärformen Lauffenmühle GmbH & Co. KG ,Lauchringen,Weberei Lech-Stahlwerke GmbH ,Meitingen,Erzeugung von Roheisen, Stahl und Ferrolegierungen Leinefelder Textilwerke GmbH ,Leinefelde,Spinnstoffaufbereitung und Spinnerei LEIPA Georg Leinfelder GmbH Herrn Winfried Salzeder,Schwedt,Herstellung von Papier, Karton und Pappe LEIPA Georg Leinfelder GmbH Herrn Winfried Salzeder,Schrobenhausen,Herstellung von Papier, Karton und Pappe Leipziger Verkehrsbetriebe (LVB) GmbH,Leipzig,Schienenbahn Leisslinger Mineralbrunnen GmbH,Leißling,Herstellung von Erfrischungsgetränken, Gewinnung natürlicher Mineralwässer LEUNA-TENSIDE GmbH ,Leuna,Herstellung von Seifen, Wasch-, Reinigungs- und Poliermitteln Liapor GmbH & Co. KG ,Hallerndorf- Pautzfeld,Herstellung von sonstigen Erzeugnissen aus nichtmetallischen Mineralien a. n. g. Linde Gas Produktions gesellschaft mbH & Co. KG,Leuna,Herstellung von Industriegasen Linde Gas Produktions gesellschaft mbH & Co. KG,Salzgitter,Herstellung von Industriegasen Linde Gas Produktions gesellschaft mbH & Co. KG,Schkopau,Herstellung von Industriegasen Linde Gas Produktions gesellschaft mbH & Co. KG,Eisenhüttenstadt,Herstellung von Industriegasen Linde Gas Produktions gesellschaft mbH & Co. KG,Gablingen,Herstellung von Industriegasen Linde Gas Produktions gesellschaft mbH & Co. KG,Spreetal,Herstellung von Industriegasen Linde Gas Produktions gesellschaft mbH & Co. KG,Worms,Herstellung von Industriegasen Linde Gas Produktions gesellschaft mbH & Co. KG,Hamburg,Herstellung von Industriegasen Linde Gas Produktions gesellschaft mbH & Co. KG,Herne,Herstellung von Industriegasen Linde Gas Produktions gesellschaft mbH & Co. KG,Duisburg,Herstellung von Industriegasen Linde Gas Produktions gesellschaft mbH & Co. KG,Burgkirchen,Herstellung von Industriegasen Linde Gas Produktions gesellschaft mbH & Co. KG,Meitingen,Herstellung von Industriegasen Linde Gas Produktions gesellschaft mbH & Co. KG,Stolberg,Herstellung von Industriegasen Linde Gas Produktions gesellschaft mbH & Co. KG,Dormagen,Herstellung von Industriegasen Linde Gas Produktions gesellschaft mbH & Co. KG,Wetzlar,Herstellung von Industriegasen Linde Gas Produktions gesellschaft mbH & Co. KG,Bremen,Herstellung von Industriegasen Linde Gas Produktions gesellschaft mbH & Co. KG,Marl,Herstellung von Industriegasen Linde Gas Produktions gesellschaft mbH & Co. KG,Brunsbüttel,Herstellung von Industriegasen Linde Gas Produktions gesellschaft mbH & Co. KG,Bad Driburg,Herstellung von Industriegasen Linde Gas Produktions gesellschaft mbH & Co. KG,Mitterteich,Herstellung von Industriegasen Lintorfer Eisengießerei GmbH ,Ratingen,Eisengießereien LSR AG Recycling-Zentrum ,Dingelstädt,Herstellung von Baubedarfsartikeln aus Kunststoffen Lübecker Kunststoffwerk GmbH ,Lübeck,Herstellung von Verpackungsmitteln aus Kunststoffen Lübecker Kunststoffwerk GmbH ,Gefell,Herstellung von Verpackungsmitteln aus Kunststoffen Lud. Kuntz GmbH elka-Holzwerke,Morbach,Säge-, Hobel- und Holzimprägnierwerke M P S Betriebsführungsges. mbH,Berlin,Behandlung und Beseitigung nicht gefährlicher Abfälle M P S Betriebsführungsges. mbH,Berlin,Behandlung und Beseitigung nicht gefährlicher Abfälle M. Busch GmbH & Co. KG ,Meschede,Eisengießereien Magdeburger Verkehrsbetriebe GmbH,Magdeburg,Schienenbahn Magnesita Refractories GmbH,Hagen,Herstellung von keramischen Erzeugnissen für sonstige technische Zwecke MAHLE Brockhaus GmbH ,Plettenberg,Herstellung von Schmiede-, Press-, Zieh- und Stanzteilen, gewalzten Ringen und pulvermetallurgischen Erzeugnissen MAHLE Brockhaus GmbH ,Roßwein,Herstellung von Schmiede-, Press-, Zieh- und Stanzteilen, gewalzten Ringen und pulvermetallurgischen Erzeugnissen MAHLE Ventiltrieb Brandenburg GmbH,Wustermark,Herstellung von sonstigen Teilen und sonstigem Zubehör für Kraftwagen Malteurop Deutschland GmbH ,Langerringen,Herstellung von Malz Manuli Stretch Deutschland GmbH c/o Dow Olefinverbund GmbH,Schkopau,Herstellung von Kunststoffwaren Märker Kalk GmbH ,Harburg,Herstellung von Kalk und gebranntem Gips Märker Kalk GmbH ,Blaustein- Herrlingen,Herstellung von Kalk und gebranntem Gips Märker Zement GmbH ,Harburg,Herstellung von Zement Märker Zement GmbH ,Lauffen,Herstellung von Zement Märkische Faser GmbH ,Premnitz,Herstellung von Chemiefasern MAT Foundries Europe GmbH,Neunkirchen,Eisengießereien MAT Foundries Europe GmbH,Ueckermünde,Eisengießereien MD Papier GmbH ,Plattling,Herstellung von Papier, Karton und Pappe MEGA Tierernährung GmbH & Co. KG,Visbek-Rechterfeld,Herstellung von sonstigen Nahrungsmitteln Messer Produktions GmbH Salzgitter,Salzgitter,Herstellung von Industriegasen Messer Produktions-GmbH Siegen ,Siegen,Herstellung von Industriegasen Messingwerk Plettenberg Herfeld GmbH & Co. KG,Plettenberg,Erzeugung und erste Bearbeitung von Kupfer Metalltechnik Schmidt GmbH & Co. KG,Filderstadt,Erzeugung von Roheisen, Stahl und Ferrolegierungen metronom Eisenbahn- gesellschaft mbH,Uelzen,Schienenbahn Metsä Tissue GmbH ,Düren,Herstellung von Papier, Karton und Pappe Metsä Tissue GmbH ,Kreuzau,Herstellung von Papier, Karton und Pappe Metsä Tissue GmbH ,Raubach,Herstellung von Papier, Karton und Pappe Metsä Tissue GmbH ,Euskirchen-Stotzheim,Herstellung von Papier, Karton und Pappe Meuselwitz Guß Eisengießerei GmbH,Meuselwitz,Eisengießereien Michelin Reifenwerke AG & Co. KGaA,Karlsruhe,Herstellung von sonstigen Gummiwaren microca Kohlenstäube GmbH ,Lünen,Steinkohlenbergbau Milei GmbH ,Leutkirch,Milchverarbeitung (ohne Herstellung von Speiseeis) Mills United Hovestadt & Münstermann GmbH,Recklinghausen,Mahl- und Schälmühlen Mitsubishi HiTec Paper Europe GmbH,Bielefeld,Herstellung von Papier, Karton und Pappe MKM Mansfelder Kupfer und Messing GmbH,Hettstedt,Erzeugung und erste Bearbeitung von Kupfer moBiel GmbH ,Bielefeld,Schienenbahn Molkerei Ammerland eG,Wiefelstede-Dringenburg,Milchverarbeitung (ohne Herstellung von Speiseeis) Momentive Specialty Chemicals Forest Products GmbH,Leuna,Herstellung von Klebstoffen Mondi Raubling GmbH ,Raubling,Herstellung von Wellpapier und -pappe sowie von Verpackungsmitteln aus Papier, Karton und Pappe MPG Mendener Präzisionsrohr GmbH,Menden,Erzeugung und erste Bearbeitung von sonstigen NE-Metallen M-real Zanders GmbH ,Bergisch Gladbach,Herstellung von Papier, Karton und Pappe M-real Zanders GmbH ,Düren,Herstellung von Papier, Karton und Pappe mtm plastics GmbH ,Niedergebra,Rückgewinnung sortierter Werkstoffe Mühle Rüningen GmbH & Co. KG ,Braunschweig,Mahl- und Schälmühlen MÜLHEIM PIPECOATINGS GmbH ,Mülheim,Oberflächenveredlung und Wärmebehandlung Mülheimer VerkehrsGesellschaft mbH,Mülheim an der Ruhr,Schienenbahn Müller Spot Plating GmbH ,Königsbach-Stein,Oberflächenveredlung und Wärmebehandlung Multiport Recycling GmbH ,Bernburg,Rückgewinnung sortierter Werkstoffe Munksjö Dettingen GmbH ,Dettingen,Herstellung von Papier, Karton und Pappe MÜNZING Micro Technologies GmbH,Elsteraue OT Alttröglitz,Herstellung von sonstigen chemischen Erzeugnissen a. n. g. Müritz-Milch GmbH ,Waren,Milchverarbeitung (ohne Herstellung von Speiseeis) MVV EDL Regional GmbH NL Nord-West,Reken,Wärme- und Kälteversorgung Naabtaler Milchwerke GmbH & Co. KG Privatmolkerei Bechtel,Schwarzenfeld,Milchverarbeitung (ohne Herstellung von Speiseeis) Nabaltec AG ,Schwandorf,Herstellung von sonstigen anorganischen Grundstoffen und Chemikalien Nachtmann GmbH Werk Weiden,Weiden,Herstellung von Hohlglas Naturin Viscofan GmbH ,Weinheim,Elektrizitätserzeugung Neue Glaswerke Großbreitenbach GmbH & Co. KG,Steinbach,Herstellung von Hohlglas Neue Glaswerke Großbreitenbach GmbH & Co. KG,Großbreitenbach,Herstellung von Hohlglas NEUE HALBERG-GUSS GmbH ,Leipzig,Eisengießereien NEUE HALBERG-GUSS GmbH ,Saarbrücken,Eisengießereien Newark Viersen GmbH ,Viersen,Herstellung von Papier, Karton und Pappe Nexans Deutschland GmbH ,Bramsche,Erzeugung und erste Bearbeitung von Kupfer Nexans Deutschland GmbH ,Neunburg,Erzeugung und erste Bearbeitung von Kupfer Niersverband KöR ,Mönchengladbach,Abwasserentsorgung Nolte Holzwerkstoff GmbH & Co. KG,Germersheim,Herstellung von Furnier-, Sperrholz-, Holzfaser- und Holzspanplatten Nordenia Deutschland Osterburken GmbH,Osterburken,Herstellung von Platten, Folien, Schläuchen und Profilen aus Kunststoffen Nordland Papier GmbH ,Dörpen,Herstellung von Papier, Karton und Pappe Norske Skog Walsum GmbH ,Duisburg,Herstellung von Papier, Karton und Pappe NRW Pellets GmbH ,Erndtebrück,Herstellung von Holz- und Zellstoff Die Unternehmen O-Q O. & L. SELS GmbH & Co. KG ,Neuss,Herstellung von Ölen und Fetten (ohne Margarine u.ä. Nahrungsfette) Oberland M & V GmbH ,Bad Wurzach,Herstellung von Verpackungsmitteln aus Kunststoffen Odenwald Faserplattenwerk GmbH,Amorbach,Herstellung von sonstigen Erzeugnissen aus nichtmetallischen Mineralien a. n. g. Olsberg Hermann Everken GmbH ,Olsberg,Eisengießereien OMEGA PAPIER Wernshausen GmbH,Schmalkalden,Herstellung von Haushalts-, Hygiene- und Toilettenartikeln aus Zellstoff, Papier und Pappe Omya GmbH ,Giengen,Gewinnung von Naturwerksteinen und Natursteinen, Kalk- und Gipsstein, Kreide und Schiefer Optipack GmbH ,Wachau,Herstellung von Verpackungsmitteln aus Kunststoffen Optipack GmbH ,Fischach,Herstellung von Verpackungsmitteln aus Kunststoffen ORBITA-CAST GmbH ,Weißandt-Gölzau,Herstellung von Platten, Folien, Schläuchen und Profilen aus Kunststoffen ORBITA-FILM GmbH ,Weißandt-Gölzau,Herstellung von Platten, Folien, Schläuchen und Profilen aus Kunststoffen Ortrander Eisenhütte GmbH ,Ortrand,Eisengießereien Otto Fuchs Dülken GmbH & Co. KG,Viersen,Buntmetallgießereien Otto Fuchs KG ,Meinerzhagen,Leichtmetallgießereien Oxxynova GmbH ,Steyerberg,Herstellung von sonstigen anorganischen Grundstoffen und Chemikalien Papierfabrik Adolf Jass GmbH & Co. KG,Fulda,Herstellung von Papier, Pappe und Waren daraus Papierfabrik Adolf Jass Schwarza GmbH,Rudolstadt,Herstellung von Papier, Pappe und Waren daraus Papierfabrik Albbruck GmbH ,Albbruck,Herstellung von Papier, Karton und Pappe Papierfabrik Fritz Peters GmbH & Co. KG,Gelsenkirchen,Herstellung von Papier, Karton und Pappe Papierfabrik Hainsberg GmbH ,Freital,Herstellung von Papier, Karton und Pappe Papierfabrik Meldorf GmbH & Co. KG,Meldorf,Herstellung von Papier, Karton und Pappe Papierfabrik Meldorf GmbH & Co. KG,Tornesch,Herstellung von Papier, Karton und Pappe Papierfabrik Niederauer Mühle GmbH,Düren,Herstellung von Papier, Karton und Pappe Papierfabrik Niederauer Mühle GmbH,Kreuzau,Herstellung von Papier, Karton und Pappe Papierfabrik Palm GmbH & Co. KG,Aalen,Herstellung von Papier, Karton und Pappe Papierfabrik Palm GmbH & Co. KG,Wörth,Herstellung von Papier, Karton und Pappe Papierfabrik Palm GmbH & Co. KG,Eltmann,Herstellung von Papier, Karton und Pappe Papierfabrik Scheufelen GmbH + Co. KG,Lenningen,Herstellung von Papier, Karton und Pappe Papierfabrik Vreden GmbH ,Vreden,Herstellung von Papier, Karton und Pappe Papierwerke Lenk AG ,Kappelrodeck,Herstellung von Papier, Karton und Pappe PASM Power and Air Condition Solution Management GmbH & Co KG,Bamberg,Gas-, Wasser-, Heizungs- sowie Lüftungs- und Klimainstallation PASM Power and Air Condition Solution Management GmbH & Co KG,Berlin,Gas-, Wasser-, Heizungs- sowie Lüftungs- und Klimainstallation PASM Power and Air Condition Solution Management GmbH & Co KG,Bielefeld,Gas-, Wasser-, Heizungs- sowie Lüftungs- und Klimainstallation PASM Power and Air Condition Solution Management GmbH & Co KG,Bielefeld,Gas-, Wasser-, Heizungs- sowie Lüftungs- und Klimainstallation PASM Power and Air Condition Solution Management GmbH & Co KG,Darmstadt,Gas-, Wasser-, Heizungs- sowie Lüftungs- und Klimainstallation PASM Power and Air Condition Solution Management GmbH & Co KG,Düsseldorf,Gas-, Wasser-, Heizungs- sowie Lüftungs- und Klimainstallation PASM Power and Air Condition Solution Management GmbH & Co KG,Essen,Gas-, Wasser-, Heizungs- sowie Lüftungs- und Klimainstallation PASM Power and Air Condition Solution Management GmbH & Co KG,Frankfurt,Gas-, Wasser-, Heizungs- sowie Lüftungs- und Klimainstallation PASM Power and Air Condition Solution Management GmbH & Co KG,Frankfurt,Gas-, Wasser-, Heizungs- sowie Lüftungs- und Klimainstallation PASM Power and Air Condition Solution Management GmbH & Co KG,Göppingen,Gas-, Wasser-, Heizungs- sowie Lüftungs- und Klimainstallation PASM Power and Air Condition Solution Management GmbH & Co KG,Hamburg,Gas-, Wasser-, Heizungs- sowie Lüftungs- und Klimainstallation PASM Power and Air Condition Solution Management GmbH & Co KG,Hamburg,Gas-, Wasser-, Heizungs- sowie Lüftungs- und Klimainstallation PASM Power and Air Condition Solution Management GmbH & Co KG,Hannover,Gas-, Wasser-, Heizungs- sowie Lüftungs- und Klimainstallation PASM Power and Air Condition Solution Management GmbH & Co KG,Köln,Gas-, Wasser-, Heizungs- sowie Lüftungs- und Klimainstallation PASM Power and Air Condition Solution Management GmbH & Co KG,Magdeburg,Gas-, Wasser-, Heizungs- sowie Lüftungs- und Klimainstallation PASM Power and Air Condition Solution Management GmbH & Co KG,München,Gas-, Wasser-, Heizungs- sowie Lüftungs- und Klimainstallation PASM Power and Air Condition Solution Management GmbH & Co KG,München,Gas-, Wasser-, Heizungs- sowie Lüftungs- und Klimainstallation PASM Power and Air Condition Solution Management GmbH & Co KG,Münster,Gas-, Wasser-, Heizungs- sowie Lüftungs- und Klimainstallation PASM Power and Air Condition Solution Management GmbH & Co KG,Nürnberg,Gas-, Wasser-, Heizungs- sowie Lüftungs- und Klimainstallation PASM Power and Air Condition Solution Management GmbH & Co KG,Stuttgart,Gas-, Wasser-, Heizungs- sowie Lüftungs- und Klimainstallation PASM Power and Air Condition Solution Management GmbH & Co KG,Ulm,Gas-, Wasser-, Heizungs- sowie Lüftungs- und Klimainstallation PASM Power and Air Condition Solution Management GmbH & Co KG,Frankfurt,Gas-, Wasser-, Heizungs- sowie Lüftungs- und Klimainstallation PASM Power and Air Condition Solution Management GmbH & Co KG,Frankfurt,Gas-, Wasser-, Heizungs- sowie Lüftungs- und Klimainstallation PASM Power and Air Condition Solution Management GmbH & Co KG,Krefeld,Gas-, Wasser-, Heizungs- sowie Lüftungs- und Klimainstallation P-D Glasseiden GmbH Oschatz ,Oschatz,Herstellung von Glasfasern und Waren daraus Peiner Träger GmbH ,Peine,Erzeugung von Roheisen, Stahl und Ferrolegierungen Pelletsproduktion Sachsen GmbH,Löbau,Herstellung von Furnier-, Sperrholz-, Holzfaser- und Holzspanplatten Peppermint Holding GmbH ,Rodewisch,Weberei Performance Fibers GmbH ,Bad Hersfeld,Herstellung von Chemiefasern Perga-Plastic GmbH ,Walldürn,Herstellung von Platten, Folien, Schläuchen und Profilen aus Kunststoffen PET - Verpackungen GmbH Deutschland,Großbreitenbach,Herstellung von Verpackungsmitteln aus Kunststoffen Pfeifer Holz GmbH ,Unterbernbach,Säge-, Hobel- und Holzimprägnierwerke Pfeifer Holz GmbH ,Uelzen,Säge-, Hobel- und Holzimprägnierwerke Pfeifer Holz Lauterbach GmbH,Lauterbach,Säge-, Hobel- und Holzimprägnierwerke Pfleiderer Faserplattenwerk Baruth GmbH,Baruth,Herstellung von Furnier-, Sperrholz-, Holzfaser- und Holzspanplatten Pfleiderer Industrie GmbH ,Gütersloh,Herstellung von Furnier-, Sperrholz-, Holzfaser- und Holzspanplatten Pfleiderer Industrie GmbH ,Gütersloh,Herstellung von Furnier-, Sperrholz-, Holzfaser- und Holzspanplatten Pfleiderer Teisnach GmbH & Co. KG,Teisnach,Herstellung von Papier, Karton und Pappe Phoenix Zementwerke Krogbeumker GmbH & Co. KG,Beckum,Herstellung von Zement Plastikpack GmbH ,Steinheim- Bergheim,Herstellung von Verpackungsmitteln aus Kunststoffen Polimeri Europa GmbH ,Oberhausen,Herstellung von Kunststoffen in Primärformen Polyblend GmbH ,Bad Sobernheim,Herstellung von Kunststoffen in Primärformen Pöppelmann GmbH & Co. KG ,Lohne,Herstellung von Kunststoffwaren Pöppelmann GmbH & Co. KG ,Lohne,Herstellung von Kunststoffwaren Porcelaingres GmbH ,Vetschau,Herstellung von keramischen Wand- und Bodenfliesen und -platten Portlandzementwerk Wittekind Hugo Miebach Söhne KG,Erwitte,Herstellung von Zement Portlandzementwerk Wotan H. Schneider KG,Üxheim-Ahütte,Herstellung von Zement Portland-Zementwerke Gebr. Seibel GmbH & Co. KG,Erwitte,Herstellung von Zement Praxair Deutschland GmbH ,Hürth,Herstellung von Industriegasen Praxair Deutschland GmbH ,Dormagen,Herstellung von Industriegasen Praxair Deutschland GmbH ,Dillingen,Herstellung von Industriegasen Praxair Deutschland GmbH ,Biebesheim,Herstellung von Industriegasen Praxair Deutschland GmbH ,Rheinberg,Herstellung von Industriegasen Pressmetall Gunzenhausen GmbH & Co. KG,Gunzenhausen,Leichtmetallgießereien PRINOVIS Ltd. & Co. KG ,Dresden,Drucken a. n. g. PRINOVIS Ltd. & Co. KG ,Ahrensburg,Drucken a. n. g. ProdAL GmbH ,Gundelfingen,Herstellung von Industriegasen Pro-Pac Ostendorf Plastic Thermoformfolien und Verpackungen GmbH & Co. KG,Vechta,Herstellung von Kunststoffwaren Propapier PM1 GmbH ,Burg,Herstellung von Papier, Karton und Pappe Propapier PM2 GmbH ,Eisenhüttenstadt,Herstellung von Papier, Karton und Pappe purus Arzberg GmbH ,Arzberg,Herstellung von sonstigen Kunststoffwaren PV Crystalox Solar Silicon GmbH,Bitterfeld,Herstellung von sonstigen anorganischen Grundstoffen und Chemikalien QUICKPACK Haushalt + Hygiene GmbH,Düren,Herstellung von Verpackungsmitteln aus Kunststoffen Die Unternehmen R-T RAG Aktiengesellschaft ,Bottrop,Steinkohlenbergbau RAG Aktiengesellschaft ,Essen,Steinkohlenbergbau RAG Aktiengesellschaft ,Essen,Steinkohlenbergbau RAG Aktiengesellschaft ,Kamp-Lintfort,Steinkohlenbergbau RAG Aktiengesellschaft ,Hünxe,Steinkohlenbergbau RAG Aktiengesellschaft ,Kamp-Lintfort,Steinkohlenbergbau RAG Aktiengesellschaft ,Bottrop,Steinkohlenbergbau RAG Aktiengesellschaft ,Bottrop,Steinkohlenbergbau RAG Aktiengesellschaft ,Essen,Steinkohlenbergbau RAG Aktiengesellschaft ,Rheinberg,Steinkohlenbergbau RAG Aktiengesellschaft ,Hamm,Steinkohlenbergbau RAG Aktiengesellschaft ,Bergkamen,Steinkohlenbergbau RAG Aktiengesellschaft ,Bochum,Steinkohlenbergbau RAG Aktiengesellschaft ,Hamm,Steinkohlenbergbau RAG Aktiengesellschaft ,Marl,Steinkohlenbergbau RAG Aktiengesellschaft ,Haltern am See,Steinkohlenbergbau RAG Aktiengesellschaft ,Bergkamen,Steinkohlenbergbau RAG Aktiengesellschaft ,Bochum,Steinkohlenbergbau RAG Aktiengesellschaft ,Bottrop,Steinkohlenbergbau RAG Anthrazit Ibbenbüren GmbH,Ibbenbüren,Steinkohlenbergbau RAG Anthrazit Ibbenbüren GmbH,Ibbenbüren,Steinkohlenbergbau Raiffeisen Kraftfuttermittelwerk Dörpen GmbH,Dörpen,Herstellung von Futtermitteln für Nutztiere Raiffeisen Ölsaatenverarbeitungs GmbH,Kiel,Herstellung von Ölen und Fetten (ohne Margarine u.ä. Nahrungsfette) rail4chem Eisenbahnverkehrsges. mbH,Dortmund,Schienenbahn Rasselstein GmbH ,Andernach,Erzeugung von Roheisen, Stahl und Ferrolegierungen Rauch Spanplattenwerk GmbH ,Markt Bibart,Herstellung von Furnier-, Sperrholz-, Holzfaser- und Holzspanplatten Reinhard Tweer GmbH ,Bielefeld,Stahlgießereien REMONDIS PLANO GmbH ,Lünen,Herstellung von Kunststoffen in Primärformen REMONDIS PLANO GmbH ,Genthin,Herstellung von Kunststoffen in Primärformen Resopal GmbH ,Groß-Umstadt,Herstellung von Kunststoffwaren Rettenmeier Holzindustrie Hirschberg GmbH,Hirschberg,Säge-, Hobel- und Holzimprägnierwerke Rettenmeier Holzindustrie Wilburgstetten GmbH,Wilburgstetten,Säge-, Hobel- und Holzimprägnierwerke Rhein Papier GmbH ,Hürth,Herstellung von Papier, Karton und Pappe Rhein Papier GmbH ,Plattling,Herstellung von Papier, Karton und Pappe Rheinbahn AG ,Düsseldorf,Schienenbahn Rheinkalk GmbH ,Wülfrath,Herstellung von Kalk und gebranntem Gips Rheinkalk GmbH ,Menden,Herstellung von Kalk und gebranntem Gips Rhein-Neckar-Verkehr GmbH ,Mannheim,Schienenbahn RheinPerChemie GmbH ,Rheinfelden,Herstellung von sonstigen anorganischen Grundstoffen und Chemikalien Rheinzink Halbzeug GmbH ,Datteln,Erzeugung und erste Bearbeitung von Blei, Zink und Zinn RIBA Verpackungen GmbH ,Hamm,Herstellung von Verpackungsmitteln aus Kunststoffen RKW SE ,Kalefeld,Herstellung von Platten, Folien, Schläuchen und Profilen aus Kunststoffen RKW SE ,Gronau,Herstellung von Platten, Folien, Schläuchen und Profilen aus Kunststoffen Röben Klinkerwerke GmbH & Co. KG,Wiesenburg,Herstellung von Ziegeln und sonstiger Baukeramik Röben Tonbaustoffe GmbH ,Bad Zwischenahn,Herstellung von Ziegeln und sonstiger Baukeramik ROGESA Roheisengesellschaft Saar mbH,Dillingen,Erzeugung von Roheisen, Stahl und Ferrolegierungen Römheld & Moelle GmbH ,Mainz,Eisengießereien Roßbacher Kunststoff- verarbeitungs GmbH,Braunsbedra,Herstellung von Verpackungsmitteln aus Kunststoffen Rosti GP Germany GmbH ,Dresden,Herstellung von Verpackungsmitteln aus Kunststoffen Rostocker Straßenbahn AG ,Rostock,Schienenbahn RP Compounds GmbH ,Schkopau,Herstellung von Kunststoffen in Primärformen RPC Bebo Plastik GmbH ,Bremervörde,Herstellung von Kunststoffwaren RPC Bramlage Food GmbH ,Celle,Herstellung von Verpackungsmitteln aus Kunststoffen RPC Verpackungen Kutenholz GmbH,Kutenholz,Herstellung von Verpackungsmitteln aus Kunststoffen Ruhr Oel GmbH ,Gelsenkirchen,Mineralölverarbeitung Ruhr Oel GmbH ,Gelsenkirchen,Mineralölverarbeitung RUWEL International GmbH ,Geldern,Herstellung von elektronischen Bauelementen RW silicium GmbH ,Pocking,Herstellung von sonstigen anorganischen Grundstoffen und Chemikalien Saarstahl AG ,Völklingen,Erzeugung von Roheisen, Stahl und Ferrolegierungen Saarstahl AG ,Neunkirchen,Erzeugung von Roheisen, Stahl und Ferrolegierungen Saarstahl AG ,Saarbrücken,Erzeugung von Roheisen, Stahl und Ferrolegierungen SABIC Polyolefine GmbH ,Gelsenkirchen,Herstellung von Kunststoffen in Primärformen Sachsenmilch Leppersdorf GmbH,Wachau,Milchverarbeitung (ohne Herstellung von Speiseeis) Sachsenmilch Molkenveredlungs GmbH,Wachau,Milchverarbeitung (ohne Herstellung von Speiseeis) Sägewerk Schwaiger GmbH & Co. KG,Hengersberg,Säge-, Hobel- und Holzimprägnierwerke Saier Verpackungstechnik GmbH & Co. KG,Alpirsbach-Peterzell,Herstellung von Verpackungsmitteln aus Kunststoffen Saint Gobain Oberland AG ,Bad Wurzach,Herstellung von Hohlglas Saint Gobain Oberland AG ,Neuburg,Herstellung von Hohlglas Saint Gobain Oberland AG ,Essen,Herstellung von Hohlglas Saint Gobain Oberland AG ,Wirges,Herstellung von Hohlglas Saint-Gobain Glass Deutschland GmbH,Stolberg,Herstellung von Flachglas Saint-Gobain Glass Deutschland GmbH,Herzogenrath,Herstellung von Flachglas Saint-Gobain Glass Deutschland GmbH,Köln-Porz,Herstellung von Flachglas Saint-Gobain Glass Deutschland GmbH,Mannheim,Herstellung von Flachglas Salamander Bonded Leather GmbH & Co. KG,Türkheim,Herstellung von Leder und Lederfaserstoff, Zurichtung und Färben von Fellen Sandoz Industrial Products GmbH,Frankfurt,Herstellung von pharmazeutischen Grundstoffen Sappi Alfeld GmbH ,Alfeld,Herstellung von Papier, Karton und Pappe Sappi Ehingen GmbH ,Ehingen,Herstellung von Papier, Karton und Pappe Sappi Stockstadt GmbH ,Stockstadt,Herstellung von Papier, Karton und Pappe Sasol Solvents Germany GmbH ,Herne,Herstellung von Industriegasen Sasol-Huntsman GmbH & Co. KG ,Moers,Herstellung von Industriegasen Sauerländer Spanplatten GmbH & Co. KG,Arnsberg,Herstellung von Furnier-, Sperrholz-, Holzfaser- und Holzspanplatten Sauerstoffwerk Friedrichshafen GmbH,Friedrichshafen,Herstellung von Industriegasen S-Bahn Berlin GmbH ,Berlin,Schienenbahn S-Bahn Hamburg GmbH ,Hamburg,Schienenbahn SBB Cargo Deutschland GmbH ,Duisburg,Schienenbahn SBS CoreTech GmbH ,Drebach,Spinnstoffaufbereitung und Spinnerei SCA Hygiene Products GmbH ,Mannheim,Herstellung von Haushalts-, Hygiene- und Toilettenartikeln aus Zellstoff, Papier und Pappe SCA Hygiene Products GmbH Neuss,Neuss,Herstellung von Haushalts-, Hygiene- und Toilettenartikeln aus Zellstoff, Papier und Pappe SCA Hygiene Products GmbH Wiesbaden,Mainz-Kostheim,Herstellung von Papier, Karton und Pappe SCA Hygiene Products GmbH Witzenhausen,Witzenhausen,Herstellung von Haushalts-, Hygiene- und Toilettenartikeln aus Zellstoff, Papier und Pappe SCA Packaging Containerboard Deutschland GmbH,Witzenhausen,Herstellung von Papier, Karton und Pappe Schaeffler Technologies GmbH & Co. KG,Schweinfurt,Herstellung von sonstigen Metallwaren a. n. g. Schlenk Metallic Pigments GmbH,Neuhaus,Erzeugung und erste Bearbeitung von Aluminium Schmiedeberger Gießerei GmbH ,Schmiedeberg,Eisengießereien Schmiedetechnik Plettenberg GmbH & Co. KG,Plettenberg,Herstellung von Schmiede-, Press-, Zieh- und Stanzteilen, gewalzten Ringen und pulvermetallurgischen Erzeugnissen Schmiedetechnik Plettenberg GmbH & Co. KG,Plettenberg,Herstellung von Schmiede-, Press-, Zieh- und Stanzteilen, gewalzten Ringen und pulvermetallurgischen Erzeugnissen Schne-frost Ernst Schnetkamp GmbH & Co. KG,Löningen,Obst- und Gemüseverarbeitung Schoeller Technocell GmbH & Co. KG,Osnabrück,Herstellung von Papier, Karton und Pappe Schoeller Technocell GmbH & Co. KG,Penig,Herstellung von Papier, Karton und Pappe Schoeller Technocell GmbH & Co. KG,Titisee-Neustadt,Herstellung von Papier, Karton und Pappe Schoeller Technocell GmbH & Co. KG,Titisee-Neustadt,Herstellung von Papier, Karton und Pappe Schönfelder Papierfabrik GmbH ,Annaberg-Buchholz,Herstellung von Papier, Karton und Pappe SCHOTT Technical Glass Solutions GmbH,Jena,Herstellung von Flachglas Schraubenwerk Zerbst GmbH ,Zerbst,Herstellung von Schrauben und Nieten Schüco TF GmbH & Co. KG ,Großröhrsdorf,Herstellung von elektronischen Bauelementen Schuller GmbH ,Wertheim,Herstellung von Glasfasern und Waren daraus Schumacher Packaging GmbH,Schwarzenberg,Herstellung von Papier, Karton und Pappe Schwäbische Härtetechnik Ulm GmbH & Co. KG,Ulm,Oberflächenveredlung und Wärmebehandlung SCHWENK Dämmtechnik GmbH & Co. KG,Bernburg,Herstellung von sonstigen chemischen Erzeugnissen a. n. g. Schwenk Zement KG ,Allmendingen,Herstellung von Zement Schwenk Zement KG ,Bernburg,Herstellung von Zement Schwenk Zement KG ,Karlstadt,Herstellung von Zement Schwenk Zement KG ,Heidenheim,Herstellung von Zement Schwering & Hasse Elektrodraht GmbH,Lügde,Erzeugung und erste Bearbeitung von Kupfer Schwermetall Halbzeugwerk GmbH & Co. KG,Stolberg,Erzeugung und erste Bearbeitung von Kupfer SchwörerHaus KG ,Hohenstein-Oberstetten,Herstellung von sonstigen Konstruktionsteilen, Fertigbauteilen, Ausbauelementen und Fertigteilbauten aus Holz SE Tylose GmbH & Co. KG ,Wiesbaden,Herstellung von Kunststoffen in Primärformen Sebald Zement GmbH ,Pommelsbrunn,Herstellung von Zement Seibel u. Söhne GmbH & Co. KG ,Erwitte,Herstellung von Zement Seissenschmidt AG ,Plettenberg,Herstellung von Schmiede-, Press-, Zieh- und Stanzteilen, gewalzten Ringen und pulvermetallurgischen Erzeugnissen Sensitec GmbH ,Mainz,Herstellung von sonstigen elektrischen Ausrüstungen und Geräten a. n. g. SGL Carbon GmbH ,Bonn,Herstellung von sonstigen Erzeugnissen aus nichtmetallischen Mineralien a. n. g. SGL Carbon GmbH ,Frankfurt,Herstellung von sonstigen elektrischen Ausrüstungen und Geräten a. n. g. SGL Carbon GmbH ,Meitingen,Herstellung von sonstigen elektrischen Ausrüstungen und Geräten a. n. g. SHB Stahl- und Hartgusswerk Bösdorf GmbH,Leipzig,Stahlgießereien SHW Casting Technologies GmbH,Aalen-Wasseralfingen,Eisengießereien Sicherheitsglastechnik Oelsnitz GmbH,Oelsnitz,Veredlung und Bearbeitung von Flachglas sicht-Pack Hagner GmbH ,Dornstetten,Herstellung von Platten, Folien, Schläuchen und Profilen aus Kunststoffen Siemens Gusstechnik GmbH ,Wittgensdorf,Eisengießereien Siempelkamp Giesserei GmbH ,Krefeld,Eisengießereien SILTRONIC AG ,Burghausen,Herstellung von elektronischen Bauelementen und Leiterplatten SILTRONIC AG ,Freiberg,Herstellung von elektronischen Bauelementen und Leiterplatten SKW Stickstoffwerke Piesteritz GmbH,Lutherstadt Wittenberg,Herstellung von Düngemitteln und Stickstoffverbindungen SLR-Eisenwerk Martinlamitz GmbH,Schwarzenbach a d Saale,Eisengießereien SLR-Elsterheide GmbH ,Elsterheide,Eisengießereien Smurfit Kappa Viersen Papier GmbH,Viersen,Herstellung von Papier, Karton und Pappe Sodawerk Staßfurt GmbH & Co. KG,Staßfurt,Herstellung von sonstigen anorganischen Grundstoffen und Chemikalien SOL S.p.A.Deutschland Zweigniederlassung der SOL S.p.A.,Frankfurt,Herstellung von Industriegasen Solnhofer Portland-Zementwerke GmbH & Co. KG,Solnhofen,Herstellung von Zement Solvay & CPC Barium Strontium GmbH & Co. KG,Bad Hönningen,Herstellung von sonstigen anorganischen Grundstoffen und Chemikalien Solvay Fluor GmbH ,Bad Wimpfen,Herstellung von sonstigen anorganischen Grundstoffen und Chemikalien SONA BLW  Präzisionsschmiede GmbH,Remscheid,Herstellung von Lagern, Getrieben, Zahnrädern und Antriebselementen SONA BLW  Präzisionsschmiede GmbH,Duisburg,Herstellung von Lagern, Getrieben, Zahnrädern und Antriebselementen SONOCO Deutschland GmbH ,Nordhorn,Herstellung von Papier, Karton und Pappe Southwall Europe GmbH ,Großröhrsdorf,Herstellung von Platten, Folien, Schläuchen und Profilen aus Kunststoffen SP Spezialglas Piesau GmbH ,Piesau,Herstellung von Hohlglas Spenner Zement GmbH & Co. KG ,Erwitte,Herstellung von Zement Spezialpapierfabrik Oberschmitten GmbH,Nidda-Oberschmitten,Herstellung von Papier, Karton und Pappe Spinnweberei Uhingen GmbH ,Waldkirch,Spinnstoffaufbereitung und Spinnerei Sprick GmbH Bielefelder Papier- und Wellpappenwerke & Co.,Diemelstadt,Herstellung von Wellpapier und -pappe sowie von Verpackungsmitteln aus Papier, Karton und Pappe SR Schwarzataler Recycling GmbH,Eisfeld,Herstellung von Kunststoffen in Primärformen Stadtwerke Augsburg Verkehrs-GmbH,Augsburg,Schienenbahn Stadtwerke Bonn Verkehrs GmbH ,Bonn,Schienenbahn Stadtwerke München GmbH Unternehmensbereich Verkehr,München,Schienenbahn Stadtwerke Verkehrsgesellschaft Frankfurt am Main mbH,Frankfurt,Schienenbahn Stahlwerk Bous GmbH ,Bous,Erzeugung von Roheisen, Stahl und Ferrolegierungen Stahlwerk Thüringen GmbH ,Unterwellenborn,Erzeugung von Roheisen, Stahl und Ferrolegierungen STEAG New Energies GmbH ,Saarbrücken,Elektrizitätsversorgung Steinbeis Papier GmbH ,Glückstadt,Herstellung von Papier, Karton und Pappe STFG Filamente GmbH ,Rudolstadt,Herstellung von Chemiefasern Stora Enso Kabel GmbH & Co. KG ,Hagen,Herstellung von Papier, Karton und Pappe Stora Enso Maxau GmbH ,Karlsruhe,Herstellung von Papier, Karton und Pappe Stora Enso Uetersen GmbH ,Uetersen,Herstellung von Papier, Karton und Pappe Stuttgarter Straßenbahnen AG ,Stuttgart,Schienenbahn Südbayerisches Portland - Zementwerk Gebr. Wiesböck & Co. GmbH,Rohrdorf,Herstellung von Zement Südsalz GmbH ,Bad Reichenhall,Gewinnung von Salz Sundwiger Messingwerk GmbH & Co. KG,Hemer,Erzeugung und erste Bearbeitung von Kupfer TAKATA-PETRI PlasTec GmbH,Bad Kissingen,Herstellung von sonstigen Kunststoffwaren Technische Glaswerke Ilmenau GmbH,Ilmenau,Herstellung, Veredlung und Bearbeitung von sonstigem Glas einschließlich technischen Glaswaren TGHM GmbH & Co. KG ,Dortmund,Herstellung von Industriegasen Thermopal GmbH ,Leutkirch,Herstellung von Furnier-, Sperrholz-, Holzfaser- und Holzspanplatten Thüringer Behälterglas GmbH Schleusingen,Schleusingen,Herstellung von Hohlglas Thüringer Hygiene Papier GmbH ,Schmalkalden,Herstellung von Haushalts-, Hygiene- und Toilettenartikeln aus Zellstoff, Papier und Pappe ThyssenKrupp Electrical Steel GmbH,Bochum,Oberflächenveredlung und Wärmebehandlung ThyssenKrupp Electrical Steel GmbH,Gelsenkirchen,Oberflächenveredlung und Wärmebehandlung ThyssenKrupp Nirosta GmbH ,Krefeld,Erzeugung von Roheisen, Stahl und Ferrolegierungen ThyssenKrupp Nirosta GmbH ,Bochum,Erzeugung von Roheisen, Stahl und Ferrolegierungen ThyssenKrupp Steel Europe AG ,Dortmund,Erzeugung von Roheisen, Stahl und Ferrolegierungen ThyssenKrupp Steel Europe AG ,Bochum,Erzeugung von Roheisen, Stahl und Ferrolegierungen ThyssenKrupp Steel Europe AG ,Bochum,Erzeugung von Roheisen, Stahl und Ferrolegierungen ThyssenKrupp Steel Europe AG ,Neuwied,Erzeugung von Roheisen, Stahl und Ferrolegierungen ThyssenKrupp Steel Europe AG ,Dortmund,Erzeugung von Roheisen, Stahl und Ferrolegierungen ThyssenKrupp Steel Europe AG ,Bochum,Erzeugung von Roheisen, Stahl und Ferrolegierungen ThyssenKrupp VDM GmbH ,Werdohl,Erzeugung und erste Bearbeitung von sonstigen NE-Metallen ThyssenKrupp VDM GmbH ,Unna,Erzeugung und erste Bearbeitung von sonstigen NE-Metallen ThyssenKrupp Xervon Utilities GmbH,Köln,Wärme- und Kälteversorgung ThyssenKrupp Xervon Utilities GmbH,Münchsmünster,Wärme- und Kälteversorgung Toho Tenax Europe GmbH ,Heinsberg,Herstellung von sonstigen Erzeugnissen aus nichtmetallischen Mineralien a. n. g. TOKAI ERFTCARBON GmbH ,Grevenbroich,Herstellung von sonstigen Erzeugnissen aus nichtmetallischen Mineralien a. n. g. Treibacher Schleifmittel GmbH ,Laufenburg,Herstellung von sonstigen Erzeugnissen aus nichtmetallischen Mineralien a. n. g. Treibacher Schleifmittel Zschornewitz GmbH,Zschornewitz,Herstellung von sonstigen Erzeugnissen aus nichtmetallischen Mineralien a. n. g. Trevira GmbH ,Guben,Herstellung von Chemiefasern Trevira GmbH ,Bobingen,Herstellung von Chemiefasern TRIDELTA Hartferrite GmbH ,Hermsdorf,Herstellung von keramischen Erzeugnissen für sonstige technische Zwecke TRIMET ALUMINIUM AG ,Essen,Erzeugung und erste Bearbeitung von Aluminium TRIMET ALUMINIUM AG ,Hamburg,Erzeugung und erste Bearbeitung von Aluminium TRIMET ALUMINIUM AG ,Harzgerode,Erzeugung und erste Bearbeitung von Aluminium Trompetter Guss Chemnitz GmbH,Chemnitz,Eisengießereien Trompetter Guss GmbH & Co. KG,Bindlach,Eisengießereien TSR Recycling GmbH & Co. KG ,Duisburg,Rückgewinnung sortierter Werkstoffe TSW Trierer Stahlwerk GmbH ,Trier,Erzeugung von Roheisen, Stahl und Ferrolegierungen TWD Fibres GmbH ,Deggendorf,Spinnstoffaufbereitung und Spinnerei TX Logistik AG ,Bad Honnef,Schienenbahn Die Unternehmen U-W Uckermärker Milch GmbH ,Prenzlau,Milchverarbeitung Uniplast Knauer GmbH & Co. KG ,Dettingen,Herstellung von Verpackungsmitteln aus Kunststoffen Uniplast Knauer GmbH & Co. KG ,Dettingen,Herstellung von Verpackungsmitteln aus Kunststoffen Uniplast Merseburg GmbH ,Merseburg,Herstellung von Kunststoffwaren United Initiators GmbH & Co. KG,Pullach,Herstellung von sonstigen anorganischen Grundstoffen und Chemikalien Unitherm Baruth GmbH ,Baruth,Wärme- und Kälteversorgung Universitätsenergie Göttingen GmbH,Göttingen,Elektrizitätsverteilung UNIWHEELS Production (Germany) GmbH,Werdohl,Herstellung von sonstigen Teilen und sonstigem Zubehör für Kraftwagen UPM GmbH ,Augsburg,Herstellung von Papier, Karton und Pappe UPM GmbH ,Schongau,Herstellung von Papier, Karton und Pappe UPM GmbH ,Schwedt,Herstellung von Papier, Karton und Pappe URSA Deutschland GmbH ,Delitzsch,Herstellung von Glasfasern und Waren daraus URSA Deutschland GmbH ,Queis,Herstellung von Glasfasern und Waren daraus Üstra Hannoversche Verkehrsbetriebe AG,Hannover,Schienenbahn UTT Technische Textilien GmbH & Co. KG,Krumbach,Herstellung von sonstigen Textilwaren a. n. g. VAG Verkehrs AG Nürnberg ,Nürnberg,Schienenbahn Varioboard GmbH ,Magdeburg,Herstellung von Furnier-, Sperrholz-, Holzfaser- und Holzspanplatten Vattenfall Europe Mining AG ,Heinersbrück,Braunkohlenbergbau Vattenfall Europe Mining AG ,Heinersbrück,Braunkohlenbergbau Vattenfall Europe Mining AG ,Trebendorf-Mühlrose,Braunkohlenbergbau Vattenfall Europe Mining AG ,Boxberg,Braunkohlenbergbau Vattenfall Europe Mining AG ,Welzow,Braunkohlenbergbau Vattenfall Europe Mining AG ,Spremberg,Braunkohlenbergbau VB Autobatterie GmbH & Co. KGaA,Hannover,Herstellung von Batterien und Akkumulatoren VBK-Verkehrsbetriebe Karlsruhe GmbH,Karlsruhe,Schienenbahn VELENER TEXTIL GmbH ,Velen,Weberei VERBIO Ethanol Schwedt GmbH &. Co KG,Schwedt,Herstellung von sonstigen chemischen Erzeugnissen a. n. g. VERBIO Ethanol Zörbig GmbH & Co. KG,Zörbig,Herstellung von sonstigen chemischen Erzeugnissen a. n. g. Vereinigte Kreidewerke Dammann KG,Söhlde,Gewinnung von Naturwerksteinen und Natursteinen, Kalk- und Gipsstein, Kreide und Schiefer Vereinigte Kreidewerke Dammann KG,Lägerdorf,Gewinnung von Naturwerksteinen und Natursteinen, Kalk- und Gipsstein, Kreide und Schiefer Verpa Folie Gunzenhausen GmbH,Gunzenhausen,Herstellung von Platten, Folien, Schläuchen und Profilen aus Kunststoffen VESTOLIT GmbH & Co. KG ,Marl,Herstellung von Kunststoffen in Primärformen Vinnolit GmbH & Co. KG ,Burghausen,Herstellung von Kunststoffen in Primärformen Vinnolit GmbH & Co. KG ,Burgkirchen,Herstellung von Kunststoffen in Primärformen Vinnolit GmbH & Co. KG ,Hürth,Herstellung von Kunststoffen in Primärformen Vinnolit GmbH & Co. KG ,Köln,Herstellung von Kunststoffen in Primärformen Vinnolit Schkopau GmbH ,Schkopau,Herstellung von Kunststoffen in Primärformen VION Emstek GmbH ,Emstek,Schlachten und Fleischverarbeitung ViP Verkehrsbetrieb Potsdam GmbH,Potsdam,Schienenbahn Voerde Aluminium GmbH ,Voerde,Erzeugung und erste Bearbeitung von Aluminium Vogt-Plastic GmbH ,Rickenbach,Rückgewinnung sortierter Werkstoffe VS Guss Aktiengesellschaft ,Solingen,Eisengießereien W. u. H. Fernholz GmbH & Co. KG,Meinerzhagen,Herstellung von Verpackungsmitteln aus Kunststoffen Walter Hundhausen GmbH ,Schwerte,Eisengießereien Walther-Glas Deutschland GmbH ,Bad Driburg- Siebenstern,Herstellung von Hohlglas WALZEN IRLE GmbH ,Netphen,Herstellung von sonstigen nicht wirtschaftszweigspezifischen Maschinen a. n. g. Walzengießerei Coswig GmbH ,Coswig,Eisengießereien Waskönig + Walter Kabel-Werk GmbH & Co. KG,Saterland,Herstellung von sonstigen elektronischen und elektrischen Drähten und Kabeln Wasserwerke Westfalen GmbH ,Schwerte,Wasserversorgung Weck Glaswerk GmbH ,Bonn,Herstellung von Hohlglas WEG Weser-Ems Erfrischungsgetränke GmbH,Löningen,Herstellung von Erfrischungsgetränken, Gewinnung natürlicher Mineralwässer Weimarer Wurstwaren GmbH ,Nohra,Schlachten und Fleischverarbeitung Wepa Hygieneprodukte GmbH ,Arnsberg,Herstellung von Papier, Karton und Pappe Wepa Hygieneprodukte GmbH ,Marsberg,Herstellung von Papier, Karton und Pappe Wepa Hygieneprodukte GmbH ,Mainz,Herstellung von Papier, Karton und Pappe WEPA Leuna GmbH ,Spergau,Herstellung von Papier, Karton und Pappe WEPA Papierfabrik Sachsen GmbH,Kriebstein,Herstellung von Papier, Karton und Pappe Werhahn Mühlen GmbH & Co. KG,Mannheim,Mahl- und Schälmühlen Werra Papier Wernshausen GmbH ,Wernshausen,Herstellung von Haushalts-, Hygiene- und Toilettenartikeln aus Zellstoff, Papier und Pappe Westfalen Industriegase GmbH ,Hörstel,Herstellung von Industriegasen Westfalen Industriegase GmbH ,Laichingen,Herstellung von Industriegasen WEWATEC GmbH ,Wackersdorf,Rückgewinnung sortierter Werkstoffe wheyco GmbH ,Altentreptow,Milchverarbeitung Wieland-Werke AG ,Vöhringen,Erzeugung und erste Bearbeitung von Kupfer Wiesenhof Geflügelspezialitäten GmbH & Co. KG,Lohne,Schlachten von Geflügel WIESENHOF-Geflügel Möckern GmbH,Möckern,Schlachten von Geflügel Wilhelm Alte GmbH ,Plettenberg,Oberflächenveredlung und Wärmebehandlung Wilmar Edible Oils GmbH ,Brake,Herstellung von Ölen und Fetten (ohne Margarine u.ä. Nahrungsfette) wodego GmbH ,Neumarkt,Herstellung von Furnier-, Sperrholz-, Holzfaser- und Holzspanplatten Die Unternehmen X-Z Xentrys Leuna GmbH ,Leuna,Spinnstoffaufbereitung und Spinnerei X-FAB Dresden GmbH & Co. KG ,Dresden,Herstellung von elektronischen Bauelementen und Leiterplatten Xstrata Zink GmbH ,Nordenham,Erzeugung und erste Bearbeitung von Blei, Zink und Zinn YARA Brunsbüttel GmbH ,Büttel,Herstellung von Düngemitteln und Stickstoffverbindungen YARA Industrial GmbH ,Dormagen,Herstellung von Industriegasen Zement- und Kalkwerke Otterbein GmbH & Co. KG,Großenlüder,Herstellung von Zement Zementwerk Lübeck GmbH & Co. KG,Lübeck,Herstellung von Zement Zentralkokerei Saar GmbH ,Dillingen,Kokerei ZMV Mecklenburg-Vorpommern GmbH,Dargun,Milchverarbeitung (ohne Herstellung von Speiseeis) Zweckverband Abfallbehandlung Nuthe-Spree (ZAB),Königs Wusterhausen,Behandlung und Beseitigung nicht gefährlicher Abfälle Zweckverband Bodensee-Wasserversorgung,Sipplingen,Wasserversorgung Zweckverband Landeswasserversorgung Stuttgart,Langenau,Wasserversorgung Zweckverband Landeswasserversorgung Stuttgart,Dischingen,Wasserversorgung
Til Knipper
Alle Deutschen zahlen die Ökoumlage, mit der der Umstieg auf die erneuerbaren Energien finanziert wird. Am 1. Januar ist die EEG-Umlage 5,3 Prozent gestiegen. Nur viele Unternehmen zahlen nicht. Mittlerweile sind es mehr als 2000. Mehr und mehr Unternehmen kommen um die Ökostrom­umlage herum – vom Zeitungsverlag bis zum Salami-Hersteller
[]
wirtschaft
2013-01-23T17:29:57+0100
2013-01-23T17:29:57+0100
https://www.cicero.de//wirtschaft/diese-unternehmen-sind-von-der-oeko-strom-umlage-befreit/53249
Hamas und Israel vereinbaren Feuerpause - Geiseln gegen Häftlinge
Die islamistische Hamas und Israel haben sich nach Darstellung Katars auf eine viertägige Feuerpause und den Austausch von 50 Geiseln gegen palästinensische Gefangene geeinigt. Der Beginn der Kampfpause werde innerhalb von 24 Stunden bekannt gegeben, teilte das Außenministerium des Golfemirats am Mittwochmorgen mit. Der Vereinbarung nach sollen mit der „humanitären Pause“ auch eine „größere Zahl“ an Hilfskonvois sowie mehr Treibstoff in den Gazastreifen kommen. Die Hamas soll dem Deal zufolge 50 Frauen und Minderjährige unter den rund 240 Geiseln freilassen, die beim Terrorangriff am 7. Oktober aus Israel verschleppt wurden. Im Gegenzug soll eine nach Angaben Katars noch unbestimmte Zahl an weiblichen und minderjährigen Gefangenen aus israelischen Gefängnissen entlassen werden. Laut Hamas handelt es sich um 150 Häftlinge, die freikommen sollen. Einem Bericht der Times of Israel zufolge sollen die freizulassenden palästinensischen Häftlinge in die jeweilige Stadt oder Ortschaft zurückkehren, „in der sie vor ihrer Inhaftierung lebten, einschließlich im Westjordanland und in Ost-Jerusalem“. Bei den freizulassenden Geiseln soll es sich israelischen Medien zufolge um 30 Kinder, acht Mütter sowie zwölf ältere Frauen handeln. Die Feuerpause könnte nach Angaben Katars verlängert werden. Für jeden zusätzlichen Tag müsste die Hamas der israelischen Regierung zufolge zehn weitere Geiseln freilassen. Israel geht davon aus, dass so insgesamt 80 Geiseln freikommen könnten. Regierungschef Netanjahu betonte jedoch, dass der Krieg auch nach der Umsetzung des Abkommens fortgeführt werde, „bis wir alle unsere Ziele erreicht haben“. Mehr zum Thema: Israels Regierung hatte der mehrtägigen Feuerpause in der Nacht zu Mittwoch im Gegenzug für die Freilassung von israelischen Geiseln zugestimmt. Das israelische Kabinett billigte die entsprechende Vereinbarung mit der Hamas, wie ein Regierungssprecher bestätigte. Die Hamas hatte erklärt, ihre Zustimmung an die Vermittler in Ägypten und Katar übermittelt zu haben. Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu zufolge soll das Rote Kreuz zudem Zugang zu den restlichen Geiseln bekommen. In Israel wird erwartet, dass die schrittweise Freilassung der 50 Geiseln bereits am Donnerstag beginnen könnte. An jedem Tag der Kampfpause sollen Medienberichten zufolge zwischen zehn und 13 Geiseln freikommen. Über sechs Stunden täglich soll demnach die Luftüberwachung des Militärs über dem Gazastreifen eingestellt werden. Die Vereinbarung ist ein möglicher Lichtblick im seit sechs Wochen anhaltenden Gaza-Krieg. Sie gibt ein wenig Hoffnung für einige der Geiseln, die Hamas-Terroristen bei ihrem verheerenden Überraschungsangriff am 7. Oktober verschleppt hatten. Und sie könnte der Zivilbevölkerung im Gazastreifen zumindest einige Tage ohne Kampfhandlungen verschaffen. Katar sowie Ägypten hatten in Absprache mit den USA in den vergangenen Wochen zwischen Israel und der Hamas vermittelt. Vor allem Katar hat sehr gute Kontakte zur Hamas, in dem Emirat am Golf lebt auch die Hamas-Führungsspitze. Katars Ministerpräsident und Außenminister Mohammed bin Abdulrahman Al Thani hatte erst am Sonntag gesagt, die Hürden vor einem Deal seien nur noch sehr niedrig und die offenen „Knackpunkte eher praktisch und logistisch“. Terroristen der Islamistenorganisation Hamas hatten am 7. Oktober im Süden von Israel Massaker mit rund 1200 Todesopfern verübt. Israels Militär flog daraufhin zahlreiche Luftangriffe auf den Gazastreifen und rückte mit Bodentruppen in das abgeriegelte Küstengebiet ein. Wegen der zivilen Opfer wächst international die Kritik am Vorgehen der israelischen Armee. Das israelische Militär wirft der Hamas wiederum vor, Angriffe aus Wohngebieten und Krankenhäusern heraus zu verüben und Zivilisten als menschliche Schutzschilde zu missbrauchen. Von den 240 Verschleppten wurden seit Kriegsbeginn bislang vier weibliche Geiseln von der Hamas freigelassen. Eine junge Soldatin konnte vom Militär befreit werden. Die Armee fand zudem die Leichen zweier Frauen. Unter den Entführten sind zahlreiche Ausländer und Doppelstaatsbürger, darunter mehrere Deutsche. Wie viele noch am Leben sind, ist unklar. dpa
Cicero-Redaktion
Über Wochen versuchte Katar, im Gaza-Krieg zumindest eine mehrtägige Feuerpause und die Freilassung einiger Geiseln zu vermitteln. Jetzt gibt es einen Durchbruch. Für die Geiseln und ihre Angehörigen ist es ein möglicher Lichtblick.
[ "Israel", "Gaza", "Hamas", "Geiselhaft" ]
außenpolitik
2023-11-22T11:13:17+0100
2023-11-22T11:13:17+0100
https://www.cicero.de//aussenpolitik/israel-gaza-hamas-geiselhaft
Bildungserfolg unter Migranten - Warum asiatische Kinder so erfolgreich sind
Dass Deutschland ein Einwanderungsland ist, lässt sich an den Bevölkerungsdaten ablesen. Zwischen 2011 und 2020 stieg die Zahl der Ausländer in Deutschland von 6,3 Millionen auf den bisherigen Höchststand von 10,6 Millionen. Das entspricht einem Bevölkerungsanteil von 12,7 Prozent. Die Zahl der Menschen mit Migrationshintergrund ist noch einmal deutlich höher: Im Jahr 2020 hatten 21,9 Millionen der insgesamt 81,9 Millionen Einwohner in Deutschland eine Einwanderergeschichte (Zugewanderte und ihre Nachkommen). Das entspricht einem Anteil von 26,7 Prozent an der Gesamtbevölkerung. Die Zahl der Kinder mit Migrationsgeschichte ist naturgemäß noch höher, weil Nichtdeutsche im Durchschnitt mehr Kinder haben als geborene Deutsche. 2019 hatten 5,3 Millionen Kinder unter 18 Jahren einen Migrationshintergrund, das entspricht einem Anteil an der gesamten Jugendpopulation von 39 Prozent. In den Schulen unserer Großstädte sitzt in den Klassen ein buntes Völkergemisch, auf den Pausenhöfen erklingt ein vieltöniges Sprachengewirr. Da sich Zugewanderte gerne dort ansiedeln, wo schon Angehörige ihrer Nation oder ihrer Ethnie wohnen, haben sich städtische Wohnquartiere herausgebildet, die von ausländischen Communities dominiert werden. Manche Quartiere sind zu Gettos verkommen, weil sich nicht alle Zugewanderten unserer Kultur der Ordnung und Disziplin verpflichtet fühlen. Dass viele Deutsche solche Wohnviertel verlassen, um sich in weniger belasteten Quartieren niederzulassen, verschärft die Lage noch. Ab und zu liest man in der Presse, dass eine Schule in einem sozialen Brennpunkt „kollabiert“ sei, weil die Lehrkräfte der chaotischen Situation nicht mehr Herr werden konnten. Ein Fall ging bundesweit durch die Presse. Im Schuljahr 2005/2006 forderte das Lehrerkollegium der Neuköllner Rütli-Schule die Berliner Schulverwaltung auf, die Schule zu schließen. Sie sähen sich nicht mehr in der Lage, der Gewalt der Schüler standzuhalten. Mit frischem Personal und einer neuen Pädagogik gelang schließlich die Rettung der Schule. In den Klassenzimmern unserer Schulen sitzen Schüler mit fremdländischen Wurzeln, die nie im Rampenlicht der Öffentlichkeit stehen. Sie schlagen sich nicht auf dem Pausenhof, sind nicht aufsässig und verstoßen auch nicht gegen die Regeln. Sie sind höflich, zuvorkommend und leistungsorientiert. Gemeint sind die Kinder asiatischer Eltern. In Deutschland leben zurzeit 2,46 Millionen Menschen mit asiatischen Wurzeln. Chinesen, Inder, Vietnamesen und Thais bilden unter ihnen die größten Gruppen. Oft habe ich im Lehrerzimmer Kollegen von asiatischen Schülern schwärmen hören, weil sie sich still und beharrlich, mit Fleiß und Ehrgeiz an die Leistungsspitze emporarbeiten. Die Zahlen sprechen für sich: Im Schuljahr 2013/2014 schafften 47,2 Prozent der deutschen und 64,4 Prozent der vietnamesischen Kinder den Sprung aufs Gymnasium. Ihr Anteil ist fünfmal so hoch wie der der türkischen Schüler. Mehr von Rainer Werner: Wie lässt sich dieser enorme Unterschied zwischen den ethnischen Gruppen erklären? Dieser Frage sind 2015 der Soziologe Bernhard Nauck von der Universität Chemnitz und der Erziehungswissenschaftler Birger Schnoor von der Universität Hamburg nachgegangen. In einer empirischen Studie untersuchten sie 720 deutsche, vietnamesische und türkische Familien. Um valide Ergebnisse zu erreichen, haben die Wissenschaftler nur Familien mit vergleichbarem Einkommen in die Studie einbezogen. Zu ihrer eigenen Überraschung konnten sie eine zuvor gehegte Vermutung ausschließen: Vietnamesische Eltern erziehen ihre Kinder keinesfalls strenger als deutsche oder türkische. Das gern gehegte Vorurteil „autoritärer Führungsstil gleich Bildungserfolg“ traf hier also nicht zu. Tiger Moms gibt es unter den Asiaten, die in Deutschland leben, offensichtlich nicht. Die Forscher fanden heraus, dass vietnamesische Eltern vor allem höhere Erwartungen an ihre Kinder hegen, als dies bei deutschen und türkischen Eltern der Fall ist. Schon beim geringsten Nachlassen bei den Leistungen spornen sie ihre Sprösslinge an. Auch Nachhilfe wird gerne bezahlt, damit sich die Leistungen wieder verbessern. Für den Soziologen Bernhard Nauck stehen die Vietnamesen für ein wichtiges Gesetz der Migration: „Migranten sind aufstiegsorientiert, sonst wären sie nämlich nicht gewandert; Bildung ist dabei die einzige Karte, auf die sie wirklich setzen können.“ Andere Bildungswissenschaftler, die über den Schulerfolg vietnamesischer Kinder in Deutschland forschen, betonen, dass es vor allem die bei uns nicht mehr hoch angesehenen Sekundärtugenden seien, die den Erfolg der Kinder verbürgen: Fleiß und Disziplin. Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass die Vietnamesen einen Begriff wiederbelebt haben, der aus unserem didaktischen Vokabular weitgehend verschwunden ist: Fleiß. Die moderne Didaktik betont, Unterricht müsse vor allem spannend sein und Spaß machen. Die Eigenanstrengung beim Lernen blendet sie gerne aus. Fortschrittliche Medienvertreter spielen dieses Spiel allzu gerne mit. Der Journalist Christian Füller hat in seinem Elternratgeber „Muss mein Kind aufs Gymnasium“ (2018) die Bespaßung der Schüler zum entscheidenden Paradigma der „modernen“ Schule erklärt. Suggestiv fragt er die Eltern: „Sie wollen, dass Ihr Kind mit mehr Spaß lernt, also ohne Druck?“ Unter Druck versteht er das Leistungsprinzip, das in der Schule unverzichtbar ist, wenn man auf vernünftige Lernergebnisse überhaupt noch Wert legt. Wenn Spaß die höchste didaktische Kategorie ist, drängt man die Lehrkraft in die Rolle des Entertainers und gibt letztlich ihr die Schuld, wenn der Schüler bei der Klassenarbeit oder in der Prüfung versagt. Seine Performance war dann eben nicht zündend genug. In dieser Haltung liegt der Grund für die vielen Klagen, mit denen enttäuschte Eltern beim Schulleiter vorstellig werden. Einem vietnamesischen Vater käme es nie in den Sinn, dem Mathematiklehrer vorzuwerfen, er habe seinen Sohn Hung im Unterricht nicht ausreichend motiviert, weshalb er eine Fünf geschrieben habe. Ich kann mich an die vietnamesische Schülerin Hoa erinnern, die mit fünf Jahren nach Deutschland gekommen war. In der 7. Klasse des Gymnasiums, in der ich sie in Deutsch unterrichtete, gehörte sie schon zu den Besten. In der Orthografie war sie nahezu fehlerfrei. Sie erklärte mir ihr Erfolgsrezept. Die Familie hatte ihre deutsche Nachbarin, eine freundliche ältere Dame, gebeten, mit dem Mädchen jeden Nachmittag zu üben. Sie schrieb unzählige kleine Diktate, bis sie das Regelsystem der Orthografie perfekt beherrschte. Welcher deutsche Schüler würde sich einer solchen Mühe unterziehen, um seine Rechtschreibschwächen auszubügeln? In meiner eigenen Schulzeit hieß es noch: „Ohne Fleiß kein Preis!“ In der Spaß- und Eventgesellschaft verhallt der Appell an Fleiß und Anstrengung oft ungehört. Müssen wir von asiatischen Einwandererkindern wieder die Tugenden lernen, die uns in der Vergangenheit ausgezeichnet haben? Inzwischen gibt es Studien, die sich mit der Integration asiatischer Einwanderer in westliche Gesellschaften beschäftigen. Amerikanische Ökonomen haben herausgefunden, dass in den USA rund doppelt so viele Kubaner (65 Prozent) unter der Armutsgrenze leben wie Vietnamesen (35 Prozent). Unter den Existenzgründern sind Asiaten überdurchschnittlich häufig vertreten. Dabei waren die Ausgangsbedingungen – schlechte Sprachkenntnisse, niedrige Schulbildung – bei beiden Einwanderergruppen vergleichbar. Wie kommt dieser Erfolg asiatischer Einwanderer zustande? Schlüssel ist auch hier der Erfolg in der Schule. 2014 veröffentlichten die beiden Bildungsforscher Amy Hsin (Universität von New York) und Yu Xie (Universität Michigan) eine Vergleichsstudie, in der sie untersuchten, wie amerikanische und asiatische Kinder in der Schule abschneiden. Die Asiaten waren tatsächlich erfolgreicher. Da bei der Studie nur Schüler mit annähernd gleicher Intelligenz zum Zuge kamen und zudem der Bildungshintergrund der Eltern herausgerechnet wurde, blieben als Erfolgsrezepte nur Ehrgeiz und Anstrengung. Die Einwanderkinder arbeiteten hart, um die Schule erfolgreich zu meistern. Nur so konnten sie im späteren Erwerbsleben sozial aufsteigen. Die Forscher haben herausgefunden, dass sich beide Gruppen auch in ihrer Mentalität unterscheiden. Während amerikanische Eltern daran glauben, dass Intelligenz vererbt werde, waren die asiatischen Eltern davon überzeugt, dass Intelligenz trainiert und durch kontinuierliche Anstrengung gesteigert werden könne. Auch in Großbritannien sind Kinder asiatischer Herkunft äußerst erfolgreich. In Mathematik sind sie britischen Schülern deutlich überlegen. Bei Zulassungstests zu amerikanischen Universitäten schneiden Schüler mit asiatischer Zuwanderergeschichte inzwischen am besten ab. Prompt sind einige Elite-Colleges vor kurzem dazu übergegangen, für asienstämmige Schüler eine Zugangsbeschränkung einzuführen, um den Kindern aus anderen Ethnien, z.B. Afroamerikanern und Latinos, größere Chancen einzuräumen. Asiatische Eltern reichten daraufhin Klage ein, weil sie in dieser Quote einen Verstoß gegen das Leistungsprinzip sehen. Der Oberste Gerichtshof der USA wird sich mit dem Fall beschäftigen müssen. Die positive Diskriminierung, die sich in der sogenannten Affirmative Action ausdrückt, ist Ausdruck einer Identitätspolitik, die sich von Selbstverantwortung und Leistungsbereitschaft verabschiedet hat und Bildungschancen nach Hautfarbe vergibt: Rassismus für einen guten Zweck. Auch in ihren Heimatländern sind die schulischen Erfolge asiatischer Kinder außergewöhnlich gut. Beim PISA-Vergleichstest der OECD von 2012, bei der Mathematik den Schwerpunkt bildete, belegten sieben asiatische Länder die ersten Plätze. Erstaunlich war dabei der Aufstieg Vietnams. Gleich bei ihrer ersten PISA-Teilnahme belegten Vietnams Schüler im Fach Mathematik hinter Deutschland (Platz 16) den 17. Platz. Damit ließen sie Länder mit großer Bildungstradition, die zudem ein Vielfaches für Bildung ausgeben, hinter sich: Frankreich (25), Vereinigtes Königreich (26), Italien (32). Das ist ein Beleg dafür, dass mehr Geld nicht automatisch bessere Bildung garantiert. Bei der PISA-Studie von 2018 setzte sich der Erfolg asiatischer Schüler fort. In Mathematik belegten Japan, Korea, Singapur und China die ersten Plätze. Es kann keinen Zweifel geben: Die Sekundärtugenden, zu denen asiatische Schüler von ihren Lehrern und Eltern angehalten werden, verbürgen den Erfolg. Da die asiatischen Einwanderer in allen Ländern, in denen sie eine zweite Heimat gefunden haben, gleichermaßen erfolgreich sind (USA, Kanada, Frankreich, Deutschland, Schweiz), kann der Erfolg nicht an den Bedingungen der aufnehmenden Länder liegen. Man kann annehmen, dass es Eigentümlichkeiten der asiatischen Kultur gibt, die die Emigranten in jedes Land mitnehmen und dort weiterhin pflegen. Diese Prägung garantiert auch im Gastland den Erfolg. Von dem Soziologen Max Weber kennen wir die These, wonach die religiöse Prägung eines Landes den ökonomischen Prozess bestimmen kann. Er sah in der protestantischen Ethik die Voraussetzung für die Entstehung des Kapitalismus begründet. Im Denken von Martin Luther war der Beruf eine von Gott gestellte Aufgabe, die es zum Wohlgefallen Gottes möglichst gut auszuführen galt. In der Lehre Calvins kam noch ein besonderer Akzent hinzu. Calvin glaubte, dass man aus der Lebensführung und aus dem materiellen Erfolg des Menschen die Bevorzugung durch Gott ablesen könne, was zwangsläufig dazu führte, dass sich die Menschen bei der Erfüllung ihrer irdischen (beruflichen) Pflichten anstrengten, um sich der göttlichen Gnadenwahl als würdig zu erweisen. Die konfuzianisch-buddhistisch geprägte Kultur Asiens verlangt, dass der Mensch im Einklang mit dem Kosmos lebt. Dieses Postulat hat zur Folge, dass man sich harmonisch in die vorgegebene Gesellschaft einfügt und alles unternimmt, um deren Anforderungen optimal zu erfüllen: „Wo immer du bist, trage dazu bei, dass die Gemeinschaft in Harmonie lebt“ (Konfuzius). Den Weg zu „Harmonie und Mitte, Gleichmut und Gleichgewicht“ könne man am besten  durch Bildung erreichen. Aufschlussreich ist auch ein chinesisches Sprichwort, das ich von einer chinesischen Schülerin gelernt habe: „Wenn du die Welt verbessern willst, so gehe dreimal durch dein eigenes Haus.“ Mit einer solchen Einstellung wird Integration in jedem Land der Welt gelingen. Wenn Aufstieg durch Bildung eine vom Glauben vorgegebene Verpflichtung darstellt, erklärt sich auch, weshalb vietnamesische Eltern ihren schulpflichtigen Kindern jede erdenkliche Hilfe und Unterstützung angedeihen lassen. Mir erzählte eine vietnamesische Schülerin, wie ihre Eltern darauf reagierten, als sie die Aufnahme ins Gymnasium geschafft hatte. Sie räumten in der Wohnung den besten Platz für ihren Schreibtisch frei. Außerdem wurde sie von allen häuslichen Pflichten, wie Einkaufen, Abwaschen, Müllentsorgung, entbunden, damit sie sich voll auf die Schule konzentrieren kann. Dass eine solche Erwartungshaltung der Eltern auch einen seelischen Druck auf die Kinder ausüben kann, ist nicht völlig auszuschließen. Ich habe jedoch nie erlebt, dass vietnamesische Schüler deswegen in eine seelische Krise geraten wären. Sie strahlten das Glück derer aus, denen es gelungen ist, etwas Großartiges zu leisten. Mit dem Leistungsprinzip hat man bei vietnamesischen Schülern keinerlei Probleme.
Rainer Werner
Schüler mit Migrationshintergrund sind in unseren Schulen unterschiedlich erfolgreich. An der Spitze liegen Schüler mit asiatischer Einwanderungsgeschichte. Sie könnten auch einheimischen Schülern als Vorbild dienen.
[ "Migration", "Bildung", "Schule" ]
innenpolitik
2023-01-24T10:18:10+0100
2023-01-24T10:18:10+0100
https://www.cicero.de//innenpolitik/migration-bildung-schule-vietnam-bildungserfolg
Covid-Pandemie - Impfpflicht: Dead on Arrival
Wenige Tage vor der ersten Beratung des Bundestages am 26. Januar streiten die unterschiedlichen politischen Lager heftig über das Für und Wider einer allgemeinen gesetzlichen Impfpflicht. Jenseits dieser Kontroversen dürfte jedoch ein Punkt unstrittig sein: Die Impfpflicht stellt einen schwerwiegenden Eingriff in das Grundrecht der körperlichen Unversehrtheit des Einzelnen dar. Die Selbstbestimmung über den eigenen Körper ist ein wesentliches Fundament der Menschenwürde. Daraus leitet sich sowohl aus ethischer als auch verfassungsrechtlicher Sicht eine besonders hohe Rechtfertigungslast ab. Noch bis in den Herbst letzten Jahres hinein hatten die Spitzen aller Parteien im Bundestag dementsprechend auch eine allgemeine Impfpflicht explizit ausgeschlossen. Mit dem Auftauchen von Omikron und steigenden Infektionszahlen drehte sich dann nach der Bundestagswahl politisch schnell der Wind. Selbst Christian Lindner neigte nun zur Impfpflicht. Stichwort: „Lernende Politik“. Der Deutsche Ethikrat vollzog diesen Schwenk in Einklang mit der veränderten politischen Wetterlage mit. Kurz vor Weihnachten letzten Jahres votierte er in einer Ad-hoc-Empfehlung aufgrund der „veränderten Faktenlage“ mehrheitlich für eine allgemeine Impflicht. Im Februar 2021 hatte sich der Ethikrat noch dagegen ausgesprochen. Wie ich im Folgenden aufzeigen möchte, ist die aktuelle Faktenlage jedoch wenig dazu geeignet, diesen Perspektivenwandel zu rechtfertigen: Das Pandemie- und Impfgeschehen der letzten Wochen hat die ethischen und verfassungsrechtlichen Einwände gegen eine allgemeine Impfpflicht nämlich keineswegs obsolet gemacht. Im Gegenteil. Es entzieht ihr vielmehr die empirische Grundlage. Mit Blick auf die Datenlage der letzten Wochen wird immer augenscheinlicher: Die Corona-Impfstoffe erfüllen nur bedingt die großen Hoffnungen, die man ursprünglich in ihre Wirksamkeit gesetzt hatte. Sie schützen zwar nach wie vor vor schweren Verläufen bei einer Infektion mit dem Coronavirus. Eine Infektion mit dem Virus und dessen Weitergabe können sie hingegen allenfalls reduzieren. Die symptomatischen „Impfdurchbrüche“ seit Februar 2021 summieren sich laut RKI-Wochenbericht (Stand 13. Januar 2022) mittlerweile auf über 600.000 Fälle. Von allen Menschen zwischen 18 und 59 Jahren, die in den letzten Wochen an Covid erkrankten, waren 55,3 Prozent grundimmunisiert (d.h. vollständig geimpft ohne Auffrischungsimpfung). Bei den über 60-Jährigen betrug der Anteil 53,7 Prozent. Betrachtet man nur die symptomatischen Omikron-Fälle, dann liegt der Anteil von Doppelgeimpften und Geboosterten bei den 18- bis 59-Jährigen bei rund 83 Prozent (59 Prozent grundimmunisiert, 24 Prozent mit Auffrischungsimpfung). In der Altersgruppe 60+ beträgt der Anteil rund 86 Prozent (39 Prozent grundimmunisiert, 47 Prozent mit Auffrischungsimpfung). Auch wenn man diese Zahlen zur relativ hohen Impfquote ins Verhältnis setzt, ist der schützende Effekt der Vakzine bezüglich Infektions- und Transmissionsrate mehr als überschaubar. Von einer „Pandemie der Ungeimpften“ kann aktuell jedenfalls keine Rede mehr sein. Die Fähigkeit der Impfstoffe, eine sterile Immunität zu bewirken und so die Weitergabe des Coronavirus an andere zu verhindern, war für den Deutschen Ethikrat jedoch noch vor wenigen Monaten eine Voraussetzung für die Legitimität einer allgemeinen Impfpflicht. Dieses Argument verliert durch das aktuelle Infektionsgeschehen im Windschatten von Omikron nicht nur nicht seine Gültigkeit. Es gewinnt vielmehr deutlich an Relevanz. Aus ethischer wie rechtlicher Perspektive ist der Umstand, dass die Corona-Impfstoffe nicht in der Lage sind, eine sterile Immunisierung zu bewirken, in der Tat von entscheidender Bedeutung. Denn daraus folgt notwendigerweise, dass die Impfstoffe eine „Durchseuchung“ der Bevölkerung nicht verhindern, sie lediglich zeitlich verzögern können. Sprich: Früher oder später wird sich also jeder mit dem Corona-Virus infizieren, wie jüngst auch Christian Drosten zum Ausdruck gebracht hat. Die Impfung ist insofern vor allem als sinnvolle Vorbereitung des Einzelnen für eine „natürliche Immunisierung“ durch eine Infektion mit dem Coronavirus zu betrachten. Das heißt aber: Die Impfung dient in erster Linie dem Selbstschutz, nicht dem Fremdschutz. Der Selbstschutz der Einzelnen alleine kann jedoch kein legitimes Ziel einer Impfpflicht sein, wie ein Gutachten des wissenschaftlichen Dienstes des Bundestages vom Dezember 2021 betont: „Wenn schon einem Kranken eine medizinische Behandlung zu Heilungszwecken nicht aufgenötigt werden darf, dann darf sie erst Recht einem Gesunden nicht zu seinem vorbeugenden Schutz aufgenötigt werden. Eine Impfpflicht, die allein dem Selbstschutz der Geimpften dienen würde, wäre mithin kein legitimes Ziel.“ (S. 8) Auch das solidaritätsbezogene Argument der drohenden Überlastung des Gesundheitssystems, mit dem die Impfpflicht zusätzlich begründet wird, verliert durch die Omikron-Welle tendenziell an Überzeugungskraft. Einer US-Studie zufolge ist die Hospitalisierungsrate bei Omikron um mehr als die Hälfte reduziert, das Sterberisiko um gut 90 Prozent geringer als bei der Delta-Variante. Auf einen milderen Verlauf der Omikron-Variante deuten auch die aktuellen Zahlen in Deutschland hin: Trotz Rekordinzidenzen jenseits der 500 sind Hospitalisierungen und Intensivbettenbelegung mit Covid-Patienten rückläufig. Ein weiterer gewichtiger Einwand gegen die allgemeine Impfpflicht hat auch unter der Herrschaft von Omikron Bestand: die Altersgruppen in Deutschland sind nach wie vor in sehr unterschiedlichem Ausmaß von der Pandemie betroffen, wie die Statistiken des RKI klar belegen. Zwar wird seit Herbst letzten Jahres immer wieder davor gewarnt, dass auch junge Menschen zunehmend durch Corona gefährdet seien. Die Virologin Melanie Brinkmann prognostizierte beispielsweise in der Zeit, dass „mehrere Hundert Kinder und Jugendliche im kommenden Winter ihr Leben verlieren, wenn die nicht geimpften Kinder und Jugendlichen durchseucht würden“. Der nüchterne Blick auf die Daten entlarvt solche Prognosen allerdings als unbegründeten Alarmismus. Die Wahrscheinlichkeit, am Coronavirus zu sterben, ist für jüngere Menschen nach wie vor sehr gering. Der Anteil der 0- bis 39-Jährigen an den Todesfällen seit Ausbruch der Pandemie beträgt laut RKI (Stand 13. Januar) lediglich rund ein halbes Prozent (0,52 Prozent). Mehr als 90 Prozent (94,56 Prozent) der Todesfälle fallen in die Gruppe der Menschen ab 60 Jahren. Ähnliche Verhältnisse finden sich auch in anderen Ländern. Eine aktuelle Studie aus Italien zeigt, wie massiv die Mortalitätsrate mit zunehmenden Alter systematisch ansteigt: Während das Sterberisiko bei Menschen unter 50 Jahren bei praktisch null liegt, steigt sie bei den über 80-Jährigen auf nahezu 18 Prozent an, bei den über 90-Jährigen auf rund 26 Prozent. (Quelle: https://de.statista.com/statistik/daten/studie/1114647/umfrage/letalitaetsrate-in-zusammenhang-mit-dem-coronavirus-in-italien-nach-alter/) In Bezug auf die Mortalitätsrate haben wir es also weniger mit einer Pandemie der Ungeimpften als mit einer Pandemie der Älteren zu tun. Dieser starke Zusammenhang zwischen Alter und Sterberisiko hat natürlich auch Einfluss auf die Risikobewertung der Impfung. Durch die vergleichsweise geringe Wahrscheinlichkeit junger Menschen, einen schweren Verlauf einer Coronaerkrankung zu erleiden, wiegt das Risiko von gesundheitlichen Schäden von Nebenwirkungen bei ihnen deutlich schwerer. Hinzu kommt: aktuelle internationale Studien legen nahe, dass junge Menschen von Impf-Nebenwirkungen wie Herzmuskelerkrankungen häufiger betroffen sind als ältere. Für wie relevant dieses Risiko bei jungen Menschen einzuschätzen ist, zeigen Entscheidungen von Ländern wie Dänemark, Schweden oder Finnland, den Impfstoff von Moderna wegen erhöhten Risiken von schweren Nebenwirkungen nicht mehr für Menschen unter 30 einzusetzen. Angesichts dieses prekären Risiko-Nutzen-Verhältnisses ist ein auf Zwang beruhender Grundrechtseingriff in die körperliche Integrität junger Menschen ethisch nicht verhältnismäßig. Dies gilt besonders vor dem Hintergrund der Notwendigkeit mehrerer Impfungen, die deren Risiko zusätzlich erhöhen. Auch die Begründung der allgemeinen Impfpflicht mit Blick auf einen drohenden Kollaps des Gesundheitssystems scheitert an der unterschiedlichen Betroffenheit der Alterskohorten. Denn die Intensivstationen werden überwiegend von Corona-Patienten jenseits der 50 belegt. Stand 16. Januar machten sie rund 84 Prozent der Fälle in Deutschland aus. Der Anteil der 0- bis 39-Jährigen liegt dagegen gerade einmal bei rund 7 Prozent. (Quelle: intensivregister.de / Stand 16.01.2022) Auch hier gilt: Eine Impfpflicht, die sich undifferenziert auf alle erwachsenen Altersgruppen erstreckt, folgt in keiner Weise dem Verhältnismäßigkeitsprinzip. Sie ist weder angemessen, noch erforderlich oder geeignet, um die Überlastung des Gesundheitssystems zu verhindern. Die Gesamtbetrachtung verdeutlicht: Eine allgemeine Impfpflicht hat mit Blick auf das derzeitige Infektionsgeschehen sowohl aus verfassungsrechtlicher als auch ethischer Sicht keine legitime Grundlage. Vielmehr stellen die dargelegten empirischen Evidenzen die Verhältnismäßigkeit des seit Wochen erfolgenden Ausschlusses ungeimpfter Menschen aus weiten Teilen des öffentlichen Lebens in Frage – was faktisch nichts anderes als einen indirekten Impfzwang darstellt. Auf dieser fragwürdigen Basis würden die grundsätzlich zu befürchtenden „sozialen Folgekosten“ einer allgemeinen Impfpflicht umso drastischer ausfallen. Sie würde sowohl die bestehende gesellschaftliche Spaltung als auch das Misstrauen gegenüber dem Staat massiv vertiefen. Die politischen Apologeten einer allgemeinen Impfpflicht wären daher gut beraten, Abstand von dieser fixen Idee zu nehmen und zu ihrer früheren skeptischen Haltung vor den Bundestagswahlen zurückkehren. Das wäre tatsächlich eine Einsicht, die der jüngst häufig bemühten Rede von der „lernenden Politik“ gerecht würde.
Michael Walter
Ende Januar soll der Bundestag erstmals über die Einführung einer allgemeinen Impfpflicht beraten. Die jüngsten Entwicklungen des Pandemie- und Impfgeschehens zeigen jedoch, dass es dafür keine legitime Grundlage gibt. Die Debatte wird schlicht von der pandemischen Wirklichkeit überholt.
[ "Impfpflicht", "Grundgesetz", "Corona", "Covid-19", "Omikron-Variante", "Grundrechte" ]
innenpolitik
2022-01-19T14:03:25+0100
2022-01-19T14:03:25+0100
https://www.cicero.de/innenpolitik/covid-pandemie-impfpflicht-omikron-grundrechte-unversehrtheit-grundgesetz
Frau Fried fragt sich... - ...ob wir in einer Wohlfühldiktatur leben
Dieser Artikel ist eine Kostprobe aus der Dezember-Ausgabe des Cicero. Wenn Sie keine Ausgabe des Magazins für politische Kultur mehr verpassen wollen, können Sie hier das Abonnement bestellen. Neulich habe ich meinen ersten Yoga-Kurs gemacht. Ich finde Yoga super. Man lernt neue Muskeln kennen und Stellungen, die „Herabschauender Hund“ oder „Krieger 2“ heißen. Leute, die Yoga machen, achten auf sich. Sie sagen Sätze wie „das tut mir gut“ oder „achte mal drauf, was dir guttut“. Hört man diese Sätze gehäuft, fragt man sich, ob sie symptomatisch sind für unser Leben in der Wohlfühldiktatur. Denn: Uns gut zu fühlen, ist oberstes Gebot. Ständig scannen wir unsere körperliche und seelische Verfassung. Haben wir ausreichend geschlafen? Haben wir genügend Vitamine zu uns genommen? Sind wir in unserer Mitte? Unser Gottesdienst ist die Fernsehwerbung vor den 19-Uhr-Nachrichten: nur Produkte zur Steigerung des Wohlbefindens. Vitamin-B-Shots für bessere Konzentration, linksdrehender Milchsäurejoghurt für die Verdauung, Diätdrinks fürs Traumgewicht. „Das tut mir gut“ ist das Mantra unserer Zeit, die Überzeugung, dass es der Welt gut geht, wenn es mir gut geht. Leider ist das Gegenteil der Fall. Unser Leben ist gut, weil das anderer schlecht ist. Und wenn von diesen anderen welche hierherkommen, um ein besseres Leben zu finden, schicken wir sie heim oder lassen sie ertrinken, um sicherzustellen, dass unser Leben gut bleibt. Die Fixierung aufs eigene Wohlbefinden geht mit dem Verlust von Empathie einher. Wer mit der existenziellen Frage beschäftigt ist, ob er nach 18 Uhr noch Rohkost essen kann („ich glaube, das tut mir gar nicht gut“), kann sich nicht noch darum kümmern, ob anderswo Leute sterben, sorry jetzt mal! Ich muss an einen Freund aus meiner Jugend denken. Der schlief auf einer Isomatte, ernährte sich absichtlich schlecht und führte seinem Körper gerne zweifelhafte Substanzen zu. Seine Philosophie war, dass man einem Organismus, um ihn gesund zu halten, etwas zumuten müsse. Betrachten wir unsere Gesellschaft als Organismus. Ab auf die Isomatte! Muten wir uns etwas zu! Vergessen wir das Tut-mir-gut-Mantra und fragen wir uns, was anderen guttun könnte! Ich mache übrigens weiter Yoga. So viel Bewegung kann unmöglich gut für mich sein.
Amelie Fried
Cicero-Autorin Amelie Fried beobachtet mit Verwunderung, wie das Wohlbefinden immer mehr das Handeln definiert. Auf Kosten des Altruismus
[]
kultur
2014-01-10T16:16:16+0100
2014-01-10T16:16:16+0100
https://www.cicero.de//kultur/frau-fried-fragt-sich-ob-wir-einer-wohlfuehldiktatur-leben/56815
ARD im Selbstzerstörungsmodus (Teil III) - Exklusiv für Xing-Leser: 90 Thesen für eine haltbare Zukunft der ARD
Wenn selbst der amtierende Vorsitzende keine Zukunft mehr sieht für seinen Senderverbund, ist das einerseits tragisch, andererseits aber lediglich ein weiterer Beweis für die Richtigkeit der vor zehn Jahren erstmals von mir aufgestellten Behauptung, dass die ARD von innen kaputtgemacht wird, nicht von außen. Und da war noch lange keine Rede von Schlesinger und Konsorten. Es sind nur zu oft die Intendanten und die von ihnen berufenen Direktoren, die es an Loyalität gegenüber den ihnen anvertrauten Häusern, ihrem Personal und der öffentlich-rechtlichen Idee mangeln lassen, damit jene Krise heraufbeschworen haben, in denen sie sich nun befinden, und den eigenen Chef „Das Ende ist nah“ murmeln lassen. Immerhin war Tom Buhrows Vortrag in Hamburg vor einem Monat in jeder Hinsicht – formal und inhaltlich – so schlecht und substanzlos, dass er in den eigenen Reihen nicht viel mehr erzeugte als fassungsloses und schweigendes Entsetzen. Die Begeisterung der Frankfurter Allgemeinen Zeitung über ihren Coup, Buhrows Auftritt und auch den Redetext exklusiv zu haben, hielt folgerichtig nicht lange vor. Mit seinem angeblichen Reformplan, der tatsächlich nur ein pessimistischer Ausblick auf das Jahr 2032 war, der selbst der AfD des Saarlands zu weit ging (was man erst einmal hinbekommen muss), ist schlicht nichts anzufangen. Deutschland kann zwei große öffentlich-rechtliche Senderfamilien auch in zehn Jahren sehr gut gebrauchen und vertragen, sobald sie sich wieder als echte Konkurrenz verstehen und nicht als eingetragene Partnerschaft. Bei fairer Beurteilung ist das Preis-Leistungs-Verhältnis gar nicht schlecht. Es könnte aber noch viel besser sein – in Relation zum finanziellen und personellen Input ist der Output an qualitativ hochwertigem Programm miserabel. Seit dem RBB-Desaster weiß man immerhin im ganzen Land, woran das liegt und wie man es ändern könnte. Mehr zum Thema: Erst recht würde das mit dem guten Preis-Leistungs-Verhältnis gelten, folgte man meiner Empfehlung, teure Sport-Events in einen Pay-Kanal für fünf Euro im Monat auszulagern und die Monatsgebühr im Gegenzug auf 15 Euro zu verringern. Nach der vergeigten Fußballweltmeisterschaft dürfte das leichter fallen. ARD und ZDF müssten nur endlich wieder ihren Job machen und sich als unabhängige, distanzierte, kritische Instanzen und Korrektive neu erfinden, wie es die Rundfunkgesetze und das in der Gebührenfrage heillos desorientierte Bundesverfassungsgericht verlangen. Tatsächlich haben seit der Jahrtausendwende alle Regierungen in Bund und Ländern Widerspruch von ARD und ZDF nur noch dann zu befürchten, wenn irgendein Gesetz, eine „Maßnahme“ den Redaktionen nicht links-grün genug erscheint oder gar die Gefahr besteht, ein Kanzler, eine Ministerpräsidentin könnte sich an der Mehrheitsmeinung der Bevölkerung orientieren, der aber natürlich der notwendige Überblick fehlt. So kommt es, dass „Tagesthemen“-Kommentare seit 2005 genauso gut vom Regierungssprecher stammen könnten (mit der seit einem Jahr geltenden Einschränkung, wäre dieser ein wenig sprachbegabter) und manchmal fliegt das halt auch auf. In ihrer alles andere als staatsfernen Haltung sind sich die Sender einig mit dem Großteil der Verlage, was zum Teil opportunistisch bedingt ist, was Monat für Monat die Auflagen schrumpfen lässt, zum Teil aber auch schlicht an den historisch aus der Bismarck-Ära gewachsenen Eigentumsverhältnissen liegt. Dass SPD, Grüne und Linke schon seit einigen Jahren nichts mehr von Volksentscheiden wissen wollen, sie vielmehr das Thema scheuen wie der Teufel das Weihwasser, hat einen guten Grund: Sie wissen ganz genau, dass ihre Politik regelmäßig eigentlich keine Mehrheit in der Bevölkerung hat – je essentieller das Thema, desto grösser die Repräsentationslücke. Dabei wären Volksentscheide das Mittel der Wahl, um die Politik endlich wieder zu erden und die Verdrossenheit über die Ergebnisse unserer parlamentarischen Demokratie zu bekämpfen. Dass es der Schweiz so viel besser geht als Deutschland, hat nicht zuletzt damit zu tun, dass dem dortigen Bundesrat und den Schweizer Parteien regelmäßig wenigstens der größte Blödsinn, etwa in der Einwanderungspolitik oder in Währungsfragen, verweigert wird. Vielleicht hat Buhrows Hamburger Rede aber wenigstens einen positiven Effekt: Wenn SWR-Intendant Kai Gniffke in drei Wochen von ihm den ARD-Vorsitz übernimmt, könnte er es nun leichter haben mit funktionierenden Reformen, weil es so destruktiv wie von Buhrow skizziert gar nicht kommen muss. Dass ausgerechnet Gniffke den Journalismus für die ARD oder die Öffentlich-Rechtlichen insgesamt neu erfinden und in den Mittelpunkt stellen wird, ist freilich eher nicht zu erwarten. Wäre es anders, wäre Malu Dreyer nach ihrem Totalversagen in der Flutnacht und den Monaten danach 2022 nicht mehr Regierungschefin von Rheinland-Pfalz. Ihr hat er aber seinen Job zu verdanken – wie indirekt auch der neue ZDF-Intendant Norbert Himmler den seinen, indem Dreyer ihre Kandidatin Tina Hassel im letzten Moment am 2. Juli 2021 vor dem dritten Wahlgang im ZDF-Fernsehrat zurückzog. Kein Wunder, dass der investigative Elan des SWR nach dem überfälligen Rücktritt von Innenminister Roger Lewentz bis auf weiteres wieder aufgebraucht ist. Dreyer arbeitet unterdessen längst an ihrem nächste Coup: Hassel (möglichst sogar vorzeitig) zur WDR-Intendantin zu machen. Was links-grüne Vorlieben angeht, darf sie als zuverlässiger gelten als Irrlicht Tom Buhrow. Für die führende Strippenzieherin in Medienpersonalfragen ist Hassel damit eindeutig erste Wahl. Auch auf Grund solcher Machtkonzentrationen ist das Niveau der Reformideen und -forderungen aus den Reihen der Politik erschütternd niedrig. Alle Parteien sagen auch jetzt, was sie schon immer gesagt haben. Der Bund hat bei diesem Thema nicht viel zu melden. Entsprechend dünn sind Abgeordnete gesät, die sich im Thema wirklich auskennen und nicht nach der dritten Frage passen müssen, weil das Detail- und Praxiswissen fehlt. Die CDU verfügt seit über einem Jahrzehnt über gar keinen Medienpolitiker von Gewicht mehr. Als Rainer Robra 2020 mit seiner Staatskanzlei in Sachsen-Anhalt offiziell den Kampf gegen Gebührenautomatismus aufnahm, ließen ihn die eigenen Parteifreunde hängen, was es Karlsruhe erleichterte, übergriffig zu werden und per Beschluss die Zustimmung eines frei gewählten Landtages zu ersetzen. Doch die jahrzehntealte Ausrede der Anstalten, sie würden ja gerne, täten sich auch trauen, hätten vielleicht auch gewollt, nur leider, leider gebe ja „die Politik“ Anzahl und Struktur der Programme vor, sie selbst könnten da rein gar nichts machen – diese Ausrede zieht mit dem neuen Medienstaatsvertrag nicht mehr. Er wird ARD und ZDF in die Lage versetzen, weitgehend selbst zu entscheiden, wie und zu welchem Zweck sie ihre Ressourcen einsetzen. Das ist der Hintergrund meiner in der Urfassung erstmals 2018 den Intendanten ohne nennenswerte Resonanz übermittelten Reformvorschläge, die im Folgenden in aktualisierter Form dokumentiert werden: 90 Thesen für einen nützlichen, bezahlbaren und attraktiven öffentlich-rechtlichen Rundfunk, der sich die schon zu drei Vierteln verlorene Loyalität und Akzeptanz des breiten Publikums nach und nach durch überzeugende Arbeit zurückerobert.     1.    Die ARD muss sich neu erfinden angesichts grundlegender Veränderungen des technischen, gesellschaftlichen und politischen Umfelds. Macht sie das nicht selbst, werden es andere tun – und zwar nicht zum ihrem Vorteil. Digitalisierung ist dabei kein Allheilmittel, sondern nur ein Mittel zum Zweck von mehreren. Radio und Fernsehen haben unverändert große Kraft, werden aber systematisch kleingeredet und vernachlässigt. Dass die Sender sogar jetzt noch den Landesregierungen und damit der Politik die Initiative überlassen und abwarten, was von dort an Reformideen kommt, ist verkehrt. 2.    Diskussion vom Kopf auf die Füße stellen. Erst Aufgabendebatte, dann Strukturdebatte, dann Gebührendebatte. Und zwar nicht fremdbestimmt, sondern endlich von den ARD-Intendanten selbst in Gang gesetzt. Wenn Kai Gniffke umgehend gleich von einem ganzen Bundesland verhauen wird, wenn er selbst die Initiative ergreift, soll das wohl Nachahmer abschrecken, ist aber kein konstruktiver Umgang mit den Notwendigkeiten. 3.    Zweiwöchiger öffentlicher ARD-Konvent im Bundesrat unter Beteiligung der Landtage; kommentierbar von jedermann live auf Facebook und im Chat. Raus aus der Konfrontation, rein in einen konstruktiven, ergebnisoffenen Dialog. 4.    Herausarbeitung und Schärfung des ARD-Markenkerns: Verzicht auf Gemeinschaftsproduktionen mit dem ZDF und auf Orientierung am Sendeschema der Konkurrenz. 5.    Konsolidierung A: Verzicht auf tagesschau24, ARD one, 3sat, BR-alpha, kritische Überprüfung der arte-Beteiligung, Neuformulierung der Phoenix-Aufgaben. 6.    Konsolidierung B: Abgabe von „MoMa“ und „MiMa“ komplett an das ZDF.   7.    Konsolidierung C: Schaffung eines einheitlichen, 14- bis 18-stündigen Rahmenprogramms für alle Dritten Programmen mit regionalen Fenstern morgens und abends, in der Perspektive, je nach Erfolg, auch mittags. 8.    Erweiterung A: Gründung von ARD24 als 24/7- Nachrichtenkanal mit eigener Infrastruktur und Hauptsitz zentral in Kassel, Filiale im ARD-Hauptstadtstudio, Büros in jedem ARD-Sender und nebenberuflichen Stringern in jeder größeren deutschen Stadt ab 30.000 Einwohner. 9.    Erweiterung B: Auslagerung der teuren Sportevents in Pay-TV-Sportkanal ARD Sport; Zusatzgebühr fünf Euro, geschätztes Jahresaufkommen bei fünf oder zehn Millionen Interessenten 300 oder 600 Millionen Euro p. a. (Standardpaket). 10.    Erweiterung C: Aktuelles Regional-TV-Morgenmagazin, das die Ereignisse des Vorabends und der Nacht aus dem Bundesland abbildet – „Morgenschau“ nach dem Vorbild der „Abendschau“. 11.    Erweiterung D: Nutzung der dramatischen Vereinfachung und Verbilligung der Übertragungstechnik: Schaffung einer flächendeckenden, live-fähigen Produktions-Infrastruktur für regionale Sportereignisse unterhalb der Fußball-Bundesligen, Handball, Basketball, Schwimmen in enger Zusammenarbeit mit den Verbänden und Vereinen des Sendegebiets. 12.    Erweiterung E: Breite Ausweitung der Live-Sportberichterstattung und journalistischen Begleitung in den Dritten Programmen, dafür zusätzliche Regionalfenster an den Wochenenden, um die Verankerung in den Vereinen des Sendegebietes zu stärken. 13.    Erweiterung F: Ausweitung der Berichterstattung (analog zu Vorschlag 9, Regionalsport) über regionale Kulturereignisse, soweit sie nicht bundesweit dafür in Frage kommen.   14.    Neues Prinzip: Jeder Mitarbeiter einer ARD-Anstalt, ob fest oder frei, muss sich künftig auch als Vertreter, Botschafter und sogar als Reporter betrachten, wenn er zufällig oder absichtlich bei Ereignissen dabei ist, die andere Menschen ebenfalls interessieren könnten (Wirbelsturm, Verkehrsunfall, Geldautomatensprengung etc.). „Haben wir noch nie gemacht“ fällt als Ausrede genauso aus wie „Dafür werde ich nicht bezahlt“. Vorruhestand ist out, Umschulung ist in. 15.    Jede Arbeit, jede Planstelle in einem Funkhaus, die ihre Programmrelevanz nicht wirklich überzeugend nachweisen kann, steht zur Disposition. 16.    Das Verhältnis zwischen Input (Geld und Personal) und Output (Programm) ist schon lange indiskutabel schlecht. Es muss nicht nur dringend deutlich besser werden – es  kann auch deutlich besser werden, was allerdings ein neues Selbstverständnis aller Mitarbeiter erforderlich macht, vor allem der Festangestellten in Führungspositionen. 17.    Verankerung der Assoziation: „ARD = Heimat“ und „Heimat = ARD“ 18.    ARD. Wir kennen uns hier aus. 19.    Das derzeitige Senderbouquet versteht kein Mensch. Schlüssig erklären können es nicht einmal die Verantwortlichen selbst. Es ist Ergebnis einer Serie von Kuhhandeln, die viel mit örtlichen Befindlichkeiten, aber wenig mit den Interessen des Publikums zu tun haben. Eine Umschichtung der Ressourcen – etwa eine Aufgabe erfolgloser Nischenangebote zugunsten eines eigenen Nachrichtenkanals – trauen sich die Intendanten aber nicht zu. Sie haben Angst, am Ende mit leeren Händen dazustehen. 20.    Der Generationenabriss, von den öffentlich-rechtlichen Sendern seit Jahren beschworen, findet längst statt und frisst sich naturgemäß in immer weitere Jahrgänge hinein. Allein die Tatsache, dass sich RTL, Sat.1 oder Pro7 in ihrer Programmgestaltung noch dusseliger anstellen und das Ringen um eine wie auch immer definierte, vielleicht noch halbwegs jugendaffine Qualität weitgehend eingestellt haben – zugunsten von Verkaufsgeschäften, die nichts mehr mit Fernsehen im eigentlichen Sinne zu tun haben –, bewahrt  ARD und ZDF bislang vor einem Quotendesaster im linearen Fernsehen. 21.    Was politische und gesellschaftliche Aufklärung betrifft, droht den etablierten Anstalten bei den Unter-60-Jährigen die Irrelevanz. Politische und gesellschaftliche Irrelevanz aber wäre für die ARD tödlich. 22.    Brutalstmögliche Entlineaisierung als Gegenmittel ist in dieser Form aber genauso gefährlich, denn die Konzentration auf Streaming zerstört den öffentlich-rechtlichen Rundfunk als Band, das den Laden Bundesrepublik zusammenhält. Ortlosigkeit und Zeitlosigkeit bei ständiger Verfügbarkeit liefert kein Gemeinschaftsgefühl mehr, sondern bewirkt Vereinzelung. 23.    Ausgerechnet ein Privatunterhalter wie Klaas Heufer-Umlauf hat den politischen Kern des Themas verstanden, wenn er sagt, dass man in einer Zeit, in der viele Zuschauer nur noch das sehen, was sie via Algorithmen mitbekommen sollen, im linearen Fernsehen manchmal noch Leuten etwas vorsetzen kann, die nicht damit gerechnet haben. Und genau das sei die große Stärke des normalen, des sogenannten alten Fernsehens. 24.    Die mit einem fetten finanziellen Nachschlag verbundene Atempause, die die Einführung der Haushaltsabgabe 2013 zur Folge hatte, wurde von der ARD nicht genutzt für eine grundlegende Anpassung an neue Gegebenheiten unter damals noch finanziell und politisch eher komfortablen Bedingungen, sondern missverstanden als Bestätigung der Bestands- und Entwicklungsgarantie. Es bedurfte einer fragwürdigen Intervention des BVerfG, um die Bundeseinheitlichkeit der Haushaltsabgabe zu retten. Den Intendanten dämmert allerdings inzwischen, dass sie 2025 nicht ein weiteres Mal mit einer höchstrichterlichen Gebührenerhöhung rechnen dürfen. Karlsruhe ist hier ultra vires gegangen. Es sollte sich im Interesse der Landtage selbst und der parlamentarischen Demokratie insgesamt nicht wiederholen. 25.    Der große Fußballsport ist für die ARD nicht mehr finanzierbar; das gleiche gilt wahrscheinlich für Olympia. Sich an dieser Stelle zu verkämpfen, anstatt sich den Tatsachen zu stellen, engt neben den ohnehin horrenden Fixkosten und Pensionslasten den Handlungsspielraum mehr und mehr ein und gefährdet so die Legitimität des öffentlich-rechtlichen Systems auf den wirklich wichtigen Feldern: Politik, Gesellschaft, Dokumentationen, Debatte, Kultur, Wissen. Fußball wird einschließlich der Weltmeisterschaften zur Pay-TV-Angelegenheit; im Moment erleben wir nur noch die letzten Zuckungen. 26.    Wenn es wirklich gut läuft, können ARD und ZDF einen gemeinsamen verschlüsselten Sportsender gründen. Zusatzbeitrag zum Beispiel für ein Standardpaket mit 1. und 2. Bundesliga: Fünf Euro. Diese Lizenz der Politik abzutrotzen, wird angesichts des Sturms der Entrüstung von Privatsenderseite sehr schwer, aber unmöglich ist es nicht im Rahmen eines schlüssigen Gesamtkonzeptes, zumal ein solcher Schritt ein oder zwei Gebührenerhöhungen entbehrlich machen könnte. 27.    Vorbei ist auch die Zeit, in der man bei der ARD glaubte, sich eine klare Abgrenzung zum ZDF, eine klare und öffentlich nachvollziehbare Aufgabenverteilung ersparen zu können. Die Forderung der Staatskanzlei von Sachsen-Anhalt, die ARD möge sich auf das Regionale konzentrieren, ist keineswegs abwegig oder gar unverschämt, sondern angesichts einer generellen Rückbesinnung auf Heimat und Identität sogar unabdingbar. 28.    Das Regionale ist politischer als je zuvor und verlangt nach einer journalistischen Aufarbeitung weit jenseits der zum Überdruss abgenudelten Heimatkitschserien á la „Hessens schönste Kuhställe“. Die Provinz hat den USA Donald Trump beschert und Großbritannien den Brexit. Die Provinz wird Deutschland noch größeren AfD-Einfluss bescheren, wenn man nichts aus diesen Ereignissen lernen will und die Landbevölkerung mit Herablassung behandelt. Fünf Minuten Erweiterung der „Tagesthemen“ können nicht die Lösung sein. 29.    Der „Tatort“ ist auch deshalb unverändert beliebt, weil er das föderale Prinzip lebt und Kiel mit Konstanz und Dresden mit Münster ideell verbindet und die dortigen Mentalitäten anschaulich und verständlich macht. Zeigte man den Hessen nur noch Frankfurter oder Wiesbadener „Tatorte“, wäre es damit vorbei. Bayern und Holsteiner sind mental mindestens so weit auseinander wie Flamen und Wallonen, aber die Deutschen gehen geschickter mit ihren Unterschieden um.   30.    Der in mehreren Spielfilm-Redaktionen mittlerweile übliche volkspädagogische Ansatz der Drehbücher hat aber schon wiederholt die „Tatort“-Quoten erodieren und hinter jene der „Polizeiruf 110“-Folgen fallen lassen. Linksgrüne Kammerspiele, deren Cast quotengerecht zusammengestellt wurde und deren Protagonisten nur noch erwartbare Floskeln von sich geben, mit Kriminalfilm aber nichts mehr zu tun haben, kommen gerade noch auf sechs Millionen Zuschauer. 31.    Dass Deutschland, entstanden einst aus einem bunten Sammelsurium evangelischer und katholischer Klein- und Kleinststaaten mit höchst unterschiedlichen Interessen, trotz aller Wirbelstürme der Geschichte eine Balkanisierung erspart geblieben ist, ist einem zwar oft belächelten, aber höchst erfolgreichen Proporzdenken zu verdanken – konfessionell, politisch und eben auch regional. Was natürlich nur funktionieren kann mit einem national agierenden Senderverbund. 32.    Insofern ist Medienpolitiker Rainer Robra spätestens dann zu widersprechen, sollte sein Plan auf eine Abschaffung der Arbeitsgemeinschaft, auf ein Zurückstutzen der ARD-Sender auf ihr jeweiliges Sendegebiet hinauslaufen. Der politische Preis wäre enorm; die Republik driftete noch weiter auseinander, als es zwischen West und Ost, teilweise (etwa in der Energiepolitik oder im Streit um den Länderfinanzausgleich) sogar zwischen Nord und Süd heute schon anhand feiner Bruchlinien erkennbar ist. 33.    Zu beobachten, wie die Produktionsabteilungen der ARD-Sender die phantastischen Möglichkeiten ignorieren, ja bekämpfen, die sich aus der Miniaturisierung, Verbilligung und Vereinfachung der Aufzeichnungs- und Sendetechnik ergeben, tut weh. Für den Gegenwert eines einzigen großen Ü-Wagens ließe sich die flächendeckende aktuelle Berichterstattung eines mittleren Bundeslandes technisch sicherstellen. 34.    Doch ehe man nicht nach den im Kern noch aus den 50er Jahren stammenden Parametern sendet, die zentimeterdicke Vorgabenhefte füllen, sendet man lieber überhaupt nicht. Damit läuft die ARD Gefahr, mit ihren technischen Vorgaben Antworten auf Fragen zu geben, die niemand mehr gestellt hat. 35.    Bis der Heimatsender berichtet, hat der U80-Zuschauer im Netz längst das siebte Update vom Ereignisort gesehen, kommentiert und geteilt. Um das zu ändern, müssten die Intendanten freilich zu einer Radikalreform ihrer Strukturen schreiten, die sie in einen schweren Konflikt mit Personalräten, Gewerkschaften und Besitzstandswahrern zwänge. 36.    Die Festangestellten könnten sich nicht mehr gegenseitig selbst verwalten, sondern liefen Gefahr, aus dem warmen Büro und ihrem sinnlosen, weil unproduktiven Dauerkonferenzmodus vertrieben zu werden und eine Kamera in die Hand gedrückt zu bekommen, um plötzlich Reporter zu sein: Rausgehen und nachgucken, was los ist. Livestream ins Funkhaus. Material aus eigener, vertrauenswürdiger Quelle, wofür der öffentlich-rechtliche Rundfunk ja stehen sollte. Kein Hexenwerk, kann man lernen, hat technisch jeder Zehnjährige heute drauf. 37.    Dass ARD und ZDF jeweils eigene Redaktionen und Produktionsapparate für „Morgenmagazin“ und „Mittagsmagazin“ vorhalten, die dann wochenweise abwechselnd ins Koma verfallen, weil dann der andere Sender dran ist, ist niemandem mehr zu erklären. Das war eine idiotische Idee vom ersten Tag an, die auch durch wolkige Hinweise auf Pluralitätserfordernisse nie zu rechtfertigen war. Alle vier Redaktionen unterscheiden sich in ihrer grundsätzlich von Zustimmung geprägten Herangehensweise an die jeweilige Regierung oder gesellschaftliche Entwicklungen, besser bekannt als von Minderheiten geprägter Zeitgeist, nicht einmal in Nuancen. 38.    Wenn das „Mittagsmagazin“ durchgehend vom ZDF in Berlin produziert wird, ohne dass der Sendebetrieb zusammenbricht, zeigt dies nur, wie groß der Korrekturbedarf auch auf diesem Feld ist. 39.    Die Dritten Programme der ARD sind in der vorhandenen Form nicht überlebensfähig und in dieser Form auch nicht sinnvoll. Streng genommen waren sie es noch nie, weil die Ressourcen für ein ernsthaftes 24-Stunden-Vollprogramm von Anfang an („Bildungsprogramme“) nicht ausreichten. Das weiß niemand besser als die Intendanten selbst, aber sie würden sich eher die Zunge abbeißen, als es zuzugeben. Und das, obwohl hier der Reformbedarf so klar auf der Hand liegt, dass hier Realitätsverleugnung vorliegt. 40.    Wenn der summierte Tagesanteil der Dritten über dem des Ersten liegt, ist das kein Widerspruch, sondern wirft vielmehr die Frage auf, warum das ZDF der ARD im Hauptprogramm immer weiter davonläuft – 2021 so weit wie noch nie –, was  im Ersten also ganz grundsätzlich schief geht. 41.    Ihre nun schon traditionelle Schockstarre im Verhältnis zu ihren strukturell defizitären Dritten hat noch eine weitere Konsequenz: Die Intendanten zucken regelmäßig zusammen, wenn sie nach einem beliebigen Großereignis, das sich jeder vorbereitenden Planung entzogen hat, weil es etwa von einem Attentäter ausgelöst wurde, der Forderung nach einem echten ARD-Nachrichtenkanal begegnen. Einen solchen zu gründen, sei Sache der Politik, heißt es dann stets. 42.    Dieser News-Channel ist nach der zuverlässig gruseligen Performance, die die ARD nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine, der Terrorserie von Paris, dem Putschversuch in der Türkei, dem Massenmord von Nizza oder dem Attentat auf den Berliner Weihnachtsmarkt zeigte, derart überfällig, dass man sich später fragen wird, warum seine Realisierung mit der Brechstange durchgesetzt werden musste – vorausgesetzt natürlich, die ARD überlebt ihr unentschuldbares Versäumnis und er entsteht irgendwann doch. 43.    Es gibt in den Führungsetagen der Anstalten keinen erkennbaren gestalterischen Willen. Strategieabteilungen sind sehr wohl vorhanden, aber ihre Arbeit hat vor allem die Bewahrung des Vorhandenen und die Abwehr des Konkurrierenden zum Gegenstand; Lob und Tadel der Beteiligten orientieren sich exakt an diesem Maßstab. 44.    Wer dem Senderchef etwa mit dem Gedanken kommt, Vorhandenes aufzugeben, weil es sich überlebt hat oder nicht bewährt oder gar – horribile dictu – etwas Anderes wichtiger wäre, um also im Gegenzug etwas Neues aufzubauen, macht sich des Hochverrats verdächtig, mindestens aber der Nestbeschmutzung. Diese Mikado-Mentalität ist sehr ausgeprägt. 45.    Alleine der Gedanke, man könnte der Politik mit Argumenten kommen, gar auf Überzeugung setzen, weil eine Reformidee für sich selbst sprechen könnte, gilt als geradezu irre. Für die Vorstellung, in der Auseinandersetzung mit den demokratisch legitimierten Politikern habe man es mit Pokerspielern zu tun, die keine Chance auslassen, falsch zu spielen und die Sender über den Tisch zu ziehen, gibt es aber – bisher jedenfalls – in der gesamten Geschichte der ARD-Anstalten keinen triftigen Beleg. Allerdings könnte sich dieses Zeitfenster irgendwann schließen. 46.    Unbedingt festhalten, was man hat, aber jederzeit schauen, ob die Großwetterlage vielleicht im geeigneten Moment doch noch die eine oder andere Ausweitung erlaubt, für die man aber nichts hergeben muss – diese Strategie hat sich bereits Ende der 90er Jahre mit der Gründung von Phoenix erschöpft. 47.    Dass die Rundfunkräte ihre Intendanten und Direktoren in dieser Haltung seit Jahr und Tag unverändert sogar noch bestätigen, als Motoren von Erneuerung und Verbesserung von Hamburg bis München komplett ausfallen und immer häufiger sogar an ihrer Kernaufgabe krachend scheitern, der Ermittlung und Wahl eines fähigen Intendanten, rundet das deprimierende Bild ab. 48.    Reaktionäre Rundfunkräte braucht kein Mensch; sie schwächen die öffentlich-rechtliche Idee an einer entscheidenden Stelle, anstatt sie zu stärken und wetterfest zu machen. Rundfunk ist Sache der Allgemeinheit und die Rundfunkräte die Vertreter eben dieser – aber wenn diese Allgemeinheit komplett desinteressiert ist daran, was die jeweiligen Rundfunkräte treiben, und deren wertvolle Pressetexte auf Textbausteinen bestehen, die zuletzt 1998 aktualisiert wurden, dann gibt es dafür einen Grund. In Berlin (RBB, Schlesinger) hat sich nun dramatisch gezeigt, wohin das führt und wie es einen eigentlich auskömmlich finanzierten Sender in Insolvenzgefahr bringen kann. 49.    Die politische Krise der BBC, die sich durch ein eklatantes Führungsversagen in eine Existenzkrise auszuwachsen drohte, wurde überwunden, weil die BBC zwar Politik und Zeitungen zum Gegner hatte, die Bevölkerung, also die Zuschauer und Zuhörer, aber zum –wie sich zeigen sollte: machtvollen – Verbündeten. Letztere erwiesen sich vorläufig als überlegen; nur mit ihrer Hilfe gelang es der BBC, den Angriff auf ihr finanzielles Fundament weitgehend abzuwehren und sich neu zu erfinden, ohne ihre Qualitätsstandards zu verraten. 50.    Außer Gefahr ist die BBC damit, wie sich zuletzt wiederholt zeigte, aber noch lange nicht. Sie muss täglich aufs Neue ihre Existenz- und Gebührenberechtigung beweisen und verteidigen; ihre Fehlerkultur hinkt diesem Anspruch stets ein wenig hinterher, was aber bei ARD und ZDF noch viel deutlicher der Fall ist. 51.    In Deutschland hatte sich nach 1950 eine eher gegenteilige Konstellation herausgebildet: SPD, CDU, später die Grünen, mit Abstrichen je nach Tagesform auch CSU und FDP hielten jahrzehntelang aus zum Teil durchaus eigensüchtigen Motiven ihre schützende Hand über ARD und ZDF, sodass eventuelle Vorbehalte, Proteste oder Entziehungsversuche der Bevölkerung wirkungslos blieben: Per Gebührenpflicht wurden und werden Hörer und Seher zu ihrem Glück gezwungen; wer sich dauerhaft verweigert, dem wird das Konto gepfändet; ersatzweise Haftantritt. 52.    Das ist eine andere Situation als in Großbritannien, die in Deutschland zur Folge hatte, dass die Loyalität des Publikums von den Intendanten als für die eigene Existenz nicht ganz so wichtig eingeschätzt wurde und wird wie die Loyalität der Politik. Das Schmähwort vom „Staatsfunk“ (oder „Staatssender“) hat hier seinen Ursprung – die Orientierung an den Interessen derjenigen, die über das eigene finanzielle Wohl entscheiden, blieb vom Publikum ungeachtet aller gegenteiligen Beteuerungen nicht unbemerkt. 53.    Eben diese Loyalität der Politik erodiert jedoch in einem Augenblick, in dem es den grundsätzlich ARD-freundlichen Parteien selbst an den Kragen geht und sie den Unmut eines – augenscheinlich wachsenden – Teils der Bevölkerung über Gebaren und Produktqualität der Sender nicht länger nonchalant ignorieren können. 54.    Nichts wäre natürlich in dieser Lage – siehe BBC – wertvoller als die möglichst uneingeschränkte Loyalität der Bevölkerung. Doch daraus wird nichts. Vielmehr wurde sie in den zurückliegenden 25 Jahren schwächer. Das hat nur zu einem geringen Teil seine Ursache in der Digitalisierung und ihren Folgen, also in einer sagenhaften und von niemandem aufzuhaltenden Ausweitung des Programmangebots. 55.    Hauptgrund für eine fortschreitende und langsam gefährlich werdende Entfremdung zwischen ARD und Publikum sind vielmehr eigene und sehr gravierende inhaltliche Fehler, kumulierend in einer erstaunlichen Distanzlosigkeit gegenüber der deutschen Politik und ihren Irrtümern, wie sie nun als solche zu Tage treten. 56.    Bundeskanzler Kohl hätte es ohne die fast durchgehend sehr wohlwollende, mindestens aber harmlose und gerne geradezu bewundernde Berichterstattung und Kommentierung seines Lebensprojektes, der Europäischen Währungsunion, sehr viel schwerer gehabt, den Euro zwischen 1991 und 1998 gegen den Widerstand einer zu fast drei Vierteln skeptischen Bevölkerung durchzusetzen. Kritik an Umfang und Zeitplan des Euro wurde über Jahre unisono und auch mit Hilfe von ARD und ZDF als nationalistisch, europafeindlich und hinterwäldlerisch denunziert. 57.    Die aktuelle Lobhudelei zugunsten der Grünen bei gleichzeitiger Ausblendung der fatalen Folgen, die Robert Habecks vermeintliche Energiewende für die weniger Betuchten bereits hat und noch haben wird, schürt weitere Zweifel an der Urteilskraft der ARD-Journalisten. 58.    Euro, Einwanderung, Energiepolitik, Abwrackung der Autoindustrie – große Teile der Bevölkerung sehen ihre Vorbehalte weitgehend bestätigt, während Politik, Experten und Leitmedien, etwa wegen ihrer Europa-Seligkeit und der Positionierung von weltweiter Klimarettung als Staatsziel Nummer 1, an Glaubwürdigkeit einbüßten. Historisch hohe Inflationsraten werfen Fragen auf, nicht nur an die Adresse der dafür letztlich verantwortlichen Politik, sondern auch an ARD und ZDF, deren journalistische Weitsicht durch exorbitante Preissteigerungen dementiert wird. Zu glauben, die Entstehungsgeschichte des Euro in den 90ern sei beim Publikum in Vergessenheit geraten, wäre ein weiterer Fehler. 59.    Weitere Beispiele sind die Elitenprojekte „Energiewende“ mit ihrer beispiellosen Umverteilung von Unten nach Oben, Verdrängung des Diesel-Autos bei milliardenschwerer Förderung von E-Autos, „EU-Osterweiterung“, die speziell in den Großstädten unter anderem zur Verwahrlosung ganzer Stadtteile und einer krassen Zunahme der grenzüberschreitenden Kriminalität führte, und in jener unterschiedslosen Förderung unkontrollierter Einwanderung, welche die AfD ungeachtet ihrer strukturellen Politikunfähigkeit am Leben erhält, weil alle anderen Parteien sich taub zeigten und weiter zeigen für die Skepsis der einheimischen Bevölkerung. 60.    Bei keinem der oben genannten Megathemen fand und findet die Bevölkerung ihre Vorbehalte, ihre Fragen und ihre Sorgen ausreichend im ARD-Programm repräsentiert. Schon gar nicht fand sich jemand zu einem Eingeständnis bereit, etwa der Euro sei – mit Blick auf das Elend in Griechenland, die Krisen in Italien und in Spanien, den Dauerkonflikt mit Frankreich um die Politisierung der Währung und nun die höchste Inflation seit 70 Jahren – keineswegs das geniale Friedensprojekt, als der er jahrzehntelang der kleinen dummen unwissenden Bevölkerung gepriesen worden war. Die galoppierende Geldentwertung in Kombination mit einer handlungsunwilligen EZB lässt die schlimmsten Befürchtungen der Euro-Skeptiker wahr werden. Und sollte die Abschaltung von Atomkraftwerken tatsächlich zu einem großen Blackout führen, werden ARD und ZDF am Pranger stehen und die Bundesregierung vor dem Rücktritt. 61.    Keines der von Angela Merkel auf oft fragwürdiger Legitimationsbasis durchgesetzten Großprojekte wie Atomausstieg, Energiewende mit Moskau als heimlichem Sponsor oder Masseneinwanderung wurde von den programmprägenden ARD-Journalisten vor und hinter der Kamera ernsthaft in Frage gestellt. Diese fungierten vielmehr als zuverlässige Hilfstruppen, wenn es darum ging, gegen „Populismus“ anzusenden oder die jüngsten angeblichen Integrationserfolge in den höchsten Tönen mit einfühlsamen Reportagen zu loben, während Mordanschläge verrohter Neubürger als regionales Ereignis abgetan und von der „Tagesschau“, wo immer möglich, ferngehalten wurden, was niemand anderes besorgte als der nächste ARD-Vorsitzende Kai Gniffke. 62.    Die Diskrepanz zwischen Lebenswirklichkeit und Sendungswirklichkeit führte zu einem Vertrauensverlust, der sich nur durch eine durchgreifende Rückbesinnung auf journalistische Kriterien heilen lässt, die nicht die mutmaßliche politische Wirkung einer Nachricht kalkulieren, sondern die Relevanz des Ereignisses in den Augen der eigenen Zielgruppen. Journalismus anstelle von Aktivismus ist der Schlüssel zur Behebung vieler Probleme dieser ARD. 63.    Natürlich müssen die Relevanzkriterien eines „Tagesschau“-Redakteurs nicht identisch sein mit denen eines Rentners in Kandel. Das hätte groteske Folgen. Aber sie müssen für den Rentner noch mit gutem Willen nachvollziehbar sein. Nimmt der pädagogische Impetus des Redakteurs aber überhand, verbindet sich gar mit Motiven, die eher einen Aktivisten als einen Journalisten vermuten lassen, dann kommt es zum Bruch. Schaut man sich unter diesem Aspekt Formate an wie „Funk“, muss man alle Hoffnung fahren lassen. Das ist linksgrünes Appeasement der Extraklasse, in der abweichende Meinungen und Fragen nicht den Hauch einer Chance haben. 64.    Das Verhältnis zwischen Input (Geld und Personalaufwand) und Output (Programm) ist im Laufe der Jahrzehnte immer schlechter geworden und inzwischen hochkritisch. Redakteure und erst recht die freien Mitarbeiter fragen sich schon lange, wo eigentlich die ganze Kohle bleibt, wenn sie wieder einmal mit ihrem Verlangen gescheitert sind, eine journalistisch wichtige Dienstreise genehmigt zu bekommen oder eine Sondersendung anzusetzen. Selbst direkt programmrelevante Kleinigkeiten scheitern inzwischen an angeblichem Geldmangel. 65.    Dass große, zeitkritische Dokumentationen oder Fernsehspiele wie „Bad Banks“, „Charité“, „Gladbeck“ oder „Babylon Berlin“ ohne umfangreiche staatliche und privatkonzernmäßige Unterstützung, harmlos „Fördertöpfe“ und „Kooperationen“ genannt, gar nicht mehr denkbar sind, ist ein untragbarer Zustand. Die einflussreichste Intendantin Deutschlands hieß in den vergangenen Jahren nicht etwa Karola Wille oder Patricia Schlesinger, sondern Monika Grütters – Kulturstaatsministerin mit Sitz im Kanzleramt, eine Etage oberhalb von Angela Merkel, und einem Etat von mittlerweile zwei Milliarden Euro. Claudia Roth wird diesen Staatseinfluss noch auszubauen versuchen. Zu glauben, dies könne ohne Folgen für Programminhalte und Glaubwürdigkeit bleiben, wäre hoffnungslos naiv. 66.    Die ARD braucht also nicht lauter unterfinanzierte Dritte, schon gar nicht braucht sie unter Ausschluss der Öffentlichkeit werkelnde „Tagesschau“-, Kultur-, Bildungs- und Nischenkanäle, die nur Insidern ein Begriff sind – sie braucht endlich einen ernstzunehmenden, schnellen, professionellen, mit modernsten – und zugleich in der Regel billigen – Geräten ausgestatteten Nachrichtenkanal, auf den rund um die Uhr Verlass ist. 67.    Unausgesprochen steht längst die Frage im Raum, ob man es mit der Zusammenarbeit zwischen ARD und ZDF nicht übertrieben hat, weil darunter die Sinnhaftigkeit der Unterhaltung zweier riesiger Apparate notwendig leiden musste. Inzwischen lässt sich für diesen Aufwand ja nicht einmal mehr das noch im 20. Jahrhundert so beliebte Muster als Rechtfertigung heranziehen, die ARD sei eher evangelisch und SPD-nah, das ZDF eher katholisch und CDU-nah. In ihrer Herangehensweise an politische und gesellschaftliche Themen unterscheiden sich die Senderfamilien nicht einmal mehr in Nuancen. Experten mögen noch handwerkliche Details identifizieren – allerdings keineswegs immer zugunsten der ARD. 68.    Wenn bereits den Medienexperten in CDU-geführten Staatskanzleien der Markenkern der ARD nicht länger einleuchtet, ist dies ein Warnzeichen. Schon aus diesem Grund sollte ein waschechter öffentlich-rechtlicher Nachrichtenkanal eine waschechte ARD-Veranstaltung sein, allenfalls – siehe unten – mit Phoenix als Zulieferer. Ohnehin würde das ZDF versuchen, umgehend mit einem eigenen Newschannel nachzuziehen. Die ARD wäre allerdings sehr gut beraten, hier einmal schneller zu sein als das ZDF. 69.    „ARD aktuell“ hat in den vergangenen Jahren immer wieder bewiesen, dass es mit der Funktion als Nukleus eines Nachrichtenkanals überfordert ist, was zunächst niemandem vorzuwerfen war, denn dafür wurde die Abteilung nicht konstruiert. „Tagesschau“-Sonderausgaben werden speziell vom jüngeren Publikum nicht länger als Ersatz und Lückenbüßer akzeptiert, wenn es irgendwo richtig geknallt hat. Dazu sind die Online-Medien längst viel zu schnell. 70.    Dieser Entwicklung weiterhin mit verschränkten Armen zuzuschauen und – darauf angesprochen – achselzuckend auf „die Politik“ zu verweisen, kann sich die ARD schlicht nicht leisten. Dass sie es trotzdem seit Jahren tut, ist in seinen Folgen bald kaum noch zu reparieren. Wenn reihenweise prominente Gesichter zu den Privatsendern abhauen, was nicht nur am Gehalt liegen kann, wäre eine gewisse Nachdenklichkeit ebenfalls langsam am Platze. 71.    Phoenix ist als Nachrichtensender weder gedacht noch geeignet und was tagesschau24 eigentlich sein soll, weiß man nicht einmal beim NDR selbst. Phoenix sollte in ARD24 aufgehen und jene Sendestrecken füllen, in denen aktuell wenig passiert, sowie weiterhin die Übertragung von politisch oder gesellschaftlich wichtigen Live-Ereignissen gewährleisten. 72.    Auch in diesen Live-Strecken muss jedoch jederzeit gewährleistet werden, dass sie zugunsten relevanter aktueller Ereignisse unterbrochen werden können. Der Zuschauer muss die Gewissheit haben, dass er nirgendwo schneller und präziser als auf ARD24 unterrichtet wird, wenn auf seinem Smartphone eine – auch nach Meinung von ARD24 relevante – Eilmeldung hochpoppt. 73.    Technisch ist es ohnehin aus aktuellem Anlass kein Problem mehr, notfalls die von Phoenix bereitgestellte Ereignisübertragung online separat bereitzustellen, falls sich jemand partout einen achtstündigen SPD-Parteitag oder eine 14-stündige Bundestagssitzung mit 23 Teilnehmern im Plenarsaal unterbrechungsfrei reinziehen will. 74.    Alternativ ist zu überlegen, ob man Phoenix – sofern sich das ZDF das zutraut – ganz in die Hände des ZDF gibt, verbunden mit einem Vertrag als wichtiger Zulieferer. Im Gegenzug könnte man überlegen, ob man dem ZDF vertraglich Zugriff auf die eigenen Produktionen von ARD24 gewährleistet, die es live übernehmen darf, bis es mit eigenen Mitteln und aus eigenen Quellen berichten kann. Die Zuschauer blieben dann ohnehin bei ARD24. 75.    Inwieweit ARD24 und Phoenix allerdings wirklich nebeneinander sinnvoll als Vollprogramme koexistieren könnten und sollten, wäre gründlich zu beraten – natürlich auch im Hinblick auf die Kosten. Der Jahresetat von 37 Millionen Euro wirkt allerdings alles andere als übertrieben. Phoenix arbeitet kostengünstig. 76.    Das stündliche Nachrichtenkorsett von ARD24 sollte so knapp wie möglich gehalten werden, zugeliefert von „ARD aktuell“ nach speziellen Vorgaben. 77.    Die für eine authentische Live-Coverage notwendige Hardware ist in den vergangenen zehn Jahren derart billig geworden, dass die für einen ununterbrochenen Sende- und Übertragungsbetrieb erforderlichen Investitionen kein echtes Hindernis mehr darstellen. 78.    Bereits mit einem Grundkapital von 50 Millionen Euro sowie einem Jahresetat von 100 Millionen ließe sich dieses Projekt realisieren, vorausgesetzt, ein Sender hat die alleinige Federführung und der Chef von ARD24 bekommt freie Hand bei der Auswahl und Führung von Technik und Personal bei weitgehendem Kleinstaaterei-, Arbeitsgruppen-, Kommissions-, Dauerkonferier- und Von-Draußen-Reinlaber-Verbot. 79.    Ein Jahresetat von 100 Millionen Euro entspräche weniger als einem Achtzigstel der jährlichen Gesamteinnahmen von ARD und ZDF. Bevor ein Intendant sagt, dieser Betrag sei ohne Gebührenerhöhung „nicht darstellbar“, sollte er kurz innehalten und überlegen, ob ein solcher Satz wirklich eine gute Idee ist. Die Entlastung um teure internationale und nationale Sportrechte durch Gründung – siehe oben – eines ARD-ZDF-Pay-TV-Sportkanals stellte bereits einen Großteil der Refinanzierung dar. 80.    Hinz und Kunz gehen inzwischen mit ihren Smartphones von jedem beliebigen Ort der Welt aus komplett ungefiltert live auf Sendung. Die Ereignisberichterstattung – speziell jene von Katastrophen, Unglücken, Anschlägen, Boulevard-Themen aller Art – befindet sich in einer epochalen Umwälzung. Wenn die großen Sender darauf keine Antwort finden – und zwar schnell und nicht erst in fünf Jahren –, bricht ihnen ihr Kerngeschäft weg. Was aber erst einmal weg ist, kommt nicht wieder. 81.    Als Prinzip von ARD24 sollte gelten: Aus Deutschland wird mit eigenen Mitteln und Reportern berichtet, denen die übrigen ARD-Anstalten jeweils zwei oder drei Büros an ihren Standorten zur Verfügung stellen, von denen eines auch als multimediales Studio fungiert, idealerweise neben den örtlichen Kollegen von ARD aktuell. Im Ausland stehen die Korrespondenten zur Verfügung. 82.    Natürlich muss dieser News-Kanal so zentral angesiedelt werden wie möglich. Auf der Hand liegt als Zentrale das HR-Studio Kassel in der Mitte Deutschlands am Schnittpunkt der wichtigsten Nord-Süd- und Ost-West-Autobahnen A7 und A4. 83.    ARD24 bezieht darüber hinaus fünf Büros im ARD-Hauptstadtstudio, von denen zwei ohne großen Aufwand als Live-Studios ausgerüstet werden. 84.    Wenn die Redaktion einen Hubschrauber braucht, weil in Kleinkleckersdorf fernab jeder Autobahn eine Kohlengrube oder ein Tanklastzug explodiert ist, ganze Landstriche unter Wasser stehen oder ein Wahnsinniger einen Politiker angegriffen hat, dann nimmt sie den Hubschrauber, der rund um die Uhr vor der Tür steht. Wie Bild am 15. Juli 2021 ARD und ZDF gnadenlos vorgeführt hat mit ganztägigen Live-Bildern von oben aus dem Ahrteil, sollte als Lektion eigentlich genügt haben. Irgendwann nachmittags kam dann die ARD auf die gleiche Idee, aber man mag sich nicht vorstellen, wieviel Abstimmungs- und Genehmigungsbedarf dem vorangegangen ist. 85.    Der erfolgreichste Newschannel wird derjenige sein, der es am geschicktesten versteht, die Zeit bis zum Eintreffen des eigenen Reporters durch die Nutzung von Amateurquellen zu überbrücken. 86.    Ziel muss es sein, zwei Jahre nach der Gründung von ARD24 in jeder der 106 deutschen Kreisstädte einen ausgebildeten Journalisten zu haben, der bei Bedarf innerhalb einer Stunde vom Ereignisort live in Bild und Ton berichten kann, wobei als Übertragungsweg Mobilfunk zunächst absolut ausreicht. Das dafür notwendige Equipment inklusive HD-Kamera und Reportermikrofon kostet pro freiberuflichem Reporter derzeit noch 4.500 Euro. 87.    Wichtig sind Tempo, Authentizität, Verlässlichkeit. Diese 106 Mitarbeiter bildet ARD24 im Hinblick auf seine besonderen technischen und formalen Ansprüche zentral selbst aus und hält sie anschließend mit einer fairen Monatspauschale von 500 Euro als Frei- oder Nebenberufler bei der Stange und in Bereitschaft. Gehen sie auf Sendung, live oder mit einem Beitrag, wird dies für jeden Einzelfall gesondert bezahlt. Sie sichern die aktuelle Berichterstattung, bis im Bedarfsfall aus dem nächsten Studio oder Funkhaus technische und personelle Unterstützung kommt.   88.    Bei der Nutzung von Amateurquellen ungewisser Provenienz die Spreu vom Weizen immer wieder aufs Neue zu trennen, und zwar innerhalb weniger Minuten, entwickelte sich zu einer eigenen journalistischen Kunstform, die herbe Fehler, böse Blamagen und großartige Chancen zugleich bereithält. 89.    Oberste Priorität in der Philosophie von ARD24 muss die Schaffung und Nutzung eigener Quellen haben. Diesem Ziel haben sich alle Strukturen und Methoden unterzuordnen. Die Gründe dafür liegen in Zeiten globaler Desinformation, die einhergeht mit einer Delegitimation öffentlich-rechtlicher Medien weltweit, auf der Hand. 90.    Eine Fusion von ARD und ZDF ist in dieser Lage weder notwendig noch sinnvoll. Die beteiligten Anstalten paralysierten sich vielmehr für zehn Jahre gegenseitig und fielen aus für ihre eigentliche Aufgabe. Übrig bliebe ein Monolith, ein Fremdkörper ohne Verankerung in der Region. Das kann sich Deutschland weniger denn je leisten. Wenn das ZDF in diesem Reformpapier nur eine Nebenrolle spielt, dann deshalb, weil es am ehesten in der Lage sein wird, selbst zurecht zu kommen, und es alle Landtage hinter sich wissen kann. Die ARD-Anstalten, gerade die kleinen und mittleren, sind deutlich verletzlicher. Stand: 01. Dezember 2022
Jens Peter Paul
Der öffentlich-rechtliche Rundfunk steckt in der Krise. Unser Autor formuliert 90 Thesen, um die Loyalität und Akzeptanz des breiten Publikums nach und nach durch konkrete Maßnahmen und überzeugende Arbeit zurückerobern zu können.  
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2022-12-05T17:25:05+0100
2022-12-05T17:25:05+0100
https://www.cicero.de//ard-im-selbstzerstorungsmodus-teil-iii-exklusiv-fur-xing-leser-90-thesen-fur-eine-haltbare-zukunft-der-ard
Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu EU-Krediten - Blaupause für Gemeinschaftshaftung
Eine Finanzierung des EU-Haushalts über Schulden ist generell ausgeschlossen. Dennoch wird der Ruf nach schuldenfinanzierten Programmen der Union lauter, für die die Mitgliedstaaten dann garantieren müssten. Bereits heute wird eine EU-Makrofinanzhilfe für den Haushalt der Ukraine in Form von Darlehen von bis zu 9 Mrd. EUR auf der Basis von zusätzlichen Garantien der Mitgliedstaaten finanziert. Dies wären „Peanuts“ im Vergleich zum geplanten langfristigen Wiederaufbauplan „RebuildUkraine“ im Umfang von vielleicht 100 bis 300 Mrd. EUR, der nach vorläufigen Planungen aus Zuschüssen und Darlehen bestehen dürfte. Schließlich stehen ein aktuelles Positionspapier der SPD für eine „europäische Industrie-Investitionsoffensive“ und ein „Notfallfonds für die Souveränität“ des französischen Staatspräsidenten Emmanuel Macron zur europäischen Industriepolitik als Reaktion auf den US-Inflation Reduction Act in einer Linie mit dem im Juli 2020 vom Europäischen Rat beschlossenen kreditfinanzierten Sonderhaushalt „NextGenerationEU“ (NGEU) in Höhe von 750 Mrd. EUR. Die Konjunkturhilfen des Wiederaufbaufonds sollen den wirtschaftlichen Folgen der Covid-19-Pandemie entgegenwirken. 360 Mrd. EUR sind als Kredite und 390 Mrd. EUR als nicht rückzahlbare Zuschüsse an die Mitgliedstaaten vorgesehen. Aufgrund der Kreditfinanzierung des Sonderhaushalts wurde ein geändertes Eigenmittelsystem vom Rat der Europäischen Union beschlossen, denn bislang kann der EU-Haushalt nur durch Zolleinnahmen, die nationalen Mehrwertsteuer-Abführungen und die Beiträge der EU-Mitgliedstaaten auf der Basis eines einheitlichen Prozentsatzes ihres Bruttonationaleinkommens gegenfinanziert werden – den sogenannten Eigenmitteln. In zwei Verfassungsbeschwerden wurde die EU-Verschuldung als Kompetenzüberschreitung beanstandet und die Haftung der Mitgliedstaaten als Verstoß gegen das Nicht-Beistandsgebotes (Art. 125 AEUV) beklagt. Im sogenannten Nikolaus-Urteil v. 6. Dez. wies das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) die Beschwerden zurück (2 BvR 547/21, 2 BvR 798/21). Schon das Gesetzgebungsverfahren und die Klageeinreichung waren verfahrenstechnisch bemerkenswert. Am 25. März 2021 stimmte der Bundestag in dritter Lesung dem ERatG zu. Tags darauf, die Tagesordnung war Stunden nach der Abstimmung kurzfristig geändert worden, stimmte auch der Bundesrat dem Gesetz zu. Dabei drängt sich der Verdacht auf, dass die Bundesregierung – in Vorahnung kommender Verfassungsbeschwerden – das Gesetz handstreichartig beschließen und sofort danach vom Bundespräsidenten wollte ausfertigen lassen. Um das zu verhindern, untersagte das BVerfG dem Bundespräsidenten in einem sogenannten Hängebeschluss bereits kurz nach der Abstimmung, das ERatG auszufertigen. Hintergrund dieser Vorkehrung war, die Unterschrift des Bundespräsidenten zu verhindern, die das Gesetz sofort in Kraft gesetzt hätte. Auch bei einer Stattgabe eines Eilantrages wäre nämlich eine völkerrechtlich wirksame Ratifizierung erfolgt, die nicht mehr hätte rückgängig gemacht werden können. Dieser Vorgang war ein bislang einmaliger Schritt, denn üblicherweise werden entsprechende Fälle in informeller Absprache zwischen dem BVerfG und dem Präsidialamt geregelt. Formal richteten sich die Verfassungsbeschwerden gegen das Eigenmittelbeschluss-Ratifizierungsgesetz (ERatG), mit dem Deutschland seine Zustimmung zur Verschuldung der EU in Höhe von 750 Mrd. EUR erklärt. Inhaltlich wurden drei Punkte beanstandet: Mit einer Senatsmehrheit von 6:1 erhebt der zweite Senat des BVerfG keine „durchgreifenden Bedenken“. Der gängigen Praxis entsprechend wurden trotz Abweisung der Klagen zukünftige Grenzen thematisiert. So benennt das Urteil folgende Bedingungen als Voraussetzung für eine EU-Verschuldung: Indem der Covid-19-Aufbaufonds auf der „EU-Katastrophenschutzklausel“ des Art. 122 AEUV basiert, wird die EU-Verschuldung auf eine Zweckbindung zurückgeführt. Im Umkehrschluss, so das Urteil, „wird die Aufnahme von Krediten durch die Europäische Union am Kapitalmarkt jedenfalls dann unzulässig sein, wenn sie allgemein zur Haushaltsfinanzierung erfolgt“ (Rn 158). Die Rechtfertigung auf Basis von Art. 122 AEUV ist überaus heikel. Denn der Aufbaufonds ist ein gewaltiger Bruttoumverteilungsmechanismus. Mit 65,9 Mrd. EUR ist Deutschland der größte Nettozahler. Würde man ausschließlich die Nettozahlungen der einzelnen Mitgliedstaaten addieren, so ergäbe dies nach Berechnungen des Bundesrechnungshofes ein Nettoumverteilungsvolumen in der Größenordnung von lediglich 144,9 Mrd. EUR. Die Differenz zum gesamten kreditfinanzierten Zuschussvolumen in Höhe von 390 Mrd. EUR macht demnach 245,1 Mrd. EUR aus. Ein Großteil der Gelder folgt demnach der Devise „Linke Tasche, rechte Tasche“. Dies widerspricht einem Notfallmechanismus, bei dem nur einzelne Staaten unterstützt werden. Zudem erhalten alle Mitgliedstaaten – neben den rückzahlbaren EU-Krediten aus NGEU in Höhe von insgesamt 360 Mrd. EUR – kreditfinanzierte Zuschüsse als zusätzliche Haushaltsmittel, die in keiner nationalen Schuldenstatistik auftauchen. Ein neues Kreditfass ist eröffnet! Das könnte Sie auch interessieren: Durchaus kritisch sieht das Gericht den vergangenheitsorientierten Verteilungsschlüssel der Mittel mit Bezug auf die Jahre 2015 bis 2019, der keinen Bezug zu den ökonomischen Folgen der Pandemie aufweist. Auch wird eine fehlende Konnexität der Verwendungsauflagen mit den Covid-19-Folgen bemängelt. So müssen u.a. 37% der Mittel für Maßnahmen des Klimaschutzes verausgabt werden. Sodann werden mit mehr als 10% der Mittel bestehende EU-Programme aufgestockt. Schließlich wird der Zeitraum der Mittelverausgabung von 2021 bis 2026 als zu lang für eine konjunkturelle Belebung erachtet. Trotz dieser Einwände würde der Eigenmittelbeschluss 2020 die Einzelermächtigung aus Art. 122 AEUV „jedenfalls nicht offensichtlich“ überschreiten. Die „Zweckbindung für die Bewilligung der Kreditaufnahme ... beruht ... zumindest auf einer im Ergebnis vertretbaren Auslegung von Art. 122 Abs. 1 und Abs. 2 AEUV“ – so das Urteil (Rn. 182). Die Tragweite dieser Wertung ist schwerwiegend. Entgegen der Hervorhebung, EU-Kredite dürften nicht der allgemeinen Haushaltsfinanzierung dienen, ist der Weg frei, um zukünftig auf der Grundlage einer festgestellten Ausnahmesituation jegliche der EU übertragenen Aufgabe durch Verschuldung zu finanzieren. NextGenerationEU wäre die Blaupause für weitere Sonderhaushalte auf Kredit – auch teils mangelnder nationaler Verschuldungskapazität (Italien, Griechenland). Ebenfalls ist die im Urteil geforderte Begrenzung der Verschuldung nach Höhe und Zeit inhaltsleer. So sieht das Gericht die zeitliche Begrenzung der Kredite als grundsätzlich gegeben an, obwohl die Verschuldung inklusive Tilgung einen Zeitraum von 2021 bis 2058 umfasst. Auch würden die den EU-Haushalt in den Jahren 2021 und 2022 um mehr als das Doppelte übersteigenden Kreditermächtigungen aus NGEU „auf einen Verstoß gegen Art. 311 Abs. 2 und Abs. 3 AEUV hin[deuten]“ (Rn. 198). Allerdings ergäbe sich eine andere Beurteilung, wenn man auf den Mehrjährigen Finanzrahmen der Europäischen Union (MFR) insgesamt abstellen würde. Danach beträgt die geplante Verschuldung bezogen auf den regulären MFR (2021-2027) 67%; nimmt man die Summe aus dem MFR und NGEU, dann beträgt der Kreditanteil 40%. Vor dem Hintergrund – so das Gericht –, dass sich die Kreditaufnahme aufgrund von Verzögerungen der Umsetzung der nationalen ARFs voraussichtlich deutlich strecken wird, wäre eine Durchbrechung der jährlichen Obergrenze als eine zu akzeptierende Ausnahme anzusehen. Schließlich würde die Grenze nur in zwei von sieben Jahren durchbrochen. Dies ist in mehrfacher Hinsicht eine überaus kreative Auslegung der Verträge. Zum einen basiert die Anerkennung der Ausnahme auf einer vagen Prognose der Verausgabungen, die zudem de lege lata keinerlei Relevanz besitzt. Schließlich komme es „für die rechtliche Bewertung ... auf die Ermächtigung der Europäischen Kommission zur Kreditaufnahme an, nicht auf deren Vollzug und die tatsächliche Inanspruchnahme des Kreditvolumens“ (Rn. 196). Zum anderen ermöglicht die Regel der EU selbst bei Einhaltung eine Verdopplung der Ausgaben, wobei die Hälfte der Ausgaben in kreditfinanzierten Schattenhaushalten niedergelegt würde. Faktisch entgrenzt das Gericht seine selbst gesetzten Bedingungen einer zeitlichen Befristung und der quantitativen Limitierung der Verschuldung. Bei den EU-Krediten handelt es sich um ein bilaterales Kreditverhältnis, bei dem die Mitgliedstaaten nicht im Außenverhältnis gegenüber den Gläubigern haften. Im Innenverhältnis besteht allerdings der Grundsatz der anteiligen Verbindlichkeiten der Mitgliedstaaten entsprechend ihrem MFR-Finanzierungsanteil – für Deutschland beträgt er etwa ein Viertel. Für den Fall einer Liquiditätsklemme kommt eine Kaskade zusätzlicher Mittelanforderungen hinzu. Hierbei könnte die EU-Kommission in einem letzten Schritt eine Nachschusspflicht im Sinne einer mittelbaren Haftung der Mitgliedstaaten einfordern. Diese müssten anteilig für Ausfälle anderer Mitgliedstaaten aufkommen – Eurobonds durch die Hintertür. Nach eigenen Berechnungen würde Deutschland jährlich mit rechnerisch bis zu ca. 32,65 Mrd. EUR garantieren und zwar über die gesamte Laufzeit der Kreditrückzahlung bis 2058. Über die 30 Jahre des Tilgungszeitraumes übersteigt die Summe der jährlichen Garantien Deutschlands – rein rechnerisch – das gesamte NGEU-Kreditvolumen. Das Gericht offenbart hier eine „hybride“ Analyse von Haftung und gerät so auf einen problematischen Schlingerkurs. „Der säumige Mitgliedstaat bleibt in diesem Fall jedoch verpflichtet, seinen Finanzierungsanteil an der Schuldenrückzahlung zu leisten, so dass es nicht um eine Haftungsübernahme im eigentlichen Sinne geht; die Zwischenfinanzierung durch die übrigen Mitgliedstaaten ... ist insoweit nur befristet, nicht endgültig“ (Rn 209). Das Risiko „schwarzer Schwäne“ (Finanzmarktkrise 2007/2008, Griechenlandkrise 2009) bleibt hierbei völlig ausgeblendet. Zwar gilt der Grundsatz der Rechtstreue und der loyalen Zusammenarbeit (Art. 4 Abs. 3 EUV). Dennoch lässt das Verhalten mancher Mitgliedstaaten anlässlich der Staatsschuldenkrisen und der Flüchtlingspolitik erhebliche Zweifel an einer konsensualen Konfliktlösung aufkommen. Beispielsweise könnte ein „unfriedlicher“ Austritt Italiens aus dem Euro oder die Geltendmachung von Reparationszahlungen Polens und Griechenlands gegenüber Deutschland diesen Mitgliedstaaten Anlass bieten, ihre Tilgungsbeiträge an NGEU zu verweigern. Die „Zwischenfinanzierung“ könnte also in einem Bail-out enden. Es gilt der Grundsatz, dass die nationalen Gerichte die Ultra-vires- und Identitätskontrolle zurückhaltend und europarechtsfreundlich anzuwenden haben. Gemäß „diesen Maßstäben stellt der dem Eigenmittelbeschluss-Ratifizierungsgesetz zugrundeliegende Eigenmittelbeschluss 2020 jedenfalls keine offensichtliche und strukturell bedeutsame Überschreitung des geltenden Integrationsprogramms der Europäischen Union dar“, so das Gericht (Rn. 147). So komme es „nicht auf die Auslegung ... durch den Gerichtshof [gemeint ist der EuGH] an, weil es sich bei einer engen Auslegung des Eigenmittelbeschlusses 2020 nach Auffassung des Senats nicht um eine hinreichend qualifizierte Überschreitung des Integrationsprogramms oder eine Berührung der Verfassungsidentität des Grundgesetzes handelt“ (Rn.336). Es sei nicht davon auszugehen, dass der EuGH die in Rede stehenden Einzelermächtigungen in Art. 122 und Art. 311 AEUV enger auslegen würde als das BVerfG. Deshalb würden „die Verfassungsbeschwerden auch im Falle einer Vorlage erfolglos [bleiben]“ (Rn. 236) – eine gewagte Prognose auf fehlender Grundlage. Zudem verweist das Gericht zuvor darauf, dass „Art. 122 AEUV ... eine grundsätzlich eng auszulegende Ausnahmevorschrift für gravierende Schwierigkeiten [darstellt], deren Regelungsgehalt im Einzelnen weitgehend ungeklärt ist“ (Rn 174). Da stellt sich die Frage nach der Konsistenz der Urteilsbegründung. Es fehlt an einer vergleichbaren Rechtsprechung hinsichtlich Art. 122 AEUV und Art. 311 Abs. 2 AEUV. Hierin spiegelt sich eine Anmaßung des Gerichts wider, über eine eigenständige Auslegung des EUV zu entscheiden, obwohl keine entsprechende Auffassung seitens des EuGHs in dieser Sache vorliegt. Das Gericht wäre deshalb gehalten gewesen, den Fall zur Voranfrage an den EuGH zu geben – ein prozessual erheblicher Mangel des Urteils. Als Fazit ist festzustellen, dass das Urteil des BVerfG zu den NGEU-Gemeinschaftskrediten den deutschen und europäischen Akteuren einer Fiskal- und Transferunion die Tür weit geöffnet hat, um auch zukünftig EU-kreditfinanzierte Programme durchzuführen, die mit hohen Nettolasten für Deutschland verbunden sein dürften. Der Autor zählt zu den Beschwerdeführern der Klage des „Bündnis Bürgerwille“ zu den EU-Krediten.
Dirk Meyer
Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu den EU-Gemeinschaftskrediten anlässlich des Corona-Wiederaufbaufonds hat die Tür für eine Transferunion weit geöffnet. Zukünftig EU-kreditfinanzierte Programme würden insbesondere Deutschland hart treffen, das mit hohen Nettolasten rechnen muss.
[ "Europäische Union", "EU-Haushalt", "Bundesverfassungsgericht" ]
wirtschaft
2023-03-28T15:13:19+0200
2023-03-28T15:13:19+0200
https://www.cicero.de//wirtschaft/europaische.union-eu-haushalt-bundesverfassungsgericht-transferunion
Anne Will diskutiert über die China-Politik des Kanzlers - Zwickmühlen und andere Zwänge
Den emotionalen Höhepunkt erreichte die ansonsten recht friedliche Anne-Will-Sendung am Sonntagabend, als Hamburgs Erster Bürgermeister Peter Tschentscher (SPD) eine „Desinformation“ der Öffentlichkeit beklagte. Dass 69 Prozent der Deutschen sich gegen die chinesische Beteiligung an einem Terminal im Hamburger Hafen aussprächen, sei eben darauf zurückzuführen, dass die Bürger falsch unterrichtet seien. Es sei schlicht die Unwahrheit, so der SPD-Politiker, dass „kritische Infrastruktur“ an die Chinesen ginge. „Die Chinesen kaufen den Hamburger Hafen“, das seien die Titelzeilen gewesen, und die seien eben falsch gewesen. Desinformation, das war natürlich ein Empörungsschalter, der gleich die Debatte etwas erregter werden ließ. Melanie Amann vom Spiegel widersprach denn auch prompt und entschieden, eine „Frechheit“ sei es, hier den Medien generell falsche Nachrichten zu unterstellen. Sie hatte vorher schon dem Regierungschef der Hansestadt ein zu kleines Karo vorgehalten. Man müsse das „Big picture“ sehen, und dies zeige einen wachsenden chinesischen Einfluss und eine chinesische Strategie, die eben unter dem Begriff „Neue Seidenstraße“ eine globale Vormachtstellung anstrebe. Und zwar unabhängig davon, wie groß oder klein oder wie substantiell die Beteiligung konkret in Hamburg auch sei. Anne Will hatte unter dem Titel eingeladen: „Raus aus der Abhängigkeit von Autokraten – wie ernst ist es Kanzler Scholz mit der Zeitenwende?“ Eine klare Antwort wollte sich darauf nicht einstellen, auch weil die Gäste doch dazu zu sehr in ihren jeweils eigenen Zwängen und Geschichten fest steckten, um hier nüchtern zu analysieren. Zu Gast waren neben Tschentscher und Amann noch der Grünen-Chef Omid Nouripour und der CDU-Politiker Norbert Röttgen sowie die Außenhandels-Experten Stormy-Annika Mildner vom Aspen-Institut. Erwartbar war, dass Tschentscher seinen Hafen-Deal verteidigte, und auch war er der einzige, der sich zur beherzten Verteidigung von Olaf Scholz bereit fand. Sicher sei es richtig, die Abhängigkeiten von China zu reduzieren, doch dazu dürfe man nicht gleich zu Beginn den Hamburger Hafen von den Weltmärkten abhängen. „Wir brauchen eine eigene europäische Infrastruktur-Strategie“, so Hamburgs Erster Bürgermeister, und zwar gegen die chinesischen Pläne. Aber, so argumentierte er, bevor keine eigenen neuen Handelspartnerschaften aufgebaut seien, dürfe man die Chinesen nicht zu sehr vergraulen. Das sei auch für Deutschlands Wohlstand zu riskant. Und Olaf Scholz kümmere sich um alles, etwa auch um die Ansiedlung neuer Chip-Fabriken in Deutschland. Tatsächlich könnte es gut sein, dass Tschentschers pragmatische Herangehensweise und stark ökonomische Sicht durchaus mehr Zustimmung in der Bevölkerung finden könnte, als es die Umfragen zeigen. Insofern war es verblüffend, wie einseitig die Runde sich dann darbot. Denn Amann, Röttgen, Nouripour und Mildner standen doch weitgehend auf der anderen Seite, Tschentscher gegenüber, wählten den bequemeren Weg und argumentierten, wie es so verbreitet ist, stärker moralisch. Lesen Sie mehr zum Thema: Röttgen gestand immerhin dem SPD-Bürgermeister und Scholz-Nachfolger in diesem Amt das Feststecken in einer „Zwickmühle“ zu, in der sich aber Deutschland als Ganzes befinde. Am Beispiel des Hamburger Hafens: Ohne chinesische Beteiligung droht die Abkopplung Deutschlands, aber mit der Beteiligung wird die Abkoppelung von China schwieriger. Amann meinte dann, „Abkopplung“, das wolle doch ohnehin niemand, das sei eine Art Pappkamerad, den Scholz aufstelle, um sich nicht stärker von China unabhängig zu machen. Zu sehr dominiere beim Bundeskanzler das Verständnis für die deutsche Industrie. Das Genosse-der-Bosse-Narrativ ist ja beim Spiegel nicht neu. Doch wie wichtig in der derzeitigen wirtschaftlichen Lage gerade dieser Fokus ist, das wurde von ihr und den anderen Gesprächsteilnehmern (außer Tschentscher) eher weniger gesehen. Die Außenhandels-Expertin Mildner beklagte schlicht, es gehe alles zu langsam mit dem Umbau der Wirtschaft. Nun ja. Anne Will eröffnet dann noch die Runde zum stilistischen Kanzler-Bashing. Sei es bei Scholz nicht so, dass er alle diejenigen, die ihm nicht zustimmen, schlicht für dumm halte? Norbert Röttgen war darauf auch schon eingestiegen. Scholz vergraule mit seinen Alleingängen Macron, die Europäer und auch noch Washington. Und seine eigene Koalition zerrütte er mit dieser Selbstherrlichkeit ebenfalls. Außenministerin Baerbock mache Strategiepapiere etwa zur China-Politik, Scholz aber handele einfach drauf los. Selbst Nouripour wollte zur großen Scholz-Verteidigung nicht ausholen. Dass er nach China gefahren sei, sei richtig, aber besser wäre es, der Kanzler hätte Macron mitgenommen. So war seine Formel. Einen emotionalen Moment ganz anderer Art gab es dann noch zum Schluss der Sendung. Die Moderatorin schob mit einiger Mühe das große China-Thema nochmal beiseite und kam auf den Iran zu sprechen. Nouripour ist in Teheran geboren, und schnell wurde klar, dass der Grünen-Chef nicht nur als Politiker sprach, sondern auch mit persönlicher Betroffenheit. So fand er klare Worte zur Diskussion, ob Deutschland die protestierenden Frauen in der Islamischen Republik genug unterstütze. Die Bundesregierung bemühe sich um Sanktionen, erklärte er, auch in Deutschland müssten Unterstützer des Regimes ausgebremst werden. Aber sein Resümee war untypisch für eine Talkshow, die dann so ungewöhnlich auch auslief: „Es macht mich wahnsinnig“, sagte er, zu sehen, wie wenig in Sachen Iran passiere und wie langsam alles dauere. „Es kann immer nur zu wenig sein, wenn man die Sache emotional betrachtet“, so Nouripour.
Volker Resing
Der Kurz-Trip von Olaf Scholz nach Peking ist schon vielfach besprochen worden, doch Anne Will lud noch mal zur grundsätzlichen Nachbereitung in ihre Sendung ein. Wie mit den Abhängigkeiten umgehen?  Ein Teilnehmer strich vor allem die bleibende wirtschaftliche Notwendigkeit der Zusammenarbeit mit China heraus, die anderen argumentierten stärker moralisch. Und am Schluss wurde es nochmal emotional.
[ "China", "Welthandel", "Bundesregierung" ]
außenpolitik
2022-11-07T08:59:57+0100
2022-11-07T08:59:57+0100
https://www.cicero.de/aussenpolitik/anne-will-diskutiert-uber-die-china-politik-des-kanzlers-zwickmuhlen-und-andere-zwange
Alterspräsident - Keine Garantie gegen Peinlichkeiten
Zu allen Zeiten und in allen Kulturen galt: Die Alten sind die Erfahrenen, die Alten sind die Weisen. Deshalb wurde meistens der Älteste zum Häuptling bestimmt. Dazu passt, dass ein neugewählter Bundestag stets von einem Alterspräsidenten eröffnet wird – von seinem nach Lebensjahren ältesten Mitglied. So schreibt es die Geschäftsordnung des Deutschen Bundestags vor – jedenfalls bisher. Die Liste der bisherigen Alterspräsidenten liest sich wie ein „Who is who“ der deutschen Politik: Paul Loebe, Konrad Adenauer, Willy Brandt, Ludwig Erhard oder Herbert Wehner. Wie der Zufall so will, sorgte die Gnade der frühen Geburt bisweilen auch dafür, dass Bundestagsneulinge plötzlich am Rednerpult und im Mittelpunkt des Interesses standen. So 1994 der Schriftsteller Stefan Heym, der als Parteiloser für die PDS einen Ostberliner Wahlkreis gewonnen hatte. Oder vier Jahre später Fred Gebhard, ein zur PDS gewechselter hessischer SPD-Linker. Einmal stellte sich auch im Nachhinein heraus, dass das Geburtsdatum nicht automatisch zur richtigen Entscheidung führt. Der Liberale William Born, der 1969 die erste Sitzung des „Hohen Hauses“ leitete, entpuppte sich später als Stasi-Zuträger. Wenig feierlich fiel 1994 die Begleitmusik aus, als Stefan Heym das Amt ausübte. Vor allem die CDU/CSU-Fraktion wollte sich nicht damit abfinden, dass ein gegenüber der DDR teilweise kritischer, gleichwohl regimetreuer und auf vielfältige Weise privilegierter PDS-Abgeordneter plötzlich der wichtigste Mann im Plenum war – wenn auch nur für wenige Stunden. Was viele Unionspolitiker besonders erbost hatte: Nach der Maueröffnung verspottete der DDR-Autor seine in den Westen strömenden Landsleute als schlichte Gemüter, die sich vom „Tinnef und Tand“ bei Woolworth und Aldi blenden ließen. Dass Heym zu DDR-Zeiten das Vorrecht genossen hatte, regelmäßig die Feinkostabteilung des KaDeWe aufzusuchen, machte seinen Spott noch unerträglicher. So gab es vor der konstituierenden Sitzung des Bundestags eine Debatte über die Frage, ob Heym „würdig“ sei, die neue Wahlperiode zu eröffnen. Da die CDU/CSU ihn aber nicht daran hindern konnte, verweigerte ihm die Fraktion den Beifall; einige Fraktionsmitglieder verließen demonstrativ den Plenarsaal. Nur ein CDU-Mitglied klatschte für ihn: Rita Süßmuth. Der Skandal nach dem Skandal: Heyms Rede wurde nicht wie üblich im amtlichen Bulletin der Bundesregierung veröffentlicht. Alles in allem war das kein souveräner Umgang mit einem unerwünschten Alterspräsidenten. Aber selbst ein langgedienter Parlamentarier ist, anders als Bundestagspräsident Norbert Lammert jetzt behauptet, keine Garantie für einen allgemein als würdig empfundenen Start in die Legislaturperiode. Nach der Bundestagswahl 2009 wurde dem Frankfurter CDU-Abgeordneten und ehemaligen Forschungsminister Heinz Riesenhuber die Ehre zuteil, den neu gewählten Bundestag zu eröffnen. Seine Rede geriet zu einer Mischung aus staatsmännischem Pathos und Polit-Kabarett. So erzählte Riesenhuber vom Befinden der Fische im Main. Früher seien dort viele tote herumgeschwommen, erinnerte er sich. Heute seien die Fische dank des sauberen Wassers putzmunter, was den Anglern besser gefalle als den von ihnen Geangelten. Riesenhuber erklärte zudem das Waldsterben für beendet und berichtete, dass er Unternehmer regelmäßig frage: „Wann haben Sie Ihren Abgeordneten zum letzten Mal geknuddelt?“ Riesenhubers Auftritt sorgte für Stirnrunzeln und ungläubiges Kopfschütteln, nicht nur bei der Opposition, auch in den Reihen der CDU/CSU. „Er hat eine sehr eigene, sehr geniale Rhetorik“, postete die CDU-Abgeordnete Kristina Köhler, was wohl bewusst zweideutig gemeint war. Volker Beck war da deutlicher: „Wenn schon keine große Rede, dann wenigstens eine kuriose“, twitterte der Grünen-Abgeordnete. Als Riesenhuber 2013 abermals als Alterspräsident an der Reihe war, hatte er dazugelernt. Da hielt er eine „normale“, also angemessene Rede. Womit wenigstens die These von der Weisheit des Alters zum Tragen kam. Nun wird der Bundestag noch vor der Sommerpause mit den Stimmen von Union und SPD beschließen, dass für den Alterspräsidenten nicht mehr das Lebensalter, sondern die Dauer der Zugehörigkeit zum Bundestag ausschlaggebend ist. Das läuft dann auf Wolfgang Schäuble hinaus, der seit 1972 dem Bundestag angehört, länger als jedes andere Mitglied. Selbstverständlich handelt es sich hier um eine „Lex AfD“. Die Änderung in der Geschäftsordnung soll verhindern, dass ein Parlamentsneuling aus deren Reihen, mutmaßlich Wilhelm von Gottberg aus dem Landesverband Niedersachsen, als Alterspräsident völkisches oder rechtsradikales Gebräu zum Besten gibt. Selbstverständlich streiten alle Befürworter der Neuregelung das ab. Und ebenso selbstverständlich ist die neue Regel keine Garantie – siehe Heym und Riesenhuber – gegen künftige Peinlichkeiten. Eine Frage bleibt: Was passiert eigentlich, wenn eines fernen Tages einmal ein AfD-Parlamentarier der dienstälteste Abgeordnete sein sollte?
Hugo Müller-Vogg
Die Große Koalition will einen Alterspräsidenten aus AfD-Reihen verhindern und deshalb die Geschäftsordnung des Bundestags ändern. Doch die Geschichte lehrt, dass der Start in die Legislaturperiode auch mit Politikern anderer Parteien so manches Mal daneben geriet
[ "Bundestag", "Alterspräsident", "AfD" ]
innenpolitik
2017-03-29T11:09:06+0200
2017-03-29T11:09:06+0200
https://www.cicero.de/innenpolitik/alterspraesident-keine-garantie-gegen-peinlichkeiten-
Zum Tod von Roman Herzog - Unbekümmert, unangepasst, unermüdlich
Er hatte schon einen großen Namen lange bevor er 1994 Bundespräsident wurde. Roman Herzog war Mit-Herausgeber des Grundgesetz-Kommentars und damit über Jahrzehnte und bis heute einer der einflussreichsten Rechtsgelehrten der Republik. Sein Lehrmeister Theodor Maunz, bis dahin mit Günter Dürig Herausgeber dieser – immer noch tonangebenden – Bibel des deutschen Staatsrechts, hatte sich früh die Mitarbeit des aufstrebenden Juristen gesichert. Herzogs Interpretationen des Grundgesetzes – unter anderem kommentierte er den Artikel 68, der die Vertrauensfrage und die vorzeitige Auflösung des Bundestages zum Gegenstand hat – haben Generationen von Jura-Studenten geprägt. Sie sind als „herrschende Meinung“ auch heute noch für die Rechtssprechung verbindlich. Als liberaler Staatsrechtler und präzise formulierender Jurist – elf Jahre war er Richter beim Bundesverfassungsgericht, davon sieben (von 1987 bis 1994) als dessen Präsident – hinterließ Herzog tiefere und nachhaltigere Spuren, denn als Staatsmann und Politiker. Unter seiner Führung stärkten die Karlsruher Richter das Demonstrationsrecht, erhöhten den „Trümmerfrauen“ die Renten und verwarfen nach Mauerfall und deutscher Vereinigung eine Totalrevision des Grundgesetzes. Der Bundespräsident Herzog blieb den Deutschen vor allem durch eine berühmte Gardinenpredigt in Erinnerung: Es müsse ein „Ruck“ durch Deutschland gehen, mahnte er im April 1997. Er beklagte fehlenden Reformwillen, „Mutlosigkeit“ „Erstarrung“ und „Depression“ und appellierte an Wirtschaftsführer, Politiker und Gewerkschafter, alle sozialen Besitzstände auf den Prüfstand zu stellen. Die „Ruck“-Rede war ein Event und erregte das beabsichtigte Aufsehen. Aber sie verhallte folgenlos. Herzog redete „von uns allen“ und damit, wie die Süddeutsche Zeitung später spottete, „auch an allen vorbei“. Der damals noch amtierende CDU-Kanzler Helmut Kohl fühlte sich nicht angesprochen. Der Sozialdemokrat Gerhard Schröder, der ein Jahr später an die Regierung kam, teilte zwar den Befund, zog aber erst 2003 mit seiner Agenda 2010 erste Konsequenzen. Herzog war ein Hochbegabter. Alles schien ihm mühelos zuzufliegen. 1934 in Landshut geboren, glänzte er schon im Gymnasium als Klassenprimus. Der Schulbetrieb langweilte ihn. Trotzdem bestand er das Abitur mit „sehr gut“ in allen Fächern. Latein war seine Leidenschaft. Sein Vater, Angestellter einer Schnupftabakfabrik, beschloss eines Tages, sich durch ein Zusatzstudium zum Archivar umschulen zu lassen. Er schaffte tatsächlich den Aufstieg und wurde später Museumsdirektor in seiner Heimatstadt. Dies aber nur, weil der Sohn ihm Lateinunterricht gegeben hatte. Viele Jahre später wurde in Baden-Württemberg über das Fach Latein gestritten. Einige wollten es abschaffen. Herzog, damals Kultusminister in Stuttgart, war dagegen. Um die Unverzichtbarkeit dieser Kultursprache zu demonstrieren, beteiligte er sich sogar anonym (und mit exzellenten Noten) am Latein-Zentralabitur. Die Karriere verlief glatt und stürmisch: Mit 23 Jahren legte er das erste juristische Staatsexamen ab, mit 24 war er Doktor, mit 27 Assessor und mit 30 Professor. Helmut Kohl, damals Ministerpräsident in Mainz, entdeckte das aufstrebende Talent Anfang der siebziger Jahre. Von 1973 bis 1978 vertrat Herzog die Mainzer Regierung als Bevollmächtigter in Bonn, im Mai 1978 wurde er Kultusminister, im März 1980 Landtagsabgeordneter und Innenminister in Stuttgart. Drei Jahre später wurde er zunächst Vizepräsident und 1987 Präsident des Bundesverfassungsgerichts. Ins Bundespräsidialamt ist er eher zufällig und als Lückenbüßer geraten, nachdem der ursprünglich von Kanzler Kohl favorisierte, weitgehend unbekannte sächsische Justizminister Steffen Heitmann wegen erwiesener Unbedarftheit vorzeitig aus dem Verkehr gezogen werden musste. Herzog passte ins Macht-Kalkül der damals mit den Liberalen regierenden Konservativen: Er kam aus Bayern, weswegen ihn die CSU als ihren Kandidaten vorschlug. Er war evangelisch, womit auch die Protestanten in der Union zufrieden waren. Und seine Wahl wurde zur Machtprobe: Mit Herzog triumphierte die christlich-liberale Koalition noch einmal über die SPD, die damals schon Johannes Rau zum Präsidenten küren wollte. Kohls Präsident mochte er dennoch nicht sein. Er werde „keinen Vollzugsgehilfen abgeben“, sondern habe vor, „unbequem“ zu sein, hatte Herzog schon vor seiner Wahl öffentlich gewarnt. „Mit aufgeklapptem Visier“ wolle er „entlang der Wirklichkeit argumentieren“ und den Regierenden „auch mal’n Klotz hinhauen“. Der robuste Niederbayer, mit Witz und Selbstironie gesegnet, von barocker Gestalt und unprätentiöser Amtsauffassung, kam gut an beim Volk. Respektlos im Umgang mit Autoritäten, unbekümmert in der Wortwahl und unangepasst im Denken – so sah er sich selbst und so wollte er wahrgenommen werden. Gegen Bürokraten und Bedenkenträger zog er gern zu Felde. Auch die eigenen Parteifreunde verschonte er nicht. Bald schon stand Herzog auf der Treppe der Populären ganz oben. Länger als fünf Jahre indes mochte er nicht Präsident sein. Zur Ruhe setzen konnte sich der Pensionär allerdings auch nicht. Unermüdlich war er in verschiedenen Gremien tätig, er leitete eine von CDU-Chefin Angela Merkel berufene Kommission zur Gesundheitsreform, die der späteren Kanzlerin  die „Kopfpauschale“ empfahl. Außerdem hatte er im Bayerischen Rundfunk eine eigene Talk-Show. Aufsehen erregte er im Jahr 2008 mit einem Interview, in dem er drastisch die möglichen Folgen des demografischen Wandels beschwor: „Ich fürchte, wir sehen gerade die Vorboten einer Rentnerdemokratie: Die Älteren werden immer mehr, und alle Parteien nehmen überproportional Rücksicht auf sie. Das könnte am Ende in die Richtung gehen, dass die Älteren die Jüngeren ausplündern.“ Nachdem seine Frau Christiane im Juni 2000 an Krebs gestorben war, heiratete der 67-Jährige im September 2001 deren langjährige Freundin Alexandra Freifrau von Berlichingen, eine späte, angeheiratete Nachfahrin des legendären Ritters mit der eisernen Hand, Götz von Berlichingen. Dessen berühmtesten, von Johann Wolfgang von Goethe zitierten Ausspruch, „Er kann mich im Arsche lecken“, hat Herzog einmal in einem seiner letzten politischen Interviews bemüht: „Ich wünsche mir unsere Politiker manchmal selbstbewusster, man könnte die Forderungen von Einzelgruppen und Bürokraten auch mal auf diese Weise beantworten.“ Roman Herzog starb am 10. Januar in Jena.
Hartmut Palmer
Altbundespräsident Roman Herzog ist im Alter von 82 Jahren gestorben. Den Deutschen bleibt er vor allem durch seine „Ruck“-Rede in Erinnerung. Der unbequeme Mahner wird fehlen, schreibt Hartmut Palmer in seinem Nachruf
[ "Roman Herzog", "Bundespräsident", "CDU" ]
kultur
2017-01-10T12:18:50+0100
2017-01-10T12:18:50+0100
https://www.cicero.de//kultur/zum-tod-von-roman-herzog-unbekuemmert-unangepasst-unermuedlich
Hinrichtung von Djamshid Sharmahd - Auswärtiges Amt bestellt Leiter der iranischen Botschaft ein
Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) und Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) haben die Hinrichtung des deutsch-iranischen Doppelstaatsbürgers Djamshid Sharmahd im Iran scharf verurteilt. Scholz nannte die Tötung bei X einen Skandal, die Bundesregierung habe sich immer wieder intensiv für die Freilassung Sharmahds eingesetzt. Baerbock teilte mit, die Tötung Sharmahds „zeigt erneut, was für ein menschenverachtendes Regime in Teheran herrscht“. Teheran sei immer wieder unmissverständlich klargemacht worden, „dass die Hinrichtung eines deutschen Staatsangehörigen schwerwiegende Folgen haben wird“. Irans Justiz hatte Sharmahds Hinrichtung am Montag verkündet. Er war im Frühjahr 2023 in einem umstrittenen Prozess nach Terrorvorwürfen zum Tode verurteilt worden. Angehörige und Menschenrechtler wiesen die Anschuldigungen gegen ihn vehement zurück. Das Auswärtige Amt hat den Leiter der iranischen Botschaft in Berlin einbestellt, um gegen die Hinrichtung des deutsch-iranischen Doppelstaatsbürgers Djamshid Sharmahd zu protestieren. „Wir haben unseren scharfen Protest gegen das Vorgehen des iranischen Regimes übermittelt & behalten uns weitere Maßnahmen vor“, teilte das Ministerium auf der Plattform X mit. Parallel habe der Botschafter in Teheran beim iranischen Außenminister auf das Schärfste gegen die Ermordung Sharmahds protestiert, hieß es weiter. Außenministerin Annalena Baerbock habe zudem den deutschen Botschafter Markus Potzel im Anschluss zu Konsultationen nach Berlin zurückberufen. Sharmahds in den USA lebende Tochter Gazelle forderte Antworten von der Bundesregierung. „Welchen Beweis haben sie, dass du, Papa, Journalist und Freiheitsverfechter Jamshid Sharmahd, ermordet wurdest?“, schrieb Gazelle Sharmahd auf der Plattform X. „Falls die Nachricht mit konkreten Beweisen bestätigt wird, müssen sie dich sofort nach Hause bringen, damit wir dich in Frieden zur Ruhe legen können“, schrieb sie weiter. „Wir wollen keine Erklärungen oder Beileidsbekundungen“, fügte sie hinzu. Sie forderte eine Bestrafung der Verantwortlichen. Auch EU-Chefdiplomat Josep Borrell verurteilte die Hinrichtung scharf. Die EU erwäge „Maßnahmen“ als Reaktion, schrieb er auf X, ohne Details zu nennen. Amnesty Deutschland forderte die Bundesregierung auf, strafrechtliche Ermittlungen einzuleiten und Haftbefehle gegen alle iranischen Beamten zu erlassen, „die an den an Jamshid Sharmahd verübten Verbrechen beteiligt waren. Sie müssen zur Rechenschaft gezogen werden!“ Die Exekution dürfte die ohnehin angespannten Beziehungen zwischen Berlin und Teheran drastisch verschlechtern. Bereits im vergangenen Jahr hatte Deutschland nach Verkündung des Urteils zwei iranische Diplomaten ausgewiesen. Irans Regierung tat dasselbe. Deutschland hatte in der Vergangenheit die Aufhebung des Urteils gegen Sharmahd gefordert. Irans Justiz verweigerte bis zuletzt konsularischen Zugang. Unter anderem Sharmahds Tochter Gazelle warf der Bundesregierung jedoch immer wieder Untätigkeit vor. Andere Europäer waren im Rahmen von Gefangendeals freigekommen. Kritiker bezeichneten den Prozess gegen Sharmahd als grob unfair – er durfte keinen eigenen Anwalt wählen, und sein Aufenthaltsort blieb bis zuletzt unbekannt. Geständnisse, die im Staatsfernsehen ausgestrahlt wurden, könnten unter Folter erzwungen worden sein. Den Vorsitz im Sharmahd-Prozess hatte Abolghassem Salawati, auch bekannt als „Richter des Todes“, der von den USA und der Europäischen Union mit Sanktionen belegt wurde. Sharmahd war im Sommer 2020 unter mysteriösen Umständen während einer Reise aus Dubai in den Iran verschleppt worden; mehrere Berichte sprechen von einer Entführung durch den iranischen Geheimdienst. Seitdem saß er in Isolationshaft. dpa
Cicero-Redaktion
Die Vollstreckung des Todesurteils gegen den deutschen Staatsbürger Djamshid Sharmahd im Iran löst Entsetzen und Ärger aus. Die Bundesregierung zieht erste Konsequenzen. Weitere könnten folgen.
[ "Iran", "Iranische Revolution", "Mullahs" ]
außenpolitik
2024-10-29T12:01:36+0100
2024-10-29T12:01:36+0100
https://www.cicero.de//aussenpolitik/hinrichtung-von-djamshid-sharmahd-auswartiges-amt-bestellt-leiter-der-iranischen-botschaft-ein
Terror im Irak - Bundeswehr nach Kurdistan
So schnell kann das gehen. Noch vor kurzem wurde Bundespräsident Joachim Gauck in Deutschland nur von außenpolitischen Experten ernst genommen. Sein Versuch, eine Debatte über einen Paradigmenwechsel in der deutschen Außenpolitik anzustoßen, wurde von vielen seiner Landleute und vielen Politikern milde belächelt. Die Union distanzierte sich mit leisen Tönen, die SPD ging deutlich auf Abstand. Die Linkspartei beschimpfte Gauck als Kriegstreiber, der den geistigen Boden für eine Militarisierung der deutschen Außenpolitik bereite. Karikaturisten verpassten dem Bundespräsidenten eine Pickelhaube. Dabei klingen Gaucks Worte aus dem vergangenen Winter im Lichte der mörderischen Ereignisse dieser Tage im Irak nahezu prophetisch. Mehr Engagement Deutschlands in der Außenpolitik hatte dieser Anfang des Jahres in einer Rede auf der Münchner Sicherheitskonferenz gefordert. Aktiver solle sich das Land an der Lösung internationaler Konflikte beteiligen. Als letztes Mittel sei es auch nötig, militärisch einzugreifen, um Despoten zu stoppen. Im „Kampf für Menschenrechte“ oder „für das Überleben unschuldiger Menschen“ sei es manchmal erforderlich, so Gauck, „auch zu den Waffen zu greifen“. International würden Kräfte gebraucht, „die Verbrecher oder Despoten, die gegen ihr eigenes Volk oder gegen ein anderes mörderisch vorgehen, zu stoppen.“ Plötzlich kann es der Bundesregierung gar nicht schnell genug gehen. Hektisch versucht die Große Koalition auf den drohenden Genozid an den Yeziden im Irak zu reagieren. Die Erkenntnis, dass sich die Kämpfer des „Islamischen Staates“ weder mit Diplomatie noch mit Wirtschaftshilfe stoppen lassen, ist ihnen quasi über Nacht offenkundig geworden. Am Montag war bei Union und SPD noch von humanitärer Hilfe die Rede, aber am Dienstag schon von Waffenlieferungen. Wobei noch völlig unklar war, um welche Waffen es sich handeln könnte, um Waffen zur Selbstverteidigung etwa oder vielleicht doch nur um militärisches Gerät: Schutzwesten, gepanzerte Fahrzeuge, Schutzhelme. Selbst in der Linken wird plötzlich ganz anders über internationale Militäreinsätze diskutiert. Fraktionschef Gregor Gysi fordert die Lieferung von Waffen nach Kurdistan. Die Parteiführung nennt jeden Akt der Selbstverteidigung „legitim“ und fordert das Eingreifen der UN. Wobei offenbleibt, ob das friedenserzwingende Einsätze einschließt. Und selbst auf dem Fundiflügel der Partei plädiert die Bundestagsabgeordnete Ulla Jelpke angesichts dieser „barbarischen Islamisten“ für Aktionen „militärischer Art“. Insgesamt jedoch erinnert die innenpolitische Debatte vor allem an einen aufgeschreckten Hühnerhaufen. Gerade noch hat man sich gemütlich im Ohne-uns-Gehege eingerichtet, doch jetzt reisst die Realität alle Zäune ein. Womit wir wieder bei Joachim Gauck wären. Jetzt rächt sich, dass Deutschland sich der vom Bundespräsidenten angestoßenen Debatte weitgehend verweigert hat. Viele Fragen rund um ein wie auch immer geartetes militärisches Engagement in Kurdistan sind überhaupt nicht geklärt. Wer beschließt die Waffenlieferungen? Muss der Bundestag zu einer Sondersitzung zusammenkommen oder reicht ein Beschluss des Bundessicherheitsrates? Zumal es mit Waffen allein nicht getan ist. Wer Waffen schickt und sei es zur Selbstverteidigung, der muss auch Ausbilder schicken. Allein das Fahren gepanzerte Fahrzeuge muss gelernt sein. Die Deutschen sollten sich nichts vormachen: Wer kurzfristig die Gewalt stoppen will, der muss langfristig auch eine Vorstellung davon haben, wie der Irak wieder befriedet wird. Wer über Waffenhilfe nachdenkt, muss auch über friedenserzwingende Einsätze der Vereinten Nationen gemäß Kapitel VII der UN-Charter reden und über friedenserhaltende Blauhelme-Missionen. Wer deutsche Waffen oder auch nur gepanzerte Fahrzeuge nach Kurdistan liefert, der wird deutsche Soldaten hinterherschicken müssen. Es könnte sein, dass Deutschland in den kommenden Wochen eine grundlegende Neujustierung seiner Außenpolitik erlebt, mit weitreichenden Konsequenzen auch in der Innenpolitik. In jedem Fall ist es bemerkenswert, dass Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen (CDU) und der Linke Gregor Gysi plötzlich in einem außenpolitischen Boot sitzen, während der CDU-Außenpolitiker Norbert Röttgen so redet, als käme er gerade von einer Kundgebung der Friedensbewegung.
Christoph Seils
Quasi über Nacht hat die Bundesregierung beschlossen, sich im Nordirak militärisch zu engagieren, um die Schlächter des Islamischen Staates zurückzudrängen. Und schon rächt sich, dass sich Deutschland der außenpolitischen Debatte, die von Bundespräsident Gauck angestoßen wurde, verweigert hat
[]
außenpolitik
2014-08-13T14:57:14+0200
2014-08-13T14:57:14+0200
https://www.cicero.de//aussenpolitik/terror-im-irak-isis-bundeswehr-nach-kurdistan/58066
AfD - In der Petry-Schale
Eigentlich war alles auf Triumphgeheul vorbereitet auf der ersten Pressekonferenz der AfD als kommende Bundestagsfraktion. Lauter Sieger saßen da. Alice Weidel, Alexander Gauland und Jörg Meuthen hatten die Partei auf 12,6 Prozent geführt und damit zur drittstärksten Fraktion im Bundestag gemacht. Frauke Petry hatte in Sachsen ein Direktmandat für die Partei geholt. Aber für Siegesreden blieb keine Zeit. Schon nach wenigen Minuten ließ Petry die Bombe platzen: „Eine anarchische Partei, wie es in den vergangenen Wochen das ein oder andere Mal zu hören war, die die AfD sei, die kann in der Opposition erfolgreich sein, aber sie kann eben dem Wähler kein glaubwürdiges Angebot für die Regierungsübernahme machen.“ Dieser Partei werde sie nicht zur Verfügung stehen, sagte Petry, schulterte ihre Tasche – und ging. Zurück ließ sie die völlig verdatterten übrigen Spitzen ihrer Partei. Eine Selbstzerfleischung auf offener Bühne nur Stunden nach einem erfolgreichen(!) Wahlergebnis, so was hat es in Deutschland wohl noch nicht gegeben. Und das zeigt auch, dass man sich mit dem Einzug der AfD in den Bundestag darauf gefasst machen muss, dass nun immer wieder vermeintliche Tabus und Grenzen gebrochen werden. Jedoch: Ganz so überraschend war Petrys Ab- und Alleingang nicht. Schon beim Bundesparteitag der AfD in Köln im vergangenen April hatte sich die Spaltung vollzogen. Petry und ihr Ehemann Marcus Pretzell grenzten sich damals vom übrigen Spitzenpersonal ab – sozusagen als Realos gegen die völkischen Fundis um Alexander Gauland und Björn Höcke. Aus dem Petry/Pretzell-Umfeld war zu hören gewesen, dass man auf Dauer mit Gauland und Höcke nicht in einer Partei sein könne. Man wolle aber erst einmal die Wahlen in Nordrhein-Westfalen und im Bund abwarten. Tatsächlich war seitdem von Frauke Petry kaum noch was zu hören. Stattdessen drehten die Fundis den Radikalitäts-Regler immer weiter nach rechts auf. Besonders die Entwicklung von Alexander Gauland ist bemerkenswert. Als Gründungsmitglied der Partei galt er als respektierter Teil der konservativen Intelligenzija in Deutschland. In der AfD gab er den Elder Statesman, den weisen Onkel im Tweed, der die jungen Wilden mäßigen würde. In den vergangenen Monaten dann wurden seine Aussagen Stück für Stück radikaler, was vorläufig darin gipfelte, dass er vorschlug, die Staatsministerin Aydan Özoguz „in Anatolien zu entsorgen“. Am Wahlabend legte Gauland nach, als er verkündete, nun wolle man „Merkel jagen“ und „unser Land und unser Volk zurückholen“. Auch von anderen Führungsfiguren wie der Bundesspitzenkandidatin Alice Weidel und André Poggenburg, dem Landes- und Fraktionschef von Sachsen-Anhalt, der jetzt Petry den Parteiaustritt nahelegte, hörte man zunehmend radikale Ansichten. Um Björn Höcke indes blieb es still. Sein Geschäft besorgt jetzt die Parteispitze. Ausrutscher sind das nicht, sondern wohlkalkulierte Tabubrüche. In einem Ende 2016 verfassten strategischen Konzept der Partei für das Wahljahr ist die Provokation als entscheidendes Kampfmittel benannt: „Je nervöser und je unfairer die Altparteien auf Provokationen reagieren desto besser“, steht darin. Und: je mehr sie versucht würde, die AfD wegen provokanter Worte oder Aktionen zu stigmatisieren, desto positiver sei das für das Profil der AfD. „Niemand gibt der AfD mehr Glaubwürdigkeit als ihre politischen Gegner." Nun war Frauke Petry zum Zeitpunkt, als das Papier erstellt wurde, noch aktiv als Führungsfigur und öffentliches Gesicht der Partei. Nicht nur deshalb mag man nicht so recht daran glauben, dass sie in einer Zeit der innerparteilichen Emigration auf einmal ihr Gewissen entdeckt hat. Dennoch: dass die Partei der Frau, die den Parteigründer Bernd Lucke wegen mangelnder Radikalität abgesägt hat, ihr nun selbst zu radikal geworden ist, kann für die Debattenkultur keine gute Nachricht sein. Obwohl sich die verbliebenen Parteispitzen nach deren Wiederaufleben angeblich so sehnen. Wie kann es nun weitergehen? Möchte Petry eine eigene Fraktion gründen – sozusagen eine Alternative zur Alternative der Alternative – mit sämtlichen Rechten und finanziellen Förderungen, die dieser zustehen? Dann benötigt sie 5 Prozent der Bundestagsmitglieder. Das heißt: 35 der 94 Abgeordneten der AfD müssten zu ihr überlaufen. Realistisch erscheint das nicht, gerade weil die völkischen Fundis im Bundestag das größere Lager stellen. Also müsste Petry eine Gruppe gründen. Dafür braucht es nur zwei weitere Mitstreiter. Eine Gruppe hat weniger Rechte und Gelder als eine Fraktion, aber kann immerhin Rede- und Antragsrechte in Ausschüssen stellen. Zuletzt gab es so eine Gruppe im Bundestag zwischen 1994 und 1998, als die damalige PDS nur eine Gruppe und keine Fraktion aufstellen konnte. In Erinnerung geblieben ist davon nicht viel. So muss die AfD durch Petrys Abgang im Moment ihres größten Triumphs die Scherben des Sieges aufsammeln. Tatsächlich präsentiert sie sich als „gäriger Haufen“ (Alexander Gauland), aus dem wie in einer Petri-Schale laufend neue Organismen entspringen. Ob sich daraus eine veritable Jagd auf die Bundeskanzlerin zusammenstellen lässt, dürfte bezweifelt werden.
Constantin Wißmann
Mit Frauke Petrys Abgang muss die AfD in der Stunde ihres größten Triumphes einen starken Dämpfer ertragen. Doch der Schritt ist wohlkalkuliert, genauso wie die zunehmende Radikalisierung der Partei. Muss sich die Kanzlerin vor diesem gärigen Haufen wirklich fürchten?
[ "Frauke Petry", "AfD", "Alexander Gauland", "Jörg Meuthen", "Radikalisierung AfD" ]
innenpolitik
2017-09-25T13:37:56+0200
2017-09-25T13:37:56+0200
https://www.cicero.de//innenpolitik/afd-in-der-petry-schale
DIW-Studie - Wo die AfD-Wähler wohnen
Seit die AfD vor knapp fünf Monaten in den Bundestag eingezogen ist, suchen Politiker, Journalisten und Wissenschaftler nach Erklärungen für den Erfolg der Partei am rechten Rand. Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) aus Berlin präsentiert jetzt in seinem aktuellen Wochenbericht eine Studie, für die die Forscher alle 299 Wahlkreise in Deutschland einzeln untersucht haben, um herauszufinden, wer besonders häufig AfD wählt. „Neu ist dabei die Erkenntnis, dass die Gründe für den Erfolg der AfD in Ostdeutschland andere sind, als im Westen“, sagt  Alexander Kritikos, einer der Autoren der Studie, gegenüber Cicero. In Westdeutschland war die AfD vor allem in den Wahlkreisen erfolgreich, wo die Haushaltseinkommen besonders niedrig sind. Im Osten dagegen wurde die AfD überdurchschnittlich stark in Wahlkreisen mit hohem Durchschnittsalter gewählt. Auch in den Wahlkreisen, wo mehr Industrie und Handwerksbetriebe ansässig sind, hat die AfD einen größeren Erfolg. Andere Faktoren wie die Arbeitslosenquote, der Ausländeranteil in einem Wahlkreis oder das durchschnittliche Bildungsniveau haben laut der Studie kaum Einfluss auf den Zuspruch. Die Ergebnisse des DIW erklären auch, wieso die AfD-Ergebnisse innerhalb von Westdeutschland so stark auseinanderfallen. Denn in Westdeutschland sind auch die Einkommensunterschiede zwischen den Regionen wesentlich stärker ausgeprägt als in Ostdeutschland. Zwischen westdeutschen Wahlkreisen können die Einkommen um mehr als 13.000 Euro auseinander liegen. Analog dazu sind es im Osten vor allem Wahlkreise mit vielen Über-60-Jährigen, die stärker zur AfD tendieren. Zwar führt auch im Westen ein höheres Durchschnittsalter zur mehr Stimmen für die Rechtspopulisten. Aber in den ostdeutschen Wahlkreisen ist dieser Zusammenhang um ein Vielfaches stärker.  Dazu kommt, dass in Ostdeutschland mehr ältere Wähler wohnen als in Westdeutschland. Und ihr Anteil wird weiter steigen, vor allem in der ostdeutschen Provinz. „Ich muss gestehen: Ich war selbst erschrocken, als ich gesehen habe, wie überaltert einige Regionen Ostdeutschlands sind“, sagt Kritikos. Im Gegensatz zu westdeutschen Wahlkreisen, wo Menschen wohl eher aus individuellen Beweggründen die AfD wählten ließen die Ergebnisse die Interpretation zu, dass viele Bürger im Osten das Gefühl haben, ganze Gegenden stünden vor dem Aus, sagt Kritikos. Im Fazit der Studie heißt es, der hohe Altersdurchschnitt in einem Wahlkreis sei häufig eine Begleiterscheinung von grundlegenden wirtschaftlichen Problemen: schlechte Infrastruktur, kaum Investitionen, Perspektivlosigkeit. In diesen Regionen hätten viele Menschen das Vertrauen in die etablierten Parteien verloren. Also geht es den AfD-Wählern eigentlich gar nicht um Flüchtlinge? „Das wäre sicherlich eine sehr verkürzte Aussage“, sagt Kritikos, „aber man kann schon sagen, dass die Flüchtlinge nicht das eigentliche Problem sind, sondern der Partei eher als Sündenböcke dienen.“ Auf die ökonomischen Fragen biete die AfD allerdings keine echte Antwort, sagt Kritikos. „Die AfD ist vermutlich mehr ein Sammelbecken für Enttäuschte aller Art.“ Die Studie zeigt, dass es keine Patenterklärung für den Erfolg der AfD gibt. Wenn die restlichen Parteien aber Wähler von der AfD zurückgewinnen wollen, dann müssten sie für mehr soziale Teilhabe sorgen, heißt es im Fazit. Gerade im Osten, wo die AfD besonders stark ist, fehle es an Infrastruktur und Investitionen in ländlichen Regionen.
Yves Bellinghausen
Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung hat alle 299 Wahlkreise der Bundesrepublik untersucht. Sie wollten wissen, wer AfD wählt. Dabei zeigt sich: Die Gründe für den Erfolg der AfD sind im Westen andere als im Osten.
[ "AfD", "DIW" ]
innenpolitik
2018-02-21T12:39:50+0100
2018-02-21T12:39:50+0100
https://www.cicero.de/innenpolitik/diw-studie-afd-waehler-deutsches-institut-fuer-wirtschaftsforschung-berlin-alexander-kritikos
Frank Castorf – „Da kriege ich das Kotzen“
Paris. Montmartre. Volksbühnen-Intendant Frank Castorf studiert in Frankreich eine neue Inszenierung ein. Hier in der Ferne hat er Zeit. Zu Hause in Berlin ist es zu hektisch für lange Gespräche. Wir treffen uns in seinem Apartment, ziehen durch die Straßen, landen in einer Kneipe. Castorf bestellt Weißwein. Einen. Und noch einen. Sein Leben ist so widersprüchlich wie seine Sechs-Stunden-Aufführungen von Dostojewski. Aber Widersprüche gehören für ihn zur Normalität. Ein Gespräch, das nüchtern begann und im Delirium endete. Herr Castorf, genießen Sie es, in Frankreich zu arbeiten? Wenn ich in Paris die Avenue de Clichy entlanggehe, macht mich das nicht glücklich. Überall sehe ich Bettler und Obdachlose. Gestern hat es geregnet. Ich habe nur Beine gesehen, die aus den Hausfluren schauten. Mich hat das an tote Ratten erinnert. In Berlin habe ich bei den Obdachlosen irgendwie noch das Gefühl, dass sie Teil der Gesellschaft sind. Und auch in Rio oder Caracas habe ich nicht dieses erdrückende Gefühl der Machtlosigkeit wie hier in Frankreich. Nein, ich mag dieses Land mit seinem Napoleon-Pinocchio an der Spitze nicht. Ich finde es in vielen Zügen asozial. Asozialer als Drogenkrieg und organisierte Kriminalität? Das ist nicht Ihr Ernst. Soziokulturell gesehen spüre ich in Südamerika eine gesellschaftliche Wut, die dazu führt, dass sich Menschen zu kriminellen Zwecken zusammenschließen. Mich erinnert das an Heiner Müller, der einmal sagte, dass die Heimat der Schwarzen der Aufstand sei. Das gefällt mir – dieses Vererben der Wut. Ich überlege mir dauernd, wie es wäre, diese Wut in das Theater zu lenken. Nicht auszudenken, wenn die Bühne so anarchisch, subversiv und so wütend wäre wie die Drogenjünger in Caracas … Herr Castorf, bitte – diese pubertären Provokationen sind ja hübsch, aber ich würde gerne ernsthaft mit Ihnen über das Theater in Deutschland reden. Darüber, warum es politisch nicht mehr wirksam ist. Was tut die Bühne zum Beispiel für einen Obdachlosen? Was geht die Armen Ihr Schickimicki-Publikum in Berlin-Mitte an? Die kommen doch zum Partymachen ins Theater. Ist das so? Ich will Ihnen Ihre Meinung nicht rauben, glaube aber nicht, dass sie stimmt, und gebe zu, dass ich einen Teil unseres Publikums auch nicht mag. Und, ja, alles, was ich für einen Obdachlosen tun kann, mache ich als Mensch, nicht als Regisseur. Ich gebe ihm einen Euro – das ist schon mehr als ein guter Grüner zu geben bereit wäre. Aber vielleicht schaffe ich es am Theater wenigstens, meine Wut darüber zu formulieren, dass diese Welt, durch die ich täglich gehe, nicht in Ordnung ist. Dabei ist mir vollkommen klar, dass ich dabei keinen politischen Konsens mit Leuten wie Klaus Wowereit oder Angela Merkel finde – die sind und bleiben auf der anderen Seite. Sie glauben nicht, dass Berlins Bürgermeis­ter oder die Kanzlerin sich auch schlecht fühlen, wenn Sie einen Obdachlosen in Berlin sehen? Das können die doch gar nicht, ihnen geht es lediglich um die Erhaltung des Machtapparats. Nein, die stellen dann höchstens irgendwann Kerzen auf, wenn mal wieder ein Ausländer totgeschlagen wird. Und dann reihen sich die Theatermoralisten und Strickjackenträger wie mein Freund Frank Baumbauer gleich mit ein. Da kriege ich das Kotzen. Theater und Politik dürfen also nicht solidarisch werden? Was ich meine, ist, dass es den alten Zadek und den Stuttgarter Peymann nicht mehr gibt. Ich sehe überall nur noch diese jungen Karriereregisseure, die schlecht abkupfern, was wir vor zehn oder 15 Jahren gemacht haben. Die haben keine Wut mehr, sondern wollen im Apparat nach oben. Ihre Effekte sind blutleer. Das alles ist große bürgerliche Kacke. Ich habe übrigens nichts gegen Frau Merkel – sie hat Chuzpe, ist wach und für die aktuelle Situation vielleicht nicht einmal die Schlechteste. Aber aus meiner sexistischen Sicht ist sie eben auch verletzend, überheblich und vernichtend. Letztlich ist sie wie Barack ­Obama: Er ist Schwarzer, aber weiß wie kein Weißer. Merkel ist eine Frau, aber so männlich wie kein Mann. Was macht Sie denn besser als die Politiker? Ich unterscheide mich von ihnen durch meinen ausgeprägten, pöbelnden Zynismus. Es gibt nicht viele Menschen, die sich leisten, was ich mir leiste: Sie sagen nicht auf der einen Seite: „Ich nehme alles Geld mit, das ich kriege“, und auf der anderen gebärden sie sich als blöder, querulatorischer Anarchist. Ich habe mit diesem ideologischen Widerspruch, der kein dialektischer ist, nicht einmal ein Problem. Mit Verlaub, das macht Sie für einen Spießer wie mich nicht unbedingt zu einem besseren Menschen. Das weiß ich doch. Und ich kann den Widerspruch auch nicht auflösen. Aber ich kann wenigstens das Dreckige, das Eklige finden und zeigen – und beweisen, dass es seinen Platz auf dieser Welt hat, dass in jeder zwischenmenschlichen Beziehung der Faschismus bereits angelegt ist. Auch bei mir. Das Private also ist politisch, aber das Theater nicht? Schon der Begriff des politischen Theaters ist absurd. Theater ist kein politischer Raum, sondern ein Raum der Freiheit. Wenn daran überhaupt etwas politisch ist, dann der Raum an sich. So wie die anarchische Republik Volksbühne, in der ich ein gut bezahlter Deutschland-Exilant bin. Ich weiß, dass ich den Krieg längst verloren habe, aber ich glaube noch daran, die eine oder andere Schlacht gewinnen zu können. Ich bin in vielen Dingen Marxist, erkenntnistheoretisch bin ich aber Agnostiker. Ich glaube nicht an die Erkennbarkeit der Welt, und schon gar nicht an die Beherrschbarkeit der Welt. Ein erkenntnistheoretischer Marxist ist für mich Josef Ackermann von der Deutschen Bank – er glaubt, dass er die Welt erkennen und beherrschen kann. [gallery:Die zehn wichtigsten Regisseure] Vielleicht sollten Sie Politiker werden, um das, was auf der Bühne längst kein Skandal mehr ist, dort zu institutionalisieren. Das habe ich mir nur einmal angetan: auf dem Vereinigungsparteitag der Linken. Da saß ich zwischen Lothar Bisky und Oskar Lafontaine und habe all die alten Hausfrauen und die Arbeitslosenverbände gesehen und wollte nur noch weg! Ich habe zu meinem Freund Gregor Gysi gesagt, dass ich das nicht kann, weil ich noch etwas mit meinem Leben vorhabe. Aber ihr Freund Gregor Gysi fühlt sich da wohl? Der kann doch gar nicht anders. Er versteht sich als moderner Karl Liebknecht. Und mit seiner jüdischen, großbürgerlichen Herkunft eignet er sich auch dazu, genau das zu machen. Ich habe ihm viel zu verdanken. Ich mag ihn. Und ich finde, er ist gut dort, wo er ist. Philosophen wie Guy Debord haben schon in den sechziger Jahren behauptet, dass die Gesellschaft, dass Politik, Sport und selbst die Darstellung des Einzelnen zum eigentlichen Spektakel geworden sind. Muss das Theater da nicht umdenken und, statt die Inszenierung zu pflegen, die Show der Wirklichkeit dekonstruieren? Sie haben ja recht: Wir müssen uns fragen, ob wir nicht längst überflüssig sind. Das Theater vor 20 Jahren hatte die Kraft, die Kommunikation zwischen den Systemen zu garantieren – zwischen dem Osten und dem Westen, dem Kommunismus und dem Kapitalismus, zwischen oben und unten. Das gibt es so heute alles nicht mehr. Und es geht noch weiter: Inzwischen ist ja sogar der Skandal vom Bürgertum vereinnahmt worden. Denken Sie nicht, dass ich weiß, wie viele Menschen in meine Vorstellungen kommen, sich langweilen oder schockiert sind – aber sich nichts anmerken lassen, weil sie glauben, dass das modern sei? Aber ich möchte nicht, dass die Welt untergeht. Ich finde, das Theater hat noch was zu sagen. Außerdem habe ich sechs Kinder und muss noch ein bisschen Geld verdienen. Verdienen Sie nicht viel zu viel Geld? Ich finde, dass ich ein oft beleidigter und viel gedemütigter Regisseur bin – und damit viel zu schlecht bezahlt werde. Welche Impulse wünschen Sie sich denn für das Theater? Man merkt auch heute durchaus noch, wenn jemand etwas tut, das nicht seinen merkantilen Interessen entspricht. Schauen Sie sich die alten Talkshows an, da wurden Schreibtische mit einer Axt zerschlagen – das war narzisstisch, vielleicht sogar inszeniert. Aber es war eine unglaubliche Explosion des Individuums innerhalb des politischen Kontexts. Oder nehmen Sie einen Schauspieler wie Klaus Kinski, der sich als paranoider Jesus Christus mit der gesamten Deutschlandhalle angelegt hat! Das finde ich stark. Und das vermisse ich im Theater. Vielleicht, weil diese Gesten manchmal nur noch hilflos und anachronistisch erscheinen. Weil sie heute lächerlich wirken? Umso größer muss der Mut sein, es wieder zu machen. Aber es macht eben keiner mehr, weil jeder nur noch seine Produkte verkaufen will. Die ganze Fernsehscheiße ist ja schon zur sozialen Wirklichkeit geworden. Unsere ganze Welt ist ein Talk oder Quiz mit vier Antwortmöglichkeiten. Die Möglichkeiten der Unendlichkeit kennt das Fernsehen nicht mehr. Wer abhängig von diesem Suchtmittel ist, denkt, das sei das Leben! Meinetwegen kann das Privatfernsehen machen, was es will – von morgens bis abends Pornos senden. Aber das öffentlich-rechtliche Fernsehen hat damals Fassbinder gesendet, sodass jeder Arbeiter und Prolet sich das ansehen musste. Aber die Hausfrau vom Linken-Parteitag wollten Sie eben gar nicht haben … Das unterscheidet das Theater vom Fernsehen: Das Theater ist ein Freiraum, in dem ein Ensemble sich austoben kann – auch ohne Rücksicht auf die Zuschauer. Hier ist der Sinn der Innenraum. Wenn er gut ist, wirkt er. Das Fernsehen aber hat einen Kultur- und Bildungsauftrag nach außen. Denken Sie an Löwenthal, an „Panorama“ und „Report“ – die konnten das einmal. Heute wechselt ein Chefredakteur vom Spiegel zur Bild, und eine Lady, die einmal alle Frauen der Welt befreien wollte, nur weil Sartre auf ihre Knie geschaut hat, schreibt nun über irgendeinen Kachelmann im Boulevard. Diese Art der Verlumpung ist mit mir nicht machbar. Keine Hoffnung, nirgends? Doch, mir gefiel zum Beispiel Sebastian Haffner und seine Sicht auf Hitler. Solche Leute bewundere ich. Und natürlich Fidel Castro! Ich trage diesen Adidas-Trainingsanzug, weil ich ihn verehre – den gesponserten kubanischen Idealisten. Nun reden Sie doch wieder fürs Feuilleton. Warum sympathisieren Sie eher mit Fidel Castro als mit Angela Merkel? Das ist menschlich einfach nicht zu legitimieren. Das kann ich Ihnen genau sagen: In Kuba gibt es eine funktionierende Kultur innerhalb des diktatorischen Rahmens. Deshalb bin ich immer für Fidel Castro und Che Guevara. Ich würde Castros Machismo immer stützen. Während Merkel ist, was von ihr erwartet wird, ist Fidel Castro er selbst. Ein Protagonist der Weltgeschichte. So wie Tito – er ist mein großes Vorbild. Dass Genscher mir Jugoslawien zerschlagen hat, werde ich ihm nie verzeihen. Klar, Tito war Stalinist, aber er hat das Land zusammengehalten. Das war meine Hoffnung. Sorry, aber da kann ich Ihnen nicht mehr folgen. Dann muss Hitler auch eine Hoffnung für Sie gewesen sein – er war auch er selbst. Hitler war eine Fehlgeburt des apollinischen Theaters. Er war, wie Brechts „Arturo Ui“ ihn zeigt: eine Kreatur. Leider hat man seine missgeburtlichen Fähigkeiten nicht im Theater oder im Film genutzt. Das hat dummerweise nicht einmal Piscator geschafft. Herr Castorf, ich bin jetzt 40 Jahre alt und mit den Opern von Peter Konwitschny und mit Ihren Aufführungen sozialisiert. Ihre Inszenierungen hatten für mein Leben existenzielle Bedeutung. Ich dachte immer, wir bewegen uns im gleichen Geist. Nun hat Konwitschny mir kürzlich gesagt, dass die Welt eh untergeht und er Theater nur noch macht, weil er Spaß daran hat. Von Ihnen höre ich jetzt, dass sie eigentlich nur zynisch sind. Habe ich Ihre Stücke vielleicht ernster genommen als Sie selbst? Haben Sie mich am Ende nur verarscht? Nein, natürlich nicht. Das mache ich nicht. Ich schwöre. Ich glaube, Sie haben das damals schon richtig verstanden. Es geht um einen Geist. Und es geht darum, Menschen, die bereit sind, existenziell zu fühlen, abzuholen. Haben mich Ihre Produktionen deshalb berührt? Vielleicht auch, weil Sie Schauspieler gesehen haben, die am Ende waren. Ich hatte es immer nur mit diesen Borderline-Leuten zu tun. Das war schon in meinem ersten Theater, in Anklam, so: Meine Schauspieler waren Trinker, Menschen, die mit allem sehr freizügig umgegangen sind, die auf der Grenze des Lebens tanzten. Und ich wollte das kanalisieren mit dem Theater, in dem man eine asoziale Grundausrichtung in eine Haltung und eine Politisierung überführen kann. Ich weiß nur, dass mich all das heute langweilt – ich schreibe seit Jahren keine Kritiken mehr, weil ich den Schrott auf der Bühne nicht mehr sehen kann! Bravo! Das finde ich konsequent. Schrei­ben Sie Reiseberichte – da verdienen Sie auch besser. Schauen Sie doch meinen geliebten Feind Gerhard Stadelmaier an. Der ist ja auch nur gut, weil es mich gibt – er schreibt fantastisch, wenn er wütend ist und Verrisse produzieren kann. Wenn er ein Buch schreibt, schreibt er nur Schrott. Sind die Schauspieler bei Ihnen denn gut aufgehoben? Einer Ihrer Schauspielerinnen, Maria Kwiatkowsky, konnte die Bühne im vergangenen Jahr nicht mehr helfen. Sie starb mit 26 Jahren in ihrer Wohnung in Berlin. Das sind Momente, an denen auch ich ratlos und unendlich traurig werde. Maria war traurig in ihrer Welt, die mit Drogen durchsetzt war. Irgendwann hat sie den Glauben daran verloren, dass man eine Schlagkraft entwickeln kann, wenn man sich in einer Gruppe zusammentut. Ich habe viel versucht, um sie zu integrieren, sie von unserer Idee zu überzeugen. Sie war lustig und fröhlich. Und ich war eine Art Vaterfigur für sie – sie hat mich immer wieder nach meinem Leben und meinen Kindern gefragt. Aber wenn ich nicht da war, fing die dunkle Seite in Berlin wieder an. Da wird inzwischen auf jeder verdammten Toilette gekokst, so sehr, dass ein normaler Mensch, der auf Klo will, stört. Maria ist in diese Toilettenwelt gerutscht. Dann hat sie den Film gemacht, und alle waren begeistert. Ich habe ihr gesagt: „Wenn du weitermachst mit dem Film, musst du genau sortieren.“ Und sie wollte auch zurück in den Schoß der Familie, an die Volksbühne, wollte den Sommer vorher noch einmal genießen – aber das war dann zu viel. Nur so kann ich mir das erklären. Fordert Ihr Theater am Ende vielleicht doch zu viel? Es fordert die Existenz, ja. Aber sein Zweck ist gerade, das Abrutschen im Leben zu vermeiden. Auf der Bühne entsteht erst aus der Überforderung Wahrheit. Und, klar, es geht um die absolute Selbstzerstörung. Ich verstehe das Theater als Ort, an dem wir unsere Dunkelheit ausleben können, um nicht von ihr in den Tod gerissen zu werden. Auch Volksbühnen-Held Christoph Schlingensief ist – so hat er es empfunden – letztlich am Theater, an Bayreuth, zugrunde gegangen… Der hat sich wirklich in der Kunst zerrieben, er hat die vielen Plattformen irgendwann nicht mehr kontrollieren können, ist zum Kunstwerk geworden. Und, ja, wenn Sie so wollen, zu einem Opfer. Einigen Ihrer alten Schauspieler an der Volksbühne scheinen die Opfer des Theaters zu groß geworden zu sein – sie stehen nicht mehr bei Ihnen auf der Bühne. Inzwischen können einige Schauspieler meine Inszenierungen auch gar nicht mehr spielen. Ein Henry Hübchen oder ein Martin Wuttke – die können es nicht mehr leisten, sich sechs Stunden lang permanent zu überfordern. Kann es sein, dass Sie von Ihren Schauspielern mehr verlangen als von sich selbst? Ich mach das doch alles mit ihnen zusammen. Ich brülle bei den Proben, laut, leise, schnell, langsam, nehme die Schauspieler, reiße sie über die Bühne, schubse sie von links nach rechts … Ich geh da schon von Marx aus. Mein Produkt hat mit mir zu tun. Entfremdete Arbeit lasse ich nicht zu. Und ich habe das Privileg, dass die größten Egoisten und Narzissten, so wie Sophie Rois, sich diesen katholischen Exerzitien zur Verfügung stellen. Ah, das ist auch so ein Thema: Sie sehnen sich schon nach der DDR, oder? Wir hatten in der DDR eine gute Zeit. Ja, das muss ich sagen. Bei meinem ersten Job in Anklam war es so, dass die Damen und Herren von der Staatssicherheit in der Ellenbogenstraße saßen. Ich habe damals gerade „Trommeln in der Nacht“ inszeniert. Da gibt es den schönen Satz: „Ja, Ellenbogen muss man haben, um auf den grünen Zweig zu kommen.“ Der Schauspieler, der diesen Satz damals gesprochen hat, Horst-Günter Marx, ist zwei Tage vor der Premiere in die Ellenbogenstraße abgeführt worden und für zwei Jahre nicht mehr aufgetaucht. Ich habe später in meiner Stasi-Akte gelesen, dass auch gegen mich die Anklage schon lief. Hatten Sie in der DDR, was Sie in der Bundesrepublik nicht haben müssen: existenzielle Angst um Ihr Leben? Nein, merkwürdigerweise nie. Zum einen, weil die Prominenz schon zu groß war, und weil da die Gysis waren. Ich wusste, dass die Schlinge baumelt, aber dass es schwer ist, sie zuzuziehen. Ich wurde von der Selbstverständlichkeit, dass mir nichts passiert, getragen. Vielleicht auch, weil meine Eltern mir beigebracht haben, dass ich keine Angst haben musste. Mein Vater kommt auch heute, mit fast 90 Jahren, noch in seinem Mercedes zu meinen Premieren – er war früher mal Rallye-Meister der DDR. Er scheint Sie sehr geprägt zu haben. Mein Vater hat im Maschinengewehr-Kessel des Krieges gesessen. Auch wenn ich heute oft mit den „Stahlgewittern“ kokettiere und behaupte, dass wir manchmal eine solche Erfahrung brauchen, um an unseren Kern zu stoßen, weiß ich, dass es letztlich nur ein philosophischer Gedanke ist. Am Ende des Krieges ist mein Vater desertiert, und meine Großmutter hat ihn vor den Russen in einem Uhrkasten versteckt. Nach dem Krieg hat er geschmuggelt, Geld verdient und gut gelebt. Er wollte immer, dass wir unser Leben nach unseren Bedürfnissen strukturieren. Und letztlich waren meine ersten theatralen Erfahrungen unsere Familienfeiern, wenn der Onkel Werner der Tante Erna nach vier Flaschen Bier an die Brüste gefasst hat. Da war der zwischenmenschliche Faschismus bereits erkennbar. Familie scheint Ihnen wichtig zu sein. Haben Sie eigentlich zu Ihren Ex-Freundinnen ein gutes Verhältnis? Für die eine bin ich nur ein Arschloch, die andere fühlt sich schlecht behandelt, und noch eine will mehr Geld. Aber was will man machen. Wenn Geld mit Genuss vernichtet wird – wunderbar! Sind Sie denn ein Arschloch? Ja – aber das sage ich auch. Haben Sie kein Bedürfnis, Frieden zu schließen? Ich muss das von eben zurücknehmen: Ich bin kein Arschloch. Ich weiß, wie vielen Leuten ich politisch, finanziell oder einfach nur als Freund geholfen habe. Aber, wenn ich heute, mit 60 Jahren, ernsthaft nachdenke, wie ich Menschen durch eine Geste ins Unglück getrieben habe, an einige meiner Kinder denke, um die ich mich nie gekümmert habe, merke ich schon, dass es nicht schlecht gewesen wäre, wenn ich es getan hätte. Nein, ich habe Menschen extrem verletzt. Ich habe sie in einer Art allein gelassen, die ebenfalls zwischenmenschlicher Faschismus ist. Suchen Sie Versöhnung? Das kann man doch nicht. Aber ich bin dankbar, wenn Menschen wie meine zweitälteste Tochter irgendwann kommen und sagen: „Ach, Papa, ich habe es nicht so schlecht gehabt. Ich hatte meine Großeltern. Das ist alles nicht so schlimm. Du brauchst dir darüber keinen Kopf zu machen.“ Dann bin ich ein bisschen froh für den Moment. Aber ich weiß auch, dass ich diese asoziale Komponente habe. Vielleicht bin ich als psychischer Modellverlauf interessant. Ziehen Sie denn Konsequenzen aus Ihren Gedanken? Ich habe jetzt eine Freundin, die mich zwingt, kinderlieb zu sein. Und ich merke, wie ich plötzlich mit meinem Zweijährigen bei seiner Mutter mit zwei Tüten aus dem Ökoladen im Prenzlauer Berg stehe. Das ist gut für mich. Das habe ich früher nie getan. Ich bin 60 und ein bisschen wie Napoleon. Wenn den Kindern die Schokolade nicht schmeckt, die ich nach Hause bringe, hole ich eben neue. Ich nehme das als Strafe für mein sündiges Leben an. Und manchmal sitze ich dann da und denke, dass mein Leben im Alter das wahre Vaudeville ist. Ich hab’s nicht anders verdient! Werden Sie einmal in Frieden sterben? Nö, ich will sterben, wie ich immer war: großmäulig, treibend, echt. Ich will auch nicht auf den Dorotheenstädtischen Friedhof – ich will irgendwo verscharrt werden. Was das anbelangt, bin ich vollkommen unsentimental. 2013 werden Sie Richard Wagners „Ring“ in Bayreuth inszenieren. Zum 200. Jubiläum des Komponisten. Was genau werden Sie machen? Ich denke noch nach. Zunächst habe ich beim „Ring“ an Öl gedacht, an die Route Sixtysix, an eine Tankstelle, und im Hintergrund an einen großen, blauen Pool. Aber der Dirigent Kirill Petrenko ist noch nicht überzeugt und hat mir in einer sehr zuvorkommenden Art zu verstehen gegeben, dass das nicht alles sein könne. Nun denken wir weiter. Ich habe auch über diesen wundersamen Ort Bayreuth nachgedacht, der die deutsche Geschichte aufgesogen hat. Es ist nicht leicht, eine Interpretation zu finden. [video:Musikalischer Auftakt des Beethovenfests in Bonn] War Wagner nicht der Castorf des 19. Jahrhunderts? Einer, der eine 17-Stunden-Oper hingeworfen hat. Der das Extreme forderte, das Unmögliche, das Große und Pathetische. Vielleicht haben Sie recht: Da ist viel von meinem Theaterleben drin. Von meiner Theaterästhetik. Ich will auch weitergehen als eine Ruth Berghaus, mich interessiert die intensive Zusammenarbeit mit den Sängern, dem Dirigenten, dem Orchester. Ich denke an die Rheinnixen, die tauchen auf und ab und singen dabei – das ist theatraler Aktionismus! Da kommt der Drachen, der Weltuntergang – ja, der „Ring“ ist eigentlich eine Volksbühnen-Oper. Eben waren Sie für einige Momente sehr nachdenklich. Könnte die große Oper auch eine Art Alterswerk werden? Ich glaube nicht – darüber bin ich schon hinweg. Bis 1998 habe ich radikales, anarchistisches Theater gemacht, dann habe ich Dostojewski entdeckt und gemerkt, wie groß er ist. In diesem Moment habe ich die Demut kennengelernt und gemerkt, wie es ist, sich als Künstler einem anderen Künstler komplett zur Verfügung zu stellen. Demut bedeutet, dass man das, was andere tun, versteht, ohne selbst daran zu partizipieren. Und so ist es bei Wagner auch. Ich komme durch diese Meister wieder zu meiner Jugend zurück. Ich bin wieder am Anfang, beim Ausrutschen auf der Banane, beim Auf-die-Fresse-Fallen – bei der alten Wut. Das Gespräch führte Axel Brüggemann Fotos: picture alliance
Die Welt, nicht das Theater, ist der Spielplatz des Zynischen. Warum es einer als politisches Statement versteht, sich auf der Bühne als anarchistischer Querulant zu geben und trotzdem alles Geld einzusacken, das er kriegen kann. Volksbühnen-Intendant Frank Castorf über Obdachlose, Macht, Merkel und die DDR
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kultur
2012-04-21T09:45:41+0200
2012-04-21T09:45:41+0200
https://www.cicero.de/kultur/da-kriege-ich-das-kotzen/49000
Zeitgeist – Einen linken Mainstream gibt es nicht
Vor vier Jahren, Anfang August 2007, behauptete die ZEIT unter Berufung auf einen Marktforscher des in London basierten Konzerns WPP-TNS (der in Deutschland u.a. auch für die ARD, den SPIEGEL, Focus, die Bild am Sonntag, das Bundespresseamt und die SPD tätig ist), „Deutschland hat einen Linksdrall“. Und Frauen würden noch etwas mehr „nach links neigen als Männer“. Dass dieser Marktforscher wenig später (Ende August 2007) in der Bild am Sonntag behauptete, es gäbe einen „Rechtsdrall in Deutschland“ und die Frauen wählten „neuerdings stärker als Männer rechte Parteien“ machte damals niemanden stutzig. In der medialen und öffentlichen Diskussion hielt sich lange Zeit die aufgrund einer völlig abwegigen Interpretation vorliegender Umfragedaten entstandene Mär vom „Linksruck“ in Deutschland. Erst mit dem Ergebnis der Bundestagswahl vom September 2009, als die bürgerlichen Parteien CDU, CSU und FDP mit 48,4 Prozent der gültigen Stimmen eine komfortable Mehrheit erhielten, verstummte das Gerücht vom Linksdrall in der Republik. Doch Ende 2011 behauptet nun der SPIEGEL (siehe „Alles auf Links“ in Heft 50/2011), „Links“ sei „der neue Mainstream“ und bei der Bundestagswahl 2013 werde das „große“ Thema „soziale Gerechtigkeit“ wahlentscheidend sein. Doch 2011 ist die These, die deutsche Gesellschaft rücke nach „links“ genauso falsch wie schon 2007. Nur am Rande sei darauf hingewiesen, dass der SPIEGEL auch schon vor einem Jahr mit dem Begriff „Wutbürger“ eine völlig unzutreffende Beschreibung der gesellschaftlichen Realität lieferte (die Volksabstimmung über Stuttgart 21 hat ja gezeigt, dass über die Aktivisten der grünen Bewegung hinaus nur wenige Bürger zu den Gegnern des Bahnhofsprojektes zählten, die große Mehrheit aller Bürger aber den Umbau seit jeher befürwortet). Wenn der SPIEGEL mit seiner Behauptung vom „linken Mainstream“ recht hätte, müsste das „linke“ Wählerlager ja an Zustimmung gewinnen. Doch dem ist nicht so: Nach dem jüngsten RTL/STERN-Wahltrend würde nur eine Minderheit von 34 Prozent aller befragten Wahlberechtigten SPD, Grüne oder die Linkspartei wählen – also kaum mehr als bei der letzten Bundestagswahl 2009, als das linke Lager zusammen von 32 von 100 Wahlberechtigten gewählt wurde. Das entspricht im übrigen dem Anteil, den die „linken“ Parteien zusammen auch bei der ersten gesamtdeutschen Wahl 1990 erhalten hatten. Der Niedergang der linken Volkspartei, auf der nächsten Seite Viel stärker aber als 1990, 2009 oder 2011 war das linke Wählerlager 1998: Damals wurden SPD, Grüne und Linke zusammen von 43 von 100 Wahlberechtigten gewählt Seither ist das linke Lager also nicht – wie 2007 und jetzt wieder behauptet – gewachsen, sondern deutlich geschrumpft. Dass eine große Mehrheit von über 80 Prozent die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns für richtig hält und eine Mehrheit von 62 Prozent eine Erhöhung des Spitzensteuersatzes befürwortet, kann im übrigen auch nicht als Beleg für einen „Linksruck“ interpretiert werden. Zum einen ist der Anteil der Befürworter beider Maßnahmen weder in der Banken- und Finanzkrise 2008/2009 noch in der gegenwärtigen Eurokrise angestiegen. Und zum anderen werden beide Maßnahmen von der großen Mehrheit der Bürger nicht als besonders dringlich eingeschätzt. Andere Politikfelder - wie die Lage am Arbeitsmarkt, die sozialen Sicherungssysteme, die Zukunftsperspektiven der Kinder und Enkel durch ein gutes Bildungssystem, die Finanzausstattung der Städte und Gemeinden etc. haben bei der Mehrheit der Menschen eine viel höhere Priorität als die Wahrung sozialer Gerechtigkeit. Und die Wiedereinführung der Vermögenssteuer oder eine höhere Besteuerung von Kapitalerträgen oder großer Erbschaften werden nur von einer Minderheit der Bürger befürwortet. Die Steuerpläne von SPD und Grünen mögen angesichts der gegenwärtigen Krise und aus ökonomischer Sicht vielleicht sinnvoll sein. Als das „große“ Wahlkampfthema aber eignen sich diese Pläne nicht, zumal die „Mitte“ nicht – wie im SPIEGEL zu lesen – jetzt „links“ ist. Dabei ist die Mitte – anders als von SPD-Chef Sigmar Gabriel in seiner Bewerbungsrede auf dem SPD-Parteitag 2009 verkündet – sowohl soziologisch als auch politisch exakt zu verorten. Die rund 10 Millionen Wähler, die der SPD zwischen 1998 und 2009 abhanden gekommen sind, finden sich zu großen Teilen unter den mittleren und höheren Berufs-, Bildungs- und Einkommensschichten. So liegt z.B. das Durchschnittseinkommen der der SPD verbliebenen Anhänger bei ca. € 2.500, das der SPD-Abwanderer aber bei € 2.700. Und die seit 1998 ins Lager der Nichtwähler bzw. zur Union abgewanderten SPD-Wähler verorten sich auf einer Links/Rechts-Skala mit Werten von 4.6 bzw. 5.0 deutlich eher in der politischen Mitte als die der SPD heute verbliebenen Anhänger mit einem Wert von 4.3. Hinzu kommt, dass der Stellenwert der „sozialen Gerechtigkeit“ seit den 90er Jahren eher ab- denn zugenommen hat – trotz Finanz-, Banken- und Euro-Krise. Niemand möchte zwar eine sozial ungerechte Gesellschaft, doch andere politische Ziele wie eine gute Bildungspolitik, eine gute Gesundheitsversorgung, eine solide Finanzpolitik, etc. sind in krisenhaften Zeiten wie diesen wichtiger als die Wahrung sozialer Gerechtigkeit. Wäre es anders, müsste die Linkspartei, der man ja nur auf diesem Gebiet irgendwelche Kompetenzen zutraut, riesigen Zulauf erfahren. Das aber ist ja gerade nicht der Fall, zumal die Hälfte aller Bürger auch heute trotz Krise meint, in der deutschen Gesellschaft gehe es alles in allem gerecht zu.
Ist Links der neue Mainstream, eine Begleiterscheinung des politischen Zeitgeists? Die Zahlen geben das nicht her. Seit 1998 sind der ehemaligen Volkspartei SPD 10 Millionen Wähler abhanden gekommen. Auch das restliche linke Spektrum muss darben
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innenpolitik
2011-12-15T11:44:15+0100
2011-12-15T11:44:15+0100
https://www.cicero.de//innenpolitik/einen-linken-mainstream-gibt-es-nicht/47660
Deniz Yücel - Özdemir und Kubicki gegen die AfD
Eigentlich hatte die Alternative für Deutschland (AfD) im Bundestag eine Debatte über das Verhalten der Bundesregierung im Fall Deniz Yücel gefordert. Bekommen hat sie aber noch mehr. Die Reden vieler Parlamentarier mutierten immer mehr zu einer Generalabrechnung mit dem grundsätzlichen Gebaren der Rechtsaußen-Partei. Besonders die Reden von Wolfgang Kubicki (FDP) und Cem Özdemir (Grüne) werden über Facebook, Twitter und Youtube geteilt, teils gefeiert, teils kritisiert. Zunächst beschuldigte der AfD-Abegeordnete Gottfried Curio (00:40) die Bundesregierung, sie habe dem Welt-Journalisten Deniz Yücel eine Sonderbehandlung zu teil werden lassen. Noch dazu sei Yücel einer, der Deutschland hassen würde. Curio empfahl deshalb, Yücel solle doch seine deutsche Staatsbürgerschaft abtreten. Wolfgang Kubicki sprach anschließend für die FDP-Fraktion (19:05). Er bezeichnete den Antrag der AfD dabei unter anderem als "intellektuell erbärmlich". Dieser fordere die Bundesregierung überdies dazu auf, verfassungswidrig zu handeln. Kubicki sagte, er könne zwar akzeptieren, dass die AfD keine Satire verstehe und das Grundgesetz billige der Partei auch zu, Unsinn abzuliefern. Aber die AfD könne schlicht nicht erwarten, dass andere Parlamentarier ihre Meinung teilen würden. Kubicki sagte, er sei stolz auf sein Land und wolle sich nicht zunehmend für Deutschland wegen solcher Reden der AfD schämen müssen. Noch deutlich wurde der Grünen-Abgeordnete Cem Özdemir (30:05). Er bezeichnete die AfD-Fraktion als Rassisten, die Deutschland in Wahrheit verachten würden. Alles wofür Deutschland in der Welt geachtet würde, unter anderem für seine Pressefreiheit, würde die AfD verachten. Özdemir sagte ihn erinnerten die Aschermittwochsreden der AfD an Reden aus dem Sportpalast (Joseph Goebbels). Die AfD träume von einem Regime, in dem sie ihm das Mikrofon abstellen könne. Die AfD, so Özdemir, sei damit vergleichbar mit der AKP des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan. Sehen Sie sich hier die ganze Debatte, unterteilt nach den einzelnen Reden, an: 00:40 Gottfried Curio (AfD) 06:37 Alexander Throm (CDU/CSU) 13:54 Lars Castellucci (SPD) 19:05 Wolfgang Kubicki (FDP) 25:10 Jan Korte (Die Linke) 30:05 Cem Özdemir (GRÜNE) 39:20 Elisabeth Motschmann (CDU/CSU) 48:55 Martin Rabanus (SPD) 53:25 Volker Ullrich (CDU/CSU)
Cicero-Redaktion
Eine von der AfD gefordete Debatte zum Verhalten der Bundesregierung im Fall Deniz Yücel wird im Bundestag zur Generalabrechnung mit der Rechtsaußen-Partei – besonders durch Wolfgang Kubicki (FDP) und Cem Özdemir (Grüne). Sehen Sie hier das Video mit allen Reden
[ "Deniz Yücel", "AfD", "Cem Özdemir", "Wolfgang Kubicki", "Bundestag" ]
innenpolitik
2018-02-23T16:26:04+0100
2018-02-23T16:26:04+0100
https://www.cicero.de//cem-oezdemir-wolfgang-kubicki-afd-deniz-yuecel
Co-Chefin der Linken - Susanne Hennig-Wellsow tritt zurück
Die Co-Chefin der Linken, Susanne Hennig-Wellsow, tritt zurück. „Ich stelle heute mein Amt als Parteivorsitzende der Linken mit sofortiger Wirkung zur Verfügung“, schrieb die 44-Jährige am Mittwoch auf ihrer Webseite. Sie begründete ihren Entschluss unter anderem mit ihrer privaten Situation. Diese erlaube es nicht, „mit der Kraft und der Zeit für meine Partei da zu sein, wie es in der gegenwärtigen Lage nötig ist“. Sie habe einen achtjährigen Sohn, der sie brauche. „Aber auch die Linke braucht in dieser Situation eine Vorsitzende, die mit allem, was sie hat, für die Partei da ist.“ Als weitere Gründe für den Rücktritt nannte Hennig-Wellsow eine nötige Erneuerung der Partei „und diese Erneuerung braucht neue Gesichter, um glaubwürdig zu sein“. Sie erwähnt zudem den Umgang mit Sexismus in den eigenen Reihen. Dieser habe eklatante Defizite der Partei offen gelegt. Am vergangenen Freitag waren über einen Bericht des Nachrichtenmagazins Der Spiegel mutmaßliche Fälle sexualisierter Gewalt in der hessischen Linkspartei öffentlich geworden. In ihrer Erklärung führte Hennig-Wellsow auch das enttäuschende Ergebnis bei der Bundestagswahl an. Damals war die Linke gerade so wieder in den Bundestag eingezogen und hat sich seitdem nicht wieder erholt. „Wir haben zu wenig von dem geliefert, was wir versprochen haben. Ein wirklicher Neuanfang ist ausgeblieben. Eine Entschuldigung ist fällig, eine Entschuldigung bei unseren Wählerinnen und Wählern, deren Hoffnungen und Erwartungen wir enttäuscht haben.“ Hennig-Wellsow führte die Linke gemeinsam mit Janine Wissler seit Ende dem 27. Februar 2021. Das Duo folgte damals auf Katja Kipping und Bernd Riexinger, die nach neun Jahren auf eine weitere Amtszeit als Parteivorsitzende verzichtet hatten. Bevor sie im vergangenen Jahr in den Bundestag gewählt wurde, war Hennig-Wellsow 17 Jahre lang Abgeordnete im Thüringer Landtag, seit 2014 auch als Fraktionsvorsitzende. In diesem Amt erlangte Hennig-Wellsow bundesweite Bekanntheit, als sie im Februar 2020 dem damals mit AfD-Stimmen zum Ministerpräsidenten gewählten FDP-Politiker Thomas Kemmerich einen Blumenstrauß vor die Füße warf. dpa
Cicero-Redaktion
Die bisherige Co-Chefin der Linken, Susanne Hennig-Wellsow, hat angekündigt, ihr Amt mit sofortiger Wirkung zur Verfügung zu stellen. Ihr Rücktritt habe vor allem private Gründe. Zuletzt war bekanntgeworden, dass es in der hessischen Linkspartei mutmaßlich zu Fällen sexualisierter Gewalt gekommen ist.
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innenpolitik
2022-04-20T14:30:21+0200
2022-04-20T14:30:21+0200
https://www.cicero.de/innenpolitik/co-chefin-der-linken-susanne-hennig-wellsow-tritt-zuruck-
Marine Le Pen – Blonde Ikone der Braunen
Ganz klein und grau war ihr Büro im „Ozeandampfer“, wie der Pariser Sitz der „Front National“ Ende der neunziger Jahre genannt wurde. Marine Le Pen war gerade 30 Jahre alt und noch ein Mauerblümchen; als ausgebildete Anwältin arbeitete sie im Rechtsdienst der Partei. An Arbeit mangelte es nicht, da ihr Vater Jean-Marie mit seinen rassistischen Sprüchen häufig in einen Prozess verwickelt war. Doch für den ausländischen Journalisten nahm sie sich Zeit. „Fragen Sie drauflos“, sagte sie mit ihrer Raubeinstimme und wich keinem Thema aus – stets mit der gleichen Schlussfolgerung: Die Immigranten sind schuld an der Arbeitslosigkeit, der Kriminalität, der Korruption und der nationalen Dekadenz. Für die hochgewachsene Blondine war der Reporter offensichtlich ein Sparringpartner: Marine le Pen trainierte für ihre Politkarriere. Vier Jahre später kam es zum Wiedersehen im Norden Frankreichs, wo Marine Le Pen für den Regionalrat kandidierte. An einem Markttag in der Kohlenpottgemeinde Harnes verteilte die jüngste Tochter des Front-National-Chefs Flugblätter, als am anderen Ende des Platzes militante Kommunisten mit menschengroßen Hakenkreuzschablonen aufmarschierten. „Wir sind keine Details der Geschichte“, skandierten sie in Anspielung auf Jean-Marie Le Pens Marginalisierung der Gaskammern der Nazis. Inzwischen war die Tochter fast so schlagfertig wie ihr Vater und erwiderte: „Ich habe mit den Verbrechen jener Zeit nichts am Hut – während die französischen Stalinisten stets die Augen vor den Massenmorden der Sowjetära verschlossen!“, rief sie in die Menge und schlug sich eine Bresche durch die Mauer der verdutzten Gegner. Heute hat die 42-Jährige drei Kinder, immer noch einen Sitz im Regionalrat von Nord-Pas-de-Calais, und zwei Scheidungen hinter sich. Furchtlos stürzt sie sich heute auch vor Millionen Fernsehzuschauern ins Getümmel, kein Duell, keine Debatte scheuend. Marine Le Pen verfügt zwar über weniger Sprachwitz und Sarkasmus als Jean-Marie, macht das aber mit einem mächtigeren Stimmorgan wett. Und wie ihr Vater liebt es auch Marine Le Pen, allein gegen alle anzutreten. So während eines Wahlkampfs im Städtchen Hénin-Beaumont. Dort zog sie gegen den sozialistischen, wegen Veruntreuung von Steuergeldern verhafteten Bürgermeister Gérard Dalongeville ins Feld. Eine gute Gelegenheit zu fragen, was sie eigentlich politisch von ihrem Vater unterscheide. „Ich bin rationaler“, erwiderte sie. „Für mich hat die Immigration keine religiöse oder ethnische Komponente wie für meinen Vater. Ob ein Pole oder ein Afrikaner einem Franzosen den Job wegnimmt, läuft auf dasselbe hinaus.“ Dann verteilte sie Flugblätter über „die 20 (dicksten) Lügen zu Europa“, die die Linke und Sarkozys UMP angeblich verbreiten. Darin heißt es: „Sie sagen, Europa schütze unsere Grenzen vor der Einwanderung. Falsch! Die EU sieht die Ankunft von 150 Millionen Immigranten in den nächsten 20 Jahren vor.“ 150 Millionen – diese Zahl glaubt selbst Marine Le Pen nicht. Hauptsache sie klingt schön polemisch. Das hilft im Kampf um die Gunst der älteren „Frontisten“, die die Juristin als Softie verachten. Eine Frau eben, dazu geschieden und eine Befürworterin der Möglichkeit zur Abtreibung. Die Kritik aus den eigenen Reihen kommentiert sie trocken: „Den einen bin ich zu wenig brutal, den anderen zu wenig feminin.“ Als handle es sich um eine Auszeichnung, erzählt sie lieber stolz, wie sie auf dem Markt von Hénin von einem Passanten mit der Pistole bedroht worden sei. Härte gehört offensichtlich zu ihrer politischen Erziehung. Vom Vater hatte sie jedenfalls keine Bevorzugung erfahren. Sie müsse noch „leiden lernen“, sagte er, als er sie ohne seine Unterstützung in den Kampf um den Vorsitz der „Front National“ schickte. Papas Jüngste – sie ersetzte ihm nach seinen eigenen Worten den Sohn, den er nie hatte – musste ihre Sporen allein verdienen. Auch gegen ihren parteiinternen Rivalen, den äußerst zähen und reaktionären Parteiideologen Bruno Gollnisch. Am Ende hat sie sich durchgesetzt: Heute ist sie die Chefin des „Front National“. Marine Le Pen hat verstanden, dass ihre Partei Konzessionen machen muss, will sie nicht marginal werden. Jüngste Umfragen bestätigen sie: 27 Prozent der Franzosen haben eine „positive Meinung“ von Marine Le Pen, etwa 14 Prozent wollen bei der nächsten Präsidentschaftswahl für sie stimmen. Damit ist ihr nächstes Ziel abgesteckt: die Präsidentenwahlen 2012. Seit neuestem beklagt die Juristin, dass es in Frankreich Orte gebe, „in denen es nicht gut ist, Frau zu sein, homosexuell oder Jude, nicht einmal französisch oder weiß“. Damit deutete sie vorsichtig eine Absage an Antisemitismus und Homophobie an und erhielt trotzdem den Beifall der Ultrarechten. Marine Le Pen geifert nicht wie ihr Vater. Dafür legt sie den gleichen absoluten, bisweilen xenophoben Patriotismus an den Tag; und ebenso berechnend wie ihr Vater provoziert sie mit Aussagen, die sie garantiert in die Schlagzeilen bringen: So etwa mit ihrem Vergleich von Muslimen – die in manchen französischen Stadtvierteln freitags auf der Straße beten, weil es in den Moscheen nicht genug Platz gibt – mit der Besetzung Frankreichs durch die Nationalsozialisten zwischen 1940 und 1944. Ihr Schwachpunkt ist ihr Wirtschaftsprogramm, das mal neoliberal, dann wieder etatistisch ist. Ihre Stärke ist sie selbst: Ein Viertel der Franzosen hält die „keltische Schönheit“ – so die linke Zeitung Libération – für sympathisch. Ihr Vater, das „bretonische Scheusal“, war für Nicolas Sarkozy weniger gefährlich.
Sie ist das weibliche Aushängeschild der französischen radikalen Rechten. Nun hat Marine Le Pen von ihrem Vater den Parteivorsitz des „Front National“ übernommen. Ihr nächstes Ziel hat sie bereits fest im Blick: die Präsidentenwahl 2012.
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außenpolitik
2011-01-27T00:00:00+0100
2011-01-27T00:00:00+0100
https://www.cicero.de//weltbuhne/blonde-ikone-der-braunen/41567
Armenien und Aserbaidschan kämpfen um Bergkarabach - Flächenbrand am Kaukasus?
Jahrelang wurde um Frieden im wohl gefährlichsten Konflikt am Südkaukasus gerungen, doch dann ging alles ganz schnell: Am Morgen des 27. September heulen die Sirenen, als in mehreren Dörfern und Siedlungen in Bergkarabach die Artillerie einschlägt. Zerbombte Häuser, schreiende Menschen, Verletzte und Tote. Der oftmals als „eingefroren“ bezeichnete Konflikt ist mit einem Schlag wieder aufgetaut. Wer an diesem Sonntagmorgen zuerst schoss, ist unklar: Aserbaidschan behauptet, dass seine Stellungen vom armenischen Militär attackiert wurden, die Regionalregierung in Bergkarabach spricht von einem Erstschlag Aserbaidschans. Fest steht, dass sich der Konflikt binnen weniger Tage so stark aufgeschaukelt hat wie seit Jahrzehnten nicht mehr. Raketen, Drohnenangriffe und wohl auch Splitterbomben trafen Schulen, Spitäler, Wohnhäuser nicht nur in Bergkarabach, sondern auch in Ganja, der zweitgrößten Stadt Aserbaidschans, mehr als 100 Kilometer entfernt. Die Zahl der Toten geht längst in die Hunderte, von Tag zu Tag scheint eine Rückkehr an den Verhandlungstisch unwahrscheinlicher. Dazu kommt die geopolitische Komponente – die Türkei gießt fast täglich weiteres Öl ins Feuer und macht keinen Hehl daraus, den muslimischen „Bruderstaat“ Aserbaidschan zu unterstützen, komme was wolle. Plausiblen Berichten zufolge hat die Türkei syrische Söldner angeworben, die in Bergkarabach kämpfen – das wäre eine neue Qualität in diesem jahrzehntelangen Konflikt. Worum geht es? Bergkarabach, mit 4392 Quadratkilometern knapp doppelt so groß wie das Saarland, wird sowohl von Armenien wie auch Aserbaidschan beansprucht, und zwar seit mehr als 100 Jahren. Nach dem Zerfall des russischen Zarenreichs 1917 kam es zur Gründung der Republiken Armenien und Aserbaidschan, die beide Anspruch auf Bergkarabach erhoben, bevor sie 1922 in der Sowjetunion aufgingen. Kein geringerer als Josef Stalin traf die folgenschwere Entscheidung, Bergkarabach trotz mehrheitlich armenischer Bevölkerung der Sowjetrepublik Aserbaidschan zuzusprechen. Zwar als autonome Oblast, aber gegen den Willen der armenischen Mehrheitsbevölkerung.  Zu Zeiten der Sowjetunion blieb der Deckel auf dem Konflikt. Erst Anfang der 1990er kochte er wieder hoch, als blutige Proteste, Pogrome und Kampfhandlungen paramilitärischer Milizen ausbrachen. Nach dem Zerfall der Sowjetunion rief sich Bergkarabach als autonome Republik aus, was Aserbaidschan mit einer Kriegserklärung quittierte. Im Krieg (1992-1994) verloren mehr als 30.000 Soldaten und Zivilisten ihr Leben, mehr als eine Million – überwiegend Aseris – wurde vertrieben. Armenien war militärisch überlegen und besetzte Bergkarabach sowie sieben benachbarte Provinzen, die nun als eine Art Puffer fungieren. Insgesamt hält Armenien mehr als 13.000 Quadratkilometer besetzt, fast ein Sechstel der Fläche Aserbaidschans. Während Baku also auf seine territoriale Integrität pocht und bei der Grenzziehung das Völkerrecht und mehrere UN-Resolutionen auf seiner Seite hat, argumentiert Armenien mit dem Recht auf Selbstbestimmung der lokalen Bevölkerung. Tatsächlich bestätigen mehrere Volksabstimmungen den Wunsch der Bevölkerung nach einer Unabhängigkeit vom muslimischen Nachbarn Aserbaidschan. Das ist auch wenig verwunderlich, denn heute sind rund 99 Prozent der 150.000 Bewohner Bergkarabachs christliche Armenier. International ist die selbsternannte Republik Bergkarabach jedenfalls nicht anerkannt, nicht einmal von Armenien selbst, welches langfristig eine weitreichendere Lösung – die Integration ins eigene Land – anstrebt. Weil keine Seite zurückstecken wollte, kam der 1992 begonnene Minsk-Friedensprozess der OSZE unter dem Vorsitz der USA, Frankreich und Russland bald ins Stocken. Nach der „samtenen“ Revolution in den Straßen Jerewans, dem friedlichen Machtwechsel und den ersten freien Wahlen 2018 gab es zwar Hoffnung auf eine Annäherung. Der armenische Premier Nikol Paschinjan suchte anfänglich den Dialog zu Baku und hat eine Lösung versprochen. Ab dem Frühjahr 2019 wurde sein Ton aber schärfer: „Karabach ist Armenien. Punkt.“ Es dauerte nicht lang, bis der aserbaidschanische Präsident Ilham Aliyev konterte: „Karabach ist Aserbaidschan. Ausrufezeichen!“ „Das Hochkochen des Konflikts ist ernst, überraschend kommt es aber nicht. Der Friedensprozess konnte in all den Jahren keine Fortschritte erzielen, was große Frustration vor allem auf Seiten Aserbaidschans mit sich brachte“, sagt Elkhan Nuriyev, aserbaidschanischer Politikwissenschaftler und Fellow an der Universität Leipzig. Derzeit scheint eine Lösung in weiter Ferne, eine solche müsse die territoriale Integrität, nationale Interessen sowie die jeweilige Geschichte beider Staaten berücksichtigen, sagt Nuriyev. Gerade im Bereich der Geschichte wird es aber kompliziert, denn beide Konfliktparteien neigen zur selektiven Wahrnehmung. Im Februar 1992 etwa kam es zum schlimmsten Pogrom, als armenische Soldaten mindestens 200 fliehende Aseris töteten. Darauf angesprochen tut das Premier Paschinjan als Propaganda ab. Ähnliche Beispiele gibt es auch mit umgekehrter Opfer-Täter-Konstellation. Wie überhaupt der gesamte Konflikt von Propaganda, dem Missbrauch historischer Traumata und wechselseitigen Vorwürfen geprägt ist. Eine nach wie vor offene Wunde ist der 100 Jahre zurückliegende Genozid der Türkei an 1,5 Millionen Armeniern, den die türkische Führung nach wie vor abstreitet. Paschinjan stellt eine mögliche Wiederholung des Völkermords und eine neue Türkenbelagerung Wiens in den Raum, wenn den türkischen „Großmachtfantasien“ nicht Einhalt gebeten werde. Offen ist noch, welche Rolle Russland einnehmen wird, das sich aus Sicht vieler Beobachter bislang überraschend passiv verhielt. Russland ist seit jeher wichtigster Verbündeter und historische Schutzmacht Armeniens, hat aber auch Aserbaidschan jahrelang mit Waffen beliefert. Erst gestern forderte Russlands Außenminister Sergei Lawrow neuerlich einen sofortigen Stopp der Kampfhandlungen. In einer gemeinsamen Erklärung mit den Außenministern von Frankreich und den USA nannte er die Gewalt eine „inakzeptable Bedrohung für die Stabilität der gesamten Region.“ „Derzeit wartet Putin noch ab. Es kann gut sein, dass er bald die russische Friedensdiplomatie anbietet, Truppen zur Friedenssicherung schickt und dadurch den Einfluss Russlands in der Region stark erhöht“, sagt Politologe Nuriyev. Bereits seit den 1940ern hat Russland eine große Militärbasis in Gjumri im Nordwesten Armeniens, wo derzeit rund 3.000 Soldaten stationiert sind. Sie sind normalerweise unter anderem mit der Sicherung der Grenze zur Türkei und zum Iran betraut und könnten im Fall des Falls rasch mobilisiert und nach Bergkarabach verlegt werden. Armenischen Angaben zufolge hat Putin Paschinjan telefonisch seine Unterstützung zugesichert, sollte sich der Konflikt weiter verschärfen. An einer solchen Eskalation kann freilich niemand Interesse haben, denn die Folge wäre ein Stellvertreterkrieg zwischen zwei hoch militarisierten Regionalmächten mit diametral entgegengesetzten Interessen. Doch selbst wenn sich die Türkei und Russland zurückhalten und ihre Verbündeten „nur“ mit Material unterstützen, droht ein Flächenbrand am Pulverfass Südkaukasus. Bereits jetzt zählen Armenien und Aserbaidschan, relativ zur Bevölkerungszahl, zu den zehn militärisch höchstgerüsteten Staaten der Welt.
Florian Bayer
Hunderte Tote, bombardierte Städte, Generalmobilmachung auf beiden Seiten: Der Territorial-Disput um Bergkarabach zwischen Armenien und Aserbaidschan ist eskaliert. Wie konnte das geschehen?
[ "Armenien", "Aserbaidschan", "Bergkarabach", "Russland", "Türkei", "Krieg" ]
außenpolitik
2020-10-07T11:23:57+0200
2020-10-07T11:23:57+0200
https://www.cicero.de//aussenpolitik/armenien-aserbaidschan-kaukasus-bergkarabach-krieg-turkei-russland
Ägypten – Die Kinder der Revolution
Schon die Ankunft, eine einzige Überforderung. Vierzig Grad im Schatten bei tropischer Luftfeuchtigkeit sind kein Pappenstiel – den Rest besorgt der Smog. Der Taxifahrer am Flughafen: Ob er das Buch kennt, das ich gerade im Flugzeug gelesen habe? Khaled al-Khamissis Taxi-Geschichten wurden dieses Jahr ins Deutsche übersetzt, und es heißt, sie zeichneten ein genaueres Bild von Kairo als eine ganze soziologische Bibliothek. Der Fahrer guckt ernst und freundlich, er spricht aber nur arabisch. So lenkt er den betagten Peugeot schweigend in einen Verkehr, vor dem man die Augen verschließen sollte, um nicht sofort verrückt zu werden. Aus den überaschendsten Richtungen kommen Autos, schmiegen sich millimetergenau von der Seite an und fließen dann in wundersamer Eintracht auf der Straße, die wirkt, als sei sie nur für die Hälfte der tatsächlich befahrenen Spuren ausgelegt. [gallery:Ägypten: Ein Land im Umbruch] Unsere rechte Vordertür ist defekt. Sie schwingt während der Fahrt von selbst auf, weshalb sich der Fahrer, mit einer Hand am Steuer, über den Beifahrersitz lehnt, um sie wieder zuzuziehen. Durch einen Spalt im Boden des Taxis sieht man den Asphalt. Derweil ziehen links und rechts architektonische Monumente des wohlhabenden Außenbezirks Heliopolis vorüber. Kolonialer Prunk und sozialistischer Protz – beides längst verblichen. Dann ein Blick auf die «Stadt der Toten», die zugleich Friedhof ist und Slum; auf den Grabstellen der Verblichenen leben nicht weniger als 500.000 Menschen. Wortlos reicht der Fahrer seine Zigaretten nach hinten. Wir rauchen. Das also ist sein Welcome to Egypt. Ich erinnere mich: Man kann sich sehr wohl fühlen in Kairo. Welcome to Egypt: Erst die Revolution hat diesem Satz einen Sinn gegeben. Diente er gestern noch dazu, Touristen in Läden mit Gewürzen, Leder, Schmuck und anderem Kram zu locken, hört man ihn jetzt auch aus dem Mund von Menschen, die gar nichts verkaufen wollen. Vor allem auf dem Tahrir-Platz, der schon seit Wochen wieder von Demonstranten besetzt ist. Nirgends wird deutlicher, dass diese Revolution eine Jugendbewegung ist. Die Aktivisten, die hier, geduldet von Polizei und Militär, im Moment den Ton angeben, sind zum größten Teil unter dreißig und oft nicht einmal volljährig. Durch sie hat auch der Name dieses Areals einen neuen Klang bekommen. Midan at-Tahrir, so heißt er vollständig, «Platz der Befreiung». Er grenzt zur einen Seite ans Ufer des Nils, zur anderen an die Innenstadt und ist eingefasst von Regierungs- und Verwaltungsgebäuden. Im Hintergrund zwei Mahnmale der allerjüngsten Geschichte – man vergisst hier leicht, dass der heiße Januar erst ein gutes halbes Jahr zurückliegt: Das ägyptische Museum, wo sich plündernde Wärter im allgemeinen Durcheinander über die antiken Kunstschätze hermachten; daneben eine rußgeschwärzte Betonruine, in der vor dem Brand Mubaraks Staatspartei residierte. Von weniger einschüchternder Wirkung als solche Klötze sind die neuen Architekturen der Revolution. Ein Zeltlager in der Mitte des Tahrir ist das Epizentrum der Bewegung. Von improvisierten Bühnen ertönen Reden und Sprechchöre, die von einer fahnenschwenkenden Menge lautstark erwidert werden. Der Revolution sind die Themen noch lange nicht ausgegangen. Es grenzt an ein Wunder, wie geduldig Polizei und Militär das Geschehen auf dem Tahrir tolerieren, keine einzige Uniform ist an diesem Abend zu sehen. Lesen Sie mehr über den Mann, den man «Mubaraks Pudel» nennt. Die Demonstranten wissen aber, dass das Erreichte jederzeit in Gefahr geraten kann. Sie fordern, dass die Polizisten, die an dieser Stelle ihre eigenen Landsleute erschossen haben, bestraft werden, und dass der Prozess gegen den totkranken Mubarak endlich in Fahrt kommt. Ist aber Mohammed Hussein Tantawi, der als Vorsitzender des Obersten Rats der Streitkräfte nun die Regierungsgeschäfte führt, für solche Anliegen der richtige Mann? Noch vor wenigen Jahren nannte man ihn «Mubaraks Pudel» – wen wundert es daher, dass er sich nun weigert, vor Gericht gegen seinen früheren Förderer auszusagen. Die Hoffnung der Demonstranten scheint trotzdem ungebrochen. Sie verwalten den Tahrir als temporäre autonome Zone. Wie eine freundliche Variante der stets angriffslustigen Polizei tragen sie selbst dafür Sorge, dass es hier friedlich bleibt und das große Anliegen nicht durch plötzliche Gewalt gefährdet wird. Streng achten sie darauf, dass die in den Seitenstraßen geparkten Autos nicht beschädigt werden. Auch muss sich jeder, der den Platz betritt, an provisorischen Checkpoints einer Leibesvisitation unterziehen und seinen Pass vorzeigen. Aus Deutschland? Journalist? «Welcome to Egypt!», strahlt der vielleicht zwanzigjährige Basecap-Träger, und seine herzlich patriotische Begrüßung hat in diesem Moment nichts Oberflächliches. Ein anderes Ägypten scheint möglich. Aber der Weg dahin ist noch lang. Gleich um die Ecke, in der Kasr-El-Nil-Straße, steht einer jener maroden Kolonialbauten, denen im Lauf der Jahrzehnte immer weitere Stockwerke aufgepflanzt wurden. Den pittoresk verzierten, aber nicht besonders vertrauenerweckenden Fahrstuhl braucht man nicht, denn der Merit-Verlag sitzt gleich im ersten Stock. Im Jahr 1998 hat Mohammed Hashem dieses literarische Zentralorgan der ägyptischen Opposition gegründet. Die wichtigsten Schriftsteller des Landes sind oder waren in diesem Verlag zu Hause, darunter Alaa al-Aswani, dessen Roman «Der Jakubijan-Bau» zum internationalen Bestseller wurde. Auch soziologische Sachbücher erscheinen bei Merit. Das Verlagsbüro ist ein bescheidener Raum, ausgelegt mit abgelaufenen Teppichen und Polstern, auf denen sich gerade einige Demonstranten vom Stress des Tahrir entspannen. Von Beginn an waren die Räume des Verlags ein Fixpunkt der Revolution, sagt Hashem, und sei es nur, weil es hier Toiletten gibt und Kaffee. Er möchte seinen Einfluss auf das Geschehen lieber nicht überbewerten. Die Intellektuellen, ja, schon, sie seien überall dabei gewesen, bei jeder Kundgebung ein Schriftsteller oder Künstler – aber der öffentliche Einfluss, der sei doch eher gering. Zu groß die Macht der staatlich gelenkten Medien. Im Unterschied zu den religiös Verrückten könne noch der berühmteste Schriftsteller auch heute lange darauf warten, einmal in ein Fernseh-Mikrofon zu sprechen. Dennoch: Die Revolution wurde nicht zuletzt in Büchern vorbereitet, auch wenn Autoren wie Hamdi Abu Golayyel, Ahmed Alaidy, Manshiyet Nasr oder Mohamed Salah Al Azab über Ägypten hinaus noch nicht sehr bekannt sind. Wer es sich, wie zum Beispiel Alaa al-Aswani, leisten konnte, schrieb trotz der Zensur überraschend freizügig. Soeben erschienen auch auf Deutsch al-Aswanis Essays aus den vergangenen Jahren, sie tragen Überschriften wie «Drei irrige Argumente zur Unterstützung von Gamal Mubarak», «Die Kunst, dem Präsidenten zu gefallen» oder «Gilt Wahlfälschung als Sünde?» – so explizit durften zumindest manche schon vor der Revolution werden. Auch Hashem schützt seine Berühmtheit heute davor, ins Gefängnis gesteckt zu werden, wie es ihm unter Sadat in den siebziger Jahren passiert ist, als man ihn kommunistischer Umtriebe bezichtigte. Er raucht nervös und wartet nicht ab, bis ich meine Fragen zu Ende gestellt habe. Ein revolutionärer Verleger? «Ich bin ein Revolutionär, wenn ich einen guten Geschmack habe. Ich bin ein Revolutionär, wenn ich für die Freiheit der Kunst kämpfe. Ich bin ein Revolutionär, wenn ich gute Bücher mache!» Lesen Sie auf der letzten Seite, wie ein Buch über Taxifahrer Nobelpreisliteratur ausstechen konnte. Unter seinen jüngsten Buchprojekten ist eine vollständige Übersetzung der «Klavierspielerin» von Elfriede Jelinek. Das ist mutig, denn sexuelle Explizität ist in islamischen Ländern noch immer die stärkste Provokation der Zensurbehörden. Im November wird Hashem nach Darmstadt fahren, um den Hermann-Kesten-Preis des deutschen P.E.N.-Zentrums entgegenzunehmen. Zum soundsovielten Mal plärrt nun sein Mobiltelefon. In der Leitung eine aufgeregte Stimme: Da seien Leute auf dem Tahrir, die die U-Bahn blockieren wollen, die Lage droht zu eskalieren. «Das ist gefährlich», sagt Hashem, «sehr gefährlich, wir müssen das irgendwie verhindern. Wir müssen da runter.» Und das höre ich in diesen Tagen nicht zum ersten Mal: Unter die Demonstranten mischen sich angeblich immer auch solche, die die Sache aus dem Ruder laufen lassen wollen. Jede Eskalation diskreditiert das Anliegen der Revolution, und es heißt, die alte Nomenklatura gebe Unsummen für agents provocateurs aus. Wie schädlich plötzliche Gewaltakte sind, zeigte sich erst Anfang September, als in Kairo die israelische Botschaft gestürmt wurde und drei Menschen starben. Solche Vorfälle schaden dem Ansehen der Revolutionäre – sie haben auch mit ihren Zielen nichts zu tun. Hashem bricht also plötzlich auf, und ich verstehe: Revolution ist auch, wenn ein Verleger zum Praktiker wird. Wie anders lebt und arbeitet da Khaled al-Khamissi, der Kairos abertausenden Taxifahrern eine Stimme gegeben hat. Schon der bürgerliche Komfort seiner riesigen Wohnung lässt auf satten Wohlstand schließen. Sein Buch hat sich hier 500.000 mal verkauft, was angesichts der wenigen Buchhandlungen im Land und einem beinahe brachliegenden Vertriebssystem der Verlage ein unfassbarer Erfolg ist – sogar die Bücher des Nationaldichters und Nobelpreisträgers Nagib Machfus erschienen in Ägypten nur in fünfstelligen Auflagen. Al-Khamissis Idee, die Taxifahrer als Seismografen der Gesellschaft auszuhorchen, ist schlagend: Seine Gesprächspartner stammen aus den verschiedensten Milieus und nahezu allen Teilen des Landes, lernen die unterschiedlichsten Fahrgäste kennen und geraten ständig mit der Polizei aneinander. Nun, da das Buch bereits fünf Jahre alt ist, hat die Süddeutsche Zeitung den Autor mit einer Fortsetzung seiner Geschichtensammlung in Form einer Kolumne beauftragt. So wird das Taxi zur Kammerspielbühne der Revolution. Dabei wirkt al-Khamissi, der hier derart behaglich eingerichtet ist, kaum so, als ob er sich besonders gern ins Chaos der Stadt stürzte. Er liebt seine Geräte: Während unserer Unterhaltung fingert er jedenfalls unablässig auf seinem iPad und Smart-Phone herum, ohne aber darüber den Gesprächsfaden zu verlieren. Ist diese Revolution eine Medien-Revolution? Verwechseln die Demonstranten mit ihren «Long-Live-Facebook»-Transparenten nicht etwas leichtfertig politische Freiheit mit entgrenzter Kommunikation? Halten sie das Medium für die Botschaft? Al-Khamissi schlägt mit der Hand auf den Tisch, solche Fragen bringen ihn in Rage. Es stimme zwar: Neue politische Eliten hätten sich noch nicht herausgebildet – wann solle denn dies, nach einer Ewigkeit der Repression, auch schon geschehen sein? Und doch handele es sich hier um eine echte Revolution – eine soziale Revolution nämlich, wie Hannah Arendt sie als Signum des 21. Jahrhunderts vorhergesagt habe. Auch al-Khamissi schaut in die Zukunft: Der Explosion vom Januar würden Rückschläge folgen und neue Explosionen – am Ende aber, da ist er sich sicher, stehe eine Gesellschaft, die sich endlich von den Ketten der Unterdrückung befreit habe. Auch al-Khamissi ist Revolutionär – nur von anderer, individuellerer Art als Mohammed Hashem. Je länger man seinen Ausführungen in all ihrem Witz, ihrer philosophischen und soziologischen Intelligenz folgt, wird deutlich: Die neue Elite Ägyptens ist schon da und wird sich auch bald auf der politischen Bühne zeigen. Niemand wartet hier auf Erklärungen aus dem Westen, die endlich die islamische Welt verständlich machen sollen. «Was habe ich zum Beispiel mit Indonesien zu tun?», fragt al-Khamissi. «Da habe ich doch zum Beispiel eine viel engere Verbindung zur deutschen Kultur.» Von draußen hört man den Straßenlärm und jetzt auch den Gebetsruf des Muezzins: Allah ist groß. Auch Mubarak war einmal groß. Doch dem Sonnenuntergang entgegen, in Gizeh, liegt im Sand schon sehr lange eine Sphinx und blickt stoisch auf diese Stadt. Sie weiß: Kairo, das wunderbare, vibrierende, das völlig verrückte – Kairo ist noch viel größer.
Die Demonstranten vom Tahrir kommen nicht zur Ruhe. Denn niemand weiß, wer in Kairo künftig an der Macht sein wird. Die Intellektuellen wirken im Hintergrund. Eine Reportage
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außenpolitik
2011-10-16T09:18:06+0200
2011-10-16T09:18:06+0200
https://www.cicero.de//aussenpolitik/die-kinder-der-revolution/46154
Zuwanderung - Der Ruf nach Hochqualifizierten ist unsozial
Es ist der wohl schrecklichste Satz, den man während seiner Schulzeit zu hören bekommt: „Aber nein, liebe Kinder, es gibt keine dummen Fragen.“ Quatsch mit Soße! Natürlich gibt es sie. So sicher, wie es den in deutschen Saunas breitbeinig lauernden Nackedeifetischisten gibt (meistens kahlköpfig und sich unter schwerem Schnaufen mit Salz einreibend). Die in der Pädagogik obligatorische  Dumme-Fragen-Formel sorgt nicht nur dafür, dass die lauten, auf Quantität setzenden Menschen das Wort ergreifen und die vielleicht etwas schüchternen, nachdenklichen die Lust verlieren. Sondern vor allem verhindert sie, dass Kinder, bevor sie fragen, erst einmal in aller Ruhe zum Denken angehalten werden. Um dann vielleicht selber auf die Antwort kommen. Es erschwert die Reflexion über das eigene Denken und hemmt die Heranwachsenden bei der Entwicklung einer inneren Strategie, Fragen lieber über den eigenen Intellekt zu lösen. Anstatt sich auf andere – erst die Mitschüler und später die Schwarmintelligenz – zu verlassen. Erst Denken und dann Poltern hätte man sich auch bei der CSU gewünscht. Ihr Slogan „Wer betrügt, fliegt“, erinnert doch sehr an die gute alte NPD-Rhetorik „Kriminelle Ausländer raus“. Untertitel: „Damit Opa sich auch morgen noch auf die Straße trauen kann… .“ Wer komplexe sozialpolitische Themen derart verkürzt, darf sich nicht wundern, wenn einem der Gegenwind ähnlich verkürzt ins Gesicht bläst. Besonders possierlich wird es, wenn sich dann die CSU-Granten, wie gerade in sämtlichen Talkshows zu bewundern, darüber beklagen, wie sehr doch ihre inhaltliche Auseinandersetzung mit Zuwanderung immer wieder aus dem Zusammenhang gerissen würde. Wer Realität derart verunstaltet, hat das Internetministerium nun wahrlich verdient. Schlimm nur: Die CSU hat wohl sehr genau darüber nachgedacht, was sie da und wie sie es formuliert. Schließlich stehen Kommunal- und Europawahlen vor der Tür. Die Parolen kommen an, bei Umfragen legt die CSU weiter zu. Mal wieder operiert die CSU gemäß dem Strauß’schen Leitspruch, wonach es rechts der CSU keine demokratisch legitimierte Partei geben dürfe. Aufopfernd altruistisch versucht sie also, die Demokratie nach rechts abzusichern. Man könnte aber auch einmal blöd fragen, ob das nicht eher den gegenteiligen Effekt hat. Ob dadurch nicht die politische Mitte langfristig radikalisiert wird. Eben weil die CSU Wahl für Wahl die Radikalen in die Mitte trägt. Eben weil eine demokratische und bei den Wähler hervorragend verwurzelte Partei wie die CSU dies sagt und damit Ressentiment beladenes Stammtischgeflüster erst salonfähig macht. Man muss aber auch festhalten: Der politische Gegner macht es der CSU auch wirklich einfach. Eben weil viele so tun, als könne man Migration auf die Hochqualifizierten beschränken. Und das real existierende Problem sozialer Brennpunkte in vielen deutschen Städten einfach ausklammern. Interessant ist hierbei: Einige Beschränkungen in Sachen Freizügigkeit für Bulgaren und Rumänen sind längst aufgehoben. Hochschulabsolventen oder Auszubildende brauchen seit längerem keine gesonderte „Arbeitserlaubnis-EU“ mehr, wenn sie eine Tätigkeit aufnehmen möchten. Die Qualifizierten sind also willkommen, die weniger Qualifizierten eher weniger. Ein solches, allein auf die wirtschaftliche Leistung bezogenes Einwanderungsprinzip ist aber zumindest mal doppelt unsozial. Einmal, weil es die Privilegierten nur noch zusätzlich privilegiert. Zum Zweiten, weil es die Herkunftsländer ihrer Spitzenkräfte beraubt. Und auf lange Sicht wirtschaftlich schwächere Länder in Europa weiter schwächt. Wer Europa so denkt, hat Europa nicht verstanden. Und eigentlich ist dem CSU-Satz doch uneingeschränkt zuzustimmen. Sofern er nicht auf eine bestimmte Ethnie abzielt. Nehmen wir die Christsozialen beim Wort und schmeißen sie also raus, die Betrüger. Jetzt muss nur noch eine Strafkolonie gefunden werden, die sich bereit erklärt, all die bösen Bundesbürger aufzunehmen. Viel Glück dabei.
Timo Stein
Kolumne: Zwischen den Zeilen. Während die CSU versucht, den reaktionären Stammtisch in die demokratische Mitte zu tragen, reduziert der politische Gegner die Debatte auf die notwendige Zuwanderung durch Hochqualifizierte
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innenpolitik
2014-01-17T17:17:13+0100
2014-01-17T17:17:13+0100
https://www.cicero.de//innenpolitik/wer-betruegt-fliegt-debatte-der-ruf-nach-qualifizierten-einwanderern-ist-unsozial
Blasphemie-Debatte - Die Freiheit nicht für die Freiheitsfeinde opfern
Frankreich war im vergangenen Jahr „das weltweit gefährlichste Land für Juden“. So stand es gestern zu lesen. Eine Studie des „Ministeriums für Jerusalem und Diaspora-Angelegenheiten“ kam zu diesem Ergebnis. Die Anzahl der Übergriffe habe sich 2014 auf rund 1000 verdoppelt. Der „radikale Islam“, so der zuständige Minister, habe eine Scharnierfunktion zwischen altem und neuem Antisemitismus. Zu Wochenbeginn stand auch zu lesen, das Londoner Victoria & Albert Museum habe ein iranisches Poster aus dem Jahre 1990 aus seiner Online-Datenbank genommen. Warum wohl? Weil es Jesus oder Moses in unvorteilhafter Pose zeigt? Natürlich nicht. Dargestellt ist ein lächelnder Mohammed. Der gutgelaunte Bursche muss weg. Das Sicherheitsteam des Museums habe die Zensur nahegelegt. Terror wirkt, heißt das. Auch 2015 wird der radikale Islam Tod und Schrecken verbreiten unter den minder radikalen Muslimen und den Angehörigen sämtlicher anderer Religionen. Da, wie unlängst Ahmad Mansour darlegte, „die meisten muslimischen Verbände sich seit Jahren als Opfer der Gesellschaft“ darstellen und die Gewaltprävention vernachlässigt haben, ist von deren Seite nicht unbedingt ein nachhaltiger Beitrag zur Friedenssicherung zu erwarten. Umso wichtiger sind die Reaktionen der nichtmuslimischen Mehrheitsgesellschaften in Europa. Welche Signale sendet man aus, hinein in die Köpfe und Herzen so ganz unterschiedlich prädisponierter Muslime? Hier ist ein Perspektivenwechsel zu beobachten. In den ersten Tagen nach den islamistischen Morden von Paris dominierte die Solidarität mit den Opfern. Mittlerweile nähert man sich der Täterperspektive mit überraschend hohem Einfühlungsvermögen: Muss man vielleicht doch Verständnis dafür haben, dass besonders Fromme besonders reizbar sind? Muss man vielleicht Blasphemie stärker unter Strafe stellen? Die CSU fordert eine solche Verschärfung des Straftatbestands der Gotteslästerung, der Bonner Rechtsprofessor Christian Hillgruber sprang ihr in der FAZ bei. Auch das stand gestern zu lesen: Die „Duldung von Religionsdiffamierung“ sei ein „Integrationshindernis ersten Ranges“. Der „wechselseitige Verzicht auf Beschimpfungen“ religiöser Bekenntnisse sollte nun „rechtsverbindlich eingefordert werden“. Wird der Gesetzgeber auf Hillgrubers Ruf reagieren? Vorauseilend strecken Öffentlichkeitsarbeiter die Waffen. Der Chefredakteur der New York Times bekräftigte, seine Zeitung werde keine Mohammed-Karikaturen drucken. Unter seinen Lesern seien zu viele „Menschen, die sich durch Satire über den Propheten Mohammed beleidigt fühlen würden.“ Ist das sensibel und klug – oder feige und ängstlich? Mit der Forderung nach Maßnahmen, reizbare Muslime zu besänftigen, öffnet sich eine neue, eine falsche Front. Glaubt wirklich jemand, muslimischer Antisemitismus schwinde, wenn künftig in Ennepetal und Kitzingen das Verbreiten gewisser Zeichnungen strafbewehrt ist oder im Internet kein Mohammed lächelt? Glaubt wirklich jemand ernsthaft, jede Moscheegemeinde werde zum Friedenslabor, wenn an den Kiosken davor zensierte Zeitschriften feilgeboten werden? Not tut vielmehr die entschiedene, die selbstbewusste Stärkung der Meinungs- und Religionsfreiheit, zu welcher die Freiheit des Religionswechsels gehört. Die westlichen Mehrheitsgesellschaften müssen den unveräußerlichen Kern ihrer Demokratie entschlossener denn je benennen und verteidigen: Ja, liebe Bürger, ihr dürft den Islam gerade so verlassen wie das Christentum, das ist euer gutes Recht. Ja, liebe Bürger, ihr müsst es ertragen, dass viele andere Menschen viele Dinge ganz anders sehen, auch solche Dinge, die euch besonders am Herzen liegen. Ich bin kein Freund der Blasphemie. Meistens ist sie das Resultat einer intellektuellen Unreife und eines grundlegenden Mangels an Umgangsformen. Auch geistige Pöbelei ist rüpelhaft, Spott ziert keinen Ehrenmann. Doch wenn ich die Wahl habe zwischen einer freien Gesellschaft, in der Spott und Unreife um der Freiheit willen geduldet werden, und einer Gesellschaft, die aus Angst einen islamophilen Schutzwall errichtet und so sich selbst kasteit, dann ist meine Wahl klar: Ich ziehe die freie Gesellschaft mit all ihren Abgründen vor. Lieber setze ich mich in einer freien Gesellschaft für bessere Umgangsformen und bessere Bildung ein, als in einer unfreien Gesellschaft um diese Wahl gebracht zu werden. Genau an dieser Scheidelinie verläuft die Auseinandersetzung zwischen dem Westen und dem Rest der Welt am Beginn des 21. Jahrhunderts: Wollen wir die Freiheit opfern für die Illusion, dadurch die Freiheitsfeinde zu besänftigen?
Alexander Kissler
Kisslers Konter: Die Perspektive auf die Pariser Attentate hat sich geändert. Aus Solidarität mit den Opfern wurde Verständnis für die Motive der Täter. Gotteslästerung soll strenger geahndet werden. Das wäre das falsche Signal
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innenpolitik
2015-01-27T13:44:10+0100
2015-01-27T13:44:10+0100
https://www.cicero.de//innenpolitik/blasphemie-debatte-die-freiheit-nicht-fuer-die-freiheitsfeinde-opfern/58786
Cumhuriyet - Das letzte Symbol der Republik
Die Handflächen werden feucht. Beine und Füße machen fahrige, nervöse Bewegungen, als das Gehirn verstanden hat. Den alten, kompakten Mann, den drei sonnenbebrillte Zivilbeamte an beiden Armen zum Polizeiauto zerren, kenne ich doch? Das ist doch unser Haus!? Der Mann, der gerade abgeführt wird, und den die türkischen Fernsehbilder zeigen, ist mein Onkel Aydin Engin. Mein Magen verkrampft sich und ich weiß in dieser Sekunde: Dies ist das Ende der Türkischen Republik. Nach 93 Jahren und 6 Tagen ist Schluss mit der anatolischen Moderne. Engin, 78, gehörte in den vergangenen Monaten zu den Mitarbeitern und Autoren der Tageszeitung Cumhuriyet. Er hatte sie nach Can Dündars Verhaftung einige Wochen lang als Chefredakteur durch die Wirren dieses bizarren Militärputsches und seinen immer groteskeren Nachwehen geführt. Sein Nachfolger, Murat Sabuncu, war erst Anfang September Chefredakteur geworden. Auch er und der klarsichtige Kolumnist Kadri Gürsel wurden am vergangenen Freitag verhaftet. Sie alle sind Kollegen aus verschiedenen Kapiteln meines Lebens. Sie sind nachdenkliche, kluge Journalisten. Vielleicht hätten die höflich-unbekümmerten Istanbuler Beamten auch mich morgens aus dem Bett geholt, wenn ich die Türkei nicht schon 1982 nach dem damaligen Militärputsch verlassen hätte. Für Cumhuriyet habe ich in den neunziger Jahren aus Brüssel berichtet. Ich bekam zwar kaum Geld, war aber irgendwie stolz, für die älteste Zeitung des Landes, ach was, für das Symbol der modernen Republik zu schreiben. Heute ist sie nichts als eine schöne Leiche. Um den Kadaver der Meinungsfreiheit vor der Fledderei der islamistisch-nationalistischen Regierenden zu schützen, halten seit Tagen Tausende Leser vor dem Redaktionsgebäude Mahnwache. Wie lange werden sie durchhalten? Es tut gut zu sehen, dass Angela Merkel endlich, zum ersten Mal, wirklich scharfe Worte findet für die Erdogan-Türkei. Verschiedene Botschafter aus EU-Ländern besuchen demonstrativ Cumhuriyet, internationale Journalistenorganisationen starten empörte Kampagnen. Doch meine Wut und Trauer wachsen jetzt erst recht, ich bin zum zweiten Mal in diesem Leben heimatlos. Für mich ist der Sommer 2016 die Chronik eines angekündigten Todes. Die Beschuldigungen der Staatsanwaltschaft gegen Engin und die Kollegen sind lächerlich. Die Staatsanwaltschaft wirft ihnen vor, sich von „Terroristen“ unterstützt haben zu lassen. „Terroristen“ der kurdischen PKK und der islamistischen FETÖ. FETÖ ist längst ein infantiler Kampfbegriff für alles und jeden. Die Wort-Orks des Erdogan-Regimes haben ihn in dumpfbackiger Manier für die Gülen-Bewegung des islamistischen Predigers Fethullah Gülen geprägt. Er steht für „Fethullahs Terrororganisation“. Dass es gar sinnlos ist, ihn ausgerechnet auf die krampfhaft säkulare Cumhuriyet anzuwenden, das mag in der Kampfzentrale Erdogans gar nicht mehr interessieren. Denn das Blatt ist just für seine laizistische Haltung bekannt. Und auch dafür, nie ein übergroßes Herz für die Kurden gezeigt zu haben. Was das Regime stört, ist aber in Wahrheit Cumhuriyets unbeugsame demokratische und ethisch aufrechte Haltung. Hier gab es keine Konzessionen zu erhandeln oder zu erpressen. Die Brutalität des Regimes sehe ich, wenn ich die Augen schließe, überdeutlich in der höflich-heiteren Weise wie es einen alten Mann, Aydin Engin, abführt. Die staatliche Nachrichtenagentur Anatolien berichtete im Detail über die Vorwürfe. Die Zeitung habe bei den Berichten über FETÖ das Adjektiv „terroristisch“ nicht benutzt. Sie hätten nach dem Putschversuch in Juli von „Hexenjagd“ und von einer „unvollkommenen Demokratie“ geschrieben. Alles nicht erlaubt in der Erdogan-Türkei. Die Staatsanwaltschaft soll eine Zwischenüberschrift in den Berichten provoziert haben. Als Cumhuriyet über die wochenlangen sogenannten „Demokratiewachen“ berichtete, zu denen Erdogan die Bevölkerung aufgepeitscht hatte, schrieb die Zeitung, dass niemand unter den Demonstrierenden je von Demokratie gesprochen hätte. Ich lese wie ein Süchtiger all diese Nachrichtenschnipsel. Nur um mich dann noch leerer zu fühlen. Cumhuriyet soll den Weg zum versuchten Militärputsch geebnet haben. Wie? Ganz einfach: Aydin Engin, zum Beispiel, habe in einer Kolumne über den Bürgerkrieg, der im kurdisch bewohnten Regionen des Landes tobt, geschrieben, „Frieden auf der Welt und was ist mit dem Land?“ Eine Anspielung auf den Atatürk-Spruch „Frieden auf der Welt, Frieden im Land“. Da einige Wochen später die Putschisten ihre gescheiterte Aktion „Operation Frieden im Land“ nannten, ist es laut Staatsanwaltschaft nachgewiesen, dass Engin von den Putschplänen wusste. Das ist wie Stroboskoplicht in einer Zelle. Man weiß gar nicht mehr, wo oben und unten ist. Wenn ein Staatsanwalt so albern argumentiert, werden es alle merken, denkt man. Doch in der Türkei wird wahrscheinlich das Gegenteil passieren. Denn längst ist ein System entstanden, mit dem die Machthaber ihre verzerrte Version der Wahrheit durchsetzen. Das hat viel mit den gleichgeschalteten Medien zu tun. Vor mehreren Jahren fing die Regierung an, einige Zeitungen und Sender durch staatliche Kontrollen finanziell in die Knie zu zwingen. Dann wurden diese an Geschäftsleute verkauft, die den Regierenden nahestehen. Diese Medien werden in der Türkei „Poolmedien“ genannt. Oft erscheinen die gleichen Geschichten in mehreren Zeitungen. Selbst die Überschriften sind dann identisch, wie aus einer Hand entworfen. Sobald die Poolmedien finanziell stabilisiert waren, unter anderem mit massiver staatlicher Unterstützung, wurden die etablierten Zeitungen und Sender allmählich aus offiziellen Informationsquellen ausgeschlossen. Die Poolmedien wurden dagegen über alles informiert. Sogar Vernehmungsprotokolle wurden ihnen zur Verfügung gestellt. Natürlich ein ungesetzlicher Akt. Heute sind wir wohl in der letzten Phase angekommen. Jetzt werden die Medien, die das gesetzlose Vorgehen der Behörden nicht hinnehmen wollen, entweder enteignet oder schlicht verboten. Auch Cumhuriyet steht nun womöglich eine Enteignung bevor. In einer solchen Gesellschaft ist die Arbeit von Zeitungen wie Cumhuriyet extrem schwierig. Cumhuriyet wagte es, den wiederaufflammenden Krieg gegen die PKK nach 2015 in Frage zu stellen – ein Verbrechen. Nicht nur das. Sie hat Bilddokumente veröffentlicht, die nachweisen, dass Ankara radikal-islamischen Gruppen im syrischen Bürgerkrieg Waffen liefert – ein großer Skandal. Deshalb wurde der damalige Chefredakteur Can Dündar verhaftet und zu fünf Jahren Haft verurteilt. Aber Glück im Unglück: Das Gericht verneinte indirekt die Behauptung der Regierung und ihrer Medien, die Dokumente seien gefälscht. Die Haftstrafe bekam Dündar für das „Publizieren geheimer Informationen des Staates“. Darüber allerdings berichteten die Poolmedien nicht mehr. Selbst wenn breite Teile der türkischen Gesellschaft nicht mitbekommen, was oppositionelle Zeitungen berichten, sind Zeitungen wie Cumhuriyet ein Dorn im Auge des Erdogan-Regimes. Er versucht, sie mit allen Mitteln loszuwerden. Und durch die fast lückenlose Kontrolle der Medien beherrscht das Erdogan-Regime auch die Gedankenwelt der Bürger. Von außen betrachtet, sehe ich keine Hoffnung. Die Bedingungen im Land werden sich nicht bald ändern. Ich mache mir auch keine Hoffnung über die Zukunft von Cumhuriyet. Die Aussichten sind sehr trüb. Erst jetzt merken einige Oppositionspolitiker, dass diese Aktion nichts anderes bedeutet, als ein Klopfen an ihrer eigenen Tür. Wahrscheinlich zu spät.
Cem Sey
Die türkische Regierung hat Abgeordnete der prokurdischen Oppositionspartei HDP verhaften lassen. Zuvor waren Journalisten der regierungskritischen Zeitung Cumhuriyet festgenommen worden. Für Cem Sey, der selbst früher für die Zeitung gearbeitet hat, ist das Ende der türkischen Republik gekommen
[ "Türkei", "Cumhuriyet", "Medien", "Repression", "Verhaftung", "Zensur", "Erdogan" ]
außenpolitik
2016-11-04T10:53:07+0100
2016-11-04T10:53:07+0100
https://www.cicero.de/aussenpolitik/cumhuriyet-das-letzte-symbol-der-republik-
Wirtschaft in Corona-Zeiten - Ist der Staat der bessere Unternehmer?
Der spätere Professor an der Universität Freiburg und Wirtschaftsnobelpreisträger Friedrich August von Hayek verfasste während des Zweiten Weltkriegs in Großbritannien sein bahnbrechendes Werk „Der Weg zur Knechtschaft“. Darin legt er dar, wie staatliche Eingriffe in die Wirtschaft zu immer neuen staatlichen Eingriffen führen. Er hätte es sich wohl nicht träumen lassen, dass in Friedenszeiten eine derart große Reihe an staatlichen Interventionen in die deutsche Wirtschaft quasi auf einen Schlag gestartet werden könnte, wie es derzeit der Fall ist. Zum einen die staatlichen Garantien, Kredite, Direktzahlungen und Unternehmensbeteiligungen im Umfang von bis zu 1,3 Billionen Euro – das sind 40 Prozent der jährlichen Wirtschaftsleistung. Hinzu kommen noch die zusätzlichen Investitionen, Kredite und Bürgschaften über den Europäischen Stabilitätsmechanismus ESM, den Internationalen Währungsfonds IWF und die Europäische Investitionsbank EIB, absehbar auch über den EU-Haushalt. Geplant ist zusätzlich ein Schutzschirm für Lieferketten im Umfang von 30 Milliarden Euro. Angesichts dieser Schuldenberge kann einem leicht schwindelig werden. Der Reflex, hier durch Rettungsschirme, Kredite und ähnliches die Situation einfrieren zu wollen ist verständlich – und riskant. Linke und rechte Kollektivisten sehen ihre große Chance gekommen: Man solle die aktuell große Abhängigkeit der Wirtschaft vom Staat nutzen, um den Einfluss des Staates auf die Wirtschaft immer weiter auszubauen, etwa durch flächendeckende und auf Dauer angelegte Staatsbeteiligungen an den Unternehmen oder das Knüpfen von Investitionen an Bedingungen, etwa hinsichtlich der ökologischen oder sozialen Ausrichtung. Und angesichts massiver Einkommenseinbußen – sei es durch Kurzarbeit der abhängig Beschäftigten oder schlicht durch fehlende Einnahmen bei Selbständigen, Freiberuflern und Dienstleistern – finden Petitionen für ein bedingungsloses Grundeinkommen aktuell hunderttausende Unterstützer. Hinzu kommen die Eingriffe ins Privatrecht und in laufende Verträge. Mieter und Verbraucher sollen geschützt werden, aber die meisten Vermieter sind auf regelmäßige Mietzahlungen angewiesen, um Kredite zu bedienen. Der staatliche Eingriff in Dauerschuldverhältnisse wie den Internetanschluss, das Zeitungs-Abo oder die Stromlieferung führt zu weiteren Verwerfungen. Am deutlichsten wird dies bei den Stromanbietern, denn diese müssen auch dann mengenbezogene Steuern und Abgaben entrichten, wenn sie damit aktuell gar keinen Umsatz machen. Es ist nicht auszuschließen, dass diese Anbieter in der Folge selbst schnell in finanzielle Nöte kommen. Was dann? Kommt dann noch der Rettungsschirm für Stromversorger? Oder werden dann auch noch die Steuern und Abgaben ausgesetzt? Am Anfang dieser staatlichen Interventionskette standen ausnahmsweise keine verteilungspolitischen Motive, sondern die schlichte Erkenntnis, dass im Kampf gegen das neuartige Coronavirus – auch in einem Hochtechnologieland wie Deutschland – nur die Instrumente des 19. Jahrhunderts zur Verfügung stehen: Quarantäne, Kontaktbeschränkungen und am Ende das Herunterfahren weiter Teile des gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Lebens. Der Shutdown dient dazu, die Infektionsketten zu durchbrechen. Doch gleichermaßen müssen wir die staatlichen Interventionsketten durchbrechen – denn dieser Weg führt langfristig gesellschaftlich in die Unfreiheit und ökonomisch in den Abgrund. Jetzt ist es Zeit, eine deutliche Mahnung auszusprechen, damit die Grundprinzipien der Sozialen Marktwirtschaft wieder intakt gesetzt werden: Der Markt hat eine Form der Gerechtigkeit, denn die Akteure werden für genau jenes Verhalten belohnt, welches anderen Menschen so sehr nutzt, dass sie bereit sind, dafür etwas zu bezahlen – freiwillig. Der Staat ist nicht der bessere Unternehmer, denn Politiker wissen es nicht besser als die Menschen selbst, was ihnen wichtig ist. Ein gescheitertes sozialistisches Experiment nach dem anderen gibt beredt Zeugnis davon ab, dass Armut und Not erfolgreicher bekämpft und die Bedürfnisse der Menschen besser befriedigt werden, wenn alle möglichst eigenverantwortlich handeln dürfen. Und: Leistung muss sich lohnen. Die staatliche Interventionskette weist jedoch in die andere Richtung. Für ein bedingungsloses Grundeinkommen gibt es beispielsweise nur zwei Varianten: Entweder es ersetzt alle anderen Sozialleistungen einschließlich Rente, Krankenversicherung und Arbeitslosenversicherung – das würde dazu führen, dass die Schwächsten der Gesellschaft deutlich schlechter gestellt würden und die Lebensleistung von Millionen Rentnern nicht mehr gewürdigt wird. Oder es wird so teuer, dass konfiskatorisch hohe Steuern jeden Anreiz zur Schaffung von Wohlstand im Keim ersticken würden. In beiden Fällen ist es leistungsfeindlich. Die Leistungsbereitschaft ist jedoch der Grundpfeiler, an dem das soziale Sicherungsnetz hängt. Wenn Grundpfeiler wanken, wankt das ganze Netz. Um einen Dominoeffekt zu verhindern, sollte man ganz am Anfang der Dominoreihe anfangen, die Interventionskette muss an ihrem Ursprung durchbrochen werden. Warum ist die Wirtschaft denn aktuell hilfsbedürftig? Weil der Staat aus Gründen des absolut notwendigen Gesundheitsschutzes der Menschen tief in Grund- und Eigentumsrechte, die unternehmerische Freiheit und die Berufsfreiheit eingreift. Im Infektionsschutzgesetz ist für individuell verhängte Tätigkeitsverbote ein Anspruch auf Entschädigung vorgesehen. Es stellt sich die berechtigte Frage, ob nicht auch allgemein verfügte Beschränkungen, die hinsichtlich der wirtschaftlichen Konsequenzen durchaus den Charakter von Enteignungen annehmen können, ebenfalls entschädigt oder zumindest teilweise ausgeglichen werden müssen – Entschädigung statt staatlicher Almosen. Dadurch blieben die Eigentumsstrukturen weitestgehend unangetastet und die wirtschaftlichen Verhältnisse im Wesentlichen intakt. Man mag einwenden, dass dies nicht finanzierbar sei. Doch wenn etwas für einen Teil der Bevölkerung finanzierbar sein soll, muss es das rein logisch auch für die Gesamtbevölkerung sein. Wäre der Wohlstandsverlust für die Gesamtbevölkerung unerträglich, so wäre er das zwingend auch für die zunächst Betroffenen – und man müsste über die Abwägungsfrage der Gesundheit gegen den Wohlstand diskutieren. Im Vergleich zu Krediten oder Staatsbeteiligungen hätte das Entschädigungsmodell erhebliche Vorteile. Denn wenn die Wirtschaft wieder anläuft, sollte sie nicht durch überschuldete Unternehmen oder interventionistische Politiker dabei ausgebremst werden. Schließlich gilt es den durch das Herunterfahren der Wirtschaft verlorenen Wohlstand schnell wieder zu erwirtschaften. Das historisch erfolgreichste Programm zur Schaffung von Wohlstand für alle lautet: Mehr Eigenverantwortung, mehr Privatinitiative, mehr Fleiß, mehr Kreativität und Erfindergeist, weniger staatliche Regulierung und weniger staatlicher Dirigismus. In dieser Richtung liegt der Weg aus der Krise. Konkret könnten über Steuergutschriften durch Verlustrückträge im Sinne einer negativen Gewinnsteuer dringend benötigte Liquidität gesichert und durch erweiterte Abschreibungsregeln und niedrigere Steuersätze Investitionen attraktiver gemacht werden. Darüber hinaus sind die Dauerbrenner Bürokratieabbau, Deregulierung und schnellere Genehmigungsverfahren dringlicher denn je.
Michael Theurer
Der Staat stützt die Wirtschaft in der Krise. Dabei ist dieser Eingriff mit Vorsicht zu genießen. Zwar muss man zunächst das Virus unter Kontrolle bringen, danach aber auch die staatlichen Interventionen, schreibt Michael Theurer in seinem Gastbeitrag.
[ "Wirtschaft", "Kredite", "Entschädigung", "Coronakrise" ]
wirtschaft
2020-04-17T13:53:52+0200
2020-04-17T13:53:52+0200
https://www.cicero.de/wirtschaft/wirtschaft-ausblick-staat-unternehmer-corona-krise-hilfe-rezession
Untersuchungsausschuss zur Flüchtlingskrise - „Bitte kein 'Schwamm drüber'“
Am Wochenende kam die Welt am Sonntag unter der Überschrift „Verschlusssache Grenze“ mit einer guten Geschichte auf den Nachrichtenmarkt. Die Reporter hatten interne Papiere aus dem Innenministerium vom Oktober 2015 aufgetrieben, die belegen, dass Apparat und Spitzenbeamte damals alles daran gesetzt und sämtliche rechtliche Grundlagen geliefert hatten, um die deutschen Grenzen zur Aufrechterhaltung der inneren Sicherheit und der öffentlichen Ordnung angesichts des weiter anschwellenden Flüchtlingsstromes zu schließen. Während Bundeskanzlerin Angela Merkel in einer Talkshow sagte, es liege nicht in der Macht der Bundesregierung, zu prüfen, wie viele Menschen noch kämen, listete zeitgleich ein internes Papier auf, dass genau das sowohl operativ als auch rechtlich möglich gewesen wäre. Es lohnt sich, dieses Papier ausführlich und im Original zu studieren. Auf dieser neuen Nachrichtengrundlage forderte FDP-Chef Christian Lindner noch in derselben Ausgabe der Welt am Sonntag erneut einen Untersuchungsausschuss zur Flüchtlingskrise 2015/2016. Dieser Forderung schließt sich auch Christoph von Marschall, Kommentator des Berliner Tagesspiegels, an: In seltener Einmütigkeit aber lehnten, so von Marschall, Union, SPD und Grüne den Untersuchungsausschuss ab. Es bringe doch nichts, zurückzuschauen, sei die Hauptargumentationslinie. Auch die Kanzlerin hatte sich zuletzt dafür ausgesprochen, die parteiinterne Diskussion über die Flüchtlingskrise 2015 zu beenden: „Wenn wir uns für den Rest des Jahrzehnts damit beschäftigen wollen, was 2015 vielleicht so oder so gelaufen ist und damit die ganze Zeit verplempern, dann werden wir den Rang als Volkspartei verlieren“, sagte sie auf dem Landesparteitag der CDU Thüringen. Nur, fährt von Marschall fort: „Wie soll man aus Fehlern lernen, wenn die Bereitschaft fehlt, zu überprüfen, ob damals etwas falsch gelaufen ist, und, wenn ja, was genau?“ Der Außenpolitik-Experte hat damit nicht zuletzt den europapolitischen Schaden im Blick, den der nicht aufgearbeitete Alleingang der Kanzlerin 2015 nach sich gezogen hat; von einem entsprechenden Aufklärungsgremium erhofft er sich eine positive Wirkung über die Grenzen Deutschlands hinaus: „Der Bundestag sollte einen Untersuchungsausschuss zur Migrationskrise 2015 einsetzen. Ganz voran aus einem europapolitischen (...) Grund. In Europa wollen und sollen die Deutschen eine Führungsaufgabe übernehmen. Sie sind das mit Abstand bevölkerungsreichste EU-Land, sie haben die mit Abstand stärkste Wirtschaft. In der Migrationskrise 2015 haben sie sich mit den meisten Partnern überworfen. Deutschland wollte in eine Richtung führen, in die andere nicht folgen wollten. Ergo müssen die Deutschen darüber nachdenken, wie sie Führung auf eine Weise ausüben, die für ihre Partner erträglich ist und im Idealfall breite Unterstützung findet. Das spricht für eine Untersuchung, die öffentliche Resonanz erzeugt.“
Christoph Schwennicke
Warum es nach den neuen Enthüllungen der „Welt am Sonntag“ erst recht richtig ist, einen Untersuchungsausschuss zur Flüchtlingskrise 2015/2016 einzusetzen
[ "Flüchtlingskrise", "Untersuchungsausschuss", "Welt am Sonntag", "Bundesinnenministerium", "Angela Merkel" ]
innenpolitik
2018-11-12T10:43:50+0100
2018-11-12T10:43:50+0100
https://www.cicero.de//innenpolitik/untersuchungsausschuss-fluechtlingskrise-grenzschliessung-merkel-innenministerium
Deutsche Nachrichtendienste - Bedingt abwehrbereit
Das Warten zehrt an den Nerven. Er versucht, das Eindösen zu verhindern. Der Kollege auf dem Fahrersitz ist bereits eingenickt, hat den Kopf auf das Lenkrad gelegt. In drei Stunden wird die Ablösung kommen, dann beginnt die nächste Schicht. Plötzlich öffnet sich die Tür am Haus gegenüber. Ein Mann kommt heraus, einen Hund an der Leine. Es ist Kolja, das Zielobjekt. Der Mann auf dem Fahrersitz reißt die Kamera hoch, drückt ab. Auch der Kollege schreckt hoch, greift zum Zündschlüssel. Sie sitzen in einem unauffälligen Mittelklassewagen, aber unter der Motorhaube steckt ein hochgezüchteter, PS-starker Motor. Nicht noch einmal wollen sie sich von Koljas großer Botschaftslimousine abhängen lassen, wie damals auf der Autobahn. Doch bald kommt Kolja zurück, schaut kurz in ihre Richtung, verschwindet wieder hinter der Tür. Der Russe geht in sein warmes Bett, die Männer im Wagen bleiben zurück in der Kälte. Spätestens an dieser Stelle würde in einer Fernsehdokumentation eingeblendet: Szene nachgestellt. Doch geduldiges, oft monatelanges Warten und Beobachten, sagt ein Ex-Abwehrmann mit langjähriger Erfahrung, das gehöre zum Alltag eines achtköpfigen Observationsteams des Bundesamtes für Verfassungsschutz (BfV) dazu, etwa bei der Beschattung eines mutmaßlichen Agenten des russischen Auslandsnachrichtendienstes Sluschba Wneschnei Raswedki (SWR), einer von 13.000 Agenten, die weltweit für Spionage in Politik, Wirtschaft und Wissenschaft zuständig sind – auch in Deutschland. Dazu kommen nochmal 12.000 Offiziere des militärischen Geheimdienstes GRU, ebenfalls rund um den Globus aktiv bei der Beschaffung von allem, was mit Streitkräften und Bewaffnung zu tun hat. Sie sind nicht wählerisch bei der Wahl ihrer Mittel. Moskaus Geheimdienstapparat arbeitet, vor allem im Cyber-Bereich, da ist man sich in Berliner Sicherheitskreisen einig, „eng mit der Organisierten Kriminalität zusammen“. Unter den Linden in Berlin unterhalten die Spione in der russischen Botschaft ihre größte Residenz in Europa. Und auch im Bonner Generalkonsulat sind sie aktiv. Dort musste kürzlich ein SWR-Agent seine Koffer packen, der als Diplomat getarnt war. Er wurde ohne großes Aufsehen abgeschoben. Trotz solcher Pannen bescheinigt ein hoher deutscher Abwehrmann den Moskauer Spionen: „Die Russen haben eine hohe Professionalität“. Das gilt auch für Sascha und Olga. Vor Gericht hießen sie Andreas und Heidrun Anschlag, bis heute kennen die deutschen Behörden nicht ihren richtigen Namen. Nur dass sie russische Spitzenagenten waren, das steht fest – und das fast ein Vierteljahrhundert. So lange, dass diesem Agentenpaar, das schon 1988 über Lateinamerika eingeschleust wurde, sowohl ihr Geheimdienst, das KGB, wie auch ihr Staat, die Sowjetunion, abhandenkamen. Und dennoch machten sie weiter, zu einer Zeit, als, so ein deutscher Geheimdienstler, „alles noch rosig aussah“. Kaum ein Fall hat in der jüngsten Vergangenheit so transparent gemacht, wie Spionage funktioniert. Angeblich in Peru und Argentinien geboren, kamen beide von dort nach ihrer Heirat in Österreich nach Deutschland, wo der vermeintliche Andreas Karriere als Diplomingenieur machte. „Heidrun“ kümmerte sich im hessischen Marburg um die Tochter. Eine glückliche Familie, bürgerlich, unauffällig, beruflich erfolgreich – auch im Spionagegeschäft. Und so konspirativ, dass nicht einmal die eigene Tochter etwas vom Doppelleben der Eltern mitbekam. Das Spionagepaar erhielt für rund 70.000 Euro vom niederländischen Diplomaten Raymond Poeteray hochkarätige Nato-Geheimnisse. Ein Klassiker: „In 80 Prozent der Fälle ist Geld das Motiv“, sagt ein Abwehrmann. Gute Arbeit, gutes Geld auch für die beiden SWR-Führungsoffiziere Sascha und Olga: 4300 Euro Gehalt für ihn, 4000 Euro im Monat für sie. Tote Briefkästen in Erdlöchern, die von Kurieren der russischen Botschaft geleert wurden einerseits, hochmoderne Funktechnik andererseits waren ihre Hilfsmittel. Und die Technik wurde ihnen zum Verhängnis. Per Kreuzpeilung kam das Bundesamt für Verfassungsschutz dem Paar auf die Spur und konnte schließlich das Haus in Marburg einkreisen, wo Olga gerade auf der Kurzwelle Weisungen bekam. Ein mühsamer Erfolg nach einer Beobachtungszeit von einem Jahr, am Ende dramatisch, denn die Russen hatten davon Wind bekommen. Ein Fall, der zeigt, sagt ein Ex-Geheimdienst-Mann, dass man „sich keine Illusionen machen soll“, was die Spionage in Deutschland angeht. Das größte und mächtigste Land in Europa ist ein Tummelplatz für Agenten, nicht nur aus Moskau. Das Ende des Kalten Krieges hat vielleicht die Schwerpunkte der Aufklärung verschoben, nicht ihre Intensität. Besonders aktiv neben Russland sind China und der Iran. Aber spätestens seit Edward Snowden und der Abhöraffäre um das Merkel-Handy wurde klar, dass auch die verbündeten Freunde gegen die Bundesrepublik spionieren. Und das im Übrigen nicht erst seit dem Ausspähen des Partnerdienstes BND durch die CIA. Schon 1996 versuchte ein CIA-Agent einen hohen Mitarbeiter des Bundeswirtschaftsministeriums anzuwerben. Das gab böses Blut, der Agent musste zurück nach Langley vor den Toren Washingtons. Der Ärger ging vorüber, doch mit Beginn der Snowden-Enthüllungen sitzt er viel tiefer. Als dann die CIA sogar auf das Angebot eines geldgierigen BND-Manns einging und begann, den Bundesnachrichtendienst auszuspionieren, lief das Fass vollends über. Ein führender CIA-Mann musste Berlin verlassen. Bundesinnenminister Thomas de Mazière erfand für seine Abwehrleute eine neue Aufgabe: den 360-Grad-Rundumblick. Auch die befreundeten Staaten, die USA voran, sollen nun vom Verfassungsschutz beobachtet werden. „Das ist ein Witz“, sagt Frank Hofmann (SPD) vom geheimsten Aufsichtsgremium, der G-10-Kommission des Bundestages, dem nur vier Mitglieder angehören. Sie genehmigen und prüfen das politisch sensibelste Feld der Geheimdienstarbeit, die Fernmeldeüberwachung - Telefone, Post und Internet. Hofmann artikuliert deutlich, was in Berlin alle über den Vorstoß des Innenministers denken, es nur öffentlich nicht so sagen dürfen, weil sie selber Verantwortung dafür tragen. Anders August Hanning, Ex-Präsident des Bundesnachrichtendienstes und danach im Bundesinnenministerium als Staatssekretär für die Sicherheit im Lande zuständig. Er konstatiert nüchtern: „Das dürfte schon mit dem vorhandenen Personal und den begrenzten Ressourcen – ganz abgesehen von den fehlenden technischen Fähigkeiten – kaum möglich sein.“ Außerdem müsse man sich fragen, „welche Kollateralschäden man in Kauf nehmen will“. Zum Beispiel bei der Bündnisfähigkeit in der Nato. „Ein risikoreiches Unterfangen. Wir schneiden uns ins eigene Fleisch“. Denn, das räumt auch der Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz, Hans-Georg Maaßen, ein: „Wir brauchen einander“. Nach wie vor läuft die Zusammenarbeit zwischen den deutschen Nachrichtendiensten und den westlichen Partnern auf Hochtouren. In Sachen Ukraine, Russland, Irak, Syrien, Afghanistan hält die Kooperation mit den Amerikanern an. Dennoch liegt ein Schatten über diesen Treffen. Die Atmosphäre sei „gespannt“, sagt einer aus der Spitze der Geheimdienst-Community. Und die Amerikaner tun nichts, um das abzubauen. Das Auswärtige Amt hatte am 6. August 2014 in einer Verbalnote an alle diplomatischen Vertretungen Klarheit verlangt: die Benennung des in Deutschland aktiven nachrichtendienstlichen Personals. Dabei ging man davon aus, dass allein die Amerikaner 200 Geheimdienstagenten mit Diplomatenpass einsetzen. Geschehen ist bisher auf US-Seite: nichts. „Solange das nicht geklärt ist, halten die Spannungen an“, sagt der Geheimdienst-Spitzenmann. Und es ist offensichtlich: Die deutschen Abwehrleute werden versuchen, irgendwie mal hinzuschauen, aber in Wahrheit ist der 360-Grad-Rundumblick so nicht machbar. Schon deswegen, weil es sich praktisch nicht umsetzen lässt. Es fehlt einfach das Personal. Spionageabwehr, im Kalten Krieg Königsklasse, ist zum Stiefkind der Geheimdienstarbeit verkommen. Die Abwehr wurde seit 9/11 zum Steinbruch, immer mehr Personal musste für die Beobachtung des radikalen Islamismus abgegeben werden. Ein Insider sagt über die vernachlässigte Abteilung, die die ausländischen Agenten im Zaum halten soll: „Der Bereich ist eher belächelt worden“. Und was schon beim Bundesamt für Verfassungsschutz fast zu Mitleid führt, ist bei den Landesämtern noch dramatischer. Einige Länder können bei der Spionageabwehr praktisch kaum noch etwas leisten. Immerhin hat der Bundestag im November dem Drängen der Verfassungsschützer nachgegeben und 100 neue Stellen genehmigt, die zum Teil die Spionageabwehr stärken sollen, aber auch den Cyber-Bereich. Ein Schritt in die richtige Richtung – so die vorsichtige Kommentierung in Sicherheitskreisen, wo man eigentlich 150 Stellen wollte. Auch Clemens Binninger, der Vorsitzende des Parlamentarischen Kontrollgremiums für die Nachrichtendienste im Bundestag, macht sich keine Illusionen, dass mit diesem Schritt eine Rundumbeobachtung auch westlicher Partnerdienste möglich wird. Das BfV habe jetzt, so Binninger gegenüber Cicero, „durchaus mehr Möglichkeiten“ für einen 360-Grad-Blick, aber er sieht auch „weiterhin die Notwendigkeit, Prioritäten zu setzen und anlassbezogen vorzugehen“. Will heißen: Ja, gelegentlich hinschauen, wenn es zu offensichtlich wird, dass die „Freunde“ aktiv sind, aber keine Dauerbeobachtung. Auch in der Bundesregierung steht man nach der Verstärkung weiterhin gleichzeitig auf dem Gaspedal und auf der Bremse. Der Wille zu mehr Beobachtung sei vorhanden, sagt man da, aber im selben Atemzug wird die „transatlantische Partnerschaft“ betont. Die Zusammenarbeit mit den Amerikanern laufe, bei der Terrorabwehr gebe es keine Verschlechterung: „Das ist schon ein Vorteil“. Der parlamentarische Oberaufseher der Nachrichtendienste Binninger macht sich vor allem Sorgen wegen der ständigen Attacken ausländischer Geheimdienste auf die technische Infrastruktur der Bundesregierung und des Bundestags – und auch die kommen aus allen politischen Himmelsrichtungen. Zuständig für die Abwehr ist das Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik (BSI), das pro Stunde 70 E-Mails mit schädlicher „Malware“ im deutschen Regierungsnetz registriert, dazu pro Tag fünf gezielte IT-Spionageangriffe auf die Bundesverwaltung. Etwa 30.000 Zugriffsversuche auf Webseiten aus dem Regierungsnetz, die böswillig manipuliert wurden, werden monatlich durch das BSI verhindert. Hier tobt längst der Cyberkrieg. Aber auch wer Spionen auf die Spur kommen will, der braucht erst einmal Technik. Das zeigt der Fall des BND-Spions, der Geheimnisse des Bundesnachrichtendienstes nicht nur an die CIA, sondern auch an die Russen verkaufen wollte. Der Verfassungsschutz wurde auf ihn durch die Überwachung des E-Mail-Verkehrs der russischen Botschaft aufmerksam. Trotz dieses Erfolgs ist klar: Die ausländischen Geheimdienste rüsten technisch auf, der Verfassungsschutz kann nicht mithalten und hat dringend um Nachbesserung gebeten. Auch hier hat der Bundestag kürzlich nachgelegt und zehn Millionen Euro zusätzlich für die technische Aufrüstung bewilligt. Die Einrichtung eines gemeinsamen technischen Überwachungszentrums für Nachrichtendienste und Polizei, quasi eine deutsche NSA, wie es Ex-Staatssekretär Hanning intensiv betrieben hatte, ist allerdings gescheitert. Da traut sich kein Politiker ran – der NSA-Skandal lässt grüßen. „Die dringend notwendigen Entscheidungen erfordern in Anbetracht der zu erwartenden Kritik von der Politik viel Mut und Konfliktbereitschaft. Davor sind die Verantwortlichen bisher zurückgeschreckt“, stellt Hanning fest. Spionage, angeblich das zweitälteste Gewerbe der Welt, wird angesichts der Krisenherde weltweit eher an Bedeutung gewinnen – und damit auch die Notwendigkeit ihrer Abwehr. Und sie bleibt nicht ohne Risiko, wie Moskaus Kundschafter Olga und Sascha alias Heidrun und Andreas Anschlag schmerzlich erfahren mussten. Immerhin: Nach der Verbüßung der Hälfte ihrer Strafe hat Generalbundesanwalt Harald Range „Heidrun“ vor wenigen Wochen gegen eine hohe Geldforderung des Gerichts ziehen lassen – heim zu Mütterchen Russland. Von dort waren 500.000 Euro überwiesen worden, in etwa der Agentenlohn, den das Paar bezogen hatte. Und nun hofft ihr Anwalt Horst-Dieter Pötschke, dass auch Ehemann „Andreas“ im nächsten Jahr freikommt – seine Haftstrafe war ein Jahr höher. Range-Sprecher Marcus Köhler gibt sich noch bedeckt: „Über die Frage einer bedingten Entlassung … wird zu gegebener Zeit entschieden werden“.
Als die US-amerikanischen Abhöraktivitäten ruchbar wurden, forderte Bundesinnenminister Thomas de Mazière den 360-Grad-Rundumblick. Das ist kaum möglich. Denn die deutschen Agenten können mit den aufgerüsteten Geheimdiensten aus dem Ausland kaum mithalten
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innenpolitik
2014-12-16T12:19:24+0100
2014-12-16T12:19:24+0100
https://www.cicero.de//innenpolitik/geheimdienste-deutschland-ist-ein-tummelplatz-fuer-agenten/58632
Medienmacht - Der Journalist als Hirte, der Rezipient als Schaf
Bitte nehmen Sie es jetzt nicht krumm, lieber Leser: Aber manchmal müsste man meinen, der Medienrezipient sei ein Schaf. Er trottet gemächlich hinter seinem Hirten – dem Meinungsmacher in Rundfunk und Presse – hinterher. Was ihm hingehalten wird, am besten in vorgerupften Portionen, futtert und verdaut er. So war das etwa mit der Euro-Schuldenkrise im vergangenen Jahr: Sie war nicht nur das Top-Thema in den Medien, sondern auch der mit Abstand größte Angstmacher in der Bevölkerung. Fast drei Viertel aller Deutschen sorgten sich, dass sie für die Folgen der Krise haften müssen, wie die R+V-Versicherung in einer Studie herausfand. Dass das, worüber die Menschen nachdenken, maßgeblich von den Medien beeinflusst wird, glauben zumindest die Anhänger der Agenda-Setting-Theorie. Die individuelle Themen-Agenda von Lesern, Zuschauern oder Zuhörern wird demnach maßgeblich von den Themen der Medien bestimmt. Nach dem Motto: Der Bürger denkt, „Bild“ lenkt. [gallery:Die bekanntesten Polit-Comebacks] Dieser Effekt scheint in der Realität insbesondere dort zu funktionieren, wo es um die Bewertung des politischen Spitzenpersonals geht. Das musste Guido Westerwelle erleben, dem die Journalisten kurz nach der Wahl 2009 die Liebe entzogen. Der FDP-Außenminister stürzte in den Meinungsumfragen auf den letzten Platz ab, musste schließlich den Parteivorsitz räumen. Oder Renate Künast: Als Verbraucherministerin und Fraktionsvorsitzende wurde die Grüne erst medial umjubelt, im Berlin-Wahlkampf 2011 galt sie dann plötzlich als „verbissen“. Künast erlebte erst ihre mediale Wahlniederlage, dann ihre reale. Folgt man der Einschätzung von Matthias Jung, Leiter der Forschungsgruppe Wahlen, war die Berliner Abgeordnetenhauswahl auch aus anderen Gründen ein Beispiel für die Macht der Medien. Denn plötzlich servierten die Leithirten ein neues, bisher unbekanntes Parteiengewächs: die Piraten, die kurz vor der Wahl „hochgeschrieben“ wurden, wie der Meinungsforscher beobachtete. „Für die Unzufriedenheit und Langeweile, die damals in der Hauptstadtbevölkerung herrschte, suchten die Journalisten ein Ventil. Und wenn das einer aufgreift, kommt der nächste und steigt auf.“ Positive Berichterstattung und gute Umfragewerte hätten sich in kurzer Zeit „von null auf hundert“ hochgeschaukelt, erklärt Jung. Bis zum Frühjahr stürmten die Piraten vier Landtage. „Dabei war diese Partei in dieser Größenordnung ein Medienphänomen.“ Der Journalist als Hirte, der Rezipient als Schaf: Nach dieser Logik hätte die FDP in Niedersachsen abgewatscht werden müssen. Wurde sie aber nicht. Sie erreichte 9,9 Prozent, und der allseits geschmähte Philipp Rösler sitzt wieder fest im Sattel. Die Landtagswahl zeigt, dass der Agenda-Ansatz Lücken hat. Offenbar gibt es also auch ein zu Viel an Berichterstattung, einen Moment des „Overkill“, ab dem die Schafe nicht mehr so artig hinterhertrotten. Nächste Seite: Irgendwann entstehen auch Gegenöffentlichkeiten Die mediale Kritik an Rösler beschränkte sich erstens nicht nur auf dessen Führungsqualitäten; sie ging teilweise ins Persönliche. Erinnert sei an den rassistischen Kommentar des „Absolute-Mehrheit“-Moderators Stefan Raabs, der hoffte, Rösler würden beim Zugucken „nicht die Stäbchen aus der Hand“ fallen. Gut möglich, dass es einigen Niedersachsen nicht gefiel, wie ihr Landsmann öffentlich demontiert wurde. Als zweiten Effekt des „Hochschreibens“ sieht Wahlforscher Jung, der weniger an einen „Mitleideffekt“ für Rösler glaubt, das Taktieren: „Die massive negative Wahrnehmung der FDP war die beste Voraussetzung für die starke Unterstützung aus dem Unionslager.“ CDU-Anhänger, die um die schwarz-gelbe Mehrheit fürchteten, machten ihr Kreuz daher bei den Liberalen. Diesen Effekt beobachtete Jung bereits bei den ersten bundesdeutschen Wahlen 1990. „Die Euphorie über den Wiedervereinigungskanzler Kohl war so groß, dass er in den Medien schon als der alles überragende Sieger galt.“ CDU-Wähler konnten also gewiss sein, dass ihr Wunschkandidat eine sichere Mehrheit erlangen würde. Kohl sollte aber nicht übermütig werden. Viele haben dann der FDP ihre Stimme gegeben. Wenn die Massenmedien in ihren Botschaften so uniform sind, dass kein Platz mehr für abweichende Positionen ist, können drittens aber auch Gegenöffentlichkeiten entstehen. Ein Beispiel dafür ist die Nominierung Joachim Gaucks zum Präsidenten im vergangenen Jahr. Damals überschlugen sich die Journalisten förmlich mit Jubelmeldungen. ARD-Mann Ulrich Deppendorf stellte seine Gauck-Sendung unter die Frage: „Messias oder einfach ‚nur‘ Bundespräsident?“ Noch in der Nacht, nachdem die Personalie bekannt wurde, versammelten sich die ersten Kritiker im Netz. Das Internet diente dabei als Seismograph einer Protestwelle, die nicht einmal die Mainstreammedien mehr ignorieren konnten. Man könnte auch sagen, hier fand ein umgekehrter Agenda-Setting-Prozess statt: die Medien griffen (verspätet) das auf, was in der Bevölkerung längst gärte. Zum Glück ist es doch so, dass der ein oder andere Rezipient selbst entscheidet, ob er sich schären lässt. Das eigene Denken können die Medien den Menschen eben nicht abnehmen. ____________________________________________________________
Petra Sorge
Sie sind ein Schaf. Ja, Sie, lieber Leser. Glauben zumindest einige Medienmacher und -theoretiker. Dumm nur, dass das manchmal nicht zur Realität passt – wie man jetzt in Niedersachsen sehen konnte
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innenpolitik
2013-01-24T11:49:18+0100
2013-01-24T11:49:18+0100
https://www.cicero.de//innenpolitik/der-journalist-als-hirte-der-rezipient-als-schaf/53273
Globale Unsicherheit - Der neue Weltkrieg hat schon begonnen
Der Taiwan-Besuch von Nancy Pelosi, der Sprecherin des US-Repräsentantenhauses, läutet eine neue Ära der Konfrontation zwischen den USA und China ein und markiert eine neue Etappe im andauernden Konflikt um Eurasien – dieser einzigartigen Landmasse, auf der sich Weltgeschichte abgespielt hat und Weltkriege geführt wurden. Was die aktuelle Episode von früheren Weltkriegen unterscheidet, ist die Tatsache, dass sie skalierbar ist: Die Existenz thermonuklearer Waffen erhöht die von einer möglichen Eskalation ausgehende Gefahr beträchtlich und verlangt jeder Seite besondere Vorsicht ab. In einem skalierbaren Konflikt versucht jede Seite, ihre Interessen in einer stark globalisierten Welt durchzusetzen – einer Welt, die vor unseren Augen gewaltsam aufgespalten wird. Der Besuch von Pelosi beschleunigt den Prozess der scharfen und gewaltsamen Deglobalisierung – das Abreißen aller Finanz-, Handels-, Informations-, Kommunikationskanäle und menschlichen Verbindungen aus geopolitischen Gründen, die in den zurückliegenden 30 Jahren aus der Pax Americana resultierten. Es stellt sich heraus, dass sich die Großmächte nicht über die Prinzipien einig sind, wie die Welt funktioniert und wie sie miteinander kooperieren. China, die USA und Russland sind der Meinung, dass die bestehende Weltordnung ihren Interessen nicht mehr dient. Nur Europa will immer noch, dass alles beim Alten bleibt, und glaubt naiv, dass die „alten“ Wege irgendwann wieder beschritten werden. Völlig unvorbereitet auf die Rückkehr der Geopolitik ist Europa auf dem besten Weg, zum Spielball der drei oben genannten Mächte zu werden – ein Ort des Kampfes und der kinetischen Kriege (und eben kein Hauptakteur mit Ambitionen und strategischer Initiative). Es liegen gefährliche Zeiten vor uns. In vielen Bereichen wird es ständig zu Konflikten kommen: Handel, Technologie, Finanzen, Rohstoffe, Devisenmärkte, Daten und Internet sowie Infrastruktur. Es wird Entführungen und Attentate geben, Informationskriege, Kämpfe um Meere und Ländereien sowie Kämpfe um die Kontrolle von Kommunikationsknotenpunkten, sogar im Weltraum. Schließlich wird es heiße Stellvertreterkriege, Putsche, Revolutionen und Regierungszusammenbrüche geben, und wahrscheinlich auch ein direktes Aufeinandertreffen zwischen China und den USA im westlichen Pazifik oder einen Krieg in Europa, an dem einige Nato-Länder und Russland beteiligt sind. Das Hauptaugenmerk in diesem globalen Konflikt wird jedoch auf der Manipulation strategischer Ströme liegen, um die Stabilität und den Gesellschaftsvertrag des Gegners zu beeinflussen. Beispiele hierfür sind das Verbot des Verkaufs taiwanischer Mikroprozessoren (die in einer modernen Wirtschaft benötigt werden) an China und als Reaktion darauf das Verbot der Ausfuhr von Sand (der für die Herstellung der Prozessoren benötigt wird) nach Taiwan. Oder das Verbot von Kapitalinvestitionen in China und als Reaktion darauf die Enteignung großer US-Unternehmen mit chinesischer Produktion. Hinzu kommen Sanktionen, Blockaden, Handels- und Rohstoffembargos, Manipulationen der Energieübertragungssysteme, Angriffe auf die Infrastruktur und militärische Demonstrationen, die die Wirtschaft des Gegners stören sollen. Ein gutes Beispiel dafür ist die faktische See- und Luftblockade Taiwans im Zuge der chinesischen See-Luft-Manöver oder das einseitige Verbot russischer Flüge über Litauen oder Polen, das eines Tages gebrochen werden könnte, wenn Moskau es nicht mehr akzeptiert, dass Europa die Routen seiner Flugzeuge begrenzt. In diesem globalen Kampf wird ein kinetischer Krieg zwischen den USA und China im westlichen Pazifik angesichts der unüberbrückbaren strukturellen Interessenunterschiede zwischen den beiden Mächten sehr wahrscheinlich, möglicherweise eher früher als später. Denn es ist bereits ein kritisches Ungleichgewicht im Weltsystem entstanden, das in absehbarer Zeit nur schwer, vielleicht gar nicht ohne Gewaltanwendung zu korrigieren sein wird, und eine solche Eskalation führt naturgemäß zum Krieg. Die Situation um Taiwan im Zusammenhang mit dem Besuch von Pelosi und davor das Ultimatum Russlands an die Ukraine sind deutliche Beweise dafür. Glücklicherweise senkt die Existenz thermonuklearer Waffen die Bereitschaft jeder Seite, unkontrolliert und unüberlegt in einen Konflikt einzutreten. Sie zwingt alle Beteiligten dazu, sich genau zu überlegen, was sie durch die Androhung oder Anwendung von Gewalt erreichen wollen, ohne dummerweise einen Atomkrieg zu beginnen. Das macht den kommenden Weltkrieg skalierbar, und das unterscheidet ihn von früheren Weltkriegen. Zu Beginn der heißen Phase früherer Systemkriege, wie der napoleonischen Kriege oder des Ersten und Zweiten Weltkriegs, schickte die angreifende Seite sofort Korps, Flotten, Infanteriedivisionen, Artillerie, Panzerdivisionen und Luftstreitkräfte: alles, was notwendig war, um den Feind zu besiegen und die Hauptstadt zu erobern, indem man das politische System lahmlegte. Denn damals gab es keine Waffen, die ganze Städte, Staaten und Nationen zerstören konnten. Strategische Atomwaffen hingegen beseitigen das politische Ziel des Krieges, nämlich die Unterwerfung des Verlierers unter den Willen des Siegers. (Taktische Atomwaffen sind vielleicht eine andere Sache, mit der wir lernen werden zu leben.) Vor allem aber könnten strategische thermonukleare Waffen einen automatischen Vergeltungsschlag auslösen. Nichts von alledem gab es in früheren Weltkriegen. Es gab keine Notwendigkeit, über kalibrierte Aktionen und die möglichen Reaktionen des Gegners auf der mehrstufigen Eskalationsleiter nachzudenken, weil beide Seiten sofort eine dominante Position in der Gewaltanwendung einnehmen wollten. Dies war der Weg des deutschen Blitzkriegs, dessen anfänglich phänomenale operative Effizienz mit der Zeit abnahm, sodass Hitler am Ende des Krieges nach einer Vielzahl von Wunderwaffen suchte. Das bedeutet nicht, dass im kommenden Krieg keine Atomwaffen zum Einsatz kommen werden. Es gibt viele Hinweise darauf, insbesondere in der russischen strategischen und militärischen Literatur, dass es möglich ist, den Einsatz von Atomwaffen zu „entzaubern“. Doch selbst dann werden sich die Kriegsparteien immer an das Risiko der gegenseitigen Vernichtung erinnern, was den Entscheidungsprozess erschwert und das Management der Eskalationsleiter in den Vordergrund stellt. Dies zeigt sich bereits im Umgang Washingtons mit der Ukraine und den Vorbehalten der Amerikaner, Kiew Ausrüstung zu liefern, mit der Ziele in Russland angegriffen werden könnten – was eine weitere Stufe der Eskalation darstellen würde. Die Existenz thermonuklearer Waffen bedeutet mit anderen Worten, dass der Krieg skalierbar sein muss. Keine der beiden Seiten kann sofort nach der höchsten Sprosse auf der Eskalationsleiter greifen (oder drohen, sie zu erreichen). Gleichzeitig ist die Zahl der gegenseitigen Interaktionen zwischen Staaten heute größer als in den Weltkriegen der Vergangenheit, was bedeutet, dass es viele Möglichkeiten gibt, Druck auszuüben. Ebenso gibt es mehr Fälle, in denen Gewalt angewendet werden kann: Zerstörung von Umschlagterminals, Angriffe auf US-Erdgasterminals und russische Raffinerien, Entführung von Entscheidungsträgern, Zerstörung von Satelliten, Sabotageakte, um die Versorgung mit Rohstoffen abzuschneiden – und sogar Terroranschläge. Daher wird es darum gehen müssen, den Staat gegen die Manipulation strategischer Ströme zu wappnen – und weniger um die schiere Anzahl der Soldaten. Entscheidend sind die Fähigkeiten des Militärs, einen modernen Krieg zu führen (oft aus der Ferne) sowie die Widerstandsfähigkeit eines Staates. Der skalierbare Krieg hat schon begonnen und verändert bereits das globale System. Wie im letzten Weltkrieg werden sich neue Methoden und Technologien entwickeln. Im Krieg beschleunigt sich die Innovation. Dies ist die dunkle Natur des Menschen – kämpferisch und wettbewerbsorientiert. Während des Zweiten Weltkriegs gab es die ersten deutschen ballistischen Raketen. Am Ende sahen wir die ersten primitiven Lenkraketen, das Düsentriebwerk, das technologische Wunder in Form des amerikanischen Bombers B-29. Und den Computer, der zum ständigen Knacken der deutschen Verschlüsselungsmaschine Enigma benötigt wurde. In diesem Krieg werden sich Automatisierung und Robotik sicherlich weiterentwickeln. Ich persönlich bin davon überzeugt, dass die für den Krieg und den menschlichen Wettbewerb entwickelte künstliche Intelligenz unser ziviles Leben bis zur Unkenntlichkeit verändern wird, bevor der Krieg vorbei ist. Bei all dem weigert sich Europa immer noch zu akzeptieren, dass der Krieg bereits begonnen hat. Der Besuch von Pelosi in Taiwan, der dadurch ausgelöste Aufruhr und die bevorstehenden Kongresswahlen in den USA werden dazu führen, dass sich die Vereinigten Staaten auf den Pazifik konzentrieren. Daher glaube ich, dass der Besuch Pelosis in Taiwan ein Fehler war, der insbesondere für Polen sehr ungünstig ist, weil er die amerikanische Perspektive eines Zweifrontenkrieges in Eurasien beschleunigt, der immer vermieden werden muss. Und er drängt China dazu, Russland an der europäischen Front zu helfen, auch wenn diese Hilfe eine Zeit lang verdeckt ist oder sein wird (so wie Roosevelts Entscheidung, den Briten zu helfen, vor der Weltöffentlichkeit verborgen war, da sie nach dem Fall von Paris 1940 und damit lange vor dem offenen Kriegseintritt Amerikas getroffen wurde). Für Mittel- und Osteuropa bedeutet dies, dass sie mit Russland weitgehend allein gelassen werden, wobei der einzige Schutz von außen von anderen Europäern kommt, denen es an nennenswerten militärischen Fähigkeiten oder übermäßiger Entschlossenheit zur Konfrontation mit Russland fehlt (abgesehen von Finnland, Schweden und Großbritannien). Da der Krieg um Eurasien ausbaufähig sein wird, muss der Konflikt in Europa nicht zwangsläufig derselbe sein wie in der Ukraine. Er kann Terrorismus, Zerstörung der Infrastruktur, Entführungen und Morde sowie Destabilisierung beinhalten. Es kann aber auch zu einem vollständigen Krieg wie in der Ukraine kommen, je nach den Möglichkeiten der Russen und der geopolitischen Lage sowie abhängig von der Widerstandsfähigkeit und den Vorbereitungen Europas. Die Russen werden ihre Strategie darauf abstimmen. Russland will in Europa Einfluss gewinnen, und das wird es tun, indem es die Amerikaner aus Europa verdrängt und den Zusammenhalt Europas als Teil der transatlantischen Welt schwächt. Was im Pazifik geschieht, ist daher für Europa von größter Bedeutung. Das Weltsystem ist instabil geworden. Nach dem Krieg, der heute unvermeidlich scheint, wird sich ein neues Gleichgewicht einstellen. Die Welt ist komplexer geworden, aber nicht weniger tödlich. In Kooperation mit
Jacek Bartosiak
China, die USA und Russland sind der Meinung, dass die bestehende Weltordnung ihren Interessen nicht mehr dient. In vielen Bereichen wird es deswegen zu ständigen Konflikten kommen – Handel, Technologie, Finanzen, Rohstoffe, Devisenmärkte, Daten, Internet und Infrastruktur. Auch der Einsatz von Nuklearwaffen ist möglich. Es liegen gefährliche Zeiten vor uns. Nur in Europa hat man das noch nicht bemerkt.
[ "Ukrainekrieg", "China", "USA", "Russland", "Geopolitik", "Atomkrieg" ]
außenpolitik
2022-08-19T18:04:14+0200
2022-08-19T18:04:14+0200
https://www.cicero.de/aussenpolitik/globale-unsicherheit-der-neue-weltkrieg-hat-schon-begonnen
Habeck und das Tempolimit - Grüner Flirt mit dem Ausnahmezustand
Erste Maßnahme einer neuen Bundesregierung unter grüner Beteiligung solle laut Robert Habeck ein allgemeines Tempolimit von 130 Stundenkilometern auf deutschen Autobahnen sein. Fragen nach der Verhältnismäßigkeit dieses in der Sache durchaus diskutablen Vorschlages seien „jetzt irgendwie noch lächerlicher als ohnehin schon – jetzt nach der Schließung von Kirchen, Schulen und so weiter.“ Bemerkenswert an Robert Habecks Vorstoß ist die darin zum Ausdruck kommende absurde Prioritätensetzung der Grünen. Statt sich um die drängenden Probleme der Menschen in Deutschland wie Infektionsrisiken und Sorgen um die wirtschaftliche Existenz zu kümmern, soll erstmal der grüne Verbotskatalog abgearbeitet werden. Immerhin bleibt Robert Habeck sich damit treu angesichts seiner gutgemeinten Ratschläge an notleidende Gastwirte zu Beginn der Pandemie, sich eine neue Heizungsanlage anzuschaffen: Konsequente Ignoranz gegenüber den Existenzsorgen hart arbeitender Menschen. Besonders perfide ist seine Begründung, dass wenn schon Schulen und Kirchen geschlossen werden könnten, Freiheitseingriffe inzwischen kaum noch der Rechtfertigung bedürften. Robert Habeck und die Grünen erliegen damit der Versuchung, den Ausnahmezustand der letzten Monate zum Modell zu erklären nach dem Motto: Jetzt seht ihr, was geht, wenn man nur will! Das ist eine zutiefst illiberale Instrumentalisierung der Pandemie. Das zynische Romantisieren der Krise beschränkt sich nicht auf Fragen unserer Wirtschaftsordnung, was allein schon schlimm genug wäre. Der grüne Flirt mit dem Ausnahmezustand macht auch vor den weiteren Grundrechten der Bürgerinnen und Bürger nicht halt. Natürlich gibt es kein Recht auf Rasen in Deutschland. Diese Habecksche Sentenz ist ebenso richtig wie sie irrelevant ist für eine überzeugende Argumentation in der Sache. Es gibt auch kein Recht zu schleichen auf deutschen Autobahnen - geschenkt. Entscheidend ist jenseits des Lifestylegeplänkels darüber, wie autoaffin oder –abstinent jemand ist, dem Niedergang grundrechtlicher Denkkategorien zu widersprechen. Die Frage nach der Verhältnismäßigkeit von Freiheitseinschränkungen ist im freiheitlichen Rechtsstaat immer verhältnismäßig. Und damit je nach abzuwägenden Rechtsgütern und Lageeinschätzung unterschiedlich zu beantworten, aber keinesfalls lächerlich. Wer anderes vertritt, mag vieles sein, aber bestimmt nicht liberal. Dieser Ausfall rechtsstaatlicher Argumentationsstandards ist ein Infektionsrisiko für unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung. Die Ausbreitung des Virus konnten wir durch die Stilllegung des gesellschaftlichen Lebens bremsen, den Klimawandel nicht. Änderungen an unserem Lebensstil können sinnvoll sein, doch eine Reduktion der Treibhausgase gegen Null erreichen wir so nicht. Dazu brauchen wir beschleunigte ökologische Innovation und massive Investitionen in die Erneuerung unseres Energiesystems, des Verkehrs und der Industrie sowie einen konsequenten marktwirtschaftlichen CO2-Zertifikatehandel, also mehr Dynamik statt Stillstand. Ambitionierter Klimaschutz braucht wissenschaftliche Innovation und wirtschaftliche Dynamik. Unsere wichtigsten Ressourcen sind der Ideenreichtum und Erfindergeist einer offenen Gesellschaft. Darauf sollten wir bauen, statt mit einem ökologischen Notstandsregime zu flirten. Schon die jetzige Bundesregierung und erst recht eine neue Regierung nach der Bundestagswahl 2021 täte gut daran, eine konsequente Vorfahrtregel für Wachstum und Beschäftigung zu ihrer Handlungsmaxime zu machen. Denn Wachstum und Beschäftigung sind entgegen einer Erzählung, die sich in den letzten Jahren von Ausnahmekonjunktur mit Rekordbeschäftigung und ebensolchen Steuereinnahmen weit verbreitet hat, weder eine fixe Idee noch hat unser Land ein Abonnement darauf. Wirtschaftswachstum und Beschäftigung sind das Fundament für die Lebens- und Aufstiegschancen von Menschen. Dies zu vernachlässigen ist weder sozial noch liberal, sondern schlicht dekadent.
Linda Teuteberg
Grünen-Chef Robert Habeck will ein allgemeines Tempolimit durchsetzen. Seine Begründung dafür speist sich aus einer zynisch-dekadenten Romantisierung der Coronakrise. FDP-Generalsekretärin Linda Teuteberg warnt vor der Instrumentalisierung der Pandemie.
[ "Tempolimit", "Robert Habeck", "Linda Teuteberg", "Coronakrise", "Grüne" ]
innenpolitik
2020-07-15T10:49:50+0200
2020-07-15T10:49:50+0200
https://www.cicero.de//innenpolitik/robert-habeck-tempolimit-gruene-flirt-ausnahmezustand-linda-teuteberg-fdp
Schleswig-Holstein – Piraten-Opa will Landtag entern
Losfahren ohne Ladung an Bord – das wäre für einen wie Wolfgang Rotsolk undenkbar. Auch, wenn sein Transporter unten keinen Rumpf, sondern nur noch Räder hat. In dem gelben Mini-Van hat Rotsolk alles, was er für den Wahlkampf braucht: orangefarbene Ballons, Flaggen, ein paar Planken und einen dreieckigen Lederhut. Und dort oben, auf dem Dach, könne man eine Leiter aufstellen. „Damit komme ich auch ganz oben an die Laternen ran.“ Der 71-Jährige will aber nicht nur beim Plakatieren, sondern auch politisch weiter nach oben: Bei den Landtagswahlen in Schleswig-Holstein am 6. Mai tritt er für die Piraten an. Er ist Direktkandidat für den Kreis Dithmarschen-Süd an der Westküste, einem der größten Kohlanbaugebiete Europas. Außerdem steht er auf Platz 15 der Landesliste. Rotsolk ist der älteste Pirat, der jemals für eine Landtagswahl kandidiert hat. [gallery:Die Piratenpartei. Ein Landgang auf Bewährung] Wie es sich für einen Piraten gehört, geht der rüstige Rentner dafür auch selbst in die Offensive: Bis zu vier Stunden steht er an jenem Samstagmorgen auf dem Marktplatz in Heide, verteilt Flugblätter. Nach dem Berliner Wahlerfolg im September sei er gleich in die Partei eingetreten, erzählt Rotsolk. „Mich haben die jungen Leute begeistert.“ Allerdings seien es nicht die Internetthemen gewesen, die ihn überzeugten, „sondern das bedingungslose Grundeinkommen.“ Dieser Idee hatten die Piraten auf dem Offenburger Bundesparteitag im Dezember mehrheitlich zugestimmt. In einem ersten Schritt soll eine neue Enquête-Kommission im Bundestag ein solches Modell durchrechnen, heißt es in dem Antrag. Rotsolk erhält 376 Euro vom Staat. „Eine miese Rente“, sagt er. Anlass zum Schimpfen hätte Rotsolk sicher genug: Denn sein Leben ist das eines beispiellosen Abstiegs – vom Millionär zum Sozialhilfeempfänger. Der gelernte Feinmechaniker machte sich 1968 mit einer Druckerei selbstständig. Er gründete auch ein Taxiunternehmen und eine Autoverwertung. Als vierte Firma kaufte er noch Europas ältesten Buggy-Hersteller hinzu. Politisch war Rotsolk damals Wechselwähler, aber meist sei er bei den konservativen Parteien geblieben, sagt er. „Einmal wählte ich die FDP, weil die dafür war, Heizöl nicht rot einzufärben. Dadurch war es wie Diesel verwendbar, gut für meinen Taxibetrieb.“ Rotsolk lacht, als er das erzählt: „Ich habe eigentlich immer die falschen Parteien gewählt, es kamen immer die anderen an die Regierung.“ Wolfgang Rotsolk war erfolgreich, gönnte sich ein Leben auf großem Fuß: Der zweifache Vater besaß ein 1,2 Hektar großes Grundstück mit Haus, fuhr einen teuren Sportwagen. „Ich hatte keine private Altersvorsorge abgeschlossen, weil ich immer dachte, ich hätte das nie nötig“, sagt Rotsolk heute. „Ein schwerer Fehler“. Lesen Sie im zweiten Teil, wie Wolfgang Rotsolk bei der Linken rausflog Der Abstieg begann 1992. Es sei „eine lange, schleichende Pleite“ gewesen. Damals baute er in seiner Anlage in Hochdonn aus alten Autoersatzteilen neue Wagen und verschiffte diese nach Afrika. Dafür belud er vier Containerschiffe. Doch in jenem Jahr kam es in der Regenzeit vor Ghana zu furchtbaren Überschwemmungen. Die Kanäle verstopften, brachten seine Schiffe in Seenot. „Die sind abgesoffen, alle vier“, erzählt er resigniert. Rotsolk blieb auf Schulden in Höhe von 80.000 D-Mark sitzen, musste eine Hypothek auf sein Grundstück aufnehmen. Weitere 90.000 wurden fällig, als die Stadt unter seinem Grundstück die Kanalisation erweiterte. Schließlich verklagten ihn die Mieter auf seinem Pachtgrundstück. Es folgten Bandscheiben-OP, Zwangsvollstreckung, Pleite, 2006 das große Loch. Plötzlich interessierten Rotsolk soziale Themen. Er trat der WASG bei, die sich gerade von der SPD abgespalten hatte. Doch als die sich mit der PDS zusammenschloss, stimmte er gegen die Vereinigung. 2009 provozierte er den Rausschmiss aus der Linken: Er überklebte das berüchtigte Plakat des damaligen Vorsitzenden Gregor Gysi mit seinem eigenen Foto und schrieb darüber: „Reichtum für mich“. Rotsolk verirrte sich für ein paar Monate in die Rentnerpartei – und fand schließlich zum Piraten-Stammtisch in Pinneberg. Wenn er in den Landtag gewählt wird, will Rotsolk sich weiter für soziale Themen engagieren. Beim bedingungslosen Grundeinkommen hält er 1.000 Euro für „angemessen“. Außerdem will er beim Bundesparteitag in Neumünster einen umstrittenen Antrag durchsetzen: Mandatsträger sollten 30 Prozent ihrer Bezüge an die Partei spenden, findet Rotsolk. „Bei den Grünen gibt es eine ähnliche Regelung.“ Und was ist mit den Kernthemen der Partei – Transparenz, Bürgerrechte, Anti-ACTA? „Kann mich mit allem identifizieren. Aber die Piraten sollten noch mehr ältere Mitglieder haben. Diese jungen Leute wurden doch noch nie über den Tisch gezogen.“ Um den Anschluss an die moderne Welt nicht zu verlieren, besucht Rotsolk am Nachmittag noch einen Computerkurs. Einige Aktivisten erklären für die Senioren der Westküste, was es mit Twitter, Thunderbird, und einigen anderen, von den Piraten häufig verwendeten, Softwareprogrammen auf sich hat. Rotsolk schreibt fleißig mit, fragt, wo man auf der Tastatur eine eckige Klammer findet. Auf die Frage, ob er einen Windows-Computer zu Hause hat, antwortet er: „Nee, der ist von Aldi.“ Und mit Flatscreen, ergänzt Rotsolk stolz. Seit drei Jahren spiele er auch schon kostenlos Online-Poker. Sein Zocker-Alias ist nun auch sein Benutzername im parteiinternen Piratenwiki: Opa68. Eigentlich sei er ja schon 71, räumt Rotsolk ein, „aber ich will ja nicht jedes Jahr meinen Namen ändern.“ Auch eine Möglichkeit, in der Netzpartei noch lange jung zu bleiben.
Der 71-jährige Pirat Wolfgang Rotsolk will den Landtag in Schleswig-Holstein kapern. Zuvor waren ihm in Afrika bei stürmischer See vier Schiffe gesunken
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innenpolitik
2012-03-12T12:35:58+0100
2012-03-12T12:35:58+0100
https://www.cicero.de//innenpolitik/piraten-opa-will-landtag-entern/48613
Tom Wolfe - Alles eine Frage des Stils
Als Tom Wolfe weiße Anzüge zu tragen begann, vor mehr als 50 Jahren, suchte er gerade einen Job als Zeitungsreporter. Damals waren Sakko und Krawatte für Reporter Pficht. „Wenn sie sich heute in Sakko und Krawatte zeigen, werden sie gefeuert“, sagt er. „Da sieht man, wie sich die Dinge geändert haben.“ Wie in seinen Romanen schließt Wolfe von Oberfächen auf den inneren Zustand der Gesellschaft, vom Schein auf das Sein. Stilfragen sind für ihn Statusfragen. Um Status dreht sich alles in allen seinen Romanen, und er selbst ist auch ein Statussucher, wie er unumwunden zugibt, ein Aufsteiger, dessen Exzentrik der Selbststilisierung dient. Status unterscheidet und defniert den Menschen, glaubt der studierte Soziologe und beruft sich dabei auf seinen Hausgott Max Weber. Wolfe lebt in New York City, dort, wo Manhattan am mondänsten ist, die Millionärsdichte höher als irgendwo sonst auf der Welt. Upper East Side, am Rande des Central Park, vor dem Haus livrierte Doormen und Polizisten. Der Aufzug öffnet direkt in Wolfes Unterkunft im 14. Stock. Seine Zehn-Zimmer-Wohnung ist fast so oft beschrieben worden wie sein Outfit. Die Reporterkollegen haben keine Übertreibung ausgelassen. Tatsächlich sind die Zimmer klein, kleiner als erwartet, der berühmte nachtblaue Flügel ist durchaus kein Konzert-Steinway, dafür fehlte der Platz. Als Hall of Fame könnte die Wohnung aber durchgehen: Tom Wolfe als Figurine, Tom Wolfe in Öl, Tom Wolfe als Karikatur, dazu Tom-Wolfe-Symbole – ein altes Borsalino-Plakat etwa zeigt einen Tom-Wolfe- Hut. Das Autoren-Cockpit, ein herrlicher, alter, dunkler halbrunder Edelholzschreibtisch, wird von einem Lampenpaar bekrönt, dessen Schirme ebenfalls aus Tom-Wolfe-Hüten gemacht sind. Ein Apple-Computer fehlt nicht, doch geschrieben hat Wolfe den neuen 800-Seiten-Schmöker mit dem Bleistift. Besonders liebt Wolfe die Simplizissimus-Plakate, die er aus München mitgebracht hat. Erinnerungen an den verstorbenen Münchener Freund, unseren einst gemeinsamen Verleger Karl Blessing, öffnen das Gespräch. Aus den von der Agentur streng limitierten 45 Minuten werden schnell drei Stunden. Wolfe wurde zur Reporterlegende, zu einem der Erfnder des New Journalism indem er Reportagen mit literarischen Mitteln schrieb, mit Dialogen und inneren Monologen. Später, da war er schon über fünfzig, verfasste er Romane mit journalistischen Methoden. Alles ist der Wirklichkeit abgeschaut und abgelauscht. Selbst die Sprache lautmalerisch nachgebildet, Geräusche ebenso wie die Sprache der Chaaktere. Manchmal wie in einem Comic: „Polter-ächz-quietsch-rumms“. Auch der neue Roman „Back to Blood“ ist ein großes, grelles, schrilles Gesellschaftsporträt. Wolfe hätte „Back to Blood“ auch „Bonfre of the Vanities IV“ nennen können. Denn im „Fegefeuer der Eitelkeiten“, so der Titel seines ersten Welterfolgs vor 25  Jahren, spielen alle seine Romane. Und Wolfe selbst könnte, sich parodierend, einer seiner Geschichten entsprungen sein. Wenn er recherchiert, tarnt er sich mit einem marineblauen Blazer. Weil – abgesehen von seiner Frau – niemand behaupten kann, ihn jemals anders als in einem seiner 32 eierschalenfarbenen Maßanzüge zu straff gezogener Krawatte und zweifarbigen Schuhen gesehen zu haben, blieb der weltberühmte Snob zuletzt in Miami meist unerkannt und zugleich in einem Zustand, den er sich gerade noch gestattete. Lieber schwitzen als Haltung verlieren. In der nie kühlen, doch immer cool erscheinenden Metropole Floridas hatte Wolfe sich monatelang umgesehen. Miami ist nicht nur der Schauplatz des neuen Romans, sondern zugleich dessen eigentliche Hauptfgur – so wie es New York in „Fegefeuer der Eitelkeiten“ gewesen ist. Miami, das ist die einzige Stadt der Welt, in der mehr als die Hälfte der Einwohner erst in den vergangenen fünf Jahrzehnten eingewandert sind. Eine Menschen-Minestrone, die ganz und gar nicht zum Melting-Pot werden will. Denn „in Miami“, das ist Tom Wolfes Botschaft „hasst jeder jeden“. Weil die Kraft der Religionen nachlasse, suchten die Leute etwas anderes, an das sie glauben könnten: ihre Herkunft, ihre Tradition, ihr Blut. Back to Blood. Niemand mehr habe Assimilation im Sinn. Wolfes Roman beschreibt eher das Gegenteil. Er erzählt vom Aufstiegswillen als unermüdlichem Motor der Gesellschaft, nicht vom trennenden Hass ethnischer Gruppen. Einen Roman zum Tema Imigration habe er schreiben wollen. „Egibt viele große Geschichten von illegaler Einwanderung. Aber ich habe noch nichts gelesen über das, was geschieht, wenn die Leute angekommen sind.“ Aus den Demütigungen seiner Figuren bezieht Wolfe die Komik, und gedemütigt werden sie alle, jede auf ihre Art. Der kubanische Polizist Nestor Camacho, der, weil gesetzestreu, im eigenen Lager als Verräter gilt, ebenso wie der russische Oligarch Sergej Koroljow, der dem Kunstmuseum in Miami aus Geltungssucht Kunst für 70 Millionen Dollar schenkt, nur leider ist sie gefälscht. Als Verächter zeitgenössischer Kunst tut sich Wolfe seit langem hervor, auch schon als Sachbuchautor. Im Roman vergleicht er die reichen Sammler mit Maden: „Sie hatten keinen Kopf. Sie hatten nur die Raserei. Sie hatten keine fünf Sinne, sie hatten nur einen, den Trieb, und der Trieb war alles, was sie spürten. Sie waren vollkommen blind. Seht sie euch an! … die Milliardäre!“ Auch die gefühlte Million Ausrufezeichen sorgt dafür, dass der Ton des Romans immer eine Spur zu laut und überdreht klingt. So wie er schreibt, habe ich mir den 81-Jährigen als misanthropischen angry old man vorgestellt. Seine Stimme jedoch ist mild und dünn wie die etwas zu lang gewachsenen silbrigen Haare. Ein gelber Fleck auf dem weißen Ärmel irritiert. Dünne Beine, gnomhafter Oberkörper. Lebhafte Augen, schmale Lippen. Sehr leise, doch schwer zu stoppen mäandern die Worte. Das ist nicht nur eine Frage des Stils. Tatsächlich vermeidet es Wolfe, klare Standpunkte zu formulieren. Vielmehr reiht er Detail an Detail, Anekdote an Anekdote. Genau wie in seinen Romanen scheint er gelegentlich den Wald vor lauter Bäumen aus dem Blick zu verlieren. All die rassistischen und sexistischen Untertöne des neuen Romans, über die sich die amerikanische Kritik erregt hat, legt er seinen Figuren in den Mund. Wolfe selbst lässt sich auch im Gespräch nicht fassen, identifiziert sich mit keinem seiner Helden. Wolfe, der ewige Beobachter, der reine Reporter. Fühlt sich Wolfe verletzt durch den Vorwurf, einem reaktionären Verfolgungswahn zu erliegen? „Das trifft mich nicht. Ich erzähle die Wahrheit. Das gilt als sehr konservativ.“ Er interessiere sich nicht für Politik, behauptet Tom Wolfe. „Erst wenn die Hunnen zwei Blocks von hier angekommen sind, gehe ich in die Politik, aber das werden wir nicht erleben.“ Im Übrigen sei es vollkommen gleichgültig, wer in Amerika Wahlen gewinne. Das Regieren des Landes vergleicht er mit der Fahrt eines Zuges: „Die einen sitzen auf der linken, die anderen auf der rechten Schiene. Aber der Zug hat keine Chance, die Spur zu verlassen.“ Das politische System in den Vereinigten Staaten könne sich nur ändern, wenn es mehr als zwei Parteien gebe. Deshalb habe er einst Ross Perot unterstützt, den Milliardär, der 1992 fast 20 Prozent der Stimmen gewann. Das andere Thema, das nicht nur Miami beherrscht, sondern nach Wolfes Ansicht die ganze Gesellschaft, ist Sex. Die absurdeste Figur in „Back to Blood“ ist ein auf Pornografiesucht spezialisierter Psychiater, der an seiner scharfen Sprechstundenhilfe die eigene Sucht lindert. Dieser Therapeut erinnert an den Autor, der keinen einzigen knackigen Mädchenpopo unerwähnt lassen kann, und dessen Roman imprägniert ist mit Sexszenen. Wolfe ein Sexist? „Kein Problem“, quittiert er diesen Vorwurf und erzählt so ausschweifend wie anschaulich, wie er in einem Stripclub (in Miami gebe es 143 davon), einem veritablen Puff, recherchiert hat – als einziger Mann dort mit Sakko und Krawatte. Er schreibe niemals gegen Sexismus, glaube lediglich, der Besuch solcher Etablissements sei nicht besonders gesund. Gesellschaftsreportage und Satire, Seifenoper und  Debattenstoff: Wolfe liefert beides. Infotainment, wie es inzwischen alle Medien dominiert. Bevor er begann, Romane zu schreiben, hatte der Reporter Wolfe den Roman für tot erklärt. Er sterbe an Irrelevanz. Der Gipfel zeitgenössischer Literatur sei im Sachbuch zu finden. Inzwischen ist diese Unterscheidung irrelevant. Journalismus und Dichtkunst sind eine Symbiose eingegangen. So wie auch Wolfe sich als exzentrische Mischung aus rasendem Reporter und Dichterfürst gibt. Back to Blood: wild,  schlüpfrig, überladen, packend, genau und zugleich oberflächlich, große Unterhaltung allemal. Sein nächstes Buch, erzählt Wolfe, wird nach vier Romanen wieder ein  Sachbuch sein. Über den Kampf der Giganten Darwin und Wallace. Beide entdeckten die Evolution. Doch nur einer gewann das Publikum, erntete allen Ruhm. Es geht wieder um Status. Es wird wieder ein echter Wolfe. Dieser Artikel erschien im Februar 2013 im Cicero-Magazin. Alle Ausgaben können Sie unserem Onlineshop bestellen.
Wolfgang Herles
Der Schriftsteller und Journalist Tom Wolfe ist gestorben. Er gilt als Erfinder des „New Journalism“ und schrieb mit „Fegefeuer der Eitelkeiten“ einen Weltbestseller. Vor fünf Jahren lud er uns in seine Wohnung an der New Yorker Upper Eastside ein
[ "Tom Wolfe", "Schriftsteller", "New York" ]
kultur
2018-05-16T15:36:38+0200
2018-05-16T15:36:38+0200
https://www.cicero.de//kultur/tom-wolfe-gestorben-schriftsteller-fegefeuer-der-eitelkeiten-new-journalism-new-york
Putins Pläne - Was der Kreml in Syrien will
Was will Putin? Diese Frage stellt sich die Welt – nicht zum ersten Mal in den vergangenen Jahren. Amerikanische Medien melden die Lieferung von schwerem Militärgerät, sogar von Truppenbewegungen in Richtung Syrien ist die Rede. Im Internet kursiert ein Video von Kämpfen in Syrien, in dem sich Soldaten auf Russisch Kommandos zurufen. Greift Russland nun direkt militärisch in den syrischen Bürgerkrieg ein? Zuerst einmal die Fakten: Dass Russland den syrischen Herrscher Baschar al-Assad militärisch unterstützt, ist nicht neu. Russland lieferte und liefert Assad Militärgerät. Momentan soll es sich dabei, der russischen Zeitung „Kommersant“ zufolge, vor allem um Feuerwaffen, Granatwerfer und Panzerwagen handeln. Auch Bilder von russischen Militärberatern aus Syrien gab es schon früher. Neu sind dagegen der Umfang der Lieferungen und die Verlegung von Eliteeinheiten in die Nähe der Hafenstädte Latakia und Tartus. Das spricht von einer Änderung der Strategie: Den Versorgungsstützpunkt der russischen Marine in Tartus – Russlands einziger Stützpunkt am Mittelmeer – hatte der Kreml nach Beginn des Bürgerkrieges evakuieren lassen. Nun sind die Soldaten zurück. Während die einen den Stützpunkt in Tartus sichern sollen, wird in der Nähe von Latakia offenbar ein militärischer Stützpunkt errichtet, um den Fall dieser Stadt zu verhindern. Von hier starten nach Erkenntnissen russischer Investigativjournalisten Drohnen, die Assads Armee mit Daten über Truppenbewegungen der Gegner unterstützen. Möglicherweise starten von hier sogar russische Kampfflugzeuge. Dieselben russischen Journalisten halten es gleichzeitig für möglich, dass rund um Latakia in geringer Zahl russische Panzer mit russischer Besatzung im Einsatz sind. Das verstärkte russische Engagement hat nun zu weiteren Verstimmungen im ohnehin schlechten Verhältnis zum Westen geführt. Warum tut Russland, das unter den westlichen Sanktionen und dem niedrigen Ölpreis ächzt, sich das an? Syrien ist für Russland nicht nur irgendein Partner im Nahen Osten, das Land ist der langjährigste und loyalste Partner der Russen, und zwar seit dem zweiten Weltkrieg. Russland lieferte über Jahrzehnte für Milliarden Dollar Waffen an Syrien, russische Firmen sind im syrischen Ölgeschäft engagiert. Und mag er noch so klein sein: Tartus ist der einzige russische Versorgungsstützpunkt am Mittelmeer. Dass Russland seit Beginn des Bürgerkrieges so verbissen an Assad festhält, ist aber auch eine Folge der Causa Libyen: Mit seiner Enthaltung bei der entscheidenden UN-Resolution 1973 machte Russland 2011 den Weg für eine Flugverbotszone frei. Dass die westlichen Mächte mit ihren Luftangriffen schließlich die militärische Niederlage Gaddafis herbeiführten, wertete Russland als illegitime Ausweitung der Resolution und einen Vertrauensbruch durch die westlichen Partner. Das sollte im Falle Syriens nicht noch einmal passieren. Dass Russland gerade jetzt intensiver in den Konflikt eingreift, hat mit der militärischen Lage zu tun. Der „Islamische Staat“ hat in diesem Jahr seinen Einflussbereich bedeutend ausgeweitet: Schon im Frühjahr kontrollierte er über die Hälfte des syrischen Staatsgebietes. Gleichzeitig haben sich Kräfte der Rebellen und der islamistischen Al-Nusra-Front unter anderem Latakia gefährlich genähert – der wichtigsten Hafenstadt Syriens. Im August wurde erstmals von Kämpfen in Latakia berichtet. Der Kreml sieht die Schwäche der regierungstreuen Truppen, gleichzeitig hat man in Moskau ebenso den Glauben daran verloren, dass die vom Westen unterstützte Opposition gegen den „Islamischen Staat“ bestehen kann. Mit Latakia ginge ein wichtiger Flughafen und damit die Möglichkeit für die Drohnenflüge verloren, zudem wäre die weitere Lieferung militärischer Güter erschwert. Offenbar glaubt man in Moskau, dass dann der Fall von Damaskus an den „Islamische Staat“ nur eine Frage der Zeit wäre. Das wäre ein Sieg von kaum zu übertreffendem Symbolcharakter für die Glaubenskrieger, der am Ende auch Russland treffen würde. Im lange unruhigen Nordkaukasus konnte Russland den islamistischen Terror über die letzten Jahre zwar im Zaum halten, aber die Zahl der IS-Kämpfer aus ehemaligen Sowjetrepubliken wie Tadschikistan, Usbekistan und den russischen Kaukasusrepubliken wie Tschetschenien und Dagestan geht in die Tausenden. Ein Rückfluss des islamistischen Terrors nach Russland wird bei einem weiteren Vormarsch des IS unausweichlich. An Assad wird der Kreml dabei nicht unbedingt festhalten, auch wenn er momentan aus taktischen Gründen noch öffentlich das Gegenteil betont. Aber Putin will eine halbwegs übersichtliche Perspektive für die Zeit danach haben. Aus der Sicht des Kremls bestehen die im 20. Jahrhundert entstandenen Staatengebilde wie Syrien oder der Irak ohnehin schon jetzt nur noch auf dem Papier. Sein jetziges Engagement dürfte dabei keine Überraschung für die Nachbarländer im Nahen Osten sein. Über das Jahr hatte Moskau intensive diplomatische Kontakte zu den Ländern der Region gepflegt. Engster Verbündeter ist der Iran: Anfang August reiste mit Qassem Soleimani einer der führenden iranischen Militärs, der für die Unterstützung Assads zuständig ist, heimlich nach Moskau. Aber Putin streckt seine Fühler in alle Richtungen aus: Mitte August kam Chaled Chodscha, Präsident der syrischen Nationalkoalition, welche die demokratische Opposition gegen Assad vereint, nach Moskau. Nach seinen Gesprächen mit Außenminister Sergej Lawrow kam der sogar zu dem Schluss, dass der Kreml nicht mehr an Assad festhalte, sondern als höchste Priorität den Erhalt der territorialen Integrität des Landes sehe. Also ein Syrien ohne IS wichtiger als ein Syrien mit Assad? Wichtig ist für den Kreml die Rettung des eigenen Einflusses und die Errichtung eines „alawitischen Israels“, wie es der russische Politologe Fjodor Lukjanow nennt: eines syrischen Rumpfstaates, dem es mit militärischer Hilfe aus dem Ausland zumindest gelingt, gegen den „Islamischen Staat“ zu bestehen. Ende September will Putin auf der UN-Vollversammlung in New York eine Rede halten, in der er, so ist anzunehmen, zu einer breiten Koalition der „zivilisierten Länder“ gegen den „Islamischen Staat“ und den internationalen Terrorismus aufrufen wird. Nachdem er sich mit seiner Ukraine-Politik zum Paria gemacht hat, will er dadurch international wieder hoffähig werden. Dass die Russen dafür allerdings eigene Bodentruppen eingreifen lassen, ist unwahrscheinlich. Die Erinnerung an das sowjetische Afghanistan-Desaster ist auch drei Jahrzehnte später noch äußerst lebendig.
Moritz Gathmann
Russland baut seine Unterstützung für Assads Armee aus. Damit will Putin seine Position im Nahen Osten erhalten und sich als pragmatischer Kämpfer gegen den „Islamischen Staat“ wieder international hoffähig machen. Ein Einsatz von Bodentruppen ist jedoch höchst unwahrscheinlich
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außenpolitik
2015-09-11T10:42:04+0200
2015-09-11T10:42:04+0200
https://www.cicero.de//aussenpolitik/putins-interessen-damaskus-was-der-kreml-syrien-will/59820
In eigener Sache - Drosten-Antrag gegen Wiesendanger nur bedingt stattgegeben
Vor gut zwei Wochen wurde bekannt, dass der Berliner Virologe Christian Drosten juristisch gegen den Physiker Roland Wiesendanger und Cicero vorgehen wolle. Hintergrund ist ein im Februar auf Cicero Online publiziertes Interview mit Wiesendanger, in dem der Physiker Drosten eine ganze Reihe von Vorwürfen über die öffentliche Kommunikation zum Ursprung der Corona-Pandemie macht. Eine Charité-Sprecherin teilte damals der Deutschen Presse-Agentur mit: „Das von Cicero veröffentlichte Interview mit Herrn Wiesendanger enthält eine Vielzahl von unzutreffenden Tatsachenbehauptungen, durch die die Persönlichkeitsrechte von Professor Drosten verletzt werden.“ Am Dienstag hat das Hamburger Landgericht nun einem Antrag Drostens auf Erlass einer einstweiligen Verfügung gegen Wiesendanger nur teilweise stattgegeben. Konkret ging es im Antrag Drostens um insgesamt zehn Formulierungen Wiesendangers aus dem genannten Cicero-Interview. Von diesen zehn Formulierungen wertete das Gericht lediglich vier als unzulässig, womit die eingangs erwähnte Formulierung der Charité-Sprecherin, im Interview gäbe es eine „Vielzahl unzutreffender Tatsachenbehauptungen“, nur bedingt zutreffend scheint. Mehr zum Thema: Zwar wurde Wiesendanger vom Gericht per Beschluss im Einstweiligen Verfügungsverfahren untersagt, Drosten vorzuwerfen, „die Öffentlichkeit gezielt getäuscht“ zu haben. Gleichzeitig sind die Vorwürfe Wiesendangers, Drosten würde „Unwahrheiten“ verbreiten und eine „Desinformationskampagne“ betreiben, vom Gericht als „zulässige Wertungen im wissenschaftlichen Meinungskampf“ gewertet worden. Der Beschluss ist darüber hinaus noch nicht rechtskräftig. Das Gericht verwies in seiner Begründung auf einen viel diskutierten offen Brief im Fachblatt The Lancet, den Drosten mitunterzeichnet hatte und in dem die These einer Laborherkunft von Sars-CoV-2 als „misinformation“ und „conspiracy theorie(s)“ (Verschwörungstheorie) abgetan wurde. Der Verdacht, dass das überraschend gut an den Menschen angepasste Virus Sars-CoV-2, dessen Vorläufer wohl aus einer Fledermaus stammen, in einem Labor von Virologen mittels biotechnologischer Experimente künstlich geschaffen worden sein könnte, kam bereits zu Beginn der Pandemie auf. Denn in Wuhan, wo das Virus das erste Mal aufgetreten ist, befindet sich ein Hochsicherheits-Virenlabor, in dem an Coronaviren aus Fledermäusen gearbeitet wurde. Dennoch taten international führende Virologen dies in The Lancet schnell als Verschwörungstheorie ab. Während Drosten in den sozialen Medien davon spricht, dass Cicero Online das Interview in der Zwischenzeit „entfernt“ habe, stellt Cicero-Chefredakteur Alexander Marguier fest: „Cicero wartet das juristische Verfahren zwischen Christian Drosten und Roland Wiesendanger ab, bis alle strittigen Punkte rechtskräftig geklärt sind. Wir werden zu gegebenem Zeitpunkt reagieren. Die Redaktion hat entschieden, den Beitrag dafür vorübergehend offline zu nehmen. Wir behalten uns vor, es zu gegebenem Zeitpunkt wieder ganz oder teilweise zu veröffentlichen.“ Die vorübergehende Depublikation des Interviews und eines weiteren Beitrags zum Thema diene dazu, diesen Streit wieder „auf einer sachlichen Ebene zu führen“. Und weiter: „Daraus etwa abzuleiten, wir hätten einen Fehler eingestanden, ist unzutreffend.“ Unterdessen wurde der Beschluss des Hamburger Landgerichts von Teilen der Medien gleichwohl auch als „Teilerfolg“ Drostens gegen Cicero kommuniziert. Von einem solchen schrieb unter anderem die Süddeutsche Zeitung. Das Nachrichtenmagazin Der Spiegel behauptete in einer Überschrift auf seinem Online-Kanal gar, das Gericht habe Cicero einzelne Aussagen verboten. Hierzu Cicero-Chefredakteur Marguier: „Derlei Behauptungen sind offensichtlich falsch, was sich im Übrigen sehr leicht nachvollziehen lässt. Denn das Hamburger Landgericht hatte es lediglich mit einem Streitfall zwischen Herrn Drosten und Herrn Wiesendanger zu tun. Cicero war darin nicht involviert. Insofern wurde uns vom Hamburger Landgericht auch nichts verboten, und Herr Drosten hat auch keinen ,Teilerfolg‘ gegen Cicero erzielt.“ Und weiter: „Cicero ist kein Medium, das gleich den Rückzug antritt, wenn es mal etwas rauer wird.“
Cicero-Redaktion
Einem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Verfügung, den der Virologe Christian Drosten vor dem Hamburger Landgericht gegen den Physiker Roland Wiesendanger gestellt hat, wurde nur teilweise stattgegeben. „Cicero“ war an dem Verfahren nicht beteiligt. Dennoch wurde die Entscheidung von Teilen der Medien auch als „Teilerfolg“ gegen „Cicero“ gewertet. Tatsächlich behält sich die Redaktion vor, ein vorübergehend offline gestelltes Interview mit Wiesendanger wieder ganz oder teilweise zu veröffentlichen.
[ "Christian Drosten", "Cicero", "Wuhan", "Coronavirus", "Coronakrise" ]
kultur
2022-03-16T12:17:32+0100
2022-03-16T12:17:32+0100
https://www.cicero.de//kultur/in-eigener-sache-drosten-antrag-gegen-wiesendanger-nur-bedingt-stattgegeben
Maskenaffäre im Gesundheitsministerium - „Von Anfang an chaotisch“
Dr. Michael Sperling ist einer der Geschäftsführer des 125 Jahre alten Berliner Unternehmens Rabofsky, das sich auf Atemschutzmasken und Faltmaschinen spezialisiert hat. Rabofsky hat als erstes Unternehmen erfolgreich eine Klage gegen das Bundesgesundheitsministerium im Streit um die ausbleibenden Zahlungen von Masken durchgebracht. Um was ging es genau? Es ging um eine Ausschreibung für Schutzmasken, die die Bundesregierung im März/April 2020, also zu Beginn der Corona-Pandemie veröffentlichte. Wir als Unternehmen wollten in der Krise schnell helfen und konnten insgesamt drei Millionen Masken bieten, für die wir dann auch den Zuschlag innerhalb von vier Tagen bekamen. Im Vertrag war geregelt, dass das Bundesgesundheitsministerium die Masken innerhalb von sieben Tagen nach Eingang der Lieferung zahlen sollte, doch die Bezahlung kam nur häppchenweise und nicht vollständig an. Nach acht Wochen waren erst zwei Drittel der Ware bezahlt worden. Ende Juni 2020 erreichte uns dann eine E-Mail, in der es hieß, dass die restlichen Masken nicht den Qualitätsstandards entsprächen, weshalb das Bundesministerium vom Vertrag zurücktrete und wir die Masken jetzt wieder zurücknehmen müssten. Könnte es nicht sein, dass die Masken wirklich beschädigt waren? Nein, die Angaben des Ministeriums waren paradox, denn die Masken gehörten zu derselben Lieferung und Charge, die über die Hälfte schon angenommen, für gut befunden und bezahlt worden war. Zudem haben einige Mitarbeiter unserer Firma die Ware bis zum Abgabeort am DHL-Logistikzentrum in Halle begleitet und können garantieren, dass diese bis dahin in einem einwandfreien Zustand war. Gab es für den Vorwurf der fehlerhaften Ware Beweise? Nein, es wurden eigentlich überhaupt keine stichhaltigen Beweise erbracht. Das einzige, was wir bekamen, war eine Excel-Tabelle, in der unter anderem stand, dass die Masken mangelhaft verpackt gewesen seien sollen. Andere Punkte in der Tabelle waren so allgemein beschrieben, dass wir bei Rabofsky keine klare Vorstellung davon hatten, was damit überhaupt gemeint war. Dachten Sie zu diesem Zeitpunkt zum ersten Mal daran, einen Anwalt einzuschalten? Ja, denn wir wussten, dass diese Behauptung falsch sein musste, weil wir jeden Schritt bis vor das DHL-Zentrum genau überwacht hatten. Wenn die Verpackung der Masken zum Zeitpunkt der Überprüfung wirklich beschädigt gewesen sein sollte, dann kann es dazu nur aufgrund falscher Lagerung seitens des Bundesgesundheitsministeriums gekommen sein. Auch wäre dies natürlich schon zum Zeitpunkt der Warenannahme durch DHL aufgefallen und auf den Lieferscheinen vermerkt worden. Noch einmal ein Blick zurück in den März und April 2020. Wie gestaltete sich diese Ausschreibung für die Masken? Da der Bundesregierung zu Beginn der Pandemie viel zu wenig Schutzausrüstung zur Verfügung stand, wurde ein sogenanntes Open-House-Verfahren ausgeschrieben, das einen festen Vertrag mit einem fixen Preis von 4,50 Euro pro FFP2-, KN95- oder N95-Maske allen Unternehmen bot, die bis zum 30. April 2020 Masken in beliebiger Menge liefern konnten. Die ganze Organisation war von Anfang an aber so chaotisch, wie wir es als Firma selbst noch nie erlebt haben. Es gab keinen Punkt in diesem Prozess, der irgendwie geregelt oder planbar war und ständig veränderten sich Details zur Auslieferung. Können Sie dafür ein Beispiel geben? Als wir endlich wussten, wohin die Masken gebracht werden sollen, musste der Fahrer geschlagene 33 Stunden auf dem Gelände warten, um abladen zu dürfen. Wir haben auch mit anderen Kraftfahrern gesprochen, die bis zu vier Tage lang gewartet haben. Solche langen Wartezeiten werden den Unternehmen dann natürlich von den Fahrern als Arbeitszeit in Rechnung gestellt und mussten zusätzlich bezahlt werden. Demgegenüber hatte man nur ein Zeitfenster von einer halben Stunde für die Anlieferung der Masken, welches man treffen musste. Verfehlte man dieses Fenster, konnte die Annahme verweigert werden. Es gab sogar Lieferanten, die überhaupt kein Zeitfenster für ihre Anlieferung vom Bundesministerium erhalten haben. Insofern haben wir in diesem Durcheinander sogar noch großes „Glück“ gehabt. Hatten Sie in diesem Prozess einen Ansprechpartner? Nein, und das war auch eines der Hauptprobleme. Bei Verträgen dieser Größenordnung braucht man eigentlich einen persönlichen Kontakt, mit dem man dann auch über die auftretenden Schwierigkeiten sprechen kann, um eine gemeinsame Lösung zu finden. Doch bis auf eine Telefon-Hotline, die über keinerlei Sachkenntnis und Kompetenzen verfügte, war für uns niemand ansprechbar. War das Bundesgesundheitsministerium überfordert? Ja, so haben wir das empfunden. Wir haben uns gefragt, ob das Gesundheitsministerium in diesem Chaos überhaupt noch der Herr der Dinge ist und ob die angelieferte Ware wirklich an den Stellen, die dringenden Bedarf haben, ankommt und nicht vorher verloren geht. Die Logistikzentren sind bald geplatzt vor Masken, Sattelschlepper kamen ohne Ende an, aber wir hatten den Eindruck, dass die Masken trotzdem nicht an den Orten landeten, wo sie gebraucht wurden. Nun hat Ihre Firma die Klage gewonnen, mehr als 70 weitere Kläger warten noch auf ihren Prozess. Was bedeutet das für Ihre Firma und für die anderen Geschädigten? Zunächst einmal ist es ein wichtiger Punkt, dass ein Gericht feststellt hat, dass das Bundesministerium für Gesundheit rechtswidrig gehandelt und gegen Verträge verstoßen hat. Ich hätte es vorher überhaupt nicht für möglich gehalten, dass in Deutschland eine Bundesregierung mit einzelnen Lieferanten Verträge abschließt und sich nachher über die Verträge einfach hinwegsetzt. Insofern sind wir als Firma natürlich erst einmal zufrieden, dass auch das Gericht unsere Meinung vertritt und die offenen Rechnungen nun ausgeglichen werden sollen, wenngleich das Ministerium noch in Berufung gehen kann. Ich kann nicht wirklich für die anderen Lieferanten sprechen, aber ich denke schon, dass nach diesem Urteil vielen ein Stein vom Herzen fiel. Vor Gericht wird aber trotzdem über jeden Einzelfall separat entschieden werden, also wie der Fall jeweils gelagert ist und ob Anspruch auf Zahlung besteht. Von vielen in der Branche ist zu hören, dass sie für die Lieferungen im April in Vorkasse gingen und nun um ihre Existenz bangen. Für viele ist es in der Tat eine verzweifelte Situation. Auch wir hätten damals diesen Vertrag nicht abgeschlossen, wenn wir gewusst hätten, dass wir das Geld erst so spät erhalten. Decken die rund drei Millionen Euro, die Ihnen vom Landgericht Bonn zugesprochen wurden, auch die Mehrkosten, die Ihnen entstanden sind? Das Geld deckt hauptsächlich die Kosten der Masken ab, die vertragsmäßig bezahlt werden müssen. Im Verkaufspreis stecken aber auch 19 Prozent Umsatzsteuer, die im Vorfeld an das Finanzamt gezahlt werden mussten, obwohl die Bezahlung noch gar nicht bei uns eingegangen war. Bei einem so hohen Betrag und bisher über 13 Monate Zeitverzögerung kommt da sehr viel Geld zusammen, das wir dem deutschen Staat vorfinanziert, aber nicht zurückbekommen haben. Haben Sie vor, noch weitere Klagen einzureichen? Es stehen noch Klageanträge aus, aber dabei handelt es sich um kleinere Posten wie die Standzeiten der Fahrer und eine kleinere Menge von rund 60.000 Masken. Ihr Anwalt Christopher J. Partsch sprach von einem unwürdigen Verhalten des Ministeriums, das kleinere Unternehmen wirtschaftlich „ausbluten“ lassen wolle, um die vom Rechnungshof bemängelte zwölffache Budgetüberschreitung zu kaschieren … Wir befinden uns bei solchen Diskussionen natürlich im Reich der Spekulation, aber wir haben selbst erlebt, dass das Bundesgesundheitsministerium stark auf Zeit spielte und Geld zurückhielt. Viele Unternehmen versuchten sich mit dem Bundesministerium schon zuvor zu einigen und waren bereit, sich mit weniger zufriedenzugeben, da sie unter sehr starkem finanziellem Druck standen. Insofern  ist es schon richtig, was Dr. Partsch sagt, wenn er über das Ausbluten von Unternehmen spricht. Was wir erst sehr viel später erfahren haben, ist, dass das Bundesministerium für Gesundheit für die Masken nur ein bestimmtes Budget hatte, das sehr weit überzogen wurde. Wenn ich mich richtig erinnere, waren ursprünglich nur 500 Millionen Euro für die Masken vorgesehen, es wurden jedoch Einkäufe von über sechs Milliarden Euro getätigt. (Anmerkung der Redaktion: Im Nachhinein beliefen sich die Kosten aufgrund von fehlenden Lieferungen verschiedener Firmen etwa auf eine Milliarde Euro). Deshalb wurde offensichtlich versucht, möglichst viel Geld zu sparen, um diese Differenz wieder zu reduzieren. Laut dem Bericht des Bundesrechnungshofs verteidigte sich das Ministerium mit dem Hinweis auf den hohen Druck, der zu dieser Zeit bestanden habe. Reicht Ihnen das als Begründung? Nein, denn für uns gab es ja auch diesen Druck, weil niemand mit der Pandemie rechnen konnte und trotzdem haben wir uns an den Vertrag gehalten. Wenn man sich die Arbeit des Gesundheitsministeriums in dieser Zeit anschaute, dann fühlte es sich für uns so an, als ob man einem Schiff auf hoher See zuschauen würde, das ohne Kapitän kreuz und quer fährt. Ein Schiff auf hoher See und ohne Kapitän, das lässt natürlich an Gesundheitsminister Jens Spahn denken, der eigentlich, um im Bild zu bleiben, als Kapitän das Steuer fest in der Hand halten sollte … Ich kann mir gut vorstellen, dass die Corona-Pandemie eine sehr belastende Zeit für Herrn Spahn gewesen ist. Aber letztendlich trägt er als Gesundheitsminister die Verantwortung in dieser Angelegenheit. Ich leite auch ein Unternehmen und kann nicht jedes Telefonat persönlich führen, aber dass Herr Spahn zumindest seinen Mitarbeitern klare Anweisungen gibt, sich mit den Lieferanten auseinanderzusetzen und zu versuchen, einen gemeinsamen Weg mit ihnen zu finden, das wäre das Mindeste gewesen, was ich von ihm erwarte. Ich verstehe nicht, warum so schlecht kommuniziert wurde. Ich würde mir wünschen, dass man unsere Politiker beim Wort nehmen kann. Es ist für einen Politiker unwürdig, um es mit den Worten von Herrn Partsch zu sagen, wenn auf solch eine Misere nur mit einer billigen Pauschalantwort reagiert wird. Die Fragen stellte Alissa Kim Neu.
Alissa Kim Neu
Die Berliner Firma Rabofsky hat als erstes Unternehmen einen Prozess um unbezahlte Maskenlieferungen gegen das Bundesgesundheitsministerium gewonnen. Im Interview gibt Geschäftsführer Michael Sperling einen Einblick in die Tage, die zum Gang vor Gericht führten.
[ "Atemschutzmasken", "Bundesgesundheitsminister", "Coronakrise", "Maskenaffäre" ]
innenpolitik
2021-06-25T13:40:04+0200
2021-06-25T13:40:04+0200
https://www.cicero.de//innenpolitik/maskenaffare-im-gesundheitsministerium-von-anfang-an-chaotisch-spahn-rabofsky-urteil
Cicero im Juni - Blues für die Freiheit
In der letzten Szene des legendären Filmes „Blues Brothers“ lassen Jake und Elwood Blues gemeinsam mit ihrer Band noch einmal so richtig die Sau raus. Mit vollem Elan und ganzem Einsatz performen sie Elvis Presleys „Jailhouse Rock“, ihr Publikum tanzt schon nach wenigen Sekunden auf den Tischen. Die fröhliche Ausgelassenheit hat nur einen kleinen Schönheitsfehler: Das Ganze spielt im Knast, wo die Blues Brothers nach ihren wahnwitzigen Abenteuern in und um Chicago schließlich gelandet sind. Und auf der Wand hinter der improvisierten Bühne im Gefängnis-Speisesaal ist groß und deutlich ein aufgemalter Spruch zu erkennen: „It’s never too late to mend!“ In deutscher Übersetzung ungefähr: Zur Umkehr ist es nie zu spät! Nun ist Deutschland selbstverständlich kein Gefängnis, sondern (immer noch) eines der freiesten Länder der Welt. Aber die hinter uns liegende Corona-Krise und alle damit einhergehenden Einschränkungen haben in mitunter drastischer Weise vor Augen geführt, welchen Stellenwert die Freiheit in unserer angeblich so liberalen Gesellschaft genießt. Dabei geht es nicht einmal um Sinn und Unsinn einzelner Lockdown-Maßnahmen. Sondern um die Art und Weise, wie deren Kritiker in hässlicher Regelmäßigkeit von Politik und Medien angegangen wurden – bis hin zur Diffamierung als rechtsextreme Brunnenvergifter. Aber nicht jeder, der das oft erstaunlich leichtfertige Außerkraftsetzen von Grundrechten beklagt, ist ein verschwörungstheoretisierender Querdenker mit Reichsflagge im Handgepäck. Im Gegenteil: Sollte es nicht gerade Ausdruck von wachem Bürgersinn sein, wenn man Fragen nach der Verhältnismäßigkeit stellt? Zur Disposition stehen ja nicht irgendwelche Petitessen, sondern die Freiheit jeder und jedes Einzelnen als Substanz von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Darüber gilt es aber nicht betreten zu schweigen oder verlegen mit den Schultern zu zucken. Im Gegenteil: Wer seinen Unmut angesichts derart massiver Beschneidungen artikuliert, hat nicht Verachtung verdient. Sondern Gehör und faire Auseinandersetzung. Davon war in Corona-Deutschland leider nicht viel zu spüren. Ein Grund mehr für uns, diesem Thema die Titelgeschichte zu widmen. Denn Viren allein werden auch in Zukunft nicht die einzigen Krankheitserreger für eine freiheitliche Ordnung sein. „Nicht erst die aktuelle Corona-Krise zeigt, dass wir Gefahr laufen, an dem Ast zu sägen, auf dem wir sitzen“, schreibt mein Kollege Ralf Hanselle in seinem fulminanten Plädoyer für mehr innere wie äußere Freiheit. Oder um es mit dem Sinnspruch aus der Besserungsanstalt für Blues Brothers zu sagen: Zur Umkehr ist es nie zu spät! Dieser Text stammt aus der Juni-Ausgabe des Cicero, die Sie jetzt am Kiosk oder direkt bei uns kaufen können. Sie sind Cicero-Plus Leser? Jetzt Ausgabe portofrei kaufen Sie sind Gast? Jetzt Ausgabe kaufen
Alexander Marguier
Wer die Corona-Einschränkungen kritisiert, wird allzu schnell als rechtsextremer Verschwörungstheoretiker diffamiert. Dabei sind kritische Fragen ein Grundpfeiler der Demokratie. Höchste Zeit also, dass wir die Juni-Ausgabe des Cicero der Freiheit widmen.
[ "Corona", "Lockdown", "Demokratie", "Freiheit" ]
2021-05-22T18:49:43+0200
2021-05-22T18:49:43+0200
https://www.cicero.de//innenpolitik/cicero-juni-corona-grundrechte-freiheit-lockdown-rechtsstaat
Horst Seehofer - Christsoziale Chaostage
Was für ein politisches Drama. Stundenlang diskutiert die CSU-Führung am Sonntag in München über die Flüchtlingspolitik der Bundesregierung und über die Ergebnisse des EU-Gipfels. Seehofer demonstriert vor seinen Parteifreunden Härte, nennt die Beschlüsse, die Merkel aus Brüssel mitgebracht hat „nicht wirkungsgleich“. Was nur heißen kann, der Innenminister und CSU-Vorsitzende ist weiterhin für nationale Maßnahmen und die Zurückweisung von in anderen EU-Ländern registrierten Flüchtlingen an den deutschen Grenzen. Mehrere liberale CSU-Politiker widersprechen. Eine angekündigte Erklärung Seehofers wird mehrfach verschoben. Dann der Paukenschlag. Horst Seehofer bietet am späten Abend seinen Rücktritt als Innenminister und als CSU-Vorsitzender an. Doch die Partei ist zunächst nicht bereit, diesen zu akzeptieren. In der Nacht kommt es zur Rolle rückwärts. Es soll am heutigen Montag in Berlin ein letztes Gespräch zwischen Seehofer und Merkel geben, einen letzten Versuch, eine Verständigung zu finden. Seehofer selbst gibt sich eine allerletzte Dreitagesfrist. Statement nach der Parteivorstandssitzung https://t.co/BkWvJFf02K Das CSU-Chaos steuert auf einen neuen Höhepunkt zu. Am Ende eines denkwürdigen Tages gibt es viele politische Verlierer, nicht nur in München, sondern auch in Berlin. Die CSU hat sich im Machtkampf mit der CDU und mit Bundeskanzlerin Angela Merkel völlig verpokert. Der Schaden ist gewaltig. Ohne Not und mit einem Hauch von Panik hat Horst Seehofer diesen Machtkampf vor ein paar Wochen vom Zaun gebrochen. Jetzt präsentiert sich die CSU führungslos, orientierungslos und zerstritten. Dreieinhalb Monate vor den bayerischen Landtagswahlen steht die selbsternannte Bayernpartei vor einem politischen Scherbenhaufen. Die absolute Mehrheit, die die Partei im Oktober unbedingt verteidigen will, ist damit in weite Ferne gerückt. Um die aktuelle Flüchtlingspolitik der Bundesregierung ging es in dem Streit zwischen Merkel und Seehofer, zwischen CDU und CSU allerdings schon lange nicht mehr. Das zeigt sich vor allem daran, dass der Innenminister seinen Masterplan bis heute nicht veröffentlicht hat. In der Sache hätten beide Parteien zudem leicht einen Kompromiss erzielen können. Besonders weit liegen die Positionen von CDU und CSU in der Flüchtlingspolitik nicht auseinander. Zugleich tragen die Beschlüsse der EU aus der vergangenen Woche durchaus die Handschrift der CSU. Horst Seehofer hätte dies als seinen Erfolg feiern können. Doch offensichtlich suchte Seehofer vor allem eine persönliche Abrechnung mit Merkel. Offensichtlich suchte er die finale persönliche Auseinandersetzung mit Merkel über ihre Flüchtlingspolitik seit 2015. Doch je persönlicher der Streit wurde, desto enger scharte sich die CDU um ihre Kanzlerin und ihre CDU-Vorsitzende. Die CDU demonstrierte Härte, stärkte Merkel am Sonntag auch in Sachen Richtlinienkompetenz noch einmal den Rücken. Nationale Alleingänge, wie sie die CSU fordert, lehnte der CDU-Vorstand demonstrativ ab. Zugleich jedoch war Horst Seehofer in den vergangenen Wochen auch ein Getriebener. Seine innerparteilichen Widersacher, der bayerische Ministerpräsident Markus Söder und der Chef der CSU-Landesgruppe im Bundestag, Alexander Dobrindt, hatten den Streit immer wieder angeheizt. Der Machtkampf zwischen CDU und CSU war und ist zugleich auch ein Machtkampf innerhalb der CSU. Auch deshalb hatte Horst Seehofer seine Glaubwürdigkeit am Ende völlig verloren. Sein Rücktritt wird am Ende unausweichlich sein. Weder in München noch in Berlin besitzt er noch die Autorität, die ein Innenminister und Parteivorsitzender braucht. Was der eskalierte Streit der beiden Schwesterparteien für die Union und ihre Fraktionsgemeinschaft im Bundestag bedeutet, ist überhaupt nicht absehbar. Das Bündnis von CDU und CSU ist der zweite Verlierer der Christsozialen Chaostage, es durchlebt die tiefste Krise seit 1949. Das Verhältnis beider Parteien scheint völlig zerrüttet, gegenseitige Schuldzuweisungen werden öffentlich vorgetragen. Dass die beiden Parteien wieder zu einem vertrauensvollen und konstruktiven Miteinander kommen wollen, scheint in diesen Tagen kaum vorstellbar. Womöglich werden beide Parteien stattdessen schon bald tatsächlich getrennte Wege gehen. Verloren hat in diesem Machtkampf auch die Große Koalition, obwohl sie noch keine hundert Tage im Amt ist, steckt sie schon in einer tiefen Krise. Wichtige andere politische Themen sind auf der Stecke geblieben. Das Vertrauen der Wähler in alle drei Regierungsparteien ist beschädigt. Käme es kurzfristig zu Neuwahlen, könnte CDU, CSU und SPD nicht mehr davon ausgehen, dass noch die Mehrheit der Wähler in Deutschland hinter ihnen steht. Nur Bundeskanzlerin Angela Merkel sitzt zunächst wieder fest im Sattel. Sie hat einmal mehr bewiesen, dass ihr in Sachen Machtpolitik niemand in CDU und CSU das Wasser reichen kann. Indem sie die Auseinandersetzung vor zwei Wochen auf die europäische Bühne gezogen hatte, war sie gegenüber der CSU im Vorteil. Auch wenn manches, was in Brüssel beschlossen wurde, vage klingt und seine Wirkung erst mittelfristig entfalten wird, hält sie anders als Seehofer das Heft des Handelns weiter in ihren Händen. Doch das Chaos in der CSU, der tiefe Riss, der durch die Union geht, und die Vertrauenskrise der Großen Koalition beschädigen auch die Kanzlerin. Letztlich ist auch Angela Merkel eine Verliererin des Machtkampfes zwischen den Schwesterparteien. Nicht ausgeschlossen, dass ein politisch angeschlagener Horst Seehofer in den kommenden drei Tagen versuchen könnte, seine Widersacherin mit in den Abgrund zu zerren.
Christoph Seils
Horst Seehofer hat den Machtkampf mit Kanzlerin Merkel verloren. Die CSU präsentiert sich führungslos, orientierungslos und zerstritten. Der Rücktritt des CSU-Vorsitzenden und Innenministers scheint unausweichlich. Merkel triumphiert, vorerst
[ "Horst Seehofer", "Rücktritt", "CSU", "Angela Merkel", "Flüchtlingskrise" ]
innenpolitik
2018-07-02T08:34:06+0200
2018-07-02T08:34:06+0200
https://www.cicero.de//innenpolitik/horst-seehofer-ruecktritt-csu-angela-merkel
Georg-Büchner-Preis für Elke Erb - Am Anfang steht Staunen
Die Sprache lebt. Mal gibt sie sich halt- und zügellos, dann wieder karg und bedächtig. Und je mehr Entfaltungsraum man ihr gibt, desto weniger müht sie sich um Verständigung. Es gilt das Motto: „Sind Worte unter sich, entscheiden sie.“ Geschrieben hat diesen Satz die frisch gekürte Büchner-Preisträgerin Elke Erb. Lyrik einzig unter dem Gesichtspunkt der inhaltlichen Vermittlung zu sehen, wäre für die vielleicht bekannteste Außenseiterin der deutschsprachigen Dichtung ein Unding. Schreiben bedeutet für die Lyrikerin, vor der sich gerade auch jüngere Schreibkollegen immer wieder verneigen, das Offene zu suchen. Texte seien, wie sie in einer ihrer programmatischen Selbsterläuterungen formuliert hat, „Figuren des Werdens“, mithin „Erlebnisse – / Ermöglichungen (Wege) – / operative Orientierungen". Poesie, die Hauptgattung der am 18. Februar 1938 in der Eifel geborenen Autorin, steht demnach für das immerwährende Drängen nach Freiheit. Dabei gilt das Gebot nicht nur für eine Dichtkunst, die unentwegt bis an ihre formalen und inhaltlichen Grenzen vordringt; die Emanzipation im Sprechen und Schreiben ist bei Erb immer auch politisch zu deuten. Nachdem sie 1949 als damals Zwölfjährige mit ihrer Familie vom Westen in die DDR übergesiedelt war und später nach Studium und Verlagsarbeit ihre Berufung zur freien Schriftstellerin gefunden hatte, stellte sie die Zensoren in Ost-Berlin immer wieder vor hehre Herausforderungen. Gerade ihre Sperrigkeit, ihr Hang zu Gedankensprüngen und entlegenen Assoziationen lässt sich als eine im Text verborgene Volte gegen Regime-Gusto und die Verzwecklichung der Sprache verstehen. Flankiert hat sie ihre poetische Opposition mit Aktivismus. Neben dem öffentlichen Protest über die Ausweisung des Bürgerrechtlers Roland Jahn stand sie früh der Friedensbewegung im Osten nah. Zudem galt ihr Augenmerk dem Feminismus. So befasste sich die spätere Peter-Huchel--Preisträgerin intensiv mit dem Werk ihrer Kollegin Friederike Mayröcker. Ferner übersetzte sie die Gedichte der russischen Schriftstellerin Marina Zwetajewa, die sich nach ihrem Einsatz gegen den Kommunismus in deutsches und später in französisches Exil begeben musste. Erbs Ambition ist bis heute unmissverständlich: Es sollten mehr weibliche Positionen in der ansonsten oft männlich dominierten Literaturgeschichte Gehör finden. „Was du schreibst, ist ein neues Land, sage ich.“ In diesem Vers aus dem Poem „Über den Winter“, gerichtet an Marina Zwetajewa, klingt nicht nur die Entdeckung eines unbekannten weiblichen Sprachkontinents an, die Worte offenbaren auch ein zentrales Prinzip in Erbs dichterischem Schaffen: Ihr nämlich geht es um Dialog. Dieser schließt Stimmen von zeitgenössischen wie historischen Dichterinnen gleichermaßen ein. Erbs Lyrik präsentiert sich als Begegnungsstätte für das Andere und Fremde. Es stellt einen Erinnerungsraum für vermeintlich vergessene Geistes- und Seelenverwandte her. Hierin zeigt die Dichterin, dass ihre experimentell anmutende und sich permanent erneuernden Lyrik allein aus der Nähe heraus entsteht. Alltägliche Beobachtungen und Naturimpressionen, in den letzten Jahren aber auch das Bewusstsein für Schmerz und Alter kennzeichnen ihr umfangreiches Werk. Als Leser zögert man zuweilen in Anbetracht der auf den ersten Blick unzugänglich erscheinenden Texte. Nachdem man sich indes auf den Versuch eingelassen hat, die häufig rätselhaften Miniaturen zu durchdringen, sieht man die Welt zumeist klarer. „Poesie“, schreibt Erb, „ist für mich die bündigste und gründlichste Form der Erkenntnis.“ Zweifelsohne bedarf sie einer gewissen Anstrengung. Am Ende aber steht die Faszination: „ich höre nicht auf mich zu wundern: gleite jetzt wieder die weile ab in den schlaf und über- lasse mich dem – dennoch bekannten – aspektwechsel um die drei ecken die ihre stockwerke stapeln kleinstädtisch einem bleichen reizlosen jenseitslicht. gleichwohl: wundert es mich.“ Mit der Verleihung des Georg-Büchner-Preises an Elke Erb adelt die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung nicht nur das Lebenswerk einer mittlerweile 82-jährigen Vielschreiberin, sie setzt in diesem Jahr auch ein Zeichen für die oft unterbewertete Gattung Lyrik; für eine Literaturform also, die sich im Innersten ein Geheimnis bewahrt hat. Das Staunen erweist sich so gesehen als die vielleicht wichtigste Konstante in diesem so einzigartigen wie ungewöhnlichen Werk.
Björn Hayer
Der Georg-Büchner-Preis geht in diesem Jahr an die Schriftstellerin Elke Erb. Mit der Entscheidung ehrt die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung nicht nur eine Außenseiterin der Literatur, sie unterstreicht zudem den Stellenwert der deutschen Lyrik.
[ "Literatur", "Lyrik", "Buchmesse", "Elke Erb", "DDR" ]
kultur
2020-07-07T12:17:43+0200
2020-07-07T12:17:43+0200
https://www.cicero.de//kultur/elke-erb-georg-buechner-preis-literatur-auszeichnung-buchmesse
Kalter Friede in Europa - Schafft den Euro ab!
Damals hat keiner gelacht. Es war am Himmelfahrtstag 2002, als der Euro mit dem Internationalen Karlspreis zu Aachen ausgezeichnet wurde. Der Euro, hieß es in der Begründung, treibe „wie kein anderer Integrationsschritt zuvor die Identifikation mit Europa“ voran und leiste einen „epochemachenden Beitrag zum Zusammenwachsen der Völkerfamilie“. Nur Superlative waren damals recht. Der Euro sei „die überzeugendste, pragmatischste Lösung auf dem Weg zur europäischen Gemeinsamkeit seit mehr als 1200 Jahren.“ Für Zweifel war kein Platz. Aus dem Euro werde ganz gewiss „ein völlig neues Gefühl der Zusammengehörigkeit in der Union erwachsen“. Der Euro begründe „eine neue Stufe des europäischen Einigungsprozesses“. Er sei nicht nur Werteinheit, sondern – Tusch! – „Wertmaßstab“ mit „vielleicht sogar friedensstiftender Wirkung“. Der damalige EZB-Chef Wim Duisenberg definierte den Euro gar als einen neuen „Gesellschaftsvertrag“. Der Euro zeige, dass „das gegenseitige Vertrauen (…) das Fundament einer Gemeinschaft“ sei. Lange ist’s her. Den Euphorikern der Frühe sei ihr Quantum Adrenalin gegönnt. Wer will nörgeln, wenn der Mantel der Geschichte durch die Stube weht? Stutzig machen können hätte aber schon damals, dass der Euro unter der Rubrik „Zur Person“ vorgestellt wurde. Als wäre er aus Fleisch und Blut. Nichts Gutes kann aus einem solchen Kategorienschwindel erwachsen. Der Euro war und ist ein Rechenexempel, eine Umrechnungsmethode, ein mathematisches Versprechen. Er markiert eine neue Stufe im vertraglichen Umgang mehrerer Staaten, die zu diesem Zweck einen Teil ihrer Souveränität abgeben. Er schert über denselben Kamm, was sich nicht in ein Bett zwingen lässt. Er ist ein schrecklicher Vereinfacher. Gut ausgehen kann solche Zwangsfusion unterschiedlicher Kulturen und Volkswirtschaften höchstens dann, wenn selbst das schwächste Glied die Kette tragen kann. Knapp elf Jahre nach den Aachener Glückswallungen hat der Euro sein Glitzerkleid abgelegt. Nackt und bloß steht er da als die Ruine alt gewordener Hoffnungen. Er hat keinen Wertmaßstab geliefert, sondern Wertunterschiede zementiert, hat Zusammengehörigkeitsgefühle schwinden statt wachsen lassen, brachte alten Zwist und alten Neid und altes Misstrauen und alte Ängste zurück und schuf keinen neuen Gesellschaftsvertrag. Der Frieden, den er gestiftet hat, ist ein fahler, ist ein Kalter Friede. Diesen schlauen Begriff prägte nun – in der ersten Ausgabe der Vierteljahreszeitschrift „Tumult“ – der Schriftsteller Thomas Kapielski. Europa lebe in einem Zeitalter des Kalten Friedens. Nächste Seite: Schluss mit der „Alternativlosigkeit“ Dieser Kalte Friede, schreibt Kapielski, „vertilgt, indem er arm und armselig, siech und dumm macht. Er zersetzt Vermögen, Geist und Gesittung der Menschen.“ In der Tat schreitet die Internationale des Stumpfsinns voran, auf den Bildschirmen, in unseren Tauschgeschäften, in unserem Inneren. „Der Kontinent“, so Kapielski, habe sich „längst zu verausgaben, zu erschöpfen, zu verblöden begonnen.“ Und der Euro, niemand sonst als der Euro, entpuppe sich als mächtigster Agent dieses gesamteuropäischen Überdrusses an sich selbst, dieser kontinentalen Erschlaffung. Der Euro entlarve sich heute „als verschlagenes Übel im Gewand hehrer Versprechungen“. Er drohe die europäischen Staaten „am Ende abermals zu berauben und zu bedrohen und zu beschädigen – wie ehedem Krieg.“ Eine gehörige Lust am apokalyptischen Ton spricht aus Kapielskis Worten. Er mag sich gedacht haben: Zeit für eine neue Rhetorik. Denn wohin hat uns die Euphorie der „Euro-Väter und –Mütter“ geführt? Was bewirkten die pflichtschuldigen Euro-Befürworter von Merkel bis Juncker und Monti denn anderes als Euro-Skepsis, Europa-Müdigkeit? Der Sound des Untergangs hat den Vorteil, dass er positiv widerlegt werden kann und keine Empirie gegen sich hat. Und im Kern steckt die wahre Erkenntnis: „Stures Durchhalten gehört seit je zu den Untugenden, nicht nur des Krieges.“ Wer Europa also liebt, der darf dem Euro weder mit Nibelungentreue anhangen noch Kadavergehorsam fordern. Wer Europa liebt, der muss es aus den Fesseln des Euro befreien. Jede neue „Alternativlosigkeit“ macht diese Konsequenz erst recht alternativlos.
Alexander Kissler
Die Hoffnungen in den Euro waren groß. Gefeiert als „eine neue Stufe des europäischen Einigungsprozesses“ hat er sein Glitzerkleid jedoch längst abgelegt. Wer Europa liebt, muss Schluss machen mit der Politik der „Alternativlosigkeit“
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innenpolitik
2013-04-09T10:20:43+0200
2013-04-09T10:20:43+0200
https://www.cicero.de//innenpolitik/kalter-friede-in-europa-schafft-den-euro-ab/54139
20 Gründe... – ...geistiges Eigentum zu klauen
Text…
Der Diebstahl geistigen Eigentums scheint längst zum Kavaliersdelikt verkommen, wenn jetzt auch noch die Bildungsministerin mit von der Partie ist. Hier sind 20 gute Gründe, warum sich die Delinquenten nicht zu schämen brauchen
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kultur
2012-10-18T16:20:58+0200
2012-10-18T16:20:58+0200
https://www.cicero.de//kultur/geistiges-eigentum-zu-klauen/52258
Große Koalition - Die SPD hat die Union erpressbar gemacht
Es sagt sich leicht: Wahlergebnisse spiegeln den Wählerwillen. Aber das ist keineswegs so, wie die derzeitigen Koalitionsverhandlungen zeigen. Allein dieses Gerede von Politikern, Schwarz-Rot sei Folge der Weisheit des Wählers, ist Blödsinn. Schwarz-Rot ist nur die Addition von Millionen Einzelentscheidungen. Es gibt kaum Menschen, die auf ihrem Stimmzettel beides angekreuzt haben, Union und SPD. Auch Umfragen nach dem beliebtesten Bündnis verzerren das wahre Bild. Denn da will natürlich jeder seine Partei mit im Bunde sehen – und die Mehrheit sind nun einmal Wähler aus Union und SPD. Die laufenden Verhandlungen zeigen schon jetzt zur Halbzeit, wie wenig das Bundestagswahlergebnis eine Rolle spielt: Die Union hat die Bundestagswahl haushoch gewonnen. Aber sie wird diese Koalitionsverhandlungen verlieren. Die SPD führt – und sie ist wohl nicht mehr einzuholen. Vor einem Monat begann das Spiel – in einem Monat wird es beendet sein. Dann haben die Genossen bereits über den Koalitionsvertrag abgestimmt. Und nur wenn sie ihre SPD darin als Sieger erkennen, werden sie einer großen Koalition zustimmen. Jetzt erst wird richtig klar, was das bedeutet: Allein die SPD-Basis wird über die Wiederwahl Angela Merkels zur Bundeskanzlerin entscheiden. Damit hat die SPD von vornherein die Union – man kann es so hart sagen: erpressbar gemacht. Trotzdem war am 23. Oktober, dem Tag Eins der schwarz-roten Verhandlungen, die Stimmung geradezu herzlich. Da dachten wir noch erstaunt: Donnerwetter, wie konnte aus den Wahlkampfgegnern so schnell eine einzige große Mannschaft werden? Hier scherzend, dort duzend saßen die 75 aus CDU, CSU und SPD zum Auftakt am gigantischen Verhandlungstisch beisammen. Sechsmal haben sie sich bis jetzt in dieser Riesenrunde getroffen. Und weit über fünfzigmal in den zwölf Arbeitsgruppen, deren Auftrag Ende der Woche endet. Doch was anfangs fast wie Freundschaft aussah, ist Gegnerschaft geblieben. Die SPD war vom ersten Tag an darauf bedacht, nur ihre Punkte zu setzen. Das ist ihr weitgehend gelungen. Flächendeckender Mindestlohn, Doppelpass, rechtliche Gleichstellung homosexueller Paare; und auch noch die – vom Bund finanzierten – Ganztagsschulen – darüber diskutiert das Land. Über 50 Milliarden Euro haben sich schon an Wünschen angestaut in den Arbeitsgruppen. Zu dieser stattlichen Summe haben CDU und CSU beigetragen, die dem Volk auch etwas geben wollen über Mütterrente und Betreuungsgeld hinaus. Nun werden am Ende die drei Parteivorsitzenden gemeinsam prüfen, was geht und was nicht. Doch selbst da kann die Kanzlerin schwerlich punkten. Denn sie muss versuchen, die einzigen zwei Bedingungen ihrer Partei aufrechtzuerhalten: keine neuen Schulden und keine Steuererhöhungen. Weitere Forderungen hat die CDU öffentlich gar nicht erst gestellt. Das ist Angela Merkels ewiger Trick nach dem Motto: Wer keine Latte auflegt, kann beim Sprung auch keine reißen. Debattiert wird in Koalitionsverhandlungen immer am lautesten das, was anders werden soll. Die Vorschläge dazu können ja im Grunde nur von der bisherigen Oppositionspartei SPD kommen. Damit bestimmt sie die mediale Agenda. Die Union kann nur abwehren oder nachgeben. Und dann gelingt es der SPD auch noch, die Union zu spalten in abseitigen Debatten. Im Gegensatz zur CDU fordert auch die CSU mehr Volksentscheide. Das tut sie vor allem, um bei der kommenden Europawahl für EU-Skeptiker attraktiv zu sein. Die Partei der Kanzlerin steht hier bei der Abwehr ganz allein da. Sie muss auch die Maut-Idee der CSU zunehmend allein abwehren. Denn bei der SPD erkennen immer mehr, dass sie hier der Kanzlerin bleibende Kratzer zufügen könnten: Käme es zur allgemeinen Pkw-Maut, hätte die Bundeskanzlerin ihr Wort gebrochen. Will Angela Merkel Kanzlerin bleiben, gibt es für sie keinen Ausweg mehr, als sich wesentlichen Forderungen der SPD zu fügen. Bislang hieß es: Sollten die Koalitionsverhandlungen scheitern, könnten wieder Gespräche mit den Grünen aufgenommen werden. Seit dem SPD-Parteitag sieht die Alternative anders aus. Das Tabu der Generation Schröder, auf keinen Fall mit der Linken zu koalieren, ist nun gebrochen. Der Weg für Rot-Rot-Grün wäre frei, sollte aus Schwarz-Rot nichts werden. Schon jetzt gibt es eine parlamentarische Mehrheit links der Union. Das sind geradezu ideale Bedingungen für eine Partei, die eben das zweitschlechteste Ergebnis ihrer Geschichte einfuhr. Und es sind üble Bedingungen für eine Partei, die fast die absolute Mehrheit schaffte. Der Wählerwille, auf den sich die verhandelnden Politiker stets berufen, wird in diesem Verhältnis gewiss nicht widergespiegelt.
Wulf Schmiese
Die Union hat die Bundestagswahl haushoch gewonnen, das Ergebnis spielt in den gegenwärtigen Koalitionsverhandlungen aber gar keine Rolle mehr. Längst bestimmen die Wahlverlierer von der SPD, wo es langgeht
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innenpolitik
2013-11-20T11:26:18+0100
2013-11-20T11:26:18+0100
https://www.cicero.de//innenpolitik/koalition/spd/cdu/56453
Skulpturenpfad - Sie werden Ihr lila Wunder erleben!
Das Chemnitzer Umland war nicht nur früh, sondern wiederholt für Wunder gut: Im 12. Jahrhundert löste die Kunde von Silbererzfunden im erzgebirgischen Freiberg eine wahre Goldgräberstimmung aus. Fünfhundert Jahre später ließ die Entdeckung der weltweit größten Kobalt-erzvorkommen bei Schneeberg die Bergleute vom „blauen Wunder“ schwärmen. Schließlich konnte man mit diesem Mineral nicht nur hitzebeständigen Stahl herstellen, sondern auch Porzellan und Glas färben. Doch spätestens mit dem Aus des Uranabbaus kurz nach der Wende sind die Wunder im Erzgebirge vorerst rar geworden. Deindustrialisierung und Transformationszwang eigneten sich nicht wirklich für ein neues Berggeschrey. Kein Wunder, dass da Gerüchte von einem sagenumwobenen lila Pfad in Sachsen mehr als hellhörig werden lassen. Schließlich soll bis 2025 nichts Geringeres als Europas größter Kunstparcours in den Umlandgemeinden der zukünftigen europäischen Kulturhauptstadt entstehen. Man munkelt, dass sogar der amerikanische Installationskünstler James Turrell Licht in das Erbe hiesiger Bergbaukultur bringen soll. Besonders diese kühne Vision aus dem zweiten Bewerbungsbuch für die Kulturhauptstadt Chemnitz hat es dem Bürgermeister Bernd Birkigt aus dem südsächsischen Oelsnitz angetan: „Wenn das nach Oelsnitz kommt, da weiß ich als Nicht-Kunst-Verständiger, wie ich den Menschen das begreiflich machen soll, schließlich hat der Bergmann, der nur am Sonntag das Licht gesehen hat, eine ganz besondere Liebe dazu.“ Birkigt wollte den Mann, der sich das ausgedacht hat, unbedingt kennenlernen. Schließlich hatte auch er sich mit einer Allianz von willigen Kollegen an der Bewerbung beteiligt, wollte man die Kulturhauptstadtbesucher durch ein ausgeklügeltes Nahverkehrsnetz ins Chemnitzer Hinterland locken. Die Region sichtbar, ja erfahrbar zu machen, das war sein Ziel. Aber was die europäischen Gäste dann erleben sollten, dafür fehlte schlichtweg das Konzept. Mitten im ersten Lockdown war er dann da, der Pfad-Erfinder Alexander Ochs, der als Kurator des Purple Path den Osten am Fuße des Erzgebirges erkunden und bekunsten will. Der Annaberger Bergaltar, 1521 finanziert von schmalen Wochenpfennigen der Bergleute, sei sein persönliches Initiationsmoment gewesen. Der 68-jährige, zwischen Berlin und Chemnitz lebende Franke, will lernen von dieser reichen sächsischen Kultur. Und er will etwas zurückgeben. Erfahrungen, die er gesammelt hat, etwa in China, wo Ochs Galerien betrieb, und von wo er Künstler nach Europa holte. Aber wie bringt man nun abstrakte, ja gewöhnungsbedürftige Kunst von internationalen Stars wie Tony Cragg oder Sean Scully, Alicja Kwade, Nevin Aladağ oder Rebecca Horn in eine Region, in der doch alles vom Berg her kommt? Birkigt zeigt Ochs sein Bergbaumuseum, das an die einstige Steinkohleförderung erinnert. Die Landmarkenskulptur, die schon heute von der 17 Meter tiefen Absenkung der Region erzählt. Welche lokale Geschichte hat das Potentzial für internationale Kunstgeschichten? Mit dieser Frage im Kopf begeben sich diese zwei Männer Anfang 2020 auf einen ersten Erkundungsweg. Mögliche Wegmarken des Kulturparcours sind zu diesem Zeitpunkt rein virtuell. Vielleicht sind es zum Schluss weniger konkrete Haltepunkte als die Haltung, welche den Purple Path als solches ausmacht. Auf jeden Fall sei er eine Chance, ein Weg, der uns alle gemeinsam auch verändern darf und soll, so Birkigt. Der bürgermeisternde Regionalmanager wird zum Motor des Ganzen, gibt Ochs gehörigen Vertrauensvorschuss, gründet einen Förderverein, sucht nach potenten Partnern. Die sind im Osten aus historischen Gründen rar. Aber Oelsnitz hat Glück. Einige Grundstücke hinter dem ehemaligen Schachtgelände gehören der Tutzinger Unternehmer-Familie Marianne und Frank-Michael Engel. Nach der Übernahme des ehemaligen VEB Robotron haben sie viele Sanierungsprojekte ermöglicht sowie durch ihre Stiftung maßgeblich für das letzte mittelgroße Wunder im Erzgebirge mitgesorgt: die erfolgreiche Bewerbung um den UNESCO-Welterbetitel Montanregion im Jahr 2019. Und was wird 2025 sein? Die Oelsnitzer Fabrikhalle der Engels böte auf jeden Fall einen idealen, ja wundervollen Platz für Turrell! Doch kulturelle Leuchtturmprojekte sind auch nicht die Wunderwaffe schlechthin. Das hat man besonders im Osten inzwischen begriffen. Deswegen pochen Birkigt und seine Allianz der Willigen von Anfang an darauf, dass man sich in der Region nicht ausschließlich mit dem kuratierten Kunst- und Kulturpfad beschäftigen wolle, sondern dass man etwas suche, wo sich die Menschen selbst einbringen und wiederfinden können. Und da die Erzgebirgler bekanntlich mit den Händen denken, sind hier natürlich (Kunst-)HandwerkerInnen und UnternehmerInnen gefragt. Doch wer sind die neuen lokalen Macher, die an der Zukunft tüfteln? Um das herauszufinden, wird im Sommer 2021 zu einem ersten Makers Day am Purple Path in der Wismut-Stadt Aue getrommelt. Hier tauschen sich Handwerker mit Faible für Holz, Textil oder Digitales mit Schriftstellern, Künstlern und Köchinnen aus. Der Verein Kreatives Sachsen stellt seine Idee für sogenannte Maker Hubs vor. Auch wird über einen möglichen Beitrag von Andreas Mühe diskutiert: Ob der in Chemnitz geborene, heute international bekannte Künstler mit roten Leucht-sternen in der Wismut-Folge-Landschaft an den Uranabbau unter sowjetischer Ägide erinnern soll – da war man sich im Nachhinein nicht so sicher. Aber dennoch: Der viel beschworene Bottom-up-Prozess, die lang ersehnte Emanzipation der Region, sie beginnt spätestens hier in Aue. Kurator Ochs ist geflasht von der geballten Kreativität des Publikums, das sich sogar zu einem Flashmob des Bergsteigerlieds bewegen lässt. Mit sechs Leuten, die er in Aue kennenlernt, arbeitet er mittlerweile am Purple Path zusammen. Unter anderem dabei: Ines Herold, die mit ihrer Entrepreneurs-Familie in Lugau bei Oelsnitz nicht nur selbst Wasserstoff zum Heizen gewinnt, sondern die für einen ganzheitlichen Austausch zum Landleben 4.0 gerade ein eigenes Zukunftshaus gebaut hat. Menschen wie Herold sind laut Ochs der Humus der Region, ihre fischelante Art (sächsisch für „clever“) mache das Erzgebirge aus. Und deswegen sollen diese Maker Teil der Purple-Path-Topografie werden. Ein wahrer Flow sei entstanden, so jedenfalls erinnert es auch Kristina Ebert, Kultur-Referentin von Aue, die den ersten „Makers Day am Purple Path“ mitorgansiert hat. Dass die Gestaltung des Purple Path ansteckend sein kann, weiß sie nur zu gut. Hatte Ebert 2019 in Aue noch erste Plakate zur Unterstützung der Kulturhauptstadtbewerbung gedruckt, wechselt sie nun zu Bürgermeister Birkigt nach Oelsnitz und wird die dortige Kulturszene als neue Klubhaus-chefin mitgestalten. Ganz partzipativ, versteht sich. Schließlich ist es nicht die Stadtverwaltung, die eine Stadt ausmacht, sondern die Menschen. Ihr neues Domizil, so schwärmt Ebert, ist ein 50er-Jahre-Schmuckstück in Stalinbarock samt samtig bezogener Tanzbar, die selbst in der retrotrendbewussten Hauptstadt ihresgleichen sucht. Das einstige Bergarbeiter-Kulturhaus Hans Marchwitza ist somit ein Unikat unter insgesamt 2500 sozialistischen Kulturbauten, die nach der Wende oft verpönt und verlassen wurden, sich jedoch aufgrund ihres identitätsstiftenden Potenzials besonders im ländlichen Raum zunehmend einer Wiederbelebung erfreuen. Für Birkigt ist diese Neubesetzung ein wichtiges Zeichen, schließlich seien viele kulturelle Dinge, die in der jungen DDR entstanden sind und zum Leben dieses Teils der Gesellschaft dazugehören, spurlos verschwunden, würden nicht erinnert, geschweige denn weiter-entwickelt. Alexander Ochs spricht angesichts dieser Liquidierung von DDR-Kulturbiografien sogar von einer Art kultureller Treuhand. Gemeinsam mit seinem Team der Kulturhauptstadt 2025 und dem neuen Geschäftsführer Stefan Schmidtke sei man dabei, die aus 1989 resultierende Ambivalenz zu reflektieren. Jenseits (n)ostalgischer Kleingeistigkeit versteht sich. Kristina Ebert, die von einem Austauschjahr in Südafrika Weltoffenheit und Toleranz vom Tafelberg mit nach Hause an den Aueschen Glees-Berg gebracht hat, scheint dafür jedenfalls ein Garant. Sie will ihre neue Wirkungsstätte Marchwitza zum regionalen Hotspot am Purple Path machen. Ob sich Andreas Mühe, wie Ebert ebenso ein Vertreter der sogenannten Wendegeneration, für ihr Haus einen neuen Entwurf einfallen lassen wird? Das Erzgebirge, so Andreas Mühe, ist eine sehr eigene Region. Man müsse sie mit eigenen Augen gesehen haben. Erst recht als Künstler. Deswegen ist er auch dabei, als im Spätsommer 2020 internationale Künstlerkollegen auf Einladung von Alexander Ochs und Bernd Birkigts Allianz der Willigen nach Sachsen kommen. Zum ersten Mal proben acht Bürgermeister ihre Rolle als Gastgeber, bringen etwa Fotografen und Bildhauer aus Österreich, der Türkei und Russland ihren Heimatkosmos nahe. Eine nicht unwichtige Geste in einem Landkreis, in dem die AfD zur Bundestagswahl 2021 mit 30 Prozent die stärkste Kraft werden sollte. Auch für Ralf Schreiber, Bürgermeister im mittelsächsischen Mittweida, war dieser Termin Neuland, doch er schätzt den Purple-Path-Mix aus lokaler Eigeninitiative und internationaler Professionalität. Sein anfänglicher Zweifel, ob man hier was übergestülpt bekommen würde, das man einfach schön finden müsse, hat sich gleich beim ersten Treffen zerschlagen. Denn schon da kommen der Lokalhistoriker Jürgen Nitsche und der israelische Fotograf Benyamin Reich in ein folgenreiches Gespräch über die jüdische Geschichte Mittweidas. In der einstigen Textilindustriemetropole lebten nämlich von 1870 bis 1938 mehr Juden als im restlichen Chemnitzer Umland. Zudem sind sie aktiv in der Stadtgesellschaft verankert, ihre Vertreibung 1938 ist ein kultureller Verlust ohnegleichen. Seine Recherchen hat Nitsche in einem 600-seitigen Buch veröffentlicht, finanziert von der Stadt. Ein Glücksfall das allein. Aber dass diese Vorarbeit nun sogar Grundlage einer künstlerischen Arbeit mit internationaler Ausstrahlung, dass lokales Wissen ästhetisch aufgewertet wird, das erscheint die ideale Einlösung des Kulturhauptstadt-Claims „C the Unseen“. Ungesehenes oder Verdrängtes sichtbar zu machen. Benyamin Reich, der seit Jahren jüdisches Leben in Deutschland fotografiert und etwa die Überlebenden des Anschlags auf die Synagoge in Halle porträtierte, plant in Mittweida ein groß angelegtes Gruppenprojekt. Unter dem Titel „Die Dritte Generation. Der Koffer bleibt hier“ möchte er mit 30 weiteren KünstlerInnen die jüdische Vergangenheit erforschen. In seiner Vorstellung wird es am Ende abstrakte Kofferskulpturen im öffentlichen Raum und vielleicht auch eine Idee davon geben, wie eine gemeinsame Zukunft von Deutschen und Juden aussehen kann. Ein dreitägiges Symposium im September soll darauf vorbereiten. Am Technikum Mittweida. Schließlich hat sich die Hochschule besonders um Juden verdient gemacht. Im Gegensatz zu fast allen anderen deutschen Hochschulen und Universitäten wurden hier noch 1936 jüdische Studierende immatrikuliert. Inzwischen ist Mai 2022, die Kulturhauptstadt GmbH ist installiert. Und mit ihr der Geschäftsführer Stefan Schmidtke aus dem sächsischen Döbeln, der nun seine Erfahrung vom internationalen Kultur-Parkett mit zurück in die Heimat bringt. Erstmals gibt’s auch Budgetzahlen für Ochs und sein fünfköpfiges Team, müssen die mehr als zahlreichen Projektideen mit der Realität abgeglichen werden. Um bei allem nicht den Überblick zu verlieren, scheint es wie eine Fügung, dass nun Seelsorger Holger Bartsch das neubezogene Büro in der Chemnitzer Innenstadt mit Ochs teilt. Er hat den einstigen Jugendpfarrer explizit zum Purple Path dazugeladen, weil er der Meinung ist, dass Kirchen eine künstlerisch und kulturpolitisch weitgehend ungenutzte Ressource sind in diesem Land. Und gerade im Erzgebirge, wo 40 Prozent der Menschen gläubig sind, sei das ein Frevel. Deswegen müssten sich die Kirchen ihrer kulturellen Kraft bewusst werden und damit verantwortungsvoll an eine breite, auch nicht oder anders gläubige Öffentlichkeit treten. Dafür eignet sich der Purple Path in Bartschs Augen besonders gut, ist er doch vom Kunst-in-Kirchen-Spezialisten Alexander Ochs von Anfang an als Pilgerweg gedacht worden, darf man hier durch Kunstbetrachtung im besten Fall zu sich selbst finden. Besinnung und Buße, Umkehr und Neubeginn, dafür steht schließlich auch die Farbe Lila im Kirchenjahr. Und so koordiniert Bartsch als frischgebackener Kulturhauptstadtpfarrer 2025 nun die kirchlichen Aktivitäten dieses Großevents, organisiert er mittlerweile die 4. Europäische Bergpredigt am Rande des Purple Path und öffnet seine Gemeinden für Pilgergäste und ungewöhnliche Interventionen. Neu zu lernen, die Leute aufzuwecken, das sei jetzt die Chance. 160 KünstlerInnen hat Kurator Alexander Ochs gemeinsam mit lokalen Kuratoren für den Parcours bereits begeistern und engagieren können, davon 70 aus dem Erzgebirge und Sachsen. 36 Kommunen haben sich der Idee inzwischen verschrieben. Sie alle stehen in den Startlöchern und mit ihnen eine ganze erwartungsvolle Region. Aber wo der Purple Path zum Schluss genau entlang- oder hinführen wird, das kann drei Jahre im Voraus keiner der Beteiligten so wirklich sagen. Wer allerdings das Wunder vollbracht hat, einen Füchtnerschen Nussknacker aus Seiffen auf die ISS-Raumstation zu schießen und vom All aus ein Signal aus der sächsischen Provinz an die ganze Welt zu senden, dem ist jedenfalls noch viel zuzutrauen. Kontaktadresse für weitere Informationen: [email protected] Dies ist ein Artikel aus dem Sonderheft „Chemnitz Capital“ von Cicero und Monopol. Die Inhalte sind auf der Grundlage des von den Abgeordneten des Sächsischen Landtags beschlossenen Haushalts zur Verfügung gestellt.
Sylvie Kürsten
Wie internationale Künstler und Lokalmatadore 2025 einen Kunstparcours um Chemnitz bespielen
[ "Chemnitz", "Kunst", "Kulturhauptstadt", "Chemnitz Capital" ]
2022-05-24T20:09:23+0200
2022-05-24T20:09:23+0200
https://www.cicero.de//kultur/skulpturenpfad-sie-werden-ihr-lila-wunder-erleben
Nato in Asien - „Vielleicht waren wir zu spät“
Als die Nato-Außenminister auf ihrer Sitzung zum 70. Jubiläum der Nato im Frühjahr 2019 in Washington erstmals über China debattierten, fiel von amerikanischer Seite der Satz „maybe, we were too late“. In der Tat hat sich das Atlantische Bündnis den Entwicklungen im asiatisch-pazifischen Raum zu spät gewidmet und viel zu lang ignoriert, dass der Aufstieg Chinas dramatische Auswirkungen auf die Sicherheitslage in Europa haben wird. Nun war die Vernachlässigung der Entwicklungen in Asien teilweise verständlich, ist die Nato doch seit Moskaus illegaler Annexion der Krim im Jahr 2014 vollauf damit beschäftigt, sich auf die neuen Realitäten der „Artikel-5 Welt“ einzustellen. In diesem neuen Sicherheitsumfeld muss der Bündnisfall nach Artikel 5 des Nato-Vertrages wieder mit glaubhaften Abschreckungs- und Verteidigungskapazitäten untermauert werden. Das ist der Nato bislang recht erfolgreich gelungen – sie hat sich gegenüber Russland erstaunlich geeint gezeigt und ihre militärischen Fähigkeiten in Osteuropa deutlich verbessert. Der zurückgekehrte Fokus auf Bündnisverteidigung darf allerdings nicht davon ablenken, dass die Allianz ihren strategischen Horizont in Richtung Asien erweitern muss. Dafür sind drei Entwicklungen maßgeblich: die Veränderungen bei den Großmächten; die Folgen aus den strategischen Umschwüngen in Asien für die europäische Sicherheit und das sich durch den Aufstieg Chinas ändernde transatlantische Verhältnis. Bei den Großmächten Russland, USA, der Europäischen Union und China ändert sich nicht nur deren jeweiliges politisches Gewicht, sondern auch das Verhältnis zueinander. Russland versucht verzweifelt, den eigenen Weltmachtstatus zu untermauern und schreckt dabei auch vor der Anwendung militärischer Gewalt gegenüber seinen Nachbarn nicht zurück. Alle Muskelspiele in Osteuropa oder im Mittleren Osten können aber nicht verdecken, dass Russlands vermeintliche Stärke auf tönernen Füßen steht, weil das Land Jahrzehnte der wirtschaftlichen, politischen und technologischen Modernisierung versäumt hat. Mit einem Bruttoinlandsprodukt kleiner als das von Italien und nur zwei Produkten auf dem Weltmarkt – nämlich Waffen und Energie – ist Russland nicht zukunftsfest und befindet sich seit Jahren in einem stetigen Niedergang. Dieser dürfte sich fortsetzen, was den Umgang mit Moskau nicht erleichtern wird. Die USA gibt sich derzeit rätselhaft. Während Russland gern Weltmacht wäre aber nicht sein kann, sind die USA faktisch Weltmacht, scheinen es aber immer weniger zu wollen. Die USA verfügen nicht nur über eine gewaltige Wirtschaftskraft sowie über das mit Abstand schlagkräftigste Militär, sondern auch über die „Soft Power“ des westlichen Lebensstils. Wohlhabende Russen und Chinesen schicken ihre Kinder auf amerikanische Universitäten und nicht auf die Hochschulen des eignen Landes. Aus all dem erwächst geradezu automatisch eine Führungsverpflichtung, doch scheint dieses Amerika seiner Führungsrolle zunehmend überdrüssig. Donald Trump treibt den Rückzug der USA aus der Weltpolitik voran, offenbar ohne zu wissen, was er eigentlich tut. Ein möglicher Nachfolger im Weißen Haus dürfte sich im Stil und Ton vom gegenwärtigen Amtsinhaber abgrenzen, das Ziel einer Reduzierung amerikanischer Bündnisverpflichtungen wird er oder sie aber ebenfalls anstreben. Die Europäische Union, bislang zumindest ein wirtschaftliches Schwergewicht, kann immer weniger dem Selbstbild einer politischen Großmacht entsprechen. Mit einem chaotischen Brexit voraus, mangelnder Solidarität im Osten und fehlender Haushaltsdisziplin im Süden zeigt sich die Union derzeit in einem beklagenswerten Zustand. Der blühende Populismus in vielen Mitgliedsstaaten lässt nicht auf eine baldige Besserung der Lage hoffen. Gelingt es nicht, die derzeit zaghaften Vorstöße gemeinsamer Sicherheitspolitik in einen kraftvollen politischen Konsens zu verwandeln, wird die EU als internationaler Akteur weiter zurückfallen. Ganz anders China, das in wenigen Jahrzehnten den Aufstieg von bitterer Armut hin zum Produzenten von Spitzentechnologie geschafft hat. Mit langfristigen strategische Investitionen in die Handelswege nach Europa, Mittelost oder Afrika – der sogenannten „Seidenstraßen-Initiative“ – macht China nun den nächsten Schritt und vertritt seine Interessen auch jenseits der eigenen Landesgrenzen und ohne Rücksicht auf Befindlichkeiten seiner Nachbarn. Selbst wenn es gelegentliche Rückschläge geben dürfte, wird sich Chinas wirtschaftlicher, politischer und militärischer Aufstieg weiter fortsetzen. Damit wächst das Land zur zweiten Supermacht neben den USA heran und wird in der Lage sein, die derzeit noch von Amerika dominierte Weltordnung infrage zu stellen. Es versteht sich nahezu von selbst, dass diese Veränderungen nicht ohne Auswirkungen auf das Aufgabenportfolio der Nato als einer Allianz, die aus (bald) 28 europäischen und zwei nordamerikanischen Mitgliedern besteht, bleiben kann. Noch deutlicher wird dies angesichts der zweiten Entwicklung – den Folgen für die europäische Sicherheit, die sich aus den Veränderungen in Asien ergeben. Der rasante wirtschaftliche Aufstieg Chinas schlägt sich in einem ebenso deutlichen Zuwachs militärischer Stärke nieder. Das kollidiert früher oder später zwangsläufig mit den Interessen anderer Akteure in der Region – auch ohne dass man China Aggressivität oder Expansionismus unterstellen muss. Die sich daraus ergebenden Gefahren zeigen sich exemplarisch an einem der wichtigsten Seewege der Welt, der Straße von Malakka zwischen Malaysia und Indonesien, die jährlich von über 80.000 Handelsschiffen durchfahren wird. Würde diese Passage aufgrund eines Konflikts in der Region gesperrt, würden Industrie und Handel in Europa und den USA von einer zentralen Schlagader der globalen Wirtschaft abgeschnitten. Dabei geht es nicht allein um den zeitgerechten Import asiatischer Billigprodukte, sondern um das Überleben der westlichen Wirtschaft insgesamt, die vom ständigen Warenfluss vor allem über die Meere abhängig ist. Darüber hinaus gibt es in Asien fünf Nuklearmächte – China, Indien, Pakistan, Russland, Nordkorea – sowie eine sechste, die USA, welche von außen in die Region wirkt. Jeder der sechs ist mit mindestens einem der anderen in aufrichtiger Abneigung verbunden. Somit ist auch eine Nuklearkrise nicht auszuschließen, die Europa nicht unbeteiligt lassen würde. Schließlich - und das ist selbst manchem Nato-Vertreter nicht unbedingt geläufig, ist auch ein Bündnisfall in der Pazifikregion denkbar. Sollte sich Nordkorea dazu entschließen, eine konventionelle Rakete auf Alaska zu feuern, dann könnte das zumindest vertraglich gesehen den Bündnisfall gemäß Artikel 5 des Nordatlantik-Vertrages auslösen. Bei der dritten Entwicklung geht es um zwei Veränderungen im transatlantischen Verhältnis, die weniger von Präsident Trump abhängen, sondern grundsätzlicher Natur sind. Da ist zum einen die überparteiliche Wertschätzung, welche die Nato derzeit in Washington genießt, ganz gleich welche Unflätigkeiten der Präsident twittert. Die USA sehen in Russland eine konkrete Bedrohung, die ein Gegengewicht in Gestalt einer starken, amerikanisch geführten Nato bedarf. Allerdings kann diese Wertschätzung zeitlich befristet sein. Setzt sich der russische Niedergang weiter fort, dann reduziert sich auch der Aufwand, der zur Verteidigung gegenüber Russland betrieben werden muss. Damit sinkt aber auch die Bedeutung, die der Nato aus amerikanischer Sicht zukommt. Washington mag langfristig zu dem Schluss gelangen, dass einige gut ausgerüstete US-Kampfverbände, die auf bilateraler Basis im Baltikum oder in Polen stationiert würden, zum Schutz Osteuropas ausreichen. Mit solch zwischenstaatlichen Vereinbarungen könnten die USA ihre Interessen in (Ost-)Europa wahren, ohne sich ständig um den Konsens mit 29 nicht immer einfachen Bündnismitgliedern bemühen zu müssen. Die zweite in Europa oft unterschätzte Veränderung ist die Ernsthaftigkeit, mit der sich die USA den Entwicklungen in Asien und dem Hauptrivalen China zuwenden. Amerika sieht den Aufstieg Chinas als Gefahr und erwartet von Europa nicht nur, dass es die USA von den Ordnungsaufgaben in und um Europa schrittweise entlastet, sondern auch, dass es an der Seite Amerikas steht, sollte es zu einem Konflikt mit China kommen. Aus allen diesen Entwicklungen und Veränderungen wird deutlich, dass sich ein künftiger „Transatlantic Bargain“, also die Grundlage europäisch-amerikanischer Sicherheitsbeziehungen, um China herum entwickeln wird. Das hätte erhebliche Auswirkungen auf die Nordatlantische Allianz als Kern dieses transatlantischen Deals. Wenn es der Daseinszweck der Nato ist, die Sicherheit all ihrer Mitglieder zu gewährleisten und deren vitale Interessen zu verteidigen, so muss sie sich ganz grundsätzlich allen Bedrohungen der äußeren Sicherheit ungeachtet ihres geografischen Ursprungs stellen. Entwickeln sich Gefahren im asiatisch-pazifischen Raum, so ist eine Hinwendung der Nato zu dieser Region zwingend. Nun ist die Frage berechtigt, wie eine Institution, die im Ost-West Kontext gegründet wurde, sich primär auf die Abwehr militärischer Bedrohungen konzentriert und sich erst in den letzten Jahren auch Gefahren südlich des Mittelmeers widmete, nun auf einmal in Asien aktiv werden soll. Eine Hinwendung der Nordatlantischen Allianz in Richtung Asien könnte sich in mehreren Stufen und Intensitäten gestalten. Der erste Schritt wäre, dass die Nato mehr Interesse für die Region zeigt und auch als Allianz die Entwicklungen im asiatisch-pazifischen Raum zur Kenntnis nimmt. Einige Nato Staaten haben seit längerem breitere Debatten im Nato-Rat dazu angeregt, aber Länder wie Frankreich haben solche immer wieder verhindert. Nun werden in Brüssel zumindest erste Stellen für China-Experten ausgeschrieben. Als weiterer Ausdruck dieses Interesses könnte die Nato Verbindungsbüros, sogenannte Liaison Offices, in Japan, Australien oder Südkorea einrichten. Bislang gibt es solche Einrichtungen in der Ukraine, in Russland oder in Georgien, nicht aber in Asien. Ein zweiter Schritt wäre eine substanzielle Entlastung der USA in anderen Weltregionen zugunsten des US-Engagements in Asien, welche allerdings eine deutlich größere Bereitschaft Europas zur militärischen Lastenteilung erfordern würde. Wenn derzeit nur die USA über die militärischen Fähigkeiten zur globalen Machtprojektion verfügen, dann müssten sich künftig die Europäer in der Nato militärisch stärker in ihren Nachbarregionen engagieren – etwa im Krisenbogen des Nahen Ostens oder im Indischen Ozean. Die dort stationierten amerikanischen Einheiten würden entlastet und stünden für Operationen in weiter entfernt liegenden Regionen zur Verfügung. Eine solche Forderung der USA ist nicht neu und wird in Zukunft immer lautstärker formuliert werden. Langfristig werden die großen europäischen Staaten allerdings, sofern sich der weltpolitische Aufstieg Chinas auch militärisch immer deutlicher realisieren wird, nicht darum herumkommen, in einem dritten Schritt ihrerseits Fähigkeiten zur weitreichenden Machtprojektion vor allem im maritimen Bereich aufzubauen. Das gilt nicht nur aus der Perspektive der Nato, sondern auch aus der Sicht der EU, wenn diese ihrem eigenen Anspruch des „global players“ gerecht werden will. Das dürfte langfristige Rüstungsentscheidungen nachhaltig beeinflussen. Angesichts solcher Herausforderungen erscheint die aktuelle deutsche Debatte um die „Zwei Prozent“ als sehr kleinteilig. Die Vorstellung, dass eine künftige Nato die Bekämpfung der Gefahren im asiatisch-pazifischen Raum als eine ihrer Kernaufgaben ansieht, mag aus heutiger Sicht für viele Bündnismitglieder unrealistisch scheinen. Die meisten Europäer haben derzeit Schwierigkeiten, ausreichende Fähigkeiten für die Landes- und Bündnisverteidigung aufzubauen und zeigen nur geringe Bereitschaft, sich auf neue Bedrohungen einzustellen. Allerdings hat sich bereits in der Vergangenheit gezeigt, wie schnell sich eine internationale Lage ändern kann und wie rasch die Nato in der Lage sein muss, darauf zu reagieren. Niemand in Europa hätte sich in den neunziger Jahren vorstellen können, einmal die eigenen Sicherheitsinteressen im 5500 Kilometer entfernten Afghanistan zu verteidigen. Genau das geschah buchstäblich über Nacht als die Katastrophe des 11. September 2001 die Weltlage fundamental änderte. Der Aufstieg Chinas und die sich daraus ergebenden weltpolitischen Veränderungen vollziehen sich in deutlich längeren Zeiträumen. Zeit für die Nato also, sich konzeptionell auf diese Entwicklungen einzustellen.
Karl-Heinz Kamp
Die Bundeskanzlerin absolviert einen schwiergien China-Besuch. Währenddessen steht die Nato vor großen Herausforderungen. Der rasante Aufstieg Chinas und sein Griff nach der Welt fordern neue Taten. Doch die Mitglieder sind zu sehr mit sich beschäftigt. Wenn sie nicht abgehängt werden wollen, müssen sie handeln
[ "Nato", "Russland", "China", "EU", "Europäische Union" ]
außenpolitik
2019-09-05T12:56:13+0200
2019-09-05T12:56:13+0200
https://www.cicero.de//aussenpolitik/nato-asien-china-eu-usa-russland-europa
Der Legastheniker am Theater – Höllenqualen bei Jelinek
Es ist die letzte Reise zu seinem Vater. Der junge Arzt Niki tritt ans Sterbebett und erhofft sich einen letzten Beweis seiner Liebe. Doch der Vater, ein ehemaliger Kommunarde, kann ihm weder Zuneigung geben noch Anerkennung. Niki bleibt orientierungslos zurück. Die österreichische Regisseurin Marie Kreutzer fragt in ihrem berührenden Debütfilm „Die Vaterlosen“, der Anfang August in die deutschen Kinos kommt, nach nichts weniger als dem Wert der Familie und den Spätfolgen alternativen Lebens. Philipp Hochmair, der im Film den Niki spielt, kommt aus einer ganz anderen Welt. Er stammt aus dem katholischen Wiener Bürgertum, das nach einem klaren Vater-Mutter-Kind-Prinzip funktioniert, Kreativität gerne einengt, und wo Freiheit, wie Hochmair sagt, immer auch ein wenig mit Angst verbunden ist. Das Theater etwa galt seinem Vater immer als eine wenn nicht dämonische, dann zumindest sinnlose und destabilisierende Angelegenheit. Dass man aus dieser „vatervollen, dominanten Brutstätte“ ausbrechen muss, ist klar. Aber bei Hochmair könnte man meinen, er wäre etwas übers Ziel hinausgeschossen. Wenn er spielt, meint man förmlich zu sehen, wie der Text in seinen Körper fließt, sich dort zu einem explosiven Gemisch verwandelt und schließlich wieder ausgespien wird. Ein inneres Brodeln ist da zu spüren, eine elektrisierende Gespanntheit, die sich meist in blitzartigen Gesten entlädt. Mit seinen 37 Jahren hat sich Hochmair nicht nur vor der Kamera, sondern vor allem auf der Bühne das Herz aufgerissen und mit Hingabe fast alles gespielt, was es an großen Rollen gibt. Er ist das Gegenteil eines Darstellungsbeamten, er ist ein Einzelgänger, ein Bühnentier. Das Schauspiel ist für ihn ganz offensichtlich eine Welt, die ihm alleine gehört, eine Welt, wo einzig und allein die Hochmair’schen Gesetze gelten. Um das zu unterstreichen, schreckt er auch vor mancher Pathosformel nicht zurück: „Meine Heimat ist der Text“, sagt er. „Ich bin in ‚Amerika‘ von Kafka oder in Goethes ‚Werther‘ zu Hause. In den Zeilen finde ich meine erkämpfte Ruhe. Da bin ich Mensch und kein gehetztes Wesen mehr, das nicht weiß, wo es hingehört.“ Wo er hingehört, das weiß Hochmair trotz des väterlichen Widerstands schon früh, mit 19 Jahren, um genau zu sein. Da ist er in seiner Klasse am Wiener Max-Reinhardt-Seminar der Jüngste und der einzige Österreicher. Dem gnadenlosen Dompteur Klaus Maria Brandauer liefert er sich aus, der es an Dominanz durchaus mit dem Vater aufnehmen kann. Bei ihm lernt der Schauspielschüler, seinen Eigensinn zu behaupten: „Er zeigte uns, wie man die Grenzen zwischen Rolle und Persönlichkeit so lange bekämpft, bis sie sich auflösen.“ Am Max-Reinhardt-Seminar trifft Hochmair auch auf den Regisseur Nicolas Stemann, der ihm bald „großer Bruder, Reisebegleiter und liebster Feind“ sein wird. Nach Abschluss des Studiums folgt er ihm über Nürnberg, Hannover und Wien ans Hamburger Thalia-Theater. Der liebste Feind ist ein Konzeptkünstler, ein Schauspielerquäler, er kombiniert Experiment und Klassik, sein Theater wagt etwas, was heute nicht mehr selbstverständlich ist: künstlerische Ernsthaftigkeit. Er ringt um Stücke und um die Frage, warum sie erzählt werden sollen. Dafür hält er sich eine Kommune aus Schauspielern, Dramaturgen, Bühnen- und Kostümbildnern, in der man nicht probt, sondern gemeinsam sucht. Zu Beginn der Arbeit an einem neuen Projekt weiß noch niemand, welche Rolle er eigentlich spielen soll. Der Druck sei „brutal“, sagt Hochmair. 21 Stücke hat er mit Stemann gemacht, und nie glich die beiderseitige Arbeit daran einer normalen Geschäftsbeziehung zwischen Schauspieler und Regisseur. Eher schon einem aufreibenden Kampf beim Textjonglieren. Hochmair leidet unter Legasthenie und muss sich förmlich einprügeln, was er sagen will. Trotzdem kamen die großen Rollen zu ihm, er hat nichts gespielt, was ihm neben der Seele lag. Auch heute noch bereitet ihm jeder Text Angst. Er leidet Höllenqualen, wenn er Elfriede Jelinek oder Peter Handke lernt. Als ein „Duell mit dem Teufel“ beschreibt er diesen Prozess. „Aber wenn ein Text wie Handkes ‚Untertagblues‘ dann da ist, ist es das Schönste, was es gibt. Das ist mit keiner Reise, mit keiner Liebe gleichzusetzen.“ Diese Art Ekstase ist auch für den Zuschauer spürbar. Besonders in Hochmairs Solostücken. Den „Werther“ hat er in einer Nürnberger Stemann-Inszenierung in vierzehn Jahren insgesamt 1200-mal gegeben. Er sieht die Identitätslosigkeit seines Helden, das aufschäumende Gemüt, als Kontrast zum Bürgerlich-Gefassten. Sein Werther schmeißt sich nicht an das jugendliche Publikum heran, sondern kommt klar und leichtfüßig daher. Goethes Text muss nicht belehrend sein, bei Hochmair und Stemann kann er auch die cleveren Züge eines Quentin-Tarantino-Films annehmen. Noch in diesem Sommer wartet eine weitere wichtige Goethe-Rolle auf ihn, der Mephisto. Ende Juli bei den Salzburger Festspielen. Wieder mit Stemann. Wieder ohne eine Ahnung, wohin die Reise gehen wird. Und wieder mit dem Ansinnen, eine Rolle zum Glühen zu bringen. Viel Gründgens sei da in seinem Kopf, sagt er, und wohl auch einige Klischees. Man wird sehen. Für Hochmair stellt diese Rolle auch eine Rückkehr dar, eine Rückkehr nach Österreich, wo er immer noch gerne ist. Schauspieler schaffen es dort noch in die Abendnachrichten, und das Milieu taugt für verdammt gute Kunst. Ein Vaterland, das Sätze wie von der Jelinek möglich macht, rabenschwarzen Humor wie den von Josef Hader aushält und einen Schauspieler wie Hochmair hervorbringt, kann so schlecht nicht sein.
Gleich zwei große Auftritte hat der österreichische Schauspieler Philipp Hochmair diesen Sommer: als Mephisto bei den Salzburger Festspielen und in dem Kinofilm „Die Vaterlosen“. Für den Legastheniker in ihm ein Duell mit dem Teufel.
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kultur
2011-06-10T16:10:56+0200
2011-06-10T16:10:56+0200
https://www.cicero.de//kultur/hollenqualen-bei-jelinek/42066
Meistgelesene Texte 2017 - Störung im Betriebsablauf
Wäre David Allen mit Angela Merkel zufrieden? Der amerikanische Managementberater gilt als Erfinder der Getting-Things-Done-Methode. Seine Bücher heißen „Wie ich die Dinge geregelt kriege“, „So kriege ich alles in den Griff“ oder knapp „Ich schaff das!“. Coach Allen formuliert so, wie die deutsche Bundeskanzlerin zu denken vorgibt. Der Unterscheid freilich ist mit Händen zu greifen: Die Dinge, die Merkel regeln möchten, entgleiten ihr, denn Menschen sind keine Dinge. Schon oft und immer zu Recht ist verschiedentlich bemerkt worden, dass die Kanzlerin der deutschen Sprache feindlich gegenüber steht. Das Reden ist ihre Sache nicht, weil sie letztlich nichts zu sagen hat – nichts, das hinausginge über jenen performativen Selbstbezug, der verkündet: Hier stehe ich, ihr schaut mich an, nun red‘ ich auch. Merkelsätze sind Sätze, die man vergessen hat, ehe sie vollendet sind, und Vollendung erwartet man vergeblich. Politik heißt – in Merkels eigenen Worten – „Dinge verbessern“, „Dinge, die nicht gut gelaufen sind, besser machen.“ Das letzte große Ding war der islamistische Anschlag auf dem Berliner Breitscheidplatz, bei dem heute vor einem Jahr zwölf Menschen ermordet wurden. Auch ein Terrorakt ist eines von so vielen Dingen, mit denen eine Kanzlerin sich beschäftigen muss. Erkennbar ungern tut sie es, wofür nicht zuletzt das Wartejahr spricht, das sie verstreichen ließ, ehe sie sich aufmachte zu einem Treffen, „das mir sehr wichtig ist“. Das verkündete die Kanzlerin auf Nachfrage und ohne erkennbare Gesichtsrötung am gestrigen Montag nach der Präsidiumssitzung der CDU. Und fuhr fort: „Ich weiß, dass einige sich ein solches Treffen früher gewünscht hätten. Aber mir ist wichtig, dass ich heute noch mal deutlich mache, wie sehr wir mit den Angehörigen und mit den Verletzten fühlen.“ Im Übrigen, setzte sie protokollarisch korrekt hinzu, sei der Bundespräsident das „Staatsoberhaupt“, und dieses habe sich schon „zu Beginn des Jahres“ mit den Betroffenen getroffen. Nur nicht drängeln, heißt das, wir sind Deutschland, wir haben Protokoll. Ausnahmen bestätigen die Regel. Mit einem Imam, auf dessen Moschee ein Sprengkörper geworfen worden war, traf sie sich eine Woche nach der Explosion, bei der übrigens niemand zu Schaden kam. Die unterschiedlichen Reaktionszeiten sind bezeichnend für den Politikstil einer Kanzlerin, die krude Prioritäten setzt, wo Menschlichkeit gefragt wäre. Abgründe tun sich auf an Logik und Sprachvermögen, wohin man nur schaut, um ein leeres Zentrum zu vertuschen. Schon das „Aber“ zwischen den Erwartungen „einiger“ – in Wahrheit: fast aller außer ihr – und der eigenen Handlungsverzögerung ist apokalyptisch. In diesem „Aber“ nistet Elend: Als wäre ihr überzeugungsschwach vollzogenes „Mitfühlen“ der Gegensatz zur Mitgefühlserwartung ihrer Kritiker. Nein, der wahre Gegensatz besteht zwischen Empathie und Empathieverweigerung, zwischen Verantwortung und Merkel. Es ist ein dreister Witz, „dass wir mit den Menschen leiden und fühlen“ (Merkel), wenn diese Menschen ein Jahr lang und letztlich noch immer als Störung im Betriebsablauf angesehen werden. Merkel zieht die Dinge den Menschen vor und schätzt an Menschen deren Dinghaftigkeit, weil Menschen den politischen Prozessen im Weg stehen. Wo Reibungslosigkeit das höchste Ziel ist, da stören Menschen, Überzeugungen, Prinzipien, diese drei, und alle drei sind in Merkels Prozessmaschine nur Zaungäste. Ihr fahles Bekenntnis, „wie sehr wir auch Dinge verbessern wollen“, mündete in die von Merkel referierte Erkenntnis des Opferbeauftragten Kurt Beck, „eine ganze Reihe von Dingen“ seien „unzureichend“, und „hier werden wir uns auch mit aller Kraft dafür einsetzen.“ Ist es dieselbe totale Kraft, mit der die Bundesregierung sich dafür einsetzen will, Gefährder abzuschieben und abgelehnte Asylbewerber außer Landes zu bringen? Die Toten vom Breitscheidplatz wären noch am Leben, hätten deutsche Behörden professionell gearbeitet. Dass „mit aller Kraft“ niemand dafür Verantwortung übernimmt, gibt Merkels heute bekräftigtem „Willen, das, was nicht gut gelaufen ist, besser zu machen“, seinen gallenbitteren Geschmack. Optimiert werden soll der Umgang mit den Opfern nach der Tat, weniger der Schutz vor dieser. Merkel gibt zu verstehen: Der Terror wird bleiben, guckt nicht so. Neue Fachstellen, Referate, Formulare werden die Opfer des nächsten islamistischen Anschlags rascher erfassen, besser betreuen. Irgendwo wird gewiss schon an Vordruck T – T wie Terroropfer – gearbeitet: Welche Körperteile haben Sie ganz, welche teilweise (bitte Grad beziffern) verloren? In welchem Naheverhältnis standen Sie zum Todesopfer? Möchten Sie religiös oder weltanschaulich neutral begleitet werden? Haben Sie eine Risikolebensversicherung abgeschlossen? Besitzen Sie Immobilien? Ist Ihr Sparerfreibetrag ausgeschöpft? Merkel sagte heute nach der kurzen Gedenkfeier auf dem Breitscheidplatz, sie werde „daran arbeiten, dass wir die Dinge, die nicht gut gelaufen sind, besser machen, dass wir alles Menschenmögliche tun, nicht nur die Sicherheit zu gewährleisten, sondern den Menschen, deren Leben zerstört (…) wurde, auch die Möglichkeit zu geben, möglichst gut wieder in das Leben hineinzukommen.“ Ein Jahr waren diese Menschen demnach im Zwischenreich zwischen Tod und Leben gefangen, was die Kanzlerin nicht kümmerte, ehe sie nun den Nachen vom Acheron ziehen will. Meint sie wirklich, sie finde da noch Menschen vor? Hofft sie weiter auf Dinge, die sie regulieren kann und nie ansprechen muss? Nach der Präsidiumssitzung gestern erklärte Merkel abschließend: „Dieses Leiden, diese völlige Veränderung des eigenen Lebens wird nicht gutzumachen sein. Und trotzdem zeigen wir Anteilnahme und werden auch da, wo Dinge verbessert werden müssen, sie verbessern.“ War das falsche „Aber“ zu Beginn ein Abgrund, so ist das falsche „Trotzdem“ am Schluss eine Kapitulation. Hier versagt eine Regierung in Person der Regierungschefin vor den Mindestanforderungen an Menschlichkeit. Das „Trotzdem“ macht das menschliche Maß zum Gnadenerweis. Es unterstellt, die Regierung ließe sich zu einer Handlung herab, die objektiv sinnlos sei; es macht die Revidierbarkeit des Gewesenen zur Bedingung von Anteilnahme. Das darf man schäbig nennen. Echt ist Anteilnahme da, wo sie weiß, dass sie bitter Vorgefallenes nicht mehr ändern kann. In Merkels Rede steht Anteilnahme unter Vorbehalt. Ob die Toten vom Breitscheidplatz Merkels Tote sind? Darüber wird gestritten. Dass die Hinterbliebenen vom Breitscheidplatz ihre Hinterbliebenen sind, wissen wir nun.
Alexander Kissler
Unsere Serie der meistgelesenen Texte 2017 endet, wie sie begann: Mit dem Anschlag auf den Berliner Breitscheidplatz. Bei der Gedenkveranstaltung ein Jahr später zeigte sich: Angela Merkel kann nicht reden, weil sie nichts zu sagen hat. Sie stellt Anteilnahme unter Vorbehalt
[ "Breitscheidplatz", "Angela Merkel", "Anschlag Berlin", "Weihnachtsmarkt", "Terror" ]
innenpolitik
2017-12-19T17:30:54+0100
2017-12-19T17:30:54+0100
https://www.cicero.de//innenpolitik/breitscheidplatz-angela-merkel-anschlag-Berlin-weihnachtsmarkt-terror
Corona-Chaos in Israel - Letzter Ausweg zweiter Lockdown
„Geht einen Kaffee trinken, auch ein Bier, habt Spaß“, riet Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu den Israelis, als er sie Ende Mai in die Freiheit entließ. Da hatte das Land gerade eine mehrwöchige Ausgangssperre hinter sich, die Zahl der täglichen Corona-Neuinfektionen lag im zweistelligen Bereich, und Analyseagenturen kürten Israel zum weltweiten Vorbild bei der Pandemiebekämpfung. Vier Monate später hat sich die Lage dramatisch verändert. Über 7.000 Israelis wurden zuletzt täglich positiv auf das Virus getestet – ein neuer Rekord. Der Neun-Millionen-Einwohner-Staat zählt nun zu den Ländern mit den höchsten Infektionsraten im Verhältnis zur Bevölkerung. Letzten Freitag begann ein zweiter Lockdown, dessen Bedingungen gerade noch einmal verschärft wurden: Die meisten Unternehmen müssen schließen und ihre Mitarbeiter ins Home Office schicken – oder in die Arbeitslosigkeit. Höchstens einen Kilometer dürfen die Menschen sich von ihrem Wohnsitz entfernen. „Das ist ein nationaler Notfall“, sagte Netanjahu gestern Nacht. „Wir befinden uns inmitten eines langanhaltenden Kriegs.“ Was ist da schiefgelaufen? Und was können andere Länder daraus lernen? Die meisten israelischen Experten sind sich einig, dass die Regierung die Einschränkungen nach dem ersten Lockdown zu schnell und planlos lockerte. „Der Ministerpräsident dachte, wenn die Raten runtergehen, dann kann man sich fast wie immer verhalten“, sagt Hagai Levine, Epidemiologe an der Hebräischen Universität in Jerusalem. „Aber das ist ein falsches Konzept.“ Levine gehört zum Expertenteam des staatlichen Corona-Beauftragten Ronni Gamzu. In einer Online-Konferenz am Donnerstag machte er seinem sichtbar angestauten Ärger Luft. „Die letzten Wochen haben deutlich gemacht, dass Entscheidungen auf Grundlage politischer und nicht professioneller Erwägungen getroffen werden“, klagte er. In der Phase vor dem jüngsten Lockdown hatte die Regierung sämtliche Städte in einem sogenannten Ampelsystem nach ihrer Infektionsrate eingeteilt, wobei den roten, sprich: am stärksten betroffenen Städten die strengsten Einschränkungen auferlegt wurden. Bei den meisten davon handelte es sich um mehrheitlich ultraorthodoxe oder arabische Städte – woraufhin die beiden ultraorthodoxen Parteien, die an der Regierung beteiligt sind, über Diskriminierung ihrer Klientel klagten. Manche Analysten vermuten, dass Netanjahu auch deshalb auf einen allgemeinen Lockdown drängte, um seine frommen Verbündeten nicht zu vergrätzen. Netanjahu indes schob in seinem Pressestatement am Donnerstag die Schuld an der Misere anderen zu: der disziplinlosen Bevölkerung, „populistischen Politikern“ der Opposition sowie „Experten“. Die nonchalante Art, mit der er seine eigene Rolle aussparte, veranlasste die TV-Journalistin Keren Marciano zu einem wütenden Kommentar: „Und wer war hier Regierungschef im letzten halben Jahr? Vielleicht hat auch er einen großen Anteil an diesem Scheitern?“ Der Clip wurde am Freitag vielfach auf Twitter geteilt. Nicht nur die Reporterin lassen Netanjahus rhetorische Ausweichmanöver unbeeindruckt. Lediglich 27 Prozent der Israelis haben noch Vertrauen in sein Pandemiemanagement, zeigt eine aktuelle Studie des Israel Democracy Institute, einem liberalen Think Tank. “Die wichtigsten Faktoren beim langfristigen Umgang mit einer Pandemie sind das Vertrauen der Öffentlichkeit, Solidarität und langfristige Planung“, sagt der Epidemiologe Levine. Seiner Einschätzung nach fehlt es in Israel an allen dreien. Viele Entscheidungen ließen sich schwer nachzuvollziehen: So mussten zwischenzeitlich „Fitnesscenter“ schließen, „Fitnessstudios“ aber nicht. Zudem verstießen Netanjahu sowie Staatspräsident Reuven Rivlin am Pessachfest im April gegen das Verbot, mit Verwandten zu feiern, die nicht im eigenen Haushalt leben. Rivlin entschuldigte sich. Netanjahu schwieg. Viele säkulare Israelis ärgern sich außerdem über Berichte, laut denen die Polizei Verstöße gegen die Covid-19-Bestimmungen in ultraorthodoxen Gemeinden oft nicht ahndet. Immer wieder finden Videos von Hochzeiten mit Hunderten maskenlosen Gästen ihren Weg in die sozialen Medien. „Die Ausnahmen, die ständig für Interessengruppen gemacht werden, ruinieren die Solidarität“, meint Levine. Der Ökonomie versetzt der neuerliche Lockdown einen weiteren schweren Schlag. Israels Statistikbüro schätzt, dass jede fünfte Firma die Krise nicht überleben wird. Dennoch ist aus der Wirtschaft kaum Protest zu hören. Anders als in den USA, wo manche Kommentatoren lautstark Rücksicht auf den Markt einfordern, spielt das Dilemma zwischen Wirtschaft und Gesundheit in der israelischen Debatte nur eine nachrangige Rolle. Manche begründen das mit dem jüdischen Gesetz des „Pikuach Nefesh“, der Rettung von Leben, die Vorrang vor allem anderen hat. In jedem Fall dient Israels Misere als abschreckendes und zugleich lehrreiches Beispiel dafür, was geschehen kann, wenn Regierung und Gesellschaft sich von sinkenden Infektionszahlen einlullen lassen. Und sie unterstreicht die Bedeutung stringenter Planung, transparenter und verständlicher Entscheidungen – und nicht zuletzt der Vorbildrolle der Verantwortlichen. Vergangene Woche kehrte Netanjahu mit seiner Entourage von einer Washington-Reise zurück. Normale Bürger hätten sich für zwei Wochen in die Heimquarantäne zurückziehen müssen. Für die Staatsvertreter wurde die Selbstisolation auf fünf Tage verkürzt. Doch selbst das war dem Netanjahu-Berater Topaz Luk offenbar zu lang: Am Sonntag wurde er auf der Straße in Jerusalem gefilmt – obwohl er seine Wohnung nicht hätte verlassen dürfen. „Plötzlich wachen alle auf wegen einer Person“, spottete Netanjahu, statt Luk zu rügen. Kurz darauf wurde ein weiterer seiner Berater beim Quarantänebruch im Supermarkt gesichtet. „Nur wenn wir zusammenstehen, nur wenn wir zusammen kämpfen, nur wenn wir uns gemeinsam an die Regeln halten – nur dann werden wir die Pandemie besiegen“, beschwor Netanjahu am Donnerstagabend die israelischen Bürger. Doch von der berühmten israelischen Solidarität im Krisenfall ist derzeit wenig zu spüren. Und daran haben die Manager dieser Krise keinen kleinen Anteil.
Mareike Enghusen
In Israel grassiert Corona so stark wie nie zuvor. Die Netanjahu-Regierung sieht sich zu einem zweiten Lockdown gezwungen und jeder fünften Firma soll die Pleite drohen. Das Vertrauen der Israelis in das Pandemiemanagament schwindet immer weiter. Was Deutschland daraus lernen kann.
[ "Corona", "Coronavirus", "Israel", "Benjamin Netanjahu", "Wirtschaft" ]
außenpolitik
2020-09-25T17:26:58+0200
2020-09-25T17:26:58+0200
https://www.cicero.de/aussenpolitik/corona-israel-lockdown-pandemie-benjamin-netanjahu
Russlands Strategie für die Sahelzone - „Ständiger und treuer Verbündeter“
Es steht ein Datum fest, an dem die Vereinigten Staaten ihre Militärstützpunkte in Niger vollständig aufgeben werden: Am 15. September sollen die amerikanischen Streitkräfte abziehen – zu einer Zeit, in der der Westen weiter an Boden gegenüber dem russischen Einfluss in der Sahelzone verliert. Während dies geschieht, zeichnet sich ein klareres Bild von Moskaus umfassenderer regionaler Strategie ab. Die Sahelzone ist seit langem eine Brutstätte des weltweiten Terrorismus. Ursprünglich wurde sie im sogenannten Globalen Krieg gegen den Terror als Bedrohung für Afrika und für die Sicherheit der USA und Europas identifiziert, weil sie das Potenzial hat, Extremismus zu nähren und Extremisten über legale Migrationskanäle nach Europa zu leiten. Es überrascht insofern nicht, dass Brüssel und Washington jeweils Hunderte von Millionen Dollar in der Sahelzone ausgegeben haben, wobei Niger einen beträchtlichen Teil der amerikanischen Ausbildung und Unterstützung erhält. Die Tatsache, dass Russland nun inmitten eines stagnierenden Krieges in der Ukraine Ressourcen und Personal nach Afrika entsendet, zeugt von der Bedeutung der Region. Dies erklärt, warum die USA im März Verhandlungen über den Verbleib in Niger aufgenommen haben. Während dieser Gespräche gaben US-Beamte an, dass sie der nigrischen Junta einen Weg zur Fortsetzung der Beziehungen aufzeigten, der einen geplanten Fahrplan für die Rückkehr zur Demokratie (den kein nigrischer Führer vorlegen konnte) und ein Überdenken ihrer Entscheidung, Yellowcake, ein Urankonzentratpulver, an den Iran zu liefern, beinhaltete. Die Gespräche waren offensichtlich erfolglos; Berichten zufolge hat die Junta bereits zugestimmt, den Verkauf von Hunderten von Tonnen dieser Substanz an den Iran voranzutreiben, auch wenn sie dies bestritten hat. Mitte Mai trafen sich Beamte aus den USA und dem Niger erneut, um in letzter Minute die Spannungen abzubauen und im Lande Fuß fassen zu können, doch auch diese Gespräche scheiterten, sodass die Frist für Washingtons Abreise abgelaufen ist. Die USA haben seither einen Großteil ihrer Unterstützung für Niger eingestellt. Obwohl einige in der Regierung erwartet hatten, dass die Lieferungen von Dingen wie Drohnen und Waffen weitergehen würden, sollte dies nicht überraschen. Washington stellt Ländern wie Niger zwar tonnenweise Material zur Verfügung, doch ist dies an Bedingungen geknüpft: Amerika neigt dazu, Regierungen, die durch Putsche an die Macht gekommen sind, keine militärische Unterstützung zu gewähren, und verlangt im Gegenzug in der Regel bestimmte Gespräche und ein gewisses Maß an Einfluss. Moskau hat keine solchen Vorbehalte. Es hat eine lange Tradition als Waffenlieferant in der Region und nutzt seine Beziehungen, um sich bei den Regimen beliebt zu machen. Russland hat der nigrischen Regierung bereits Flugabwehrsysteme sowie rund 100 russische Soldaten und Militärausbilder zur Verfügung gestellt, um die lokalen Kräfte im Kampf gegen den Terrorismus zu schulen. Die Tatsache, dass Russland Drohnen, Ausrüstung, Waffen und Munition ohne Einschränkungen zur Verfügung stellt, wird es weiterhin von Washington unterscheiden, wenn es mit Regierungen in ganz Afrika zu tun hat. Niger steht stellvertretend für die russische Strategie in Nord- und Westafrika, aber es ist nur eines von vielen Ländern, die der Kreml zu umwerben versucht. Sao Tome und Principe beispielsweise haben kürzlich ein Abkommen über militärische Zusammenarbeit mit Russland unterzeichnet, das militärische Ausbildung, logistische Unterstützung und „mögliche Kooperationen“ mit russischen Schiffen und Flugzeugen vorsieht. Der Präsident von Guinea-Bissau besuchte unlängst Moskau und erklärte, Russland sei ein „ständiger und treuer Verbündeter“. Guinea-Bissau hat seit November 2018 ein Militärabkommen mit Russland, aber es ist sehr wahrscheinlich, dass während der Reise des Präsidenten ein aktualisiertes Rahmenabkommen vorgeschlagen wurde, um die militärische Zusammenarbeit zu verstärken. Russland kündigte außerdem an, dass es eine Botschaft in Äquatorialguinea eröffnen wird. Die EU reagierte nur langsam, hat sich aber inzwischen sehr besorgt über die Entwicklungen geäußert. Warum ist Russland an diesem Teil Afrikas interessiert? Erstens ist Moskau seit seinem Einmarsch in die Ukraine im Februar 2022 auf der Suche nach befreundeten Regierungen, die es auf der internationalen Bühne unterstützen und ihm helfen, eine diplomatische und wirtschaftliche Isolation zu vermeiden. Viele Regierungen in ganz Afrika sind auf die Darstellung des Kremls eingegangen, der den Krieg als antiimperialen Konflikt darstellt. Die Ukraine hat sich gewehrt und Außenminister Dmytro Kuleba bei vier Besuchen seit Anfang 2022 in ein Dutzend afrikanischer Länder entsandt (von denen einige noch nie zuvor eine ukrainische Regierungsdelegation empfangen hatten). Kiew entwickelte auch eine auf Afrika ausgerichtete Kommunikationsstrategie, um der russischen Propaganda entgegenzuwirken. Zweitens baut Moskau einen Handelskorridor auf, um natürliche Ressourcen aus der Region nach Russland – und weg von Europa – zu leiten. Russland liefert Waffen und Militärausrüstung, während seine Paramilitärs die afrikanischen Militärs und die Bergbauunternehmen schützen. Im Gegenzug erlauben die afrikanischen Militärjuntas russischen Firmen, Gold, Öl, Diamanten und andere wertvolle Rohstoffe zu fördern. Von dort aus kann Russland die Rohstoffe nach Norden zu libyschen Häfen transportieren, wo sie auf Schiffe verladen und dann ins Ausland verkauft werden. (Dank seiner engen Partnerschaft mit Libyen ist Russland auch in der Lage, sein Erdgas als libysches Gas zu tarnen und nach Europa zu verkaufen, was die europäischen Bemühungen untergräbt, seine Abhängigkeit von russischer Energie zu beenden, und gleichzeitig die Kassen des Kremls füllt.) Sollte Niger Yellowcake an den Iran verkaufen, wie sowohl nigerianische als auch westliche Beamte behauptet haben, dann wäre der Korridor zum Mittelmeer eine ideale Route. Er ist auch eine hervorragende Wahl für Migranten, die Europa erreichen wollen – eine Reise, die Moskau und Weißrussland in den letzten Jahren nicht nur gebilligt, sondern erleichtert haben, um Zwietracht in der europäischen Politik und Gesellschaft zu säen. Schließlich, und das ist für die westlichen Interessen vielleicht am folgenreichsten, versucht Russland, seine Verbündeten vom Mittelmeer bis zum Atlantik zu vereinen. Seit langem strebt Russland nach Marinestützpunkten an den Küsten Afrikas (es hatte bereits ein Abkommen mit dem sudanesischen Staatschef Omar al-Bashir geschlossen, der 2019 durch einen Staatsstreich entmachtet wurde). Im Februar begann Moskau Berichten zufolge damit, das westafrikanische Land Togo zu umwerben, um seinen Sahel-Korridor bis zum Atlantischen Ozean zu erweitern. Andernorts in Westafrika hat der kürzlich in sein Amt eingeführte senegalesische Präsident den Antikolonialismus betont und damit Zweifel an der Zukunft der Beziehungen zwischen Dakar und Frankreich, seiner früheren Patronagemacht, geweckt. Er hat auch offen über eine Annäherung an die prorussische Allianz der Sahelstaaten (bestehend aus Burkina Faso, Mali und Niger) gesprochen. Für Russland würde ein atlantischer Marinestützpunkt einen sichereren Zugang zu den transatlantischen Handelsrouten bedeuten und seine Logistikkette zu seinen Verbündeten in der Sahelzone unterstützen. Im Mittelpunkt der russischen Afrika-Strategie steht derzeit Libyen, dessen rivalisierende Behörden beide gute Beziehungen zum Kreml vorweisen können. Lange Zeit kämpften Wagner-Söldner an der Seite der Truppen von General Khalifa Haftar im Osten des Landes, während russische Diplomaten Kontakt zur Regierung der Nationalen Einheit in Tripolis hielten. Neben den mehreren tausend ehemaligen Wagner-Söldnern, die sich bereits im Land aufhielten, schickt Russland seit Februar auch Berufssoldaten nach Libyen. Allein im vorigen Monat wurden 1800 Soldaten und mehrere hundert Spezialeinheiten entsandt. Seit April haben russische Fregatten mindestens fünf Mal militärische Ausrüstung nach Tobruk geliefert. Moskaus militärische Aufrüstung in Nordafrika stellt eine ernsthafte Bedrohung für Europa dar, aber es ist wahrscheinlicher, dass die russischen Streitkräfte in der gesamten Region eingesetzt werden, als dass sie in Libyen bleiben. Nach dem Rückzug aus Afghanistan sind die USA entschlossen, auch den Abzug aus Niger reibungslos zu gestalten. 100 US-Soldaten sind bereits abgezogen, aber etwa 1000 verbleiben dort vorerst. Sie werden eine teure Drohnenbasis zurücklassen, die den Regierungen der Sahelzone Informationen und Aufklärung für ihren Kampf gegen islamistische Aufständische lieferte. Washington ist jedoch nach wie vor davon überzeugt, dass es wichtig ist, islamistische Extremistennetzwerke in der gesamten Sahelzone zu überwachen und gegebenenfalls aktiv zu zerschlagen, und sucht daher weiterhin nach einem neuen Standort für seine Antiterroroperationen. In der Zwischenzeit hat Russland aktiv dafür gesorgt, dass dies keine leichte Aufgabe für die Vereinigten Staaten sein wird. Moskau baut nicht nur Verbindungen zwischen seinen afrikanischen Verbündeten auf, sondern versucht auch, weiter in die portugiesischsprachigen Länder vorzudringen. Auch die Zusammenarbeit mit dem neuen senegalesischen Präsidenten und anderen Ländern an der Atlantikküste, darunter Togo, hat Priorität. Durch die Bildung engerer Bündnisse in der gesamten Region wird Russland wirtschaftlich und politisch profitieren und gleichzeitig die Fähigkeit erlangen, die Nato auf neue Weise zu bedrohen. All dies wird Moskaus künftige Verhandlungsmacht stärken. In Kooperation mit
Ronan Wordsworth
Russland bildet derzeit enge Bündnisse in der gesamten Sahelregion und wird davon wirtschaftlich und politisch profitieren. Moskaus militärische Aufrüstung in Nordafrika stellt dabei eine ernsthafte Bedrohung für Europa dar.
[ "Russland", "Afrika" ]
außenpolitik
2024-05-31T13:10:43+0200
2024-05-31T13:10:43+0200
https://www.cicero.de//aussenpolitik/russlands-strategie-fur-die-sahelzone-standiger-und-treuer-verbundeter
Erster SARS-CoV-2-Fall in Berlin - Mein Leben in Quarantäne
Der Anruf am Sonntagabend kam unerwartet. Gegen 22 Uhr informierte uns das Gesundheitsamt Berlin-Mitte, dass unser Mitbewohner sich mit dem Corona-Virus infiziert hatte. Er war damit der erste Fall in der Hauptstadt Berlin. In der Folge wurden wir, seine Mitbewohner, für die kommenden vierzehn Tage unter Quarantäne gestellt. Zwei Tage zuvor hatte ich noch einen Artikel über das Krisenmanagement der Behörden geschrieben, jetzt war ich ihm plötzlich selbst unterworfen. Was war geschehen? Bereits am Samstagabend hatten wir unseren Mitbewohner ins Krankenhaus einliefern lassen. Er hatte auf drei Impfungen heftig reagiert. Wir hatten erste Hilfe geleistet und dann den Krankenwagen gerufen. Da er aber keine typischen Anzeichen einer Corona-Infektion aufwies und sich sein Zustand besserte, entließ man ihm am folgenden Tag auch schon wieder. Es ging ihm den Umständen entsprechend. Dem Amtsarzt, der uns dann an diesem Sonntagabend als erster anrief, lag alles daran, unsere Fragen ausführlich zu beantworten und konnte uns so beruhigen. Denn der Satz „Ihr Mitbewohner wurde positiv auf Corona getestet“ hatte uns – man ahnt es – erschrocken. Die letzten zwölf Stunden waren schon turbulent genug gewesen. Damit, dass unser Mitbewohner allerdings mit dem Virus infiziert war, das seit Wochen die Nachrichten beherrschte, hatten wir nicht gerechnet. Das Handy meiner Mitbewohnerin Elisa* klingelte in der Folge pausenlos. Es war nicht nur das Gesundheitsamt, das uns mit den wichtigsten Informationen zum weiteren Vorgehen versorgte. Bald hatten wir auch die Charité am Telefon. Wie mit diesem ersten Corona-Fall umgegangen werden würde, war entscheidend für alle weiteren Fälle in der Stadt. Dass diese nun auftreten könnten, war allen, den Mitarbeitern der Behörden, den Ärzten, aber auch uns klar. Die Behörden informierten uns in dieser Sonntagnacht über alles, was sie wussten. Wir dürften sie jederzeit kontaktieren. Erste Priorität sei nun Isolation, um die Infektionsketten kurz zu halten. Man betonte uns gegenüber aber, dass der Krankheitsverlauf in den allermeisten Fällen harmlos sei. Diese klare Kommunikation war in den ersten Stunden Gold wert. Elisa und ich erörterten dann in einer Art Krisensitzung auf dem Flur die Lage. Es ging jetzt vor allem darum, die direkten Kontakte sofort zu informieren. Eine Whatsapp-Gruppe mit dem verlockenden Namen „Corona-Verdacht“ war schnell erstellt. Wir fügten an die zwanzig Teilnehmer hinzu. Sofort kamen massenhaft Fragen, wir antworteten so gut es ging: Wer hatte zuletzt und wie eng Kontakt? War man jetzt infiziert? Musste man jetzt alle eigenen Kontakte informieren? (Anmerkung der Redaktion: Auch die Cicero-Redaktion wurde noch am gleichen Abend informiert. Da das Ansteckungsrisiko allerdings gegen null tendiert, mussten keine weiteren Vorsichtsmaßnahmen ergriffen werden.) %paywall% Alle Direktkontakte wurden dazu angehalten, zu Hause zu bleiben. Alle anderen, die nur Elisa oder mich getroffen hatten, informierten wir trotzdem. Es war aber eher eine überfürsorgliche Geste als eine tatsächliche Notwendigkeit. Denn diejenigen, die keinen direkten Kontakt zu unserem Mitbewohner hatten, mussten nicht unter Quarantäne gestellt werden. Beruhigt hat das zunächst allerdings niemanden, eher im Gegenteil. Das ist auch durchaus verständlich. Weniger verständlich aber waren die Reaktionen, nach unserer Benachrichtigung direkt einen Arzt oder die Notaufnahme aufsuchen zu wollen. Denn das ist ebenso kontraproduktiv wie die 112 anzurufen, weil man meint, es sei eine Info-Hotline. Wer Symptome aufweist, sollte zu Hause bleiben und telefonisch seinen Arzt kontaktieren, statt sich direkt ins Wartezimmer zu setzen und so möglicherweise andere anzustecken. Doch das ist alles leichter gesagt als getan, wenn einmal die Hysterie um sich greift. Ein paar Stunden später hielten drei Fahrzeuge von unserer Tür. Sanitäter, Mitarbeiter des Gesundheitsamts und der Charité erschienen in Schutzanzügen. Zu diesem Zeitpunkt fanden wir die Situation vor allem komisch und unwirklich. Vor unseren Fenstern eine Stadt mit 3,7 Millionen Einwohnern, die wir meiden müssen; unser Blick in die Welt für die kommenden vierzehn Tage. Unser Mitbewohner wurde aus der Wohnung begleitet. Anfassen durfte er, nachdem er über die Schwelle getreten war, nichts mehr. Man würde sich mit uns in Verbindung setzten. Ein paar aufmunternde Worte. Dann war die Tür zu. Tatsächlich dachten wir am wenigsten daran, dass auch wir infiziert sein könnten. Auch dass wir die nächsten zwei Wochen auf 80 Quadratmetern verbringen mussten, und dass dieser erste Berliner Fall durch die Medien gehen würde, überstieg unsere Vorstellungskraft. Doch unsere Telefone klingelten fortan ununterbrochen, auch am folgenden Tag. Rasend schnell hatte sich in unserem Freundes- und Bekanntenkreis herumgesprochen, dass wir unter Corona-Verdacht standen. Alle suchten nach Informationen und Ratschlägen. Wir waren jedoch nur bedingt hilfreich, denn die Situation war auch für uns neu und überraschend. In der Zwischenzeit hatte die Gesundheitssenatorin die Presse über den „Patient 0“ informiert. Die schien ab da kein anderes Thema mehr zu kennen. Es tauchten Videoaufnahmen von der Einlieferung unseres Mitbewohners auf, erste Gerüchte, wie er sich infiziert haben könnte. Gemeinsame Freunde wurden von ihrem Umfeld zu „persona non contacta“ erklärt, aus Angst man könne sich anstecken. Dieser hysterische Umgang mit der Situation wirkte auf uns absurd: Während uns ständig besorgte Freunde anriefen, lasen wir fassungslos die Pushnachrichten auf unseren Handys über die Türkei, die Flüchtlinge an die Grenzen zur EU transportierte und über Björn Höcke, der sich zur Ministerpräsidentenwahl in Thüringen aufstellen ließ. Und in Berlin brach wegen eines Virus Panik aus, dessen Krankheitsverlauf in den meisten Fällen mit einer Grippe vergleichbar ist. Die Angst vor dem Coronavirus war offensichtlich viel schlimmer als die Krankheit selbst. Dass Viele angenommen hatten, das Corona-Virus sei bis dato nicht in Berlin gewesen, war uns ebenso unbegreiflich. Was wir aus den Medien und den Kommentaren herauslasen, war zudem vor allem Sensationslust. Es schien, als hätten Einige nicht Angst vor der Erkrankung, sondern gierten nur nach Neuigkeiten – egal ob verlässlich oder nicht. Die Medien stürzten sich auf den Fall. Und wir bereuten, mehr Leuten als wirklich notwendig Bescheid gegeben zu haben. Wir standen zudem vor einem anderen Problem: Unser Kühlschrank war, bis auf eine Flasche Gin, leer. Alkohol löst bekanntlich vieles, nur leider nicht das Hungerproblem. Wir durften aber weder das Haus verlassen noch einen Supermarkt betreten. Für solche Fälle scheinen Lebensmittel-Lieferdienste erfunden worden zu sein. Wir füllten den Online-Warenkorb mit Lebensmitteln für zwei Wochen, nur um kurz darauf festzustellen, dass der nächste freie Liefertermin in frühestens sechs Tagen war. Wir kannten die Empfehlungen des Bundesamts für Bevölkerungsschutz, Notvorräte für zwei Wochen anzulegen, falls es Engpässe bei der Versorgung gibt. Die gab es aber nicht. Während wir nun allerdings tatsächlich einen Notvorrat gebraucht hätten, hatten andere schon mit ihren Hamsterkäufen für leere Regale in Supermärkten und in den Lagern der Großhändler gesorgt. Glücklicherweise hatten wir Freunde, die für uns einkauften und die vollen Tüten vor unserer Wohnungstür abstellten. Am späten Montagabend kam dann der Amtsarzt bei uns vorbei. Durch den engen Kontakt mit unserem Mitbewohner hielt er es für notwendig, uns auf eine mögliche Infektion zu testen, obwohl wir bis dato keine Symptome zeigten. Der Amtsarzt machte einen Rachenabstrich. Dann ging er so lautlos, wie er gekommen war. Er sah aus, als hätte er seit 48 Stunden nicht geschlafen. Auf die Ergebnisse des Tests warteten wir gelassen. So oder so würden wir für die restlichen zwölf Tage in der Wohnung bleiben müssen. Denn möglicherweise hatten wir uns das Virus zwar eingefangen, nur ausgebrochen und somit testbar war es noch nicht.    Am Dienstag konnten wir unser Umfeld beruhigen: Unsere Testergebnisse waren negativ. Das bedeutete, dass wir in den Tagen zuvor niemanden angesteckt haben konnten. Unter Quarantäne stehen wir weiterhin. Vielleicht wäre eine solche Isolation für alle hysterischen Zeitgenossen angebracht, um mal wieder klar denken zu können. Danach wüsste man wieder, was wirklich wichtig ist. *Name der Mitbewohnerin geändert
Rixa Rieß
Seit Sonntag steht die Wohngemeinschaft des ersten Corona-Falls in Berlin unter Quarantäne. Eine Mitbewohnerin ist unsere Hospitantin Rixa Rieß. Sie schreibt über die vergangenen Tage, in denen nicht das Virus, sondern das hysterische Verhalten der Menschen um sie herum am schlimmsten war.
[ "Coronavirus", "Virus", "Epidemie", "Quarantäne", "Berlin" ]
innenpolitik
2020-03-05T12:04:16+0100
2020-03-05T12:04:16+0100
https://www.cicero.de//innenpolitik/sars-cov2-coronavirus-quarantaene-isolation-berlin-erfahrungsbericht/plus
Wahl in Großbritannien - Last Brexmas
So sieht ein Sieger aus: Alexander Boris de Pfeffel Johnson trägt gerne am frühen Morgen Milch aus, er fährt gerne auf einem Traktor durch Ziegelwände und er reckt gerne beide Daumen wie ein kleines Kind, das Lob sucht, in die Kameras. Zumindest tat der britische Premierminister dies in den letzten Tagen vor den britischen Unterhauswahlen. Und es hat sich ausgezahlt. Conservatives set to win majority in #GE2019, according to exit poll for BBC, ITV and Sky Main story: https://t.co/fI5Bk9hnqp Live updates: https://t.co/oBFbC0MmwU#bbcelection pic.twitter.com/7kPpSGOe1j 650 Sitze im Unterhaus wurden am Donnerstag neu vergeben. Der strahlende Sieger: der 55jährige Boris Johnson, der rundliche Mann mit dem strohweißen Strubbelhaar, ist seit Juli 2019 Premierminister. Er bleibt es auch. Die Exitpolls gaben ihm Donnerstag Abend 368 Sitze und Labour nur 191. Der konservative Parteichef will bis 31. Januar aus der EU austreten und die Übergangsphase bereits im Dezember 2020 beenden. Egal, ob es bis dahin ein Wirtschaftsabkommen über die künftigen Beziehungen zwischen EU und Großbritannien gibt. „Eventuell aber gibt ihm die große Mehrheit eine freiere Hand, doch noch eine weichere Brexitpolitik zu verfolgen“, meint Simon Hix von der London School of Economics in einer ersten Reaktion. Der konservative Politiker, der einst als sozialliberaler Bürgermeister von London  mit dem Fahrrad ins Büro fuhr, hat sich mit dem Brexitprozess immer weiter ins rechte Lager bewegt. In diesem Herbst wilderte er im Revier der Brexit-Partei und deren Chef Nigel Farage – mit durchschlagendem Erfolg. Farages europhober Club ist nach ersten Ergebnissen ohne ein einzies Mandat geblieben. Boris Johnson hat ihn als furioser Träger des Brexit-Banners ersetzt. Die Strategie von Johnsons Spindoktor Dominic Cummings ist aufgegangen. Er hatte alles auf eine Karte gesetzt: „Get Brexit done“. Mit Freitag, dem 13. Dezember, ist der britische EU-Austritt endgültig fix. Johnson will am 19. Dezember die Queen’s Speech abhalten – Königin Elizabeth II. verliest dann im House of Lords die Regierungserklärung des neuen Johnson-Kabinetts. Darin fehlen werden moderate Konservative wie Philipp Hamond oder Amber Rudd. Am Liebsten möchte Johnson noch vor der Weihnachtspause seinen Brexit-Deal im Parlament mit seiner neuer Mehrheit abstimmen lassen. Unter Umständen zieht sich das Prozedere bis zum 24. Dezember hin. Wenn es klappt, dann steht den Briten BreXmas ins Haus. Vielen wird das nicht unrecht sein, die „Brexhaustion“ – die „Brexit-Erschöpfung“ ist wie die Herbstgrippe inzwischen eine Volkskrankheit geworden. Doch so groß der Jubel unter den Boris- und Brexit-Getreuen auch ist, vielen Kritikern graut vor der Zukunft. Boris Johnson, sagt man auf der Brexitinsel gerne, ist wie Marmite, der englische Hefe-Aufstrich. Entweder man liebt ihn. Oder man hasst ihn aus tiefsten Herzen. Der englischen Journalistin Jenni Russell graut in einem Kommentar in der New York Times davor, dass sich die Lügen des Premierministers bezahlt machen: „Die bisherige Annahme, dass Wahrheit zählt und dass Lügen dem Lügner zur Schande gereichen, ist obsolet geworden. Die Tories sind davon überzeugt, dass in einer unaufmerksamen, unzufriedenen und kakophonen Welt der überzeugendste Entertainer gewinnt. Fakten sind irrelevant, solange die Wähler denken, dass der Politiker auf ihrer Seite ist.“ Auch viele Labour-Wähler im de-industrialisierten Nordengland, die möglichst schnell den Brexit wollen, haben lieber den Konservativen gewählt als ihren eigenen Parteichef. Denn Jeremy Corbyn hatte ihnen etwas versprochen, das zu kompliziert geklungen hatte: Einen neuen, sanfteren Brexitdeal, den es noch mit Brüssel auszuhandeln gegeben hätte, über den dann bei einem Referendum abgestimmt werden sollte. Corbyn hatte nicht einmal sagen wollen, ob er dann für den Verbleib in der EU eingetreten wäre. Boris Johnson hat deshalb aus der roten Wand in Nordengland, wie es nach den ersten Ergebnissen zu vemruten ist, einige blaue Ziegel herausgebrochen. Außerdem konnte Johnson davon profitieren, dass sich die Brexit-Gegner nicht auf eine taktische Wahlallianz einigen konnten. Aus Labour wanderten viele Proeuropäer zu den Liberaldemokraten ab. In Südengland und in London dürften einige Bezirke, die bisher rot gewählt haben, nach den Exil Polls Labour deshalb verloren gegangen sein. Manche aber gingen nicht an die proeuropäischen Liberaldemokraten – sondern auch an die Tories. Denn im britischen Mehrheitswahlrecht gewinnt der Kandidat mit den meisten Stimmen. Labour und LibDems haben sich gegenseitig das Wasser abgegraben und so könnte in einigen Fällen ein Konservativer der lachende Dritte geworden sein. So groß der Triumph für den einen, umso bitterer die Niederlage für jenen Mann, der einst auch in Europa als die Hoffnung der Linken galt. Jeremy Corbyns Tage sind gezählt. Der 70jährige demokratische Sozialist hat ein radikales Programm vorgelegt, das vielen zu sehr nach den 1970er Jahren klang. Außerdem verspielte er mit seiner unklaren Haltung zum Brexit die Chance, sich als Oppositionsführer zum Brexit-Premier Boris Johnson zu positionieren. Der Streit um Antisemitismus innerhalb der Labour-Partei beschädigte Corbyn zusätzlich, da er als Parteichef nicht in der Lage war, rassistische antijüdische Attacken zu unterbinden. „Das Ergebnis ist extrem enttäuschend“, meinte John McDonnell in einem ersten Fernsehinterview. Corbyns engster Mitstreiter und Schattenfinanzminister fügte fast drohend hinzu: „Nach dem Endresultat werden wir Konsequenzen ziehen.“ Die Chefin der Liberaldemokraten, Jo Swinson, durchlitt bereits einen eher harten Wahlkampf und der Wahlausgang war für sie niederschmetternd, ihr wurden bei den Exit Polls nur 13 Mandate prophezeit. Sie muss um ihren eigenen Wahlkreis in Schottland fürchten. Und viele liberaldemokratischen Kandidaten, die 2019 aus der konservativen Partei und von Labour zu den LibDems gestoßen waren, haben sich offenbar nicht durchsetzen können. Einen Erfolg errang zumindest eine Politikerin: die schottische, proeuropäische Nationalistin Nicola Sturgeon. Sie verbesserte das Ergebnis von 2017 deutlich von 35 auf 55 Mandate – wenn die Exit Polls halten. Das heisst auch, dass Boris Johnsons einen Pyrrhussieg eingefahren haben könnte: Je härter sein Brexit wird, umso schneller werden die Schotten ein neues Unabhängigkeitsreferendum abhalten. Und dann könnte aus dem Traum vom unabhängigen, globalen Großbritannien ganz schnell Little Britain werden.
Tessa Szyszkowitz
Boris Johnson ist laut Exitpolls großer Sieger der Wahl in Großbritannien mit absoluter Mehrheit. Die Wähler bestätigen seinen harten Brexitkurs. Ende Januar 2020 könnte das Königreich nun die EU verlassen. Doch in Schottland gewinnen die Remainer der SNP
[ "Großbritannien", "Schottland", "Boris Johnson", "Brexit", "Nicola Sturgeon", "SNP", "Tories", "Labour" ]
außenpolitik
2019-12-12T23:44:25+0100
2019-12-12T23:44:25+0100
https://www.cicero.de//aussenpolitik/wahl-grossbritannien-boris-johnson-labour-schottland
Dealen in New York – Hipster kiffen Bio-Gras
Ein Samstagnachmittag in Brooklyn. Hier draußen sieht alles immer ein bisschen anders aus: Tätowierte und gepiercte Eltern defilieren mit ihren Kinderwagen auf und ab, wählerische, versnobte Hipster kaufen im inzwischen gentrifizierten Williamsburg ein, und es gibt praktisch mehr Hunde als Menschen. Selbst mitten in einer Rezession hat diese Gegend gegenüber von Manhattan noch allen Gelüsten und allen Geschmäckern etwas zu bieten. Das alte, von Graffiti und Wandgemälden übersäte Gebäude auf der anderen Straßenseite wurde abgerissen, damit an derselben Stelle eine Whole-Foods-Filiale gebaut werden kann. Hipster essen bio. Ich sehe Lily an, den Hund meiner besten Freundin, der sich neben mir zusammengerollt hat und mich mit seinem Fünf-Kilo-Körper wärmt, und frage mich, was in aller Welt uns wohl fehlen könnte. „Gras“, sagt Half-Pint, so der liebevolle Spitzname meiner gerade knapp anderthalb Meter großen Freundin. „Eine schöne, fette Tüte fehlt uns, aber ich fürchte, ich habe nichts mehr da!“ Normalerweise hat sie das Zeug in allen möglichen Ecken versteckt: in Schmuckschatullen, alten Tassen, im Tiefkühlfach, was weiß ich. Aber die Verstecke waren allesamt leer, und so tat sie das, was jeder anständige New Yorker tut, wenn die Vorräte zu Ende gehen: Sie griff zum Telefon und bestellte was. In New York kann man sich alles, aber auch wirklich alles nach Hause liefern lassen. Und der vielleicht zuverlässigste Lieferservice der Stadt, die niemals schläft, bringt (ironischerweise) ausgerechnet das, was sie braucht, um zu dösen: Marihuana. Innerhalb kürzester Zeit – thailändisches Essen hätte länger gedauert – steht Half-Pints Dealer vor der Tür, Bill. Er sieht aus, wie man in Williamsburg eben aussieht: Flanellhemd, hautenge Jeans, Springerstiefel, rechteckige Hornbrille. Half-Pint umarmt ihn, als wäre er ihr Held, und bittet ihn herein. Als er anfängt zu reden, bin ich mir ziemlich sicher, dass er schwul ist, aber das kann man hier nie so ganz genau wissen. Bill setzt sich zu mir auf das Sofa und öffnet seinen Rucksack voller Leckereien. Er breitet seine kleinen Plastikdosen auf dem Couchtisch aus, alle sorgfältig beschriftet. Dieser Typ meinte es wirklich ernst mit dem Gras. Und er kannte sich mit seiner Ware aus. „Du magst es doch normalerweise so mittelhigh, ohne Fressattacken, aber auch ohne das Gefühl, am liebsten in Ohnmacht zu fallen, oder? Das hier ist gerade reingekommen, von einer Farm in der Nähe, ausschließlich ökologischer und nachhaltiger Anbau, einfach großartig. Seht ihr diese lila Fasern hier?“ Wir nicken andächtig. „Das sind Mikrofasern, die der Pflanze neben einem unglaublich vollen Geschmack auch ihren Namen geben: Purple Kush. Wirklich sehr erdig und vollmundig, vor allem als Joint gerollt, aber auch köstlich in der Wasserpfeife.“ Ganz offensichtlich kannte er seine Kundin gut. „Wir hätten aber auch ein paar deiner anderen Favoriten auf Lager“, sagte er und zeigte auf die restlichen Dosen. „Diese Lieferung P. Louie ist besonders gut, schön dynamisches High mit einer Grapefruitnote, passt wunderbar zu einem guten Glas Rosé. AK-47 und Northern Lights #5 eignen sich für ein eher zweckmäßiges, albernes High, Sour Diesel hat einen herrlichen Apfelgeschmack. Beide machen sich hervorragend mit einem schönen Cocktail. Alles von Öko-Anbietern, und wir bewegen uns hier auch in derselben Preisklasse.“ Vollkommen baff angesichts der Auswahl und Fachkenntnis des Mannes sehe ich Half-Pint an, aber sie wirkt komplett unbeeindruckt. „Wir nehmen 15 Gramm vom ersten, Purple Kush! Du weißt halt immer, was ich mag, Bill.“ Bill holte seine tragbare Waage hervor, wog ab, und der Deal war perfekt. Noch ein bisschen Smalltalk, Bill zog weiter, und das Sofa gehörte wieder uns. Während sie redete, hatte Half-Pint geschickt und unauffällig einen Joint gedreht. Nachdem sie ein paar Mal daran gezogen hatte, reichte sie ihn mir herüber. Ich nahm einen Zug, inhalierte tief, hielt die Luft an und atmete langsam aus. „Diese Mikrofasern schmeckt man wirklich raus … ökologischer Anbau, keine Frage!“, sagte ich und beide brachen wir in Gelächter aus, ein so unbändiges Gelächter, dass uns die Bäuche wehtaten. „So, und jetzt bestellen wir uns eine Pizza!“
Der vielleicht zuverlässigste Lieferservice der Stadt, die niemals schläft, bringt das, was man braucht, um zu entspannen. Und selbstverständlich ist hier selbst das Marihuana ökologisch einwandfrei. Ein Bericht aus New York
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kultur
2011-12-20T15:45:47+0100
2011-12-20T15:45:47+0100
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Mehr als ein Tick - Leidenschaft Uhren sammeln
[[{"fid":"54850","view_mode":"full","type":"media","attributes":{"height":164,"width":120,"style":"width: 120px; height: 164px; margin: 5px; float: left;","class":"media-element file-full"}}]]Dieser Text erschien zunächst in der Printausgabe des Cicero (Mai). Wenn Sie das monatlich erscheinende Magazin für politische Kultur kennenlernen wollen, können Sie hier ein Probeabo bestellen. Uhren spielen in meinem Leben seit 1964 eine Rolle. Damals, als Schüler, träumte ich von einem echten, aber leider viel zu teuren Armbandchronografen. Zur Aufbesserung des Taschengelds verteilte ich freitags im Münchner Stadtteil Harlaching 800 Exemplare eines Anzeigenblatts. An Weihnachten gab es Trinkgeld. Mehr als 500 Deutsche Mark zählte ich am Ende des besagten Jahres – genug, um den neuen Heuer „Carrera“ mit dem wunderschön fein bearbeiteten Handaufzugskaliber Valjoux 72 zu erwerben. 311 Mark machten mich quasi über Nacht zu einer Art Star. Jeder in der Schule wollte die Drücker der Uhr bedienen und sehen, wie die Zeiger starteten, anhielten und wieder in die Senkrechte sprangen. Solcherart bestätigt, kaufte ich 1965 einen „Memovox“-Wecker von Jaeger-LeCoultre, im Jahr darauf eine Omega „Constellation“. 1970 hatte ich auf der Münchner „Auer Dult“, einem Traditions-Trödelmarkt, gleich dreifaches Glück. Ich entdeckte ein Trio aus Rolex „Prince“, Omega „Speedmaster“ und Angelus „Chronodato“, Gesamtpreis: 600 Mark. Bei drei guten Uhren, heißt es, beginnt eine ernsthafte Sammlung. Mir gehörten sechs, und ich wollte mehr. Mich faszinierte die technische Komplexität, die in dem kleinen Gehäuse Platz findet. Darüber hinaus waren Uhren für mich sympathische, weil dezente Statussymbole, anders als zum Beispiel Autos. [[nid:54759]] Allmählich verbreiteten sich die schwingenden Quarze an den Handgelenken. Bei Quarzuhren erfolgt die Zeitmessung durch einen elektronisch angeregten Schwingquarz, ohne die Räder im Laufwerk. Als James Bond 1973 in „Leben und sterben lassen“ das feuerrote Display einer Hamilton „Pulsar“ aufleuchten ließ, war auch ich zunächst angefixt. Doch mir wurde schnell klar, dass mich auf Dauer nur die mechanischen Modelle faszinieren können, ohne Batteriebetrieb und ohne jeglichen CO2-Ausstoß. Mechanische Uhren können Modelle mit Handaufzug sein oder Automatikfunktion, bei denen die Unruh, ein Bauteil des Uhrwerks, bestehend aus Unruhreif und Unruhspirale, als Energiequelle dient. Seit über 700 Jahren wird so die Zeit erfasst. Die elektronische Zeitmessung dagegen entwickelte sich erst in den Zwanzigern. Ich konzentrierte mich als Sammler auf die altehrwürdige Mechanik. Heute, als Uhrenjournalist, bestätigen mir immer wieder Experten, dass ich damit richtig lag, wie gerade wieder Stephen Urquhart, Direktor der Uhrenmanufaktur Omega: „Wir bekommen inzwischen viele Quarz-Armbanduhren aus den siebziger und achtziger Jahren zur Reparatur. Oft müssen wir passen, da es keine Teile mehr gibt. Mechanische Uhrwerke hingegen können wir immer instand setzen. Notfalls fertigen wir das defekte Teil eben an.“ Ähnlich verhält es sich bei anderen Traditionsmarken. Und genau das sollten sich potenzielle Sammler hinter die Ohren schreiben. Da die Quarzwelle in den Siebzigern das traditionelle Handwerk förmlich überrollte, blieben feine mechanische Armbanduhren in den Läden liegen. Offiziell zertifizierte Chronometer von Junghans oder Laco, Modelle mit Selbstaufzug, auch wunderbare Chronografen wanderten zu kräftig reduzierten Preisen über den Tresen. Breitling offerierte ausdrucksstarke Klassiker vom Schlag eines „Navitimer“ im Discounter für ein Drittel ihres offiziellen Ladenpreises. Als inzwischen Uhren-Süchtiger entdeckte ich auch die Flohmärkte. Hier ließ jedoch der Zustand teilweise sehr zu wünschen übrig. Heftige Gebrauchsspuren mahnen zur Vorsicht. Permanent führte ich Uhrmacherlupe und Gehäuseöffner mit. Armbanduhren bis in die Achtziger hinein besitzen nämlich in aller Regel keinen Sichtboden, durch den man ihr mechanisches Werk betrachten kann. Verständlicherweise war nicht jeder Händler begeistert, wenn ich ins Innere seiner Ware vordringen wollte. Gegenstände heißer Sammlerdiskussionen sind in diesem Kontext auch die Zifferblätter. Lässt man verblichene, oxidierte oder angekratzte Exemplare, wie sie sind, oder gibt man sie einem Spezialisten zum Erneuern? Mit dem Auffrischen, wie Fachleute sagen, geht die Patina verloren. Genau daran können sich Interessenten beim späteren Wiederverkauf stören. In diesem Sinne waren die Zifferblätter meiner Uhren absolut tabu. [[nid:54800]] Der wohlmeinende Rat meiner Lebensgefährtin und Freunde, die Finger von derart unnützem, kostspieligem Zeug zu lassen, störte einen Süchtigen wie mich nicht. In Proportion zu meiner Sammlung wuchsen meine Schulden. Freunde fuhren mit schicken neuen Autos ins Bade- oder Skiwochenende, ich mit einem ehemaligen Taxi, einem Diesel mit 55 Pferdestärken und 480 000 Kilometern auf dem Buckel dorthin, wo es eventuell Armbanduhren, aber auch Fachzeitschriften und Bücher zum Thema zu kaufen geben könnte. Einschlägige Literatur war damals nämlich rar. Eines Freitags im Jahr 1981 war ich in Augsburg. Wie es der Zufall wollte, öffnete exakt an diesem Nachmittag das zuvor jahrelang geschlossene Geschäft eines angesehenen Juweliers. Nach dem Eintreten traute ich meinen Augen kaum. In flachen schwarzen Schachteln lag, was mein Herz sehnlichst begehrte: mechanische Armbanduhren von Breitling, Ebel, IWC, Jaeger-LeCoultre, Omega, Longines oder auch Vacheron & Constantin. Meist aus den vierziger, fünfziger und frühen sechziger Jahren. Alle mit Original-Preisschildern aus ihrer Zeit versehen. Zur Eröffnung gab es darauf nochmals 30 Prozent Rabatt. Eine IWC mit dem legendären Kaliber 89 war für 40 Mark wohlfeil, eine IWC „Ingenieur“ mit Goldhaube für 250 Mark und ein Breitling „Duograph“ mit Schleppzeiger-Chronograf für 400 Mark. Zu allem Überfluss stand vieles doppelt und dreifach zur Verfügung. Dass ich anschließend überhaupt noch heil nach Hause kam, grenzt an ein Wunder. Im Auto verteilten sich über 50 mit Scheck bezahlte Armbanduhren. Stolz musste ich laufend darauf blicken. Meine Freundin und spätere Ehefrau hingegen war entsetzt, als sie abends vor das uhrenübersäte Bett trat. „Musste das wirklich sein? Du weißt doch um deine Finanzen.“ Flohmarkt-Sternstunden und andere Glücksgriffe ließen die Sammlung bis 1982, damals war ich 34 Jahre alt, auf über 800 Armbanduhren anwachsen. Mehr als 90 Prozent davon waren ungetragen. Besonders freute mich eine Kollektion rechteckiger Modelle aus den dreißiger Jahren, alle mit unterschiedlichen Gehäusen und feinen Formwerken von IWC, Jaeger-­LeCoultre, Movado, Longines und Urofa. Oder ein breites Spektrum an Uhren, welches gleichzeitig die Geschichte des automatischen Aufzugs, der Chronografen und der Armbandchronometer deutscher Provenienz abbildete. Inzwischen war ich schleichend vom Mitarbeiter eines wissenschaftlichen Instituts zum Uhren-Journalisten geworden. 1982/83 verfasste ich mit zwei Koautoren eines der weltweit ersten Bücher über Armbanduhren, meine Bibel. Die Tantiemen für das Buch gestatteten weitere Uhrenkäufe, die das Budget schließlich wieder kräftig überstiegen. Dann kam der Dämpfer: Weihnachten 1986, zwei Kleinkinder auf dem Schoß, bemängelte meine Frau mit trauriger Miene unsere wenig großzügige Wohnsituation. Als sich kurz darauf ein Reihenhaus in einem alten Münchner Stadtteil anbot, empfand ich dies als Chance, die kein Zögern erlaubte. [[nid:54759]] Viele Armbanduhren gehabt und in einem Buch verewigt zu haben, war wunderbar. Nun gab es andere Prioritäten. An Kaufinteressenten für meine Uhrensammlung mangelte es nicht. Bücher machen bekannt und schaffen Vertrauen. Der Ruf eilte bis nach Japan. Ein Sammler aus Tokio interessierte sich für die Modelle mit Selbstaufzug. Ein anderer Freak nahm die rechteckigen Armbanduhren mit. Auch viele Chronografen waren schnell weg, und schließlich hatte ich den Hauptteil verkauft – bis auf 150 Exemplare, von denen ich mich bis heute nicht trennen konnte.Ins neue Haus kam ein Tresor für den chronometrischen Wochenbedarf, der Rest wanderte konsequent in die Bank. Das war zwar umständlich, ließ mich aber ruhig schlafen. Versicherungen spielen bei häuslicher Verwahrung nämlich nur in begrenztem Umfang mit. Oder die Prämien sind schier unbezahlbar. Meine Frau gestand mir nun wieder feierlich zu, Geld für Uhren auszugeben. Doch das Weitersammeln gestaltete sich schwierig. Reize und Werte interessanter Sammlerarmbanduhren aus vergangenen Epochen hatten sich herumgesprochen. Die Preise kletterten und kletterten. 1983 bekam man eine IWC Fliegeruhr „Mark 11“ je nach Erhaltungszustand für 200 bis 300 Mark. Heute geht unter 2500 Euro kaum noch etwas. Ähnlich verhält es sich beispielsweise mit dem Omega Chronometer Kaliber 30T2 oder einem Kaliber 135 von Zenith. Die Nachfrage übersteigt das Angebot und diktiert damit den Preis.Ansichtssache ist und bleibt, welche Art von Armbanduhren man sammeln sollte. Marken, Material, Designs, Werke, Zusatzfunktionen, Epochen – die Möglichkeiten sind endlos. Spezialisierung bringt unbestreitbare Vorteile. Chronometrisches Kraut-und-Rüben-Sammeln besitzt aber auch seine Reize. Wer vieles sucht, wird womöglich leichter etwas finden. So ging es mir 2011 in San Telmo, Buenos Aires. Aus einem der vielen „Antiquitäten-Käfige“ strahlte das weiße Emaillezifferblatt eines 45 Millimeter großen Armband-Chronografen, signiert „Geneva Timing and Repeating Company“. 300 Dollar war die nach Aussagen des Verkäufers umgebaute Taschenuhr allein schon wegen des traumhaften Innenlebens wert. In meinen Augen hatte die heute völlig unbekannte Firma das stattliche Gerät allerdings schon Ende des 19. Jahrhunderts fürs Handgelenk gefertigt – eine Pioniertat. Ich behielt recht: Es handelte sich, wie sich herausstellte, um einen der frühesten Armband-Chronografen überhaupt. Dieser zeitschreibende Jumbo begleitet mich derzeit fast täglich. Nach fast 50 Sammlerjahren bereitet er mir heute ähnliche Freude wie der Heuer „Carrera“ von 1964.
Gisbert L. Brunner
Vom ersten Geld als Zeitungsjunge kaufte sich unser Autor eine Uhr mit wunderschönem Handaufzug. Dann war es um ihn geschehen. Geschichte einer Leidenschaft
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außenpolitik
2013-07-07T13:33:25+0200
2013-07-07T13:33:25+0200
https://www.cicero.de//stil/mehr-als-ein-tick-leidenschaft-uhren-sammeln/54947
Anti-Brexit- und Pro-Clinton-Aktivistin - „Es war die Überheblichkeit, die uns scheitern ließ“
Im Juli 2015 schloss ich mich der Kampagne „Democrats Abroad“ (Demokraten im Ausland) an, weil mir klar war, dass Hillary Clinton ins Rennen um die Präsidentschaft gehen würde. Von da an flog ich immer wieder in die USA, um mich in Clintons Kampagnen-Teams für die Vor- und die Präsidentschaftswahlen zu engagieren. Außerdem machte ich mit bei „Britain Stronger In Europe“ (Britannien stärker in Europa). Das war die Kampagne für das britische EU-Referendum, die für den Verbleib in der Europäischen Union warb. In den Vor-Ort-Teams dieser Kampagnen warben wir hunderte Freiwillige an und schickten sie an Haustüren, Telefone und zu hochkarätigen Events. Diese Freiwilligen gaben in tausenden Stunden Arbeit ihr Bestes, um die Botschaften der Kampagnen zu verbreiten. Aber wie sich herausstellen sollte, waren diese Botschaften schwammig und unausgewogen. Zugleich erlebten wir in den traditionellen und den sozialen Medien einen regelrechten Krieg. Ich schreibe diesen Artikel, weil ich erfuhr, wie die Leidenschaft und das Engagement der Freiwilligen ins Leere liefen. Das lag an fundamentalen Fehlern, die sowohl in der Clinton-, als auch in der Remain-Kampagne gemacht wurden. Der Kern einer Kampagnenbotschaft ist das Gefühl, dass sie durch ihren Namen und ihr Motto erzeugt. Ich kann nicht einmal sagen, was das Motto der Remain-Kampagne war. Unser Name war „Britain Stronger in Europe“, was erst einmal zu viele und dann noch nicht einmal die richtigen Worte waren. Was fehlte waren die Begriffe „wählen“ und „bleiben“. Welch ein Gegensatz zur Gegenkampagne „Vote Leave“. Mit nur zwei Worten sagt einem der Kampagnenname genau, was zu tun ist, nämlich für den Austritt zu stimmen. Die verquaste Remain-Kampagnenbotschaft kostete uns Stimmen. Ich glaube, wir waren uns unserer Sache zu sicher. Wir glaubten, dass das Motto keine Rolle spielen würde, da die Leute sowieso für unser Anliegen stimmen würden. Als das Datum des Referendums endlich feststand, ließ man das Vor-Ort-Team monatelang warten, bis wir neues Material bekamen, das dieses Datum enthielt. Erst sechs Wochen vor der Wahl wurde der Slogan zu „Wählt Bleiben am 23. Juni“ geändert, aber da war es schon zu spät. Wieder war sich die Kampagne viel zu sicher, dass die Wähler das Datum schon kennen würden, dass sie uns unterstützen, und dass sie wählen gehen würden. Es war diese Überheblichkeit, die uns scheitern ließ. Auch der Hillary Clintons Slogan „Stronger Together“ (Gemeinsam Stärker) konnte es nicht mit Donald Trumps „Make America Great Again“ aufnehmen. Die meisten Menschen kannten Clintons Motto nicht einmal. Sie wollte die Wähler mit einer strahlenden Vision von sozialer Einheit inspirieren, sprach aber weder die wirtschaftlichen Probleme noch die des Gesundheitssystems, der Einwanderung oder der Bildung an. Erneut ging man fest davon aus, dass sich die Wähler hinter Clinton stellen würden, auch ohne etwas über ihre genauen Absichten zu wissen. „Make America Great Again“ ist eine extrem wirkungsvolle Forderung. Es ist möglich, dass den Mitarbeitern der Trump-Kampagne anfangs selbst gar nicht klar war, was sie dort erdacht hatten. Die Wortwahl verbindet Aktion mit Zeit, genau wie „Vote Leave on June 23rd“. „Make America Great Again“ hat fast so viel Kraft wie „We Can Do It“ (Wir schaffen es), dem Slogan, der während des Zweiten Weltkriegs Frauen motivieren sollte, sich an den Kriegsanstrengungen zu beteiligen. Während der Kampagne erlebten wir zahllose Debatten, Reden und Demonstrationen, wir lasen hunderte Blogs, Nachrichten, Anzeigen und Tweets. Dabei fiel eines auf: Die Remain-Kampagne redete über Vote Leave und deren Lügen, während Vote Leave seine Lügen bewarb. Clinton redete über Trump, während Trump Trump bewarb. Jeden Tag rechnete ich damit, dass die Kampagnen-Planer ihren Fokus ändern würden, nicht mehr nur auf die Gegner schauen, sondern die gesellschaftliche Debatte auf ihre Seite ziehen. Dazu kam es nie. Clinton redete weiterhin darüber, wie gefährlich Trump sei. Sie schaffte es nicht, ihre eigenen Programme und Ideen zu kommunizieren, nicht einmal gegen Ende ihrer Kampagne. In Großbritannien hätte sich die Remain-Kampagne entscheiden müssen, welches ihre stärksten und wichtigsten Programmpunkte waren. Doch sie ließ sich von den Einwanderungsmythen ablenken, die Vote Leave verbreitete, anstatt sich auf die reformierte Beziehung Großbritanniens zur EU oder auf die Botschaft von 70 Jahren Frieden zu konzentrieren. Vote Leave und Trump hätten es leichter nicht haben können. Solange die Gegenseite abgelenkt und unfokussiert blieb, konnten sie die öffentliche Debatte bestimmen und Wähler auf ihre Seite bringen. Nach den Wahlen fragten sich viele Menschen, wie extremer Nationalismus, Rassismus, Frauenfeindlichkeit und Egoismus so stark zunehmen konnten. Ich denke, dass es eine einfache Antwort gibt: Es gab das alles immer schon, aber es hatte keine Stimme. Extremistische Gruppen hatten Anführer, aber keine Unterstützer in den Regierungen und keine Macht. Und weil die Toleranz gegenüber Minderheiten immer stärker gepflegt wurde, lernten die Menschen mit extremistischen Ansichten gleichzeitig, sich zu mäßigen. Leute wie Donald Trump und Nigel Farage schafften es, Extremismus zu legitimieren und ihm eine Stimme zu geben. Fremdenfeindlich eingestellte Menschen können nun für eine Person und eine Sache stimmen, an die sie glauben. Einen plötzlichen Anstieg von rassistischen Meinungen gibt es nicht. Das moralische Zentrum der Länder hat sich nicht verändert, wir sind dasselbe Volk, das wir vor sechs Monaten waren. Was sich verändert hat, ist, wer die lauteste Stimme hat. Weder die Remain- noch die Clinton-Kampagne hörten den Menschen zu. In der Remain-Kampagne wurde uns unentwegt versichert, dass alles gut würde, wenn wir nur dem Plan folgen würden. Wir vor Ort wussten es besser. Wir sehnten uns nach einer starken Botschaft der Mitte zur Einwanderung, eine Botschaft, die unsichere Wähler hätte überzeugen können. Selbst an einem so multikulturellen Ort wie West-London hatten die Menschen Fragen zur Immigration. Aber wir hatten keine wirkliche Antwort. Währenddessen machten die Datenspezialisten von Cambridge Analytica großzügig Gebrauch von Daten für ihre Werbung und Botschaften. In Kampagnen geht es fast nur um Kommunikation. Wenn die Aktivisten einer Kampagne den Wählern nicht zuhören, dann bestrafen die Wähler sie, indem sie wiederum der Kampagne nicht zuhören und ihr Kreuz woanders machen. Ich bin nach wie vor davon überzeugt, die richtigen Kampagnen und die richtigen Kandidaten unterstützt zu haben. Selbst als ich wusste, dass wir verlieren würden, hoffte ich immer noch, dass wir gewinnen könnten. Glaube ist mächtig und übertrumpft oftmals den Verstand. Die Wähler von Trump verfielen seiner Rhetorik, auch wenn sie später vor Kameras zugeben mussten, dass seine Behauptungen nicht wahr sein konnten. Die Leave-Wähler befürchteten, dass Einwanderer ihre Jobs wegnehmen. Sie wollten nicht wahrhaben, dass auch ein Mangel an Fähigkeiten oder die Abhängigkeit von Sozialhilfe für Arbeitslosigkeit verantwortlich sein können. Ich glaubte, dass unsere Wählerschaft sich gegen Instabilität und Extremismus entscheiden würde, obwohl ich wusste, dass unsere Kampagne dabei war zu verlieren. Glaube hilft den Menschen, das Unvernünftige vernünftig erscheinen zu lassen. Heute weiß ich, dass wir Besseres verdient haben. Ich möchte auch die Wähler zu dem Glauben inspirieren, dass sie Besseres verdient haben als das, was uns im Jahr 2017 blüht. Und ich möchte, dass weltoffene Menschen mit härteren Bandagen gegen ihre politischen Gegner kämpfen und diese nach ihren eigenen Spielregeln schlagen. Dieser Text erschien zuerst auf der Seite der pro-europäischen Organisation „United Europe“. Übersetzung aus dem Englischen: Constantin Wißmann.
Antoinette Hage
Antoinette Hage hat sich für die Remain-Kampagne in Großbritannien und für Hillary Clinton im US-Wahlkampf eingesetzt. Nach dem Brexit-Votum und dem Sieg Donald Trumps spricht sie von „fundamentalen Fehlern“, die in beiden Kampagnen gemacht worden seien
[ "Brexit", "Hillary Clinton", "Kampagne", "Wahlkampf" ]
außenpolitik
2017-02-02T13:01:08+0100
2017-02-02T13:01:08+0100
https://www.cicero.de//aussenpolitik/antibrexit-und-proclintonaktivistin-es-war-die-ueberheblichkeit-die-uns-scheitern-liess
Leitkultur ist... - „Dass sich zwei Männer auf der Straße ganz selbstverständlich küssen“
Das Thema Leitkultur erlebt eine Renaissance. Als Christdemokrat freut mich das, denn wir haben uns bereits 2007 in unserem Grundsatzprogramm klar zu einer für alle gültige Leitkultur bekannt – und den Anspruch formuliert, diese mit Leben zu füllen. Inzwischen haben auch andere Parteien eingesehen, dass das nichts mit Deutschtümelei zu tun hat, sondern die Grundlage für ein friedliches Zusammenleben ist. Die Debatte ist nun wichtiger denn je. Denn wenn mehr Menschen aus anderen Ländern zu uns kommen und bleiben, wird sich unser Land verändern. Diesen neuen Mitbürgern müssen wir erklären, welche Werte unsere Heimat prägen, wie das Zusammenleben hier funktioniert. Ich erwarte, dass sie sich diese Werte zueigen machen. Aus meiner Sicht ist das aber kein abgeschlossener Prozess; jede Generation muss für sich klären, welche Werte zur deutschen Leitkultur gehören. Die Bundesrepublik des Jahres 2015 ist eine andere als die des Jahres 1955 oder 1995. Und man muss nicht starr am Begriff „Leitkultur“ hängen – ich finde auch den Begriff „Leitbild“ gelungen, den junge Wissenschaftler aus Berlin vorgeschlagen haben. Nicht der Begriff ist wichtig, sondern was er meint. Basis unserer Leitkultur ist natürlich das Grundgesetz. Es gehört aber noch viel mehr dazu: Die Bereitschaft, sich ehrenamtlich in unserer Gesellschaft zu engagieren; die Idee, dass jeder, der fleißig ist und sich anstrengt, den Aufstieg schaffen kann; dass Religionsfreiheit heißt, die Religion wechseln zu dürfen; dass Gleichberechtigung bedeutet, dass Frauen zunehmend Führungspositionen übernehmen. Und Toleranz und Gleichstellung, dass sich zwei Männer auf der Straße ganz selbstverständlich küssen; dass Familien mit vielen Kindern Unterstützung von allen erfahren und nicht als asozial abgestempelt werden; aber auch das Bekenntnis zu Schwarz-Rot-Gold als Farben der Freiheit, der Stolz auf Deutschland, das Mitsingen unserer Nationalhymne – nicht nur beim Fußball, sondern gerne auch etwas lauter und fröhlicher an unserem Nationalfeiertag. All das steht so nicht im Grundgesetz, aber wäre aus meiner Sicht ein schöner und wichtiger Bestandteil einer neuen deutschen Leitkultur. Was Islamwissenschaftlerin Lamya Kaddor zur Leitkultur sagt, lesen Sie hier. Was Gesine Schwan zur Leitkultur sagt, lesen Sie hier. Mehr Beiträge zur Leitkultur (von Bernd Lucke bis Sahra Wagenknecht) finden Sie in der Dezemberausgabe des Cicero – ab morgen (19.11.) am Kiosk oder in unserem Online-Shop. Auch online möchten wir dieses Thema aufgreifen und rufen unsere Leser ausdrücklich dazu auf, mit Kommentaren und eigenen Beiträgen an der Diskussion über die deutsche Leitkultur teilzuhaben.
Peter Tauber
Seitdem jeden Tag Tausende Flüchtlinge nach Deutschland kommen, ist plötzlich wieder von Leitkultur die Rede. Aber brauchen wir so etwas überhaupt? Und wie soll eine deutsche „Leitkultur“ aussehen? In der Dezemberausgabe eröffnet Cicero die Debatte und lässt dazu viele prominente Persönlichkeiten zu Wort kommen. Online starten wir mit einem Beitrag von CDU-Generalsekretär Peter Tauber
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kultur
2015-11-18T15:05:19+0100
2015-11-18T15:05:19+0100
https://www.cicero.de//leitkultur-peter-tauber/60133
Verstoß gegen Parteiengesetz - Mehr als 400.000 Euro Strafe für AfD
Die AfD muss wegen illegaler Parteispenden eine Strafe von insgesamt 402 900 Euro zahlen. Das hat die Bundestagsverwaltung entschieden. Konkret geht es dabei um finanzielle Zuwendungen für den Bundesvorsitzenden Jörg Meuthen und das Bundesvorstandsmitglied Guido Reil. In den Landtagswahlkämpfen von 2016 und 2017 haben sie das Geld von der Schweizer Goal AG. Damit Sie sich selbst ein Bild machen können, stellen wir Ihnen hier den Wortlaut der Begründung der Bundestagsverwaltung für die Maßnahme dar: Vor den genannten Landtagswahlen hat die in der Schweiz ansässige PR-Agentur Goal AG zur Unterstützung des Wahlkampfes der damaligen Landtagskandidaten Professor  Dr. Jörg Meuthen, MdEP, und Guido Reil Wahlwerbemaßnahmen ausgeführt, die jeweils von Dritten finanziert worden sind. Der Wert der Wahlkampfunterstützung belief sich nach Angaben der Goal AG auf einen Betrag von 89.800 (Meuthen) beziehungsweise 44.500 Euro (Reil). Die Überprüfung der Vorgänge hat in beiden Fällen ergeben, dass es sich um Parteieinnahmen im Sinne von § 26 Absatz 1 Satz 2 Parteiengesetz (PartG) handelt. Danach gilt als Einnahme auch die "Übernahme von Veranstaltungen und Maßnahmen durch andere, mit denen ausdrücklich für eine Partei geworben wird". Da es sich um unentgeltlich gewährte geldwerte Zuwendungen gehandelt hat, waren diese zugleich als Parteispenden im Sinne von §§ 25, 27 Absatz 1 Satz 3 und 4 PartG zu werten. Im Verlaufe des Verwaltungsverfahrens hat sich bestätigt, dass diese geldwerten Zuwendungen von der AfD nicht hätten angenommen werden dürfen, da die Spender zum Zeitpunkt der Spendenannahme nicht feststellbar waren (§ 25 Absatz 2 Nummer 6 PartG). Aufgrund dieses Verstoßes gegen das Parteiengesetz entsteht gegen die AfD gemäß § 31c Satz 1 PartG ein Zahlungsanspruch in Höhe des Dreifachen der unzulässig angenommenen Spendenbeträge, somit in Höhe von 269.400 (Meuthen) beziehungsweise 133.500 Euro (Reil).Entsprechende Bescheide hat die Bundestagsverwaltung heute der Partei übermittelt. In der AfD ist inzwischen ein interner Streit darüber ausgebrochen, wie mit der Bezahlung der Strafe umgegangen werden soll. So fordert die Bayern-AfD, dass die Verantwortlichen Reil und Meuthen selbst für die Zahlungen aufkommen sollten und nicht die Partei.
Cicero-Redaktion
Die Bundestagsverwaltung bestraft die AfD wegen illegaler Parteispenden. Die finanziellen Zuwendungen für den Bundesvorsitzenden Jörg Meuthen und das Bundesvorstandsmitglied Guido Reil in Höhe von 89.800 und 44.500 Euro hätten diese nicht annehmen dürfen
[ "AfD", "Parteispenden" ]
innenpolitik
2019-04-16T16:50:32+0200
2019-04-16T16:50:32+0200
https://www.cicero.de//innenpolitik/afd-strafe-parteispenden-joerg-reil-joerg-meuthen-bundestag
Ausblick auf die Weltwirtschaft 2024 - Ein schwieriges Umfeld erfordert Kreativität
Vor fast einem Jahr haben wir mehrere Trends aufgezeigt, die die Weltwirtschaft in den kommenden Jahren bestimmen werden. Es handelte sich dabei um die Neuausrichtung von Handel und Wirtschaft, Stagflation, Volatilität und eine wahrscheinliche Verlangsamung im Technologiesektor. Diese Punkte sind auch 2024 noch aktuell. Aber das bevorstehende Jahr wird auch mehr Klarheit bringen, insbesondere wenn sich die neue Richtung und Dynamik der Handels- und Investitionsströme zu einer neuen Normalität entwickeln. Im Folgenden erörtere ich drei Themen, denen wir im kommenden Jahr besondere Aufmerksamkeit schenken werden. Anfang dieses Monats warnte Moody’s vor einer Herabstufung der Kreditwürdigkeit Chinas und verwies auf die wahrscheinlichen Kosten für die Rettung lokaler Regierungen und staatlicher Unternehmen sowie auf eine Immobilienkrise. Am nächsten Tag stufte die Rating-Agentur auch Hongkong und Macao sowie mehrere Banken herab. Moody’s erklärte, Chinas Gesetz zur nationalen Sicherheit aus dem Jahr 2020 und die Wahlreformen hätten die Autonomie Hongkongs beeinträchtigt, was Fragen zur Rechtsstaatlichkeit und zum Investorenschutz aufwerfe. Der Zufall wollte es, dass Moody’s Entscheidung nur wenige Tage vor dem Beginn des lang erwarteten Prozesses in Hongkong gegen den China-Kritiker und Medienmagnaten Jimmy Lai fiel, dem eine lebenslange Haftstrafe wegen des Vorwurfs der geheimen Zusammenarbeit mit ausländischen Mächten, vor allem den USA, droht. Außerdem plant Hongkong für das nächste Jahr eine Verschärfung seiner Spionageabwehrgesetze, die dem Festland möglicherweise noch mehr Kontrolle einräumen. Gleichzeitig verstärkt Peking jedoch seine Bemühungen, mehr Investitionen aus dem Ausland anzuziehen. Im November traf sich Präsident Xi Jinping (verbunden mit anderen freundlichen Gesten) zum ersten Mal seit einem Jahr wieder mit US-Präsident Joe Biden zu einem Gespräch. Außerdem hielt China zweimal im Jahrzehnt eine hochrangige Konferenz zur Überprüfung des Finanzsektors ab, die Central Financial Work Conference, die nach eigenen Angaben die Kernvision der Kommunistischen Partei Chinas für den Bankensektor unterstützt. Die Rolle des Finanzsektors, so die chinesische Führung, besteht darin, der eigentlichen Wirtschaft zu dienen, während die Regierung für die Aufrechterhaltung der Stabilität, die Kontrolle der Risiken und die Unterstützung der lokalen Innovation und Entwicklung verantwortlich ist. Dies war eine dramatische Veränderung gegenüber der Konferenz von 2017, bei der das Hauptaugenmerk auf der Bewältigung von Ungleichgewichten lag, die durch Schattenbanken, die Verschuldung lokaler Regierungen und durch die Immobilienblase entstanden waren. In dem Konferenzbericht wird auch Pekings langfristiges Engagement für eine schrittweise Öffnung der chinesischen Wirtschaft für ausländische Investitionen und privaten Wettbewerb hervorgehoben. Die Herausforderung besteht darin, herauszufinden, wie man von hier nach dort kommt. Die Pandemie, das „De-Risking“ der westlichen Lieferketten, die höheren Zinssätze in den USA und Europa und die fallenden Preise für chinesische Vermögenswerte haben China kurzfristig Liquiditätsprobleme beschert. Darüber hinaus scheint die chinesische Führung die Kontrolle über die Volkswirtschaft nicht zu verlieren, sondern zu verstärken. Gegen Ende des Jahres 2023 ist immer noch unklar, wie es mit China weitergeht, aber was auch immer es sein mag, es wird auf der ganzen Welt Widerhall finden. Wenn es China nicht gelingt, seine Wirtschaft zu liberalisieren oder sogar die Kontrolle weiter zu zentralisieren, wird Indien wahrscheinlich davon profitieren. Obwohl Indien als Investitionsziel nicht so attraktiv ist wie China, ist es das einzige Land, das Chinas Größenvorteil für ausländische Unternehmen, die ihre Produktion in andere Länder verlagern oder dort aufbauen wollen, am ehesten wiederholen kann. Neben seiner günstigen demografischen Situation profitiert Indien auch von seiner blockfreien Außenpolitik. Mit der Zeit könnte das Land zu einer globalen Wirtschaftsmacht werden. Kriege enden fast immer mit Verhandlungen, aber im Falle des Krieges zwischen Russland und der Ukraine werden die Gelegenheiten für die Staats- und Regierungschefs, sich im Jahr 2024 an einen Tisch zu setzen, rar gesät sein. Das Problem ist der Wahlkalender. In Russland finden im März Präsidentschaftswahlen statt, gefolgt von den Wahlen in den USA im November. Dazwischen wählen die Europäer im Juni das nächste Europäische Parlament, das eine neue Europäische Kommission ernennen wird. Auch in der Ukraine werden möglicherweise Präsidentschaftswahlen abgehalten; sie sind für Ende März angesetzt, obwohl die Regierung derzeit den Standpunkt vertritt, dass sie das Ende des Krieges abwarten sollte. Ein Wechsel an der Spitze Russlands ist äußerst unwahrscheinlich, und die nächste Regierung wird die Neuausrichtung der russischen Wirtschaft weg vom Westen fortsetzen und die Auswirkungen der westlichen Sanktionen dämpfen. In den USA sorgt die soziale Polarisierung für ein angespanntes politisches Umfeld, und die Wirtschaft bleibt das Hauptthema. Wenn es auf dem ukrainischen Schlachtfeld nicht zu einem wundersamen Durchbruch auf beiden Seiten kommt, würde die Regierung Biden ein ernsthaftes politisches Risiko eingehen, wenn sie ihre Reputation für die Beendigung des Krieges aufs Spiel setzt. Das könnte Sie auch interessieren: Angesichts der Aussicht auf einen noch längeren Krieg müssen die USA und Europa den Wiederaufbau ihrer Verteidigungsindustrie weiter vorantreiben. Russland, das schon viel früher auf eine Kriegswirtschaft umgestellt hat, hat einen großen Vorteil. Die westlichen Regierungen haben erst 2023 damit begonnen, ihre Militärausgaben ernsthaft zu erhöhen, aber die Preise und Zinssätze sind erst im Laufe des Jahres gestiegen. Außerdem sind die Politiker angesichts der bevorstehenden Wahlen nicht gewillt, die Steuern zu erhöhen, die Sozialausgaben zu kürzen oder von ihren Plänen zur Subventionierung der grünen Transformation, der Industrie und der Digitalisierung abzurücken. Die Haushaltszwänge der westlichen Regierungen werden gegen Ende 2024 immer deutlicher werden, zumal die Unterstützung der Ukraine mehr Ressourcen erfordert. Vor diesem Hintergrund werden die westlichen Regierungen das Geld aufbringen müssen, um den ukrainischen Staat zu erhalten und, wo möglich, dem Land beim Wiederaufbau zu helfen. Private Investoren investieren nicht gern in Kriegsgebieten, und Kiew braucht so viele Zuschüsse und zinsgünstige Darlehen wie möglich. Wie jedoch bereits abzusehen ist, wird die Wahlsaison die Ausgabenentscheidungen erschweren und wahrscheinlich verzögern, insbesondere in den Vereinigten Staaten. Die Hilfe, die der Westen aufbringen kann, wird wahrscheinlich dem Verteidigungsbedarf der Ukraine Vorrang einräumen müssen; der Wiederaufbau dürfte warten müssen. Die Wirtschaft der Ukraine hängt fast vollständig von westlicher Hilfe ab. Selbst für den Verkauf ihrer Waren im Ausland ist Kiew auf den Westen angewiesen, um den Transport zu erleichtern oder – im Falle des Schwarzen Meeres – Sicherheitsunterstützung zu leisten. Gleichzeitig nimmt die Unzufriedenheit der einfachen Ukrainer mit der Regierung und ihrer Kriegsführung beständig zu. Wann auch immer in der Ukraine wieder Wahlen stattfinden – man sicher sein, dass Russland alles versuchen wird, um das Ergebnis zu beeinflussen. Schließlich war ein Regimewechsel von Anfang an das Ziel des Kremls. Das dritte Problem besteht darin, dass die Beeinträchtigung der Sicherheitslage zu einer weiteren Unterbrechung der globalen Lieferketten führen könnte. Die letzten Monate des Jahres 2023 gehörten zu den brutalsten in der jüngeren israelischen und palästinensischen Geschichte. Der Angriff der Hamas am 7. Oktober hat Israel traumatisiert und sein Sicherheitsgefühl untergraben. Israels militärische Antwort im Gazastreifen war brutal. Die Unternehmen machen sich Sorgen, ob die Situation die weltweite Ölversorgung stören wird – was der Fall sein könnte, wenn der Konflikt den Iran oder andere Produzenten einbezieht. Dies war 2022 der Fall, nachdem Russland in die Ukraine einmarschiert war. In jenem Jahr veranlasste ein sprunghafter Anstieg der Inflation viele Länder zu einer raschen Anhebung der Zinssätze und schränkte ihre Möglichkeiten ein, mit einer expansiven Finanzpolitik die schwächelnde Wirtschaftstätigkeit zu bekämpfen. Und obwohl die Inflation seither weitgehend zurückgegangen ist, sind die Zinssätze nach wie vor hoch, und das Wachstum ist weiterhin schwach. Dies hat zu einer gewissen Widerstandsfähigkeit der Nachfrage geführt; höhere Energiepreise können durchaus zu höheren Lebensmittelpreisen führen, aber die entwickelteren Volkswirtschaften werden sich darauf einstellen. Angesichts der Wachstumsbeschränkungen Chinas und der Tatsache, dass das Land gute Beziehungen zu den USA aufrechterhalten muss (und umgekehrt), wird die Energienachfrage im Jahr 2024 wahrscheinlich steigen, was den Druck auf die Energiepreise erhöhen könnte. China und die USA scheinen sich geeinigt zu haben, wie der Besuch von Xi Jinping in den USA im Herbst dieses Jahres gezeigt hat. Das bedeutet jedoch nicht, dass Washington die Entkopplungs- oder De-Risking-Politik beenden wird, die es betrieben hat, um seine Abhängigkeit von globalen Lieferketten zu verringern. Die Zunahme globaler Konflikte wird diesen Trend zur De-Globalisierung noch beschleunigen. Höhere Versicherungskosten für die internationale Schifffahrt seit 2022, insbesondere in Kriegsgebieten, haben Länder und Unternehmen gleichermaßen gezwungen, den sicheren Handel dem freien Handel vorzuziehen. Reshoring, Nearshoring und „Friendshoring“ deuten allesamt auf einen Kompromiss zwischen Effizienz und Robustheit hin, wobei globale Lieferketten „just-in-time“ durch „just-in-case“-Vereinbarungen ersetzt werden. Dies wird sich auch auf die Arbeitskräfte auswirken; demografische Probleme in Europa, Japan und China werden das Angebot an Arbeitskräften zu einer Zeit verringern, in der Einwanderungsbeschränkungen die Arbeitskosten in die Höhe treiben. All dies sorgt für ein schwieriges Geschäftsumfeld, in dem sich die Unternehmen mehr oder weniger daran gewöhnt haben, spontane Anpassungen vorzunehmen. Auch wenn das Ende der Lebenshaltungskostenkrise die politischen Entscheidungsträger kurzfristig etwas entlasten wird, müssen sie kreativ sein, um die öffentlichen Finanzen zu sanieren und die Regierungen vor steigenden Kreditkosten zu schützen – und gleichzeitig versuchen, unpopuläre Sparmaßnahmen zu vermeiden. Die politische Unterstützung für eine gemäßigte, liberale Politik wird schwach bleiben, und die Wirtschaftspolitik wird isolierter werden, was zwar auf nationaler Ebene wirksam sein kann, aber die internationale Zusammenarbeit bei wichtigen klimatischen und technologischen Herausforderungen beeinträchtigen dürfte. In Kooperation mit
Antonia Colibasanu
Kriege, De-Risking, Friendshoring: Die geopolitischen Verwerfungen beeinträchtigen Volkswirtschaften auf der ganzen Welt. Und die Zunahme globaler Konflikte wird den Trend zur De-Globalisierung noch beschleunigen.
[ "Weltwirtschaft", "China" ]
wirtschaft
2023-12-22T11:13:39+0100
2023-12-22T11:13:39+0100
https://www.cicero.de//wirtschaft/ausblick-weltwirtschaft-2024-schwieriges-umfeld
Angela Merkel auf dem CDU-Bundesparteitag - Die gerupfte Glucke
Zwei Worte stehen steht jetzt gegen drei. Zwei Verben gegen einen kurzen Hauptsatz. Die Kritiker von Angela Merkels haben ihr ins Parteistammbuch geschrieben, dass man den Flüchtlingsstrom „spürbar verringern“ muss, weil das sonst Staat und Gesellschaft „überfordert“. Diese beiden Verben sind das konditionierte Gegenteil von Merkels Satz: „Wir schaffen das.“ Die allgemeine Sichtweise ist nun: Nichts als Schminke, weiße Salbe. Merkel hat ihre Gegner mit ein paar kümmerlichen Einschränkungen ruhiggestellt. Man kann das aber mit Fug und Recht anders sehen: Die Glucke der Nation, die Glucke der Partei hat in ihrem eigenen Nest Federn lassen müssen. Nur weil der Kampfbegriff „Obergrenze“ nicht auftaucht im verabschiedeten Leitantrag, heißt das nicht, dass sich Merkel durchgesetzt hat. Daran ändert auch der Umstand nichts, dass sie den Satz in ihrer Rede in Karlsruhe wiederholt hat. Die Parallele zu Helmut Kohls „blühenden Landschaften“ war kühn bis verwegen. Nein, den Beifall, den sie zu Beginn des Parteitags sichtlich genossen hat wie ein warmes Schaumbad, dieser Beifall war erkauft. Es war einerseits ein Beifall der Loyalität, denn die CDU streitet nicht gern, sondern schlägt lieber die Hacken zusammen. Und es war ein Beifall der Erleichterung. Wir haben sie doch ein Stück weit bewegt, unsere zuletzt etwas halsstarrige Vorsitzende. Die Auseinandersetzung um Merkels Flüchtlingspolitik war längst zu einer Frage der Ehre geworden. Nach all den Attacken vor allem des CSU-Vorsitzenden Horst Seehofer konnte Merkel gar nicht sagen: „Schtümmt. Ich hab mich getäuscht. Ich hab den Mund etwas voll genommen.“ Sie tut sich generell viel schwerer als ihr Vorgänger mit dem Eingeständnis von Irrtümern oder Fehlern. „Wir haben verstanden“, hat Gerhard Schröder immer gesagt, wenn sich erwies, dass seine Politik an der Wirklichkeit scheitert. Die Wirklichkeit wird auch die CDU und ihre Kanzlerin nach diesem Parteitag in Karlsruhe ereilen. So eine Messehalle ist immer ein herrlich hermetischer Raum, in dem man schön unter sich ist und eine Messe der Harmonie feiert. Aber der Strom der Flüchtlinge wird nicht abreißen, nur weil der Leitantrag der CDU das gerne so hätte. Sie kommen weiter und sie werden weiter kommen. Nach wie vor vor allem nach Deutschland, zumal Schweden, das andere große Aufnahmeland, seine Grenzen dicht gemacht hat. Deshalb ist es zwar schön für die Kanzlerin, dass sie ihre Partei kalmiert hat, ohne dabei das Gesicht zu verlieren. Aber ihre Kolleginnen und Kollegen in Europa sind nicht wie Klatschvieh auf einem Parteitag. Die Staats-und Regierungschef der Europäischen Union, beileibe nicht nur der Rechtsnationalist Viktor Orbán, zeigen der deutschen Kanzlerin die kalte Schulter, was die Verteilung der Flüchtlinge anlangt. Ein österreichischer Bundeskanzler als Verbündeter hilft Merkel da nicht viel weiter. Wenn es Angela Merkel nicht gelingt, einerseits den Strom nach Deutschland etwas zum Abklingen zu bringen, und wenn sie es nicht zugleich schafft, die europäischen Partner auf Kontingente zu verpflichten, dann bringt ihr das warme Schaumbad von Karlsruhe gar nichts außer ein kurzes Wohlgefühl.
Christoph Schwennicke
Der CDU-Bundesparteitag will die Flüchtlingszahlen „spürbar verringern“. Was einige als Merkels Erfolg interpretieren, weil sie eine Obergrenze verhindern konnte, ist tatsächlich eine Niederlage
[]
innenpolitik
2015-12-14T12:43:17+0100
2015-12-14T12:43:17+0100
https://www.cicero.de/innenpolitik/angela-merkel-auf-dem-cdu-bundesparteitag-die-gerupfte-glucke/60243
Martin Sonneborn - „Ich hatte nicht den Anspruch, in Brüssel politisch etwas zu erreichen“
Stimmengewirr, klirrende Gläser hört man am Telefon. Es ist früher Nachmittag, und man erreicht Martin Sonneborn in der MEP-Bar in Brüssel, der Bar für Mitglieder des Europäischen Parlaments. Er sagt, er komme oft hierher, um zu arbeiten. Einige Kollegen hätten schon Sekt im Glas. Er aber müsse das Parteiprogramm für den EU-Wahlkampf schreiben. Deshalb: Nur Kaffee. Herr Sonneborn, Sie sind vor fünf Jahren mit den Zielen ins Europa-Parlament eingezogen, einen Amazon-freien Mittwoch und eine Faulenquote einzuführen, sowie die abgeschaffte Gurkenkrümmungsverordnung wieder einzuführen. Konnten Sie eines der Ziele verwirklichen? Nein, absolut nicht. Als fraktionsloser Abgeordneter bin ich Abschaum im Parlament. Als solcher konnte ich nichts erreichen. Nicht mal kleine Parteien können hier etwas durchsetzen – Linke oder Grüne. Wir haben hier eine Groko haram aus Konservativen und noch Konservativeren. Aber eines habe ich doch geschafft. Was denn? Mit einem schmutzigen Geschäftsordnungstrick habe ich die wichtigste Datenschutz-Verordnung für Europa, die E-Privacy, über die parlamentarische Hürde gebracht. Dem Ausschuss, in dem darüber abgestimmt wurde, gehöre ich gar nicht an. Aber als Udo Voigt von der NDP gefehlt hat, habe ich einfach an seiner Stelle abgestimmt – und die eine, fehlende Stimme zur Mehrheit beigesteuert. Und das war ihr größter politischer Erfolg? Ja, ein Glücksfall. Ich hatte allerdings auch nicht den Anspruch, in Brüssel politisch etwas zu erreichen. Falls irgendwer Sie noch nicht kennt: Ihre Partei heißt zwar Die Partei, sie macht aber keine Politik, sondern Satire. War es ein Betriebsunfall, dass Sie im Parlament gelandet sind?  Ja, aber ich würde nicht unterschreiben, dass wir keine Politik machen. Wir betreiben Politik mit satirischen Mitteln – und eigentlich auch relativ erfolgreich. Die SPD liegt in Umfragen nur noch 12 oder 13 Prozent vor uns. Ist das EU-Parlament eine dankbare Fundgrube für Satire?  Ja, es ist unfassbar, was für skurrile Gestalten man hier trifft. Von polnischen Monarchisten, die das Frauenwahlrecht abschaffen wollen, bis zu ungarischen Antisemiten. Rechts von mir saß ein unrasierter Immobilienhändler von der AfD, links Marine Le Pe, ebenfalls unrasiert. Das ist natürlich interessant: Dass mal als Titanic-Redakteur ohne falschen Schnurrbart so nahe an solche Leute herankommt. Ich hab es mir zur Aufgabe gemacht, Öffentlichkeit zu schaffen für die unseriösen Seiten der EU. Wir können aber auch anders.  Seriös?  Mein Büro hat  vor kurzem eine Statistik erstellt, wie deutsche Abgeordnete seit dem Sommer 2018 über den umstrittenen Paragraphen 13 im Urheberrechtsgesetz abgestimmt haben, der den Einsatz von Upload-Filtern vorsieht. In Deutschland haben sich viele gefragt: Wer ist dafür eigentlich verantwortlich? Normalerweise veröffentlichen die Grünen diese Abstimmungsergebnisse, aber da vier ihrer Mitglieder mit Ja gestimmt haben, haben sie in diesem Fall verzichtet. Unsere Statistik ist im Internet auf großes Interesse gestoßen. Und als Reaktion darauf haben sich viele SPDler und einige Grüne umentschieden, denn auf einmal haben sie Anrufe von wütenden Wählern aus Deutschland erhalten. Was ist mit der berüchtigten Ordnungs- und Regelungswut der EU? Sie meinen das Schild auf den Toiletten, das Parlamentariern erklärt, wie sie sich in 40 Sekunden korrekt die Hände waschen? Das ist natürlich skurril. Aber wenn ich mich hier in dieser Bar so umgucke, ist doch einiges lockerer geworden. In einem gerade erschienenen Buch über ihr Leben als EU-Abgeordneter schreiben Sie, der Umfang der Abstimmungen sei gewaltig. Es komme vor, dass Sie in 40 Minuten 240 mal abstimmen müssten. Wie schaffen Sie es, sich in jedes Thema einzuarbeiten?  Gar nicht. Gemäß unseres Wahlversprechens  „Ja zu Europa, Nein zu Europa“ stimme ich abwechselnd mit Ja und Nein. Damit erwecken Sie den Eindruck, es sei egal, was ein einzelner Politiker tue. Nö, gar nicht. Ich würde sogar noch weiter gehen. Die CDU mokiert sich oft darüber, dass ich das Parlament damit lächerlich mache. Ich pflege dann zu antworten, dass es für Europa besser wäre, wenn auch die komplette CDU  abwechselnd mit Ja und Nein stimmen würde. Warum? Weil wir dann zumindest eine fünfzigprozentige Chance auf eine Abstimmung hätten, die sich zur Abwechslung mal am Wohl von Bürgern und Umwelt orientiert – und nicht ausschließlich an den Interessen von Wirtschaft, Finanzindustrie und Großspendern. Aber wenn es angeblich keinen Unterschied macht, ob Abgeordnete mit Ja oder Nein stimmt, warum werden sie dann von Lobbyisten umgarnt? Wenn Sie genug einzelne Abgeordnete auf ihre Seite ziehen, gibt es eine Mehrheit. Für die EU ist das ein bequemes Lobbyieren. Normalerweise ist es so, dass man die CDU auf seiner Seite haben muss. Dann kann man in Europa alles durchsetzen. Wir Deutschen geben hier den Takt an. Wir besetzen drei der höchsten Verwaltungsstellen in der EU, und fast alle großen Fraktionen werden von Deutschen geführt. Man sagt, Brüssel sei wie Bonn mit Nachtleben. Das stimmt. Alle hängen hier zusammen in einer deutschen Blase. Es gibt ein eingespieltes Team aus Politik, EU-Beamtentum und Journalismus. Wer Ihr Buch liest, hat den Eindruck: Das Parlament ist eine kafkaeske Behörde, die ganz weit von den Bedürfnissen der Bürger ist, aber in ihr Leben eingreift. Nähren Sie damit nicht genau die Politikverdrossenheit, die jetzt den Rechtspopulisten in die Hände spielt?  Aber soll ich eine berechtigte Kritik nur deshalb nicht formulieren, weil sie irgendein Schwachkopf aus der AfD teilt? Natürlich muss man Kritik an der EU üben. Ich habe bei der Titanic und in der heute-show gelernt, hinter die Kulissen zu schauen und Kritik an Dingen zu üben, die falsch laufen. Das tue ich jetzt auch. Kritisieren um des Kritisierens wegen? Nein, diese Kritik erfüllt keinen Selbstzweck. Sie ist Notwehr. Ich möchte, dass sich Dinge verbessern. Ich stehe nicht auf dem Standpunkt der AfD, dass die Europäische Union abgeschafft werden muss. Mein Résumé nach diesen viereinhalb Jahren ist, dass das Konstrukt EU sehr wohl funktioniert – dass es aber mit den falschen Leuten besetzt ist. Wir haben einen konservativen Rat, eine konservativ besetzte EU-Kommission und ein konservativ dominiertes Parlament. Wenn die EU linker, grüner und sozialdemokratischer wäre, könnten wir ein ganz anderes Europa haben. Was für eins? Eines, das nicht seit 20 Jahren in den Eurostat-Berichten eine konstante Armutsquote von über 20 Prozent aufweist. Eines, in der Parlamentspräsident Jean-Claude Juncker nicht vorschlägt, die Armutsquote zu senken, indem man einfach die Berechnungsgrundlage ändert. Eine EU, die nicht wie derzeit wie bekloppt aufrüstet, obwohl der Vertrag von Lissabon das untersagt. Ein Parteienforscher hat über Sie geschrieben, Sonneborn verweigere im Grunde jede Mitarbeit und bringe seine Geringschätzung des Parlament zum Ausdruck. Außerdem koste er den Steuerzahler jedes Jahr 160.000 Euro. Lässt Sie die Kritik kalt?  Ja, ich weiß. Dieses Gutachten stammt von der Konrad-Adenauer-Stiftung und wurde im Auftrag der CDU geschrieben. Diese Stiftungen sind ja auch unfassbare Geldmaschinen. 600 Millionen Euro im Jahr verleiben sich die Parteien über diese Stiftungen ein. Aber was sagen Sie zu der Kritik? Lässt Sie das kalt?  Ich habe damals darauf geantwortet, die EU kostet 135 Milliarden Euro im Jahr – und die eine Milliarde, die ich mir einstecke, fällt da nicht ins Gewicht. Aber die eigene Überflüssigkeit mit der Ineffektivität der EU zu vergleichen, macht es doch auch nicht besser.   Warum Überflüssigkeit? Die CDU hat sich einfach geärgert, dass die großen Parteien in Zeiten sinkender Wahlergebnisse sieben Mandate an kleine Parteien verloren haben. Aber ich bekomme sehr viel Feedback von Leuten, die sagen, sie hätten in den vergangenen viereinhalb Jahren durch mich mehr über die EU gesehen und gelesen als in den 12 Jahren davor. Ich glaube, dass viele Leute sehr daran interessiert sind, was hier passiert. Aber Sie nehmen jemanden den Sitz weg, der vielleicht ein echtes politisches Anliegen hat. Ist das nicht un-demokratisch?  Im Gegenteil. Erstens habe ich natürlich politische Botschaften. Ich versehe sie nur mit einem Witz, damit sie besser viral gehen. Die Zeiten sind zu ernst, um keine Satire zu machen. Und zweitens ist das sehr demokratisch. Es haben 184.709 Wähler dafür gestimmt, dass ich nach Brüssel gehe. Der Zuspruch wächst. 2014 haben wir 0,6 Prozent der Stimmen erreicht, jetzt liegen wir nach einer Umfrage von Insa bei zwei Prozent. Sie treten bei der Europawahl im Mai noch einmal an? Ja, und ich hoffe, dass wir zwei Mandate erzielen und mein Kollege Nico Semsrott mit ins Parlament kommt. Nährt sich der Zuspruch aus Protest gegen die Altparteien? Bestimmt. Wir gelten als intelligente Protestmöglichkeit, und den besten Wahlkampf für uns machen auch jetzt wieder CDU, SPD, FDP und andere Parteien. Aber Ihre Wähler erwarten doch nur Klamauk.  Nein, den Eindruck habe ich nicht. Ich glaube, dass sich die jüngeren Wähler politisieren über unsere lustigen Plakate oder unsere lustigen Reden im Parlament. Wie viele Menschen erreichen Sie mit Ihren YouTube-Clips? Die einminütige Gegenrede zu Erdogan in der Türkei-Debatte, die ich im EU-Parlament gehalten habe, hat 2016 über fünf Millionen Abrufe auf verschiedenen Portalen gehabt. Wenn man das vergleicht mit Reden meines Freundes Elmar Brok (CDU) oder Herbert Reul (CDU), die haben auch gerne mal 35 Abrufe, wenn es gut läuft. Oder nehmen Sie meine Rede mit meiner Forderung, Irland aus der EU zu schmeißen, weil die Firma Apple dort einen Spitzensteuersatz von 0,005 Prozent hat. Das hat sich summiert auf 12 Millionen Euro, aber Irland wollte diese Summe nicht eintreiben, um Apple nicht zu verdrießen. Was sind die Vorzüge Ihres Jobs als EU-Abgeordneter – außer dem Bruttogehalt von 8.400 Euro? Ich habe gerade eine Klasse von Abiturienten zu Besuch gehabt, denen habe ich erklärt: Ich teste das bedingungslose Grundeinkommen in erheblicher Höhe – und das seit viereinhalb Jahren. Ich habe bisher absolut keinen Nachteil entdecken können. Der Job ist gut. Man ist nur seinem Gewissen verpflichtet. Man kann kommen und gehen, wie man will? Selbstverständlich. Es gibt übrigens gerade unter den kleinen Parteien viele Abgeordnete, die sehr engagiert haben, gerade auch unter den kleinen Parteien. Nehmen Sie Julia Reda von den Piraten. Das ist eine besten Abgeordneten, die wir jemals im Parlament hatten. Aber sie läuft hier gegen eine Wand aus dicken, alten, konservativen, weißen Männern ... ... die gelegentlich mitten in der Sitzung einschlafen – wie Ihr Erzfeind, der CDU-Abgeordnete Elmar Brok. Sie haben ihn dabei fotografiert und das Bild ins Internet gestellt. Welche Botschaft wollten Sie damit senden?  Dass Elmar Brok auf der Bühne eingeschlafen ist. Der Mann ist mir extrem unangenehm. Er hält sich für den wichtigsten deutschen Parlamentarier – und viele glauben ihm das. Er sitzt seit fast 40 Jahren im Europa-Parlament und hat viel verbockt. Er hat die Ukraine-Krise von der europäischen Seite her zu verantworten. Was mich aber am meisten ärgert, ist, dass er über zehn Jahre lang hochbezahlter Manager des Bertelsmann-Konzerns war – während er hier hier im Parlament saß. Das ist absolut irre. Der Staatsrechtler Hans Herbert von Arnim bezeichnet das als „legale Korruption“. Neulich musste er sich den Vorwurf gefallen lassen, er hätte seine Parlamentsbesucher abgezockt und sich zusätzlich die Pauschale in die eigene Tasche gesteckt, die das Parlament eigentlich für Besucher zahlt.  Ich glaube nicht, dass er sich persönlich bereichert hat. Es wäre aber nicht schwierig. Ich habe mich gestern in eine seiner Besuchergruppen gemogelt. Das ist relativ scheintotes Publikum, das ihn besucht. Dem kann man bestimmt auch mehr als 150 Euro abknöpfen oder Heizdecken verkaufen. Martin Sonneborn, Herr Sonneborn geht nach Brüssel. Abenteuer im Europaparlament. Kiepenheuer & Witsch, 18 Euro
Antje Hildebrandt
Seit 2014 sitzt der Satiriker Martin Sonneborn als Vorsitzender der Spaßpartei Die Partei im EU-Parlament. Jetzt kämpft er um seinen Wiedereinzug, um weitere Mandate und gegen Kritik, er mache bloß Quatsch auf Kosten der Steuerzahler. Aber unterscheidet ihn das von anderen Abgeordneten?
[ "Martin Sonneborn", "EU", "Parlament", "Die Partei" ]
außenpolitik
2019-04-02T12:01:22+0200
2019-04-02T12:01:22+0200
https://www.cicero.de/aussenpolitik/martin-sonneborn-eu-parlament-die-partei-elmar-brok
Schwarzer Freitag der Regierung - Die Chaos-Kanzlerin
Zunächst sah am Freitagabend alles so aus: Nach genau neun Wochen konnte Angela Merkel die Folgen des schlimmsten Fehlers ihrer Amtszeit nicht mehr länger mit Durchhalteparolen aussitzen. Einen Tag nach dem großen Koalitionskompromiss zur Flüchtlingsfrage, nach einem teilweise grotesken Gezerre um Transitzonen und Einreisezentren huschte die Katze aus dem Sack. Ein Jahr dürfen syrische Flüchtlinge noch bleiben, genießen nicht mehr primären, sondern subsidiären Schutz. Und sie dürfen keine Familienmitglieder mehr nachholen. So sagte es Innenminister Thomas de Maizière am Rande einer Reise nach Albanien. Klipp und klar ohne Wenn und Aber. Diese Maßnahme, nicht von ihr persönlich verkündet, sondern einfach sickern gelassen, wäre das Gegen-Selfie. Es wäre das Gegensignal zu den netten selbstgemachten Fotos, die Merkel von sich und Flüchtlingen hat machen lassen, und die via Smartphone in die Flüchtlingslager in der Türkei und im Libanon gingen und die Leute in Marsch versetzten. Die Meldung jetzt soll sie aufhalten: es lohnt sich nicht, für ein Jahr den beschwerlichen Weg auf sich zu nehmen, zumal, wenn keiner nachkommen darf. Das ist die Botschaft. Merkels Kehrtwende also? Die verdruckst kommunizierte Kehrtwende sah zunächst aus wie ein Offenbarungseid der Kanzlerin. Spät und in der Form etwas erbärmlich. Souverän wäre gewesen, selbst vor die Kameras zu treten und zu erklären, dass sie sich getäuscht hat und dass das jetzt sein muss. Die Größe hatte sie leider nicht. Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass die Bombe in der Flüchtlingspolitik an dem Tag platzt, an dem Merkel vor einen Untersuchungsausschuss treten und die Vorwürfe abwehren muss, dass ihre abrupte Energiewende unrechtens war und der Bund deshalb 235 Millionen Euro Schadenersatz an den Betreiber des vormaligen Kernkraftwerks Biblis zahlen müsse. Sie hat die rechtliche Verantwortung in ihrer Anhörung als Zeugin den Ländern zugewiesen. Das Muster ist durchaus ähnlich in der Energiewende und der Flüchtlingspolitik: Merkel schlägt politische Kapriolen, die Folgen tragen die Länder und im Falle der Flüchtlinge die Kommunen. Das ist das Gegenteil von Regierungskunst. Das ist schlechte Politik. Und schlechter Stil obendrein. Dann am späten Freitagabend die hektische Wende von der Wende. Alles nicht so gemeint. Es bleibt alles beim alten, twittert Regierungssprecher Steffen Seibert. De Maizière landet wieder in Berlin und muss seine Worte von Tirana fressen. Die SPD tobt und bebt. Die wahrscheinlichste Erklärung für diesen schwarzen Freitag der Regierung, wenn man mal ausschließt, dass Thomas de Maizière nicht im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte ist: ER hat das ausgeplaudert, was klammheimlich vollzogen werden sollte. Denn nur so kann sich das Ganze einigermaßen erklären. Merkel wollte die Schotten still und leise dicht machen. Einfach im Vollzug. Und de Maizière hat diese Vorgehensweise mit seiner Geradlinigkeit durchkreuzt. Die SPD veranstaltet im Nachgang pflichtschuldig Theaterdonner. Ganz egal, ob der Innenminister jetzt noch zu halten ist, zumal er ohnehin eine Schleppe an Fehlern hinter sich herzieht und in der Flüchtlingskrise überfordert wirkt: Was sich an diesem Freitag abgespielt hat, ist nicht nur schlechte Politik und schlechter Stil. Das ist pures Chaos in der zentralen Chefsache der Kanzlerin. Und kein Bauernopfer könnte das kaschieren. Dieser Text wurde den Ereignissen angepasst und aktualisiert. Die erste Fassung ging davon aus, dass Thomas de Maizière im Auftrag der Kanzlerin gehandelt hat, dass sie über ihren Innenminister die Kehrtwende in der Flüchtlingskrise verkünden ließ. De Maizières Vorstoß war offenbar weder mit dem Kanzleramt noch innerhalb der Großen Koalition abgesprochen.
Christoph Schwennicke
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[]
innenpolitik
2015-11-06T19:06:47+0100
2015-11-06T19:06:47+0100
https://www.cicero.de//innenpolitik/schwarze-freitag-der-regierung-merkel/60079
Sport und Ideologie - Die politische Vorzeigetruppe
„Der Mensch spielt nur“, schrieb einst der gute Schiller, „wo er in voller Bedeutung Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch wo er spielt“. Das war eingängig formuliert und überaus human gedacht, weil es das Menschensein befreit von Sachzwängen, Nützlichkeitserwägungen und puritanischer Lustfeindlichkeit. Gerade das scheinbar Sinnlose ist sinnvoll und menschlich, eben weil es sinnlos ist. Klingt prima. Hat aber (mindestens) einen Haken: Eben weil Spiel und Sport sinnfrei sind, lässt sich ihnen umso leichter ein Sinn überstülpen. Deshalb sind sie so leicht ideologisierbar. Die Fußball-EM demonstriert das mal wieder auf das Peinlichste – der Deutschen Fußballbund vornweg. Spätestens seit dem „Sommermärchen“ 2006 präsentiert sich die DFB-Auswahl als zeitgeistschnittiges Hochglanzprodukt. Und das bedeutet nicht nur, dass der Designeranzug die Ballonseide abgelöst hat und Tattoos den feschen Schnauzer. Der sterilen Außendarstellung der Mannschaft entspricht der antiseptische Überbau, den man ihr verpasst hat: Man ist weltoffen, multikulturell und tolerant, man engagiert sich gegen Drogen, gegen Rassismus und gegen Diskriminierungen aller Art. Gegen Gewalt ist man ohnehin. Die DFB-Kicker, so soll deutlich werden, sind nicht nur ein Haufen hoch bezahlter Entertainer, sondern die Repräsentanten des modernen, des besseren Deutschland. Kein Wunder, dass sich die Kanzlerin höchstselbst zum obersten Fan der politischen Vorzeigetruppe gemacht hat. Die DFB-Elf, so darf man vermuten, ist das schwarzweiße Symbol für das Traumland, in das Merkel Deutschland so gerne verwandeln würde. Und so wird sie sich, sollte Löws Truppe das Halbfinale oder gar mehr erreichen, sicher wieder im Kreise ihrer Schützlinge ablichten lassen, auf dass auch der letzte Wähler kapiert: Seht her, so erfolgreich wird das bunte Deutschland sein. Dass an diesen Bildern dann so ziemlich alles schief, falsch und verlogen ist, scheint dabei niemanden zu interessieren. Hauptsache das Marketing stimmt. Denn die DFB-Auswahl ist ein wunderbares Instrument politischer PR. Und nicht nur das. Auch zur gesellschaftskonformen Erziehung eignet sie sich hervorragend. Entlarvend schon der neue Markenname, unter dem Deutschlands Kicker seit letztem Sommer auftreten: „Die Mannschaft“. Damit soll nicht nur der „Markenkern“ stärker herausgearbeitet werden, um so bisherige Vermarktungsdefizite auszugleichen, wie das dann im Oliver-Bierhoff-Deutsch heißt. Ganz nebenbei fällt auch der schrecklich gestrige und so gar nicht smarte Begriff der „Nation“ weg, unter dem die Nationalmannschaft einst auftrat. Vor allem aber macht das Label „die Mannschaft“ deutlich, worum es hier eigentlich geht: um die Propagierung von Teamgeist, um Unterordnung, um das Kollektiv. Den Ethos, den die „Mannschaft“ und die für sie Verantwortlichen verbreiten, ist ein Lehrstück in jener repressiven Lockerheit, die man aus der modernen Unternehmensführung nur zu gut kennt: flache Hierarchien, Team-Ideologie, informeller Habitus, Flexibilisierung. Natürlich sind alle wahnsinnig entspannt, lustig und unkonventionell. Wer aber aus der Reihe tanzt, wird gnadenlos aussortiert, wie schon einige Profis erfahren mussten. Gefragt ist der mannschaftsdienliche Streber, der angepasste Karrierist, der nach außen stets unverbindlich freundlich ist, niemals das Betriebsklima stört und es versteht, sein Ego zurückzunehmen. Denn merke: Jeder ist ersetzbar. Du bist nichts, die „Mannschaft“ ist alles. So macht sich die DFB-Auswahl in ihrer Selbstdarstellung zu einem Idealbild gesellschaftsdienlicher und marktkonformer Wohlangepasstheit. Ein Kunstprodukt, clean und weltanschaulich auf der Höhe der Zeit, ohne Ecken und Kanten, politisch überkorrekt und werbefilmtauglich. Sport wurde von den Mächtigen und Einflussreichen schon immer ideologisch aufgeladen, das war in der Antike so, das ist in der Moderne nicht anders. Was die Instrumentalisierung der Nationalmannschaft in Sinne eines politisch genehmen und wirtschaftlich erwünschten Zeitgeistes so unangenehm macht, ist die Penetranz, mit der ein semipolitischer Verband den Lieblingssport der Deutschen benutzt, um wohlfeile Botschaften unter das Volk zu streuen. Das ist nicht nur oberlehrerhaft, sondern missbraucht auch die Idee des Spiels.
Alexander Grau
Kolumne Grauzone: Spätestens seit 2006 vermarktet die DFB-Auswahl sich als zeitgeistiges Hochglanzprodukt. Die Spieler, so soll deutlich werden, sind nicht nur ein Haufen hoch bezahlter Entertainer, sondern die Repräsentanten eines besseren Deutschland
[ "Die Mannschaft", "Nationalmannschaft", "DFB", "Marketing" ]
kultur
2016-06-17T14:48:43+0200
2016-06-17T14:48:43+0200
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Führungsvakuum - Die Marginalisierung der CDU
„Wer nicht weiß, nach welchem Hafen er steuern will, kennt keinen günstigen Wind.“ Nach diesem weisen Ausspruch des römischen Dichters und Philosophen Seneca ist das Ziel der Ausgangspunkt für erfolgreiche Steuerung, ob in der Wirtschaft, im Sport oder in der Politik. Strategie wird als Begriff in all diesen Bereichen verwendet. In der Wirtschaft äußert sich der Begriff als Modeerscheinung in der so genannten Unternehmens- und Strategieberatung. Im Segelsport wird neben einer Wettfahrt-Taktik, die sich während den Wettfahrten etwa durch Windrichtungsänderungen ständig ändert, vor einer Regatta eine Strategie entwickelt. Die CDU landet in Hamburg bei 11 Prozent, das schlechteste Ergebnis ihrer Geschichte. Dabei gab es dort engagierte Aktivisten wie den PR-Manager Roland Heintze. Der sieht in Berlin den Schuldigen. Und in Thüringen ist die CDU unter ihrem Noch-Vorsitzenden Mike Mohring im permanenten Rechtfertigungsmodus. Mohring hat längst nicht mehr das Sagen, hat seinen Rückzug bereits angekündigt. Unter Mario Voigt, Chef der Kommission in den Verhandlungen mit Linken, einer der Stellvertreter und nun Hoffnungsträger, fädelte ein, quasi ohne Machtoptionen mit der Linken zu paktieren. Der Deal wirkt eher unglücklich, da es allein um die Tolerierung einer Minderheitsregierung geht. Mario Voigt hat übrigens bei Eckhard Jesse promoviert, der für die Hufeisentheorie, also die Abgrenzung gegen Rechts- und Linksextremismus steht. Was meint: Das Prinzip der Äquidistanz geht auf das Grundgesetz mit dem Konzept der streitbaren Demokratie zurück. Es ist so: Unser demokratischer Verfassungsstaat lehnt extremistische Strömungen von rechts und links außen ab. Nun wird die Aufgabe dieser Hufeisentheorie diskutiert, im Grunde auch praktiziert. Offenbar besteht nun keine Zeit für Grundsatzdebatten, stattdessen werden „pragmatische“ Lösungen gefordert. Keine Talkshow, in der nicht kritisch die „Äquidistanz“ zu AfD und Linker hinterfragt wurde, keine „heute“-Sendung, in der nicht an die CDU appelliert wurde, Bodo Ramelow zu wählen. Dabei bildete die Abgrenzung von sozialistischen Ideen die vielleicht wichtigste Konstante in der Politik der CDU seit ihrer Gründung vor fast 75 Jahren. Konrad Adenauer sagte etwa im Sommer 1946, ,„mit dem Wort Sozialismus' gewinnen wir fünf Menschen und zwanzig laufen weg.“ Heute scheint von der Politik mit Werten nichts mehr übrig zu sein. Dass die dezidiert sozialistische Linkspartei in ihrem Bundestagswahlprogramm 2017 von einer „revolutionären Veränderung der Gesellschaft“, über „offene Grenzen für alle Menschen“ bis zu „einem wirklichen Bruch mit dem Kapitalismus“ zahlreiche Ziele einfordert, die Staat und Gesellschaft in ihrer jetzigen Form beseitigen würden, wird selten thematisiert. Nach der Wiedervereinigung lehnte die SPD zunächst entschieden eine Zusammenarbeit mit der PDS ab. Dann hieß es, auf Landesebene sei eine Zusammenarbeit zwar möglich, auf Bundesebene wurde sie jedoch ausgeschlossen. Die CDU scheint nun keine Beißhemmung mehr zu haben: Daniel Günther, CDU-Ministerpräsident von Schleswig-Holstein, wurde nicht müde, Tag für Tag zu erklären, die CDU müsse unbedingt mit der Linken zusammenarbeiten. Die CDU wirkt führungs- wie prinzipienlos. Protagonisten wie die Noch-Parteivorsitzende Annegret Kramp-Karrenbauer wirken überfordert. Das gilt für den Generalsekretär Paul Ziemiak, der als Jungstar gefeiert wurde. Ziemiak spricht nach der Hamburger Bürgerschaftswahl von einen „bitteren Tag für die CDU“. Die Beschwichtigungsrhetorik ist nicht mehr aufrechtbar. Fakt ist: Die Bundespartei kann keine Führung vorgeben, da sie selbst keine hat. Zwei „Lame Ducks“, Kanzlerin Angela Merkel und CDU-Vorsitzende Annegret Kramp-bestimmen nach wie vor den Kurs, mögliche Kandidaten, im Zweifelsfall aus Nordrhein-Westfalen, tanzen vor und kämpfen um Gesprächstermine. Der jüngste von den bisher bekannten Kandidaten hat bereits aufgegeben: Jens Spahn tritt nicht an. Friedrich Merz, Norbert Röttgen und Armin Laschet haben ihren Hut in den Ring geworfen. Friedrich Merz wirkt dabei als der ewige Kandidat, wirkt schon ob seiner widersprüchlichen Aussagen als verbraucht. Im alten Rom gab es den Ausdruck Cunctator, also Zauderer, Zögerer. Zu glauben, dass man die neue Machtfrage auf einem Parteitag im Dezember entscheiden könnte, war naiv. Deutschland ist in diesem Fall nicht Thüringen, wo offenbar die Rentenansprüche der Angeordneten eine besondere Rolle spielen. Die Wahl des neuen Vorsitzenden auf Ende April vorzulegen, wirkt hingegen getrieben. Die CDU ist nicht mehr Herr ihrer Lage. Ein Prozedere für die Wahl existiert nicht, da der Sturm unvorhergesehen scheint. Die Sorgen sind in stürmischen Zeiten groß, zumal, wenn Ostdeutschland wegzubrechen droht. Historische Dimensionen können beschwört werden, Historisch ist es allemal, wenn die CDU zur Blockpartei und zum Juniorpartner in Opposition zur Linkspartei degradiert wird. Deutschland hat aber bald europäische Verantwortung, in Form der EU-Ratspräsidentschaft das Management mit dem Brexit und vielen anderen Herausforderungen. Die Europapartei CDU muss sich hier handlungsfähig erweisen, ansonsten droht ihr das Schicksal der SPD. Kein Segeltörn kann sie über die Sommerpause retten. Zu groß sind das interne Grummeln, das Vakuum an Leadership wie der fehlende inhaltliche Kompass. Und das liegt weder an Thüringen noch an Hamburg.
Florian Hartleb
Jens Spahn hat abgesagt, Friedrich Merz, Norbert Röttgen und Armin Laschet haben ihre Kandidatur bekanntgegeben: Die CDU will bereits Ende April ihren neuen Vorsitzenden wählen. Doch die Partei wirkt immer noch führungs- und prinzipienlos.
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innenpolitik
2020-02-24T12:22:56+0100
2020-02-24T12:22:56+0100
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Emmanuel Macron - Eine Volksdebatte ohne Volk
Bourgtheroulde, von Einheimischen ausgesprochen klingt sehr ähnlich wie ein norddeutsch vernuscheltes Buxtehude – und so ähnlich sieht es auch aus: flaches Weideland, darüber ein tiefhängender grauer Himmel, Apfelbäume. Der Weg in den Ort führt an diesem 15. Januar über drei Polizeisperren, mindestens. Alle Kreisverkehre im Umkreis von 10 Kilometern sind besetzt. Diesesmal stecken Polizisten in den gelben Westen. Dreimal Ausweiskontrolle – wohin wollen Sie, zum Präsidenten – zweimal Kofferraumkontrolle. Der Eindruck: Nicht jeder ist erwünscht bei der großen nationalen Debatte, die der Präsident für die kommenden sechs Wochen bis zum 15. März angekündigt hat. Wer nicht in Bourgtheroulde wohnt, muss entweder akkreditierter Journalist sein, Bürgermeister einer nordfranzösischen Gemeinde, oder er muss draußen bleiben. Im Ort selbst sind fast alle Geschäfte verrammelt, nur die Bar-Tabac L’Imprévu am Platz neben der Kirche macht das Geschäft des Jahres. Davor die angereisten Journalisten und circa 150 Gilets-Jaunes, die es trotz aller Sperren in den Ort geschafft haben. „Über die Felder“, sagt Dimitri, knapp dreißig, Kapuzenpulli: „wir kennen uns aus, wir sind von hier“. „Macron muss gehen“, findet er. Lösungen von der Politik, die erwartet er „schon lange nicht mehr“. Ob nun Mélonchon (Ultralinks) oder Le Pen (extreme Rechte), „alle aus einem Sack“. Und was dann, frage ich. „Egal, nur Macron muss weg“. Seine Freundin Allison assistiert: „Ist das etwa Demokratie, wenn man sich im eigenen Dorf nicht mehr frei bewegen kann? Überall nur Polizei, gepanzert und schwer bewaffnet?“ Anders als in Paris ist die Stimmung null aggressiv, nicht gegen Journalisten, nicht gegen die Polizei, ja nicht einmal gegen Macron – nur völlig desillusioniert. Nach der letzten Polizeisperre dann das Sportzentrum „Benedetti“. Hier warten 600 geladene Bürgermeister/innen auf den Präsidenten. Die schmucklose Wellblechhalle von der Größe eines Handballfeldes hat den Charme einer ehemaligen Geflügelzucht. Auf Plastikstühlen im Karree fast alle Ortsvorsteher der Region, angetan mit blau-weiß-roter Schärpe; die Stimmung: höfliche Anspannung. „Man muss doch reden miteinander: Reden, keine Gewalt“, sagt Amel, maghrebinischstämmiger Bürgermeister der 900 Seelengemeinde Gauciel im schweren nordfranzösischen Dialekt. So wie Amel sehen das die meisten hier. Und das, obwohl nur die allerwenigsten der Partei des Präsidenten La République En Marche angehören. Aber den Verdruss und die Wut der Bürger bekommen sie als erste ab, egal ob Konservative, Kommunisten oder Parteilose. LaREM hat kaum kommunale Mandatsträger. Deshalb ist Marcron jetzt auf sie angewiesen. Sie müssen den Kontakt zu den Bürgern herstellen. Daher wird der Präsident in seinem kurzen, siebenminütigen Auftaktstatement erklären, „die künftigen politischen Lösungen werden näher am Terrain sein, als das bisher der Fall war“. Er sei gekommen um zuzuhören, erklärt Macron, nachdem er vier Themenbereiche vorgegeben hat Steuern (Welche können gesenkt werden?), staatliche Strukturen (Welche sind einzusparen?), ökologischer Umbau (Wieviel ist nötig?) und Demokratie (Wie kann mehr Beteiligung organisiert werden?). Das sind exakt die Themen, die auch die Gilets-Jaunes fordern. Aber das kommt bei ihnen nicht im Geringsten an, auch weil sie eben nicht zu den Geladenen im Saal gehören. „Es darf in der Diskussion keine Tabus geben“, erklärt Macron den Amtsträgern, „Sagen Sie mir offen, was Sie auf dem Herzen und in den Köpfen haben“. Das wird er bekommen. Laurance Bussière fragt zum Auftakt höflich, aber bestimmt: „Herr Präsident, welche Antwort geben Sie den Kommunen, damit wir uns alle ernstgenommen fühlen (können)?“ Jean-Paul Legendre, Bürgermeister eines Bauerndorfs im Departement Eure ergänzt: „Wir arbeiten ja mit Ihnen zusammen, aber haben Sie bitte auch Vertrauen in uns, und halten Sie die Maschinerie an, die Bürgernähe kleinhäckselt“. Joel Bruneau, Bürgermeister der Hafenstadt Caen erklärt, das Vertrauen der Bürger in die Nationalversammlung sei „komplett zerstört“, weil ständig und enorm zeitaufwendig jede kommunale Entscheidung auf mindestens drei höheren Staatsebenen neu abgesegnet werden müsse. Valéry Beuriot, Kommunist aus Brionne, weist auf einen Widerspruch in Macrons Vorgaben hin, es solle keine Tabus geben, aber andererseits bliebe es definitiv bei der Abschaffung der Vermögenssteuer: „Diesen Widerspruch müssen Sie auflösen, Herr Präsident.“ Und so geht es immer weiter. Macron stellt sich dem, hört geduldig zu, macht sich Notizen zu jeder Wortmeldung. Die Liste wird lang. Allerdings: Angela Merkel bekäme sinngemäß vom deutschen Städte- und Gemeindebund ziemlich genau das Gleiche mit auf den Weg. Auch die Bitte eines Bürgermeisters und Unternehmers: „Wir stehen jeden Morgen um sechs Uhr auf, um nach Rouen oder Dieppe dreißig, vierzig Kilometer zur Arbeit zu fahren. Wir arbeiten gerne und viel, für unsere Familien, unsere Kinder, unser Land. Geben Sie uns das Gefühl, dass Sie das auch wertschätzen.“ Nach anderthalb Stunden wird Macron antworten, penibel alle Forderungen und Einlassungen abarbeiten, wissend, wer wo sitzt und was gesagt hat. Erstaunen bei den Bürgermeistern. Und Beifall, als er erklärt, die neue Gemeindeordnung (das Loi Notre) zu öffnen, den Kommunen mehr Eigenständigkeit zu geben, staatliche Zwischenebenen abzuschaffen. Er geht auf ganz konkrete Forderungen ein, sagt, die Ausgabe von Personalausweisen, Pässen und KFZ-Scheinen könne dezentralisiert und in die Kommunen rückverlagert werden. Aber er schmeichelt den Bürgermeistern, die er so dringend als Multiplikatoren und Vermittler braucht, auch nicht, etwa in der umstrittenen Frage der Vermögenssteuer. „Pour la Pipe“ – sinngemäß übersetzt mit „geschissen“ – sei die These, auch nur einem einzigen Gilet-Jaune ginge es besser, wenn die wieder eingeführt werde. Es sei doch wahr, dass die wirklich Reichen höchst erfolgreiche Systeme zur Steuervermeidung hätten. Um Gleichheit herzustellen, bedürfe es dagegen guter Schulen, Teilhabe an Kulturangeboten und sozialen Serviceleistungen. Das müsse man gemeinsam herstellen. „Meine Devise“, sagt er, „lautet seit jeher: Ich werde niemanden im Regen stehen lassen“. Am Ende bekommt er auch dafür Beifall. Und wer geglaubt hatte, der Aufschlag der Grand Débat sei mit der ersten Antwort des Präsidenten nach dreieinhalb Stunden beendet, der irrt. Der Präsident nimmt sich Zeit für eine zweite Runde. Man kann ihm sicher nicht nachsagen, er habe den Ernst der Situation nicht verstanden. La Cholère, die Wut der Menschen draußen, hat er damit ebenso sicher (noch) nicht beendet. Zumindest nicht jener, die frierend weiter auf dem Dorfplatz von Bourgtheroulde ausharren. Aber vielleicht hat er einige Zuschauer der landesweiten Liveübertragung im Fernehen erreicht. Vierzig Prozent aller Franzosen wollen sich in den kommenden Wochen an der Debatte beteiligen, hat eine Umfrage ermittelt. Denen ist Macron die angekündigten Lösungsvorschläge schuldig, die muss er überzeugen. Gut möglich, dass es dafür nicht ausreicht, in einer nahezu hermetisch abgeschirmten Dorfturnhalle mit Bürgermeistern zu diskutieren. Gut möglich, dass er dafür selbst auf die Plätze und zu den Menschen gehen muss.
Kay Walter
Den Namen der kleinen Gemeinde, 130 Kilometer nördlich von Paris, kannte bislang auch kaum ein Franzose. Ausgerechnet in Bourgtheroulde, in der normannischen Provinz, will Emmanuel Macron seine Präsidentschaft retten. Doch der Dialog mit dem Volk fand ohne Volk statt
[ "Frankreich", "Gelbwesten", "gilets jaunes", "Emmanuel Macron" ]
außenpolitik
2019-01-16T13:36:18+0100
2019-01-16T13:36:18+0100
https://www.cicero.de/aussenpolitik/emmanuel-macron-bourgtheroulde-debatte-gelbwesten-buergermeister
SPD und Gentechnik - Die Lobby schreibt mit
Gegendarstellung der SPD-Bundestagsfraktion: Im Cicero-Online-Beitrag von Ludger Wess vom 13.11.2023 „Die Lobby schreibt mit" werden unwahre Behauptungen über die SPD-Bundestagsfraktion verbreitet. 1. Es ist unwahr, dass bei der Erarbeitung einer „Positionierung zu den Vorschlägen der EU-Kommission zu neuen Gentechniken in der Landwirtschaft" eine Lobbyorganisation mitgeschrieben hat. Wahr ist, dass das Papier von zwei Beschäftigten der SPD-Bundestagsfraktion erarbeitet wurde. 2. Es ist unwahr, dass „Susan Grzybek Senior-Politik-Koordinatorin des World Wildlife Funds for Nature (WWF), einer Organisation, die Gentechnik strikt ablehnt und stattdessen Lobbyismus für die Bio-Branche betreibt" ist. Wahr ist, dass Frau Grzybek seit Juli 2022 ausschließlich bei der SPD-Bundestagsfraktion beschäftigt ist. Berlin, 17.11.2023 Katja Mast, MdB, Erste Parlamentarische Geschäftsführerin der SPD-Bundestagsfraktion Weltweit nimmt eine Revolution der Bioökonomie Fahrt auf. Ursache sind neue genomische Techniken (NGTs), die präzise gentechnische Eingriffe in das Genom von Pflanzen, Tieren und Mikroorganismen, aber auch von menschlichen Zellen ermöglichen. Schon jetzt, gerade ein Jahrzehnt nach deren Einführung, haben diese neuen Technologien bedeutende Fortschritte erzielt: neuartige Arzneimittel und Therapien, verbesserte Nutzpflanzen und Mikroorganismen, die Abfälle verwerten, Ressourcen schonen und Umweltauswirkungen menschlichen Wirtschaftens verringern. Das Elegante an diesen Technologien ist ihre Präzision, vor allem aber ihre Ununterscheidbarkeit von natürlichen Vorgängen. Sie ermöglichen es, gezielt Veränderungen herzustellen, die in der Natur nach dem Zufallsprinzip ablaufen und daher nur sehr aufwändig und zeitraubend zu finden und nutzbar zu machen sind. Doch die EU stemmt sich, angeführt durch deutsche Bedenkenträger, gegen diese Revolution und ist bereits dabei, den Anschluss zu verlieren. Für die neuen Pflanzen und Mikroben gelten derzeit alte, aus dem Jahr 2001 stammende Gentechnik-feindliche Vorschriften, die Neugründungen im Bereich der Gentechnik dazu zwingen, ins Ausland abzuwandern. Sie beziehen sich auf veraltete Techniken und verhindern damit Innovation und die Revolution der Bioökonomie in Europa. Welches Potenzial darin steckt, zeigt eine vor kurzem erschienen Studie des Breakthrough-Thinktanks. Danach liegt der wirtschaftliche Nutzen, der der EU durch die Nicht-Einführung von NGTs entgeht, zwischen 171 und 335 Milliarden Euro pro Jahr. Auf ein Jahrzehnt gerechnet, entgeht der EU damit ein wirtschaftlicher Nutzen von bis zu 3 Billionen Euro. Überflüssig zu erwähnen, dass solche neuen Nutzpflanzen auch die Treibhausgasemissionen der europäischen Landwirtschaft dramatisch reduzieren könnten. Schon die Einführung derzeit existierender Gentechnikpflanzen würde zur Einsparung von 33 Millionen Tonnen CO2-Äquivalente pro Jahr (MtCO2e/Jahr) führen, eine Menge, die 7,5 Prozent der gesamten landwirtschaftlichen Treibhausgasemissionen der EU im Jahr 2017 entspricht. Um diese Potenziale nutzen zu können, hat die Europäische Kommission im Juli 2023 Vorschläge gemacht, um die Regulierung von NGTs stärker an den wissenschaftlichen Fortschritt anzupassen. Das könnte Sie auch interessieren: Dass die Grünen gegen jede Änderung des Status Quo sind, versteht sich von selbst. Erhebliche Teile ihrer Mitglieder und Abgeordneten hängen esoterischen und naturromantischen Vorstellungen an: Themen wie Homöopathie und biodynamische Landwirtschaft, die bessere Ernten mit kosmischer Energie und Berücksichtigung von Planetenkonstellationen erzielen will, sind feste Bestandteile grüner Parteitage. Jeder Eingriff in das genetische Material ist in dieser Sichtweise eine Versündigung gegen die Schöpfung und die Weisheit der Natur. Dass die SPD, einstmals eine Partei, die sich dem technologischen Fortschritt verschrieben hatte, nun auch auf den Weg der „ganzheitlichen Naturbetrachtung“ abgebogen ist und ihr Heil in eskapistischen Vorstellungen und Technologie-Skepsis sucht, ist dagegen tragisch. Das zeigt sich bei einem aktuellen Papier, das Cicero vorliegt und das den Titel „Positionierung zu den Vorschlägen der EU-Kommission zu neuen Gentechniken in der Landwirtschaft“ trägt. Erarbeitet wurde es von Michael Meyer, Fraktionsreferent der SPD-Bundestagsfraktion, aber mitgeschrieben hat, ausweislich der Dateiinformationen, Susan Grzybek, Senior Politik-Koordinatorin des World Wildlife Funds for Nature (WWF), einer Organisation, die Gentechnik strikt ablehnt und stattdessen Lobbyismus für die Bio-Branche betreibt. Zwar betont das Papier in seiner Präambel das große Potenzial der neuen Technologie – so, wie es auch im Koalitionsvertrag festgehalten ist – behauptet aber dann, es sei noch viel zu früh, die Technologie zu beurteilen und sie sei mit zu hohen Risiken behaftet. Dass diese Behauptungen von der Wissenschaft und der Realität längst widerlegt sind, scheint in der Partei niemanden zu interessieren. Stattdessen werden die substanzlosen Floskeln der NGOS wiederholt: Vorsorgeprinzip, Wahlfreiheit, Transparenz, Koexistenz und Haftung. Besonders auffällig an dem Papier sind Zwischenüberschriften wie „Forschungsstandort Deutschland stärken“ und „Potenziale ausloten, Chancen nutzen“, die im diametralen Widerspruch zu den Forderungen stehen. Der Forschungsstandort Deutschlands soll gestärkt werden, indem mehr Risikoforschung zu NGTs betrieben wird und Nachweismöglichkeiten erarbeitet werden sollen (ebenso könnte man mehr Forschung zur Nutzung freier Energie oder der Wirksamkeit von Homöopathie fordern) und das Ausloten von Potenzialen bzw. die Nutzung der Chancen werden im Text mit der Behauptung abgewürgt, es gebe sie nicht und man sehe auch nur eine geringe „Realisierungswahrscheinlichkeit“. Das Ganze ist ein Kotau vor anti-Gentechnik-Organisationen; die Kapitulation einer ehemals großen Partei auf der ganzen Linie. Der Astronom, Astrophysiker, Sachbuchautor und Schriftsteller Carl Sagan konstatierte 1996: „Wir haben eine Gesellschaft geschaffen, die auf Wissenschaft und Technologie basiert und in der niemand etwas von Wissenschaft und Technologie versteht. Und diese brandgefährliche Mischung aus Unwissenheit und Macht wird uns früher oder später um die Ohren fliegen. Wer befasst sich in einer Demokratie mit Wissenschaft und Technologie, wenn die Menschen keinerlei Ahnung davon haben?“ SPD und Grüne sind es jedenfalls nicht.
Ludger Weß
Die SPD-Bundestagsfraktion hat eine „Positionierung zu den Vorschlägen der EU-Kommission zu neuen Gentechniken in der Landwirtschaft“ erarbeiten lassen.
[ "Gentechnik", "SPD" ]
außenpolitik
2023-11-13T08:07:32+0100
2023-11-13T08:07:32+0100
https://www.cicero.de//aussenpolitik/spd-und-gentechnik-lobbyismus-eu
Wilhelm Schmid - Über Glück im Leben
Dieser Artikel ist eine Kostprobe aus der Oktober-Ausgabe des Cicero. Wenn Sie keine Ausgabe des Magazins für politische Kultur mehr verpassen wollen, können Sie hier das Abonnement bestellen. Vielleicht sollte Wilhelm Schmid Bundespräsident werden. Einen Philosophen hatten wir noch nie im höchsten Amt. Mit Schmid als Staatsoberhaupt wäre Deutschland eine andere Republik. Im Schloss Bellevue säße dann ein Nationaltherapeut wider die depressive Hintergrundmelodie in unserem Land. Auf einmal würden wir in präsidialen Ansprachen Sätze hören wie: „Glück ist wichtig, aber wichtiger ist Sinn. Dass es im Leben allein um Glück gehe, ist eine Märchenerzählung derer, die den schwindenden Sinn im modernen Leben durch Glück ersetzen wollen.“ Oder: „Freiheit für sich ist leer. Zum Leben braucht sie Formen. Leider bestehen Formen darin, Freiheit wieder einzuschränken. Aber es geschieht dann aus Freiheit.“ Oder aber: „Ein sinnerfülltes Leben ist ein Leben in Beziehung.“Als Hausherr im Schloss Bellevue hätte Schmid endlich mehr Platz für seine Bibliothek. Derzeit lebt der 60-jährige Philosoph und Bestsellerautor mit Ehefrau Astrid und vier Kindern auf zwei Etagen einer Berliner Altbauwohnung hinter dem Schloss Charlottenburg. Zwei Mal schon musste er mit seiner Büchersammlung innerhalb der Wohnung umziehen. Geblieben ist ihm ein winziges Zimmer mit Balkon, Sofa, Schreibtisch und Klavier. Nur neun vertikale Regalreihen kann er hier unterbringen. „Für jedes neue Buch muss ein altes raus. Ein schmerzlicher Prozess.“Gleichwohl ist seine Büchersammlung durch hartnäckiges Aussortieren zu einem geistigen Marschgepäck geworden, das deutlich macht, wie Wilhelm Schmid sich zu einem Philosophen der Bejahung entwickeln konnte. Darin unterscheidet er sich von den meisten zeitgenössischen Kollegen: „Ich bin intellektuell groß geworden mit der Maßgabe: Bejahen darf man gar nichts. Aber kein Mensch kann ohne etwas leben, das er bejahen kann.“ Während andere Denker in der Weltverneinung ihr Gegenglück des Geistes suchen, hat Schmid eine praktische Philosophie der Lebenskunst entwickelt, ohne in Trivialitäten abzuirren.In seinem jüngsten Buch „Dem Leben Sinn geben“ schlägt er den Bogen vom Alltäglichen, wie den Beziehungen in der Familie, zu Freunden und zu Feinden, über die Beziehungen zu Tieren, Dingen und der Welt, bis ins Transzendente, „der Liebe zum Leben und zu einem Darüberhinaus“. Über Gott spricht ein Philosoph heutzutage sowieso ungern. „Ich nenne es einfach Transzendenz, damit bin ich fein raus.“Dass wir das Alltägliche, das Endliche nur erfassen, wenn wir uns ein Gespür fürs Unendliche bewahrt haben, bezeugt seine Bibliothek. Links unten stehen zwei Regale mit Büchern zu Kosmologie, Astronomie, außerirdischem Leben. „Der Kosmos war der Anfang“, sagt Schmid. Schon als dreijähriger Knirps hat er jeden Abend mit seinem Vater zum Himmel emporgesehen. Das war auf dem elterlichen Bauernhof in Billenhausen bei Krumbach in Bayerisch-Schwaben, wo Wilhelm als eines von sechs Geschwistern aufwuchs. „Mein Vater hat mir die Sternbilder gezeigt und erklärt, wie weit die weg sind. Da ist mir schummrig geworden.“ Das Ritual hat sich Schmid bewahrt. Ehe er schlafen geht, steht er auf dem Balkon, blickt in den Nachthimmel und nimmt seine persönliche Verbindung mit der astronomischen Unendlichkeit auf. „Nüchterne Mystik“ nennt er es.Weil sich der Bauernsohn nicht das Abitur zutraute, sich aber durch die Stadtbücherei Krumbach fraß, lernte er zunächst drei Jahre lang Schriftsetzer. „Aber schon am ersten Tag war mir klar: Du wirst Schriftsteller.“ Also machte er später doch noch Abitur und studierte Philosophie. Warum? „Ich wollte klüger werden über die Liebe.“Er zeigt auf ein Regal. „Hier sind die Griechen. Denen habe ich mich immer verwandt gefühlt. Sie sind meine erste Inspirationsquelle.“ Platons „Gastmahl“ mit dem Untertitel „Über die Liebe“ war „eine Offenbarung“. So sehr, dass er es als Student übersetzte. „Wort für Wort – ohne jedes Ziel.“ Aber „unter den sehr liebenswürdigen Augen meiner damaligen Freundin, die meine Frau wurde“. Über den Griechen stehen die Kirchenväter, Augustinus, Benedikt von Nursia, Clemens von Alexandrien. Nebenan Bücher über Hölle und Teufel. „Gut und Böse sind menschliche Begriffe. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie eine außermenschliche Bedeutung haben.“ Etwas weiter schöpft die Geistesgeschichte neuen Atem, in den Bänden über die Renaissance, „diese ungeheuer reiche, bunte Zeit“. Die Antike wurde wiederentdeckt, alles hing mit allem zusammen. „Die Renaissance ist eine Zeit, in der die Frage nach dem Sinn kaum eine Rolle spielte, weil der Sinn auf allen Ebenen präsent war – der sinnliche Sinn, der seelische Sinn, der geistige Sinn.“Ein bisschen klingt Schmids eigenes Programm einer „anderen Moderne“ durch. Errungenschaften der Moderne wie Menschenrechte, Wissenschaft, Technik, Marktwirtschaft und Demokratie will er anreichern durch Elemente wie Ökologie sowie das Denken und Leben in Beziehungen. Und den modernen Autonomiegedanken, der nur als Befreiung von etwas verstanden wird, zum anders modernen Autonomiebegriff einer Freiheit zu etwas weiterentwickeln. „Wir müssten heute eine neue Renaissance bewerkstelligen. Ein bisschen träumen darf man ja wohl.“ Eine neue Sinnzeit schwebt ihm vor, eine Kultur vielfältigster Verbundenheiten, die die Herrschaft der Ichlinge ablöst.Ernüchterung holt er sich bei Montaigne. „Ein Philosoph der Lebenskunst. Er hat ganz alltägliche Phänomene überdacht – immer mit dem Blick: Wie lässt sich das leben?“ Ein Vorläufer von Schmid? „Oh, das ist ein bisschen pathetisch. Aber in dieser Linie sehe ich mich.“ Dann die Neuzeit. „Von Kant habe ich mir nur ein Werk stärker angeeignet.“ Er holt ein antiquarisches Kleinod. „Meine Frau, die Antiquarin ist, hat es mir geschenkt. Es ist vermutlich das wertvollste Buch.“ Es ist Kants Lehre von der Lebenskunst, die „Anthropologie in pragmatischer Hinsicht“ in der zweiten Auflage von 1800. Auf dem Vorsatzblatt die Widmung seiner Frau: „Für Dich, Wilhelm, meine anthropologische Konstante, nicht nur in pragmatischer Hinsicht“.Es folgen die Romantiker. Schmid hält sich für einen. „Die Romantiker waren die Neuentdecker des Reiches der Möglichkeiten“. Novalis liebt er. An Hölderlins theoretischen Schriften beißt er sich die Zähne aus. Dann Nietzsche, „Hauptbezugspunkt meines Denkens“, weil seiner und unserer Zeit weit voraus. Heidegger findet er unredlich. Der sei jedem Rock nachgelaufen, aber Erotik findet in seinem Werk nicht statt. Und ganz viel Foucault. Wegen ihm hat Schmid in den achtziger Jahren in Paris studiert, über ihn ist er promoviert worden. Die deutsche Philosophie war Schmid blutleer erschienen, bei Foucault entdeckte er die Fragen des Lebens wieder.Auf einmal hält er Adornos „Minima Moralia“ in der Hand. „Sie kennen den berühmten Satz: ‚Es gibt kein richtiges Leben im falschen.‘ Ich weise immer wieder darauf hin, dass Adorno den Satz widerrufen hat.“ Im Adorno-Archiv hat Schmid eine Vorlesung entdeckt. „Es gibt ein richtiges Leben im falschen, sagt Adorno dort. Nämlich dann, wenn du es versuchst.“Viele Regale weiter, vorbei an Geschichte mit Schwerpunkt Nationalsozialismus, Belletristik, weiterer Lebenskunst-Literatur, bildet eine wuchtige Sammlung der Reihe Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft das Finale. Vor den tiefblauen Buchrücken hält Wilhelm Schmid inne wie vor einem Altar. „Hier kommt das Ende der Welt“, murmelt er kryptisch. „Denn diese Reihe wird ewig andauern. Hier sind alle wichtigen Bücher versammelt.“ Dann setzt er hinzu: „Und mein Buch ,Philosophie der Lebenskunst‘ ist in dieser Reihe erschienen. Das macht mich sehr stolz.“Kein Triumph schwingt in diesen Worten. Eher eine Demut vor der eigenen Biografie. Womöglich kann das nur jemand begreifen, den es aus einem 500-Seelen-Kaff in die Philosophie verschlagen hat. Der mit Selbstzweifeln zu kämpfen hatte, obwohl seine Bücher mitunter mehr als 100 000 Käufer fanden. Der sich nie im akademischen Establishment heimisch fühlte, weil er es auf keinen ordentlichen Lehrstuhl brachte. Ein Bauernbub veröffentlicht im Geistesolymp bei Suhrkamp seine Habilitationsschrift über Lebenskunst. Sage noch einer, Philosophie sei ohne Humor.
Holger Fuß
Der Philosoph Wilhelm Schmid hat Bücher um sich geschart, die ihn die Liebe und das Denken lehren
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kultur
2013-12-20T14:50:33+0100
2013-12-20T14:50:33+0100
https://www.cicero.de//kultur/bibliotheksportraet-wilhelm-schmid-ueber-glueck-im-leben/56669
Hochrechnung - FPÖ gewinnt Parlamentswahl in Österreich
Die rechte FPÖ wird laut Hochrechnung erstmals bei einer Parlamentswahl stärkste politische Kraft in Österreich. Die Rechtspopulisten kamen auf 29,1 Prozent der Stimmen und lagen somit deutlich vor der konservativen Kanzlerpartei ÖVP, wie aus Daten im Auftrag des ORF hervorgeht. Für die FPÖ bedeutet dies ein Plus von 13 Prozentpunkten gegenüber 2019. Die konservative ÖVP von Kanzler Karl Nehammer erhielt den Daten zufolge 26,2 Prozent (minus 11,2 Prozentpunkte). Laut Hochrechnung stimmten 20,4 Prozent der Wähler für die sozialdemokratische SPÖ. Damit liegt die SPÖ im Bereich ihres Rekordtiefs von 21,2 Prozent von 2019. Die Grünen können den Angaben zufolge mit 8,6 Prozent (minus 5,3 Prozentpunkte) rechnen, die liberalen Neos mit 8,8 Prozent – das wäre ein kleines Plus. Die Hochrechnung des Foresight Instituts wurde im Auftrag des Senders ORF erstellt. Die Bierpartei und die kommunistische KPÖ scheitern voraussichtlich an der Vier-Prozent-Hürde. Insgesamt waren knapp 6,4 Millionen Bürger aufgerufen, ein neues Parlament zu wählen. Zuletzt wurde das Land von einer Koalition aus ÖVP und Grünen regiert. Die deutlichen Zugewinne der FPÖ liegen im europaweiten Rechtstrend. Quer durch Europa haben rechte Parteien Zulauf bekommen, etwa in den Niederlanden Geert Wilders und seine rechtsradikale Partei für die Freiheit (PVV), die italienische Rechtspartei Fratelli d'Italia (Brüder Italiens) mit Giorgia Meloni an der Spitze oder das rechtsnationale Rassemblement National (RN) mit Marine Le Pen in Frankreich. In Deutschland erzielte die AfD große Erfolge bei den Landtagswahlen in Sachsen, Thüringen und Brandenburg. Für die Rechtspopulisten unter ihrem Parteichef Herbert Kickl wäre der Sieg bei der Nationalratswahl ihr bisher größter Triumph. Die ÖVP hatte bis zuletzt darauf gehofft, die FPÖ auf der Zielgeraden noch zu überholen. Kanzler Nehammer versuchte, sich als verantwortungsvolle Alternative zu Kickl zu positionieren. In ihrem Wahlprogramm hatte die FPÖ unter dem Motto „Festung Österreich - Festung Freiheit“ für eine extrem restriktive Migrationspolitik geworben. Die Partei fordert eine Rückführung von Migranten in ihre Heimatländer und wünscht sich als Gegenentwurf zur international vielfach angestrebten Diversität „Homogenität“ in der Gesellschaft. Außenpolitisch sieht die FPÖ die EU äußerst kritisch. Gegenüber Russland fährt sie trotz des Ukraine-Kriegs einen eher wohlwollenden Kurs und sieht kein Problem in der Abhängigkeit Österreichs von russischem Gas. Trotz des Siegs dürfte es für Kickl sehr schwer werden, nächster Kanzler zu werden. Alle Parteien lehnen bisher eine Zusammenarbeit mit dem 55-Jährigen ab, unter dessen Ägide die FPÖ zum Beispiel ihre einstige Distanz zu den als rechtsextrem eingestuften Identitären aufgegeben hat. Bundespräsident Alexander Van der Bellen muss den Auftrag zur Regierungsbildung nicht zwingend der stimmenstärksten Partei übertragen. Der ehemalige Grünen-Chef hat immer wieder seine Kritik an politischen Positionen der FPÖ in Sachen EU und Migration deutlich gemacht. So gilt es als wahrscheinlich, dass Kanzler Nehammer den Auftrag bekommt, eine Regierungskoalition zu schmieden. Als Koalitionspartner bietet sich aus Sicht der ÖVP inhaltlich zwar die FPÖ an, aber der Regierungschef hat mehrfach und nachdrücklich klargemacht, dass er eine Zusammenarbeit mit Kickl ausschließt. „Kickl ist nicht in der Lage, Regierungsverantwortung zu tragen.“ Nehammer hatte auch angekündigt, keine Koalitionsverhandlungen mit dem FPÖ-Chef zu führen. Die Alternative zur FPÖ ist die SPÖ. Allerdings gilt ein Bündnis als schwierig, weil SPÖ-Chef Andreas Babler die Sozialdemokraten mit Forderungen wie der nach einer 32-Stunden-Woche weit nach links gerückt hat. Ob sich Babler angesichts des Ergebnisses im Amt halten kann, ist eine der sich nun aufdrängenden Fragen. dpa
Cicero-Redaktion
Die Umfragen kennen seit einem Jahr nur einen Sieger: die FPÖ. Die Demoskopen hatten recht. Aber der Triumph der Rechten trägt sie wohl nicht ins Kanzleramt.
[ "FPÖ", "Österreich" ]
außenpolitik
2024-09-29T18:04:06+0200
2024-09-29T18:04:06+0200
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Literatur heute - In der Katastrophe liegt die Befreiung
Die Firma ist wieder da. Das ist bemerkenswert, denn jahrzehntelang, bis in die neoliberale Ära hinein, spielten diese quasi-monarchistischen Subsysteme in der Literatur kaum eine Rolle. Vielleicht war die Diskreditierung des Homo oeconomicus in den Siebzigern so nachhaltig, dass die Kunst von ihm keine wirkliche Inspiration mehr erwartete. Es mag auch daran liegen, dass Schriftsteller nichts mehr fürchten als das „Buddenbrooks“-Label, zumal der obere Mittelstand – die Merckles und Schleckers – in postbürgerlicher Zeit kaum mehr den Kern und die Modernität der Gesellschaft repräsentieren dürfte. In der Tat ist der Privatwirtschaft ein Antimodernismus inhärent: Anders als im privaten oder öffentlichen Sektor gelten hier hergebrachte Verhaltenskodizes und Hierarchien ungebrochen, denn beim Geld hört der Relativismus auf. Aber das heißt auch: Hier sind Loyalitätsverrat und echte Regelverstöße noch möglich. Neuere, komplex erzählende Fernsehserien stürzen sich denn auch mit Begeisterung auf diesen Kosmos. Auf der Hand liegt der Bezug bei „The Office“ respektive „Stromberg“. Ernsthafter wird die Büro- und Firmenperspektive in „Mad Men“ eingenommen, wo dieses Kollektiv zunehmend ein Eigenleben entwickelt. Auch in den „Sopranos“ ging es auf spezielle Weise um eine Firma und deren Geschäftsgebaren. Die Literatur indes machte lange Zeit den Eindruck, als stünde Thomas Mann auf einem Bein: Nur der Familienroman wurde fortgeschrieben. Zu den ersten Autoren, die erkannten, welches erzählerische Potential darin liegt, eine betriebliche Ebene wieder einzuziehen, gehört Ernst-Wilhelm Händler, selbst zugleich Geschäftsführer eines metallverarbeitenden Familienunternehmens. Sein eben diese Doppelung und Koppelung der Wertigkeiten virtuos durchexerzierender Roman „Fall“ aus dem Jahr 1997, in dem der Held Georg Voigtländer gleich durch mehrere Sphären stürzt, ist in diesem Frühjahr als Taschenbuch neu erschienen. Erst im Zeichen des übergreifenden Themas „Krise“ aber wurde die Unternehmensperspektive zum Trend. Thomas von Steinaecker präsentierte uns eine Versicherungsangestellte, die die Kontrolle verliert und in die Freiheit katapultiert wird. Rainald Goetz’ Bertelsmann-Roman „Johann Holtrop“, der freilich so sehr Abrechnung sein will, dass die Attitüde der Brutalobservanz zur Karikatur entgleitet, protokolliert den Absturz eines Vollblutfunktionärs des Systems. Gleich zwei Debütromane konzentrieren sich nun auf den schwierigen Generationenübergang an der Spitze mittlerer Familienunternehmen aus der Textilbranche. In kühl sezierendem Stil erzählt Nora Bossong in „Gesellschaft mit beschränkter Haftung“ die Geschichte des Unternehmens „Tietjen & Söhne“, dessen Aufstieg mit der Etablierung einer luxuriös weichen Frottee-Marke im Jahre 1906 begann. Der paternalistische Gründer Justus Tietjen – er errichtete Arbeitersiedlungen, sah die Arbeiter aber als „Teil seines Besitzes“ an – wusste den Krieg für sein Unternehmen zu nutzen. Die Firma ging von Kurt senior auf Kurt junior über, der sich im Jahr 2009 plötzlich nach Amerika absetzt und es darauf anzulegen scheint, alles, was vor ihm war, zu zerstören, indem er alle Entscheidungen zugunsten der fast insolventen Firma blockiert. Dass es sich hier um ein Debüt handelt, merkt man allenfalls an der Tendenz zur Überdeutlichkeit, an manchem gesucht wirkenden Einfall (so geht die Familie gegen kleinere Katastrophen immer schon mit Entenbraten vor) oder an einigen Anzugträger-Klischees, aber keinesfalls an der ausgeklügelten Anlage dieser Erzählung. Die Heldin, mit welcher der Leser zunächst durchaus Sympathie haben darf, ist die junge Luise Tietjen, die prospektive Erbin des Unternehmens. Wie im Rückblick zu sehen, gerät sie zwischen die Fronten, denn der eingeheiratete Schwager Kurts drängt sie zur Übernahme der Geschäftsführung. Luise hält als Einzige noch Kontakt zu ihrem Vater, der in New York zwar ein fast mittelloses Dasein fristet, sich aber neu verliebt und erstmals Freiheit wittert: „Hier konnte sich ein Leben noch verändern, hier legte die Herkunft nicht alles fest.“ All das geht nicht gut aus, wie der Leser weiß, denn am Beginn des Buches steht Kurts Tod in einem schäbigen Appartement. Bossongs Roman ist eine psychologisch anspruchsvolle Studie über den Einfluss von Macht auf den Charakter, vorgeführt an der Figur Luise. Mitten in der Überforderung nämlich erwacht ihr Überlebens-, ja, ihr Geschäftstrieb: Die Rettung der Firma steht an, auch lockt das Geld, aber in erster Linie strebt Luise nach Macht. So muss der Leser bald einsehen, willig einer inzwischen kalt berechnenden, genüsslich grausamen Figur gefolgt zu sein. Sie setzt alles auf eine Karte, nimmt den Kampf gegen den Vater auf. Was das mit dessen Tod zu tun hat, klärt sich erst auf der letzten Seite. Nächste Seite: Ralph Dohrmanns „Kronhardt” Es ist wie das Aufblättern eines Albums der gewinnoptimierten Hartherzigkeiten. Die Form wirkt geradezu filmisch, eine schnell geschnittene Abfolge von Rückblende-Sequenzen in einfachen Sätzen. Weil dies alles moralfrei geschieht, darf einen durchaus ein wenig frösteln. Es geht hier nicht um den Verfall einer Familie, sondern um den sukzessiven Nachweis, dass diese – jenseits der Firma – längst nicht mehr existiert. So scheint das Äußerste an Nähe zwischen den Figuren schon erreicht, wenn sie gegeneinander prozessieren, statt einander nur zu ignorieren. Damit enthält dieser Anti-Familienroman implizit doch eine moralische Botschaft: Der Preis für das Mitmischen an vorderster Wirtschaftsfront ist radikale Einsamkeit, und das in einer Gesellschaft, die Einsamkeit als Krankheit ansieht. Ein Einzelgänger ist auch Willem Kronhardt, der Erbe der „Bremer-Stickerei-Manufactur“ in Ralph Dohrmanns sechzig Jahre überspannender Romanbiografie „Kronhardt“. Dunkel kann er sich noch an den kunstsinnig-wirtschaftsfernen Vater erinnern, der auf rätselhafte Weise ums Leben gekommen ist. Den Betrieb leiten seither die bösartige Mutter und ein ungeliebter Stiefvater: der Bruder seines Vaters. Das neunhundertseitige Buch zerfällt in zwei Romane. Der erste, bessere, umfasst etwa zwei Drittel des Umfangs und ist ein klassischer Entwicklungsroman. Willem lernt die Kunst der Verstellung, wird zum souveränen Zyniker mit einigen Sympathien für linke Positionen, der aber seinem Milieu nicht entkommt. Er studiert schließlich Betriebswirtschaftslehre und übernimmt die Stickerei, was ihm jedoch einige Kampfkraft abverlangt. Die Darstellung dieser Jugend zwischen Rebellion und Einfindung ist mit viel kultur- und zeitgeschichtlichem Kolorit ausgepinselt: von Pausenhof-Klassenkämpfen (gern um das reiche Gör Patrizia, das später bei einem linksradikalen Terroranschlag ums Leben kommt) bis zu Erlebnissen in einer Berliner Hippie-Kommune. Diese Detailverliebtheit erweist sich allerdings als Schwäche: Dass jede noch so periphere Schulfreundschaft oder Liebelei folgenlos ausgewalzt wird, ist weniger Arbeit am großen Zeitpanorama der Bundesrepublik als Kapitula­tion vor der Geschwätzigkeit. Nicht anders als Bossong ist Dohrmann davon fasziniert, wie unentrinnbar Firmenerben in ihr Schicksal verheddert sind, wie sie trotz aller Absetzbemühungen doch schließlich mit verzweifelter Lust den vorgezeichneten Weg einschlagen und die Erwartungen übertreffen. Dabei werde ein jeder mit eigenem Kopf geboren, wie Willems Mentor, der weise Arzt Blaske, gleich zu Beginn äußert, und „wenn sie nicht so anfällig für die Wirklichkeit der Alten wären, könnten diese Köpfe eine wunderbare Welt erschaffen“. Aber diese Anfälligkeit eben präge die Jungen, weshalb das Verknöcherte von einem Kopf an den nächsten weitergegeben werde. Wir wohnen also der Bestätigung dieser Prognose bei. Der zweite Roman bringt einen Genre- und Perspektivwechsel mit sich, was interessant sein könnte, aber leider nicht überzeugt. Zu ungelenk wirken die Krimi-Anleihen – zwei seltsame Privatdetektive sollen den ganz und gar nicht natürlichen Tod des Vaters aufklären – und die allzu spät plötzlich ins Historische und gar Anthropologische ausgreifenden Tieferlegungen der Handlung. Die Detektive nämlich stoßen auf eine Verschwörung, die mit einem nationalsozialistischen Rassetheoretiker zu tun hat, und ein frühgeschichtlicher Schädel wird mit reichlich Bedeutung aufgeladen. Um das Verhältnis von Determinismus und Verantwortung des Einzelnen geht es auch hier, nun in größerem Maßstab. Der gelungen leichte Ton und die ernsthafte ökonomische Perspektive des ersten Buches, die Stärken von Dohrmanns Roman, gehen darüber verloren. Nächste Seite: J.J. Voskuils „Das Büro” Einen interessanten Sonderfall innerhalb der neueren Firmen- und Büroliteratur stellt Johannes Jacobus Voskuil dar. Sein zwischen 1996 und 2000 erstandener Megaroman „Das Büro“, dessen allein schon neunhundert Seiten umfassender erster Teil (von sieben) jetzt erstmals auf Deutsch erschienen ist, handelt nicht von einem Wirtschaftsunternehmen, sondern von einem vor der Durchökonomisierung der Hochschulen sehr verbreiteten Büro-Typus: dem sich selbst genügenden wissenschaftlichen Institut, das ganzen Generationen von Akademikern zur geistlosen Lebensform wurde. Man richtete sich ein in Langfristprojekten, deren Rahmen so weit gesteckt war, dass er gänzlich aus dem Blick geriet. Dieser engen und doch verführerisch behaglichen Welt hat Voskuil, der selbst jahrzehntelang in einem volkskundlichen Institut in Amsterdam beschäftigt war, mit seinem Tagebuch der Sinnlosigkeit, das in den Niederlanden zu einem Kultbuch avancierte, ein wuchtiges Denkmal gesetzt. Seine Saga um den obszön antriebslosen Forscher Maarten Koning ist lebensnah und unerbittlich. Obwohl er nicht wirklich möchte, sogar äußert: „ich habe nichts zu sagen“, bekommt er – vom Schicksal erkoren – eine Stelle als wissenschaftlicher Beamter in dem von Direktor Beerta geleiteten Volkskunde-Institut. Maartens Freundin hält es für den Anfang vom Ende des Lebens, überhaupt arbeiten zu gehen. Und natürlich sind alle Sorgen berechtigt, denn schon nach kürzester Zeit wird klar: Der Held ist in der Hölle gelandet, in einer geschlossenen Gesellschaft, einem absurden Theaterstück, das aber in allen, die je mit staatlicher Bürokratie in Berührung gekommen sind, eine Saite zum Klingen bringt. Schon die Forschungsaufgabe ist ein köstlicher Scherz: Maarten soll für den „Atlas der Volkskultur“ die Verbreitung des Wichtelmännchenglaubens recherchieren und auf Karten vermerken, wobei sich herausstellt, dass die bisherigen Karten allesamt unbrauchbar sind. Das muss vor der nie wirklich greifbar werdenden „Kommission“ bemäntelt werden, weil der erste Lexikon-Band nach zwanzigjähriger Arbeit nun endlich erscheinen soll. Das ergäbe hochgerechnet bereits eine Laufzeit von vierhundert Jahren für dieses Unterprojekt, wie Maarten, der gern zynisch nachfragt, dem Direktor darlegt. Wie die ohnehin nur im Schneckentempo verlaufenden, von ritualisiertem Büroalltag oder von Dienstreisen zu Konferenzen überlagerten Feldforschungen auch noch permanent scheitern, das liest sich in seiner stilistischen Einfalt mitunter schrecklich zäh – und ist eben deshalb so grandios. Nur mit solcher Rigidität und solchem Hyperrealismus lässt sich die ganze Vergeblichkeit des großen geisteswissenschaftlichen Projekts auf den Punkt bringen: So unermüdlich wurde das Erkenntnisinteresse hier immer weiter nach innen aufgefaltet, bis ein schwarzes Loch entstand, in dem bis heute alle Wirklichkeitsrelevanz verschwindet. Dass auch Voskuil einen tragischen Helden zum Fixstern seiner Satire macht, einen hellsichtigen Verweigerer, der das Verweigern preisgibt, bildet bei aller Differenz der Welten doch einen Vergleichspunkt mit den Romanen von Bossong und Dohrmann: Wir begegnen Getriebenen, die hin- und hergerissen werden zwischen dem Freiheitsgeist ihrer Generation und der eigenen Bestimmung. Letztlich siegt immer die Vernunft, will sagen: das Geld. Erst in der Katastrophe liegt die Befreiung. Die Literatur, so scheint es, hat Insolvenz angemeldet für unschuldige Utopien. Und das ist ein Glück. Nora Bossong: Gesellschaft mit beschränkter Haftung. Roman. Hanser, München 2012. 299 S., 19,90 € Ralph Dohrmann: Kronhardt. Roman. Ullstein, Berlin 2012. 922 S., 24,99 € J.J. Voskuil: Das Büro. Direktor Beerta. Roman. C.H. Beck, München 2012. 545 S., 25,90 € ____________________________________________________________
Oliver Jungen
Unternehmensromane sind der neue Trend: Kapitalistische Dressur und Freiheitsdrang, Hierarchie und Gemeinschaft, gestern und morgen – hier prallen sie aufeinander
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kultur
2013-02-01T14:46:31+0100
2013-02-01T14:46:31+0100
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50 Jahre Sendung mit der Maus - Die schönste Wiederholung des Lebens
Vielleicht heißt erwachsen werden vornehmlich dieses: Man wird älter und erkennt, dass das Leben auch die Summe der abgearbeiteten oder sogar vertanen Dinge ist. Vieles gibt es eben nur genau einmal: Es gibt den ersten Schultag, den ersten Kuss, das erste große Ding, das man dreht. Und irgendwann schaut man zurück auf das, was schon alles hinter einem liegt und denkt mit Sehnsucht an jene warme, vertrauensvolle Stimme, bei der wenigstens einmal alles anders war: „Und weil das jetzt so schnell ging, schauen wir das nochmal!“. Nie war die zweite Chance so bedingungslos und selbstverständlicher wie in den Sachgeschichten von Armin Maiwald. Egal was war: Ob ein Bauer eine Kartoffel pflanzte oder ob ein Astronaut in den dunklen Weltraum flog – auf Armins Nachsicht konnte man bauen: „Und weil das jetzt so schnell ging, schauen wir das nochmal!“ Das war die schönste Wiederholung des Lebens. Später, wenn ich einmal wirklich alt sein werde, hoffe ich noch einmal diese Stimme zu hören. Dieses fast väterliche Timbre, mit dem das Unmögliche nochmal möglich werden kann. Ralf Hanselle Natürlich muss es vor mir Menschen gegeben haben, die auch ohne die Maus großgeworden sind. Aber so richtig vorstellen kann ich mir das eigentlich nicht. Eine Kindheit ohne den liebenswürdig-vorwitzigen Nager mit seinem hellbraunen Fell, den dunkelbraunen Ohren und den sechs markanten Barthaaren um die schwarze Stupsnase – das dürfte bestimmt eine trostlose Angelegenheit gewesen sein. Die Maus und ich, wir sind ungefähr gleich alt; sie kam also genau zum richtigen Zeitpunkt auf die Welt. Der klackernde Augenaufschlag, der bei Bedarf wie ein Propeller rotierende Schwanz, dieser stets vergnügte Einfallsreichtum: Das kleine Tier, wiewohl es seinen Gefährten, den blauen Elefanten, sogar um mindestens einen Kopf überragt, hat meine Fernsehsozialisation entscheidend geprägt. Jede Episode war faszinierend, jedes Maus-Abenteuer ein Hinweis darauf, dass sich selbst die vertracktesten Probleme am Ende irgendwie mit Humor und originellen Ideen lösen lassen. Am besten gefiel mir allerdings immer der Vorspann, in dem die Themen der Sendung angekündigt werden. Genauer gesagt der zweite Teil dieses Vorspanns, wo die Ansage noch einmal in einer Fremdsprache wiederholt wird. Seltsam klingende, unverständliche Sätze in harmonischem Singsang, gefolgt von der Auflösung: „Das war Portugiesisch.“ Oder: „Das war Russisch.“ Da wurde schon in dem kleinen Jungen die Neugierde auf fremde Länder geweckt; es war ein Versprechen auf eine exotische Welt, die sich hinter dem heimatlichen Horizont auftun würde und die es später zu entdecken gelte. So kann es dann ja auch. Die Maus ist eben eine Türöffnerin, sie ist es bis heute geblieben. Inzwischen macht sie sogar Lust auf noch entlegenere Welten als Portugal, Russland oder ähnlich exotische Destinationen. Im Jahr 2017 erklang der legendäre Fremdsprachen-Vorspann nämlich erstmals auf Klingonisch: „Ej, net Sov, nutlej Maus e levan je.“ Man lernt halt nie aus mit der Maus. Alexander Marguier Das ist der Armin. Wenn der Armin ein Buch wäre, könnte man ihn immer aufklappen, wenn man eine Frage hat. Der Armin erklärt Kindern, was auch Erwachsene schon immer wissen wollten, sich aber nie zu fragen trauen. Wie die Zahnpasta in die Tube kommt zum Beispiel. Oder ob Ameisen schlafen. Klingt komisch. Ist aber so. Seht Ihr ja selbst. Armin, das ist Armin Maiwald. Sonore Stimme, freundliche Augen hinter einer Nickelbrille. Ein Mann, der sich ein kindliches Staunen bewahrt hat. Maiwald kommt vom Theater. Er ist eigentlich Dramaturg. Er erklärt die Welt, ohne seine Zuhörer zu belehren. Und wie er das macht, in scheinbar lässig aus dem Handgelenk geschüttelten Sätzen, das ist große Kunst. Die Satire-Sendung extra 3 hat diesen lakonischen Stil jahrelang versucht, für die Politik zu kopieren. „Ach- und Krachgeschichten mit dem Klaus”, hieß die Kopie. Sie kam nie an das Original heran. Auch die Maus hatte gegen Armin Maiwald keine Chance. Sie war ja keine normale Maus oder gar ein Mäuschen. Eher eine Superheldin in Gestalt einer etwas unförmigen Nagerin. Es gibt nichts, was die Maus nicht kann. Wenn sie Durst hat, öffnet sie ihren Bauch und holt eine Flasche Milch heraus. Und wenn sie nicht an die Äpfel im Baum  drankommt, weil sie zu klein ist, alles kein Problem. Die Maus fährt einfach ein Paar Stelzen aus. Sie klackert dazu mit den Liddeckeln. Es ist ein Geräusch, das signalisiert: Vorsicht, Geistesblitz! Als Kind habe ich mich vor ihr gefürchtet. Als Mutter finde ich sie noch immer spooky. Kinder müssen nicht funktionieren. Sie müssen nicht für jedes Problem eine Lösung haben. Sie sollten Kind sein und sich ausprobieren dürfen. So wie der blaue Elefant oder die Ente, die in den 80er-Jahren als Begleiter der Maus dazukamen. Aber wie gesagt, wegen der Maus habe ich die Sendung ja sowieso nie geschaut, sondern wegen dem Geschichtenerzähler Maiwald. Eigentlich müsste sie „die Sendung mit dem Armin“ heißen. Antje Hildebrandt Da war sie wieder, die Eiermaschine. Ein fast Steampunk-haftes Monstrum hinter der Küchenwand und unterhalb des Hühnerstalls. Ein Huhn legt ein Ei, es kullert durch die Maschine, wird dabei gewogen, durchleuchtet, gewaschen, nach Größe sortiert und schließlich durch eine Öffnung in der Wand in die Küche der Maus gekippt. Manchmal genau rechtzeitig, um in der Pfanne zu landen, manchmal auf dem Boden. Die Eiermaschine stammt aus den 1980ern, die Zeit meiner Kindheit, und sie ist vielleicht eine der bekanntesten Maus-Spots des Zeichners Friedrich Streich. Inzwischen haben wir die 2020er und ich bin Vater eines Sohns. Mit ihm schaue ich ab und zu, wenn es zwischen Home-Office und Windeln wechseln Zeit wird für eine Pause, die Maus-Cartoons. Die Eiermaschine nach mehr als 30 Jahren wiederzusehen, war ein irres Erlebnis. Sie hatte sich so in meine Erinnerung eingebrannt, dass ich mich augenblicklich in meine Kindheit zurückversetzt fand. Als hätte ich eine Zeitkapsel geöffnet, in der alles perfekt konserviert worden war. Und ich muss sagen, es macht immer noch Spaß, sich den orangenen Nager und seinen kleinen blauen Freund anzusehen. Die Maus ist originell, sie findet gemeinsam mit dem Elefanten immer eine Lösung für ein scheinbar nicht zu lösendes Problem. Und die beiden haben Humor, über den ich auch als Erwachsener noch lachen kann. In einem Spot treten plötzlich ein großer Elefant und eine kleine Maus auf, das Größenverhältnis also auf den Kopf gestellt, obschon es ja eher der Realität entsprechen würde. Doch es sind nur Kostüme: Die Maus hat sich als Elefant verkleidet, der Elefant als Maus. Beide legen ihr Kostüm ab und lachen. Mein Sohn und ich lachen auch. Vielleicht wird er das in drei Jahrzehnten mit seinem Kind ebenfalls. Marko Northe Mehr als jeder einzelne Inhalt, und auch überhaupt mehr als jede visuelle Erinnerung an die Sendung, ist es für mich die Musik, die Titelmelodie, die mich geradezu magisch noch heute wieder zum erwartungsgespannten, lerngierigen Kind macht. Dieser altbundesrepublikanische Fernseh-Bigband-Sound, dessen schwer zu leugnende Hüftsteifheit und fehlenden Swing man im Count-Basie-hörenden nordrhein-westfälischen Elternhaushalt schon bemerkte, der sich im Laufe der Jahre aber so sehr mit der freudigen Erwartung auflud, welche Maschinen man nun was herstellen sehen würde – dass es noch immer reicht, die wenigen Takte zu hören, und der ganze Körper weiß: Jetzt kommt was Interessantes! Jens Nordalm „Moin-Moin, Kinners!“, schallt es durch die Wohnzimmer der Republik und das schon seit 1991. So lange sind die Seemannsgeschichten von Käpt'n Blaubär bereits Bestandteil der „Sendung mit der Maus“. Neben dem Trio aus Maus, Elefant und Ente stehen also auch noch andere Charaktere im Mittelpunkt der Sendung. Und das sehr erfolgreich. Seit 14 Jahren müssen sich die Eltern und Großeltern dann auch noch den Songtext „Oh Shaun das Schaf“ in Endlosschleife anhören. Ein mehr oder weniger ganz gewöhnliches Schaf erobert die Bildschirme der Nation in Windeseile. Shaun ist ein neugieriges und verschmitztes Schaf, das den doch eigentlich so idyllischen Bauernhof in jeder Episode wieder aufs Neue aufmischt. Doch ganz können sie der Maus dann doch nicht die Show stehlen, denn sie ist ja bereits seit 50 Jahren auf eine doch so leise Art und Weise der Star des deutschen Fernsehens. Große runde Geburtstage werden natürlich auch entsprechend groß gefeiert. Auch wenn es dieses Jahr keine Umarmungen oder Küsschen geben wird, werden die Glückwünsche nicht ausbleiben. Man darf dann auch mal in Erinnerungen schwelgen… Als Kölsches Mädche hatte ich bereits mit zwei Jahren den 30. Geburtstag der Maus live feiern dürfen, so haben es mir zumindest meine Eltern später erzählt. Beim WDR in Köln kamen der Sandmann, Pumuckl, Samson aus der Sesamstraße und tausende von Kindern zusammen. Und das nur, um der Maus zu gratulieren. Auch wenn ich bis jetzt die Lach - und Sachgeschichten der Maus erst 22 Jahre miterleben durfte, bin ich immer noch neugierig darauf, wie die Löcher in den Käse kommen. Sina Schiffer Als kleiner Junge gehörte für mich „Der kleine Maulwurf“ zum unverzichtbaren Teil der Sendung mit Maus. Zwar sagte das Zeichentrick-Kerlchen – im tschechischen Original Krteček – nie ein Wort, sondern brabbelte, kicherte oder jammerte vor sich hin. Aber der kleine Herr vom Hügel war ein wohltuendes Komplementär zu den faszinierenden Sachgeschichten. Wenn man dem Hirn-Herz-Hand-Modell des Pädagogen Heinrich Pestalozzi folgen will, so war der kleine Maulwurf für Hand und Herz zuständig. Ein wünschenswerter Arbeiter, der emsig trotz aller Plage stets Vorräte sammelte, Gräben gegen Überschwemmungen aushob – und dem dabei immer wieder schlimme Schicksalsschläge drohten. Nicht immer waren es Lachgeschichten, eher herzzerreißende Schmerzgeschichten, die sich am Ende aber glücklicherweise immer in Leichtigkeit auflösten. Wie oft saß der kleine Maulwurf auf seinem Hügel und weinte bitterliche Tränen. Untermalt von der Musik der tschechischen Komponisten Miloš Vacek und später Vadim Petrov, zog immer auch ein wenig Melancholie durchs sonntägliche Kinderzimmer. Mein Mitgefühl war grenzenlos – zumindest trampelte ich nie wieder achtlos auf kleine Erdhaufen auf der Wiese, auch wenn ich bis heute enttäuscht bin, nie den kleinen Maulwurf mit seinem Spaten dort erblickt zu haben. Empathie lebte der Bodenwühler auch selbst vor. Als etwa der Nachbars-Igel dank seiner Stacheln mit Leichtigkeit Äpfel, Birnen und Nüsse als Wintervorräte aufspießte und sie dann mit Genuss, aber ohne sie zu teilen, verspeiste, konnte ich das kaum fassen. Wie gemein! Denn der Maulwurf schleppte sich derweil mit schweren Steinen, die im Weg herumlagen, zu Tode. Als der Igel dann von einem Trophäensammler gefangen genommen und ausgestellt wurde, zögerte der Maulwurf keine Sekunde. Er rief die kleine Maus aus dem Loch und sie befreiten ihn – egal wie selbstsüchtig und verschwenderisch dieser zuvor auch gewesen sein mag. Der kleine Maulwurf, er war eben auch sozialistischer Gruß der Freundschaft aus der damaligen Tschechoslowakei. Ausgestrahlt wurde er tatsächlich ab 1968 in der BRD im Ersten, und damit sogar früher als in der damaligen DDR. Krteček – er war eine freundschaftliche Unterwanderung. Ein Maulwurf, wie man ihn sich gerade in Zeiten des Kalten Krieges nur wünschen konnte. Bastian Brauns
Cicero-Redaktion
Verlässlich, freundlich und orange: Seit 50 Jahren erklärt eine Maus Kindern und Erwachsenen die Welt. Höchste Zeit, mal zu fragen, was Deutschlands älteste Kindersendung so erfolgreich macht. In unserer Redaktion gibt es darauf ganz verschiedene Antworten.
[ "Sendung mit der Maus", "WDR", "Kinderfernsehen" ]
kultur
2021-03-05T20:51:14+0100
2021-03-05T20:51:14+0100
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Zum Tod von Loriot – Der deutsche Humor hat sein wichtigstes Gesicht verloren
„Die Ente bleibt draußen.“ oder „Früher war mehr Lametta.“ Diese zwei Sätze kennt hierzulande wohl jeder. Kaum ein Mann genießt in Deutschland so viel Popularität wie Loriot. Seit der Nachricht von seinem Tod, laufen die Server heiß, die Videos seiner Sketche verbreiten sich im Internet wie ein Lauffeuer. Die Trauerarbeit der Deutschen hat begonnen. Sie haben ihren wohl größten Humoristen verloren. Am Montagabend starb Bernhard Victor Christoph-Carl von Bülow im Alter von 87 Jahren in seinem Heim am Starnberger See. Heimlich, still und leise ist er von uns gegangen, der Fürst des deutschen Humors. Auch um Komik zu erzeugen, ist er nie laut geworden, war nie aufdringlich oder gemein. Loriot war der Meister des trockenen deutschen Humors und ein echter Ausnahmekünstler. Seine vielfältigen Talente machten es ihm bis ins hohe Alter schwer, sich auf eine Berufsbezeichnung festzulegen. Der gebürtige Brandenburger entstammte einem mecklenburgischen Adelsgeschlecht. Sein Vater war ein preußischer Offizier, und auch er selbst schlug die Offizierslaufbahn ein. Nach dem Krieg ging er an die Kunstakademie in Hamburg. Schon in seiner Studienzeit entstanden die berühmten Knollnasenmännchen, die er später im Stern unter dem Pseudonym „Loriot“ veröffentlichte. Vom Cartoonisten schaffte er den Sprung zum Fernsehen. Er wurde Moderator, schrieb eigene Drehbücher, schauspielerte und führte Regie. Sein stolzes Lebenswerk umfasst zwei Kinofilme, an die hundert Fernsehsketche und unzählige Cartoons und Zeichnungen. In die Herzen der deutschen Zuschauer brachte er es vor allem durch seine eigene Sendung „Loriot“, die er im Auftrag von Radio Bremen zwischen 1976 und 1978 produzierte. Seine Anmoderationen vom Gründerzeitsofa und die Sketche mit seiner 2007 verstorbenen Schauspielkollegin Evelyn Hamann sind zum Klassiker der deutschen Fernsehgeschichte geworden. Was Goethe und Schiller für die deutsche Dichtkunst bedeuteten, war Loriot für die deutsche Komik. Wie kein anderer verkörperte er den deutschen Humor. Er war es, der die Deutschen Selbstironie lehrte, etwas, was nach zwei Weltkriegen verloren gegangen war. Loriot hielt den Bundesbürgern der Nachkriegszeit mit seinen Figuren einen Spiegel vors Gesicht. Seine Figuren kamen meist aus dem eher konservativen Bürgertum, das sich nach dem Wirtschaftswunder bequem zu Hause eingerichtet hatte und sich mit den alltäglichen Banalitäten wie Bettenkauf oder dem Essen einer viel umwickelten Kohlroulade beschäftigte. Loriot führte uns Deutschen die Absurditäten und Tücken unseres Alltags vor. Die ganz banalen Missverständnisse und Kommunikationsstörungen, das Aneinander-vorbei-Reden, insbesondere zwischen Mann und Frau, waren seine großen Themen. Themen, die bis heute nichts an Aktualität verloren haben. Loriot war ein begnadeter Anthropologe. Seine Werke leben von seiner Beobachtungsgabe und Detailverliebtheit. In keinem seiner Filme oder Sketche ließe sich auch nur ein Element finden, was er dem Zufall überlassen hätte. Selbst die Statisten im Hintergrund sind noch Teil seiner Alltagsinszenierung, ob sie sich einfach nur umständlich den Pullover ausziehen oder in Hundekot treten. Der preußische Perfektionismus konnte so manchen seiner Kollegen verzweifeln lassen, aber letztlich ist es genau er, der seine Werke von den Fließbandarbeiten eines Stefan Raabs unterscheidet. Loriot nahm sich Zeit. Nur so gelang ihm die Zeichnung unvergesslicher Charaktere: Opa Hoppenstedt, der Lottogewinner Erwin Lindemann, Familie Lohse, Vic Dorn, Herr Müller-Lüdenscheidt oder auch die Maskottchen der ZDF-Show „Der große Preis“ Wum und Wendelin, sie alle sind nur einige Wenige von vielen. Loriot war ein Jongleur der Sprache. Ihm gelang es, die ohnehin oft so unromantische und komplizierte deutsche Sprache humoristisch in Szene zu setzen. Er ist wahrscheinlich der einzige Komiker, dessen Wortschöpfungen wie „Kosackenzipfel“, „Jodeldiplom“ oder ein einfaches „Ach was“  in den allgemeinen deutschen Sprachgebrauch übergegangen sind. Sein spitzbübisches Lächeln und seine Selbstironie bewahrte sich Loriot bis ganz zum Schluss. So bleibt auch uns nichts anderes übrig, als das Leben mit einem Augenzwinkern zu nehmen und mit Würde das Erbe unseres großen Humoristen zu verwalten. Der bekennende Mopsfan hat einmal gesagt: „Ein Leben ohne Mops ist möglich, aber sinnlos.“ Mit Loriot ist es wie mit den Möpsen. Auch die Cicero-Online-Redaktion reiht sich in den virtuellen Trauerzug ein und schließt mit einem Loriot-Klassiker: Liebe im Büro Ruhe in Frieden, Loriot! Wir danken Dir für Jahrzehnte voller großartiger Unterhaltung.
Deutschland trauert um den verstorbenen Komiker Victor von Bülow alias Loriot. Mit ihm geht einer der wohl größten Humoristen des Landes von uns. Ein Nachruf von CICERO ONLINE.
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kultur
2011-08-23T18:42:02+0200
2011-08-23T18:42:02+0200
https://www.cicero.de//kultur/der-deutsche-humor-hat-sein-wichtigstes-gesicht-verloren/42721
Charité-Studie - Kein erhöhtes Covid-Risiko in Bussen und Bahnen
Busse und Bahnen sind auch in Pandemiezeiten ein sicheres Transportmittel. Das Risiko, sich dort zu infizieren, ist niedrig. Das ist das Ergebnis einer Untersuchung der Charité, wie das RBB-Inforadio berichtet. In den Jahren 2020 und 2021 hat die Charité-Research-Organisation Personal der Deutschen Bahn, das im Fernverkehr arbeitet, untersucht. Dazu gab es drei Testreihen mit jeweils über 1.000 Mitarbeitern. Ergebnis: Das Corona-Risiko ist offenbar bei Personal mit Kundenkontakt nicht höher als bei jenem ohne solche Kontakte. Die Infektionszahlen entwickelten sich in diesem Zeitraum ähnlich wie in der Gesamtbevölkerung. Bei Bussen und Bahnen im Regionalverkehr kommt die Charité-Research-Organisation zu einem ähnlichen Befund. Untersucht wurden Berufspendler im Rhein-Main-Gebiet. Fast 800 Freiwillige wurden im Frühjahr 2021 getestet. Das Ergebnis: Wer Busse und Bahnen im Regionalverkehr benutzt, hat kein höheres Infektionsrisiko als Pendler, die regelmäßig mit dem Auto, dem Fahrrad oder zu Fuß unterwegs sind. Warum bei diesem Befund aus epidemiologischer Sicht eine 3G-Regel im Nah- und Fernverkehr sinnvoll sein soll, hat die Charité leider nicht untersucht. Zum Bericht des RBB-Inforadio geht es hier.
Cicero-Redaktion
Das Charité-Research-Center hat Personal im Fernverkehr und Berufspendler im öffentlichen Nahverkehr untersucht und festgestellt, dass beide Gruppen kein erhöhtes Risiko haben, sich mit Covid zu infizieren.
[ "Covid-19", "Corona", "öffentlicher Personen Nahverkehr", "Nahverkehr" ]
innenpolitik
2021-12-06T16:06:15+0100
2021-12-06T16:06:15+0100
https://www.cicero.de/innenpolitik/charite-studie-kein-erhohtes-covid-risiko-in-bussen-und-bahnen-corona-nahverkehr-fernverkehr
CDU-Abgeordneter Andreas Mattfeldt - „Das politische Handeln wurde immer stärker am Mainstream ausgerichtet“
Andreas Mattfeldt ist seit 2009 CDU-Bundestagsabgeordneter für den Wahlkreis Osterholz-Verden. Herr Mattfeldt, das Thema Klima spielt derzeit die größte Rolle in der Bundespolitik. Halten Sie das für richtig? Wir müssen angesichts der Debatte um die Klimakrise aufpassen, dass wir nicht den Blick fürs Ganze verlieren. Es gibt auch noch andere, genauso wichtige Themen. Leider wird man häufig nicht mehr gehört, wenn man zum Beispiel die kritische Lage im Pflegebereich anspricht, gerade auch mit Blick auf die Zukunft. Gerade der älteren Generation ist dies besonders wichtig. Ich will, dass wir in Würde alt werden können. Dafür halte ich es hier für zwingend erforderlich, Pflegekräfte besser zu entlohnen. Der Klimawandel gilt als gefährlich für die Menschheit und ist wohl auch deshalb oberste Priorität. Natürlich ist der Klimawandel ein wichtiges Thema. Aber wir stoßen auch in anderen Bereichen, wie im eben erwähnten Gesundheitsbereich, inzwischen an Grenzen. Hier wird es sogar gefährlich, denn es geht um Menschenleben. Erst kürzlich musste, wie ich einem Fernsehbeitrag entnehmen musste, die Intensivstation für Kinder an der Medizinischen Hochschule Hannover schließen, weil nicht genügend Pflegepersonal da war. Wo kommen dann die schwerkranken Kinder hin? Das bedeutet vermutlich dann weitere Wege. Je nachdem, was die Kinder für Erkrankungen haben, müssen sie dann nach Bremen, Oldenburg, Salzgitter oder gar nach Leipzig gebracht werden. Über Pflege wurde und wird aber doch viel berichtet. Wir verlieren aber den Blick fürs Ganze, weil deutschlandweit medial derzeit fast ausschließlich über den Klimawandel und nicht mehr über andere Themen gesprochen wird, die den Menschen auch unter den Nägeln brennen. Auch wenn ich kein Gesundheitspolitiker bin, bin ich nicht erst seit meine Tochter eine Ausbildung zur Krankenschwester macht für das Gesundheitsthema sensibilisiert. Aber die Gespräche, die ich seither mitbekomme, zeigen mir, dass wir hier auf einen Supergau zulaufen, weil nicht genügend junge Menschen aufgrund zu geringer Bezahlung bei zu hoher Belastung den Pflegeberuf erlernen. Angebot und Nachfrage müssen auch den Preis auf dem Arbeitsmarkt bestimmen. Dass viele Medien sich mit dem Klimathema beschäftigen, heißt aber doch nicht, dass es auch Politiker tun müssen. Sie könnten doch andere Themen setzen? Es liegt in der Genetik der Politiker, dass sie Themen in den Blickpunkt rücken, die medial von Interesse sind. Hiervor ist auch unsere Bundeskanzlerin nicht gefeit, die naturgemäß sehr medienaffin sein muss und sich deshalb an Themen ausrichtet, die gerade en vogue sind. Nur wer beliebt ist, wird wiedergewählt und kann so auch gestalten. Dies scheint Angela Merkel seit 16 Jahren ganz gut gelungen zu sein. Ich mache jetzt seit mehr als 30 Jahren Politik und bin gleichzeitig noch Unternehmer. Ich stelle aber fest, dass gerade in den vergangenen zehn Jahren das politische Handeln immer stärker am Mainstream ausgerichtet wurde. Natürlich spielen auch die sozialen Medien hier eine Rolle. Man möchte möglichst viele Likes bekommen. Ich glaube, Franz Josef Strauß sagte mal, er mache das, worauf es ankommt und nicht das, was ankommt. Ich glaube das trifft es. Was stört sie konkret? Wir Politiker handeln eben nicht nach Franz Josef Strauß, sondern machen häufig nur das, was ankommt. Vielen ist wichtig, dass ihr Name irgendwo auftaucht. Dafür macht man häufig jeden Quatsch mit. Man geht in Comedy-Sendungen und lässt sich durch den Kakao ziehen. Gerade junge Abgeordnete sind dafür anfällig. Ob das dem Land und den Wählern zuträglich ist, bezweifle ich. Glauben Sie, dass dieses sich nach dem Wind Drehen dazu geführt hat, dass innerhalb der Union nun Gruppierungen wie die Werteunion oder die Union der Mitte entstanden sind? Ich gehöre keiner dieser Gruppierungen an, weil ich glaube, dass die Union das nicht braucht. Ich halte das für albern. Wir haben in den letzten Jahrzehnten immer unterschiedliche Sichtweisen manchmal auch verbal hart diskutiert, haben aber immer einen Kompromiss gefunden. Das zeichnet die Union aus. Und ich bin sicher, hier kommen wir auch wieder hin. Jetzt finden Sie aber offensichtlich keinen Kompromiss mehr. Wir erleben, dass einige konservative Kräfte sich nicht mehr mitgenommen fühlen. Ich meine ganz normal in der Mittelschicht der Gesellschaft verortete Menschen, die etwa in Fragen der inneren Sicherheit härtere politische Entscheidungen fordern. Natürlich steht das alles auch in einem Zusammenhang mit dem Jahr 2015, wo täglich zigtausend Menschen unsere Grenze passieren konnten, ohne kontrolliert zu werden. Dies war mit der DNA der CDU-Wählerschaft nicht mehr vereinbar. Wenn wir ehrlich sind, hat sich die Partei bis heute davon nicht wieder komplett erholt, obwohl wir vieles im Nachhinein korrigiert haben. Eine Antwort will nun die Werteunion geben. Ja, natürlich hat sich die Werteunion gegründet, um gerade auch Menschen, die ich zu unserer Stammwählerschaft zähle, nicht zu verlieren. Ich sehe diese Gründung als Weckruf, stellenweise sogar als Hilferuf: Vergesst uns nicht! Es ist für einen CDU-Wähler unvorstellbar, sein Kreuz bei der AfD zu machen oder gar dorthin zu wechseln. Als Antwort auf die Werteunion hat es dann den Anschein, dass die sogenannte Union der Mitte aus Kreisen gebildet wurde, denen das Parteiprogramm der Grünen vielfach sehr nahe ist. Zur Wahrheit gehört aber: Beides sind Gruppierungen, die eher schmal organisiert sind und die der Organisationsstruktur der Unionsparteien nicht als offizielle Gliederungen angehören. Aber sie sagen selbst, Ihre Basis tickt deutlich konservativer. Zugleich zieht die Parteiführung in Richtung grün. Zeigen diese Gruppierungen nicht, dass die blau-grünen Polaritäten auch quer durch ihre Partei gehen? Genau das ist es. Und dieser Riss geht auch durch die ehemalige Volkspartei SPD. Auch dort hat man den Eindruck, dass die Partei folgendes diskutiert: Gehen wir nach ganz linksgrün oder müssen wir populistischer in Richtung rechts agieren? Genauso wie wir es in der Gesellschaft erleben, spiegelt es sich auch in den Volksparteien wider. Bei mir im Wahlkreis habe ich das Gefühl, dass sich ein großer Teil der Parteibasis der Werteunion näher fühlt als der Union der Mitte. Warum gelingt Ihnen heute nicht mehr, was in den letzten Jahrzehnten offenbar gelungen ist? Wer sich an das Aufkommen der Republikaner in den 80er Jahren erinnert, weiß, dass wir auch seinerzeit heftigste Diskussionen geführt hatten. Damals ging es immer darum, dass rechts von der Union kein Platz für eine andere Partei vorhanden sein darf. Leider haben wir der Alternative für Deutschland in bestimmten Themen einfach zu viel Platz gelassen und ganz pragmatisch denkende Bürger nicht mitgenommen, beziehungsweise haben diese unser Handeln nicht mehr verstehen können. Vielfach wundere ich mich allerdings auch, dass viele Kollegen in der Union heute nicht mehr das aussprechen mögen, was sie über viele Jahre hinweg auf Basis unseres CDU-Parteiprogrammes richtig fanden. Was meinen Sie? Ich selbst habe mal in einer Bundestagsrede gesagt, dass viele Menschen in Deutschland den Eindruck haben, dass wir die Kontrolle über unsere Grenzen verloren haben und wir Grenzkontrollen als souveräner Staat wieder einführen müssen. Ich wurde von da an als Konservativer unserer Partei dargestellt, zu denen ich mich bis dahin eigentlich überhaupt nicht zählte. Meine ganze Vita und wie ich meine mein Leben als wirtschaftsliberaler Unternehmer passen hierzu zwar nicht, aber das ist auch egal. Leider führt eine solche Einordnung dazu, dass man häufig nicht mehr das sagt, was man denkt, sondern fast schon unnatürlich abwägt, was man denn ausspricht. Als direkt gewählter und wirtschaftlich unabhängiger Abgeordneter lasse ich mir das nicht nehmen. Nicht nur Sie beklagen fehlende innerparteiliche Diskussionen. Aber passt das überhaupt zur Union? Gerade innerparteiliche Diskussion ist zwingend erforderlich. Wenn wir innerhalb der Parteien nicht mehr intensiv Meinungen abwägen, weil man Angst hat, dass eine zu konservative Meinung oder Äußerungen einer politischen Karriere nicht förderlich sind, haben wir ein echtes Problem. Ich bleibe dabei, wer sich innerparteilich nicht mehr streiten kann, wird auch keinen klaren Kompass für die Ziele der Partei entwickeln können. Im Übrigen kann man dann auch in der verbalen Auseinandersetzung mit dem politischen Mitbewerber nur noch schwerlich bestehen. Es ist Aufgabe der Parteiführung, diese innerparteilichen Diskussionen intern zu fördern. Der neue Fraktionsvorsitzende Ralph Brinkhaus lässt dieses zu und dies hat bereits innerhalb der Unionsfraktionen zu einer besseren Diskussionskultur geführt. So sieht Führung aus. Ihre Partei wirkt beim Thema Klimaschutz dennoch nach wie vor so, als würde sie nur reagieren, aber nicht agieren. Wie klug stellt sich Ihre Parteivorsitzende Annegret Kramp-Karrenbauer da an? Leider sehe ich bei allen Parteien bislang nur zu viel Aktionismus und keine Strategie mit rotem Faden, die langfristig einen Ausgleich zwischen dem wirtschaftlich machbaren und klimapolitisch notwendigen aufzeigt. Man hat den Eindruck, nahezu alle Parteien überbieten sich beim Thema Klima gegenseitig. Dabei dürfen wir nicht immer nur sagen, aus welchen versorgungssicheren Energiequellen wir aussteigen wollen, sondern wir müssen den Bürgern auch sagen, in welche modernen Energiequellen wir zukünftig einsteigen werden. Wir müssen immer ganz konkret schauen, was wir tun können und in welcher Region. Was schwebt Ihnen den konkret vor? Ich bin überzeugt, wir brauchen eine Wasserstoffstrategie genauso wie eine Energiespeicherstrategie. In den vergangenen Jahren haben wir Milliarden Euro in Forschung gesteckt. Das war auch vernünftig so. Seit letztem Jahr, übrigens schon vor Greta, setzen wir diese Forschungen um. Beim Thema Wasserstoff als Speicher- und Treibstoffmedium sind wir zum Beispiel heute viel weiter als vor zwei Jahren. Gerade weil ich glaube, dass die Aufgabe der Energiewende so riesig ist, kann es klug sein, ein eigenes Energieministerium für diese Aufgabe einzusetzen. Diesen Vorschlag habe ich der Vorsitzenden Annegret Kramp-Karrenbauer auch unterbreitet. Die Elektrifizierung des Verkehrs, aber auch die Herstellung von Wasserstoff wird unseren Strombedarf massiv erhöhen. Schon jetzt sind die Strompreise die höchsten Europas. Wenn wir aus der Kohle rausgehen, müssten wir dann nicht eigentlich in der Kernkraft bleiben vorerst? Die AfD zumindest fordert das inzwischen. Wenn es wirklich so schlimm um uns steht, wie die Klima-Aktivisten und auch die angebliche Mehrheit der Wissenschaftler sagen, dann stirbt die Menschheit ja anscheinend sehr bald den CO2-Tod. Deshalb kann es nur klug sein, CO2-arme- oder CO2-neutrale Energien einzusetzen. Nur erneuerbare Energien alleine, das sagen selbst Grüne in der Kohlekommission, werden nicht ausreichen. Neue hochmoderne Kernkraftwerke mit weniger Endmüll können natürlich eine Lösung sein. Wenn Sie so etwas aber aussprechen, bekommen Sie einen Shitstorm. Das musste selbst Greta erleben. Die Grünen sind immer gut, wenn es um Ausstiege geht, aber nicht wenn es um Einstiege geht. Wir müssen uns schon die Frage stellen, woher denn der Strom, wenn wir ihn nicht selbst produzieren, kommen soll? Wenn er dann aus polnischen Kohlekraftwerken kommt, mag zwar die deutsche Seele beruhigt sein, die CO2-Bilanz hat sich damit aber nicht verändert.
Bastian Brauns
Der CDU-Bundestagsabgeordnete Andreas Mattfeldt spricht im Cicero-Interview über das Entstehen von „Werteunion“ und „Union der Mitte“. Sein Vorwurf: Die Parteiführung der Union richte sich zu sehr nach den Themen, die en vogue sind
[ "Atomkraft", "Energiewende", "CDU", "Werteunion", "Union der Mitte", "AfD", "Kernenergie" ]
innenpolitik
2019-09-18T15:19:03+0200
2019-09-18T15:19:03+0200
https://www.cicero.de//innenpolitik/andreas-mattfeldt-kernkraft-atomkraft-cdu-werteunion-afd
Gaza-Krieg - Irans leere Drohungen
Kurz nach den Hamas-Attacken vom 7. Oktober in Israel behaupteten hochrangige Mitglieder der palästinensischen Islamistengruppe anonym, iranische Sicherheitsbeamte hätten den Anschlag angeordnet und ihnen bei der Planung geholfen. Viele Kommentatoren stimmten dem zu und argumentierten, dass die Hamas als Empfänger iranischer Militär- und Finanzhilfe verpflichtet sei, die Wünsche des Iran zu erfüllen. Die nachfolgenden Ereignisse ließen jedoch Zweifel an dieser Behauptung aufkommen. Insbesondere die schwache Reaktion Irans und seiner Stellvertreter auf die israelischen Vergeltungsmaßnahmen hat ihre militärische Verwundbarkeit und ihr Desinteresse an einem Krieg gegen Israel deutlich gemacht. Anstatt den Iran zu stärken, droht der Hamas-Angriff die ehrgeizigen regionalen Ziele Teherans zu sabotieren. Die Hamas, die arabische Abkürzung für Islamische Widerstandsbewegung, wurde 1987 während der ersten Intifada von ihrem geistlichen Führer Ahmed Jassin gegründet, der 2004 bei einem israelischen Luftangriff ums Leben kam. Hamas, die sich die Zerstörung Israels und die Errichtung eines islamischen Staates auf die Fahnen geschrieben hat, lehnte die 1993 zwischen Israel und der damals von Jassir Arafat geführten Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO) unterzeichnete Grundsatzerklärung ab. Die Gruppe erklärte, sie wäre nur dann zu einem langfristigen Waffenstillstand bereit, wenn auf den 1967 von den israelischen Streitkräften besetzten Gebieten ein palästinensischer Staat gegründet würde. Aufgrund der Ablehnung von Friedensabkommen durch die Hamas wurde sie von Israel und den westlichen Ländern isoliert. Im Jahr 2000, bei Ausbruch der Zweiten Intifada, startete die Hamas eine Kampagne von Selbstmordattentaten gegen Israel. Im Jahr 2005 zogen die israelischen Streitkräfte aus dem Gazastreifen ab. Im Jahr 2006 gewann die Hamas die palästinensischen Parlamentswahlen, nachdem sie versprochen hatte, die Korruption in der Palästinensischen Autonomiebehörde zu beseitigen und Israel zu bekämpfen. Ihr Netzwerk von Wohltätigkeitsorganisationen sowohl im Gazastreifen als auch im Westjordanland fand bei vielen Palästinensern Anklang. Ein Jahr später vertrieb die Hamas die Palästinensische Autonomiebehörde aus dem Gazastreifen, woraufhin Israel eine Blockade verhängte. Mit der Zeit wurde die Hamas durch die Blockade und ihre Behandlung als Paria durch die meisten arabischen Länder frustriert. Sie befürchtete, dass die Eile Saudi-Arabiens, einen Friedensvertrag mit Israel zu unterzeichnen, andere arabische und islamische Länder dazu veranlassen würde, das Gleiche zu tun. Die Hamas-Führer gingen davon aus, dass ein Überraschungsangriff in Israel eine noch nie dagewesene Welle der Unterstützung auslösen und eine dritte Intifada in Gang setzen würde, wobei die libanesische Hisbollah und die Palästinensische Autonomiebehörde im Norden zusätzliche Fronten gegen Israel eröffnen würden. Sie glaubten auch, dass sie durch die Entführung israelischer Geiseln der israelischen Regierung die Hände binden und sie zu Verhandlungen zwingen könnten. Mit anderen Worten: Sie vertrauten auf die so genannte Achse des Widerstands des Iran. Nachdem sie jahrelang in Tunneln gelebt hatten, schienen die Hamas-Führer den Bezug zur Realität verloren zu haben, was Israels Zorn auf sich zog und das Schicksal der Hamas besiegelte. Die Idee einer „Achse des Trotzes und des Widerstands“ entstand als Reaktion auf die Bemerkung des US-Präsidenten George W. Bush im Jahr 2002, der den Iran, den Irak und Nordkorea als „Achse des Bösen“ bezeichnete, weil sie nach Massenvernichtungswaffen strebten und die globale Vorherrschaft der USA herausfordern wollten. Nach der US-Invasion im Irak im Jahr 2003 und Bushs Ankündigung, die Demokratie von Teheran nach Damaskus bringen zu wollen, wurde die vom Iran angeführte Achse des Widerstands schrittweise erweitert. Neben dem Iran gehören nun auch Syrien, Jemen, die schiitischen Milizen im Irak, die Hisbollah sowie die Hamas und der Islamische Dschihad zu dieser Achse. Dahinter verbirgt sich jedoch ein iranisches Expansionsprojekt, das darauf abzielt, die islamische Revolution zu exportieren und einen schiitischen Staat unter der Herrschaft des Wächterrats in der gesamten arabischen Region zu errichten. Mehr zum Thema: Der Gaza-Krieg ist eine Blamage für den Iran. Seit mehr als vier Jahrzehnten hält die politische Elite in Teheran feurige Reden, in denen sie damit droht, Israel zu vernichten und es auszulöschen. Der Kommandeur der Luft- und Raumfahrttruppen der Islamischen Revolutionsgarde sagte vor drei Monaten, dass die iranischen Raketen ausreichen, um Israel durchzupflügen. Der Kommandeur der Revolutionsgarden ergänzte, die Hisbollah mit ihren mehr als 150.000 Raketen sei bereit, „Israel das Tor zur Hölle zu öffnen“. Zuvor hatte ein Sprecher des iranischen Außenministeriums erklärt, dass eines der Hauptziele der Widerstandskräfte in der Region darin bestehe, Israel für die Angriffe auf die regionalen Interessen des Iran zur Rechenschaft zu ziehen. Da der jüngste Konflikt zwischen Israel und der Hamas nun in den zweiten Monat geht, hat es den Anschein, dass die Achse trotz der Festigung des iranischen Einflusses in Syrien, Libanon, Irak und Jemen nicht gewillt ist, sich auf eine offene Konfrontation mit Israel einzulassen. Stattdessen hat der Iran seine Stellvertreter im Libanon, im Irak und im Jemen damit beauftragt, begrenzte Angriffe auf US-Stützpunkte in der Region und auf Nordisrael durchzuführen. Diese Angriffe waren klein genug, um keine harten militärischen Reaktionen auszulösen, die 40 Jahre iranischer Errungenschaften im Nahen Osten gefährden könnten. Der Iran ist trotz seiner lautstarken Rhetorik und der Anschuldigungen, dass die USA Israels Krieg gegen die Hamas steuern, nicht bereit, die weit überlegenen US-Streitkräfte und das israelische Militär herauszufordern. Aus Sorge vor einem möglichen Sieg eines republikanischen Kandidaten bei den US-Präsidentschaftswahlen im nächsten Jahr hat Teheran ein großes Interesse daran, dass Joe Biden im Weißen Haus bleibt. Anstatt zu eskalieren, hat der iranische Außenminister Hossein Amir-Abdollahian die USA und Israel aufgefordert, den Krieg zu beenden, und vage davor gewarnt, dass alle militärischen Möglichkeiten in Betracht gezogen werden. Der Iran hat sich von dem Hamas-Angriff distanziert, weil er sich nicht auf eine Konfrontation mit Israel einlassen wollte. Auch die Hamas zeigte sich schockiert über die geringe Beteiligung der Hisbollah am Krieg. Moussa Abu Marzouk, Mitglied des politischen Büros der Hamas, äußerte seine Unzufriedenheit mit der Hisbollah und sagte, die Hamas erwarte viel von der Hisbollah und der Palästinensischen Behörde im Westjordanland. Der Iran gründete die Hisbollah während der israelischen Invasion des Libanon im Jahr 1982. Die symbolische Truppe von 1000 Mitgliedern der Revolutionsgarde, die zum Kampf gegen die Israelis in den Libanon geschickt wurde, ging stattdessen in die Stadt Baalbek im nördlichen Bekaa-Tal, um dort einen lokalen Kader auszubilden, der sich den Idealen der islamischen Revolution verschrieben hatte, und so entstand die Hisbollah. Die Hisbollah wurde zum wichtigsten Instrument der iranischen Arabienpolitik, indem sie sich auf die palästinensische Frage konzentrierte, nachdem die arabischen Länder ihr Interesse daran verloren hatten. Der Iran kam zu dem Schluss, dass er sich in den arabisch-israelischen Konflikt einmischen und für die palästinensische Sache eintreten müsse, um ein wichtiger regionaler Akteur zu werden. Teheran setzte die Hisbollah ein, um der israelischen Besatzung des Südlibanon bis zum Jahr 2000 zu widerstehen, als Israel beschloss, sich zurückzuziehen, ohne einen Friedensvertrag mit der libanesischen Regierung zu unterzeichnen. Seitdem behauptet die Hisbollah, die sich als Befreiungsbewegung bei den Arabern durchgesetzt hat, sie habe eine militärische Abschreckungsfähigkeit gegenüber Israel erlangt. Die Gruppe versprach, den Libanon gegen künftige israelische Übergriffe zu verteidigen. Die Grenze zwischen Israel und dem Libanon war bis 2006 relativ ruhig, als die Hisbollah einen grenzüberschreitenden Überfall startete, um israelische Soldaten zu entführen, die sie gegen libanesische Gefangene in Israel auszutauschen hoffte. Die Hisbollah stand unter dem Druck der meisten libanesischen politischen Gruppen, sich zu entwaffnen, und wollte mit dem Überfall die Existenz ihrer militärischen Komponente rechtfertigen. Im Juli 2006 kam es zum Krieg, den Israel unter strikten Anweisungen der USA führte, um Massenvernichtung zu vermeiden. Als der Krieg nach 34 Tagen zu Ende war, bezeichnete die Hisbollah ihn als göttlichen Sieg, obwohl Israel nicht die Absicht hatte, den Südlibanon wieder zu besetzen. In den folgenden Jahren unterstützte die Hisbollah das Regime von Bashar al-Assad im Kampf gegen die Aufständischen in Syrien, bildete irakische schiitische Milizen aus und kooperierte mit den Houthi-Kämpfern im Jemen. Sie baute ein vielseitiges Geschäftsimperium auf, das sich über den Nahen Osten und Westafrika erstreckte und spielte eine führende Rolle im Handel mit Drogen und Amphetaminen. Nach dem Anschlag vom 7. Oktober wartete der Hisbollah-Führer Hassan Nasrallah drei Wochen, um eine Rede über die Rolle seiner Partei in dem Konflikt zu halten. Er sagte, die Hamas habe ihre Pläne vor allen geheim gehalten, auch vor der Hisbollah, und der Anschlag sei ausschließlich das Werk der Palästinenser. Nasrallah behauptete, die Operation habe die Schwäche Israels offenbart, und zeigte sich zuversichtlich, dass die Hamas schließlich einen „göttlichen Sieg“ erringen werde, wobei er andeutete, dass sie nicht die volle Beteiligung der Hisbollah brauche, um den Krieg zu gewinnen. Nasrallahs Stellvertreter Naim Qassem forderte die „arrogante Welt“ auf, den Krieg im Gazastreifen zu beenden, bevor er die ganze Region verschlingt. In seiner eigenen Rede verließ sich Nasrallah auf eine strategische Zweideutigkeit hinsichtlich einer möglichen Ausweitung des Krieges. Anstatt über die Unterstützung der Hamas zu sprechen, drohte er Israel, dem eine schreckliche Katastrophe drohe, wenn es im Libanon wiederholen wolle, was es im Gazastreifen tue – und das, obwohl Israel nicht den Wunsch nach einem Krieg mit dem Libanon geäußert hatte. Die derzeitigen militärischen Aktivitäten der Hisbollah im Südlibanon sollen Israel davon abhalten, eine Eskalation in Erwägung zu ziehen, und er warnte, dass im Falle eines totalen Krieges die Antwort der Hisbollah die Grundfesten Israels erschüttern würde. Dennoch sei es noch nicht an der Zeit für einen endgültigen Schlag gegen die Israelis. Nasrallah nannte zwei Bedingungen, die die Hisbollah in den Krieg hineinziehen könnten. Die erste ist, wenn die Hamas den Kampf zu verlieren scheint. Die zweite ist, wenn Israel die derzeit geltenden Einsatzregeln für den Libanon verletzt. Diese wurden in der Resolution 1701 des UN-Sicherheitsrats festgelegt, mit der der Krieg zwischen Israel und der Hisbollah 2006 beendet wurde. Nasrallah schloss eine nennenswerte Schlacht zum jetzigen Zeitpunkt aus, da die Israelis dies nicht wagen und die Amerikaner das Risiko nicht eingehen würden. In seiner Rede machte Nasrallah die USA für den Ausbruch des Krieges verantwortlich. Er warnte Washington, die Hisbollah sei dazu bereit, zurückzuschlagen und ihre beiden im östlichen Mittelmeer stationierten Flugzeugträger-Einsatzgruppen zu zerstören. An die Adresse der Biden-Administration gerichtet, sagte er, dass diejenigen, die 1983 die Kaserne der US-Marine in Beirut bombardiert hätten, noch am Leben seien, zusammen mit ihren Kindern und Enkeln. Hinter seinem Getöse verbirgt sich, dass Nasrallah keine Eskalation mit Israel will. Obwohl er gedroht hatte, Israel die Hand abzuschlagen, wenn es sich an den Öl- und Gasvorkommen des Libanon vergreift, mischte er sich im vergangenen Jahr nicht in die Abgrenzung der umstrittenen exklusiven Seegebiete zwischen Libanon und Israel ein, weil er wusste, dass die Hisbollah sich nicht durchsetzen konnte. Stattdessen ermächtigte er die libanesische Regierung, über den US-Sondergesandten Amos Hochstein, der in Israel geboren wurde und in den frühen 1990er Jahren im israelischen Militär diente, mit Israel zu verhandeln. Der Krieg zwischen Israel und Hamas hat die Schwäche und Uneinigkeit der Achse des Widerstands offenbart. Die Drohungen, die vom Iran und seinen Stellvertretern ausgingen, haben sich nicht in ernstzunehmende Maßnahmen umgesetzt. Abgesehen vom Schicksal der Hamas wird der Krieg wahrscheinlich den regionalen Einfluss des Iran schwächen, das Image der Hisbollah trüben – und die Angeberei der „Achse“ zumindest vorübergehend beruhigen. In Kooperation mit
Hilal Khashan
Seit geraumer Zeit wettert der Iran gegen Israel und droht mit dessen Vernichtung. Das zögerliche Abwarten des Irans und seiner regionalen Partner in den letzten Wochen offenbarte jedoch die große Schwäche und Uneinigkeit der selbsternannten „Achse des Widerstands“.
[ "Iran", "Hamas", "Israel" ]
außenpolitik
2023-11-07T16:27:58+0100
2023-11-07T16:27:58+0100
https://www.cicero.de//aussenpolitik/iran-hamas-israel-gaza
Ausstieg aus dem Verbrennermotor - Ein Sargnagel für Deutschlands Industrie
Professor Kurt Lauk ist ehemaliger Daimler-Vorstand und Präsident des Wirtschaftsrates. Stellen wir uns für einen Moment folgendes Szenario vor: Ein Parlament entzieht mit Mehrheitsbeschluss einer Industrie, die maßgeblich für den Wohlstand des eigenen Wirtschaftsstandorts verantwortlich ist, die Betriebserlaubnis. Die Abgeordneten tun das, obwohl diese Industrie auf ihrem Feld technisch weltweit führend, ja nahezu uneinholbar ist. Sie nehmen dabei in Kauf, dass Hunderttausende Arbeitsplätze sowie Steuereinnahmen in Milliardenhöhe wegfallen und ein über mehr als 100 Jahre aufgebautes Knowhow unwiederbringlich verloren gehen wird. Ein schlechter Witz? Mitnichten! Exakt diese Entscheidung hat das europäische Parlament mit dem Verbot des Verbrennermotors gefällt. Mit einer Mehrheit von 340 Stimmen zu 279 Nein-Stimmen (bei 21 Enthaltungen) beschlossen die Abgeordneten, dass in der EU ab 2035 kein neues Auto mit Benzin- oder Dieselmotor mehr zugelassen werden darf. Im Umkehrschluss bedeutet diese Entscheidung: Ausgerechnet der „chinesische Antrieb“ mit Lithionenbatterie soll zum Standard in der Europäischen Union werden. Vor einigen Jahren erläuterte mir ein hochrangiger Manager der chinesischen Bejing Automotive Group (BAIC Group), dass die europäischen Autohersteller beim klassischen Antriebsstrang mit Motor, Kupplung, Getriebe und Differential einen Erfahrungsschatz von 125 Jahren hätten. Diesen Erfahrungsschatz werde China niemals aufholen können. Vor diesem Hintergrund, so mein chinesischer Kollege, habe sein Land entschieden, einen neuen Antriebsstrang zu entwickeln: und zwar den, der von Batterien betrieben wird und für dessen Herstellung ausreichend heimische Rohstoffe vorhanden sind. Die Motivation für die Entwicklung begründete er nicht umweltpolitisch, sondern wettbewerbspolitisch. China hat dieses Ziel erfolgreich umgesetzt. Das Land hält mittlerweile einen globalen Marktanteil bei Lithionenantrieb von gigantischen 80 Prozent. Gleichzeitig schaute das Land – halb verwundert, halb belustigt – auf den großen Wettbewerber Europa. Dort entschied sich die Politik nicht etwa, den hocheffizienten und immer saubereren klassischen Antriebsstrang zu stärken, sondern zu verteufeln. Eines ist dabei zweifellos richtig: Batterieantriebe (BEF Fahrzeuge) sind für große Städte, in denen kurze Distanzen zurückgelegt werden müssen, eine gute Lösung. Für lange Strecken eignen sie sich allerdings nicht. Und zwar aus Umweltgründen. Woher kommt dann das immer wiederkehrende Argument, E-Autos seien viel umweltfreundlicher als Verbrenner-Autos? Das könnte Sie auch interessieren: Ganz einfach: Die EU hat sich dazu entschieden, die Emissionen eines Autos allein am Auspuff zu messen. Die gesamte Wertschöpfungskette bei der Produktion blendet sie aus. Unter Nachhaltigkeitsaspekten ist diese Sichtweise nichts weniger als idiotisch. Ein moderner Dieselmotor ist gegenüber einem BEF bis zu einer Laufleistung von rund 80.000 Kilometer pro Jahr klimapolitisch im Vorteil, wenn die volle Wertschöpfungskette berücksichtigt wird. Darüber hinaus muss der Strom für Millionen von E-Autos produziert werden. Die Chinesen lösen diese Herausforderung mit dem Bau unzähliger Atomkraft- und Kohlekraftwerke. Mit anderen Worten: Sie erreichen sauberere Luft in ihren Städten zum Preis eines massiven CO2-Ausstoßes in ländlichen Regionen. In Deutschland drohen wir dagegen in eine Situation zu geraten, in der wir aufgrund des Wegfalls von russischem Gas und der Verteufelung der Kernenergie noch nicht einmal unsere Volkswirtschaft mit ausreichend Strom versorgen können – ganz zu schweigen von einer steigenden Anzahl an E-Autos und dem immensen Energiebedarf in Zusammenhang mit der Digitalisierung, Stichwort Künstliche Intelligenz und Cloud-Computing. Der ehemalige italienische Ministerpräsident Matteo Renzi hat gesagt, dass die Entscheidung von der Kommission in Brüssel und dem Parlament in Straßburg die dümmste Entscheidung in der Geschichte der EU sei. Denn Europa hat damit entschieden, sich nun auch beim Fahrzeugantrieb im Wesentlichen abhängig von China zu machen. Weshalb man einer wirtschaftlich immer stärker werdenden Volkswirtschaft, die noch dazu eine Diktatur ist, diesen strategischen Wettbewerbsvorteil per Gesetz trotzdem ermöglicht hat, bleibt das Geheimnis der Initiatoren. Das Argument, die deutsche Automobilindustrie habe sich doch mittlerweile selbst dazu entschlossen, auf den E-Antrieb zu setzen, ist dabei fadenscheinig. Diese Entscheidung wurde in vielen Vorständen gefällt, weil man erkannt hat, dass die Politik regulatorisch so oder so in diese Richtung steuern wird. Einige große Autohersteller haben sich denn auch dazu entschieden, Batterien in Europa zu produzieren. Allerdings werden diese Batterien deutlich teurer sein als jene, die in China hergestellt werden. Die Folge: Ohne massive staatliche Subventionen werden wir hier eine Wettbewerbsfähigkeit mit China nicht einmal ansatzweise erreichen können. Diese Erkenntnis hat sich mittlerweile selbst in der Bundesregierung durchgesetzt. Die Entscheidung für das Aus des Verbrenners hat allerdings auch eine soziale Dimension: In Zukunft wird es für die unteren 50 Prozent der Einkommenspyramide in Europa schwer werden, ein Fahrzeug zu finanzieren, mit dem man als Familie mit zwei Kindern in überschaubarer Zeit in den Urlaub oder zu einem Wochenendausflug fahren kann. Denn ein Kompaktfahrzeug mit E-Antrieb wird es bis auf weiteres unter 40.000 Euro nicht mehr geben. Gleichzeitig wird die Reichweite der günstigeren E-Autos bei gerade einmal 200 bis 250 Kilometer liegen. Nur im teuren Luxussegment werden Autos größere Distanzen zurücklegen können. Vor diesem Hintergrund verlassen eine ganze Reihe von europäischen Herstellern das Segment der kleinen Fahrzeuge. Es ist absehbar, dass chinesische Hersteller massiv in diese Lücke im europäischen Markt vorstoßen werden. Entweder kaufen junge Familien in Zukunft also chinesische Autos statt Volkswagen, Renault oder einen Mercedes Kombi. Oder sie weichen für Urlaubsfahrten auf öffentliche Züge und Busse aus – mit denen sie allerdings nur die Ballungszentren erreichen können. Oder sie entdecken das Wandern in der näheren Umgebung neu. Was bleibt ist die Erkenntnis: Der Ausstieg aus dem modernen Verbrenner ist ein großer Beitrag zur De-Industrialisierung Europas und insbesondere Deutschlands. Zukünftige Generationen werden auf diese Entscheidung von EU-Kommission und EU-Parlament mit vorwurfsvollem Blick zurückschauen und kein Erfolg für das weltweite Klima.
Cicero-Gastautor
Der Ausstieg aus dem modernen Verbrenner ist ein großer Beitrag zur De-Industrialisierung Europas und insbesondere Deutschlands. Die negativen Folgen für die internationale Wettbewerbsfähigkeit werden enorm sein. Ein Land profitiert davon besonders: China.
[ "Wirtschaft", "Europäische Union", "Automobilbranche", "Automobilindustrie", "China" ]
wirtschaft
2023-03-07T16:36:15+0100
2023-03-07T16:36:15+0100
https://www.cicero.de/wirtschaft/ausstieg-aus-dem-verbrennermotor-gastbeitrag-industrie
Ruanda – Die Mörder sind wieder unter uns
Der Kreis ist quadratisch: Vier lange Holzbänke zwischen dürren Stämmen eines Eukalyptuswalds, darauf drei Dutzend Männer und Frauen, sitzend, schweigend, ihre Blicke gesenkt. Überlebende des Völkermords begegnen den Tätern. „Groupe de rapprochement“ – Annäherungsgruppe – nennt sich dieser Gesprächskreis auf dem zentralen Hügel der Kanyinya-Gemeinde. Huye Distrikt. Südliches Ruanda. Dieudonné Munyankiko und sein Kollege Ignace Ndayahundwa besprechen sich kurz. Dann treten die jungen Männer vor und richten abwechselnd das Wort an die Versammelten. „Wir danken für euer Kommen, euren Mut“, sagt Munyankiko. „Wir wissen, dass manche euch dafür verachten und bedrohen.“ Ndayahundwa fährt fort: „Sagt ehrlich, was ihr denkt. Aber nennt keine Namen! Denkt daran, dass alle von uns Wunden erlitten haben. Auch die Mörder.“ Die beiden verteilen Stifte und Blöcke, ehe die Gruppen auseinandergehen. Die Überlebenden hocken sich im Halbkreis um eine Frau mit Baseballkappe, die Schriftführerin. Sie notiert in Stichworten die Wortmeldungen, die später der Gegenseite vorgetragen werden: „Außerhalb der Gesprächsgruppe ist keine offene Aussprache möglich – Angst.“ „Überlebende werden ausgegrenzt – Einsamkeit.“ „Verurteilte Täter zahlen nicht oder nur widerstrebend Entschädigungen – neuer Hass.“ Die Schriftführerin trägt zusammen, am Ende blickt sie auf die Liste: „Wenn wir das der Tätergruppe offen ins Gesicht sagen, wird das doch kaum zur Aussöhnung beitragen!“ „Warum nicht?“, entgegnet eine alte Frau, schließlich seien es doch gerade die ständigen Ausflüchte der Täter, die ein Gespräch unmöglich machten. „Immerhin reden wir wieder miteinander“, wirft ein junger Mann in die Runde. „Das ist doch schon mal was Gutes, oder?“ Pauline Mugirasoni seufzt. „Manche der Täter sprechen sogar von Reue“, sagt sie ohne aufzublicken. „Doch ihre Worte bedeuten nichts.“ Die 56-Jährige hält sich trotz ihrer Verbitterung an die Regeln. Keine Namen. Und doch weiß jeder in der Gruppe, wen sie meint: François Sezirahiga und Felicité Mushyaka. Die beiden sitzen außer Hör-, aber in Sichtweite. In der Häftlingsgruppe. Kann man von einem Menschen erwarten, den Mördern seiner Frau, seines Mannes, seiner Kinder die Hand zu reichen? „Es ist fast unmenschlich schwer“, wird Dieudonné Munyankiko nach dem Gesprächskreis sagen. „Aber was wäre die Alternative?“ Der stämmige 34-Jährige erinnert sich noch allzu gut an eine Alternative. Mangelnde Bereitschaft, miteinander zu reden, hat sie im Frühjahr 1994 zur tödlichen Wirklichkeit werden lassen. Verwesungsgeruch wehte durch die Dörfer. Aufgedunsene Körper lagen in den Flüssen und Seen. Bis zu einer Million Tote – in kaum hundert Tagen. Noch immer gehen Hutu und Tutsi einander aus dem Weg. Den Überlebenden graut vor den Hutu-Gewalttätern, die nun nach und nach aus der Haft oder dem Exil zurückkehren. Die Heimkehrer wiederum fürchten Racheakte der Überlebenden. Lesen Sie auf der nächsten Seite, wie Täter und Opfer anfangen, miteinander zu reden. Miteinander reden, aufeinander zugehen – was sonst? Das war die Frage, die sich Dieudonné Munyankiko stellte, nachdem die Geschichte seines Landes durch den Massenmord in ein Davor und ein Danach geteilt wurde. Mit elf Mitstreitern rief er im Februar 2000 die „Association Modeste et Innocent“ ins Leben, kurz AMI – französisch für „Freund“. AMI organisiert seitdem den Wiederaufbau zerstörter Häuser, gibt Polizisten Kurse in Gewaltprävention, schult Freiwillige in der Betreuung von Traumatisierten, unterstützt Schülergruppen, in denen Hutu- und Tutsi-Kinder gemeinsam Theater spielen. Und AMI versucht sich an der Quadratur des Kreises: Täter und Opfer miteinander ins Gespräch zu bringen. „Wir glauben, dass es möglich ist“, sagt Munyankiko, Sohn eines Hutu und einer Tutsi. Ruanda hat 1,1 Millionen Einwohner. Bei AMI sind sie zu zwölft. „Es wird nur in vielen kleinen Schritten passieren. Aber man kann sie gehen.“ Drüben, in der Tätergruppe, ergreift Felicité Mushyaka das Wort – eine grazile Frau von fast 50 Jahren. Sie trägt ein gelbes Kleid mit schwarzem Muster, darin die Worte Upendo na amani – Frieden und Liebe. Ihr Mann führte den Mob an, der 1994 Pauline Mugirasonis Schwiegervater ermordete. Sie hatten ihn aus seinem Versteck in der Bohnenplantage gezerrt und vergruben ihn bis zum Hals im Boden. Dann schlugen sie mit Hacken und Stöcken seinen Schädel ein. Zur Rechten der gelb Gewandeten hockt François Sezirahiga, eine kleine, hagere Erscheinung in viel zu weitem Hemd und mit grell-grünen Plastiksandalen. Auch er war Teil des mordenden Mobs. „Mir tut leid, was geschehen ist“, gesteht er. „Das würde ich Pauline gern sagen. Aber ich schaffe es nicht.“ Er blickt zu mir. „Und was hilft es, wenn weiße Leute zu uns kommen? Die schreiben am Ende eh nur wieder, dass in diesem Land haufenweise Mörder herumlaufen!“ Mit beiden Armen umklammert er die Knie. Als François Sezirahiga nach acht Jahren Haft auf den Hügel zurückkehrte, hatte Pauline Mugirasoni die Leute von AMI gebeten, ihn zum Gesprächskreis einzuladen. „Wir wollen ja wieder friedlich miteinander leben“, wird sie später sagen. „Wir müssen.“ Auch ­Mushyaka, die Frau des Täters, sagt, sie wünsche sich endlich Frieden. „Aber wie?“ Sie wird laut. „13 Jahre sitzt mein Mann nun schon im Gefängnis – und wofür?“ Sie habe ihre liebe Not, die Entschädigungszahlungen für ihren Mann aufzubringen, mehr als 37000 Francs! Es sind umgerechnet gut 40 Euro. Für eine einfache Landarbeiterin wie sie ist das der Verdienst vieler Monate. „Und die Frau, die meinen Mann ins Gefängnis gebracht hat, grüßt nicht einmal zurück“, schreit sie mit einem Blick hinüber zu Pauline Mugirasoni. „Nehmt euch Zeit“, sagt Dieudonné Munyankiko ruhig. „Ihr könnt euch nur gegenseitig heilen.“ Die Annäherung in den Gesprächskreisen verläuft in drei Schritten. Zuerst sprechen die Teilnehmer mit ihresgleichen über das Erlebte und ihre Gefühle. Täter mit Tätern. Opfer mit Opfern. Im nächsten Schritt tauschen die Gruppen untereinander ihre Gesprächs­protokolle aus – sie sollen, mit der geliehenen Geduld des Papiers, die Lebenswelt der anderen verstehen lernen. Als Drittes folgt die direkte Aussprache. Beim Abschied bittet Munyankiko die Männer und Frauen, sich für den dritten Schritt breit zu machen. Lesen Sie auf der nächsten Seitevon der Fahrt durch das Tal, durch welches der Genozid nach Butare kam. „Durch dieses Tal kam der Genozid nach Butare“, sagt Munyankiko während der Heimfahrt. Die Stadt, Sitz der Nationaluniversität und kulturelles Zentrum des Landes, blieb von dem Massenmord knapp zwei Wochen länger verschont als der überwiegende Rest des Landes – bis zum 19. April  1994. An diesem Tag landete der kurz zuvor von den Hutu-Extremisten ins Amt gehievte Staatspräsident in Butare und rief die Hutu auf, auch hier „ihre Arbeit zu tun“. Im Tal des Todes reiht sich ein Reisfeld an das andere. In den Feldern: Dutzende Männer in flamingofarbenen Schlafanzügen. „Keine Schlafanzüge“, erklärt Munyan­kiko. „Das ist die Kluft der Häftlinge von Butare, die in den Feldern arbeiten müssen.“ So helfen sie, ihre Kosten zu drücken. Noch immer sitzen 8000 von ihnen im Gefängnis der 100000-Einwohner-Stadt ein. Es waren einmal mehr als 12000, viele jahrelang ohne Anklage, ehe im Land Tausende Gacaca-Versammlungen eingesetzt wurden, dörfliche Laiengerichte. Sie waren der Versuch, der Häftlingsflut Herr zu werden und dennoch Gerechtigkeit walten zu lassen. Ein Versuch, der bei Millionen von Morden, Verstümmelungen, Plünderungen und Vergewaltigungen zum Scheitern verurteilt war. Bisweilen blieb den ehrenamtlichen Richtern wenig mehr, als Kläger oder Angeklagtem Glauben zu schenken. Ohne Gerechtigkeit kein Frieden. Ist das so? Dieudonné Munyankiko glaubt etwas anderes: „Wir können in Ruanda entweder versuchen, Gerechtigkeit herzustellen und alles Unrecht, das geschehen ist, zu ahnden. Oder wir ertragen die Ungerechtigkeiten. Und schaffen gemeinsam eine Zukunft.“ Man muss auch auf die Täter zugehen, sagt Munyankiko, ihnen eine Rolle und eine Zukunft aufzeigen. „Wir hier und ihr da – eine solche Ausgrenzung darf nie wieder Macht ergreifen!“, Munyankiko wird selten laut, so laut wie nun, und wenn, steht es ihm nicht. Trotz seiner kräftigen Statur. Trotz des festen Händedrucks. Er hat einen warmen, wachen Blick, der Zuversicht ausstrahlt. Sogar dann, wenn er über seine Wunden spricht. Die Familie seiner Mutter wurde von Hutu-Extremisten ausgelöscht. Als schließlich im Sommer 1994 die Tutsi-Rebellenarmee um den jetzigen Präsidenten Paul Kagame das Land eroberte, fiel ein Großteil der Verwandtschaft des Vaters. Er, damals 17, und seine Eltern überlebten in einem Versteck am Stadtrand von Butare. „Als Sohn einer Tutsi und eines Hutu ist es leichter für mich, von Versöhnung zu sprechen. Aber es macht die Moderation der Aussprachen auch schwierig, weil beide Seiten ihre Vorbehalte gegen mich haben. In gewisser Weise bin ich ein Niemand.“ Munyankiko fand sich nach dem Genozid zwischen allen Stühlen wieder. So lernte er, auf eigenen Beinen zu stehen. „Ich bin gläubig, ich bete zu Gott“, sagt er. „Doch ich habe eine freie Auffassung vom Glauben.“ Diese Offenheit spiegelt sich auch bei AMI wider. Die Organisation hat ihrer Versöhnungsarbeit einen Überbau aus christlicher Metaphysik, Tai-Chi-Meditation und sozialpädagogischen Konzepten gegeben, arrangiert um jenes Herzstück herum, das in Ruandas Landessprache Ubuntu heißt: Menschlichkeit. Heute ist AMI eine staatlich anerkannte Nichtregierungsorganisation. Überwacht, aber nicht unterdrückt. Einige Tage sind vergangen, als wieder „Annäherungsgruppe Kanyinya“ in Munyankikos Wochenplaner steht. Dieses Mal soll es zu Schritt drei kommen. Nach vielen kleinen ersten und zweiten Schritten. Lesen Sie auf der nächsten Seite, wie der dritte Schritt abläuft. Als Munyankikos Geländewagen die Hütte auf dem Hügel erreicht, hat sein Kollege Ignace Ndayahundwa bereits die vier Bänke in den Eukalyptuswald geschleppt. Wieder sitzen sich Täter und Opfer im Gesprächskreis gegenüber. Und schweigen. Ein langer Moment verstreicht, in dem sich Blicke streifen und wieder zu Boden sinken. Ndayahundwa greift nach den Notizen vom vorigen Treffen. Ein Hauptproblem, verliest er, sind nächtliche Steinewerfer: Immer wieder werden Tutsi aus dem Schlaf gerissen, weil ihre Häuser attackiert werden. Ein Älterer, feierlich in Jackett und hellgrauem Hut erschienen, sagt: „Das sind auswärtige Rumtreiber, die saufen und Drogen nehmen!“ „Genau“, pflichtet sein Nachbar bei. „Die wissen, dass der Verdacht sowieso auf uns Verurteilte fallen wird.“ Einer aus der Tätergruppe sagt, er habe zwölf Jahre im Gefängnis gesessen, unschuldig, und nun sei die Ehefrau weg. Andere werfen ihre Nöte in die Runde: übertriebene Entschädigungsforderungen, korrupte Justizbeamte. Munyankiko verspricht, einen Vertreter der Regionalregierung einzuladen. Die Annäherung verharrt im Danach. Die Monate des Blutrauschs selbst bleiben unberührt. Das Unfassbare von einst scheint das Unaussprechbare von heute. Als sich die Sonne hinter die Hügel senkt, dankt Munyankiko den Teilnehmern. Und lädt zum nächsten Treffen. Schweigend tragen die Männer und Frauen die Bänke zur Gemeindehütte. Da bricht es aus Pauline Mugirasoni hervor. Sie blickt zu François Sezirahiga, dann richtet sie das Wort an mich: „Sprechen Sie ruhig mit ihm! Nur zu! Fragen sie ihn, was er meiner Familie angetan hat!“ Sezirahiga sieht flüchtig zu ihr hinüber. Seine Hände hat er in die Hosentaschen gegraben. „Was will sie denn?“, fragt er. Holt Luft. Seinen Worten weht eine Alkoholfahne hinterher. „Ich bin doch der Gesprächsgruppe beigetreten. Und irgendwann werde ich Pauline um Vergebung bitten.“ Wofür? „Ich habe ihren Schwiegervater getötet.“ Kannten Sie ihn? „Ja. Ich habe für ihn gearbeitet. Wir waren sogar miteinander befreundet.“ Warum haben Sie ihn dann getötet? „Die Regierung sagte, wir sollen die Tutsi töten.“ Und Sie haben gehorcht? „Der Gemeindevorsteher schickte uns los, eine ganze Gruppe.“ Hat Paulines Schwiegervater Sie in der Gruppe erkannt? „Er hat mich gesehen. Er fragte mich: ,Du auch, mein Freund? Du kommst, um mich zu töten?‘“ Was haben Sie geantwortet? „Ja.“ Sezirahiga verschränkt die Arme vor der schmächtigen Brust. Eigentlich, sagt er, habe er Paulines Schwiegervater gar nicht umgebracht, habe nur dabeigestanden, zugesehen habe er und sich ansonsten nur um das Plumpsklo gekümmert, in dem der Leichnam anschließend verschwinden sollte, andere hätten viel mehr Schuld zu tragen. Er blickt zu Pauline Mugirasoni. Sie lehnt regungslos am AMI-Geländewagen, mustert ihn von fern. „Ja, ich habe den alten Mann getötet“, sagt François Sezirahiga nach einer Pause. „Meinen Freund. Aber ich schaffe es nicht, Pauline das ins Gesicht zu sagen. Ich bin noch nicht so weit.“ Er atmet Abendluft ein, vor Alkohol stechende Luft aus. „Ich habe Albträume. Ich habe keinen Seelenfrieden.“ Es gebe Menschen, sagt Pauline Mugirasoni, die denken, mit Mördern dürfe man kein Wort mehr wechseln. „Was für Ignoranten!“ Wie, fragt sie sich, sollten sie denn wieder Tür an Tür leben, hier auf ihren Hügeln, mit all dem Unausgesprochenen zwischen sich? Was, wenn der einzige Weg aus der Vergangenheit die Versöhnung ist? Pauline Mugirasoni möchte hoffen, dass François Sezirahiga und sie diesen Schritt eines Tages gehen werden. „Wir reden wieder miteinander, zumindest innerhalb der Gesprächskreise“, sagt sie. „Es ist ein Anfang.“ Markus Wanzeck hat das Reporternetzwerk Textsalon mitbegründet. Seit April 2011 ist er Reporter und Redakteur der Agentur Zeitenspiegel
In Ruanda versuchen Täter und Opfer mithilfe der Organisation AMI, aufeinander zuzugehen. Nur so könne man das Geschehene verarbeiten, die Probleme überwinden und das Land voranbringen. Aber der Weg ist lang und steinig.
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außenpolitik
2011-12-16T09:56:45+0100
2011-12-16T09:56:45+0100
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