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Das wird nichts mehr mit diesem Kanzler - Exklusiv für Xing-Leser: Ins Scheitern verliebt, Folge 17: Scholz produziert erneut nur Verlierer
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Es ist zum Verzweifeln mit dieser sogenannten Bundesregierung. Drei Männern, die anscheinend nie erwachsen geworden sind, geht es am Ende nur noch um irgend eine Art von Gesichtswahrung. Was die Folgen ihrer Entscheidungen für das Land, für die Volkswirtschaft, für seine Bevölkerung, für das Verhältnis zu seinen europäischen Nachbarn und nicht zuletzt auch für das Klima bedeuten, spielt keine Rolle. Mit seinem großartigen „Machtwort“ mag Olaf Scholz seinen Laden ein weiteres Mal notdürftig für ein paar Wochen zusammenhalten, aber in der nun wirklich existenzbedrohenden Sache, der beispiellosen Energie- und Verarmungskrise, der sich Deutschland ausgesetzt sieht, ist nichts gewonnen. Im Gegenteil. Anstatt unverzüglich in Kanada vorsorglich neue Brennstäbe zu bestellen und die drei zuletzt abgeschalteten Atomkraftwerke Brokdorf in Schleswig-Holstein, Grohnde in Niedersachsen und Gundremmingen in Bayern wieder betriebsbereit zu machen, wollen nach den Grünen nun auch SPD und FDP jene endgültige Abschaltung der verbliebenen drei Kraftwerke zementieren, was das Gegenteil vernünftiger, vorsorglicher, voraussichtlicher Politik darstellt. Es ist im Gegenteil ein Paradebeispiel gefühlsgesteuerter Selbstverstümmelung einer neulich noch stolzen Industrienation. Kein Mensch kann heute bereits halbwegs verlässlich voraussagen, wie sich die deutsche und europäische Energielage am 15. April 2023 darstellen wird. Nur ein Beispiel: Noch vier, fünf weitere erfolgreiche Angriffe auf unsere Infrastruktur oder auch jene Skandinaviens, Frankreichs oder auch der Niederlande – und die Probleme potenzieren sich sogar gegenüber der Lage heute. Dass es nach dem Winter automatisch besser wird, ist alles andere als gewiss. Nur gewissenlose Zocker können die offensichtlichen Risiken ausblenden. Was, wenn die LNG-Transporte sabotiert werden oder aus anderen Grünen ausfallen? Was, wenn Norwegen oder Holland selbst in eine Mangellage geraten sollten und ihre Lieferungen drosseln? Was, wenn Frankreich länger und intensiver auf deutsche Stromlieferungen angewiesen sein sollte? In dieser fragilen Situation nicht alle vorhandenen Möglichkeiten der Stromerzeugung zu nutzen, sondern sogar noch mutwillig abzuschalten, ist an Verantwortungslosigkeit nicht zu übertreffen. Weitere Artikel von Jens Peter Paul: Ob das AKW Emsland dank Olaf Scholzens heldenhafter Intervention nun noch 15 Wochen länger wenigstens theoretisch in Betrieb bleiben darf, spielt in jeder halbwegs seriösen Gesamtbetrachtung keine Rolle. „Theoretisch“ deshalb, weil die Details der Begleitbestimmungen ja längst nicht geklärt sind; hat der Kanzler das Kleingedruckte doch der ideologiegetriebenen Umweltministerin und AKW-Gegnerin Steffi Lemke überlassen, die folgerichtig mit seiner Entscheidung ebenfalls kein Problem hat. Erst recht kann Robert Habeck mit dieser „Lösung“ sehr gut leben. Christian Lindner verkauft seine Überzeugungen dagegen für Peanuts, lässt sich mit einer Zustimmung zu der sich nun abzeichnenden Minimaländerung des Atomgesetzes sogar vollends in Mithaftung nehmen für weiter steigende Strom- und Gaspreise sowie eventuelle Blackouts. Mittelstand, Industrie und Endverbraucher sagen: Danke, Lindner, danke, Freidemokraten, auch und vor allem aber: danke, SPD. Das einzige Konjunkturprogramm, das hier stattfindet, ist eines für die AfD. Die Liberalen haben sogar aus der Klatsche von Niedersachsen und den dortigen Wählerwanderungen nichts gelernt. Regelrecht hässlich bei alledem, wie Lindner das Parteitags-Vorgehen der Grünen gegenüber ihrem Wirtschaftsminister kopierte, um es umzudrehen. Während die Grünen ihren Habeck an die Kette legten, instrumentalisierte Lindner den Brief des Kanzlers am Montagabend, um seine FDP an die Kette zu legen. Seinen Informationsvorsprung von vielleicht einer Stunde nutzend, was aus dem Kanzleramt kommen würde, ließ Lindner drei Minuten nach der Publikation der Entscheidung von Scholz konzertiert Jubelarien verbreiten, einschließlich seiner eigenen, damit kein Freidemokrat auf die Idee komme, die Entscheidung des Kanzler nicht als großartigen FDP-Triumph über die Grünen zu bewerten und zu beurteilen. Ein Framing, wie es nicht nur krass kontrafaktisch ist, sondern liberalen Grundsätzen nun wirklich Hohn spricht. Das ist ein Modell des Kernkraftwerks Emsland in Lingen. Vorne rechts stellt die französische Firma Framatome Brennelemente für alle deutschen AKW her. Sie könnte für den Winter 2023/24 welche liefern. Nur müsste man sie so langsam mal bestellen. @Bundeskanzler @c_lindner @BMWK pic.twitter.com/eCGl8Ze9n2 Aber okay: Erlauben wir uns – ungeachtet aller Unwahrscheinlichkeit an dieser Stelle – den Luxus eines Gedankenexperiments und unterstellen dem Bundesfinanzminister und FDP-Vorsitzenden nicht nur Cleverness, sondern Klugheit. Denkbar wäre ja, dass Christian Lindner heute bereits davon überzeugt ist, dass die Lage am 15. April 2023 derart kritisch sein wird, vielleicht sogar chaotisch, dass außer Jürgen Trittin und der Grünen Jugend kein Mensch mehr daran denken wird, Isar II, Emsland und Neckarwestheim auch noch abzuschalten. Oder die Koalition bis dahin sowieso an ihren unaufhebbaren Widersprüchen zerbrochen ist. Oder Christian Lindner die Bundestagsfraktion der Grünen bereits heute für derart verstrahlt hält, dass sie dem noch vorzulegenden Gesetzentwurf für die Minimaländerung von Artikel 7 Atomgesetz die Zustimmung verweigert, eventuell sogar einen eigenen vorlegt. Ein grundsätzlich nicht auszuschließender Amoklauf der maximalempörten und von Scholz bitter enttäuschten Grünen gegenüber den eigenen Ministern und dem Kanzler würde der FDP-Fraktion die Möglichkeit eröffnen, endlich nun ebenfalls einen eigenen Text vorzulegen und dem Bundestagsplenum zur Abstimmung zu stellen: Ohne neues Ausstiegsdatum, aber mit Wiederinbetriebnahme von Brokdorf, Grohnde und Gundremmingen sowie der ausdrücklichen Aufforderung zur schnellstmöglichen Beschaffung neuen Brennstoffs. In einem hat Trittin ja ausnahmsweise recht: „Die Geschäftsordnung der Bundesregierung bindet auch nicht die Fraktionen bei der Umsetzung einer Formulierungshilfe für ein Gesetz.“ Was bedeutet: Frau Lemke kann nun auf Weisung des Kanzlers dem Plenum diese Woche vorlegen, was sie will – der Deutsche Bundestag ist in seiner Entscheidung, wie das neue Atomgesetz aussehen soll, völlig frei. Er kann die Kabinettsvorlage sogar ungelesen im Papierkorb versenken, wenn er das will. Das Parlament macht die Gesetze (Legislative), die Regierung führt sie aus (Exekutive). Nicht umgekehrt. Was seltsamerweise aber in einem bereits hinreichend vergifteten Koalitionsklima unverändert seit Wochen fehlt, ist eine scharfe Warnung aus der linken Hälfte des Bundestags vor einer Unterstützung alternativer Gesetzesinitiativen – sei es von CDU/CSU, sei es von der FDP – durch die AfD-Bundestagsfraktion. Anscheinend gehen Grüne, Linke und Sozialdemokraten im Moment noch davon aus, dass sich Union und FDP nicht trauen werden, eine Wiederinbetriebnahme und Laufzeitverlängerung von Atomkraftwerken notfalls auch mit Stimmen aus den Reihen der AfD gegen Rot-Grün durchzusetzen. Dazu, so das denkbare Kalkül, sei die Erinnerung an den Februar 2020 auch in Berlin noch zu frisch, als in Erfurt mit Hilfe von Angela Merkel, Bodo Ramelow und der Antifa ein – verfassungswidriges, wie Karlsruhe später erklären sollte – Exempel statuiert wurde, in dessen Verlauf der FDP-Mann Thomas Kemmerich einschließlich Frau und Kindern systematisch fertiggemacht wurde. Nur läge es auch diesmal wieder an der SPD, ob es auf die Stimmen der AfD überhaupt ankäme, wenn eine einfache Mehrheit für eine vernünftige Novellierung des Atomgesetzes genügt. Dieser Konflikt bietet also bereits in dieser Sitzungswoche noch eine Menge Entfaltungsmöglichkeiten. Möglicherweise sind wir schon am Dienstagabend schlauer. Nachhaltig ist an dem „Machtwort“ von Olaf Scholz, wie man sieht, jedenfalls gar nichts. Passend zum Thema: Der Cicero-Podcast mit AKW-Befürworterin Anna Veronika Wendland.
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Jens Peter Paul
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Anstatt vorsorglich neue Brennstäbe zu bestellen und die drei zuletzt abgeschalteten Atomkraftwerke wieder betriebsbereit zu machen, wollen nach den Grünen nun auch SPD und FDP den endgültigen Atomausstieg zementieren. Das ist keine vernünftige, vorsorgliche, vorausschauende Politik, sondern ein Paradebeispiel gefühlsgesteuerter Selbstverstümmelung einer neulich noch stolzen Industrienation.
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2022-10-18T15:01:27+0200
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2022-10-18T15:01:27+0200
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https://www.cicero.de//das-wird-nichts-mehr-mit-diesem-kanzler-exklusiv-fur-xing-leser-ins-scheitern-verliebt-folge-17-scholz-produziert-erneut-nur-verlierer
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Ukraine-Krieg, Energiekrise, Existenzängste - Exklusiv für Xing-Leser: Eine neue Linke braucht das Land
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Die Linkspartei befindet sich in einer grotesken Situation. Obwohl in der Ukraine Krieg ist, Inflation, Wirtschafts- und Energiekrise die Gemüter erregen, die Existenzängste nicht nur der Unterprivilegierten, sondern auch der gewöhnlichen Mittelschicht zunehmen, weshalb ein „heißer Herbst“ mit Protesten aus der Mitte der Gesellschaft droht, ist ausgerechnet Die Linke mehr mit internen Streitereien beschäftigt als mit der Welt um sie herum – und zerlegt sich dabei konsequent und für den externen Beobachter bisweilen durchaus unterhaltsam selbst. Der letztlich missglückte Versuch einzelner Genossen, Sahra Wagenkecht aus der Bundestagsfraktion auszuschließen – obwohl sie in jener Bundestagsrede, die Stein des Anstoßes war, nicht mehr gefordert hatte, als die Sanktionen gegen Russland so zu gestalten, dass die deutsche Bevölkerung darunter nicht leiden müsse – ist nur die Spitze des Eisbergs. Und Wagenkecht scheint letztlich auch nur Projektionsfläche für die Wut mancher Genossen, dass sich die Leute im Land mehr für den eigenen Geldbeutel und die nächste Stromrechnung interessieren, als für identitätspolitischen Kram und weltfremde Symbolpolitik. Das wars für die Linke. Ich hab euch jahrelang gewählt. Das ist vorbei. Ihr seid nur noch lächerlich! https://t.co/QdyRlAvNG5 Überhaupt entfaltet diese linke Tragikomödie ihr volles Potenzial erst im Kleinen. Zum Fremdschämen war beispielsweise ein Vorfall bei der 1. Tagung des 8. Parteitags der Die Linke der Hansestadt Hamburg vor wenigen Wochen (s. Tweet oben). Und sehr bezeichnend obendrein. Der Linken-Politiker Bijan Tavassoli wollte – ohne selbst anwesend zu sein, weil er angeblich an Corona und Affenpocken gleichzeitig (!) erkrankt gewesen war – erfolglos für den Posten der Parteisprecherin und für die Frauenliste zum Vorstand kandidieren. Denn Tavassoli identifiziert sich laut eigener Aussage jetzt als Frau, Vollbart hin oder her. Jedenfalls trat bei genannter Veranstaltung dann ein vermummter Mann auf die Bühne und verlas eine Erklärung Tavassolis, die, so hieß es später, gar nicht von ihm oder ihr gewesen sei. Spielt aber keine Rolle. Denn bemerkenswert war der Auftritt trotzdem. Diese Erklärung – unbeirrt, aber holprig wurde sie vom Smartphone abgelesen – war nämlich eine krude Mischung aus Beleidigungen gegen Teile der eigenen Partei, einer mantraartigen Selbstvergewisserung als trans, non-binär oder was auch immer stets Opfer der bösen Mehrheitsgesellschaft zu sein, und ein wütender Abgesang auf die „heteronormative“ Welt da draußen. Im Wortlaut war unter anderem zu hören: „Ihr alten weißen Männer seid auf dem Müllhaufen der Geschichte.“ Wäre diesem Totalausfall ein Drehbuch vorangegangen: Jeder verantwortungsbewusste Produzent hätte es mit der Begründung abgelehnt, es sei völlig überdreht und unrealistisch. Doch das echte Leben schreibt bekanntlich die sonderbarsten Geschichten. Und offensichtlich scheint vor allem das Linksaußen-MiIieu prädestiniert zu sein für ein Mitläufertum, das jedem Zeitgeist hinterherrennt, dabei komplett den eigenen Kompass verliert und letztlich auch den Bezug zur Realität und dem, was die Menschen im Land wirklich umtreibt in Zeiten sich überlagernder Krisen. Es ist freilich nicht neu, dass Parteien Politik für Menschen machen, deren Sorgen und Nöte sie nur vom Hörensagen kennen. Die Dimension, die derlei bei der Die Linke mittlerweile erreicht hat, ist dennoch einzigartig. Nun wäre es ein Leichtes, sich über solche Vorfälle lustig zu machen – und sich sukzessive damit abzufinden, dass nicht die alten, weißen Männer der Linken auf dem Müllhaufen der Geschichte landen, sondern gerade Stück für Stück die ganze Partei. Insbesondere als Liberaler, der schon der SED-Vergangenheit der Partei wegen niemals auf die Idee kommen würde, selbige zu wählen. Allerdings ist eine pluralistische Parteienlandschaft für jede Demokratie zwingend, weil nur politische Vielfalt vor politischer Einfalt schützt. Und zu einer solchen Vielfalt gehört in Deutschland, nüchtern betrachtet, eben auch eine starke linke Partei. Überdies kennt der Autor dieser Zeilen sehr kluge und vernünftige Menschen, die trotzdem in der Linken aktiv sind – und zunehmend desillusioniert mit Blick auf die eigene Partei, was einem schon auch ein bisschen leid tun kann. Denn mit den Grünen, das wissen diese Bekannten und einige Leute mehr in der Bundesrepublik, haben wir ja bereits eine Zeitgeistpartei, die regelmäßig auf Basis wirrer Überlegungen wirre, manchmal – wie bei den Themen Homöopathie oder binäres Geschlechtersystem – geradezu wissenschaftsfeindliche Positionen vertritt. Und so wie bei den Konservativen lange das Credo gegolten hatte, rechts neben CDU/CSU dürfe sich keine politische Kraft etablieren, so wäre es eigentlich an der Linken, auf der anderen Seite des politischen Spektrums fest im Sattel zu sitzen, statt sich selbst zur Regionalpartei im Osten zu degradieren, wo ihr ohnehin längst Stimmen an die AfD verlorengehen. Und zwar gar nicht so wenige. Jüngste Artikel zum Thema: Denn selbstverständlich brauchen auch die Armen, die Arbeiter und die Gewerkschafter ein politisches Angebot, das einigermaßen zu ihren Lebensrealitäten passt. Insbesondere, weil sich die SPD schon längst von der Arbeiterschaft abgewendet und dem akademischen Milieu zugewandt hat. Und für viele Menschen, die früher linkes Wählerklientel gewesen wären, kann die AfD entgegen ihres Namens eigentlich keine Alternative sein, sondern maximal eine Überganglösung, die mehr mit einer Proteststimme zu tun hat, als mit der Überzeugung, es sei ausgerechnet die einstige Professoren-Partei, die für Gerd aus Gelsenkirchen und Murat aus Berlin-Neukölln Politik machen würde. Von der Zahl der Wirrköpfe innerhalb der AfD, die seit Jahren eher zu- als abzunehmen scheint, ganz zu schweigen. Unterm Strich gibt es nun genau zwei Lösungsansätze, um das Dilemma am linken Rand zu beenden. Lösungsvorschlag nummero uno: Wir warten einfach ab, bis der Müllhaufen der Geschichte, den die Die Linke gerade mit sich selbst baut, groß genug ist, um das Ding anzuzünden und hoffen, dass mit den Rauchschwaden auch die Zeitgeister, die Die Linke rief, entschwinden. Dass sich die Linke also tatkräftig weiter selbst zerstört, um dann vielleicht wie Phönix aus der Asche mit neuem Personal und neuen Ideen einen Neuanfang zu wagen. Damit kennt sich die Partei ja bestens aus. Oder nummero due: „Es braucht eine neue linkspopuläre Kraft in Deutschland. Im besten Fall müsste sich das linksliberale Bürgertum wieder mit dem Proletariat vereinen.“ Sie ahnen es wegen der Anführungszeichen schon: Diese Forderung kommt nicht, jedenfalls nicht direkt vom Autor dieser Zeilen, sondern von dem Schriftsteller Christian Baron, der jüngst in einem lesenswerten Cicero-Interview mit Politikern und Ottonormal-Bürgern abrechnete, die von sich behaupten, links zu sein, es bei näherer Betrachtung aber gar nicht sind. Die Wohlstands-Kids von Fridays for Future zum Beispiel. Baron muss es wissen, denn er ist – und da schließt sich wiederum der Kreis zum Autor – einem Milieu entsprungen, das eigentlich Kernwählerschaft der Linken sein müsste. Ein nicht-akademisches Milieu nämlich, das weiß, wie es sich anfühlt, wenn regelmäßig noch mehr Monat da ist als Geld in der Haushaltskasse. Weiter sagte Baron: „Eine neue linke Partei könnte dafür sorgen, dass die Menschen ihre Würde wiedererlangen. Keine moralische Besserwisserei, keine Belehrungen. Diese Kraft müsste versuchen, die sozialen Ungerechtigkeiten unserer Zeit anzugehen, anstatt sich aus dem Elfenbeinturm heraus auf weltfremde Winnetou-Debatten zu stürzen.“ Die Idee einer Alternative zur Linkspartei ist nicht neu. Etwas in die Richtung hat erwähnte Frau Wagenkecht bereits vor vier Jahren mit ihrer Sammlungsbewegung „Aufstehen“ versucht. Nämlich, den Grundstein zu legen für eine neue linkspolitische Stimme im Land. Doch spätestens mit ihrem krankheitsbedingten Rückzug aus dem Verein im März 2019 ist das Vorhaben dann eingeschlafen, sofern es überhaupt jemals wirklich Fahrt aufgenommen hatte, was sich an dieser Stelle nicht final klären lässt. Gleichwohl lässt sich feststellen: Die Zeiten waren nie besser, um einen erneuten Anlauf für ein solches Projekt zu wagen. Wenn Sie mich fragen, müsste eine moderne Linke in etwa so aussehen: Sie bräuchte ein marxistisches Fundament, sollte sich aber nicht scheuen, linke Ideen modern und liberal zu interpretieren. Den ganzen Gender-Firlefanz streichen wir ganz und Identitätspolitik sollte dort nur insofern stattfinden, dass die Unterprivilegierten und Arbeiter immer im Mittelpunkt des politischen Programms stehen. Sie sollte streitlustig sein, aber offen für andere Perspektiven und politische Positionen. Nah dran an den Leuten, weit weg vom Staat, etwa bei den Corona-Maßnahmen. Geerdet auch, mit klarem Abstand zur sich totstreitenden Ex-SED-Konkurrenz. Und vor allem sollte sie sich nicht aufhalten mit wirren Erklärungen auf irgendwelchen Parteitagen. Wenn Die Linke dann endgültig in Rauch aufgeht, wäre ihre Stunde gekommen. Passt auch zum Thema: Der Cicero-Podcast mit Christian Baron.
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Ben Krischke
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Die Linke scheint planlos und heillos zerstritten. Die Zerwürfnisse innerhalb der Partei gehen so weit, dass das Ende nur noch Formsache scheint. Dabei wäre eine linke Kraft, die modern ist, aber nicht dem Zeitgeist hinterherrennt, linke Ideen liberal interpretiert, pragmatische Lösungen für soziale Ungleichheiten bietet und sich vehement stemmt gegen zu viel Staat, eine Bereicherung für die deutsche Parteienlandschaft – und überaus zeitgemäß.
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2022-10-04T16:06:30+0200
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2022-10-04T16:06:30+0200
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https://www.cicero.de//ukraine-krieg-energiekrise-existenzangste-exklusiv-fur-xing-leser-eine-neue-linke-braucht-das-land-
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Rezept für Grünkohl mit Pinkel - Deftig, deftiger, am deftigsten
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Zu den Lebensmitteln, die ich in meiner Kindheit regelrecht gehasst habe, gehört Grünkohl. Zwar gab es den bei meinen Eltern nur einmal im Jahr, als Beilage zur Gans am 1. Weihnachtsfeiertag. Doch schon Wochen vorher meldete ich prophylaktisch meine strikte Weigerung an, diese „Pampe“ zu mir zu nehmen, deren Konsistenz, Geruch und Geschmack mir zutiefst zuwider waren. Meine Eltern nahmen es mit Gleichmut und servierten mir stets eine „Extrawurst“ in Form von Rotkohl. Klöße mochte ich übrigens auch nicht, ich bekam dann Kartoffeln. Natürlich hat sich diese durchaus altersgerechte Trotzhaltung irgendwann verflüchtigt, und aus der tiefen Abneigung wurde dann schlichtes Ignorieren. Grünkohl fand einfach nicht statt. Doch in dem recht gemütlichen Schöneberger Altstadtquartier, in dem ich lange wohnte, kam die Wende. Denn zu meinen Nachbarn gehörte auch ein waschechter Ostfriese, der einmal im Jahr in der örtlichen Kiezkneipe zu einem großen Grünkohlessen lud und mich auch in die Geheimnisse der Zubereitung einweihte. Ein echter Traditionalist, der sich die für das Gericht unverzichtbaren Pinkelwürste und Mettenden vom Fleischer seines Vertrauens in Aurich schicken ließ. Die denkwürdigen Grünkohl-Gelage, die von erstaunlichen Mengen Pils und Korn (beides natürlich auch aus Friesland) flankiert wurden, haben mich nachhaltig beeindruckt. Doch es sollten noch einige Jahre vergehen, bis ich mich erstmals selbst an die recht zeitaufwändige Zubereitung wagte. Zum Essen wurde natürlich auch der friesische Nachbar geladen, und sein wohlwollendes Nicken empfand ich als meinen ganz persönlichen Michelin-Stern. Gelegentlich habe ich Grünkohl mit Pinkel auch aushäusig verspeist, doch daraus wird in diesem Winter ja wohl nichts. Also wieder selber kochen. Die Erinnerungen an die klassische Rezeptur sind im Laufe der Zeit aber stark verblasst. Meinen leider verstorbenen friesischen Lehrmeister kann ich nicht mehr fragen, und gegenüber Rezepten aus Kochbüchern hege ich ein gesundes Misstrauen. Aber eine überzeugte norddeutsche Genuss-Patriotin, die zwar nicht in Friesland, aber immerhin in Hamburg lebt, bot ihre Hilfe an und schickte die entscheidenden Tipps. Und dann ging‘s los – und zwar in zwei Tagesetappen. Tag 1. Grünkohlblätter von den Stielen zupfen, waschen, abtropfen lassen, kurz blanchieren, erneut abtropfen lassen und grob hacken. Im großen Topf Zwiebeln in Schweineschmalz anschwitzen, Schweinebauch und durchwachsenen geräucherten Speck (im Stück) und Grünkohl dazu, mit Gemüsebrühe ablöschen und zwei Stunden köcheln lassen. Ab und zu zu ein wenig Gemüsebrühe nachgießen, damit es nicht anbrennt. Man kann auch noch Kassler-Kamm oder Schweinebäckchen dazugeben, muss aber nicht sein. Salz und Pfeffer braucht man -wenn überhaupt - nur sehr wenig, aber Kümmel kommt ganz gut. Beiseite stellen Tag 2. Jetzt geht‘s um die Wurst. Wir haben friesische Pinkelwürste aus Speck, Hafer- oder Gerstengrütze und Gewürzen sowie friesische Mettenden besorgt. Die stechen wir leicht ein, damit sie noch kräftig Aroma abgeben. Rein damit in den Grünkohltopf und alles nochmal eine Stunde schwach köcheln lassen. Kurz vor Schluss nehmen wir Bauch und Speck raus, gewürfelt kommt das wieder zurück. Dazu gibt‘s Salzkartoffeln, Pils und hinterher einen friesischen Korn oder Kümmel. Vielleicht auch zwei. Möglicherweise hat man zu viel gekocht. Kein Problem: Am nächsten Tag schmeckt der Grünkohl fast noch besser. Und wenn dann immer noch was übrig ist – einfach einfrieren. Grünkohl mit Pinkel ist sicherlich nichts für kalorienzählende Selbstoptimierer. Inzwischen gibt es natürlich auch eine vegane Variante. Aber die ist – Überraschung! – geschmackspolizeilich streng VERBOTEN! Zu Risiken und Nebenwirkungen fragen Sie den amtierenden Grünkohl-König Robert Habeck. Für den für diese Kolumne regelmäßig befragten Ernährungssoziologen Daniel Kofahl ist klassischer Grünkohl mit Pinkel schlicht Ausdruck einer kulinarischen Kultur, „sich auch unter unwirtlichen Bedingungen (Winter) zu nähren und zu leben“. Der „deftige Wohlgeschmack“ schaffe „physiologische und soziale Behaglichkeit.“ Dies sei ein Nährwert, „der in den modernen Ernährungswissenschaften leider sträflich unbeachtet bleibt.“ Kofahl hat – wie eigentlich fast immer – Recht. Grünkohl mit Pinkel Zutaten für vier Personen: 1 kg frischer Grünkohl 50 g Schweineschmalz 2 Gemüsezwiebeln 200g Schweinebauch 200g durchwachsener Räucherspeck 250ml Gemüsebrühe 4 Pinkelwürste 4 Mettenden Gemüsebrühe, Salz, Pfeffer, Kümmel
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Rainer Balcerowiak
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Als Kind hat Rainer Balcerowiak Grünkohl gehasst, Aber Jahre später hat ihn ein friesischer Nachbar mit der wundersamen Hilfe von Pils und Korn bekehrt. Und jetzt wird es wieder mal Zeit für dieses deftige Gericht, findet er.
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kultur
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2020-12-10T12:44:37+0100
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2020-12-10T12:44:37+0100
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https://www.cicero.de/kultur/gruenkohl-rezept-kochen-pinkel-norddeutschland-gruenkohlkoenig-robert-habeck
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Rot-Rot-Grün in Thüringen - Bodo verändert die Republik
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Kein Zweifel, in Erfurt wurde an diesem Freitag Geschichte geschrieben. Im zweiten Wahlgang stand die Mehrheit. Der erste Ministerpräsident der Linkspartei heißt Bodo Ramelow. Und kein Zweifel: Rot-Rot-Grün in Thüringen wird die Republik verändern. Die Welt wird mit einem linken Ministerpräsidenten nicht untergehen, auch Thüringen nicht. 25 Jahre nach dem Fall der Mauer muss in dem ostdeutschen Bundesland Versöhnung möglich sein. Ein linker Ministerpräsident gehört jetzt zur gesamtdeutschen Realität. Und wenn den Wählern die Politik von Bodo Ramelow und seinen rot-rot-grünen Mitstreitern nicht gefällt, weil dieser seine Versprechen nicht hält oder weil die Koalitionspartner nur miteinander streiten, dann werden die Wähler dies in fünf Jahren an der Wahlurne deutlich machen können. So funktioniert eine Demokratie mit freien Wahlen. Die Empörung, die CDU und CSU jetzt verbreiten, wirkt dagegen inszeniert und aufgesetzt. Sie soll nur über das peinliche Schauspiel hinweg täuschen, dass die Thüringer CDU angesichts des drohenden Machtverlustes in den letzten drei Monaten aufgeführt hat. Über den erbitterten Streit in den eigenen Reihen, über das gierige Schielen auf die Stimmen der AfD sowie über die christdemokratische Angst, Erfurt könne sich auch in Berlin wiederholen. Natürlich ist Rot-Rot-Grün in Thüringen ein Testlauf für den Bund. Das sozialdemokratische Credo – in den Ländern ja, aber im Bund nie – wird nicht lange halten. Eine Partei, die in einem Land den Ministerpräsidenten stellt und damit auch im Bundesrat einen Machtfaktor darstellt, ist per se auch im Bund koalitionsfähig. Der Verweis auf die außenpolitische Unzuverlässigkeit klingt da nur noch wie eine verlegene Ausrede. Zumal sich die Linke unter dem Druck der politischen Realitäten in Thüringen sehr rasant verändern und den neuen Realitäten anpassen wird. Rausreden gilt für die Genossen nicht mehr. Bodo Ramelow wird vieles verantworten müssen, was die Fundis der Partei bisher vehement bekämpfen. Er wird weder das Opelwerk in Eisenach verstaatlichen noch den Strom für Arme subventionieren. Notfalls wird er Sozialleistungen streichen und tatenlos zusehen müssen, wie Firmen schließen und Arbeitsplätze abgebaut werden. Ramelow wird neue Unternehmen mit hohen Subventionen anlocken und abgelehnte Asylbewerber abschieben. Und wenn die NPD aufmarschiert, wird der antifaschistische Ministerpräsident zum Schutz der Demonstranten die Polizei schicken müssen, damit die Neonazis ihr Grundrecht wahrnehmen können. Im Bundesrat wird er zudem über viele Bundesgesetze mitentscheiden müssen, und wie Winfried Kretschmann, dem grünen Ministerpräsidenten von Baden-Württemberg, wird er sich im Zweifelsfall für die Interessen des Landes entscheiden und nicht für die Interessen der Partei. Und anders als in Brandenburg, wo die Linke der kleine Koalitionspartner ist, können sie sich im Zweifelsfall nicht hinter der SPD verstecken. Bodo Ramelow trägt in Thüringen als Ministerpräsident die Gesamtverantwortung. Die Linke wird sehr schnell lernen, dass das der Preis der Macht ist. Und wie die Sozialdemokraten werden in Berlin auch die Genossen der Linken nicht sagen können, es interessiere sie nicht, was in der rot-rot-grünen Provinz passiert, in Berlin gingen die Uhren anders. Der linke Ministerpräsident wird vielmehr nur dann Erfolg haben, wenn er von der ganzen Partei getragen wird. Dafür muss diese die fundamentalistischen Dauernörgler innerparteilich kaltstellen. Ramelow stärkt den linken Realos in Berlin also den Rücken. SPD-Chef Sigmar Gabriel wird es freuen. Niemand sollte es deshalb überraschen, wenn Rot-Rot-Grün für die SPD im Jahr 2017 eine zweite Machtoption neben der Großen Koalition wird. Soviel steht fest: Nur mit Unterstützung der Linken wird es in drei Jahren einen SPD-Kanzler geben. Natürlich werden CDU und CSU weiter lautstark vor Rot-Rot-Grün warnen. Aber die Warnungen klingen auch deshalb immer hohler, weil Thüringen eines gezeigt hat: Die Union hat ein AfD-Problem. Zumal dann, wenn es der Partei in den kommenden Jahren gelingt, sich bundesweit zu etablieren. Schürt sie mit Blick auf 2017 den Lagerwahlkampf, treibt sie nicht nur die SPD in die Arme der Linken. Sie wird auch die Frage beantworten müssen, wie hältst Du es im Zweifel mit der Rechtsaußenpartei. Grenzt sie sich von der AfD ab, bricht die christdemokratische Lagerlogik in sich zusammen. Öffnet sich die CDU für eine Zusammenarbeit mit der AfD, verschreckt sie viele moderne christdemokratische Wähler in der Mitte. Denn die können sich sehr viel eher mit Schwarz-Grün anfreunden als mit einem Rechtsbündnis. An diesem Freitag ist Thüringen sehr viel mehr als ein kleines ostdeutsches Bundesland, mit nur 2,2 Millionen Einwohnern. In Erfurt wurden mit der Wahl des Linken-Politikers Bodo Ramelow zum Ministerpräsidenten vielmehr die Karten für die bundespolitischen Machtspiele der Parteien neu gemischt. In Berlin wird das schon bald zu spüren sein.
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Christoph Seils
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Mit Rot-Rot-Grün in Thüringen wird auch ein Linksbündnis in Berlin möglich. Zumal die CDU mit der AfD ein strategisches Problem hat
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innenpolitik
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2014-12-05T14:26:39+0100
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2014-12-05T14:26:39+0100
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https://www.cicero.de//innenpolitik/thueringen-bodo-veraendert-die-republik/58590
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Geheime Autobiographie – 100 Jahre Warten auf Mark Twain
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Hundert Jahre! So lange hat die Welt auf die „Geheime
Autobiographie“ von Mark Twain warten müssen. Denn erst hundert
Jahre nach seinem Tod – so hatte es der Autor von „Tom Sawyer“ und
„Huckleberry Finn“, von „Bummel durch Deutschland“ und „Knallkopf
Wilson“ verfügt – durften seine Aufzeichnungen und Erinnerungen an
die Öffentlichkeit gelangen; zu intim und persönlich, zu
authentisch und manchmal beleidigend für die Betroffenen sei, was
er der Nachwelt über sein Leben zu berichten habe. Mark Twain, der als Samuel Langhorne Clemens am 30. November
1835 in Florida, Missouri, geboren wurde, starb am 21. April 1910
in Redding, Connecticut. Pünktlich im Jahr 2010 legten
amerikanische Forscher den ersten Teil seiner „Geheimen
Autobiographie“ vor, der jetzt auch auf deutsch erscheint; zwei
weitere Teile sollen folgen. Nicht alles, was man darin zu lesen
bekommt, ist freilich bisher unbekannt gewesen. Gegen den Willen
des Dichters sind in den hundert Jahren nach seinem Tod bereits
zahlreiche Fragmente ediert und in Buchform herausgegeben worden.
Nun aber sind Twains autobiografische Schriften erstmals in vollem
Umfang zu lesen – und zwar in der Gestalt, die ihm zu Lebzeiten
vorschwebte: so assoziativ und unchronologisch, so ab- und
ausschweifend wie möglich. „Beginne an einem beliebigen Zeitpunkt deines Lebens“,
formuliert Twain in der Vorbemerkung sein Credo, „durchwandre dein
Leben, wie du lustig bist; rede nur über das, was dich im
Augenblick interessiert, lass das Thema fallen, sobald dein
Interesse zu erlahmen droht; und bring das Gespräch auf die neuere
und interessantere Sache, die sich dir inzwischen aufgedrängt hat.“
So wird hier wild zwischen Jugenderinnerungen und Alterseinsichten
gesprungen, zwischen Anekdoten und assoziativ dahingeplauderten
Erinnerungen, die Twain in Florenz von 1904 an einem Stenografen
diktierte. In einer Passage erzählt er vom New Yorker
Gesellschaftsleben der 1890er-Jahre, in der nächsten von seiner
ersten Reportage-Reise, die ihn in den 1860er-Jahren nach Hawaii
führte, und landet schließlich bei seiner Jugendzeit im geliebten
Missouri. Twains Heimatdorf Hannibal, das hier als nostalgische
Idylle, aber auch als hinterwäldlerisches Kaff mit archaischer
Sozialstruktur erscheint, taucht im „Tom Sawyer“ als „St.
Petersburg“ wieder auf. Auch lernen wir das reale Vorbild des
Huckleberry Finn kennen: Es ist ein gesetzloser Gesell namens Tom
Blankenship, den der junge Samuel Clemens widerstrebend bewundert,
und mit dem es später ein böses Ende nimmt. So geht es hin und her und vor und zurück. Doch der Schein der
Spontaneität und der Strukturlosigkeit trügt; gerade im
fragmentarisch improvisierten Text findet Twain die wahrhaftigste
Weise, um den bruchstückhaften, oft trügerischen Charakter der
eigenen Erinnerung abzubilden. In das abschweifungsreiche Erzählen
fügt er reihenweise Reflexionen über das autobiografische Genre und
das Wesen des Gedächtnisses selbst. Gegenwart und Vergangenheit
verschränken sich hier in erhellender und oft auch rührender Art;
die farbige Rekapitulation von Jugendereignissen und die
melancholische Erinnerung an längst verstorbene Freunde verbindet
sich mit der immer wieder erhobenen Klage über Mühsal und Tücken
des Erinnerns. So gedenkt Twain etwa seines jüngeren Bruders Henry, der bei
einem Unfall auf einem Mississippi- Dampfer ums Leben kam. Das
Ereignis will Twain seinerzeit in mehreren Albträumen vorgeahnt
haben. Um diese Traum-Erinnerungen strickt er seine Geschichte –
und berichtet zugleich, wie er beides vor Jahren schon einmal beim
Herrenabend in seinem Club erzählte. Von einem psychologisch
gebildeten Freund wurde er daraufhin darüber belehrt, dass man beim
Erinnern und Wiederholen derartiger Traumata irgendwann zu der –
falschen – Überzeugung gelangt, dass man das Geschehen vorausgeahnt
habe. Was wahr und was falsch ist, was erlebt und was geträumt,
bleibt letztlich im Ungewissen. Und so ist es immer bei Twain: So
wie er Zeit-, Erzähl- und Erinnerungsebenen miteinander
verschränkt, verschafft er dem Erinnerten größte Präsenz,
dementiert zugleich die Objektivität seiner Geschichte – und
vermittelt dem Leser doch ein Gefühl von der Wahrhaftigkeit seines
Berichts. Foto: James Wallace Black/Kevin Mac Donnell Seite 2: Die ergreifendsten Passagen hat Twain in einer Art
Zwiegespräch mit seiner Tochter Susy verfasst Die ergreifendsten Passagen der „Geheimen Autobiographie“ hat
Twain in einer Art Zwiegespräch mit seiner Tochter Susy verfasst.
1872 geboren, begann sie mit dreizehn Jahren, ein Porträt ihres
Vaters zu schreiben. In kurzen, orthografisch naiven, doch in der
Betrachtung berührend reifen Sätzen schildert sie seine
Erscheinung, seinen Charakter, seine Art des Umgangs mit den
Schicksalsschlägen, die die Familie zu erleiden hatte, vom frühen
Tod des geliebten Großvaters bis zur immer wieder aufflackernden
Krankheit ihrer Mutter, Olivia Clemens. Vater Clemens kommentiert
die Beobachtungen seiner Tochter mal zustimmend, mal liebevoll
korrigierend, doch stets voller Stolz auf ihr Talent und ihre
Klugheit und entwickelt so ein Bild auf sich aus der Perspektive
des Kindes. Umso berührender, ja: herzzerreißend ist der Nachruf
auf Susy, den man ein paar hundert Seiten später zu lesen bekommt:
Im Jahr 1896 stirbt die geliebte Tochter mit nur 24 Jahren an einer
Hirnhautentzündung. Wie kaum ein anderer Schriftsteller vor ihm hat Twain seinen
literarischen Stil aus der Aneignung nicht-literarischer Gattungen
entwickelt; die größten Rollen haben dabei die journalistische
Reportage und der Abendvortrag gespielt. Seinen Ruhm nährte und
mehrte er mit ausgiebigen Lesereisen. Ein ganzes, in seinem
sarkastischen Ton umwerfend komisches Kapitel schildert die
Gepflogenheiten und Schwierigkeiten der in den 1870er-Jahren
erblühenden Kultur der Vortrags- und Leseabende. Ebenso boshaft wie
witzig beschreibt Twain die Eitelkeit und den Dilettantismus seiner
Schriftsteller- Kollegen, die sich bei gemeinsamen Auftritten
insbesondere in der Länge der Lesungen zu überbieten versuchen –
und nicht begreifen, dass man die Aufmerksamkeit des Publikums eher
mit kurzen und zugespitzten Texten erregt als mit uferlosem
Geschwafel; eine Erkenntnis, die sich – wie jeder weiß, der einmal
ein Treffen von Kulturwissenschaftlern besuchte – bis heute nicht
hinreichend durchgesetzt hat. Dem Twain-Freund wird mit diesem Kompendium das allergrößte
Vergnügen bereitet! Gerade auch, weil der Originaltext von einem
knapp 400 Seiten starken Anmerkungsband begleitet wird, in dem jede
erdenkliche Referenz historisch und philologisch entschlüsselt und
jede erdenkliche Gedächtnisschwäche genauestens überprüft wird;
selbst die frühsten Kindheitserinnerungen von Twain werden anhand
von Aussagen seiner damaligen Spielgefährten gegebenenfalls
korrigiert. So erhält man hier – bei aller ausführlich dargelegten
Abneigung des Autors gegen chronologische Lebensschilderungen „von
der Geburt direkt ins Grab“ – eben doch eine lückenlose Biografie
Mark Twains samt einem farbigen Panorama der amerikanischen
Kulturgeschichte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Dies
ist eine editorische Großtat, für die den Wissenschaftlern des
„Mark Twain Project“ ebenso zu danken ist wie dem Aufbau Verlag:
Ach, würden wir in einer solchen, nicht nur akribischen, sondern
gerade auch in der Übertragung der schweifenden, nah am
Gesprochenen bleibenden Sprache durchweg gelungenen und originellen
Übersetzung eines Tages auch Twains literarisches Werk auf Deutsch
neu zu lesen bekommen. Nach der Lektüre dieser beiden Bände begreift man jedenfalls
noch besser und reflektierter, worin die Größe dieses Autors
besteht und worin er seinen Zeitgenossen so weit voraus gewesen
ist: in der sonderbaren Verbindung von Tradition und Moderne, von
literarischem Avantgardismus und volkstümlichem, ja: populistischem
Witz. Am besten liest man dazu parallel auch noch einmal den
„Huckleberry Finn“, im amerikanischen Original oder in der
sprachlich einzig kongenialen Übersetzung von Friedhelm Rathjen.
Denn wie Twain dort aus dem scheinbar ungefilterten Slang der
Mississippi-Anwohner eine köstliche literarische Kunstsprache
entwickelt – so entsteht in der „Geheimen Autobiographie“ aus dem
scheinbar ungefilterten Gang der Erinnerung ein Bild des
Gedächtnisses und der Selbsterkenntnis, das so avantgardistisch und
populär, so authentisch und dekonstruktiv ist, dass es kaum ein
anderer moderner Autor hätte ausmalen können. Und so witzig und
boshaft wie Mark Twain ist ohnehin keiner gewesen. Foto: Aufbau Verlag
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100 Jahre – so lange, das hatte Mark Twain vor seinem Tod verfügt, mussten verstreichen, bis seine „Geheime Autobiographie“ an die Öffentlichkeit gelangen durfte. Nun ist die Zeit verstrichen. Zu lesen bekommen wir ein Buch voller Erinnerungen: persönlich, authentisch und manchmal beleidigend für die Betroffenen
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kultur
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2012-10-12T10:10:27+0200
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2012-10-12T10:10:27+0200
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https://www.cicero.de//kultur/mark-twain-autobiografie-durchwandre-dein-leben-wie-du-lustig-bist/52117
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Migrationsgipfel - Faeser für Schnellprüfungen - Merz erklärt die Gespräche für gescheitert
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Die Ampel-Regierung und die Union haben bei ihrem zweiten Migrationstreffen im Bundesinnenministerium keinen gemeinsamen Nenner gefunden – die Regierung plant aber dennoch Reformen. Der Erste Parlamentarische Geschäftsführer der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Thorsten Frei, sagte in Berlin, die Regierungsparteien hätten „keinen Vorschlag unterbreitet, der tatsächlich zu Zurückweisungen an der Grenze über das bisher übliche Maß hinausführt“. Unionsfraktionschef Friedrich Merz erklärte die Gespräche für gescheitert. Die Koalition sehe sich offensichtlich nicht zu umfassenden Zurückweisungen an den deutschen Staatsgrenzen in der Lage, sagte der CDU-Vorsitzende. „Damit ist der Versuch gescheitert, einen gemeinsamen Weg zu gehen.“ Er vermisse in dieser Frage Führung von Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD). Ampel-Politiker warfen der Union im Gegenzug Verantwortungslosigkeit vor. Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) schlug bei dem Gespräch, an dem auch Ländervertreter teilnahmen, ein Modell vor, um Asylbewerber, die anderswo schon registriert wurden, künftig rascher in für sie zuständige europäische Staaten zu bringen. Diese Pläne will die Ampel-Regierung aus SPD, Grünen und FDP nach Angaben der Ministerin nun auch ohne die Union verfolgen. Faeser räumte ein: „Wenn wir das jetzt als gutes System etablieren wollen, braucht es mehr Personal, damit die Bundespolizei das auch dauerhaft stemmen kann.“ Für die konkrete Umsetzung der geplanten Beschleunigung sei eine Zusammenarbeit mit den betroffenen Bundesländern notwendig, sagte Faeser. Bei einigen Ländern habe sie hierzu auch bereits Interesse festgestellt. Der CDU-Politiker Frei kritisierte, die Pläne zielten nicht auf zusätzliche Zurückweisungen an den deutschen Grenzen, sondern auf beschleunigte Verfahren in Deutschland. Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) sagte, das Festhalten der Menschen im grenznahen Raum sei effektiver als ein Zurückschieben über die grüne Grenze, wo damit zu rechnen sei, dass die Zurückgeschobenen an anderer Stelle dann einen weiteren Einreiseversuch unternehmen würden. Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) kritisierte, die Unionsvertreter seien „aufgestanden, obwohl wir viele Themen noch gar nicht besprochen haben“. Die Union hatte eine Notlage ausrufen wollen unter Berufung auf Artikel 72 des EU-Vertrags, um von normalen europäischen Verfahren abweichen zu können. Nach Einschätzung der Ampel-Koalition fehlt dafür die rechtliche Grundlage. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) soll nach den von der Ampel geplanten Änderungen das sogenannte Dublin-Verfahren künftig schneller betreiben. Dabei wird festgestellt, welches europäische Land für ein Asylverfahren zuständig ist. In vielen Fällen ist das jener Staat, auf dessen Gebiet Schutzsuchende zuerst europäischen Boden betreten haben. Die Bundespolizei soll derweil prüfen, ob es freie Haftplätze gibt und gegebenenfalls beim zuständigen Gericht Haft beantragen, damit Betroffene nicht untertauchen. „Hier ist ein schnelles Handeln der Justiz der Länder erforderlich. Auch müssen die Haftplätze der Länder in ausreichender Anzahl, möglichst in Grenznähe entlang der Migrationsrouten, vorhanden sein», hieß es. «Alternativ soll eine feste Zuweisung und Wohnsitzauflage vorgesehen werden, wenn Haft nicht in Betracht kommt“, hieß es weiter aus Regierungskreisen. Die Bundesregierung will das Gespräch suchen, damit die Länder, die Migranten zurücknehmen sollen, kooperieren. Denn hier hakt es derzeit oft. Über eventuelle Klagen der Betroffenen gegen ihre Überstellung sollen die Verwaltungsgerichte zügig entscheiden. Eine wirkliche Neuerung ist die geplante größere Rolle für die Bundespolizei. Bislang liegen Abschiebungen in der Verantwortung der Bundesländer, die Bundespolizei unterstützt nur bei der Durchführung. Künftig soll die Bundespolizei am Ende des geplanten beschleunigten Verfahrens die Menschen dann aus Deutschland bringen. „Außerdem setzt Deutschland weiter auf ein enges kooperatives Zusammenwirken mit den Nachbarstaaten etwa durch gemeinsame Streifen und gemeinsame Polizeizentren an den Grenzen. Ein unmittelbares Zurückweisen an den Grenzen über die heutige Praxis hinaus würde diese Zusammenarbeit massiv gefährden“, hieß es weiter. Die Union hatte nach einem ersten Treffen in der vergangenen Woche zur Bedingung für ein weiteres Treffen gemacht, dass dabei auch über umfassende Zurückweisungen an den Grenzen gesprochen wird. SPD-Fraktionsvize Dirk Wiese sagte nach dem Treffen: „Die Union wollte mit dem Kopf durch die Wand mit ihrer Idee der flächendeckenden Zurückweisungen.“ Dagegen gebe es aber massive europarechtliche Bedenken, die seine Fraktion auch teile. „Die Tür für weitere Gespräche über rechtssichere Lösungen bleibt aber offen“, betonte Wiese. Er sagte, mit ihren Plänen reagiere die Regierung auf Forderungen der Kommunen, Menschen ohne Schutzanspruch in Deutschland erst gar nicht im Land zu verteilen. „Es ist ein Trauerspiel, dass die Union der Verantwortung für unser Land nicht gerecht wird und weiter eine Politik der Show-Effekte ohne Substanz betreibt“, sagte die Erste Parlamentarische Geschäftsführerin der Grünen-Fraktion, Irene Mihalic. Faeser hatte am Vortag des Treffens bereits vorübergehende Kontrollen an allen deutschen Landgrenzen angeordnet, um die Zahl unerlaubter Einreisen stärker einzudämmen. Die zusätzlichen Kontrollen sollen am 16. September beginnen und zunächst sechs Monate andauern. Als Gründe für die nun angeordneten Kontrollen nannte das Ministerium neben der Begrenzung der irregulären Migration auch den Schutz der inneren Sicherheit vor aktuellen Bedrohungen durch den islamistischen Terrorismus und vor grenzüberschreitender Kriminalität. Zurückweisungen gibt es derzeit nur in bestimmten Fällen: wenn jemand mit einer Einreisesperre belegt ist oder kein Asyl beantragt. Zurückweisungen an den deutschen Binnengrenzen sind grundsätzlich nur da möglich, wo es Kontrollen direkt an der Grenze gibt. Seit Oktober sind laut Bundesinnenministerium mehr als 30.000 Menschen zurückgewiesen worden. Mitte Oktober 2023 hatte Faeser stationäre Kontrollen an den Grenzen zu Polen, Tschechien und der Schweiz angeordnet. An der deutsch-österreichischen Landgrenze gibt es solche Kontrollen, die mit der irregulären Migration begründet werden, bereits seit September 2015. Die neu angeordneten Kontrollen direkt an der Grenze betreffen die Landgrenzen zu Frankreich, Dänemark, Belgien, den Niederlanden und Luxemburg. Verschärft hatte sich die Debatte um irreguläre Migration und Abschiebungen auch aufgrund von mehreren Gewalttaten. In Solingen waren bei einem mutmaßlich islamistischen Messerattentat auf einem Stadtfest im August drei Menschen getötet und acht weitere verletzt worden. Ein 26-jähriger Syrer sitzt wegen der Tat in Untersuchungshaft. Die Vorsitzende der AfD-Bundestagsfraktion, Alice Weidel, sagte: „Die Migrationskrise in Deutschland lässt sich nur durch lückenlose Grenzkontrollen und eine konsequente Zurückweisung illegaler Migranten lösen.“ dpa
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Cicero-Redaktion
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Ampel und CDU/CSU haben über weitere Maßnahmen zur Begrenzung der irregulären Migration beraten. Was die Regierung vorschlägt, überzeugt die Union nicht – sie erklärt die Gespräche für gescheitert.
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[
"Migration",
"Nancy Faeser",
"Grenzkontrolle"
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innenpolitik
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2024-09-10T21:44:19+0200
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2024-09-10T21:44:19+0200
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https://www.cicero.de//innenpolitik/migrationstreffen-faeser-fur-schnellprufungen---merz-erklart-die-gesprache-fur-gescheitert
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Amok – Wenn die Trauer zur Routine wird
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Es klingt zynisch, doch die Debatte um das Muster „Amok“ in
unserer Gesellschaft ist ermüdend. Immer wieder dieselben ratlosen
Gesichter, dasselbe Entsetzen, dieselbe Wut – und dieselbe Frage
nach dem „Warum“. Als wäre diese Frage nicht schon zur Genüge
gestellt worden. Eine Antwort darauf bleiben wir bis heute
schuldig. Gepeinigt von Ohnmacht und Verzweiflung hat sich – gerade in den
USA – eine Art Trauerritus eingebürgert, eine
schematisch-verkommene Betroffenheit, die das Trauern zur Routine
macht. Ein willkommener Mechanismus, der die Menschen davor
bewahrt, ihren Verstand zu verlieren. Sie weinen um ihre Lieben,
schreien nach Vergeltung und sparen nicht mit Schuldzuweisungen. In
ihrem Unglück schieben sie die Schuld auf die Waffenlobby, die
betreten und verstummt von einem Bein auf das andere springt. Die
Waffenlobby schiebt das unbequeme Päckchen weiter dem
Gesundheitssystem zu, mit dem Versuch, die Debatte auf die
Missstände in der medizinischen Versorgung von psychisch Erkrankten
zu konzentrieren. Das Gesundheitssystem prangert – wie könnte es
anders sein – die Computerindustrie an, warnt vor Killerspielen und
Ego-Shootern. Und natürlich tragen die Schuld am Ende ganz allein
die Eltern, die bei der Erziehung ihres Kindes vollends versagt,
ihre Fürsorgepflicht vernachlässigt und kein gutes Vorbild
abgegeben hätten. Dann sind wir endlich angekommen in der Keimzelle
des Grauens, dort, wo das Böse, der Amok seinen Ursprung hat. Die mediale Berichterstattung ergießt sich dann in altbekannten
hohlen Phrasen und Gebaren. Von einer „sinnlosen Tragödie“ ist die
Rede, von „blinder Wut“ und nicht zuletzt wird das Geschehene
pathologisiert, der Täter wird als „unzurechnungsfähig“ und
„psychisch krank“ erklärt. Soziologe Benjamin Faust negiert diese
Annahme der Sinnlosigkeit jedoch in einer These in seinem Buch
„School shooting“, indem er zu verstehen gibt, dass das Handeln der
jeweiligen Amokschützen „im höchsten Maße sinnvoll“ sei, dass es
„ohne eine Gesellschaft, die diesem Handeln Sinn verleiht, nicht
denkbar“ wäre. Liegt der Sinn vielleicht in dem überzogenen
Unabhängigkeitsverständnis der Amerikaner begründet, in dem
Versprechen der persönlichen Freiheit, das sie sich selbst jeden
Tag aufs Neue geben? Oder liegt der Sinn in einer Kultur der
Gewalt, die sich in den USA auf historische Weise habituell
verankert hat? Rein quantitativ trifft es zu, dass die kriminelle Gewalt in den
USA sehr viel höher einzuschätzen ist, als beispielsweise im
europäischen Durchschnitt oder bei den kanadischen Nachbarn. Fünf
mal so hoch, um genau zu sein. Entsprechend dürfte es auch
zutreffen, dass die leichte Zugänglichkeit zu Waffen in den USA
sich direkt auf die Zahl der Opfer auswirkt. Immerhin 30.000
Menschen sterben hier jährlich durch eine Schusswaffe. Hätte der
Täter in Connecticut kein halbautomatisches Gewehr eingesetzt,
sondern beispielsweise ein Messer, hätte er wahrscheinlich früher
überwältigt werden können. Insofern steigt nicht unbedingt die Zahl
der Vorfälle, durchaus aber die Zahl der Opfer. Nach Meinung des Soziologen Hans Joas resultieren die Amokläufe
in den USA jedoch nicht aus einer Tradition der Gewaltbereitschaft.
Das „Muster Amok“ ist für ihn ein kulturelles, das aus
psychologischer Sicht eine „besonders aggressive Form des Suizids“
darstellt. Die Frage, die wir uns also stellen müssen, ist
folgende: Was treibt junge Menschen in unserer Mitte dazu, mit
einem derartig grausigen Spektakel aus dem Leben zu scheiden? Seite 2: Egoismus als Volkskrankheit? Auch dies klingt zynisch, doch ist der Selbstmord (und der
erweiterte sowieso) an Egoismus nicht zu übertreffen – und
vermutlich gerade deshalb symptomatisch für unsere Zeit. „Bevor ich
gehe, werde ich euch einen Denkzettel verpassen, damit mich nie
wieder ein Mensch vergisst“, schrieb Bastian B. in einem
Internetforum, bevor er 2006 in einer Schule in Emsdetten wahllos
um sich schoss und sich anschließend die Waffe in den Mund
steckte. Täter wie er oder zuletzt Adam Lanza leiden nicht etwa an einem
Mangel an Orientierung, sondern an einem Mangel an Anerkennung. Zu
diesem Schluss kommt Wilhelm Heitmeyer, Leiter des Instituts für
interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung. Seiner Meinung
nach gibt es in der Entwicklung eines jungen Menschen drei zentrale
Quellen für Anerkennung: In der Familie bekommt er Liebe, in der
Schule profiliert er sich über Leistung und unter Freunden stärkt
er seinen Status als Gleichgesinnter. Dabei bergen diese Quellen
nach Heitmeyer immer beide Möglichkeiten, die der Anerkennung und
die der Verletzung gleichermaßen. Der Verlust von Anerkennung kann
demnach einen Verlust von Kontrolle über die eigene Lebensplanung
bedeuten, was gerade den Wunsch nach Kontrolle über das Leben
Dritter forciere. So auch über den Tod. Es sind junge Menschen, die vom Leben enttäuscht werden, „Opfer“
einer Gesellschaft, in der sie immer nur verloren haben, auf ganzer
Linie. Ein ganz wesentlicher Punkt sei dabei nach Heitmeyer, dass
das eigene Lebensschicksal heutzutage nicht mehr an
gemeinschaftliche Benachteiligung geknüpft ist. Jeder ist seines
eigenen Glückes Schmied, ein jeder für sein Schicksal selbst
verantwortlich, was den Druck auf den Einzelnen um so mehr erhöht.
Wut auf die Welt hat es früher auch schon gegeben. Doch
möglicherweise wurde sie durch ein stärkeres kollektives
Bewusstsein abgefangen. Heute seien, so Heitmeyer, die
Desintegrationsgefahren sehr viel größer, weil sich die Menschen
nicht mehr so stark in Familien oder andere Zusammenhänge
eingebunden fühlen. Unsere Gesellschaft ist also labil geworden, die Sozialstruktur
porös. Die Aufmerksamkeit für unser Gegenüber ist geschwunden.
Hingegen strebt ein jeder selbstverliebt nach seinem eigenen Recht,
nach einem Individualismus, der in der Romantik noch mit so viel
Poesie gefüllt war. Mittlerweile ist das romantische Individuum zu
einem stumpfen Egozentriker verkommen, der sich in einer
Gesellschaft voller Ellenbogen und Stolpersteine
verständlicherweise um sein eigenes Glück sorgt, als um das seines
Nächsten. In dieser Welt der mangelnden Vergesellschaftung begegnen
wir uns selbst, begegnen unseren Schwächen, Ängsten und
Aggressionen. Die Depression wird zur Volkskrankheit. Und ohne ein
solides Miteinander laufen wir hier Gefahr, uns immer weiter
abseits jeglicher Norm und Ethik zu bewegen. Hegel wollte „sich im anderen erkennen“, um ein Gespür für
seinen Mitmenschen zu entwickeln. Dies scheint in dieser gemeinen
Abwärtsspirale schier unmöglich. Das gesellschaftliche Ich gerät
ins Wanken oder zerbricht gleich ganz. Auf unserem Weg nach
Selbstdarstellung und dem immer weiteren Streben nach dem eigenen
Vorteil haben wir Sinn für ein liebevolles Miteinander eingebüßt.
Es sollte uns nicht Wunder nehmen, wenn wir den gesellschaftlichen
Raum, in dem wir uns tagtäglich mit Scheuklappen bewegen, nicht
mehr als gemeinsamen, sondern als einen fremden begreifen.
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Es klingt zynisch, doch die Debatte um das Muster "Amok" ist ermüdend. In den USA hat sich eine Art Trauerritus eingebürgert, doch der Frage nach dem "Warum" wird nur ungenügend nachgegangen. Dabei liegt die Antwort so nahe: Uns ist die Aufmerksamkeit für unsere Mitmenschen abhanden gekommen
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kultur
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2012-12-21T09:24:33+0100
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2012-12-21T09:24:33+0100
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https://www.cicero.de//kultur/wenn-die-trauer-zur-routine-wird/52993
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Modernes Spiessertum - Fuck the trend!
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Sie sagen, Spießer sind glücklicher als andere Menschen. Wie kommt’s?Das hängt davon ab, wie man „Spießer“ definiert. Es geht nicht um den engstirnigen Kleinbürger, sondern um das Selbstbewusstsein gegenüber Trendsettern, die einem erzählen wollen, was man zu tun und zu lassen hat, was man anziehen oder trinken soll, weil es gerade „in“ ist. Wenn man sich davon löst und das tut, was man gerne mag, egal ob es im Trend ist oder nicht, dann gilt man oft als spießig oder uncool. Aber es geht einem besser damit.Leben Spießer nicht auch gesünder – weil sie beispielsweise immer einen Schirm dabei haben, wie es so schön in Ihrem Buch heißt?Oder auch weil sie sich immer die Hände waschen und Türklinken nicht anfassen. Das ist schon denkbar. Viele Dinge, die als cool gelten, sind ja möglicherweise ungesund. Gerade die Sache mit dem Schirm – wer nicht nass wird, erkältet sich weniger, es sieht aber uncool aus, wenn man immer mit einem Schirm herumläuft.Gibt es Sachen, die eigentlich total spießig sind, aber mit einem Mal als cool gelten?Ich habe bei der Recherche für das Buch festgestellt, dass es manchmal Dinge gibt, die auf der Kippe stehen. Das verläuft oft in Wellenbewegungen: plötzlich sind Sachen trendy, eben weil sie als spießig galten. Nehmen wir das Jeanshemd. Es gab Zeiten, da war es verpönt und ganz furchtbar, Jeanshemden zu tragen. Und auf einmal ist es wieder in, alle hippen Leute tragen Jeanshemden. Auch wenn man über bestimmte Dinge im Internet recherchiert, dann fangen die Artikel schon an mit „es galt lange Zeit als spießig, aber jetzt ist es wieder im Trend“. Bestes Beispiel: der Bausparvertrag. Auch der gute alte Filterkaffee ist wieder im Kommen.Auf den Filterkaffee verweisen Sie besonders gern.Mein Lieblingsbeispiel ist eigentlich das Kurzarmhemd, aber der Filterkaffee verfolgt mich , weil ich darauf häufig angesprochen werde. Viele Leute sagen zu mir: „Filterkaffee schmeckt doch viel besser“. Außerdem gehört Kaffee in Tassen und nicht in Pappbecher. Anscheinend gibt es da wieder einen Trend, weg von der To-Go-Mentalität mit Latte Macchiato und Cappuccino und hin zum guten Filterkaffee. Das beobachte ich in Cafés, aber auch bei Freunden, die ihre vollautomatische One-Touch-Hyper-Cappuccino-Maschine mit der Technologie eines Space Shuttles wieder einmotten und die alte Rowenta aus dem Keller holen, weil’s ihnen einfach besser schmeckt.Würden Sie sich selbst als Spießer bezeichnen?Das ist wieder eine Definitionssache. Ich würde mich nicht als kleinkariert und engstirnig oder als Kleinbürger bezeichnen. Aber ich bin letztes Jahr 40 geworden und würde sagen, Unspießigkeit ist das Privileg der Jugend. Wenn man älter wird, macht man sich frei davon, Dinge zu tun, die man nur macht, weil andere sie von einem erwarten und weil man es tun sollte. Ab einem gewissen Alter muss man nicht mehr hip und cool sein. Das Alter habe ich jetzt erreicht. Jetzt tue ich Dinge, die ich als junger Mensch nicht getan hätte. Und Ihre Kinder, halten die Sie für spießig?Die sind noch zu jung dafür, um diese Unterscheidung zu machen. Aber was interessant ist: wenn man selbst 40 oder 50 ist, dann merkt man, dass man älter ist, als die eigenen Eltern waren, als man sie schon schrecklich alt fand und sie die ganzen spießigen Dinge getan haben – wie Pauschalurlaub machen oder Schlager hören. Heute gibt es Studien, die belegen, dass die 30-59-Jährigen richtige Spießer geworden sind. Das stand dieser Tage in vielen Zeitungen. Ab 30 sehnen sich die Menschen überwiegend nach Verlässlichkeit, sie gehen nicht mehr auf Studentenpartys, sondern auf Ü30-Feten und schauen, wie lang ihr Bausparvertrag noch läuft. Wenn man in der Jugend seine ganze Coolness ausgelebt hat, merkt man irgendwann, dass das Traditionelle gar nicht schlecht ist. Urlaub ist ein gutes Stichwort. Wo geht es denn nächste Woche hin? In den Pauschalurlaub?Nein, kein Pauschalurlaub. Aber auch spießig, nach Südtirol. Mit Geranien vorm Balkon. Wahrscheinlich ohne Internetanschluss und vielleicht auch ohne Handyverbindung. Ich habe im Buch ein Kapitel mit dem Titel „Handy aus!“ geschrieben. Das ist vielleicht nicht zeitgemäß, tut aber mal ganz gut. In diesem Punkt hat sich ja diese Woche das Bundesarbeitsministerium ganz spießig gezeigt, als es seinen Mitarbeitern nach Feierabend Mail- und Handyverbot für das Diensttelefon erteilte. Wie kommt man denn überhaupt dazu, eine Spießer-Enzyklopädie zu verfassen? Ist das ein Bekennerschreiben oder eher Fremdbeobachtung?Beides. Es fing damit an, dass ich beim gemeinsamen Essen mit anderen im Lokal immer wieder Apfelschorle oder alkoholfreies Bier bestellt habe. Wenn man keinen Alkohol trinkt, kassiert man gleich irgendwelche Sprüche oder wird gefragt „Bist du schwanger?“ und muss sich rechtfertigen. Jetzt mache ich das, egal was die anderen sagen. Es gibt noch viel mehr Verhaltensweisen, die schön und nützlich sind, die man aber nicht zugibt. Zum Beispiel, dass man eher lieblichen Wein mag als den staubtrockenen. Mir ist aufgefallen, dass man das gepflegte uncool-Sein auch zur Lebenseinstellung machen kann. Der Spießer ist eigentlich der Mutige, der sich über die Marschbefehle von Trendsettern und Modepäpsten hinwegsetzt. Wenn der Spießer cool wäre, würde er sagen: Fuck the trend! Es gibt ja nun auch Dinge, die hierzulande als spießig gelten, woanders aber durchaus als geschmackvoll.Das stimmt. Ich habe die letzten 16 Jahre in München gewohnt und bin seit einem Jahr in Bamberg. Das ist ein großer Unterschied. Mein Lieblingsbeispiel, das Kurzarmhemd, ist in München total verboten, das würde kein Mensch im Büro tragen. Hier in Bamberg kann man in der Fußgängerzone gar kein anderes Kleidungsstück kaufen. Hier trägt vom Bürgermeister bis zum Sparkassendirektor jeder Kurzarmhemden, am besten noch mit Krawatte. Das ginge in München gar nicht. Vielleicht wäre auch das Kurzarmhemd die Uniform des modernen Spießers, wenn es so etwas gäbe. Sieht so der perfekte Spießer aus?Vermutlich trägt er ein Kurzarmhemd und einen Aktenkoffer. Und in der anderen Hand einen Schirm.Welche gesellschaftlichen Gruppen sind denn am spießigsten?Das kann man pauschal gar nicht sagen. Ich glaube, Spießer gibt es überall. Dem Klischee zufolge würde man sie besonders oft in Beamtenstuben oder in Behörden vermuten – aber das stimmt auch nur zum Teil. Es gibt auch coole Beamte und ganz spießige Hip Hopper. Zelebriert man das gepflegte Spießertum auch in anderen Ländern? Bei Franzosen oder Italienern etwa würde man nicht unbedingt an Spießer denken.Ich denke schon, dass es in jedem Land so etwas gibt. Wenn der Engländer um fünf seinen Tee trinkt und keine Minute früher oder später – klar ist das auch irgendwie spießig. Oder wenn der Italiener nur mit Badekleidung in die Sauna geht, dann kann man das als prüde bezeichnen. Da gibt es in jedem Land Eigenheiten. Der Wassersprudler, den ich in meinem Buch beschreibe, der kommt beispielsweise aus Israel. Man kann das nicht an der Ländergrenze festmachen.
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Julia Berghofer
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Filterkaffee, Butterbrot und Schrebergarten machen glücklich. Zu dieser Erkenntnis kommt der Autor und Journalist Harry Luck in seinem neuen Buch „Wie spießig ist das denn?" – einer Enzyklopädie des Spießertums. Trotzdem bleiben bornierte Marotten auch immer eine Frage des Trends und nicht zuletzt des Alters
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kultur
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2013-09-03T12:35:41+0200
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2013-09-03T12:35:41+0200
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https://www.cicero.de//kultur/modernes-spiessertum-fuck-trend/55634
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Demos gegen rechts - Ein Land zwischen Hysterie und Depression
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„Die Republik steht auf“ titelt eine Nachrichtenagentur in einer Reportage über die großen Demonstrationen am Sonntag „gegen rechts“. Die Zeit schreibt von einem „Aufstand der Demokraten“ – im Anklang an den von Bundeskanzler Schröder im Jahr 2000 ausgerufenen „Aufstand der Anständigen“ nach einem Brandanschlag auf die Synagoge in Düsseldorf. Massendemonstrationen, zu denen die Regierung, Parteien, Gewerkschaften, Kirchen und öffentliche und private Arbeitgeber aufrufen wie in diesen Tagen, erinnern an andere Zeiten – etwa an das Ende der DDR, als Anfang Januar 1990 Hunderttausende nach Schmierereien am Denkmal für die gefallenen Sowjetsoldaten in Berlin-Treptow auf die Straße gingen. „Unser Land braucht jetzt eine breite Einheitsfront gegen rechts“, titelte das Neue Deutschland aus diesem Anlass und wiederholte damit einen der zentralen Propagandasätze des untergehenden SED-Regimes. Staat, Politik und Medien behandeln Demonstrationen höchst ungleich. Wurden bei den Friedensdemonstrationen gegen den Krieg in der Ukraine die Teilnehmerzahlen von Polizei und zahlreichen Medien kleingerechnet, überboten sich schon die Ankündigungen und erst recht die Berichte über die Demonstrationen gegen rechts mit immer höheren Zahlenangaben. Das Framing der regierungskritischen Proteste gegen die Beteiligung am Ukrainekrieg war ein grundlegend anderes als die mediale und politische Begleitung der Demonstrationen an diesem Wochenende. Ersteren warfen Politik und Medien vor, sich nicht deutlich genug „von rechts“ zu distanzieren, mithin „rechtsoffen“ zu sein. Sie unterstellten damit, das Eintreten für diplomatische Bemühungen um einen Waffenstillstand und ein Ende des Krieges sei grundsätzlich eher ein rechtes denn ein linkes Anliegen, im Zweifel „von Putin finanziert“. Die Demonstrationen „gegen rechts“ wurden hingegen unter anderem vom Bundeskanzler, der Bundesinnenministerin, dem Präsidenten des Bundesamtes für Verfassungsschutz und zahlreichen Ministerpräsidenten angeregt und begrüßt. Die Tagesschau berichtet voller Sympathie: „CDU-Ministerpräsidenten sprechen vom ‚ermutigenden Zeichen‘, der Verfassungsschutz-Chef findet sie ‚erfreulich‘: Für die Demonstrationen gegen Rechtsextremismus gibt es viel Lob.“ Kritische Fragen tauchen in den etablierten Medien selten auf. Warum werden in die Bündnisse „gegen rechts“ auch extremistische Organisationen aufgenommen, die vor Gewaltanwendung nicht zurückschrecken? In der bayerischen Landeshauptstadt gehörte unter anderen die „Autonome Antifa München“ zum Bündnis „Gemeinsam gegen rechts“. Laut Bayerischem Landesamt für Verfassungsschutz ist sie Teil der „linksextremistischen autonomen Szene in Bayern“. Auch der Verein „Rote Hilfe“ gehört zu den Bündnispartnern. Seine politische Position ist eindeutig: „Der Arbeitsschwerpunkt der RH ist die finanzielle und politische Unterstützung von linksextremistischen Straf- und Gewalttätern, mit deren ideologischer Zielsetzung sie sich identifiziert“, berichtet der Verfassungsschutz. Ungeklärt bleibt zudem, gegen wen sich das Bündnis „Gemeinsam gegen rechts“ richtet. Der „Kampf gegen rechts“ mag ein konkretes Ziel verfolgen, das Verbot, die Zerschlagung einer bestimmten Partei oder einer Organisation, er belässt es aber stets im Unbestimmten, was mit „rechts“ gemeint ist – eine Ideologie, Haltung oder Einstellung, bürgerliche konservative Parteien oder konservative christliche Gruppierungen. Die Kritik eines Landtagsabgeordneten der CSU am Bündnis „Gemeinsam gegen rechts“ in München perlt schlicht ab: „Aber was wollen CSU-Politiker:innen vor Ort? Als Versammlungsleiterin kann ich sagen, dass ich gar keinen Bock auf Rechte jeglicher Couleur habe!“ Die Hilflosigkeit der Unionsparteien dokumentiert der bayerische Ministerpräsident Söder auf Twitter/X, wo er trotzdem den Schulterschluss mit den Veranstaltern sucht: „Wir werden unsere Werte gemeinsam und entschlossen verteidigen.“ Mehr zum Thema: Für die allermeisten Demonstranten scheint festzustehen, dass die Partei „Alternative für Deutschland“ (AfD) ein Wiedergänger der NSDAP im 21. Jahrhundert sei. Sie befindet sich auf dem Weg zur Macht, womit eine Zeit gekommen ist, in der Widerstand zur Pflicht wird. Szenarien bevorstehender Massenausweisungen und Beschwörungen der Machtergreifung („AfD wählen ist so 1933“) geben den Ton an. „AFDler töten. Nazis abschieben“, forderte die Antifa auf der zentralen Demonstration in Aachen. Der Mordaufruf wurde von der Polizei hingenommen. Die Dämonisierung der AfD führt politisch in die Sackgasse. Das Beschwören von Parallelen zur Zeit des Nationalsozialismus im Zusammenhang mit einem Treffen Rechter und Konservativer in Berlin stellt eine Verharmlosung und Relativierung der Menschheitsverbrechen dar, die damals geplant und realisiert wurden. Dass die Bundesinnenministerin „Erinnerungen an die Wannseekonferenz“ aus politischem Kalkül aufruft, ohne dafür nachdrücklich kritisiert zu werden, befeuert die politische Hysterie. Gegen die apokalyptische Vision vom Untergang von Humanität und Demokratie hilft dann nur noch ein autoritäres Durchgreifen des Staates mittels Parteiverboten. Sollten auch diese scheitern, läge die Selbstermächtigung zur Gewalt nahe, wie sie bislang nur an den extremistischen Rändern propagiert wird. Für die sensibleren Charaktere wird schließlich der christliche Gott in die Pflicht genommen. „Gott, wehre der AfD, stehe uns bei im Kampf gegen die AfD, stärke uns bei den Demonstrationen!“, lautete eine Fürbitte des Predigers einer bremischen Gemeinde am Sonntag. Allerdings kann die AfD schwerlich als Sündenbock dienen, weil sie bislang nirgends in politische Verantwortung gelangt ist (mit Ausnahme der kommunalen Ebene). Das starke Anwachsen des Niedriglohnsektors etwa mit einer weit verbreiteten Altersarmut, die steigende Obdachlosigkeit oder die besonders erbärmliche Lage von Billiglohnarbeitern aus der EU haben sich ganz offensichtlich ohne Einfluss Rechtsextremer oder Rassisten entwickelt. In den politischen Programmen der regierenden Parteien der 19. und der 20. Legislaturperiode waren keine Vorschläge enthalten, die die sozio-ökonomische Lage dieser Bevölkerungsgruppen nachhaltig bessern würden. Verschiebung der Verantwortung auf Extremisten ist kein probates Mittel gegen schwindende eigene Glaubwürdigkeit. Die im Bundestag vertretenen Parteien haben bisher kein Konzept gefunden, wie erfolgreich mit der AfD umgegangen werden könnte. Schmähungen und moralische Überheblichkeit kennzeichnen die Auseinandersetzungen. Das verfängt aber nicht. Die ungesteuerte Migration geht weiter, Beschlüsse, die sie beenden oder reduzieren sollen, werden als unglaubwürdige Ankündigungspolitik wahrgenommen. Die Beteiligung Deutschlands am Krieg in der Ukraine, die Aufarbeitung der Pandemie-Politik – diese Themen werden von einer ganz großen Koalition aus CDU/CSU, FDP, SPD, Bündnis 90/Die Grünen und Teilen der Linkspartei blockiert. Wenn sich alle Parteien (gegen die AfD) zusammentun müssten, um die „Brandmauer“ zu bilden, wird die Politik in eine Angststarre verfallen und die AfD an Zuspruch gewinnen. Die regierungskritischen Proteste der Bauern und vieler anderer sowie die Gefahren, die von einer weiteren Eskalation des Ukrainekriegs ausgehen, sind jedenfalls erst einmal – medial – vom Tisch. Die Regierung bekommt auf diese Weise eine Verschnaufpause. Sie wird nicht lange andauern.
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Stefan Luft
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Hunderttausende gingen am Wochenende „gegen rechts“ auf die Straße – gemeinsam mit extremistischen Organisationen. Das Beschwören von Parallelen zur NS-Zeit wird aber an den sehr realen heutigen Problemen nichts ändern.
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"Ampelkoalition",
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"Linksextremismus",
"Demonstrationen"
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innenpolitik
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2024-01-23T15:29:03+0100
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2024-01-23T15:29:03+0100
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https://www.cicero.de/innenpolitik/demos-gegen-rechts-ein-land-zwischen-hysterie-und-depression
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Energiewende – Altmaiers widersinniges Weitermarschieren
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Die Energiewende in ihrem Lauf halten weder Ochs noch Esel auf. Frei nach Erich Honecker, dem großen Staatsratsvorsitzenden der DDR, lautet so inzwischen der Marschbefehl des neuen Bundesumweltministers Peter Altmaier. Da unterscheidet er sich übrigens kaum von seinem Vorgänger Norbert Röttgen, für den „die größte wirtschaftspolitische Herausforderung seit dem Wiederaufbau“ (Altmaier) ungefähr der Dimension des eigenen Egos entsprach. Auf den ersten Blick könnten die beiden Herren unterschiedlicher kaum sein; tatsächlich steht der stets jovial-gemütlich wirkende Peter Altmaier in wohltuendem Kontrast zum schneidig-selbstverliebten Superstaatsmann aus Meckenheim, der sich trotz seiner Pleite in NRW immer noch für den besseren Bundeskanzler halten mag. Aber man sollte sich da nicht täuschen lassen – auch nicht von Altmaiers saarländischem Zungenschlag, der (mit Ausnahme des gebürtigen Neunkircheners Honecker) irgendwie volkstümlich und auf sympathische Weise unpreußisch klingt. [gallery:Die Kosten der Energiewende] Denn von dialektischer Färbung abgesehen, sind die jüngsten Einlassungen des Bundesumweltministers geradezu mustergültiger Apparatschik-Sprech: Als „irreversibel“ bezeichnete Peter Altmaier die Energiewende jüngst bei der Präsentation eines „Zehn-Punkte-Programms“ zur Umweltpolitik – gerade so, als handle es sich um eine physikalische Notwendigkeit, und nicht um ein von Menschen gemachtes Gesetz. „Irreversibel“, also unumkehrbar, bedeutet ja in diesem Fall nichts anderes als ein Festhalten am Atomausstieg auch für den Fall, dass neu hinzugewonnene Erkenntnisse Zweifel am gesamten Projekt aufkommen lassen würden. Solches Handeln wider besseres Wissen wäre aber eine ausgemachte Dummheit, um nicht zu sagen: gegen die Interessen der eigenen Bevölkerung. Wie kommt Peter Altmaier, der dem Vernehmen nach ja ein kluger Kopf sein soll, zu derlei Behauptungen? Ein Blick in Rolf Dobellis Dauerbestseller „Die Kunst des klaren Denkens“ hilft da möglicherweise weiter, genauer gesagt, in das Kapitel „The Sunk Cost Fallacy“. Die sogenannten versunkenen Kosten sind ein Bild aus der Spieltheorie, mit dem irrationale Momente menschlichen Verhaltens erklärt werden können. Aktienbesitzer kennen das vielleicht aus eigener Erfahrung: Je tiefer ein Wertpapier unter den Einstandspreis sinkt, desto geringer ist die Bereitschaft, sich von ihm zu trennen – und zwar unabhängig von der prognostizierten Kursentwicklung. Das ist ähnlich wie bei einer unglücklichen Ehe: Die Trennung fällt umso schwerer, je länger die Beziehung währt. Denn die Partner haben ja bereits so viele Emotionen in sie investiert. Das Motiv für objektiv widersinniges Weitermarschieren auf dem einmal eingeschlagenen Weg besteht in Dobellis Worten darin: „Menschen streben danach, konsistent zu erscheinen. Mit Konsistenz signalisieren wir Glaubwürdigkeit. Widersprüche sind uns ein Gräuel. Entscheiden wir, ein Projekt in der Mitte abzubrechen, generieren wir einen Widerspruch: Wir geben zu, früher anders gedacht zu haben als heute.“ Zuzugeben, früher anders gedacht zu haben als heute – mit diesem Satz ist das Modernisierungsprogramm der CDU ziemlich präzise auf den Punkt gebracht: Die Partei Peter Altmaiers hat unter Angela Merkels Führung während der vergangenen zehn Jahre unter Ächzen und Stöhnen viele „versunkene Kosten“ abgeschrieben und alte Positionen geräumt – von der Ausländerpolitik über Kindererziehung bis hin zur Homo-Ehe; bei der Atompolitik ist ihr sogar das denkwürdige Kunststück einer doppelten Kehrtwende gelungen. Wer kann es dem Bundesumweltminister da schon verdenken, wenn er jetzt endlich ganz besonders konsistent erscheinen will – und „irreversibel“ nennt, was in einer Demokratie selbstverständlich auch wieder rückgängig gemacht werden kann? Rolf Dobellis Buch trägt übrigens den Untertitel „52 Denkfehler, die Sie besser anderen überlassen“. Minister Altmaier sollte sich das zu Herzen nehmen.
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Menschen wollen konsistent erscheinen, deswegen gehen sie lieber schnurstracks in den Abgrund, als die Lage neu zu überdenken. Ebenso Bundesumweltminister Peter Altmaier: Hat er sich auf dem Weg zur Energiewende verrannt?
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kultur
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2012-09-30T10:21:27+0200
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2012-09-30T10:21:27+0200
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https://www.cicero.de//kultur/energierwende-bundesumweltminister-peter-altmaier-widersinniges-weitermarschieren/52028
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Linker Mietendeckel in Berlin - Die Friday-for-Enteignung-Bewegung
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„... und die Stadt gehört Dir!” – so plakatierte die Linkspartei im vergangenen Berliner Wahlkampf 2016 die Hauptstadt. Auf der Webseite der Bundesvorsitzenden Katja Kipping erinnert noch heute ein Terminhinweis an die Wahlkampfabschlusskundgebung auf dem Alexanderplatz. Ab 15 Uhr unterstützten damals unter dem gleichen Motto die Parteigranden Gregor Gysi, Bodo Ramelow, Bernd Riexinger, Dietmar Bartsch, Petra Pau, Klaus Lederer und eben Katja Kipping den Endspurt der Linken. Das Ergebnis: In der Stadt, in der nach einem Bericht der landeseigenen Förderbank IBB von 2019 nirgendwo in Deutschland die „Dynamik bei den Wohnkosten“ höher ist, regiert seither ein rot-rot-grünes Bündnis. Nur rund drei Jahre nach der Ankündigung, wer die Linkspartei wähle, dem gehöre die Stadt, soll der Slogan wahr werden. Wie der Berliner Tagesspiegel zuerst berichtete, plant die Berliner Bausenatorin Katrin Lompscher (Linke) einen radikalen Mietendeckel für alle Wohnungen, auch rückwirkend. Ausgenommen sollen demnach nur Wohnungen sein, die nach 2014 entstanden sind. Der Entwurf sei zwar nur ein „Zwischenschritt“, doch final abgestimmt werden muss er bis nächste Woche. Dem Entwurf nach dürften die Berliner Mieten künftig für fünf Jahre nur noch zwischen 3,42 Euro und 7,97 Euro pro Quadratmeter liegen. Man stelle sich einen der so begehrten Berliner Altbauten in Mitte, Charlottenburg oder Friedrichshain vor, saniert, mit Holzdielen, moderner Ausstattung, womöglich mit Aufzug, Balkon und perfekter Verkehrsanbindung, laut Entwurf dürfte die Miete hierfür maximal 6,03 Euro betragen. Klingt dufte? Wer auf Wohungssuchportalen mit Berliner Frechheiten konfrontiert wird, wie etwa einer 30-Quadratmeter-Einzimmerwohnung für 950 Euro warm, der könnte tatsächlich zunächst jubeln. Doch abgesehen davon, dass diese linke Enteignungsidee verfassungsrechtlich vor Gericht ohnehin keinen Bestand haben dürfte, hilft sie wirklich den Mietern oder jenen, die eine Wohnung suchen? Es ist ein offenes Geheimnis, dass Vermieter ihre Wohnungen gerne an jene vermieten, die ihnen am solventesten erscheinen. Auch ein auf fünf Jahre begrenzter radikaler Mietendeckel wird daran kaum etwas ändern. Gerade jene Menschen, die sich die immer teureren Wohnungen noch immer leisten können, würden so von der Linkspartei belohnt. Ob das im Sinne ihrer Erfinder ist? Deutschland ist ein Land der Mieter. Die Deutschen haben, verglichen mit anderen Ländern der Europäischen Union, vergleichsweise wenig Wohneigentum. Es müsste also ein Anliegen der Poliker sein, die Eigentumsquote zu steigern. Wer aber würde sich angesichts drohender Enteignungen noch Eigentum anschaffen? Wer könnte sich seiner Altersvorsorge in Form einer mühsam ersparten Immobilie noch sicher sein? Welche Banken würden noch Kredite vergeben, wenn unsicher ist, ob sie wie geplant zurückgezahlt werden können? Den Quadratmeterpreis zwischen 3,42 Euro und 7,97 Euro festzusetzen, das wirkt wie Freibier für alle. Das heißt, die Linken verstärken die Berliner Anziehungskraft als Haupstadt der Hippness noch, indem sie einen nie dagwesenen Pull-Effekt schaffen würden. Wer aus Stuttgart, München, Hamburg oder Köln; wer aus Konstanz, Heidelberg, Düsseldorf; wer aus Nürnberg, Dresden, ja selbst aus Leipzig oder Magdeburg würde nicht gerne für 6 Euronen an die Spree oder in den Grunewald ziehen? Der Pauschal-Rundumschlag schafft nicht einen Qudratmeter mehr Wohnraum in der Stadt. Im Gegenteil, welcher Investor ist so blöde, angesichts solcher Aussichten noch zu bauen? Sicher, Wohnungen, gebaut ab 2014, sollen ausgenommen sein. Aber wer weiß das schon? Die Stadt gehört ja allen, sagt die Linke. Darum wirkt ein ZDF-Kommentar auch reichlich kurzsichtig: „Der geplante Mietendeckel in Berlin ist radikal. Und das ist erst einmal gut so“, lobt der öffentlich-rechtliche Sender den populistischen Vorschlag. Nichtstun sei nämlich keine Alternative. Radikale Forderungen seien manchmal auch symbolisch richtig. Schließlich müsse sich Politik auch um Gefühle kümmern. Es ist ein Gefühl, das nun Sarah Wagenknecht bundesweit befriedigen möchte. „Statt ihre wirkungslose Mietpreisbremse zu verlängern, sollte sich die Bundesregierung am Entwurf des Berliner Mietendeckels ein Beispiel nehmen“, sagte sie der Neuen Osnabrücker Zeitung. Und auch beim rbb ist man offenbar begeistert und betitelt einen Kommentar mit den Worten: „Warum Katrin Lompscher Dank gebührt“. Schon jetzt uneingeschränkt falsch sei an Katrin Lompschers Vorschlag nur eines, nämlich „die Art und Weise der Veröffentlichung“, heißt es dort. Denn indem es einer Handvoll Journalisten exklusiv zugespielt wurde, habe das einen „Ruch der Heimlichkeit“. „Stattdessen hätte Lompscher diese vier Seiten auch einfach selbst in aller Öffentlichkeit präsentieren können, in ihren eigenen Worten.“ Und dann? Es ist ja wahr, die Mieten sind zu hoch, vor allem für Menschen die wenig und längt auch für jende, die durchschnittlich verdienen. Aber soziale Durchmischung bleibt nur erhalten oder kommt zurück, wenn gebaut wird: Wohnungen, auch in die Höhe, im Stadtkern und eine viel bessere Infrastruktur in den Randgebieten. Bausenatorin Katrin Lompscher wirkt wie eine Greta Thunberg entrechteter Mieter, der Kopf einer Friday-for-Enteignung-Bewegung. Inspiriert zu sein scheint Lompscher von einer Kampfschrift der „Interventionistischen Linken“ aus dem Jahr 2018 mit dem Titel „Das Rote Berlin“. Hier lässt sich ablesen, was die „Strategien für eine sozialistische Stadt“ sein sollen: den privaten Wohnungsmarkt verdrängen. Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller (SPD) wirkt angesichts dieser Bewegung wie der hilflose Politiker, der dem Klimawandel in der Koalition zu lange tatenlos zugsehen hat, und dem jetzt nichts anderes übrig bleibt, als der Diskursverschiebung hinterherzulaufen. So äußerte sich Müller bislang lediglich „zurückhaltend” über die Pläne seiner Stadtentwicklungssenatorin. „Mir ist es wichtig, dass sich die Mieterinnen und Mieter auf einen rechtssicheren Mietendeckel verlassen können”, ließt er verlauten. Der Mann wirkt reichlich entspannt für einen, dem gerade die Pferde in alle Richtungen durchgehen und der trotzdem nicht bereit ist, die Zügel einfach loszulassen und zu gehen. Auf diese Weise zerreißt er nicht nur sich selbst, sondern er teilt auch eine Stadt, statt deren Bewohner hinter einer Vision zu vereinen.
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Bastian Brauns
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Mit einem radikalen Mietendeckel von unter 8 Euro pro Quadratmeter zimmert die linke Bausenatorin Katrin Lompscher ein „Rotes Berlin“. Der Vorschlag würde ausgerechnet den Reichen helfen, reicher zu werden und keine einzige neue Wohnung schaffen
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wirtschaft
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2019-08-27T08:11:05+0200
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2019-08-27T08:11:05+0200
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https://www.cicero.de//wirtschaft/linke-mietendeckel-berlin-entwurf-aktuell-enteignung
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Politik in der Staatsschulden-Krise – Reihenweise Demokratieverstöße
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Eurorettung im Eilverfahren – abgenickt von neun handverlesenen Finanzexperten. So hatte sich das Bundeskanzlerin Angela Merkel eigentlich vorgestellt. Alle neuen Paragraphen, die die erweiterte, schlagkräftigere EFSF betreffen, sollten von dem Sondergremium, und nicht vom Plenum des Bundestags entschieden werden. Die SPD-Bundestagsabgeordneten Peter Danckert und Swen Schulz hielten das für völlig falsch und klagten – mit Erfolg. Das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe erließ am Freitag umgehend eine einstweilige Anordnung gegen dieses Gremium. Die Richter fürchteten, dass die übrigen Abgeordneten in ihren Rechten „irreversibel verletzt werden“ könnten. Der Grund: Das Haushaltsrecht ist ein Recht des gesamten Bundestages, nicht nur einiger weniger Delegierter. Wann das Bundesverfassungsgericht zum Sondergremium ein Hauptverfahren eröffnet, ist noch nicht bekannt. De facto hat Karlsruhe das Parlament damit handlungsunfähig gemacht. Der Fraktionsgeschäftsführer der CDU, Peter Altmaier, fürchtete jedoch keine Verzögerung: „Der Bundestag wird diese Handlungsfähigkeit auch in den nächsten Wochen sicherstellen“, versicherte er. Der Versuch, mit diesem Geheimgremium wesentliche Entscheidungen an der Mehrheit der Parlamentarier vorbei zu schleusen, ist der bislang sichtbarste Verstoß gegen den demokratischen Anstand. Dies lässt sich an einer Reihe von Merkmalen festmachen. Erstens steht der Bundestag seit Monaten unter Druck. Mit dem Spruch „Scheitert der Euro, dann scheitert Europa“, den Kanzlerin Merkel zu jeder Gelegenheit wiederholt – zuletzt bei ihrer Regierungserklärung im Bundestag – hebt sie den Krisen- in einen Kriegszustand. Oft war die Rede von der „Alternativlosigkeit“ der Entscheidungen. Abgeordnete, die diesen Weg nicht mitgehen wollten, wurden wiederholt als „Rebellen“ und „Europakritiker“ diffamiert. Dabei sind die Abgeordneten eigentlich laut Grundgesetz in ihrer Entscheidung frei und nur ihrem Gewissen unterworfen. In der Eurokrise bekam jedoch das Wort „Fraktionszwang“ einen ganz neuen Klang: So ranzte Ronald Pofalla, Chef des Bundeskanzleramts und Bundesminister für besondere Aufgaben im Merkel-Kabinett, seinen Parteikollegen, den CDU-Innenexperten Wolfgang Bosbach, nach dessen Nein zur EFSF an: „Ich kann deine Fresse nicht mehr sehen“. Der Fall sorgte für öffentliche Empörung; was sich aber sonst noch hinter verschlossenen Türen ereignete, lässt sich nur erahnen. Zweitens mussten sich die Abgeordneten das Mitbestimmungsrecht des Bundestags regelrecht erkämpfen. Beispiel Hebelung des Euro-Rettungsschirms: Der Antrag der Grünen-Fraktion, dass sich das Plenum mit einem möglichen effizienteren Einsatz des EFSF zunächst beschäftigen möge, wurde von der schwarz-gelben Koalition in der vergangenen Woche abgelehnt. Dabei hatte das Bundesverfassungsgericht schon in einer früheren Entscheidung angemahnt, dass der Bundestag an den milliardenschweren Euro-Hilfen stärker beteiligt werden sollte. Erst aufgrund massiver Kritik lenkte Kanzlerin Merkel ein. Sie kündigte an, dass sich der Bundestag erneut in einer Plenarsitzung mit der Hebelung beschäftigen solle. Diese Kehrtwende war auch Taktik der großen Koalition: Wenn die Opposition bei der Abstimmung über die Mega-Summen ins Boot geholt würde, könnte hinterher niemand der Regierung vorwerfen, sie hätte die parlamentarischen Rechte missachtet. Außerdem hat sie sich mit dem Ja der SPD eine große Koalition als Hintertürchen offen gehalten. Tatsächlich, und das war ein drittes Problem, wussten die Parlamentarier kaum, worüber sie abstimmen sollten. Sie hatten gerade einmal zwei Tage Zeit, sich mit der schwierigen Materie zu befassen: Es ging um eine Hebelung der EFSF – um das Vier- bis Fünffache, bis zu einer Billion Euro. Doch wo sollte das viele Geld herkommen? Welche Finanzinstrumente, welches Fremdkapital, sollte dafür eingesetzt werden? Am Mittwoch durften die Abgeordneten allenfalls über Skizzen abstimmen, die von der EU ausgeformt werden würden; sie gaben Merkel geradezu einen Blankoscheck für ihre Verhandlungen in Brüssel mit. Und hier kommt der vierte Kritikpunkt: Politik findet dieser Tage längst nicht mehr in Berlin statt, sondern in Brüssel. Der intergouvernementale Zirkus namens EU wird von den Staats- und Regierungschefs der 27 Mitgliedsländer (Rat der EU) beziehungsweise der 17 Euroländer gelenkt. Ab und zu dienen auch die (von den Nationalstaaten entsandten) Zuständigen in der Europäischen Kommission, darunter Währungskommissar Olli Rehn und Behördenpräsident José Manuel Barroso als Stichwortgeber. Die einzig direktdemokratisch legitimierte Institution, das Europaparlament, hat bei der Eurorettung hingegen gar nichts zu melden. Zwar äußern sich die Abgeordneten gern auch öffentlich , als Gestalter tritt die Behörde dagegen nicht auf. So haben wir jetzt das Paradoxon, dass der Bundestag mächtiger geworden ist als das Europaparlament. Da nun aber der Bundestag mit der Bildung eines Sondergremiums möglicherweise verfassungswidrig gehandelt hat, ist der noch mächtigere Akteur das Bundesverfassungsgericht. Es ist in der Lage, die Dinge vom Kopf wieder auf die Füße zu stellen und dem Krisenapparat wieder demokratisches Leben einzuhauchen. Ein Glück, dass die Demokratie dann doch noch irgendwie funktioniert.
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Das Bundesverfassungsgericht hat das Sondergremium des Bundestags-Haushaltsausschusses gestoppt. Dabei war der Einsatz dieser Geheimgruppe nicht der erste Verstoß gegen das demokratische Prinzip. In der Euro-Krise musste der Parlamentarismus schon häufiger hinten anstehen. Ein Kommentar
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innenpolitik
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2011-10-28T16:16:53+0200
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2011-10-28T16:16:53+0200
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https://www.cicero.de//innenpolitik/reihenweise-demokratieverstoesse/46318
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Bedrohungslage „sehr ernst“ - Swift-Konzerte in Wien abgesagt
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Die Ermittlungen der österreichischen Polizei laufen nach der Festnahme von zwei Terrorverdächtigen und der Absage aller Taylor-Swift-Konzerte in Wien auf Hochtouren. Ein 19-jähriger radikalisierter Islamist hatte nach Erkenntnissen der Sicherheitsbehörden Anschläge vorbereitet und es auch auf die Shows der populären US-Sängerin in der Hauptstadt abgesehen. Sicherheitshalber wurden die drei Massenveranstaltungen in dieser Woche keine 24 Stunden vor Swifts erstem geplanten Auftritt am Donnerstag abgesagt. Nach Angaben der österreichischen Regierung war die Bedrohungslage „sehr ernst“ gewesen. Zwar wurden der 19-Jährige und eine weitere Person festgenommen, deren Alter und Beziehung zu dem Teenager die Polizei aus ermittlungstaktischen Gründen nicht publik machte. Mögliche Komplizen bereiteten den Veranstaltern aber Sorge. Verschiedene Medien berichteten unter Berufung auf Sicherheitskreise, dass nach weiteren Verdächtigen gefahndet werde. Die Polizei wollte das nicht bestätigen. Auch sonst wurde zu den Ermittlungen zunächst nur wenig bekanntgegeben. Wie alle Swift-Konzerte auf der Tournee des Superstars waren auch jene in Wien ausverkauft. Im Ernst-Happel-Stadion wären jeden Abend 65.000 Menschen gewesen, zudem rechnete die Polizei mit weiteren 15.000 bis 20.000 Swift-Fans in der Umgebung des Stadions. „Die Absage der Taylor Swift Konzerte durch die Veranstalter ist für alle Fans in Österreich eine herbe Enttäuschung“, schrieb der österreichische Bundeskanzler Karl Nehammer auf X. „Die Situation rund um den offenbar geplanten Terroranschlag in Wien war sehr ernst. Dank der intensiven Zusammenarbeit unserer Polizei und dem neu aufgebauten DSN (Direktion Staatsschutz und Nachrichtendienst) mit ausländischen Diensten konnte die Bedrohung frühzeitig erkannt, bekämpft und eine Tragödie verhindert werden.“ Die Ermittler hatten am Mittwoch den ganzen Tag über in Ternitz rund 75 Kilometer südwestlich von Wien Räumlichkeiten durchsucht. Dort wurde auch der 19-Jährige festgenommen. Am Abend waren dort immer noch Spezialisten im Einsatz. Ob Datenträger wie Computer oder Handys sichergestellt wurden, ließ die Polizei offen. Die zweite Festnahme erfolgte in Wien. Der 19-jährige Österreicher war auf einschlägigen Plattformen im Internet aktiv. Über Online-Foren habe er sich radikalisiert, berichtete die Polizei. Und er habe erst im Juli einen Treueschwur auf die Terrororganisation Islamischer Staat abgelegt. Dass die Anschlagspläne möglicherweise weit gediehen waren, legt die Tatsache nahe, dass in den Räumen chemische Substanzen gefunden wurden. Ermittler hantierten dort in Schutzanzügen. Was genau der Teenager plante, blieb aber unklar. „Aufgrund der Bestätigung durch Regierungsbeamte über einen geplanten Terroranschlag im Ernst-Happel-Stadion haben wir keine andere Wahl, als die drei geplanten Shows zur Sicherheit aller abzusagen“, teilte der Konzertveranstalter Barracuda Music mit. Ersatz ist nicht vorgesehen. Taylor Swift ist für weitere Konzerte in London gebucht. „Alle Tickets werden automatisch innerhalb der nächsten 10 Werktage rückvergütet“, kündigte Barracuda Music an. Swifts Management verwies auf dpa-Anfrage zunächst nur auf die Stellungnahme des Veranstalters und äußerte sich nicht inhaltlich. Die 34-Jährige soll sich bereits in Österreich aufgehalten haben, aber auch das wurde nicht bestätigt. Ihre als „Swifties“ bekannten Fans reagierten tief enttäuscht, zeigten aber auch Verständnis für die Absage. „Kann's nicht glauben“, schrieb einer unter den Instagram-Beitrag von Barracuda Music mit der Absage. „Mein Herz ist gebrochen“, schrieb jemand anderes. Viele Anhänger der Musikerin bezeichneten die Absage dennoch als richtige Entscheidung angesichts der offenbar doch sehr konkreten Terrorgefahr. Nach den Festnahmen wurde die Polizei gefragt, ob sie eine Absage der Konzerte für angebracht halte. Empfehlungen dieser Art seien nicht ihre Aufgabe, wich der Wiener Landespolizeipräsident Gerhard Pürstl aus. Er machte aber klar, dass mit der Festnahme zwar die konkrete Gefahr minimiert sei, eine „abstrakte Gefahr“ aber weiterhin bestehe.
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Cicero-Redaktion
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Für mehr als 200.000 Taylor-Swift-Fans ist die Absage der Konzerte in Wien eine herbe Enttäuschung. Aber Sicherheit geht vor: Die Veranstalter ziehen aus Sorge vor einem Terroranschlag die Reißleine.
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kultur
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2024-08-08T10:13:44+0200
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2024-08-08T10:13:44+0200
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https://www.cicero.de//kultur/bedrohungslage-sehr-ernst-swift-konzerte-in-wien-abgesagt
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Weltklimakonferenz in Glasgow - Der Weltuntergang und seine Freunde
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Geht es nach Prinz Charles, dann ist die aktuelle UN-Klimakonferenz in Glasgow „die letzte Chance“ für unseren Planeten – so jedenfalls hat er es eben verkündet. Von der COP26, wie die Konferenz genannt wird, sind jedoch keine politischen Durchbrüche zu erwarten, die unmittelbare Lösungen bringen werden. Das gilt übrigens der Tatsache zum Trotz, dass die meisten Staatschefs der eindringlichen Ermahnung des britischen Thronfolgers überschwänglich beipflichten. Wenn Prinz Charles recht hat, sind wir alle erledigt. Insofern stellt sich die Frage, warum die Politiker derart affirmativ auf seine verzweifelten Worte reagiert haben. Eine Erklärung dafür könnte sein, dass diese Politiker selbst gar nicht mit voller Überzeugung an die Gefahren des Klimawandels glauben. Sondern ihre tiefe Besorgnis lediglich öffentlich zur Schau stellen, um denjenigen zu schmeicheln, die die Apokalypse wirklich fürchten. Angesichts der Tatsache, dass sie Kinder und Enkelkinder haben (ganz zu schweigen von politischen Ämtern, die sie behalten wollen), erscheint ihr Getue durchaus vernünftig. Ohnehin gilt: Würden sie sich nicht mit wohlfeilen Posen begnügen, müssten sie am Ende tatsächlich etwas unternehmen. Wir erleben derzeit ein globales Wirtschaftschaos, das im Wesentlichen durch die Corona-Pandemie entstanden ist. Viele Länder der nördlichen Hemisphäre leiden unter Arbeitskräftemangel, hohem Energiebedarf, dysfunktionalen Verkehrsnetzen und so weiter. Die Weltwirtschaft ist in einer Weise ins Taumeln geraten, wie man es außerhalb von Kriegen kaum kennt. Angesichts der Tatsache, dass wir uns wirtschaftlich in unbekannten Gewässern befinden, ist es nicht unvernünftig, das Schlimmste anzunehmen. Eine Reihe von Reformen zum Klimawandel noch in diesem Jahr weltweit auf den Weg zu bringen, wäre nicht nur ein massives Risiko für die Weltwirtschaft – sondern auch für jene Amtsinhaber, die sie beschlossen haben. Eine Reduktion der Kohlenutzung hätte zum Beispiel für China verheerende Folgen. In einer Zeit, in der die chinesische Wirtschaft versucht, wieder Tritt zu fassen, ist eine Kohleknappheit so ungefähr das Letzte, was sie gebrauchen kann. Um den Klimawandel bekämpfen zu können, muss vielmehr die Weltwirtschaft zunächst wieder genauso in Gang kommen wie das soziale Leben der Menschen. Und dann lohnt auch noch ein Blick auf die soziale Realität. Der Klimawandel ist eine wissenschaftliche Theorie, und es lässt sich kaum bestreiten, dass viele Menschen den Wissenschaftlern nicht trauen. Dieses Misstrauen ist nicht neu, aber es hat sich im Zuge der Pandemie noch verstärkt, deren Eindämmungsmaßnahmen ungeahnte soziale, politische und wirtschaftliche Folgen hatten. Es gehört ebenfalls zur Kategorie der unangenehmen Wahrheiten, dass eine große Zahl von Menschen auf der ganzen Welt sich einer Impfung verweigert – was auch immer ihre individuellen Gründe dafür sein mögen. Der Versuch, Impfungen zu erzwingen, wird wahrscheinlich scheitern, und das wiederum wird der medizinischen Beratung ganz generell nicht zuträglich sein. Zweifellos sind die Gründe für Impfungen wissenschaftlich fundiert – aber die Welt ist weitaus komplexer, als sie einem Wissenschaftler erscheinen mag. Und Risiken, die aus Sicht von Ärzten irrational sind, stellen sich für andere Menschen als durchaus ernst zu nehmend dar. In ähnlicher Weise sind die wissenschaftlichen Belege für den Klimawandel real. Aber für mich ist damit noch längst nicht klar, dass der Planet dadurch zerstört werden wird. Jeder (vor allem ein Politiker oder ein Staatsoberhaupt), der behauptet, er wisse mit absoluter Sicherheit, dass dies der Fall sein wird, muss dies auch beweisen können. Aber die Behauptung, der Klimawandel werde allgemein katastrophal sein, wie Prinz Charles sie aufgestellt hat, ignoriert ihrerseits die verfügbaren Daten – aus denen nämlich hervorgeht, dass er von Region zu Region unterschiedliche Auswirkungen haben wird. Nicht zuletzt existiert in der Öffentlichkeit eine gewisse Skepsis gegenüber apokalyptischen Behauptungen. Ich selbst habe jahrelang Horrorgeschichten über Bevölkerungsexplosionen und globale Hungersnöte zur Kenntnis genommen, die von Demographen erzählt wurden – wobei sie nicht bedachten, dass die Geburtenraten der heutigen Babyboomer eine Anomalie waren, und dass die Bevölkerungszahlen auch wieder zurückgehen könnten. Ich erinnere mich auch an vermeintlich unumstößliche Tatsachenbehauptungen, wonach die Existenz von Atomwaffen zur Selbstvernichtung der Menschheit führen würde. Es hat sich allerdings herausgestellt, dass die Politiker durchaus verstanden haben, dass es schlimm ist, wenn alle getötet werden. Also haben sie es vermieden. Schon möglich, dass Prinz Charles recht hat und dass Politiker, die dem Klimawandel nicht entschieden Einhalt gebieten, uns umbringen. Gleichwohl bezweifle ich, dass ein Aufschub die Vernichtung des Planeten bedeutet. Wie auch immer das Ergebnis aussehen wird – es wird sich als komplizierter darstellen als jenes angekündigte Armageddon. Was mich angeht: Ich traue keinen vermeintlichen Wahrheiten, auf die man sich mit übergroßer Mehrheit geeinigt hat. Und dazu zählt aus meiner Sicht auch der Klimawandel mit allen heute prognostizierten Folgen. Niemand hätte erwartet, dass die Corona-Maßnahmen zu so etwas wie einem wirtschaftlichen Stillstand führen würden. Die Zusammenhänge des menschlichen Miteinanders sind verblüffend vielschichtig. Auch ernsthaft engagierte Forscher an den nationalen Gesundheitsbehörden hatten nicht absehen können, was im Zuge der Pandemie alles geschehen ist. Die Welt ist weitaus komplexer, als wir uns das vorstellen – und alles, was ich weiß, ist Folgendes: Das, was Sie erwarten, wird wahrscheinlich nicht eintreten. Und das, was tatsächlich eintritt, wird sehr befremdlich und unerwartet sein. In Kooperation mit
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George Friedman
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Prinz Charles verkündet beim Klimagipfel in Glasgow, dieser wäre „die letzte Chance“ für unseren Planeten. Aber mit Phantasien vom bevorstehenden Armageddon ist der Sache kaum gedient. Angebracht scheinen vielmehr Realismus und eine gewisse Skepsis gegenüber vermeintlich unumstößlichen Wahrheiten.
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außenpolitik
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2021-11-02T16:26:20+0100
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2021-11-02T16:26:20+0100
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https://www.cicero.de//aussenpolitik/weltklimakonferenz-in-glasgow-der-weltuntergang-und-seine-freunde-prinz-charles
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Deutschland, Deine Wahlkreise - Der Wahlkampf im Norden
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Der SSW mischt erstmals wieder mit Flensburg – Schleswig Hoch im Norden wachsen die Möglichkeiten. Hatte man andernorts nur die Wahl zwischen dem Immergleichen, so trat im Wahlkreis 1, der sich aus der Stadt Flensburg sowie dem Kreis Flensburg-Schleswig zusammensetzt, eine Partei an, die es so nur einmal und nur hier gibt: der Südschleswigsche Wählerverband (SSW), die Partei der dänischen Minderheit. Erstmals seit vielen Jahrzehnten hat der SSW wieder einen eigenen Kandidaten im Bundestag. Mit Stefan Seidler, einem langjährigen politischen Berater und derzeitigem Dänemark-Koordinator der schleswig-holsteinischen Landesregierung bekommt die Bekenntnisminderheit im hohen Norden wieder eine eigene Stimme. Immerhin 50 000 Menschen rechnen sich in Schleswig-Holstein zu dieser Gruppe. In dem Wahlkreis mit seinen 226 833 Wahlberechtigten haben sich viele für Seidler ausgesprochen. Die Konkurrenz indes war groß: So ist Flensburg-Schleswig auch der Wahlkreis von Robert Habeck, der sich für das Direktmandat in seiner Heimat beworben hat und dieses am Ende auch mit 28,1 Prozent gewonnen hat. han Erststimmen 2017 in Prozent:
CDU 40,0; SPD 28,0; Grüne 10,5; Linke 7,1; FDP 6,5; AfD 6,2 Erststimmen 2021 in Prozent: Grüne 28,1; CDU 23,4; SPD 21,8; SSW 7,3; FDP 6,9; AfD 5,5
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Direkt gewählter Abgeordnete:
Robert Habeck (Grüne) Wenig Raum links der Mitte Nordfriesland –Dithmarschen Nord Kaum eine Region verkörpert die Energiewende derart plastisch wie der nördlichste Wahlkreis Deutschlands mit seinen 200 Gemeinden und seinen fast 187 000 Wahlberechtigten. Denn auf Marsch und Geest sowie im vorgelagerten Wattenmeer stehen mehr Windräder als in Bayern und Baden-Württemberg zusammen. Erneuerbare Energie ist hier seit Jahrzehnten bereits ein starker Wirtschaftsfaktor.
Traditionell bekommt die CDU mit ihrer derzeitigen Spitzenkandidatin Astrid Damerow die meisten Stimmen; diesmal waren es 30,4 Prozent. Das mag mit der landwirtschaftlichen Prägung der Region zu tun haben, könnte aber auch daran liegen, dass an der Nordspitze das teuerste Dorf Deutschlands liegt. In Kampen auf Sylt zahlt man gerne mal zwischen 25 000 bis 35 000 Euro für den Quadratmeter. Für Träume links der Mitte ist hier nur wenig Raum.
Und dennoch dokumentiert vielleicht gerade das hier ansässige oberste Ende der sozialen Leiter, wie wichtig die Themen Wohnen und Mieten für alle Parteien im Wahlkampf waren. han Erststimmen 2017 in Prozent:
CDU 45,1; SPD 25,2; Grüne 9,4; FDP 8,1; AfD 5,9; Linke 5,2 Erststimmen 2021 in Prozent: CDU 30,4; SPD 27,8; Grüne 14,3; FDP 9,7; SSW 6,5; AfD 5,7
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Direkt gewählte Abgeordnete:
Astrid Damerow (CDU) Wer folgt auf Merkel? Vorpommern-Rügen – Vorpommern-Greifswald Die AfD ist im Nordosten sehr stark. Ihr Landessprecher Leif-Erik Holm und der neue CDU-Kandidat Georg Günther konkurrierten um die Nachfolge im Wahlkreis, den Merkel seit 1990 gewonnen hat. Der 50-jährige Holm gilt als gemäßigter Vertreter seiner Partei. 2017 erreichte die AfD 18,6 Prozent, diesmal waren es 19,9 Prozent. Im Mai wurde der studierte Ökonom auf Listenplatz eins aufgestellt; die Wahl musste mehrfach wiederholt werden, weil mehr Stimmen abgegeben wurden, als Mitglieder anwesend waren. Der Vorsitzende der Jungen Union Mecklenburg-Vorpommern, der 32-jährige Georg Günther, erhielt im Februar als einziger CDU-Bewerber um das Direktmandat 91 Prozent der Stimmen. Der Diplom-Finanzwirt wollte sich stark machen für Bürokratieabbau. Gewonnen indes hat am Ende die lachende Dritte: Anna Kassautzki von der SPD. pad Erststimmen 2017 in Prozent:
CDU 44,0; AfD 19,2; Linke 15,9; SPD 11,6; FDP 3,1; Grüne 3,0 Erststimmen 2021 in Prozent: SPD 24,3; CDU 20,4; AfD 19,9; Linke 13,7; Grüne 7,3; FDP 6,6
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Direkt gewählte Abgeordnete:
Anna Kassautzki SPD gegen Amthor Mecklenburgische Seenplatte I – Vorpommern-Greifswald II Philipp Amthor hatte den Wahlkreis 2017 gewonnen. Doch dann war der 28-Jährige 2020 wegen Lobbyarbeit unter Druck geraten, sodass er seine Kandidatur für den CDU-Landesvorsitz zurückzog. Im März nun wurde der studierte Rechtswissenschaftler jedoch abermals im Kreis nominiert, als einziger Kandidat. Auf der Seite des Deutschen Bundestags wurde er als „Shootingstar“ bejubelt, der „die Kunst der Rhetorik beherrscht und vielleicht das begabteste Politiktalent der CDU seit Jahren“ sei. Doch im strukturschwachen Wahlkreis wurde es schwierig für ihn, jetzt, da sich Wähler nicht nur fragten, wie ein Abgeordneter Zeit haben kann für Nebentätigkeiten, sondern auch, wie er auch noch bestreiten konnte, dass er sich das hat vergolden lassen. Zu seinen Wahlkampfthemen hat er lange geschwiegen. So hat am Ende Erik von Malottki von der SPD gegen Amthor gewonnen. Erststimmen 2017 in Prozent:
CDU 31,2; AfD 23,5; Linke 19,1; SPD 13,9; FDP 5,8; Grüne 2,5 Erststimmen 2021 in Prozent: SPD 24,8; AfD 24,3; CDU 20,7; Linke 10,8; FDP 7,4;
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Direkt gewählter Abgeordneter: Erik von Malottki (SPD) Elefantenrennen im Norden Hamburg-Eimsbüttel Hamburgs spannendster Wahlkreis lag nördlich der beschaulichen Binnenalster. Im wirtschaftlich starken Eimsbüttel, wo neben Beiersdorf und dem Versicherungsriesen Hanse-Merkur auch zahlreiche Medienunternehmen ihren Sitz haben, trat Hamburgs Spitzenriege gegeneinander an: Neben dem einstigen Juso-Vorsitzenden und heutigen Staatsminister im Auswärtigen Amt Niels Annen (SPD) zählte dazu der CDU-Umwelt- und Finanzexperte Rüdiger Kruse sowie Hamburgs ehemaliger Justizsenator Till Steffen von Bündnis 90/Die Grünen. Bei dieser Kombination war im bürgerlichen Eimsbüttel lange Zeit alles offen. Während die Lokalpresse bereits von einem „Elefantenrennen“ sprach, bei dem der SPD-Linke Annen, der bereits dreimal das Direktmandat in Eimsbüttel für sich gewinnen konnte, die Nase leicht vorn hatte, ist Steffen am Ende seine Lokalprominenz zugutegekommen. Der Grüne gewann mit 29,9 Porzent knapp vor der SPD. han
Erststimmen 2017 in Prozent:
SPD 31,6; CDU 28,7; Grüne 15,0; Linke 10,4; FDP 6,8; AfD 5,7 Erststimmen 2021 in Prozent: Grüne 29,9; SPD 29,6; CDU 17,1; FDP 8,1; Linke 7,1
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Direkt gewählter Abgeordneter:
Till Steffen (Grüne) Fest in der Hand der CDU Wahlkreis Cloppenburg – Vechta Dieser südwestlich von Bremen gelegene und stark ländlich geprägte Wahlkreis war schon immer eine absolute Hochburg der CDU. Im Jahr 1961 kam der Kandidat Kurt Schmücker sogar auf knapp 82 Prozent der Erststimmen. Und als vor vier Jahren erstmals die CDU-Frau Silvia Breher antrat, errang sie mit ihren 57,7 Prozent immer noch den Titel als bundesweite Erststimmen-Königin ihrer Partei. Breher, 48 Jahre alt, Juristin, vom Bauernhof stammend und äußerlich unverwechselbar durch ihre hellblonde Haartolle, war sich bei der bevorstehenden Wiederkandidatur ihrer Sache so sicher, dass sie von Anfang an auf einen Listenplatz verzichtet hatte – um anderen eine Chance zu geben. Einem großen Publikum außerhalb ihrer Heimat ist die sympathische Katholikin zwar kaum bekannt. Aber als stellvertretende CDU-Vorsitzende und Mitglied in Laschets Zukunftsteam hat ihre Stimme innerhalb der Partei durchaus Gewicht. Die Sozialdemokraten schickten im Wahlkreis 32 den 36-jährigen Betriebswirt Alexander Bartz aus Vechta ins Rennen. mar
Erststimmen 2017 in Prozent:
CDU 57,7; SPD 20,4; AfD 7,8; FDP 5,2; Grüne 4,3; Linke 4,1 Erststimmen 2021 in Prozent: CDU 49; SPD 20,9; Grüne 10,5; FDP 8,8; AfD 7,8
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Direkt gewählte Abgeordnete:
Silvia Breher (CDU) König Klingbeil Wahlkreis Rotenburg I – Heidekreis Der Heidekreis in Niedersachsen trägt seinen Namen nach der Lüneburger Heide, entsprechend ländlich geprägt ist diese zwischen Hamburg, Bremen und Hannover gelegene Gegend. Normalerweise müsste man denken, dass hier die CDU dominiert. Doch nichts dergleichen: Vor vier Jahren schlug SPD-Generalsekretär Lars Klingbeil seine Herausforderin von der Union – und das auch noch ziemlich deutlich: Mit 41,2 Prozent der Erststimmen lag er sogar mehr als fünf Prozentpunkte vor Kathrin Rösel. Kein Wunder: Klingbeil ist in seiner Heimat gut vernetzt, er gilt als sympathischer Kümmerer und ist entsprechend beliebt. Mit 100 Prozent der Stimmen machten ihn seine Genossen denn auch abermals zum Direktkandidaten. Sein Herausforderer von der CDU war diesmal der Polizeibeamte und Gewerkschafter Carsten Büttinghaus. Der aber war keine echte Gefahr für Klingbeil, der am Ende 47,6 Prozent der Stimmen holte. mar Erststimmen 2017 in Prozent:
SPD 41,2; CDU 36,1; AfD 8,2; Grüne 4,8; FDP 4,5; Linke 4,1 Erststimmen 2021 in Prozent: SPD 47,6; CDU 26,4; Grüne 8,1; AfD 7,4; FDP 7,9
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Direkt gewählter Abgeordneter:
Lars Klingbeil (SPD) Die Junge Union schickte ihren Chef Wahlkreis Hannover-Land II Der Wahlkreis Hannover-Land II grenzt von Süden, Osten und Westen an Niedersachsens Hauptstadt und wird seit 2005 im Bundestag vertreten durch Matthias Miersch. Der 52 Jahre alte Rechtsanwalt ist dort Sprecher der Parlamentarischen Linken innerhalb der SPD sowie stellvertretender Fraktionsvorsitzender. Ein gestandener Politiker, der auch über seinen Wahlkreis hinaus bekannt ist. Regelmäßig überrundete er die CDU-Kandidatin Maria Flachsbarth bei den Erststimmen, die seit 2002 über die Landesliste im Bundestag sitzt und seit 2018 Parlamentarische Staatssekretärin beim Entwicklungsminister ist. Im Mai 2020 kündigte sie jedoch an, nicht mehr anzutreten; Flachsbarth hatte sich gewünscht, eine Frau möge ihr folgen. Doch es kam anders, die Delegierten nominierten mit 84 Prozent den Chef der Jungen Union, Tilman Kuban, zum Direktkandidaten. Allzu große Beliebtheit genießt der 34 Jahre alte Jurist in seiner eigenen Partei nicht, vielen ist er zu polternd und konservativ. Doch über Kampfeslust verfügt er dafür umso mehr. Geholfen hat sie nicht. Am Ende gewann wieder der SPD-Mann Miersch. mar
Erststimmen 2017 in Prozent:
SPD 37,0; CDU 35,2; AfD 9,4; Grüne 5,7; Linke 5,4; FDP 5,4 Erststimmen 2021 in Prozent: SPD 40,7; CDU 25,5; Grüne 12,4; AfD 7,5, FDP 6,6
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Direkt gewählter Abgeordneter:
Matthias Miersch (SPD) Kein Farbwechsel Bremen I Das kleinste Bundesland fällt auf – als Spitzenreiter bei den Corona-Impfungen. Ein Erfolg der rot-grün-roten Landesregierung? Bei der Bundestagswahl jedenfalls hätte das Direktmandat statt weiter an die SPD erstmals an die Grünen gehen können. Die 54-jährige Kirsten Kappert-Gonther zog 2017 mit einem Zweitstimmenergebnis von 11,1 Prozent in den Deutschen Bundestag ein. Die Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie ist Obfrau der Grünen im Gesundheitsausschuss. Sie wolte sich für eine Frauenquote in den Entscheidungsgremien des Gesundheitswesens einsetzen. Sarah Ryglewski gewann 2017 für die SPD das Direktmandat. Die 38-Jährige ist seit 2015 Bundestagsabgeordnete und seit 2019 Parlamentarische Staatssekretärin im Finanzministerium, Nachfolgerin von Christine Lambrecht. Ryglewski sitzt im Finanzausschuss. Sie gehörte zu den Politikern ihrer Fraktion, die die Schuldenbremse infrage stellten. Selbst jetzt im Zeitenwechsel von Corona sagte Ryglewski der taz: „Die Investitionen, die wir heute nicht treffen, sind die wahren Schulden, die den Menschen später auf die Füße fallen.“ pad
Erststimmen 2017 in Prozent:
SPD 30,0; CDU 24,2; Linke 12,2; Grüne 11,9; FDP 11,2; AfD 7,7 Erststimmen 2021 in Prozent: SPD 30,2; Grüne 21,5; CDU 21,4; Linke 8,3; FDP 7,5; AfD 4,9
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Direkt gewählte Abgeordnete:
Sarah Ryglewski (SPD) Dieser Text stammt aus dem Sonderheft zur Bundestagswahl des Cicero, das Sie jetzt am Kiosk oder direkt bei uns kaufen können. Er wurde nach der Bundestagswahl aktualisiert. Sie sind Cicero-Plus Leser? Jetzt Ausgabe portofrei kaufen Sie sind Gast? Jetzt Ausgabe kaufen
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Cicero-Redaktion
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In unserer Serie „Deutschland, Deine Wahlkreise“ haben wir noch einmal die spannendsten Wettrennen um Stimmen und Direktmandate am gestrigen Wahlsonntag zusammengefasst. Lesen Sie im ersten Teil alles Wesentliche über den Norden der Republik.
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innenpolitik
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2021-08-23T13:04:37+0200
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2021-08-23T13:04:37+0200
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https://www.cicero.de//innenpolitik/deutschland-deine-wahlkreise-der-wahlkampf-im-norden/plus
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Serie: Bildungsmisere, Teil 1 - Warum die Bildungsmisere schon im Kindergarten ihren Anfang nimmt
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Seit 25 Jahren befindet sich das deutsche Bildungswesen in einer Abwärtsspirale. Die jüngsten PISA-Ergebnisse markieren den bisherigen Tiefpunkt. Man hat sie schnell durch Migration und Lockdown erklärt, doch das greift zu kurz. Vom Kindergarten bis zum Abitur hat ein ideologisch begründeter Wandel stattgefunden, der die Qualität von Erziehung und Unterricht gesenkt hat. Die Einstellungen der Bildungspolitiker und -forscher müssen sich ändern, damit unsere Kinder wieder etwas Handfestes lernen können. In einer fünfteiligen Serie erklärt die Sonderpädagogin und heilpädagogische Psychologin Miriam Stiehler, woher diese Fehlentwicklungen kommen, wie sie sich auf Schüler auswirken und was sich ändern muss. Dies ist der erste Teil der Serie. Man braucht nur eine Minute, um zu verstehen, was in deutschen Kindergärten schief läuft. So lange dauert ein Werbevideo des Bildungsministeriums. Die kräftige blonde Erzieherin Jenny erklärt Frühpädagogik, während neben ihr Kinder mit Lupen und Kräutern hantieren: „Kinder sind von Natur aus neugierig und wissbegierig. Sie möchten gerne entdecken und losgehen und erstmal fühlen und riechen und schmecken. Das ist eben dieser Situationsansatz, dass man halt einfach schaut, was interessiert die Kinder gerade und daraus dann ein Projekt gestaltet, um ihre Neugier zu befriedigen.“ Dieses Video zeigt verdichtet die Grundprobleme unserer Kindergärten. Des Pudels Kern ist besagter „Situationsansatz“: Es soll keine verbindlichen, geplanten Lernsituationen mit Erwachsenen als Wissensvermittlern mehr geben. Erzieher dürfen nur noch „Angebote“ machen, welche die Kinder nach Lust und Laune ignorieren können. Wer drei Jahre lang nichts malen oder ausschneiden möchte, lernt das eben nicht – verpflichtendes Basteln wäre „übergriffig“, eine böse „Verschulung der Kindheit“. Mehr zum Thema: Das regierungsfinanzierte Deutsche Jugendinstitut (DJI) betrachtet den Situationsansatz bis heute als eine seiner größten Errungenschaften. Er wurde dort Anfang der 1970er Jahre unter der Leitung von Walter Hornstein entwickelt. Hornstein stimmte zu, dass Kindergärten und Schulen „Ausdruck der industriell-kapitalistischen Gesellschaftsform“ seien. Er fand auch, dass „Technik und Wissenschaft, in der konkreten Form, in der sie das soziale und persönliche Leben bestimmen, immer schon […] Herrschaft und Gewalt“ waren. Hornstein betrachtete die gesamte Kultur und die moralischen Werte der BRD als „fragwürdig“. Man müsse die Erziehung „befreien“, und das könne nur gelingen, indem man fortan die „Ziele einer ‚postmateriellen‘ Orientierung, einer alternativen Lebensauffassung, […] der Friedens- und Frauenbewegung“ übernähme. Die Angehörigen „pädagogischer Berufe“ verträten bereits „in überdurchschnittlicher Häufigkeit“ und „radikal“ diese Auffassung. Da das DJI die Leitlinien der Bildungspolitik bestimmt, breitete sich der Situationsansatz trotz des Widerstands erfahrener Erzieherinnen unaufhaltsam aus. Den Bildungsideologen der 1970er Jahre hatte es die Reformpädagogik (ca. 1890 - 1920) angetan, besonders die Lehre Maria Montessoris von der „Befreiung des Kindes“. Entsprechend gern zitierte man sie. Montessori sah sich als Priesterin eines neuen Zeitalters, des „Jahrhunderts des Kindes“. Wie so viele Revolutionäre mit übersteigertem Sendungsbewusstsein berief auch sie sich auf einen mystischen Moment der Erkenntnis: Am Dreikönigstag 1907 bezog sie das Bibelwort „Völker werden in deinem Lichte wandeln“ auf sich. Ihr weiteres Lebenswerk war eine krude Mischung aus Nähe zu Mussolini, Verleugnung ihres eigenen Sohnes, katholischem Mystizismus, Psychoanalyse und pädagogischen Projekten. Ihr Anspruch: „Alles am Menschen ist verkehrt, und alles muss von vorn begonnen werden“. Montessori war überaus energisch, besaß Charisma und ein ungeheures Sendungsbewusstsein. Ihre berechtigte Kritik an Vernachlässigung und unhygienischen Einrichtungen in Armenvierteln gipfelte in eigenartigem Hass auf die Institution Schule: „Da sitzt nun das Kind in seiner Bank, ständig gestrengen Blicken ausgesetzt, die zwei Füßchen und zwei Händchen dazu nötigen, ganz unbewegt zu bleiben, so, wie die Nägel den Leib Christi an die Starrheit des Kreuzes zwangen“. Sie forderte zurecht mehr Geduld und Wertschätzung für kindliches Verhalten, verstieg sich dann aber in die überzogenen Behauptung, alle Kinder würden von den Erwachsenen gewaltsam unterdrückt. Montessori wollte „Fibeln, Lehrpläne und Prüfungen, Spielsachen und Leckereien“ abschaffen und stattdessen „Analyse der Bewegungen, Übungen der Stille, gute Manieren, peinliche Sauberkeit, Lesen ohne Bücher, Disziplin in freier Tätigkeit“ einführen. Kinder trügen einen „inneren Bauplan“ in sich, der lediglich Raum zur Entfaltung bräuchte. Ohne individuelle Instruktion durch Erwachsene würden sie anhand von Montessoris „vorbereiteter Umgebung“ alles Nötige selbständig lernen. Bis heute wird Montessori in der Erzieherausbildung als Lichtgestalt präsentiert, Kritik ist weitestgehend tabu. Ihr Einfluss auf die deutsche Frühpädagogik ist enorm. Tatsächlich lernen die meisten Kinder recht selbständig Dinge, die ihnen unmittelbar nützen: etwas essen, auf einen Hocker klettern, sich mitteilen. Trotzdem brauchen sie Erwachsene, um all das zu lernen, was kulturabhängig ist: richtig zu sprechen, im eigenen Zimmer durchzuschlafen oder Plätzchen zu backen. Kinder können noch nicht wissen, warum diese Dinge lernenswert sind. Sie benötigen Erwachsene, die die Verantwortung für die Angemessenheit der Lernziele übernehmen und den Lernprozess ermutigend und verlässlich leiten. Sie brauchen Erwachsene, die ihnen begeistert die kulturelle Schatzkammer aufschließen und die immer dann eingreifen, wenn es den Kindern noch an Urteilsfähigkeit und Selbstbeherrschung fehlt. Diese Ansicht wird heute bisweilen als „Adultismus“ verunglimpft. Viele Erzieher sind zutiefst verunsichert, weil sie gelernt haben, es sei Manipulation oder Gewalt, Kinder zu leiten. Wer aktiv erzieht, gar verbietet und gebietet, Dinge als gut und böse, vorbildlich oder verboten benennt, „löscht damit die Persönlichkeit des Kindes aus“ (Montessori). Solche Worte machen Erziehern Angst. Bisweilen dienen sie auch als Ausrede für Bequemlichkeit. Im Extremfall greift der Erwachsene nicht einmal mehr in die „Ausscheidungsautonomie“ des Kindes ein – ein wesentlicher Grund für die steigende Anzahl windeltragender Erstklässler. Wer erzieherische Führung aus Angst oder Faulheit ablehnt, vergisst, dass es einen dritten Weg gibt: Wertebewusste kluge Erwachsene, die auch sich selbst erziehen und Kindern durch ihre Autorität dienen. Erzieher, die Kindern helfen, durch Selbstbeherrschung empfänglich zu werden für tiefgehende Freude an Literatur, Kunst, Musik oder einem liebevoll selbstgebackenen Geburtstagskuchen. Deshalb schulden es die Erwachsenen den Kindern, in den ersten Lebensjahren Maß und Rhythmus für die kindlichen Antriebe und Stimmungen zu etablieren. Das erzeugt eine seelische Ausgeglichenheit, ohne die Lernen nicht gelingen kann. Wer übermüdet ist, weil er keinen Schlafrhythmus hat; wer bei jedem Unlustgefühl weint; wer bei Frustration gleich mit Bauklötzen wirft, fühlt sich grundsätzlich unsicher und kann sich nur schlecht aufs Lernen konzentrieren. Sich zu konzentrieren bedeutet, dass man die zunächst spontane Aufmerksamkeit so lange weiter aufrecht erhält, wie die jeweilige Tätigkeit es erfordert. Das kann durch Willenskraft und vertrauenden Gehorsam geschehen oder weil man anhaltende Freude an der Tätigkeit findet. Diese Grundfertigkeit muss ein Kindergarten aufbauen, aber das ist völlig unmöglich, solange Kinder alle ihre Tätigkeiten selbst wählen und sie immer dann beenden, wenn ihre spontane Aufmerksamkeit oder Lust endet. Genau das ist aber die Realität, die aus dem Situationsansatz und der Diskreditierung des Erwachsenen entstanden ist. Im obigen Video wird sie als Ideal präsentiert. Man gewöhnt Kinder daran, sich egozentrisch von ihren kurzlebigen Interessen leiten zu lassen. Ihre Betreuer müssen zur Verfügung stehen, um sie spontan zu „bilden“, bzw., wie Jenny im Video sagt, ihre „Neugier zu befriedigen“. Bildung verkommt zum Befriedigen von Neugier. Ob etwas der Mühe wert ist, wird nicht vom Bildungsgehalt des Themas bestimmt, sondern davon, ob es mich gerade emotional anspricht und interessiert. Wer so geprägt wurde, prokrastiniert schon in der 1. Klasse. Es fehlt diesen Kindern an Ausdauer und Grundfertigkeiten. Entsprechend schwer fällt es ihnen, in der Schule konzentriert mitzuarbeiten. Ich erlebe in meinen Vorschulgruppen von Jahr zu Jahr mehr Sechsjährige, die Stifte mit beiden Händen gleichzeitig halten, nicht reimen können und nachzählen müssen, wenn ich drei Finger hochhalte. Nur professionelle Förderung kann verhindern, dass solch ein Lernrückstand in didaktogener Legasthenie und Dykalkulie mündet. Instruktion bringt Kinder voran, und sie sind stolz auf die Ergebnisse, wie z.B. das selbst gemalte Eichhörnchen: Leider fehlt selbst gewillten Erzieherinnen das Rüstzeug, um es besser zu machen. Die Ausbildung ist dominiert von Rollentheorien, Situationsanalysen, Inklusion und Gender-Diversität. Effektive Sprachdidaktik, systematische Verhaltensbeobachtung oder die Passung von Emotions- und Realitätskurve spielen praktisch keine Rolle. Moderne Forschung wie die Basisemotionen nach Ekman oder kindliche emotionale Schemata fehlen im Lehrplan. Kindergärten müssen die Voraussetzungen für geduldiges Üben, konzentriertes Zuhören, tiefgehende Freude an Tätigkeiten oder staunendes Nachvollziehen von 4000 Jahren Kulturgeschichte schaffen. Sie müssen Kinder befähigen, sich dankbar auf die Schultern von Riesen zu stellen. Momentan werden die Zwerge im Glauben eingeschult, selbst bereits Riesen zu sein – nur, um anschließend vielfach an Handschrift, Lesen und Dezimalsystem zu scheitern. Literatur:
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Miriam Stiehler
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Nach 50 Jahren „Situationsansatz“ und Montessori-Einflüssen bestimmen die Kleinsten in der KiTa, aber können kaum mit der Schere schneiden. Ein Großteil ist in Sprach- oder Ergotherapie. Wie konnte es so weit kommen, und was müssen wir ändern?
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kultur
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2024-01-11T11:06:02+0100
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2024-01-11T11:06:02+0100
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https://www.cicero.de/kultur/serie-bildungsmisere-teil-1-kindergarten
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Ampel vor dem Aus - Scholz kündigt Vertrauensfrage an
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Bundeskanzler Olaf Scholz will die Vertrauensfrage im Parlament stellen und eine Entscheidung über eine vorgezogene Neuwahl ermöglichen. Der Bundestag solle darüber am 15. Januar abstimmen, sagte der SPD-Politiker in Berlin. Er fügte hinzu: „So können die Mitglieder des Bundestages entscheiden, ob sie den Weg für vorgezogene Neuwahlen frei machen.“ Die Wahl könnte dann „unter Einhaltung der Fristen, die das Grundgesetz vorsieht, spätestens bis Ende März stattfinden“. Die reguläre Bundestagswahl ist im September 2025 vorgesehen. Zuvor hatte Scholz seinen Finanzminister Christian Lindner (FDP) entlassen, nachdem dieser eine Neuwahl des Bundestags vorschlug.Scholz griff Lindner in seiner Rede scharf an. Er sprach davon, Lindner habe zu oft sein Vertrauen gebrochen. Lindner schlug den Angaben zufolge vor, dass die Ampel-Parteien, wie 2005 gemeinschaftlich schnellstmöglich Neuwahlen für Anfang 2025 anstreben sollten, um „geordnet und in Würde“ eine neue Regierung für Deutschland zu ermöglichen. Die FDP wäre bereit, noch den Nachtragshaushalt 2024 gemeinsam zu beschließen und einer geschäftsführenden Bundesregierung anzugehören. Zuvor hatten die Spitzen von SPD, Grünen und FDP zweieinhalb Stunden beraten, um Wege aus der Ampel-Krise zu finden. Im Kern ging es darum, wie das Milliardenloch im Haushalt 2025 gestopft und die schwer angeschlagene deutsche Wirtschaft wieder auf Trab gebracht werden kann. Lindner hat schon vor einiger Zeit den „Herbst der Entscheidungen“ für die Koalition ausgerufen. Er meinte damit vor allem den Haushalt für das nächste Jahr, der am 29. November im Bundestag verabschiedet werden sollte. Daneben ging es ihm um eine Strategie, wie Deutschland aus der Wirtschaftskrise geführt werden soll. Dazu hat er Vorschläge gemacht, die den Streit in der Koalition eskalieren ließen. In seinem Konzept für eine Wirtschaftswende fordert Lindner unter anderem die endgültige Abschaffung des Solidaritätszuschlags auch für Vielverdiener und einen Kurswechsel in der Klimapolitik. Gegen solche Ideen gab es erheblichen Widerstand bei SPD und Grünen. Habeck war Lindner aber auch einen Schritt entgegengekommen. Er hat sich am Montag bereiterklärt, die nach der Verschiebung des Baus eines Intel-Werks in Magdeburg frei werdenden Fördermilliarden zum Stopfen von Haushaltslöchern zu verwenden. dpa
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Cicero-Redaktion
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Dramatische Momente für die Ampel-Koalition in Berlin: Kanzler Olaf Scholz entlässt seinen Finanzminister – und zieht weitere Konsequenzen.
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"Ampelkoalition",
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"Olaf Scholz"
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innenpolitik
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2024-11-06T20:58:07+0100
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2024-11-06T20:58:07+0100
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https://www.cicero.de//innenpolitik/ampel-vor-dem-aus-scholz-entlasst-finanzminister-lindner
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Explosion an Krim-Brücke - Moskau spricht von Kiewer „Terrorakt“
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Nach der Explosion an der Brücke zur annektierten Schwarzmeer-Halbinsel Krim hat Russland offiziell von einem „Terrorakt“ gesprochen. Moskau machte ukrainische Geheimdienste dafür verantwortlich. „Wir kennen die Gründe und diejenigen, die hinter dem Terroranschlag stehen“, sagte Kremlsprecher Dmitri Peskow am Montag laut russischen Nachrichtenagenturen. „Das alles ist das Werk des Kiewer Regimes“. Am Abend werde Präsident Wladimir Putin eine Sondersitzung leiten und sich dabei von Vizeregierungschef Marat Chusnullin über die Dauer der Renovierungsarbeiten an dem 19 Kilometer langen Bauwerk unterrichten lassen. Die Brücke sei am frühen Montagmorgen von Überwasserdrohnen attackiert worden, teilte das russische Anti-Terror-Komitee mit. Aus Kiew gab es zunächst keine offizielle Bestätigung für eine Beteiligung an dem Vorfall. Zuvor hatten russische Behörden über einen „Notfall“ auf der 19 Kilometer langen Brücke berichtet, die das russische Festland und die bereits 2014 völkerrechtswidrig einverleibte Krim verbindet. Die Krim-Brücke war am Morgen Medienberichten zufolge von einer Überwasserdrohne angegriffen und beschädigt worden. Bei dem Anschlag kamen zwei Erwachsene ums Leben, eine Jugendliche wurde verletzt. Fotos und Videos in sozialen Netzwerken zeigten zudem deutliche Zerstörungen an der Fahrbahn. Der Autoverkehr wurde eingestellt. Offiziell hat sich Kiew nicht zu dem Anschlag bekannt. Die Ukraine hat allerdings wiederholt angekündigt, alle von Russland besetzten Gebiete inklusive der Krim befreien zu wollen. Der ukrainische Geheimdienst bestätigte eine eigene Beteiligung zunächst nicht, sondern teilte in einer ersten Reaktion lediglich mit: „Erneut hat sich die Brücke ,schlafen‘ gelegt. Und eins ... zwei!“ Zu einem Anschlag auf der Brücke im vergangenen Herbst hatte sich Kiew später bekannt. Auch damals wurde die Fahrbahn schwer beschädigt, später allerdings repariert. Die Ukraine, die sich seit fast 17 Monaten gegen einen russischen Angriffskrieg verteidigt, hat angekündigt, alle besetzten Landesteile im Zuge einer Gegenoffensive zu befreien. Trotz der angespannten Sicherheitslage und langer Kontrollen zieht es russische Urlauber Medienberichten aus Russland zufolge wieder in großer Zahl auf die annektierte Krim, die für Urlauber nur per Bahn oder Auto erreichbar ist. Quelle: dpa
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Cicero-Redaktion
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Zum wiederholten Mal seit Beginn des russischen Kriegs wird die Brücke zur annektierten ukrainischen Halbinsel Krim angegriffen. Moskau beschuldigt ukrainische Geheimdienste, Kiew äußert sich zunächst nur zurückhaltend.
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"Krim",
"Ukraine-Krieg",
"Russland"
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außenpolitik
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2023-07-17T11:48:25+0200
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2023-07-17T11:48:25+0200
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https://www.cicero.de/aussenpolitik/explosion-an-krim-brucke-moskau-spricht-von-kiewer-terrorakt
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Weihnachten - Trost im Covid-Winter: Heilt nicht, aber lindert
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„Der Mensch ist ein trostsuchendes Wesen“, schrieb Georg Simmel in den frühen zwanziger Jahren. Trost, was für ein altmodisches Wort. Nicht mal einen guten Leumund hat es. Wer will schon mit dem Trostpreis abgespeist werden? Oder „vertröstet“ werden? Trost ändert nichts. Er schafft kein Übel aus der Welt, beseitigt nicht den Anlass der Traurigkeit. Oder, wie Simmel weiter schreibt: „Trost ist etwas anderes als Hilfe – sie sucht auch das Tier; aber der Trost ist das merkwürdige Erlebnis, das zwar das Leiden bestehen lässt, aber sozusagen das Leiden am Leiden aufhebt, er betrifft nicht das Übel selbst, sondern dessen Reflex in der tiefsten Instanz der Seele.“ Ein Corona-Jahr geht zu Ende, ein neues Corona-Jahr steht bevor. Schon wieder bestimmt die Pandemie das Weihnachtsfest. Und klammerten sich alle vergangenes Jahr um diese Zeit noch an die Hoffnung, 2021 werde irgendwann Besserung bringen, man werde wieder „zum normalen Leben“ zurückkehren können, ist allerorten nur noch große Müdigkeit und Resignation zu spüren. Die Pandemie erscheint endlos. Wer kann schon sagen, dass er nicht mürbe und trostbedürftig ist? Da ist Traurigkeit über die verrinnende Zeit, über all die Möglichkeiten und Gelegenheiten, die sich nie mehr nachholen lassen. Über all das, was unwiederbringlich verloren ist. Wenn einmal Weihnachten mehr oder weniger ausfällt, die Feierlichkeiten um ein Jahr verschoben werden, lässt sich das ertragen. Was aber, wenn es einfach so weitergeht? Die eigenen Eltern sind noch älter geworden. Wer weiß, wie oft Weihnachten noch der Anlass sein wird, zu dem die weit verstreute Familie an einem Tisch zusammenkommt. Wer wie ich zehn Stunden Zug (inklusive Umsteigen) fahren muss, um seine Eltern zu sehen, dem fehlen die alltäglichen Vergewisserungen, dass bei ihnen alles in Ordnung ist. Dass sie schon zurechtkommen. Der muss die Begegnungen organisieren, wie etwa zu Weihnachten. Nun aber werden statt zwölf Personen erneut nur vier am Weihnachtstisch sitzen, die vier, die seit Beginn der Epidemie schon aufs engste aufeinandersitzen. Wieder kein großer Vogel im Ofen, nur ein kleiner. Auch keine großen Krisen, Streitereien, Verletzungen, allenfalls kleine. Jeder kann von ihnen erzählen, von diesen Weihnachtsmomenten, in denen die immer wieder aufs Neue beschworene und ersehnte Harmonie zerreißt. Von wegen „Fest der Liebe“. Wenn die vegane Nichte stumm und angewidert auf die um die Gans versammelten Tiermörder blickt. Wenn die neue Partnerin des Bruders erklärt, doch nicht geimpft zu sein, und Globuli gegen Corona empfiehlt. Wenn Schwiegermutter fragt, ob man schon wieder zugenommen habe. Und Oma wieder von den N… spricht. Und wenn Vatis Stimmung endgültig auf den Gefrierpunkt sinkt, weil Mutti sich gerade das dritte Gläschen Sekt zu viel hinter die Binde gekippt hat. Kann es sein, dass man sogar das vermisst? Den Trost der Gewohnheit, der Verlässlichkeit, dass sich Friedefreudeeierkuchen eben nicht termingerecht inszenieren lassen? Ach, wäre es schön, jetzt wie jedes Jahr auf Weihnachten zu schimpfen. Konsumterror! Berge von Verpackungsmüll! Darauf, dass hier eine Kleinfamilie gefeiert wird, Vater, Mutter, Kind, die mit den Lebenswelten von so vielen, von Patchwork-Familien, homosexuellen Paaren und Eltern, Singles, kaum noch etwas gemein hat. Über das lästige Einkaufen, Verpacken, Vorbereiten. Über die langen Schlangen an der Supermarktkasse. Dass auch das jährliche Hadern mit dem Fest wegfällt, ist kein Trost. Tröstlich sind allenfalls Rituale, die nicht wegfallen, nicht einmal bei Corona-Weihnachten. „Drei Nüsse für Aschenbrödel“ im Fernsehen. Bachs „Weihnachtsoratorium“. Überhaupt Musik, von der Elias Canetti schrieb, sie sei „der beste Trost“. Der kleine Vogel aus dem Ofen. Die verbindende Gewissheit, dass so viele andere ebenso unter dieser grauen Zeit leiden. „Der Mensch ist ein trostsuchendes Wesen.“ Trost ändert nichts, schafft keine Abhilfe, löst keine Probleme. Auch deshalb schrieb Rilke: „Aller Trost ist trübe.“ Aber er hilft vielleicht, das Traurige ein wenig leichter zu ertragen.
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Ulrike Moser
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In der zweiten Corona-Weihnacht sind wir alle auf Trost angewiesen. Der Trost des Gewohnten fällt in Zeiten der Kontaktbeschränkungen allerdings weg. Umso wichtiger ist es, sich kleine Rituale zu erhalten.
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kultur
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2021-12-24T11:03:28+0100
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2021-12-24T11:03:28+0100
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https://www.cicero.de//kultur/weihnachten-trost-im-covid-winter-heilt-nicht-aber-lindert
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Katerstimmung bei Laschet und der CDU - „Wir müssen kämpfen“
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Nach den Landtagswahlen in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz haben die Bundesparteien begonnen, die Ergebnisse auszuwerten. Bei der Union herrschte am Montag Katerstimmung. CDU-Chef Armin Laschet rief seine Partei nach dem Wahldebakel am Sonntag zu einer gemeinsamen Kraftanstrengung vor der im September anstehenden Bundestagswahl auf. Die Wahlergebnisse der Landtagswahlen seien für die CDU enttäuschend, so Laschet bei der Pressekonferenz der CDU am Montag. Er betonte aber auch, dass es dafür verschiedene Gründe gebe. In Zeiten der Krise gingen insbesondere die amtierenden Regierungschefs mit einem Amtsbonus in den Wahlkampf. Er gestand aber auch ein, dass das derzeitige Corona-Krisenmanagement der Union ein weiterer Grund für die schlechten Wahlergebnisse der CDU in den beiden Bundesländern sei. „Im Corona-Management“ müssen wir besser werden“, so Laschet. Armin Laschet sagte nach Informationen der Deutschen Presse-Agentur in einer Präsidiumssitzung, es sei nicht gottgegeben, dass die CDU den nächsten Bundeskanzler stelle. Demnach forderte er „Wir müssen kämpfen“. Bayerns Ministerpräsident und CSU-Chef Markus Söder sagte in München: „Die Wahlen gestern waren ein schwerer Schlag in das Herz der Union“. Der CDU-Generalsekretär Paul Ziemiak führte den Ausgang der Wahlen vor allem auf die Beliebtheit der amtierenden Ministerpräsidenten Malu Dreyer und Winfried Kretschmann zurück. Er sprach aber auch von Gegenwind für die Wahlkämpfer durch „Verfehlungen“ einzelner Abgeordneter in der sogenannten Maskenaffäre und die Zusammenarbeit mit der aserbaidschanischen Regierung. An ihrem Zeitplan für die Bestimmung der Kanzlerkandidatur will die Union festhalten. Die Entscheidung solle demnach wie geplant zwischen Ostern und Pfingsten fallen. In den anderen Parteien wurde unterdessen über mögliche Regierungsoptionen nach der Bundestagswahl diskutiert. SPD-Generalsekretär Lars Klingbeil sprach sich im Bayerischen Rundfunk für eine sogenannte Ampel-Koalition mit den Grünen und der FDP aus. „Die Ampel ist möglich, und dafür kämpfen wir jetzt.“ SPD-Chef Norbert Walter-Borjans sagte im Deutschlandfunk: „Es gibt die Mehrheiten diesseits von CDU und CSU, und es gibt auch gute Chancen für Olaf Schulz, der Kandidat der stärksten dieser Parteien zu sein.“ Die Grünen äußerten sich verhaltener: „Es ist ein völlig offenes Jahr“, sagte Parteichef Habeck am Montag in Berlin. Es sei zu früh, jetzt schon Schlüsse für die Lage vor der Bundestagswahl zu ziehen. Jede Konstellation habe die Chance, eine neue Dynamik auszulösen oder sich im Klein-Klein zu verhaken, fügt er hinzu. Der CDU-Vorsitzende Armin Laschet übt derweil scharfe Kritik an Olaf Scholz. Er erwarte, „dass jeder Minister sich um sein Ressort kümmert“. Der Finanzminister habe genug zu tun mit der Finanzaufsicht. „Er muss nicht ankündigen, dass in den nächsten Wochen zehn Millionen Impfdosen auf seine Veranlassung hier ankommen. Es entspricht nicht der Realität. Es verunsichert die Menschen.“ Der SPD-Kanzlerkandidat Scholz hatte vor kurzem im ZDF gesagt: „Wir müssen jede Woche Millionen impfen, im März schon am Ende des Monats. [...] Es wird bis zu zehn Millionen Impfungen pro Woche geben.“ Laschet sagte dazu am Montag: „Ich erwarte, dass die Bundesregierung gute Arbeit leistet.“ Auch wenn sich Parteien nun mehr denn je auf den Wahlkampf vorbereiten müssten, erwarteten die Menschen in der Pandemie, dass das Gemeinwohl im Vordergrund steht und und nicht „parteipolitische Sperenzchen“. Sina Schiffer / dpa
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Cicero-Redaktion
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Laut CSU-Chef Söder sind die Landtagswahlergebnisse ein „schwerer Schlag in das Herz der Union“, auch Armin Laschet zeigt sich in Hinsicht auf die Bundestagswahl alles andere als siegessicher. Die SPD will währenddessen für eine Ampelkoalition kämpfen.
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innenpolitik
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2021-03-15T16:49:41+0100
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2021-03-15T16:49:41+0100
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https://www.cicero.de/innenpolitik/laschet-landtagswahlen-cdu-csu-grune-spd-dreyer-kretschmann
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Frustbewältigung - So lachen die Ägypter über den Flugzeugentführer
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Noch bevor alle Insassen des gekaperten Flugzeugs befreit waren und das Selfie eines britischen Passagiers mit einem der Entführer viral ging, begannen sich Menschen überall in Ägypten über die Entführung lustig zu machen. Mehr als 34.900 Tweets wurden unter dem Hashtag #IWishIWasWithThem in ironischer Absicht abgeschickt. Flug MS181 der Linie EgyptAir mit 55 Passagieren an Bord war am Dienstag von dem Ägypter Seif Eldin Mustafa entführt worden. In den sozialen Netzwerken reagierten die meisten User mit ironischen Kommentaren auf den Vorfall, selbst als noch nicht durchgesickert war, dass der Kidnapper den Piloten nur deshalb zwang, auf einem Flughafen in Zypern zu landen, um eine Nachricht an seine dort lebende Frau zu senden. So schrieb ein User verächtlich: „Die haben es verdient, entführt zu werden. Ernsthaft, wer kommt schon auf die Idee, für die Distanz Alexandria-Kairo das Flugzeug zu nehmen.“ Jemand anderes schrieb: „Die Passagiere der entführten Maschine würden gerne dem Kidnapper dafür danken, sie aus Ägypten rauszuholen.“ Ein Nutzer stellte ein Foto mit jubelnden Fluggästen ins Netz. Egyptian passengers when they heard they're landing in Cyprus instead of Cairo #EgyptAirHijack #IWishIWasWithThem pic.twitter.com/V0uhqigR2h Viele Ägypter fragten in den sozialen Netzwerken, ob die Airline für den Zypern-Ausflug einen Zuschlag berechnen würde. Ein anderer fragte: „Könnt ihr euch vorstellen, wie schockiert die Leute waren, als sie hörten, dass sie wieder nach Hause geschickt würden?“ Selbst religiöse Parallelen wurden gezogen zu der Geschichte des Auszuges von Moses aus Ägypten auf der Suche nach einer besseren Heimat. Hinter der Fassade des Sarkasmus in den Kommentaren verbirgt sich eine harsche Realität: 26 Prozent der ägyptischen Bevölkerung leben in Armut, sogar 49 Prozent des südlichen Teils von Ägypten können nicht mit ausreichend Nahrungsmitteln versorgt werden. Dies geht aus Untersuchungen der Central Egypt Agency for public mobilization and statistics aus dem vergangenen Jahr hervor. Diese sagen auch, dass mittlerweile 17 Prozent der Ägypter zwischen 15 und 29 Jahren den Wunsch haben, auszuwandern und ihrem Heimatland den Rücken zu kehren. Auswandern gestaltet sich für die meisten Ägypter jedoch als reichlich schwierig: Im vergangenen Jahr konnten ägyptische Staatsbürger nur in 49 Länder auf der Welt einreisen. Im Vergleich: Wer im Besitz der deutschen Staatsangehörigkeit ist, kann problemlos in 177 Staaten auf der Welt einreisen. Viele Ägypter versuchen ihren Frust mit Humor zu bewältigen. Glücklicher macht sie das auf Dauer jedoch auch nicht. Ägypten liegt auf Platz 120 von 157 Ländern auf der Welt-Fröhlichkeits-Liste. Selbst im Irak und in Libyen scheinen die Menschen glücklicher zu sein, was beweist, dass Glück nicht nur vom Einkommen abhängt, sondern vor allem auch von persönlicher, politischer Freiheit. Ahmed Salem, 23, arbeitet in einem Touristik-Unternehmen im Ort Tanta, 93 Kilometer nördlich von Kairo. Er erklärt die Neigung vieler Landsleute zum Sarkasmus wie folgt: „Wenn wir darauf auch noch verzichten müssen, explodieren wir. Das Gerede über uns Ägypter als durchweg fröhliche Menschen ist eine Sache, aber oftmals sehen die Menschen nicht, was für ein Frust sich hinter dem Sarkasmus der Ägypter verbirgt.“ Salem sagt auch, dass die Menschen in Ägypten in der Vergangenheit so oft mit Krisen, Nöten, Gewalt und Tod konfrontiert wurden, dass all diese negativen Erlebnisse langsam beginnen, den Effekt auf die Ägypter zu verlieren. Man hat sich an die Trauer und den Kummer gewöhnt. „Ich weiß nicht, wie das Geschäft anderswo läuft, aber hier zu uns kommen nur noch die Leute von außerhalb, die religiöse Reisen nach Mekka buchen wollen. Einheimische kommen schon länger nicht mehr zum Urlaub zu uns,“ sagt Salem. Nichtsdestotrotz ist Verreisen ein großes Thema in seinem Land, insbesondere unter jungen Leuten. Die fahren aber alle nur noch nach Osteuropa, weil es da so viel billiger ist. Salem verreist nicht sehr oft, da er das Geld lieber spart, um in seine Ausbildung zu investieren. Was die Jugend in Ägypten sucht, ist ein Weg hinaus. Sei es durch ein entführtes Flugzeug oder durch eine gute Ausbildung, die bessere Job-Chancen ermöglicht. Auf dem Weg dahin ist Humor ein wichtiges Mittel, um einen Teil des Frusts und der Enttäuschung loszuwerden. In einem Land, wo der eigene Präsident auf E-Bay zum Verkauf angeboten wird, ist Humor ein Weg, um Armut, Korruption, Unterdrückung und nicht zuletzt Flugzeugentführungen auszuhalten. Übersetzung: Nils Leifeld
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Riham Alkousaa
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Während das „Erdowie, Erdowo, Erdowan“-Video in der arabischen Welt kaum Reaktionen ausgelöst hat, lachen sich die Ägypter unter #IWishIWasWithThem noch immer über die Flugzeugentführung schlapp - und beneiden sogar die Passagiere
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außenpolitik
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2016-03-30T15:36:31+0200
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2016-03-30T15:36:31+0200
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Energiekrise - Ist Robert Habeck Deutschlands größter Klimasünder?
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Robert Habeck hat sich aufgemacht, „unser Klima zu retten“ und gleichsam fossiles Heizen in Deutschland zu verbieten. Laut Presseberichten beziffert er die Kosten dafür auf ca. 130 Mrd. Euro und nimmt an, dass Deutschland ab 2030 – bzw. jetzt nach dem „Heizungs-Hammer-Kompromiss“ wohl erst etwas später – dadurch jährliche Emissionen in Höhe von 10 Mio. Tonnen CO2 einsparen wird. Interessant ist hier zu bemerken, dass die FDP für den „Heizungshammer“ dagegen eher Kosten in Höhe von 600 Mrd. Euro erwartet. Die Rechenschieber in der Koalition scheinen offenbar nach unterschiedlichem System geeicht. So oder so sind dies gigantische Summen, deren prospektive Ausgabe dringend einer kritischen Überprüfung bedarf. Nun ist hinlänglich bekannt, dass Politiker gelegentlich dazu neigen, Dinge schön zu rechnen, wenn ihnen das ins eigene politische Kalkül und insbesondere zu ihren ideologischen Vorstellungen passt – „Berlin Brandenburg“, „Elphi“, die zweite Stammstrecke in München, Stuttgart 21, die „Eiskugel-Energiewende“ und viele andere Beispiele dienen als augenscheinliche Belege für diesen Habitus. So ist auch hinsichtlich der Reduktion der Klimabelastung um 10 Mio. Tonnen höchste Skepsis geboten, denn durch die Heizungsumstellung werden ja zunächst nicht CO2-Emissionen reduziert, sondern lediglich hierzulande Heizöl und Gas eingespart. Aus globaler Perspektive gilt diese Einsparung jedoch nur, wenn das bei uns weniger verbrauchte Öl und Gas dagegen auch nirgendwo anders auf der Welt verbrannt, das heißt unser Klima tatsächlich netto entlastet wird. Die Erdatmosphäre ist eben nicht teilbar, und wer das Klima nicht nur vordergründig und effekthascherisch, sondern effektiv schützen will, muss zwangsläufig eine holistische Perspektive einnehmen. Der renommierte Ökonom Hans-Werner Sinn weist in der jüngsten Debatte zu Recht darauf hin, dass, wenn die Nachfrage in Deutschland sinkt, dies die Weltmarktpreise reduziert, was dann ärmeren Ländern ermöglicht, dieses Öl und Gas zu kaufen, um es dann eben an anderer Stelle zu verbrennen. Für den Fall, dass die reduzierten Preise nicht ausreichen, um die Einkommensbedürfnisse der erdölfördernden Länder zu befriedigen, werden diese voraussichtlich sogar die Fördermengen erhöhen, um bei reduzierten Preisen ihr Einkommen konstant zu halten. Das bedeutet jedoch für die Wirkung grüner Heizungspolitik, dass schlussendlich „mit Zitronen gehandelt“ und für sehr viel Geld nicht nur nichts für unser Klima erreicht, sondern dieses sogar zu Mehrbelastungen führen wird. Sinken bei unseren Mitbewerbern die Energiepreise, wird gleichsam ohne jede Not die Wettbewerbsposition Deutschlands mit Blick auf komparative Kosten nachhaltig geschädigt. Die Konsequenz ist Abwanderung von industrieller Produktion, im Zweifel in Regionen, deren Umweltauflagen deutlich unter unseren liegen. Die Praxis wird es schlussendlich zeigen, aber egal wie, steht schon heute fest: Der Heizungshammer wird die Menge des verbrannten Öls und Gases weltweit ganz sicher nicht reduzieren. Bei der Sequestrierung von CO2 z.B. durch Wälder hingegen verhält sich dies anders. Ebenso, wenn entsprechende Technologien den Energieverbrauch und/oder den CO2-Ausstoß von Produktionsprozessen reduzieren. Was sequestriert ist, bleibt zumindest so lange sequestriert, bis das Holz der Bäume nicht verbrannt wird oder verfault, und kann nicht durch Entscheidungen irgendwo anders auf der Welt wieder freigesetzt werden. Ein unschätzbarer Vorteil für das Weltklima. Gleiches gilt für geeignete neue Technologien, die den CO2-Ausstoß reduzieren. Aber geben wir dem Mann, dessen Augen ja bekanntlich nicht lügen können, Robert Habeck, dennoch einen Vertrauensvorschuss und nehmen an, dass seine Zahlen richtig sind. Ist dies dann wahrhaft der richtige Weg, um unser Klima zu retten? 10 Mio. Tonnen CO2 weniger pro Jahr klingt zunächst viel, und dennoch stellt sich die Frage, ob man für die gleichen 130 Milliarden Aufwand auf andere Weise das Klima nicht weit effektiver entlasten könnte? Die Antwort heißt: ja. Und zwar hieb- und stichfest an einem konkreten Beispiel aus der Praxis belegbar. Vor einigen Jahren haben deutsche Investoren mit „Tamata Hauha“ ein Unternehmen in Neuseeland gegründet, welches ökonomisch nicht mehr anderweitig Nutzbares und im Besitz der Maori befindlichen Land erwirbt, um es aufzuforsten. Konkret stellen die Maori leihweise ihr Land zur Verfügung, und Tamata Hauha finanziert die Aufforstung, um so durch „carbon sequestration“ „NZU‘s“ zu erzeugen – neuseeländische Emissionszertifikate –, die dann im Rahmen des Neuseeländischen Environmental Trading Systems, „ETS“, verkauft werden. Es ist somit exakt mess- und belegbar, was es kostet, das Klima um eine Tonne CO2 zu entlasten, denn die Kosten kennt Tamata Hauha auf den Cent genau: Das Einzige, was niemals lügt, ist bekanntlich die Kasse. Der Effekt, der damit erzielt wird – die „carbon sequestration“ – wird einer peinlich genauen Überprüfung unterzogen und von der Regierung von Neuseeland konsistent zertifiziert. Neuseeland ist im Übrigen – seit es diesen Index gibt – das am wenigsten korrupte Land der Welt. Die Zahlen von Tamata Hauha sind also – anders als in der Regel Kostenprojektionen aus dem Hause Habeck – sehr präzise, ideologiefrei und über jeden Zweifel erhaben: Die Tonne CO2 wird für genau 5,19 Kiwi-Dollar, also für weniger als 3 Euro sequestriert. Mehr zum Thema: Auf die heimische Situation hin angewendet, ergibt sich folgende Rechnung: Robert Habeck will ab 2030 (bzw. nun etwas später) jedes Jahr 10 Mio. Tonnen CO2 einsparen. Eine Klimaentlastung in gleicher Höhe kann folglich in Neuseeland für 30 Mio. Euro p.a. erreicht werden. Über 100 Jahre wären das also 3 Mrd. Euro. Die Ampel möchte für das identische Ziel jedoch 130 Mrd. Steuergelder ausgeben, also 127 Milliarden (!) zu viel, für die man im Umkehrschluss mit alternativen Methoden zum „Heiz-Hammer-Gesetz“ das Klima um über 40 Milliarden Tonnen mehr entlasten könnte. Für den Fall, dass die Zahlen Habecks nicht der Realität entsprechen, sondern z.B. die FDP mit den von ihr projizierten 600 Mrd. EUR näher bei der Wahrheit liegt, hätte man mit den Maßnahmen unser Weltklima sogar um sage und schreibe 180 Milliarden (!) Tonnen entlastet. Diese einfache Mathematik sollte auch ehemaligen Philosophiestudenten eingängig sein. Honi soit qui mal y pense! Häufig wird in der Diskussion nun entgegnet, das möge ja sein, aber für so viel Sequestration sei Neuseeland viel zu klein. Das stimmt. Aber es gibt noch sehr viele andere Länder auf dieser Erde, in denen man Ähnliches umsetzen könnte, und zwar bisweilen weitaus günstiger als im relativ hochpreisigen Neuseeland. Darüber hinaus gibt es in unseren Gewässern sequestrierende (und permanent in Sediment speichernde) Algen, See-Gras und ganz sicher noch viele andere noch nicht breit bekannte Methoden. Viele dieser methodischen Ansätze liefern im übrigen signifikanten Zusatznutzen, wie sich ebenso anschaulich am Beispiel Tamata Hauha zeigen lässt: Hier werden zum Beispiel eine erhebliche Anzahl von Arbeitsplätzen für die indigenen Maori geschaffen und wertvolle einheimische Baumarten aufgeforstet. Die Biodiversität wird gestärkt. Zusätzlich wird Wohnraum für indigene Fauna geschaffen, und die Flüsse vor weiterer Silt-Erosionsbelastung bewahrt. Durch das Teilen der Profite mit den Maori über den Fluss der Erlöse in eine Bildungsstiftung, trägt das Projekt auch noch zur Verbesserung der sozialen Chancengleichheit bei. Und das alles für exakt 5,19 Kiwi-Dollar die Tonne CO2. Hinter diesem kleinen Praxisbeispiel verbirgt sich die tiefere und gleichsam radikal einleuchtende Erkenntnis, dass wir - so erstaunlich das klingen mag - eigentlich ab sofort keinen Cent mehr dafür ausgeben dürfen, um in Deutschland noch irgendwie „sauberer“ zu werden. Denn das „Gesetz des abnehmenden Grenznutzens“ wirkt auch hier machtvoll, und die hiesige grüne Umweltpolitik versündigt sich mit der Negierung dieser einfachen Erkenntnis folglich gegen die globale Menschheit. Dieses Gesetz, besser bekannt auch als die 80/20 Regel oder die Suche nach den „low hanging fruits“, das heißt, die Fokussierung auf jene Maßnahmen, die am einfachsten und mit größtem Kosten-Nutzen-Effekt zu realisieren sind, weist den richtigen Weg in eine effektive und pragmatisch-unideologische Politik, die wahr- und glaubhaft „grün“ wäre. Deutschland ist bekanntlich schon eine ganze Weile „mit gutem Beispiel vorangegangen“ und hat zahlreiche Technologien zum „Ernten der tiefhängenden Früchte“ entwickelt. So konnten die Emissionen pro 1000 Dollar erzeugtem Bruttosozialprodukt drastisch reduziert werden. Leider ist uns bislang nur kaum ein anderer Staat dabei gefolgt, und bei der neuerlichen Abschaffung des fossilen Heizens folgt uns konkret sogar absolut niemand. Die Strahlkraft selbsternannten Gutmenschentums scheint endlich, und es sei gestattet zu fragen, ob wir mit unserer aktuellen Politik auf der globalen politischen Umlaufbahn nicht eher „Geisterfahrer“ denn Trendsetter sind. Mit mittlerweile nur noch 0,146 Kg CO2-Ausstoß pro 1000 Dollar erzeugtem Bruttosozialprodukt ist Deutschland heute bereits eines der am saubersten produzierenden Länder der Welt – übertroffen nur noch von Ländern wie Frankreich, deren Statistik aber vor allem vom massiven Gebrauch des Atomstroms profitiert. Daher ist jedes weitere „Aufräumen“ hierzulande nicht nur extrem teuer, sondern man könnte für das gleiche Geld in fast allen Ländern dieser Erde signifikant mehr „low hanging fruits“ mit viel weniger Aufwand „ernten“ und dadurch viel mehr „bang for the buck“ für unser Klima bewirken. Wer dies unterlässt, schadet dem Klima und versündigt sich an der jungen Generation. Wo Grün drauf steht, ist eben kein Grün drin – und das wird uns alle teuer zu stehen kommen. Mit dem nächsten Wirtschaftswunder, welches uns angeblich durch den weltweiten Verkauf von neuen, noch saubereren, in Deutschland entwickelten Technologien beschert werden soll, wird es ebenso nichts werden. Denn die Technologien, die wir nunmehr mit großem Aufwand und Subventionskulisse entwickeln, dienen primär dazu, bei uns selbst noch sauberer zu produzieren. Es sind folglich Technologien, um die „am höchsten hängenden Früchte“ zu ernten, will heißen, auch die letzten 20 Prozent Sauberkeitsspitze herauszuholen, für die der Aufwand nach der „80/20 Regel“ mathematisch aber viermal so hoch ist, wie für die ersten 80 Prozent. Für viele potenzielle Abnehmer weltweit fehlt dazu im Übrigen schlicht die marktliche Attraktivität, und wir werden, unserer Zeit voraus, am Bedarf der Weltmärkte vorbei produzieren. Als Folge drohen wirtschaftlicher Abstieg und Verlust heimischer Steuerkraft, ohne dem eigentlichen Klimaziel auch nur ansatzweise effektiv entgegenzukommen. Eine solche Politik, die die Mechanismen der Marktwirtschaft aus falsch verstandenem Gutmenschentum schlicht außer Acht lässt, ist zwangsläufig zum Scheitern verurteilt. Um unseren Planeten zu entlasten, sollten wir uns vielmehr mit aller Kraft auf die „low hanging fruits“ konzentrieren und diese, wo immer es sie auf der Welt gibt, so bald als möglich abernten. Ökonomisch bedeutet dies für 20 Prozent des deutschen Aufwandes unser Klima maximal zu entlasten. Mit der Hydraulikleiter in die Baumspitze fahren, um auch noch die letzte dort noch hängende Frucht zu pflücken, macht schlicht in einer globalen Dimension keinen Sinn. Wenn wir dies nicht erkennen, wird Deutschland, von grüner Industriepolitik gelenkt, sich „am Markt vorbei“ entwickeln, und das neue deutsche „Wirtschaftswunder“ wird ausbleiben. Die Verschuldung hingegen wird steigen und zwar ins schier Unermessliche. O tempora, o mores! Lamia Messari-Becker im Gespräch mit Daniel Gräber
Cicero Podcast Wirtschaft: „Die Energiewende hat den falschen Fokus gesetzt“
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Hans Albrecht
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Robert Habeck strebt ehrgeizige Klimaziele an. Doch die Frage bleibt, ob seine Pläne tatsächlich den gewünschten Effekt erzielen werden: den CO-Ausstoß stark zu reduzieren. Ein Blick ins Ausland zeigt: Unideologische Energiepolitik ist viel kostengünstiger – und besser fürs Klima.
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wirtschaft
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2023-08-15T16:35:57+0200
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2023-08-15T16:35:57+0200
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Twitter-Gründer Jack Dorsey - Der Punkrock-Stratege
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Die Zuschauer wunderten sich, wieso das Unternehmen so einen ungelenken Grünschnabel zum Präsidenten schickte.Inzwischen hat sich die Welt dramatisch verändert. Twitter ist keine Neuheit mehr, sondern bekannt und etabliert – jeder fünfte amerikanische Internetnutzer ist inzwischen angemeldet. Beim Börsengang im November erlöste die Firma einen Milliardenbetrag. Und jener unsichere junge Mann, der im Weißen Haus vergaß, sich als Gründer von Twitter vorzustellen, ist heute ein Star der Tech-Szene und laut Forbes der sechstjüngste Milliardär der USA: Auf 1,3 Milliarden Dollar beziffert das Wirtschaftsmagazin das Vermögen des 37-Jährigen. Wer so erfolgreich ist, dem lässt die amerikanische Öffentlichkeit gern ein paar Besonderheiten durchgehen. Dass sich Dorsey als Punker einen Nasenring verpasste, drei Ausbildungen abbrach und kuriose Hobbys wie Botanisches Zeichnen pflegte, gilt aus heutiger Sicht nicht als asozial, sondern als Beleg seiner Genialität. Man muss aber auch etwas schräg ticken, um auf eine Idee wie Twitter zu kommen: Um sich vorstellen zu können, dass es Leute gibt, die sich mit 140 Anschlägen – die Obergrenze für eine Twitter-Kurznachricht – verständigen wollen. Die Spaß daran haben, sich im Telegrammstil zu äußern, mit kryptischen Abkürzungen, die man lernen muss wie einen Code.Ein geselliger Mensch hätte ein System wie Twitter wahrscheinlich nicht erfunden. Doch kommunikationsstark war Dorsey nie. Der Schauspieler Ashton Kutcher, der ihn gut kennt, sagt über Dorsey: „Wenn Jack spricht, zählt jede Silbe.“ Als Kind hatte er einen Sprachfehler und blieb am liebsten für sich. Auch als Heranwachsender war er wortkarg und spröde, ein Eigenbrötler, der unter dem Pseudonym JakDaemon düstere Gedichte und Manifeste ins Internet stellte.Dorsey wuchs in St. Louis auf, einer Provinzhauptstadt in Missouri. Wie viele Jungs war er fasziniert von Fahrplänen und Landkarten, die er wie Poster an die Wände seines Kinderzimmers hängte. Dann kaufte sein Vater, ein Schiffsliebhaber, einen CB-Funkempfänger, um die Nachrichten der Mississippi-Kapitäne zu verfolgen. Der technikaffine Jack programmierte den Apparat so, dass er Polizeifunk und Krankenwagen abhören konnte. Die rituelle Struktur der Durchsagen faszinierte ihn: Die Teilnehmer meldeten Standort, Ziel und Mission: „Befinden uns in der Market Street Ecke Opernhaus, fahren zum Loretta-Park, kümmern uns um bewusstlose Person.“ Es war ein System, das nach klaren Regeln funktionierte. Dorsey mochte das. Er mochte es so sehr, dass er versuchte eine Software zu bauen, die das, was er hörte, visualisierte.Bei den meisten Kindern geht so eine Phase irgendwann vorbei. Bei Dorsey jedoch wurde die Suche nach der perfekten virtuellen Ordnung zur fixen Idee. In New York programmierte er ein digitales System, das Fahrradkuriere koordinierte; in San Francisco verbesserte er ein Programm für den Ticketverkauf der Fähre nach Alcatraz. Als sei die Rationalität des Abstrakten die Konstante seines Lebens. Vielleicht war sie das ja auch. Alles andere, was Dorsey anpackte, versandete irgendwie oder ging in die Brüche. Beziehungen zu Frauen. Hobbys wie Massage oder Botanikzeichnen, obwohl er auch die zeitweise so intensiv betrieb, dass er überlegte, damit sein Geld zu verdienen.Zwei Mal brach er ein Informatik- und Mathematik-Studium ab, zunächst an der University of Missouri, dann an der New York University. Später verließ er vorzeitig eine Schule für Modedesign. 2002 kehrte er in seine Heimatstadt St. Louis zurück wie einer, der es draußen nicht geschafft hat: „Ich fühlte mich wie ein Verlierer.“ Aber er gab nicht auf. Er machte es wie seine Idole, die Punkmusiker von Gruppen wie Operation Ivy and Rancid. Dorsey bewunderte sie, weil sie fast ohne jede Vorbildung mit den Instrumenten experimentierten und direkt live auftraten: „Sie wurden ausgebuht, ein ums andere Mal. Aber sie gaben nicht auf, lernten und wurden besser. Ich fand diese Haltung einfach toll“, sagte er dieses Jahr bei einem Vortrag in New York.2005 ging er zurück nach San Francisco. Schlug sich mit kleinen Programmierjobs und Babysitten durch. Landete schließlich bei einem Start-up namens Odeo, das sich auf Podcasts spezialisiert hatte. „Die Podcasts interessierten mich nicht im Geringsten“, erinnert sich Dorsey, „aber ich mochte die Leute.“Als Odeo mangels funktionierenden Geschäftsmodells in die Krise geriet, baten die Chefs ihre Mitarbeiter um Einfälle. Dorsey holte seinen alten Traum wieder aus der Schublade: eine Art Ortungsdienst, den Menschen zur Standortbestimmung nutzen sollten, so wie in seiner Jugend die Ordnungshüter den Polizeifunk. Als Beispiele für Kurznachrichten notierte er seinerzeit „bin im Park“ oder „liege im Bett“. Dass so ein Dienst auch dazu dienen könnte, dass sich Menschen miteinander unterhalten, sich Neuigkeiten mitteilen oder Gefühle, fiel dem Einzelgänger gar nicht ein. Es waren, viel später, die Anwender, die Funktionen vorschlugen wie die, Meldungen gezielt an Personen zu adressieren, oder Diskussionen unter bestimmten Stichworten zu führen. Odeos Firmenleitung war einverstanden, und ein Team von vier Leuten machte sich an die Arbeit. Was in den darauffolgenden Jahren geschah, davon hat jeder der Beteiligten seine eigene Version. So wie es oft passiert, wenn ein Team nach anfänglichem Erfolg auseinanderbricht. Sicher ist, dass es Dorsey war, der die Software schrieb und am 21. März 2006 unter der Adresse @Jack den ersten offiziellen Tweet absetzte, der heute für die Fans des Dienstes Kultstatus hat: „just setting up my twttr“.Sicher ist auch, dass der stille Dorsey eine Zeit lang als Vorstandsvorsitzender agierte, Fehler machte und abgelöst wurde; dass er enttäuscht war und half, gegen Evan Williams, seinen Nachfolger als Twitter-Chef, zu intrigieren, der ihn einst zu Odeo geholt hatte.Im Oktober, kurz vor dem Börsengang, erschienen in den USA fast zeitgleich zwei große Artikel über die Gründungsgeschichte von Twitter, einer in der New York Times und einer im New Yorker. In dem einen ist Dorsey ein Bösewicht, der absichtlich Kollegen aus dem Team drängt. Der andere stellt ihn als verträumten Weltverbesserer dar, der selbst fast kaltgestellt worden wäre. Wenn Dorsey über sein Leben spricht, spart er dieses Kapitel am liebsten aus. Für ihn ist es heute wichtiger, dass er sein neues Unternehmen vorantreibt. Square heißt es, eine Software, die jeder nutzen kann, um an einem Tablet oder Laptop Kreditkarten einzulesen. Den Kartenleser verteilt Square kostenlos, auch die App ist gratis. Umsatz macht das Jungunternehmen durch Provisionen auf den Zahlungsverkehr. Die Provisionen liegen etwas niedriger als die der großen Abrechnungskonzerne, und die Technik ist schlanker und schicker. Viele kleine Händler nutzen das Zahlungssystem inzwischen und auch einige große, darunter die Kaffeekette Starbucks. Und Dorsey baut weitere Funktionen wie Square Wallet oder Square Cash auf, die alle das Ziel haben, den Bezahlvorgang zu vereinfachen.Vor zwei Monaten hatte der Milliardär mal wieder einen öffentlichen Auftritt, an der New Yorker Elitehochschule Columbia. Er, der Studienabbrecher, warb dort um Talente für seine Firma und wurde empfangen wie ein Guru – es war eine Großveranstaltung, mit mehreren Hundert Zuhörern. Wer sich noch an den peinlichen Auftritt mit Obama erinnerte, erkannte den Jungunternehmer kaum wieder: Statt eines dürren Jünglings präsentierte sich ein Mann mit Ausstrahlung, der souverän mit dem Publikum spielte, selbstironisch Fotos von sich als Punk mit blauen Haaren zeigte und auch um spontane Kommentare nicht verlegen war.Endlich hat er seinen Platz im Leben gefunden. Er wird respektiert. Das Wall Street Journal kürte ihn im vergangenen Jahr zum „Technikinnovator des Jahres“. Auf Twitter folgen ihm 2,5 Millionen Menschen. Dorsey hat sich mit seiner Punkrockstrategie durchgesetzt: einfach Sachen öffentlich ausprobieren, vor aller Augen Fehler machen, besser werden. Er weiß jetzt, was geht und was nicht. Und wie das System Silicon Valley funktioniert.Bei Twitter ist er heute Chairman, ohne operative Aufgaben. Als Symbolfigur ist er wichtig für das Unternehmen: einer, auf den man hört, wenn er Verbesserungsvorschläge macht. Auch bei der Vorbereitung des Börsengangs setzte das Unternehmen auf die Bekanntheit seines Gründers – Amerika verehrt erfolgreiche Firmengründer, nicht erst seit dem Kult um den verstorbenen Apple-Übervater Steve Jobs. In einem Video für Investoren ist Dorsey in Jeans und mit charmantem Drei-Tage-Bart aufgetreten, wie man sich einen coolen Tech-Unternehmer vorstellt: „Wir starteten Twitter, weil wir das wollten, weil wir es liebten und weil wir sehen wollten, wie andere Leute es nutzen.“Für ihn ist der Rummel um den erfolgreichen Börsengang vor allem wichtig, um Werbung für sein neues Unternehmen zu machen. Natürlich ist da das Geld. Beim Börsengang von Twitter gehörten ihm 4,7 Prozent der Firma, mehr als 20 Millionen Aktien, die rund eine halbe Milliarde Dollar wert sein dürften. Dorsey, der früher spartanisch in einem Mini-Apartment lebte und nie ein Auto besaß, hat Gefallen am Luxus gefunden.Er trägt jetzt Hemden von Prada und Dior und fährt BMW. Kürzlich hat er in San Francisco für zehn Millionen Dollar eine Villa mit Blick auf die Golden Gate Bridge gekauft. Dort wohnt er mit seiner Freundin, die ebenfalls erfolgreich in der Internetbranche arbeitet. Die Annehmlichkeiten des Lebens schätzen zu können, gehört vielleicht auch zum Erwachsenwerden. Der ehemalige Veganer erlaubt sich heute auch Fisch und Fleisch. Beim Auftritt an der Columbia University hatte er einen kleinen Bauchansatz. Er stand ihm gut.
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Christine Mattauch
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Rausgehen, ausbuhen lassen, besser werden. Twitter-Gründer Jack Dorsey hat beim Börsengang eine halbe Milliarde Dollar verdient, aber ums Geld ging es ihm nie
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wirtschaft
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https://www.cicero.de//wirtschaft/jack-dorsey-twitter-gruender-der-punkrock-stratege/56867
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Erziehung und Resilienz - Lasst Kinder Hühner schlachten!
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In unserem Dorf ist ein Vater von vier Kindern bei einem tragischen Landwirtschafts-Unfall gestorben. Sein 13-jähriger Sohn hatte noch am Unfallort mit der Reanimation begonnen, doch es war bereits zu spät. Die Geschichte könnte trauriger nicht sein. Dennoch hat sie sich zu einem Musterbeispiel für Resilienz entwickelt, und davon möchte ich heute erzählen. Alle vier Kinder waren bei mir in der Vorschule, und ich wurde in erzieherischen Fragen stets hinzugezogen. Deshalb bat mich nun die Mutter, sie und die Kinder bei der Rückkehr aus dem Krankenhaus zu besuchen. Rasch zeigte sich: Wenn es jemand schaffen würde, mit dieser Belastung umzugehen, dann diese Kinder. Sie konnten noch lachen, aber auch weinen. Einer sagte: „Wir müssen jetzt noch mehr zusammenhalten, das hätte der Papa so gewollt.“ Sie deckten wie immer den Tisch und besprachen, dass sie trotz allem am nächsten Tag wieder in die Schule gehen wollten. Sie waren besorgt, Lehrer und Mitschüler würden sich wochenlang befangen verhalten. Sie wollten einmal alles erzählen und danach in Ruhe gelassen werden. Sie planten, wie sie das vorbringen würden. Dem ältesten Buben hatten die Ärzte ausführlich erklärt, dass er nichts versäumt, sondern der Familie zwei Tage zum Abschiednehmen verschafft hatte. Kurz, sie akzeptierten das Unveränderliche und ließen ihre Trauer zu, aber sie kümmerten sich auch darum, die handhabbaren Probleme aus eigener Kraft zu lösen. Gleichzeitig kamen immer wieder Nachbarn und brachten Essen, Tees und gute Wünsche. Der Bürgermeister stand mit einem Stapel Pizzen vor der Tür. Für alle Besuche im Krankenhaus hatten sich Freiwillige gefunden, die der Familie als Taxi dienten, auch den Großeltern, Onkeln und Tanten. So musste niemand riskieren, seelisch aufgewühlt Auto zu fahren. Das Netzwerk war da, und die Mutter hatte es völlig richtig genutzt. Der Pfarrer hatte gemeinsam mit den Kindern am Krankenbett gebetet, und als zwei Tage später die erste Andacht stattfand, in der die Trauernden Gott ihr Leid klagten, standen die Leute dicht gedrängt bis zur Tür. Das alles sind Bausteine von Resilienz. Resilienz bedeutet in der Materialkunde, dass ein Stoff auch nach extremer Spannung wieder in seinen Ursprungszustand zurückkehrt, anstatt zu zerbrechen. Psychologisch bedeutet Resilienz Widerstandsfähigkeit gegen seelische Belastungen. Sie ähnelt sehr stark dem Modell des „Inneren Halts“ von Paul Moor, dem Vater der Heilpädagogik. Wer resilient ist und inneren Halt besitzt, wird nicht von seinen Stimmungen und dem Lust-Unlust-Prinzip beherrscht. Er kann sich mit dem Willen beherrschen, kann auswählen, wovon er sich ansprechen lässt, ist nicht verzärtelt. Weil Reichtum eher zu Verwöhnung führt, sind arme Kinder manchmal resilienter als reiche. Die Erzieher von resilienten Kindern haben klare Regeln und Werte, in deren Dienst das Kind seine Fähigkeiten zu stellen lernt, auch wenn das mit Unlust verbunden ist. Es kann ihnen vertrauend gehorchen, nicht aus Angst. Und es findet eine Umgebung vor, der ästhetische, soziale und ethische oder religiöse Gehalte etwas bedeuten. Es wird also von Menschen erzogen, die nicht oberflächlich sind, Liebe und oft auch Glauben haben. Diese „weit entwickelte Empfänglichkeit des Gemüts“ der Erzieher nennt Paul Moor die „Heimat“ des Kindes, und wenn ein Kind „Heimat“ hat, ist es seelisch stärker. Einerseits macht die Erfahrung, Hilfe von Mitmenschen zu bekommen, Kinder resilienter. Tiefe Liebe zu den Eltern und eine gute Bindung sind wesentliche Faktoren für Resilienz. Das darf man andererseits nicht mit einer Erziehung zur Überempfindlichkeit verwechseln, die jeder emotionalen Regung enorme Bedeutung beimisst. Im Gegenteil: Eine sichere Bindung erlaubt Kindern, Unlust auszuhalten, sich entspannt von den Eltern zu trennen und später wieder fröhlich zu ihnen zurückzukehren, z.B. im Kindergarten. Wer hingegen jeder Laune seines Kindes nachgibt und Angst hat, ihm Unlust zu bereiten, schwächt sein Kind. Resiliente Kinder können Unlust aushalten und sich selbst regulieren, also beherrschen. Ihnen wird ein gesundes Maß an Verantwortung übertragen, das heißt, man mutet ihnen Aufgaben zu, bei denen sie mit Anstrengung eine etwa 80-prozentige Chance haben, sie zu bewältigen. Eine noch höhere Chance entfernt das Wagnis aus der Aufgabe, daran kann man nicht wachsen. Eine viel niedrigere Chance macht Misserfolg zu wahrscheinlich, auch daran kann man nicht wachsen. Diese Prinzipien gelten für vorschulisches Lernen genauso wie für alltägliche Situationen. Durch das richtige Maß an Verantwortung erleben resiliente Kinder ein hohes Maß an Selbstwirksamkeit: Weil man ihnen einiges zumutet, können sie sich einiges zutrauen. Sie wissen, dass sie sich selbst helfen können und dass Anstrengung ihnen nützt. Sie können Probleme als Herausforderung sehen, anstatt nur Angst oder Unlust zu fühlen. Vulnerable Kinder werden vor Kritik und unangenehmen Erlebnissen beschützt, anstatt zu lernen, sich mit ihnen auseinanderzusetzen. Sie können kein „dickes Fell“ entwickeln, sondern werden dünnhäutig. Ich erlebe weinerliche, tyrannische Kinder, die ihre Mutter wüst beschimpfen, weil das Badewasser ein Grad zu kalt oder zu warm ist – und die Mütter erzählen mit Stolz in der Stimme von dieser „erstaunlichen Sensibilität“. Kinder, deren Mütter mich aus dem Unterricht klingeln, um die Brotzeit auszutauschen: „Ich habe vergessen, dass heute Dienstag ist, dienstags gibt es immer eine glutenfreie Brezel mit veganem Aufstrich und Gurken, nicht Maisküchlein mit Paprika und Putenschinken. Die gibt es am Mittwoch.“ – „Aber Ihr Kind hat das nun schon, das kann es doch essen.“ – „Nein, heute nicht, heute ist ja Dienstag!“ Kinder, deren Väter mir an einem Maitag drei Flaschen Sonnencreme in die Hand drücken: eine für den Körper, eine fürs Gesicht und das Spray einmal über alles, gegen Mücken. Kinder, die unsicher gebunden mit sechs Jahren immer noch bei Mama im Bett schlafen und sie beim Hinweis, das Strichmännchen brauche Haare, anschreien „Ich wünsche, du stirbst bald! Das geht dich gar nichts an! Ich male wie ich will!“ Diese Kinder wirken manchmal stark, weil sie so starke Emotionen zeigen, aber im Grunde sind sie furchtbar schwach. Sie sind überhaupt nicht resilient, denn sie haben weder inneren noch äußeren Halt. Wie anders resiliente Kinder sind, sieht man besonders deutlich am jüngsten Kind erwähnter Bauernfamilie. Er hatte im Vorschulalter mehrere Sprachfehler und erzählt bis heute jedem, dass er dieses Problem mit mir gelöst hat. Zu seinen täglichen Übungssätzen gehörten so wunderbare Zeilen wie „As Schweinderl scheißt in’n Stoi“ für seinen Schetismus. Er ist im Fußball- und im Trachtenverein und radelt seit der ersten Klasse zuverlässig alleine zur Schule. In Bayern endet der Unterricht anfangs früh, so dass er schon vor 12 Uhr daheim ist. Er schaut dann zunächst nach seinen Schweinen. Ursprünglich hatte seine älteste Schwester sich ein Schwein zu Weihnachten gewünscht (er bekam den gewünschten Laubbläser). Sie ging mit dem Ferkel Gassi an einer roten Lacklederleine. Ein Jahr später wurde es geschlachtet – und alle Kinder aßen sein Fleisch mit Wertschätzung. Nach dem Besuch bei den Schweinen arbeitet der Kleine entweder in der Kartoffelhalle, wo er Kartoffeln in Säcke packt und abwiegt, oder er mäht. Schon mit fünf Jahren, als er kaum an die Pedale reichte, konnte er mit dem großen Aufsitzmäher ein 1000-Quadratmeter-Grundstück säuberlich mähen. Einen Fernseher gibt es daheim nicht, aber immer samstags ist Kinoabend mit dem Beamer. Sonntags wird ministriert in der Dorfkirche, und danach gibt es Schweinsbraten mit Knödel. Seine Mama ist Hauswirtschaftsmeisterin und Prüferin bei der IHK. Der große Esstisch ist gleichzeitig ihr Büro und Ort für die Hausaufgaben der Kinder, die übrigens alle ein Instrument spielen und in mindestens einem Verein engagiert sind. Schon während sie mit dem Jüngsten schwanger war, erstellte ich mit ihr einen Schlaf-, Still- und Stallplan, denn ein großer Hof erfordert viel Organisation. Die Kinder schlafen selbstverständlich in ihren eigenen Zimmern im eigenen Bett. Wer morgens um fünf aufstehen und bis abends hart arbeiten muss, käme nie auf die Idee, die notwendige Nachtruhe und die wöchentliche Date-Night durch ein Familienbett zu ruinieren. Das prägt. Neulich echauffierte der Bub sich über einen Mitschüler, den die Mama mit dem Auto an der Schulbus-Haltestelle abholt: „Die 200 Meter kann er doch laufen! Die Mama wartet da zehn Minuten auf ihn, wenn sie von der Arbeit kommt. Ich würde ja an ihrer Stelle nach Hause fahren und in der Zeit eine Wäsche anstellen!“ Bei solchen Sätzen bekämen viele Mütter aus dem Neubaugebiet Schnappatmung. Wie auch ein paar Kinder in der Vorschulgruppe, als ich fragte „Was habt ihr denn am Wochenende gemacht?“ und seine stolze Antwort war: „Ich hab mit dem Papa mein erstes Huhn geschlachtet!“ Ich bin überzeugt, dass ihm auch das hilft, den Tod seines Vaters zu verarbeiten. Leben und Sterben wurden nie von ihm ferngehalten, im Gegenteil: Sein Vater hat ihn angeleitet, damit umzugehen, dass der Tod zum Leben gehört. Und das macht meinen kleinen Traktorfahrer resilienter als fanatischer Veganismus und Lastenräder.
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Miriam Stiehler
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Wer Angst hat, seinem Kind Unlust zu bereiten, schwächt es. Erst durch das richtige Maß an Verantwortung erleben Kinder ein hohes Maß an Selbstwirksamkeit: Weil man ihnen einiges zumutet, können sie sich einiges zutrauen.
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[
"Erziehung",
"Bildung"
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kultur
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2024-05-30T13:35:49+0200
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2024-05-30T13:35:49+0200
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https://www.cicero.de//kultur/erziehung-und-resilienz-lasst-kinder-huhner-schlachten
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Christian Wulff in Saudi-Arabien - Der falsche Aushilfs-Trauergast
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Vielleicht sollten die Unionsparteien erst einmal eine Islamkonferenz in eigener Sache einberufen. Dort könnten sie dann ganz unter sich nicht einfach nur klären, ob der Islam zu Deutschland gehört (Merkel, Wulff) oder vielleicht doch nicht so richtig zu Deutschland gehört (Kauder, Bosbach und viele andere) und was es für Sachsen im Speziellen bedeutet, wenn der Islam nach Meinung des örtlichen Ministerpräsidenten nicht zum Freistaat gehört, Sachsen aber wiederum mindestens so sehr zu Deutschland gehört wie der Islam (also aus Sicht der Bundeskanzlerin). Sondern die Damen und Herren von CDU und CSU könnten bei dieser Gelegenheit endlich auch einmal ein bisschen näher definieren, was unter dem ominösen „Gehört zu“ im Hinblick auf den Islam eigentlich zu verstehen ist. Das wäre schon mal ein echter Fortschritt, weil dann anstatt des situativen Hinausblökens populistischer Parolen zumindest so etwas wie eine Diskussionsgrundlage geschaffen wäre. Wobei ich inzwischen nicht mehr ausschließen möchte, dass die Union eine solche Debatte überhaupt nicht will, weil sie sich ihr nicht gewachsen fühlt. Dabei ist es ganz so schwierig eigentlich nicht. In Deutschland leben heute nicht nur viele Muslime, viele von ihnen sind auch Deutsche. Schon diese einfache Tatsache stellt unmissverständlich klar, dass der Islam zu Deutschland „gehört“. Wer sie in Zweifel zieht, müsste konsequenterweise alle nichtdeutschen Muslime unverzüglich außer Landes weisen und alle anderen einer Zwangskonversion unterziehen. Die Absurdität dieser Vorstellung spricht für sich. Übrigens „gehört“ nach dieser rein deskriptiven Lesart natürlich auch der Salafismus zu Deutschland – zumindest, solange es hierzulande Salafisten gibt. Es gehört eben so einiges zur Bundesrepublik, was vielen nicht passt. Das haben große und moderne Gemeinwesen aber so an sich. Den Ausgangspunkt für die inzwischen grassierende „Gehört-zu“-Huberei markierte ja bekanntlich der frühere Bundespräsident Christian Wulff, als er seinen berühmten Satz bei einer Rede zur Deutschen Einheit im Oktober 2010 erstmals aussprach. Darauf ist er heute noch mächtig stolz, obwohl die Terminologie schon damals ziemlich in die Irre führte. Er hätte ja auch einfach sagen können, dass alle Muslime, die im Einklang mit unserer Rechtsordnung bei uns leben, unsere gerngesehenen Mitbürger sind. Aber das hätte wahrscheinlich nicht staatstragend genug geklungen. Stattdessen also das apodiktische „der Islam gehört inzwischen auch zu Deutschland“ – eine Sentenz, die viel zu große Interpretationsspielräume lässt, um auf Dauer befriedend zu wirken. Denn tatsächlich enthält sie nicht nur eine deskriptive, sondern auch eine konstitutive Ebene. Christian Wulff aber hat seither keine allzu großen Anstrengungen unternommen, einen Erläuterungskatalog hinterherzuschicken. Und nicht nur das: Die Union ist auch noch so dumm, diesen Satz jetzt entweder wortgleich wieder hervorzukehren oder aber ausdrücklich zu negieren. Manchmal muss man sich wirklich fragen, ob eigentlich der Verstand zur CDU gehört. [[{"fid":"64669","view_mode":"copyright","type":"media","attributes":{"height":253,"width":345,"style":"margin: 7px 3px; float: left; width: 280px; height: 205px;","class":"media-element file-copyright"}}]]Die eigentliche Pointe allerdings ereignete sich dieser Tage in Saudi-Arabien – jenem Königreich also, das wie kein anderes für die menschenrechtsverachtende, intolerante, brutale, zynische, terrorexportierende Form einer islamischen Staatsreligion steht. Kein anderer als Christian Wulff höchstpersönlich war es, der dort den kondolierenden Grüßaugust aus Deutschland gab, weil Angela Merkel und Joachim Gauck sich aus naheliegenden Gründen unpässlich fühlten. Nein, niemand hatte Wulff dazu gezwungen, der Trauerfeier für den saudischen König Abdullah beizuwohnen. Dass er sich dennoch nicht lange von der Kanzlerin bitten ließ und dort aufkreuzte – und damit einem Islam seine Reverenz erwies, wie er Deutschland wirklich erspart bleiben möge –, zeigt nicht nur den Geltungsdrang dieses ehemaligen Staatsoberhaupts. Christian Wulffs peinliche Mission als Aushilfstrauergast macht vor allem deutlich, wie wenig ihm offenbar seine eigene Ansprache wert ist. Anstatt sich dem rückständigen Mittelalter-Islam saudischer Prägung anheischig zu machen, hätte er ja auch ein Zeichen setzen können, welcher Islam seiner Ansicht nach zu Deutschland gehört. Und welcher eben nicht. Diese Chance hat er ohne Not vertan. Gut, dass Christian Wulff nicht mehr Bundespräsident ist. Er war diesem Amt offenbar wirklich nicht gewachsen.
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Alexander Marguier
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Welcher Islam gehört zu Deutschland? Christian Wulff hätte es wissen müssen. Stattdessen absolvierte er einen peinlichen Auftritt ausgerechnet in Saudi-Arabien
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innenpolitik
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2015-01-29T13:10:41+0100
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2015-01-29T13:10:41+0100
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https://www.cicero.de//innenpolitik/christian-wulff-der-aushilfs-trauergast/58801
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Leibniz' Vision der Moderne – Der Garten des Philosophen
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Mit dem Herrenhäuser Garten ließ sich prunken, seine Größe und
Pracht übertraf die des zugehörigen Schlossgebäudes bei Weitem.
Während die Konkurrenten in Berlin ein Barockschloss bauten, wie es
in Norddeutschland kein zweites gab, konzentrierten sich die Welfen
auf die Gartengestaltung. Nachdem Herzog Ernst August 1692 die
lange erstrebte Kurfürstenwürde erlangt hatte, wurde das Gelände
nach Süden hin verdoppelt, 1710 umfasste die damals weitgehend
vollendete Anlage mit 200 Hektar so viel Fläche wie die Stadt
Hannover mit ihren rund zehntausend Einwohnern. Gottfried Wilhelm
Leibniz plante Wasserspiele „so gut als zu Tivoli oder Frascati, ja
Dinge so sie zu Versailles selbst nicht haben“. Der Kunsthistoriker Horst Bredekamp hat die zum großen Teil
unveröffentlichten Briefe und Zeichnungen aus der Planungszeit des
Großen Gartens gemustert und erzählt in gedrängter Form die
Geschichte des Gartens, vor allem der Projekte von Leibniz, die wie
so vieles, was der atemberaubend vielseitige Gelehrte unternahm,
zunächst scheiterten. Als die Probleme mit dem Wasserdruck gelöst
waren und die Fontäne 1720 höher hinaufschoss als jede andere in
Europa, war der Ideengeber, der dem ehrgeizigen Unternehmen
vorgedacht und zahlreiche detaillierte Vorschläge ausgearbeitet
hatte, schon vier Jahre tot. Seine Absicht, durch technische
Spitzenleistungen dem Herrenhäuser Garten eine einzigartige
Stellung unter den Gärten der Zeit zu sichern, wurde erreicht. [gallery:Der Charme der Boutique-Hotels] Intellektuell aufregend ist dieses Buch, weil Bredekamp uns die
Augen für Schönheit und Anspruch des barocken Gartens öffnet. Unser
Vergnügen an den exakten Linien der Bosketten, an Wasserspielen,
Heckentheatern und den allegorischen Dekorationen ist oft
begriffslos. Eine Legende verschattet das Bild, eine Legende, die
im 18. Jahrhundert entstand und allzu lange bereitwillig tradiert
wurde. Sie verkoppelt Herrschaftsform und Garten, wobei der
„französische Garten“ dem Absolutismus, der „englische“, sich
scheinbar den schönen Unregelmäßigkeiten der Natur anbequemende,
der Freiheit, dem bürgerlichen Zeitalter zugeordnet wird. In diesem
dichotomen Geschichtsbild erscheinen die beschnittenen Bäume und
Hecken der Willkür des Einen unterworfen, während die sanften
Abwechslungen, geschlängelten Wege und unauffälligen Begrenzungen
allein das freie Spiel der Einbildungskraft unterhalten sollen.
Dass diese suggestive Gegenüberstellung den tatsächlichen
Entwicklungen nicht entspricht, haben jüngere Forschungen gezeigt.
Horst Bredekamp geht einen Schritt weiter. Er liest den
Herrenhäuser Garten mit Leibniz und findet in ihm, was dem
Barockgarten nie recht zugestanden wurde: „die Freiheit des
Individuellen“. Seite 2: Das Zerrbild des Barockgarten
dekonstruieren In seinen „Nouveaux Essais“ erzählt Leibniz, wie eine „hohe
Fürstin von feiner Geistigkeit“ während eines Spaziergangs durch
den Garten sagte, „sie glaube nicht, dass es zwei vollkommen
gleiche Blätter gäbe“. Ein Edelmann, der sie widerlegen wollte,
suchte, staunte, suchte weiter und fand doch stets Unterschiede
zwischen zwei verschiedenen Blättern. Auf einem Kupferstich des
Königsbusches und des Galeriegebäudes aus dem Jahr 1725 sind die
Linien so gerade gezogen wie möglich. Wer mit Bredekamp genauer
hinschaut, erkennt jedoch, dass die Formen der einzelnen Blätter
sich nicht wiederholen. So sei die Bildsprache des Barock, laut
Bredekamp, nicht allein auf „Symmetrie und Geometrie“
zurückzuführen: „Im Detail entfaltet sich vielmehr eine freie
Variabilität, die um so stärker wird, je mehr sie durch gerade
Linien begrenzt wird.“ Regel und „infinite Autonomie“ stehen
einander also nicht unvereinbar gegenüber, sondern gehören
zusammen, bedingen einander. Beider Zusammen- und Wechselspiel
inszeniert der Große Garten in Herrenhausen. [gallery:Literaturen: Die beste Belletristik der Buchmesse
Leipzig 2012] Als Philosoph hat Leibniz Begriffe der Gartenkunst zur
Beschreibung der Natur genutzt, und Bredekamp nutzt nun Leibniz, um
das Zerrbild vom Barockgarten zu dekonstruieren und zu zeigen, wie
hier die „Dynamik alles Natürlichen“ erscheint. Dabei spielen
kleinste Abweichungen – der Herrenhäuser Garten ist nicht
rechtwinklig – ebenso eine Rolle wie eine scheinbar rasch
hingeworfene Zeichnung auf der letzten Seite eines Briefkonzepts.
Neben die Harmonie von Mikro- und Makrokosmos tritt mit der Neigung
der Gartenwege „jene systematische Abweichung, ohne die keine
Individualität zu denken war“. Die einzelnen Formen sind also nicht
dem einen Willen unterworfen oder vom absoluten Herrscher
gebändigt. Sie zeigen dank innerer Vielfalt und verschachtelter
Entfaltung die unendlichen Möglichkeiten. Abschließende
Überlegungen zur „Modernität des Barockgartens“ lösen diesen
endgültig aus dem starren Geschichtsmodell. Wer die Anstrengung
nicht scheut, entdeckt dank dieses klugen Buches den Großen Garten
von Herrenhausen als ein mögliches Bild der Moderne. Horst Bredekamp
Leibniz und die Revolution der Gartenkunst
Wagenbach, Berlin 2012.
176 S., 29,90 €
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Wie Gottfried Wilhelm Leibniz in Hannover die Idee der Moderne inszenierte: Darüber schreibt Horst Bredekamp in seinem Buch „Leibniz und die Revolution der Gartenkunst“. Ein mögliches Bild der Moderne
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kultur
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2012-12-16T12:06:47+0100
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2012-12-16T12:06:47+0100
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https://www.cicero.de//kultur/der-garten-des-philosophen/52651
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TTIP-Abkommen - Die EU sollte mit dem Abbruch der Verhandlungen drohen
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Eigentlich hat Cecilia Malmström allen Grund sich zu freuen. Denn die Dokumente, die Greenpeace in der Causa TTIP durchgestochen hat, stärken die europäische Verhandlungsposition. Sie zeigen, dass es die Amerikaner sind, die sich nicht bewegen – weder bei den Schiedsgerichten für Investoren (ISDS), noch bei der Öffnung der öffentlichen Beschaffungsmärkte oder gar beim für Europa heiligen Vorsorgeprinzip in der Lebensmittelsicherheit – Stichwort Gentechnik. Seht her, wir sind die Guten, doch leider spielen die Amerikaner nicht mit, könnte Malmström nun sagen. Den öffentlichen Aufschrei in Deutschland, Frankreich und anderen EU-Ländern könnte die liberale Schwedin sogar als Hebel nutzen, um die USA unter Druck zu setzen. Wenn ihr uns nicht endlich entgegenkommt, dann wird es leider keinen TTIP-Deal geben, könnte Malmström sagen. Vor allem in Paris würde man das gerne hören. Gerade erst hat der französische Außenhandels-Staatssekretär Matthias Fekl verbal aufgerüstet. Die USA müssten Frankreich bei den Themen Gesundheit und Umweltschutz entgegenkommen und französische Spezialitäten wie Champagner oder Rohmilchkäse anerkennen, heißt es in Paris. Wenn sich die Amerikaner nicht bewegen, sei der Stopp der TTIP-Verhandlungen die „wahrscheinlichste Option“, so Fekl. Mit dem Abbruch drohen, um Fortschritte zu erzwingen – das gehört genauso zur Verhandlungstaktik wie die Formulierung von Maximalforderungen, wie sie in den Greenpeace-Leaks nachzulesen sind. Die Amerikaner wissen das, und sie nutzen es: Aus ihrer Sicht besonders heikle Fragen wie die Öffnung des US-Automarkts für europäische Hersteller haben sie für das „Endspiel“ der TTIP-Runde reserviert – und an Bedingungen gebunden. Warum macht es Malmström nicht genauso? Warum nutzt die EU die Leaks nicht als Druckmittel? Dafür gibt es mehrere Gründe. Der erste lautet, dass sich die Europäer in Widersprüche verwickeln. Auf keinen Fall werde man mit den USA über die Zulassung von Genfood oder über die Absenkung von Schutzstandards verhandeln, hatte Malmström versprochen. „Beim Handel geht es nicht einfach nur um unsere Wirtschaftsinteressen, sondern auch um Wertvorstellungen“, betont sie. Die Enthüllungen zeigen ein anderes Bild. Sie zeigen, dass die Amerikaner kräftig an den europäischen Standards rütteln und sogar das Vorsorgeprinzip in der Landwirtschaft aushebeln wollen. Sie zeigen, dass die USA weder beim Arbeitnehmerschutz noch im Streit um private Schiedsgerichte für Investoren kompromissbereit sind. Letztlich belegen sie, dass sich die Europäer in diesen zentralen Themen die Zähne ausbeißen. Der zweite Grund hat mit Vertrauen zu tun. Malmström muss nicht nur das Vertrauen der Europäer gewinnen – sie muss auch das Vertrauen der Amerikaner bewahren. Die Veröffentlichung geheimer US-Positionen ist aber alles andere als eine vertrauensbildende Maßnahme. In der EU-Kommission wird deshalb die Sorge laut, die Amerikaner könnten künftig noch kompromissloser auftreten und Brüssel für die Leaks „bezahlen“ lassen. Dahinter steht eine zaghafte, ja ängstliche Verhandlungsführung. Mangels Rückhalt an der „Heimatfront“ ist es Malmström und ihrem Chefunterhändler Ignacio Garcia Bercero nie gelungen, bei den TTIP-Gesprächen in die Offensive zu gehen. Selbst beim heiklen Thema der privaten Schiedsgerichte musste Malmström zum Jagen getragen werden – vom deutschen Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel und anderen Sozialdemokraten. Letztlich verhandelt die EU aus einer Position der Schwäche heraus. Auch dies haben die TTIP-Leaks offenbart. Während die Europäer unter Eurokrise und politischer Zerstrittenheit leiden, haben die Amerikaner längst Fakten geschaffen: Mit dem Transpazifischen Freihandelsabkommen TPP. Dieses Abkommen nutzen die USA nun als Muster, an dem sich auch TTIP orientieren soll. Der Asien-Pazifik-Raum ist für sie wichtiger als Europa. Dies ist vielleicht die bitterste Einsicht für Malmström, Gabriel & Co. Schließlich haben sie bisher stets behauptet, Europäer und Amerikaner würden in TTIP gemeinsam einen neuen globalen „Goldstandard“ für den Freihandel setzen. In Wahrheit haben die Amerikaner diesen Standard längst vorgegeben – mit Ländern wie Australien, Chile oder Vietnam. Und das lassen sie Europa nun spüren, indem sie sich immer wieder auf TPP berufen und europäische Forderungen abblocken. Durchbrechen lässt sich diese Blockade nur, wenn die Europäer einen Gang zurückschalten. Statt einen Abschluss noch unter dem scheidenden Präsidenten Barack Obama zu fordern, sollten sie das Schicksal von TTIP offen halten – und sich nach alternativen Partnern umsehen. Statt die Greenpeace-Leaks zu beklagen, sollten sie ehrlicher und mutiger auftreten. Es geht um die Kunst, eine Schwäche in eine Stärke zu verwandeln, aus der Defensive heraus einen Konter zu starten. Bisher spricht allerdings wenig dafür, dass Malmström diese Kunst beherrscht.
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Eric Bonse
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Die TTIP-Leaks zeigen, dass die EU beim Freihandel mit den USA in die Defensive geraten ist. Doch das müsste nicht sein – wenn Brüssel ehrlicher und mutiger wäre
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[
"TTIP",
"Freihandelsabkommen",
"USA"
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wirtschaft
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2016-05-04T11:32:22+0200
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2016-05-04T11:32:22+0200
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https://www.cicero.de/wirtschaft/ttip-abkommen-die-eu-sollte-mit-dem-abbruch-der-verhandlungen-drohen
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US-Wahl – Was erklärt Mitt Romneys Erfolg?
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Noch 12
Tage – und am 6. November wählen die USA ihren Präsidenten:
Cicero-Online-Korrespondent Malte Lehming berichtet zu diesem
Anlass in einem Countdown über besondere Ereignisse und
Kuriositäten während des Wahlkampfs. Mitt Romney ist erforscht. Er stammt aus vermögenden
Verhältnissen, wurde gepampert, verdiente als Hedgefonds-Manager
seine Millionen damit, andere Menschen in den Ruin getrieben zu
haben; er ist ein skrupelloser, wendehalsiger Populist, latent
frauenfeindlich, streng religiös, sozialdarwinistisch, eine
Marionette in der Hand des Großkapitals, prüde, konservativ, in
Fragen von Geographie und Außenpolitik komplett ahnungslos. So oder ähnlich denkt es in vielen Europäern. Das Bild mag
überzeichnet sein, aber in seinen wesentlichen Zügen entspricht es
dem Klischee. Folglich müsste der Republikaner bereits demaskiert
am Boden liegen, die Waffen strecken und einpacken. Das erste
TV-Duell gegen Präsident Barack Obama mag er noch gewonnen haben,
aber dann wurden er und sein Vize Paul Ryan in den drei folgenden
Debatten restlos entzaubert und rhetorisch an die Wand
gedrückt. [gallery:Wer ist Mitt Romney? Ein Kandidat zwischen Fettnäpfchen
und Hoffnungsträger] Wir erinnern uns: Da war der lächerliche Angriff Romneys auf
Bibo aus der Sesamstraße, der „Ordner voller Frauen“, ein Iran, der
an Syrien grenzt, die Sache mit den Pferden und Bajonetten. Kein
Fettnapf, in das Romney nicht mit beiden Händen lustvoll greift.
Keine Steilvorlage, die Obama gegen ihn nicht mühelos verwandelt.
Ginge es gerecht und vernünftig zu auf dieser Welt, müssten
Amerikas Konservative aus Scham vor sich selbst die Wahl vorzeitig
verloren geben. Die Realität sieht ein wenig anders aus. Im Durchschnitt der
nationalen Umfragen führt Romney derzeit knapp vor Obama. In den
letzten fünf Umfragen liegt der Herausforderer mit 4 (Rasmussen), 1
(ABC/Washington Post), 3 (Gallup) und 3 (Monmouth) Punkten vorn,
lediglich bei IBD/Tipp führt Obama mit 3 Punkten Abstand. Der Trend
hat sich längst auf einige der entscheidenden Swingstates
übertragen. Zumindest ist das Rennen offen, ein Sieg Romneys am 6.
November ist ebenso möglich wie ein Sieg Obamas. Woran liegt
das? Wer sich an Klischees klammert, kommt kaum umhin, eine Hälfte
Amerikas für verrückt, fanatisch, unbelehrbar, rassistisch,
ideologisch, verführbar und/oder dumm zu erklären. Rationale Motive
scheiden jedenfalls aus. Vielleicht stimmt aber auch das Narrativ
nicht. Versuchen wir eine Erklärung. Erstens: Obamas innenpolitische Bilanz nach vier Jahren ist
dürftig. Rekordverschuldung, weiterhin hohe Arbeitslosigkeit,
geringes Wachstum, sinkende Haushaltseinkommen. Viele der Probleme
hat er von George W. Bush geerbt, aber das entlastet ihn offenbar
nicht vollständig. Der Versuch der Demokraten, durch eine massive
Negativkampagne gegen Romney von dieser Bilanz abzulenken, ging
nicht auf. Durch betonte Moderation seiner selbst gelang es dem
Herausforderer, sich als wählbare Alternative zu inszenieren. Seite 2: Der Terror in Bengasi war Thema im
TV-Duell Zweitens: Im Fall „Bengasi“ (Erstürmung des amerikanischen
Konsulats und Ermordung des US-Botschafters am 11. September) hat
sich für die Regierung im Bereich Außen- und Sicherheitspolitik
eine verwundbare Flanke geöffnet, in die die Opposition täglich neu
ihre Spieße stößt. Wer wusste wann was? Etliche Widersprüche türmen
sich auf. Obama sagte in der zweiten TV-Debatte, bereits am 12. September
habe er von einem „Terrorakt“ gesprochen. Das tat er zwar, aber
entgegen seiner Implikation nicht explizit in Bezug auf Bengasi.
Der Sprecher des Weißen Hauses sowie UN-Botschafterin Susan Rice
hielten ohnehin bis zum 28. September an der Version fest, Ursache
der Gewalt sei das Youtube-Video „The Innocence of Muslims“. Am
Dienstag nun berichtete die Nachrichtenagentur Reuters, das Weiße
Haus sei vom Außenministerium bereits am Abend des 11. Septembers
über den terroristischen Hintergrund informiert worden. Demnach
heißt es in einer Email, die um 18 Uhr 07 Ortszeit versandt wurde,
„Update 2: Ansar al-Sharia Claims Responsibility for Benghazi
Attack“. Drittens: Amerikaner achten auf Takt, Höflichkeit und Zivilität.
Öffentliche Pöbeleien ihrer Repräsentanten mögen sie nicht.
Außerdem haben sie, jenseits von Spott und Hohn, ein gutes Gespür
für Relevanz. Deshalb war die Bibo-Kampagne Obamas im Anschluss an
Romneys Bemerkung nicht nur ein Flop, sondern ging nach hinten los.
Viele fragten sich: Hat diese Administration wirklich kein
wichtigeres Thema, als das Überleben einer Figur aus einer
Kindersendung sichern zu wollen? [gallery:Game Changer – die Patzer des US-Wahlkampfs] Dann ist da die Sache mit den „Pferden und Bajonetten“, durch
die Obama in der letzten TV-Debatte versucht hatte, Romneys Eignung
als Oberkommandierender in Zweifel zu ziehen und diesen selbst
lächerlich zu machen. Am Mittwoch schrieb
„Washington-Post“-Kolumnistin Kathleen Parker, Obama habe Romney in
diesem Moment wie ein Kind behandelt. Mit anderen Worten:
überheblich und belehrend. Das mag den eigenen Anhängern vergnügtes
Schenkelklopfen bereitet haben, stieß aber jene noch
unentschiedenen Wähler ab, die beim Präsidenten auch auf die
Etikette achten. Diese Analyse ist keine Wahlempfehlung für Romney (das muss man
leider betonen). Sie ist lediglich ein Versuch, dessen
aktuelle Umfragewerte anders zu erklären als durch Begriffe wie
Irrationalität, Ungerechtigkeit, Rassismus oder Bestechung. Wer
demokratische Politik an sich nicht schon für unheilbar korrupt und
manipulierbar hält, sollte sich um solche Erklärungen bemühen.
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Mitt Romney ist nicht zu stoppen: Während ihm zu Beginn des Rennens mit Barack Obama wenig Chancen eingeräumt wurden, steigen diese immer weiter. Er hat eine entscheidende Wende im Wahlkampf geschafft. Nur wie?
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außenpolitik
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2012-10-25T14:21:33+0200
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2012-10-25T14:21:33+0200
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https://www.cicero.de//aussenpolitik/was-erklaert-mitt-romneys-erfolg/52326
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Nach Anschlag in Magdeburg - Versagen der Behörden im Fokus
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Nach dem Anschlag in Magdeburg gewinnt die Debatte um mögliche Fehler von Behörden und Polizei an Fahrt. Während in der sachsen-anhaltischen Landeshauptstadt vor allem das Sicherheitskonzept des Veranstalters zum Schutz des Weihnachtsmarkts und das Agieren der Polizei auf dem Prüfstand stehen, richtet sich der Blick in Berlin auch auf Konsequenzen in der Migrationspolitik. Unions-Kanzlerkandidat Friedrich Merz forderte ein härteres Vorgehen gegen Täter mit Migrationshintergrund. „Wir sind im Umgang mit den Feinden unserer Demokratie einfach nicht konsequent genug. Wir dulden zu viele Menschen in Deutschland, die sich nicht integrieren wollen“, schreibt der CDU-Chef in seinem E-Mail-Newsletter „MerzMail“. Ausweisungen müssten auch möglich sein, wenn keine Straftatbestände festgestellt seien, verlangte Merz. Der Täter von Magdeburg scheine ein besonders aggressiver Islam-Gegner zu sein, schrieb Merz. Es würden auch mit diesem Täter offensichtlich Konflikte auf deutschem Boden ausgetragen, die man nicht dulden könne. Leitsatz müsse sein: „Wir wollen solche (potenziellen) Straftäter nicht in unserem Land haben!“ Merz erinnerte an die Vorgeschichte des Mannes, der wegen Drohungen vorbestraft war. „Warum werden wir solche Leute nicht los, bevor sie großes Unheil anrichten? Es mag sein, dass die bisherige Rechtslage das nicht hergibt. Aber dann müssen diese gesetzlichen Regelungen eben geändert werden!“ Kanzler Olaf Scholz (SPD) machte im Interview mit dem Nachrichtenportal t-online deutlich, dass er eine Aufarbeitung des Handelns der Behörden vor dem Anschlag erwartet. „Offensichtlich gab es über die Jahre immer wieder Hinweise auf den Mann. Meine Erwartung ist klar: Jetzt muss sehr genau geprüft werden, ob es Versäumnisse bei den Behörden in Sachsen-Anhalt oder auf Bundesebene gegeben hat. Da darf es keine falsche Zurückhaltung geben.“ In Magdeburg wird dazu das Sicherheitskonzept und damit auch die Absicherung von Flucht- und Rettungswegen untersucht. „Es wird aufgearbeitet, ob diese Maßnahmen vom Veranstalter umgesetzt worden sind und wenn nicht, warum nicht. Gleiches gilt für die polizeiliche Einsatzkonzeption“, sagte eine Sprecherin des Innenministeriums. Der Täter Taleb A., der sich in Untersuchungshaft befindet, war am Freitag vergangener Woche mit einem Auto über den Weihnachtsmarkt gerast. Dabei wurden fünf Menschen getötet und bis zu 235 verletzt. Der Mann aus Saudi-Arabien war zwischen einer Fußgängerampel und einer Betonblocksperre hindurchgefahren. Bei den Ermittlungen geht es nun um viele Details. „Der Abstand zwischen Fußgängerampel und Betonblocksperre betrug zu beiden Seiten der Fußgängerampel jeweils rund sechs Meter“, teilte das Innenministerium mit. „Es muss nun aufgearbeitet werden, ob das Sicherheitskonzept des Veranstalters des Weihnachtsmarkts so große Lücken in den Betonblocksperren an Fußgängerübergängen vorgesehen hat.“ Zudem gehe es darum, wieso Flucht- und Rettungswege – entgegen dem Sicherheitskonzept des Veranstalters – nicht mit Stahlketten gesichert gewesen seien. „Solche Stahlketten sollten Betonblocksperren auf größere Entfernung verbinden. Sie sollten das flexible Öffnen für Durchfahrten von Rettungskräften und Feuerwehr ermöglichen“, so das Innenministerium. Neben den Ermittlungen zum Anschlag wird auch nach möglichen Fehlern in der Polizeiarbeit gesucht. Laut dem Innenministerium sah die Einsatzkonzeption neben Präsenzstreifen auch Fahrzeuge mit Eingreifkräften an vier Standorten um den Weihnachtsmarkt vor. „Die Standorte waren nicht dafür vorgesehen, Gehwege oder Zugänge zum Weihnachtsmarkt permanent zu versperren und nur für Rettungskräfte und Feuerwehr zu öffnen“, hieß es. Durch die Positionierung in der Nähe von einigen Zugängen zum Weihnachtsmarkt sollte demzufolge die Möglichkeit bestehen, gegebenenfalls mobile Sperren errichten zu können. Doch nach dem jetzigen Stand der Aufarbeitung befand sich ein Fahrzeug in einer Parkbucht für Taxen und damit nicht an dem vorgesehenen Standort. «Warum dies so war, ist Gegenstand der weiteren Aufarbeitung», so eine Sprecherin des Innenministeriums. Unterdessen hat der Abbau des Magdeburger Weihnachtsmarkts begonnen. Händler und Fahrgeschäftsbesitzer luden ihre Hütten und große Einzelteile auf Anhänger. Nur wenige Meter entfernt legten viele Menschen auch eine Woche nach dem Anschlag weiterhin Blumen, Kerzen und Kuscheltiere im Gedenken an die Opfer ab. Der Bundesopferbeauftragte Pascal Kober erklärte, zahlreiche Betroffene des Anschlags seien inzwischen kontaktiert worden und hätten Unterstützungsangebote erhalten. Man arbeite zudem mit Hochdruck daran, auch diejenigen Betroffenen ausfindig zu machen, die man bisher nicht kenne, so Kober. „Wir wollen ihnen sagen: Der Staat steht an ihrer Seite.“
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Cicero-Redaktion
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Wie wird die Todesfahrt in Magdeburg aufgearbeitet? Bei den Ermittlungen rücken das Sicherheitskonzept und Agieren der Polizei in den Fokus. In der Politik geht es auch um den Migrationskurs.
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"Magdeburg",
"Terrorismus",
"Migration"
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innenpolitik
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2024-12-27T16:55:05+0100
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2024-12-27T16:55:05+0100
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https://www.cicero.de//innenpolitik/nach-anschlag-in-magdeburg-versagen-der-behorden-im-fokus-
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USA - Linke Juden gegen Israel
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Vor dem israelischen Generalkonsulat in New York, an der Kreuzung von Second Avenue und East 43rd Street liegen mehr als hundert Menschen auf dem Asphalt, die Mehrzahl linke, jüdische Aktivisten. Sie halten Schilder, auf denen „Free Palestine!" steht, eine Demonstration gegen Israels Bombardement von Gaza. Kaum hat das Die-In – in der Tradition der Proteste gegen den Vietnamkrieg – begonnen, rückt auch schon die Polizei an. Zwei Dutzend Demonstranten werden festgenommen, darunter Corey Robin, Professor am Brooklyn College und Norman Finkelstein, Autor mehrerer äußerst umstrittener, israelkritischer Bücher und Sohn zweier Holocaust-Überlebender. Bald sind sie wieder draußen, aber die Proteste gehen weiter: Am nächsten Tag demonstrierten 3000 Teilnehmer am Times Square gegen die israelische Militärpolitik. Und am 29. Juli protestieren rund 70 Aktivisten vor dem Büro des Dachverbandes „Conference of President of Major American Jewish Organizations" in Midtown Manhattan, angeführt von der 23-jährigen Simone Zimmerman aus Kalifornien, die der liberalen Lobby J-Street nahesteht. „Die Befreiung von uns Juden kann nicht auf dem Rücken einer anderen Nation geschehen", sagt sie. Natürlich sind israelkritische Juden eine kleine Minderheit: Am gleichen Tag demonstrierten fast 10.000 New Yorker für Israel, organisiert vom United Jewish Appeal. Aber trotzdem. Etwas beginnt sich zu verändern. Es gibt immer mehr linke jüdische Aktivisten und Publizisten in den USA, die sich gegen die israelische Miltärpolitik stellen. Dazu zählen Philip Weiss, der sich als Anti-Zionist bezeichnet und das Blog Mondoweiss.com betreibt, der Autor Max Blumenthal (Sohn des Clinton-Beraters Sidney Blumenthal), und Amy Goodman vom TV-Programm „Democracy Now". Goodman präsentierte diese Woche Henry Siegman, den früheren Direktor des American Jewish Congress und ein orthodoxer Rabbi, der 1933 in Frankfurt am Main geboren wurde. Siegman sprach von einem „Schlachten der Unschuldigen", das von Israel provoziert worden sei, damit die Zionisten überlebten. „Dieses Interview zu sehen, ist immens wichtig, um Netanyahus Spiel zu verstehen", sekundierte MJ Rosenberg, früherer Mitarbeiter der Israellobby AIPAC, der für die Huffington Post schreibt und der ebenfalls ein harscher Kritiker Netanyahus ist. Auch liberale Publikationen wie der Jewish Forward werden zunehmend israelkritisch. Kolumnist J.J. Goldberg schrieb im Juni, wie „Politik und Lügen" den Krieg in Gaza provoziert hätten: Netanyahu habe Lügen über die drei entführten israelischen Teenager verbreitet, trotz Skepsis der israelischen Armee und des Geheimdienstes Shin Bet. Inzwischen positionieren sich auch Publikationen neu, die bisher eher pro-israelisch waren. So räumt die New York Times palästinensischen Stimmen Platz ein, wie Mohammed Amer, der israelische Angriffe auf Krankenhäuser, Schulen und Moscheen beschreibt. Und im New Yorker schreibt Rashid Khalidi, Professor für arabische Studien an der New Yorker Columbia Universität, über eine „kollektive Bestrafung" der Palästinenser, weil Gaza sich weigere ein „braves Ghetto" zu sein. „Es geht nicht um Raketen oder Tunnel, sondern um eine permanente israelische Kontrolle über das Land und die Leben der Palästinenser", so Khalidi. Noch bemerkenswerter: David Remnick, Chefredakteur des New Yorker und selbst jüdischen Glaubens, beklagte das „israelische Blutvergießen" in Gaza, besonders gegen Kinder. Sogar die New Republic, lange fest im Lager der Neocons, kommentierte kürzlich, Israel verhalte sich wie eine Kolonialmacht. Das spiegelt in gewisser Weise einen Dissenz wider: Die Mehrheit der Juden in Amerika sind Demokraten, während die jüdischen Institutionen zunehmend konservativ werden. Das alleine sagt zwar noch nicht viel: Demokraten unterstützen Israel genauso wie Republikaner. In der Mehrheit sind Amerikaner eher israelfreundlich: Nach einer Umfrage des Pew Research Center sehen eine relative Mehrheit der Amerikaner — 40 Prozent — Hamas als Schuldige im Konflikt und nur 19 Prozent Israel. Das gilt um so mehr für ältere, konservative Weiße und Bible-Belt-Protestanten. Bei den Republikanern sind sogar 73 Prozent auf der Seite von Israel. Bei Amerikanern zwischen 18 und 29 Jahren glauben hingegen 29 Prozent, Israel sei an dem jüngsten Konflikt schuld, und nur 18 Prozent sehen die Verantwortung bei der Hamas. Und: 35 Prozent der Hispanics sind auf der Seite der Palästinenser und nur 20 Prozent auf der Seite Israels; bei Afro-Amerikaner ist es etwa halbe-halbe. Generell steigen die Sympathien für Palästinenser zwar nicht, aber die für Israel sinken. Zu den schärfsten Kritikern des israelischen Militäreinsatzes hat sich Peter Beinart gewandelt, Journalismusprofessor an der City University of New York und liberaler Zionist. Beinart, der frühere Chefredakteur der New Republic, unterstützt heute den Boykott von Produkten aus der besetzten Westbank, die er „Undemokratisches Israel" nennt. Er glaubt, dass die nachlassende Unterstützung Israels durch jüngere Amerikaner sich irgendwann auswirkt. „Das Amerika, das in Netanyahus Kopf existiert, ein Amerika, bevölkert von konservativen, eifernd nationalistischen weißen Christen, die einen Kreuzzug gegen den barbarischen Islam führen, stirbt aus", schrieb er in der linken israelischen Zeitung Haaretz. „Aber ein Amerika, das weniger nationalistisch, weniger kriegslüstern, weniger religiös und weniger geneigt ist, seine eigene Kultur für überlegen zu halten, wird weniger freundlich gegenüber einer israelischen Regierung sein, die an diesen alten Werten festhält." Und jedesmal, wenn es so einen Konflikt wie in Gaza gebe, werde sich die Stimmung in Amerika ändern — „Israel hat bereits Jon Stewart verloren". Stewart, der Host im populären Comedyprogramm „Daily Show" hat kürzlich nicht nur Hillary Clinton für ihre pro-israelische Haltung kritisiert, er führte auch einen Sketch auf, in dem er über das Leiden der Palästinenser sprach — und dauernd von Daily-Show-Korrespondenten unterbrochen wurde, die ihn lauthals beschuldigten, ein „selbsthassender Jude" zu sein. Das ist ein häufiger Vorwurf: Israelkritische Juden werden oft sogar als „Kapos" — Lagerwachen in den KZs — beschimpft — von anderen Juden. Der Israel-Palästina-Konflikt hat sich längst in Amerika ausgebreitet, auch, und gerade innerhalb der jüdischen Gemeinde.
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Eva C. Schweitzer
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Linke jüdische Aktivisten in den USA kritisieren Israel scharf. Noch stehen die Amerikaner mehrheitlich hinter ihrem Verbündeten - aber in der jüngeren Generation zeichnet sich ein Meinungsumschwung ab
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außenpolitik
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2014-08-04T11:13:52+0200
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2014-08-04T11:13:52+0200
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https://www.cicero.de//aussenpolitik/usa-linke-juden-gegen-israel/58018
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Sexueller Missbrauch - Ein Kranz von Vorwürfen
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Es ist fast auf den Tag genau drei Jahre her, dass der
Jesuitenpater Klaus Mertes, Rektor des Berliner Canisius-Kollegs,
in einem Brief an ehemalige Schüler zum ersten Mal öffentlich
machte, dass an der Schule Minderjährige durch Patres missbraucht
und misshandelt wurden. Kurz danach wurden ähnliche Vorgänge aus
der Odenwaldschule bekannt. Es war, als ob sich eine Schleuse
geöffnet hätte: Hunderte Menschen meldeten sich und erzählten, wie
ihnen als Jugendliche sexuelle Gewalt in kirchlichen und nicht
kirchlichen Einrichtungen angetan wurde. Schnell war klar, dass es
sich um ein gesamtgesellschaftliches Problem handelt. Die
Bundesregierung benannte einen Missbrauchsbeauftragten. Es wurde eine telefonische Hotline eingerichtet, bei der sich
bis Ende 2012 über 30 000 Menschen gemeldet haben. Täglich gehen
weitere Anrufe ein. Die Bundesregierung setzte auch den „Runden Tisch sexueller
Kindesmissbrauch“ unter Federführung der drei Ministerinnen für
Justiz, Familie und Wissenschaft ein. Nach eineinhalb Jahren Arbeit
legte das Gremium im November 2011 einen Abschlussbericht mit
Empfehlungen an die Politik vor: zur Prävention, zur Verbesserung
von Opferrechten, zur Entschädigung von Betroffenen. Umgesetzt
wurde davon wenig. Was haben die Kirchen und die Odenwaldschule zur
Aufarbeitung getan? Der Jesuitenorden hat seine vier Schulen in Berlin, Bonn,
Hamburg und im Schwarzwald untersuchen lassen und zählt mindestens
70 Täter und 300 Opfer. Auch das bayerische Benediktinerkloster
Ettal setzte Ermittler an. Im Erzbistum München und Freising spürte
eine Juristin in 13 000 Personalakten seit 1945 159 Täter und viel
Vertuschung auf. Die anderen 26 Bistümer haben die Fälle
zusammengetragen, die sich aufgrund von Aussagen Betroffener
rekonstruieren ließen. Wie viele Jugendliche insgesamt im
kirchlichen Bereich Übergriffe erdulden mussten und von wie vielen
Tätern, darüber liegen nicht einmal Schätzungen vor. In der wegen
ihrer Reformpädagogik berühmten Odenwaldschule stießen die
Ermittler auf 132 Opfer. Die Dunkelziffer dürfte überall wesentlich
höher sein als die bisher aufgedeckten Fälle. Was haben die Studien ergeben? Viele Übergriffe fanden in den 1970er und 1980er Jahren statt,
in einigen kirchlichen Einrichtungen gab es auch noch vor wenigen
Jahren neue Vorkommnisse. In geschlossenen Milieus wie in
Internaten und Familien und dort, wo geschlossene Weltbilder
vorherrschen, sind Missbrauch und Vertuschung leichter möglich als
anderswo. Doch in jedem gesellschaftlichen Bereich hat der
Missbrauch einen ganz eigenen „Geschmack“, wie Pater Mertes es
nannte. Missbrauch passiert auch nicht zufällig, sondern viele
Täter gehen systematisch vor. 2012 untersuchte der Forensiker
Norbert Leygraf, warum katholische Priester zu Tätern werden. Die
Bischofskonferenz hatte ihm dafür 78 anonymisierte psychologische
Gutachten über die Geistlichen zur Verfügung gestellt. Eine
spezielle sexuelle Störung oder Pädophilie lag demnach nur in
wenigen Fällen vor. Meistens waren berufliche Krisen, Einsamkeit
oder Probleme mit Nähe und Distanz die Ursache. Institutionenübergreifende Studien gibt es bisher nicht. Wie
groß die Dimension von sexuellem Kindesmissbrauch in Familien und
Einrichtungen ist, darüber gibt es deshalb nur Schätzungen, die
sehr weit auseinandergehen. Laut einer Studie des Hannoveraner
Kriminologen Christian Pfeiffer von 2011 sind 8,6 Prozent der
Mädchen und 2,8 Prozent der Jungen unter 16 Jahren betroffen. Die
Opferinitiative Zartbitter geht von drei- bis viermal so hohen
Zahlen aus. Seite 2: Was bisher versäumt wurde Welche Konsequenzen wünschen sich die
Betroffeneninitiativen? Die Initiative „Eckiger Tisch“ forderte den Bundestag auf, eine
Enquetekommission einzusetzen, um die Fälle
institutionenübergreifend aufzuarbeiten. Auch Johannes-Wilhelm
Rörig, Missbrauchsbeauftragter der Bundesregierung, will der
Politik bis Mai Vorschläge machen, wie Bundestag und
Bundesregierung die Aufarbeitung übernehmen könnten. Der Vorschlag
des „Eckigen Tisches“ werde dabei eine Rolle spielen, sagt er. Die
Sozialministerin von Mecklenburg-Vorpommern, Manuela Schwesig
(SPD), kann sich ebenfalls für diese Idee erwärmen und sagt: „Die
Opfer haben ein Recht darauf, dass endlich alle Taten tabulos
aufgeklärt werden. Die Bundesregierung muss jetzt schnell mit dem
Runden Tisch beraten, wie der Aufklärungsprozess fortgesetzt werden
kann.“ Auch Christel Humme (SPD), Vizevorsitzende des
Familienausschusses im Bundestag, kann sich eine unabhängige
Untersuchungskommission des Bundestages „gut vorstellen“. Ebenso
unterstützt Heinz Hilgers, der Präsident des Kinderschutzbundes,
die Forderung. Die Betroffenen und ihre Organisationen sind im Fachbeirat des
Missbrauchsbeauftragten der Bundesregierung vertreten. Doch in der
Öffentlichkeit kommen sie drei Jahre nach Beginn des Skandals kaum
noch zu Wort. Viele haben sich deshalb enttäuscht zurückgezogen.
Nur 1300 Menschen haben die 5000 Euro beantragt, die die
katholische Kirche und der Jesuitenorden den Missbrauchsopfern als
eine Art Entschädigung zahlt. Was wurde versäumt? 2011 wurde von der Bundesregierung und den Ländern ein
Hilfefonds in Aussicht gestellt, den beide Seiten mit je 50
Millionen Euro bestücken wollten. Davon sollten vor allem
Betroffene, denen im familiären Bereich Schlimmes angetan wurde,
finanzielle Erleichterungen erhalten. Doch bislang gibt es den
Fonds nicht, da die Länder ihre Zusage nicht halten. Ein von der
Justizministerin auf den Weg gebrachtes Gesetz zur Verlängerung der
Verjährungsfristen bei Missbrauch und Verbesserung von Opferrechten
liegt seit 18 Monaten im Rechtsausschuss. Was tun Institutionen, um Missbrauch in Zukunft zu
verhindern? Eine repräsentative Umfrage des Missbrauchsbeauftragten der
Bundesregierung hat 2012 ergeben, dass 60 Prozent der
Einrichtungen, die mit Kindern und Jugendlichen zu tun haben, mit
Fortbildungsmaßnahmen für ihre Fachkräfte begonnen haben. Im
Erzbistum Köln etwa würden dadurch 200 000 Fachkräfte erreicht.
Auch die Bereitschaft, Schutzkonzepte einzuführen, sei auf der
Ebene der Dachorganisationen groß. „Doch bis das auch bei allen
Ortsvereinen angekommen ist, wird viel Zeit vergehen“, sagt
Rörig. „Es hat sich enorm viel getan“, sagt Christine Bergmann. Die
SPD-Politikerin war von 2010 bis 2011 Missbrauchsbeauftragte der
Bundesregierung. „Das Bewusstsein für das Thema ist in der
Bevölkerung gewachsen“, sagt Kinderschutzbund-Präsident Hilgers.
Doch wenn die Menschen dann in einer Beratungsstelle Hilfe suchen,
bekommen sie keinen Termin, weil die Stelle überlastet ist.“ Es
brauche viel mehr Anlaufstellen. ____________________________________________________________ ____________________________________________________________
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Claudia Keller
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Vor drei Jahren wurde Deutschland aufgeschreckt durch Missbrauchsfälle in katholischen Einrichtungen. Danach meldeten sich immer mehr Betroffene, die gesellschaftliche Dimension des Themas offenbarte sich. Was hat sich seither getan?
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innenpolitik
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2013-01-11T09:01:19+0100
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2013-01-11T09:01:19+0100
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https://www.cicero.de//innenpolitik/ein-kranz-von-vorwuerfen/53117
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Ostern - Zwischen Goldhase und Festtagsbraten
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Unter allen christlichen Festen berührt Ostern am peinlichsten. Und das hat nicht nur mit dem Kitsch-Overkill in Form grinsender Osterhasen zu tun. Ostern, das ist, gleich nach Weihnachten, für viele das zweite große Familienfest im Jahr. Selbst hartgesottene Agnostiker können sich ihm zumeist nicht entziehen. Man besucht Verwandte oder Freunde, es gibt den geliebten Osterbraten, und die Kinder suchen fröhlich nach bunten Eiern. Dagegen ist natürlich überhaupt nichts zu sagen. Was spricht schon gegen Geselligkeit und eine gute Lammkeule im Kreis der Lieben? Jedoch: Ostern ist eben nicht nur ein willkommener Anlass für einen Festschmaus, sondern zugleich ein christliches Fest. Genauer: Es ist das christlichste aller christlichen Feste und, theologisch gesehen, sehr viel bedeutender als das populäre Weihnachten. Genau hier aber beginnt das Problem. Denn Weihnachten und der von vielen gedankenlos übergangene Karfreitag beziehen sich immerhin auf historisch mehr oder minder verbürgte Ereignisse. Denn geboren wurde Jesus von Nazareth ohne jeden Zweifel. Sicher nicht an einem 24. Dezember, doch immerhin. Und auch gekreuzigt wurde der jüdische Sektenführer, soviel ist ebenfalls weitgehend unumstritten. Aber die Auferstehung von den Toten, das ist für den Menschen der Moderne – und nicht nur der Moderne, wie viele Quellen belegen – dann doch eine ziemliche intellektuelle Zumutung. Wie gut, dass man diesen Skandal mithilfe der Symbole eines heidnischen Fruchtbarkeitsfestes übergehen kann. Osterhasen, Küken und Eiernest ermöglichen geradezu die Flucht aus der intellektuellen Beklemmung, die der christliche Anlass bereitet. Auferstehung von den Toten? Da feiern wir doch besser gleich den Frühlingsanfang wie einst unsere Urahnen. Das ist zumindest handfest. Die Kirchen, sich der Zwiespältigkeit der Ostergeschichte im Grunde nur zu bewusst, flüchten sich angesichts dieser heiklen Situation in tapfere Durchhalteparolen. Von der Überwindung des Todes ist dann gerne die Rede, von der Revolution des Lebens, davon, dass das Leben stärker ist als der Tod. Schön wär’s. Aber wir wissen natürlich alle, dass dem nicht so ist. Der Tod ist mächtiger als das Leben und unsere Existenz eine endliche. Mehr noch: Der Tod kann grausam sein und unmenschlich. Jeder Besuch auf einer Onkologie oder einer Intensivstation führt einem das drastisch vor Augen. Wir sind dem Tode Geweihte. Und das Leben ist kurz, wie man spätestens bemerkt, wenn man die Vierzig überschritten hat und man weiß, wie schnell die Jahrzehnte vergehen. Was sind schon die zwanzig oder dreißig Sommer, die einem noch bleiben? Sie werden so schnell dahingehen, wie die zwanzig Sommer zuvor. Und der Sommer vor zwanzig Jahren – war der nicht erst gestern? Die Kürze des Lebens, sie ist ein Skandal, brutal und unversöhnlich. Und das Schlimmste ist: Wir können ihr nicht entkommen, nicht mittels Fernreisen und Megaevents, nicht mittels Partys und Dauerspaß. Im Gegenteil, all diese verzweifelten Versuche, der Endlichkeit einen Sinn durch maximale Sinnlichkeit abzugewinnen, sind auf tragische Weise lächerlich. Denn auch das sinnlich erfüllteste Leben ist keinen Deut sinnvoller als ein Leben in enger Eintönigkeit. Und wer jetzt meint, Kontemplation, Kunst und philosophische Versenkung könnten an dieser Bilanz etwas ändern, begeht nur denselben gedanklichen Fehler unter anderen ästhetischen Prämissen. So gesehen ist die Osterbotschaft der rührende Versuch, der Brutalität limitierter menschlicher Existenz einen Sinn abzugewinnen. Aber mal ehrlich: Wäre das Leben auch nur einen Hauch sinnvoller, wenn es unendlich wäre? Die Antwort erübrigt sich. Unendliche Sinnlosigkeit ist auch nicht sinnvoller als endliche, im Gegenteil. Genau an diesem Punkt aber, bekommt das Osterfest dann doch wieder seinen Sinn. Denn zwischen Goldosterhasen und Festtagsbraten konfrontiert es uns mit uns selbst: mit unserer Endlichkeit, mit der Vergeblichkeit, diese Endlichkeit in ein übergeordnetes Ganzes einzuordnen. Ostern ist ein kulturelles Denkmal, ein Zeugnis des allzu menschlichen Versuches, der Endlichkeit einen Hauch von Sinn abzugewinnen. Und darin liegt, recht betrachtet, seine ganz eigene Größe. Im Grunde gibt es kein menschlicheres Fest als Ostern. Wir feiern hier die Humanitas selbst in Gestalt ihrer letzten Fragen. Dass es auf diese Fragen keine naiven Antworten gibt, schmälert dieses Fest auf keine Weise. Das ist natürlich keine wirklich familienfesttaugliche Botschaft. Aber es liegt in dem Charme dieses Festes, beides miteinander zu verbinden: die ärgsten Zumutungen mit Festschmaus, Osterkuchen und Spaziergang im Sonnenschein.
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Alexander Grau
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Was spricht schon gegen etwas Geselligkeit, gute Lammkeule und heidnisches Ostereiersuchen? Eigentlich nichts. Wäre da nur nicht diese intellektuelle Zumutung des Christentums namens Auferstehung. Von Alexander Grau
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"Ostern",
"Christentum",
"Feiertag"
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kultur
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2018-03-31T09:18:10+0200
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2018-03-31T09:18:10+0200
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https://www.cicero.de//ostern-feiertag-auferstehung-christentum-endlichkeit-leben-tod
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Silvio Berlusconi -Der Cavaliere ist zurück
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Silvio Berlusconi wurde 2013 in letzter Instanz zu vier Jahren Haft wegen Steuerbetrugs verurteilt. Weil das italienische Strafrecht Milde mit Senioren walten lässt, durfte der inzwischen 80-Jährige seine Strafe durch Sozialstunden in einem Mailänder Altenheim ableisten. Bis 2019 darf der frühere italienische Ministerpräsident keine öffentlichen Ämter bekleiden. Und doch steht er wieder im Zentrum der italienischen Politik. Nach dem Erfolg bei den Kommunalwahlen kann er triumphierend behaupten: „Ich bin zurück und das sieht man.“ Seine Sex-Skandale mit Minderjährigen und Prostituierten sind zahlreich. Erst kürzlich wurde Berlusconi erneut angeklagt, weil er drei Zeuginnen bestochen haben soll. Es scheint, als seien die Italiener ein unverbesserliches Volk, das einem verurteilten Straftäter und kriminellen Schwerenöter weiterhin politische Verantwortung überträgt, als sei nichts gewesen. Zwölf größere Städte haben die Kandidaten der Berlusconi-Partei, im Verbund mit der rechtspopulistischen Lega Nord, der Linken bei den Kommunalwahlen abgejagt. Weil auch Städte wie Genua, das seit 1946 eine linke Stadtverwaltung hatte oder die Mailänder Arbeitervorstadt Sesto San Giovanni fortan konservative Bürgermeister haben, schreiben Italiens Zeitungen von Berlusconis Triumph. Der „Cavaliere“ ist zurück. Sogar als „Presidente“ sprechen die Moderatoren der Fernsehstudios Berlusconi ehrfürchtig an, als sei der Ex-Premier nie von der Bildfläche verschwunden. Präsident seines Fußballclubs AC Mailand ist Berlusconi auch nicht mehr, aber wer so lange wie er an der Macht war und Ehrentitel sammelte, der wird in Italien so schnell nicht vergessen. Berlusconi war einige Zeit in der Versenkung verschwunden, ganz weg war er nie. Das Comeback Berlusconis ist ein Paradox, weil es sich aus der Unzufriedenheit der Italiener mit dem politischen Personal speist. Das gilt zwar auch für ihn, aber weil Berlusconi im Hintergrund agiert, keine direkte politische Verantwortung trägt und nicht selbst gewählt oder abgewählt werden kann, steht seine Person politisch weniger im Fokus. Der Senior zieht im Hintergrund die Fäden und gibt den Steigbügelhalter zur Macht. Das war so beim Reform-Bündnis mit Ex-Premier Matteo Renzi. Berlusconi war auch ein entscheidender Faktor bei der Einigung der Parteien auf ein neues Wahlrecht, das im letzten Moment platzte. Auf kommunaler Ebene verhalf seine Forza Italia nun auch der Lega Nord zum Erfolg. Wer solche Lösungen ermöglicht, ist ein gesuchter Partner. Und Berlusconi verfügt über Macht. Dazu kommen die Auflösungserscheinungen in der Parteienlandschaft. Das verlorene Verfassungsreferendum im Dezember vergangenen Jahres hat Ex-Premier Matteo Renzi geschwächt und zu seinem Rücktritt geführt. Er übte stets auch Anziehungskraft auf Wähler im konservativen Spektrum aus. Der gemäßigte Sozialdemokrat war eine Art italienischer Emmanuel Macron, der angesichts der von ihm ausgelösten Spannungen im linken Lager inzwischen um das eigene politische Überleben kämpft. Die systemkritische und politisch ebenfalls nach rechts schielende 5-Sterne-Bewegung fiel bei den Kommunalwahlen durch, weil sie lokal kaum verwurzelt ist und sich etwa in Genua durch internen Streit selbst schwächte. Diese Faktoren und das Fehlen einer bürgerlichen Alternative in Italien seit dem Niedergang der Christdemokratie Anfang der neunziger Jahre haben das Stimmenpotenzial der Berlusconi-Partei zuletzt nicht übermäßig, aber doch stetig anschwellen lassen. Seine Stärke ist die Schwäche der anderen. Auf nationaler Ebene kann die Forza Italia Umfragen zufolge mit bis zu 16 Prozent der Stimmen rechnen. Mit diesem Wert gewinnt man keine Wahlen, aber man bleibt im zerklüfteten und dynamischen Politikbetrieb Roms ein entscheidender Faktor. Berlusconi spielt in den Überlegungen von Renzi eine Rolle als möglicher Koalitionspartner nach den Parlamentswahlen. Diese könnten im kommenden Frühjahr stattfinden. Nun muss Berlusconi entscheiden, ob er auch auf nationaler Ebene mit den Rechtspopulisten von der Lega Nord koalieren soll. Er würde es unter einer Bedingung tun: dass er der Chef bleibt.
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Julius Müller-Meiningen
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Trotz zahlreicher Skandale scheinen die Italiener nicht genug von Ex-Ministerpräsident Silvio Berlusconi zu bekommen. Seine Partei feierte bei den Kommunalwahlen große Erfolge. Und auch in der nächsten Landesregierung könnte er eine entscheidende Rolle spielen. Wie kann das sein?
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"Silvio Berlusconi",
"Italien",
"Matteo Renzi",
"Forza Italia",
"Parlamentswahlen"
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außenpolitik
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2017-06-27T15:20:09+0200
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2017-06-27T15:20:09+0200
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https://www.cicero.de/aussenpolitik/silvio-berlusconi-der-cavaliere-ist-zurueck
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Öffentlich-Rechtliche - Quotenterror statt kritischer Information
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Um die deutschen Schulen fit für den digitalen Wandel zu machen, wären jährlich etwa 2,8 Milliarden Euro nötig, stellte jüngst eine Studie fest. Man kann sich also vorstellen, wie unsere Schulen aussähen, würden sie fast das Dreifache zur Verfügung haben: Es wären wohl Paläste des Lernens. Stattdessen aber werden jährlich acht Milliarden dafür ausgegeben, damit sich ältere Leute beim Fernsehen nicht erschrecken. Oder wie kann man Serien wie „In aller Freundschaft“ oder „Um Himmels Willen“ erklären, die nichts außer verlogener heiler Fernsehwelt verbreiten? Oder Quiz-Shows wie „Wer weiß denn sowas?“, in der so heikle Fragen geklärt werden, wie die, ob Cola nun Zahnfüllungen oder Magensteine auflösen kann? Der Autor dieser Zeilen schaut schon lange kein lineares Fernsehen mehr und somit auch kein schweizerisches. Wenn es auch nur annähernd die Niederungen der deutschen Hauptsender ARD und ZDF erreicht, kann er aber jeden Eidgenossen gut verstehen, der dafür keine Abgabe mehr zahlen will, oder besser: nicht mehr gezwungen werden will, eine Abgabe zu zahlen. Nun kann man sich endlos über einzelne Sendungen aufregen. Nur ist das letztendlich Geschmacksache und führt auch nicht weiter. Das Problem geht tiefer, es liegt in der Struktur der Sender begründet. Es sind hochsubventionierte Beamtenapparate, in denen eine entsprechende Mentalität herrscht. Wer einmal einen Sender von innen gesehen hat, weiß, was das heißt. Die Arbeit macht zum Großteil ein Heer freier Mitarbeiter. Die sind verpflichtet, zwischendurch eine Zwangspause von einem Jahr einzulegen, damit sie ja nicht fest angestellt werden müssen. Die fest angestellten Redakteure schieben derweil weitgehend eine ruhige Kugel. Wer für einen aktuellen Fernsehbeitrag etwa schnell ein Kamerateam braucht, wird sich hüten, ein sendereigenes mitzunehmen, denn das könnte jederzeit mit dem Hinweis „Mittagspause“ abbrechen. Also bezahlt man selbstständige Teams, während das sendereigene in der warmen Redaktion bleibt. Geld ist ja genug da. Nun könnte man hoffen, dass in diesem Klima, frei von ökonomischen Zwängen, die Kreativität besonders gut gedeiht, die Menschen sich trauen, auch mal etwas auszuprobieren, auch wenn es vielleicht nur von wenigen oder gar nicht verstanden wird. Dieser Hoffnung gegenüber steht die harte Realität von mehr als 40 Kochshows. Das Prinzip bei den Öffentlich-Rechtlichen ist klar erkennbar für jeden, der ein paar Minuten in der Programmzeitschrift blättert: Wenn etwas einigermaßen gut funktioniert und ohne viel Aufwand zu produzieren ist, dann wird es endlos wiederholt, bis der Zuschauer nicht mehr unterscheiden kann, ob nun gerade „Maybritt Illner“ oder „Sandra Maischberger“ eine Frage gestellt hat. Statt Kreativität regiert die Angst. Die Angst, Fehler zu machen, aufzufallen, radikal zu sein und vor allem die Angst vor der schlechten Quote. Denn hauptsächlich die Einschaltquote, jenes ominöse Messverfahren, das nicht einmal einer seiner Erfinder für besonders exakt hält, lässt die Programmdirektoren schlecht schlafen. Der Quotenterror sickert von oben bis unten durch die Sendeanstalten, durch Medienboards, Filmförderungen und Fernsehredaktionen, sodass ein System der Zensur entsteht, das fast jeden kreativen Einfall im Keim erstickt. Es ist bizarr, denn das Besondere an den öffentlich-rechtlichen Programmen ist ja gerade, dass sie eben nicht auf Einschaltquoten angewiesen sind – anders als alle privaten Sender und Verlage, die einfach eingehen, wenn sie keiner sehen oder lesen will. Warum also tun die öffentlich-rechtlichen Sender sich und uns das an und verwenden ihre volle Energie darauf, im Rattenrennen um die höchste Quote ganz vorn zu landen? Die Verantwortlichen geben als Grund an, dass sie eben ein Massenprogramm machen und bieten wollen, das jeden Teil der Bevölkerung anspricht, also den Schnulzen-Gucker ebenso wie den News-Junkie. Dieser Gedanke geht von Zuständen aus den sechziger Jahren aus. Denn in ihrer Anfangszeit war es tatsächlich Aufgabe der öffentlich-rechtlichen Sender, erstens ein Programm technisch zur Verfügung zu stellen. Und zweitens, den verfassungsrechtlichen Auftrag zu erfüllen, Informationsvielfalt zu gewährleisten. Beides ist heute obsolet. Fernsehen machen können auch private Sender und neuerdings sogar Streaming-Dienste. Und informieren kann sich jeder im Internet und zwar nach seinen eigenen Vorgaben. Und wer jetzt erwidert, dass diese Informationsquellen ja privat seien und somit vor allem kommerzielle Interessen bedienen, der möge sich vor Augen führen, dass auch der Großteil des journalistischen Angebots der öffentlich-rechtlichen Sender von rein privaten Firmen produziert wird. So sind die meisten Fernsehtalker nicht nur die Moderatoren, sondern gleichzeitig auch die Produzenten ihrer eigenen Sendung. Die Qualitätskontrolle von „Markus Lanz“ obliegt also zuvorderst Markus Lanz. Die wahre Grund für die Quotenhörigkeit ist also offenbar ein ganz anderer. Sie liefert den Verantwortlichen ein Totschlag-Argument für die Beibehaltung der obsoleten Struktur. Seht her, hört man sie quasi in den zahlreichen Gremien rufen, sieben Millionen schauen uns, wir werden noch gebraucht! Wie weit man geht, um die Quote hochzutreiben und diesen letzten Pfeil im Argumenten-Köcher nicht auch noch zu verlieren, zeigt das absurde Mitbieten bei den Sportrechten. Wie viel da insgesamt zusammenkommt, weiß keiner so genau. ARD und ZDF schweigen traditionell zu den Kosten. Das Wettbewerbsrecht verbiete die Veröffentlichung von Zahlen bei marktrelevanten Sportrechten, heißt es. Man kann also nur schätzen. Allein für die Übertragung der Bundesliga-Spiele in der „Sportschau“ hat die ARD zwischen 2013 und 2017 mehr als 400 Millionen Euro bezahlt. Zusammen geben ARD und ZDF jährlich rund 800 Millionen Euro für die Rechte an und die Übertragung von Sportereignissen aus. Das ist immerhin ein gutes Zehntel der gesamten Gebühreneinnahmen. Indem sie ins Rennen um die Rechte einsteigen, tragen die öffentlichen Sender zur stetigen Verteuerung bei, denn sie müssen die Kosten nicht am Markt wieder eintreiben, sondern haben die prall gefüllten und gesicherten Gebührensäcke zur Verfügung. Trotzdem wird der Zuschauer auch bei Champions-League-Übertragungen im ZDF zu Gewinnspielen eingeladen, die zufälligerweise von Bier- oder Auto-Herstellern „präsentiert“ werden. Der Vorteil, ein Fußballspiel öffentlich-rechtlich statt privat sehen zu können, ist für den Zuschauer also quasi nicht vorhanden. Dafür ermöglicht er mit seinem Beitrag, dass Millionäre wie Arjen Robben oder Thomas Müller noch mehr Geld verdienen. Ähnlich absurd geht es im Spielfilm-Segment zu. Um endlich auch einmal eine Qualitätsserie zu produzieren, hat die ARD sich an „Babylon Berlin“ beteiligt. Zu sehen ist sie aber bisher nur beim Partner, dem Pay-TV-Sender Sky, der die Serie als Zugpferd für sein Angebot einsetzt. Frei verfügbar wird die Serie dann erst ein Jahr später oder noch später zu sehen sein. Das heißt, dass der Gebührenzahler dafür zahlt, dass ein privater Pay-TV-Sender mehr Abonnenten bekommt. Natürlich: Es gibt fantastische öffentlich-rechtliche Sendungen, mit Herzblut und Finesse gemacht von großartigen Journalisten, Produzenten oder Drehbuchschreibern. Nur müssen die um jeden Cent und jeden Sendeplatz kämpfen, während seichte Serien, banale Shows, biedere Filmchen und teure Sportereignisse sämtliche Kanäle verstopfen. Es ist ein Programm der Angst, das sich bis zu den vielen handzahm agierenden Politikjournalisten niederschlägt. Die verteilen ihre ganze kritische Munition gern auf die Parteien am linken und rechten Rand, um dann den Regierenden nur das Mikrofon für „Finden Sie nicht auch“-Interviews unter die Nase zu halten. Ohne Frage hilft gegen die Einfallslosigkeit und Trägheit, gegen das staatlich verordnete Mittelmaß des öffentlich-rechtlichen Rundfunks nur eine radikale Reform. Aber unmöglich ist es nicht, das zeigt die BBC in Großbritannien, das zeigen sogar Deutschlandfunk, Phoenix, 3Sat und Arte. Diese könnte man zu Palästen der Information machen, mit einem Bruchteil der jetzigen Kosten. Vor einem Volksbegehren gegen die Rundfunkgebühr müssten die Sender sich dann wohl nicht mehr fürchten. Und die Quote könnte endlich egal sein.
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Constantin Wißmann
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Am Sonntag stimmt die Schweiz über eine mögliche Abschaffung des Rundfunkbeitrages ab. Auch hierzulande gäbe es dafür gute Gründe. Oder aber die öffentlich-rechtlichen Sender retten sich durch radikale Reformen selbst
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"Öffentlich-Rechtliche",
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"GEZ",
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kultur
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2018-03-02T11:59:39+0100
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2018-03-02T11:59:39+0100
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https://www.cicero.de//kultur/oeffentlich-rechtliche-ard-zdf-quote-programm-fussball-reform-schweiz
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Wahlkampfberater Koidl - Pimp my Peer
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Manchmal spricht der andere immer noch aus ihm. Zum Beispiel, wenn Peer Steinbrück dieser Tage in geselliger Runde zu einem Stegreifvortrag über seinen ganz neuartigen „Wahlkampf von unten“ anhebt. Wenn der Kanzlerkandidat sich in Schwung redet darüber, dass in Deutschland alle die legendäre Kampagne von Barack Obama 2008 viel zu oberflächlich wahrgenommen hätten, dass die Digitalstrategie des heutigen US-Präsidenten kein Selbstzweck gewesen sei, sondern das Instrument, um Unterstützer und Leute zu gewinnen, die sich vor Ort die Hacken abgelaufen haben für den Kandidaten. Wenn er von der Idee der Hausbesuche schwärmt, bei denen der Kandidat ohne Reporter und Kameraleute im Wohnzimmer auftaucht, weil die Menschen sich sonst nur als Staffage, als Komparsen für einen Fernsehauftritt missbraucht fühlten. Und wenn Steinbrück diesen Exkurs beendet mit den Worten: „Der Wahlkampf von unten ist richtig, und ich habe Ihnen diesen Wahlkampf von unten gerade dargestellt.“ All das ist Roman Maria Koidl. Das weiß man aber nur, wenn man ihn trifft, sich mit ihm unterhält und ihm zuhört. Dann echot Steinbrück aus ihm, oder besser umgekehrt: Aus Peer Steinbrück echot Roman Maria Koidl. [[nid:53984]] Die Kurzfassung der Geschichte des SPD-Kanzlerkandidaten Peer Steinbrück und des Unternehmers Roman Maria Koidl, eine, die immer wieder nacherzählt wurde, geht so: Steinbrück, Quartals-Sponti, der er ist, trifft den gleichermaßen größenwahnsinnigen wie spinnerten Multi-Geschäftsmann und Hansdampf Roman Maria Koidl, eine Art Lars Windhorst des 21. Jahrhunderts, bei der einen oder anderen weinseligen Veranstaltung des gemeinsamen Verlags. Der SPD-Politiker lässt sich dazu hinreißen, diesen Österreicher zum Mastermind seines Wahlkampfs gegen Angela Merkel machen zu wollen. Ganze zwei Tage ist die Sache kurz darauf publik, und eine Exklusivmeldung, ein Bild-Interview von Koidl später, ist der Steinbrück-Spuk vorbei. Koidl zieht zurück, schneller noch als Jost Stollmann seinerzeit, der Jungunternehmer, den Gerhard Schröder zu seinem Wirtschaftsminister machen wollte. Koidl bekommt einen Zug um seine weichen Lippen, der irgendwo zwischen Spott und Schicksalsergebenheit oszilliert. Er kennt diese Geschichte: Er spielt darin eine kurze Verirrung Steinbrücks, einen Quickie. Er konnte das immer wieder lesen. Es stimmt nur nicht überein mit dem, was er erlebt hat. „Das ist kein dünnes Brett, das wir da gebohrt haben“, sagt Koidl, „und das war auch keine verrückte Idee am Rande eines Empfangs, mal eben ein Konzept für einen in Deutschland komplett neuen Wahlkampf zu entwerfen.“ Was nach außen wirkt wie eine Steinbrückiade, war in Wahrheit von längerer Hand geplant und scheiterte am Ende an den Beharrungskräften des Systems im Willy-Brandt-Haus, der Parteizentrale der SPD in Berlin. Steinbrück und Koidl lernten sich kennen, als der Sozialdemokrat noch Finanzminister in der Großen Koalition war. Es gab professionelle Berührungspunkte. Koidl, ebenfalls im Finanzwesen unterwegs, wollte dem Minister ein Konzept für die Kreditförderung des Mittelstands nahebringen, aus der Sache wurde nichts, der Kontakt aber blieb. Schließlich kamen Koidl und Steinbrück auf der Frankfurter Buchmesse im Herbst 2011 wieder ins Gespräch. Koidl hatte gerade einen Bestseller namens „Scheißkerle“ auf den Markt gebracht, Steinbrück seine Autobiografie „Unterm Strich“. Und irgendwie gelang es Koidl, Steinbrück davon zu überzeugen, dass dieser bunte Hund recht haben könnte mit seiner Rede von der unterschätzten Bedeutung des Internets für den modernen Wahlkampf. Von da an dauerte es noch ein Jahr, bis Roman Koidl Ende Oktober 2012 das Zimmer 4.29 im Willy-Brandt-Haus als Büro bezog und drei Wochen unbemerkt von jeder Öffentlichkeit begann, seine Vorstellungen von einem Wahlkampf von unten in die Tat umzusetzen. Drei Wochen arbeitete er von diesem Büro aus. Oben, eine Etage darüber, im fünften Stock der Parteizentrale, hatte sein Kanzlerkandidat Quartier bezogen. Dass der ganzen Unternehmung mehr zugrunde lag als ein Glas Pinot Grigio räumen auch diejenigen im Willy-Brandt-Haus ein, die das etwa zeigefingerdicke Manual gesehen haben, das Koidl ausgearbeitet hatte. 4.29 stand auf dem Deckblatt, eine Referenz an seinen Sitz im vierten Stock der Parteizentrale. Daneben in großen Buchstaben: „Community Peer-Group.org“ – ein Wortspiel aus Steinbrücks Vornamen und dem englischen Begriff peer group, der so viel heißt wie Bezugsgruppe. Dieses „Lastenheft“, wie es Koidl in seinen internen SPD-Gesprächen nannte, war das detaillierte Drehbuch eines neuartigen Wahlkampfs, dissertationsähnlich strukturiert von 1.1. bis 5.4.3. Für seine Präsentationen vor den zuständigen Abteilungsleitern des Willy-Brandt-Hauses malte er zudem quadratmeterweise Schaubilder auf braunes Paketpapier. Nächste Seite: Der Sturm war zu stark Man kann von Koidls Plänen halten, was man will. Aber das steht fest: Eine Schnapsidee sieht anders aus als das, was er sich vorgenommen hatte. Im Kern ging es darum, das Internet nicht als Plattform, sondern als Zugang zu potenziellen Unterstützern zu nutzen, dessen virale Kraft für sich arbeiten zu lassen, Leute jenseits der Parteistrukturen für sich zu begeistern, so zu begeistern, dass die sich für Steinbrück auch offline ins Getümmel stürzen – und einen Feed-Back-Kanal zu haben, der den Kandidaten wissen lässt, was beim Wahlvolk los ist. Seine zweite Präsentation, die ganz große, hatte Koidl am 19. November, einem Dienstag. Einen Tag später stand zum ersten Mal etwas über das Tun des Beraters in der Zeitung, bald vermengt mit dem Hinweis, dass zu den Unternehmungen des Roman Maria Koidl auch einmal die Beratung von Hedgefonds wie Cerberus in New York gehörte, ein Gewerbe, das nach einem geflügelten Wort des Franz Müntefering in der SPD mit den biblischen Heuschreckenplagen in Verbindung gebracht wird. Seine „Kunsthalle Koidl“, eine private Kunstsammlung in Berlin, machte seinen SPD-Stallgeruch auch nicht stärker, ebenso wenig wie der Wohnsitz Zürich. Zwei Tage später war der Spuk vorüber. Koidls bunte Vita bot zu viel süffigen Stoff, als dass er den Sturm hätte überstehen können. Nicht nur sein Frauenversteher-Buch „Scheißkerle“, auch der andere Bestseller „Blender – Warum immer die Falschen Karriere machen“ bot neben dem Titel zu viele Stichworte, die sich nun gegen Koidl verwenden ließen. Von „Flitzpiepen“ hatte er darin geschrieben, von „Luftpumpen“ und „Schlipswichsern“. Möglicherweise trägt der 45 Jahre alte Koidl selbst Züge derjenigen, über die er da in seinem Buch so kraftstrotzend schreibt. Vielleicht nimmt er den Mund manchmal voller als andere Menschen. Aber Klappern gehört in dieser Branche dazu, und die Erfolge sind ihm nicht abzusprechen. Wer seine auf den ersten Blick kunterbunten Unternehmungen von einer Confiserie-Kette über eine PR-Firma bis in den Finanzbereich betrachtet, erkennt auf den zweiten Blick ein Muster im scheinbar wahllosen Gemischtwarenladen des Serial Entrepreneurs, wie man das vornehmer nennt. 1996 gründete er die erste Coffee-Shop-Kette auf dem europäischen Festland, die er einige Jahre später an einen Kaffeeröster in Hannover verkaufte. Im Jahr 2000 hatte er ein traditionsreiches, aber in die Krise geratenes Schokoladenhaus mit 800 Mitarbeitern und 142 Ladenlokalen aus der Insolvenz übernommen. In seinem Lebenslauf schreibt Koidl über Koidl, dieser sei „spezialisiert auf den Relaunch deutscher Traditionsmarken, die er aus Problemsituationen erwirbt“. Der Mann hat einen Blick für Potenziale, die sich heben lassen, und er traut sich was. Im Prinzip ist er wie ein Autoconnaisseur, der die Scheunen und Garagen des Landes abklappert nach scheinbar verrotteten und verstaubten Rostlauben, in denen der Kenner aber die Substanz sieht, mit der richtigen Auffrischung und etwas Mut ein Vermögen zu machen. Einen „Marken-Macher“ hat eine Zeitung ihn deshalb einmal genannt. Man könnte auch sagen: Er ist ein Marken-Tuner, einer, der das Potenzial einer zu Unrecht abgewirtschafteten Marke erkennt und sie aufpoliert. So etwas hätte die SPD auch gebrauchen können. Er habe der Partei ein Konzept als Vorschlag gemacht, sagt Koidl, ein Marketingkonzept, kein politisches Konzept. Es sei um eine „kommunikationstechnische Lösung“ gegangen: „Die ist per se neutral. Die hätte ich genauso gut für jede andere Partei machen können.“ „Ich baue Systeme“, sagt er. Systeme baut man systematisch. Das System, das er sich für den SPD-Wahlkampf ausgedacht hatte, fußte im Kern darauf, soziale Netzwerke ganz anders wahrzunehmen und zu nutzen, etwa die Facebook-Freunde der SPD nicht einfach mit Informationen zu versorgen und sich an ihnen zu erfreuen, sondern sie zu mobilisieren und für den Wahlkampf und den politischen Diskurs zu gewinnen. Seit Sommer vergangenen Jahres hat er sich damit intensiv beschäftigt. Diesen Mai wäre seine Kampagne der „Peer-Group“ an den Start gegangen. Inzwischen, so ist aus dem Willy-Brandt-Haus zu hören, arbeitet eine Plattform namens D64, angesiedelt im parteieigenen Vorwärts-Verlag, an einem ähnlichen Konzept wie jenem Koidls. Der verbietet sich derweil jedes Nachtreten. Er hat sich verordnet, die Mechanismen des politisch-publizistischen Betriebs interessiert zur Kenntnis zu nehmen, ebenso wie den Umstand, dass Peer Steinbrück bis heute nichts auf ihn und seine Ideen kommen lässt. Sogar das Willy-Brandt-Haus kommt gut weg bei ihm. Fähige Leute habe er da erlebt, und bei vielen eine große Offenheit für sich und seine Ideen. Dass er aus der SPD heraus wie eine Tontaube zum Abschuss freigegeben wurde, das beschäftigt Koidl jedoch weiter. Wenn die Politik sich Leute wie ihn, nicht stromlinienförmige Figuren, so gezielt zerschießen lasse, „dann hat sie ein echtes Problem, nicht ich.“ Die vornehme Distanz zum Berliner Betrieb, der ihn so schnell abgestoßen hat, steht ihm. Es wäre ja auch unklug, so zu formulieren, wie er es in seinen Büchern tut. Dann würde er wohl sagen: Scheißkerle.
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Christoph Schwennicke
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Nur kurz war Roman Maria Koidl Wahlkampfberater für Peer Steinbrück, bevor sich im November die Wege trennten. Die Zusammenarbeit war dennoch mehr als ein Intermezzo
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innenpolitik
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2013-03-25T09:52:54+0100
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2013-03-25T09:52:54+0100
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https://www.cicero.de//innenpolitik/wahlkampfberater-koidl-pimp-my-peer-steinbrueck/53991
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Absurde Bilderstürmerei – Ausgerechnet Washington
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In einem Gastbeitrag für die Washington Post fordert Brandon Hasbrouck eine Umbenennung der Washington and Lee University in Virginia, Vereinigte Staaten. Hasbrouck ist Assistenzprofessor für Jura an der Washington and Lee University. Die Namensgeber, „sowohl George Washington als auch Lee waren Täter von Rassenterror, und beide Namen sollten entfernt werden“, schreibt er. Weiter heißt es in seinem Beitrag: „Die Verehrung der beiden Männer durch unsere Universität signalisiert implizit eine anhaltende Unterstützung für rassistische Unterordnung und Gewalt.“ Hasbroucks Kritik erscheint angemessen. Schließlich, so schreibt er, „war Washington der erste Präsident des Landes, nachdem er die Kontinentalarmee im Revolutionskrieg angeführt hatte. Aber Washington versklavte mehr als 300 Schwarze.“ Dass dieser Bericht ausgerechnet in der Washington Post erscheint, entbehrt allerdings nicht der Ironie. Schließlich ist die Namensgebung der Washington Post auf Amerikas Hauptstadt Washington, D.C. zurückzuführen. Washington bezieht sich ebenfalls auf Amerikas ersten Präsidenten, George Washington. D.C. steht für District of Columbia und leitet sich von Amerikas Entdecker, Christoph Kolumbus, ab. Auch Kolumbus gilt heute als Rassist. Washington, D.C. trägt somit sogar zwei Rassisten im Namen, die die Washington Post in ihrem Namen aufgreift. Nochmal zum Mitschreiben: Die Washington Post berichtet darüber, dass George Washington ein Rassist gewesen ist und die Washington and Lee University deswegen ihren Namen ändern sollte? Ist denn niemandem von der Washington Post dieser fast schon zynische Zusammenhang aufgefallen? Oder war das etwa Absicht? Twitter liefert dazu den passenden Schlagabtausch: „You’re literally called the Washington Post“, heißt es in einem Kommentar dazu. Genug Aufmerksamkeit hat die Washington Post nun zumindest. Kein Beitrag der Zeitung wurde so oft geteilt und kommentiert wie dieser. Ziel erreicht? Doch die Twitter-Gemeinde scheint sich einig: Was zu viel ist, ist zu viel. Diese Ironie ist pietätlos. „Das laufende nationale Gespräch über Rassismus hat das Potenzial, dauerhafte Veränderungen zu bewirken“, schreibt Hasbrouck in seinem Beitrag. Die „Black Lives Matter“-Bewegung hat den Stein bereits vor Wochen ins Rollen gebracht. Das Hinterfragen von historischen Figuren nach ihren rassistischen Taten ist eine längst losgelöste Debatte. Nachrichten wie diese sind also keine Neuheit mehr. Wie hochkomplex die Rassismus-Debatte ist, wird durch den ausversehen-beabsichtigen Fauxpas der Washington Post deutlich: Wo anfangen und wo aufhören? Wenn nun Straßen und Universitäten ihre Namenspatronen verlieren, Denkmäler abgerissen und Wörter gestrichen werden sollen, dann müssen auch Zeitungen, Städte und vielleicht sogar ganze Länder unbenannt werden. Den Stein, den diese Debatte losgelöst hat, ist womöglich viel größer und schwerer, als wir uns vorgestellt haben. Wenn wir uns wirklich von den glorifizierten Bildern historischer Figuren verabschieden wollen, müssen wir es richtig tun. Doch wie es aussieht, wird dies zu einer Sisyphusarbeit werden: niemals fertig. Lesen Sie hier den vollständigen Gastbeitrag von Brandon Hasbrouck.
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Rixa Fürsen
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Die Washington and Lee University soll umbenannt werden, weil ihre Namensgeber Rassisten waren. So hat es ein Gastautor der „Washington Post“ in einem Beitrag gefordert. Ist das Satire oder Wahnsinn?
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außenpolitik
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2020-07-07T13:04:25+0200
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2020-07-07T13:04:25+0200
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https://www.cicero.de//aussenpolitik/washington-post-rassismus-usa-george-washington-rassist-universitaet-umbennung-debatte-schlagzeile
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Karlsruhe zu Griechenlandhilfen – Welche Folgen hat der Richterspruch?
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Worum ging es in dem Streit? Die Verfassungsbeschwerden richteten sich gegen die Griechenlandhilfe und den Euro-Rettungsschirm. Im Mai 2010 hatte der Bundestag zur Unterstützung Griechenlands ein Gesetz zur Übernahme von Gewährleistungen verabschiedet („Währungsunion-Finanzstabilitätsgesetz“). Am selben Tag beschlossen die Staats- und Regierungschefs der Euro- Gruppe in Brüssel den Euro-Rettungsschirm, die entsprechende deutsche Beteiligung durch Gewährleistungsübernahme verabschiedete das Parlament zwei Wochen später („Euro-Stabilisierungsmechanismus-Gesetz“). Mit den Gesetzen wurde das Finanzministerium ermächtigt, Kreditbürgschaften bis zu einer Höhe von 22,4 Milliarden Euro für die Griechen und 147,6 Milliarden für den Rettungsschirm zu geben. Beide Gesetze griffen die Kläger an. Wer sind die Kläger und was wollten sie erreichen? In der Presse sind sie die „Euro-Rebellen“: Eine Gruppe aus Ökonomen, Juristen, Politikern und Managern, alle jenseits der siebzig. Der Tübinger Wirtschaftsprofessor Joachim Starbatty, der Erlanger Staatsrechtler Karl Albrecht Schachtschneider, der frühere Hamburger Finanzsenator Wilhelm Nölling von der SPD. Der Ökonom Wilhelm Hankel ist bereits 82, der frühere Thyssen-Chef Dieter Spethmann noch einmal drei Jahre älter. Gemeinsam hatten sie bereits gegen die Euro-Einführung geklagt. Hinzu gesellte sich der CSU-Politiker Peter Gauweiler. Die Motive sind unterschiedlich. Die Juristen sehen den Euro als Gefahr nationalstaatlicher Souveränität, die Wirtschaftsleute fürchten Inflationsrisiken, Haushaltslöcher und Nachteile für den Export. Sie verlangen, die Maßnahmen auf ihre Vereinbarkeit mit den EU-Verträgen abzuklopfen. Sie meinten, die EU überschreite ihre Kompetenzen. Die wirtschaftlichen Folgen verletzten zudem ihr Eigentumsgrundrecht, und mit den pauschalen Kreditzusagen würde in das parlamentarische Budgetrecht eingegriffen. Wer hat gesiegt, wer verloren? Formal handelt es sich um eine Niederlage der Beschwerdeführer. Sie wurden von den Karlsruher Richtern abgewiesen. Insbesondere griff ihre Argumentation nicht, die Rettungsmaßnahmen überschritten die Kompetenzen der EU. Zwei wesentliche Erfolge haben sie jedoch errungen. Zum einen hat das Gericht ihre Beschwerde überhaupt als zulässig erkannt, was keineswegs selbstverständlich war. Zum anderen haben die Richter in der Begründung Leitlinien zur Haushaltsautonomie des Parlaments und künftigen Kredit- oder Gewährleistungsverpflichtungen gegenüber der EU ausgegeben. Was verlangen die Richter? Die Beteiligung des Bundestags. Konkret geht es ihnen um eine Vorschrift aus dem Stabilisierungsmechanismus-Gesetz. Danach ist die Bundesregierung bislang nur verpflichtet, sich vor neuen Gewährleistungsübernahmen um ein Einvernehmen mit dem Parlaments-Haushaltsausschuss zu „bemühen“. Das ist den Richtern zu wenig. Statt die Norm aber für verfassungswidrig zu erklären und den Klägern damit mindestens einen Teilsieg zu bescheren, soll sie künftig „verfassungskonform“ im Sinne von mehr Mitsprache der Abgeordneten auszulegen sein. Künftig muss die Regierung die ausdrückliche Zustimmung des Ausschusses einholen. Warum haben die Richter die Maßnahmen sonst passieren lassen? Das Urteil zielt zunächst auf die zurückliegenden Vorgänge. Selbst wenn sich das Bürgschaftsrisiko realisierte und die 170 Milliarden fällig würden, seien die Verluste noch refinanzierbar. Auch sei in den beiden Gesetzen noch kein Ja zu einer Transfergemeinschaft zu sehen. Hierzu stellt das Gericht fest: „Keines der angegriffenen Gesetze begründet oder verfestigt einen Automatismus, durch den der Deutsche Bundestag sich seines Budgetrechts entäußern würde. Derzeit besteht keine Veranlassung, einen unumkehrbaren Prozess mit nachteiligen Konsequenzen für die Haushaltsautonomie des Deutschen Bundestages anzunehmen.“ Zweck, Modalitäten und Volumen der Gewährleistungsübernahme seien klar bestimmt und begrenzt. Was folgt aus dem Urteil für weitere Euro- Rettungsaktionen? Streng formal betrachtet nur die verpflichtende Beteiligung des Haushaltsausschusses. Es festigt das Budgetrecht des Bundestags, gern als „Königsrecht“ bezeichnet. Die Richter stellen aber auch klar, das Parlament sei hier eng an die Verfassung gebunden. Es dürfe seine Budgetverantwortung nicht durch „unbestimmte haushaltspolitische Ermächtigungen auf andere Akteure übertragen“. Es dürfe sich keinen „finanzwirksamen Mechanismen“ ausliefern, die zu „nicht überschaubaren haushaltsbedeutsamen Belastungen“ führen können, seien es Ausgaben oder Einnahmeausfälle. Die Richter nennen das „Verbot der Entäußerung der Budgetverantwortung“ und wollen es so verstanden wissen, dass die Abgeordneten in ihren Rechten dadurch nicht beschnitten werden, sondern diese gewahrt würden. Liegt das Urteil auf der Linie des Gerichts in Sachen EU-Kompetenzen? Die Richter sind zurückhaltend, EU- Rechtsakte zu kontrollieren. Und auch im aktuellen Urteil bleiben sie dabei. Sie knüpfen an die Maastricht-Entscheidung an und an das Urteil zum Lissabon-Vertrag. Die „geltenden Rechtsgrundlagen der Währungsunion“ würden es nicht zulassen, dass das Parlament seine Haushaltsautonomie entäußere. Das deutsche Zustimmungsgesetz „gewährleistet nach wie vor verfassungsrechtlich hinreichend bestimmt, dass sich die Bundesrepublik Deutschland keinem unüberschaubaren, in seinem Selbstlauf nicht mehr steuerbaren Automatismus einer Haftungsgemeinschaft unterwirft“. Im Klartext: Wer sich an die EU-Verträge hält, wird in Sachen Euro kein Problem mit Karlsruhe bekommen. Doch die Richter haben auch die Rolle des Volkes gestärkt: Artikel 38 Grundgesetz, das Wahlrecht, „schützt die wahlberechtigten Bürger vor einem Substanzverlust ihrer verfassungsstaatlich gefügten Herrschaftsgewalt durch weitreichende oder gar umfassende Übertragungen von Aufgaben und Befugnissen des Bundestages.“ Das war der Hebel, um Griechenlandhilfen und Rettungsschirm überhaupt erfolgreich vor Gericht angreifen zu können. Eigentlich folgt aus dem Wahlrecht kein Recht auf Kontrolle von Parlamentsakten, es sei denn, dessen eigene politische Gestaltungsmöglichkeiten würden dadurch „entleert“. Diese Gefahr, stellt das Gericht fest, droht auch bei einem Eingriff ins Budget. Wenn die EU an die deutsche Kasse geht, können die Bürger klagen – ein Urteil für das Volk, nicht nur für seine Vertreter.
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Das Bundesverfassungsgericht billigt sowohl den Euro-Rettungsschirm als auch die Griechenlandhilfe – allerdings unter Auflagen. Die Richter in Karlsruhe wiesen am Mittwoch mehrere Verfassungsbeschwerden ab.
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innenpolitik
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2011-09-08T08:26:52+0200
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2011-09-08T08:26:52+0200
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https://www.cicero.de//innenpolitik/welche-folgen-hat-der-richterspruch/42913
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Großbritannien vor der Europawahl 2019 - Johnson gegen Johnson
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Rachel Johnson steht mit Absicht genau dort, wo ihr Bruder Boris sich oft ablichten hat lassen: vor einem „Battle Bus“, einem Wahlkampf-Bus. Der konservative Chef-Brexiteer Boris Johnson fuhr vor drei Jahren während der Kampagne zum EU-Referendum mit einen roten Bus durch das Königreich. Darauf der Spruch: „Jede Woche schicken wir der EU 350 Millionen Pfund, lasst uns lieber unser Gesundheitssystem finanzieren.” Das war zwar faktisch falsch – die Briten schicken netto die Hälfte nach Brüssel. Doch der populistische Slogan tat seine Wirkung. Die Briten stimmten mit 52 Prozent für den Austritt aus der EU. Drei Jahre später steht auf dem Bus seiner proeuropäischen Schwester dagegen schlicht: „Für ein Referendum. Für den Verbleib in der EU. Wählt Change UK.“ Die Autorin und Journalistin Rachel Johnson sagt dazu: „Wir wollen in der EU bleiben”, und lacht verschmitzt wie ihr Bruder. Ihre Chancen, mit der Parteineugründung „Change UK“ ins europäische Parlament gewählt zu werden, sind allerdings bescheiden. Rachel Johnsons politische Karriere dürfte schnell wieder zu Ende gehen. Die ihres Bruders Boris dagegen steuert gerade einem Höhepunkt zu. Seine Chancen auf den Einzug in 10 Downing Street steigen dank des Brexitchaos, in das er selbst sein Land gestürzt hat. Die Stunden der bisherigen Amtsinhaberin, der britischen Premierministerin Theresa May, scheinen gezählt. Die Gerüchteküche in Westminster brodelt. Es ist nicht mehr sicher, dass sie bis zum Wochenende durchhält. Die Times schrieb, May würde schon am morgigen Freitag zurücktreten. Zuerst aber wählen die Briten am 23. Mai noch neue Abgeordnete ins Europäischen Parlament. Ausgezählt werden die Stimmen erst am Abend des 26. Mai wie im Rest der EU. Die Briten wollten an sich nicht mehr teilnehmen, da der Brexit aber bis zum 31. Oktober verschoben wurde, sind sie nun doch gesetzlich dazu verpflichtet, noch einmal in das ungeliebte EU-Parlament einzuziehen. Mays Konservativen droht dabei eine Kernschmelze. Sie hat die Umsetzung des Brexits versprochen und ihr Versprechen nicht halten können. Ein Drittel der Stimmen könnten laut jüngsten Umfragen an die EU-feindliche Neugründung „Brexit Party” von Nigel Farage gehen. Das Vereinigte Königreich hat sich in den drei Jahren des Brexitchaos polarisiert. Nicht nur die Brexiteers, auch die Proeuropäer erheben jetzt lautstark ihre Stimme. Davon profitiert bei den EU-Wahlen in Großbritannien am ehesten die Kleinpartei der Liberaldemokraten. Die proeuropäische Neugründung „Change UK” dagegen muss um den Einzug ins EU-Parlament zittern. Noch ist sie vielen Wählern unbekannt. „Wenn wir gar keinen Sitz in Straßburg bekommen, wäre es schon sehr enttäuschend”, gibt Rachel Johnson bei einem Auftritt in der Kurstadt Bath zu, „aber dann werden wir hier im Land als proeuropäische Partei weiter dafür kämpfen, dass der Brexit abgesagt wird.” Gehen oder Bleiben, das ist hier die Frage. Die Briten sind immer noch nicht in der Lage, eine Entscheidung herbeizuführen. Regierung und Parlament können sich nicht auf das Austrittsabkommen einigen, das Premierministerin Theresa May mit der EU im November 2018 ausgehandelt hat. Die glücklose, ungeliebte Regierungschefin will ihren Deal jetzt Anfang Juni noch zum vierten Mal vor das Parlament bringen. Die Chancen, das er angenommen wird, sind nicht gestiegen. Ihr droht ein Debakel. Vielleicht versucht sie es deshalb gar nicht mehr und tritt schon vorher zurück. Was aber passiert dann? Es gibt drei Varianten. Die EU könnte noch einmal verlängern. Der Vorteil: Je länger man den Brexit auf die lange Bank schiebt, umso eher könnte er vergessen gemacht werden. Dagegen spricht, dass die Wirtschaft lieber eine klare, stabile Lösung hätte und dass sich Großbritannien politisch radikalisiert. Zwei Optionen könnten Klarheit schaffen. „Sagen wir den Brexit doch einfach ab”, sagt Rachel Johnson, „das wäre mir am Liebsten.” Die britische Regierung hat juristisch gesehen dazu die Möglichkeit. Nach Artikel 50 der EU-Verträge kann eine Regierung den Ausstieg sowohl unilateral auslösen als auch wieder zurücknehmen. Diese Variante aber hat in der britischen Bevölkerung keine Mehrheit. Deshalb fürchten viele, dass die Briten am 31. Oktober auf einen Brexit ohne Deal zusteuern – das ist juristisch gesehen die logische Folge, wenn der Austrittsvertrag nicht angenommen wird. Wirtschaftlich gesehen würde dies dem Vereinigten Königreich schwer schaden. Die enge Vernetzung mit dem EU-Binnenmarkt und der EU-Zollunion sind für die Briten sinnvoll und lukrativ. Den Hardlinern ist dies allerdings egal, sie haben die komplizierten Verhandlungen satt. Der EU-feindliche, rechte Flügel der konservativen Tory-Partei will nach dem erwartbaren Rücktritt der moderaten Theresa May einen harten Brexiteer nach Downing Street entsenden, um „No Deal” durchzusetzen. Deshalb könnte die Stunde von Boris Johnson schneller schlagen als gedacht. Der 54-jährige ehemalige Außenminister scharrt schon in den Startlöchern. „Ein Brexit ohne Abkommen ist der einzige Weg, wie wir den Respekt für uns selbst bewahren können”, tönt der ehemalige Journalist und Außenminister. Abseits der populistischen Pointen, für die er berühmt und berüchtigt ist, scheint er an seinem Image zu arbeiten. Er hat abgenommen, sich den wilden Haarschopf in eine Art Frisur klippen lassen und klingt eine Spur weniger angriffig – so als bereite er sich auf höhere Verantwortung vor. Hinter den Kulissen wirbt Bruder Boris in der Partei nicht nur um die Unterstützung der Brexit-Hardliner. Den konservativen Exzentriker Jacob Rees-Mogg hat er schon in sein Boot geholt. Nach einer Umfrage der Times hat Johnson 39 Prozent Unterstützung unter den Tories, Dominic Raab, der sich ebenfalls Hoffnungen auf das May-Erbe macht, bloß 13 Prozent. Johnson umgarnt jetzt auch die 60 moderaten Tories, die sich im Parlament um die liberal-zentristische Amber Rudd gruppieren. Andrea Leadsom, die für die Tories die Geschäfte im Unterhaus führte, und auch als potenzielle May-Nachfolgerin galt, trat am vergangenen Mittwochabend zurück. Ihr öffentlichkeitswirksamer Abgang ist ein schwerer Schlag für die Premierministerin. „Derzeit gibt es sehr viel Sturm und Drang”, kommentiert der konservative Energieminister Michael Gove in einem BBC-Interview süffisant. Der Brexiteer verwendet dabei den deutschen Begriff für jugendlich romantischen Überschwang. Ganz eindeutig eine klassisch englische Untertreibung – die konservative Tory-Partei ist schließlich gerade dabei, die eigene amtierende Premierministerin zu stürzen. Ob er Boris Johnson als Nachfolger unterstützen könnte? Gove: „Boris Johnson ist ein Konservativer mit Flair, Elan, Klasse und Intellekt.” Vor drei Jahren, in den dramatischen Tagen des Juli 2016, war Michael Gove noch ganz anderer Meinung. Er entzog damals seinem alten Freund Boris die Unterstützung im Bewerb um den Chefsessel in letzter Minute mit der Begründung: „Trotz all seiner herausragenden Talente ist Boris Johnson nicht die richtige Person für diesen Job.”
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Tessa Szyszkowitz
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Die Europawahl 2019 beginnt schon am heutigen Donnerstag mit der Abstimmung in Großbritannien. Ausgerechnet dort, wo der Brexit die Bevölkerung spaltet, bis in die Familien hinein. Boris Johnson, der eigentlich bereit steht für die Nachfolge von Theresa May, bekommt Gegenwind von der eigenen Schwester
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"Europawahl 2019",
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außenpolitik
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2019-05-23T12:44:20+0200
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2019-05-23T12:44:20+0200
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https://www.cicero.de//aussenpolitik/europwahl-2019-grossbritannien-theresa-may-brexit-boris-johnson-rachel-johnson
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Die Grünen – Nicht liberal, sondern stockkonservativ
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Der Sieg der politischen Linken scheint absolut. Deutschland,
Jahrzehnte latent „strukturkonservativ“, wie man das nannte, hat
sich in ein Land verwandelt, das von linken politischen
Mentalitäten dominiert wird. Dafür sprechen nicht nur die
Landtagswahlergebnisse der letzten Monate, der missglückte
Politikwechsel 2005 und der schwarz-gelbe Pyrrhus-Sieg 2009. Dafür
spricht vor allem der gesellschaftliche Wertewandel, der in einer
pluralistischen Gesellschaft naturgemäß nicht homogen und
widerspruchsfrei ist, sich aber dennoch prägnant in der
Alltagskultur niederschlägt, in persönlichen Überzeugungen,
individuellen Lebensentwürfen und zur Schau getragenen
Lebenshaltungen. Möchte man den Eindruck dieses radikalen politischen
Mentalitätswandels in Deutschland verstehen, so muss man sich den
Grünen zuwenden. Als Erbe der 68er-Bewegung und der aus ihr
hervorgegangenen Emanzipationsströmungen leben die Grünen von dem
Image, eine liberale und irgendwie moderne Partei zu sein. Nun
liegt der Fehler dieser Überlegung schon darin, dass die so
genannte 68er-Bewegung alles andere war, mit Sicherheit aber nicht
liberal. Allerdings könnte man argumentieren, dass der
emanzipatorische Impuls von 68 bei den Grünen überlebt hat, die
altlinken, totalitären Erblasten sich hingegen in den letzten
Jahrzehnten abgeschliffen haben. Doch schon ein kurzer Blick in das
grüne Wahlprogramm zeigt das Gegenteil: Gleichgültig, ob es um die
Ausdehnung der Gewerbesteuer auf Freiberufler geht, um
Bürgerversicherung, Einheitsschule, Wärmedämmverpflichtung oder
Geschwindigkeitsbegrenzungen – die Politik der Grünen bedeutet vor
allem Zwang. Die Grünen sind daher alles Mögliche, nur keine
liberale Partei. Und die Wähler der Grünen sind keine Liberalen.
Allerdings fühlen sie sich als solche. Und hier liegt das
Missverständnis. Für Liberale gibt es keine universale Moral und keine ethischen
Grundsätze, die es erlauben würden, eine solche Moral abzuleiten.
Liberale gehen davon aus, dass der Mensch frei ist, autonom und
selbstbestimmt. Er hat das Recht, sein Leben gegebenenfalls
egoistisch, verantwortungslos und alles andere als nachhaltig zu
führen. Das bedeutet nicht, dass der Mensch sein Leben so führen
sollte, sondern lediglich, dass es keine Institution geben darf,
die ihn, mit welchen Mitteln auch immer, dazu zwingt, ein Leben
nach ihren Vorstellungen zu führen – insbesondere nicht den Staat.
Politik darf aus liberaler Sicht nicht den Versuch darstellen,
einen Lebensstil durchzusetzen und sei er noch so umweltschonend,
tolerant, multikulturell, kinderfreundlich und am Gemeinwohl
orientiert. Für Liberale gilt allein das Recht des „Pursuit of
Happiness“ – was immer das für den Einzelnen bedeutet. Für die Grünen hingegen ist Politik im Kern die Durchsetzung
einer strengen Pflichtenethik. Der paternalistische Gestus, der
damit einhergeht, zeigt, warum die Grünen in Deutschland so
erfolgreich sind und die Eingangsdiagnose, dass wir in einer linken
Republik leben, bestenfalls teilweise richtig ist: Die Grünen sind
die eigentlich konservative Partei. Das ist zunächst keine neue
Feststellung. Allerdings gelten als Indizien für grünen
Konservativismus zumeist Fortschrittspessimismus,
Naturverbundenheit und Technikfeindlichkeit. Doch mit
eskapistischer Fortschrittskritik schart man nicht ein Viertel
aller Wähler hinter sich – nicht einmal in Deutschland. Der grüne
Konservativismus geht tiefer und ist damit zugleich
massentauglicher. Wie der traditionelle Konservative, so ist auch
der grüne Konservative vor allem von der Überzeugung getragen, es
gäbe zeitlose, allgemein gültige Werte, die es unbedingt
durchzusetzen gilt. Bezog der Konservative alt hergebrachter
Provenienz die Legitimation seiner Normen aus der Tradition, so
beruft sich der grüne Neukonservative hingegen auf eine universale
Verantwortungsethik, die scheinbar rational fundiert ist. Politpsychologisch übernehmen die Grünen somit die Funktion der
CDU. Das macht sie für letztere so gefährlich. Hinzu kommt, dass
die CDU dem grünen Konservativismus keinen eigenen, traditionellen
Konservativismus entgegensetzen kann. Denn für welche Inhalte
sollte ein traditioneller Konservativismus eintreten? Sexismus?
Patriarchat? Homophobie? Chauvinismus? Für das reaktionäre
Christentum Joseph Ratzingers? Lesen Sie auf der nächsten Seite mehr über die grünen
Neukonservativen. Das programmatische Arsenal des Traditionskonservativismus hat
sich erschöpft. Das bedeutet jedoch nicht, dass der
Konservativismus verschwunden ist, er hat sich lediglich neue
Inhalte gesucht. Seinen Grundimpuls, die moralische Entrüstung,
haben auch die grünen Neukonservativen beibehalten. Statt über laxe
Sitten, eine verlotterte Sexualmoral und schlechte Erziehung erregt
sich der neue Konservative über zu stark motorisierte Autos,
Konsumgeilheit und sozialen Egoismus. Beide Konservativismen eint
jedoch – und das ist der Kern jedes Konservativismus – die Idee
allgemeingültiger Werte, die wiederum politische Eingriffe in die
Lebensentwürfe jedes Einzelnen legitimieren. Wer dieser Moral nicht
genügt, hat nicht einfach ein anderes Wertesystem. Er versündigt
sich vielmehr. Insofern sind die traditionellen Konservativen
immerhin ehrlicher als ihre grünen Widergänger, die sich verlogener
Weise auch noch mit dem Etikett des Pluralismus
schmücken. Die gemeinsame emotionale Basis von traditionellen und neuen
Konservativen ist Angst. Genauer: die Angst vor der
Unberechenbarkeit moderner Lebenswelten. Diese Angst wird nicht
direkt artikuliert, sie zeigt sich symbolisch. Bei
Traditionskonservativen etwa in der Furcht vor Kriminalität, bei
Grünkonservativen in der Panik vor Klimakatastrophen oder atomarem
GAU. Das unbedingte moralische Wissen darum, was richtig und falsch
ist, ist eine Abwehrreaktion. Sie will die Welt in ein Korsett von
Regeln zwingen, sie sicher machen und berechenbar – und so
Zukunftsängste bändigen. Diese starke, emotional getragene Moralisierung der Politik
erklärt auch, weshalb die gesellschaftliche Großwetterlage für
Liberale so ungünstig ist. Liberalismus wird vom grünkonservativen
Mainstream so lang toleriert, wie er für Bürgerrechte kämpft, gegen
Diskriminierung oder gegen den Überwachungsstaat. Schwierig wird es
jedoch, wenn Liberale sich konsequenterweise auch für das
individuelle Recht einsetzen, nicht nachhaltig zu sein, nicht
sozial, nicht verantwortungsvoll oder auch nur nicht
emanzipiert. Doch statt auf Individualismus zu setzen und auf Autonomie,
reduziert sich der politische Liberalismus auf einfältige
Steuersenkungsparolen. Wie fatal das sein kann, zeigt die jüngste
Bürgerlichkeits-Debatte, die in guter deutscher Tradition
suggeriert, es gäbe nur zwei Alternativen: rechts oder links,
traditioneller oder sozialökologischer Konservativismus. Man hat den Eindruck, dass wir nach revolutionären Jahrzehnten
vor einem neuen Biedermeier stehen. Der alte Katalog der
Primärtugenden wurde umgeschrieben. Das neue Biedermeier ist
ökologisch, sozial, kinderfreundlich und verantwortungsvoll. Dass
ändert jedoch nichts daran, dass die neuen BiedermännerInnen genau
so eng, borniert und kleingeistig sind, wie die alten.
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CICERO ONLINE schaut zurück auf ein Jahr voller interessanter, bewegender, nachdenklicher oder einfach schöner Texte. Zum Jahreswechsel präsentieren wir Ihnen noch einmal die meistgelesenen Artikel aus 2011. Im September: Die Grünen halten sich für eine liberale Partei. In Wirklichkeit stehen sie für einen neuen und rigorosen Konservativismus. Von Einheitsschule, Gewerbesteuer für Freiberufler bis Tempolimit. Grüne Politik bedeutet moralische Zwangsverordnung statt Einsatz für die Freiheit jedes einzelnen.
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innenpolitik
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2011-09-10T13:34:54+0200
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2011-09-10T13:34:54+0200
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https://www.cicero.de//innenpolitik/nicht-liberal-sondern-stockkonservativ/42902
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Regierungsbildung - Ratlose Machtspiele
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Drei Wochen ist die Bundestagswahl inzwischen her. Und sieht man einmal von der hektischen Betriebsamkeit ab, von der vor allem die Wahlverlierer nach dem 22. September erfasst wurden, hat sich die politische Gefechtslage in Berlin kaum verändert. Eine Große Koalition ist weiter wahrscheinlich, die schwarz-grünen Gespräche sind vor allem eine politische Lockerungsübung. Aber eine neue Regierung ist weiterhin nicht in Sicht. Die Diskussionen über den Mindestlohn, über Steuererhöhungen oder die Energiewende klingen derweil wie ein verlängerter Wahlkampf. Kompromissbereitschaft wird allenfalls von der jeweiligen Gegenseite erwartet. Und während die Parteien unermüdlich auf der Stelle treten, hat die Regierung ihre Arbeit weitgehend eingestellt. [[nid:53807]] Diese Woche nun soll es endlich ernst werden. Am Montag redet die Union wieder mit den Sozialdemokraten, am Dienstag ein zweites Mal mit den Grünen. Für welchen Koalitionspartner sich Merkel anschließend entscheidet, ist weiter offen. Auch wenn die schwarz-grünen Liebeslieder sehr unbeholfen vorgetragen werden, sind alle Spekulationen über mögliche schwarz-rote Kompromisslinien vor allem eines: Spekulationen. Die Union tut sich schwer mit der Partnerwahl, es ist nicht einmal ausgeschlossen, dass die Hängepartie weitergeht und die Republik stillsteht. Es hat seinen Grund, dass sich die Politik in diesen Tagen kaum vom Fleck bewegt. Das Ergebnis der Bundestagswahl hat – sieht man einmal von dem immer durchblickenden CSU-Chef Horst Seehofer ab – alle Parteien zutiefst verunsichert. Die Ahnung, dass das bundesdeutsche Parteiensystem vor einem fundamentalen Umbruch steht, dass neue Allianzen entstehen werden, traditionsreiche Parteien verschwinden und neue die politische Bühne betreten könnten, lähmt die Akteure. Ihre Angst ist groß, die rastlosen Machtspiele können die Ratlosigkeit nicht überdecken. Die nicht besonders erfolgreiche SPD-Führung kettet sich mit ihrem Mitgliederentscheid an die Basis. Während Kanzlerkandidat Peer Steinbrück abgedankt hat, versuchen sich die beiden verbliebenen Troikaner Sigmar Gabriel und Frank-Walter Steinmeier an ihre Posten an der Spitze der Partei und der Fraktion in die Große Koalition zu klammern. Die Parteilinke wird mit der vagen Hoffnung abgespeist, dass es in vier Jahren ein rot-rot-grünes Bündnis geben könnte. Die Grünen hingegen haben sich nach der Niederlage mit der von dieser Partei gewohnten Konsequenz selbst enthauptet und sind derzeit kaum handlungsfähig. Mit schwarz-grüner Betriebsamkeit wird die dringend notwendige Debatte über die schweren strategischen Fehler der letzten Monate und den verheerenden Wahlkampf verhindert. Die Linke wiederum spielt weiter mit fundamentalistischer Lust ihre rot-rot-grünen Spielchen. Dass es für sie schon in wenigen Jahren zum rot-rot-grünen Schwur kommen könnte, verdrängt die Gysi-Truppe. Auch weiterhin weigert sich die Partei, den Bündnisfall innerparteilich vorzubereiten und mit den Sektierern in den eigenen Reihen abzurechnen. [[nid:55946]] Selbst den Wahlsieger CDU lähmt die Verunsicherung. Der Phantomschmerz über das Scheitern des natürlichen Koalitionspartners FDP nimmt von Tag zu Tag zu. Die Suche nach einem Koalitionspartner hingegen wird für die Christdemokraten zu einem Aufbruch ins Ungewisse. Egal, ob sie sich für eine Große Koalition oder ein schwarz-grünes Bündnis entscheiden, ein Zurück zur schwarz-gelben Liebe wird es auch in vier Jahren nicht geben. Die Zukunft des Liberalismus in Deutschland ist völlig ungewiss. Zudem ist es überhaupt nicht ausgeschlossen, dass der Union schon bald eine rechtspopulistische und europakritische Partei im Nacken sitzt. Weil es für alle Beteiligten der bequemste Weg ist, spricht viel dafür, das Deutschland die kommenden Jahre von einer Großen Koalition regiert wird und die Gespräche der Union mit den Grünen nur dazu dienen, die SPD zum Einlenken zu bewegen. Mit Schwarz-Rot lässt sich der machtpolitische Status quo konservieren, damit die großen Parteien mit mehr Ruhe ihre Optionen und Perspektiven sondieren können. Viel konservieren lässt sich da allerdings nicht. Der Wähler ist längst flexibler als die Parteien. Lange wird dessen Liebe für die Große Koalition nicht währen. Wer wissen will, welche Weichen die Parteien im Umbruch stellen, der sollte in den kommenden Wochen eher nach Wiesbaden schauen und nicht nach Berlin. Anders als im Bund ist in Hessen Rot-Rot-Grün möglich. Die SPD kann dort also agieren. Weil dies so ist und weil ein Linksbündnis ein Signal weit über Hessen hinaus wäre, müssen die Christdemokraten alles daran setzen, die Grünen für ein schwarz-grünes Bündnis und für das entgegengesetzte Signal zu gewinnen. Anders als in Berlin versprechen die Sondierungsgespräche in Wiesbaden spannend zu werden. Da ist kein Platz für taktische Mätzchen und einen verlängerten Wahlkampf. Auch mit dem Verharren im machtpolitischen Status quo wäre dort weder der CDU noch der SPD geholfen. Statt im Bund könnte also in Hessen in den kommenden Wochen die Zukunft des Parteiensystems anbrechen.
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Christoph Seils
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Weil Zukunftsangst die Parteien lähmt, scheint die Große Koalition für alle die bequemste Lösung zu sein. Die machtpolitischen Weichen im Parteiensystem könnten derweil woanders gestellt werden
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innenpolitik
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2013-10-14T14:44:09+0200
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2013-10-14T14:44:09+0200
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https://www.cicero.de//innenpolitik/ratlose-regierungsbildung-das-parteiensystem-steht-vor-dem-umbruch/56112
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Frank Rosenow - Der über den Wulff richtet
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Dieser Artikel erschien zuerst in der Oktober-Ausgabe des Cicero. Das Magazin für politische Kultur erhalten Sie am Kiosk oder direkt hier im Online-Shop. Außergewöhnliche Situationen erfordern außergewöhnliche Mittel. Landgericht Hannover. Der 50 Jahre alte Zeuge zittert. Er ist Alkoholiker. Vor der Verhandlung trinkt er nicht, weil er Anwälten und Richter nüchtern gegenübertreten möchte. Entzugserscheinungen im Zeugenstand. Nervosität, Ruhelosigkeit, Konzentrationsabfall. Er ist der einzige Zeuge. Es geht um Mord. Der Fall steht auf der Kippe. Der Richter handelt: Ein Gerichtsdiener wird angewiesen, etwas zu trinken zu besorgen. Zwei Flachmänner, Weinbrand Marke „Avicourt“, je 0,1 Liter, 36 Prozent. Im Richterzimmer spült der Mann das Zeug runter, dann sagt er aus. Der Strafverteidiger Marcin Raminski glaubt es kaum. Er sei „überrascht und perplex“ gewesen, erzählt er von der Verhandlung im Jahr 2012. „Erhalten Drogensüchtige demnächst Heroin?“, hat er damals geschimpft. Der Richter gibt schließlich nach, verzichtet darauf, die Aussage zu verwerten. Der Boulevard stürzt sich auf den Fall. Von einer „Schnapsidee“ ist die Rede, vom „Zeugen-Schluck-Programm“. [gallery:Die Bilder zur Wulff-Affäre] Der Richter heißt Frank Rosenow, seit zwei Jahren Vorsitzender der 2. Großen Strafkammer am Landgericht Hannover. Er verhandelt den Fall Christian Wulff. Die Erfahrungen, die er mit der Boulevardpresse sammeln durfte, könnten ihm helfen, klobige Schlagzeilen zu überstehen. Spätestens mit dem ersten Verhandlungstag, angesetzt für den kommenden Donnerstag, den 14. November, wird das Land nicht nur auf Christian Wulff, sondern auch auf seinen Richter blicken. 16 Verhandlungstage hat Rosenow fürs Erste veranschlagt. Es ist ein Fall ohne Muster. Staat gegen Ex-Staatsoberhaupt – einen Prozess gegen einen ehemaligen Bundespräsidenten gab es in Deutschland noch nie. Rosenow hat viel gesehen. Im April 2012 saß ein Mann auf der Anklagebank, der mit einem Handfeger eine Bank überfallen wollte und gegen die Eingangstür prallte. Er hatte Zuhälter in seinem Gerichtssaal, Schläger und Mörder. Jetzt wird der Angeklagte ein Mann sein, der mit 54 Jahren so alt ist wie er und der wie er Jura studiert hat: Wulff. Fragt man Juristen in Hannover nach ihm, sagen sie, dass Rosenow sich wohl kaum vom Aufsehen des Falles wird beeindrucken lassen. Er sei kein eitler Fatzke, der unbedingt den Prozess seines Lebens führen will, hört man aus Anwaltskreisen immer wieder. Im Gerichtssaal wirke er entspannt mit seinem offenen Lächeln. Geduldig, nüchtern – so beschreiben ihn Juristen, die ihn aus dem Gerichtssaal kennen. Rosenow selbst schweigt. Keine Interviews, kein Wort über diesen Prozess. Das Schweigen tut gut. Es kontrastiert mit der Lautstärke der Wulff-Wochen, in denen halb Deutschland über den Präsidenten zu Gericht saß. Auf den Moralprozess, in dem sich die Anklagepunkte ins Unüberschaubare summierten und sich die Ankläger aus Politik und Medien übertrumpften, folgt ein schlichtes deutsches Strafverfahren unter dem Vorsitz von Frank Rosenow. Der Turbulenz der Affäre Wulff steht die nüchterne Art dieses Richters gegenüber. Einen ersten Akzent hat er gesetzt: Er hat das Verfahren eine Nummer kleiner gemacht. Es wird nicht, wie von der Staatsanwaltschaft gefordert, wegen Bestechlichkeit geführt, sondern nur wegen Vorteilsnahme. Bereits die Staatsanwaltschaft wertete nach ihren überaus umfangreichen Ermittlungen nur einen Vorgang aus dem Jahr 2008 als strafwürdig. Die Anklage dreht sich um einen Besuch von Wulff, da noch niedersächsischer Ministerpräsident, und dem Filmproduzenten David Groenewold beim Münchner Oktoberfest. Groenewold soll für Wulff und dessen Familie Hotel- und Kinderbetreuungskosten in Höhe von 510 Euro und die Kosten für ein gemeinsames Abendessen für 209,40 Euro übernommen haben. Zudem soll er für einen Festzeltbesuch bezahlt haben. Daraufhin soll Wulff sich in einem Brief an den Konzern Siemens für die Förderung eines geplanten Groenewold-Filmes eingesetzt haben. In der Anklageschrift werden 25 Zeugen und sieben Aktenordner mit ausgewerteten Unterlagen als Beweismittel aufgeführt. Allerhand Details müssen untersucht, Zeugen geladen werden. Hotelangestellte und Oktoberfestgäste dürften befragt werden. Auch die mittlerweile von Christian Wulff getrennt lebende Ehefrau Bettina könnte als Zeugin auftreten. Die Staatsanwaltschaft dürfte mikroskopisch die Beziehung zwischen Groenewold und Wulff untersuchen. Der Richter muss klären, wo Freundschaft endet und wann die Korruption beginnt.Rosenow gebe den Prozessbeteiligten Raum, sagt der Hannoveraner Strafverteidiger Andreas Bäsecke. Bäsecke erzählt auch von einem Prozess unter dem Vorsitz Rosenows: Ein Mann wurde wegen Mordes zu 14 Jahren Haft verurteilt. Das Urteil wurde angefochten. Der Bundesgerichtshof hob es auf und verwies den Fall an eine andere Kammer des Landgerichts. Er landete bei Frank Rosenow. Der verurteilte den Mann zu denselben 14 Jahren. Es hätte viele Richter gegeben, die sich das nicht getraut hätten.Aber Rosenow macht sein Ding.
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Timo Stein
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Schläger, Räuber, Mörder. Frank Rosenow hat viel gesehen in seinem Gerichtssaal. Ab Donnerstag führt er den Prozess gegen Christian Wulff, einst Staatsoberhaupt der Bundesrepublik
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innenpolitik
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2013-11-12T16:04:11+0100
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2013-11-12T16:04:11+0100
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https://www.cicero.de//innenpolitik/christian-prozess-portraet-richter-wulff-frank-rosenow/56356
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Raji Sourani - Nobelpreisträger, der mit der Wahrheit trickst
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Raji Sourani lächelt viel in diesen Tagen. Auf Dutzenden Fotografien erscheint sein verschmitztes Lachen, weil Redaktionen eben Nobelpreisgewinner so bebildern: mit rosigem Gesicht und freundlicher Miene. Einzig an der wechselnden Haarfarbe könnte man erkennen, dass manche dieser Bilder schon alt sind. In Wahrheit lächelt Sourani, mittlerweile ergraut, in letzter Zeit nicht oft. Denn Raji Sourani, der Mann, der vor Kurzem mit dem „Alternativen Nobelpreis“ 2013 ausgezeichnet wurde, stammt aus Gaza. Zudem ist er Menschenrechtler. In diesen Zeiten ist das keine Kombination, die berufliche Zufriedenheit verspricht. Am Tag, an dem Sourani für seine Arbeit als Menschenrechtler geehrt wird, ist der Grenzübergang zwischen Gaza und Ägypten seit Wochen geschlossen. Was an Gütern in Gaza fehlt, wird über den israelischen Grenzübergang Kerem Schalom transportiert: Äpfel, Mehl, Propangas zum Kochen. Doch trotz UN-Hilfe reicht es nicht. Den 1,7 Millionen Menschen fehlt es an Vielem. Die regierende Hamas hat Angst vor dem Winter, aber vor allem hat sie Angst vor einem Frühling. Als Raji Sourani 1953 geboren wurde, der Spross einer alten Gazaner Familie, gab es die Hamas noch nicht. Auch einen Staat „Palästina“ gab es nicht. Ägypten besetzte damals den Gaza-Streifen. Vier Jahre war der Unabhängigkeitskrieg Israels vorbei, seit vier Jahren gedachten Palästinenser der „Nakba“, der Katastrophe, dem Unrecht des Landraubs. In dieser Umgebung wächst er auf. Als Sourani später ins ägyptische Alexandria zieht, um Recht zu studieren, ist Gaza schon von Israel erobert. Nach dem Abschluss kehrt der 23-Jährige zurück in den besetzten Küstenstreifen. Sourani, der Staatenlose, wird Anwalt in seiner Heimat. [gallery:Sozialarbeiter mit Raketen] Ich traf Raji Sourani erstmals im Dezember 2012 in Gaza-Stadt, er empfing mich in seinem Büro. Der letzte Krieg war erst zwei Wochen vorbei; vergangen war er nicht. „Ich glaube, ich bin dem Tod zweimal entronnen“, sagte Sourani. Im Durchschnitt alle sechs Minuten war während des Gaza-Krieges irgendwo ein Geschoss eingeschlagen, Tag und Nacht, eine Woche lang. 1995 hatte Sourani das „Palästinensische Zentrum für Menschenrechte“, kurz PCHR, gegründet, in dem er mich nun willkommen hieß. Bis heute leitet er es. In Wandfächern hängen, nach Monat und Sprache sortiert, mehr als hundert Menschenrechtsberichte und warten auf ihre Leser. Auf Plakaten lese ich Zitate von Ché Guavara und Voltaire, den Kanonikern des Freiheitskampfes. Sourani ist nicht nur das Hirn dieser Organisation, er ist auch ihr Herz. Mehr als 50 Mitarbeiter arbeiten für ihn und das Recht – Anwälte, Faktensammler, Spendeneintreiber. Sie tragen Daten zusammen, befragen Verwandte von Opfern, bereiten Klagen vor. Und sie protestieren in den Medien. Doch von den fast 500 Klagen, die nach dem Gaza-Krieg „Gegossenes Blei“ 2008/9 vom PCHR bei dem israelischen Militärstaatsanwalt eingereicht wurden, erhielten sie nach eigenen Angaben zweimal eine Antwort. Sie war in beiden Fällen die gleiche: Akte geschlossen, keine Verurteilung. „Wir vergessen nicht, und wir vergeben nicht“, sagt Sourani. „Eines Tages wird sich zeigen, dass die israelische Regierung auf der falschen Seite der Geschichte stand.“ Am wichtigsten ist Souranis Arbeit, wenn Krieg ist, wie zuletzt im November 2012. Denn wenn Krieg im Nahen Osten herrscht, wartet die Welt auf Zahlen. Wie viele Tote? Wie viele Verletzte? Wer ist Zivilist, wer Kämpfer? Kaum einer fragt sich, wo diese Angaben eigentlich herkommen. Nicht die Vereinten Nationen selbst erfassen die Toten, auch wenn das in den Nachrichten so lautet. Der bei Weitem größte Teil der Arbeit wird palästinensischen Organisationen überlassen, vor allem Souranis PCHR. Er und seine Mitarbeiter sind die Zahlenmacher von Gaza. Man muss sich diese Arbeit als lebensgefährlich vorstellen. Während die israelische Armee noch bombardiert – und Hamas-Raketen häufig fehlzünden –, fahren die Mitarbeiter des PCHR zu den brennenden Ruinen, den Autowracks und verkohlten Leichen. Sie suchen Bombensplitter und finden manchmal nur die Reste einer Identität. Hin und wieder kommt Minuten später der zweite Angriff auf das gleiche Ziel. Konnte man sich irgendwie schützen? Raji Sourani, der mit seiner Frau in Gaza-Stadt wohnt, blickt resigniert zur Seite. „Es gab keinen sicheren Hafen in Gaza“, antwortet er. Was treibt einen Menschen an, unter diesen Umständen zu arbeiten? Im Jahr 1979 – Sourani hatte kurz zuvor seine Anwaltslizenz erhalten – wird er zum ersten Mal von israelischen Sicherheitskräften festgenommen. Es folgen fünf weitere Verhaftungen, erst von Israelis, dann von Palästinensern. In den Neunzigern, erzählt er, habe Jassir Arafat noch „wie ein König geherrscht“. Von Israel gefoltert, von Palästinensern enttäuscht, klammert er sich an das Recht, den Buchstaben der Gerechtigkeit. So entstand das PCHR. Wenn man Sourani an seinem großen Konferenztisch gegenübersitzt, ihn gestikulieren, schimpfen und dann wieder parlieren sieht, spürt man etwas von dem Furor, der in sechs Gefängnisaufenthalten gewachsen sein muss. [gallery:Der Konflikt zwischen Israel und seinen Nachbarn] Wehe dem, der gegenüber Sourani den Advocatus Diaboli spielt, ihn mit den gängigen Argumenten der israelischen Armee konfrontiert: Tun nicht die Israelis ihr Möglichstes, um zivile Opfer zu vermeiden? Was ist mit den Flugzetteln, den Warn-SMS, dem „roof knocking“, bei dem Kampfjets leere Bomben auf das Dach werfen, bevor sie das Haus attackieren? Wortlos greift er zu einem Block, einem Stift und zeichnet. „Wenn 80.000 Menschen einen Flugzettel finden und lesen, wohin sollen die denn fliehen?“, ruft er und schlägt mit der Hand auf den Tisch. „Sagen Sie es mir!“ Das ist die eine Seite: Sourani als Verteidiger der Zivilisten, einer, der nie scheut, „den Mächtigen die Wahrheit zu sagen“, wie es in der Urteilsbegründung für den „Alternativen Nobelpreis“ heißt. Doch es gibt Stimmen, die an den Zahlen des PCHR zweifeln. Souranis Kritiker werfen ihm vor, er betreibe „lawfare“: Kriegsführung mit rechtlichen Mitteln. Seine Organisation lege das Völkerrecht oft zu großzügig aus und verwandle dann militante Kämpfer auf dem Papier zu zivilen Opfern. Einen jungen Radiomacher aus Gaza, den die israelische Luftwaffe im November 2012 tötete, deklarierten Souranis Leute als Zivilisten. Dabei kämpfte er in Wahrheit für die Al-Quds-Brigaden, den bewaffneten Arm des Islamischen Dschihad. Manche Blogger machen es sich zum Sport, in den Listen des PCHR die Militanten zu finden, die als Zivilisten deklariert werden. 17-jährige Hamas-Kämpfer finden sich darunter, als „Kinder“ bezeichnet, und Polizisten, die nachts für den Kampf gegen Israel trainieren. „Wir werden zwar von der Besatzungsmacht kritisiert“, sagt Sourani. „Aber ich höre da nicht hin. All unsere Berichte werden gegengecheckt. Und niemand“, betont er, „bezweifelt die Glaubwürdigkeit des PCHR.“ Genau das ist das Problem. Die Vereinten Nationen vertrauen allzu sehr den Organisationen aus Gaza. Dabei haben auch sie – bei allem Einsatz für die Menschenrechte – eine Agenda. Vor einiger Zeit veröffentlichten Sourani und sein PCHR ihren Jahresbericht 2012. Dort werden zwei weitere, von der israelischen Armee getötete Männer als Journalisten bezeichnet. Sie gehörten zur Medienabteilung der Al-Quds-Brigaden und des Islamischen Dschihad. Auf dessen Website kann man sehen, um welche Art von Journalismus es sich gehandelt haben mag. Einer der beiden posiert in Tarnanzug, das Gesicht olivgrün bemalt. In seinen Armen hält er ein schweres Maschinengewehr, auf einem anderen Bild ein Sturmgewehr, auf einem weiteren blickt er durch das Visier eines Scharfschützengewehrs. Die schwedische Jury, die Raji Sourani am vergangenen Donnerstag auszeichnete, lobte vor allem sein „vorurteilsfreies“ Handeln.
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Jan Ludwig
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Der Palästinenser Raji Sourani erhält den Alternativen Nobelpreis 2013. Seit Jahrzehnten kämpft der Anwalt in Gaza für Gerechtigkeit. Doch so unparteiisch, wie die Jury behauptet, ist Sourani nicht
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außenpolitik
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2013-10-02T17:20:59+0200
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2013-10-02T17:20:59+0200
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https://www.cicero.de//aussenpolitik/raji-sourani-der-alternative-nobelpreistraeger-der-mit-der-wahrheit-trickst-palaestina/56015
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Patente für Corona-Impfstoffe - Was öffentlich finanziert wird, sollte auch öffentlich zugänglich sein
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Es ist wahr: Es grenzt an ein Wunder, dass die moderne Medizin weniger als ein Jahr brauchte, um mit dem Impfstoff gegen das Corona-Virus einen langfristigen Ausweg aus der Pandemie zu ermöglichen. Es ist aber auch wahr, dass es bei dem Impfstoff um viel Geld geht. 12 Euro soll die EU pro Dosis des Mainzer Unternehmens Biontech bezahlen. Bei mittlerweile 600 Millionen bestellten Dosen durch die EU gehen die Umsätze schnell in die Milliardenhöhe für das Unternehmen an der Goldgrube. Dabei stellen Pharma-Unternehmen eigentlich nur ungern Impfstoffe her. Sie sind hochkomplex in der Entwicklung und die Erforschung verschlingt viel Geld. Hat man es dann doch geschafft, kann das Produkt pro Patient allerdings nur ein oder zwei Mal verwendet werden. Arznei, die vergleichsweise leicht herzustellen ist und auf die die jeweiligen Patienten über Jahre hinweg angewiesen sind, sind der Industrie um ein Vielfaches lieber. Deswegen greifen die Staaten mit Steuergeldern ein. Und sind dabei nicht knausrig. Allein für Biontech hat das deutsche Wissenschaftsministerium 375 Millionen Euro locker gemacht. In den USA hat Donald Trump insgesamt ca. 10 Milliarden Dollar an Unternehmen verteilt, die sich der Suche nach einem Impfstoff verschrieben haben. Da kann man sich schon die Frage stellen, wie es sein kann, dass der Steuerzahler in Form der Staatsförderung die Kosten für den Impfstoff trägt und im Anschluss teuer bezahlen muss für das Privileg, den von ihm finanzierten Impfstoff dann auch wirklich zu bekommen. Ähnlich müssen auch die Verantwortlichen an der Universität von Oxford gedacht haben. Gegenüber der New York Times hielt Adrian Hill, Direktor des Jenner Instituts an der Universität Oxford, das den Impfstoff entwickelt, fest, dass in einer Pandemie die Lizenzen von Impfstoffen nicht exklusiv sein sollten. Deshalb wollte Hill den entwickelten Impfstoff frei zur Verfügung stellen. Bill Gates riet davon jedoch ab. Mit seiner Stiftung, der Bill and Melinda Gates Foundation, gehört er zu den größten Spendern des Instituts. Er hielt es für geboten, sich mit einem großen Pharmaunternehmen zusammen zu schließen. So half Gates eine Partnerschaft zwischen der Universität Oxford und dem Pharmakonzern AstraZeneca zu vermitteln. AstraZeneca übernahm neben der Massenproduktion und Verteilung des Wirkstoffes, wofür sie innerhalb der EU derzeit wegen massiven Lieferengpässen in der Kritik stehen, auch die Exklusivrechte an diesem. Gleichzeitig verpflichtete sich der Konzern, den Impfstoff zu einem günstigen Preis anzubieten. Tatsächlich verkauft AstraZeneca seine Dosen zu einem deutlich geringeren Preis als andere Anbieter: Während Moderna pro Dosis 14,70 Euro und Biontech 12 Euro verlangt, bietet AstraZeneca seine Dosen für 1,78 Euro an. Auch wenn die Herstellungskosten nicht transparent sind, dürfte dieser Preis tatsächlich etwa dem Produktionspreis entsprechen. Das Versprechen, auf Profite zu verzichten, gilt jedoch nach der Pressemitteilung der Oxford University nur bis zum „Ende der Pandemie“. Mit dem Ende der Covid-19-Pandemie dürfte allerdings noch längst nicht die letzte Impfdose verspritzt sein. Auch gehen einige Experten im Hinblick auf Mutationen des Virus davon aus, dass der Impfstoff regelmäßig angepasst und neu verwendet werden muss. Das Geschäft mit dem Vakzin dürfte damit für AstraZeneca lediglich etwas verschoben werden. Die Diskussion über Lizenzen und Exklusivrechte bei Impfstoffen geht damit in die nächste Runde. Bei allen bisherigen Vorschlägen zu einer Neuregelung, kam der Widerspruch aus der Pharma-Industrie stets prompt. Wer am geistigen Eigentum herumdoktert, der zerstöre langfristig die Anreize zur Innovation. Grundsätzlich mag dieser Einwand stimmen. Unternehmen riskieren große Kapitalmengen in der Aussicht, ihr Produkt danach lukrativ verkaufen zu können. Doch sie riskieren nicht nur ihr eigenes Kapital. Dadurch, dass die Entwicklung der Impfstoffe zu großen Teilen öffentlich finanziert wird, kann man im Gegenzug fordern, dass auch die Lizenzen öffentlich sind. Ein weiterer Einwand widmet sich den hohen Anforderungen, die mit der Produktion von Impfstoffen einhergehen. Man stelle ein Vakzin nicht mal eben so her. Der Zertifizierungsprozess zur Qualität der Herstellung sei aufwändig und langwierig. Auf die kurze Frist ist auch dieser Punkt valide. Trotzdem könnte man mit freien Impfstofflizenzen Konkurrenten in der Pharmaindustrie zumindest die Chance geben, sich an der Produktion zu beteiligen. Den damit einhergehenden Aufwand werden Unternehmen in der Aussicht auf mögliche Gewinne auf sich nehmen. Im Oktober 2020 haben Indien und Südafrika in der Welthandelsorganisation den Vorschlag gemacht, im Hinblick auf das Corona-Virus den Patentschutz der Impfstoffe zu lockern. Mittlerweile wird dieser Vorschlag von fast 100 Ländern und auch der Weltgesundheitsorganisation unterstützt. Die reichen Industrienationen üben sich hingegen in Zurückhaltung. Im Anbetracht der ungewöhnlichen Umstände durch das Corona-Virus und der Tatsache, dass die Impfstoffe zu großen Teilen mithilfe von Steuergeldern entwickelt und produziert werden, spräche jedoch vieles für ein Umdenken.
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Jakob Arnold
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Bei den Impfstoffen gegen Corona geht es neben der Gesundheit um viel Geld. Dabei wurde die Forschung und Produktion zu großen Teilen von Steuergeldern finanziert. Der Patentschutz sollte deshalb überdacht werden.
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[
"Corona",
"Impfstoff",
"Biontech",
"Subventionen",
"AstraZeneca"
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wirtschaft
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2021-02-01T12:38:12+0100
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2021-02-01T12:38:12+0100
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https://www.cicero.de/wirtschaft/patente-impfstoffe-corona-oeffentlich-finanziert-subventionen
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Schulreform - Deutschlands Lehrer sind am Limit
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Oberstudienrat Vogel seufzt schon am Freitagabend, wenn er an den Montagmorgen denkt. Bernd Bonitz behauptet steif und fest, seine 3 400 netto im Monat seien schwer verdientes Geld, die Hauptschule, sagt er, sei der reinste Gulag, und lange mache er das nicht mehr. Fräulein Zimmerle hat sich krankschreiben lassen, die Kollegin Wildgruber schafft es nur noch mit Hilfe von Tabletten, Dr. Wartmann ist enttäuscht, Dr. Gross verbittert, die Frau von Koegler will sich scheiden lassen, und Fritzi Bauriedl hat neulich in der Konferenz gesagt: „Wenn ich noch einmal das Wort Rückstellerquote höre, dann schreie ich.“ Woran mag das alles nur liegen? Das weiß anscheinend kein Mensch. Alle bisherigen Nachforschungen,so gründlich sie auch angestellt wurden, alle Pilotversuche, alle Innovationsausschüsse, alle Wahlpflichtdifferenzierungsmodelle, alle Didaktik-Designs, alle Evaluationsuntersuchungen, alle Bildungsgesamtpläne und Rahmenrichtlinien haben den langen, langen Jammer der Schulen nur noch verlängert. (Aus: Hans Magnus Enzensberger, Plädoyer für den Hauslehrer, in:Politische Brosamen, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1982) Was klingt wie ein langer, langer Seufzer aus dem zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts, entstammt einem Essay von 1982. Geschrieben hat ihn Hans Magnus Enzensberger, und man sollte meinen, dass wir heute, mehr als dreißig Jahre später, befreit darüber lachen könnten. Amüsant ist der Text jedoch wegen seiner verblüffenden Aktualität. Oder, genauer gesagt, wegen seiner nahezu absurden Aktualität. Warum laborieren wir noch immer an den gleichen Problemen herum wie in der frühen Neuzeit der deutschen Bildungsdebatte? Warum kommen uns die satirisch überzeichneten Lehrertypen so bekannt vor, die hohl klingelnden Fachbegriffe, die kopfschüttelnde Ratlosigkeit des Autors? Auch heute sorgt das Reizthema Schule wie kaum ein anderes für hitzige Kontroversen. Die Diagnose eines Bildungsnotstands gehört ebenso zum Inventar unserer Empörungskultur wie das Lamento über veraltete Lehrpläne, obsolete pädagogische Konzepte und nicht zuletzt die überforderten Lehrkräfte. An Therapie vorschlägen mangelt es nicht. Kleinere Klassen, neue Lehrinhalte, offener Unterricht, die Abschaffung von Zensuren – in einem Klima, das von Alarmismus geprägt ist, überbietet man einander mit Ideen für strukturelle Veränderungen. Sie verheißen Befreiungsschläge, heraus aus der Bildungsmisere, hinzu einem Schulsystem, dessen Absolventen faire Chancen auf sozialen wie beruflichen Erfolg haben. Allerdings fällt auf, mit welch erstaunlicher Beharrungskraft das Gros der Lehrer auf den permanenten Optativ des Wünschens und Wollens reagiert: nämlich gar nicht. Während Politiker, Psychologen, Lernforscher, Kulturtheoretiker und neuerdings auch Hirnforscher unablässig Vorschläge unterbreiten, wie die Schule noch zu retten sei, bleibt es in der Lehrerschaft auffällig still. Reformen von außen werden zwar zähneknirschend umgesetzt, etwa die Reduzierung der gymnasialen Oberstufe um ein Jahr oder der jahrgangsübergreifende Unterricht in der Grundschule. Aber ein breiter vitaler Erneuerungswille von innen ist kaum spürbar. Eher hinhaltender Widerstand. Dabei wissen auch Lehrer seit Langem, dass etwas nicht stimmt im Kosmos Schule. Das Unbehagen ist groß, auch die Resignation in einem qua Verwaltung und Verbeamtung ruhiggestellten System. Dennoch leisten viele Lehrer einen hervorragenden Unterricht. Einzelne Lehrer und Schulleiter versuchen außerdem, auf eigene Faust Innovationen durchzusetzen. Zu den unerschrockenen Pionieren gehört das Kollegium der Integrierten Gesamtschule Göttingen. Trotz permanenter administrativer Gängelungsversuche – einmal sollte die Schule sogar geschlossen werden – wird hier erfolgreich ein eigenes Lernmodell verwirklicht. Innovationsgeist bewies ebenfalls der Schulleiter des Albrecht-Ernst-Gymnasiums in Oettingen, der das Konzept der Lernlandschaften entwickelte. Symptomatisch sind diese Beispiele nicht. Wie auch anderswo, hat die Normalität eine defensive Kraft. Viele Impulse verebben, weil es einfacher scheint, einen unbefriedigenden Status quo aufrechtzuerhalten, statt Neues, Unbequemes zu wagen. „Das Kollegium muss sich in der Umsetzung einig sein und die erforderliche Mehrarbeit leisten. Ein Konsens ist oftmals nur schwer zu erreichen“, erklärt Albert Zimmermann von der Universität Köln das business as usual. Mehr Eigeninitiative wäre jedenfalls dringend notwendig. Eine international vergleichende Schulstudie des Boston College von 2013 kommt zu dem Schluss: Im Gegensatz zu anderen Ländern, wo äußere Sicherheit und gute Ausstattung von Schuleneinen hohen Leistungsstandard der Schüler gewährleisten, sei es in Deutschland ausschlaggebend, ob der Schulleiter den Lernerfolg seiner Schüler anstrebe. Der Begriff des Leistungsstandards ist zwar erklärungsbedürftig, mehr Selbstverantwortung der Schulleiter und Lehrer ist jedoch fraglos vonnöten. Offenbar mangelt es an Energie und Tatkraft. Befragt man Lehrer,ist vor allem eines erkennbar: ihr hoher Leidensdruck. Was ist von einem Berufsstand zu halten, in dem Survival-Ratgeber kursieren, in dem nur rund 40 Prozent der Beschäftigten die Regelaltersgrenze erreichen und in dem das Risiko eines Burn-outs höher ist als in jeder anderen Berufsgruppe? Auch wenn Enzensberger auf dem Boulevard der essayistischen Übertreibung flaniert: Grundsätzlich hat seine satirische Skizze wenig von ihrer Treffsicherheit verloren, vor allem im Hinblick auf das pädagogische Personal. So sinnvoll und angebrachtes ist, über veränderte schulische Rahmenbedingungen nachzudenken, so wenig aussichtsreich sind verordnete Reformen,wenn das öffentliche Bild, aber auch die Selbstwahrnehmung der Lehrer derart desaströs bleiben wie zurzeit. Neuere Untersuchungen belegen, dass sie zunehmend mit sich selbst beschäftigt sind, mit Überforderung, Hilflosigkeit, Resignation. Eine Allensbach-Studie von 2012 mit dem bezeichnenden Titel „Lehre(r) in Zeiten der Bildungspanik“ ergab: 49 Prozent der Befragten meinen, das Unterrichten sei anstrengender geworden, 33 Prozent beklagen starke psychische Belastungen. In der folgenden Allensbach-Studie aus dem Jahr 2013 sind es bereits 54 Prozent der Lehrer, die über erschwerte Verhältnisse stöhnen. 74 Prozent meinen überdies, eine individuelle Förderung von Schülern sei unter den gegenwärtigen Bedingungen unmöglich. Angesichts solcher Zahlen muss man davon ausgehen, dass weniger Desinteresse als vielmehr innere Emigration für die Misere des Lehrerberufs verantwortlich ist. Oft beginnt die Spirale der Frustration bereits während des Referendariats. Jeder zweite Lehrer fühlt sich unzureichend auf den Schulalltag vorbereitet. Erst nach vier bis sechs Jahren Studium wird vielen Lehramtskandidaten klar, worauf sie sich eingelassen haben: auf die oft anstrengende Begegnung mit Kindern und Jugendlichen, auf Herausforderungen, denen sie sich nicht gewachsen und für die sie sich nicht qualifiziert fühlen. Manchem wird auch bewusst,dass er möglicherweise weniger am Pädagogendasein interessiert war als an seinen Neigungsfächern. Kein Wunder, dass viele Referendare die ersten Erfahrungen mit der Praxis als Schock empfinden. Allerdings ohne die Konsequenzen daraus zu ziehen, wie Bildungsforscher Udo Rau in kritisiert: „Sie verdrängen ihre Inkompetenz in der Hoffnung, dass sich das schon irgendwie legen wird, da der Lehrerberuf andere Vorteile hat beziehungsweise die Perspektivlosigkeit in anderen Bereichen so groß ist, dass man dann doch dabeibleibt.“ Natürlich gibt es sie, die engagierten, aufopferungsvollen Lehrer, die hochmotiviert vor ihrer Klasse stehen und Schüler begeistern können. Das ist jedoch nicht die Regel. Unzufriedenheit und subjektiv empfundene Belastungen wachsen, während die gesellschaftliche Anerkennung sinkt oder ganz ausbleibt. Im Schuljahr 2012/2013 unterrichteten in Deutschland rund 670 000 voll- und teilzeitbeschäftigte Lehrer etwa 11,25 Millionen Schüler. Knapp 12 Millionen Deutsche verbringen also täglich viele Stunden im Klassenzimmer, ein Teil davon ganztags. Eine gewaltige Zahl. Rechnet man die Familien von Lehrern und Schülern hinzu, kann man ermessen, wie viele Menschen sich tagein, tagaus mit dem Thema Schule auseinandersetzen, als Akteure, als Zuschauer, als Kommentatoren. Die Art und Weise,wie Schule erlebt wird, hat damit einen kaum zu unterschätzenden Einfluss auf das gesellschaftliche Klima. Es sei das Schicksal des Volkes, welche Lehrer es hervorbringe und wie es seine Lehrer achte, mahnte Karl Jaspers. Was das Hervorbringen betrifft, so muss sich ohne Frage viel bewegen. Bildungspsychologen und Lernforscher halten eine veränderte Lehrerschulung für die wichtigste Aufgabe der Bildungspolitik. Mit der Achtung verhält es sich schon etwas komplizierter, denn die Voraussetzungen dafür sind denkbar ungünstig. Einer Studie von 2013 zufolge würde weniger als ein Fünftel der befragten Deutschen seinem Kind empfehlen, Lehrer zu werden. Die Anerkennung des Berufs hat hierzulande schwerer gelitten als anderswo, statistisch liegen wir international im letzten Drittel. Das hat schlechte Tradition. Die historische Entwicklung des Lehrerberufs in Deutschland ist die Geschichte eines Imageproblems. Lange vor der Lehrerschelte heutiger Tage wurde das Außenseiterspiel erfunden. Dorfschulmeister waren oft lausig ausgebildet, sozial isoliert und wurden als Witzfiguren wahrgenommen– exemplarisch verewigt in Wilhelm Buschs Lehrer Lämpel. Als Hauslehrer der Adelsschicht fristeten Pädagogen ein Dasein als deklassierte Bedienstete. Und seit sie in den Status des Berufsbeamtentums wechselten, empfand man sie als wenig sympathische Vollstrecker des Obrigkeitsstaats. Auch der Typus des studentenbewegten Lehrers der Siebzigerjahre, der seine Schüler duzte und Bob-Dylan-Songs zum eigenhändigen Gitarrenspiel vortrug, sorgte für keine Imageverbesserung. Mit der Feuerzangenbowlen-Gemütlichkeit ist es lange vorbei. Heute ist Lehrerbashing Volkssport. Die haben morgens recht und nachmittags frei, heißt es. Eine Mischung aus Neid und Verachtung schlägt ihnen entgegen. Oft verbirgt sich dahinter eine hochtrainierte Form von Ignoranz. Fundamentalkritik kann eine subtile Variante des Schweigens sein, auch der unterlassenen Hilfeleistung. Viele Lehrer sind am Limit. Mit Solidarität oder gar Unterstützung können sie jedoch kaum rechnen. Den einen sind sie zu autoritär, die anderen spotten über Kuschelpädagogen. Manche fordern Entertainer, andere leistungsbetonte Entspaßer. „Deutschland schwankt zwischen Kasernenhof und Freizeitpark“, sagt die Kognitionspsychologin Elsbeth Stern über die schulischen Verhältnisse. Eingeklemmt zwischen widersprüchlichen Erwartungen und beladen mit sperrigem Theoriegepäck, sollen Lehrer nun auch noch Mediatoren im Streit um die wahre Lehre sein. Die Dynamik der Vereinzelung, eine Folge des nach wie vor straff hierarchischen Systems Schule, tut ein Übriges, um sie mit dem Rücken an die Wand zu drängen. Oder handelt es sich um selbst verschuldete Unmündigkeit? [[{"fid":"61633","view_mode":"full","type":"media","attributes":{"height":312,"width":195,"style":"width: 150px; height: 240px; float: left;","class":"media-element file-full"}}]]Deutschland, deine Lehrer. Warum sich die Zukunft unserer Kinder im Klassenzimmer entscheidet, Blessing Verlag
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Christine Eichel
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Deutsche Lehrer haben ein Imageproblem. Morgens haben sie recht und nachmittags frei, heißt es. Doch der Volkssport Lehrerbashing muss aufhören, schreibt die Autorin Christine Eichel in ihrem Buch „Deutschland, deine Lehrer". Schulen benötigen keine Reform von außen, sondern von innen. Ein Buchauszug
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kultur
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2014-04-03T14:23:01+0200
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2014-04-03T14:23:01+0200
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https://www.cicero.de//kultur/schulreform-bildung-deutschlands-lehrer-sind-am-limit57334
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Ursula Krechel – Buchpreis für einen pechschwarzen Nachkriegsroman
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Es ist ein großer Roman, den Ursula Krechel in diesem Herbst unter dem Titel «Landgericht» veröffentlicht. Er erzählt vom Schicksal eines Emigranten aus Nazi-Deutschland und geht einer zentralen Frage nach: Wie fügt sich ein 1939 aus Berlin geflohener und 1948 zurückgekehrter jüdischer Jurist in die Quadratur des westlichen Nachkriegsdeutschland ein? Was geschieht, wenn dessen Wunsch nach «Wiedergutmachung» auf die kleinkarierte, eben noch mit der NSDAP liierte Beamtenschaft trifft? Dies sind die Lebensfragen des aus Breslau stammenden Dr. Richard Kornitzer, Jahrgang 1903. Als im April 1933 das nationalsozialistische «Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums» erlassen wird, bedeutet dies für den aufstrebenden Assessor am Berliner Landgericht das Aus – als Jude wird er zwangspensioniert. Seine nicht-jüdische Frau Claire, eine patente Geschäftsfrau mit Liebe zum Kino, denkt allen Repressalien zum Trotz nicht daran, sich scheiden zu lassen. 1939 endlich gelingt es Kornitzer, ein Visum für Kuba zu erhalten. Zuvor noch können er und Claire ihre beiden Kinder auf einen Transport nach England geben. Dies rettet zwar deren Leben, doch der Preis dafür ist herzzerreißend: eine auch nach dem Krieg irreparable Entfremdung von den Eltern, «eine Verpanzerung, die der Vater kaum durchdringen konnte». [gallery:Bookfaces – die Gesichter hinter den Büchern] Ursula Krechels Annäherung an ein exemplarisches Emigrantenleben, das ein reales Vorbild haben muss, ist ungewöhnlich. Rekonstruiert hat sie die Vita des so anrührenden wie befremdlichen Charakters Kornitzer durch intensive Gespräche sowie Recherchen in diversen Landes- und Stadtarchiven wie auch im Politischen Archiv des Auswärtigen Amtes. In kaum einem anderen Werk der jüngeren deutschsprachigen Literatur seit den fiebrigen Schriften des Wiener Anwalts Albert Drach geht es so rechtswissenschaftlich zu, wird derart ausführlich aus behördlichen Schriftwechseln zitiert. Literaturen fängt da an, wo das Feuilleton aufhört. Viermal im Jahr erscheint Literaturen als „Magazin im Magazin“ gemeinsam mit Cicero am Kiosk, im Online-Shop und täglich auf Cicero Online Erstaunlicherweise tut dies der sinnlichen Qualität des Textes aber keinerlei Abbruch, ebenso wenig wie Exkurse über die Besonderheiten des deutschen Grundbuchs, die NS-Rassegesetze oder die Zerstörung der Stadt Mainz im Zweiten Weltkrieg. Konsequent beschreibt der Roman, wie sich ein anerkanntes «Opfer des Faschismus» gegen alle Widerstände bis zum Rang eines Landgerichtsdirektors emporkämpft. Doch mengt Ursula Krechel alldem so viel vorsichtige Fiktion, so viel zurückhaltende Empathie für das leidgeprüfte Ehepaar Kornitzer bei, dass dessen Geschichte tief berührt. Ihre besondere Sympathie gilt dabei Claire, die als Verbündete ihres Mannes die eigenen Interessen völlig zurückstellt. Es sind die feinen Nuancen, die hier in der Romanautorin Ursula Krechel die Lyrikerin erkennen lassen, vor allem in den reichen erzählerischen Passagen, den Schilderungen diverser Landschaften und Stimmungen: «Kuba war ein Fließen und Ergießen, Bäche von Schweiß (man roch ihn, tat aber, als röche man ihn nicht), eine Lockerung, Beruhigung ganz ohne Grund.» Im karibischen Exil findet der Richter durch das «beschämende Versinken in eine Passivität, die in Berlin im allgemeinen und von Claire im besonderen nicht verstanden werden könnte», ein paradoxes Glück. Er wird freier Rechtskonsulent – und noch einmal Vater. Zurück in Deutschland spürt er dagegen ein allgegenwärtiges Schwanken: «Das Ankommen war eine Erschütterung wie das Weggehen.» Ursula Krechel, aus Trier stammend, kehrt jetzt literarisch «Nach Mainz!» zurück, wie ihr erster Gedichtband aus dem Jahr 1977 hieß. Kornitzers Zimmerwirtin in einem Randbezirk der ausgebombten Stadt ist hier nun die Einzige, die erstaunt zugibt, zum ersten Mal einem «Opfer des Faschismus» gegenüberzustehen. Im Gericht dagegen sieht der Jurist sich eher versteckten als offenen Diskriminierungen ausgesetzt, Nadelstichen in der Personalakte. Als seine überfällige Beförderung ausbleibt, schreitet Kornitzer 1956 zur Tat: Vor Sitzungsbeginn zitiert er den Anti-Diskriminierungsparagrafen aus dem Grundgesetz. Es folgt eine schmerzhafte Implosion in Zeitlupe, der Zusammenbruch eines Menschen und seiner Familie, «eine absteigende Linie, die sich von dem Schock der Erniedrigung einfach nicht mehr aufrappelte». Diese trostlose These Claires bleibt in Ursula Krechels bewegendem Tatsachenroman unwidersprochen. Ursula Krechel: Landgericht, Jung und Jung, Salzburg und Wien, 29,90 Euro
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Ursula Krechel schildert das Leben eines jüdischen Richters, der in das Nachkriegsdeutschland zurückkehrt: Realitätsnah und zugleich befremdlich beschreibt sie das Leben des Richard Kornitzer. Für ihren Roman "Landgericht" wurde Ursula Krechel jetzt mit dem deutschen Buchpreis ausgezeichnet
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https://www.cicero.de//kultur/buchpreis-fuer-einen-pechschwarzen-nachkriegsroman/52127
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Pandemie in den USA - Warum Trumps „totale Autorität“ in der Coronakrise angezweifelt wird
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Normalerweise scharen sich Amerikaner in Krisenzeiten um ihren Präsidenten — als George W. Bush in Afghanistan einmarschierte, hatte er mehr als 90 Prozent Zustimmung in der Bevölkerung — aber in der Coronakrise unter Donald Trump ist das anders. Im Gegenteil, Amerika ist noch zerstrittener als zuvor. Und Trump gießt noch Öl ins Feuer und sucht Schuldige. Denn er selber, davon ist er überzeugt, macht einen großartigen Job als Krisenbewältiger. Er hat nun auch neue Sündenböcke gefunden, nämlich die Gouverneure der Bundesstaaten, vor allem Gavin Newsom in Kalifornien und Andrew Cuomo in New York, beides Demokraten. Die sperren sich dagegen, die Ausgangssperren zu lockern. Trump aber glaubt, er könne ihnen das befehlen. Der Präsident, verkündete Trump, habe die totale, oberste Autorität im Land. Das ist eine erstaunliche Wende: Vor kurzem hatte Trump noch behauptet, es sei Sache der Gouverneure, welche Maßnahmen gegen Corona sie träfen, und er sei nicht schuld an deren Fehlentscheidungen. Ganz allein entscheiden will Trump allerdings auch nicht; er hat ein Team ernannt, das ihn beraten soll, wann die Restriktionen wieder aufgehoben werden. Dem gehören sein Schwiegersohn Jared Kushner und seine Tochter Ivanka an. Andrew Cuomo hat sich in diesen Wochen zum führenden Anti-Trump-Demokraten entwickelt. Cuomo erwiderte dem Präsidenten, Amerika habe keinen König, auch Trump müsse sich Gesetzen unterordnen. Cuomo stammt, wie Trump, aus dem New Yorker Stadtteil Queens; wie dieser, kann er recht aggressiv sein, und wie dieser verdankt er seinen Aufstieg seinem Vater, Mario Cuomo, der ebenfalls langjähriger Gouverneur des Staates New York war. Trump war damals auch noch Demokrat, spielte in der New Yorker Politik aber keine große Rolle. Für Andrew Cuomo allerdings hatte er nie viel Sympathien. Der heutige Gouverneur war Bill Clintons Secretary of HUD — das Äquivalent eines Bauministers — und mit HUD lag Trump in ständigen Clinch, weil die Behörde ihn drängte, an Afro-Amerikaner zu vermieten. Dass Cuomo zur „Clinton Machine“, dem politischen Kreis um die Clintons gehört, macht ihn nicht beliebter. Cuomo — dessen Großeltern aus Süditalien stammen — ist nicht der einzige Amerikaner italienischer Abstammung, der Trump derzeit Kopfschmerzen bereitet. Auch sein medizinischer Berater Anthony Fauci, der meist bemüht ist, sich aus politischen Debatten herauszuhalten, erregte den Ärger seines Chefs. Die New York Times hatte am Wochenende einen Bericht veröffentlicht, wonach Trump Warnungen vor Corona lange ignoriert habe. Gleichzeitig trat Fauci bei CNN auf und sagte, Leben hätten gerettet werden können bei einer schnelleren Reaktion. Nicht nur hasst Trump die New York Times und CNN, die er als „fake news“ bezeichnet, Fauci ist ohnehin im Fadenkreuz der Evangelikalen, die Trumps Basis bilden, und von denen viele glauben, Corona sei ein „Hoax“, eine Erfindung der Demokraten und ihrer liberalen Medien, um Trump zu schaden. Auch wegen Drohungen aus diesen Kreisen hat Fauci zusätzlichen Personenschutz beantragt. Anfangs sah es so aus, als ob sich Trump den Kritikern von Fauci anschließen würde; er retweetete einen Tweet mit dem hashtag #firefaucy. Inzwischen aber hat der Präsident offenbar beschlossen, keinen offenen Streit zu suchen, denn Faucis Zustimmungsraten liegen mit 80 Prozent rekordverdächtig hoch, während die von Trump bei knapp über 50 Prozent rangieren. Stattdessen veranlasste er den Mediziner zu einer öffentlichen Erklärung: Der Präsident, schrieb Fauci, habe in der Coronakrise keineswegs gezögert, Trump habe sofort Ausgehverbote verhängt, nachdem Fauci es ihm empfohlen habe. Das ist eine interessante Formulierung, denn damit übernimmt Fauci die Verantwortung, falls seine Empfehlung zu spät gewesen sein sollte. Aber nun kann er immerhin weiterarbeiten. Derweil fährt Gouverneur Gavin Newsom einen aggressiven Kurs, Kalifornien unabhängig von Washington, D.C. durch die Krise zu steuern. Am Wochenende erklärte der Gouverneur, Kalifornien, der bevölkerungsreichste und wohlhabendste Staat in den USA, sei ein eigener „Nation-State“; das Land werde seine wirtschaftliche Macht nutzen, alles aufzukaufen, was seine Bürger brauchten und das gegebenenfalls an andere Staaten exportieren, um von der Bundesregierung unabhängig zu sein. Auch Newsom glaubt offenbar nicht an die „totale Autorität“ des Federal Government über die Bundesstaaten. Aber nicht nur die politische Landschaft ist gespalten, auch darin, wie das Land von der Coronakrise getroffen wird, zeigt sich eine Spaltung. Überrepräsentiert unter den Erkrankten und Toten sind ärmere Afro-Amerikaner und Latinos in den Großstädten, weil die in „essentiellen“ Berufen überrepräsentiert sind — Krankenschwestern, Postboten, Lebensmittellieferanten, Busfahrer. Die Notfallstationen der Krankenhäuser in der Bronx und Queens sind mit dunkelhäutigen Menschen überfüllt, hingegen sind die Apartmenthäuser der Weißen an der Park Avenue leer. Die können es sich leisten, in ihre Landhäuser auszuweichen; notfalls auch sofort: So vermietete — laut New York Post — ein Immobilienmakler ein Zwölf-Zimmer-Anwesen in Bridgehampton in den Hamptons für zwei Millionen Dollar an einen Hedgefonds-Manager in Manhattan. Der wollte New York mit seiner Familie von einem Tag auf den anderen verlassen können. Während die einen sterben und die anderen fliehen, meldete sich Trumps früherer Berater Roger Stone zu Wort, der in Kalifornien darauf wartet, eine bevorstehende Haftstrafe anzutreten. Stone hat den tatsächlichen Verursacher des Virus entdeckt: Bill Gates. Gates und andere Globalisten, sagte Stone am Montag im Radio „nutzen das Virus, um Pflichtimpfungen durchzusetzen und Microchips in Menschen zu implantieren, so dass wir wissen, ob sie getestet wurden“. Immerhin: Stone berät den Präsidenten nicht mehr.
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Eva C. Schweitzer
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Der US-Präsident, verkündete Trump in dieser Woche, habe die „totale Autorität“ in der Coronakrise. Manche Gouverneure zweifeln diese aber offen an und bekämpfen das Virus im Alleingang. Derweil hat Trumps medizinischer Berater bessere Umfragewerte als er selbst.
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"Coronavirus",
"Coronakrise",
"Donald Trump",
"New York"
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außenpolitik
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2020-04-15T10:58:40+0200
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2020-04-15T10:58:40+0200
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https://www.cicero.de/aussenpolitik/pandemie-usa-donald-trump-totale-autoritat-coronakrise
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Castorfs „Götterdämmerung“ - Fränkies Buhbad und das Festspielklo
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Lesen Sie auch die weiteren Einträge aus Brüggemanns Bayreuther Tagebuch: Teil 1: „Eine existenzielle Herausforderung“ Teil 2: Die Knackärsche haben gute Arbeit geleistet Teil 3: Frank Castorf: Rheingold oder Wild at Ring Teil 4: Wie Angela Merkel mit Wotan flirtet Teil 5: Wagner ohne Hitler, das ist echte Kunst Teil 6: Vom Vögeln, Ballern, Krokodil-Schnappen und Buh-Rufen Teil 7: Leserpost, die Totalkultur und der Antisemitismus Teil 8: Die Götterdämmerung, Fränkies Buhbad und das Festspielklo Heute ist es gar nicht so einfach, anzufangen, weil es das Ende ist. Wenn ich mit Fränkie und seinem Applaus anfangen würde, ginge ich ihm sofort auf dem Leim - und dazu mag ich ihn einfach zu gern, um seiner Inszenierung der Aufregungskurve stumpf und bedingungslos wie ein Feuilleton-Frettchen zu folgen. Und damit, worum es heute ging (oder worum es heute nicht ging), macht bei diesem Ring - zumal am letzten Tag - auch keinen Spaß, weil jede Beschreibung, die am Anfang stehen würde, ja nicht zum Kern vordringen würde, um den sich wirklich alles kreist: Um die Offenheit und Freiheit des Denkens, um die Zerschlagung der Form für dem Zweck, eine neue zu gründen. Oder, wie der "Ring" es lehrt: Nach dem Ende steht der Anfang. Wie, verdammt, soll da ein letzter, endgültiger Tagebucheintrag aussehen? Und weil es heute echt schwer ist, diesen letzten Eintrag anzufangen, beginne ich jetzt einfach mal mit dem Klo. Also die Toiletten auf dem Grünen Hügel, das ist mir heute zum ersten Mal aufgefallen, die riechen anders als die bei "Sani Fair" auf der Autobahn. Dort steigt einem sofort der Klostein in die Nase - aber in Bayreuth riecht irgendwie alles nach Spargel. Vielleicht liegt das ja am giftigen Wagnerianer-Urin. So, und diesen Anfang, den habe ich mir vom Fränkie abgeschaut: Wenn etwas so groß ist, dass man nicht weiß, wie man dem Ganzen beikommen soll, dann ist es vielleicht gut, einfach mal irgendwo anzufangen. Beim Vodoo, beim Öl oder eben bei der Wagner-Pipi. Vielleicht erlauben Sie mir, zunächst einmal auf die 16 Stunden zurückzuzoomen, die ich im Festspielhaus verbracht habe. Dass die Geschichte mit dem Öl nur ein Ablenkungsmanöver von Fränkie war, ist ja schon im "Rheingold" klar gewesen. Die hat Fränkie nur gebraucht, um das Große und Ganze behaupten zu können. Und das ist ihm ja zutiefst zuwider, weil er das Fragment lieber hat, die eine Idee und die nächste - um dann an die Bruchstellen zu gehen und sie mit Theaterhandwerk zu verschweißen, oder diese proletarische Arbeit gleich ganz dem Publikum zu überlassen. Zur Erinnerung: wir kommen vom "Golden Motel" an der Route 66 im "Rheinglold" über die Ölminen des stalinistischen Asabaidschans in der "Walküre" über den kommunistischen Mount Rushmore bis zum Alexanderplatz im "Siegfried". In der "Götterdämmerung" zieht Held Siegfried nun gemeinsam mit Brünnhilde in seinem silbernen Wohnanhänger weiter vor den von Christo verhüllten Reichstag. Aleksandar Denic baut ein letztes, kongeniales Bühnenbild: Gunther (der Kerl, der Brünnhilde freien will) ist Besitzer eines abgehalfterten Dönerladens neben einem "Obst & Gemüse"-Shop direkt an der Berliner Mauer. Nur eine Viertel Bühnendrehung weiter steht das "Plaste und Elaste"-Werk in Schopau mit seiner Neon-Illumination - quasi einmal über die Mauer der Zeit gesprungen. Und, klar, am Ende, wenn der Reichstag enthüllt wird, sehen wir, dass sich hinter der Fassade nicht das Haus des "Deutschen Volkes", sondern der New York Stock Exchange samt einsamen Picasso-Bild befindet. Es rollen Isettas uns Mercedes-Oldtimer auf der Bühne - alles ist total global, und wieder einmal wird die Zeit zum Raum. Natürlich begibt man sich schnell auf Irrpfade, wenn man hier irgendwo Walhall, Nibelheim oder Gunthers Burg sucht, wenn man nach dem alten Gaul Grane Ausschau hält und meint, es in einem silbernen Wohnmobil-Anhänger gefunden zu haben. Castorf - und das macht ihn aus - ist nicht das Google-Übersetzungsprogramm für Wagner, er nutzt den Komponisten und dessen eigene (von Wagnerianern nie akzeptierte) Ungeschlossenheit des Werkes als Assoziationsraum. All das, was ich hier nur in Ansätzen beschreiben kann, sind lediglich die opulenten und handwerklich erstklassig gemachten Bilder, und jeder Zuschauer wird scheitern, sie einem Buchstaben aus Wagners Libretto, einem Leitmotiv oder einer Uralt-Bühnenanweisung zuzuordnen. Hey, habt Ihr mal den "Ring" gelesen: der ist doch auch nur aufgeblähtes Welttheater. Castorfs eigentlicher "Ring" erzählt sich in den Hinterzimmern und in Castorfs privatem Hinterstübchen - und erfreulicher Weise in seinen privaten Blick auf Wagners Personen. Nehmen wir zum Beispiel Hagen. Ihm hat Aleksandar Denic eine kleine Kapelle gebaut, in dem er dem Kult der Santería frönt, der afroamerikanischen Hauptreligion Kubas, dessen Jüngern es bis vor Kurzem noch verboten war, der kommunistischen Partei beizutreten. Neben Bluthemd und Grabeskerzen pinnt ein Plakat von "Kommissar X" an der Wand, dem Ost-Jerry-Cottan, der das Ende des Kalten Krieges nicht überlebte. All das erschließt sich natürlich nicht (außer, man ist Ossi, so wie Fränkie und ich - er kommt aus Ost-Berlin, ich aus Ost-Bremen). Viel wichtiger ist die Idee: Hagen ist ein Sektierer, der mit den dunklen Halbgöttern im Bunde steht. Er scheint Vodoo zu können, manipuliert Siegfrieds und Brünnhildes Kinder-Puppe und ersticht den Helden am Ende nicht per Lanze, sondern knüppelt ihn brutal mit dem Baseballschläger nieder. "Erschlagen", so wie es bei Wagner heißt. Dieser Hagen ist ein Jago aus "Otello" - einer, der aus seiner Sozialisierung heraus meint, das Richtige zu tun und die Götter des Bösen auf seiner Seite weiß. Am Ende schwimmt er in einem Schlauchboot auf den See. Allein an diesem Charakter, zeigt sich, wie Frank Castorf den Pinkelstein der Wagner-Personage zu einer Welt-Philosophie erhebt. Es ist 0:03 Uhr, und ich sitze bei einem "Mönchshof"-Pils und Pommes-Schranke auf der Terrasse meines Hotels. Hier spielt sich gerade folgende Szene ab: Herr Puchtler, der Koch und Besitzer, versucht meine Spannungen zum Nachbartisch zu überbrücken. Dort ist die Meinung gespalten, ich bin euphorisch: "Sehen Sie", sagt der Herr Puchtler, der nicht in der Aufführung war, aber alles gelesen hat, was geschrieben wurde: "Das mit der Kalaschnikow finde ich gut, weil wo kriegt man heute noch ein Schwert her?" - Schweigen auf meiner Terrasse. Hier oben ist es nur 16 Grad. Fränkie, such Dir mal ein neues Hotel. Hier bei mir kannst Du noch Menschen erleben, und keine spargelpinkelnden Hardcore-Hügel-Kerle. Zwei von ihnen standen übrigens in der Pause neben mir. Sagt der Eine zum andern: "Bitte, rede nicht mir mir, bevor der letzte Ton verklungen ist, das mag ich wirklich nicht." - "Okay", sagt der Andere. "Dann ist ja gut, sagt der Erste." Beide tragen das "Arschloch" am Revers, den kleinen silbernen Ring für viele gesehene Bayreuth-"Ringe". Übrigens meine Kollegin von der Haaretz hat heute tatsächlich geschwiegen. Sie hat einen neuen Freund gefunden, den Kollegen aus Reihe 27. Wie bescheuert muss man eigentlich sein, wenn man teure Karten für den "Ring des Nibelungen" kauft, weiß, dass Frank Castorf inszeniert, und sich dann, am letzten Abend, mit Trillerpfeifen versorgt und nur darauf wartet, nach dem letzten Ton den heißen Atem des Hasses in schrilles Missfallensbekunden zu verwandeln. Weil man den Richard vor Fränkies Geistes-Muckies schützen will. Weil man das, was "deutsch und rein" ist, verteidigen muss? Jungs, der Wagner wurde in Paris auch schon mal von solchen Pfeifen ausgepfiffen. Leider war der Richard nicht so eine coole Sau wie der Fränkie, sondern hat das sehr persönlich genommen - aber dazu später mehr. Wir sind ja noch am Anfang. Ich wundere mich allerdings nicht mehr, dass es auf der Festspieltoilette so bitter riecht. Zurück zum "Ring". Im Zentrum der "Götterdämmerung" stehen wieder die Rheinnixen. Im "Rheingold" waren sie noch kleine Huren, die sich am abgewrackten Swimmingpool geräkelt haben. Das sind sie auch immer noch (heilige Huren!), inzwischen aber selbstbewusst, und auch zum Morden bereit (im Kofferraum transportieren sie die Leiche des Döner-Kellners). Ihnen gibt Brünnhilde am Ende, ganz unspektakulär den "Ring" - und sie werfen ihn ins brennende Ölfass. Apokalypse now? Vorhang! Lieber Bernhard Jasper, vielen Dank noch einmal für Ihr Posting vom spielfreien Tag. Sie bemängeln, dass es heute keinen Mut mehr zur Form gibt, zum Großen und Ganzen, dass wir uns - postmodern wie wir sind - in Eklektizismus und die Feier des Fragmentes flüchten. Da würde ich widersprechen. Ich finde, dass dieser "Ring" sich mit der "Götterdämmerung" tatsächlich schließt. Ich habe eben schon geschrieben, welch willkürliche Welt-Stationen, von der Route 66 bis zur Dönerbude, wir gesehen haben. Aber darum kann es in unserer Welt nicht mehr gehen. Für mich sind diese Bilder Fänkies Abgesang auf den Glauben an Systeme, quasi der Weltuntergang durch systemisches Denken. Aber der Fränkie glaubt eben auch an das "Welterlösungsmotiv", an die Welt nach der Zersprengung des großen Bogens, der Ideologien, der vermeintliche Weltwahrheiten. Die neue Welt, die am Ende dieses "Ringes" in unseren Köpfen als "Anfang" steht, ist eine Welt, in der das Große und Ganze aus dem Subtext kommt. Und da sind wir dann eben doch sehr bei Wagner. Nein, ich glaube nicht, dass der "Ring" im Urtext geschlossen ist. Wagner wusste sehr wohl, dass er eine Welt der Zerrissenheit beschreibt, eine Welt am Abgrund, eine Welt, der selbst die Götter (und sie stehen für das Holistische) untergehen. Das System ist am Ende - Wagner hofft auf die Musik, also die Kunst, als Erlösung. Und genau das eint ihn mit Fränkie, Mohlmann und mir: der große Bogen ist die Freiheit des Denkens, die Möglichkeit, den Subtext zum Haupttext zu erheben, die Form zum Konstrukt zu machen, den Gedanken zu befreien. Sie, lieber Herr Jasper, haben Ihre Anmerkungen hier als Architekt geschrieben. Und ich finde, dass der Bühnenbildner Aleksandar Denic durchaus architektonische Antworten findet: Es gibt statisch perfekt berechnete Geheimräume, Abstellkammern und Mülleimer. Die Fassade wahren wir eh, aber sie sagt nur wenig über das aus, was sich hinter ihr abspielt. Architektur, Regie und Schreiben sind Künste, in denen Steine aufeinander gestellt werden - und wenn man das so macht wie Fränkie, ergeben sie, obwohl keiner von ihnen statisch gesichert ist, ein Bollwerk der Freiheit. So, und nun kommt das Problem. Das Geheimnis von Fank Castorfs "Ring" ist für mich, dass er uns für seine - zugegeben gewagte - Konstruktion fordert. Dass sie nur dann stabil ist, wenn wir sie mittragen (auch das ist sehr wagnerianerisch!). Ganz anders sieht es für mich mit Kirill Petrenko, dem Dirigenten, aus. Ich finde die Feuilleton-Debatte, ob sich ein Dirigent an den lauten Kalaschnikow-Schüssen stört, ob Petrenko gemeinsam mit oder gegen Castorf gearbeitet hat, belanglos. Viel spannender ist es, festzustellen, dass es zwei Arten von Ekklektizismus und Postmoderne gibt. Die eine, jene von Castorf, habe ich eben schon beschrieben. Die von Petrenko ist anders. Und sie erinnert mich - sorry - sehr an Simon Rattle: Der junge Dirigent hat sich die Partitur zweifellos sehr genau angeschaut. Und neben den Leitmotiven für Wagner-Proseminare hat er viel Verblüffendes gefunden. Einiges davon hat er sich allerdings vielleicht zu sehr zu eigen gemacht. Wenn Petrenko im Schwur der Blutsbrüderschaft zwischen Gunther und Siegfried extreme dynamische Wechsel fordert, innerhalb eine Phrase vom Fortissimo ins Pianissimo wechseln lässt, kling das sehr bewusst, sehr klug - aber dummerweise ohne Bezug zur Dramatik. Es ist purer Effekt um des Effektes willens. Wagner zitiert hier offensichtlich den Treueschwur aus "Don Carlo", persifliert ihn, macht auf Verdi - das durch eine private Eingebung zu kaschieren, ist nicht nur fragwürdig, sondern stört auch den dramatischen Moment. Und so ist es eigentlich in Petrenkos gesamten Dirigat: die Überwältigung von Entdeckungen im Detail zerstört am Ende den Fluss. Genau den aber bewahrt Castorf: Er legt einen großen Gedankenbogen an, ein Epos, das sich von Abend zu Abend durch neue Details fügt. Petrenko reicht das Pathos nach fünf Sekunden, und er versucht, es mit Klugheit zu zertrümmern. Castorf glaubt noch an die Unmittelbarkeit seiner Bilder. Klar, da ist jemand, der etwas behaupten will, einer, der sich auf den Spuren großer Dirigenten wie Rattle und Harnoncourt bewegt und verblüffen will. Aber ihm fehlt die Weisheit, die Reife, um seine Entdeckungen auch innerhalb der Form zu verpacken oder eine eigene Freiheit im Detail zu finden, deren emotionale Sinnhaftigkeit sich dem Zuhörer offenbart. Ich halte auch die Vergleiche mit Thielemann für absurd, die - wie gerade im "Deutschlandfunk" gehört - so gehen: Thielemann versteht Wagner aus dem 19. Jahrhundert, Petrenko aus unserer Zeit. Ich glaube, dass diese Kategorie nicht funktioniert, dass Musik, zumal die von Wagner, sich dieser Herangehensweise entzieht. Auch Wagner ist ein Behaupter, oder wie Adorno es sagte, ein "Als-Ob-Komponist". Seine Leitmotive sind ebenso behauptet wie Castorfs Ölspur - sie gaukeln eine Geschlossenheit und eine Form nur vor. Wagners Pathos entsteht durch den Glauben an den Rausch (auch hierfür hat Fränkie Video-Bilder gefunden). Ein Rausch, den Petrenko unter allen Umständen vermeiden will. Ich glaube nach wie vor an Herrn Petrenko - aber ich würde seinen "Ring" gern noch mal in 10 Jahren hören. Die Götterdämmerung ist ein vokaler Hammer. Die meisten Sänger haben schon einiges in den Stimmbändern, wenn sie nach einem Erholungstag wieder antreten. Und leider hat man das in dieser "Götterdämmerung" auch gehört. Attila Jun als Irokesen-Hagen hat einfach einen schlechten Tag erwischt, ihm fehlt das sonore Fundament, das Fass, aus dem heraus er seine Mannen-Rufe brüllen kann, die Bass-Souveränität, die dieser Strippenzieher braucht. Martin Wilkes taucht noch einmal als Unterhosen-Alberich auf, muss aber erkennen, dass Wagner ihn eigentlich längt abgeschrieben hat, Allison Oakes gibt eine formidable Gutrune, und ganz besonders eindringlich gelingt das Duett zwischen Brünnhilde und der Waltraute von Claudia Mahnke, das Castorf ganz ohne Schnickschnack als Schlüsselszene ohne Effekte inszeniert. Wer kann heute eigentlich noch Siegfried? Lance Ryan hat auf jeden Fall die Kraft, auch wenn ihm (wie in anderen Einträgen bereits beschrieben) die Differenzierung abgeht, er am Ende in die Kopfstimme flieht, und alles sich schließlich doch ein wenig angestrengt, grenzwertig intoniert und irgendwie unheldisch anhört. Auch hier haben die Wagnerianer gebuht - aber wer ist wesentlich besser? Einigkeit bei Catherine Fosters Brünnhilde: Sie stemmt die Mammut-Partie, vielleicht fehlt ihr ein Quentchen Geschmeidigkeit und innere Ruhe - aber sie geht als goldglitzernde Heldin erhobenenen Hauptes in den Untergang. Während das Nornen-Ensemble (Claudia Mahnke, Christiane Kohl und Okka von der Dammerau) noch schwerfällig wirkt, spielen die drei Rheintöchter (Okka von der Dammerau, Mirella Hagen und Julia Rutigliano) prächtig zusammen. Großartig wie immer, der Festspielchor von Eberhard Friedrich. Grundsätzlich habe ich in jüngerer Vergangenheit keinen besser besetzten "Ring" als diesen gehört. Ach, Fränkie - heute warst Du nachdem Du den Francoise-Patrice Chereau und Frank-Herbert gegeben hast, wieder mein alter Fränkie - der Abschied fällt ein bisschen schwer. Ich weiß ja nicht, ob Du Dir die Sache mit dem Schlussapplaus schon lange überlegt hast. Vielleicht war es die Vorfreude darauf, die ich beim Künstlerempfang in deinen Augen gesehen habe. Hat auf jeden Fall super funktioniert: Haben sie wieder gemeckert, die Leute vom Spargel-Wagner-Klo, dass Du die Sänger nicht respektieren würdest, als Du einfach nicht von der Bühne gehen wolltest, als das Orchester und der Dirigent auch noch mal beklatscht werden wollten. Dass Du Dich selber in den Vordergrund stellen würdest, haben die Trillerpfeifen-Leute gesagt, die sich in den Vordergrund stellen wollten. War ja auch ein bisschen happig: Fünf Minuten nur so dazustehen mit Deinem Team auf der Bühne, während alle pfeifen und buhen. Lustig, dass ich von einigen gehört habe, dass Du dem Publikum den Vogel gezeigt hättest - ich habe das anders gesehen: Hast Deinen Finger an den Kopf gelegt, und gesagt: "Ey, Leute, denkt doch mal nach", oder? Sag, dass Du das gesagt hat, Fränkie. Hast Du doch, oder? Ansonsten hast Du dagestanden, dass der Mohlmann und ich stolz auf Dich waren. Standest da wie ein Pierrot. Hast den Mob auflaufen lassen. Ich hätte Dir gewünscht, dass es klappt. Aber dann bist Du doch weg, wegen der Sänger. Warst vielleicht ein bisschen aufgeregt. Aber, hey, Fränkie, Bayreuth ist eine Werkstatt - nächstes Mal bleibst Du einfach auf der Bühne, bis die anderen aufs Festspielhaus-Klo gehen müssen. Also ich fand das groß, dass Du nach dem Weltuntergang gleich mit der neuen Welt anfangen wolltest. Mit der besseren Welt. Das war's, liebe Freunde. Es ist spät geworden. 2:14 Uhr, auf dem inzwischen kühlen Hügel von Bischofsgrün. Danke für Ihr Lesen, Ihre Kommentare - ich muss noch pinkeln und packen. Bayreuth 2013 - das war großes Kino für mich. Wusste nicht, dass der Fippsie Rössler so nett sein kann, dass es Duschen auf Balkonen gibt, dass Wagner so viele Klicks erzeugen kann, dass die Freiheit nicht in der Form, sondern in der Assoziation liegt, dass die Offenheit unser großer Bogen ist, dass Kalbsschnitzel bei den Puchtlers so gut schmeckt, dass der Moment immer auch ein Mosaik des Ganzen ist, dass es doch noch Hoffnung gibt, dass es schön ist, da zu sein, dass die Mohlmänner dieser Welt echt knorke sind, dass es Menschen in den Redaktionen gibt, die nur Sonntags um 12 mal an den See fahren, um dann wieder meine Mails in Posts zu verwandeln, dass Wagner dazu taugt, mit seiner Mutter zu debattieren, dass die Ferne in der fränkischen Prärie auch Nähe sein kann, dass es sich besser lebt mit Ventilator, dass Opernkritik überbewertet wird - und dass alles gut ist. Danke und auf bald. Ihr Axel Brüggemann
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Axel Brüggemann
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Es geht heute um den Ring, um den sich wirklich alles kreist: Um die Offenheit und Freiheit des Denkens, um die Zerschlagung der Form für dem Zweck, eine neue zu gründen. Oder, wie der "Ring" es lehrt: Nach dem Ende steht der Anfang
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kultur
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2013-08-01T10:51:58+0200
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2013-08-01T10:51:58+0200
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https://www.cicero.de//kultur/castorfs-goetterdaemmerung-fraenkies-buhbad-und-das-festspielklo/55247
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Malerei der Vorwendezeit - Ostdeutsche Landschaftsbilder
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Kurz hinter Kamenz, auf halber Strecke zwischen Dresden und Görlitz, hat sich die deutsche Nachkriegsmalerei tief in die Landschaft eingeschrieben. Inmitten von Seen und Teichen nämlich, eingeklemmt zwischen einem kleinen Feuerwehrhaus und einem alten Campingplatz, liegt Deutschbaselitz. Während der Nazi-Zeit hieß das 500-Seelen-Dorf, das heute Teil der benachbarten Kreisstadt Kamenz ist, für kurze Zeit auch einmal Großbaselitz. Die Zeiten hatten da eben wechselnde Moden; Baselitz aber blieb letztlich Baselitz – genauso wie der bis heute größte Sohn des Dorfes, der Maler gleichen Namens. 1938 war es, da erblickte dieser als Hans-Georg Kern im damaligen Großbaselitz das Licht der Welt. Später, nach einem abgebrochenen Kunststudium in Ost-Berlin und einer Flucht in den Westen, gab er sich den Namen der rücklings liegen gelassenen Heimat: Georg Baselitz also, der Berserker; der Maler, der zwar den Namen seiner Heimat annahm, sonst aber kaum ein gutes Haar an ihr lassen sollte: In der DDR, so wetterte er 1990 in einem damals viel beachteten Interview mit dem Kunstmagazin „art“, habe es keine guten Künstler gegeben. All die guten seien schließlich weggegangen; und zurückgeblieben seien die „Jubelmaler“, die „Arschlöcher“, wie er sie in der Wucht seiner Erregung genannt hat. 30 Jahre ist das jetzt her. Doch die Moden gingen, und die Wunden blieben. Und auch Baselitz hielt weiter stand – der kleine Ort in der Oberlausitz; der Prophet von gleichem Namen und gleichem Holz. Von derlei Sehergestalten hat es unter dem weiten Himmel der Lausitz viele gegeben: Einen Steinwurf von Deutschbaselitz entfernt gen Osten etwa wurde 1941 Markus Lüpertz geboren, einen Steinwurf gen Süden Gerhard Richter. Vielleicht wirkt in dieser Lausitz ein Genius Loci – ein Geist, der die Menschen kreativer, oft aber auch flüchtiger hat werden lassen. Denn weggegangen sind irgendwann alle. Und so ist die Oberlausitz heute wie eine Welt ohne Autor. So jedenfalls wird es immer wieder kolportiert. Und so will es wohl auch die Geschichte von der deutschen Nachkriegsmalerei; die Geschichte, die man indes 40 Kilometer südwestlich im Dresdener Albertinum auf diese Weise nicht mehr erzählen mag. In einem der wichtigsten deutschen Museen für die Kunst von der Romantik bis zur Gegenwart nämlich will man sich seit geraumer Zeit wieder auf die modernen Facetten in der Kunst der einstigen DDR besinnen. Es war Ende 2017, als in der Sächsischen Zeitung eine viel beachtete Erregung erschienen war: Der Dresdener Kulturhistoriker Paul Kaiser hatte darin behauptet, dass in den Ausstellungshäusern des Ostens ein „westdeutsch dominierter Kunstbetrieb“ eingezogen sei. Dieser zeige zwar Baselitz, Richter und all die anderen West-Gänger, ignoriere aber alles, was an progressiver Kunst im ehemals kleineren Deutschland entstanden sei. Drei Generationen ostdeutscher Maler seien aus den Museen und den Erinnerungen verschwunden. Und das hier: im Albertinum, dem vom sächsischen Baumeister Adolph Canzler errichteten Prunkbau am östlichen Ende der Brühlschen Terasse. Zwischen 1953 und 1988 hatten in dem Museum die großen „Kunstausstellungen der DDR“ stattgefunden – sozialistische Leistungsschauen, bei denen nicht nur das Edeldekor eines Walter Womacka oder Rudolf Bergander zu begutachten war, es gab hier auch die großen narrativen Leinwände aus den Ateliers der Leipziger Schule – all die Heisigs, Mattheuers und Tübkes. Und später, kurz vor dem Exitus der DDR, wurden von den Direktoren sogar konstruktivistische Gemälde von Hermann Glöckner oder Werke Konkreter Kunst vom jüngst verstorbenen Karl-Heinz Adler angekauft. Wenn Sozialisten träumten, so die jetzt wieder lauter vorgetragene Überzeugung, seien eben nicht nur kitschige Szenerien fantasiert worden; die Kunst unter dem geteilten Himmel der Diktatur habe durchaus inhaltliche und formale Vielfalt gehabt. Ostland war eben Nischenland, daran konnten auch die radikalen Interventionen der Kulturfunktionäre und Parteieliten nichts ändern. Hilke Wagner, seit gut vier Jahren Leiterin des Albertinums, weiß daher um viele spannende Trampelpfade, die selbst noch den legendären „Bitterfelder Weg“ umschiffen konnten. In den letzten Jahren hätten sie diese andere Ost-Kunst zu vielen Ausstellungen inspiriert – darunter etwa die aktuell gezeigte Ausstellung „Medea muckt auf“. Gerade Dresden, sagt Wagner, habe immer schon eine reiche und moderne Tradition gehabt. Die sei auch zwischen 1949 und 1990 niemals ganz von der Bildfläche verschwunden. Und dann reiht die im westdeutschen Kassel geborene Museumsdirektorin einen Kulturschatz auf, der einst das angeblich so barocke Elb-Florenz zum Eldorado der Moderne hat werden lassen: die Künstlervereinigung Brücke und die Gartenstadt Hellerau, Otto Dix und Ernst Ludwig Kirchner, die ersten Ausstellungen zum abstrakten Konstruktivismus, die frühesten Privatsammler von Kandinsky, Lissitzky, Mondrian. All das war und ist Dresden. Und all das hat selbst die legendäre Formalismusdebatte in der DDR nicht kleinkriegen können. Dabei hatte sich manch Chef-Sozialist damals wirklich bemüht: „Die Grau-in-Grau-Malerei, die ein Ausdruck des kapitalistischen Niedergangs ist, steht im schroffen Widerspruch zum heutigen Leben in der DDR“, meinte etwa 1951 Walter Ulbricht in einer kulturpolitischen Rede vor der DDR-Volkskammer. „Wir brauchen weder Bilder von Mondlandschaften noch von faulen Fischen.“ Dabei schien man diese Mondlandschaften schon wenige Jahrzehnte später eigenhändig zu produzieren. In den Industrieregionen nämlich – in Bitterfeld oder Karl-Marx-Stadt – entstanden in den 70er- und 80er-Jahren immer mehr realexistierende Öko-Apokalypsen. Zugleich aber hatte sich genau hier auch eine Kunstszene angesiedelt, die einzigartig war in Ostdeutschland: In gewisser Weise, meint aus der Rückschau Frédéric Bußmann, Generaldirektor der Kunstsammlungen Chemnitz, sei man im damaligen Karl-Marx-Stadt immer ein Stück unter dem Radar geflogen. „Die Stadt war aus zweierlei Gründen interessant: Zum einen gab es hier die Kunstsammlung des Staatskombinats Wismut, zum anderen hatte man keine Kunsthochschule. In Verbindung mit einer Gruppe von offener denkenden Künstlern im Verband hat das Karl-Marx-Stadt für subkulturelle Einflüsse geöffnet.“ Das prominenteste Beispiel: die Dada-Experimentalisten rund um die Band AG Geige – damals die vermutlich schrillste Mischung aus genialen Dilettanten und „Soz-Avantgarde“, von heute aus betrachtet aber auch Frühindikator für den bevorstehenden Kollaps einer Gesellschaft. Bußmann gerät geradezu ins Schwärmen, wenn er über die einstige Off-Szene der Stadt erzählt – über die Künstlergruppe Clara Mosch mit ihrem damaligen Starkünstlern Michael Morgner und Carlfriedrich Claus oder über die noch heute in Chemnitz ansässige Galerie Oben. Derlei Initiativen hätten schon weit vor ’89 wichtige Impulse in die Stadt getragen – in eine Stadt, die in ihren Wurzeln ohnehin immer modern gewesen sei, nicht zuletzt wurden hier ja in den 1880er-Jahren die späteren Brücke-Künstler Karl Schmidt-Rottluff und Ernst Ludwig Kirchner geboren. Doch was hatte man nach 1949 nicht alles gegen solch Modernisten ins Feld geführt: Unvergessen etwa jener Zeitungsartikel aus der Täglichen Rundschau von 1949, mit dem der sowjetische Kulturoffizier Alexander Dymschitz die sogenannte Formalismusdebatte eröffnet hatte. Es war ein Pamphlet gegen alles Moderne: gegen Salvador Dalí, in dem Moskaus oberster Kunstwächter nur einen „Lobsänger Hitlers“ erblicken wollte, ja selbst gegen „die zerhackten Gesichter“ und „die Schielaugen“ auf den Leinwänden von Pablo Picasso. Dabei ließ sich auch damals sicherlich über Geschmack trefflich streiten; Stilvorgaben aber – zumal aus Moskau – schienen unhinterfragbar zu sein. Und so sind gerade in den 50er-Jahren unzählige Maler, Bildhauer und Fotografen der neuen ästhetischen Marschroute blind gefolgt. In den Nischen aber blieb man widerborstig. Ein Blick in die Schausammlung der Städtischen Museen Zittau macht deutlich, wie besonders in der sonst eher ländlichen Oberlausitz Kubismus und Surrealismus auch nach der Dymschitz-Debatte fortleben konnten. Peter Knüvener, heute Direktor der in einem alten Franziskanerkloster untergebrachten Zittauer Museen, zieht einige Bildwerke aus dem Depot: Collagen des vor drei Jahren verstorbenen Grafikers Peter Israel etwa. Ein flüchtiger Blick genügt bereits, und man erkennt die unverkennbaren Einflüsse von Magritte oder DalÍ auf die oft traumverloren wirkenden Bilder. Dann folgen weitere Arbeiten. Übersichtlich sortiert hängen sie an einer provisorischen Schauwand. „Hier sehen Sie einige Highlights aus der Vorwendezeit“, sagt Knüvener. Man schaut auf naiv gemalte Gesichter, weibliche Silhouetten, Schattenrisse. Bald erkennt man auch die vermeintlichen „Schielaugen“, die Alexander Dymschitz wohl im Sinn gehabt hatte, als er vor 70 Jahren die großen Gemälde Picassos in Bausch und Bogen verdammte. Im unterkühlten Zittauer Schaudepot hängen indes keine Picassos; es sind Bilder eines Querkopfes, der für viele längst zu den einflussreichsten Künstlern in der einstigen DDR gezählt wird: Jürgen Böttcher, ein umtriebiger Maler, Grafiker und Filmemacher, der nicht nur zum Lehrer des später ausgebürgerten A.R. Penck werden sollte, Böttcher selbst hat ein schier unerschöpfliches Werk aus Zeichnungen, Radierungen, Übermalungen und Filmen hervorgebracht, das gerade jetzt wieder von manch einem ostdeutschen Museum neu entdeckt worden ist. Vielleicht, sagt Knüvener, sei es ja der Genius Loci, der hier in der Oberlausitz all diese eigenwilligen Talente hervorgebracht habe. Der Geburtsort von Böttcher jedenfalls liegt nur einen Steinwurf von Zittau entfernt: Strahwalde, ein Flecken Erde, eingeklemmt zwischen einem alten Schloss und einer Kirche. Es war im Jahr 1975, als Jürgen Böttcher das „h“ aus seiner Heimat strich und sich den Rest des Namens ans Revers hing. Fortan signierte er seine Bilder mit Strawalde. Ein Ort. Ein Prophet. Ein gleicher Name. So ist das halt in der Oberlausitz – in der luftigen Landschaft unter weitem Himmel, in der die Nachkriegsmalerei aus Ost wie West wie friedlich nebeneinanderliegt. Ausstellungstipps: Die Ausstellung „Medea muckt auf. Radikale Künstlerinnen hinter dem Eisernen Vorhang“ ist noch bis zum 31. März 2019 in der Dresdener Kunsthalle im Lipsiusbau zu sehen. Gezeigt werden Werke von 36 Künstlerinnen und Künstlerinnengruppen, u. a. von Tina Bara, Sibylle Bergemann und Hanne Wandtke. Werke von Peter Israel werden ebenfalls bis zum 31. März 2019 in der Ausstellung „Salvador Dalí. Grafische Traumwelten“ im Kulturhistorischen Museum Görlitz und in den Städtischen Museen Zittau zu sehen sein. Das Gemeinschaftsprojekt zeigt neben 300 druckgrafischen Werken Dalís auch die Einflüsse des Surrealisten auf die Kunst in der Lausitz Dies ist ein Artikel aus dem Sachsen-Sonderheft „Einblicke“ von Cicero und Monopol.
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Ralf Hanselle
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30 Jahre nach ’89 wird in den Museen in Chemnitz, Dresden und Zittau noch einmal über die Malerei der Vorwendezeit nachgedacht
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"Ostdeutschland"
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kultur
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2019-02-25T18:07:37+0100
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2019-02-25T18:07:37+0100
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Türkei - Mit Snowboardhelm gegen den Willkürstaat
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Ipek, 29, ist als Tochter einer deutschen Mutter und eines türkischen Vaters in Deutschland geboren. Seit vier Jahren lebt und arbeitet sie in Istanbul. Aus Sicherheitsgründen wurde hier ihr Name geändert. Wie haben Sie die Proteste in Istanbul verfolgt?Seit einer Woche habe ich kaum geschlafen. Wenn ich nicht auf der Straße bei den Protesten bin – was ich meistens bin –, verfolge ich die Geschehnisse vor dem Computer. Seit dem brutalen Übergriff auf friedliche Umweltaktivisten im Gezipark haben immer mehr Leute gesagt: Jetzt reicht‘s! Mittlerweile kommen auch Leute, die sonst noch nie auf einer Demonstration waren oder sich noch nie für Politik interessiert haben. Sie haben genug von Erdogans Willkür – und fordern ihre Grundrechte ein. Die Polizei soll ja mit ziemlicher Gewalt gegen Demonstranten vorgehen.Polizisten schlagen mit Knüppeln auf einfach nur am Ufer sitzende Leute ein. Sie gehen mit Gasbomben und Wasserwerfern gegen Hunderte von Demonstranten vor. Und mit CR-Gas! CR-Gas gilt ist ein Tränengas, das als chemische Waffe gelistet ist…Es ist schlimmer als normales Tränengas. Dieses Zeug führt zu Übelkeit und blockiert die Atemwege. Es sollen schon Menschen nach CR-Gas-Einsätzen gestorben sein. Den Behörden zufolge gab es zwei Todesfälle – ich glaube aber aufgrund der Informationen aus meinem Umkreis, dass es mehr sind. Menschenrechtler und Ärzte gehen von 3000 zum Teil schwer Verletzten aus. Die genaue Zahl weiß niemand. [video:Revolte in Istanbul: Die Proteste gegen Erdogan] Und die Demonstranten lassen sich von solchen Angriffen nicht einschüchtern?Im Gegenteil. Seit Freitag wissen die Leute, wie sie mit dem Gas umgehen müssen. Sie tragen Halstücher, Gasmasken und Schwimmbrillen; am Tasksimplatz boomt der Verkauf billiger Pappgasmasken. Ich selbst trage einen Snowboardhelm. Außerdem haben die Menschen Essig dabei und Sprühflaschen mit einer Wasser-Talcid-Lösung, einem Magenmedikament. Beides hilft gegen das Gas. Für diejenigen, die ohne Ausrüstung kommen, gibt es im Gezipark mittlerweile Stände mit den entsprechenden Schutzgeräten. Auch Kekse, Kuchen, Börek und Getränke werden von Freiwilligen verteilt.Ehrlich gesagt: Ich hatte am vergangenen Wochenende das erste Mal richtig Angst um mein Leben… Warum?Wir gerieten mitten auf dem Boulevard in eine Gas-Attacke. Die Angreifer verfolgten uns noch bis in die Nebenstraßen. Wir kamen an einem Auto vorbei, in das jemand eine Gasbombe geworfen hatte. Eine Frau mit Kopftuch lag fast ohnmächtig auf dem Fahrersitz eines gegenüberliegenden Autos. Wir konnten sie zum Glück wieder aufpäppeln. Ein anderer Angriff ereignete sich am Taksimplatz: Sicherheitskräfte warfen eine Gasbombe in die Metrostation, die ich selbst jeden Tag benutze. Zuvor hatte man die Fahrgäste per Durchsage aus der U-Bahn gelockt– und dann schnell die Türen verriegelt. Glauben Sie, dass der Protest anhalten wird?Die Stimmung jedenfalls ist unbeschreiblich. Gruppen, die sich sonst bekriegen, kämpfen und feiern jetzt zusammen, Tag und Nacht. Es ist egal, ob die Demonstranten arm oder reich sind, mit der Kommunismus-, Che-, Atatürk- oder Fußball-Fahne wedeln: Sie alle fordern ihre demokratischen Grundrechte ein. Dieser Protest gärt mittlerweile in großen Teilen Istanbuls – und in rund 70 der 81 Provinzen des Landes. So etwas hat es noch nie in der Türkei gegeben! Andererseits hat Ministerpräsident Erdogan einen starken Rückhalt in der Bevölkerung.Klar, er ist natürlich kein Diktator, sondern demokratisch gewählt. Bei der letzten Wahl standen noch rund 50 Prozent der Bevölkerung hinter ihm. Ihn mit Hitler zu vergleichen, geht eindeutig zu weit. Erdogan ist trotzdem ein autoritärer Spinner, der jegliche Bodenhaftung verloren hat. Er provoziert mit seiner Drohung, er könne angeblich eine Million Menschen zusammentrommeln und auf die Demonstranten hetzen. Er bezeichnet Regimekritiker als marginale Gruppe von Randalierern und Terroristen.Die von ihm benutzte Bezeichnung „Capulcu“ (=Plünderer) ist übrigens zu einem Kultbegriff unter den Demonstranten geworden: Alle nennen sich nun selbst „Capulcu“, es werden Plakate gedruckt und Lieder dazu gedichtet. Sogar der US-Philosoph Noam Chomsky bezeichnet sich solidarisch als „Capulcu“. Es gibt auch eine englische („chapuller“) und eine spanische („chapuleador“) Version dieses Wortes. [[{"fid":"54173","view_mode":"teaser","type":"media","attributes":{"height":132,"width":220,"style":"width: 220px; height: 132px; margin: 5px 8px; float: right;","class":"media-element file-teaser"}}]]Wie gelangen Sie an Ihre Informationen?Unsere einzigen Quellen sind Facebook, Twitter, Halk TV und Ulusal. Beides sind Sender der kemalistischen CHP Partei, der größten türkischen Oppositionspartei, die man auch online als Livestream verfolgen kann. Bei den sozialen Netzwerken kann man sich jedoch nicht sicher sein, es gibt viele Provokateure und Zivilpolizisten unter denjenigen, die dort Nachrichten verbreiten. Und die türkischen Medien nicht?Die haben bis vor kurzem gar nicht berichtet, sondern lieber ihre Kuppel, Koch- und Superstarshows weitergesendet. Der Nachrichtensender NTV brachte einen Dokumentarfilm über Pinguine! Mittlerweile boykottieren die Menschen alle Unternehmen der hinter dem Sender stehenden Doğuş-Holding – darunter auch Hotels, Restaurants und Banken. Und vor den Medien der regierungsnahen Doğan-Mediengruppe, zu der ein Großteil der Fernsehkanäle und viele Zeitungen gehören, stehen täglich Demonstranten. Viele Doğan-Mitarbeiter haben bereits gekündigt.Dies ist ein Volksaufstand, der über die sozialen Medien ins Rollen gekommen ist – ohne eine Gruppe, eine Partei oder eine Person als Anführer. Je mehr Videos und Bilder um die Welt gehen, desto wirkungsvoller.Wir danken Ihnen für das Interview. Das Interview wurde auf Grundlage einer persönlichen Rundmail Ipeks schriftlich geführt.
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Petra Sorge
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Die Proteste in der Türkei halten trotz der Drohungen von Ministerpräsident Erdogan an. In Istanbul gehen mittlerweile auch Deutsch-Türken für demokratische Grundrechte auf die Straße. Ipek ist eine davon. Sie berichtet von einem Angriff mit gefährlichem CR-Gas
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außenpolitik
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2013-06-07T18:11:54+0200
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2013-06-07T18:11:54+0200
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https://www.cicero.de//aussenpolitik/tuerkei-mit-snowboardhelm-gegen-den-willkuerstaat/54668
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Großbritanniens Austritt aus dem EU-Binnenmarkt - Kein Big Ben Brexit Bang
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Der Big Ben Brexit Bang bleibt wohl aus. Der Glockenturm des Westminster-Palastes durfte zwar um 23 Uhr am 31. Dezember – Mitternacht in Brüssel und Berlin - läuten, um den endgültigen Brexit zu verkünden. Doch das seit 2017 eingerüstete Wahrzeichen Londons blieb dabei weitgehend ungehört. Neujahrsfeiern wurden in London wie überall in Europa wegen der grassierenden Corona-Pandemie abgesagt. Auch Brexitfans müssen zu Hause bleiben. Der Neujahrstag ist ein Feiertag, dann folgt ein Wochenende. Erst am 4. Januar werden die Briten im neuen Zeitalter aufwachen. Ihre Insel ist nicht mehr Teil des EU-Binnenmarktes. Lastwagenfahrer auf dem Weg in die EU und aus der EU brauchen neue Frachtdokumente, im Hafen von Dover sind Staus zu erwarten. Um diese gering zu halten, habe viele Firmen ihre Frachtfahrer erst einmal ein paar Tage nach Hause geschickt. Das Luxuskaufhaus Harrods hat schon vor Wochen Lieferungen in die EU eingestellt, um den Problemen des neuen Zeitalters aus dem Weg zu gehen. Der Brexit hat längst schon Platz Eins auf den Titelseiten an Covid-19 abgetreten. Am 31. Dezember starben knapp tausend Menschen im Vereinigten Königreich an dem Virus. Die Spitäler sind wie im April überlastet, im St-Thomas-Spital, in dem Boris Johnson im April auf der Intensivstation behandelt wurde, warten Ambulanzen bei der Notaufnahme stundenlang darauf, dass Patienten aufgenommen werden können. Auch der britische Regierungschef lässt die Sektkorken deshalb allein zu Hause im Kreise der Kleinfamilie knallen. Johnson war der einzige, der sich zur Jahreswende noch in Optimismus versuchte. Anders als die meisten seiner Landsleute hatte er auch etwas zu feiern: Unter hohem Zeitdruck hat er doch noch ein Handelsabkommen mit der EU abschließen können. In seiner Weihnachtsansprache hielt er fröhlich einen zerfledderten Papierziegel in die Kamera, den er den Briten unter den Weihnachtsbaum gelegt hatte. „Sie haben gesagt, man kann mit der EU keinen freien Handel treiben, wenn man sich nicht an die EU-Regeln hält“, sagte er im Interview mit der BBC, „aber genau das machen wir jetzt“. Boris Johnson findet, er kann seinen Kuchen behalten und ihn gleichzeitig auch essen. The Sun nennt den Deal, den das britische Parament in der Nacht zum 31.12. mit großer Mehrheit ratifizierte, „den siegreichen Schwammkuchen“. Damit beginnt für die EU und für das Vereinigte Königreich eine neue Phase der Beziehungen. Die 27 EU-Mitglieder feierten unter der Führung von EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen am Jahresende noch ein Investitionsabkommen mit China. Die Briten hoffen erst einmal darauf, dass sich der Austritt aus dem EU-Binnenmarkt und der EU-Zollunion nicht allzu negativ auswirkt. Der offizielle Austritt des Vereinigten Königreichs aus der EU erfolgte ja schon am 1. Februar 2020, der faktische und folgenreiche Brexit passiert erst jetzt. Ab dem 1. Januar fallen die Vorteile des Binnenmarktes für beide Seiten weg. Dank des Handelsvertrages fallen keine Zölle und Quoten für Güter an, doch die Frachter brauchen mehr Dokumente, in den Häfen muss mehr kontrolliert werden. Da bis vor einer Woche nicht klar war, ob es überhaupt ein Abkommen geben würde, sind ein großer Teil der britischen Firmen immer noch nicht auf den Wechsel vorbereitet. Die Anpassung wird vor allem zwischen Großbritannien und Nordirland nicht einfach werden. Um eine neue Zollgrenze zwischen Nordirland und der Republik Irland im Süden zu vermeiden, bleibt Nordirland auch weiterhin bei EU-Binnenmarktregeln. Die neue EU-Außengrenze zieht sich jetzt de facto durch das irische Meer zwischen Nordirland und Großbritannien. Da stehen mehr Formulare an. Importeure und Exporteure müssen außerdem klarstellen, ob ein Produkt für Nordirland oder den EU-Markt bestimmt ist. Umgekehrt natürlich auch. Wirklich schwierig aber wird es auf lange Sicht, wenn das Vereinigte Königreich von EU-Normen bei Lebensmitteln und anderen Gütern abweicht. Dann könnte die EU Strafzölle einführen, die an den Grenzen eingezogen werden müssen. Nicht nur die Grenze zu Nordirland ist vom Brexit betroffen. Eine weitere innerbritische Grenze ist durch den EU-Austritt auf lange Sicht eine mögliche Achillesferse geworden. Die Abgeordneten der schottischen Nationalisten haben am 30. Dezember im Unterhaus gegen den Handelsvertrag mit der EU gestimmt. Sie wollten gar keinen Brexit, auch diesen nicht. Im kommenden Mai wird sich bei den schottischen Wahlen zeigen, ob die Schotten ihren Weg aus dem Vereinigten Königreich weiter verfolgen wollen. Gewinnt die nationalistische Regierungschefin Nicola Sturgeon mit großer Mehrheit, steigt der Druck für ein zweites Unabhängigkeitsreferendum. Tritt Schottland aus der UK aus und in die EU wieder ein, dann verläuft irgendwann eine EU-Außengrenze direkt durch die britische Insel zwischen England und Schottland. Das ist aber erst einmal Dudelsackmusik. Ganz konkret büßen alle Briten jetzt erst einmal die Personenfreizügigkeit in der EU ein – sie können nicht länger als neunzig Tage in ihren Zweithäusern am Kontinent bleiben. Ab jetzt gelten Drittstaatregeln für Touristen und wer einen Job am Kontinent oder auf der Insel antritt, braucht dafür ein Arbeitsvisum. Britische Telefonfirmen dürfen wieder Roaming-Gebühren in der EU einführen. Nicht viel dürfte sich für die eine Million Briten ändern, die seit Jahren in EU-Staaten lebt. Ungefähr vier Millionen EU-Staaten residieren im Vereinigten Königreich. Ihre Rechte sind im Scheidungsvertrag festgeschrieben worden. Sie sollen wie bisher Zugang zu lokalen Gesundheits- und Pensionssystemen haben. Ab dem 1. Januar 2021 aber wird der Zuzug von EU-Bürgern nach Großbritannien drastisch sinken. Schon jetzt fehlen in britischen Spitälern die gut ausgebildeten Ärzte und Pfleger aus EU-Staaten. Zehntausende Stellen sind frei, weil seit dem EU-Referendum 2016 weniger EU-Bürger nach Großbritannien gezogen sind. In Zeiten der Corona-Pandemie ist dies besonders dramatisch. Besonders betroffen sind künftig auch britische Studierende, die nicht mehr wie bisher am Erasmusprogramm teilnehmen dürfen. Die EU erlaubt zwar auch Nicht-Mitgliedern, an diesem Studentenaustauschprogramm teilzunehmen, die britische Regierung aber verzichtete darauf. Alles, was mit der EU zu tun hat, ist in Johnsons Kabinett derzeit schlecht angeschrieben. Man wolle, hieß es, lieber ein eigenes Programm für Studierende aus aller Welt entwickeln, das besser zu „Global Britain“ passe. Für junge Leute aus der EU wird es grundsätzlich sehr viel teurer, an britischen Universitäten zu studieren. Bisher zahlte man die gleichen Studiengebühren wie die Briten. Jetzt steigt der Preis für die ohnehin teuren englischen Eliteunis. Statt 10.000 Euro pro Semester wird ein Bachelor-Studium jetzt mindestens das Doppelte kosten, Masterstudien auch das Drei- oder Vierfache. Der Zugang zu Studentenkrediten wird überhaupt nicht mehr gewährt. Die großen Probleme, die Johnsons Weihnachtsabkommen für seine Briten aber bringen wird, die sieht man auch Anfang des Jahres wohl noch nicht. Der wichtigste Sektor der britischen Wirtschaft wurde in dem Freihandelsvertrag zwischen EU und Vereinigtem Königreich nicht behandelt: die Finanzdienstleistungen. Die City of London ist neben New York der wichtigste Finanzstandort der Welt. Bisher profitierte London davon, dass die City Zugang zur Welt und zur EU bot. Für alle Finanzdienstleister wie Banken und Versicherungen müssen jetzt erst in den kommenden Monaten und Jahren neue Regeln ausgearbeitet werden. „Wir haben für die Fischer gekämpft, deren Arbeit 0,1 Prozent unserer Wirtschaft ausmachen“, schreibt Jonathan Powell, der eins Tony Blairs Büro leitete, „statt für die Finanzdienstleistungen, die 80 Prozent unserer Wirtschaft ausmachen“. Powell stellt in seiner Analyse für Politico fest: „In allen wichtigen wirtschaftlichen Fragen, hat die EU bekommen, was sie wollte.“ Boris Johnson ist auf diesem Ohr – dem für die ökonomischen Folgen seines Brexit – taub. Ihm und seinen Brexiteers ging es am Ende nur noch um das Prinzip britischer Souveräntität. Auch in seinem Neujahrinterview mit der BBC konnte der Premierminister nicht sagen, wie der Finanzplatz London damit umgehen wird, dass er das sogenannte Passportrecht in die EU verloren hat. „Die City wird mächtig gedeihen“, wiederholte er seinen oft gebrauchten Slogan. Gründe für seinen Optimismus nannte er nicht. Aufgrund all dieser Brexit-Neuerungen errechneten regierungsnahe Stellen wie das „Office for Budget Responsibility“, dass die britische Wirtschaft in den kommenden Jahren um vier Prozent schrumpfen wird – das sind rund 100 Milliarden Euro pro Jahr. Die Coronapandemie schrumpft die britische Wirtschaft nach den Berechnungen der Statistiker und Ökonomen dagegen „nur“ um drei Prozent – wobei diese Zahlen vor dem Auftreten der neuen englischen Virusvariante herausgegeben wurden. 55.800 Neuinfektionen wurden am letzten Jahrestag 2020 im ganzen Land gemessen. 964 Menschen starben innerhalb von 24 Stunden an Covid-19. Den vier Nationen des Vereinigten Königreichs droht Anfang des Jahres ein fast flächendeckender Lockdown, der lange Winterwochen dauern dürfte. Dem Coronavirus und dem Brexit wird eine schwere Wirtschaftsrezession folgen. Manchen wurde daher eher mulmig, als Boris Johnson nach der Ratifizierung des EU-Handelsabkommens durch die Queen freudig ausrief: „Das Schicksal dieses großen Landes liegt nun fest in unseren Händen.“ Sein Vater Stanley verkündete daraufhin, er wolle jetzt erst einmal um die französische Staatsbürgerschaft ersuchen.
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Tessa Szyszkowitz
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Der Austritt aus dem EU-Binnenmarkt ist selbst den einst brexitbegeisterten Boulevardblättern im Vereinigten Königreich keine Titelseite mehr wert. Nur Regierungschef Boris Johnson feiert noch optimistisch den Aufbruch in ein neues Zeitalter.
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"Brexit",
"Großbritannien",
"Brexit-Deal",
"Boris Johnson",
"EU-Binnenmarkt"
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außenpolitik
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2021-01-01T11:19:47+0100
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2021-01-01T11:19:47+0100
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https://www.cicero.de/aussenpolitik/brexit-eu-binnenmarkt-grossbritannien-boris-johnson
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Pro-europäische Koalition – Ist Griechenland reformfähig?
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Er zeigt Entschlossenheit: Nach der Wahl in Griechenland
versucht der konservative Parteichef Antonis Samaras in Athen
eine pro-europäische Koalition zu schmieden. Leicht wird das
nicht, doch eine stabile Regierung ist die Voraussetzung dafür,
dass Europa den Griechen auch künftig beisteht bei der Bewältigung
ihrer Schuldenkrise. Wie geht Wahlsieger Samaras bei der Suche nach Partnern
vor? Für einen Wahlsieger wirkte der Chef der konservativen Nea
Dimokratia (ND) am Sonntagabend nicht gerade ausgelassen. Sein
Lächeln vor den Fernsehkameras wirkte etwas gequält. Samaras hatte
zwar gewonnen. Aber er weiß: Sein Sieg ist nur geborgt. Dass er bei
dieser Wahl gegenüber der Abstimmung vom 6. Mai noch einmal
600 000 Stimmen hinzugewinnen konnte, verdankt er vor allem
der Angst vieler Wähler vor
Syriza-Chef Alexis Tsipras und dem befürchteten Verlust des
Euro, falls der Radikallinke an die Macht gekommen wäre. [gallery:Eine kleine Geschichte des Euro] Umso größer ist der Erfolgsdruck, unter dem Samaras jetzt steht.
Noch am Wahlabend hatte Samaras davon gesprochen, er wolle jetzt
möglichst schnell eine „Regierung der nationalen Rettung“ bilden.
Am liebsten hätte Samaras sogar Tsipras mit ins Boot geholt – wohl
wissend, dass der Syriza-Chef in den kommenden Monaten nicht nur
Parlamentsreden halten wird. Er könnte seine Anhänger zu
Zehntausenden mobilisieren und der Regierung mit Streiks und
Protesten das Leben zur Hölle machen. Doch schon vor Beginn der
Koalitionssondierungen winkte Tsipras ab. Damit ist die Idee einer
großen Koalition vom Tisch. Also muss sich Samaras jetzt andere Partner suchen. Am
Montagabend signalisierte sein Wunschparnter Evangelos Venizelos
bereits die Bereitschaft zur Zusammenarbeit. Dessen sozialistische
Pasok landete bei der Wahl abgeschlagen auf dem dritten Platz. Wenn
es einen Verlierer dieser Doppelwahl gibt, heißt er Venizelos.
Seiner Pasok sind seit 2009 mehr als 1,5 Millionen Wähler
davongelaufen, die Partei hat zwei Drittel ihrer Stimmen verloren –
die Quittung für zwei Jahre brutalen Sparkurs, der Griechenland in
die tiefste Rezession der Nachkriegsgeschichte und die
Arbeitslosenquote auf den Rekordwert von 23 Prozent getrieben hat.
Venizelos muss jetzt versuchen, die praktisch in Auflösung
befindliche Partei aufzurichten. Ob es in dieser Situation
hilfreich ist, wenn sich die Pasok erneut an einer Regierung
beteiligt, ist strittig. Für einen solchen Schritt spricht die
Staatsräson. Von Venizelos hängt es jetzt ab, ob Samaras seine
parlamentarische Mehrheit zusammenbekommt. Scheitert er, drohen
erneut Monate der politischen Lähmung und ein dritter Wahlgang. Das
würde den sicheren Staatsbankrott bedeuten. „Regierung jetzt!“ forderte am Montag das Athener Massenblatt
„Ta Nea“ und erinnerte an „die Verantwortung der Parteien und ihrer
Führer“. Er strebe eine Regierung „mit langem Atem“ an, sagte
Samaras, als Staatspräsident Karolos Papoulias ihm am Montagmittag
das Mandat erteilte, eine Regierungsbildung zu sondieren. Samaras
möchte alles daransetzen, bereits als neuer Ministerpräsident am
28. Juni zum EU-Gipfel zu fliegen. Das wäre tatsächlich ein
wichtiges Stabilitätssignal. Was ist vom Chef der radikalen Linken Alexis Tsipras
künftig zu erwarten? So wie Alexis Tsipras am Sonntagabend auf dem Platz vor der
Athener Akademie von seinen Anhängern gefeiert wurde, könnte man
meinen, er hätte die Wahl gewonnen: Ein Meer von Fahnen begrüßte
ihn, Sprechchöre schallten ihm entgegen. An seiner Seite steht
Manolis Glezos, ein Urgestein der griechischen Linken. Als
18-Jähriger kletterte er in der Nacht zum 30. Mai 1941 auf die
Akropolis, holte die dort von den deutschen Besatzern aufgezogene
Hakenkreuzfahne ein und zog die griechische Nationalflagge auf.
Seither ist Glezos für viele Griechen eine Ikone des Widerstandes.
Hier der greise Nationalheld, dort sein 37-jähriger politischer
Enkel, der neue Star der griechischen Linken. Nein, ein Verlierer
ist dieser Tsipras nicht. Eher zweiter Sieger. Wer hätte für
möglich gehalten, was ihm gelungen ist: bei den Wahlen vom Oktober
2009 bekam das von ihm geführte Bündnis der radikalen Linken
(Syriza) knapp 316 000 Stimmen, jetzt waren es über 1,6
Millionen. Tsipras hat die einstige Splitterpartei zu einem Sammelbecken
des
Protests gegen den Sparkurs gemacht. Dass es nicht für den
Wahlsieg reichte, scheint ihn nicht sonderlich zu stören, zumal es
sich im krisengeschüttelten Griechenland auf dem mit rotem Leder
bezogenen Sessel des Oppositionsführers in der ersten Reihe des
Plenarsaals erheblich bequemer sitzt als oben auf der harten
Regierungsbank. Seite 2: Welches Signal geht von der Wahl an die Europäer
aus? Welches Signal geht von der Wahl an die Adresse der
Europäer aus? Einfach weitermachen wie bisher mit dem Sparkurs kann man nicht.
Samaras bekannte sich zwar schon im vergangenen Herbst zu den
Zielen des Konsolidierungs- und Reformprogramms. Er will aber
seinen Partnern vor allem zweierlei abhandeln: mehr Zeit für die
Umsetzung der Sparziele und Wachstumsimpulse für die griechische
Wirtschaft, die seit Beginn der Krise bereits fast um ein Fünftel
geschrumpft ist. Samaras wird seinen Partnern in Brüssel aber auch
zu erklären versuchen, dass es inzwischen in Griechenland um viel
mehr geht als Fiskalprobleme. Das Land droht seinen sozialen
Zusammenhalt zu verlieren, das politische System gerät aus den
Fugen. Schon im Frühjahr lieferten sich rechte und linke
Schlägertrupps Straßenschlachten in Athen, die Polizei schaute zu.
Nacht für Nacht machen schwarz gekleidete Ultra-Nationalisten in
griechischen Städten Jagd auf dunkelhäutige Ausländer. Der
Wahlerfolg der Neonazi-Partei Goldene Morgenröte, die, wie schon
Anfang Mai, am Sonntag erneut auf fast sieben Prozent kam und mit
18 Abgeordneten ins neue Parlament einzieht, ist ein alarmierendes
Signal. Manche Kommentatoren warnen bereits vor „Weimarer
Verhältnissen“ in Griechenland. Giorgos Tzogopoulos vom Athener Thinktank Eliamep geht
allerdings nicht davon aus, dass der Reformplan für Griechenland
gestreckt oder gelockert werden kann. „Die entscheidende Frage
besteht eher darin, ob die neue Regierung, sofern sie zustande
kommt, bereit ist, die notwendigen Reformen in Angriff zu nehmen“,
sagte Tzogopoulos dem Tagesspiegel. „Aber wenn sie sich dazu
entschlossen zeigt, wird die Troika mehr Zeit zugestehen“, meint
der Experte. In erster Linie geht es in seinen Augen um die
„Verlässlichkeit“ einer neuen Regierung in Athen. Wie stehen die Chancen Griechenlands für Entgegenkommen
der EU? Dem griechischen Wahlsieger Samaras ist vonseiten der
europäischen Geldgeber am Montag signalisiert worden, wie klein der
Spielraum für mögliche Änderungen am Sparprogramm ist. Im Umfeld
von EU-Währungskommissar Olli Rehn wurde an Samaras’ Schreiben vom
Februar erinnert, in dem dieser sich zur Umsetzung des Programms
auch nach den Wahlen bekannte. „Es gibt keine Alternative zu diesem
Programm“, hieß es ebenso strikt aus der EU-Kommission wie in
Berliner Regierungskreisen: „Das Programm steht so, wie es
vereinbart wurde.“ Ein Vertreter eines Eurozonenlandes sagte in
Brüssel, es sei kaum zu vermitteln, dass man nun zum dritten Mal
seiner jeweiligen Bevölkerung sage, dass die Griechen weniger, man
selbst aber mehr machen müsse. Dem Vernehmen nach hatten in der Eurogruppensitzung am
Sonntagabend vor allem Deutschland und die Niederlande für eine
harte Haltung gegenüber der neuen griechischen Regierung plädiert.
Die Stellungnahme der 17 Finanzminister fällt dementsprechend
deutlich härter aus als das gemeinsame Kommuniqué von
EU-Kommissionschef José Manuel Barroso und EU-Ratspräsident Herman
Van Rompuy, in dem davon die Rede ist, dass das im Februar
gemeinsam verabschiedete Spar- und Reformprogramm lediglich die
„Basis“ der weiteren Bemühungen sei. „Ich gehe davon aus, dass die
Bedingungen gelockert werden“, sagte am Montag auch der
EU-Botschafter eines Eurolandes dieser Zeitung. Die Troika von Beamten der EU-Kommission, der Europäischen
Zentralbank und des Internationalen Währungsfonds wird entsprechend
flexibel sein, wenn sie sofort nach einer Regierungsbildung in
Athen eintrifft. In der Brüsseler Kommission hieß es am Montag,
auch dieser Besuch biete „die Gelegenheit für kleinere
Anpassungen“; man könne „den Politikmix verändern, solange dies
fiskalisch neutral geschieht“. Als Beispiel wird Irland genannt, wo
die neu gewählte Regierung die zuvor ausgehandelte Senkung des
Mindestlohns nicht mitmachen wollte, stattdessen aber an anderer
Stelle sparen musste. Als mögliche Alternative wird auch
diskutiert, die Steuerbelastung zu senken, wenn im Gegenzug
beispielsweise der Militäretat gesenkt würde. Erleichterungen beim
Zinssatz und der Laufzeit der europäischen Hilfskredite, die im
Durchschnitt 15 Jahre beträgt, gelten dagegen als unwahrscheinlich,
da dies bereits zwei Mal geschehen ist. Unklar ist weiterhin, ob
eine zeitliche Streckung der Reformvorgaben möglich ist. Nicht
verhandelbar ist aber auf jeden Fall, dass die Schuldenlast der
Griechen bis 2020 auf 117 Prozent ihrer Wirtschaftsleistung
gedrückt werden soll. Eine Verschiebung von Reformmaßnahmen passt
nicht in dieses Konzept.
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Pro-europäische Kräfte haben die Wahl in Griechenland gewonnen – doch ihre Reformfähigkeit müssen sie erst noch unter Beweis stellen. Wie geht es jetzt in Athen weiter?
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außenpolitik
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2012-06-19T08:45:41+0200
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2012-06-19T08:45:41+0200
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https://www.cicero.de//aussenpolitik/ist-griechenland-reformfaehig/49763
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Nationalistische Gewalt in Moskau - „Rassismus in Russland ist primär ethnisch“
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Frau Judina, ist Russland ein fremdenfeindliches Land? Ich kann nicht sagen, dass Russland ein fremdenfeindliches Land ist. Xenophobie, die Angst vor dem Fremden, ist grundsätzlich vielen Menschen zu eigen. Es ist eine biologische Angst vor dem Unbekannten und Unverständlichen. Was ist das „Unverständliche“ für die Russen? Auf den Straßen in russischen Städten gibt es einige Menschen, die sehr schlecht Russisch sprechen, die anders aussehen, die unter fürchterlichen Bedingungen leben und sich auch öfter aggressiv verhalten. Das ruft in einigen Teilen der Gesellschaft Angst hervor – und Aggressionen bei ultrarechten, radikalen Jugendgruppen. Die Reaktion in Birjuljowo macht nicht den Eindruck, dass nur ultrarechte, radikale Jugendliche fremdenfeindlich sind. An den Demos haben nicht nur kahlköpfige Neonazis teilgenommen, die „White Power“ riefen. Sondern auch ältere Frauen, ganz normale Bürger. Birjuljowo hat seine bedauerlichen Eigenheiten. Die Tötung von Jegor Schtscherbakow ist kriminell. Die Details des Tathergangs sind unbekannt, aber vermutlich war es eine Auseinandersetzung, die leider mit Totschlag endete. Die Situation ist aber mit dem großen, ethnisch heterogenen, nicht kriminalitätsfreien Gemüsemarkt verbunden. Traurig ist, dass die Anwohner nicht nur und nicht in dem Maße über diesen konkreten Totschlag erzürnt sind, wie sie sich über die „Zugereisten“ insgesamt empören. Immigranten werden in Sippenhaft genommen – für die Tat eines Individuums. Die Reaktion der Anwohner war dezidiert nationalistisch. Für den Vorfall haben sie sofort alle „Nichtrussen“ verantwortlich gemacht, die in dem Bezirk wohnen. Und als dann Nationalisten nach Birjuljowo kamen, brachen – das ist eine Tatsache – die Pogrome aus. Was ist Ihrer Meinung nach ursächlich für Rassismus in Russland? Der Rassismus in Russland ist primär ein ethnischer. Es gibt auch Islamophobie, aber sie zeigt sich in geringerem Maße. Hauptsächlich haben wir es hier mit Feindseligkeit dem gegenüber demjenigen zu tun, der äußerlich als Fremder zu erkennen ist. Gerade das ist ethnischer Rassismus. Kaukasier und Zentralasiaten, die man in Russland „Gastarbajter“ nennt, sind meist Muslime, die Russen sind mehrheitlich christlich-orthodox. Welche Rolle spielt die orthodoxe Kirche, die sich auch als slawische Religionsgemeinschaft wahrnimmt? Die russisch-orthodoxe Kirche weicht dieser Problematik in den meisten Fällen aus. Es gibt aber einige Äußerungen gegen den Bau von Moscheen in Moskau und einzelne Aussagen gewisser Kirchenführer. Zum Beispiel von Oberpriester Vsevolod Tschaplin, dem Leiter der synodalen Abteilung für Beziehungen zwischen Kirche und Gesellschaft. Er erklärte, man könne die Empörung der Menschen verstehen. Es sei die Angelegenheit des Staates, zu erreichen, dass ein Mensch, der unverschämt und herausfordernd die in russischen Städten üblichen Normen mit Füßen trete und dann noch zu einem Messer greife, ganz klar verstehe: „Wäre er von einem Dach gesprungen, wäre das nicht gefährlicher gewesen als das, was er sich selbst angetan hat.“ Die Antipathie gegenüber den muslimischen „Gastarbajtern“ stützt sich allerdings auch auf konkret Wirtschaftliches: Meist wird argumentiert, die Zuwanderer würden zu viel schlechteren Löhnen und Arbeitsbedingungen schuften und daher den Russen die Arbeitsplätze wegnehmen. Die russische Wirtschaft ist gegenwärtig so aufgestellt, dass zu ihrer Aufrechterhaltung viele unqualifizierte, billige Arbeitskräfte benötigt werden. Diese Lücke schließen Einwanderer, denen sich eine gute Perspektive eröffnet, hier Geld zu verdienen. Per se nichts Schlechtes. Die Hälfte aller Arbeitserlaubnisse und Registrierungen von Einwanderern sind aber gefälscht und gegen Bestechungsgelder ausgestellt worden. Man muss also nicht das Problem eines Gemüse-Marktes lösen, sondern sich auch darum kümmern, dass im Föderalen Migrationsdienst aufgeräumt wird. Was läuft in der russischen Zuwanderungspolitik falsch? Die russische Migrationspolitik ist nicht durchdacht und das Ausmaß an Korruption im Bereich der Einwanderung ist sehr groß. Ein Beispiel: Als ein Mann aus dem kaukasischen Dagestan im August dieses Jahres einen Polizisten auf dem Matwejewskij-Markt angriff, wurde eine breit angelegte Kampagne gegen illegale Immigration gefahren. Sie hat sich indes als Wahlkampagne für den Bürgermeister Sergej Sobjanin entpuppt. [Der Moskauer Bürgermeister stellte sich erneut zur Wahl und wurde im September wiedergewählt, Anm.d.Red.] Dann versucht Russland nicht, das Problem an der Wurzel zu packen, sondern im Nachhinein die Dinge in Ordnung zu bringen. Ich glaube nicht, dass die Vorgänge in Birjuljowo Ordnung schaffen werden – vielmehr werden sie nur die Fremdenfeindlichkeit in der Gesellschaft auf die Spitze treiben. Leider hat erst der Zusammenschluss von Nationalisten und den Bewohnern Birjuljowos die Staatsgewalt dazu bewogen, sich mit den Problemen dieses Marktes zu befassen. Ohne die Ereignisse auf diesem Markt wäre nichts passiert. Heißt das, dass der russische Staat Rechtsextremismus solange toleriert, bis es wirklich brennt? Nein. Nach den Vorfällen am Manegen-Platz 2010 [Nachdem ein russischer Fußballfan bei einer Auseinandersetzung - an der Kaukasier beteiligt waren - gestorben war, kam es zu Krawallen, Anm.d.Red.] hat der russische Staat aufgehört, Spielchen mit Rechtsextremisten zu spielen. Und jetzt zeigt er wenigstens die Bereitschaft, gegen die radikalen Erscheinungen von Fremdenfeindlichkeit zu kämpfen. 1999 ließ Wladimir Putin die russische Armee in Tschetschenien einmarschieren, um gegen die „Terroristen“ zu kämpfen. Glauben die Rechten, dass sie gegen Terroristen vorgehen, wenn sie Geschäfte von Kaukasiern oder Zentralasiaten stürmen? Es gibt ein „tschetschenisches Problem“ in Russland. „Die Fremden“ aus Tschetschenien und Dagestan, also dem Nordkaukasus, werden automatisch als Terroristen wahrgenommen. Aber in den Sprüchen und Parolen, die in Birjuljowo gerufen wurden, ging es nicht um den Kampf gegen Terroristen. Die Menschen riefen „Das ist unser Zuhause“ und „Wir verteidigen uns selbst“. Zum ersten Mal seit den Terroranschlägen auf die Moskauer U-Bahn von 2010 hat die Moskauer Polizei alle verfügbaren Kräfte im Stadtgebiet in Alarmbereitschaft versetzt („Plan Vulkan“). Will man mit dieser enormen Reaktion zeigen, dass man für die Sicherheit dieses Zuhauses steht? Die Mächtigen in Russland sind von den Pogromen nicht weniger verschreckt als die anderen. Aber sie versuchen, die Sache auf dem traditionellen Weg der Gewalt zu lösen. Sie wollen zeigen, wer hier der Boss ist. Leider weiß ich nicht, was man tun sollte, damit sich solche Konflikte wie in Birjuljowo nicht wiederholen. Es wäre wünschenswert, wenn der Täter gefasst würde. Aber es ist nicht abzusehen, ob sie ihn überhaupt finden. Die Hauptsache ist aber, die Unruhen zu untersuchen, denn das ist eine wirklich ernste Sache. Die Polizei hat ja nicht nur Rechtsradikale, sondern auch einige Immigranten festgenommen. Warum? Will man den Rechtsradikalen den Wind aus den Segeln nehmen? Ich glaube, es ist ein Zugeständnis an die Bevölkerung, dass sie die Migranten festgenommen haben. Man will zeigen, dass die Suche nach dem Täter genau so ablaufen wird. Bisher ist ja nur bekannt, dass er angeblich wie ein „Migrant“ aussah. Natalija Judina ist Expertin für Rechtsextremismus am Moskauer Forschungsinstitut Sova, das sich mit Nationalismus, Extremismus und Religion beschäftigt.
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Vinzenz Greiner
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Vor knapp einer Woche wurde ein 25-Jähriger im Moskauer Bezirk Birjuljowo erstochen - vermutlich von einem Ausländer. Am Wochenende kam es zu gewalttätigen Ausschreitungen, nationalistische Demonstranten stürmten einen Gemüsemarkt. Rechtsextremismus-Expertin Natalija Judina über verfehlte Migrationspolitik und das „tschetschenische Problem“
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außenpolitik
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2013-10-17T13:11:12+0200
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2013-10-17T13:11:12+0200
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https://www.cicero.de//aussenpolitik/ausschreitungen-in-moskau-und-der-rassismus-in-russland/56144
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Verkehrsminister Peter Ramsauer – Das Leichtgewicht
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Gerade in Wahlkampfzeiten ist jeder Wahlkreisabgeordneter froh
über einen Besuch von Verkehrsminister Peter Ramsauer (CSU), weil
dann in der Regel ein Rotes Band zur Eröffnung einer neuen
Ortsumgehung durchgeschnitten wird. Und doch sprechen sie in der
Koalition von einem „Leichtgewicht“. Von einem, der die großen
Projekte wie Stuttgart 21, den Flughafen BER und das Mautsystem
Toll-Collect nicht wirklich im Griff hat. Er suche lieber nach
Schlagzeilen statt nach Lösungen, heißt es. Und der Minister macht
es seinen Kritikern leicht: So hat er in den vergangenen Tagen
mehrfach Zweifel am Eröffnungstermin des neuen BER-Flughafens in
Schönefeld geäußert, ohne dabei konkret zu werden. Wie agiert Ramsauer beim Flughafen BER? Zunächst schenkte Ramsauer dem Thema BER nicht viel
Aufmerksamkeit. Er gründete zwar unmittelbar nach der ersten
Terminverschiebung im Mai dieses Jahres öffentlichkeitswirksam eine
Sonderkommission in seinem Haus, aber er selbst schwieg lange.
Jetzt hat er einen Weg gefunden, sich dem Thema zu nähern, ohne,
dass er großen politischen Schaden fürchten muss: Er greift,
zuletzt beinahe täglich, den BER-Geschäftsführer Rainer Schwarz an
und fordert dessen Rauswurf. Das Problem ist nur, er selbst hat es nicht geschafft, sich mit
dieser Forderung durchzusetzen. Der Bund ist mit einem Anteil von
26 Prozent gegenüber Berlin und Brandenburg nur
Minderheitsgesellschafter. Vor der Aufsichtsratssitzung im November
versuchte der Bund seine Forderung nach einem Rauswurf von Schwarz
durchzudrücken. Ohne Erfolg. Ramsauer vermag keine Allianzen zu
bilden. Taktische Kärrnerarbeit ist seine Sache nicht. Er musste
sich damit begnügen, dass Anwälte nun prüfen, ob Schwarz persönlich
in Haftung genommen werden kann für die Verzögerungen beim BER.
Mehr war nicht zu holen. Trotzdem geht Ramsauer weiter mit der
Forderung hausieren. Warum macht er das? Zum einen will er Handlungsfähigkeit und politische Stärke
demonstrieren. Das kostet nichts, weil die Vorgehensweise in Sachen
Schwarz mit dem Gutachten längst klar ist, aber die Forderung ist
leicht zu verstehen und kommt an. Zum anderen tut er seinem
Koalitionspartner einen Gefallen. Denn die FDP ist mit dieser
Forderung sehr früh auf den Markt gegangen und kann nun sagen:
Schaut her, der Minister unterstützt unsere Forderung. Ob er damit
auch gezielt den beiden SPD-Fürsten Klaus Wowereit in Berlin und
Matthias Platzeck in Brandenburg schaden will, ist zweifelhaft.
Dies würde eine Strategie voraussetzen, heißt es in seiner
Umgebung. Und davon sei nichts zu spüren. Hat Ramsauer sein Haus im Griff? Sein Haus hat Ramsauer wohl im Griff. Mitarbeiter begegnen ihm
mit großem Respekt. Schwer zu sagen, ob damit das Amt oder der
Mensch gewürdigt wird. Dafür verblüfft Ramsauer seine Mitarbeiter
des Öfteren. So haben sie vor kurzem gemeinsam mit ihm festgelegt,
mit Journalisten ein so genanntes Hintergrundgespräch zu führen,
bei dem die Informationen nicht weitergeben werden sollen. Ramsauer
wetterte schon damals gegen den Flughafenchef Rainer Schwarz,
dessen Rausschmiss er forderte. Wenige Tage später sprudelte
Ramsauer seine Meinung dann jedoch selbst vor laufender Kamera aus.
Auch enge Mitarbeiter waren, wie sie sagen, vorher nicht
eingeweiht. Aber so sei er eben: ein bisschen sprunghaft und nicht
immer berechenbar. Lesen Sie auf der nächsten Seite, wem der Minister
vertraut. Wer sind seine Vertrauten? Zu seinen engen Vertrauten zählt vor allem Staatssekretär
Michael Odenwald. Der ist seit 22. Oktober neu im Amt und
Nachfolger von Klaus-Dieter Scheurle. Auch der war mal ein
Vertrauter Ramsauers, nur wechselt er zum 1. Januar zur Deutschen
Flugsicherung. Odenwald sitzt für den Bund im Aufsichtsrat der
Deutschen Bahn und er leitet die Sonderkommission BER im
Verkehrsministerium. Ein kundiger, sachlicher und erfahrener Mann.
Die Stärke des einen bedeutet aber oft die Schwäche des
anderen. In dem Fall ist das Rainer Bomba. Auch der ist verbeamteter
Staatssekretär und gehört dem Vernehmen nach nicht unbedingt zu
Ramsauers Lieblingen. Wohl auch deshalb sollte Bomba vor allem
solche Aufgaben übernehmen, die nicht weiter auffallen würden. 2009
zu Ramsauers und damit auch Bombas Amtsantritt fiel der Flughafen
BER noch in diese Kategorie. Ein regionaler Flughafen, an dem der
Bund zwar beteiligt ist, der aber für den Bayern Ramsauer keine
große Strahlkraft besaß. Also sollte Bomba dort für den Bund in den
Aufsichtsrat gehen. Doch es kam anders. Seit der kurzfristigen
Verschiebung der Eröffnung im Mai diesen Jahres ist der BER in
aller Munde und bundesweit ein skandalträchtiges
Infrastrukturprojekt. Dass Ramsauer eine Sonderkommission
eingerichtet hat und die auch noch von Odenwald und nicht von Bomba
geleitet wird, gilt als Affront gegenüber Bomba. Der Staatssekretär
selbst pflegt vor allem zu Aufsichtsratschef Klaus Wowereit und
auch dessen Vize, Brandenburgs Ministerpräsident Matthias Platzeck
(SPD), ein gutes Verhältnis. Ramsauer gilt da eher als Störenfried,
der nicht tiefer im Thema und nur auf populäre Forderungen aus
sei. Wie verhält er sich bei anderen Großprojekten wie Stuttgart
21? Die großen Themen lässt Ramsauer lieber liegen. Die politische
Verbrühungsgefahr ist zu groß. Die Notwendigkeit, im Detail zu
wissen, um was es geht, ebenfalls. Ramsauer beschäftigt sich mit
Themen, die schlagzeilenträchtig sind: Wohnungsnot bei Studenten,
weniger Anglizismen bei der Bahn oder einem neuen Punktekatalog für
Autofahrer. Aber die infrastrukturellen Großprojekte lässt er
lieber links liegen. Beispiel Stuttgart 21: Der Bund ist
Hauptaktionär der Bahn. Es ist, wenn man so will, das
Hauptunternehmen mit dem sich Ramsauer von Amtswegen beschäftigen
müsste. Doch zu den Mehrkosten, die beim Bauprojekt Stuttgart 21
entstehen könnten, gibt es von ihm nicht viel zu hören, geradeso,
als würde man ihn nach einem Bundeswehreinsatz befragen, der auch
nicht in seine Ressortzuständigkeit fällt. Er betont lediglich, der
Bund werde kein weiteres Geld zuschießen. Dass auch die Bahn, die
die Mehrkosten selbst stemmen soll, vom Bundesgeld lebt, sagt
Ramsauer lieber nicht. Lesen Sie auf der nächsten Seite, wie faktensicher Ramsauer
ist. Wo steht Ramsauer im Toll-Collect-Streit? Beim Thema Toll Collect ist es schwerer zu sagen, weil das ganze
Verfahren noch intransparenter ist. Aber auch da deutet sich
dasselbe Muster an. Positive Schlagzeilen wird das kaum bringen.
Denn der Vertrag mit dem Betreiber der Lkw-Maut läuft 2015 aus.
Seit Jahren gibt es Streit um Schadenersatzforderungen und
Strafzahlungsansprüche seitens des Bundes an das
Toll-Collect-Konsortium in Milliardenhöhe. Im Haus Ramsauer ist man
einer Einigung mit Daimler, Telekom und Cofiroute, dem Konsortium
von Toll Collect, sehr nah. Nur der Minister will lieber nicht viel
damit zu tun haben, sonst müsste er erklären, warum der Bund
möglicherweise auf Milliarden verzichtet. Das, so macht es den
Anschein, ist ihm zu heikel. Außerdem deutet sich an, dass das
Bundesfinanzministerium und wohl auch das Kanzleramt ein Wörtchen
mitreden wollen. Eine Hoheit, so zeichnet es sich ab, hat Ramsauer
über das Thema nicht – und vermutlich will er das auch gar nicht,
weil es nicht viel zu gewinnen gibt. Und wie steht er zu Gebäudesanierungen? Ein zentrales Thema, das auch in seinen Zuständigkeitsbereich
fällt, ist die energetische Gebäudesanierung. Im Kontext des
Großprojekts Energiewende ein wichtiger Bestandteil. Schwarz-Gelb
wollte steuerliche Förderung von energetischen Sanierungsmaßnahmen.
Doch auch da ist das politische Klein-Klein nichts für Ramsauer. Er
zeigte sich in dem bereits beschrieben „Hintergrund“ erleichtert,
dass dieses Thema nun nach vielen Querelen zwischen Bund und
Ländern vom Vermittlungsausschuss gekippt wurde. Lieber feierte er
eine ausgedünnte Variante, die der Bund alleine beschließen konnte,
als wichtigen Schritt in der Energiewende. Wie sehen ihn die Koalitionspartner? Als „Leichtgewicht im Kabinett“ wird er beschrieben. Als einer,
der lieber über den Dingen steht, statt sich um die Dinge zu
kümmern. Selbst sein Parteivorsitzender, Horst Seehofer, hatte ihn
jüngst als „Zar Peter“ beschrieben. Einige Koalitionäre sagen, dass
er mit seiner Macht zu wenig anfängt. Selbst für den hohen
Verkehrsetat und die vielen zusätzlichen Millionen habe nicht er
selbst gesorgt, sondern Seehofer. Als Typ wird der Klavierspieler
Ramsauer geachtet und geschätzt. Einige Koalitionäre werfen ihm
aber vor, dass er sich zu sehr auf die Administration in seinem
Haus verlässt und zu wenig Eigeninitiative zeigt. Kennt er die Fakten? Der Minister kann eloquent erzählen und viel zu einem Thema
sagen, ohne dass die Zuhörer hinterher viel schlauer sind. Aber für
ein Späßchen zwischendurch ist Ramsauer immer gut und hat dann die
Lacher auf seiner Seite. Geht’s in die Tiefe, weiß er nicht einmal
in Bayern richtig Bescheid. Der staunenden Öffentlichkeit hat er
vor wenigen Tagen weismachen wollen, dass der Münchener Flughafen
seinerzeit pünktlich fertig geworden und im Kostenrahmen geblieben
sei. Tatsächlich hatten die Planungen 1960 begonnen und erst mit
großer Verspätung, bedingt auch durch einen mehrjährigen Baustopp,
ging der Flughafen 1992 in Betrieb. Die Kosten stiegen von 1,8
Milliarden Euro auf stolze 4,35 Milliarden Euro. Aber vielleicht
redet Ramsauer eines Tages ja auch den BER so schön.
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Er könnte ein ganz Großer sein. Immerhin verwaltet der Verkehrsminister den größten Investitionsetat. Ob BER, S21 oder Toll Collect - qua Amt ist er an allen großen Infrastrukturprojekten beteiligt. Peter Ramsauer gilt trotzdem als politisches Leichtgewicht. Warum ist das so?
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innenpolitik
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2012-12-29T09:39:47+0100
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2012-12-29T09:39:47+0100
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https://www.cicero.de//innenpolitik/das-leichtgewicht/53019
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Cicero im Juli - Kraftakt Kanzleramt
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Als Angela Merkel im Herbst 2005 einzog in das gewaltige Gebäude der Macht an der Spree, da hat sie ihren engsten Mitarbeitern verboten, sich im Moment des Überschwangs über ihren Vorgänger lustig zu machen. Wer es bis hierhin geschafft habe, so lautete die Mahnung der neuen Regierungschefin, der habe allen Respekt verdient. Es erfordert einen immensen Kraftakt und einen enormen Willen, ins wichtigste Amt der Republik zu kommen, es ist eine Leistung, sich dort über Jahre zu halten. Die größte Kunst aber wäre es, von diesem Amt ganz aus freien Stücken zu lassen. Neun Jahre ist Merkel nun bald Kanzlerin, drei Wahlen hat sie gewonnen, ein Hattrick, sagt man im Fußball. Es ist an der Zeit, darüber zu sprechen, wie es nach ihr weitergeht. Und in der Union machen sich neuerdings viele Gedanken über diese Frage, nicht nur, weil eine Aspirantin auf die Nachfolge, Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen, ihre Ambition kaum verhehlt. Von der „Stunde null“ reden sie hinter vorgehaltener Hand, weil sie ahnen, dass Merkels Abschied aus dem Nichts kommen wird. Dass sie nicht wie ihr großer Lehrmeister Helmut Kohl den Moment verpassen will, sondern ihn selbst bestimmt. Die Titelgeschichte dieser Ausgabe befasst sich mit dieser Stunde null, mit von der Leyen, anderen Kandidaten und dem wohlwollenden Blick von Merkel auf eine Frau, die noch keiner auf dem Schirm hat. Raus aus dem Kanzleramt – einer hat es schon getan, und das ist Ronald Pofalla, lange Jahre treuester Knappe der Kanzlerin und alsbald Manager bei der Deutschen Bahn. Die Personalie hatte in Berlin für einigen Wirbel gesorgt. Zu Beginn des kommenden Jahres wird Pofalla nun seinen umstrittenen Wechsel zur Bahn vollziehen. Ein halbes Jahr nach Pofallas Abschied als Chef des Kanzleramts beschreibt Michael Bröcker, Chefredakteur der Rheinischen Post, erstmals in Cicero die Hintergründe, Motive und Abläufe des Abschieds eines Merkel-Treuen von seiner Chefin.
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Christoph Schwennicke
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In der Union reden sie bereits alle darüber: Was passiert, wenn Angela Merkel aufhört? Cicero-Chefredakteur Christoph Schwennicke stellt die Themen der Juli-Ausgabe des Magazins für politische Kultur vor
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innenpolitik
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2014-06-26T10:29:51+0200
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2014-06-26T10:29:51+0200
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https://www.cicero.de//innenpolitik/cicero-im-juli-kraftakt-kanzleramt/57823
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US-Wahlkampf – Das Kandidatenrennen bleibt offen
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Wünsche, das weiß ein jeder, sind etwas anderes als Vorhersagen. Man wünscht sich, im Lotto zu gewinnen, kündigt aber nicht die Arbeitstelle. Man prognostiziert eine globale Temperaturerwärmung, hofft aber, dass sie ausbleibt. Nur im Orakel fließen Wunsch und Vorhersage zusammen. In dieser Hinsicht ähnelt es der Prophetie. Der politische Journalismus wiederum ähnelt oft dem Orakel. Die Prognose über Entwicklungen fußt gern auf Wünschen oder Angstvorstellungen. Fakten stören da nur. Seit rund einer Woche wird das Ende Mitt Romneys prophezeit. Der republikanische Kandidat für die amerikanische Präsidentschaft stolpere permanent über die eigenen Beine, heißt es. Fehler und Pannen durchziehen seinen Wahlkampf. Das Elektorat ist entsprechend empört und entzieht ihn seine Gunst. [gallery:Game Changer – die Patzer des US-Wahlkampfs] Nun zu den Fakten. Die beste Quelle dafür ist Nate Silver, desssen Blog „Five Thirty Eight“ in der „New York Times“ die Stimmung in den USA bewundernswert nüchtern und neutral widerspiegelt. Demnach hat Romney in den Umfragen seit einer Woche zugelegt, Obama aber verloren. Das leichte Hoch des Präsidenten nach dem Parteitag der Demokraten hat sich verbraucht. Laut Gallup schmolz der Vorsprung erst von sechs, dann auf drei Punkte und liegt jetzt bei einem Punkt. Das Umfrageinstitut Rasmussen sieht den Herausforderer gar zwei Prozentpunkte vor Obama. Der Trend gehe wieder in Richtung Romney. Laut einer Analyse des Politikwissenschaftlers Costas Panagopoulos von der Fordham University ist Rasmussen das zuverlässigste Umfrageinstitut, gefolgt vom Pew Research Center und YouGov/Polimetrix. Vor vier Jahren wurden die Werte Obamas von allen Umfrageinstituten im Durchschnitt überschätzt. Nate Silver glaubt nicht, dass sich das jüngste heimlich gedrehte „Klassenkampf“-Video Romneys entscheidend auf den Wahlkampf auswirken wird. Es bleibt also wohl einstweilen beim annähernden Patt. „Wenn es laut Umfragen ein Patt gibt, warum glauben dann so viele, dass Obama gewinnt?“ – so lautet daher die Überschrift zu einer Analyse in der „Washington Post“. Offenbar gebe es einen großen Graben zwischen dem, was Wähler als Ergebnis vorhersagen, und dem, was sie sich wünschen. Viele Romney-Anhänger vermuten, dass die Negativ-Schlagzeilen über ihren Kandidaten diesem auch schaden. Vergessen wird dabei, dass vor vier Jahren selbst Sarah Palin in den Umfragen vor Obama lag. Die Winde können sich schnell drehen, auch wenn eine Katastrophe wie damals die Pleite von Lehman Brothers unwahrscheinlich ist. Vielleicht gibt es für die Orakelisierung der amerikanischen Präsidentschaftswahl noch eine andere Erklärung. Wie derzeit in der muslimischen Welt zu beobachten ist, tendieren Gleichgesinnte dazu, sich gegenseitig aufzustacheln. Im Kokon verstärken sich Meinungen. Gegenteilige Informationen werden nur noch selektiv wahrgenommen oder ganz verdrängt. In Amerikas Hauptstadt Washington D.C. würde man zu 80 Prozent für Obama votieren. Die meisten Journalisten leben in und um Washington. Dass hier manchmal der Wille die Vorstellung diktiert, liegt auf der Hand.
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Romneys Wählerschelte ein Vorentscheid? Mitnichten. Das Rennen um die Präsidentschaft ist nach wie vor offen. In einigen Umfragen liegt Romney sogar vorn. Politische Journalisten lassen sich mehr von Wünschen leiten als von Fakten
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außenpolitik
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2012-09-20T09:34:45+0200
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2012-09-20T09:34:45+0200
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https://www.cicero.de//aussenpolitik/us-wahlkampf-das-kandidatenrennen-bleibt-offen/51929
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Zeit zum Lesen - Die Buchtipps der Redaktion
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Dieses Buch ist wie eine Kuscheldecke, in die man sich wickeln konnte. Warmherziger Witz beim großen Thema, über das man sich bis ins Private die Köpfe heiß redete oder verbal einschlug, zerstritt. Und hier diese humorvolle Abhandlung über den Wahl-Wiener Lohmer und dessen Ehefau Harriet, die dauernd über die Flüchtlingskrise streiten – oder eben auch nicht, wenn sich Lohmer ein Widerwort verkneift, weil er auf Sex am Abend hofft, den er sich sonst verscherzt. Endlich einmal lachen bei diesem Sujet, ach tat das gut. Ein Vademecum des Trostes, diese perlend geschriebene Schelmiade, die ganz offenkundig von den Eindrücken des Autors in seinem Privatleben gespeist ist. Christoph Schwennicke Dass Till Eulenspiegel mehr sein kann als die schlichte Narrenfigur aus einem Kinderbuch beweist Daniel Kehlmann in seinem Roman Tyll. Ein Schelmenporträt des 30-jährigen Kriegs. Eine Epoche der Brutalität, des Aberglaubens sowie der beginnenden Suche nach Erkenntnis. Ein grausamer Gewaltexzess, der Europa bis heute prägt. Mittendrin Tyll Uhlenspiegel, der Narr, der Gaukler, der seine Späße mit den Mächtigen genauso treibt wie mit den einfachen Leuten. Der nicht sterben will und doch alt und müde wird. Christoph Seils New York 1977, die Stadt ist pleite, die Spekulanten setzen auf warmen Abriss, indem sie Häuser anzünden, damit sie geräumt werden. In irgendeinem Kellerloch lässt sich eine Punkband feiern. Natürlich darf Heroin nicht fehlen. Gewalt und Rebellion, Liebe und Verrat, Hoffnung und Illusion. Und irgendwann geht das Licht aus, bei jenem legendäre Stromausfall, der die Hauptsstadt der westlichen Welt vor 40 Jahren für eine Nacht lahm legte. Das ist der Rahmen für einen großartigen Epos, der zugleich anrührender Familienroman und vielschichtiger Krimi, ein monumentales Stadtporträt und eine fulminante Abrechnung mit der kapitalistischen Moderne ist. Alles kumuliert in den Lebensgeschichten von etwa einem Dutzend Personen, die schicksalhaft miteinander verwoben sind und sich gemeinsam auf den Moment zubewegen, im dem plötzlich alles dunkel wird. Christoph Seils Nein, Gilbert Keith Chesterton schuf nicht nur den gemütvollen Father Brown. Und nein, „Der Mann, der zu viel wusste“ ist nicht nur der Titel eines Hitchcock-Films von 1956 mit James Stewart in der Hauptrolle und eines Hitchcock-Films von 1934 mit Peter Lorre. „Der Mann, der zu viel wusste“ war 1922 bei Chesterton ein adliger Ermittler namens Sir Horne Fisher. Zu viel weiß dieser Fisher, weil er qua Geburt und Umgang die allerhöchsten Kreise Englands kennt, in denen sich in diesen acht Kriminalgeschichten allerhand Morde ereignen. Fisher ermittelt in seinem eigenen Umfeld und gegen dieses. Das kann nicht gut ausgehen. Wir aber haben in diesem Buch, das wie ein düsterer Findling aus Chestertons heiterem Werk herausragt, eine wunderbar schillernde Zwischen-den-Jahren-Lektüre. Horne Fisher weiß, was wir vielleicht noch lernen müssen: „Der intelligente Mensch unserer Tage akzeptiert nichts bedenkenlos, ist aber bereit, allem zu glauben, was ein Bedenkenträger sagt.“ Alexander Kissler Peter Kurzecks Bücher lernte ich kennen nach Peter Kurzecks Tod, was ich sehr bedaure. Einer der größten Sprachzauberer und Innigkeitsvirtuosen, den die deutsche Nachkriegsliteratur hervorbrachte, starb 2013, natürlich im November. Sein bester von ausnahmslos sehr guten Romanen heißt „Übers Eis“ und erschien erstmals 1997. Er spielt 1984 in Kurzecks Campagna, in Hessen also, Frankfurt vor allem, und enthält Sätze wie: „Immer erst nachträglich weißt du, du warst ein Leben, ein Jahr, einen Tag, einen Abend lang einmal geborgen, gerettet, in Sicherheit.“ „Gegen mich bin ich machtlos, schon immer.“ Der Rest ist Antwort und Verheißung. Alexander Kissler Hält man das neue Buch seines Lieblingsautors in den Händen, ist es, als ob man nach langer Zeit wieder einen alten Freund aus einem fernen Land trifft. Einerseits ist die Vorfreude natürlich groß. Andererseits schwingt auch die Angst mit, ob die alte Verbindung noch da ist, ob man sich nicht über die Zeit und die Entfernung doch entfremdet hat. Womit wir gleich bei den Themen dieses Romans sind. Der Uhrmacher Alister Cox, natürlich nicht irgendein dahergelaufener, sondern der beste der Welt, bricht im 18. Jahrhundert in das ferne, fremde China auf. Dorthin hat ihn der Kaiser berufen, Qianlong heißt der und hat von 1711 bis 1799 tatsächlich gelebt. Für ihn soll Cox, der unter anderem eine Uhr gebaut hat, die das relative Zeitempfinden eines Kindes darstellt, die Uhr der Uhren herstellen, deren Uhrwerk ohne menschliches Zutun bis in alle Ewigkeit laufen soll – so unzerstörbar wie die Chinesische Mauer. Um es kurz zu machen: Es ist ein freudiges Wiedersehen gewesen mit Christoph Ransmayr, vor allem weil er seine Kunst mindestens so gut beherrscht wie sein Uhrmacher. Für mich ist der Österreicher der deutsche Sprachweltmeister und sein Buch ein zeitloses Vergnügen. Constantin Wißmann Es wird seit der Bundestagswahl viel über die Weimarer Republik geredet. Sechs Parteien im Bundestag, die Unfähigkeit der Parteien, eine Regierung zu bilden – ist unsere so sicher geglaubte Demokratie ähnlich gefährdet wie bei diesem ersten Versuch der Deutschen? Gleichzeitig läuft die Serie „Babylon“über die Endphase Weimars im Fernsehen. Beim gemeinsamen Fernsehgucken fragte mich meine Freundin, sie ist im Ausland aufgewachsen, ob ich nicht ein gutes Buch über diese Zeit hätte. Der Griff ging gleich zu dieser Art Vermächtnis Haffners, das er schon nicht mehr schreiben, sondern nur auf Band sprechen konnte. Vielleicht liegt es auch daran, dass Haffner die Bismarcksche Innenpolitik und die Hitler-Vorzeit so lebendig macht wie eine Netflix-Serie und gleichzeitig scharf und kühl seziert. Marcel Reich-Ranicki schrieb über Haffners Bücher, sie seien „belehrend und sehr unterhaltsam, sie sind von vorbildlicher Klarheit“. Mehr muss man nicht sagen. Constantin Wißmann Ein Roman, aufgeteilt in vier Erzählungen, die allesamt so dicht und trotz aller Sprachverliebtheit stets unaufgeregt, nie unangemessen prätentiös geschrieben und so klug miteinander verwoben sind, dass „Roman in vier Strophen“ ein ebenso treffender Untertitel gewesen wäre. „So tun, als ob es regnet“ beginnt mit der Erzählung um den introvertierten, österreichischen Soldaten Jacob, der im Ersten Weltkrieg im rumänischen Siebenbürgen – Heimat der als Kind nach Deutschland emigrierten Autorin – kämpfen muss und bei der Bauersfrau Alma Zuflucht findet. Aus der Affäre geht ein Kind hervor. Wolff erzählt daraufhin die Geschichte eines Jahrhunderts, über vier Generationen hinweg; im Zentrum stehen die klassischen menschlichen Themen: Sehnsucht, Erotik, Trauer, Fernweh, Entwurzelung – vor dem Hintergrund des kommunistischen Rumänien, des Kalten Krieges und der westlichen Moderne. Der Titel „So tun, als ob es regnet“ ist eine Übersetzung der rumänischen Redensart „se face ca ploua“ und bedeutet in etwa, sich aus dem Augenblick davon zu stehlen. Der Roman selbst ist jedoch mehr als eine bloße Realitätsflucht. Roger Willemsen sagte einst, als Kind hätte er sich stets „raus in die Welt und raus aus der Welt“ gewünscht. Eine ähnliche Dialektik durchzieht auch Iris Wolffs Fiktion: Sie führt einen raus aus der Welt und rein in die Welt. Wunderschön. Ulrich Thiele Robert Pfaller – Philosoph, Kulturtheoretiker und Gegner von biopolitischen Genussverboten – arbeitet in seinem (großartigen!) Sachbuch „Erwachsenensprache“ gegen eine Paradoxie unserer Zeit: Gleichzeitig mit der ökonomischen und politischen „Brutalisierung“ in den westlichen Gesellschaften, wird die Sensibilisierung der Sprache vorangetrieben. „Wenn heute jedes fünfte deutsche Kind in Armut lebt und jedes dritte britische Kind, dann haben sich die sozialen Verhältnisse dramatisch, gewaltsam zu einer Umverteilung entwickelt, die die Schwächeren enorm am eigenen Körper spüren“, so Pfaller. Seine These: Die „Political Correctness“ dient als Ablenkungsmanöver, mit dem die massiv zunehmende ökonomische Ungleichheit von der politischen Ebene auf die Sprachebene verschoben und somit entpolitisiert wird. Pfaller zeigt aber auch deutlich: Identitäre Bewegungen und Co. sind nicht die großen Widerstandskämpfer gegen dieses Phänomen, nur weil sie die „Political Correctness“ attackieren. Die Infantilisierung der Sprache ist für den Wiener Philosophen vor allem „eine groteske Verzerrung linker Anliegen“. Sie ist aber nicht der Kern des Problems, sondern dessen Komplize. It’s the neoliberalism, stupid! Ulrich Thiele Sehr zum Ärger seiner Fans machte der berühmte Dadaist Hugo Ball vor mehr als hundert Jahren etwas schrecklich Unerhörtes: Er schrieb einen Roman. Wie kann er nur, da alles nur noch dada ist, die derart konventionelle Form bedienen?! Doch unbeirrt schrieb Ball – der sich später ganz dem Katholizismus zuwandte – seine Geschichte über den Zürcher Varietédirektor Flametti. Jeder Zeile entnimmt man, wie sehr dieser Flametti sein Varieté und seine Künstler nicht des Geldes wegen versucht am Leben zu erhalten. Es geht ihm um den Spaß an der Sache. Ein Mann, der l'art pour l'art lebt für seine Ausbrecherkönige, Feuerschlucker, die letzten Indianer vom Stamm der Delawaren und für seine Tiroler Jodler. Hugo Ball vermochte es, diese Erzählung so charmant aufzuschreiben, dass Leser es spüren und verinnerlichen: Diese im Grunde ärmlichen Künstlerfiguren, die einen Traum träumen, der sich kaum erfüllen wird, haben eine unerschöpfliche Würde. Ball wandte sich damals entschieden gehen die Begriffe Menschenmaterial und Lumpenproletariat. Sie seien keine menschenwürdigen Begriffe. Es gebe Würde, selbst im Kleinsten und im Ärmsten. Darum müsse man ihnen auch mit Würde begegnen. Ball behandelt seine Figuren liebevoll und mit Achtung. Er nimmt sie ernst in ihren Bedürfnissen – und begegnet ihnen nicht mit Hohn oder Voyeurismus, wie heute gerne ein Deutschland-sucht-den-Superstar-Prekariat belächelt wird. Flametti ist dabei keinesfalls ein anstrengend moralisierender Roman. Er macht pure Lust, mit dabei gewesen zu sein. Im kleinen Schweizer Nimbus-Verlag ist Flametti als weiteres Kleinod der Reihe „Unbegrenzt haltbar“ erschienen, in der Werke vorgestellt werden, die unberechtigt verschollen wirken und mehr Öffentlichkeit verdienen. Jedes Werk enthält eine bislang unveröffentlichte Besonderheit. Bei Flametti ist es das Nachwort. Der funkelnde Einband macht sich nicht schlecht unter dem Weihnachts- oder Christbaum. Bastian Brauns
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Cicero-Redaktion
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Weihnachten steht an und damit die heikle Frage: Haben Sie schon alle Geschenke zusammen? Für die Kurzentschlossenen haben wir hier noch ein paar Literaturtipps. Klassiker und Neuerscheinungen, die die Cicero-Redaktion in diesem Jahr besonders begeistert haben
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"Weihnachten",
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"Tipps",
"Redaktion"
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kultur
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2017-12-22T11:05:03+0100
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2017-12-22T11:05:03+0100
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https://www.cicero.de//kultur/zeit-zum-lesen-die-buchtipps-der-redaktion
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Deutschland und das Coronavirus - Unvorbereitet auf den schlimmsten Fall
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Björn Lakenmacher, MdL, ist stellvertretender Fraktionsvorsitzender und innenpolitischer Sprecher der CDU im Landtag von Brandenburg. Prof. Dr. Martin Wagener unterrichtet Internationale Politik mit dem Schwerpunkt Sicherheitspolitik am Fachbereich Nachrichtendienste der Hochschule des Bundes für öffentliche Verwaltung in Berlin. Das Coronavirus hat Deutschland erfasst. Die Zahl der Infizierten steigt täglich, auch erste Tote sind zu beklagen. Große Teile der Bevölkerung zeigen sich verunsichert, es gibt Hamsterkäufe. Großveranstaltungen werden abgesagt, Schulen und Kitas geschlossen, die Verhängung von Quarantäne-Maßnahmen gehört zum Bestandteil der täglichen medialen Berichterstattung. Der Dax hat erhebliche Einbrüche zu verzeichnen, die Unterbrechung globaler Lieferketten trifft mittlerweile auch spürbar die deutsche Wirtschaft. Derzeit ist nicht absehbar, wie sich die Lage mittelfristig entwickelt. Natürlich gibt es noch keinen Anlass zur Panik. Die Coronavirus-Pandemie kann sich abschwächen. Steigen die Temperaturen im Frühling, wird es für den Erreger immer schwieriger, sich schnell auszubreiten. Allerdings sind sich die Mediziner derzeit nicht einig, wie sehr die Pandemie dadurch tatsächlich eingedämmt werden kann. Vorstellbar ist auch, dass die staatlichen Gegenmaßnahmen greifen und die Verbreitung des Virus verzögern. So könnte Zeit gewonnen werden, um einen Impfstoff vor der ab Herbst zu erwartenden zweiten viralen Welle auf den Markt zu bringen – wenngleich viele Experten bezweifeln, dass dies in nur wenigen Monaten gelingen wird. Außerdem ist es denkbar, dass sich die neue Infektionskrankheit auf dem Niveau der jährlichen Influenza entwickelt, mit der Deutschland zu leben gelernt hat. Das Robert Koch Institut (RKI) hat in einem Bericht mit Stand vom 6. März 2020 die folgenden Zahlen veröffentlicht: In der Saison 2019/2020 sind der Einrichtung 145.258 „labordiagnostisch bestätigte Influenzafälle“ übermittelt worden. In 23.276 Fällen wurden die Patienten hospitalisiert. Insgesamt sind 247 Menschen an den Folgen der Grippe verstorben. Die Saison 2017/2018 war noch deutlich schlimmer verlaufen: Die Zahl der laborbestätigten Fälle lag bei 1.674 Toten, die Exzess-Schätzung des RKI ging sogar von 25.100 Influenza-Opfern aus. Diese Angaben liegen weit entfernt von den bisherigen Auswirkungen des Coronavirus in Deutschland, an dem sich bis zum 16. März 2020 insgesamt 6.248 Personen angesteckt haben; 13 Menschen sind dem Virus zum Opfer gefallen (Datenerfassung: 14:20 Uhr gemäß Worldometer). In einer solchen Situation muss die Bundesregierung unterschiedliche Szenarien durchgehen, um sich angemessen auf die kommenden Monate vorzubereiten. Dazu gehört auch die Bereitschaft, den schlimmsten Fall zu erwägen und nicht nach dem Prinzip Hoffnung zu verfahren. Anlass zu sehr ernsten Sorgen bieten diese Zahlen: Bundeskanzlerin Angela Merkel geht nach eingehenden wissenschaftlichen Beratungen davon aus, dass sich bis zu 70 Prozent der Menschen in Deutschland mit dem Coronavirus infizieren könnten. Der Präsident des RKI, Lothar H. Wieler, bestätigte diese Schätzung. Bei einer Bevölkerung von derzeit etwas über 83,1 Millionen Menschen könnte es folglich bis zu 58,2 Millionen Erkrankte geben. Die meisten werden genesen, die Infektion war dann lediglich eine mehr oder weniger schwere Grippe. Zugleich ist aber auch mit erheblichen Opferzahlen zu rechnen. Unter den derzeitigen Bedingungen können natürlich nur Annäherungswerte bestimmt wer-den. Die tatsächliche Sterberate lässt sich erst am Ende einer Epidemie errechnen. Die aktuellen Zahlen lassen die folgende Einschätzung zu: Demnach liegt die Mortalitätsrate in den USA bei 1,8, im Iran bei 5,7 und in China bei 4,0 Prozent. Frankreich kommt auf 2,3, Spanien auf 3,4 und Südkorea lediglich auf 0,9 Prozent. Stark betroffen ist Italien mit 7,3 Prozent. Die weltweite Mortalitätsrate beträgt bei 174.115 Infizierten und 6.684 Toten 3,8 Prozent. Die Aussagekraft der Angaben ist insofern eingeschränkt, als die Sterberaten sehr stark von den Bedingungen vor Ort abhängen (z.B. der Leistungsfähigkeit des Gesundheitssystems). Für Deutschland bedeutet dies: Einerseits ist die Mortalitätsrate derzeit sehr gering, sie liegt bei lediglich 0,2 Prozent. Dies entspricht bislang den üblichen Ergebnissen einer Influenza-Saison. Andererseits sagt diese Zahl nichts über das aus, was auf die Bundesrepublik zukommen kann. Trifft die Maximalschätzung der Bundeskanzlerin und des RKI-Präsidenten zu, ist bei einem mittleren Wert von 3,8 Prozent Sterberate langfristig mit 2,2 Millionen Toten zu rechnen. Im Falle eines „Italien-Szenarios“ wäre sogar von 4,2 Millionen Opfern auszugehen. Ein positives Szenario könnte wie folgt aussehen: Nur 40 Prozent der Deutschen infizieren sich, die Mortalitätsrate liegt bei einem Prozent. Selbst wenn dies gelingt, wären über 332.000 Tote zu beklagen. Wichtig sind nun die Lernerfahrungen, die Deutschland aus dieser Entwicklung ziehen muss. An erster Stelle sollte die Fähigkeit stehen, jene Menschen besser zu schützen, die für die Aufrechterhaltung des Gesundheitssystems verantwortlich sind, also vor allem Ärzte, Krankenschwestern und weiteres Unterstützungspersonal. Sie müssen jederzeit auf genügend Atemschutzmasken und Desinfektionsmittel Zugriff haben, wozu über Bevorratungssysteme neu nachzudenken ist. Selbiges gilt für den Schutz derjenigen, die dazu beitragen, die öffentliche Ordnung aufrechtzuerhalten – Polizisten, Mitglieder der Feuerwehr und des Technischen Hilfswerks. Soweit derzeit für Atemschutzmasken und Desinfektionsmittel Wucherpreise zu zahlen sind, ist den Verantwortlichen dennoch zum Kauf zu raten: Der Schutz der Bevölkerung geht vor! Die Politik muss zudem schneller und präventiver handeln. Wenn sich eine Pandemie abzeichnet, sollte das öffentliche Leben frühzeitig heruntergefahren werden. Universitäten, Schulen und Kitas sind zu schließen; Großveranstaltungen auch unter 1.000 Personen müssen verboten werden; Quarantäne-Maßnahmen sind bereits im Verdachtsfall zu verhängen. Die Corona-Krise zeigt des Weiteren, wie handlungsunfähig Deutschland ist, wenn es weiterhin auf ein funktionierendes Grenzregime verzichtet. Insgesamt muss unbürokratisch gehandelt werden: Stehen gesetzliche oder administrative Regeln dem Bevölkerungsschutz entgegen, sind diese zu ändern. Um wie in Italien über die Option breitflächiger Abriegelungen infizierter Gebiete zu verfügen, muss der Inneneinsatz der Bundeswehr ermöglicht werden (bei Bedarf auch zum erweiterten Grenzschutz). Die Streitkräfte sollten nicht nur, wie dies derzeit geplant wird, Kapazitäten der Bundeswehrkrankenhäuser zur Verfügung stellen. Es muss zusätzlich möglich sein, Soldaten unbürokratisch zur Aufrechterhaltung der inneren Ordnung einzusetzen. In Absprache mit dem Bundesverteidigungsminister ist es daher dem Bundesinnenminister zu ermöglichen, diese Karte auszuspielen. Natürlich sind auch die Schutzvorkehrungen für die Bevölkerung zu erweitern. Dies betrifft neben den Krankenhausbetten Pläne zur großflächigen Unterbringung von Infizierten in kurzfristig umfunktionierten Großhallen. Die Möglichkeiten zur Durchführung von Tests Erkrankter sind auszubauen, wozu unter anderem auf sich derzeit in der Erprobung befindliche Drive-In-Systeme mit mobilen Testeinheiten gesetzt werden kann. Um Formen der Quarantäne praktisch durchsetzen zu können, sollten Politik und Medien darauf hinwirken, dass die Hinweise des Bundesamts für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe ernst genommen werden. Dieses empfiehlt eine Bevorratung von Lebensmitteln und Getränken für mindestens zehn Tage – zu jeder Zeit, unabhängig von aktuellen Krisen. Eine weitere Lehre muss aus der Corona-Krise gezogen werden. Deutschland hat in den vergangenen Jahren stark von der Globalisierung profitiert, was vor allem für die heimischen Unternehmen gilt. Deshalb muss die Bundesrepublik als viertstärkste Wirtschaftsmacht der Welt zwingend in globale Handels- und damit Lieferketten eingebunden bleiben. Die aktuelle Situation zeigt aber auch, wie verwundbar das Land unter diesen Bedingungen geworden ist. Staaten werden in Notlagen egoistisch und halten plötzlich Waren zurück, die sie lieber dem einheimischen Markt zugutekommen lassen. Um auf die Krisen der Zukunft gut vorbereitet zu sein, benötigt Deutschland daher mehr Fähigkeiten zur Autarkie. Es muss zum Beispiel Unternehmen geben, die unerlässliche Produkte für das Gesundheitssystem ohne Abhängigkeit von internationalen Zulieferern herstellen können. Ist dies nur mit staatlicher Hilfe möglich, muss diese in Ausnahmefällen gewährt werden. Derzeit sind viele Szenarien denkbar. Zeigt das Coronavirus nur eine begrenzte Dynamik, kommt Deutschland mit einem blauen Auge davon. Wird dagegen tatsächlich eine Infizierten-Rate von 70 Prozent erreicht, dann sind – je nach Mortalitätsrate – Szenarien denkbar, die den aktuellen Vorstellungshorizont der meisten Entscheidungsträger deutlich überfordern dürften. Viele der derzeitigen Maßnahmen der Bundesregierung sind absolut angemessen. Leider bereitet sie sich nicht auf den schlimmsten Fall vor, was ein Zeichen mangelnder Führung ist.
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Björn Lakenmacher, Martin Wagener
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Im Kampf gegen das Coronavirus sind derzeit viele Maßnahmen der Bundesregierung absolut angemessen. Auf Szenarien wie in Italien bereiten sich die Verantwortlichen aber immer noch nicht vor. Vor allem müssen sie einen Inneneinsatz der Bundeswehr ermöglichen.
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"Coronavirus",
"Coronakrise",
"Bundeswehr",
"Bundesregierung"
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innenpolitik
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2020-03-16T12:54:31+0100
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2020-03-16T12:54:31+0100
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https://www.cicero.de/innenpolitik/deutschland-coronavirus-vorbereitung-bundeswehr-extremfall
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Schuldenkrise in Europa – Mit dem Rücken zur Wand
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Die Eurogruppe ist einigen Ärger gewöhnt. Seit dem Beginn der Schuldenkrise in Griechenland vor einem Jahr haben die 17 Euro-Finanzminister gelernt, mit Milliarden zu jonglieren und für jede noch so ernste Krise eine Lösung zu finden. Doch beim Krisentreffen am Dienstag in Brüssel blieb der erhoffte Durchbruch aus. Die Lage sei ungewöhnlich ernst und kompliziert, Entscheidungen würden erst nächste Woche zum EU-Gipfel erwartet, hieß es in EU-Kreisen. Zwar versuchte Währungskommissar Olli Rehn zu beschwichtigen: „Wir sind nicht so weit von einer gemeinsamen Lösung entfernt, wie manche glauben“, sagte der Finne. Danach könne Griechenland neue Hilfen erhalten - die Rede ist von bis zu 120 Mrd. Euro, die zu den bereits 2010 gewährten 110 Mrd. Euro hinzukämen. Doch in Wahrheit steht die Eurogruppe mit dem Rücken zur Wand. Die Finanzminister der Euro-Zone müssen gleich zwei gefährliche Brandherde löschen: Zum einen streiten Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) und der Chef der Europäischen Zentralbank, Jean-Claude Trichet, um die richtige Antwort auf die Krise. Schäuble will die privaten Gläubiger an den Kosten eines neuen Hilfsprogramms für Griechenland beteiligen. Trichet will dies nur zulassen, wenn es freiwillig ist und die EZB nicht belastet. Die Zentralbank hält massenhaft griechische Staatsanleihen und fürchtet, darauf sitzen zu bleiben. Zum anderen haben die Märkte offenbar endgültig das Vertrauen in Griechenland und in die Rettungsprogramme der EU verloren. Am Montag stufte die Ratingagentur Standard & Poor‘s die Bonität griechischer Staatsanleihen überraschend auf einen Schlag um drei Stufen herab. Mit einem „Triple C“ hat Griechenland nun das schlechteste Rating der Welt; selbst chronisch klamme und völlig auf sich allein gestellte Staaten wie Jamaika oder Granada bekommen bessere Noten als das kleine EU-Land am Mittelmeer. Beide Probleme sind miteinander verknüpft. S&P begründet seine Herabstufung nämlich just mit der von Schäuble geforderten Umschuldung. Die Ratingagentur droht sogar offen damit, Griechenland für zahlungsunfähig zu erklären, falls Schäubles Pläne in die Tat umgesetzt werden. Sollte es so weit kommen, könnte dies auch andere Euro-Krisenländer wie Irland und Portugal in die Tiefe ziehen und Schockwellen um die Welt senden. Pessimisten malen schon ein globales Debakel wie nach der Pleite der US-Bank Lehman Brothers an die Wand. Der amerikanische Starökonom Nouriel Roubini, der bereits die Lehman-Finanzkrise vorhergesagt hatte, rechnet fest mit einer Pleite Griechenlands und einem Auseinanderbrechen der Eurozone. In Berlin hält man das für ausgemachten Unsinn. Griechenland müsse auf jeden Fall gerettet werden, eine Pleite sei ausgeschlossen. Dabei werde man auch nichts gegen den Willen der EZB unternehmen, sagte der Parlamentarische Staatssekretär im Finanzminister, Steffen Kampeter (CDU). Seitdem haben sich die Wogen zwischen Berlin und Frankfurt wieder geglättet. Doch neben der EZB muss die Bundesregierung auch noch ihre Partner in der Eurogruppe überzeugen. Bisher haben nur die Niederlande und Finnland Zustimmung zu Schäubles Plänen signalisiert, Griechenland und Frankreich leisten hingegen noch Widerstand. Nun will Bundeskanzlerin Angela Merkel versuchen, Frankreichs Staatspräsident Nicolas Sarkozy zu überzeugen. Bei einem Treffen in Berlin am Freitag dieser Woche wollen sie eine gemeinsame Linie formulieren. Leicht wird das nicht, denn nun ist auch noch Frankreich unter Druck geraten. Die Ratingagentur Moody‘s erwägt, die Bonität dreier französischer Großbanken herabzustufen, weil diese stark in Griechenland exponiert seien. Sollte Moody‘s diese Ankündigung wahr machen, würde dies die französische Neigung sicherlich nicht erhöhen auf die deutsche Linie einzuschwenken - eher im Gegenteil. Schließlich warnt Paris seit Wochen davor, eine Umschuldung könne die Schuldenkrise weiter verschärfen. Nun rächt es sich, dass Schäuble seine Pläne nicht erst mit Frankreich und der EZB abgestimmt hat, sondern einen Alleingang wagte. Seine Pläne für eine „sanfte“ Umschuldung präsentierte er zuerst im Berliner Bundestag, nicht aber in Paris, Brüssel oder Frankfurt. Offenbar wollte er erst einmal die Griechenland-Kritiker und Euro-Skeptiker in den eigenen Reihen überzeugen, bevor er in die Verhandlungen mit seinen EU-Partnern ging. Der deutschen Glaubwürdigkeit hat dies nicht gut getan, im Gegenteil. Und ob so die Schuldenkrise gelöst wird, bleibt auch fraglich. Angesichts des Streits in der Eurogruppe sind die Risikoprämien für Griechenland, aber auch für Irland, Portugal und Spanien erneut in die Höhe gegangen. Damit wird es noch schwieriger, die Schulden zurückzahlen. Und teurer wird es auch - nicht zuletzt für den deutschen Steuerzahler, der ja wieder einmal für das nächste Rettungspaket bürgen soll.
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Die Schuldenkrise in Euroland spitzt sich zu - nicht zuletzt wegen des deutschen Alleingangs in Sachen Umschuldung. Finanzminister Schäuble wählte die falsche Strategie und der Krisengipfel in Brüssel bleibt Antworten schuldig.
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wirtschaft
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2011-06-16T15:34:57+0200
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2011-06-16T15:34:57+0200
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https://www.cicero.de//wirtschaft/mit-dem-rucken-zur-wand/42088
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Midterms in den USA - Schaulaufen auf der blauen Welle
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Die ganz große blaue Welle wurde es dann doch nicht bei den Zwischenwahlen in den USA am Dienstag – aber immerhin, die Demokraten haben das Repräsentantenhaus erobert, und zudem einige Gouverneursposten in konservativen Staaten ergattert. Nur mit der Mehrheit im Senat, der wichtigeren der beiden Kammern im US-Kongress, hat es nicht geklappt. Im Gegenteil, die Demokraten gaben mehrere Sitze ab. Gleich mehrere Hoffnungsträger scheiterten, allen voran Beto O'Rourke, der liberale Herausforderer des erzkonservativen Senators Ted Cruz in Texas. Nach einer zum Nägelkauen spannenden Auszählung, beide Kandidaten schwankten lange um die 50 Prozent herum, machte Cruz doch noch das Rennen. Auch Stacey Abrams in Georgia, die erste schwarze Gouverneurin der USA werden wollte und Andrew Gillum, der afro-amerikanische Bürgermeister von Tallahassee, der an die Spitze von Florida gelangen wollte, konnten ihre Ziele nicht erreichen (vorbehaltlich der endgültigen Auszählung). Andererseits, dass so viele Außenseiter gegen bekannte, langjährige Amtsinhaber überhaupt so weit gekommen sind, ist durchaus bemerkenswert. Überhaupt war es bemerkenswert, wer so alles nach Washington gewählt wurde, insbesondere bei den Demokraten. Sehr viele Frauen und Angehörige ethnischer Minderheiten waren darunter – wie Debra Haaland und Sharice Davids, die ersten beiden Indianerinnen überhaupt im Repräsentantenhaus (eine davon offen lesbisch), oder auch Ilhan Omar und Rashida Tlaib, die ersten beiden muslimischen Frauen in der Geschichte der USA im Kongress. New York schickte Alexandria Ocasio-Cortez ins Repräsentantenhaus, eine Latina und mit 29 Jahren die jüngste Abgeordnete in der US-Geschichte. Und Jared Polis, ein offen schwuler Demokrat wurde zum Gouverneur von Colorado gewählt,der auch nicht unbedingt als ein traditionell liberaler Staat gilt. Auch in anderen Staaten gab es unschöne Überraschungen für die Republikaner: In Wisconsin wurde der langjährige Tea-Party-Freund und Gewerkschaftsfeind Scott Walker abgewählt, auch Michigan, Illinois und New Mexico wurden demokratisch. Sogar im erzkonservativen Kansas wird eine demokratische Frau die Regierung übernehmen; Laura Kelly. Damit haben sich die Demokraten noch mehr als Partei der urbanen Wähler, Immigranten und Minderheiten etabliert, während die Republikaner vornehmlich unter Weißen in ländlichen Gegenden punkten konnten. Nicht zufällig hatten die Republikaner Wahlwerbung mit Verunglimpfungen der „Karawane“ von Honduranern gemacht, die sich gerade auf dem Weg durch Mexiko zur amerikanischen Grenze befindet. Das heißt aber auch: Die Kluft, die durch Amerika geht, ist mit der Wahl noch stärker und der Ton noch schärfer geworden. Bezeichnend ist, dass der aus Kuba stammende Ted Cruz sich nicht nur einen englischen Vornamen verpasst hat, sondern auch den Wahlkampf weitgehend auf Englisch bestritt, während O'Rourke den hispanischen Spitznamen „Beto“ trägt und auch auf Spanisch wahlkämpft. Tatsächlich heißt Beto mit Vornamen Robert Francis; seine Familie stammt aus Irland, während Cruz als „Rafael“ geboren wurde. Die blaue Welle der Demokraten ist beeindruckender, als sie auf den ersten Blick aussieht. Tatsächlich haben die Demokraten in der Wählergunst sogar um neun Prozent gegenüber den Republikanern zugelegt, aber ein paar US-amerikanische Besonderheiten haben dafür gesorgt, dass das nicht vollständig durchschlug: Durch das sogenannte Gerrymandering, das Zuschneiden von Wahlbezirken nach der Präferenz der Wähler, hatten die Republikaner einen Vorteil. Zudem wurden Wähler von den Listen gestrichen, etwa, weil sie das Mal davor nicht zur Wahl gegangen waren, oder weil sie sich nicht registrieren konnten. In North Dakota, beispielsweise, wurde Indianern das Wählen verwehrt, weil dazu eine ordnungsgemäße Adresse nötig ist, in den Reservaten gibt es die aber oft nicht. Außerdem bildeten sich vor allem in städtischen Gegenden die üblichen stundenlangen Wahlschlangen. Abgeschreckt hat das aber diesmal offenbar nicht viele Amerikaner. Seit Wochen hatten beide Parteien dafür getrommelt, wählen zu gehen. Insbesondere bei den Demokraten haben zehntausende Freiwillige wochenlang jeden potentiellen Wähler bearbeitet, ja nicht zu Hause zu bleiben, um, so kam es vielen vor, den Untergang des Abendlands nicht zu beschleunigen. Es liegen noch keine genauen Zahlen vor, aber die Wahlbeteiligung erreichte in einigen Staaten Rekordwerte von bis zu 75 Prozent – ungewöhnlich in einem Land, das vor Donald Trump noch gelangweilt von Politik war. Und in den nächsten Jahren könnte die Zahl noch steigen: Florida hat ein Gesetz verabschiedet, wonach Verurteilte nach ihrer Haftentlassung ihr Wahlrecht zurückerhalten. Das betrifft alleine in Florida 1,5 Millionen Menschen, darunter ein erheblicher Anteil Afro-Amerikaner. Wenn eine derartige Regelung in anderen Staaten Schule macht, könnte das die nächsten Wahlen aufmischen. Was bedeutet der Wahlausgang für Donald Trump? Der Präsident ist bereits dabei, das Ergebnis als großen Sieg für die Republikaner zu verkaufen, aber tatsächlich dürfte ihm ein Repräsentantenhaus mit einer demokratischen Mehrheit durchaus Probleme bereiten. Zum einen können Vorhaben wie die Eliminierung der Krankenversicherung ObamaCare nun nicht mehr durchgesetzt werden. Das war für viele Amerikaner wahlentscheidend. Und dann gibt es noch die Ermittlungen zu Trumps Russlandgeschäften und seine unveröffentlichten Steuererklärungen. Wenn Demokraten wie Jerry Nadler oder Maxine Waters den entsprechenden Kontrollausschüssen vorstehen, können sie Unterlagen anfordern, die den Präsidenten in Verlegenheit bringen könnten. Beide haben das bereits angekündigt, bevor überhaupt die Posten vergeben wurden. Apropos Präsident: Natürlich gelten die Zwischenwahlen auch als Testlauf für Demokraten, die sich für das Weiße Haus schon mal warmlaufen wollen. Der umtriebige Senator Cory Booker aus New Jersey soll bereits gesehen worden sein, wie er sieben Minuten nach der Schließung der Wahllokale in Iowa landete, wo traditionell der amerikanische Wahlkampf beginnt (wenn auch erst 2020). Elizabeth Warren, wiedergewählte Senatorin von Massachusetts und Hoffnungsträgerin der Liberalen, läuft sich ebenfalls in Swing States warm. Noch mehr Ehrgeiz hat Andrew Cuomo, der seine dritte Amtszeit als Gouverneur von New York gewonnen hat. Cuomo ist eine furchtlose Kodderschnauze, der Trump gut kontra geben könnte. Und auch „Beto“ O'Rourke kann sich noch Hoffnungen machen. Denn ein Demokrat, der die bevölkerungsreiche republikanische Hochburg Texas gewinnen könnte, kann auch ganz Amerika gewinnen.
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Eva C. Schweitzer
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Bei den Midterms in den USA können die Demokraten einige Erfolge erzielen und erobern das Repräsentantenhaus zurück. Im Senat aber verlieren sie gegenüber den Republikanern. Die große Rebellion gegen Donald Trump bleibt also aus. Dennoch wird es für den Präsidenten jetzt schwieriger werden
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außenpolitik
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2018-11-07T10:04:38+0100
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2018-11-07T10:04:38+0100
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https://www.cicero.de//aussenpolitik/midterms-usa-wahlen-demokraten-republikaner-nancy-pelosi
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Maskenpflicht in Zügen - „Zugbegleiter sind doch keine Sheriffs“
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Christian Deckert ist Zugbegleiter im DB-Fernverkehr und Mitglied im Hauptvorstand der Bahngewerkschaft GdL. Herr Deckert, immer häufiger beschweren sich Bahnkunden darüber, dass sich Sitznachbarn nicht an die Maskenpflicht halten. Ist das auch Ihre Erfahrung als Zugbegleiter?
Der überwiegende Teil der Fahrgäste hält sich an die Maskenpflicht. Die gefühlte Zahl der renitenten Maskenverweigerer liegt bei fünf Prozent. Die Frage ist aber: Wie tragen die Leute die Maske? Eine Kollegin von Ihnen schätzt, dass nur ein Drittel der Gäste die Maske richtig trägt, der Rest bedeckt nur den Mund. Weisen Sie Fahrgäste darauf hin?
Ja, aber man muss unterscheiden zwischen Regional- und Fernverkehr. Reisende im Regionalverkehr sind ja nicht so lange unterwegs, und da ist die Frage: Ist ein Zug richtig voll? Und wie ist das Wetter? Wenn es richtig heiß ist, kann es schon mal vorkommen, dass die Maske weiter runterrutscht. Im Fernverkehr sind Reisende ja manchmal stundenlang unterwegs, ich kann schon verstehen, dass sie das Tragen der Maske anstrengt. Aber es ist nun mal Pflicht und noch wichtiger: Es hilft, Infektionen zu verhindern. Aber wie verhalten Sie sich da als Zugbegleiter?
Wir versuchen, entspannt damit umzugehen, mit einem Augenzwinkern oder indem wir auf unsere eigene Maske zeigen. In der Regel hilft das. Aber dann gibt es auch Fälle, wo Fahrgäste probieren, Ausnahmen für sich einzufordern. Da sind der Kreativität keine Grenzen gesetzt. Nehmen Sie zum Beispiel die Telefonierer. Natürlich ist es nicht schön, mit Maske zu telefonieren. Leute, die die Maske dafür abnehmen, frage ich immer: „Was ist so wichtig, dass man es nicht auch nach der Fahrt telefonisch regeln könnte?“ Was ist mit der Ausrede: „Ich habe ein Attest vom Arzt?“
Wenn ein Fahrgast die Maske aus gesundheitlichen Gründen nicht tragen dürfen, nehmen wir darauf natürlich Rücksicht. Wir gucken: Wo sitzt er? Ist es möglich, ihn da hinzusetzen, wo wenig Leute sitzen. Das gehört zum Service dazu. Natürlich lassen wir uns die Bescheinigung aber zeigen. Und wenn Fahrgäste die nicht dabei haben?
Dann sagen wir, sorry, aber solange man das nicht nachweisen kann, müssen wir darauf bestehen, dass die Maske getragen wird. Schaffner, Busfahrer oder Lokführer treffen immer häufiger auf Fahrgäste, die in solchen Situationen pöbeln oder sogar handgreiflich werden. Ist Ihnen das auch schon passiert?
Ja, zum Glück jedoch noch nie mit grober Gewalt. Gewalt und Beleidigung von Zugpersonal sind aber nicht erst Beginn der Coronakrise ein Problem. Nach einer Umfrage, die die Gewerkschaft 2019 unter 2.500 Zugbegleitern und Lokführern gemacht hat, werden Lokomotivführer und Zugbegleiter im Durchschnitt zweimal im Jahr körperlich angegriffen. Im Vergleich zu 2016 hat sich diese Zahl verdoppelt. Worum geht es?
Typische Auslöser sind Zugverspätungen oder Unregelmäßigkeiten, die wir bei der Fahrkartenkontrolle festgestellt haben. Inwiefern hat die Coronakrise die Situation verschärft?
Es kommt die Angst um die eigene Gesundheit hinzu, wenn man als Mitarbeiter unterwegs ist. Das Virus ist keine Bedrohung, die sichtbar ist. Wir reden über kleinste Teile in der Luft, die nicht wahrnehmbar sind … .. und das in vollbesetzten Regionalzügen, wo kein Mindestabstand eingehalten werden kann.
Es gibt leider noch keine Möglichkeit, das zu beschränken. Hier ist ein komplettes Umdenken erforderlich. Man muss über eine Reservierungspflicht oder technische Möglichkeiten nachdenken, um die Auslastung zu steuern. Solange es das nicht gibt, müssen wir Angst haben, uns anzustecken. Je mehr Leute zusammenkommen, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass ein Infizierter in der Nähe sein könnte. Die psychische Belastung hat extrem zugenommen. Sie haben keine Angst, dass Sie von einem Maskenverweigerer was aufs Maul bekommen?
Das ist zumindest nicht mein erster Gedanke. Aber auf Diskussionen muss man sich immer einstellen. Und viele Kollegen haben schon die Lust verloren, Fahrgäste an den Mund-Nase-Schutz zu erinnern und das zum x-ten Mal zu wiederholen. Irgendwann zieht man die Bundespolizei dazu, um einen Fahrausschluss zu erwirken. Wo können sich Zugbegleiter sicherer fühlen, im Nah- oder im Fernverkehr?
Wenn Sie die Kollegen im Nahverkehr fragen, sagen sie: „Bitte niemals im Fernverkehr arbeiten.“ Und die Kollegen aus dem Fernverkehr sagen: „Oh Gott, Naheverkehr ist die Hölle.“ Die Leute stehen dazu, wo sie arbeiten. Sie machen den Job mit Leidenschaft, auch wenn er verrufen ist. Wer erlebt schon so viel wie wir? Die Sicherheit muss sowohl im Nah- als auch im Fernverkehr drastisch erhört werden für das Personal. Es kommt auf unvorhergesehene Situationen an. Bundesweit gibt es immer noch keine einheitliche Maskenpflicht für den Schienenfernverkehr. Was bedeutet das für die Zugbegleiter?
Angekommen ist die Maskenpflicht schon in allen Bundesländern. Was ein bisschen schwierig ist, sind die Sanktionen, die von Land zu Land unterschiedlich sind. im Nahverkehr ist das recht einfach. Man verlässt das Land nicht unbedingt, und man kann kontrollieren, ob die Regeln eingehalten wurden. Schwieriger wird es im Fernverkehr, weil man verschiedene Ländergrenzen passiert und gucken muss: Wo befindet man sich? Kennen Sie die Bußgeldkataloge alle auswendig?
Natürlich nicht (lacht). Es kann auch nicht Aufgabe der Zugbegleiter sein, das zu wissen. Sie brauchen eine klare Anweisung und Sanktionen, die sie verhängen können. Aber Strafen sind Ländersache. Die müssen von Behörden ausgesprochen werden. Und da sind wir bei der Politik. Die setzt die Deutsche Bahn unter Druck. Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer hat in einem Brief angemahnt, „dass die DB strikt auf die Einhaltung der Maskenpflicht achtet.“ Was würden Sie ihm antworten?
Ich würde ihn gerne einladen, dass er mal einige Tage mit uns zusammen unterwegs ist. Ich glaube, wenn unser Bundesverkehrsminister eine Uniform der DB an hätte, würde den nicht jeder sofort erkennen. Aber er würde sehr schnell merken, wie die Situation in den Zügen ist. Er würde erkennen, dass die Maskenpflicht gar nicht vollständig umsetzbar ist. Es braucht die Hilfe des Bundes und der Bundespolizei. Die klagt übrigens auch über Personalnot. Bundesweit gibt es 5.400 Bahnhöfe. Und sie hat ihre Leute nur an den größeren Bahnhöfen stationiert. Das heißt, der Fahrgast, der die Maske verweigert, sitzt am Ende am längeren Hebel?
Ja, aber er hat ja auch ein Ziel, das er erreichen will. Erreicht er das noch, wenn er zwischendurch mit Polizeibegleitung aussteigen muss? Das ist für alle Beteiligten nicht schön. Extremfälle wie der in Augsburg sind aber zum Glück die Ausnahme. Was ist passiert?
Im ICE von München nach Augsburg wurde am Sonntag ein Kontrolleur mit mehreren Messerstichen schwer verletzt, als er einen 25-jährigen kontrollieren wollte, der keine Fahrkarte dabei hatte. Dem Kollegen geht es zum Glück schon wieder ganz gut, er wird aber noch psychologisch betreut. Fordert Ihre Gewerkschaft einen privaten Sicherheitsdienst für das Bahn-Personal?
Klar, die GdL fordert mehr Zug- und Sicherheitspersonal. Das schreckt notorische Maskenverweigerer ab. Die Umsetzung ist allerdings nicht flächendeckend machbar. Was ist die Alternative? Selbstverteidigungskurse oder Deeskalationstrainings für Bahnmitarbeiter?
Das ist leider ein Thema, was immer wieder hochkommt. Wir brauchen aber keine Ausbildung zum Boxkämpfer. Der Arbeitgeber muss alles tun, um die Mitarbeiter zu schützen. Deeskalationstrainings müssen Bestandteil der Ausbildung werden. Es muss auch eine stabile Betreuung von Opfern nach solchen Ergebnissen geben. Es müssen technische Vorkehrungen getroffen werden, um solche Angriffe zu verhindern. Zum Beispiel eine bessere Videoüberwachung. Sie fordern jetzt, dass Strafen für Maskenverweigerer in die Beförderungsbedingungen oder in die Eisenbahnverkehrsordnung mit aufgenommen werden. Würde das den Umgang mit den renitenten Maskenverweigerern erleichtern?
In beiden steht heute schon drin, dass man einen Fahrgast von der Fahrt ausschließen kann, wenn die Sicherheit des Personals oder der Fahrgäste bedroht ist. Der Boykott der Maske ist auch ein gewisses Sicherheitsrisiko. Nach der Eisenbahnverkehrsordnung können auch 60 Euro kassiert werden, wenn der Fahrgast keine gültige Fahrkarte hat. So eine Regelung müsste es auch für Maskenverweigerer geben – und zwar nach einem bundesweit einheitlichen Tarif. Ist das Problem damit gelöst?
Nein, es kann aber auch nicht darum gehen, Zugbegleiter zu Sheriffs auszubilden, um darauf zu achten, dass die Maskenpflicht umgesetzt wird.
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Antje Hildebrandt
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Fahrgäste, die die Maskenpflicht boykottieren, machen Zugbegleitern das Leben schwer. Schon vor der Coronakrise wurde jeder von ihnen zweimal im Jahr Opfer von Gewalt. Hier erzählt einer, wie er den Alltag mit dem Virus bewältigt.
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"Coronakrise",
"öffentlicher Personen Nahverkehr",
"Gewerkschaft",
"Maskenpflicht"
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innenpolitik
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2020-08-18T16:04:34+0200
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2020-08-18T16:04:34+0200
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https://www.cicero.de//innenpolitik/maskenpflicht-zugbegleiter-gewerkschaft-der-lokomotivfuehrer-bundespolizei-bussgeld-christian-deckert
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Digitalisierung - Bedroht Software die Jobs unserer Azubis?
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Die Veröffentlichung des aktuellen Berufsbildungsberichts hatte in den vergangenen Monaten zu einem überwiegend positiven Echo unter Bildungs- und Arbeitsmarktpolitikern geführt. Der Ausbildungsmarkt biete Jugendlichen „so viele Chancen wie selten zuvor”, schwärmte die Bundesministerin für Bildung und Forschung, Johanna Wanka. Dabei geben die Zahlen Anlass zur Sorge. Kaufleute für Büromanagement, Kaufleute im Einzelhandel, Verkäufer und Verkäuferinnen: Das sind die beliebtesten Ausbildungsberufe der mehr als 500.000 jungen deutschen Berufsanfänger. Allerdings haben diese Berufsgruppen eine traurige Gemeinsamkeit: Sie sind – wie viele Berufe mittlerer Ausbildungs- und Einkommensstufen – besonders durch den technologischen Wandel gefährdet. Die ersten Veränderungen brachten die großen Internet-Marktplätze und Plattformbetreiber, die insbesondere den Einzelhandel sowie Reiseanbieter unter Druck setzten. Amazon ist nur der größte von vielen erfolgreichen Anbietern, die ohne Verkaufsräume und dazugehörige Verkäufer auskommen. Wer glaubt, dass Ausbildungsberufe immer noch lebenslange Karrierewege prägen können, dem sollten die Erfahrungen aus der Reisebranche ein warnendes Zeichen sein. Online-Plattformen machten den Gang zum Reisebüro innerhalb weniger Jahre überflüssig. Auch der Einzelhandel wird zukünftig mit viel weniger Personal auskommen – selbst wenn sich der Supermarkt nicht ins Internet verlegen lässt. Es ist bereits heute möglich, alle Produkte mit RFID-Funketiketten auszustatten, die beim Verlassen des Geschäfts automatisch erfasst werden. Die Bezahlung organisiert eine im Smartphone integrierte Funktechnologie. Wer jetzt denkt, das sei doch nichts Neues, der irrt. Es geht mittlerweile auch um Jobs, die bisher als unersetzbar galten. Ein Beispiel sind Buchhalter und Bürokaufleute. Die Erklärung liegt in ihrem Tätigkeitsprofil. Ihnen allen gleich ist das hohe Maß an Wiederholbarkeit der Arbeitsschritte, obwohl es sich keineswegs um triviale Tätigkeiten handelt. Routinen lassen sich ausdrücken in Befehle für Maschinen, in Software. Sie sind programmierbar. Es ist zu erwarten, dass von Routinetätigkeiten geprägte Jobs in Zukunft durch Maschinen erledigt werden. Die Automatisierung von Arbeit hat nichts mit Zukunftsangst zu tun, sondern sie ist bereits heute greifbar. Das amerikanische Telekommunikationsunternehmen Verizon hat durch den Einsatz von Software stetig seine Mitarbeiterzahl in den Bereichen des Rechnungswesens und in der Finanzbuchhaltung reduziert. Durch den Stellenabbau sanken die Kosten der Finanzabteilung des Unternehmens in den vergangenen drei Jahren um insgesamt 21 Prozent. Viele Angestellte in der Kreditoren- und Debitorenbuchhaltung und Sachbearbeiter im Rechnungswesen wurden nicht mehr gebraucht. Sogar für IT-Angestellte sieht es nicht besser aus. Große amerikanische Unternehmen beschäftigen insgesamt 44 Prozent weniger Vollzeit-IT-Kräfte als vor zehn Jahren. Der Arbeitsaufwand ist allerdings nicht gesunken. Automatisierung macht es möglich. Selbst die Jobs, von denen wir annahmen, sie seien zu komplex, um sie in unmissverständlichen Befehlen für Maschinen auszudrücken, scheinen nicht mehr sicher. Grund dafür ist der technische Fortschritt im Bereich des sogenannten „Machine Learnings“ und der „Cloud Robotics“. Machine Learning basiert auf der autonomen Auswertung großer Datensätze durch den Computer, der nach statistischen Modellen eigene Fähigkeiten zur Problemlösung entwickelt und anwendet. Der Computer lernt und löst Aufgaben eigenständig. Bei Cloud Robotics werden die Daten und das darauf basierende Wissen vieler Roboter zusammengebracht. Steigt die Anzahl der über die Cloud verbundenen Roboter, so wächst auch ihr geteilter Erfahrungsschatz und damit ihre Kompetenz. Für die Zukunft der Arbeitswelt bedeutet es: Maschinen beginnen, die nächste Stufe menschlicher Fähigkeiten und Arbeitskraft zu erreichen. Sie lernen und nutzen ihre Erfahrung. Als in den 1970er Jahren Banken in den USA den Geldautomaten einführten, sank die Anzahl der Bankangestellten nicht. Die IT-Revolution und die Deregulierung des Sektors verursachten ein Wachstum der gesamten Branche. Die routinierte Tätigkeit des Geldwechselns übernahm zwar ab sofort der Geldautomat. Aber der Schalterangestellte verlor keineswegs seinen Job, sondern stieg zum Kundenberater auf. Heute ist die Situation jedoch eine andere. Algorithmen werden künftig auch in die Domäne des Anlageberaters vordringen. Das Wirtschaftsmagazin Forbes hat im Juni zehn sogenannte Robo-Advisers unter die Lupe genommen. Dabei bestimmt eine Software die Anlagestrategie eines Kunden und berücksichtigt dafür dessen steuerliche Situation und Risikotoleranz. Den Anbietern geht es vor allem um die Erschließung neuer Kundengruppen, denen es vorher schlicht nicht möglich war, hoch spezialisierte Asset Manager zu bezahlen. Die Softwarelösungen werden immer ausgefeilter. Sie entwickeln bereits heute eigenständig unterschiedliche Anlagestrategien – von der Nachbildung eines Vergleichsindizes, über die private Altersvorsorge, bis zum Investment in Hochzinsanleihen. Ein historischer Vergleich zur Einführung der Geldautomaten taugt daher nicht mehr. Waren es damals Bankangestellte, die neu entstehende Berufe innerhalb der Bank übernahmen, so werden es zukünftig vermehrt hochausgebildete Spezialisten anderer Berufsgruppen sein: ohne Banklehre oder BWL-Studium, dafür aber mit hohen IT-Kompetenzen. Der Vorteil für den Kunden: günstige, auf individuelle Interessen abgestimmte Anlageberatung. Der Nachteil für die Anlageberater: Von ihnen werden nur noch sehr wenige Experten gebraucht, um bei der Entwicklung und Steuerung der Anlagesoftware mitzuhelfen. Der Ökonom David Ricardo hatte seinerzeit prognostiziert, dass Maschinen bald vollends menschliche Arbeit ersetzen würden. Massiv unterschätzt hatte er jedoch den Produktivitätsgewinn, der durch die Erfindung und Anwendung neuer Produkte entstand und letztlich viele neue Arbeitsstellen schuf. Gleiches gilt möglicherweise auch für die heutige Diskussion. Denn nur zu leicht ist es, über Jobs zu sprechen, die es bald nicht mehr geben könnte. Ungleich schwerer ist es sich vorzustellen, wo neue Jobs entstehen könnten. Die zentrale Herausforderung ist daher zu erkennen, in wie vielen Bereichen es zu einer Mensch-Maschine Kooperation kommen wird. Hier muss die Ausbildung unserer jungen Menschen ansetzen. Repetitive Tätigkeiten eines größeren Arbeitspaketes werden in Zukunft automatisiert werden. Die Bestandteile des Tätigkeitsfeldes, die jedoch auf persönlicher Interaktion, Kreativität, Problemlösung und Flexibilität basieren, werden auch in Zukunft durch den Menschen geleistet werden. Für die Schnittstellen zwischen Mensch und Maschine und für die sich aufgrund der Digitalisierung verändernden Arbeitsumfelder und Tätigkeitsschwerpunkte sind unsere jungen Azubis in besonderem Maße zu sensibilisieren. Daher müssen wir dringend über ein flexibleres Ausbildungssystem nachdenken. Sowohl Ausbildungsinhalte wie auch die Chancen und Risiken ganzer Ausbildungsgänge müssen kritisch hinterfragt werden. Letztendlich brauchen wir ein Ausbildungssystem, das den technologiegetriebenen Wandel in der Arbeitswelt viel stärker berücksichtigt. Nur so können Auszubildende eine Entscheidung für einen Beruf treffen, für den es sich auch lohnt, in die Ausbildung zu gehen. Die Autoren beschäftigen sich bei der Berliner Denkfabrik stiftung neue verantwortung mit Zukunftsszenarien für den deutschen Arbeitsmarkt im Jahr 2030.
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Philippe Lorenz
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Onlineplattformen ersetzen die Einzelhandelsfachkraft, Finanzsoftware macht Bankangestellte überflüssig: Die Digitalisierung dringt immer weiter in die Arbeitswelt vor. Stirbt dadurch der mittlere Ausbildungsberuf?
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wirtschaft
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2015-10-26T17:09:20+0100
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2015-10-26T17:09:20+0100
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https://www.cicero.de//wirtschaft/computerisierung-bedrohen-maschinen-die-jobs-unserer-azubis/60027
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Sterbehilfe - Der Staat als Tötungsspezialist
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Am Ende dieses Monats sollte der Bundestag ein Gesetz zur
Sterbehilfe beschließen. Weil der Entwurf der Justizministerin in
den Reihen von CDU, CSU und FDP nicht mehrheitsfähig war, wurde die
Abstimmung auf unbestimmte Zeit verschoben. Was nach dem üblichen
kleinen Karo streiterprobter Koalitionäre aussieht, könnte sich
langfristig als menschenfreundlichste Tat dieser Legislaturperiode
herausstellen. Das Gesetz hätte nämlich verrechtlicht, was noch gar
nicht begriffen ist: die Sterbehilfe. Das Gesetz hätte Fakten
geschaffen, ohne die Abgründe dieser Fakten auszuloten. Keineswegs leuchtet es ein, warum das Sterben zu Beginn des 21.
Jahrhunderts ein Vorgang sein soll, der der Hilfe bedarf. Zu Tode
kommt jeder Mensch – und dank avancierter Palliativmedizin fast nie
unter schlimmen Qualen. Das Schreckensszenario, das die
Sterbehilfebefürworter grell ausmalen, bleibt in weiten Teilen
Fiktion, und Anteilnahme lässt sich sowieso nicht kodifizieren.
Noch weniger leuchtet es ein, weshalb eine Gesellschaft, der es so
gut geht wie nie zuvor und vielleicht nie wieder, den Tod von einem
intimen, höchst individuellen Abschied zu einer Staatsaktion machen
soll. Das im gescheiterten Gesetzentwurf intendierte Verbot
„gewerblicher“ Sterbehilfe hätte die „organisierte“ Sterbehilfe als
Königsweg der Lebensbeendigung inthronisiert. Dadurch, so der
Medizinethiker Axel W. Bauer jüngst im „Deutschlandfunk“, hätte man
die organisierte Suizidbeihilfe geradezu geadelt. Ein
flächendeckendes Netz staatlich geprüfter Sterbeexperten und
Tötungsspezialisten entstünde. Der neu gefasste Paragraph 217 im Strafgesetzbuch würde zur
„diskreten Ermahnung, sich jederzeit zu überlegen, ob man nicht
bald gehen sollte“ – befürchtet der Publizist Andreas Krause Landt
in seinem soeben erschienenen Essay „Wir sollen sterben wollen“.
Warum aber will der Staat mit diesem Ansinnen an seine Bürger
herantreten? Laut Landt sind „Pflegenotstand, Fachkräftemangel und
explodierende Krankenkosten“ die wahren Treiber der Bestrebungen,
den vorzeitigen Tod zur Dienstleistung für alle zu machen. „Wer
wird noch weiterleben wollen“, fragt er, „wenn er erfährt, dass die
Verwandten bereits ‚unverbindlich‘ Kontakt zu einem
Sterbehilfeverein aufgenommen haben?“ Offenbar soll die Sterbehilfe
ein kollabierendes Gesundheitssystem entlasten. Nächste Seite: Jede organisierte Sterbehilfe festigt die
Strukturen der Unfreiheit Aber sind es etwa nicht Lebensmüde, deren freier Wille durch
Sterbehilfe umgesetzt werden soll? Nein, keineswegs. Axel W. Bauer
weist darauf hin, „dass weit über 90 Prozent aller Suizidenten
letzten Endes unter einer klinischen Depression leiden.“ Sie
befänden sich „in einer ausweglosen Lage, in der sie Hilfe
bräuchten und nicht (…) den kostenlosen Todesstoß.“ Den Staat ficht
derlei nicht an. Er trägt der „dramatischen Verschärfung des
ökonomischen Klimas“ (Landt) Rechnung, wenn er den Tod auf
Bestellung in sein Tugendportfolio aufnimmt. Die Unbedenklichkeit,
mit der „nahestehende Personen“ über den vermuteten Lebenswillen
des Moribunden urteilen sollen dürfen, spricht Bände. Verbürgt Nähe
etwa automatisch lautere Gesinnung, edle Motive, menschliche
Einfühlung? Auch aus erbender Nähe kann der Ruf erschallen: Lass
dich doch abholen. Vorerst wird dieses Szenario nicht Wirklichkeit. Eine Atempause
ist gewonnen. Sie sollte klug genutzt werden. Das Reden über den
Tod berührt eine Gesellschaft an ihren vitalsten Stellen.
Sterbehilfe, diese „Euthanasie an Selbstmordkandidaten, die nicht
die Kraft zum Selbstmord haben“ – so noch einmal Landt –, hat einen
desto verführerischeren Klang, je stärker sich der Einzelne
lebenslang als hilfsbedürftig, abhängig, wenig autonom empfindet.
In einer guten Gesellschaft gäbe es hie und da den Suizid als
singuläre Tat der Wenigen und ansonsten ein starkes Zutrauen zum
Leben, ein Vertrauen, nicht allein gelassen zu werden, ein Besinnen
auf sich selbst. Ein Staat, der im Namen vermeintlicher Autonomie
das Räderwerk der Gesetze in Gang bringt, zementiert die
Abhängigkeiten, von denen er sich nährt. Jede organisierte
Sterbehilfe festigt die Strukturen der Unfreiheit. ____________________________________________________________
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Alexander Kissler
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Der Tod ist eine höchst private Angelegenheit, sollte man meinen. Doch fast wäre er zur Staatsaktion geworden. Der vorzeitige Tod als Dienstleistung für alle, ausgeführt von staatlich geprüften Fachleuten
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kultur
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2013-01-22T10:29:32+0100
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2013-01-22T10:29:32+0100
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https://www.cicero.de/kultur/der-staat-als-toetungsspezialist/53217
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Karin Prien im Gespräch mit Volker Resing - Cicero Podcast Politik: „Die Gesellschaft ist konservativer geworden“
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Die stellvertretende CDU-Vorsitzende Karin Prien blickt heute auch kritisch auf die Migrationspolitik von Angela Merkel. Die Entscheidung vom September 2015 sei zwar richtig gewesen, so die Kieler Bildungsministerin im Cicero-Podcast Politik. Aber die große Offenheit und die Selfies der Kanzlerin seien damals „natürlich ein Signal“ gewesen, dass „viele dazu angeregt hat, nach Deutschland zu kommen“. Heute unterstütze sie den Kurs von CDU-Chef Friedrich Merz. Irreguläre Migration müsse begrenzt werden, alles andere sei keine Option, erklärt Prien. 2015 dürfe sich nicht wiederholen, weil dieses „Empfinden eines Kontrollverlustes“ eine für den Rechtsstaat hochproblematische Sache sei. In der Flüchtlingspolitik müsse sich etwas bewegen, „sonst droht uns diese Gesellschaft zu kippen“. Prien verortet sich selbst eher links der MItte innerhalb der CDU, kritisiert aber zugleich dass alles, was rechts von der Mitte sei, diffamiert werde. Insgesamt sei die Gesellschaft konservativer geworden. „Nach Jahren, in denen die Gesellschaft nach links gerückt ist, würde ich das positiv bewerten“, meint die CDU-Politikerin. Die Leute seien der linken Gesellschaftspolitik überdrüssig. Das Gespräch wurde am 9. September 2024 aufgezeichnet. Sie können den Podcast jetzt hier – klicken Sie dazu „Inhalte aktivieren“ – hören, oder auch auf allen Podcast-Portalen. Sie sind interessiert an weiteren Themen und noch kein Abonnent von Cicero Plus? Testen Sie uns, gratis für 30 Tage. Mehr Podcast-Episoden:
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Volker Resing
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Es brauche eine andere Migrationspolitik, so die CDU-Vize Karin Prien. Damit ist sie heute näher bei Friedrich Merz als bei Angela Merkel. Im Cicero-Podcast Politik spricht die Kieler Bildungsministerin über linke Gesellschaftspolitik, rechte Narrative und ihren eigenen Standpunkt.
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"Karin Prien",
"Migrationskrise"
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2024-09-18T11:23:53+0200
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2024-09-18T11:23:53+0200
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https://www.cicero.de//innenpolitik/karin-prien-volker-resing-podcast-migration-merkel-merz-cdu
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Homo-Ehe in den USA – Wenn zwei sich lieben – oder drei?
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Fußball, also soccer, ist ein eher femininer Sport – jedenfalls
sehen das einige Anhänger des American Football so. Denn bei ihnen
kracht und wummert es richtig. Dass in Europa ausgerechnet
Fußballstadien, womöglich mit David Beckham, Jürgen Klinsmann oder
Mario Gomez auf dem Feld, als letzte Reservate echter Männlichkeit
bezeichnet werden, ringt Football-Fans allenfalls ein müdes Lächeln
ab. Im Vergleich etwa zu Adrian Peterson von den Minnesota Vikings
ist selbst ein Mario Balotelli noch ein Weichei. In Petersons Mannschaft, den Minnesota Vikings, spielt auch
Chris Kluwe. Der war vor gut einem Monat zu Gast bei NPR, dem
„National Public Radio“. Ebenfalls in die Sendung eingeladen war
Brendon Ayanbadejo von den Balitimore Ravens (aus Maryland). Kluwe
ist weiß, Ayanbadejo schwarz, beide sind aktive NFL-Profis, beide
hetero – und beide für die Legalisierung der Homo-Ehe. „Unser Sport gilt als Macho-Sport“, sagt Ayanbadejo, der sich
schon seit vier Jahren für die Legalisierung der
gleichgeschlechtlichen Ehe einsetzt. Das brachte ihm vor kurzem
Ärger ein. Ein demokratischer Abgeordneter aus Maryland, der gegen
die Homo-Ehe ist, schrieb einen Beschwerdebrief an den Besitzer der
Ravens, Steve Bisciotti, und forderte diesen auf, entsprechende
Äußerungen seinem Spieler zu untersagen. Das wiederum ließ Kluwe
nicht schlafen. Demonstrativ stellte er sich auf Ayanbadejos Seite
und veröffentlichte eine Antwort an den Abgeordneten. „Ihr Hass und
Ihre Bigotterie erschüttern mich, und es widert mich an, dass Sie
in irgendeiner Weise auf irgendeiner Ebene für Politik in unserem
Land verantwortlich sind.“ Maryland (Ravens) und Minnesota (Vikings) sind zwei der vier
Bundesstaaten, in denen am 6. November auch über die Homo-Ehe
abgestimmt wird. Die anderen sind Washington und Maine. Wie in der
Bundesliga gab es auch in der NFL noch nie aktive Spieler, die sich
öffentlich als homosexuell outeten. Um so beeindruckender ist das
Engagement von Ayanbadejo und Kluwe. Beide stellen ihr Anliegen
ausdrücklich in die Tradition der amerikanischen
Bürgerrechtsbewegung. „Es war auch hart für Jackie Robinson, der erste schwarze
Baseballspieler zu sein“, sagt Kluwe, „und es war hart für Kenny
Washington, der erste schwarze Football-Spieler zu sein.“ – „Es
geht um Gleichheit“, ergänzt Ayanbadejo. „Es gab eine Zeit, als
Frauen keine Rechte hatten. Es gab eine Zeit, als Schwarze keine
Rechte hatten. Und jetzt sind es eben Schwule und Lesben, die um
ihre Rechte kämpfen.“ Offene Anfeindungen haben beide bislang nicht
erlebt. „Wir sind Profis“, sagt Ayanbadejo. „Wir werden immer nur
daran gemessen, wie gut wir auf dem Platz sind.“ Vor acht Jahren noch war eine große Mehrheit der Amerikaner
gegen die Homo-Ehe. Einige Beobachter glauben, dass George W. Bush
seine Wiederwahl 2004 vor allem der Mobilisierung jener
christlich-fundamentalistischen Kräfte verdankte, die die
traditionelle Mann-Frau-Ehe retten wollen. Seit 1998 gab es 34
Volksabstimmungen darüber. 33 davon gewannen die Traditionalisten
(die einzige Ausnahme in Arizona 2006 wurde zwei Jahr später durch
ein zweites Referendum rückgängig gemacht). In sechs Bundesstaaten
wurde die Homo-Ehe durch parlamentarische Entscheidung
legalisiert. Doch die Stimmung hat sich radikal gewandelt. Barack Obama
sprach sich als erster US-Präsident für die Homo-Ehe aus. Und in
Maine, Maryland und Washington ist eine Mehrheit heute für deren
Legalisierung (in Minnesota steht’s unentschieden). Quer durch alle
Schichten und Religionen nimmt die Akzeptanz zu. Die
Traditionalisten sterben langsam aus. Zwei Drittel der Erwachsenen,
die nach 1981 geboren wurden, unterstützen inzwischen die
Homo-Ehe. Den Trend allerdings wollen sich, wie die „Washington Post“
berichtet, demnächst auch einige muslimische, libertäre und
sektenähnliche Gruppen zu nutze machen. Denn: Wenn eine
Gesellschaft mit Normen brechen und jeder jeden lieben kann, warum
werden dann nicht auch polygame Verbindungen legalisiert? Laut John
Witte, einem Religions- und Rechtswissenschaftler von der Emory
University in Atlanta, dürfte das Thema Polygamie als nächstes auf
die Agenda kommen. Fußt nicht jeder Einwand dagegen ebenfalls nur
auf Traditionen? Witte verneint das. Nicht wen man liebe, sei für die Definition
einer Ehe entscheidend, sondern wie viele, sagt er. Nur in der Zahl
zwei drücke sich Gleichheit und Verantwortung aus. Ab drei sei die
Ehe keine Ehe mehr, sondern ein Verbund. Mag sein, dass er damit Recht behält. Die Debatte dürfte
trotzdem spannend werden.
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Zwei heterosexuelle NFL-Profis setzten sich für die Rechte von Homosexuellen und für die Legalisierung der Homo-Ehe ein. Die Akzeptanz gegenüber gleichgeschlechtlichen Partnerschaften in den USA nimmt zu. Religiöse Polygamisten wollen sich diese Stimmung nun zunutze machen
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außenpolitik
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2012-10-14T11:19:28+0200
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2012-10-14T11:19:28+0200
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https://www.cicero.de//aussenpolitik/wenn-zwei-sich-lieben-oder-drei/52197
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Bürger-Asyl - „Wenn Appelle nicht wirken, ist ziviler Ungehorsam unsere Pflicht“
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Ob in Göttingen oder Berlin, in Stuttgart oder Freiburg. In immer mehr deutschen Städten gründen sich Initiativen, die Menschen, denen Abschiebung droht, in ihren Privatwohnungen verstecken. Michaela Baetz ist eine der Sprecherinnen der Initiative Bürgerasyl in Nürnberg. Frau Baetz, Horst Seehofer hat an seinem 69. Geburtstag einen Shitstorm provoziert, als er seine Freude darüber äußerte, dass 69 afghanische Asylbewerber in ihre Heimat abgeschoben wurden. Wie fanden Sie den „Witz“?
Das war kein Witz. Für uns als antirassistisch Aktive war dieser Satz auch nicht so skandalös, wie er dargestellt wurde. Wir nehmen die Abschiebepraxis in Deutschland schon lange als menschenunwürdig und rasssistisch wahr, sowohl was die Verschärfung des Asylrechts als auch den Diskurs darüber betrifft. Von daher war dieser Satz nur ein Puzzlestein von vielen. Sie haben in Nürnberg zusammen mit anderen eine Initiative gegründet, die abgelehnte Asylbewerber versteckt. Wie sind Sie auf die Idee gekommen?
Die Idee, dass Bürger vor der Abschiebung bedrohten Flüchtlingen Asyl gewähren, stammt ursprünglich aus Kanada. Die Bewegung nennt sich „Solidarity City“. Einige deutsche Städte haben die Idee jetzt aufgegriffen. Für uns war es besonders wichtig, das in Bayern zu gründen. Warum?
Wenn es um Sammelabschiebungen nach Afghanistan geht, liegt Bayern ganz weit vorn. Zuletzt war diese Gruppe begrenzt worden auf straffällige gewordene Flüchtlinge und so genannte Identitätsverweigerer. Bayern hat das besonders breit ausgelegt. Der bayerische Flüchtlingsrat hat das mehrfach nachgewiesen, dass Leute aus nicht nachvollziehbaren Gründen abgeschoben wurden. Die Behörden entscheiden oft willkürlich. Woran machen Sie das fest?
An den Anerkennungszahlen des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (Bamf). 2015 wurden noch 78 Prozent der Flüchtlinge anerkannt. Aktuell sind es noch 42 Prozent. In Bayern liegt die Quote nur bei 35 Prozent. Wieviel Menschen haben Sie aktuell gerade versteckt?
Dazu kann und möchte ich nichts sagen. Wenn Mahnwachen und Appelle nichts bewirken, sind ziviler Ungehorsam und Mut im Namen der Menschlichkeit unsere Pflicht. Wir schauen nicht länger zu, wie Menschen in Kriegsgebiete abgeschoben werden. Wie muss man sich das vorstellen? Wohnen die Flüchtlinge in Gästezimmern? Oder haben Sie sie an geheimen Orten versteckt?
Die Mitglieder unserer Initiative erklären sich bereit, Menschen zu schützen, die von einer Sammelabschiedung bedroht sind. Da ist es in der Regel so, dass die Leute drei Tage vorher verhaftet und aus ihren Unterkünften geholt werden. In der Zeit bis zum Abflug können sie keine Rechtsmittel gegen ihre Abschiebung einlegen. Das sind Zustände, die aus unserer Sicht nichts mehr mit einem Rechtsstaat zu tun haben. Dabei würden sich ihre Chancen auf Anerkennung erhöhen, wenn sie das könnten. Oft haben wir es ja mit Flüchtlingen zu tun, die über ihre Rechte gar nicht Bescheid wissen. Sie besorgen ihnen die Anwälte?
Geflüchteten, die sich an uns wenden, empfehlen wir, sich an Beratungsstellen zu wenden. Wir können ihnen aber natürlich auch Anwälte empfehlen. Nach Deutschland flüchten Menschen aus der ganzen Welt. Warum gilt Ihr Angebot nur für Flüchtlinge aus Afghanistan?
Das hatte rein pragmatische Gründe. Wir als kleine Initiative müssen das irgendwie eingrenzen. In Afghanistan ist es besonders deutlich, dass Krieg und Terror herrschen. Dort haben wir eine Chance gesehen, etwas zu erreichen. Als nächstes könnten wir uns aber auch um syrische Geflüchtete kümmern. Man muss ja damit rechnen, dass die Bundesregierung als nächstes erklärt: In Syrien ist die Lage sicher genug. Das Auswärtige Amt spricht gerade von einer volatilen Sicherheitslage in Afghanistan. Abgeschoben werden derzeit nur Menschen, die als Gefährder oder Straftäter eingestuft werden. Und die nehmen Sie bei sich zu Hause auf?
Dieser Kreis wurde gerade wieder erweitert. Da fallen jetzt auch Leute drunter, von denen wir sagen, die wurden völlig willkürlich ausgewählt. Ob man die bei sich aufnimmt, bleibt ja jedem persönlich überlassen. Ist es nicht ziemlich naiv, Menschen aufnehmen, die man gar nicht kennt?
In vielen Fällen gab es da vorher schon persönliche Kontakte. Was Sie machen, verstößt gegen das Aufenthaltsgesetz. Schreckt es Sie gar nicht ab, dass Sie wegen Beihilfe zum illegalen Aufenthalt zu einer Geldstrafe oder zu einem Jahr Gefängnis verurteilt werden können?
Das ist gar nicht klar. Man weiß ja noch nicht, ob diese Menschen illegal hier sind. Es geht um Leute, die noch einen wie auch immer gearteten Aufenthaltsstatus haben und die dann verhaftet werden, um abgeschoben zu werden. In diesem Zwischenraum geht es darum, zu prüfen: Gibt es Möglichkeiten, die Abschiebung anzufechten?
Aber wenn es keine Möglichkeiten gibt, müssen Sie in letzter Konsequenz mit einer Strafe rechnen.
Im Einzelfall ist das bislang glücklicherweise noch nicht vorgekommen. Wir gehen davon aus, dass es legitim ist. Das ist ähnlich wie bei der Diskussion um die Seenotrettung. Da gibt es auch Stimmen, die sagen, das sei nicht legitim. Der Kapitän der „Lifeline“ hat gerade erklärt, für ihn sei es keine Option gewesen, die Leute ertrinken zu lassen. Für uns ist es keine Option, die Leute in ihre Heimat zurückzuschicken und sie der Gefahr eines Terroranschlags auszusetzen. Bislang fanden vor Abschiebung bedrohte Flüchtlinge in Kirchen Asyl. Die Zahl hat sich von 2016 bis 2017 fast verdoppelt. Was unterscheidet ein Bürgerasyl von einem Kirchenasyl?
Beim Kirchenasyl geht es vor allem um Fälle, die nach der Dublin-Verordnung in den Staat abgeschoben werden sollen, in dem sie zuerst registriert worden waren. Nach einer Frist von drei Monaten kann so ein Fall aber in Deutschland verhandelt werden. Es geht also darum, diesen Zeitraum zu überbrücken, um zu prüfen, ob Rechtsmittel gegen die Abschiebung eingelegt werden können. Und im Bürgerasyl?
Bei uns ist dieser Zeitraum deutlich kürzer. Da geht es nur um ein paar Tage. Diese hohe Zahl der Kirchenasyle ist ja auch ein Indiz für die Willkür, mit der das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) Entscheidungen fällt. 61 Prozent der Klagen von Afghanen, die abgeschoben werden sollen, haben Erfolg. Diese hohe Quote zeigt doch, dass die Verfahren nicht wasserdicht waren und es erforderlich ist, zu anderen Mitteln zu greifen. Auch um den Preis einer Verhaftung? Einige Pfarrer mussten deswegen schon ins Gefängnis.
Die Pfarrer berufen sich auf ihre christlichen Werte, die sie gegen die Behörden verteidigen müssen. Das wird dann verhandelt. In den meisten Fällen kommt dann zwar nichts dabei heraus. Aber solche Verhaftungen dienen natürlich auch der Abschreckung. Ist das Bürger-Asyl nicht trotzdem der falsche Hebel, den Sie ansetzen?
Wir würden niemals sagen, das es die Lösung ist. Es ist eine Möglichkeit, das Thema ins öffentliche Bewusstsein zu rücken. Wir glauben, dass verschiedenen Möglichkeiten zusammen kommen müssen. Das reicht von Kundgebungen, Petitionen, und Mahnwachen bis zu Protesten gegen die Abschiebung am Flughafen. Verbrechen wie der Mord an einer 19jährigen Studentin in Freiburg durch den Afghanen Hussein K. haben die Frage aufgeworfen, was das eigentlich für Menschen sind, die hier Asyl suchen. Würde es nicht mehr Sinn machen, diese Menschen vorher zu überprüfen, bevor man sie ins Land lässt?
Eine Vergewaltigung oder ein Mord lassen sich ja nicht vorhersehen. Aber viele Kriminelle sind schon in ihrer Heimat kriminell geworden. Sollte man die nicht gleich an der Grenze abfangen?
Ich bin grundsätzlich für offene Grenzen. Grenzkontrollen können die Sicherheit von Mädchen und Frauen nicht erhöhen. Die Kriminalitätsstatistik lässt auch nicht den Schluss zu, dass Geflüchtete überproportional häufig Täter sind. Es gibt auch in Deutschland Gewalt gegen Mädchen und Frauen. Sobald der Täter ein Flüchtling ist, ertönt aber gleich wieder ein großer Aufschrei. Natürlich ist jede Gewalttat eine Gewalttat zu viel. Dagegen muss der Rechtsstaat vorgehen – allerdings völlig unabhängig davon, welche Religion oder Hautfarbe der Täter hat. Es ist Rassismus, auf die Nationalität des Täters abzuheben. Die AfD greift das gezielt auf. Und der Diskurs rückt damit deutlich nach rechts. Ist es nicht das gute Recht des Staates, Flüchtlinge in ihre Heimat abzuschieben, die hierzulande kriminell geworden sind?
Welches Land, wenn nicht Deutschland, wäre in der Lage, das rechtsstaatlich zu lösen? Aber darum geht es der bayerischen CSU gar nicht. Der geht es darum, einen Skandal zu provozieren, um die Landtagswahl zu gewinnen. Worum geht es Ihrer Initiative eigentlich, um die Rettung von Menschenleben oder darum, die Asylpolitik der Bundesregierung an den Pranger zu stellen?
Um beides. Die Initiative Bürgerasyl hat einen Doppelcharakter. Uns geht es zum einen darum, unsere Kritik an der Verschärfung des Asylrechts öffentlich zu machen. Zum anderen geht es um praktische Unterstützung für die Flüchtlinge. Derzeit bekommen siebzig Prozent der abgelehnten Asylbewerber eine Duldung. In Europa gilt Deutschland immer noch als das Land, das die meisten Flüchtlinge aufnimmt.
Deutschland ist wirtschaftlich auch verhältnismäßig gut gestellt im Vergleich zu anderen Ländern. Wenn wir all das Geld, das wir für Abschottung ausgeben, in Maßnahmen zur Integration investieren würden, hätten wir gar kein Problem. Ich denke an die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg. Da kamen viel mehr Flüchtlinge in Deutschland unter. Das hat auch funktioniert. Bayern steht auf Platz drei der Liste mit den Bundesländern, die am meisten Flüchtlinge abschieben. Im Herbst wird ein neuer Landtag gewählt. Ist Ihre Initiative auch ein Denkzettel für die CSU?
Diese problematische CSU-Regierung haben wir schon lange. Von daher hat es ursprünglich nichts mit der Landtagswahl zu tun gehabt. Aber die Verschärfung der Abschiebepraxis hat unser Engagement nötiger gemacht.
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Antje Hildebrandt
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Bislang gewährten Kirchen vor der Abschiebung bedrohten Flüchtlingen Asyl. Jetzt finden diese Menschen auch in den Wohnungen von Bürgern Unterschlupf. Eine Aktivistin erklärt, warum sie dafür eine Gefängnisstrafe riskiert
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"Flüchtlingskrise",
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innenpolitik
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2018-07-19T11:50:55+0200
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2018-07-19T11:50:55+0200
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https://www.cicero.de//innenpolitik/fluechtlinge-afghanistan-abschiebung-kirchenasyl-seehofer-bayern-bamf
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Meistgelesene Artikel 2023: Juli - Habeck ist ein Hochstapler
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Zum Jahresende blicken wir auf die Themen des Jahres 2023 zurück und rufen die Cicero-Artikel in Erinnerung, die am meisten Interesse fanden. Lesen Sie hier: den meistgelesenen Artikel im Juli. Wer dieses Interview noch nicht gesehen hat, sollte es schleunigst nachholen. Am Mittwochabend trat Robert Habeck in den ARD-„Tagesthemen“ auf, zugeschaltet aus Oberhausen in Nordrhein-Westfalen. In dem achtminütigen Gespräch erklärt der Wirtschaftsminister der (noch) viertgrößten Volkswirtschaft der Welt, wie der von ihm geleitete Umbau derselben vonstatten gehen soll. Und während er redet, fragt man sich: Wie lange kann das noch gutgehen? Robert Habeck, der im rasanten Tempo vom Liebling zum Buhmann der Ampelkoalition wurde, ist mit seinem Amt überfordert. Er hat sich zu viel vorgenommen, weiß das vermutlich auch selbst und hält dennoch an seinem Märchen von der glücklichen grünen Zukunft des Industriestandorts Deutschland fest. Was er erzählt, ist dermaßen realitätsfern und in sich widersprüchlich, dass eine erschreckende Schlussfolgerung bleibt: Wir haben es mit einem Hochstapler zu tun. Habeck spielt Wirtschaftsminister. Er weiß eigentlich nicht, was er tut. Und wenn er darüber redet, redet er sich vor allem selbst etwas ein. Habeck ist ein Geschichtenerzähler. Und er hört sich gerne selbst beim Erzählen zu. Denn je schöner seine Worte für ihn klingen, je überzeugter sich sein Tonfall in den eigenen Ohren anhört, umso stärker glaubt er selbst an das, was er redet. Es gebe keinen Grund für eine „German Angst“, sagt er zu Beginn des Interviews. Als Spitzenpolitiker einer Partei, die von der Angst lebt: Angst vor Strahlung, Gentechnik und Hitze. Nur vor gravierenden Wohlstandsverlusten durch einen selbstverschuldeten Niedergang sollen wir uns nicht fürchten. Dass es keinen Grund dafür gibt, stimmt ganz objektiv nicht. Die sich zunehmend verschlechternden Wirtschaftsdaten und vor allem die gewaltigen strukturellen Probleme, vor denen das Land ohne Lösungen steht, wecken Zweifel an den großen Transformationsphantasien. Mit seinem „Fürchtet euch nicht“ will Habeck uns und sich selbst Mut machen. Doch es wirkt eher verzweifelt. Dass die Lage düsterer ist, als er sie sich zu Beginn seiner Amtszeit ausgemalt hat, räumt Habeck sogar ein. Vor allem die höheren Energiepreise seien daran Schuld, erklärt er und schiebt schnell hinterher: „Das ist die Konsequenz des Ausfalls russischen Gases.“ Zu seiner fatalen Fehlentscheidung, trotz Ukrainekrieg und Energiekrise am Atomausstieg festzuhalten, sagt er kein Wort. Das könnte Sie auch interessieren: Dafür setzt sich Habeck im selben Interview ganz vehement für seinen Industriestrompreis ein, also einen staatlichen Zuschuss zu den Stromkosten energieintensiver Betriebe. „Die Industrie wünscht sich für diese kritische Phase, wo die Preise höher sind, die Strompreise vor allem höher sind, als sie davor waren, da wünscht sie sich weitere Unterstützung. Das Stichwort ist ein Industriestrompreis. Dafür werbe ich auch. Wir haben auch nicht mehr viel Zeit, sonst in der Tat sagen die: Wir investieren schon, aber nicht mehr in Deutschland.“ Weiter geht es noch deutlicher: „Das sind Gelder, die wir aufnehmen, das sind also schuldenfinanzierte Gelder. Deswegen verstehe ich auch, dass der Finanzminister da kritisch draufschaut. Aber die Frage ist: Keine Gelder aufnehmen oder keine Industrie mehr haben? Und ich werbe dafür, dass wir uns für die Industrie entscheiden.“ Das ist ein starkes Stück. Der Mann, der nicht die Courage aufbrachte, sich gegen die Anti-Atom-Lobby innerhalb seiner Partei durchzusetzen, um die noch tadellos funktionierenden deutschen Kernkraftwerke vor dem Abriss zu bewahren, erklärt nun zur besten Sendezeit, dass die deutsche Industrie kurz vom Exodus ist, weil die Strompreise zu hoch seien. Er ist derselbe Mann, der sein rein parteipolitisch motiviertes Nein zur AKW-Laufzeitverlängerung mit dem Argument begründete, Deutschland habe kein Stromproblem, sondern nur ein Gasproblem. Auf die wenigen, zögerlich vorgebrachten Einwände des Interviewers reagiert Habeck nicht mit Argumenten, sondern mit einem in kindlicher Naivität vorgebrachten Glauben an das, was man sieht. „Ich stehe hier gerade in Oberhausen, hinter mir wird Wasserstoff produziert. Das ganze Werk ist neu aufgebaut worden. Ein paar Kilometer weiter ist Thyssenkrupp. Thyssenkrupp investiert eine Milliardensumme in grünen Stahl. Wir, die öffentliche Hand, der Staat, ist ebenfalls mit dabei“, will Habeck alle Zweifler seiner klimaneutralen Visionen überzeugen. „Gerade an einem Tag wie heute, an einem Standort wie hier, muss man sehen, hier wird gerade eine industrielle Transformation durchgezogen.“ Er zeigt dabei immer wieder nach hinten. Zu der Industrieanlage, vor der er sich für die Fernsehkamera an diesem Tag positioniert hat, um die neue Wasserstoffstrategie der Bundesregierung zu bewerben. Man sieht hier doch, dass sein Plan funktioniert. Dass er nur ein paar Steuermilliarden an die richtigen Unternehmen verschenken muss, und schon fließt der Wasserstoff und kocht der grüne Stahl. Es läuft doch. Man sieht es doch. Deshalb ist er doch hier. Man muss nur fest genug daran glauben. „Aber Herr Habeck, diese Transformation braucht ja viele Jahre“, unterbricht ihn der ARD-Journalist vorsichtig. „Wie wollen Sie das so schnell umsetzen?“ Die Antwort des Wirtschaftsministers beginnt so: „Nein, die Bauarbeiten laufen jetzt. Die Elektrolyseure, die da drin stehen, sie werden in neuen Werken, in diesem Fall in Berlin, hochgezogen. Das passiert ja jetzt alles. Die Baustelle bei Thyssenkrupp ist eingerichtet. Da fahren die Bagger rum.“ Sein Schlusswort ist dann ein als Wirklichkeitsbeschreibung getarnter Apell an das Durchhaltevermögen der Deutschen: „Ja, die Lage ist herausfordernd. Sie ist anspruchsvoll. Aber wir haben alle Technik. Wir haben auch die finanziellen Ressourcen, die zu bewerkstelligen. Und wir haben vor allem kerngesunde Industrie und kerngesunde Betriebe, die in diesem Prozess bestehen wollen und durch diesen Prozess durchwollen.“ Wir müssen nur wollen, dann wird es schon klappen. Jahresrückblick mit Mathias Brodkorb und Alexander MarguierCicero Podcast Politik: „Hast du nicht als Marxist angefangen?“ „Unbedingt!“
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Daniel Gräber
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Der Wirtschaftsminister, der die Atomkraftwerke abschalten ließ, warnt davor, dass die Industrie wegen zu hoher Stromkosten das Land verlässt. Aber mit Milliardensubventionen und Zuversicht werde die grüne Transformation schon gelingen. Glaubt er selbst, was er da redet? Dies war der meistgelesene „Cicero“-Artikel im Juli.
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[
"Robert Habeck",
"Wirtschaftskrise"
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innenpolitik
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2024-01-02T11:30:29+0100
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2024-01-02T11:30:29+0100
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https://www.cicero.de/innenpolitik/meistgelesene-artikel-2023-juli-habeck-ist-ein-hochstapler
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Elfenbeinturm – Intellektuelle sind Aus-der-Zeit-Gefallene
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„Was nützen einem Menschen Gedanken
und Einfälle, wenn er, wie ich, das Gefühl hat,
er wisse nichts damit anzustellen?“ R. Walser Zugegeben: Der Intellektuelle hat es nicht leicht. Schweigt er,
folgt dem Schweigen der Ruf nach sich zu Wort meldenden
Intellektuellen im Land. Meldet er sich zu Wort, begibt sich gar
auf tagespolitisches Terrain – oder schlimmer noch – wird Dauergast
in einer Talkshow, läuft er Gefahr, die dem Intellektuellen
anheimgestellte mystische Aura zu verlieren oder als
Beliebigkeitsapostel abgestempelt zu werden. Vergleichbar mit
Politikern, von denen wir Authentizität und klare Kante fordern, um
dann geliefertes Profil zeitgleich medial abzuschleifen. Dem Credo
folgend: Liefert er, schleifen wir! Ein Dilemma, das der versierte Intellektuelle zur Kenntnis nimmt
und als postmoderne Dialektik verkauft, für den weniger
selbstbewussten aber Anlass genug ist, um zu zweifeln und den
Rückzug ins Private anzutreten. Ein schmaler Grat, der für Intellektuelle im Zeitalter von
Massenmedien und Massendemokratie immer öfter zwischen
Multiplikator und Hofnarr verläuft. Ort des Geäußerten und Frequenz
gereichen ihm meist zum Vorwurf. Und dort, wo die Debatten heute
stattfinden – im Netz –, dort bleibt er lieber ganz fern. Die Nische, die medial bleibt, bietet dann auch wenig Platz. Das
Resultat ist der medial austarierte Intellektuelle: Er ist in der
Regel männlich, linkssozialisiert, brustbehaart, offline, eitel,
übt vorrangig Selbstkritik bei anderen, verwechselt Macht mit
Einfluss, zitiert gern und viel, und weiß, dass sich aus
zusammenhanglos verbalisierten Denkkonstruktionen am Ende eines
langen Satzes Logik rhetorisch erzeugen lässt. [gallery:Hinter den Kulissen – das lesen die
Cicero-Redakteure] Der Durchschnittsintellektuelle bezeichnet Essen- als Ausgehen,
hält Wikipedia für eine nicht-zitierfähige Quelle, um gleichermaßen
sein Umfeld ungefragt mit allerlei Halbwissen zu kontaminieren. Er
schreibt analoge Briefe, liest bevorzugt den Feuilletonteil einer
Zeitung und lässt den Wirtschaftsteil zusammen mit beigefügten
„Gesellschafts-Magazinen“ auf direktem Wege ins Altpapier
wandern. Statt eines „J’accuse“, wie es Émile Zola seinerzeit
formulierte, um Gerechtigkeit für den verurteilten Dreyfus zu
fordern und ganz nebenbei den normativen und sich einmischenden
Intellektuellen zu erfinden, ist von heutigen Geistesgrößen
allenfalls ein „Moment mal“ zu vernehmen, dass sich in der
Empörungsmaschine Internet bestenfalls als erratischer Seufzer
verliert. Und sollte ihm dennoch ein Echo gewiss sein, dann
womöglich in Form eines netztypischen Shitstorms, was den
Intellektuellen, da er in der Regel Kommunikation als Einbahnstraße
definiert, dann auch als Bestätigung seines kulturpessimistischen
Weltbildes zupass kommt. Seite 2: Schicken wir den Intellektuellen zurück auf seinen
Elfenbeinturm So erinnert sich der geschundene Intellektuelle an die
vermeintlich guten alten Zeiten, da er noch als etwas galt, man ihm
zuhörte, er mitunter gar politische Macht ausübte. Er erinnert sich
an den genannten Zola, an Sartre oder Adorno, denen eine ganze
Generation zu Ohren lag. Und er vergisst die wirklich harten Zeiten, als die Nazis und
Kommunisten den Intellektuellen zu Menschen zweiter Klasse
ausriefen. Wirklich blumige Zeiten gab und gibt es wohl nur in
Frankreich, wo der Dandyphilosoph Bernard-Henri Lévy Einfluss auf
richtige Politik nimmt und Sarkozy quasi im rhetorischen Alleingang
überzeugte, gegen Gaddafi in den Krieg zu ziehen. Intellektuelle, formulierte Sartre, sind „das monströse
Produkt monströser Gesellschaften“. Und monströs sollten sie sein,
monströs über der Politik stehend: Denn auch wenn sich
intellektueller Einfluss und politische Macht gelegentlich treffen,
sind es verschieden Größen. Und das ist in der Regel auch gut so. (Lenin, Robespierre und
Mao lassen grüßen.) Bevor sich also Macht und Intelligenz
unvorteilhaft oder dauerhaft verbünden oder uns der
Klischeeintellektuelle zum Fremdschämen einlädt, geben wir doch
einfach zu: Der Intellektuelle passt nicht in die Zeit. Er passt
nicht, weil er nicht passen kann und vor allem passen soll! Denn im
Grunde gehört er dorthin zurück, von wo er einst aufbrach, um
die Welt zu retten: Auf den berühmten Elfenbeinturm. Von dort
kann er gern dann und wann hinabsteigen und konkret werden, aber
nicht in Gestalt einer moralisierenden Dauerinstitution. Von dort, aus der Distanz, mit Überblick, kann er seine
schärfste Waffe, den Verstand, mit all der gebotenen Deutlichkeit
einsetzen. Ja, wir brauchen die Schrägen, die Arroganten, die sich
ihre Arroganz durch geistige Überlegenheit verdienen; die sich im
Schumpeter’schen Sinne als „Störungsfaktoren“ der jeweils
herrschenden Ordnung verstehen. Der Denker, der Zweifler, der
In-Frage-Steller, der Haltung dort annimmt, wo es Haltung bedarf,
der Unbequeme, der sich bei aller Schärfe stets etwas Kindliches
bewahrt. „Die Intelligenz verdirbt den Sinn für das Wesentliche“, sprach
Antoine de Saint Exupéry. Richtig. Denn gerade eine auf Disput und
Verstand basierende Gesellschaft braucht Platz für das
Unwesentliche, das durch die Benennung radikal Andersdenkender erst
zum Wesentlichen werden kann und damit ins Zentrum rückt. Insofern
brauchen wir den Intellektuellen, damit Beiläufiges überhaupt die
Chance hat, zur Hauptsache zu werden. Die Liste
der 500 wichtigsten Intellektuellen in der Januar-Ausgabe des neuen
Cicero. Ab sofort am Kiosk erhältlich und in unserem Online-Shop.
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Der Intellektuelle hat es schwer. Er passt nicht mehr in unsere Zeit. Und das ist gut so. Denn er gehört nicht in die Talkshow, sondern zurück auf seinen Elfenbeinturm
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kultur
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2012-12-20T11:23:08+0100
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2012-12-20T11:23:08+0100
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https://www.cicero.de//kultur/intellektuelle-sind-aus-der-zeit-gefallene/52980
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Nord Stream 2 - Schleichende Ausgrenzung Russlands?
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Geht es um Nord Stream 2 geht, wird die Diskussion schnell ziemlich schrill geführt. Die Gegner der Erdgaspipeline überschlagen sich mit ihren Vorwürfen: es sei kein wirtschaftliches, sondern ein politisches Projekt, es spalte Europa, ignoriere die Sicherheitsinteressen Polens und der baltischen Staaten und schaffe Abhängigkeiten von Russland. Kritik verdient, ernst genommen zu werden. Dieser Anspruch wird verspielt, wenn sich Kritik in einer Kakophonie politischer Blähungen erschöpft. Nicht die Dissonanzen stören so sehr, sondern der Mangel an Sachverstand und Nachdenklichkeit. Die Kritiker beherrschen offensichtlich die Schnittstellen zwischen Politik, Wirtschaft, Recht und etablierter westlicher Sicherheitsstrategien nicht mehr. Ihre politische Zeitrechnung beginnt nach dem Fall der Berliner Mauer, nach der deutschen Wiedervereinigung und nach dem Abzug der sowjetischen Truppen aus Mitteleuropa. Erfahrungen bleiben unberücksichtigt, die in jahrzehntelangen Prozessen für die westliche Sicherheitspolitik erarbeitet wurden. Sie werden dickfellig übersehen. Fangen wir mal mit der Schnittstelle von Politik und Recht an und bedienen uns der schlichten pädagogischen Methode jenes komischen Physiklehrers Bömmel aus dem Film „Die Feuerzangenbowle“, sich erst mal ganz dumm zu stellen und zu fragen: „Was ist das Projekt Nord Stream 2?“ Bei Nordstream 2 handelt es sich um das zweite Pipeline-Projekt, das Gas von Russland nach Greifswald in Mecklenburg-Vorpommern befördern und es dort in das europäische Gasversorgungsnetz einspeisen soll. Das Projekt wird von einem russischen Energieversorger – Gazprom – und von fünf europäischen Firmen betrieben, nämlich von den deutschen Firmen BASF und Uniper, Engie (Frankreich), OMV (Österreich) und von der britisch-niederländischen Royal Dutch Shell. Das Vorhaben bedarf nach EU-Recht Baugenehmigungen. Liegen die Voraussetzungen für ihre Erteilung vor, können die Regierungen die Genehmigung nicht verweigern. Der Staat muss bestehendes Recht vollziehen. Er kann nicht ohne weiteres in den Markt eingreifen. Die Politik kann Recht setzen, aber kein bestehendes beugen. Natürlich wird eine solche Einstellung von Kritikern wie Norbert Röttgen, Wolfgang Ischinger, Katrin Göring-Eckardt oder jüngst von Manfred Weber nicht geteilt. Dabei übersehen sie, dass nun gerade ein politischer Gegner von Nord Stream 2 diese Rechtsgrundsätze penibel genau beachtet hat. Die schwedische Regierung widerstand massivem amerikanischen Druck und rechtfertigte die Erteilung ihrer Genehmigung damit, dass sie zwar politische Vorbehalte gegen Nord Stream 2 habe, aber schwedisches Recht keine Handhabe biete, die Genehmigung zu verweigern. Die Entstehungsgeschichte von Nord Stream 2 belegt, dass es als ein rein wirtschaftliches Projekt geplant war. 2012 entstand in London in einem Gespräch zwischen dem englischen Premierminister David Cameron und Präsident Wladimir Putin der Plan zum Bau einer zweiten Pipeline. Cameron schilderte Putin seine Sorgen, dass die britischen Erdgasvorkommen in absehbarer Zeit erschöpft sein würden. Putin schlug vor, eine weitere Gasleitung parallel zu der bestehenden Nord Stream 1 nach Greifswald zu bauen und Greifswald und das dänische Jütland mit einer Stichleitung zu verbinden, die das russische Gas in das norwegische-britische Netz einspeisen würde. Es ging darum, durch die Abnahme von 55 Milliarden Kubikmetern den künftigen Produktionsrückgang nach damaliger Schätzung von 80 Milliarden Kubikmetern auszugleichen. Dieser Vorschlag erregte sofort weltweit die gespannte Aufmerksamkeit der Wirtschaft. Es meldeten sich weitaus mehr Energieversorger und institutionelle Investoren, als schließlich in das Konsortium aufgenommen wurden. Kaufleute sind an wirtschaftlichen Erträgen interessiert. Sie beteiligen sich üblicherweise nicht an politischen Projekten. Die Politik nahm seinerzeit keine Notiz von diesem Projekt. Dann besetzten russische Truppen die Krim. Die Beziehungen zu Russland verschlechterten sich. Die Politik funktionierte nun Nord Stream 2 von einem „wirtschaftlichen Geschäft“ in ein „politisches Projekt“ um. Es gab eine Zeit, als die westliche Sicherheitspolitik Gasgeschäfte mit der Sowjetunion absichtsvoll als politische Projekte verfolgte – allerdings mit anderen, für die Kritiker von Nord Stream 2 völlig konträren Zielsetzungen. Man darf sich in Erinnerung rufen: Nichts hat in der Vergangenheit so sehr zum Abbau der Ost-West-Konfrontation beigetragen wie die Aufhebung des Nato-Exportembargos gegen Erdgasröhren in den 60er-Jahren und der anschließende Ausbau des Erdgasnetzes zwischen der Sowjetunion und West-Europa. Sie stützten die Richtigkeit der These vom „Wandel durch Annäherung.“ Eine gewisse Abhängigkeit von sowjetischen Gaslieferungen wurde hingenommen, weil die wechselseitige Abhängigkeit als ein Beitrag zur Entspannung eingeordnet wurde. Die Erdgaslieferungen aus Russland gerieten zu einer nun schon seit einem halben Jahrhundert währenden Erfolgsgeschichte. Das Thema Abhängigkeit von russischen Gaslieferungen irrlichtert aber nach wie vor durch das westliche Lager. Der französische Staatspräsident Sarkozy wischte die Befürchtungen auf der Münchener Sicherheitskonferenz 2009 mit einer einfachen, einleuchtenden Bemerkung vom Tisch: „Wir kennen eigentlich keinen Lieferanten, der sich seinen Kunden verkrachen will.“ Die Einheit der Europäischen Union – insbesondere die der östlichen Nachbarn – ist keineswegs so geschlossen, wie Kritiker fälschlicherweise behaupten. Unter den vier Visegrad-Staaten sind Ungarn, die Slowakei und Tschechien keineswegs mehr bereit, sich von Polen beeinflussen zu lassen. Bei seinem jüngsten Staatsbesuch in den USA hat sich der tschechische Staatspräsident dem amerikanischen Druck widersetzt, in das Abschlusskommuniqué eine Verurteilung von Nord Stream 2 aufzunehmen. Er begründete dies mit den guten Beziehungen zu Deutschland. Die östlichen Ostseeanrainer dürfen erwarten, dass wir ihre Sicherheitsbedürfnisse ernst nehmen. Ihre eigenen Einschätzungen fallen jedoch auseinander. Finnland hat die Genehmigung zum Bau von Nord Stream 2 erteilt. Es geht auf Grund seiner geschichtlichen Erfahrungen mit Russland einen anderen Weg als die gegenwärtige polnische Regierung. Jaroslaw Kaczynski fährt hingegen einen strammen antirussischen Kurs, über den sich sogar der frühere polnische Außenminister Radek Sikorski, selbst seit jeher skeptisch gegenüber Pipelineprojekten in der Ostsee, sich in seinem jüngsten Buch „Polen könnte besser sein“ über die polnischen Politik mokiert: „Es gibt Leute in Polen, die denken, dass russisches Gas einfach von schlechter Moral sei, und es zu kaufen sei Verrat. Im Gespräch mit einigen unserer Politiker hatte ich den Eindruck, dass sie Sichel und Hammer an jedem Molekül des russischen Gases sehen konnten. Mit diesem Ansatz lohnt es sich, ein teureres, aber moralisch gerechtes norwegisches oder noch teureres Gas aus Katar zu kaufen, das ja für seinen Sinn für Demokratie bekannt ist.“ Man sollte respektieren, dass jüngere Nato-Mitglieder wie Polen und die baltischen Staaten ihre historischen Erfahrungen mit Russland haben, aber man sollte sie nicht ausschließlich die Agenda im Umgang mit Russland bestimmen lassen. Auch wir Deutsche haben unsere Erfahrungen mit Russland einzubringen. Deutschland hat ein halbes Jahrhundert unter der Bedrohung des Warschauer Paktes gelitten. Die Panzerspitzen der WP-Streitkräfte hätten innerhalb weniger Stunden den Rhein erreichen können; deutsche Städte lagen in der Zielplanung nuklearer Waffensysteme der anderen Seite. Die Ost-West-Konfrontation ist aufgelöst worden, weil wir die Doppelstrategie von militärischer Stärke und Kooperation konsequent und beharrlich durchgesetzt haben – häufig genug gegen die Vorstellungen anderer Bündnispartner. Das Schutzbedürfnis Polens ist nicht höher als das aller anderen Nato-Verbündeten, die für den unwahrscheinlichen Fall eines nuklearen Schlagabtausches zwischen den USA und Russland in der Zielplanung russischen Raketen liegen, viele von ihnen mit höherer Zielpriorität als Polen. Wer nur Furcht in den Genen hat, ist wenig geeignet für eine sicherheitspolitische Partnerschaft im nuklearen Zeitalter. Das polnische Rührstück verliert an Glaubwürdigkeit, da Polen mit seiner Nord-Stream-2-Kritik knallharte wirtschaftliche Interessen verfolgt. Die USA wollen sich den europäischen Markt für den Absatz ihres Flüssiggases sichern und Russland als hauptsächlichen Gasversorger Europas verdrängen. Polen strebt an, der hauptsächliche Vertreiber von amerikanischem Flüssiggas in Europa zu werden. Wir müssen uns inzwischen auch die Frage stellen, ob es den Kritikern wirklich nur um Nord Stream 2 geht. Ist das Thema nicht bereits als Transmissionsriemen für eine schleichende Ausgrenzung Russlands aus der Zusammenarbeit mit dem Westen angelegt? Diese hätte verheerende Folgen für die sicherheitspolitische und wirtschaftliche Entwicklung des europäischen Kontinents.
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Frank Elbe
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Die Kritik an der russischen Erdgaspipline Nord Stream 2 wird immer intensiver. Tatsächlich handelt es sich um ein politisches Projekt und Russland ist kein einfacher Partner. Die Gegner aber verkennen, dass wirtschaftliche Deals schon immer der Vorläufer für politische Entspannungen waren
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außenpolitik
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2019-04-30T12:34:34+0200
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2019-04-30T12:34:34+0200
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https://www.cicero.de/aussenpolitik/nord-stream-2-pipeline-kritik-wirtschaft-politik
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Replik zur Lage der Wissenschaft - Endlich forschen, statt Forschung zu versprechen
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„Der Mut zum pointierten Urteil eines Hans-Peter Schwarz oder eines Hans-Ulrich Wehler fehlt heute in den Humanwissenschaften“, beklagt Christoph Ploß, promovierter Historiker und Hamburger CDU-Chef, bei Cicero. Die beiden Historiker waren einst das konservative (Schwarz), respektive linke (Wehler) Schlachtross ihrer Zunft, meinungsstark und omnipräsent in den Debattenräumen der alten, der Bonner Republik. Heute hingegen, meint Ploß, fehlt es den Geisteswissenschaften an „Kraft und Mut“. Man ziehe sich verzagt in die Komfortzone des Elfenbeinturms zurück, dahin, wo man sich notorisch schwertue, der Gesellschaft dringend benötigtes „Orientierungswissen“ zu liefern. Ist also der Geisteswissenschaftler als Public Intellectual eine aussterbende Spezies? Und wenn ja, warum eigentlich? Ploß nennt zwei Gründe, warum Geisteswissenschaftler heute dazu neigen, sich aus öffentlichen Debatten herauszuhalten. Eine Rolle spiele die Angst davor, am medialen Pranger zu stehen, sobald man mit der eigenen Erkenntnis den sicheren Boden dessen verlässt, was sich wie der Mainstream anfühlt. Den Kern des Problems aber sieht Ploß in der inneren Logik des Wissenschaftssystems: Dort nämlich gelte es nichts, in der Öffentlichkeit wahrgenommen zu werden. Oben in der Prestigepyramide des Kosmos Hochschule stünden die Drittmittelkönige, jene Professoren also, die mit ihren mit Milliarden geförderten Projekten inzwischen wesentlich zum Budget jeder deutschen Universität beitragen. Ploß diagnostiziert scharfsinnig, wo das Problem eines Systems liegt, in dem Drittmittel zum fast alleinigen Gradmesser von Reputation geworden sind: Anstatt zu forschen, versprechen Wissenschaftler Forschung. Anstatt sich mitzuteilen, schreiben sie Antrag auf Antrag, um Zielvereinbarungen zu erfüllen und Stellen für ihren Nachwuchs einzuheimsen. Und anstatt das Risiko einzugehen, mit ihrer Forschung Neuland zu beschreiten, gehen sie auf Nummer sicher und bewegen sich im Rahmen des so Erwartbaren wie Mittelmäßigen. Hier – und weniger in der im Vergleich zu Oxbridge und zur Ivy League eher kümmerlichen finanziellen Ausstattung hiesiger Hochschulen – liegt tatsächlich ein wesentlicher Grund dafür, dass die deutsche Wissenschaft den Platz auf dem Siegertreppchen längst an die Angelsachsen hat abgeben müssen. Und das gilt natürlich keineswegs exklusiv für die Geisteswissenschaften. Die Malaise ist politisch gewollt oder zumindest billigend in Kauf genommen. Denn die für die Hochschulen verantwortlichen Länder sind finanziell so klamm, dass sie sich in ihrer Mehrheit Wissenschaft eigentlich gar nicht leisten können. Da aber dem Bund wegen des grundgesetzlich verankerten Kooperationsverbots im Prinzip jegliche Einflussnahme auf Forschung und Wissenschaft untersagt ist, müssen sich alle Beteiligten eines Umwegs bedienen, um doch Bundesmittel in die Universitäten fließen zu lassen. Der führt über die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG), die mit ihrem Etat von über drei Milliarden Euro projektbezogen den klammen Hochschulen unter die Arme greift. Ein weiterer Grund liegt in den Universitäten selbst. Deren Leitungen haben sich nämlich mit Haut und Haar der Doktrin des New Public Management verschrieben. Sie glauben tatsächlich, man könne mit aus der Privatwirtschaft entlehnten Führungstechniken sicherstellen, dass die Hochschulen ihrem Zweck gerecht werden: gute Wissenschaft zu produzieren. Sie haben so die von Max Weber bereits 1917 in „Wissenschaft als Beruf“ vorweggeahnte Umformung der Universitäten in Wissenschaftsbetriebe vollendet. Zum New Public Mangement gehört die Leistungsorientierung. Doch wie will man Leistung in der Wissenschaft messen? Gibt es gute, sehr gute, ja womöglich exzellente Erkenntnis? Für die Hochschulleitungen schon: Sie ziehen für die Bewertung einfach die Drittmittelsalden ihrer Professoren heran, fertig ist der Leistungsmaßstab. Was bizarr klingt, hat Methode. Am meisten Drittmittel ziehen Wissenschaftler an Land, wenn sie sich zusammentun und „Verbundforschung“ betreiben. DFG-finanzierte Graduiertenkollegs und Sonderforschungsbereiche stoßen hekatombenweise Doktoren aus, die nur noch interdisziplinäres Arbeiten kennen, aber ins Schwitzen kommen, sobald man sie nach den Methoden ihres Faches fragt. Was in den Natur- und Technikwissenschaften angehen mag, ist in den Geisteswissenschaften oft, nicht immer, Geldverschwendung für Fortgeschrittene. Es soll Graduiertenkollegs geben, die es nach dem Bewilligungszeitraum von viereinhalb Jahren nicht vermocht haben, sich auf die Definition ihrer Schlüsselbegriffe zu einigen. Nicht wenige dieser Verbundforschungsprojekte verkaufen durch diverse „Turns“ gefilterten alten Wein im neuen Schlauch einer wohlklingenden postmodernen Terminologie. Dass aus solchen Veranstaltungen wenig für gesellschaftliche Großdebatten Relevantes nach außen dringt, ist nicht fürchterlich überraschend. In der Politik reift offenbar die Erkenntnis, dass man Steuergelder auch smarter verwenden kann. Angesichts des maßgeblich selbstverursachten Scherbenhaufens und des vielstimmigen Schweigens der Wissenschaftslämmer lässt es aufhorchen, wenn das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) im November 2019 mit einem Grundsatzpapier zur Wissenschaftskommunikation an die Öffentlichkeit geht, das die Verantwortung „der“ Wissenschaft anmahnt, mit der Gesellschaft „den Dialog zu suchen“ und „Debatten zu versachlichen“. In schönstem Ministerialsprech heißt es dort, „Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler“ müssten sich „in den öffentlichen Diskurs einbringen“, nötig sei ein „Kulturwandel hin zu einer kommunizierenden Wissenschaft“. Im BMBF hat man auch gleich ein Rezept dafür, wie das gelingen kann: Man müsse die „Reputationslogiken“ überdenken, selbstverständlich „unter Wahrung der wissenschaftlichen Exzellenz“. Heißt im Klartext: Die Hochschulleitungen bekommen ein neues Instrument an die Hand, um die Leistung ihrer Professoren zu messen. Gut ist jetzt, wer im Rampenlicht steht. Die besonders Wendigen der Zunft werden jetzt schon nach Mitteln und Wegen suchen, um ihre Performance entsprechend zu optimieren. Fast wortgleich wie das BMBF-Papier liest sich die Kur, die Ploß der Wissenschaft verordnen will: „Anreize“ müssten her, damit Wissenschaftler sich „in die Debatte einbringen“. Es wäre freilich unredlich, ihm zu unterstellen, er blase lediglich ins Horn des Ministeriums. Ploß mahnt Freiräume für unkonventionelles Denken an und – man höre und staune! – die Umleitung von Geldern in die Grundausstattung der Hochschulen. Das ist seit Jahr und Tag auch eine Forderung, die von den Fakultätentagen erhoben wird. Lasst uns endlich wieder forschen, anstatt immer nur Forschung zu versprechen! Dass Forschung immer und vor allem auch Grundlagenforschung ist, die weder unmittelbare gesellschaftliche Relevanz noch wirtschaftliche Verwertbarkeit besitzt, sollte sich von selbst verstehen. Das wusste schließlich schon Lev Tolstoj, den Max Weber mit den Worten zitiert: „Sie [die Wissenschaft] ist sinnlos, weil sie auf die allein für uns wichtige Frage: ‚Was sollen wir tun? Wie sollen wir leben?‘ keine Antwort gibt.“
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Michael Sommer
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In einem Gastbeitrag fordert Christoph Ploß die deutschen Geisteswissenschaftler auf, ihren Elfenbeinturm zu verlassen. Michael Sommer zeigt, warum der Ruf nach Teilnahme am Diskurs teilweise dem Prinzip der Wissenschaft widerspricht. Eine Replik.
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kultur
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2020-11-13T11:11:49+0100
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2020-11-13T11:11:49+0100
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https://www.cicero.de//kultur/wissenschaft-forschung-gesellschaft-debatte-diskurs-drittmittel
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Wahlen in Mexiko - Existentielle Fragen
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„Die langweiligste Wahl in der Geschichte Mexikos“: So beschrieb ein prominenter mexikanischer Polit-Aktivist die Wahlen vom vergangenen Sonntag in seinem Land. Nach den Reaktionen der US-Medien zu urteilen, waren die Wahlen jedoch alles andere als langweilig. Fast 20.000 politische Ämter standen zur Wahl, und im Vorfeld der Abstimmung wurde ausführlich über Gewalt und Korruption berichtet. Und natürlich waren die beiden Spitzenkandidaten Frauen, sodass es sicher war, dass Mexiko seine erste Präsidentin wählen würde. Andere lateinamerikanische Länder verfolgten die Ereignisse in Mexiko aufgrund der herausragenden Rolle des Landes in der Region sehr aufmerksam, sodass das Medienecho in ganz Amerika Grund genug ist, über die politische Atmosphäre in Mexiko nachzudenken. Dass die Wahl „langweilig“ war, ist nicht ganz unbegründet. Der Sieg der designierten Präsidentin Claudia Sheinbaum war alles andere als sicher. Obwohl die Höhe ihres prognostizierten Vorsprungs von Meinungsforschungsinstitut zu Meinungsforschungsinstitut schwankte, lag Sheinbaum in den vergangenen sechs Monaten durchweg etwa 15 Punkte vor ihrer nächsten Konkurrentin, Xochitl Galvez. Die Zusammensetzung der Oppositionsparteien und die Auswahl ihrer Kandidaten weisen jedoch auf einen dynamischen Moment in der mexikanischen Politik hin. Eine Partei, die PRI (Partido Revolucionario Institucional), dominierte die mexikanische Politik während eines Großteils des 20. Jahrhunderts. Ihr größter politischer Rivale war die 1939 gegründete PAN (Partido Acción Nacional, christdemokratisch-konservativ). Bei den Präsidentschaftswahlen 2000 verlor die PRI die Macht an den PAN-Kandidaten Vicente Fox. In den nächsten 20 Jahren wechselte das Amt zwischen diesen beiden Parteien hin und her. Doch dann gewann Andrés Manuel López Obrador, ein Mitglied des PRD-Ablegers Morena (Movimiento Regeneración Nacional, sozialdemokratisch-populistisch), 2018 die Präsidentschaft und signalisierte damit, dass Mexiko möglicherweise kein absoluter Zweiparteienstaat ist. (Sheinbaum ist ebenfalls Mitglied von Morena.) Die Ergebnisse vom 2. Juni haben dies nur noch verstärkt. Die Spitzenkandidatin der Opposition, Galvez, vertrat eine Allianz der drei alten mexikanischen Parteien (die bereits erwähnte PRI, PAN und PRD), die neue Interessenlinien im Land widerspiegelt. Darüber hinaus erhielt der Präsidentschaftskandidat Jorge Álvarez Máynez von der Partei der Bürgerbewegung 10 Prozent der Stimmen, ohne einer anderen Partei anzugehören. Sein Abschneiden deutet auf das Entstehen einer weiteren politischen Kraft im Lande hin. Interessant ist auch, wie die Besorgnis der Öffentlichkeit über zuverlässige Wahlergebnisse begonnen hat, die Wahlpraktiken zu beeinflussen. Anders als in den Vereinigten Staaten, wo Umfragen und vorläufige Ergebnisse bereits lange vor dem Ende der Stimmabgabe im ganzen Land veröffentlicht werden, gibt die mexikanische Wahlbehörde INE die Ergebnisse erst bekannt, nachdem alle Wahllokale im Land geschlossen haben. Jeder, der die Politik des Landes aufmerksam verfolgt, kann den Zeitplan für den Wahltag wie ein Uhrwerk zitieren: Die Wahllokale schließen um 18 Uhr, die ersten Schätzungen werden um 20 Uhr veröffentlicht, das erste Resultat wird gegen 22 Uhr verkündet. Die politischen Parteien, die sich der Bedenken bewusst sind, die dieses Verfahren hervorruft, haben entsprechend reagiert. Politische Analysten, die für Morena sind, merkten an, dass die Anwesenheit ausländischer Beobachter die Ergebnisse bestätigen und die Bedenken wegen Wahlbetrugs zerstreuen sollte – vielleicht, um sich gegen Anschuldigungen wegen Amtsmissbrauchs abzusichern, die die Opposition Morena lange vor dem 2. Juni vorwarf. Und obwohl Galvez geschworen hat, die Ergebnisse anzufechten, ist es äußerst unwahrscheinlich, dass sie gekippt werden. Die Ergebnisse selbst haben in einigen Kreisen Fragen darüber aufgeworfen, wie Sheinbaum regieren wird. Es ist weithin bekannt, dass sie ein politischer Protegé von López Obrador ist, und es gibt Bedenken, dass er hinter den Kulissen regieren wird. Diese Befürchtung mag albern erscheinen, denn Sheinbaum hat sich in der Politik hochgearbeitet, um Präsidentin zu werden, und Menschen, die so etwas tun, tun dies in der Regel nicht nur, um sich anderen unterzuordnen. In der Politik zählt jedoch der äußere Anschein, und er kann stark zur Wahrnehmung der Legitimität einer Führungspersönlichkeit beitragen. Wenn sie als verlängerter Arm des vorherigen Präsidenten angesehen wird, würde dies die Macht der neuen Staatschefin untergraben. Institutionell wird die neue Regierung im ganzen Land stärkere politische Unterstützung genießen als die vorherige Regierung. Die Regierungspartei Morena gewann die Gouverneursposten in 23 von 31 Bundesstaaten und in Mexiko-Stadt. Die Partei und ihre Bündnispartner werden voraussichtlich sowohl im Ober- als auch im Unterhaus des Parlaments die Mehrheit stellen. Die genaue Anzahl der Sitze pro Partei wird noch berechnet, aber die Regierungskoalition wird mindestens 346 Sitze im Unterhaus gewinnen – deutlich mehr als die 334 Sitze, die für eine absolute Mehrheit erforderlich sind – und wird voraussichtlich zwischen 76 und 88 Sitze im Oberhaus erlangen (85 Sitze sind für eine absolute Mehrheit erforderlich). So beeindruckend die Zugewinne von Morena auch sind, werfen sie doch eine existenzielle Frage für Mexiko auf. Einige der eher philosophischen Anhänger der Partei argumentieren, dass die Kluft zwischen Nord- und Südmexiko verschwindet. Das Argument lautet, dass von der Regierung unterstützte Projekte wie die Raffinerie Dos Bocas und das Maya-Zug-Projekt den Grundstein für eine weitere Entwicklung im Süden gelegt haben, die die historisch gesehen ärmeren Regionen näher an den Norden heranrücken lassen würde. Selbst wenn dies zuträfe, würde es länger dauern als eine einzige sechsjährige Amtszeit der Präsidentin, aber die Möglichkeit, dass Veränderungen dieses Ausmaßes im Gange sind, sollte nicht ignoriert werden, da sie die Art und Weise, wie Mexiko als Land agieren kann, und damit auch die Interaktion mit dem Rest der Welt grundlegend verändern würde. Das wirft natürlich die Frage auf, wie sich die neue Regierung auf Nordamerika auswirken wird, wenn überhaupt. Einige sind der Meinung, dass die Gefahr besteht, dass sie die Vereinigten Staaten verprellt. Sheinbaum hat jedoch angedeutet, dass sie versteht, dass die Beziehung zwischen den USA und Mexiko eine Ehe ist, in der eine Scheidung nicht in Frage kommt. Viele ihrer wichtigsten Berater in internationalen Angelegenheiten haben einen fundierten Hintergrund im Bereich Handel, waren in internationalen Organisationen wie den Vereinten Nationen tätig und haben enge Verbindungen zu gemäßigten US-Denkfabriken, was alles auf eine Neigung zur Zusammenarbeit mit den USA oder auf deren Kompatibilität schließen lässt. Während sich in den Vereinigten Staaten vielleicht nicht viel ändert, könnte Sheinbaums Regierung in Mittelamerika mehr Wirkung zeigen. So ist die Migration in Mexiko nach wie vor ein ebenso großes politisches Thema wie in den USA, wenn auch aus anderen Gründen. Es besteht ein großer Bedarf und politischer Wille, den Druck, der zur Migration aus Mittelamerika führt, zu mindern. Das mexikanische politische System scheint dynamischer zu werden und auf neue Wahlanliegen und Stimmen aus der Bevölkerung zu reagieren. Und die neue Regierung befindet sich in einer Position, in der sie in der Lage sein könnte, den Grundstein für eine dramatische Umgestaltung Mexikos zu legen. Wir können nicht sagen, ob sie erfolgreich sein, aber wir können sagen, dass es nicht langweilig sein wird. In Kooperation mit
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Allison Fedirka
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Die Regierung der neuen Präsidentin Claudia Sheinbaum könnte den Grundstein legen für eine dramatische Umgestaltung Mexikos. Vor allem die Migration aus Mittelamerika soll eingedämmt werden.
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"Mexiko",
"Migration",
"USA",
"Südamerika"
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außenpolitik
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2024-06-05T14:15:34+0200
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2024-06-05T14:15:34+0200
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https://www.cicero.de/aussenpolitik/wahlen-in-mexiko-sheinbaum-migration
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Kölner Madonnenstreit - Die falsche Muttergottes
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Dieser Text erschien zunächst in der Printausgabe des Cicero (April). Wenn Sie das monatlich erscheinende Magazin für politische Kultur kennenlernen wollen, können Sie hier ein Probeabo bestellen. Die Antwerpener Onze-Lieve-Vrouwe-Kathedraal ist eine Schatzkammer: Neben monumentalen Gemälden des Lokalhelden Peter Paul Rubens sind eine Überfülle von Bildern, Skulpturen in Holz und Stein, Farbfenstern, Wand- und Deckenmalereien, eine kostbar geschnitzte Kanzel, Beichtstühle und aufwendige Grabmäler zu bestaunen. Es ist eine Kunst, in der das Wuchtige dominiert. Doch es gibt eine stille Ausnahme. Sie steht am Rand des linken Seitenschiffs und misst vom Scheitel bis zur Sohle gerade mal 132 Zentimeter. Eine marmorne Mutter Gottes mit dem Jesuskind. Damit man sie nicht übersieht, macht draußen, im Fenster des Kirchen-Shops, ein riesiges Plakat auf die Statue aufmerksam. Die Antwerpener wissen, was sie an ihrer zarten Madonna haben. Als die japanische Stadt Kobe 1995 von einem Erdbeben heimgesucht wurde, schenkten die Bürger der Schelde-Metropole den Japanern eine Kopie „zur Erinnerung an die Opfer“. Laut Robert Didier handelt es sich um „eine der schönsten Madonnen des 14. Jahrhunderts“. Die ungezwungen-elegante Gottesmutter, der ihr Söhnchen spielerisch ins Gesicht langt, hat es dem Belgier angetan. Didier ist führende Autorität für die Werke der spätmittelalterlichen „maasländischen Schule“, zu deren Höhepunkten die Liebe Frau von Antwerpen zählt. Bis heute dient sie als Vorbild für zahlreiche Kopien. Im „Atelier de Moulage“, der königlichen Abgusswerkstatt zu Brüssel, kann jedermann für 1380 Euro eine Nachfertigung erwerben. Noch in jüngster Zeit haben sich zwei Liebhaber aus Deutschland in Brüssel Repliken gießen lassen. Abgesehen von den modernen Abgüssen kennt der Kunsthistoriker Didier eine Reihe Duplikate, die entstanden sind, nachdem die Antwerpener Schönheit 1864 auf einer Ausstellung in Mechelen Furore gemacht hatte. Nachbildungen stehen unter anderem im neugotischen Schloss Loppem bei Brügge, im südbelgischen Trappistenkloster Orval, in der Brüsseler Vorort-Kirche St. Paul, im Hôtel Adornes in Brügge, in Sankt Petersburg und Paris. Und im Kölner Schnütgen-Museum – das freilich die Abstammung seiner Marienkopie nicht wahrhaben will. Denn das Haus, das sich einer der kostbarsten Sammlungen mittelalterlicher Kunst rühmt, hat ein Vielfaches dessen gezahlt, was die Brüsseler Moulage-Werkstatt verlangt. Im Dezember 2008 ersteigerte Schnütgen beim Münchner Auktionshaus Hampel eine Nachbildung der Antwerpener Maria für 100.000 Euro plus 26.000 Euro Aufgeld inklusive Mehrwertsteuer. Für eine „bedeutende französische Steinmadonna des 14./15. Jahrhunderts“ (Auktionskatalog) war das ein Schnäppchen. Für ein neuzeitliches Doppel war es abenteuerlich. Dass die Kölner eine Kopie eingekauft haben, steht nicht nur für Didier außer Zweifel. Der Doyen der deutschen Madonnen-Forschung, der Berliner Robert Suckale, hat die Hampel-Figur in Augenschein genommen. Er ist sich sicher: „Es handelt sich um einen der Abgüsse, die man nach 1864 nach der Antwerpener Marmormadonna gegossen hat. Sie war nicht als Fälschung geplant, dazu ist sie erst durch den Handel geworden.“ Zwar hatten die mittelalterlichen Produzenten von Sakralkunst keine Bedenken, beliebte Heiligenfiguren oder -bilder zu serialisieren. Doch das Resultat war jeweils eine Ähnlichkeit; keine „dreidimensionale Fotokopie“. Verwechslung oder gar Fälschung waren nicht beabsichtigt. „Bei den monumentalen Skulpturen dieser Epoche sind keine zwei identischen Exemplare bekannt“, sagt Suckale. Auch der Kölner Kunsthistoriker und frühere Schnütgen-Mitarbeiter Reiner Dieckhoff, Verfasser eines Buches über „Kölner Madonnen“, schreibt: „Übereinstimmung (…) heißt nicht Kopie. Es gibt in dieser Zeit keine Statue, die bis ins Detail eine andere kopiert – immer springen Unterschiede ins Auge.“ Anschaffung und Aufstellung der Statue im Schnütgen-Museum seien daher „ein fortwährender Skandal. Da sind 130 000 Euro Steuergelder verbraten worden.“ Trotzdem haben das Schnütgen-Museum und das Kulturdezernat der Stadt keinen Versuch unternommen, den Deal rückgängig zu machen. Gestützt auf Materialgutachten, beharrt man auf der Echtheit der kölschen Marie – bis hin zu Spekulationen, sie sei älter als die Antwerpener Madonna, ja womöglich deren Vorlage. Wer beide Exemplare gesehen hat – die fein konturierte Antwerpener Marmor-Dame und ihr grobes Kölner Gegenstück –, wird das ausschließen. Die Zweifel an der Hampel-Madonna waren schon vor der Versteigerung aufgetaucht. Didier machte das Auktionshaus auf die Antwerpener Skulptur aufmerksam. Ohne Resonanz. Dieckhoff übermittelte die Vorbehalte – nach dem Ankauf, aber vor Ablauf der Rücktrittsfrist – vertraulich dem Kölner Kulturdezernenten Georg Quander. Auch das führte zu nichts. Stolz lud die Stadt im Mai 2009 zum Pressetermin ein und kündigte die Madonna mit der unverändert falschen Zuschreibung à la Hampel an, als „bedeutende französische Madonna aus feinem Kalksandstein“. Didier intervenierte nun bei der Schnütgen-Direktorin Hiltrud Westermann-Angerhausen, monierte die fehlerhafte Zuschreibung, verwies auf die zahlreichen Kopien der Antwerpener Madonna. Die Hampel-Maria sei vor der Münchener Auktion bereits in London und Paris angeboten, mangels nachweisbarer Echtheit aber nicht an den Mann gebracht worden. Schließlich erinnert Didier daran, dass Schnütgen selbst 1972 eine große Ausstellung „Rhein – Maas“ ausgerichtet habe, auf der die Antwerpener Skulptur zu sehen war. „Ich finde es ganz merkwürdig, dass die Schnütgen-Leute ihre eigenen Kataloge nicht angeschaut haben“, sagt der alte Herr heute. „Ich habe zu Frau Westermann-Angerhausen gesagt: Ihr habt doch das Original selbst ausgestellt!“ Die Lokalpresse berichtet über den Verdacht. Das Museum bleibt ungerührt: Natürlich kenne man die Antwerpener Madonna. Materialanalysen hätten aber ergeben, dass die Figur aus natürlichem Stein geschlagen sei und nicht abgegossen. Die Kritik sei entkräftet. In einem Schreiben an die Grünen-Stadträtin Barbara Moritz mokiert sich Kulturdezernent Georg Quander im September 2009 über „unhaltbare Fälschungsbehauptungen“ und verfügt ein Ende der Debatte: „Wir können und wollen auch angesichts der bevorstehenden wichtigen Aufgaben unsere Zeit nicht weiter mit einer solchen Auseinandersetzung vergeuden.“ Als der FAZ-Journalist Andreas Rossmann im Juni 2011 ausführlich über die „falsche Marie von Köln“ berichtet, schrecken die Verantwortlichen noch einmal hoch. Binnen Jahresfrist werde man ein wissenschaftliches Kolloquium abhalten, das letzte Klarheit schaffen werde. Auf dieses Großreinemachen wartete die Öffentlichkeit vergebens. Im vergangenen September teilte Georg Quander auf eine FDP-Anfrage mit, „das Verhältnis der Kölner Figur zu einer Reihe ähnlicher Madonnen“ bleibe „interessant“, doch könne das Museum „2012 leider kein Kolloquium zu dieser Spezialfrage ausrichten“. Die Vorgeschichte der Kölner Madonna liegt im Dunkeln. Zwar hat Georg Quander versichert, in den städtischen Museen werde „zur Kontrolle der Echtheit von Kunstobjekten (...) die Provenienz des jeweiligen Werkes als wichtiger Faktor einbezogen“. Bis heute hat Schnütgen aber lediglich mitgeteilt, die Skulptur habe sich „mehr als 40 Jahre in europäischem Privatbesitz“ befunden – für die Frage nach der Echtheit eine Null-Information. Das Haus Hampel mag sich unter Hinweis auf den Datenschutz nicht dazu äußern, in wessen Auftrag es die Statue seinerzeit versteigerte. Die Aussagekraft der Analysen, auf die sich das Museum stützt, ist begrenzt. Zwar kommen die Expertisen – teils an der Kölner Fachhochschule, teils in New York erstellt – anhand von Materialproben aus dem Sockel in der Tat zum Schluss, dass die Kölner Maria aus Naturstein bestehe. Indes könne man weder die Entstehungszeit noch den Herkunftsort angeben. Die Altersbestimmung sei „technisch leider nicht möglich“, erklärt das Museum. „Eine Herstellung der Kölner Madonna muss prinzipiell ebenso gut zeitgleich wie später oder eben auch früher anzunehmen sein als die Antwerpener Figur.“ Didier ist wenig beeindruckt: „Die Steinanalysen sind verwirrend – Qualm in wissenschaftlicher Form.“ Außerdem heiße „Naturstein“ noch lange nicht „echt“. Kopien lassen sich nicht nur per Abguss aus Gips oder – mitunter schwer nachweisbarem – Kunststein herstellen, sondern auch mit dem sogenannten Punktierverfahren aus Naturstein. So entstehen etwa von Michelangelos David immer wieder Repliken aus demselben Material wie das Original: Carrara-Marmor. Nach Ansicht von Robert Didier wäre die Kölner Figur dann noch nicht einmal eine direkte Kopie der Antwerpener Madonna, sondern abhängig von einem der Brüsseler Abgüsse. Die kunsthistorische Evidenz ist eindeutig. Da ist beispielsweise der „Knubbel“ unter dem rechten Fuß der Kölner Muttergottes. Sie steht auf einem unförmigen Materialklumpen, in den Kerben geritzt wurden, offenbar ein Versuch, eine Problemstelle der Gussform zu kaschieren. In Antwerpen steht die Gottesmutter auf einer fein gefältelten Gewandschlaufe, die zu ihrer vornehmen Erscheinung passt. Die Form in der Brüsseler Abgusswerkstatt weist hingegen an dieser Stelle ebenfalls eine Vereinfachung auf. Die echte Antwerpener Madonna hält in der rechten Hand einen Stiel mit einer Öffnung, die mit einer Masse verfüllt ist. Dort wurde ursprünglich eine Blume aus Metall oder Holz hineingesteckt. An der Hampel-Madonna ist der Stengel-Abschluss völlig verschliffen. Wie die vormalige Schnütgen-Direktorin Westermann-Angerhausen zutreffend feststellte: „Ein Abguss verrät sich immer.“ Das zielte auf Gussnähte ab – die sich freilich vollständig entfernen lassen. Aber so genau wollten die Kölner es gar nicht wissen. Wie sich ihre Maria zu den Gussformen der Brüsseler Moulage-Werkstatt verhält, scheint den Schnütgen-Kunsthistorikern keine Recherche vor Ort wert gewesen zu sein. Die Mitarbeiter des Atélier de Moulage können sich nicht an Besuch aus Köln erinnern. So treibt die peinliche Geschichte nicht auf die versprochene große Aufklärung zu, sondern auf ein Verdämmern durch abnehmende öffentliche Aufmerksamkeit. Westermann-Angerhausen hat das Schnütgen-Museum unterdessen verlassen, ebenso wie ihre seinerzeit federführenden wissenschaftlichen Mitarbeiter Dagmar Täube und Niklas Gliesmann. Der neue Schnütgen-Direktor Moritz Woelk kennt sich mit Fälschungen aus: Am Hessischen Landesmuseum in Darmstadt gelang ihm der Nachweis, dass eine vermeintlich aus dem 14. Jahrhundert stammende Skulptur in Wahrheit ein halbes Jahrtausend später aus Zement hergestellt worden war. Hinsichtlich der falschen Marie will er indes nichts weiter unternehmen. Georg Quanders Amtszeit endet im Mai. Dann droht aus dem Fehlgriff endgültig ein Dauerzustand zu werden. „So weit darf es nicht kommen“, sagt der Kölner Kunsthistoriker und Fälschungsexperte Hans Ost. Um Schaden von der Stadt abzuwenden, dürfe Quander nichts unversucht lassen, die fatale Anschaffung rückgängig zu machen.
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Rolf Schmidt
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Das Kölner Museum Schnütgen präsentiert seit 2009 eine falsche Madonna. Nun tritt der zuständige Kulturdezernent ab, ohne für Aufklärung gesorgt zu haben
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kultur
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2013-05-13T14:24:21+0200
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2013-05-13T14:24:21+0200
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https://www.cicero.de//kultur/die-falsche-muttergottes/54407
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Die Bücher-Kolumne: Braves, buntes Künstlervolk
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Julius Bab: „Die Berliner Boheme“; BiblioBazaar, Charleston 2009; 84 Seiten, 14,99 – 23,99 Euro
In Berlin gibt es heute nur noch Boheme. Alles andere hat das Tourismusamt verboten. Wer sich auf der Straße oder am Fenster zeigt, also von Touristen gesehen werden kann, darf auf keinen Fall spießig wirken. Die Stadt ist pleite, der Tourismus ist ihre einzige Überlebenschance, also muss jeder Bürger den Mythos Berlin mit am Leben erhalten – den Mythos der Stadt des buntscheckigen Künstlervolks. Wenn die Touristen schlafen, wirft das Künstlervolk sich wieder in seine Spießerklamotten und putzt die Klassenzimmer seiner Kinder in den öffentlichen Schulen. Dafür hat die Stadt kein Geld mehr. Im Jahr 1904 hat Julius Bab seine Studie über die Berliner Boheme veröffentlicht. Man kann sich den schmalen Band heute in schäbiger Ausstattung als Book on Demand schicken lassen, im Faksimile, zum grotesken Preis von 23,99 Euro. Mit einem völlig sinnfreien Foto auf dem Umschlag ist es neun Euro billiger. Freundlich überreicht von Menschen, die aus der Verachtung für das eigene Produkt ein Geschäft machen wollen. Bab behandelt die Berliner Boheme von der Romantik bis in seine Zeit. Da ist oft nicht viel los, immer wieder muss es ein paar Jahrzehnte lang ganz ohne gehen – kein Vergleich zu Paris! Aber wenn sich mal im Lokal „Lutter & Wegner“ am Gendarmenmarkt die beiden richtigen Säufer treffen, geht sofort die Post ab und Berlin ist Kulturstadt. Manchmal genügt es auch schon, dass Strindberg in Niederschönhausen auftaucht. Bab beruhigt das protestantische Bürgerherz, das in der Boheme „den wahren Sündenpfuhl, die Entfesselung aller bösen Lüste zu sehen meint“: „Wie alle Dinge dieser Welt, ist auch diese ‚Boheme‘ im Grunde eine verteufelt ernsthafte Sache.“ Kurz: Mit der Berliner Boheme verhält es sich hier wie mit dem Zahnarztbesuch aus der alten Zahnpastawerbung: Mutti, er hat gar nicht gebohrt! Der Rest sind Saufgelage. Michel Georges-Michel: „Die von Montparnasse“; Roman, aus dem Französischen von Marcus Seibert; Walde und Graf, Zürich 2010; 231 Seiten, 19,95 Euro
Aber Paris! Michel Georges-Michels Erfolgsroman aus den Zwanzigern, der jetzt nach fast 70 Jahren in einer wirklich schönen Ausgabe wieder auf Deutsch vorliegt, feiert die Unschuld und Vitalität der Pariser Großstadtboheme. Ein Schlüsselroman: Erzählt werden die letzten Jahre des großen Künstlers Amedeo Modigliani. Atemlos hetzt er durch Paris, auf der Suche nach ein paar Francs und der großen Liebe, im Kampf gegen herzlose Galeristen, Mäzene und Kritiker. Kein Künstlerklischee wird ausgelassen: Die großen Maler sind bettelarm, aber genial und tolle Liebhaber. Sie saufen zu viel und leben zu wüst, um morgens noch einen klaren Kopf für die notwendige Arbeit der Selbstvermarktung zu haben. Sie malen, ohne von der aberwitzigen Wertsteigerung ihrer Werke profitieren zu können. Hier wird ein klarer Blick auf die Ausbeutung in der Welt der Kunst geworfen. Aber keine Bitterkeit! Michel ist viel zu verliebt in den tollen Reigen reiner wilder Herzen. Die Reinheit erfüllt alles – die Kunst, die Liebe, den Rausch. Alles ein großer, paradiesischer Schöpfungsakt. Paris – ein Fest fürs Leben. Das Leben der Boheme war seit Urzeiten immer auch schon Lifestyle-Abklatsch und hat wahrscheinlich nie so viel ironiefreie Unschuld besessen wie bei Michel Georges-Michel. Aber schön ist dieser atemlose Kindertraum vom ursprünglichen Künstlertum natürlich trotzdem. Anja Schwanhäußer: „Kosmonauten des Underground: Enthnografie einer Berliner Szene“; Campus, Frankfurt/New York 2010; 333 Seiten, 34,90 Euro
Anja Schwanhäußers Arbeit „Kosmonauten des Underground“ ist eine akademische Studie über die Berliner Boheme als Massenphänomen. „Beforscht“ wird der „Techno-Underground“ der Nachwendezeit, dem die Stadtethnologin in den Nullerjahren ein paar Monate lang nachgestiegen ist. Diese Szene definiert in subversivem Hedonismus ungenutzte Räume in der Stadt neu: Jede Baulücke kann zur Partyzone werden. Nach der entwurzelt man sich wieder und zieht weiter. Tastend nähert sich die Autorin ihrem Gegenstand an. Die wissenschaftliche Arbeit wird dabei zu einem rührenden Roman über die „Romantik der Feldforschung“. Sie muss dabei sein wollen, aber man macht es ihr schwer, und es bleibt ihr nichts anderes übrig, als mit den Waffen einer Frau zu kämpfen: „Ich spekulierte erfolgreich darauf, dass populäre Gestalten der Szene wie DJs, Musiker oder Partyorganisatoren sich gerne mit Frauen umgeben, um (…) an der location durch einen expressiven Auftritt glänzen zu können.“ Die Methode verlangt, dass sie sich von Momenten „ergreifen“ lässt in „leiblichem Spüren“. Da lassen sich in der Forschertätigkeit gut eigene Sehnsüchte verstecken – nach dem wahren Sündenpfuhl etwa, oder der Entfesselung aller guten und bösen Lüste. Im Kapitel „Sex, Drugs und Melancholie“ legt die Ethnologin dann leider dar, dass für die Szene „Sex nur graduell weniger tabubeladen“ sei „als in der bürgerlichen Mainstream-Kultur“. Also wieder nichts! Also wieder, wie einst bei Bab, viel verteufelt ernsthafte Arbeit an der Entgrenzung – diesmal in Massen –, aber eben ohne der negativen Krampf-Extase-Ratio zu entkommen. Berlin bleibt doch Berlin. Rafael Horzon: „Das weiße Buch“; Suhrkamp, Berlin 2010; 216 Seiten, 15 Euro
Im Jahr 2010 schließlich ist der Berliner Bohemien ein Künstler, der sich als kapitalistischer Unternehmer inszeniert und bei Suhrkamp eine Festschrift drucken lässt. „Das weiße Buch“ ist ein famoser Schelmenroman aus jenen goldenen Jahren, als es im frisch wiedervereinigten Berlin genügte, einfach cool und dabei zu sein. Rafael Horzon taumelt durch das Schlaraffenland der Nachwende-Mitte, fährt Paketwagen der Post zu Schrott, gründet eine Galerie für gefälschte japanische Kunst, dann die Wissenschaftsakademie und den Regalladen „Möbel Horzon“ in der Torstraße – immer mit unfassbarem, in aller Unschuld erduldetem Erfolg. Es gibt keinen Satz ohne Ironie. Die Ironie wird so dick aufgetragen, dass man ihren Gebrauch schon selbst wieder als ironisch verstehen muss. Das über- und dadurch unironische Ende ist ein Dreizeiler, der die Sehnsucht aller Bohemiens aller Zeiten gültig zum Ausdruck bringt: „Ich fühle mich leicht. / Ich habe keine Angst. / Ich bin frei.“ Horzon hat sich alle bürgerlichen Zwänge wegironisiert. Text und beigefügte Dokumentarfotos belegen eine gewisse persönliche Nähe des Autors zu Christian Kracht. Und das Buch wirkt tatsächlich ein wenig wie die ganze Popliteratur: Vorn tobt ein unwiderstehliches Lausbubentum, und hinter der schönen Selbststilisierung gähnt eine gewisse Leere. Dennoch ein schöner weißer Schlussstein für die wilden Jahre von Berlin, die nun vorbei sind. Was bleibt, ist Deko für Touristen.
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Seit Jahrzehnten genießt die Boheme das Leben wie im Rausch. Scheinbar zwanglos begegnet sie den Normen des Alltags. Cicero-Bücherkolumnist Robin Detje hat sich mit dem Phänomen beschäftigt und hält vier Bücher über die Boheme in Berlin und anderswo für besonders empfehlenswert.
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kultur
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2010-10-28T00:00:00+0200
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2010-10-28T00:00:00+0200
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https://www.cicero.de//kultur/die-bucher-kolumne-braves-buntes-kunstlervolk/41306
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Tag der Einheit - Es knirscht im deutschen Gebälk
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Wolf Biermann und die „Scorpions“, Inklusion und Koexistenz: So sieht also der kleinste gemeinsame kulturelle Nenner der Bundesrepublik Deutschland aus. Nimmt man die zentrale Feier zum Tag der Deutschen Einheit in Hannover zum Maßstab, war es um die sogenannte Kulturnation schon besser bestellt. Die Staatsspitze feierte sich selbst (und ein wenig ihr Gemeinwesen) und ließ sich dazu einen derart elefantösen Stil-Kauderwelsch kredenzen, dass es schwer fällt, hier nicht chronische Konzentrationsschwäche bei fortgeschrittener Geschmacksverirrung zu diagnostizieren. Doch seien wir gerecht: Geredet wurde auch. Der niedersächsische Ministerpräsident bekannte, stolz zu sein – freilich nicht auf sein Land, sondern auf „diesen Staat“, denn „für diesen Staat lohnt es sich zu arbeiten.“ Nur Satiriker mögen einwenden, hier habe der Länderfinanzausgleich aus dem Präsidenten gesprochen. Der Beifall war lang. Stephan Weil zufolge ist der Staat ein Prinzipienreiter, und die Prinzipien hießen Toleranz, Respekt, Solidarität, Anerkennung von Leistung. Die Bundeskanzlerin erinnerte sodann, „Freiheit und Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und Weltoffenheit, Toleranz und Menschenrechte“ müssten immer wieder erkämpft werden. Das dürften die „Bürgerinnen und Bürger eines deutschen Staates“ nie vergessen, weshalb die Bundeswehr sich ebenso gegen den „Terror des IS“ stelle wie gegen Ebola. Vor Wolf Biermanns Lied „Lass dich nicht verhärten“ (1968) in einer Fassung für Jugendsymphonieorchester und vor dem Auftritt des 66-jährigen „Scorpions“-Sängers Klaus Meine – ohne ihn darf in Hannover kein Staatsakt stattfinden, gilt er doch seit dem nun mit Mädchenchor dargebotenen Schmachtfetzen „Wind of change“ von 1990 als Staats-, ja als Wiedervereinigungskünstler, zumindest in Hannover –, vor den beiden Zeitgenossen also erklang Felix Mendelssohn Bartholdys „Sommernachtstraum“. Dessen „Tanz der Rüpel“ setzte später den Haken unter die musikalischen Beiträge. Das Deutschlandlied gab die Coda, zur symphonischen Etüde aufgeblasen. Doch ob zu Biermann, zu Meine oder Mendelssohn: Nie genügte der Klang, nie genügte ein Bild. Es wurde verdoppelt und kommentiert, überblendet und angerissen und abgebrochen, was das Zeug hielt, wie zu den seligen Hochzeiten der Collage. Diese sind gut vierzig Jahre hier, in Hannover und zum nationalen Gedenken aber hinreichend aktuell. Auf von der Decke hängenden Leinwänden malte mal eine Hand Symbole der Republik zwischen Leipziger Bahnhof, Berliner Reichstag und Park Sanssouci, mal flatterte Kerzenlicht im Winde, mal erinnerten sich (in der Tat beeindruckende) Zeitzeugen. Alles war auf Zerstreuung abgestellt, auf Effekt und Überwältigung. Der Begriff war der Begriffe Feind, und sie flohen vor den Bildern. Das Orchester spielte forsch, eine Tanzgruppe tänzelte in Straßenkleidern vor sich hin, die Leinwände flimmerten, rechts außen in dieser, mittig in jener Weise. Die Eindrücke bereiteten einander den Tod, es war nur ein Gaffen möglich, kein Schauen, eine neue Ablenkung und keine Konzentration. Ein großes Vorbeihuschen war es. So endete der Ton-Bild-Text-und-Tanz-Tragelaph in der Affirmation des Bestehenden. Auf den Handinnenflächen junger Menschen stand zu lesen, was „Einigkeit“ und „Recht“ und „Freiheit“ anno 2014 bedeuten könnten – oder sollen oder müssen? „Koexistenz“ stand da, „fairen Lohn“, „mehr Hortplätze“, „Inklusion“ auch und „saubere Umwelt“ und „mehr Ferien“. Ein Land als Wünsch-Dir-Was der Junggebliebenen. Putzig und nett, sympathisch und harmlos. Es war der maximale Gegensatz zu Angela Merkels düsterer Zeitansage. Der Weltfriede ist bedroht, die Deutschen wünschen sich würzige Luft und weichere Betten. Es knirscht im Gebälk der Bundesrepublik. Auf der Hannoveraner Bühne wuchs schlecht zusammen, was nirgends zusammen gehört: Biederkeit und Kriegsgefahr. Ist die Kulturnation damit endgültig auf den Hund gekommen? Aber iwo doch. Es sollte nur eine Selbstaussage „dieses Staates“ sein. Forstsetzung folgt, nächstes Jahr in Frankfurt am Main. Gewiss mit Moses Pelham, Sabrina Setlur und vielleicht sogar – als Gruß aus Mannheim – Xavier Naidoo.
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Alexander Kissler
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Kisslers Konter: Auf der Feier zum Tag der Deutschen Einheit in Hannover wuchs zusammen, was nirgends zusammen gehört: Biederkeit und Kriegsgefahr. Dass man dies auch noch in eine Stil-Collage einbettete, die mindestens von fortgeschrittener Geschmacksverirrung zeugt, legt nahe, dass es um die sogenannte Kulturnation schon besser bestellt war
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kultur
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2014-10-07T10:25:41+0200
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2014-10-07T10:25:41+0200
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https://www.cicero.de//kultur/tag-der-einheit-es-knirscht-im-deutschen-gebaelk/58312
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Nordirland - Bringt der Brexit die Bomben zurück?
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Damian McGenity springt von seinem Traktor und hält sich nicht lange mit Formalitäten auf: „Wenn wir nicht in der Zollunion bleiben, dann wird es hier wieder eine harte Grenze geben“, sagt der Bauer. Er zeigt über die grünen Hügel seiner Heimat. McGenity ist Katholik, Nordire und deklarierter Brexitgegner. Kein Wunder, verläuft doch ein paar Meter südlich seines Kuhstalls die Grenze zur Republik Irland: „Ich kann mich noch gut an die ständigen Anschläge an den Grenzübergängen erinnern. Ich will nicht, dass meine Kinder so aufwachsen müssen.“ Es gibt 275 Straßen zwischen Irland und Nordirland. Das sind 275 Verbindungen zwischen den Nordiren und den Südiren. Oder 275 Schlagbäume an der Außengrenze der EU. Es wird auf das Ergebnis der Brexit-Verhandlungen ankommen, ob die grüne Grenze die Iren zusammenbringt oder trennt. Für das Grenzgebiet ist entscheidend, was in diesen Tagen von nordirischen Politikern in Belfast, der britischen Regierung in London, der irischen Regierung in Dublin und den EU-Staatschefs in Brüssel beschlossen wird. Beim Europäischen Gipfel am 15. Dezember in Brüssel soll Phase Eins der Brexit-Verhandlungen abgeschlossen werden, damit Großbritannien ab Januar mit der EU in Phase Zwei über die künftigen Handelsbeziehungen reden kann. Die Zeit drängt, denn das Vereinigte Königreich will im März 2019 die Europäische Union verlassen. Dazu gehört auch Nordirland, das von Irland durch die einzige Landgrenze zu EU-Gebiet getrennt ist. Von den drei Themen, die nach Wunsch der EU Phase Eins ausmachen, sind zwei bereits fast geklärt: Wie viel Geld Großbritannien zur Abgeltung für bereits eingegangene Verpflichtungen in Brüssel auf den Tisch legen muss; und welche Rechte den drei Millionen EU-Bürgern in Großbritannien nach dem Brexit garantiert werden. Beim dritten Punkt aber ist eine Einigung weit entfernt: Wie soll Nordirlands Grenze zu Irland nach dem Brexit aussehen? Irland und Großbritannien wollen auch in Zukunft eine offene Grenze. Das hängt mit der gewalttätigen Geschichte der Region zusammen. Nur mit äußerster Mühe konnte der Bürgerkrieg zwischen den mit Großbritannien loyalen Protestanten – den Unionisten – und den katholischen Iren – den Republikanern – vor fast zwanzig Jahren beigelegt werden. Seit der Unabhängigkeit Irlands 1922 hatte der Konflikt zwischen den beiden national-religiösen Gruppen geschwelt. Zwischen 1969 und 1998 war er durch die Anschläge paramilitärischer Organisationen – die katholische IRA und die protestantische UVF – zu einem blutigen Machtkampf geworden. 1998 legten alle Beteiligten die Waffen nieder. Unter dem britischen Premierminister Tony Blair schlossen sie das Belfaster Karfreitagsabkommen. Nur eine nordirische Partei verweigerte die Unterschrift: Die „Democratic Unionist Party“ (DUP). Den Unionisten war es zuwider, dass die Nordiren einen speziellen Status bekamen. Denn: „Es ist das Geburtsrecht aller Nordiren, sich als Iren oder Briten oder beides zu identifizieren”, heißt es im Karfreitagsabkommen, und weiter „…und demnach beide Pässe zu beanspruchen.“ Der Frieden wurde erst dadurch möglich, weil beide Teile des Landes Mitglied in der EU waren. Die Grenzposten zwischen Norden und Süden wurden abgeschafft, die Wachtürme umgelegt. Es gab für die „Irish Republican Army“ (IRA) keinen Grund mehr, unter die Bahnbrücken Bomben zu legen. Das aber könnte sich jetzt durch den Brexit ändern. „Die britische Politklasse benimmt sich völlig rücksichtslos“, wundert sich der irische Publizist Fintan O’Toole in Dublin. Leichtfertig setzten die Briten mit ihrem EU-Austritt den fragilen Frieden in Nordirland aufs Spiel: „Das Belfaster Abkommen ist die größte diplomatische Errungenschaft seit dem Zweiten Weltkrieg. Gerade das englische Establishment war ganz wichtiger und zentraler Teil des Friedensprozesses. Jetzt wirkt es so, als hätten sie einfach vergessen, welche Anstrengungen es gekostet hat, diesen gewalttätigen Konflikt beizulegen.“ Nicht nur deshalb ist der Brexit der Briten für die Iren ein Albtraum. Die irische Insel liegt westlich des Vereinigten Königreichs jetzt schon recht isoliert vom europäischen Kontinent. Wenn Großbritannien aus der EU austritt, muss der nördliche Teil der Insel mit austreten – obwohl eine Mehrheit der Nordiren für den Verbleib in der EU gestimmt hat. Irland fürchtet ob des EU-Austritts des immens wichtigen Handelspartners Großbritannien großen wirtschaftlichen Schaden. Wenn obendrein noch eine richtige EU-Außengrenze den nördlichen Inselteil abtrennte, wären die politischen Folgen desaströs. Deshalb hat der irische Premierminister Leo Varadkar die EU von Anfang an darauf eingeschworen, die Nordirland-Frage ganz zu Beginn der Brexit-Verhandlungen zu klären. Im Zentrum steht dabei der Wunsch Dublins, dass Nordirland seinen speziellen Status beibehält. Das heißt: Nordirland soll in der EU-Zollunion und im EU-Binnenmarkt bleiben, damit es keine Zollbeamten an der Grenze geben muss. Denn ein Grenzposten könnte neue Gewalt provozieren. Ein einziger Anschlag zöge bereits die Notwendigkeit von Grenzsoldaten zum Schutz der Beamten nach sich. Heute grasen entlang der grünen Grenze in aller Ruhe irische Kühe. Der einzig erkennbare Unterschied auf der Autobahn zwischen Süden und Norden ist, dass die Iren die Geschwindigkeitsbegrenzung in Kilometern und die Nordiren sie in Meilen angeben. Kaum vorzustellen, dass die Spirale der Gewalt sich hier wieder drehen könnte. Doch ein Besuch in Belfast reicht, um die Fragilität der Lage zu begreifen. Im protestantischen Bezirk Shankill leuchten frisch gemalte Wandfresken in ehrenvoller Erinnerung an die loyalistischen Kämpfer, die nebenan im katholischen Falls Road schlicht als Mörder gelten. Umgekehrt sind die unzähligen Attentate der IRA bei den britannientreuen Protestanten unvergessen. Viele Taxifahrer weigern sich bis heute, in den gegnerischen Stadtteil zu fahren. Obwohl die Tore in der sogenannten „Friedensmauer“ heute offen bleiben. Zu Zeiten der „Troubles“ von 1969 bis 1998 wurden die Durchfahrstraßen in der Trennwand von Freitagabend bis Sonntag einfach geschlossen, damit die vom Feierabend-Bier aufgeputschten Horden nicht aufeinander losgehen konnten. Auch in der politischen Klasse ist der Konflikt noch vorhanden. Seit einem Jahr gibt es keine Regierung in Stormont, dem Regionalparlament Nordirlands. Die Konsensregierung zwischen der katholischen Sinn Féin und der protestantischen DUP brach im Januar zusammen, die Fronten sind verhärtet. Die bisherige Regierungschefin und DUP-Chefin Arlene Foster hat bisher keine neue Regierung zustandegebracht. Dafür spielt sie neuerdings im britischen Parlament in Westminster eine wichtige Rolle. Seit Theresa May bei vorgezogenen britischen Parlamentswahlen im Juni 2017 die absolute Mehrheit der Tory-Partei verspielt hat, sind Fosters zehn erzreaktionäre DUP-Abgeordnete in Westminster das Zünglein an der Waage geworden. Ohne die Unterstützung der DUP könnte Theresa May politisch nicht überleben. Arlene Foster war es nun auch, die Theresa May am Montag dieser Woche aus Brüssel zurückpfiff. Die DUP will nicht zustimmen, dass Nordirland einen Sonderstatus bekommt und sich „weiterhin an die EU-Regeln anpasst“, wie britische und EU-Verhandler geplant hatten. Die einzige Chance, die Grenze offenzulassen, bestünde aber, wenn Nordirland mindestens de facto Teil der Zollunion bleiben kann. Die schwache britische Regierungschefin versucht jetzt, einen Kompromiss mit der widerspenstigen Nordirin zu finden. Brexit-Minister David Davis deutete am Dienstag an, die fortgesetzte Anpassung an das EU-Regelwerk könnte am Ende für das gesamte Vereinigte Königreich gelten. Somit könnte die Nordirland-Krise das ganze Land sogar noch Richtung „sanften“ Brexit treiben. Doch Arlene Foster hält standhaft an ihrem Widerstand gegen eine nordirische Sonderregelung fest. Offenbar auch für den Preis, dass der teuer erkämpfte Frieden in Nordirland gefährdet ist. Diese historische Blindheit erbost Seán McAuley. Der nordirische Bauer in vierter Generation kann sich noch gut daran erinnern, dass sein Onkel, als er Zigaretten kaufen ging, erschossen wurde. Einfach weil er Katholik war, erzählt McAuley: „Wir können uns nicht in die dunklen Zeiten der Troubles zurückbewegen.“ William Taylor sitzt neben ihm in der Bar des Dunsilly Hotels, eine halbe Autostunde nördlich von Belfast, und nickt zustimmend. Taylor ist Protestant. Die beiden haben sich in der Aktivistengruppe „Farmers for Action“ angefreundet. „Der Brexit ist eine Katastrophe für uns alle“, sagt Taylor. Zehntausende Arbeitsplätze stünden auf dem Spiel, vor allem in der Landwirtschaft, die von der protektionistischen EU-Agrarpolitik profitiert habe. „Wenn wir den Brexit schon nicht verhindern können, müssen wir uns zumindest für eine möglichst enge Beziehung zur EU einsetzen. Sonst steht der Friede in Nordirland auf dem Spiel.“
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Tessa Szyszkowitz
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Das Friedensabkommen in Nordirland war nur möglich, weil alle beteiligten Länder Teil der EU waren. Nun könnte der Brexit den lange schwelenden Konflikt zwischen Katholiken und Protestanten wieder eskalieren lassen
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"IRA"
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außenpolitik
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2017-12-06T09:11:04+0100
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2017-12-06T09:11:04+0100
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https://www.cicero.de/aussenpolitik/Nordirland-Brexit-Theresa-May-Arlene-Foster-IRA
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USA: Ex-Präsident George W. Bush malt - Der Pinsel des Präsidenten
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In einer Szene in Woody Allens „Vicky Christina Barcelona“ stellt der geheimnisvolle Maler (Javier Bardem) der amerikanischen Studentin (Scarlett Johansson) seinen Vater vor, einen alten Dichter, der zurückgezogen in einem idyllischen Landhaus irgendwo in Spanien lebt. Als die Studentin sich erkundigt, ob er seine Gedichte veröffentliche, winkt der Sohn ab: Der Vater schreibe nur für sich; die Welt sei seiner Poesie nicht würdig. Ob George W. Bush die romantische Weltverachtung des alten Dichters teilte? Allem Anschein nach hatte der ehemalige US-Präsident jedenfalls nicht vor, die Früchte seines künstlerischen Schaffens öffentlich vorzustellen. Dass wir die Fotos zweier Gemälde, die Bush angeblich gemalt hat, dennoch ansehen können, ist einem unerschrockenen Hacker zu verdanken. Der hat einen Beutezug durch die privaten E-Mail-Konten der Präsidentenfamilie unternommen. Was er dort vorgefunden hat, ist eigentlich relativ öde. Zwei Bilder sind es; das erste zeigt einen Mann unter der Dusche, das zweite ein Paar Beine in der Badewanne. Nichts im Vergleich zu gewissen Mails deutscher Politiker, die auch schon mal ein Foto ihres Geschlechtsteils durchs Netz jagen. Aber da es sich hierbei um einen ehemaligen US-Präsidenten handelt, hat die Veröffentlichung der Bilder doch ein beachtliches Medienecho provoziert. [gallery:Barack Obama – Bilder aus dem Leben des mächtigsten Mannes der Welt] Auffällig ist in beiden Gemälden das zentrale Motiv des Wassers und der Reinigung. Welche Bedeutung könnten sie haben für Bush, den wiedergeborenen Christen, der einen ungerechtfertigten Krieg begann? Sind die Gemälde Teil einer Serie? Orientiert der 43. Präsident der Vereinigten Staaten sich an bestimmten Vorbildern – Frida Kahlo etwa, oder David Hockney? Der Spekulationen sind viele, und es werden immer mehr. Was der Maler im Sinn hatte, wissen wir nicht. Streng genommen wissen wir nicht einmal, ob die Gemälde tatsächlich von Bush stammen; bestätigt wurde das jedenfalls nicht. Immerhin hat das Time Magazin mittlerweile herausgefunden, dass der Ex-Präsident in seiner Freizeit tatsächlich hin und wieder malt: So soll er seinen verstorbenen Hund Barney porträtiert haben. Unabhängig vom Inhalt der Bush-Gemälde beweist die Story aber einmal mehr, wie viel Spaß die Auseinandersetzung mit den künstlerischen Arbeiten ehemaliger Politiker bereitet. Das gilt zum Beispiel auch für den ehemaligen kalifornischen Gouverneur Arnold Schwarzenegger, der zurzeit wieder in martialischer Pose von den Litfaßsäulen grimmt. „Seine Stadt. Sein Gesetz“, lautet der markige Werbespruch für seinen Streifen – und lädt zu polemischen Verweisen auf seine Amtszeit geradezu ein. Und es gilt auch für den ehemaligen französischen Präsidenten Valery Giscard d’Estaing, der für einen kleinen Eklat sorgte, als er in seinem Roman „Le Passage“ eine flüchtige Affäre mit Prinzessin Diana andeutete. Hier der Muskelprotz, gewohnt, mit der Waffe in der Hand Fakten zu schaffen, da der libertäre Feingeist, kokettierend mit angeblichen Liebeleien. Und jetzt der Cowboypräsident, der sich selbst unter der Dusche porträtiert, nackt, schutzlos. Möchte er sich von seinen Sünden reinwaschen oder – naja – duscht er einfach gerne? Soll ja vorkommen. Während die Interpretatoren der vermeintlichen Bush-Werke sich die Finger wund schreiben, verlassen wir uns auf einen, der es schon immer besser wusste: „Die Kunst“, bemerkt Oscar Wilde, „spiegelt in Wahrheit den Betrachter und nicht das Leben.“
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Christophe Braun
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Zwei vermeintliche Gemälde George W. Bushs geben Anlass zu vielfältigen Deutungen
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kultur
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2013-02-11T13:14:33+0100
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2013-02-11T13:14:33+0100
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https://www.cicero.de//kultur/george-w-bush-malt-der-pinsel-des-praesidenten/53479
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Islamischer Staat - Kinderopfer für das Kalifat
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Die irakische Stadt Kirkuk erlebte am Sonntagabend dramatische Momente. Der schlaksige Halbwüchsige im Trikot des Barcelona-Stars Lionel Messi fiel kurdischen Polizisten auf, weil er bei der Kontrolle plötzlich anfing zu schluchzen. Unter seinem T-Shirt steckte ein weißer Sprengstoffgürtel. Zwei Uniformierte hielten den Jungen sofort an seinen Armen fest und holten Peschmerga-Spezialisten zu Hilfe. Die schnitten mit einer Zange Kabel und Halterungen durch. Als der Gürtel zu Boden fiel, zerrten die Männer den Jungen schnell weg von dem Mordinstrument, während Schaulustige und Ladenbesitzer erleichtert applaudierten. Mit verstörtem Blick starrte der Teenager in die Nacht, sein Barcelona-Shirt mit der gelben Nummer 10 lag zerrissen auf dem Asphalt. Dann schoben ihn die Beamten in einen Polizeiwagen, wo der Kleine mit bloßem Oberkörper erneut anfing zu weinen, und fuhren davon. Bislang hüllen sich die kurdischen Behörden in Schweigen über die Hintergründe des verhinderten Attentates, wer den Jungen präpariert und geschickt hat und wo genau er sich in die Luft sprengen sollte. Anwohner vermuten, dass er die Bombe während des Abendgebetes in einer nahe gelegenen schiitischen Moschee zünden wollte. Und vieles deutet darauf hin, dass der „Islamische Staat“ dahinter steckt. Der rechtzeitig entschärfte Sprengstoffgürtel wurde später an einem sicheren Ort gezündet. Für einige Sekunden erhellte ein greller Blitz die nächtlichen Straßen und demonstrierte den Bewohnern, wie knapp ihre Stadt einem Massaker entkommen war. „Der Islamische Staat mobilisiert Kinder und Jugendliche in einem wachsenden und beispiellosen Maße“, urteilt die bisher einzige Studie zu dem Thema, die von der „Georgia State University“ in Atlanta erarbeitet wurde. Dazu werten drei Forscher insgesamt 89 Twitterfotos und -videos aus, auf denen zwischen Januar 2015 und Januar 2016 Kinder und Jugendliche im Alter zwischen acht und 18 Jahren als sogenannte IS-Märtyrer gefeiert werden. Etwa 40 Prozent ihrer Gewalttaten sind Selbstmordattentate mit Dynamit gefüllten Autos. 33 Prozent der Halbwüchsigen starben als Kämpfer auf dem Schlachtfeld, 18 Prozent nahmen an sogenannten Inghimasis-Operationen teil, bei denen Gruppen von Kämpfern mit leichten Waffen hinter die Linien ihrer Gegner einsickern und sich dann gemeinsam in die Luft sprengen. Die weit überwiegende Zahl der dokumentierten Kinder-Attentate richtete sich gegen Polizisten, Soldaten oder Milizionäre. Lediglich in drei Prozent der Fälle sprengten sich Jugendliche inmitten von Zivilisten in die Luft. Solche Aktionen sind „eine sehr effektive Form von psychologischer Kriegsführung“, urteilen die Wissenschaftler, die mit zunehmenden IS-Einsätzen von Minderjährigen rechnen. Denn der Zustrom ausländischer Dschihadisten über die Türkei ging in den letzten Monaten stark zurück. Zudem wurde die Zahl der Kämpfer durch permanente Luftangriffe sowie eine Serie von militärischen Niederlagen spürbar dezimiert – in Fallujah, Ramadi und Sinjar auf irakischer Seite sowie in Manbij und Palmyra auf syrischer Seite. Nach Angaben des US-Oberkommandos im Nahen Osten verfügt der IS in Syrien und Irak noch über 15.000 bis 20.000 Bewaffnete, deren Kampfkraft jedoch spürbar nachgelassen hat. Zehntausende Heranwachsende werden seit Mitte 2014 in den Schulen des „Islamischen Kalifates“ indoktriniert. Die Schulbücher, die Hass und Verachtung für Andersgläubige lehren, stammen fast alle aus Saudi-Arabien. Obendrein entwickelte der IS eine spezielle LernApp, die den „Jungen des Kalifats“ das arabische Alphabet auf Dschihadistenmanier beibringen soll. Jeder Buchstabe ist als Merkhilfe verknüpft mit dem Bild von Panzern, Gewehren, Granaten, Minen oder Schwertern. Mit dieser diabolischen Praxis steht der „Islamische Staat“ im Nahen und Mittleren Osten keineswegs allein. Auch die Taliban in Pakistan unterhalten Anstalten, in denen sie minderjährige Selbstmordattentäter ausbilden. Die Houthis im Jemen setzen Kinder als Soldaten ein, die libanesische Hisbollah rekrutiert Jugendliche, um die Verluste auf dem syrischen Schlachtfeld auszugleichen. Keine der radikalen Organisationen jedoch setzt Kinder und Jugendliche so schockierend und bewusst zu Propagandazwecken ein wie der „Islamische Staat“. So zeigt inzwischen eine Fülle von Videos maskierte Kinder oder Teenager, die vor ihnen kniende Soldaten oder angeblich enttarnte Spione per Kopfschuss hinrichten. Und um den Schrecken noch zu steigern, wurden kürzlich in einem neuen IS-Propagandastreifen 1400 jesidische Kinder vorgeführt, die angeblich zu Selbstmordattentätern ausgebildet werden sollen, das jüngste gerade einmal fünf Jahre alt. Denn immer noch befinden sich rund 3800 Jesiden in der Hand der Gotteskrieger, lediglich 2600 konnten bisher freigekauft werden. Täglich kommen Menschen aus der IS-Sklaverei zurück, berichtet Baba Cawis, der religiöse Wächter des jesidischen Heiligtums im nordirakischen Lalisch. Der gefangene Nachwuchs seiner religiösen Minderheit ist jetzt bereits zwei Jahre der IS-Gehirnwäsche ausgesetzt. „Die Leute hier haben inzwischen Angst vor den eigenen Kindern, dass sie genauso gewalttätig werden wie der IS“, sagt er. „Denn Kinder – die sind wie ein weißes Buch.“
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Martin Gehlen
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Im irakischen Kirkuk ist am Sonntag ein Selbstmordanschlag in letzter Sekunde verhindert worden. Den Sprengstoffgürtel trug ein Jugendlicher, der vom „Islamischen Staat“ geschickt worden sein soll. Weil der Zustrom ausländischer Dschihadisten weitgehend versiegt ist, rekrutiert der IS zunehmend Kinder
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außenpolitik
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2016-08-22T16:33:58+0200
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2016-08-22T16:33:58+0200
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https://www.cicero.de//aussenpolitik/islamischer-staat-kinderopfer-fuer-das-kalifat
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Neuer russischer Befehlshaber für die Ukraine - Der Experte für Massenmord
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Alexander Dwornikow ist im Westen kein wirklich bekannter Name, aber das könnte sich bald ändern. Denn er ist der russische General, den Präsident Wladimir Putin nun mit der Kriegsführung in der Ukraine betraut hat, nachdem diese für Moskau bisher enttäuschend verlaufen war. Dwornikow wird das „Retten“ der russischen Militärkampagne in Syrien zugeschrieben, und der Kreml hofft, dass er seine Erfolge in Europa wiederholen kann. In Syrien war Dwornikow bewusst, dass Russland gegen eine zerstreute Infanterietruppe kämpft, die enge Verbindungen zur Bevölkerung in den Gebieten hatte, wo die Kämpfe stattfanden. Also begann er einen Krieg gegen die Bevölkerung und konzentrierte seine Ressourcen nicht auf die Kämpfer selbst, sondern auf deren Freunde und Familien. Er wollte sie in Angst und Schrecken versetzen und so dazu bewegen, den Krieg zu beenden. Weniger abstrakt ausgedrückt: Dwornikow führte einen Massenmord durch – eine kalkulierte Maßnahme, um russische Soldatenleben zu retten und andere Bevölkerungsgruppen einzuschüchtern und dazu zu bringen, sich aus dem Kampf herauszuhalten. Putin ernannte ihn aufgrund seines Rufs und seiner Fähigkeit, zu befehlen und zu massakrieren. Syrien und die Ukraine unterscheiden sich aber in einem entscheidenden Punkt: Die Syrer hatten keine nennenswerte Unterstützung von außen. Die Ukrainer hingegen haben die Nato. Bislang hat sich die Nato an einem Wirtschaftskrieg gegen Russland beteiligt und die Ukrainer mit Waffen versorgt. Zu einer direkten, offenen Intervention in größerem Umfang ist sie nicht übergegangen. Mit Dwornikow könnte sich das ändern. Die Nato-Mitglieder haben zwar deutlich gemacht, dass sie nicht direkt eingreifen werden, aber mit der Zunahme der Gräueltaten würde der Handlungsdruck zunehmen. Die Öffentlichkeit der meisten Nato-Staaten lehnt ein Eingreifen ab, aber es bedarf wohl nur einiger weniger Butschas mehr, um ihre Haltung zu ändern. Und die Vereinigten Staaten selbst sind nie weit weg. Die Ernennung von Dwornikow als Retter in der Not ist eine Art Stoßgebet. Aber das geht an der Sache vorbei. Denn selbst wenn Dwornikows Brutalität die Ukraine irgendwie befrieden kann, wird sie den Rest der Welt davon überzeugen, die Sanktionen aufrechtzuerhalten und damit ihre lähmenden wirtschaftlichen Auswirkungen zu institutionalisieren. Der Wirtschaftskrieg wird von einer massiven globalen Koalition geführt. Russland war vor dem Krieg wirtschaftlich kaum robust, und jetzt kursieren Einschätzungen, wonach das russische Bruttoinlandsprodukt um bis zu 50 Prozent geschrumpft sein könnte. Das mag übertrieben sein, doch steht außer Frage, dass die Lage schlecht ist. Ein „Sieg“ Russlands in der Ukraine würde dieses Problem nicht lösen. Wenn überhaupt, könnte es das Problem eher noch verschärfen. Mit Dwornikow als Feldherr in der Ukraine muss Russland von einem einzigen Stoßgebet also wohl zu einem zweiten, größeren übergehen. Die einzige Möglichkeit, sowohl in der Ukraine zu gewinnen als auch sich von den Sanktionen zu befreien, besteht darin, eine Grundlage für Verhandlungen und gegenseitige Zugeständnisse zu schaffen. Dazu muss Russland etwas haben, womit es den Westen dazu bringen kann, sein Sanktionsregime aufzugeben – das heißt, es muss etwas zum Tauschen haben. Moskau kann keine gleichwertigen Sanktionen verhängen und auch keine öffentliche Sympathie für Russland wecken. So bleibt ihm nur eine Möglichkeit: die Bedrohung der westlichen Volkswirtschaften durch die Gefährdung des Handelssystems. Dies erfordert wiederum eine militärische Lösung. Russland verfügt über mehr als 20 U-Boote der Kilo-Klasse: dieselbetriebene U-Boote, die nicht die Reichweite und Ausdauer von atombetriebenen U-Booten haben, aber sowohl Torpedos als auch Marschflugkörper mit sich führen können. Was bedeutet, dass sie aus großer Entfernung zu handeln in der Lage sind. Es gibt eine Reihe von Engpässen, die für den Westen von entscheidender Bedeutung sind: Die Meerenge von Dänemark, die Straße von Gibraltar und der Golf von Mexiko sind nur einige davon. Ein Warnschuss an einer dieser Stellen würde den Handel zum Erliegen bringen und die Versicherungsprämien in die Höhe treiben. Die Unsicherheit würde den globalen Handel bedrohen. Natürlich wäre dies die ultimative Maßnahme. Aber ich führe sie deshalb an, weil es aus meiner Sicht ein Hauptanliegen jeder feindlichen Nation ist, ihre Verhandlungsposition mit den USA (oder einer anderen Handelsnation) zu verbessern. In den meisten Fällen ist dies eine zweifelhafte Strategie. Auch hier wäre sie zweifelhaft. Russlands Ziel mag es sein, in der Ukraine zu gewinnen, aber das wird sein grundlegendes Problem nicht lösen. Wirtschaftliche Verhandlungen kann es nur mit Druckmitteln erreichen, und im Moment hat es wenige wirtschaftliche Druckmittel. Die einzige mögliche Lösung besteht also darin, auf militärische Druckmittel zurückzugreifen. Angesichts der Macht der US- und der Nato-Marine ist dies eine aussichtslose Hoffnung, aber das gilt auch für die Ernennung von Dwornikow. Für Russland sinkt die Zahl der Optionen. Ich glaube, dass Putin letztlich um sein politisches Leben kämpft, und das macht ihn offen für Verzweiflungstaten. Da er nicht stillschweigend seinen Posten räumen wird, wäre dies ein riskanter und radikaler Schritt. Aber er scheint solche Schritte im Moment zu bevorzugen – vielleicht aus gutem Grund. In Kooperation mit
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George Friedman
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Der russische General Alexander Dwornikow wurde von Wladimir Putin nun mit der Kriegsführung in der Ukraine betraut. In Syrien führte Dwornikow einen Massenmord durch – eine kalkulierte Maßnahme, um die Bevölkerung einzuschüchtern. Seine Ernennung wirkt wie eine Verzweiflungstat Moskaus. Und lässt darauf schließen, dass weitere Verzweiflungstaten folgen könnten.
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außenpolitik
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2022-04-12T13:39:50+0200
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2022-04-12T13:39:50+0200
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https://www.cicero.de//aussenpolitik/neuer-russischer-befehlshaber-alexander-dwornikow-ukraine-massenmord
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Streit um Finanzierung - Länder fordern Bund zum Handeln beim Deutschlandticket auf
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Die Verkehrsminister der Länder fordern den Bund beim Deutschlandticket zum Handeln bei Finanzierungsfragen auf. Das geht aus einem der Deutschen Presse-Agentur vorliegenden Beschlusspapier der Verkehrsministerkonferenz in Münster von Donnerstag hervor. In dem Papier heißt es, eine von Kanzler Olaf Scholz und den Ländern im November vereinbarte Übertragung von im Jahr 2023 nicht in Anspruch genommenen Mitteln auf das Jahr 2024 sei zwingende Voraussetzung, dass der Preis von monatlich 49 Euro dieses Jahr stabil bleibe. Der Bund solle unverzüglich eine dazu erforderliche Änderung des Regionalisierungsgesetzes vornehmen. Die sogenannte Überjährigkeit der Mittel solle auf den Zeitraum 2023 bis 2025 ausgedehnt werden. Zudem wollen die Verkehrsminister laut Papier «rechtzeitig“ in der zweiten Jahreshälfte einen Ticketpreis für das Jahr 2025 festlegen - auf Grundlage der Entwicklung und Prognosen zu den Verkaufszahlen, der Kostenentwicklung und damit des Zuschussbedarfs. Geplant ist dazu eine Sonder-Verkehrsministerkonferenz, wie es in Länderkreisen hieß. Möglich ist, dass der Ticketpreis von 2025 an steigt. Im Papier heißt es weiter, für die Folgejahre seien „Mechanismen zur transparenten Preisbildung“ zu entwickeln. Das Deutschlandticket für derzeit 49 Euro im Monat kann seit dem 1. Mai 2023 bundesweit im Nah- und Regionalverkehr genutzt werden. Gut elf Millionen Tickets wurden zuletzt monatlich verkauft. Das Geld von Bund und Ländern wird benötigt, um Einnahmeausfälle bei Verkehrsbetrieben durch den im Vergleich zu früheren Angeboten günstigen Fahrschein auszugleichen. Laut Regionalisierungsgesetz zahlt der Bund bis 2025 im Jahr 1,5 Milliarden Euro – ebenso wie die Länder insgesamt. Über die Verteilung der Kosten wurde in den vergangenen Monaten immer wieder hart gerungen. Die Länder pochen außerdem auf Fortschritte bei einem geplanten „Ausbau- und Modernisierungspakt“ für den ÖPNV und erwarten dazu Vorschläge des Bundes, wie aus einem weiteren Beschlusspapier hervorgeht. Auf Rückenwind bei den Ländern stieß ein Vorschlag von Bundesverkehrsminister Volker Wissing (FDP) über einen milliardenschweren „Infrastrukturfonds“, in dem Finanzmittel für Schienen, Straßen und Wasserwege für mehrere Jahre gebündelt werden sollen. dpa
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Cicero-Redaktion
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Bund und Länder ringen um die Finanzierung des Deutschlandtickets. Jetzt erhöhen die Verkehrsminister den Druck auf die Bundesregierung.
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innenpolitik
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2024-04-18T12:45:29+0200
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https://www.cicero.de//innenpolititik/deutschlandticket-finanzierung
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Helmut Newton – Von Bikinizonen bis Pferdebäuchen
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Text…
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Die Ausstellung „Helmut Newton: World without Men / Archives de Nuit - François-Marie Banier: Porträts” zeigt Bilder aus zwei Serien des Fotografen sowie Porträts von François-Marie Banier. Cicero Online zeigt eine Auswahl der ausgestellten Arbeiten
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kultur
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2012-12-07T11:48:12+0100
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2012-12-07T11:48:12+0100
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https://www.cicero.de//kultur/eine-welt-ohne-maenner/52799
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Ukrainekrieg - Trumps schwieriger Weg zu einer Entspannung mit Moskau
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Die Kriege in der Ukraine und im Nahen Osten sind miteinander verbunden – zumindest in den Bemühungen der USA, sie zu lösen. In vielerlei Hinsicht erstreckt sich jetzt ein zusammenhängender Gürtel der Zerrüttung vom Schwarzen Meer bis zum Arabischen Meer. Die Trump-Administration strebt ein Abkommen mit Russland an, um die Stabilität in dieser unbeständigen Landschaft wiederherzustellen, aber der Erfolg ist angesichts der vielen konkurrierenden Akteure im Nahen Osten ungewiss. Der Bericht des Weißen Hauses über ein 90-minütiges Telefonat zwischen US-Präsident Donald Trump und dem russischen Präsidenten Wladimir Putin unterstreicht die Verbindung zwischen der Ukraine und dem Nahen Osten. Die beiden Staatsoberhäupter kamen überein, dass Moskau und Kiew die Angriffe auf die Energie- und Infrastruktur des jeweils anderen Landes unverzüglich einstellen werden. Sie vereinbarten auch, dass bei den bevorstehenden Gesprächen im Nahen Osten ein Waffenstillstand im Schwarzen Meer sowie ein vollständiger Waffenstillstand und ein dauerhafter Frieden angestrebt werden sollen. In dem Kommuniqué heißt es außerdem, dass Trump und Putin die Zusammenarbeit zur Verhinderung künftiger Konflikte im Nahen Osten und die Notwendigkeit, die Verbreitung strategischer Waffen zu stoppen, umfassend erörterten. Schließlich hieß es, beide Führer „teilten die Ansicht, dass der Iran niemals in der Lage sein sollte, Israel zu zerstören“. Washington hofft, dass Moskau den Iran im Rahmen einer umfassenderen Abmachung zu Verhandlungen drängen wird. Russland hat seine Bereitschaft zur Zusammenarbeit signalisiert, wird aber ernsthafte Zugeständnisse in Bezug auf die Ukraine verlangen. Die russische Beteiligung ist entscheidend. Russland ist nicht nur ein Verbündeter des Irans, sondern hat sich in seinem Krieg gegen die Ukraine, der sich nun schon im vierten Jahr befindet, auch bei der Beschaffung von Drohnen und Raketen auf Teheran verlassen. Die Politik des „maximalen Drucks“ der Trump-Administration gegenüber dem Iran kann ohne russische Kooperation nicht erfolgreich sein. Dieser Ansatz ist nicht neu. Die Obama-Regierung hat 2012 durch die Zusammenarbeit mit Moskau lähmende Sanktionen gegen den Iran durchgesetzt, was zum Atomabkommen von 2015 führte, das später von Trump in seiner ersten Amtszeit aufgekündigt wurde. Doch die aktuelle Situation ist anders. Der Russland-Ukraine-Krieg hat die globale Dynamik verschoben und Trumps Vorstoß für ein neues außenpolitisches Paradigma erschwert, bei dem regionale Verbündete mehr Verantwortung für die regionale Sicherheit übernehmen. Trumps Ziel der Entspannung mit Russland wird Zeit brauchen und ist mit einem tiefen Vertrauensdefizit verbunden, das bis zum Zusammenbruch der Sowjetunion zurückreicht. Moskau sieht wenig Grund, den Iran in seinen Beziehungen zu Washington nicht mehr zu benutzen. Jede Zusammenarbeit wird taktischer Natur sein. Gleichzeitig will Russland nicht, dass der Iran in den Besitz von Atomwaffen gelangt, und Moskau muss auch in Betracht ziehen, dass der Iran durch die Aufhebung der Sanktionen zu einem Konkurrenten an seiner Südflanke werden könnte. Schließlich wurden die heutigen Nordgrenzen des Irans festgelegt, als das Russische Reich im 19. Jahrhundert persische Gebiete im Kaukasus und in Zentralasien eroberte. Daher muss der Kreml seine unmittelbaren Beziehungen zu den USA mit langfristigen Bedenken gegenüber dem Iran in Einklang bringen, indem er eine taktische Neuausrichtung vornimmt, um Teheran an der Erlangung von Atomwaffen zu hindern, und sich gleichzeitig auf ein Wiedererstarken des Iran nach Aufhebung einiger Sanktionen vorbereitet. Für Russland hat die Entlastung der eigenen Wirtschaft vom Sanktionsdruck und die Verringerung der Nato-Präsenz in der Nähe seiner Grenzen derzeit Priorität. Moskau sieht darin eine strategische Chance: Wenn es diese Ziele erreicht, kann es seine Position stärken, auch wenn es in der Ukraine gegenüber seinen Rivalen etwas an Boden verliert. Moskau ist sich des wachsenden Einflusses der Türkei im Südkaukasus und, was noch wichtiger ist, der zunehmenden geoökonomischen Präsenz Chinas in Zentralasien bewusst. Aus amerikanischer Sicht dient dieser dreifache Wettbewerb den Interessen der USA in Eurasien. Der Einfluss der Türkei am Schwarzen Meer und in der transkaspischen Region dient als Kontrolle für Russland, während Russlands Rivalität mit China in Zentralasien und darüber hinaus die wackelige Position der Türkei gegenüber den Vereinigten Staaten erschwert. Doch selbst eine Entspannung mit Russland wird die Herausforderungen für die USA im Nahen Osten nicht lösen. Washington versucht, die regionale Rolle Saudi-Arabiens zu stärken, zumal der Iran in der Levante an Boden verloren hat. Die Türkei hat sich jedoch als Hauptnutznießer der iranischen Rückschläge erwiesen, insbesondere in Syrien. Israel begrüßt zwar den schwindenden Einfluss des Irans infolge des Sturzes des Assad-Regimes, sieht sich aber nun einer längerfristigen Bedrohung durch die sunnitisch-islamistischen Stellvertreter der Türkei gegenüber. Außerdem ist Saudi-Arabien noch Jahre davon entfernt, eine Führungsrolle in der Region einzunehmen. Die Trump-Administration hofft, dass Riad zumindest mit Israel zusammenarbeiten wird, um die Palästinenserfrage zu lösen. In der Zwischenzeit werden die Huthis weiterhin die südliche Flanke Saudi-Arabiens bedrohen, selbst wenn die Amerikaner den vom Iran unterstützten Unterbrechungen des Handelsverkehrs durch das Rote Meer Einhalt gebieten. Und im Norden werden sich die Türkei und der Iran weiterhin einen Wettstreit um den Irak liefern, der für die türkischen Sicherheitsinteressen von entscheidender Bedeutung ist. Diese Konfliktlinien werden fortbestehen. Die US-Strategie kann das weitere Umfeld nur in begrenztem Maße beeinflussen – und die Russen können nur in begrenztem Maße helfen. In Kooperation mit:
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Kamran Bokhari
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Trumps Ziel der Entspannung mit Russland wird Zeit brauchen und ist mit einem tiefen Vertrauensdefizit verbunden, das bis zum Zusammenbruch der Sowjetunion zurückreicht. Jede Zusammenarbeit Moskaus mit den USA wird ohnehin taktischer Natur sein.
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außenpolitik
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2025-03-20T12:24:34+0100
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2025-03-20T12:24:34+0100
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https://www.cicero.de//aussenpolitik/ukrainekrieg-trumps-schwieriger-weg-zu-einer-entspannung-mit-moskau
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Meyers Blick auf... - Opposition und Regierung | Cicero Online
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„Opposition ist das Wesen einer Demoktratie“, sagt Frank A. Meyer
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video
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https://www.cicero.de//innenpolitik/meyers-blick-opposition-regierung-muentefering
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Berlin - Die letzten Tage der Ära Wowereit
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Berlin ohne Klaus Wowereit? Es fällt schwer, sich dies vorzustellen. Seit 13 Jahren regiert der Sozialdemokrat die deutsche Hauptstadt, mittlerweile ist er der dienstälteste Ministerpräsident. Wowereit hat mit drei unterschiedlichen Koalitionspartnern regiert, er hat das Image der Stadt über mehr als ein Jahrzehnt geprägt und seinen Beitrag dazu geleistet, dass in der Stadt wieder über die Zukunft gestritten und nicht über die Vergangenheit lamentiert wird. Es gab in der Amtszeit von Klaus Wowereit Höhen und Tiefen. Als er am 16. Juni 2001 zum Regierenden Bürgermeister von Berlin gewählt wurde, da war Berlin pleite und wirtschaftlich am Ende, Wohnungen wurden abgerissen, weil sie niemand mieten wollte. Der Palast der Republik stand noch und auf dem Flughafen Tempelhof herrschte reger Flugbetrieb. Es gab noch kein Berghain, keinen EasyJetset. Berlin war mental in Ost und West gespalten, Multikulti galt als Stadtdoktrin und Gentrifizierung war ein Fremdwort. Mittlerweile erlebt Berlin die letzten Tage der Ära Wowereit. Die Stimmung in der Stadt ist im Keller. In der vergangenen Woche veröffentlichte das Meinungsforschungsinstitut Forsa eine Umfrage, nach der Wowereit mittlerweile der unbeliebteste Politiker der Stadt ist. Die SPD kann derzeit nur noch mit 21 Prozent der Wählerstimmen rechnen, die Grünen liegen gleich auf. Die CDU, der kleine Koalitionspartner, liegt deutlich vorn und kann sich berechtigte Hoffnungen machen, demnächst ins Rote Rathaus einziehen zu können. Sieht man einmal von den methodischen Schwächen einer Umfrage ab, die die Beliebtheit des regierenden mit der Beliebtheit von völlig unbekannten Oppositionspolitikern vergleicht, hat die Umfrage vor allem eine Botschaft. Die Berliner fühlen sich schlecht regiert, trotz guter Wirtschaftsdaten, trotz Tourismusboom und trotz Dauerparty. Sie blicken besorgt in die Zukunft und sie trauen Klaus Wowereit nicht mehr zu, diese zu gestalten. Die Frage, ob Berlin heute mehr Probleme hat als vor 13 Jahren, ist einerseits müßig. In einer Großstadt reißen die Herausforderungen nie ab und Jammern gehört bei den Berlinern zum guten Ton. Andererseits jedoch hatten die SPD und Klaus Wowereit im Jahr 2001 eine Idee, wie sie die Probleme der Stadt beackern wollen, heute haben sie eine solche Idee nicht mehr. Der Rest ist Schweigen, über explodierende Mieten, über marode Schulen oder drogendealende Flüchtlinge. Der Flughafen, der nicht fertig werden will, der zu einer Lachnummer und zu einem Milliardengrab geworden ist, lähmt alles. Er lähmt die Stadtregierung, er lähmt die Verwaltung, er lähmt die politische Fantasie der Landespolitiker und er lähmt die Berliner SPD. Vor allem Klaus Wowereit ist ein politischer Gefangener des Flughafendesasters. Die Berliner erwarten nichts mehr von ihrem Regierenden Bürgermeister. Egal welche Idee, er äußert, antworten sie: ja, ja und zeigen auf die Dauerbaustelle am südlichen Stadtrand. So verspielt Berlin derzeit seine Zukunft. Dabei hat sich für Berlin unverhofft eine Chance eröffnet. Der Deutsche Olympische Sportbund diskutiert derzeit über eine deutsche Olympiabewerbung 2024 oder 2028. Neben Hamburg gilt Berlin selbstredend als möglicher Kandidat. Noch in diesem Jahr soll die Entscheidung über den deutschen Bewerber, mit dem der DOSB international ins Rennen zieht, fallen. Mit Olympia könnte sich für Berlin eine neue stadtpolitische Perspektive eröffnen. Olympia könnte Berlin neue Impulse für die Stadtentwicklung, den Nahverkehr und für die Integration setzen. London hat es 2012 vorgemacht. Natürlich melden sich jetzt alle Nörgler und Zweifler, Olympia koste nur Geld, treibe die Mieten in die Höhe und lenke von den Problemen der Stadt ab. Die Planungen seien überhastet begonnen worden und ideenlos. Überhaupt müsse sich nicht Berlin bei IOC bewerben, sondern umgekehrt das IOC müsse sich darum bewerben, seine Spiele in Berlin ausrichten zu dürfen. Minderwertigkeitskomplex und Größenwahn waren in Berlin schon immer zwei Seiten derselben Medaille. Wenn Berlin Olympia will, dann müsste der Regierende Bürgermeister jetzt vorangehen, Führungsstärke demonstrieren, die Berliner für Olympia begeistern. Dass das geht, dafür gibt es aus den letzten Jahren Beispiele, nicht zuletzt die Fußball WM 2006. Doch von Klaus Wowereit ist wenig zu hören. Er bringt nicht mehr die Kraft und die Glaubwürdigkeit für eine Olympiakampagne auf, er ist längst ein Regierender Bürgermeister auf Abruf, eine lame duck, stadtpolitisch handlungsunfähig. Die Frage lautet eigentlich nur noch, ob ihn seine Genossen aus dem Amt jagen, damit sie in zwei Jahren mit einem frischen, unverbrauchten Gesicht in den Wahlkampf ziehen können? Oder ob sich Klaus Wowereit an sein Amt klammert und die Wähler ihn bei der Abgeordnetenwahl 2016 abwählen? Berlin ohne Klaus Wowereit? Die Berliner werden sich schon sehr bald an den Gedanken gewöhnen müssen.
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Christoph Seils
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Berlins Regierender Bürgermeister, Klaus Wowereit, ist ein politischer Gefangener des Flughafendesasters. So verspielt die Stadt derzeit ihre wichtigste Zukunftschance
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innenpolitik
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2014-08-11T14:17:50+0200
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2014-08-11T14:17:50+0200
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https://www.cicero.de//innenpolitik/berlin-die-letzten-tage-der-aera-wowereit/58053
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Krieg im Nahen Osten - Hamas, Iran – und wie alles miteinander zusammenhängt
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Der beispiellose Angriff der Hamas auf Israel vom 7. Oktober hat die arabischen Staaten in eine schwierige Lage gebracht. Länder wie Ägypten, Jordanien und Saudi-Arabien, die sich seit langem um friedliche Beziehungen zu Israel bemühen und die Hamas zutiefst ablehnen, sehen sich gezwungen, Kritik an der extremistischen palästinensischen islamistischen Bewegung zu vermeiden und stattdessen öffentlich gegen Israel Stellung zu beziehen. Auch zwischen den arabischen Ländern und den Vereinigten Staaten hat der Anschlag zu Spannungen geführt. Für den Iran, der seit langem bestrebt ist, den Nahen Osten zu destabilisieren, um seine eigene Macht und seinen eigenen Einfluss zu vergrößern, ist die sich entwickelnde Krise ein großer Gewinn. Etwa 500 Palästinenser wurden Berichten zufolge am 17. Oktober bei einer Detonation in einem Krankenhaus im Gazastreifen getötet, die nach Angaben palästinensischer und arabischer Behörden durch eine fehlgeleitete Rakete der militanten palästinensischen Gruppe Islamischer Dschihad ausgelöst worden war. Dennoch haben arabische Staaten die Israelis scharf verurteilt für jenen vermeintlichen Angriff auf das Al-Ahli-Krankenhaus, in dem im Krieg zwischen Israel und Hamas verwundete Palästinenser behandelt wurden. Angesichts der zunehmenden anti-amerikanischen und anti-israelischen Proteste in vielen Ländern der Region sagte Jordanien ein Gipfeltreffen ab, das am Mittwoch unter Teilnahme von US-Präsident Joe Biden, dem ägyptischen Präsidenten Abdel Fattah al-Sisi, dem Präsidenten der Palästinensischen Autonomiebehörde Mahmoud Abbas sowie dem jordanischen Monarchen Abdullah II. hätte stattfinden sollen. Der Bombeneinschlag im Krankenhaus ereignete sich, als der amerikanische Präsident auf dem Weg nach Israel war, um zu verhindern, dass sich die Krise zu einem regionalen Konflikt ausweitet. Biden musste also seinen Besuch in der jordanischen Hauptstadt absagen. Die Tatsache, dass der amerikanische Präsident nur wenige Tage nach dem Besuch von Außenminister Antony Blinken und Verteidigungsminister Lloyd Austin ebenfalls in die Region aufgebrochen war, unterstreicht die gestiegenen Risiken eines umfassenderen Krieges im Nahen Osten. Und der Tod von Hunderten Palästinensern in dem Krankenhaus hat die Lage für die arabischen Regierungen noch verschlimmert. Sie hatten sich bereits auf hohe Opferzahlen und die Vertreibung palästinensischer Zivilisten eingestellt, da Israel sich auf eine Bodenoffensive zur Beseitigung der Hamas-Regierung vorbereitet. Das Letzte, was viele arabische Staatschefs mit einer in ihren Ländern chronisch schwachen politischen Struktur wollen, ist, dass ihre Bevölkerungen gegen Israel und die Vereinigten Staaten protestieren, weil das nämlich die Stabilität ihrer eigenen Regime gefährden könnte. Der israelisch-palästinensische Konflikt ist für die arabischen Staaten schon lange ein großes Anliegen. Seit ihrer Entstehung als unabhängige Staaten in der Zwischenkriegszeit und unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg waren die arabischen Staaten darauf aus, den damals entstehenden jüdischen Staat zu verhindern, strebten aber kein souveränes Palästina an. Die Palästinensische Befreiungsorganisation (PLO) wurde 1964 in Kairo mit Unterstützung des ägyptischen Präsidenten Gamal Abdel Nasser gegründet, um seine panarabischen nationalistischen Ambitionen zu fördern. Als die arabischen Staaten erkannten, dass selbst ihre vereinten Kräfte dem israelischen Militär nach der massiven Niederlage im Krieg von 1967 nicht gewachsen waren, hatte sich die PLO als ernstzunehmender Machtfaktor etabliert, der sich für den palästinensischen Nationalkampf einsetzte – welcher freilich den konkurrierenden Interessen Ägyptens, Jordaniens und Syriens zuwiderlief. Mehr zum Thema: Der Friedensvertrag zwischen Ägypten und Israel von 1978 führte zu einer weiteren Divergenz zwischen den Interessen Kairos und der Palästinenser. Innerhalb eines Jahrzehnts erkannte jedoch auch die PLO die israelische Staatlichkeit an und bemühte sich auf diplomatischem Weg um die Errichtung eines palästinensischen Staates im Westjordanland und im Gazastreifen, die seit dem Krieg von 1967 von Israel besetzt waren. Es war eine Vereinbarung, die die wichtigsten arabischen Staaten nach der Intifada von 1987 (in der die Hamas als radikale islamistische Rivalin zu Jassir Arafats säkularer Fatah-Fraktion auftrat, die die PLO lange Zeit dominiert hatte) als in ihrem Interesse ansahen. Zu diesem Zeitpunkt hatte sich allerdings der Iran bereits als regionale Macht etabliert und seinen Einfluss in der arabischen Welt ausgeweitet. Schon in den frühen 1980er Jahren hatte der Iran die Hisbollah zu seinem wichtigsten Stellvertreter aufgebaut, und Syrien wurde zum einzigen Verbündeten Teherans unter den arabischen Staaten. Das Ende des katastrophalen achtjährigen Krieges mit dem Irak im Jahr 1988 und die Schwächung des irakischen Regimes im Golfkrieg 1991 ermöglichten es dem iranischen Regime, seinen Einfluss in der arabischen Welt auszuweiten. Die islamistische Mullah-Regierung war besonders daran interessiert, den israelisch-palästinensischen Konflikt auszunutzen, und beförderte die Gründung des Palästinensischen Islamischen Dschihad (PIJ). Es dauerte nicht lange, bis sich auch die Hamas, die wichtigste palästinensische islamistische Bewegung, in die iranische Umlaufbahn begab. Während sich die PLO auf Verhandlungen zubewegte, trat die Hamas als ihr Hauptkonkurrent auf und übernahm den bewaffneten Kampf. Im selben Jahr, als die PLO das von den USA unterstützte Oslo-Abkommen mit Israel unterzeichnete, welches zur Gründung der Palästinensischen Autonomiebehörde (PNA) führte, startete die Hamas zusammen mit dem PIJ eine massive Kampagne von Selbstmordattentaten gegen Israel. Die Unfähigkeit Israels und der PLO, in den folgenden sieben Jahren eine endgültige Einigung zu erzielen, führte im Jahr 2000 zur zweiten Intifada, die die Hamas weiter stärkte und die von der Fatah dominierte PNA schwächte. In der Erkenntnis, dass das Scheitern des israelisch-palästinensischen Friedensprozesses zusammen mit den Anschlägen vom 11. September 2001 dem Iran mehr Spielraum verschafft hatten, um die Schwächen in der arabischen Welt auszunutzen, bot der damalige saudische König Abdullah im Jahr 2002 Israel einen umfassenden Frieden im Austausch für die Schaffung eines palästinensischen Staates im Westjordanland und im Gazastreifen nach dem Rückzug der israelischen Truppen auf ihre Stellungen von vor 1967 an. Die Ablehnung des saudischen Angebots durch Israel, der Irakkrieg 2003, der einseitige Rückzug Israels aus dem Gazastreifen 2005 und der Wahlsieg der Hamas 2006 stärkten die Position Irans in der Region weiter. Der politische Stillstand nach dem Wahlsieg der Hamas führte 2007 zum palästinensischen Bürgerkrieg, der zwei getrennte palästinensische Einheiten zur Folge hatte: Die Hamas kontrollierte den Gazastreifen und die Fatah das Westjordanland. In der Zwischenzeit hatte die Hamas vom Iran Raketen erworben; seit 2008 war Hamas in vier Kriege und mehrere begrenzte Zusammenstöße verwickelt, die alle zu Krisen für die arabischen Staaten führten, die sie jedoch überstehen konnten. Das Ausmaß des jüngsten Hamas-Angriffs hat den Zyklus der zurückliegenden anderthalb Jahrzehnte durchbrochen, in denen es alle paar Jahre einen Gaza-Krieg gab, der mit einem Waffenstillstand endete. Es ist eine Situation entstanden, in der die arabischen Staaten, die gegen die Hamas sind und ein gemeinsames Interesse mit Israel an der Eindämmung der vom Iran unterstützten Miliz haben, gezwungen sind, deren Aktionen zu ignorieren und stattdessen Israel zu kritisieren. Die Angst der arabischen Regierungen vor regionaler Instabilität hat sie in die Defensive gedrängt. Auf diese Weise konnten der Iran und die Hamas erhebliche geopolitische Vorteile erzielen, denn je mehr palästinensische Zivilisten bei den Kämpfen zwischen Israel und der Hamas getötet werden, desto mehr profitieren sie davon. Indem der Iran den Staat Israel mittels seiner Stellvertreter Hamas und Hisbollah unter Druck setzt, drängt er die arabischen Staaten in die Defensive. Teheran hofft, dass sie dadurch mit der Zeit geschwächt werden – und auf diese Weise mehr strategischer Raum in der Region für Teheran selbst geschaffen wird. In Kooperation mit
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Kamran Bokhari
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Ohne Kenntnis der langen Vorgeschichte ist der aktuelle Kampf zwischen Israel und der palästinensischen Hamas nicht zu verstehen. Besonders wichtig ist die Rolle des Iran, denn Teheran setzt die arabischen Regionalmächte unter Druck – indem es die Bevölkerungen gegen ihre autokratischen Herrscher ausspielt. Die Rechnung geht offenbar wieder auf.
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"Gazastreifen",
"Iran",
"Israel",
"Hamas"
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außenpolitik
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2023-10-19T15:45:18+0200
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2023-10-19T15:45:18+0200
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https://www.cicero.de//aussenpolitik/krieg-gaza-hamas-iran-israel
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Aydan Özoguz – Deern mit Hintergrund
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Erst mal macht sie die großen Doppelfenster auf. Die Luft ist stickig im Berliner Büro der SPD-Bundestagsabgeordneten Aydan Özoguz. Leider tost der Verkehr auf der Dorotheenstraße wie immer. „Nein, besonders schön ist das nicht hier“, sagt die 43-jährige Hamburgerin, die den frischen Seewind ihrer Heimatstadt liebt und den lebenden Beweis dafür liefert, dass der hanseatische Tonfall keineswegs genetisch verankert ist. Inzwischen hat sich die „Hamburger Deern“ (Selbstbezichtigung), Tochter türkischer Kaufleute, die 1961 aus Istanbul an die Elbe zogen, in dem „Riesenapparat“ einigermaßen eingerichtet. Ihre Jungfernrede hielt sie im März 2010 zur Einsetzung der Enquetekommission „Internet und digitale Gesellschaft“. Ihr eigentliches Thema aber heißt „Integration“. Seit einem Jahr ist sie „Integrationsbeauftragte“ ihrer Fraktion. So berät sie Kollegen bei der Formulierung von Anträgen, sucht nach verbalen Fallstricken und Leerstellen. Und dann ist da die immerwährende „Islamdebatte“. Nach der letzten Sitzung der Islamkonferenz katapultierte sie ein einziger Satz in die große Öffentlichkeit: „Die Muslime sollten nicht mehr an der Islamkonferenz teilnehmen, bis ein anderer die Leitung übernimmt.“ Grund: Innenminister Friedrich hatte eine „Sicherheitspartnerschaft“ mit den Behörden aufs Tapet gebracht. Das roch nach pauschalem Terrorverdacht gegen Muslime. Özoguz’ Formulierung wurde sogleich als Boykottaufruf verstanden, dem selbst türkisch-islamische Verbände widersprachen. Parteifreund Dieter Wiefelspütz relativierte, die Worte seien „in der ersten Erregung“ gefallen, und selbst gute Freunde sagten: „Aydan, das passt gar nicht zu dir!“ Warum aber hat sie genau jene Verallgemeinerungsfloskel – „die Muslime“ – verwandt, die sie bei anderen stets kritisiert? „Das stimmt nicht, ich habe von den Teilnehmern gesprochen.“ Sie geht ins Sekretariat und lässt das nachprüfen, leider erfolglos. Doch sie bleibt dabei: Der neue Innenminister von der CSU habe hier „ganz bewusst provoziert“, um sein Hardlinerimage zu schärfen – auf Kosten der Muslime. Über das, was sie als rassistische und religiöse Diskriminierung empfindet, kann sich Aydan Özoguz immer wieder aufregen. Da sie ihre Kritik aber mit eloquenter Freundlichkeit und angenehmer Stimme vorbringt, fiel sie vor zehn Jahren schon Olaf Scholz auf, heute Erster Bürgermeister von Hamburg. Er bat sie, für die Bürgerschaft zu kandidieren. Nach ihrem Englisch- und Spanisch-Studium war sie bei der renommierten Körber-Stiftung für deutsch-türkische Projekte zuständig gewesen. „Ohne mein Lebensthema Migration wäre ich nicht in die Politik gegangen“, bekennt Özoguz, die erst 2004 in die SPD eintrat. Wie es der Zufall will, ist ihr Ehemann, den sie auf den Hamburger Abgeordnetenbänken kennenlernte, der frisch gebackene Innensenator Michael Neumann. Eine klassisch sozialdemokratische Familie also. Schon Özoguz’ Eltern schwärmten für Helmut Schmidt, während sie selbst ein deutsch-türkisches Bürgertum repräsentierten, das Bildung, soziale Gerechtigkeit und wirtschaftlichen Erfolg gleichermaßen schätzt. Als Aydans Lehrerin vor einem Klassenausflug in ein ehemaliges Konzentrationslager anbot, sie müsse da nicht mitkommen, weil sie ja Türkin sei, beharrten die Eltern: „Geh mal mit, das ist auch ein wichtiger Teil von Deutschland.“ Umso merkwürdiger, dass die Brüder von Aydan, Yavuz und Gürhan Özoguz, beide promovierte Ingenieure, einen ganz anderen Weg eingeschlagen haben. Seit 1999 betreiben sie die Website „Muslim-Markt“, die im niedersächsischen Verfassungsschutzbericht als „Integrationshemmnis“ bezeichnet wurde. Unter dem Motto „Im Namen des Erhabenen“ ist hier alles zu finden, was eine islamische Parallelgesellschaft ausmacht – von der Singlebörse „Muslimheirat“ bis zu Boykottaktionen gegen Unternehmen, denen „islamfeindliches Verhalten“ vorgeworfen wird, nicht zuletzt folgender Passus für einen Ehevertrag: „Die Ehefrau kann das Eheheim nicht ohne Erlaubnis des Ehemanns verlassen, es sei denn, es werden Ausnahmen vereinbart.“ Eltern, die ihre Töchter vom Schwimmunterricht befreien wollen, können sich ein Musterschreiben herunterladen, das die religiösen Pflichten der Verhüllung ab „9 Mondjahren“ ebenso erwähnt wie Verwaltungsgerichtsurteile. Antiisraelische Hetze und Bewunderung des iranischen Diktators Ahmadinedschad runden das Bild dieser Weltsicht ab. In einer Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung bezeichnen die Autoren 2009 die Website als „antisemitische“ Propaganda, die jedoch geschickt juristische Grenzen beachte. Die Studie kenne sie nicht, sagt die Abgeordnete. Aber wo verlaufen die Grenzen zwischen säkularem Rechtsstaat und Religionsfreiheit? „Wir sind kein laizistischer Staat“, so die gläubige Muslima, die schon 2003 im Hamburger Rathaus einen „Ramadan“-Empfang organisiert hat, zu dem auch Juden, Katholiken und Protestanten kamen. Sie verteidigt das Kopftuch und schlägt im Konfliktfall „Schwimmunterricht“ vor, dass muslimische Eltern ihre Kinder den „Freischwimmer“ ja außerhalb der Schule machen lassen könnten. Zufall oder nicht: Exakt dieser Hinweis findet sich auch im „Muslim-Markt“. „Das ist genau dieses Wegducken, das ist falsch verstandene Multikulturalität, das ist nicht Toleranz, sondern Angst vor der Auseinandersetzung.“ Der Satz stammt nicht von Thilo Sarrazin, sondern von Michael Neumann, ihrem Gatten. Doch Aydan Özoguz bleibt bei ihrer ganz eigenen Dialektik: Sie kritisiert die „Religionsferne“ von Feministinnen wie Alice Schwarzer, beharrt aber darauf, dass die meisten Integrationskonflikte – von Berlin-Neukölln bis Duisburg Marxloh – gar nichts mit dem Islam zu tun haben.
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Aydan Özoguz forderte einen Boykott der Islamkonferenz, weil sie sich vom neuen Innenminister Friedrich provoziert fühlte und pflegt als Integrationsbeauftragte der SPD-Fraktion ihre ganz eigene Dialektik. Ihre Brüder profilieren sich derweil als islamische Hardliner.
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innenpolitik
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2011-06-06T10:28:14+0200
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2011-06-06T10:28:14+0200
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https://www.cicero.de//innenpolitik/deern-mit-hintergrund/42047
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Cicero im Juni - Ewiges Leben
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Die Plakate der „Partei für schulmedizinische Verjüngungsforschung“ wirkten wie Satire: „Wie alt willst Du werden?“ stand darauf zu lesen. Und weiter: „80, 100, 500, …?“ Eine politische Organisation, die sich gewissermaßen für das ewige Leben einsetzt – das kann eigentlich nur ein Witz sein. Bei der jüngsten Wahl zum Berliner Abgeordnetenhaus kamen die Verjüngungsforscher trotz ihres durchaus verlockenden Programms denn auch nur auf insgesamt 3768 Stimmen (was einem Anteil von 0,2 Prozent entspricht). Offenbar wollten die meisten Hauptstadtbewohner dem Unsterblichkeitsversprechen auch nicht so recht trauen (oder sie waren der Meinung, dass ein 500 Jahre währendes Dasein ausgerechnet in Berlin eher wie eine Drohung klingt). Dabei steuert die Menschheit tatsächlich auf die Unendlichkeit ihrer einzelnen Bestandteile zu. Die Rede ist vom „Transhumanismus“: ein Begriff, der gewissermaßen Künstliche Intelligenz und menschliche Natur zusammenführt und unsere Existenz „über einen neuen Urknall hinauskatapultieren könnte“, wie mein Kollege Ralf Hanselle in unserer Titelgeschichte schreibt. Es ist eine alte Utopie, aber diesmal auf Grundlage ganz neuer Möglichkeiten. Waren Avantgardisten wie der russische Philosoph Alexander Bogdanow noch davon überzeugt, mit der Transfusion des Blutes junger Knaben die eigene Verjüngung voranzutreiben, setzen Transhumanisten wie Ray Kurzweil auf die Perfektionierung der Schnittstellen zwischen Mensch und Technik: Ein sogenanntes Mind-Upload werde uns unsterblich machen, ist der amerikanische Tech-Guru überzeugt. Und sollten wir dummerweise vorher sterben, bleibt immer noch die Möglichkeit, sich vorübergehend einfrieren zu lassen, bis die Methusalem-Formel marktreif ist. Weniger utopistisch ist ein anderer Gesundheitsforscher unterwegs, nämlich Deutschlands prominentester Arzt und Show-Mediziner Eckart von Hirschhausen. Unsere Autorin Cornelia Stolze zeigt an seinem Beispiel exemplarisch, wie tief manche Stars von ARD und ZDF in Interessenkonflikte verstrickt sind: Journalismus, Lobbyismus und Werbeauftritte verschwimmen zu einem Geschäftsmodell, das nicht selten jeglichen Anforderungen von Integrität und Unabhängigkeit widerspricht. „Wunder wirken Wunder – Wie Medizin und Magie uns heilen“ heißt der Titel eines Hirschhausen-Bestsellers aus dem Jahr 2016. Laut Klappentext „ein versöhnliches Buch, das Orientierung gibt: Was ist heilsamer Zauber, und wo fängt gefährlicher Humbug an?“ Gute Frage! Zu Risiken und Nebenwirkungen wenden Sie sich einfach an den Fernseharzt oder Transhumanisten Ihres Vertrauens. Weitere Themen in der neuen Ausgabe: Die Juni-Ausgabe von Cicero können Sie jetzt am Kiosk oder direkt bei uns kaufen. Jetzt Ausgabe kaufen
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Alexander Marguier
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Auf dem Weg zum Über-Menschen: Künstliche Intelligenz hat mit ChatGPT erstmals einer breiten Masse gezeigt, was sie kann. Doch das ist nur ein winziger Vorgeschmack. Lesen Sie in der Juni-Ausgabe von Cicero, wie der Transhumanismus die Grenzen zwischen Mensch und Maschine endgültig aufheben will. Wir erleben derzeit eine technologische Revolution, die unsere gesamte Spezies verändern wird.
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"Technologie",
"Künstliche Intelligenz",
"Transhumanismus",
"Eckart von Hirschhausen"
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innenpolitik
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2023-05-22T08:16:12+0200
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2023-05-22T08:16:12+0200
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https://www.cicero.de//innenpolitik/cicero-im-juni-ewiges-leben-transhumanismus-ki
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Nominierung von Brett Kavanaugh - Auf dem rechten Weg
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Am Ende wirkte es wie das Finale einer Reality-TV-Show, jenes Format, das der US-Präsident Donald Trump so liebt. Zur Prime-Time verkündete Trump, dass er Brett Kavanaugh als Richter des Supreme Court nominieren würde, den Obersten Gerichtshof des Landes. Kavanaugh soll nun Nachfolger von Anthony Kennedy werden, der mit 81 Jahren in den Ruhestand geht. Das wird mit Kavanaugh nicht so schnell passieren, denn er ist erst 51, und Richter des Supreme Court werden auf Lebenszeit ernannt. Noch hat ihn der Senat nicht bestätigt. Die Republikaner haben in der Kammer derzeit eine Mehrheit von 51 zu 49 Stimmen. Da der schwerkranke Senator John McCain seit Monaten an keiner Abstimmung teilgenommen hat, kommt es für die Republikaner auf jede Stimme an. Doch schon jetzt ist die Personalie Kavanaugh für viele konservative Amerikaner wichtig. Sie haben Jahrzehnte genau auf diesen Tag hingearbeitet und können nun ihr Glück kaum fassen. Dafür haben sie gern in Kauf genommen, dass derjenige, der ihnen diesen Tag beschert, kaum etwas mit konservativen Werten zu tun hat; in eigenen Casinos das Glücksspiel fördert, mehrfach verheiratet ist, offenbar eine Affäre mit einem Porno-Star gehabt hat und sich noch im Wahlkampf damit brüstete, unverheiratete Frauen „flachzulegen“. Dennoch konnte sich Trump schon bei den Präsidentschaftswahlen auf die Stimmen der religiös-konservativen Wähler verlassen. 81 Prozent der sogenannten wiedergeborenen, also streng gläubigen Christen gaben ihm ihre Stimme. Das war ein besseres Ergebnis als die Republikaner George W. Bush und Mitt Romney einst einfahren konnten, obwohl beide stets die Wichtigkeit des christlichen Glaubens für ihr Leben betonten. Trump hingegen konnte auf Nachfrage keine einzige Bibel-Stelle zitieren. Insgeheim mögen die christlich-konservativen Amerikaner darüber die Nase gerümpft haben, aber der Gedanke an den Supreme Court wird ihnen die Zweifel vertrieben haben. Denn der oberste Gerichtshof war noch mehr als das Weiße Haus für sie zum Sehnsuchtsort geworden und die Aussicht auf dessen Eroberung hatte auf sie eine Wirkung wie die des Heiligen Grals auf die Ritter der Tafelrunde. Denn letztendlich kann in den USA nur der Supreme Court Gesetze aufheben oder für allgemein verbindlich erklären. Für viele Konservative war der Oberste Gerichtshof aber viel zu liberal geworden, indem er etwa Abtreibungen und die gleichgeschlechtliche Ehe legalisiert hat. Nun, so hoffen sie, kann Donald Trump über den Supreme Court das Land wieder auf den „rechten Weg“ bringen. In ihren kühnsten Träumen würde dieser das Verfahren „Roe vs. Wade“ annulieren, jenem Fall von 1973, in dem die Verfassungsrichter Abtreibung als eine zutiefst persönliche Entscheidung definierten und somit weitgehend legalisierten. Als ersten Schritt dahin hatte Trump ihnen bereits den Boden bereitet, indem er 2017 Neil Gorsuch an den Hof brachte. Gorsuch war der Nachfolger des 2016 verstorbenen erzkonservativen Antonin Scalia. Eine Nominierung durch Trumps Vorgänger, dem Demokraten Barack Obama, hatten die Republikaner in Obamas letztem Amtsjahr durch einige Verfahrenstricks verhindern können. Durch den Rücktritt des bisherigen Richters Anthony Kennedy scheint jetzt der Weg endgültig frei zu sein, den Gerichtshof auf Jahrzehnte in konservative Hände zu geben. Kennedy war zwar einst vom konservativen Ronald Reagan nominiert worden, galt aber als „Swing-Vote“ im Supreme Court, also als einer, der mal konservative und mal liberale Entscheidungen treffen würde. Gerade beim Thema Abtreibung und Homosexuellen-Rechte nahm er liberale Positionen ein. Mit Brett Kavanaugh dürften die Konservativen nun eine stabile Mehrheit von fünf zu vier Stimmen in dem neunköpfigen Gremium haben. Und damit nicht genug. Zwei der verbliebenen Liberalen sind über 80 Jahre alt, die von Bill Clinton nominierten Ruth Bader Ginsburg und Stephen Breyer. Die Chancen stehen somit gut, dass der Supreme Court noch unter Trump eine konservative Mehrheit von sechs zu drei haben wird. Genau darauf haben Republikaner seit Jahrzehnten hingearbeitet, und peinlichst darauf geachtet, dass „ihre“ Kandidaten auch ihre Werte vertreten werden. Denn was das angeht sind sie gebrannte Kinder. Unabhängig davon, wer Präsident war und wer die Richter nominiert hatte, schien der Oberste Gerichtshof stets im Zweifel auf die liberale Seite zu fallen. Gebete in Schulen wurden verboten, die Rechte von Verbrechern gestärkt, das Verbreiten von religiösen Symbolen an öffentlichen Orten eingeschränkt. Zum Symbol dieser frustrierenden Entwicklung für Republikaner wurde David Souter, den George Bush Senior 1990 nominiert hatte. Souter galt zwar als konservativ, aber tatsächlich war über seine Ansichten wenig bekannt. Als einer der Obersten Richter entschied er dann oft im liberalen Sinn. Das sollte den Republikanern nicht mehr passieren. „No more Souters!“ wurde ihr Schlachtruf. Seitdem wird jeder „konservative“ Kandidat auf Herz und Nieren überprüft, damit er auch ja die „richtigen“ Ansichten vertritt und durchsetzt. Das wird auch bei Brett Kavanaugh der Fall gewesen sein. Über seine Meinung zu „Roe vs. Wade“ hat er sich zwar noch nicht geäußert. Aber dass die Richter dieses Urteil revidieren, erscheint ohnehin unwahrscheinlich. Es wäre eine politische Selbstverletzung, die die Linke in Aufruhr versetzen würde und zugleich eine langfristige Inspiration für religiöse Konservative beseitigen würde, sodass diese bei den Wahlen vielleicht zu Hause bleiben würden. Richter neigen auch nicht dazu, frühere Entscheidungen einfach zu revidieren. Der Oberste Gerichtshof könne aber einfach die Möglichkeiten zur Abtreibung weiter einschränken, in vielen Bundesstaaten ist schon jetzt kaum eine Klinik zu finden, die das Verfahren anbietet. Ähnlich könnte es im Fall der Homosexuellen-Rechte aussehen. Und schließlich, für Donald Trump nicht unwichtig, könnte Kavanaugh das Zünglein an der Waage sein, wenn es um die strafrechtliche Verfolgung des Präsidenten geht. Trump war in der Russland-Affäre zuletzt innenpolitisch stark unter Druck geraten. Sein Wunschkandidat könnte ihm hier aus der Bredouille helfen. In einem Essay schrieb er 2009, dass ein Präsident nicht angeklagt werden dürfe, solange er im Amt sei. Eines dürfte jedenfalls schon jetzt sicher sein: Der Supreme Court, eigentlich als unabhängiges Gremium erdacht und als solches essentiell im System der Checks-And-Balances der US-amerikanischen Demokratie, ist nun endgültig ein Teil des Zwei-Parteien-Systems geworden. Bei aller derzeitigen Wut der Demokraten darf man nicht vergessen, dass sie aller Wahrscheinlichkeit nach ähnlich gehandelt hätten, wären sie an die Macht gekommen. Die Obersten Richter werden nicht mehr nach Qualifikation ausgesucht, sondern nach ihren Ansichten und ihrer Parteizugehörigkeit. Der Riss in der amerikanischen Gesellschaft wird so weiter aufgerissen und eine Heilung weiter erschwert.
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Constantin Wißmann
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Mit der Nominierung von Brett Kavanaugh als Richter für den Supreme Court erreicht US-Präsident Donald Trump ein Ziel, auf das die Republikaner seit langem hingearbeitet haben. Doch auch für ihn persönlich könnte die Entscheidung aus einem Grund noch sehr wichtig werden
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"Supreme Court",
"Donald Trump",
"USA",
"Republikaner"
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außenpolitik
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2018-07-10T12:47:44+0200
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2018-07-10T12:47:44+0200
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https://www.cicero.de//aussenpolitik/brett-kavanaugh-nominierung-supreme-court-republikaner-donald-trump
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Schäuble und Barenboim - Führung macht einsam
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Wer führt, ist allein. Diese Erfahrung haben Finanzminister Wolfgang Schäuble und Dirigent Daniel Barenboim beim 19. Cicero-Foyergespräch im Berliner Ensemble geteilt. „Es gibt eine Distanz zwischen dem Kollektiv und demjenigen, der die letzte Entscheidung treffen muss“, sagte der Pianist Barenboim bei der Matinée zum Thema „Die Kunst des Führens“ am Sonntag. Dieser Führungsmoment sei ein „sehr einsamer“. Ein Künstler finde aber bei seinem Publikum eine Kompensation. Auch als Politiker könne man einsam sein, bestätigte Schäuble. Für gute Führung brauche man zwar die richtige Mischung aus Mut und Demut. „Aber man darf auch nicht so feige sein, dass man nicht entscheidet.“ Das sei der größte Fehler in der Politik. Am Rande des Foyergesprächs, das Cicero-Chefredakteur Christoph Schwennicke und Kolumnist Frank A. Meyer moderierten, versammelten sich wenige Demonstranten. Wolfgang Schäuble war zuletzt wegen des Vergleichs Putins mit Hitler in die Kritik geraten. Die Protestler warfen dem Bundesfinanzminister vor, „Verarmungsprogramme“ zu verantworten und bezeichneten ihn als „Architekt der europäischen Krisenpolitik“. Das vorherige Cicero-Foyergespräch mit Thilo Sarrazin war ausgefallen, weil Demonstranten die Bühne des Theaters gestürmt hatten. Schäuble selbst berichtete, zu Beginn seiner Amtszeit als Finanzminister für seinen Führungsstil in der Eurokrise eher gegenteilige Kritik provoziert zu haben. „Selbst in meiner eigenen Fraktion haben viele gesagt, der ist so romantisch, der ist nur Europäer und denkt nicht an Deutschland.“ Schäuble hatte seinem Ministerium zuvor die Anweisungen gegeben, bei der Lösungssuche auch eine europäische Sichtweise einzunehmen. „Denn deutsche Interessen sind nicht das Gegenteil von europäischen Interessen.“ [[{"fid":"62196","view_mode":"copyright","type":"media","attributes":{"height":233,"width":345,"class":"media-element file-copyright"}}]] Der CDU-Politiker distanzierte sich zugleich von der Forderung einer deutschen Führungsrolle in Europa. „Alle sagen, wir müssen Europa führen. Warum?“ Auch den Wunsch, Kanzlerin Angela Merkel hätte erst einmal Europa in einer größeren Rede erklären sollen, sieht er skeptisch: „Der Effekt wäre, Europa hätte es ohnehin anders gemacht.“ Deswegen habe Merkel einen anderen Politikstil gewählt. Schäuble sieht seinen persönlichen Erfolg in der Eurokrise darin begründet, dass er „nicht als deutscher Schulmeister“ auftrete. Deswegen akzeptierten die europäischen Länder viele seiner Vorschläge. „Man kann Verhandlungen nur führen, wenn man seinen Verhandlungspartner versteht“, betonte der dienstälteste Bundestagsangehörige. „Und nicht, wenn man sich die ganze Zeit fragt, wie kann ich ihn über den Tisch ziehen.“ In genau dieser Selbstüberschätzung sieht Daniel Barenboim eine Ursache für den andauernden Nahost-Konflikt. Sowohl Israel als auch Palästina seien so überzeugt von ihrer eigenen Position gewesen, dass sie geglaubt hätten, diese würde sich am Ende der Gespräche durchsetzen. „Daran sind alle Verhandlungen gescheitert.“ Zugleich kritisierte Barenboim den jüdischen Staat für das Aussetzen der Friedensgespräche nach dem Schulterschluss zwischen den Palästinenserorganisationen Fatah und Hamas. „Ich verstehe die israelische Regierung überhaupt nicht.“ Es sei schließlich die radikal-islamische Hamas, die auf die gemäßigte Partei von Mahmud Abbas zugegangen sei. Daraufhin hatte Israels Premier Benjamin Netanjahu weitere Verhandlungen abgelehnt. „Statt sich für Frieden zu entscheiden, hat Abbas ein Bündnis mit einer mörderischen Terrororganisation geschlossen, die Israel vernichten will“, hatte er gewettert. Barenboim verurteilte diese Entscheidung: „Warum kritisiert man, statt zu sagen, wir freuen uns auf Verhandlungen, wo ihr nun mit einer Zunge sprecht?“ Der Gründer des Orchesterprojekts „West-Eastern Divan“, das unter anderem Musiker aus Israel und Palästina vereint, warnte vor den Konsequenzen einer solchen Politik. Die strategischen Fehler der unterschiedlichen israelischen Regierungen hätten einen Punkt erreicht, „an dem ein großer Teil des jüdischen Traums in Gefahr gekommen ist“. Der gebürtige Argentinier und Sohn russisch-jüdischer Eltern sieht noch weitere Parallelen zwischen der Musik und der Politik. „Ich brauche eine strategische Idee, wie ich mit der Dynamik umgehe, sonst habe ich alle 12 Takte Höhepunkte. Alle großen Leute sind Strategen; wenn sie mittelmäßig sind, sind sie nur Taktiker.“ Mit Blick auf die manchmal schwierige Meinungsvielfalt in einer bürgerlich-demokratischen Gesellschaft sagte Barenboim: „Das ist wie die Minderheit der Schlagzeuger – das sind immer die lautesten.“ Es sei aber nie der Dirigent, der den Klang produziere, sondern das Orchester. „Ich kann das hier demonstrieren.“ Barenboim hob seinen Arm und ließ ihn kraftvoll sinken. „Hören Sie was?“, fragte er in die Stille. „Das ist kein Witz. Oft vergessen die Dirigenten das.“ Ein Orchesterleiter könne bestenfalls erreichen, dass die Musiker im selben Moment das Gleiche denken. Ob das Kanzlerin Angela Merkel auch so mache, um Gefolgschaft bei ihren Leuten herzustellen, fragte Cicero-Chefredakteur Christoph Schwennicke. Schäuble wich aus: „Die Große Koalition ist ein eigenes Problem.“ Aber in einer Fraktion sei es ähnlich: „Das sind alles Menschen, die Eigeninteressen und Fähigkeiten haben.“ In bestimmten Situationen müssten sie aber alle gemeinsam Position beziehen. „Das kriegen Sie mit Autorität alleine nicht hin. Da müssen Sie überzeugen“, sagte der Politiker mit mehr als 41 Jahren Parlamentszugehörigkeit. Auf die Frage, wie Barenboim das musikalische Tempo der Kanzlerin beschreiben würde, antwortete Barenboim mit Witz: „Allegro ma non troppo – nicht schleppend, aber auch nicht eilend.“ Das vollständige Foyergespräch erscheint gedruckt in der Juni-Ausgabe des Magazins Cicero und als Video auf der Cicero-App.
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Petra Sorge
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Beim Cicero-Foyergespräch über die „Kunst des Führens“ verriet Wolfgang Schäuble, dass seine Leute ihn anfangs für einen Europa-Romantiker hielten. Star-Dirigent Daniel Barenboim kritisierte Israel für das Einfrieren der Friedensgespräche
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innenpolitik
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2014-04-28T09:43:57+0200
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2014-04-28T09:43:57+0200
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https://www.cicero.de//innenpolitik/schaeuble-und-barenboim-fuehrung-macht-einsam/57482
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Viktor Orban über Migration - „In Westeuropa überlebe ich es nicht“
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Ich begrüße Sie recht herzlich. If you allow me I will speak my native language, the Hungarian, not especially because the audience, because I think they all speak English, but especially for the Hungarian public and media. So, please accept it. Wir danken unseren aus dem Ausland angereisten Gästen, dass sie zu uns gekommen sind. So etwas ist ein großes Abenteuer, Sie wissen gar nicht, wie groß es ist. Sie sind die Gäste eines alten Landes. Heute ist dies nicht unser Thema, darüber rede ich jetzt nicht ausführlich, doch damit Sie einen Eindruck davon erhalten, was für ein über eine tiefe und eigentümliche Kultur verfügendes Land Sie als Gäste begrüßen darf, möchte ich drei einfache sprachliche Dinge erwähnen, die die Tiefe der ungarischen Seele und das Althergebrachte der ungarischen Geschichte zeigen. Wenn ich über jemanden sage, der mit mir den Vater und die Mutter gemeinsam hat, was unser Verhältnis ist, was, sagen wir, die Engländer einfach als „brother“ bezeichnen, dann sagen wir auf Ungarisch für Bruder das Wort „testvér“, was soviel heißt wie „Blut meines Körpers“. Wenn ich sagen will, dass es eine Frau gibt, mit der ich bis zum Ende meines Lebens zusammenleben möchte, dann habe ich keine „wife“, sondern „egy másik felem“, also „eine andere Hälfte“. Oder wenn ich sage, ich möchte mein Leben in Gesundheit leben, in guter Kondition, dann sage ich nicht „health“, sondern „egészség“, also „Ganzheit“, „whole-ness“ oder etwas Ähnliches, wenn man solches überhaupt übersetzen kann. Dies ist also ein eigentümlicher Ort der Welt, und deshalb ist es für uns immer eine Ehre, wenn wir einen Gast empfangen dürfen, weil wir der Ansicht sind, es sei eine Ehre für uns, wenn sich jemand für ein Land mit zehn Millionen Einwohnern, für eine Nation von fünfzehn Millionen Menschen interessiert. Mir ist die Aufgabe zugefallen, das zusammenzufassen, was bisher geschehen ist. Dies kann ich kurz machen, indem ich sage, wir haben von jedem das bekommen, was wir erwartet hatten. Von den Tschechen haben wir eine kristallklare Analyse erhalten, von den Spaniern die große christliche Seele, von unseren australischen Freunden die angelsächsische Nüchternheit, und von Herrn Präsidenten Sarkozy die französische Eleganz. Schon war es nicht vergebens, zusammenzukommen. Ungarn spielt heute eine führende Rolle in der Debatte um die Migration. Nichts rechtfertigt das. Ungarn ist ein Land mit zehn Millionen Einwohnern, wenn auch seine Armee qualitativ hochwertig ist, so stellt es doch angesichts seiner Größe keine Bedrohung dar. Wenn wir uns mit den Türken unterhalten, pflege ich zu sagen, wir haben so viele Soldaten wie sie am Wochenende Flüchtige haben. Und wir Ungarn wissen, dass es natürlich eine europäische Gleichberechtigung gibt, doch zählt trotzdem die Größe, und jeder hat seinen eigenen Platz in der Welt. Und dieser Platz, der der unsrige ist, diese Größe prädestiniert uns nicht dafür, in jedweder europäischen Diskussion, besonders in einer gesamteuropäischen Debatte eine derart herausragende Rolle zu spielen wie in der Diskussion über die Migration. Die erste Sache, die ich sagen möchte, ist, dass die Situation unnatürlich ist. Die zweite Sache, die wir im Zusammenhang damit sagen müssen, ist, dass sie zwar unnatürlich ist, doch nicht wir haben sie uns ausgewählt. Das ist ganz einfach die Folge eines geographischen und historischen Umstandes, denn Ungarn ist ein Hinterland; ist Hinterland Richtung Osten und ist Hinterland Richtung Süden. Und es spielt dann eine herausragende Rolle, wenn unserer gemeinsamen Heimat, Europa, aus dem Osten oder aus dem Süden irgendeine Gefahr droht. Wir sind aus dem Grund auf die Titelblätter der Zeitungen im Jahre 1956 gelangt, da uns der Aufstand gegen die aus dem Osten drohende Unterdrückung – und wir hatten auch keine andere Wahl – zum Weltruhm katapultierte. Und jetzt ist die Situation die gleiche. Wenn die Migranten nicht das Meer wählen, sondern den Landweg, dann kommen sie notwendigerweise über die Südgrenzen Ungarns nach Europa. Ganz gleich, ob wir diese Rolle gewollt haben oder nicht, ganz gleich ob sie in Relation steht oder nicht, ganz gleich ob wir Lust haben oder nicht, wir befinden uns dort, wo wir sind, und nachdem wir unsere Grenzen verteidigen wollen, folgte daraus ein europäischer Ruhm. Weder Ungarn noch die führenden Politiker Ungarns – auch mich hierin inbegriffen – wollen in Europa irgendeine führende Rolle spielen. Wir haben eine alte ungarische Welt, deren Aufrechterhaltung, deren Instandhaltung, deren Anpassung an die Zukunft uns gerade genug Arbeit macht. Doch kann man nichts machen, wenn wir nicht noch einmal das erleben möchten, was wir alle erlebt haben, dass von einem Tag zum anderen mangels einer Grenze auf einmal 400.000 Menschen, in der Mehrheit Männer im wehrfähigen Alter, zwar ohne Waffen, aber wie Soldaten über unsere Grenze hinwegmarschieren, nach Ungarn einmarschieren, und wir über keinerlei physische Kraft verfügen, um dies zu stoppen, um eine aus 400.000 Menschen bestehende, unbewaffnete, jedoch eine bedeutende physische Kraft darstellende Masse aufzuhalten oder um mit ihr umzugehen, also dieses Gefühl des Ausgeliefertseins wollen wir nicht noch einmal erleben. So ergab es sich, dass wir einen Zaun errichtet, den Grenzschutz eingeführt und uns gegen den europäischen Mainstream gewendet haben. Und nachdem der liebe Gott uns geholfen hat, und er uns sowohl 2010 und auch 2014 erlaubte, ohne irgendeine Koalition die Regierungsmehrheit zu haben, ja uns sogar erlaubte, ohne Koalition über eine Zweidrittelmehrheit im Parlament zu verfügen, also konnten wir auch die im Interesse des Schutzes vor der Migration notwendigen Verfassungsänderungen durchführen – was einen Luxus in der gegenwärtigen Lage in Europa darstellt –, da also der liebe Gott uns diese Instrumente gegeben hat, mussten wir diese nutzen. So sind wir in die Situation geraten, dass wir heute hier eine Konferenz veranstalten. Der Herr Außenminister aus Australien riet uns von der europäischen Geste ab, die lautet: Wir können nichts tun. Und er weiß es aus Australien, dass die Menschen so etwas nicht gerne haben, und sie solche Politiker feuern. Glückliche Unschuld! In Europa ist das nicht so, Herr Außenminister. In Europa gibt es ein Mantra, ein Dogma, das seit dreißig Jahren errichtet wird, und in dem die Geste „ich kann nichts tun“ positive Bedeutung besitzt. Und möglicherweise gefällt dies den Menschen nicht, doch am nächsten Morgen schmettert die Presse, die Soft Power Lobeshymnen über den, der sagt: „Ich kann nichts tun.“ Ich erkläre Ihnen das. In Europa hat man im Laufe von 30, 40 Jahren die Konzeption aufgebaut, nach der die Gesellschaft und besonders die gemeinsame europäische Welt von Institutionen und nicht von Personen geführt werden soll, und die Institutionen seien in der Lage, auf alle Krisen – vielleicht langsamer als notwendig dann eine Antwort zu geben. Deshalb stellt in der europäischen politischen Konzeption die Institution eine gute Sache dar: Je größer desto besser, während der starke Politiker eine schlechte Sache ist. Deshalb erhält jeder starke führende Politiker eine negative Beurteilung, der sagt: „Ich löse das, ich unternehme es, zu lösen, was angeblich unmöglich ist.“ Und in dem Moment greift ihn die gesamte europäische Soft Power an. Nicht ich bin es, der hierüber am meisten über Kenntnisse verfügt, hier ist Herr Präsident Nicolas Sarkozy, der genau erklären kann, wie ein starker führender Politiker in Europa vom Mainstream anstelle von Anerkennung automatisch den Titel „gefährlich” verliehen bekommt. Hierfür gibt es sicherlich auch historische Gründe. Meine zweite Bemerkung: Man muss sich von der Angst befreien, man muss die Angst auslöschen. Das ist in Westeuropa sehr schwer. Was ich jetzt sage, ist eine Schätzung. Meiner Ansicht nach ist in der Westhälfte Europas die die Politik umgebende, diese aber nicht beeinflussen könnende Welt, die wir der Einfachheit halber als Soft Power bezeichnen sollten, die Thinktanks, die NGOs, die Universitäten, die „public intellectuals“, wie sie unser australischer Freund bezeichnete, die Medien, diese Welt, die die Politik umgibt, meiner Schätzung nach zu 85 Prozent linksliberal, und in der Lage, aufeinander abgestimmt zu handeln. Selbst wenn ein westeuropäischer Politiker das denkt, was ein Ungar denkt, und dann dies so vorträgt, wie ein Ungar, dann wird er am nächsten Morgen von diesen 85 Prozent in kleine Stücke zerrissen. Wir sind nicht mutiger als die Westeuropäer, sondern die Situation ist die, dass in Mitteleuropa die sich um die „hardcore power“, also den Kern der Macht befindliche Soft Power ungefähr zu 50-50 Prozent geteilt ist, sie bewegt sich im Augenblick vielleicht noch ein bisschen in christlich-konservative Richtung, dieser historische Prozess läuft. Deshalb kann ich diese Sätze, jene Herangehensweise, die ich hier Zuhause und im Ausland anwende, überleben. Hier in Mitteleuropa überlebe ich es, aber im Westen überlebe ich es nicht. Obwohl wir der Überzeugung sind, sowohl rein faktisch als auch moralisch Recht zu haben, und europäische Interessen zu vertreten, hatten in Westeuropa vielleicht noch nie ein Ministerpräsident und Land, wie ich und Ungarn, eine derart schlechte Reputation. Das zeigt sehr gut, dass wir hier natürlich kämpfen, und solange wir unsere Zweidrittelmehrheit im Parlament haben werden, kämpfen wir mutig weiter, doch ist dies, wie ich das gesagt habe, kein natürlicher Zustand. Es ist also für Ungarn eine Schlüsselfrage – das erklärt vielleicht jene Hoffnungen, die wir an die Italiener knüpfen –, dass endlich ein großes Land kommen soll. Nicht ein Land von zehn Millionen, sondern ein großes Land, die Franzosen oder die Spanier oder die Italiener oder die Deutschen. Doch wenn ich mich heute umblicke, dann sehe ich, dass es heute ein Land gibt, in dem eine Regierung kommen kann, die das sagt, was wir sagen, und es so sagt, wie wir das sagen, und die das vertritt, was wir vertreten, gerade aus dem Grunde, weil es auch ein Hinterland ist, mit einer Meeresgrenze, und es ist in seinem Interesse, die Migration aufzuhalten, auch auf dem Meer aufzuhalten, und soweit ich das sehe, ist dies Italien. Aber irgendjemand muss kommen, denn jetzt halten wir noch eine Weile durch, das kann aber nicht bis zum Ende aller Tage so weitergehen, ganz einfach aus dem Grund, da unsere Energien endlich sind. Wir brauchen ein großes Land, das endlich von Westeuropa aus das gleiche sagt wie wir. Im entgegengesetzten Fall halten wir, Mitteleuropäer, vergebens durch, wir werden in Europa eine Niederlage erleiden. Soviel vielleicht zur politischen Lage. Die Migration ist die wichtigste Kraft, welche die Einheit attackiert, und auch eine sehr ernsthafte intellektuelle und politische Herausforderung darstellt. Denn deutlich erkennbar scheiden sich in der Angelegenheit der Migration Westeuropa und Mitteleuropa voneinander. Diese Trennung ist soziologischer Natur, sie hängt nicht von unserer Entscheidung ab. Es geschah nämlich, dass sich in den westeuropäischen Ländern jene Situation einstellte, in der neben der die christliche Kultur vertretende ursprünglichen Bevölkerung in den vergangenen einigen Jahrzehnten eine bedeutende, zahlenmäßig viel schneller als die ursprüngliche Bevölkerung anwachsende, über ein starkes Selbstbewusstsein verfügende Minderheit erschien. Die Größenverhältnisse verändern sich kontinuierlich zu Ungunsten der christlichen ursprünglichen Bevölkerung und zu Gunsten der angekommenen neuen, grundlegend einen muslimischen Charakter tragenden Gemeinschaft. Deshalb ist heute in Westeuropa im Zusammenhang mit der Migration gleich nach dem Grenzschutz die wichtigste Frage, wie das, was bereits geschehen ist, das heißt dass sie hier sind, wie unser Zusammenleben mit ihnen gemanagt werden soll. Und bei jedem Gedanken geht es darum, sowohl die Prinzipien als auch die Ideologie sucht danach, auf welcher prinzipiellen Grundlage man das Nebeneinanderleben der miteinander offensichtlich sich nicht vermischen wollenden Kulturen handhaben könnte. An dieser Stelle öffne ich eine Klammer, es gibt viele Indikatoren der Integration, diese betrachte ich im Allgemeinen nicht als ernsthafte Indikatoren, ich glaube sie auch nicht. Die wahre Integration besitzt laut der ungarischen Erfahrung einen Indikator, und das ist der Indikator der Zahlen von Mischehen. Wenn wir bereit sind, einander zum Partner zu wählen, dann haben wir uns zueinander integriert. Wenn wir niemals, mathematisch gesehen nur wenige auf diese Weise wählen, dann heißt dies, wir sind nicht integriert. Und in dieser Hinsicht gibt es in Westeuropa eine große unintegrierte Gemeinschaft. Und deshalb konzentrieren sich alle Fragen hierauf. Demgegenüber ist die Lage in Mitteleuropa die, dass es hier keine Massen gibt. Deshalb mobilisieren wir null Energie für die Frage, wie man Migranten integrieren muss, denn das, was nicht vorhanden ist, muss man nicht integrieren. Und alle unsere Anstrengungen sind darauf gerichtet, dass es auch keine geben soll. Wir hier in Mitteleuropa sind der Ansicht, dass sich eine Situation herausgebildet hat. Ob wir diese Situation verdienen oder nicht, ob wir Glück haben oder nicht, das ist egal, aber eine Situation hat sich herausgebildet. Wir haben keine im Sinne der Zivilisation sich von der ursprünglichen Bevölkerung unterscheidenden großen Volksmassen mit uns zusammen im Land, und wir möchten diesen Zustand bewahren. Deshalb sprechen die Westler darüber, wie wir zusammenleben, wie wir uns integrieren sollen, und wir sprechen darüber, auf welche Weise dieser Gedanke erst gar nicht notwendig werde. Deshalb reden die beiden Hälften der europäischen Politik, die westliche und die östliche, aneinander vorbei, und offensichtlich sind ganz andere Prinzipien notwendig, um deinen Standpunkt, nach dem du solche Massen erst gar nicht haben willst, zu verteidigen, und es sind wiederum andere Prinzipien dazu notwendig, um zu erklären, warum und wie du sie integrieren und mit ihnen zusammenleben willst. Und aus diesem Grunde entfernt sich die europäische Politik auch hinsichtlich des tatsächlichen politischen Handelns und der geistigen Annäherung auf bedrohliche Weise voneinander, sie schreiten aneinander vorbei. Wie man diesen Unterschied überbrücken könnte, darauf kennt heute niemand die Antwort. In dieser Auseinandersetzung empfinden wir uns, das muss ich ehrlich zugeben, in der moralischen Überlegenheit. Mag sein, dass dies nicht schön ist, vielleicht entspricht es auch der christlichen Demut nicht in allen Dingen, doch empfinden wir, Ungarn, uns in der mit den Westlern geführten Diskussion in moralischer Überlegenheit. Der Grund dafür ist der folgende. Wir haben den Eindruck, sie wollen uns ihre eigene Situation und die daraus entspringende Annäherung aufzwingen. Auch wir haben eine Annäherung, doch wollen wir diese ihnen nicht aufzwingen, und das verleiht uns eine moralische Überlegenheit. Wir wollen ihnen auch keine Ratschläge geben, wie sie jenen Zustand wiederherstellen sollen, als es noch keine Migranten in großen Massen gab, denn das ist ihre Sache, das sind ihre Prinzipien, das ist ihre Annäherung, das ist ihre Integrationspolitik, das ist ihre Zukunft. Doch können wir auch nicht akzeptieren, dass sie aufgrund ihrer eigenen Erfahrungen uns sagen wollen, wie wir zu denken haben, und wie wir uns mit jenen zu vermischen haben, mit denen wir dies vorerst noch nicht mussten. Das führt uns zu der philosophischen Frage, wenn es eine Gemeinschaft gibt – und hierin, glaube ich, stimme ich mit unserem australischen Gast überein –, die ein souveräner Staat ist, über Grenzen verfügt, eine Bevölkerung besitzt, eine Verfassung und eine Legalität hat, und eine kulturelle Qualität besitzt, ob sie dann das Recht besitzt, auf diese kulturelle Qualität zu bestehen, oder muss sie die Lehre der Westler akzeptieren, nach der die westliche multikulturelle Staatsstruktur höherwertiger sei als unsere homogene Struktur, und wir uns deshalb mit dem Mittel der Migration multikulturell umgestalten müssten. Besitzt ein Land das Recht, „Nein“ zu sagen? Man kann darüber diskutieren, ob der Multikulturalismus irgendwann eines Tages eine höherwertige und wertvollere Welt zum Ergebnis haben wird als der Ausgangspunkt, darüber kann man diskutieren. Dies ist nicht die Frage, sondern ob es für uns, Ungarn, obligatorisch ist, an diesem Versuch teilzunehmen? Oder ob wir das Recht besitzen, zu sagen: „Vielen Dank, wir möchten uns nicht ändern, wir möchten so bleiben, wie wir jetzt sind. Selbstverständlich besitzen wir Fehler, die wir gerne verbessern, aber im Wesentlichen wollen wir uns nicht ändern.“ Besitzt ein Land das Recht dazu? Dies ist für einen angelsächsischen Geist eine sinnlose Frage, da die Antwort eine Evidenz darstellt: Ja, es besitzt das Recht. Aber wenn du das Mitglied der Europäischen Union bist, die auch eine politische Integration darstellt, dann ist die Antwort nicht so eindeutig. Und das ist es, was heute in den Debatten Ungarn Leiden zufügt. Es gibt einen berühmten, vielleicht in Kanada lebenden ungarischen Demographen, er heißt Pál Demény, mit dem ich das Glück habe, von Zeit zu Zeit konsultieren zu dürfen, und ich lerne viel von ihm. Es handelt sich um einen alten Herrn, und er sagt, die Migration erhalte aus dem Grunde nicht die entsprechende Aufmerksamkeit, weil der Zeithorizont in der Politik kurz, in der Migration aber lang ist. Und tatsächlich ergeben sich in unser aller Leben und so auch in der Politik immer Angelegenheiten, die dringend erledigt werden müssen. Sowohl für die Wähler als auch für die Politiker sind am wichtigsten: die dringend zu erledigenden Angelegenheiten. Sagen wir, der Brexit, um einen größeren Happen zu nennen. Die Migration hat einen anderen Charakter, den Zeithorizont der Migration muss man in Jahrzehnten messen. Ich nenne Ihnen jetzt hier einige Zahlen. Ich bin ein Mensch von 56 Jahren, und wenn mir der liebe Gott hilft, dann werde ich 2050 noch leben. Wer heute 40 Jahre alt ist, der wird 2060 noch am Leben sein. Wer 20 Jahre alt ist, der wird beinahe mit Sicherheit 2080 noch leben. Ein 10-Jähriger wird auch 2090 noch leben. Und wer irgendwann jetzt auf die Welt kommt, während wir uns unterhalten, der wird aller Wahrscheinlichkeit nach auch das 22. Jahrhundert erleben. Und wir alle gehören einer Gemeinschaft an, wir gehören zu der Gemeinschaft der heute lebenden Ungarn. Deshalb tragen wir auch Verantwortung, jeder entsprechend seines eigenen Alters, doch besitzen die zu den vorhin aufgezählten Lebensaltern gehörenden Gruppen eine gemeinsame Verantwortung für die Zukunft. Jene, die heute hier sitzen, werden noch sehen, wie Europa in 20, 30 und 40 Jahren aussehen wird, und sie werden in 20-30-40 Jahren darüber reden, was die europäischen Entscheidungsträger heute versäumt haben. Das ist es, was wir den Politikern klarmachen müssen, dass es immer dringendere Angelegenheiten gibt als die in einer Perspektive von 20-30 Jahren bedrohliche Konsequenzen mit sich bringende Migration, jedoch müssen trotzdem wir jetzt Entscheidungen treffen, denn sonst werden unsere Nachkommen im Übrigen in 20-30-40 Jahren mit Konsequenzen konfrontiert werden, vielleicht auch wir selbst noch, die wir bereuen werden. Im Allgemeinen arbeite ich auf Grund der Daten der Uno. Die Uno sagt in ihrer Schätzung von 2017 nicht weniger, als dass 2030 die Einwohnerzahl Europas um einige Millionen abnehmen wird, und bis 2030 wird jene von Afrika um 448 Millionen anwachsen. Innerhalb von 13 Jahren wird die Bevölkerung von Afrika um eine halbe Milliarde Menschen anwachsen. Die Bevölkerungszahl Afrikas wird nur um ein bisschen weniger in den kommenden zehn und einigen Jahren ansteigen als die gegenwärtige Zahl der Einwohner der Europäischen Union. Und dies wird auf die Weise geschehen, dass sich währenddessen der Unterschied zwischen dem Niveau des afrikanischen Lebens und dem des europäischen Lebens nicht verringern, sondern sich – wenn die Dinge so weiterlaufen – vielmehr vergrößern wird. Infolgedessen wird der Druck, der sich von Afrika aus nach Europa richtet, dass man von dort hierher kommen will, mit Sicherheit wachsen, ich kann das mit der Gewissheit der Kräfte der Naturgesetze sagen. Und das wird auf Europa einströmen. Ebenfalls im Vergleich zu 2010 – sagt eine andere Prognose – wird bis 2050, wenn wir noch leben werden, die Zahl der muslimischen Bevölkerung in Europa von den gegenwärtigen vierzig und einigen Millionen auf mindestens 70 Millionen anwachsen, und die der Christen wird parallel dazu um 99 Millionen abnehmen. Und da habe ich die Massen der neu Ankommenden noch gar nicht mitgezählt. Dies bedeutet, dass wenn die europäische Politik die Migration nicht mit der Ernsthaftigkeit auf die Tagesordnung setzt, wie wir das heute hier getan haben, und nicht schon jetzt und sofort Entscheidungen trifft, dann beginnen Prozesse, die man später nicht mehr aufhalten kann. Afrika kann man nicht in fünf Jahren entwickeln, jetzt muss man mit dem Entwickeln beginnen, damit wir die Hilfe dorthin tragen, und nicht die Probleme von dort zu uns kommen. Die Einheit von Ost und West in der Frage der Migration muss jetzt hergestellt werden, jetzt muss ein Modus Vivendi gefunden werden, denn später wird dies unmöglich sein. Sowohl hinsichtlich der europäischen Einheit als auch des Grenzschutzes sowie der Migration muss jetzt gehandelt werden. Abschließend möchte ich den Vorschlag von Herrn Präsidenten Sarkozy für die eine mögliche Lösung begrüßen, der – vielleicht etwas weniger philosophisch als ich das jetzt formulieren werde – sagt, das wichtigste in der Politik sei das Zugeben des Misserfolgs. Ich sage nicht, es sei leicht, zu siegen, doch ist das möglich, so etwas kommt vor. Es ist eine leichte Sache, mit dem Sieg zusammenzuleben. Die Fähigkeit, die Niederlage zuzugeben, den Misserfolg zuzugeben, ist in der Politik am wichtigsten, besonders in der internationalen Politik. Und hier haben wir vor uns einen gewaltigen Misserfolg. Seit 2015 sind inzwischen vier Jahre vergangen. Wir müssen zugeben, es ist unangenehm, doch müssen wir zugeben, dass die führenden Politiker der Europäischen Union, die gegenwärtigen Strukturen der Europäischen Union sind nicht in der Lage, die Angelegenheit der Migration und des Grenzschutzes zu lösen. Und wenn sie dazu in den vergangenen vier-fünf Jahren nicht in der Lage waren, haben wir keinen Grund anzunehmen, morgen würden sie dann dazu in der Lage sein. Deshalb muss man in das System eingreifen, und so wie im Interesse der Währung der Rat der zur Währungsunion gehörenden Finanzminister geschaffen worden ist, muss aus den Innenministern der zur Schengen-Zone gehörenden Länder ein neues Gremium geschaffen werden. Man muss der Kommission das Recht der Migration und des Grenzschutzes wegnehmen, dieses Recht muss man den Mitgliedsstaaten zurückgeben, und die Mitgliedsstaaten müssen über ihre Innenminister in eine neue Körperschaft delegiert werden, damit dort die Innenminister gemeinsam Antworten auf die Fragen des Grenzschutzes und der Migration geben. Wenn wir zumindest so viel nach den europäischen Wahlen erreichen würden, dann hätte es sich schon gelohnt, die europäischen Wahlen durchzuführen.
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Cicero-Redaktion
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Viktor Orban ist der derzeit wohl meistkritisierte Regierungschef Europas. Aber was bewegt den ungarischen Premierminister? Wir dokumentieren eine Rede, die Orban am vergangenen Samstag in Budapest anlässlich einer Konferenz zur Migration gehalten hat
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"Victor Orban",
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außenpolitik
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2019-03-26T17:24:14+0100
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2019-03-26T17:24:14+0100
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https://www.cicero.de//aussenpolitik/viktor-orban-migration-ungarn-eu-europa
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Putschversuch in der Türkei - „Ich glaube, das war zum Teil inszeniert“
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Herr Vad, Sie waren Brigadegeneral bei der Bundeswehr und als militärischer Berater lange in der Politik tätig, zuletzt im Bundeskanzleramt. Was war Ihr erster Gedanke, als Sie von dem Putschversuch in der Türkei erfahren haben? Mein erster Gedanke galt der alten römischen Frage: Cui bono? Also: Wem nutzt dieser misslungene Putsch vorrangig, zumal er ja offenbar ziemlich dilettantisch geplant war. Dann drängt sich sehr schnell der Verdacht auf, dass es sich um eine Aktion handeln könnte, die dem türkischen Präsidenten Erdogan beim Umbau seines Staates von Nutzen sein könnte, um missliebige Landsleute zu neutralisieren und ein auf ihn bezogenes, stärkeres Präsidialsystem zu etablieren. Ich musste auch daran denken, dass es für einen Militärputsch eher nachteilig ist, ihn mit der Luftwaffe und Teilen der Gendarmerie durchzuführen. Geeigneter sind da sicherlich zuverlässige und schnell verfügbare Heeresstreitkräfte, Spezialkräfte und Fallschirmjäger, weil es hier ja vorrangig um koordinierte Bodenoperationen geht. Der Militärputsch wurde sehr schnell niedergeschlagen, Erdogan erscheint jetzt mächtiger denn je. Sie halten es also für möglich, dass die Sache inszeniert war, um den türkischen Präsidenten zu stärken? Ich glaube nicht an eine gänzliche Inszenierung. Das wäre auch Erdogan zu riskant, zumal die Beteiligten dann ja auch öffentlich zur Rechenschaft gezogen und verurteilt werden müssten. Immerhin hat Erdogan in diesem Kontext bereits die Todesstrafe ins Spiel gebracht. Wahrscheinlicher ist, dass die türkischen Nachrichtendienste Wind davon bekommen haben, dass es Konspiration und Opposition gegenüber Erdogan in den Streitkräften gibt. Vielleicht gab es auch bereits konkretere Putschpläne. Es ist ja bekannt, dass Teile des Offizierskorps unzufrieden mit dem türkischen Präsidenten sind. Deswegen erscheint es mir plausibel, dass man regierungsseitig zugeschlagen hat, als man nachrichtendienstlich einen verlässlichen Überblick über die Planungen gewonnen hatte und bevor die Putschvorbereitungen abgeschlossen waren. Ich denke, man hat womöglich die Gunst der Stunde genutzt, um Tabula rasa in den Streitkräften und darüber hinaus machen zu können. Dass jetzt so kurzfristig an die 3000 Richter in der Türkei abgesetzt wurden, ist ja ein Indiz dafür, dass die Regierung entsprechende Pläne in der Schublade hatte. Welche konkreten Hinweise lassen Sie daran zweifeln, dass der Militärputsch tatsächlich ein ernsthafter Versuch war, Erdogan zu stürzen? Die türkische Armee hat in der jüngeren Vergangenheit ja durchaus schon mehrfach erfolgreich geputscht – zuletzt 1980, davor in den Jahren 1971 und 1960. Damals konnten sich die Streitkräfte auf weite Teile der türkischen Gesellschaft stützen. Das war dieses Mal offensichtlich nicht der Fall, wie die Demonstrationen zeigen. Erdogan hat trotz internationaler Kritik eine sehr starke Position in Staat und Gesellschaft der Türkei. Er ist anerkannt in der Bevölkerung – ob uns das gefällt oder nicht. Insofern war der innerhalb von Stunden gescheiterte Putschversuch einiger Generale und Obristen von Anfang an mit unkalkulierbaren Risiken verbunden. Auch wurde bei früheren Putschen der Präsident in der Regel sofort festgesetzt oder neutralisiert. Jedenfalls gaben sie keine Pressestatements mehr ab, wie dies der türkische Präsident Erdogan und auch der türkische Ministerpräsident Yildirim taten. Zudem ist Erdogan sogar aus seinem Urlaubsort nach Istanbul geflogen. Wenn man bedenkt, dass die Luftwaffe an dem Putsch beteiligt gewesen sein soll, klingt das nicht sehr glaubwürdig. Auch der frühe Zeitpunkt am Abend, an dem der Putsch begann, stimmt mich skeptisch. Die in der Mehrheit Erdogan freundlich gestimmte Bevölkerung lag zu diesem Zeitpunkt noch nicht in ihren Betten. Normalerweise werden „coup d’états“ eher nicht am frühen Abend, sondern aus taktischen Gründen in den sehr frühen Morgenstunden durchgeführt. Außerdem lassen früh erfolgte Gegenmaßnahmen der Regierung darauf schließen, dass die Überraschung ganz so groß nicht gewesen sein kann. Wie dem auch sei: Der gescheiterte Putsch hilft in jedem Fall dem türkischen Präsidenten beim weiteren Umbau seines Staates und wird in der Folgezeit auch weitere repressive innenpolitische Maßnahmen legitimieren. Sie haben mehrfach auch dienstlich die Türkei besucht. Welche Rolle spielt das Militär heute unter Erdogan? Das Militär hat in der Türkei immer eine große Rolle gespielt. Dabei darf die Gefahr der politischen Verselbstständigung des Militärs nicht außer Acht gelassen werden. Ob es noch in Zukunft die frühere Rolle eines Garanten der kemalistischen Demokratie spielen kann oder sich am Ende einem islamischen Präsidialsystem unterwirft, bleibt abzuwarten. Es ist dennoch – gerade mit Blick auf den gescheiterten Putsch – eine wesentliche Stütze der Macht des Präsidenten. Das wird absehbar auch unter Erdogan so bleiben – trotz der Unzufriedenheit, die in Teilen des Offizierskorps herrscht. Durch die Ereignisse vom Wochenende wird Erdogans Macht über die Streitkräfte sogar noch gestärkt, weil er jetzt die Gelegenheit hat, missliebige Militärs kaltzustellen und das Militär insgesamt zu säubern. Die Türkei ist Nato-Mitglied. Was würde es für die anderen Bündnispartner bedeuten, wenn dort das Militär für einen inszenierten Putsch hergehalten hätte? Eines vorweg: für eine Selbstinszenierung des Militärputsches vom Wochenende gibt es bislang keinen Beweis. Ein erfolgreicher Putsch wäre sicherlich nicht im Sinne des westlichen Militärbündnisses gewesen. Der amerikanische Präsident hat ja auch gleich darauf hingewiesen, dass es sich bei der Türkei trotz aller Missstände etwa in Sachen Meinungsfreiheit und nach unseren Standards eingeschränkter Rechtsstaatlichkeit um ein Land mit einer demokratisch gewählten Regierung handelt. Eine Militärdiktatur wäre da keine gute und sicherlich keine nachhaltige positive Lösung. Fakt ist aber auch, dass ein offensichtlich zumindest halb inszenierter Militärputsch nicht unbedingt eine vertrauensbildende Maßnahme ist. Ich sehe aber nicht, dass daraus eine nachhaltige Vertrauenskrise innerhalb des Bündnisses erwachsen könnte. Dazu ist die Türkei strategisch einfach zu wichtig für den Westen. Welche Rolle wird die Türkei langfristig in der Nato spielen, sollte sie sich weiter zu einem islamisch geprägten und autoritär regierten Staat entwickeln? Die Türkei ist ein ganz wichtiger geopolitischer Akteur in der Region. Sie ist der strategische Brückenkopf des Westens im Kampf gegen den „Islamischen Staat“ und zur Befriedung der Bürgerkriege in Syrien und im Irak. Die Türkei ist Nachbar dieser beiden großen Bürgerkriegsgebiete mit fast drei Millionen Flüchtlingen im Land. Zum Schutz der Nato-Südflanke ist die Türkei unerlässlich. Und obwohl es innerhalb der Nato natürlich Dissens gibt, etwa hinsichtlich der Kurden oder der anfänglichen Passivität der Türkei gegenüber dem „Islamischen Staat“, braucht die Nato eine handlungsfähige Türkei als sicherheitspolitischen Partner. Das Letzte, was wir wollen können, ist politische Instabilität in der Türkei. Die Türkei hat innerhalb der Nato nach den USA die zweitgrößte Armee. Nicht zuletzt sind wir wegen der europäischen Flüchtlingskrise auf die Türkei und deren Militär angewiesen. Die Türkei kooperiert mit der EU-Grenzschutzagentur Frontex und stellt Schiffe für die maritime Nato-Operation in der Ägäis. Auch überwachen Awacs – Aufklärungsflugzeuge der Nato das türkisch-syrische Grenzgebiet. Das wird auch in absehbarer Zukunft so bleiben. Diese strategischen Fakten sollte man im Blick behalten, wenn man insbesondere hierzulande aus vornehmlich innenpolitischen Gründen die Türkei massiv kritisiert, ohne dabei bereit zu sein, auch nur eine einzige ihrer sicherheitspolitischen Aufgaben im und für das Bündnis zu übernehmen. Herr Vad, vielen Dank für das Gespräch. Zur Person: Erich Vad, Jahrgang 1957, ist promovierter Historiker und Brigadegeneral a.D. des Heeres der Bundeswehr. Von 2007 bis 2013 war er in der außen- und sicherheitspolitischen Abteilung im Bundeskanzleramt tätig.
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Alexander Marguier
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Der frühere General und Berater im Kanzleramt, Erich Vad, sieht Indizien, dass die türkische Regierung frühzeitig von dem Putsch Kenntnis hatte oder diesen sogar inszeniert haben könnte, um Erdogans Macht zu sichern
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"Putsch",
"Putschversuch",
"Militärputsch",
"Türkei",
"Erdogan"
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außenpolitik
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2016-07-17T15:44:21+0200
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2016-07-17T15:44:21+0200
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https://www.cicero.de/aussenpolitik/putschversuch-in-der-tuerkei-ich-glaube-das-war-zum-teil-inszeniert
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Naumann über Zwanziger – Der Helmut Kohl der Fußballwelt
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Diesen Text finden Sie auch in der neuen Ausgabe des Cicero - jetzt am Kiosk zu kaufen oder hier zu bestellen Er ist eigentlich der idealtypische deutsche Verbandsfunktionär, Theo Zwanziger, 66, Präsident des Deutschen Fußball-Bundes (DFB), der aus heiterem Himmel zur Adventszeit seinen Rückzug aus dem hohen Amt ankündigte – ein Opfer der legendären DFB-Intrigen? Der scheinbar joviale, promovierte Rechtsanwalt gilt als bewährter Redner gegen Fremdenfeindlichkeit, Intoleranz und Homophobie „im Breitensport“. Er ist Träger des Bundesverdienstkreuzes Erster Klasse und des Leo-Baeck-Preises für seinen Einsatz gegen Rechtsextremismus. Mit Letzterem kann vor allem sein erfolgreicher Wahlkampf gegen seinen Vorgänger Gerhard Mayer-Vorfelder gemeint sein, der sich als Autor der neonazistischen Zeitschrift Nation und Europa die Freizeit vertrieb. Gegen die Faschisten in den sogenannten Fanblocks ist Zwanziger allerdings genauso machtlos wie die Polizei. Für die braune Vorgeschichte des DFB der Nachkriegszeit ist er auch nicht verantwortlich. (Wer erinnert sich schon noch an den Besuch des NS-Kampffliegers und NPD-Trommlers Rudel im Quartier der deutschen Nationalmannschaft während der WM in Argentinien? Eingeladen wurde er damals vom DFB-Chef Neuberger.) Bei herausragenden Länderspielen saß Zwanziger gewöhnlich neben der Bundeskanzlerin und teilte mit ihr die telegene, wohlverdiente Aura der Selbstzufriedenheit, ein Helmut Kohl der Fußballwelt. Die Europameisterschaft in Polen und der Ukraine wird er noch „mitnehmen“. Der Kontrast zwischen ihm und den jungen Spielern des Bundestrainers Jogi Löw (den er wohl am liebsten nach der WM in Südafrika losgeworden wäre) könnte größer nicht sein. Zwanziger sitzt bis zur Demission am Nierentisch einer überalterten Organisation, deren hochbegabte Nationalspieler in einer ganz anderen Welt groß geworden sind. Mittlere und kleine Skandale in seinem Reich perlten an ihm ab, an ihrer Spitze angeblich steuerhinterziehende DFB-Schiedsrichter mit Bankverbindungen in die Schweiz. Zwanziger ist der geniale Beschwichtiger in einem epochenversetzten Verbandsmilieu, in dem kritischer Journalismus auch einmal mit Prozessen bekämpft wird, wenngleich vergeblich. Zum Absteiger des Sportjahres 2011 aber hat er sich schon vor seinem Rückzug durch seine ehrgeizig betriebene Wahl in das Exekutivkomitee des Weltfußballverbands „Fifa“ qualifiziert – Voraussetzung war die von ihm begrüßte Wiederwahl des Fifa-Paten Joseph Blatter. Die absolute Bestechlichkeit von manchen Fifa-Verbandsmitgliedern ist in der Schweiz gerichtsnotorisch und reicht weit in die Geschichte zurück. Die Fifa vergibt die Fußballweltmeisterschaften. Wer sich, ob in besten Absichten oder nicht, in die engere Kumpanei dieser Organisation begibt, wird den Ruch eines kooptierten Genossen nicht los. Seinen Fifa-Sitz wird Zwanziger wahrscheinlich nicht zur Verfügung stellen. „Die Fifa“, meinte der Vorstandsvorsitzende des FC Bayern, Karl-Heinz Rummenigge im Kicker, „ist ein Korruptionsstadel – dafür gibt es genug Beweise. Das wird auch Dr. Zwanziger nicht ändern. Der Fußball wurde zu lange von Leuten wie Blatter und Konsorten missbraucht.“ Sollte Theo Zwanziger vorhaben, die surrealistische Vergabe der WM 2022 an den Wüstenstaat Katar bargeldlos rückgängig zu machen, müsste er natürlich „Sepp“ Blatter beerben. „Schau’n mer mal“, wie Ex-Fifa-Mitglied Franz Beckenbauer zu sagen pflegt, wenn er wieder mal nichts gesehen hat.
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14 bekannte Juroren küren im neuen Cicero in sieben unterschiedlichen Kategorien ihre Auf- und Absteiger des Jahres. Cicero-Chef-Redakteur Michael Naumann nominiert als Absteiger in der Kategorie "Sport" Theo Zwanziger, der bereits für März 2012 seinen Rücktritt angekündigt hat
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innenpolitik
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https://www.cicero.de//innenpolitik/theo-zwanziger-der-helmut-kohl-der-fussballwelt/47825
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Willy Blum - Die ARD und der vergessene Sinto-Junge aus Buchenwald
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August 1944. Willy Blum, 16 Jahre, fährt mit dem Zug auf dem Ettersberg ein, passiert das Tor mit der Aufschrift „Jedem das Seine“. Tagelang hat der Sinto-Junge mit seinem zehnjährigen Bruder Rudolf und seinem Vater in einem Waggon ausgeharrt, mit Hunderten Menschen, ohne Wasser oder Toiletten. Die drei sind dem Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau entkommen. Die Mutter wurde ermordet, so wie mehr als 20.000 Häftlinge des „Familienlagers“, das die Nationalsozialisten in jenen Tagen in ihrem größten Vernichtungslager räumen. Willy Blum wird als arbeitsfähig selektiert, ihn schicken sie zurück ins Reich. Irgendwie gelingt es ihm und seinem Vater, auch den kleinen Rudolf mitzuschmuggeln. In Buchenwald landen sie zunächst im „Kleinen Lager“, einer überfüllten Baracke, die ursprünglich als Viehstall konzipiert war, dann werden sie getrennt: Der Vater wird in den Stollen von Mittelbau-Dora geschickt, die Jungen kommen in einen anderen Trakt. Willy Blum kümmert sich um seinen kleinen Bruder. Er übernachtet mit ihm im gleichen Zeltlager, Block 58, dann Block 47. Willy hat die Häftlingsnummer 74254. Rudolf die 74251. Auf ihrem weiß-blau gestreiften Häftlingsoverall ist ein schwarzes Dreieck aufgenäht. Es ist das Lagerkennzeichen für „Zigeuner“. Die Geschichte von Willy Blum und seinem Bruder Rudolf ist die Geschichte, die der MDR in seiner jüngsten Buchenwald-Aufarbeitung weggelassen hat. Und die hätte am Mittwochabend erzählt werden müssen. „Nackt unter Wölfen“ heißt der Spielfilm von Drehbuchautor Stefan Kolditz und Produzent Nico Hoffmann, der mit einer Dokumentation und einer Online-Multimediareportage begleitet wurde. Am Donnerstag, den 9. April (20.15 Uhr), zeigt der MDR den Fim. Das gleichnamige Buch von Bruno Apitz wurde in der DDR viel gelesen, es widmet sich dem Schicksal von Stefan Jerzy Zweig. Aber zur Geschichte von Zweig gehört die von Willy Blum. Beide sind Opfer des Holocaust und der menschenverachtenden Logik des Terrors. Während man den einen vergessen hat, gilt dem anderen bis heute das kollektive Gedenken. Stefan Jerzy Zweig, Sohn eines polnisch-jüdischen Rechtsanwalts, kommt etwa zur gleichen Zeit wie der Sinto-Junge in Buchenwald an. Es ist der 5. August 1944, der blonde, gerade mal drei Jahre alte Junge steht barfuß neben seinem Vater am Eingang des Lagers. Im Film wird er in einem Koffer nach Buchenwald geschmuggelt. Die Aufregung ist groß: Nie zuvor hat es in dem KZ ein Kleinkind gegeben. Zwar gibt es mehrere Minderjährige; das Durchschnittsalter liegt bei 16 Jahren, mehr als 900 Kinder überlebten das Konzentrationslager bis zum Kriegsende. Doch keines war so jung. Kommunistische Häftlinge nehmen sich des jüdischen Kindes an. Sie verstecken es erst unter Typhus-Kranken, dann an wechselnden Orten im Lager – und riskieren damit ihr Leben. Als Zweig nach Auschwitz deportiert werden soll, gelingt es den Kommunisten, seinen Namen von der Transportliste zu streichen. Auf diese Weise geschieht das kleine Wunder: Der Junge überlebt. Der Schriftsteller Bruno Apitz, der selbst in Buchenwald einsaß, schrieb die Geschichte 1958 auf. Der Roman „Nackt unter Wölfen“ avancierte in der DDR zu einem Klassiker. An Schulen wurde er zur Pflichtlektüre – als ostdeutsche Anne Frank, sozusagen. In der Bundesrepublik war „Nackt unter Wölfen“ hingegen kaum bekannt. 1963 verfilmte Frank Beyer das Buch für die DEFA. Zugleich fanden Journalisten den „echten“ Stefan Jerzy Zweig. Man holte Zweig in die DDR, feierte ihn. Er – das „Buchenwaldkind“ – war der Stoff, aus dem die SED das Bild vom außergewöhnlich starken und weit verbreiteten roten Widerstand gegen das Nazi-Regime webte. Den gab es in dieser Ausprägung nicht. Die DDR-Geschichtsschreibung betonte das Leid der Kommunisten in Buchenwald stärker als jenes anderer Opfergruppen. Übertrieben wurde auch der Anteil der Kommunisten an der Befreiung des Lagers – und an der Rettung von Stefan Jerzy Zweig. In der ARD erklärt das auch die anschließende Dokumentation „Buchenwald – Heldenmythos und Lagerwirklichkeit“. Was dort jedoch fehlt, ist eine Erkenntnis, zu der die Historiker erst nach der Wende kamen. Da nämlich stellte sich die Rettungsgeschichte als mindestens unvollständig heraus. Im September 1944 steht Willy Blum vor der wohl folgenschwersten Entscheidung seines Lebens. Sein Bruder Rudolf soll zurück nach Auschwitz. Die SS hat den Zehnjährigen auf eine Transportliste gesetzt. Rudolf hat die Nummer 38. Er ist einer von 200 Kindern und Jugendlichen, die in Buchenwald erneut selektiert werden. Auf der Liste – getippt mit Schreibmaschine, abgeheftet im „Ordner Nr. 162“, – steht noch ein Name: Stefan Jerzy Zweig, Nummer 200. Was mag in Willy Blum in diesem Moment vorgegangen sein? Sein Bruder Rudolf, alleine in Auschwitz, in dieser Mordfabrik? Würde er noch einmal die Selektionsrampe passieren? Willy Blum meldet sich freiwillig für den Transport. Das geht aus einer Akte des Internationalen Suchdienstes in Bad Arolsen hervor, auf die die Forscher der Gedenkstätte Buchenwald gestoßen sind und die Cicero vorliegt. Er ist nicht der einzige: Mit ihm entscheidet sich noch ein weiterer, als „Zigeuner“ markierter, Junge für diesen Schritt: der 18-jährige Tscheche Walter Bamberger. „Die [Häftlinge] 41923/47 Bamberger W. und 74254/47 Blum Willy wollen auf Transport mit ihren Brüdern, wogegen keine Bedenken bestehen“, heißt es in der Notiz des Lagerarztes und SS-Sturmbannführers August Bender vom 23. September 1944. Die endgültige Transportliste muss jemand hektisch in letzter Minute getippt haben. Willy Blums Häftlingsnummer enthält einen Fehler und wird handschriftlich korrigiert. Er ist der „Ersatz“ für die Nummer 200 – Stephan Jerzy Zweig. Zwölf Kinder und Jugendliche werden von der Liste gestrichen, dafür werden zwölf andere eingesetzt. Der Stiftungsdirektor der Gedenkstätte Buchenwald, Volkhard Knigge, hat diesen Vorgang einmal als „Opfertausch“ bezeichnet. Für Stefan Jerzy Zweig, der heute 74 Jahre alt ist, muss das unerträglich gewesen sein, suggeriert er doch eine Mitverantwortung für den Tod des Sinto-Jungen. Wie zynisch aber wäre das: Welche Schuld trifft schon einen Dreijährigen in einem solchen Mordsystem? Zweig klagte gegen diesen Begriff. Ein Gericht gab aber Knigge Recht. In zweiter Instanz kam der Stiftungsdirektor dem Holocaust-Überlebenden entgegen. Knigge spricht in Interviews nicht mehr von „Opfertausch“ – eher aus Mitgefühl für Zweig, weniger aus wissenschaftlichen Erwägungen heraus, wie auch aus dem Urteil des Landgerichts Berlin im März 2011 hervorgeht. Am 25. September 1944, gegen 10 Uhr morgens, steigen Willy und Rudolf Blum in den Zug nach Auschwitz. Die fünf Waggons mit 200 Sinti- und Romajungen rollen von Weimar über Weißenfels, Falkenberg/ Elster und Breslau bis nach Birkenau. Nur zwei entkommen dem Tod. Willy und Rudolf Blum sind nicht darunter. Dass es diesen Kinderzug ins Gas gab, auch das wird in der Dokumentation zum Film nicht erwähnt. An einer Stelle, in der es um die wichtige Hilfe der kommunistischen Funktionshäftlinge für minderjährige Mitgefangene geht, hätte man diesen Transport erwähnen können. In Minute 22:42 heißt es richtig: „Die sogenannten Kinderblocks hätte es ohne den Einsatz der roten Kapos nicht gegeben. Sie machen ihren Einfluss auf die SS geltend, versprechen, die Kinder in Handwerksberufen auszubilden, fälschen Altersangaben und verhindern so in vielen Fällen ihre Deportation.“ Es sind tatsächlich die Kommunisten, die Stefan Jerzy Zweig vor dem Tod bewahrt haben. Doch von Willy Blum und dem Kinderzug erfährt der Zuschauer nichts in der Begleit-Doku. Es hätte noch eine weitere passende Stelle zur Aufklärung gegeben. Dort, wo die Historikerin Karin Hartewig über die Abteilung Arbeitsstatistik spricht, die für die Zusammenstellung von Häftlingstransporten verantwortlich war: „Und wenn da jemand saß, der die eigenen Genossen von einer eventuell vorbereiteten Liste streichen konnte, dann musste er andere Namen dafür einsetzen.“ Dass hier kein Anschluss an das Schicksal von Willy Blum gesucht wurde, kritisiert Hartewig: „Es ist der Dokumentation anzulasten, dass sie da nicht auf dem neuesten Forschungsstand ist.“ Bill Niven, Historiker an der Nottingham Trent University und Autor von „Das Buchenwaldkind“, sagt, „es wäre gut gewesen“, den Tauschvorgang in der Dokumentation zu erwähnen. „Ich verstehe nicht, warum das nicht getan wurde. Der Zuschauer hätte doch die Erwartung gehabt, das zu sehen.“ Buchenwalds Stiftungsdirektor Knigge sagt, die Filmteams hätten sich die Transportlisten ansehen können, sie hängen im Museum aus. „Das ist Stand der Geschichte.“ Der MDR erklärte auf Cicero-Anfrage schriftlich, es gehe in der Begleit-Doku „nicht um die dokumentarische Verfolgung von Einzelschicksalen, sondern um eine historisch korrekte Betrachtung des Systems Buchenwald“. Die Biografie von Stefan Jerzy Zweig habe weder in dem Spielfilm „Nackt unter Wölfen“ noch in der Doku im Vordergrund gestanden. Tatsächlich aber ist das Bild des kleinen jüdischen Jungen – der im Film von Vojta Vomáčka gespielt wird – auf den Pressemappen des Filmes und der Doku. In ihren Vorworten gehen sowohl ARD-Programmdirektor Volker Herres als auch MDR-Intendantin Karola Wille direkt auf das DDR-Buch „Nackt unter Wölfen“ von Bruno Apitz ein. Stefan Jerzy Zweig ist von den Filmemachern zu zwei Premieren in Berlin und Weimar eingeladen worden – und jener in die Hauptstadt gefolgt. Wie also kann der MDR behaupten, hier gehe es nicht um das Schicksal von Stefan Jerzy Zweig? „Wir legen einerseits großen Wert auf die Unterscheidung zwischen den historischen Ereignissen in ihrer zeitgeschichtlichen Betrachtung und ihrer künstlerischen Bearbeitung“, erklärt die Sprecherin. Für die Neuverfilmung haben Drehbuchautor Kolditz und Produzent Hoffmann die Vorlage von Apitz nach eigenen Angaben „vertieft“, „korrigiert und differenziert“. Und in der Doku würden „die Rolle der 1958 eingeweihten Gedenkstätte, die Rolle des Romans und die der DEFA-Verfilmung in der ideologisch aufgeladenen Selbstdarstellung der DDR als antifaschistischem Staat“ thematisiert, als auch die Funktionsweise des Lagers. Nur eben das Schicksal des Sinto-Jungen Willy Blum wird nirgends erwähnt. „Wenn in einem Film im Jahr 2015 diese Tatsache, dass da ein kleiner Sinto eine entscheidende Rolle gespielt hat, keine Erwähnung findet, ist das nicht mehr nachvollziehbar“, sagt Wolfgang Benz, der ehemalige Leiter des Zentrums für Antisemitismusforschung und ebenfalls Experte für Antiziganismus. „Das liegt auf der Linie der allgemeinen Rezeption: Was den Sinti und Roma passiert ist, interessiert die Öffentlichkeit nicht. Sie sind die mit Abstand unbeliebteste Minderheit.“ An Willy Blum und seinen Bruder Rudolf erinnern heute nur noch zwei kleine Gedenksteine im Erdboden. Sie wurden von jugendlichen Freiwilligen auf dem Ettersberg in Weimar niedergelegt – genau auf jener Trasse, auf der im September 1944 die Buchenwaldbahn 200 Kinder nach Auschwitz brachte. Mit Dank an Harry Stein, Kustos der Gedenkstätte Buchenwald, und den Internationalen Suchdienst in Bad Arolsen, der die beiden Akten zur Verfügung gestellt hat. Aktualisiert am 8. April (Programmhinweis MDR).
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Petra Sorge
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Die ARD wollte mit dem Film „Nackt unter Wölfen“ die Rettungsgeschichte des „Buchenwaldkinds“ Stefan Jerzy Zweig neu aufarbeiten. Doch in der Begleit-Doku fehlt ein wichtiges Detail: dass an dessen statt der Sinto-Junge Willy Blum nach Auschwitz fuhr. Historiker üben Kritik
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kultur
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2015-04-02T12:31:18+0200
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https://www.cicero.de//kultur/willy-blum-der-vergessene-sinto-junge-aus-buchenwald/59076
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Eckhard Jesse über den Aufstieg der AfD - Ein Rücktritt Merkels wäre „Triumph und Rückschlag“
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Herr Jesse, als Wahl- und Parteienforscher haben Sie sich intensiv mit der AfD beschäftigt. Laut einer aktuellen Umfrage verzeichnet die Partei mit 17,5 Prozent ein Allzeit-Hoch. Ist die AfD auf dem Weg zu einer neuen Volkspartei?
Die AfD ist vor allem eine Protestpartei, keine Volkspartei. Sie versucht unterschiedliche Strömungen zu integrieren, auch wenn die Partei, freilich in höchst unterschiedlichem Ausmaße, Stimmen von Parteien unterschiedlicher Richtung abzieht. Sie profitiert von deren Versäumnissen. Im Übrigen: Das Ergebnis einer Umfrage ist nicht das Ergebnis einer Wahl. Wer auf kurzatmige demoskopische Bestandsaufnahmen fixiert ist, kann sein blaues Wunder erleben. Die Fluktuation der Wählerschaft ist beträchtlich. Dennoch rangiert die AfD offenbar vor der SPD. Wie erklären Sie sich die Stärke der AfD?
Das jetzige Stimmungshoch ist sehr stark dem irrationalen Streit zwischen CDU und CSU geschuldet und auch dem zwischen Angela Merkel und Horst Seehofer. Da ist ein Scherbenhaufen entstanden. Die leidigen Querelen um Seehofers Masterplan haben der Union geschadet. Mancher Anhänger Seehofers in der Sache ist von seinem Stil angewidert und votiert für die AfD. Zum anderen nützt der AfD generell die Existenz der Großen Koalition, die ja immer sagt, die „Großen“ seien eine Art geschlossener „Block“. Der Eindruck eines „geschlossenen Blocks“ bei der Flüchtlingspolitik ab 2015 hat dann zu einer „Repräsentationslücke“ geführt, welche die AfD füllen konnte. Gegen mehr Flüchtlinge und offene Grenzen ist jetzt aber auch die CSU. Wieso kann sie kein politisches Kapital daraus schlagen?
Die AfD vertritt noch immer Positionen, die andere Parteien in dieser Schärfe so nicht repräsentieren. Vielen Bürgern widerstrebt der Kurs Seehofers und Söders, weil der Eindruck von Wahlkampftaktik entsteht: Es werde geredet, aber nicht gehandelt. Allerdings: Dass die AfD für die Landtagswahl in Bayern keinen Spitzenkandidaten aufgestellt hat, dürfte ihr im Wahlkampf schaden. Die Personalisierung der Politik ist nämlich weit fortgeschritten. Hat die CSU also die falsche Strategie gegen die AfD?
Die Strategie ist wenig konsequent. Auf der einen Seite beschimpft die CSU die AfD, sie sei radikal und „unbayerisch“. Auf der anderen Seite greift sie Forderungen dieser Partei auf, um die Stimmen der Wähler flugs zurückzugewinnen, die bei der Bundestagswahl für die AfD votiert haben. Das passt irgendwie nicht recht zusammen. Und die AfD kontert: „Die AfD hält, was die CSU verspricht.“ Man wird sehen, ob das am 14. Oktober verfängt. Die AfD fällt anders als ihre politischen Konkurrenten jedoch immer wieder durch ihre rassistischen und hetzenden Aussagen auf. Wäre sie noch erfolgreicher, wenn sie diese unterließe?
Provokationen und Tabubrüche sind bei der AfD an der Tagesordnung, teils geplant, teils unkalkuliert. Dadurch erregt sie große Aufmerksamkeit, weil ihr wütende Kritik entgegenschlägt. Gegenwärtig schneidet die AfD am besten dort ab, wo sie radikaler auftritt, im Osten nämlich. Protest wirkt. Auf Dauer aber dürfte ihr damit nicht gedient sein. Das schreckt die potenzielle Anhängerschaft wohl ab, zumal der Partei dann auch seriöse Leute weitaus weniger beitreten als bei einem gemäßigten Auftreten.
Sie schreiben, nicht alle würden die AfD nur aus Protest wählen. Ein Drittel der Wähler auch aus Überzeugung. Auf die Bundestagswahl 2017 angewandt wären das ca. 2 Millionen Menschen. Was heißt das konkret: Was sind die Überzeugungen dieser 2 Millionen?
Die AfD ist zwar jetzt noch im Wesentlichen ein Protestpartei, aber sie hat es immerhin in fünf Jahren geschafft, eine gewissen Stamm für sich gewonnen zu haben. Viele der Wähler sehnen sich nach der „alten“ Union zurück. Die AfD ist, wie immer man zu ihr stehen mag, keine „Eintagsfliege“. Die Erfahrungen in anderen Ländern mit rechtspopulistischen Parteien sprechen Bände. Die AfD ging als Professoren-Partei an den Start, jetzt gilt sie manchen hingegen als die neue Arbeiterpartei. Haben die Arbeiter in Deutschland eine neue politische Heimat gefunden?
Die AfD profitierte bei der Bundestagswahl 2017 neben den Nichtwählern außerdem stark von bisherigen Wählern kleinerer Parteien, ferner von bisherigen Wählern dreier Konkurrenten: der Union (fast eine Million), der SPD (fast eine halbe Million), der Partei Die Linke (400.000). Von ihnen konnte sie insgesamt knapp zwei Millionen Wähler dazugewinnen. Die Zahl bisheriger Wähler der Grünen und der Liberalen ist nicht erwähnenswert, weil das Wohlstandsmilieu beider Parteien ein ganz anderes ist. Auf den ersten Blick muss überraschen, dass Die Linke derart viele Stimmen an die AfD abgegeben hat. Da Die Linke im Kern die Flüchtlingspolitik Angela Merkels unterstützt hat, ist ein Teil ihrer Wähler aus Unzufriedenheit mit der „Willkommenskultur“ Angela Merkels und ihrer Partei zur AfD gegangen. Außerdem gilt Die Linke mittlerweile, jedenfalls im Osten des Landes, als eine etablierte Kraft, so dass bisherige linke Protestwähler ein neue Heimstatt bei der rechten Protestpartei gefunden haben. Die Zahl der Arbeiter und der Arbeitslosen ist bei der AfD etwas überrepräsentiert. Allerdings trifft die Kennzeichnung als „Arbeiterpartei“ für die AfD insofern nicht zu, als sie in vielen Schichten beheimatet ist, am wenigsten bei den Gutbetuchten. Am wenigsten bei Gutbetuchten also, am meisten jedoch bei Ostdeutschen. Diese haben für die AfD bei der Bundestagswahl 2017 mehr als doppelt so häufig gestimmt wie die Wähler im Westen. Wie erklären Sie sich diese enormen Unterschiede zwischen den neuen und alten Bundesländern?
Bei der Bundestagswahl 2017 wählten 21,9 Prozent der Ostdeutschen die AfD, aber „nur“ 10,7 Prozent der Westdeutschen. Die Hauptgründe für diese Diskrepanz sind: Zum einen ist in den neuen Bundesländern die nationale Identität stärker ausgeprägt, das Verständnis für grüne Minderheitsthemen geringer. Zum anderen ist hier der Prozentsatz der sozial schwächeren Schichten stärker. Und was der AfD auch zugute kommt: Im Osten ist die Bindung an eine Partei ohnehin nicht so stark, sodass Proteststimmen stärker durchschlagen. Sehen Sie in den Unterschieden der politischen Kultur ein Problem für den politischen Zusammenhalt Deutschlands?
Das muss kein Manko sein. „Der Osten“ setzt stärker auf Gleichheit, „der Westen“ stärker auf Freiheit. Während hier stärker eine Konfliktkultur besteht, dominiert im Osten eher eine Konsenskultur. Aber diese Differenzen gefährden ganz und gar nicht das Zusammenwachsen der Menschen in Ost und West. Schließlich gibt es zwischen dem Norden und dem Süden des Landes auch Unterschiede, etwa im Wahlverhalten. In Deutschland gibt es, im Gegensatz etwa zu Belgien, Großbritannien, Italien und Spanien, keine Sezessionsbestrebungen. Selbst der schärfste Kritiker will nicht die Einheit des Landes rückgängig machen. Viele werfen der AfD vor, sie hätte außer ihrer Kritik an der Migrationspolitik nichts zu bieten. Stimmt das?
Hatte die AfD in ihrer Anfangszeit die Eurokrise in den Vordergrund gerückt, so ist es jetzt die Migrationspolitik. Ansonsten befürwortet die Partei Volksabstimmungen nach Schweizer Vorbild – sie wendet sich als Anti-68er-Partei gegen die Positionen der Grünen. Und in einigen wichtigen Fragen hat sie noch nicht Farbe bekannt. Das gilt etwa für die Rentenpolitik. So ist sie nicht einig darüber, ob sie eher auf Leistungsträger setzen oder stärker Sozialpopulismus propagieren soll. Ostdeutsche Vertreter stehen eher für diese Richtung. Auch in der Außenpolitik laviert sie, wenngleich hier eine insgesamt positive Haltung zum autoritären Russland überwiegt. Die AfD kontert gerne damit, das Volk würde in Deutschland unterdrückt von einem „Meinungsregime“. Alexander Gauland nennt es „DDR light“. Was ist dran an dieser These?
Wer „DDR light“ sagt, weiß nicht, was eine Diktatur ist. Aber in der Tat gibt es bei bestimmten Themen einen gewissen Konformitätsdruck. Wer hier liberal-konservative Positionen einnimmt, muss gewissen Mut haben. „Meinungsdiktatur“ ist jedoch etwas anders. Eine weniger stickige Debattenkultur könnte zu mehr Offenheit beitragen und die AfD schwächen. Political Correctness nützt keiner Seite etwas. Ein Gutteil der Kritik scheint sich auch gegen die Kanzlerin zu richten, was in der Forderung kulminiert: „Merkel muss weg“. Wie ist Merkel zu einer Hassfigur geworden?
Die Partei hat sich in der Tat auf Merkel „eingeschossen“. Die Aussage „Merkel muss weg“ ist eine Aussage, die zum legitimen politischen Meinungskampf gehört. Schließlich wird der Bundeskanzlerin vorgeworfen, in der Flüchtlingspolitik versagt und einsame Entscheidungen getroffen zu haben. Allerdings verbietet es sich, und dieses Diktum kommt auch aus den Reihen der AfD, sie als „Kanzlerdiktatorin“ zu bezeichnen. Im Kern aber ist der Hauptgegner nicht die Union, sondern die Partei der Grünen. Die AfD ist eine Art späte Reaktion auf die Programmatik dieser Partei.
Laut AfD scheint Merkel für diese „grüne Programmatik“ also zu stehen. Wäre ein Rücktritt Merkels strategisch nicht eine Katastrophe für die AfD?
Sollte Angela Merkel zurücktreten, so wäre dies für die AfD beides: ein Triumph und ein Rückschlag. Triumph deshalb, weil sie dann sagen kann, zu diesem Ergebnis durch harte Kritik beigetragen zu haben. Das zeige ihren Einfluss auch ohne Regierungsamt. Rückschlag deshalb, weil ihr so das Feindbild Merkel fehlt. Wahrscheinlich ist für die AfD ein Weiterregieren Merkels besser. Schließlich liegt es nahe, dass von ihr nach einer Kanzlerschaft von fast 13 Jahren keine innovativen Ideen mehr kommen, zumal sie einer Großen Koalition mit einer angeschlagenen SPD vorsteht und die CSU ihr das Leben eher schwer macht. Jetzt ist die AfD im Bundestag vertreten. Ist das eine Gefahr für die Demokratie im Lande?
Die parlamentarische Repräsentanz einer solchen Kraft im Parlament ist positiv zu sehen. Gleiches gilt für die Partei Die Linke. Das kann unsere gefestigte Demokratie ertragen. Die Debatten im Parlament werden nicht nur lebendiger, sondern auch rauer. Die anderen Parteien müssen sich mit der AfD kritisch auseinandersetzen, und die AfD muss zeigen, dass sie Lösungsansätze zu bieten hat. Es verbietet sich, diese politische Kraft mit Geschäftsordnungstricks auszugrenzen. Was müssten die Volksparteien also stattdessen tun, um verlorenes Vertrauen zurückzugewinnen?
Sie müssen viel tun, aber nicht die AfD dämonisieren. Die oft abgehobenen Volksparteien, die sich von der Lebenswirklichkeit ihrer Wähler entfernt haben, sind entkernt, ja in einer Krise. Das gilt zumal für die SPD, die mit kosmopolitischen Ideen einen Teil ihrer Wähler an die AfD verloren hat und sich auf die Lösung handfester Probleme im sozialen Bereich konzentrieren muss. Und der Union ist zu raten, wieder eine Partei mit erkennbaren Flügeln zu werden: einem christlichen, einem liberalen, einem sozialen und einem konservativen Flügel. Wer die eigene Politik als alternativlos ansieht, verliert Wähler. Gesundbeterei hilft nicht. Angesichts einer verbreiteten Individualisierung ist es aber unwahrscheinlich, dass Volksparteien zu alter Stärke zurückfinden. Einen anderen Weg schlug vor kurzem Jürgen Habermas vor. Er forderte von der Politik, die Wähler nicht weiter „normativ zu unterfordern“. Damit will er ein europäisches Bewusstsein fördern entgegen einem angeblichen Trend hin zum Nationalismus. Was halten Sie davon?
Ein europäischer Bundesstaat ist eine Chimäre. Wer Nationalstaaten befürwortet, muss deswegen kein Nationalist sein. Europa muss stark sein – das kann es gerade durch funktionierende Nationalstaaten sein. Krieg ist zwischen den Staaten der Europäischen Union nicht denkbar. Das ist ein riesiger Fortschritt gegenüber vergangenen Zeiten. Wer allerdings einen europäischen Bundesstaat zu forcieren sucht, fördert indirekt Nationalismus. Sie schreiben, dass unser Parteiensystem in Deutschland durch die Bundestagswahl 2017 „europäisiert“ wurde. Das heißt vor allem, dass rechte Parteien jetzt auch im Parlament sitzen. Was erwartet uns konkret in den nächsten Jahren?
Durch die Last der deutschen Geschichte von 1933 bis 1945 gab es in diesem Land lange keine größere Kraft rechts der Union. Dieser deutsche Sonderweg ist nun wohl vorbei. Deutschland, erwachsen geworden, kann eine solche Kraft nicht mehr unter Quarantäne halten. In den nächsten Jahren erwartet uns keine Koalition mit der AfD. Sie ist weder regierungswillig noch regierungsfähig. Aber in einem Jahrzehnt dürfte dies anders aussehen, wenngleich dies heute geleugnet wird. Was sich auf dem linken Spektrum mit den Grünen Anfang der 1980er und mit der PDS Anfang der 1990er Jahre vollzogen hat, wiederholt sich nun mit der AfD. Eine Anti-System-Partei ist allerdings zum Scheitern verurteilt. Eckhard Jesse ist emeritierter Politikwissenschaftler an der TU Chemnitz. Seine Forschungsschwerpunkte liegen auf dem Feld der Extremismus-, Wahl- und Parteienforschung. Auch mit dem Aufstieg der AfD hat sich Jesse intensiv beschäftigt.
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Tobias Maydl
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Laut Umfragen liegt die AfD derzeit vor der SPD. Obwohl sie ihre Themen längst nicht mehr allein besetzt, schaffen es die etablierten Parteien nicht, die AfD einzuhegen. Warum? Antworten von Politikwissenschaftler Eckhard Jesse
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innenpolitik
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2018-07-17T16:29:45+0200
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2018-07-17T16:29:45+0200
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Krieg im Nahen Osten - Das große Durcheinander
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Die strategisch-politische Situation im Nahen Osten ist das Ergebnis des jahrzehntelangen Versagens der arabischen Staaten, die regionale Sicherheit voranzutreiben. Der Kalte Krieg, nichtarabische Regionalmächte und das Auftreten nichtstaatlicher Akteure haben dort ein Ungleichgewicht der Kräfte geschaffen. Der geopolitische Kampf findet vor allem zwischen Israel und dem Iran statt, während andere Akteure wie Saudi-Arabien und die Türkei sowie der wichtigste Sicherheitsgarant der Region, die Vereinigten Staaten, eher darauf reagieren. Die Zukunft der Region wird in hohem Maße vom Ausgang der iranischen Bemühungen, den Status quo umzustürzen, und von Israels Reaktion darauf geprägt sein. Seit ihrer Unabhängigkeit nach den beiden Weltkriegen haben die arabischen Staaten mit innenpolitischen Umwälzungen und Konflikten untereinander zu kämpfen. Anfangs waren die Regime weitgehend pro-westliche Monarchien, aber sie entstanden in einer Zeit, in der arabische nationalistische Bewegungen aufkamen. (Ebenso wie die Baath-Bewegungen, die säkulare Einparteiensysteme befürworteten, die sie als neue arabische Aufklärung ansahen.) Von diesen Ideologien beeinflusste Militäroffiziere putschten in Ägypten (1952), Irak (1958), Jemen (1962), Syrien (1963) und Libyen (1969) und errichteten linksgerichtete republikanische Autokratien, die mit der Sowjetunion verbündet waren. Diese radikalen arabischen Staaten stellten eine Bedrohung für die Amerika-freundlichen Länder dar: Saudi-Arabien, Jordanien, Israel, die Türkei und der Iran (bis zur Revolution von 1979). Aufgrund seiner enormen Energieressourcen war der Nahe Osten während des Kalten Krieges ein wichtiger Schauplatz. Dabei waren die arabischen Staaten untereinander tief zerstritten. Der Nationalismus der einzelnen arabischen Staaten erwies sich als dauerhafter als der vom ägyptischen Führer Gamal Abdel Nasser vertretene Pan-Arabismus. Am deutlichsten wurde dies durch das Scheitern der kurzlebigen Vereinigung zwischen Ägypten und Syrien (1958-61). Die Baathisten stellten sich natürlich gegen die Nasseristen, aber sie waren auch untereinander verfeindet, wie die Rivalität zwischen den baathistischen Regimen in Syrien und im Irak zeigt. In der Zwischenzeit wurde die arabische Welt auch durch den Konflikt mit Israel unmittelbar nach dessen Gründung im Jahr 1948 geprägt. Die nationalen Interessen der einzelnen arabischen Staaten – und nicht der Sinn für kollektives Handeln – trieben Ägypten, Syrien und Jordanien dazu, eine Reihe von Kriegen mit ihrem neuen Nachbarn zu führen. Das Ziel, Israel zu besiegen, bestand nicht darin, einen palästinensischen Staat zu gründen. Die Vorhut des palästinensischen Nationalismus, die Palästinensische Befreiungsorganisation (PLO), entstand erst 1964, nur drei Jahre vor Israels Sieg im Krieg von 1967, der zwei wichtige Folgen hatte: Erstens markierte er das Ende des arabischen Nationalismus als wichtige politische Strömung. Er diskreditierte die Bewegung völlig und gab dem Islamismus Auftrieb, da die Religion zunehmend die Identität als Grundlage für politischen Aktivismus ersetzte. Zweitens wurde der palästinensische Nationalismus von den Interessen der arabischen Staaten abgekoppelt und entwickelte sich zu einer eigenständigen Kraft. Israels Eroberung der Sinai-Halbinsel und der Golanhöhen – sowie der palästinensischen Gebiete im Westjordanland und im Gazastreifen – veränderte die strategische Haltung Ägyptens und Syriens gegenüber Israel grundlegend. Mehr zum Thema: Vereinfacht gesagt, wurde ihre Haltung sehr viel defensiver. Bei der Rückeroberung verlorener Gebiete ging es um mehr als die Befreiung Palästinas. Dies war der gesamte Zweck des Krieges von 1973. Obwohl es Syrien nicht vermochte, die Golanhöhen zurückzuerobern, gelang es Ägypten, die Sinai-Halbinsel zurückzugewinnen – wenn auch nur aufgrund eines von den USA vermittelten Friedensvertrags von 1979, der Kairo aus dem Einflussbereich Moskaus heraushalten sollte. Ägypten erkannte mit demselben Vertrag Israel an und trug damit dazu bei, den Schwerpunkt im Nahen Osten auf die arabische Halbinsel und den Persischen Golf zu verlagern. Unterdessen gewann der politische Islam rasch an Einfluss. So wurde im Februar 1979 durch eine Revolution im Iran die Monarchie gestürzt und die Islamische Republik gegründet, die seitdem versucht, die Spaltungen in der arabischen Welt aggressiv zu ihrem Vorteil auszunutzen. Im selben Jahr wurde die heiligste Stätte des Islams in Mekka von ultrakonservativen salafistischen Kämpfern erobert, was Saudi-Arabien zusammen mit der Bedrohung durch den iranisch inspirierten Islamismus dazu zwang, sunnitische Radikale zu unterstützen. Wochen später marschierte die Sowjetunion in Afghanistan ein, was zu einem Erstarken des transnationalen Dschihadismus führte. Im selben Jahrzehnt unterstützten die energiereichen arabischen Golfstaaten den Irak im Iran-Irak-Krieg, um ein Gegengewicht zur möglichen iranischen Expansion zu schaffen. Während des kostspieligen Krieges mit Bagdad baute Teheran (unterstützt von seinem Verbündeten in Damaskus) nach dem israelischen Einmarsch in den Libanon 1982 mit der Hisbollah seinen wichtigsten regionalen Stellvertreter auf. Ende der 1980er Jahre versank die arabische Welt immer mehr im Chaos. Islamistische Gruppen, die die arabischen Regime herausforderten, waren auf dem Vormarsch. Währenddessen stand die Sowjetunion kurz vor dem Zusammenbruch, so dass sie ihre Verbündeten im Irak, in Syrien, Libyen und im Jemen nicht mehr unterstützen konnte. Das folgenreichste Ereignis war die irakische Invasion in Kuwait, die 1991 zum Golfkrieg führte. Saudi-Arabien und die anderen arabischen Golfstaaten standen vor einem großen strategischen Dilemma: Sie brauchten den Irak als Bollwerk gegen die iranische Expansion, aber wenn Bagdad Kuwait einnehmen würde, könnten sie, insbesondere Saudi-Arabien, zum nächsten Ziel des Irak werden. Sie hatten keine andere Wahl, als die von den USA geführte Militärkoalition aktiv zu unterstützen. Infolge des Krieges wurde der sunnitische irakische Staat geschwächt, während die schiitische Mehrheit im Süden und die kurdische Minderheit im Norden gestärkt wurden. Beide unterhielten enge Beziehungen zum Iran. In der Zwischenzeit ermöglichten das Osloer Abkommen von 1993, mit dem die Palästinensische Autonomiebehörde geschaffen wurde, und der israelisch-jordanische Friedensvertrag von 1994 Israel, seine nationalen Sicherheitsinteressen weiter zu konsolidieren. Die von den USA geförderte Diplomatie führte zwar nicht zur Gründung eines palästinensischen Staates, aber sie wirkte sich zum Vorteil derjenigen aus, die gegen eine Friedensregelung waren. Die Hamas und andere kleinere palästinensische Gruppierungen wurden vor allem durch eine Serie von Selbstmordattentaten zu mächtigen Kräften, was wiederum die israelische Rechte unter der Führung des derzeitigen Premierministers Benjamin Netanjahu ermutigte. Ausgestattet mit der Erfahrung, die er bei der Pflege der Hisbollah gesammelt hatte, und da der Irak kein großes Sicherheitsproblem mehr darstellte, machte sich der Iran daran, Beziehungen zur Hamas und zum palästinensischen Islamischen Dschihad zu knüpfen. Der Angriff von Al-Qaida auf die Vereinigten Staaten am 11. September 2001 führte zu einer noch größeren Krise in der arabischen Welt, insbesondere bei ihrem faktischen Anführer Saudi-Arabien, das in Washingtons Krieg gegen den sunnitischen Islamismus verwickelt war. Die Entscheidung der Bush-Regierung, die irakische Regierung im Jahr 2003 zu stürzen, indem sie sich mit pro-iranischen Gruppierungen verbündete, war der wichtigste Beitrag zur Verwirklichung der strategischen Ziele des Iran. Und indem sie den Islamischen Staat ins Leben rief, erweiterte sie auch die Bedrohung durch den transnationalen Dschihadismus. Der israelische Rückzug aus dem Gazastreifen im Jahr 2005 und der palästinensische Bürgerkrieg nach dem Wahlsieg der Hamas im Jahr 2006 führten dazu, dass die Hamas 2007 die Kontrolle über den Gazastreifen übernahm. Der Iran ergriff die Gelegenheit, die Hamas stärker zu unterstützen, insbesondere durch die Lieferung von Raketen, die der Hisbollah in ihrem Krieg gegen Israel 2006 halfen. In den 2010er Jahren profitierte der Iran außerdem von den Aufständen des Arabischen Frühlings. Die Aufstände in Syrien und Jemen kamen den strategischen Plänen Irans für die Region sehr zugute. Die Unterstützung Teherans für das Assad-Regime machte Syrien fast zu einem Vasallenstaat. Auch die Unterstützung der Huthis, die nach dem Zusammenbruch des jemenitischen Staates an die Macht gekommen waren und bei der saudischen Intervention 2015 der Hauptgegner waren, kam dem Iran zugute. In den 2020er Jahren hatte der Iran eine ununterbrochene Einflusssphäre aufgebaut, die sich von seinen westlichen Grenzen bis zum östlichen Mittelmeer erstreckte und einen ständigen Vorposten an der Schnittstelle zwischen dem Arabischen und dem Roten Meer hatte. Die arabische Strategie, um der iranischen Macht in der Region zu begegnen, bestand darin, sich mit Israel zu verbünden – eine Strategie, die durch die Abraham-Abkommen manifestiert wurde. Dieser Schritt war riskant, denn die arabischen Staaten würden mit Sicherheit dafür kritisiert werden, dass sie die Sache der Palästinenser im Stich lassen. Dies erklärt, warum Riad in seinen eigenen Verhandlungen um eine Normalisierung der Beziehungen zu Israel kämpfte. Gerade als es so aussah, als stünde Saudi-Arabien kurz vor einem großen Durchbruch, griff die Hamas am 7. Oktober Israel an, torpedierte die Gespräche und stürzte die Region in einen Konflikt fast ungeahnten Ausmaßes, der in der ganzen Welt nachhallt, insbesondere in den Vereinigten Staaten mit den wachsenden Studentenprotesten gegen die amerikanische Unterstützung für Israel. In den sechs Monaten seit dem 7. Oktober hat es mehrere bemerkenswerte Entwicklungen gegeben. Die Türkei war nicht in der Lage, viel zur Bewältigung der Krise beizutragen; Huthi-Rebellen haben internationale Schiffe angegriffen; pro-iranische Milizen haben wiederholt US-Ziele in Syrien, Irak und Jordanien attackiert; und Israel hat Lufteinsätze gegen iranische Einrichtungen in Syrien und im Libanon geflogen, was zum ersten direkten Angriff des Irans gegen Israel selbst führte. Diese Entwicklungen machen deutlich, dass die regionale Sicherheit weitgehend von Israel und dem Iran bestimmt wird. Die arabischen Staaten sind erst recht nicht in der Lage, eine wirksame Rolle für die Sicherheit im Nahen Osten zu spielen, zumal ihr historischer Sicherheitsgarant, die USA, in einer Zeit der Unruhen im eigenen Land und der Auseinandersetzungen mit ihren Großmachtkonkurrenten Russland und China um ein Gleichgewicht zwischen verschiedenen Interessengruppen ringen. In Kooperation mit
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Kamran Bokhari
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Die verworrene Lage im Nahen Osten ist vor allem die Folge der langen Geschichte des Versagens der arabischen Staaten, stabile innen- und außenpolitische Verhältnisse zu schaffen. Ein Rückblick auf bald acht Jahrzehnte Durcheinander.
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außenpolitik
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2024-04-30T16:52:27+0200
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2024-04-30T16:52:27+0200
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https://www.cicero.de/aussenpolitik/krieg-naher-osten-Israel-iran-durcheinander
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Einwanderungsgesetz - Überholt die CDU Rot-Grün links?
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Es sagt sich so leicht, dass wir ein Einwanderungsgesetz bräuchten. Aus allen Fraktionen kommt der Ruf danach – doch das Gesetz selbst wird so bald nicht kommen. Es ist bloß ein politisches Schaulaufen – ein Warmmachen für die kommende Bundestagswahl. Der Startschuss kam von CDU-Generalsekretär Peter Tauber. Vor einem Monat forderte er ein Einwanderungsgesetz: „Wenn wir eine Zuwanderung wollen, die nicht nur arbeitsmarktoptimiert ist, nicht nur temporär, dann müssen wir auch über ein Einwanderungsgesetz reden.“ Damit hat Tauber seinen Koalitionspartner überrascht, denn nichts davon steht im Koalitionsvertrag. Vor allem hatte er seine eigene Partei geschockt. Er, der einst als hessischer Jung-Unionist eifrig Stimmen sammelte gegen die doppelte Staatsbürgerschaft und sich so dagegen wehrte, dass Deutschland Einwanderungsland würde, vertritt nun rot-grüne Positionen? Die SPD beeilte sich jedenfalls, um nicht von Tauber links überholt zu werden. Der Fraktionsvorsitzende Oppermann kündigte umgehend ein Positionspapier seiner Fraktion an, das bald vorliegen soll. Grüne und Linke verwiesen zustimmend auf ihre alten Positionen. Denn genau das war immer ihre Forderung gewesen: Einwanderungsrepublik Deutschland. Es war die Union, die vor 15 Jahren engagiert dagegen stritt. Jahre dauerte dieser Kampf gegen Rot-Grün an. Von „Inder statt Kinder“ bis zur „deutschen Leitkultur“ sind die Begriffe, die blieben wie die Namen großer Schlachten. Ein Zuwanderungsgesetz hatte den Bundesrat bereits 2002 passiert. Das jedoch hatte die Union durch Verfassungsklage wieder in den Vermittlungsausschuss zurückgezerrt, wo es zwei weitere Jahre lang zerfasert und kleinverhandelt wurde. Vor zehn Jahren trat es in Kraft – ein Ungetüm aus 107 Paragraphen. Die Unionsfraktion blieb der alten Linie treu, indem sie nun Taubers Idee sofort auseinandernahm: Inhaltlich wirr und vom Zeitpunkt her falsch, fanden vor allem Konservative. Volker Kauder forderte, anstatt über neue Zuwanderung zu reden, erst einmal die zu integrieren, die da sind. Bosbach ging noch weiter, wärmte im Grunde den alten Rüttgers-Spruch „Kinder statt Inder“ auf: „Wir sollten uns zunächst einmal darum bemühen, auch die inländischen Arbeitslosen in Brot und Arbeit zu bringen, bevor wir weitere Zuwanderung organisieren zu einem Zeitpunkt, an dem wir die zweitgrößte Zuwanderung haben nach den Vereinigten Staaten von Amerika.“ Die Anzahl der Zuwanderer ist tatsächlich so hoch wie seit 20 Jahren nicht. Der Netto-Zuwachs pro Jahr, wie das amtlich heißt, lag zuletzt bei über 400.000 Ausländern. Diese Zahl beinhaltet alle, die gekommen sind – vom Flüchtling bis zum Austauschschüler. Doch sie gilt auch konservativen Volkswirten als viel zu angesichts der demographischen Lücke, die sonst zum Riesenleck wird für den deutschen Wohlstandsdampfer. „Wollte man die Relation von Alten und Jungen – und damit zugleich das relative Rentenniveau und die Beitragssätze zur Rentenversicherung – auf dem heutigen Niveau stabilisieren, würden von jetzt ab 32 Millionen junge Zuwanderer benötigt.“ Das hat Hans-Werner Sinn errechnet, der Präsident des ifo Instituts für Wirtschaftsforschung. Er geht in seiner Schätzung davon aus, dass die Nettoimmigration nur bei etwa 200.000 liege, also bei der Hälfte des jüngsten Zuwachses. Selbst wenn man optimistischer rechnet als Sinn und diese Zahl verdoppelt, fehlen in zwanzig Jahren immer noch weit über zehn Millionen Menschen in Deutschland. Auch eine demographische Kehrtwende – so Sinn – könnte daran inzwischen nichts mehr ändern. Ist es also Einsicht, die Merkels Generalsekretär umdenken ließ? Dagegen spricht, dass Kenner des bestehenden Zuwanderungsrechts sagen, wir seien rechtlich bereits bestens aufgestellt als Einwanderungsland. Bundesinnenminister de Maizière hält das Gesetz von 2005 für wesentlich effizienter als alle anderen auf der Welt, um gezielt mehr Zuwanderer nach Deutschland zu bekommen. Schließlich sei an dem Gesetz ständig nachgebessert worden. Trotzdem hält Tauber an seinem Vorschlag fest und die Kanzlerin gibt ihm lange Leine, in dem sie sagt, selbst noch nicht entschieden zu sein in dieser Frage. Auch die SPD und die Opposition werden nicht müde einzufordern, bessere Konzepte aus dem Ausland abzuschauen. Sechs klassische Einwanderungsstaaten können dabei in den Blick genommen werden: Australien, Kanada und die USA sowie Großbritannien, Schweden und die Schweiz. Rund ein Drittel der Einwohner Australiens und der Schweiz sind im Ausland geboren – das ist so viel wie nirgendwo sonst in der Welt. Die deutsche Politik schaut vor allem nach Kanada, Oppermann ist dieser Tage dort. Denn nur dort, in Australien und in Großbritannien gibt es ein sogenanntes Punktesystem, das Schweden, die USA und die Schweiz nicht haben. Nun sagen alle, die das Einwanderungsgesetz in Deutschland neu schreiben wollen: Auch wir bräuchten ein Punktesystem, weil damit die Einwanderung besser zu steuern sei. Verschwiegen wird dabei oft, dass die Kandier recht ernüchtert sind über ihr gelobtes Punktesystem, und es vor wenigen Wochen erst überarbeitet haben. Das Grundproblem dieser Systeme ist, dass sie ständig an den Bedarf angepasst werden müssen. Fehlt es also voraussichtlich an Naturwissenschaftlern, muss die Punktevergabe entsprechen justiert werden. In Australien wird die besondere Härte dabei deutlich. Nur Junge, Gesunde und Kluge haben Chancen auf eine hohe Punktzahl. Wer älter ist als 45, hat bereits schlechte Karten. Deutschland hätte demnach alle Jahre wieder eine politisch schwer zu führende Debatte über, schon das klingt herzlos: die Qualität der Zuwanderer. Wer sagt und festlegt, wen das Land braucht, sagt damit zugleich auch, wer nicht zu gebrauchen sei. Es ist vor allem dieses Problem, das für Zuwanderung Aufgeschlossene wie de Maizière fürchten. Selbst die Hardliner in der Union wollen den 15 Jahre alten Leitkultur-Kampf nicht abermals führen aus Sorge, ihn moralisch nur verlieren zu können. Tauber jedoch glaubt, dieses Thema dürfe seine Partei nicht meiden. Allein schon, um es nicht den anderen zu überlassen. Er steht damit nicht für eine linkere Union, denn knallharte Steuerung ist auch ein Wunsch der politischen Rechten. Zugleich ist Zuwanderung ein Siegel liberaler Politik. Der Union wäre im Wahlkampf nicht vorzuwerfen, dass sie sich gegen Einwanderung sträube und ewig gestrig sei. Tauber geht es allein um die Debatte, deren Ausrichtung bis 2017 offen bleiben soll: Entweder soll sie der AfD Wasser abgraben oder den Parteien links der Union – je nach aktueller Lage und Volksstimmung. Insofern ein wunderbares Wahlkampfthema – mehr soll es nicht sein.
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Wulf Schmiese
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Die Wirtschaft schlägt Alarm: Deutschland brauche mehr Zuwanderung, um den Wohlstand zu halten. Prompt rufen jene CDU-Politiker, die einst vor Überfremdung warnten, nach einem Einwanderungsgesetz. Meinen sie das ernst?
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innenpolitik
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2015-02-11T16:23:37+0100
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2015-02-11T16:23:37+0100
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https://www.cicero.de//innenpolitik/einwanderungsgesetz-ueberholt-die-cdu-rot-gruen-links/58861
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Friedrich Merz, Norbert Röttgen, Armin Laschet - Livestream zum Pitch der Jungen Union
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Die Junge Union will die drei Kandidaten für den Parteivorsitz der CDU mit einem sogenannten Pitch kennenlernen. Fünf Minuten haben Norbert Röttgen, Armin Laschet, Friedrich Merz Zeit, um sich und ihr Programm vorzustellen. Die Reihenfolge wurde ausgelost. Anschließend gibt es Zeit für Fragen und Antworten.
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Cicero-Redaktion
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Friedrich Merz, Norbert Röttgen, Armin Laschet – die drei Kandidaten für den Parteivorsitz der CDU stellen sich heute bei der Jugendorganisation der Volkspartei vor. Verfolgen Sie hier per Livestream die Reden, Fragen und Antworten bei der JU.
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"Norbert Röttgen"
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innenpolitik
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2020-10-17T18:18:19+0200
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2020-10-17T18:18:19+0200
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https://www.cicero.de//innenpolitik/norbert-roettgen-armin-laschet-friedrich-merz-jupitch-livestream
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Kurt Krömer – „Beiseite mit deinem fetten Arsch!“
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Herr Krömer, Ihre neue Show wird nach dem Wort zum
Sonntag ausgestrahlt. Worauf können sich die
„Wort-zum-Sonntag“-Zuschauer gefasst machen? Kann
schon sein, dass die „Wort-zum-Sonntag“-Zuschauer alle abschalten
und dann schlafen gehen. Betend. Ich mache mir allerdings keinen
Kopf darüber, wen wir wie in unser Programm rüber retten. Aber der ARD-Zuschauer wird ja dann doch ziemlich rasant
und weltlich geerdet. Ja, mit mir beginnt dann wieder
die irdische Normalität. (lacht) Wie halten Sie es denn mit der Religion?
Überhaupt nicht. Ich bin ja Berliner und wir Berliner haben zwar
Kirchen, ich weiß allerdings nicht für wen. Meine Eltern haben
damals gesagt, wenn du alt genug bist, kannst du dir aussuchen,
welchem Glauben du angehören möchtest. Es gibt bis heute keine
Religion, die mir zusagt. Natürlich könnte ich jetzt sagen: „Ick
bin Buddhist, weil da kann jeder machen, wat er will.“ Aber das
mache ich ja sowieso. Für Anarchie braucht man keinen Anführer. Praktischer Buddhist also… … Vielleicht
unterbewusst. Aber ich habe Schwierigkeiten mit Angehörigkeit. Sie werden in Ihrer neuen Sendung auch politische Themen
wie Rechtsextremismus, Krieg oder Migration ansprechen. Wie passt
das zusammen, Krömer und ernsthafte politische
Thematik? Mich hat das sehr verwundert, dass es
plötzlich heißt, ich dürfe nicht politisch werden. Vielleicht hatte
ich einfach keinen Bock mehr zu sagen, ich bin Komiker, also darf
ich mich nicht über Nationalsozialismus oder Behinderte
unterhalten. Es gab auch so eine Art Aha-Erlebnis: Während einer
Solo-Show versperrte mir ein Spastiker im Rollstuhl den Weg im
Mittelgang. Und ich hab gesagt: „Jetzt mal beiseite mit deinem
fetten Arsch“. Plötzlich war alles still, weil alle dachten, ich
hätte mich über einen Behinderten lustig gemacht. Nach der Show hab
ich mich dann mit ihm noch an der Bar unterhalten und ihn gefragt,
ob er jetzt angepisst sei. Und er sagte: „Nee, ich war integriert.
Ich war im Weg und dann ist das so.“ Und genau das will ich, mit
Behinderten lachen, ohne es zu werten, ohne mich lustig zu machen.
Am Ende sollten wir doch alle zusammen lachen. Heißt das im Umkehrschluss, Sie wurden all die Jahre
missverstanden und waren unfreiwillig komisch und eigentlich immer
schon politisch? Nö, das würde ich nicht so sehen. Ich
habe das absichtlich nicht angeboten. Ich bin auch kein
Kabarettist. Ich will nicht alles und alle über einen Kamm scheren,
aber Kabarett ist mir meistens zu sehr Zeigefinger-Theater. Nach
dem Motto: Ich hab‘s verstanden und erkläre euch das jetzt. Wenn
ich auf der Bühne stehe und sage „Nazis sind Schweine“, dann kann
ich mich bei meinem Publikum darauf verlassen, dass es applaudiert.
Das ist mir aber zu einfach. Denn die Leute kamen ja schon als
Nicht-Nazis zu mir ins Publikum und werden auch als Nicht-Nazi
wieder nach Hause gehen. Von daher denke ich, dass die
Konfrontation besser ist, wenn wir also sagen, wir sprechen mal mit
Nazis, treiben es auf die Spitze, um die ganze menschenverachtende
Absurdität des Naziseins aufzuzeigen. Auch Kriegseinsätze werden thematisiert. Sie waren
jüngst in Afghanistan und haben vor der Truppe
gespielt. Ja, ich wurde gefragt, ob ich nicht zur
Truppenbetreuung nach Afghanistan kommen möchte. Zunächst war ich
sehr erstaunt über die Anfrage, weil ich ein Totalverweigerer bin.
Ich dachte, die müssen doch sehen, was die sich da für ein
Kuckucksei ins Nest setzen. Und dann dachte ich: Mensch, die haben
ganz schön Arsch in der Hose. Also habe ich gesagt, ich komme,
unter der Bedingung, dass ich überall dort drehen kann, wo es
möglich ist. Zwar hatten wir immer einen Pressevertreter dabei,
aber wir durften alles filmen. Wir durften uns mit allen Leuten
über alle Themen unterhalten. Wie ist das mit Homosexualität bei
der Bundeswehr, wie ist das mit den Toten, bekommen wir überhaupt
alles mit? Die waren wirklich aufgeschlossen. Das amerikanische Militär holte einst Marilyn Monroe
oder Amy Winehouse und die Bundeswehr schickt Kurt
Krömer? Ja, aber auch Peter Maffay und Gunter
Gabriel. Wie steht denn der Kriegsdienstverweigerer Krömer zu den
Bundeswehreinsätzen in Afghanistan?
Ich wollte wissen, was macht ihr eigentlich dort unten? In der
Presse liest man immer, dass die Bundeswehr Hilfestellung für das
afghanische Volk leistet, ihren Wissensstand weitergibt, Schulen
und Brunnen baut. Ich glaube, dass die Bundesregierung nicht
wirklich weiß, was sie da macht. Im Grunde findet dort so eine Art
Fleischverschiebung statt: 5000 Fleischstücke mal da hin und mal
dort hin. Und auch die Soldaten bekommen nicht die richtige
Anerkennung. Soldat sein heißt immer, du bist Soldat, selber Schuld
also, wenn du Soldat wirst. Also sieh zu, wie du da klar
kommst. Anerkennung wurde Ihnen in frühen Jahren auch verwehrt.
Ihre Vita liest sich zunächst wie ein Werdegang des
Scheiterns: Ausbildung zum Herrenausstatter –
abgebrochen, ebenso eine Lehre zum Einzelhandelskaufmann, dann
arbeiteten Sie anschließend zwei Jahre als Aushilfe bei einer
Berliner Reinigungsfirma, zudem als Hilfsarbeiter auf dem
Bau. Ja, das gehört aber dazu. In der Zeit, wo das
stattgefunden hat, war das sicherlich nicht so lustig und auch
anstrengend. Aber im Nachhinein war das der richtige und wohl auch
einzig gangbare Weg. Als Komiker kann man nun mal nicht sagen, ich
mache Abitur und dann studiere ich Komik. Nein, man muss sich
irgendwie durchwursteln. Wichtig war auch, dass ich mir alles immer
schön selbst verbaut habe. Das war quasi mein Studium, dass
Durchwursteln, das Nicht-Zurechtkommen mit der Kohle. Ich musste
aus der Not heraus kreativ sein. Ist der Mangel dann immer Voraussetzung für
Kreativität? Er ist ein ganz guter Antrieb. Die
entscheidende Frage ist, ob man Bock hat, 40 Jahre lang auf dem
Niveau eines Hilfsarbeiters zu sein oder bereit ist, sich zu
entwickeln. Ich hatte ja kein Geld für einen Anzug oder Requisiten,
also musste ich quasi nackt dastehen und einfach über die Sprache
arbeiten. Das war mein Handwerkszeug, das ich umsonst zur Verfügung
hatte. So bleibt schließlich nur der eigene Ehrgeiz zu sagen: Es
ist dein Leben, sieh zu, dass du daraus was machst. Von daher ist
die Not immer ein guter Antrieb. Es heißt, in der schweren Zeit hätten Sie gemerkt,
dass es hundert, zweihundert Auftritte, bräuchte, bevor man wisse,
wer man sei. Wissen Sie es mittlerweile? Und wenn ja, wer sind Sie?
Wer ist Kurt Krömer?
Naja, das bin icke. Das ist der Mensch, den man auf der Bühne
sieht, der komprimiert spricht und sagt, ich hab mir den ganzen
Wahnsinn über Wochen angeguckt und bastle daraus eine Nummer, die
fünf Minuten dauert. Und was die Auftritte angeht, klar, das muss
man sich erarbeiten. Das hat lange gedauert. Die ersten Auftritt
waren grottenschlecht, ich habe gezittert und hatte Angst. Sie bevorzugten also den steinigen Weg und machen bis
heute wenig Zugeständnisse an den Mainstream: Zum Privatfernsehen
beispielsweise wollten Sie nie gehen. Auch Rudi Carrell hatte mal
angerufen. Er wollte mich zu Sieben-Tage-Sieben-Köpfe
holen. Ich sagte ihm, nein danke, ist nicht mein Format. Da war er
sauer. Haben Sie keine Angst, mit Ihrer neuen Late-Night-Show
dann doch irgendwann im Mainstream anzukommen? Nein,
nicht bei dem Sendeplatz, den wir haben. Das ist der Anarchieplatz.
Da gibt es keinen Schnitt, da kommt keiner von der Redaktion, der
sagt, das ist jetzt verboten, wir müssen jetzt an unsere Zuschauer
denken, bau doch mal das ein, lad doch mal den ein, der bringt
Quote. Nein. Wir können machen, was wir wollen. Sollte ich jetzt
sendeplatzmäßig weiter vorrutschen, was ich gar nicht möchte, so
dass ich beispielsweise um 20.15 Uhr dran bin, dann ist alles
vorbei, dann bin ich tot. Dann darf nicht mehr geraucht werden,
dann ist keine Anarchie mehr möglich, dann darf ich mich nicht mehr
über Guido Westerwelle lustig machen, weil er zusieht oder Gast ist
in der Sendung ist, oder mir die gesamte FDP-Wählerschaft
wegknicken könnte – die kompletten 2,8 Prozent, die der Sender
dringend braucht. Nein Danke. Dort, wo ich jetzt bin, mach ich
stopp. Und Sie geben sich trotzdem nicht zufrieden. Sie haben
mal gesagt: „Ich zerstöre mir alles, was ich aufgebaut habe, um
mich zu erneuern“. Das heißt, Sie zerstören sich permanent, um was
Neues entstehen zu lassen. Ja, nie sich festbeißen und
sagen, ich ruh mich aus. Und wann wird Kurt Krömer zerstört? Naja,
da würde ich mich ja selber zerstören. Ich sehe mich als Clown,
nicht als Kunstfigur. Ich bin Komiker, ein Clown, der sich
permanent entwickelt. Jetzt geht es ein bisschen leicht in die
politische Ecke, ich möchte politische Themen behandeln, möchte
aber kein politischer Clown sein. Sondern ich möchte mich der
Materie naiv wie ein vierjähriges Kind nähern und dadurch viel mehr
Grenzen einreißen, als andere Leute, die gleich aggressiv an solch
politische Themen herangehen, das werten, den Finger heben und
sagen, so geht’s nicht. Was viele nicht wissen, Sie schauspielern auch. In „Eine
Insel namens Udo“ litten Sie in Ihrer Filmrolle unter
„Schwersichtbarkeit“. Ihre Figur Udo wird von seinen Mitmenschen
nicht wahrgenommen, wird übersehen. Haben Sie selbst auch unter
dieser Schwersichtbarkeit gelitten? Also damals schon.
In der Zeit, als ich putzen war. Ich machte in einer Grundschule
sauber und wenn alle Leute nach der Arbeit nach Hause gegangen
sind, wurde ich nicht beachtet. Da ist man schon unsichtbar. Leute,
die putzen, sind Leute, die man übersieht. Es wird behauptet, die
hätten nichts gelernt und seien selber schuld, wenn sie putzen
gehen müssen. Also entweder wirst du nicht beachtet oder selbst der
dümmste Arsch denkt, ah, da kann ich Macht ausspielen, den kann ich
jetzt zusammenscheißen. Wann kam der Moment der Sichtbarkeit?
In dem Moment, als Kollegen gemerkt haben, der ist anders, der ist
nicht so wie wir, der ist ein Fremdkörper. Das gefiel mir und ich
wusste, ganz egal welche Kunstform du wählst, du musst irgendwas
Einzigartiges machen. Wenn du zehn Leute nebeneinander stehen hast,
musst du derjenige sein, der rausfällt. Und in Sachen Komik war ich
damals quasi das hässliche Entlein. Einer, von dem alle sagten, der
gehört hier nicht rein. Und das war schön. Da habe ich gemerkt,
dieses Ding musst du beibehalten und die Sachen immer anders machen
als andere. Und dann ging es los, die Zuschauer waren die ersten,
die das honoriert haben. Da habe ich gemerkt, ich bin angekommen,
ich habe mich festgebissen. Wünschen Sie sich manchmal nicht diese
Schwersichtbarkeit zurück?
Nein, eigentlich nicht. Ich bin ja Berliner und hier gibt es keinen
Fankult. Wenn ich die Straße entlang laufe, bilden sich keine
Trauben. Es gibt niemanden, der sagt: „Oh, der heilige Geist ist
uns erschienen, der großartige Kurt Krömer.“ Nein, die laufen an
dir vorbei und sagen „Hallo“ und „Tachchen“. Dit wars. Ansonsten
bin ich gerne sichtbar. Wie würden Sie Ihre Art des Humors beschreiben? Sind Sie
der Anarchist in der Verkleidung des Biedermanns? Sie haben sich
selbst mal so beschrieben: „Man sieht aus wie Heintje, spricht aber
wie Marilyn Manson.“ Der Humor kommt noch aus der
Zeit, wo ich vor Punks aufgetreten bin. Pure Anarchie. Mich
interessiert vor allem immer das, was ich nicht machen darf. Über
Grenzen hinüber gehen, bisschen im Grenzgebiet rumtanzen und dann
wieder zurückkommen, aber nie vor der Grenzen aufhören und sagen,
hier ist ein Bereich, den dürfen wir nicht übertreten, stopp, Ende,
vorbei. Und an Autoritäten kratzen macht mir auch Spaß, das habe
ich auch von früher rübergerettet. Wenn man mal ganz unten war,
sind die Schweine immer die, die oben sind und was zu sagen
haben. Dass Sie sich vor Autoritäten nicht fürchten, bekam im
Besonderen der Berliner Bezirksbürgermeister Heinz Buschkowsky zu
spüren, als Sie Ihn kurzerhand während ihrer Sendung wegsperrten.
Reden Sie eigentlich wieder miteinander? Heinz, den
ich nie Heinz nennen durfte, spricht gar nicht mehr mit mir. Ok,
ich hatte ihn eine Sendung lang in den Raucherpuff gesperrt. In
meine Sendung gelockt hatte ich ihn damit, dass ich sagte, er
bekäme eine Sondersendung. Und dann habe ich ihn bewusst
eingesperrt, weil ich dachte, wie abgehoben kann man eigentlich
sein, dass man nur kommt, weil man eine Sondersendung bekommt. Das
hat er mir bis heute nicht verziehen. Ich habe ihn dann noch mal
bei einem Straßenfest getroffen, hatte mein Kamerateam und einen
Präsentkorb von Karstadt für 39,90 dabei, den ich ihm schenken
wollte. Er wollte aber nichts mehr von mir wissen. Und plötzlich,
als Wahlkampf war, fragt er mich, ob ich nicht mit auf sein
Wahlplakat möchte. Da war ich dann beleidigt und habe gesagt, nein,
was soll denn das. Hinter der Kamera hassen wir uns und vor der
Kamera spielen wir Marianne und Michael? Und seitdem reden wir
nicht mehr miteinander. Herr Krömer, vielen Dank für das Gespräch. Das Interview führte Timo Stein
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Kurt Krömer ist zurück. Am Samstag startet er mit seiner neuen "KRÖMER - Late Night Show" in der ARD. Zuvor sprach er mit Cicero Online über Kriegseinsätze, Diskriminierung und darüber, warum er Heinz Buschkowsky einst in den Raucherpuff sperrte
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kultur
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2012-08-15T16:46:24+0200
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2012-08-15T16:46:24+0200
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https://www.cicero.de//kultur/beiseite-mit-deinem-fetten-arsch/51558
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Arnulf Baring – „Merkel hat Bodenhaftung und Kompass verloren“
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Diesen Text finden Sie auch in der neuen Ausgabe des Cicero -
jetzt am Kiosk zu kaufen oder hier zu
bestellen Herr Professor Baring, warum ist Angela Merkel in Ihren
Augen die politische Absteigerin des Jahres 2011?
Viele kluge Zeitgenossen sehen unsere Regierungschefin auf dem
Gipfel ihrer Entschlusskraft und Führungsfähigkeit. Das verblüfft
mich, denn ich bin erstaunt, wie sich die Bundeskanzlerin seit dem
vergangenen Jahr verändert hat. Ich habe Angela Merkel wegen ihrer
hohen Intelligenz und ihres immensen Fleißes immer sehr geschätzt,
und besonders gefiel mir ihre Uneitelkeit. Aber seit ihrem
abschätzigen Urteil über das Sarrazin-Buch im vergangenen Jahr, von
dem sie einräumte, es nicht gelesen zu haben – was sie aber nicht
hinderte, es „nicht hilfreich“ zu nennen und den Autor als
Bundesbanker untragbar zu finden –, hat sie mehr und mehr die
Bodenhaftung verloren. Es ging weiter mit der Abschaffung der
Wehrpflicht ohne eine ernsthafte öffentliche Diskussion über
absehbare Gefahrenlagen, Alternativen und deren Kosten. Danach kam
die völlig überhastete, undurchdachte Kehrtwende in der
Kernenergie, die mit unseren europäischen Partnern nicht abgestimmt
war. Ihre Kurzatmigkeit findet nun ihren vorläufigen Höhepunkt im
Hin und Her bei der Eurorettung. Mit den Versuchen, die jetzt
unternommen werden, lässt sich die Krise um die
Gemeinschaftswährung jedenfalls nicht beheben. Meiner Meinung nach
hat Angela Merkel wiederholt den Kompass verloren. Sie hat
Markenzeichen bürgerlicher Politik, wozu auch ein bestimmtes
Familienbild und unsere westliche Bündnistreue gehören, aus Gründen
des Machterhalts fallen gelassen. Es geht ihr nur noch um die
Anpassung an den Zeitgeist. Mal nähert sie sich den Grünen, dann
wieder der SPD. Diese bewusste Vagheit ist verhängnisvoll für ihre
eigene Partei, die alle Markenzeichen davonschwimmen sieht, und
natürlich für unser Land. Aber Angela Merkels Kurs findet doch auf den Parteitagen
regelmäßig Bestätigung.
Das liegt doch nur daran, dass Parteitage streng hierarchisch von
oben nach unten durchorganisiert sind. Es gelingt kaum einem
Kritiker, als Delegierter zu einem Parteitag entsandt zu werden.
CDU-Parteitage sind mittlerweile Veranstaltungen, wie wir sie aus
ehemals kommunistischen Ländern kennen. Das Machtbewusstsein der
Kanzlerin zeigt sich übrigens auch darin, dass sie nur
zweitklassige Politiker um sich schart, die ihr nicht zu
widersprechen wagen. Im Ausland gilt Angela Merkel schon als „Praeceptor
Europae“. Das spricht nicht gerade für ihre Kür zur
Absteigerin.
Deutschland als Schulmeister Europas wäre ein außerordentlich
gefährliches Vorhaben, das nur zum allgemeinen Hass auf die
Bundesrepublik führen kann. Wir haben uns 60 Jahre erfolgreich
darum bemüht, mit freundlicher Bescheidenheit und
kompromissbereiter Kooperation Vertrauen zu gewinnen. Diese
Leistung wird verspielt, wenn wir uns jetzt als Vormacht gebärden,
was übrigens weit über unsere Kräfte geht. Wir sind mit der Rolle
als Euroretter völlig überfordert. Auf der Nächsten Seite erfahren Sie mehr über die
"Tötengräberin des Euros" Angela Merkel Aber Angela Merkel kann doch unmöglich riskieren, als
Totengräberin des Euro in die Geschichtsbücher
einzugehen.
Helmut Kohl wird als Totengräber der DMark in die Geschichtsbücher
eingehen, genauso wie Merkel als Totengräberin des Euro – ganz
egal, was sie jetzt tut und sagt. Das ist einfach eine Folge der
Fehlkonstruktion dieser Gemeinschaftswährung, die auf Dauer nicht
taugt, weil sie Länder mit völlig unterschiedlicher
Wirtschaftskraft aneinanderkettet. Aber natürlich wird die
Europäische Union, in der alle Mitglieder vor dem verfrühten
politischen Projekt des Euro harmonisch zusammenarbeiteten, auch
nach dem unvermeidlichen Scheitern dieser Gemeinschaftswährung
weiterleben – wenn auch freilich in veränderter Gestalt. Weil das
so ist, halte ich die Aussage der Kanzlerin „Wenn der Euro
scheitert, dann scheitert Europa“ für panisch, für verheerend. Wie sollte sich Angela Merkel aus Ihrer Sicht in dieser
außergewöhnlich schwierigen Situation also verhalten?
Sie muss den übrigen Euroländern klarmachen, dass wir Deutschen
beim besten Willen den Euro nicht retten können. Ich habe in einem
soeben erschienenen Buch („Schluss mit dem Ausverkauf“,
Landt-Verlag) deutlich gemacht, dass es nun in erster Linie darauf
ankommt, unsere eigenen Landsleute davon abzuhalten, aus
Verbitterung über die verfehlte Eurorettungspolitik aller
demokratischen Lager und damit drohender schmerzlicher
Vermögensverluste eines Tages das ganze Parteiensystem
hinwegzufegen. Ich werfe der Kanzlerin vor, diese riesige Gefahr zu
bagatellisieren. Wagen Sie einen Ausblick auf die politische Zukunft
Angela Merkels im Jahr 2012?
Ich bin kein Prophet. Aber der braucht man auch nicht zu sein, um
zu prognostizieren, dass sie mit den bisherigen Mitteln die Krise
auch im nächsten Jahr nicht wird eindämmen können. Wir müssen damit
drohen, den Euro zu verlassen, um eine realistische Beurteilung der
Lage in ganz Europa in die Wege zu leiten.
Das Gespräch führte Alexander Marguier
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Der Stern kürte sie zur Person des Jahres: Angela Merkel. Für den Historiker und Publizist Arnulf Baring ist sie hingegen die Absteigerin des Jahres 2011. Für ihn ist sie als Eurokanzlerin gescheitert
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innenpolitik
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2012-01-03T15:05:00+0100
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2012-01-03T15:05:00+0100
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https://www.cicero.de//innenpolitik/merkel-hat-bodenhaftung-und-kompass-verloren/47847
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Griechenland - Dem Grexit könnte der Nato-Austritt folgen
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Es sagt sich inzwischen leicht: Dann sollen sie eben gehen, die Griechen. Nach dem Motto plumper Pädagogik: Wer nicht hören will, muss fühlen. Dumm nur, dass nach einem Grexit auch die EU einiges zu spüren bekäme. Europa fürchtet die geopolitischen Folgen schon jetzt. Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg hat darüber soeben mit dem ZDF gesprochen. Seine Aussagen sind bemerkenswert. Vor allem, weil er in einem Punkt die geradezu absurd klingende Forderung aufstellt, Griechenland dürfe nicht seine Verteidigungsausgaben kürzen. „Rüstungsausgaben sind nicht der Grund für die Probleme in Griechenland“, sagt da der sonst auch gern ausweichend antwortende Norweger Stoltenberg glasklar. „Die Probleme sind viel komplizierter als allein die Tatsache, dass Griechenland hier seine Zusagen bei den Militärausgaben einhält. Ich erwarte von allen 28 Nato-Partnern inklusive Griechenland, dass sie sich an ihre Versprechen halten, die zwei Prozent ihres Bruttoinlandsprodukts für Verteidigung auszugeben. Denn das ist wichtig für alle.“ Wie bitte? Alle Welt fordert die Griechen dazu auf, endlich den Rotstift anzusetzen beim Militär. Und Stoltenberg will das genaue Gegenteil. Wohlwissend, dass Griechenland längst bankrott ist. Auch weiß er, dass sich kein zweiter EU-Staat nach Großbritannien die Rüstung so viel kosten lässt. Die griechischen Verteidigungsausgaben lagen laut Nato im Jahr 2013 bei 4,27 Milliarden Euro. Das entsprach 2,3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Die Troika, pardon: die Institutionen, verlangen von Griechenland, die Verteidigungsausgaben um 400 Millionen Euro zu kürzen. Die griechische Regierung wollte den Etat immerhin um 200 Millionen Euro zusammenstreichen. Stoltenbergs Forderung löst natürlich Kritik aus: „Es hilft den Menschen in Griechenland nicht, wenn die Nato stumpf an einem aufgeblähten Militärhaushalt festhalten will. Lieber hier kürzen statt die sozialen Probleme durch andere Maßnahmen weiter zu verschärfen“, schimpft die sicherheitspolitische Sprecherin der Grünen-Fraktion, Agnieszka Brugger. Skurril erscheint, dass Stoltenberg zugleich vor einem Grexit warnt. Fast flehentlich mahnt er, „dass noch eine Lösung gefunden und der Grexit verhindert werden kann“. Denn: „Ein starkes und vereintes Europa ist gut für uns alle – auch für die Nato.“ Doch was ein Grexit für die Nato bedeuten würde, will der Chef des Bündnisses partout nicht sagen. Wie ein Mantra betet er herunter, dass Griechenland – seit 41 Jahren schon in der Nato - immer ein verlässlicher Nato-Staat gewesen sei und dies auch heute noch gelte. So hätte es ihm selbst diese Regierung doch versichert, eben noch der Verteidigungsminister, vor einigen Wochen der Außenminister – wieder und wieder. Außerdem habe „kein Vertreter der griechischen Regierung irgendeinen Zusammenhang hergestellt zwischen der Finanzkrise auf der einen und der Nato-Mitgliedschaft auf der anderen Seite“. Na dann. Wenn diese vertrauenswürdigen Leute es doch so sagen… Stoltenberg tut so, als es gebe keinen Plan B für die Nato. Er weigert sich, die möglichen Folgen eines Grexit auszumalen. „Es würde die schwierige Situation nur noch schwieriger machen, wenn ich nun spekulieren würde über hypothetische Fragen.“ Dieses Herumwinden und Behaupten, in den Bündnisfragen sei noch alles in bester, alter Statik, verrät natürlich das genaue Gegenteil: Nämlich große Sorge vorm Wanken. Deutsche Politiker haben das längst offen ausgesprochen: „Wenn Griechenland tatsächlich aus der Eurozone rausginge, dann stünde in der Tat auch die Zugehörigkeit zu Europa in Frage“, sagte der SPD-Fraktionschef Oppermann dem ZDF. „Deshalb muss man auch die geopolitischen Gefahren bedenken, die damit verbunden sind.“ Der Grünen-Verteidigungspolitiker Tobias Lindner sah bereits einen gefährlichen Drift Griechenlands Richtung Russland, als der griechische Ministerpräsident Tsipras vor zwei Wochen Russlands Präsidenten traf: „Sicherheitspolitisch ist das was, wenn ein Nato-Mitglied mit Herrn Putin, der ja Völkerrecht gebrochen hat, anders kann man es nicht formulieren, gemeinsame Sache macht. Das ist nichts, was der EU hilft, das ist nichts, was die Region stabiler macht.“ Gemeinsam haben Tsipras und Putin den Bau einer Gasleitung durch Griechenland beschlossen, die „Turkish Stream“. Das allein wäre noch kein anti-europäisches Projekt. Es sollte sogar im Interesse der EU sein, wenn Griechenland daran verdienen könnte. Doch man muss natürlich erst einmal investieren in den Leitungsbau, um eines Tages an den Durchlaufgebühren zu verdienen. Woher das Geld nehmen nach einem Grexit? Russland hat sich als Geldgeber schon angeboten. Doch dann könnte das westliche Bündnis ein Problem bekommen: „Die Nähe Griechenlands zu Russland ist ja nicht nur eine geografische, sondern auch eine politisch-kulturelle“, sagt Wolfgang Ischinger, der Vorsitzende der Münchner Sicherheitskonferenz. „Die Versuchung wäre groß, die griechischen Beziehungen zu nutzen, um die Stabilität Europas zu schwächen.“ Genau das sei das Ziel der Syriza, vermutet der Europa-Parlamentarier Elmar Brok. Als Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses kenne er etliche dieser griechischen Links-Politiker aus der täglichen Zusammenarbeit. Sie tickten ideologisch anti-westlich und suchten das Ende der Westbindung. Der Grexit könnte demnach nicht nur zum Ausscheiden Griechenlands aus der EU, sondern auch aus der Nato führen – nach 41 Jahren Mitgliedschaft. Die beiden großen Bündnisse Europas sind bislang immer nur gewachsen. Nach dem steten Aufstieg wäre das eine neue, ernste Erfahrung: erstmals Niedergang. Mit anderen Worten: Over the peak!
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Wulf Schmiese
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Die Euro-Zone mag gegen einen Grexit gewappnet sein. Der Nato-Generalsekretär aber will ein Ausscheiden Griechenlands aus dem Euro unbedingt verhindern. Denn das könnte auch zum Ende der Nato-Mitgliedschaft führen – nach 41 Jahren
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außenpolitik
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2015-07-01T12:53:12+0200
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2015-07-01T12:53:12+0200
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https://www.cicero.de//aussenpolitik/griechenland-jens-stoltenberg-dem-grexit-koennte-der-nato-austritt-folgen/59491
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Landidylle - Aber bitte mit Autobahnanschluss und Supermarkt
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Vergangenen Sonntag, Tag des offenen Hofes im niedersächsischen Salzhausen. Im Schatten des Heuschwaders predigt Pastor Michael Danne vor den Besuchern. Er betet, wie nur unter Bauern gebetet wird: „Herr, wecke die Bereitschaft bei den Verbrauchern, angemessene Preise für die Lebensmittel zu bezahlen." Übertönt wird das „Amen“ der Gäste nur durch ein kraftvolles „Muh“ aus dem Kuhstall hinter ihnen. An diesem Tag folgten, so der Bauernverband, bundesweit 2, 5 Millionen Besucher der Einladung deutscher Bauernhöfe, um Kühe an Melkmaschinen oder Schweine in ihren Koben zu bestaunen. Es ist der Versuch, den romantisierten Bullerbü-Blick der Verbraucher mit der hochtechnisierten Bauernhofstruktur zu versöhnen. Aber wer will das eigentlich? Die Menschen wollen aufs Land, heißt es in der aktuellen Studie der Sparda-Banken zum „Wohnen in Deutschland“. Jeder dritte Deutsche wünscht sich, auf dem Land zu leben (29 Prozent), nur jeder fünfte dagegen denkt, dass ein Leben in der Großstadt zu seinem persönlichen Glück gehört (19 Prozent). Fragt man beim Statistischen Bundesamt nach, leben aber ganze 30,8 Prozent aller Deutschen in Großstädten. Grob gerechnet sind da also zehn Prozent der Deutschen, rund 8 Millionen Menschen, die sich eigentlich in die Natur träumen. Und was bedeutet das? Dass sie einen Acker bestellen, im Dreck wühlen wollen? Nein. Sie wollen das Land, die Wiesen und die Weite aber keinen dunklen Wald vor der Tür. Sie wünschen sich Vogelgezwitscher, aber nicht um vier Uhr morgens. Shabbyschicke Bauerntruhen, aber keine Abdrücke von matschigen Stiefeln in der Küche. Es ist viel Idee dabei: von Ruhe, Wahrhaftigkeit, von mehr Zeit und weniger Allergien, von gesünderem Leben und nachhaltigem Essen. Dabei gibt es auch hier auf dem Land den Aldi, Autostaus und Überstunden. Und die Zecken übertragen Borreliose. Auf der anderen Seite existiert tatsächlich die Bauernfamilie, bei denen das einzige Telefon an einer Schnur in der zugigen Eingangsdiele hängt, der Bauer kein Handy besitzt und noch Tage später stolz berichtet: „Ich war im Internet “. Und zum Dorffest laden „Conny und Uwe“ stilecht zu „100 Litern Freibier“ im Feuerwehrzelt. Das ist eben auch Land. Und sicher auch ein Grund dafür, dass sich viele Städter mit einem Abonnement der Landlust und einem Abstecher in die Berliner Prinzessinnengärten, dem Gemüsegarten für Großstädter, begnügen, anstatt wirklich in die deutschen Steppen zu ziehen. Der Garten habe immer dann „Konjunktur, wenn ein Zeitenwandel Hand in Hand mit Wohlstand geht. Wenn die großen Utopien an ihre Grenzen geraten oder zu zerbrechen drohen“, schreibt Karl Čapek in „Das Jahr des Gärtners“. So versuche man dann, die Welt im Kleinen zu retten, resümierte kürzlich Daniel Schreiber in Deutschlandradio Kultur. Viele Landutopisten wollen Gärtner sein, keine Bauern. Und sie wünschen sich auch kein echtes Landleben, sondern ein Landleben light, mit allen Annehmlichkeiten in der Stadt. Deswegen träumen sie vom Land, erschrecken aber bei dem Gedanken an den echten Umzug. Im Baumarkt fragte ich vor einiger Zeit nach diesen klebrigen Fliegenrollen, wie ich sie von bekannten Bauernhöfen aus der Kindheit kannte. Was ich in die Hand gedrückt bekam, waren durchsichtige Fensterfolien, fein und fast unsichtbar. Die Fliegen aber, die daran hängen bleiben, sind mit bloßem Auge kaum zu erkennen. Derweil summen die dicken schwarzen Brummer weiter durch die Küche. Der gleiche Verkäufer versicherte mir auf die Frage nach einem handelsüblichen Besen, so etwas werde nicht mehr nachgefragt. Man sauge doch heute eigentlich überall. Dass ich einem Staubsauger den matschigen Dreck aus der Bauernküche nicht antun kann, war hier unerheblich. Das alles würde mich nicht wundern, kaufte ich noch immer in einem Baumarkt im Prenzlauer Berg ein. Tue ich aber nicht. Ich spreche von einem Baumarkt inmitten von Rapsfeldern, in Niedersachsen, dem selbsternannten „Agrarland Nummer eins“ immerhin, wie unser Landwirtschaftsminister Christian Meyer immer wieder betont. Es hat etwas Kindliches, diese Sehnsucht nach dem Land – „aber bitte mit Supermarkt“ (Stern). In ihr kulminiert die ganze quälende Bandbreite möglicher Lebensentwürfe. Wir fliegen ins All, klonen Geschöpfe, reisen in ein paar Stunden um die Welt und bauen Roboter. Da muss es doch wohl möglich sein, an einem Ort zu leben, der Zerstreuung, Party, Shopping, Ruhe und Landleben gleichermaßen vereint. Meine vierjährige Tochter wünscht sich nach einem Besuch in ihrer Geburtsstadt Berlin, unser neues Leben auf dem Bauernhof in ihr alteingesessenes Viertel in die deutsche Hauptstadt zu verpflanzen. Dann könne sie weiterhin ihre alten Freundinnen treffen und das wäre doch schön. Leider, musste ich ihr sagen, geht das nicht. Und es tat nicht nur ihr ein bisschen weh, das zu begreifen.
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Marie Amrhein
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Kolumne Stadt, Land, Flucht: „Eine Villa im Grünen mit großer Terrasse, vorn die Ostsee, hinten die Friedrichstraße.“ Was Kurt Tucholsky 1927 als „Ideal“ beschrieb, lässt die Menschen bis heute nicht los
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kultur
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2014-06-22T12:29:52+0200
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2014-06-22T12:29:52+0200
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https://www.cicero.de//kultur/utopien-ein-bauernhof-berlin-mitte/57794
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Mediziner Reiner Speck – Im Haus eines Bücherfressers
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Keine Hausnummer, kein Namensschild an der Klingel, auch nicht
am von Efeu umwucherten Briefkasten neben dem Gartentor. Offenbar
ist bekannt, wer in der stillen Straße im noblen Kölner Stadtteil
Lindenthal wohnt. Reiner Speck öffnet die Pforte, an der früher
„Dr. Jekyll und Mr. Hyde“ zu lesen war. Das habe jedoch zu
Irritationen und der Vermutung geführt, hier verberge sich ein Arzt
mit obskuren Obsessionen. Speck entfernte das Schild. Das ironische
Spiel mit Bezügen und Querverbindungen scheint ihm Spaß zu machen:
„Proust nahm im Hotel immer das letzte Zimmer links, unser Haus ist
das letzte auf der linken Seite.“ Gleich hinter der stattlichen
Villa aus den zwanziger Jahren liegt der Stadtwald und beginnt die
von Speck initiierte „Marcel-Proust-Promenade“, die erste nach dem
Schriftsteller benannte Straße in Deutschland. Specks kokette Idolatrie für den Franzosen geht so weit, dass
auf seinem Briefpapier statt der Kontonummer „Je hais les
correspondances – Marcel Proust“ steht. Er hasse Briefwechsel,
schrieb der Romancier im Frühjahr 1916 an seinen Freund Lucien
Daudet. Ungeachtet dessen verfasste Proust manisch und atemlos
Briefe, schrieb wie besessen an seiner „Recherche“. Urologe Speck,
dessen Tochter Laura in der fünften Generation die medizinische
Tradition der Familie fortsetzt, ist missionarischer Vorsitzender
der 1982 in Köln gegründeten Proust-Gesellschaft. Er produziert
ebenfalls einen nicht abreißenden Strom von Rezensionen, Vorträgen,
Kritiken und Essays über Kunst, Medizin, Literatur. Er hat Bücher
herausgebracht wie „Proust für Gestresste“ – eine Art Hausapotheke
für spezielle Seelenlagen. Seit Jahrzehnten jagt der von Joseph
Beuys im „Dr. Speck Multiple“ Verewigte wie ein Süchtiger nach
allem, was er über den Proust’schen Romangiganten finden kann. Der
71-Jährige beruft sich dabei auf Goethe: „Und so liebe ich den
Besitz nicht der besessenen Sache, sondern meiner Bildung
wegen.“ Das zweite Objekt seiner Sammel- und Wissensleidenschaft ist der
italienische Humanist und Dichter Francesco Petrarca, der als einer
der ersten obsessiven Bibliophilen schlechthin gilt. Zwischen
Proust und Petrarca liegen Welten und Jahrhunderte, aber beide
„sind in ihrer Zeitzeugenschaft so genial und allumfassend, dass
sie Epochen überragen und überleben“, sagt Speck. Beide seien
Künstler par excellence gewesen, was die Anlage ihres Werkes, deren
Formvollendung, die Selbstreflexion und ihren Ruhm betreffe. Ein
auch heute noch beachtliches Werk sei beispielsweise Petrarcas „De
remediis utriusque fortunae“, von den Heilmitteln gegen gutes und
böses Schicksal, ein Nachschlagewerk mit Zitaten und einschlägigen
Beispielen. Der Enthusiast Reiner Speck besitzt die erste deutsche
Übersetzung von 1532 und freut sich über sein Beuteglück. Auf allen Reisen führt ihn der erste Weg ins Antiquariat und
dann erst ins Hotel. Auch „Petrarca pflegte wie ein witternder Hund
vom Weg abzuweichen, sobald er von einem Kloster und dessen
Bücherschatz erfuhr“, erzählt Speck. Heute besucht er
Antiquariatsmessen und ist in Fachkreisen so bekannt, dass vieles
an ihn herangetragen wird – Inkunabeln wie Probleme der
Forschung. Zunächst ist es die Kunst, die den Besucher beim Betreten des
Speck’schen Domizils gleich hinter der Tür in großen Formaten
empfängt: Cy Twombly, der Exlibris für die Büchersammlung schuf,
Sigmar Polke, Marcel Broodthaers. Im anschließenden Raum keine
Bilder mehr, nur noch Bücher, raumfüllend und deckenhoch in
kontorähnlichen dunklen Holzregalen aufgereiht. Parkettboden,
nichts Überflüssiges oder Nebensächliches, lediglich ein englischer
Sekretär – eine Empfangs- und Lesebibliothek mit Blick in einen
parkähnlichen Garten. Hier stehen die Zeitgenossen, das 19. Jahrhundert und die
klassische Moderne, hier manifestiert sich Specks
Literaturbesessenheit und sein enzyklopädisches Wissen: Bernanos,
Bataille, Houellebecq, Ponge, Roussel, Walser, Wieland. Dazwischen
die erste 1964 erschienene graufarbene Taschenbuch-Werkausgabe von
Prousts „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“. Sie ist gespickt
mit weißen Zetteln, die alle medizinischen Stellen markieren.
Dieses „l’univers medical bei Proust ist unglaublich. Die
‚Recherche‘ bietet das narrative medizinische Wissen und wird zu
Recht von Walter Benjamin als ‚Wissen eines Gelehrten‘ bezeichnet“,
sagt Dr. Speck, der abwechselnd lateinisch, englisch oder
französisch zitiert. Lesen
Sie auf Seite zwei, in welchem Zimmer Reiner Speck keine Bücher
aufbewahrt Die Bibliothek ist längst nicht mehr alphabetisch geordnet,
vieles sogar in Dreierreihen hintereinander verstaut. „Irgendwann
einmal musste ich die Bücher den Formaten entsprechend sortieren.
Ich weiß, was ich habe, aber ich weiß nicht, wo es steht“, sagt
Speck. Denn jedes Zimmer des großen Hauses ist bis unters Dach eine
eigenständige Bibliothek. So auch im ersten Stock: Hier reihen sich
umfangreiche Konvolute von Erstausgaben und Autografen von
Louis-Ferdinand Céline neben Gottfried Benn, Alfred Döblin und
Oskar Panizza, dessen „Liebeskonzil“ sogar in der
Originalhandschrift – sämtlich geschätzte Schriftstellerärzte, über
die Speck selbst publiziert hat. Neben einem antiken Bett, in dem
er seit seinem vierten Lebensjahr schläft, türmen sich „manchmal
für die Nacht bis zu 50 Bücher, und am nächsten Morgen ist doch
vieles ungelesen“, sagt Speck resigniert, der sich selbst als
„Bücherfresser“ bezeichnet. Ein einziger Raum ist ohne Buch: das
Esszimmer. Dort hängen ausschließlich sieben großformatige Bilder
mit erotischem Sujet von Pierre Klossowski – letzten Endes doch nur
wieder gemalte Literatur, wie der Gastgeber beinahe entschuldigend
bemerkt. Schon als Schüler habe er davon geträumt, eine
Universalbibliothek zu haben, die es einem erspart, in öffentliche
Bibliotheken zu gehen. In seinem Zimmer in der elterlichen Villa
hatte der Sohn der als Ärzte tätigen Eltern nicht nur drei, vier
Regale an der Wand, sondern bereits raumhohe Bücherschränke. Es
sollte ein Studiolo sein, ein Bücherspeicher mit der Aura einer
Bibliothek. Die Sammelsucht begann später, schleichend. Als
20-Jähriger stöberte Speck zu Hause in den Regalen und stieß auf
Prousts siebenbändige Ausgabe; dann blätterte er lustlos in „Tage
der Freuden“. Aber erst bei „Tage des Lesens“ war es um ihn
geschehen, und er wurde zum Proust-Leser und -Sammler. Eine
Sternstunde sei der Moment gewesen, in dem er den Avant-Text, das
Originalmanuskript „Sur la Lecture“, in Paris erwerben konnte. Die Bibliothek mit schätzungsweise 40 000 Büchern sei ein
„Zeugnis der Kontextualität und Komparatistik, denen ich immer
hinterher bin und die lebenslang meine Lesegewohnheiten bestimmt
haben“. Aus Platzmangel „transplantierte“ Speck Anfang des Jahres
die beiden Herzkammern seiner Bibliothek, die monomanisch
aufgebaute „Bibliotheca Proustiana“ und die weltweit größte private
„Bibliotheca Petrarchesca“, in die Casa senza qualità im nahe
gelegenen Stadtteil Müngersdorf. Es handelt sich hierbei um das
„architektonische Manifest“ des Kölner Stararchitekten O. M.
Ungers, das dieser selbst bis zu seinem Tod bewohnte. Mehr als hundert Proust-Briefe, zahlreiche Manuskripte, private
Dokumente und bibliophile Kostbarkeiten, illuminierte Handschriften
auf Papier und Pergament, Frühdrucke berühmter Vorbesitzer haben am
zweiten Standort der Speck’schen Bibliothek ein Refugium gefunden.
Doch so etwas gehe nicht ohne Opfer. Das größte sei der Verzicht
darauf, jedes Buch immer und sofort greifbar zu haben. Erworben hat
Speck das Haus, auch Sitz der „Dr. Speck Literaturstiftung“, um
darin „die Einmaligkeit meiner Obsession für die Nachwelt zu
konservieren“, gleichzeitig betonend, diese Diktion entspreche
nicht seiner Bescheidenheit. Ironische Distanz gegenüber sich
selbst scheint bei Speck auch immer auf Erhöhung der Distinktion
angelegt. Überhaupt, wie hat er sein Sammeln finanziert? Der freudige
Verzicht auf die als banal eingeschätzten Begehrlichkeiten habe
sein ganzes Leben geprägt. Der Arztberuf habe ihn zur „inneren und
äußeren Disziplin“ gezwungen. „Ich bin kein Restaurantläufer,
Luxushotels langweilen mich. Ich fahre immer zweiter Klasse und
seit Jahrzehnten mit dem Fahrrad, selbst Hausbesuche habe ich damit
gemacht.“ Und der Jaguar vor der Tür? „Ich habe immer alte, längst
überholte Modelle.“ Der Wagen sei eine fahrende Hundehütte für
Dobermann und Weimaraner. Ein feines, süffisantes Lächeln umspielt
seine Lippen, als Speck sagt: „Meine Lebensformel ist eben Jaguar
und Spiegelei.“ Seine Obsession sei ein letztes Aufbegehren gegen
den Verlust der Aura einer Bibliothek, die die Summe alles je von
ihm Gelesenen ist. Und am Ende sei er als Sammler – wie von Proust
vorgeschlagen – nicht Leser seiner selbst, sondern wie Petrarca
„sein eigener Bibliothekar oder Museumswärter“.
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Der Kölner Mediziner Reiner Speck hortet nicht nur zeitgenössische Kunst, sondern auch Bücher – speziell über Proust und Petrarca. Ein Bibliotheksbesuch bei einem manischen Sammler
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kultur
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2012-12-08T08:56:50+0100
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