title
stringlengths 14
248
| content
stringlengths 1
111k
| author
stringlengths 0
53
| description
stringlengths 0
6.26k
| keywords
listlengths 0
23
| category
stringclasses 7
values | datePublished
stringlengths 0
24
| dateModified
stringlengths 0
24
| url
stringlengths 31
202
|
---|---|---|---|---|---|---|---|---|
Türkei - Wie Erdogan das Land mit Lügen spalten will
|
„Die Sehnsucht nach einer besseren Türkei wird Wirklichkeit.“ Diese Phrase benutzte der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan über Jahre hinweg, um sich im Eigenlob zu baden. Er gefiel sich in der Rolle als großer Staatsmann und Patriarch über die Türken, der in der krisengeschüttelten Welt und dem kriegerischen Chaos im Nahen Osten der Türkei Stabilität und wirtschaftliches Wachstum bescherte. Übermütig war seine Wortwahl: „Mein Volk“, „Mein Gouverneur“, „Mein Bürgermeister“, „Mein Istanbul“, „Meine Nation“, „Meine Polizisten“ – ja sogar „Meine Richter“. Und nun: Ein Scherbenhaufen. Der Taksim-Platz in Istanbul, den er als heiliges Symbol seiner konservativ-autoritären Herrschaft gestalten wollte – mit Einkaufszentrum und Moschee – ist von Hunderttausenden Jugendlichen besetzt und zur polizeifreien Zone erklärt. [video:Revolte in Istanbul: Die Proteste gegen Erdogan] Erdogan selbst ist zum Gespött der Boulevard-Presse geworden. „Nach dieser Türkei haben wir uns gesehnt“ schlagzeilte das Massenblatt „Posta“ mit Fotos vom Taksim-Platz: Junge Frauen, die Yoga-Übungen machen nebst gläubigen Jugendlichen von der Bewegung „Antikapitalistische Moslems“, die ihr Freitagsgebet auf dem Platz verrichten. Der Taksim-Platz ist heute eine Oase der Freiheit und praktizierter Demokratie. Ein Ort, wo freie Meinungsäußerung und das Recht auf Kritik garantiert sind und Selbstverwaltung im Dialog und mit Kompromissen stattfindet. Wo kleine Zettelchen mit Zitaten am „Baum der Wünsche“ anzeigen, wie politisch bunt die Protestierenden sind: John Lennon, Che Guevara, Mahatma Gandhi, Karl Marx und der Prophet Mohammed. Vielfach wurde die Türkei unter Recep Tayyip Erdogan als Modell für die Vereinbarkeit von Islam und Demokratie gepriesen. Die Legitimation Erdogans durch das Votum der Bürger an den Wahlurnen – zuletzt erhielt Erdogans Partei AKP fast 50 Prozent der Stimmen – genügte, um demokratische Verhältnisse zu unterstellen. Erdogan wertete die Wahlerfolge als Freibrief zu schalten und walten, wie es ihm in den Sinn kam. Ganze Medienkonzerne wurden zu Propaganda-Apparaten umgeformt. Missliebige Journalisten wurden gefeuert oder landeten im Gefängnis. Kleine studentische Proteste, etwa gegen Studiengebühren, wurden mit polizeilicher Gewalt unterdrückt. Auch bei Streiks und Arbeiterprotesten war staatliche Repression gang und gäbe. In Erdogans Weltbild war jede Opposition verdächtigt, mit „Putschisten“ oder „Terroristen“ gemeinsame Sache zu machen. So verwundert es nicht, daß er die Massenproteste, die mit der Revolte von Taksim begann, in sein Klassifikationsschema presste. „Marodeure“, „Militante terroristischer Gruppen“ waren die Urheber. Es ist Erdogans erste politische Niederlage seit 1994, als er zum Bürgermeister Istanbuls gewählt wurde. Seit 2002 stellt seine Partei AKP die Regierung. Er nimmt die Hunderttausenden, die auf den Plätzen demonstrieren, als Parasiten, die den gesunden Volkskörper bedrohen, wahr. „Seine“ Studenten demonstrieren nicht, sie studieren brav. „Seine“ Studenten trinken keinen Alkohol, sondern gehen zur Moschee. „Seine“ Arbeiter streiken nicht, sondern arbeiten für das Wohl der Nation. „Seine“ Frauen treiben nicht ab, sondern gebären mindestens drei Kinder. „Seine“ Jugendlichen küssen sich nicht in der Öffentlichkeit. „Seine“ Journalisten veröffentlichten nur das, was im Interesse der türkischen Nation liegt. Den Demonstranten am Taksim-Platz droht er. „Wir werden in der Sprache sprechen, die ihr versteht“. Mit angekündigten, eigenen Massendemonstrationen will er zeigen, dass ein monolithischer Block von 50 Prozent hinter ihm steht: die konservative islamische Türkei. Doch das Kalkül, die Türkei in eine fromme Mehrheit und eine säkulare Minderheit zu spalten – um dann getragen von der Mehrheit die Minderheit zu bezwingen – wird trotz aller Lügen der gleichgeschalteten Medien nicht aufgehen. Von Gruppensex der Demonstranten in der Moschee war die Rede. Erstunken und Erlogen, befand der Imam, der die Moschee betreut. In der Dolmabahce-Moschee sei gesoffen worden, erklärte Erdogan in einer Rede. Im Nu verbreiteten sich millionenfach Videos, die zeigten, wie die Moschee faktisch ein Krankenhaus war, in dem Ärzte von der Polizei mißhandelte und traktierte Menschen behandelten. Keine Spur von Alkohol. Frauen mit Kopftuch seien auf dem Taksim-Platz angerempelt und erniedrigt worden, erklärte Erdogan, um die Menschen aufzuputschen. Im Nu zirkulierten Tweets kopftuchtragender Frauen, die auf dem Taksim-Platz Seite an Seite mit Frauen ohne Kopftuch demonstrieren. Die sozialen Medien, allen voran Twitter – von Erdogan als „Plage“ bezeichnet – erweisen sich als stärkere Gegenmacht als die Erdogan gefügigen Medienkonzerne. Seine 50 Prozent erhielt Erdogan als Reformer, der die Militärs in die Schranken wies, als jemand, der vielleicht mit den Kurden einen Kompromiss schließen könnte, als Garant politischer Stabilität und wirtschaftlichen Wachstums. Nicht als faschistoider Möchtegern-Diktator. Die Demonstranten haben dies in Erinnerung gerufen. Die türkische Gesellschaft, auch die politische Basis Erdogans, ist höchst ausdifferenziert und heterogen. Der Taksim-Platz spiegelt genau diese Vielfalt wider und offenbart: Auch ohne staatliche Repression kann es ein Zusammenleben geben. Nichts ist mehr so, wie es war. Die Sehnsucht nach einer besseren Türkei ohne Panzer und Wasserwerfer ist zum Praxisversuch geworden.
|
Ömer Erzeren
|
50 Prozent – so viele Türken stimmten einst für Erdogan. Der versucht jetzt, diese vermeintlich konservative, fromme Mehrheit gegen die Demonstranten aufzuhetzen. Mit allen Tricks und Unwahrheiten
|
[] |
außenpolitik
|
2013-06-11T14:12:49+0200
|
2013-06-11T14:12:49+0200
|
https://www.cicero.de//aussenpolitik/tuerkei-wie-erdogan-das-land-mit-luegen-spalten-will/54703
|
Kulturkampf - Amerikas ziemlich schräger Kreuzzug
|
In einer britisch-kolonial anmutenden Stadt im nordamerikanischen Neu-England gehen zwei Frauen aus verschiedenen Richtungen kommend den Bürgersteig entlang. Beide tragen lange rote Kutten bis zu den Knöcheln und weiße Hauben mit Sichtschutz auf dem Kopf. Ihre Blicke sind gen Boden gesenkt. Als sich ihre Wege kreuzen, halten sie kurz inne. „Gesegnet sei die Frucht“, flüstert die eine unsicher. „Unter seinem Auge“, murmelt die andere leise. Sie gehen weiter. Im Hintergrund wischen derweil drei junge, schwarz gekleidete und bewaffnete Männer hastig Blut von einer Mauer, an der Vortags noch eine Hinrichtung wegen Gotteslästerung stattgefunden hatte. Diese verstörend dystopische Szene aus dem 1985 von der kanadischen Schriftstellerin Margaret Atwood und 2017 durch Netflix in eine Streaming-Serie verwandelten Buch „The Handmaid’s Tale“ (deutsch: Der Report der Magd) treibt einen amerikanischen Kulturkampf auf die Spitze. In dem Buch existieren die Vereinigten Staaten von Amerika nach einem von fundamentalistischen Evangelikalen verübten Staatsstreich nicht mehr. Das Land heißt jetzt Gilead (ursprünglich ein biblisches Land östlich des Jordan; Genesis, Kapitel 31). Seine Staatsform ist die christliche Theokratie – der Gottesstaat. Die beiden sich auf der Straße begegnenden Frauen heißen „des Fred“ und „des Warren“, sind Eigentum von zwei mächtigen gottesfürchtigen Männern im Staate, die ihre Mission darin sehen, das Evangelium in die Welt zu tragen. Sie tun dies – auch mit Gewalt – gegen den Willen Anders- oder Nichtgläubiger, denn mit Gott auf ihrer Seite ist alles erlaubt. Eine (un)bewusste Analogie zu diesem dystopischen Roman erweckte der demokratische Gouverneur von Minnesota und jetzige Vize von Kamala Harris, Tim Walz, kurz nach Präsident Bidens angekündigtem Rückzug von seiner erneuten Präsidentschaftskandidatur. Im Frühstücksfernsehen des US-Senders MSNBC redete er davon, dass Donald Trump und die Republikaner „just weird“ (einfach schräg) seien. Sie würden einem sogar vorschreiben wollen, welche Bücher man in Schulen lesen darf. Walz bezog sich damit auf einen Vorgang, der 2020 seinen Anfang in dem 30.000-Seelenort Southlake in Texas fand. Dort beschloss eine Elterninitiative zusammen mit der lokalen Schulbehörde („school board“), gegen rassistische Vorfälle auf dem Schulhof vorzugehen. Mit einer Bildungsinitiative über die amerikanische Geschichte und das Verhältnis der diversen in den USA lebenden Ethnien wollten sie dem Rassismus begegnen. Dies wiederum rief eine konservative Lobbygruppe namens Southlake Families PAC auf den Plan. Anstatt Kindern in der Schule einzupflanzen, dass Amerika aufgrund seiner Vergangenheit der Sklaverei schlecht sei, solle man sie lieber zu stolzen Amerikanern erziehen. Darüber hinaus hätten Sexualkunde oder gar die Evolutionstheorie in Lehrplänen sowieso nichts verloren. Stattdessen sollten Moral und Anstand, christliche Werte und Patriotismus vermittelt werden. Solche PACs („political action committees“) spielen in den USA eine immer größere Rolle. Sie unterstützen politische Wahlkämpfe mit eigenen Kampagnen parallel zum Kandidaten. Seit einem Urteil des Obersten Gerichtshofs von 2010 dürfen sie unbegrenzt Geld annehmen und müssen die Spender dahinter meist nicht offenlegen. In Southlake war das deswegen entscheidend, weil die Mitglieder amerikanischer school boards in den meisten Fällen von den Menschen in den Schulbezirken gewählt werden. Southlake Families PAC bekam finanzielle Unterstützung konservativer Großspender und verhalf so favorisierten Kandidaten zu einer Mehrheit im school board. Die Bildungsinitiative gegen Rassismus scheiterte, und das sogenannte „Southlake Playbook“ entstand als Anleitung für Nachahmer im ganzen Land. Als Konsequenz wurden in den ersten sechs Monaten des Schuljahres 2023/2024 in 52 Schulbezirken aus 23 US-Bundesstaaten über 4000 Bücher aus den Lehrplänen entfernt. Laut einer Studie der Rand Corporation von 2023 schränken mittlerweile 80 Prozent der Lehrer aus den betroffenen Schulbezirken Diskussionen im Klassenzimmer über Politik oder gesellschaftliche Probleme aus Angst vor negativen Konsequenzen für die eigene Karriere ein. In diesem amerikanischen Kulturkampf geht es aber nicht nur um Schulbücher. Seit dem Urteil des Obersten Gerichtshofs von 2022, das das bundeseinheitliche Recht auf Abtreibungen kippte, hat sich der Kulturkampf noch einmal verschärft. In der 1973 gefällten Grundsatzentscheidung „Roe v. Wade“ erklärte der Supreme Court, dass Abtreibungen unter das im „due process clause“ des 14. Verfassungszusatzes garantierte Recht auf Privatsphäre einer Frau als Teil ihrer individuellen Freiheit falle. Der Oberste Gerichtshof hob dieses Urteil 49 Jahre später wieder auf. In der Urteilsbegründung erläuterten die Richter, dass das Wort „Abtreibung“ nirgends in der US-Verfassung explizit Erwähnung finde und somit auch nicht von dieser geschützt werden könne. Damit etwas auch ohne Erwähnung geschützt werde, müsse es „tief verwurzelt in der Geschichte und den Traditionen der Nation“ sein. Abtreibung sei dies nicht. Der Zeitpunkt des Urteils war kein Zufall. Die parlamentarische Versammlung des Bundesstaates Mississippi hatte 2018 ein neues Gesetz verabschiedet, das Abtreibungen nach der 15. Schwangerschaftswoche verbot. Dies stand dem bundeseinheitlichen Standard der 24. Schwangerschaftswoche entgegen, der 1992 in dem Fall „Planned Parenthood v. Casey“ vom Obersten Gerichtshof festgelegt worden war. Die einzige Abtreibungsklinik in Mississippi verklagte daraufhin den Gesundheitsminister des Bundesstaates im Fall „Dobbs v. Jackson Women’s Health Organization“. Von Anfang an war es der Plan der Initiatoren des Gesetzes, eine Klage zu provozieren und es durch die gerichtlichen Instanzen bis zum Supreme Court hochzutreiben. Sie gingen nämlich davon aus, dass Präsident Trump (2016–2020) drei neue konservative Richter während seiner Amtszeit werde benennen können. Vor dem Obersten Gerichtshof, so die Kalkulation der Initiatoren aus Mississippi, werde eine konservative Mehrheit der Richter die Verfassungskonformität des Gesetzes bestätigen und gleichzeitig „Roe v. Wade“ kippen. Genauso kam es. Trump nominierte während seiner Amtszeit die drei konservativen Richter Neil Gorsuch, Brett Kavanaugh und Amy Cony Barrett, und „Roe v. Wade“ fiel. Seit dem Urteil kann jeder US-Bundesstaat mangels bundeseinheitlicher Regelung seine eigenen Abtreibungsgesetze festlegen. Das hat bisher dazu geführt, dass 14 Bundesstaaten Abtreibungen komplett verboten und weitere acht sie eingeschränkt haben. Ein in Vergessenheit geratener und von Liberalen als „Zombie-Gesetz“ bezeichneter Gesetzestext gießt noch mehr Öl ins Feuer. Der „Comstock Act of 1873“ untersagt nämlich der amerikanischen Post‚ „obszönes Material“ in Briefen oder Paketen auszutragen. Laut einer Interpretation des republikanischen Kandidaten für die Vize-Präsidentschaft, J.D. Vance, und einer Erwähnung im kontroversen „Project 2025“ der konservativen Heritage Foundation fallen auch Abtreibungsmedikamente darunter. Einige Online-Apotheken haben bereits reagiert und bieten den Versand dieser Medikamente nicht mehr an. Die Demokraten laufen landesweit Sturm gegen diese Entwicklung. In einer Ansprache am 24. Juni 2022 nannte Präsident Biden die Entscheidung des Obersten Gerichtshofs einen „tragischen Fehler“ und die „Realisierung einer extremen Ideologie“. Es sei ein trauriger Tag für Amerika. Wenig später entschieden sich vier US-Bundesstaaten dazu, das Recht auf Abtreibung in ihre Landesverfassungen aufzunehmen. Am meisten Aufmerksamkeit bekamen dafür Kansas und Michigan, deren Einwohner 2016 und 2020 (im Falle Michigans nur 2020) bei den Präsidentschaftswahlen mehrheitlich republikanisch votierten. In Volksabstimmungen über die Frage der Abtreibung nahm die dortige Bevölkerung dennoch eine progressive Haltung ein. Das erkannte auch die Trump-Vance-Kampagne und ruderte jüngst zurück. Man wolle sich nicht für ein bundeseinheitliches Verbot von Abtreibungen einsetzen. Es bleibe eine Entscheidung der Bundesstaaten. Im Wahlkampf für die Präsidentschaftswahl 2024 bekam jetzt ein durch eine progressive PAC produziertes Video große Aufmerksamkeit. Schlagkräftige und gut durchfinanzierte Lobbygruppen gibt es in den USA nämlich nicht nur unter Konservativen. Die progressiven unter ihnen verstehen auch einiges vom Geschäft. „Won’t PAC down“, so der Name der Gruppe, nutzte den schrägen Kommentar von Tim Walz aus dem MSNBC-Frühstücksfernsehen für die Produktion und Verbreitung eines Videos, das durch die Decke ging. Es zeigt auf gruselig schräge (weird!) Art und Weise klischeehaft alte, weiße Männer. Die Männer erzählen, dass, nachdem man(n) Abtreibung illegal gemacht habe, nun auch der Konsum von Pornografie überwacht werden solle. Sex abseits des Gedankens der Fortpflanzung sei eine Sünde. Abschließend verkünden die Männer im Video, alle im November wählen zu gehen, und blicken finster in die Kamera. Das Video avancierte seitdem unter Demokraten zu einer Art Schlachtruf gegen den vermeintlichen evangelikalen Kreuzzug. Tim Walz wurde damit zu mehr als einem „alten weißen Mann“ mit progressiven Ideen und somit einer wichtigen Balance zur eher zentristisch-moderaten woman of color Harris. Der Erfolg seiner (un)bewussten Analogie im US-Frühstücksfernsehen verhalf ihm am Ende sogar dazu, auf das Harris-Ticket zu kommen. Sollten Kamala Harris und Tim Walz die Wahl tatsächlich gewinnen, wird sicherlich nicht das Paradies im Weißen Haus auf sie warten. Ein so gespaltenes Land wieder zusammenzuführen, wird eine höllisch schwere Aufgabe.
|
Andreas Schwenk
|
Evangelikale TV-Prediger in den USA sind überzeugt, Gott nutze auch Sünder wie Trump für sein himmlisches Werk. Das progressive Amerika hat eine nicht weniger bizarre Vorstellung vom Paradies.
|
[
"USA",
"Donald Trump",
"Kamala Harris"
] |
außenpolitik
|
2024-09-02T17:24:36+0200
|
2024-09-02T17:24:36+0200
|
https://www.cicero.de//aussenpolitik/kulturkampf-amerikas-ziemlich-schrager-kreuzzug
|
Rente mit 63? - Wir brauchen eine Altengleitzeit
|
Welche Talkshow auch immer – man muss gar nicht umständlich in Zeitungen suchen, welches Thema diesmal dran sein mag. Denn es ist in diesen Wochen (fast) immer das gleiche: Rente. Sind die Pläne der großen Koalition gerecht? Sind sie finanzierbar? Gehen sie auf Kosten der Jüngeren? Rente, rauf und runter, runter und rauf. Die Argumente sind so vielfältig wie die Zahl der Diskutanten, die Meinungen höchst widersprüchlich, und am Ende aller Debatten wird man den Eindruck nicht los, dass die Segnungen des Rentenpakets ungefähr ebenso groß sind wie dessen Mängel.Am interessantesten an dem großen Streit aber ist, worüber dabei nicht gesprochen wird. Die Diskussion beschränkt sich nämlich ganz und gar auf die finanziellen Aspekte. Und tut dabei so, als hätten sich die Lebenswelten der 60- und 70-Jährigen in den vergangenen Jahrzehnten nicht grundlegend geändert. Als wären die Ruheständler von heute noch immer mit jenen vergleichbar, die vor einem halben Jahrhundert in Rente gingen: abgearbeitet, müde, zukunftslos, mit einer Lebenserwartung von wenigen Jahren. Genau das aber hat sich seit langem gründlich geändert. Wer heute in den Ruhestand geht, hat noch ein beträchtliches Lebensstück vor sich, im Schnitt bald 20 Jahre. Längst ist die herkömmliche Einteilung des Lebens in drei Abschnitte – Kindheit, Erwerbszeit, Alter – obsolet geworden. Ein viertes Lebensalter hat sich dazwischen geschoben, die Zeit zwischen dem 65. und dem 80. Jahr, mit dem statistisch das Greisenalter beginnt. Solche jungen Alten gibt es millionenfach, sie sind körperlich und geistig in ihrer Mehrheit gesund, leistungsfähig, unternehmungslustig und wirken keineswegs so, als dämmerten sie ihrem Ende entgegen. An diesen Millionen von Menschen geht die momentane Debatte vollkommen vorbei. Was derzeit so wortreich diskutiert wird, ist ein einziger Anachronismus. Denn eine moderne Rentendebatte, eine, die der Wirklichkeit Rechnung trägt, müsste ein ganz anderes Thema in den Mittelpunkt stellen. Es hieße: Flexibilisierung. Das starre Renteneintrittsalter mit 65 (und von 2029 mit 67) ist eine Regelung, die ins vergangene Jahrtausend gehört. Natürlich ist es schon heute nicht verboten, über die 65 hinaus zu arbeiten. Aber viele Tarif- oder Versicherungsverträge erschweren das enorm, so dass faktisch oft doch eine feste Altersgrenze existiert. Genau darüber wäre nun zu reden: Wie kann der neuen Wirklichkeit entsprochen werden? Wie könnte es gelingen, Menschen über die Altersgrenze hinaus zu beschäftigen, wenn sie es wollen? Und zugleich jene, die im Alter an ihr Leistungslimit gelangen, schon früher in den Ruhestand zu entlassen? Eine Altengleitzeit also, mit geringerer Stundenzahl und damit gewissen Einkommenseinbußen möglicherweise, eine Öffnung nach vorne und auch nach hinten. Sage niemand, das sei unter den Gesichtspunkten der Rentenmathematik ein allzu schwieriges Unterfangen. Schweden hat es schon 1999 vorgemacht. Wer will, kann dort bereits mit 61 abschlagsfrei in Rente gehen, und wer länger am Arbeitsplatz bleiben möchte, kann das auch. Im Durchschnitt hat diese Regelung in Schweden den Eintritt in den Ruhestand auf 65,7 Jahre angehoben (in Deutschland liegt er faktisch etwa bei etwa 61). Allein das zeigt, wie groß das Interesse oder die finanzielle Notwendigkeit für Altersarbeit ist. Auch Großbritannien hat Konsequenzen aus der demografischen Entwicklung gezogen und 2011 das gesetzliche Rentenalter abgeschafft. In Deutschland ist davon, sieht man einmal von vereinzelten Rufern in der Wüste ab, weit und breit nicht die Rede. Der Plan der großen Koalition, eine 45-jährige Lebensleistung mit der Rente ab 63 zu honorieren, trifft nicht ins Zentrum des Problems. Es ersetzt nicht die grundsätzliche Auseinandersetzung mit der Frage, welche Perspektiven in einer alternden Gesellschaft eröffnet werden sollten. Zumal zu Zeiten, in denen der Mangel an qualifizierten Arbeitskräften beklagt wird. Die Debatte darüber hatte längst schon beginnen müssen. Nicht nur der Arbeitsmarkt schreit förmlich danach. Auch die Menschenfreundlichkeit. Denn die derzeitige Regelung macht aus Menschen altes Eisen – auch wenn es noch keinerlei Rost angesetzt hat.
|
Wolfgang Prosinger
|
Die Frage, ob die Rente mit 63 finanzierbar ist, geht an dem eigentlichen Problem vorbei. Viel wichtiger ist eine Debatte über die Abschaffung des starren Eintrittsalters
|
[] |
innenpolitik
|
2014-04-15T12:11:16+0200
|
2014-04-15T12:11:16+0200
|
https://www.cicero.de//innenpolitik/rente-mit-63-wir-brauchen-eine-altengleitzeit/57410
|
Moritz Gathmann in der Ukraine - „Von der Seeseite ist Odessa abgeschnitten“
|
Die Schwarzmeer-Metropole Odessa ist von enormer Bedeutung für die Ukraine – sowohl wirtschaftlich als auch kulturell. Aber natürlich verbinden auch die meisten Russen sehr konkrete Vorstellungen mit der Millionenstadt, die als Schauplatz des Films „Panzerkreuzer Potemkin“ ins kollektive Gedächtnis eingegangen ist. Der Hafen von Odessa ist heute extrem wichtig für den Export von in der Ukraine hergestellten Lebensmitteln wie Getreide oder Sonnenblumenkernen, und Moritz Gathmann hat sich direkt vor Ort umgehört. Im Gespräch geht er auch auf die aktuellen Friedensverhandlungen zwischen Russland und der Ukraine ein, macht allerdings wenig Hoffnung auf eine baldige Lösung. Tatsächlich nämlich, so der Cicero-Chefreporter, würden solche Verhandlungen „am Boden“ entschieden – also entsprechend der militärischen Lage. Und mit Blick auf die Kampfhandlungen sei noch lange kein Ende in Sicht, auch wenn die russischen Truppen inzwischen aus der Kiewer Region wieder abzurücken beginnen. Das Gespräch wurde am Donnerstag um 17 Uhr aufgezeichnet. Weitere Interviews mit Moritz Gathmann:
|
Cicero-Redaktion
|
Seit einer Woche ist Cicero-Chefreporter Moritz Gathmann wieder in der Ukraine unterwegs. Gestern ist er in der südukrainischen Hafenstadt Odessa angekommen, die vom Schwarzen Meer aus durch russische Kriegsschiffe belagert wird. In Odessa selbst verläuft das Leben zwar weitgehend normal – doch nur auf den ersten Blick. Denn wegen der abgesperrten Seewege können die in der Ukraine produzierten Lebensmittel nicht verschifft werden. Das führt zu Knappheit etwa von Sonnenblumenöl auch in Deutschland. Aber das ist nur das kleinste Problem.
|
[
"Ukraine-Krieg",
"Ukraine",
"Russland",
"Video"
] |
außenpolitik
|
2022-03-31T17:40:24+0200
|
2022-03-31T17:40:24+0200
|
https://www.cicero.de//aussenpolitik/moritz-gathmann-interview-ukraine-Odessa
|
Phänomen Arnie – „Ein pragmatischer Performance-Populist“
|
Jörg Scheller ist Inhaber einer Dozentur
für Kunsttheorie und Kunstgeschichte im Department Kunst &
Medien an der Zürcher Hochschule für Künste. Seine Doktorarbeit
fertigte er zu Arnold Schwarzenegger an Herr Scheller, Sie haben Kunstwissenschaft und
Philosophie studiert. Wie kamen Sie darauf, ausgerechnet zur Person
Arnold Schwarzenegger Ihre Doktorarbeit anzufertigen?
Man könnte sagen, dass Figuren wie Schwarzenegger die Michelangelos
der Massengesellschaft sind. Unsere Hofkünstler im Pop-Zeitalter
sind nicht mehr die großen Malerfürsten, sondern das sind
Selbstinszenierer wie Schwarzenegger. Ich finde diese Figuren
interessant, weil sie viel über unsere Zeit und die jüngere
Vergangenheit verraten. Man kann Schwarzeneggers Leben
interpretieren wie ein Historiengemälde der Postmoderne. In ihm, in
dieser Figur, in diesem Mythos müsste man sagen, verdichten sich
maßgebliche Züge der jüngeren Geschichte: Von der
High-Low-Durchmischung der 1960er, 1970er Jahre über den
Neokonservatismus der 1980er, dann der Cross-Over-Zeitgeist der
1990er und der Öko-Boom der Nuller-Jahre. All diese Facetten lassen
sich wunderbar an Schwarzenegger ablesen. Er verkörpert diese Zeit
in all ihrer Widersprüchlichkeit. Sie beschreiben Schwarzenegger als mythologische Figur
und ziehen Parallelen zur mythischen Gestalt des Herkules. Was
meinen Sie damit?
Der Herkules-Mythos zeichnet sich dadurch aus, dass Herkules keine
Essenz hat. Herkules hat weder einen ethischen, moralischen noch
ideologischen Kern, sondern er wird im Laufe der Zeit immer neu
vereinnahmt, und zwar von absolut unterschiedlichen Seiten. Er kann
einmal die Identifikationsfigur der Aristokratie sein, dann wieder
der Held der kleinen Kaufleute. Er kann ein stoischer Tugendheld
sein und dann wieder ein selbstverliebter Rüpel. Herkules existiert
eigentlich gar nicht. Er ist eine Chiffre für menschliche
Selbstüberschreitung, für Durchsetzungsfähigkeit und
Beharrungsvermögen. Dahingehend sehe ich in Schwarzenegger einen
postmodernen Wiedergänger der Herkules-Figur. Man kann ihn nicht
festlegen auf ein bestimmtes Weltbild, auf eine bestimmte
Ideologie. Er ist immer alles gleichzeitig. Mir geht es nicht um
die Privatperson Schwarzenegger, sondern um die Inszenierung, um
die Maske Schwarzenegger. Schwarzenegger hat in seiner Zeit als Gouverneur von
Kalifornien die Umweltpolitik stark vorangetrieben, sogar das
Kyoto-Protokoll unterstützt. Und das entgegen der Linie des
damaligen US-Präsidenten George W. Bush. Ist dieser Politikansatz
mit der mythologischen Figur erklärbar?
Ich glaube der Politikansatz hängt eher mit den Mythen Kaliforniens
zusammen. Schwarzenegger verkörpert wissentlich oder unwissentlich
stark den Mythos Kaliforniens. Und Kalifornien war in den USA immer
schon ein Vorreiter für Ökopolitik. Das begann im späten 19.
Jahrhundert, als der Bundesstaat von der Tourismusbranche als neues
antikes Griechenland beworben wurde. Man hat wie einst Johann
Joachim Winckelmann über die athenische Polis argumentiert, dass in
Kalifornien eine so wunderbare Natur gegeben sei, dass die Sonne so
schön scheine. Kalifornien war in den 1960er und 1970er Jahren der
Hort sowohl der Umweltbewegung als auch der Neokonservativen. Das
ist also in der Geschichte Kaliforniens bereits angelegt.
Schwarzenegger selbst ist erst ganz spät darauf aufgesprungen,
nämlich als er gemerkt hat, dass ihm alles andere nicht so
recht gelingen wollte. In seinem Wahlkampf 2003 hat die
Umweltpolitik eine absolut marginale Rolle gespielt. Politik nicht mehr aus persönlichen Überzeugungen heraus
zu betreiben, sondern lediglich dazu zu nutzen, die eigene
Persönlichkeit zu stilisieren. Ist das ein Politikermodell für die
Zukunft?
Das bleibt abzuwarten. Schwarzenegger wurde von einigen
Politikwissenschaftlern als wegweisende Figur beschrieben,
dahingehend, dass er eigentlich keine Parteienpolitik mehr
betrieben hat. Er ist ein Politiker der Nuller- und Zehner-Jahre,
ein Politiker für Wechselwähler, ein Politiker für Unentschlossene,
ein Politiker für Menschen, die keine Lust mehr auf Ideologie und
Dogmatismus haben. Diese Wähler erhoffen sich eher flexible
Power-Politik, die Probleme angeht und sie pragmatisch löst, die
überparteilich orientiert ist. In diesem Kontext sehe ich
Schwarzenegger. Ihn zeichnet aus, was einen guten Kapitalisten
auszeichnet: Er hat kein Dogma. Er schaut, wie er es für die
meisten am besten macht. Diese Eigenschaften hat er vom
Hollywood-Kino mitgebracht. Er hat seit den 1990er Jahren Filme für
die breite Masse gemacht und genauso seine Politik ausgerichtet.
Dass die Politikerpersönlichkeit in den Mittelpunkt rückt, hat viel
mit der Zeit nach 1989 und dem Fall der Berliner Mauer zu tun, als
die alten Rechts-Links-Gefälle langsam den Bach runtergingen. Davon
profitieren pragmatische Performance-Populisten wie Schwarzenegger. Auf der nächste Seite: Ist Schwarzenegger der Prototyp des
neuen Politikers? Der US-amerikanische Journalist Joe Matthews hat
Schwarzeneggers Politikstil auch als „blockbuster democracy“, also
als eine Art Unterhaltungs-Demokratie bezeichnet. Ist
Schwarzenegger bis heute in der Zeit, als er Hollywoodschauspieler
gewesen war, verhaftet?
Es gibt ein schönes Zitat von Georg Seeßlen: „Über der Frage, wie
viel Showbusiness die Politik enthält, wird leicht diejenige danach
vergessen, wie viel Politik das Showbusiness enthält.“
Hollywood hat immer schon Politik gemacht. Ich sehe da gar nicht so
große Gräben zwischen Showbusiness und Politik. Ich glaube, die
sieht Schwarzenegger auch nicht. Das ist ein Brei, ein großer
Eintopf aus Unterhaltung, aus Wirtschaft, aus Politik. Die
klassische Ausdifferenzierung der Wertsphären, wie Max Weber das
genannt hat, scheint bei ihm nicht zu existieren. Alles interagiert
mit allem, alles hängt mit allem irgendwie zusammen. In Deutschland ist es bisher so, dass Personen aus dem
Showbusiness weniger mit Politik in Berührung kommen. Nun hat der
Rapper Bushido angekündigt 2016 mit einer neuen Partei an den
Wahlen zum Berliner Abgeordnetenhaus teilzunehmen, mit dem Ziel,
Regierender Bürgermeister von Berlin zu werden. Befürchten Sie,
dass sich damit auch bei uns die Grenzen dieser Sphären verschieben
werden?
Ich kann mir das durchaus vorstellen. Gerade vor dem Hintergrund
der schwindenden Bindekraft der klassischen Parteien. Irgendjemand
wird in diese Lücke treten müssen. Und natürlich weiß jemand, der
im Showbusiness groß und erfolgreich geworden ist, wie man Leute
umgarnt. Ob es nun Fans oder Wähler sind, ist dann Nebensache. Es
gibt da zumindest eine Grundkompetenz. In den USA wird es mit einer
größeren Selbstverständlichkeit aufgenommen, dass man in mehreren
Bereichen gleichzeitig zu Hause sein kann. Aus alteuropäischer
Perspektive würde ich jedoch nicht gleich den Untergang des
Abendlandes darin vermuten, wenn jemand aus dem Showbusiness in die
Politik wechselt. In den USA sagt man, „Politics is no Rocket Science“,
also ich muss jetzt nicht zwei Doktortitel haben, um in der Politik
erfolgreich sein zu können. Einen guten Politiker zeichne vielmehr
aus, dass er einen guten Beraterstab zusammenstellt, dass er bereit
ist, auf andere zu hören, dass er vermitteln kann, dass er
lernfähig ist. Und diese Tugenden hat Arnold Schwarzenegger
durchaus. Wie immer man ihn sonst beurteilen mag. Seinem
Beraterstab beispielsweise gehörten eine bekennende Lesbe, mehrere
Grüne, aber auch Konservative an. Das Denken in Parteikategorien
wird von einer Vermischung verschiedener Ideen abgelöst. Sehen Sie nicht aber auch Gefahren darin, wenn sich der
Parteienstaat praktisch auflöst und an diese Stelle eigentlich nur
noch charismatische Politiker treten, die mit ihrer Persönlichkeit
das Vakuum füllen? Das wird die Frage sein, wie dieses
Vakuum gefüllt werden kann. Letztlich ist das eine Sache, auf die
Intellektuelle nicht so viel Einfluss haben, wie man sich das
vielleicht wünschen würde. Die Lücke tut sich zu einem bestimmten
Zeitpunkt in der Geschichte auf und es entscheidet sich zu diesem
Zeitpunkt, wer die Lücke füllt. Wer am schnellsten ist, wer am
organisationsfähigsten ist, hat den entscheidenden Vorteil. Wenn
die progressiven Kräfte eher zur Zersplitterung, zur
Selbstzerfleischung oder zur Negativkritik neigen, wie man das
häufig im NGO-Geschwader und in Miniprotestgruppen sieht, dann
werden es die gut vernetzten, pragmatischen und kapitalstarken
Populisten sein, die diese Lücke füllen. Nach dem klassischen Zeitalter der Parteien ist das ein relativ
einfacher Wettbewerb, der jetzt beginnt. Ich sehe eher die Gefahr,
dass beispielsweise die Occupy-Bewegung destruktiv agiert, das
heißt: Es muss etwas abgeschafft werden, es muss etwas zerstört
werden, der Kapitalismus muss weg, die Banken müssen weg. Aber was
tritt dann an die Stelle? Was kommt dann? In den USA hat sich
gezeigt, dass es am Ende des Tages Figuren wie Schwarzenegger sind,
die sich durchsetzen. [gallery:Karl-Theodor zu Guttenberg – Aufstieg und Fall eines
Überfliegers] Kommen wir noch einmal zur Person Schwarzeneggers:
Die wenigsten Menschen wissen, dass Schwarzenegger mit Andy Warhol
bekannt gewesen ist. Wie sah ihr Verhältnis aus?
Schwarzenegger hat perfekt in diesen Entgrenzungszeitgeist der
1960er und 1970er Jahre gepasst, als es plötzlich en vogue war,
Dinge in der Kunst zu tun, die man davor einfach nicht getan hat.
1975 wurde Schwarzenegger sogar im New Yorker Whitney Museum in
einer Abendperformance ausgestellt. Warhol wurde auf ihn
aufmerksam, weil er sich sehr stark für Fitness interessiert hat.
Er hat selbst sehr viel trainiert. In seinen Tagebüchern ist er
immer verzweifelt, wenn er mal zwei Wochen nicht zum Work-Out
kommt. Auch Warhol war wie Schwarzenegger Katholik. Beide verbindet
die Freude und Kompetenz in allem, was Inszenierung betrifft. Auch
Maskenspiele beherrschten beide gleichermaßen. Schwarzenegger und
Warhol haben also viele Parallelen. Bei beiden geht es um die
Wahrheit der Inszenierung. Es geht nicht um die Wahrheit hinter der
Inszenierung. Warhol hatte das Bodybuilding-Dokudrama „Pumping
Iron“ von 1977 gesehen, in dem Schwarzenegger mitgewirkt hatte.
Ähnlich wie am Pornofilm bestand damals plötzlich großes Interesse
unter Intellektuellen und Künstlern am Bodybuilding. Es galt als
cool und interessant sich mit diesen Fleischbergen zu beschäftigen.
Es gab mehrere Begegnungen zwischen Schwarzenegger und Warhol.
Schwarzenegger hat ihn in der Factory besucht und Warhol war
Ehrengast auf der Hochzeit Schwarzeneggers mit Maria Shriver. Er
hat Maria Shriver sogar gemalt. Das war ein Hochzeitsgeschenk von
Schwarzenegger an seine Frau. Zum Abschluss noch eine persönliche Frage: Was wird Ihr
Thema für die Habilitation?
Ich wechsle von West nach Ost, zur Kunstgeschichte Polens. In
meiner Forschung widme ich mich der Geschichte des polnischen
Pavillons auf der Venedig-Biennale von 1895 bis heute. Herr Scheller, vielen Dank für das
Gespräch Das Interview führte: Daniel Martienssen Fotos: picture alliance; Zsu Szabó
|
Arnold Schwarzenegger wird mit Begriffen wie Terminator oder Gouvernator belegt und ist doch weit mehr. Ein Politiker neuen Typs. Ohne Dogma. Ohne Ideologie. Cicero Online sprach mit dem Kunstwissenschaftler Jörg Scheller über das Phänomen Schwarzenegger
|
[] |
kultur
|
2012-08-01T12:25:28+0200
|
2012-08-01T12:25:28+0200
|
https://www.cicero.de//kultur/ein-pragmatischer-performance-populist/51415
|
|
Verstoß gegen Bewährungsauflagen - Kremlkritiker Nawalny zu dreieinhalb Jahren Haft verurteilt
|
Dadurch, dass Alexej Nawalny einen Mordanschlag mit dem chemischen Nervengift Nowitschok überlebt hat, wurde er zum bekanntesten Gegner des Kremlchefs Wladimir Putin. Nun wurde der Journalist zu dreieinhalb Jahren Haft verurteilt. Der Prozess gegen ihn wird von vielen als politische Inszenierung betrachtet. Viele sehen darin den Versuch, den schärfsten Kritiker Putins zum Schweigen zu bringen. Am Dienstag sagten Vertreter der Staatsanwaltschaft vor Gericht, Nawalny habe in einem Strafverfahren von vor sieben Jahren in mehreren Fällen gegen Bewährungsauflagen verstoßen. Deshalb forderte der Strafvollzug dreieinhalb Jahre Haft für ihn. Die Staatsanwaltschaft plädierte für zweieinhalb Jahre, da sie ihm ein Jahr im Hausarrest anrechnen wollte. Der Kremlkritiker hat sich in der Berliner Charité und in Baden-Württemberg fünf Monate lang von einem Angriff mit dem Kampfstoff Nowitschok erholt. Er habe sich deshalb nicht persönlich in Moskau melden können. Dies habe sogar Putin zugegeben, als er öffentlich bekannt gab, der „Patient“ sei in Deutschland. „Hören Sie etwa dem Präsidenten nicht zu?“ fragte er das Gericht. Seinen Auftritt vor Gericht nutzte der 44-Jährige für einen erneuten Angriff auf Wladimir Putin. Dieser werde als „Wladimir, der Vergifter der Unterhosen“ in die russische Geschichte eingehen. Für das Nowitschok-Attentat auf ihn machte Nawalny den Kreml sowie den Inlandsgeheimdienst FSB verantwortlich. Dessen „Killerkommando“ soll ihm das chemische Gift in seiner Unterhose angebracht haben. Putin und der FSB wiesen die Vorwürfe zurück. Um das Gerichtsgebäude herum war ein großes Polizeiaufgebot entsendet, die das Moskauer Stadtgericht weiträumig absperrten. So wollte man sich gegen Proteste von Nawalnys Unterstützern rüsten. Bereits vor Beginn der Verhandlung kam es zu ersten Festnahmen, unter den Betroffenen auch einige Journalisten. International löste das russische Vorgehen Entsetzen aus. Die Bundesregierung sowie der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte bezeichneten das Verfahren als „grob willkürlich“. Die Kritik wies Russland erneut scharf zurück. Man werde „Belehrungen“ aus der EU nicht hinnehmen, so der Kremlsprecher Dmitri Peskow. arn / dpa
|
Cicero-Redaktion
|
Nach dem Nowitschok-Attentat wurde Alexej Nawalny zum prominentesten Kritiker des Kremlchefs Wladimir Putin. Nun wurde er wegen angeblichen Verstoßes gegen Bewährungsauflagen zu dreieinhalb Jahren Haft verurteilt. Das Ausland reagiert mit Entsetzen.
|
[
"Alexej Nawalny",
"Putin",
"Russland",
"Prozess"
] |
außenpolitik
|
2021-02-02T18:12:36+0100
|
2021-02-02T18:12:36+0100
|
https://www.cicero.de//aussenpolitik/verstoss-bewaehrung-kreml-kritiker-nawalny-dreieinhalb-jahre-haft
|
Türkei als Terrorunterstützer? - Eiertanz um ein „Büroversehen“
|
Es war der Aufreger des Tages: Die Regierung erklärt sich in einer Pressekonferenz zum Thema „Die Türkei als Terrorunterstützer“. Tatsächlich lassen sich die 62 Minuten wie folgt zusammenfassen – viel Eiertanz und weiße Salbe. Der Reihe nach: Es sei „schlichtweg“ ein „Büroversehen“ gewesen, dass ein untergeordneter Mitarbeiter das Auswärtige Amt nicht über das brisante Schreiben unterrichtet hat, sagte der Sprecher des Innenministers. Und: „Wo Menschen arbeiten, passieren Fehler“. Das sei aber nun mit dem AA geklärt. Das sah dann auch die AA-Sprecherin so, die dem „nichts hinzuzufügen“ hatte. Also, das AA ist fein raus, alles abgehakt, keine fetten Schlagzeilen mehr über das tiefe Zerwürfnis in der Regierung. Ein „Spiegel“-Kollege wollte wissen: Steht die Bundesregierung weiterhin hinter ihrer Antwort auf die Anfrage der Linken, die ja schwere Vorwürfe sogar gegen Präsident Erdogan persönlich als Terrorunterstützer enthielt? Regierungssprecher Seibert ließ diese Frage einfach unbeantwortet. In dieser Pressekonferenz bügelte man viele Fragen ganz einfach ab, da Teile des Schreibens des Bundesinnenministeriums an die Abgeordnete doch als Verschlusssache gestempelt gewesen seien. Deshalb, leider, leider könne und dürfe man dazu doch nichts sagen. Was man aber sehr gerne und auch ganz ausführlich aufsagen wollte war, was für ein ganz wichtiger, ja ganz besonderer Partner die Türkei doch sei. Schon wegen der dreieinhalb Millionen türkischstämmiger Mitbürger bei uns. Natürlich sei das Land auch „der wichtigste Partner in der Region bei der Bekämpfung des Islamischen Staates“. Die Türkei sei doch selber Opfer des islamistischen Terrors. Deswegen müsse man ganz „eng und vertrauensvoll“ mit dem Land zusammenarbeiten. Die Türkei, sozusagen nochmals zum Mitschreiben, sei „Partner“ bei der Lösung. Also ganz viel weiße Salbe für die aufgeregten Adressaten in Ankara. Die AA-Sprecherin sagte dann auch noch, man gehe davon aus, dass das hier und heute Gesagte in der Türkei auch zur Kenntnis genommen werde. Und, klar, am Flüchtlingsabkommen wird nicht gerüttelt. Weder „Deutschland noch Europa“ wollen das „sinnvolle Abkommen“ infrage stellen. Sozusagen beim Kleingedruckten konnte man bei ganz genauem Hinhören mitbekommen, dass doch nicht alles ganz so toll ist. Neue Kapitel zu den EU-Beitrittsverhandlungen wolle man nicht eröffnen, das nicht, sagte Steffen Seibert, wohl wissend, dass er da nichts wirklich Neues sagt. Und der Mann vom Innenministerium sagte, man habe in seinem Haus zum Thema Türkei eigentlich keine Expertise, die kam ja von außen, sprich, vom Bundesnachrichtendienst, aber man sei bei den Vorwürfen an Ankara natürlich auch nicht „naiv“. Die AA-Sprecherin sagte gleich mehrfach, das Auswärtige Amt mache sich die Aussagen in der Berichterstattung „in dieser Pauschalität“ nicht zu eigen, was die Möglichkeit offen lässt, dass es im offiziellen Regierungspapier eben doch auch Wahres geben könnte, aber, siehe oben, das ist ja alles vertraulich. Weil es eigentlich vom BND kam, was da Schlimmes über Erdogan verbreitet wurde, der bekanntlich dem Kanzleramt untersteht, musste Steffen Seibert dann doch irgendwann einräumen, auch das Kanzleramt habe eine Rolle als Zuträger zu dem strittigen Schreiben gehabt. Und damit ist eigentlich klar, wer der Buhmann, wieder einmal, in dieser Affäre ist: der Bundesnachrichtendienst. Jedem, der sich etwas mit der Situation im Mittleren Osten auskennt, fällt auf, dass in dem Regierungsschreiben an die Linke eigentlich nicht viel Neues drin steht. Dass Erdogan eine große Nähe zur Muslimbruderschaft in Ägypten und zur Hamas im Gazastreifen hat, ist wahrlich keine Neuigkeit. Und dass die Türkei Waffen an radikal-islamistische Oppositionsgruppen gegen Assad geliefert hat, inzwischen auch nicht mehr. Dass die Türkei lange das Haupttransitland für IS-Kämpfer aus Europa war, ist ebenfalls kein Geheimnis. Und dass von den rund 800 aus Deutschland ausgereisten Daesh-Anhängern jeder vierte türkisch oder türkischstämmig ist, passte als Nachricht ausgerechnet heute auch in dieses Thema. Fazit also: Dementiert worden ist heute von diesen Vorwürfen eigentlich nichts. Nur es so deutlich sagen, das ging nun mal nicht. Schließlich war das Schreiben der Regierung an die Abgeordneten nun mal vertraulich.
|
Es ist ein unerhörter Vorgang: Die Bundesregierung lässt durchsickern, dass sie einen engen Nato-Partner für einen Unterstützer des Terrors hält. Bei einer Pressekonferenz gingen den Ministeriumssprechern die Worte aus
|
[
"Türkei",
"Terror",
"Erdogan",
"Stefan Seibert",
"Flüchtlingsdeal"
] |
außenpolitik
|
2016-08-17T17:26:25+0200
|
2016-08-17T17:26:25+0200
|
https://www.cicero.de//aussenpolitik/tuerkei-als-terrorunterstuetzer-eiertanz-um-ein-bueroversehen
|
|
Konsum an der Kasse - Von der Qual der Quengelware
|
Ihre Augen schwammen in Tränen, schiere Verzweiflung steckte in jedem der von Schluchzern unterbrochenen Worte: „Ich - möchte – einen – Oster – hasen.“ Ich habe Nein gesagt. Die Quengelware lässt mich ganz hart werden. Hier geht es nicht darum, meinem Kind keinen Schokohasen zu gönnen. Es geht um das Ärgernis, zu einer nicht gewollten Entscheidung gedrängt zu werden. Die mit blankem Euphemismus bezeichnete „Quengelware“ schmälert nicht jenes Problem, das nun auch die Bundesregierung zum Handeln veranlasst. Es wurde Zeit. Denn schon seit Beginn der 90er Jahre kämpfen zahlreiche Elterninitiativen für Familienkassen, an denen auf sogenannte Impulsware wie Schokoriegel und Überraschungseier verzichtet wird. Das gefällt der Industrie so gar nicht, sind die Regale in Kinderaugenhöhe doch der umsatzstärkste Platz im Supermarkt, hier locken höchste Margen. Wenn die Einkaufsliste abgearbeitet ist, lässt der Kunde gerne mal Fünfe gerade sein und gönnt sich und dem Nachwuchs eine kleine Belohnung. Das ist die Rechnung von Rewe und Co. Und so ist Quengelware der einfache Weg, an die Kohle der Eltern zu kommen. Gitta Connemann von der CDU erklärt nun, sich um die Gesundheit der Kinder zu sorgen. Sie ist Vorsitzende des Ernährungsausschusses und sagt: „Wir wollen kein Verbot, wir wollen Vernunft.“ Übersetzt in die politische Strategie heißt das, die Unternehmen sollen von alleine darauf kommen, den Quengelplatz zum Wohle der Kinder zu räumen. Sie redet von Wahlfreiheit, diesem blutleeren Begriff aus der Politik, der immer dann auftaucht, wenn faule Kompromisse geschlossen werden. Erfahrungsgemäß nämlich wählen Konzerne, die in grenzenloser Freiheit heranwachsen, den Weg des geringsten monetären Verlustes. So ist ihr Wesen. Wenn also diese quengelfreien Kassen wirklich eingeführt würden, wären sie vermutlich die letzten, die bei einer überlasteten Kassensituation geöffnet würden. Um der Situation Herr zu werden, täte der Debatte auf beiden Seiten etwas mehr Ehrlichkeit gut. Es geht nämlich hier weniger um den dicken Nachwuchs auf Diabeteskurs, sondern viel mehr um die Selbstbestimmtheit, ja die Würde der Konsumenten. Das aber lässt sich nicht so leicht vermitteln wie die Szenerie des dicken und gemobbten Kindes. Die Entscheidung für Süßigkeiten treffen Eltern schon ein paar Reihen vor der Kasse, wenn sie Chips, Familienpackungen mit Schokoriegeln und Schokoladentafeln in den Einkaufswagen schmeißen. Der eine Riegel an der Kasse macht den Braten dann auch nicht mehr fett. Aber er ist ein Ärgernis für all die geräderten Elternseelen, die tagtäglich ihre Kämpfe mit dem trotzenden Nachwuchs austragen, die sich beim Gang durch den Supermarkt im Minenfeld wähnen, an dessen Ende die entstöpselte Handgranate in Form des Überraschungseis wartet. Vor allem aber sind Quengelkassen eine Quälerei für die Kinder, die sich vollkommen hilflos den gezielt gesetzten Sehnsuchtsattacken der übermächtigen Marketingabteilungen von Rosalea, Hello Kitty oder Lillifee ausgesetzt sehen. Dreijährige machen hier ihre erste bittere Erfahrung mit dem Kapitalismus. Und die tut ganz schön weh.
|
Marie Amrhein
|
Kolumne: Stadt, Land, Flucht. Die Bundesregierung will gegen Schokoriegel und Gummibärchen an den Supermarktkassen vorgehen. Sie gibt vor, sich um die Gesundheit der Kinder zu sorgen
|
[] |
kultur
|
2015-03-15T08:20:26+0100
|
2015-03-15T08:20:26+0100
|
https://www.cicero.de//kultur/konsum-von-der-qual-der-quengelware/58987
|
Die AfD im Wahljahr 2019 - Entzaubern durch Einbinden
|
Die AfD wächst und wächst, ungeachtet aller interner Querelen. Hatte sie bei der Bundestagswahl 2013 4,7 Prozent der Stimmen, so betrug der Anteil bei der Bundestagswahl 2017 12,6 Prozent. Mittlerweile ist sie nicht nur im Bundestag die stärkste Oppositionspartei, sondern auch in allen 16 Landesparlamenten vertreten – im Gegensatz zur FDP, zu den Grünen und zur Linken. In Sachsen-Anhalt (23,4 Prozent), wo sie vor der SPD (10,6 Prozent) liegt, ist sie ebenso die zweitstärkste Partei wie in Mecklenburg-Vorpommern (20,8 Prozent), wo sie vor der CDU (19,0 Prozent) rangiert. Bei den Europawahlen im Mai dürfte die AfD deutlich besser abschneiden als das letzte Mal (2014: 7,1 Prozent). Bei solchen „Nebenwahlen“ fällt es Bürgern noch einfacher, eine Proteststimme abzugeben. Zudem profitiert die AfD von verbreiteter Verdrossenheit gegenüber der immer wieder als bürgerfern wahrgenommenen Europäischen Union. Auch bei den Landtagswahlen im September und Oktober in Brandenburg, Sachsen und Thüringen tritt vermutlich ein sehr deutlicher Zuwachs ein. Die Partei liegt laut Umfragen bei etwa 20 Prozent, in Sachsen sogar darüber. CDU und SPD kommen danach zusammen nicht auf 50 Prozent. Die AfD punktet nicht nur bei Nichtwählern, sondern auch in allen politischen Lagern, am wenigsten noch beim Elektorat der Grünen und der Liberalen, am meisten bei dem der Union. Die CDU muss grübeln, ob sie nicht ihre konservativen Wähler vor den Kopf gestoßen hat. Die Spatzen pfeifen es von den Dächern: Sie ist, jedenfalls zum Teil, sozialdemokratisiert worden. Manche Stammwähler bleiben zu Hause, manche wandern ab. Aber wieso verlieren auch linke Parteien Wähler an eine Rechtspartei? Das ist erklärungsbedürftig. Die SPD stellt zum Teil Themen (wie Antirassismus und Feminismus) in den Vordergrund, die bei ihrer Wählerschaft auf wenig Interesse stoßen. Ähnliches gilt für Die Linke. Dabei erwarten auch Wähler dieser Parteien klare Antworten auf Herausforderung der Migration. Bei der Linken kommt folgender Umstand hinzu: Sie ist mittlerweile eine weithin akzeptierte gesellschaftliche Kraft geworden, die sich dadurch gemäßigt hat, im Osten mehr als im Westen. Ein Teil früherer Protestwähler ist damit nicht einverstanden und kehrt ihr den Rücken zu. Die Parteien haben alles Mögliche versucht, der AfD Herr zu werden: sie ausgegrenzt, sie ignoriert, Teile ihrer Programmatik übernommen, sich mit ihr hart auseinandergesetzt, die internen Konflikte in den Vordergrund gerückt. Die CSU etwa hat im Wahlkampf 2017 alles gleichermaßen versucht, ohne sonderlichen Erfolg. Besonders misslich ist der Umgang mit der Partei. Zwei Beispiele: Bei der Wahl des Bundestagsvizepräsidenten (jeder Fraktion steht einer zu) fiel der Kandidat der AfD Albrecht Glaser im Oktober 2017 dreimal durch – wegen Islamfeindlichkeit, wie es hieß. Er sieht den Islam nicht als eine Religion an, sondern als eine Ideologie. Es war nachvollziehbar, dass die Parteien ihn deswegen nicht wählen wollten. Aber war dies der eigentliche Grund? Der Versuch der AfD, mit ihrer neuen Kandidatin Marianna Harder-Kühnel, die zum gemäßigten Flügel der Partei gehört, im November 2018 Erfolg zu haben, scheiterte zweimal, ohne dass es gegen sie als Person Einwände gab. Dieses Verhalten, das die AfD ausgrenzt, ist kaum legitimierbar. Im Sommer 2017 beschloss das Parlament – Union und SPD stimmten dafür, Die Linke enthielt sich, die Grünen votierten dagegen –, Alterspräsident des Deutschen Bundestages solle nicht mehr der an Jahren älteste Abgeordnete sein, sondern das dem Parlament am längsten angehörende Mitglied. Die Begründung, der Alterspräsident müsse parlamentarische Erfahrung besitzen: offenkundig vorgeschoben. Ansonsten wäre nämlich Wilhelm von Gottberg aus den Reihen der AfD Alterspräsident geworden, nicht Wolfgang Schäuble. Auch diese Entscheidung stellte kein Ruhmesblatt für die großen Parteien dar. Um nicht missverstanden zu werden: Beides dürfte der Partei zwar genützt haben, aber wer die Entscheidungen deshalb ablehnt, argumentiert strategisch-taktisch, keineswegs prinzipiell. Geschäftsordnungstricks im Umgang mit der AfD verbieten sich. Der Umgang mit der Partei, sei es durch die politische Konkurrenz, sei es durch Medien, wird als wenig fair angesehen. Dann setzt Solidarisierung ein – durch das juste milieu bleibt Streitkultur auf der Strecke. Die Strategie „alle gegen einen“ verfängt nicht. Die Annahme, die AfD könne wie die Piratenpartei – diese war 2011 und 2012 in vier Landesparlamente eingezogen – schnell in der Versenkung verschwinden, ist unrealistisch. Sie verfügt schließlich nicht nur über Protestwähler, sondern auch über solche, die die Programmatik der Partei teilen. Die Gelder, die sie bald für ihre Stiftung erhält, stabilisieren die AfD weiter. Das ist die eine Seite. Die andere: Wie Umfragen belegen, ist bei keiner Partei der Anteil derjenigen, die sie niemals wählen, derart groß – und der Anteil derjenigen, die sie eventuell wählen, derart klein. Gelassenheit ist also angesagt. Eine parlamentarische Existenz der AfD und der Partei Die Linke kann unsere auf Konsens erpichte Demokratie beleben. Das Spektrum der Positionen verbreitert sich. Sogar der Gedanke einer Integration dieser Parteien in die Regierung ist erwägenswert. Dies führt zum einen wohl zu einer Mäßigung, zum andern wahrscheinlich zu einer Entzauberung. Jedenfalls galt das für die PDS bzw. später für Die Linke. Nach der erstmaligen Aufnahme in die Regierung (in Mecklenburg-Vorpommern 1998, in Berlin 2002 und in Brandenburg 2009) brach die Partei in diesen Ländern ein. So verlor sie bei der nächsten Wahl in Mecklenburg-Vorpommern 2002 8,0 Punkte, in Berlin 2006 9,2 Punkte, in Brandenburg 2014 8,6 Punkte. Ob dies nach den Wahlen in Thüringen auch zutrifft (dort stellt Die Linke seit 2014 den Ministerpräsidenten)? Für die PDS bzw. Die Linke war es intern nicht ganz einfach, den Schritt in die Regierung zu tun. Kräfte aus dem fundamentalistischen Lager wollten das nicht. Und dies dürfte ebenso bei der AfD der Fall sein, wenn eines Tages die CDU mit Avancen an sie heranträte. Der – radikale – bewegungsorientierte Teil würde sich ausgesprochen schwertun, sie zu akzeptieren. Sollte das Zustandekommen eines solchen Bündnisses dann an der AfD scheitern, nähme das ein Teil ihrer Wählerschaft nicht nur mit Wohlgefallen wahr. Wer sich von der AfD inhaltlich abgrenzt, muss sie nicht öffentlich ausgrenzen. Ihre Einbindung in das System ist für sie risikobehaftet. In anderen europäischen Ländern sind rechtspopulistische Parteien an der Regierung beteiligt oder sie tolerieren diese. Ein derartiger Sachverhalt kann nicht nur das außerparlamentarische Protestpotential schwächen, sondern auch die populistische Kraft mäßigen – zum Beispiel durch das Abstoßen fundamentalistischer Strömungen. Wenn Regierungen mit populistischen Parteien scheitern, weil inhaltliche Gegensätze nicht mehr zu kitten sind, müssen diese nicht davon profitieren, wie manche Wahlergebnisse belegen. Ein allerdings keineswegs zu verallgemeinerndes Extrembeispiel: Die Schill-Partei, die in Hamburg bei der Bürgerschaftswahl 2001 19,4 Prozent erzielt hatte, verschwand nach dem Bruch der dortigen Koalition 2003 faktisch von der Bildfläche. Die Kehrseite: Solche Parteien erfahren eine Aufwertung, erhalten Ministerposten, gelten als salonfähig. Und es ist nicht zu leugnen, dass eine derartige Variante in einem Spannungsverhältnis zum antiextremistischen Konsens steht, durch den sich die deutsche Demokratie auszeichnen sollte. In Frage kommen bei einer Strategie der Einbindung daher logischerweise nur Kräfte, die das demokratische System nicht ablehnen. Wenn Parteien wie die AfD und Die Linke 20 bis 25 Prozent der Wählerschaft repräsentieren, mag ein derartiges inklusives Unterfangen eine Variante sein. Große Koalitionen oder lagerübergreifende Dreier- bzw. Viererkoalitionen stellen für parlamentarische Demokratien ebenfalls Risiken dar. Eckhard Jesse ist Partei- und Extremismusforscher. Soeben ist bei Nomos der 30. Band des Jahrbuches Extremismus & Demokratie erschienen.
|
Eckhard Jesse
|
Bei den Landtagswahlen in Sachsen, Thüringen und Brandenburg könnte die Alternative für Deutschland (AfD) erfolgreicher denn je abschneiden. Wie könnten andere Parteien einem Siegeszug begegnen? Einige unorthodoxe Überlegungen
|
[
"AfD",
"Demokratie",
"Sachsen",
"Landtagswahlen",
"Brandenburg",
"Thüringen"
] |
innenpolitik
|
2019-01-12T19:10:49+0100
|
2019-01-12T19:10:49+0100
|
https://www.cicero.de/innenpolitik/afd-sachsen-thueringen-brandenburg-landtagswahlen-2019-demokratie/plus
|
NSU-Aktenskandal – „Das Vertrauen wurde geschreddert“
|
Das Bundesamt für Verfassungsschutz hat bei den Ermittlungen zur Neonazi-Mordserie Akten vernichtet, nachdem die drei Verdächtigen aus Zwickau bereits aufgeflogen waren. Ein ungeheuerlicher Vorgang, der den Höhepunkt dessen markiert, was sich die Verfassungsschutzinstitutionen im Zuge der NSU-Untersuchungen geleistet haben. Szenarien, die selbst Verschwörungstheoretiker wohl nicht entworfen hätten.
Mit der Aktenvernichtung sind nicht nur Akten geschreddert worden, sondern auch das Vertrauen in die Sicherheitsbehörden und deren Aufklärungswillen. Wir müssen mit Hochdruck an der Aufarbeitung und Aufklärung arbeiten, um hier letztlich auch verloren gegangenes Vertrauen wieder zurückzugewinnen. Bei solcherlei Vorgängen ist es schwierig noch an ein Versehen zu glauben. Bleiben eigentlich nur zwei Alternativen: Entweder im Verfassungsschutz arbeiten Idioten oder Nazis.
Ich hatte bisher nicht den Eindruck, dass der Verfassungsschutz auf dem rechten Auge blind war. Insbesondere Heinz Fromm hat immer sehr deutlich gemacht, wie wichtig ihm auch die Bekämpfung von Rechtsextremismus ist. Er hat sich damals auch deutlich dagegen gewehrt, die zuständigen Abteilungen für Links- und Rechtsextremismus zusammenzulegen. Das heißt aber nicht, dass wir am Ende wären in Sachen Aufklärung und Ermittlung. Der von Ihnen so gelobte Herr Fromm ist aber erst seit 2000 Leiter des Verfassungsschutzes. Gab es nicht vorher, wenn schon keine rechtsgesinnte Tradition, dann doch zumindest eine Tradition des Wegschauens?
Wir werden sehen, ob es hier strukturelle Defizite in der Form der Ermittlungstätigkeiten gab. Der Rechtsextremismus hatte schlichtweg nicht die Aufmerksamkeit, die er hätte haben müssen. Herauszufinden woran das lag, ist Teil unseres Untersuchungsauftrages. Der Eindruck drängt sich auf, dass der Verfassungsschutz nicht nur Fehler gemacht hat, sondern selbst der Fehler ist.
Eine Behörde, die sich gerade darum kümmert, verfassungsfeindlichen Bestrebungen zu ermitteln, ist nach wie vor dringend notwendig. Gerade wir als FDP-Fraktion haben aber auch erhebliche Zweifel daran, ob das in den gegenwärtigen Strukturen auch gewährleistet ist. Wir machen uns sehr genau Gedanken darüber, welche strukturellen Änderungen vorgenommen werden sollten, damit solche Ermittlungspannen nicht wieder passieren. Was heißt das konkret? Reformen fordern momentan alle – von Innenminister Friedrich bis hin zur Linkspartei.
Dass heißt, dass wir die Art und Weise der Zusammenarbeit innerhalb der Verfassungsschutzbehörden, zwischen Bund und Ländern, klären müssen. Wir müssen überlegen, ob im Hinblick auf die Zuständigkeiten noch gesetzliche Unklarheiten existieren. Es gilt zu klären, wie wir die Informationsbündelung und die Erkenntnisgewinnung deutlich verbessern können. Ob hier Ressortdenken innerhalb der jeweiligen Behörden aber auch im Austausch mit anderen Behörden dazu geführt hat, dass wichtige Erkenntnisse nicht zustande gekommen sind. Wir müssen vor allem sicherstellen, dass durch falsche Ressortegoismen und falsches Zuständigkeitsdenken Sicherheitslücken entstehen. Dass heißt, den Verfassungsschutz an sich stellen Sie nicht in Frage?
Nein, ich halte seine Aufgaben grundsätzlich für erforderlich. Wir brauchen eine Institution die gegen verfassungsfeindliche Strömungen tätig werden kann. Anders gefragt: Was müsste denn noch passieren, damit Sie den Verfassungsschutz als Institution in Frage stellen. Gibt es ein solches Szenario?
Ich glaube nicht, dass die Institution selbst in Frage gestellt werden kann. Einzelne Wortmeldungen hierzu haben bisher noch nicht dazu beigetragen, dass wir hier ein Umdenken bekommen. Das ändert nichts daran, dass wir auf jeden Fall einen frischen Wind brauchen. Eine weitere Verfassungsschutzbehörde, der Militärische Abschirmdienst (MAD), hat ihnen Akten geliefert, die größtenteils geschwärzt waren. Warum verweigern sich die Verfassungsschutzorgane noch immer? Wünschen Sie sich im Falle des MAD ein Machtwort von Verteidigungsminister Thomas de Maizière?
In der Tat hatten wir den Eindruck, dass sich der MAD in der Vergangenheit nicht ausreichend eingebracht hat. Die bisherigen Lieferungen waren mehr als lückenhaft. Der Erkenntnisgewinn war gleich null. Mit Zufriedenheit stelle ich fest, dass jetzt klare Signale kommen hinsichtlich einer größeren Informationsbereitschaft. Bleibt abzuwarten, wie sich das tatsächlich entwickelt, ob der MAD bereit ist, mehr für die Aufklärung zu tun, sich künftig stärker und deutlicher kooperativ beteiligt. Wir haben beispielsweise Anhaltspunkte, dass der MAD bei der „Operation Rennsteig“ intensiv dabei war. Eine solch stärkere Beteiligung bezieht auch den Verteidigungsminister mit ein?
Ich gehe davon aus, dass es im Interesse des Verteidigungsministeriums ist, sich hier zu beteiligen. Insofern werden wir sehen, ob der MAD die entsprechende Aufklärungsbereitschaft dann auch tatsächlich zeigt. Im morgigen Untersuchungsausschuss wird der Aktenvernichter vorgeladen. Was erhoffen Sie sich davon?
Ich möchte wissen, welche Umstände dazu beigetragen haben, dass hier Akten vernichtet worden sind und auf welcher Basis das passiert ist. Ob es hier eine Verantwortlichkeit gab, die über den Referatsleiter hinaus existierte. Ich möchte wissen, ob die Akten rekonstruierbar sind und ob diese Akten in anderen Institutionen, die an der „Operation Rennsteig“ beteiligt waren, noch existent sind. Das heißt, haben wir tatsächlich schon alle Akten bekommen und was genau stand darin? Herr Wolff, vielen Dank für das Gespräch! Das Interview führte Timo Stein
|
Immer neue Ermittlungspannen des Verfassungsschutzes werden offenkundig. Waren die Behörden auf dem rechten Auge blind? Muss der Verfassungsschutz selbst in Frage gestellt werden? Hartfrid Wolff, FDP-Obmann im NSU-Untersuchungsausschuss, im Interview
|
[] |
innenpolitik
|
2012-07-04T16:49:39+0200
|
2012-07-04T16:49:39+0200
|
https://www.cicero.de//innenpolitik/der-verfassungsschutz-war-nicht-auf-dem-rechten-auge-blind/49921
|
|
10 Jahre Twitter - 140 Zeichen, um die Welt zu verändern
|
Fünf kleine Worte markierten vor zehn Jahren den Beginn einer Revolution in der neuzeitlichen Kommunikation: „Just setting up my twttr“, „zwitscherte“ Jack Dorsey am 21. März 2006 über seinen Privataccount des Kurznachrichtendienstes. Diesen hatte er zuvor mit seinen beiden Freunden Biz Stone und Evan Williams im Rahmen eines Forschungsprojektes der Podcasting-Firma Odeo entwickelt. Zu dem Zeitpunkt hätte wohl niemand damit gerechnet, dass dies die Geburtsstunde eines der wichtigsten Kommunikationsmedien der Gegenwart sein sollte. Das Hauptmerkmal der Plattform, abzusetzende Nachrichten stets auf eine Länge von maximal 140 Zeichen zu begrenzen, zog rasch viele neue Nutzer an. Aus einer kleinen Community von Technikaffinen in San Francisco ist mittlerweile ein Netzwerk mit 320 Millionen Mitgliedern auf der ganzen Welt geworden. Rund 4300 Mitarbeiter zählte Twitter Ende vergangenen Jahres. Hand in Hand mit Facebook dominiert Twitter heute die Kommunikation über soziale Netzwerke. 500 Millionen Tweets werden weltweit jeden Tag abgesetzt. US-Präsident Barack Obama hat einen Account, über den er seine knapp 70 Millionen Follower auf dem Laufenden hält. Mehr Follower haben auf der Welt nur die amerikanischen Pop-Stars Taylor Swift, Justin Bieber und Katy Perry. Letztere ist Spitzenreiterin mit mehr als 84 Millionen Nutzern, die ihr folgen. Zu Beginn sah es für den Kurznachrichtendienst jedoch noch nicht so vielversprechend aus. „Twttr“, wie es damals noch hieß, wurde keine große Zukunft zugetraut. Der Software-Ingenieur Dom Sagolla war an der Frühphase der Entwicklung von Twitter beteiligt und erzählt in Interviews Jahre später, wie wenig Zutrauen die Branche im Sillicon Valley zunächst in den Kurznachrichtendienst hatte. Jack Dorsey zweifelte jedoch nie am Konzept seines frisch gegründeten Unternehmens. Anfang 2007 twitterte er voller Überzeugung: „One could change the world with one hundred and forty characters.” Und der 39-Jährige sollte Recht behalten. Anfang November 2013 vollzog das Unternehmen seinen Börsengang. Der Gesamtwert von Twitter betrug am Ende des ersten Börsentages fast 25 Milliarden Dollar. Die Anleger rissen sich förmlich um die Aktien des Kurznachrichtendienstes. Betrug der Ausgabepreis einer Aktie zu Beginn noch 26 Dollar, erreichte er zu Börsenschluss einen Wert von fast 45 Dollar. Dies machte den Börsengang von Twitter zum zweiterfolgreichsten eines Technologieunternehmens aller Zeiten. Nur die chinesische Alibaba-Gruppe konnte zum Börsenstart noch mehr Aktien verkaufen. Nach dem kometenhaften Aufstieg begann jedoch der jähe Niedergang des Unternehmens an der Börse: Die vollkommen überzogenen Erwartungen forderten ihren Tribut. Zudem erwirtschaftete Twitter zu Börsenbeginn auch noch keinerlei Gewinne. Was Aktionäre anlockte, war die bloße Aussicht auf Rendite. In Folge des Absturzes verlor Twitter an der Börse fast 80 Prozent seines ursprünglichen Wertes. Die Bewertung des Unternehmens fiel auf ein Fünftel des Betrags, der Preis der Aktie schrumpfte von 70 Dollar zum Allzeithoch auf 15,5 Dollar. Zu allem Überfluss kam dann noch heraus, dass sich Mitgründer Williams als Folge der anhaltenden Krise von einem Großteil seiner Twitter-Aktien trennte. Eine Beruhigung der Aktionäre sieht gewiss anders aus. Anfang des Jahres machten Übernahmegerüchte die Runde. Apple und Google wurden als mögliche Käufer gehandelt, doch passiert ist bisher nichts. Neben der wirtschaftlichen Talfahrt gab es im Laufe der Jahre auch immer Phasen der Wechselhaftigkeit in der gesellschaftlichen Wahrnehmung des sozialen Netzwerkes: Im Wahlkampf Barack Obamas 2008 hatte Twitter erstmals seinen großen Moment. Eine wichtige Rolle nahm es auch in den Volksaufständen in Ägypten, Libyen, Tunesien und Syrien während des sogenannten Arabischen Frühlings ein. Im ersten Fall war es vor allem die vereinfachte Kommunikation untereinander und die Eigenschaft als Zusammenhalt stiftendes Element, die das Wahlkampf-Team Obamas an Twitter schätzte. Die jungen Revolutionäre des Arabischen Frühlings nutzten den Kurznachrichtendienst, um sich trotz Zensur in einem unabgeschlossenen virtuellen Raum zu verständigen und sich zu unmittelbaren, für das Regime nicht vorhersehbaren Treffen zu verabreden. Diese Qualität, dass jeder immer und überall alles kommentieren und für alle sichtbar in die Welt hinausposaunen kann, ist jedoch Segen und Fluch zugleich für Twitter. Nach den Terroranschlägen während des Bostoner Marathons versuchten sich hunderte Nutzer als Hobby-Detektive und machten durch ihre Tweets völlig unbeteiligte Mitbürger zu Terrorverdächtigen. Das Problem, dass aus Mücken ganz schnell Elefanten werden können, hat aber nicht nur Twitter, sondern betrifft alle großen sozialen Netzwerke. Nach all den Aufs und Abs der letzten Monate: Wie geht es nun weiter mit Twitter? Kann Jack Dorsey das soziale Netzwerk zurück in die Erfolgsspur führen? Der Unternehmensgründer steht wieder an der Spitze von Twitter, nachdem der bisherige Chef, der 52-jährige Dick Costolo, als Folge des Aktiencrashs seinen Hut nehmen musste. Unabhängig von allen wirtschaftlichen Erfolgen und Misserfolgen ist der Einfluss von Twitter auf die moderne Kommunikation unleugbar. Dazu wurden über Twitter Revolutionen geplant, Diktatoren gestürzt und Terroranschläge in Echtzeit miterlebt. Man kann sagen, dass der Kurznachrichtendienst dazu beigetragen hat, dass die Welt noch ein Stück näher zusammengerückt ist. Außerdem hat das Netzwerk mit seinem Hashtag-Phänomen fast so etwas wie eine neue Sprache kreiert. Ein Alltag ohne Twitter scheint kaum mehr vorstellbar. Die ersten zehn Jahre waren turbulent genug. Zeit, um diese Revue passieren zu lassen. Anlässlich des zehnjährigen Gründungsjubiläums von Twitter zeigt das ZDF heute, am 21. März, um 22 Uhr eine Dokumentation mit dem Titel Twitter – Revolution in 140 Zeichen? .
|
Nils Leifeld
|
Sie bestimmen maßgeblich Art und Weise unserer alltäglichen Kommunikation und sind die Repräsentanten des interaktiven Web 2.0: Die Rede ist von sozialen Netzwerken. Der Kurznachrichtendienst Twitter ist in den vergangenen Jahren zu einem der größten seiner Art aufgestiegen. Heute feiert Twitter zehnjähriges Jubiläum
|
[] |
wirtschaft
|
2016-03-17T15:24:05+0100
|
2016-03-17T15:24:05+0100
|
https://www.cicero.de//aussenpolitik/10-jahre-twitter-eine-revolution-140-zeichen/60647
|
Waffenlieferungen - China verärgert über neue US-Militärhilfe an Taiwan
|
Das Vorgehen schade den chinesischen Sicherheitsinteressen ernsthaft, sagte ein Sprecher des Pekinger Verteidigungsministeriums am Dienstag als Reaktion auf die am vergangenen Freitag angekündigten Lieferungen. Demnach wollen die USA der demokratischen Inselrepublik Taiwan Militärhilfe im Wert von 345 Millionen US-Dollar (rund 313 Millionen Euro) zukommen lassen. Das Weiße Haus veröffentlichte eine entsprechende Verfügung von US-Präsident Joe Biden, aus der auch hervorgeht, dass die Rüstungsgüter aus Beständen des US-Militärs entnommen werden. Neben Waffen soll das Paket auch Ausbildungsmittel umfassen. Nach übereinstimmenden Medienberichten soll das Paket unter anderem tragbare Flugabwehrsysteme, so genannte Manpads, Aufklärungsdrohnen und Munition enthalten. China lehnt jeden offiziellen Austausch zwischen den USA und Taiwan strikt ab. Die kommunistische Führung in Peking betrachtet das unabhängig regierte Taiwan als Teil der Volksrepublik und droht mit einer Eroberung. Quelle: dpa Mehr zum Thema:
|
Cicero-Redaktion
|
Neue Waffenlieferungen der USA an Taiwan stellen aus Sicht Chinas eine „ernsthafte Bedrohung für Frieden und Stabilität“ in der Region dar. Die USA mischten sich „brutal in die inneren Angelegenheiten Chinas ein“.
|
[
"China",
"Taiwan",
"USA"
] |
außenpolitik
|
2023-08-01T08:53:21+0200
|
2023-08-01T08:53:21+0200
|
https://www.cicero.de//aussenpolitik/waffenlieferungen-china-verargert-uber-neue-us-militarhilfe-an-taiwan
|
Mehrwertsteuer auf Fleisch - Das hilft keinem Schwein
|
Eine höhere Mehrwertsteuer auf Fleisch hilft keinem Schwein. Denn gut gemeint ist nicht gut gemacht. Fleisch aus artgerechter Haltung würde nämlich ebenso teurer, wenn man die Mehrwertsteuer von sieben auf 19 Prozent erhöhen würde. Wer nicht aufs Geld schauen muss, kauft vermutlich weiter Bio-Fleisch. Aber viele Durchschnittsverdiener tun es dann vielleicht nicht mehr. Am Ende könnte die Preissteigerung also sogar das Gegenteil von dem bewirken, was gewollt ist. Es würde dann nicht mehr Fleisch aus artgerechter Haltung gekauft, sondern weniger. Auf jeden Fall aber würden Menschen mit geringem Einkommen überproportional belastet, weil bei ihnen der größte Teil des Einkommens für Miete und Lebensmittel drauf geht. Von daher wäre eine Mehrwertsteuererhöhung bei Lebensmitteln unsozial. Wer wenig verdient, hat es schwer genug – diese Menschen muss ich nicht auch noch durchs Steuerrecht zu Zwangsvegetariern machen. Anders gesagt: Auch wer von Hartz IV lebt, soll Schnitzel essen und nicht nur Pommes und Salat. Selbst wenn ein höherer Steuersatz zu mehr Steuereinnahmen führen würde, landeten diese erst einmal bei den Finanzministern von Bund und Ländern und nicht im Stall. Wer Missstände in der Massentierhaltung bekämpfen will, muss andere Wege gehen: eine artgerechte Tierhaltung unterstützen, die Einhaltung von Tierschutzregeln kontrollieren, den Landwirten und den Angestellten in Schlachtbetrieben ordentliche Einkommen sichern durch faire Preise und anständige Löhne. Die Verbraucherinnen und Verbraucher – und das sind wir alle – sollte man vorzugsweise nicht über das Steuerrecht zu Verhaltensänderungen bringen, sondern durch Aufklärung und Information. Die SPD verlangt seit Langem, dass ein staatliches Tierwohllabel eingeführt wird, und zwar verpflichtend, nicht nur freiwillig, wie CDU-Landwirtschaftsministerin Klöckner das will. Dann können die Kunden im Supermarkt selbst entscheiden, was ihnen artgerechte Tierhaltung wert ist. Dass das System mit den zwei Mehrwertsteuersätzen von 19 Prozent und 7 Prozent an vielen Stellen unlogisch ist, ist bekannt. Für Obst und Gemüse gilt der ermäßigte Steuersatz, für Obst- und Gemüsesäfte der normale. Tierfutter wird mit sieben Prozent besteuert, Babynahrung aber mit 19 Prozent. Neben dem Preis für die Hotelübernachtung stehen sieben Prozent, neben dem fürs Hotelfrühstück 19 Prozent. Für Zugtickets im Nahverkehr werden sieben Prozent Mehrwertsteuer fällig, für Zugtickets im Fernverkehr 19 Prozent. Kann man da nicht einmal Ordnung ins System bringen? Theoretisch ja, praktisch ein Ding der Unmöglichkeit. Fragt man zehn Leute, was mit welchem Satz besteuert werden sollte, hat man in der Regel zehn widersprüchliche Meinungen. Zu Zeiten der rot-grünen Bundesregierung blockierten die Länder im Bundesrat den Reformvorschlag des Finanzministers Hans Eichel insbesondere deswegen, weil die Mehrwertsteuer für Schnittblumen steigen sollte. Besser als eine große Reform, die zum Scheitern verurteilt ist, ist es deswegen, punktuell einzugreifen, wenn es um große gesellschaftliche Aufgaben geht. Wir Sozialdemokraten wollen das Mövenpick-Steuergeschenk der FDP für die Hotelkonzerne rückgängig machen und mit den zusätzlichen Einnahmen lieber eine solidarische Grundrente mitfinanzieren. Wir können uns auch gut vorstellen, dass wir das Bahnfahren deutschlandweit billiger machen, indem wir auch für den Fernverkehr den ermäßigten Steuersatz einführen, der im Nahverkehr gilt. Das wäre zum einen eine Steuersenkung, keine Steuererhöhung – meines Erachtens ein wichtiger Unterschied. Und es wäre zum anderen ein Beitrag zu der Jahrhundertaufgabe, den Klimawandel zu stoppen. Dass dazu auch artgerechte Tierhaltung und weniger Fleischkonsum einen Beitrag leisten können, ist richtig. Aber das sollten wir alle gemeinsam freiwillig hinbekommen und nicht durch Verbotsmentalität und Extra-Steuern für dieses und jenes. Ein Zwangs-Veggieday, wie ihn die Grünen mal wollten, ist der falsche Weg. Vor ein paar Jahren gab’s mal ein SPD-Plakat mit dem Slogan „Currywurst ist SPD“. Ich finde, das hat Tradition und Anspruch der Arbeiterpartei SPD knackig auf den Punkt gebracht. Wenn’s dann Bio-Currywurst aus artgerechter Haltung ist und man trotzdem kein Vermögen dafür ausgibt – umso besser.
|
Joghannes Kahrs
|
Sollte man Fleisch höher und Bahnfahren niedriger besteuern? Deutschland debattiert über die Mehrwertsteuer-Sätze. Wenn Fleisch teurer wird, dann ist das unsozial und hilft am Ende niemandem. Es gibt deutlich bessere Ideen, schreibt Johannes Kahrs (SPD)
|
[
"Steuern",
"Mehrwertsteuer",
"Johannes Kahrs",
"Schweinefleisch",
"Fleisch"
] |
innenpolitik
|
2019-08-09T13:42:36+0200
|
2019-08-09T13:42:36+0200
|
https://www.cicero.de//innenpolitik/mehrwertsteuer-fleisch-johannes-kahrs-currywurst
|
Islam-Umfrage - Nur für jeden Fünften gehört der Islam zu Deutschland
|
„Der Islam gehört nicht zu Deutschland“ – der Satz des neuen Bundesinnenministers Horst Seehofer sorgte für heftige Irritationen und provozierte sogar den sofortigen Widerspruch der Bundeskanzlerin Angela Merkel. Laut einer aktuellen Umfrage im Auftrag des Cicero steht aber eine Mehrheit der Bevölkerung hinter Seehofer. Nur rund 22 Prozent der Befragten stimmen laut einer aktuellen Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Insa dem Satz zu „Der Islam gehört zu Deutschland“. Rund 62 Prozent stimmen dem Satz demnach nicht zu. Rund 10 Prozent der Befragten gaben an, nicht zu wissen, ob der Satz für sie zutrifft. Rund 6 Prozent machten gar keine Angaben. Auffällig in der Insa-Umfrage ist die Altersgruppe der befragten 18- bis 24-Jährigen: Mit rund 37 Prozent Zustimmung sind sie die einzige Altersgruppe, die mehrheitlich findet, dass der Islam zu Deutschland gehört. 36 Prozent sagen in dieser Gruppe Nein. Die größte Ablehnung des Satzes findet sich mit 70 Prozent in der Gruppe der 55- bis 64-Jährigen. Zwischen Frauen und Männern hingegen stellt das Meinungsforschungsinstituts insgesamt keinen nennenswerten Unterschied zwischen Zustimmung und Ablehnung fest. Zwischen Ost- und Westdeutschland gibt es hingegen kleine Unterschiede: Im Osten stimmen rund 16 Prozent zu, im Westen 23 Prozent. Befragt nach ihrer politischen Wahlverhalten zur Bundestagswahl 2017 findet der Satz „Der Islam gehört zu Deutschland“überdies nur in der Gruppe der Grünen-Wähler eine mehrheitliche Zustimmung von 43 Prozent. Immerhin 40 Prozent lehnen auch hier den Satz ab. Den höchsten Wert an Ablehnung gibt es bei AfD-Wählern: 95 Prozent sagen, der Islam gehöre nicht zu Deutschland. Gefolgt von FDP-Wählern, die zu 76 Prozent den Satz ablehnen. Bei SPD- und CDU-Wählern stimmen immerhin 25 Prozent, beziehungsweise 21 Prozent dem Satz zu. Unsere Titelgeschichte „Gehört dazu?“von Birk Meinhardt aus dem Märzheft können Sie in unter Cicero Plus lesen.
|
Cicero-Redaktion
|
Laut einer aktuellen Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Insa lehnt eine deutliche Mehrheit den Satz „Der Islam gehört zu Deutschland“ ab. Nur eine Altersgruppe sieht die Sache offenbar entspannter
|
[
"Islam",
"Umfrage",
"Insa",
"Angela Merkel",
"Horst Seehofer"
] |
innenpolitik
|
2018-03-22T11:44:12+0100
|
2018-03-22T11:44:12+0100
|
https://www.cicero.de//innenpolitik/gehoert-der-islam-zu-deutschland-umfrage-insa
|
Gerichtsurteil - Der Staat soll Wahrheitsagentur sein
|
Ein Modewort dieser Tage lautet „Narrativ“, ein anderes spricht vom „Postfaktischen“. Prallen beide Tendenzen aufeinander, klingt es blechern. Denn so geschwind die Rede von den Lippen derer perlt, die sich für cool oder klug oder beides halten, so hohl bleibt sie, meistens. Das „Narrativ“ verschleiert den Umstand, dass jede Erzählung einen Erzähler braucht, bei dem sich die Macht ballt; Narrative sind Herrschaftsinstrumente. Und postfaktisch ist allenfalls die Behauptung der Postfaktizität. Fakten bedürfen der Interpretation und nähren also Zweifel. Das „faktische Zeitalter“, das wir hinter uns haben sollen, wäre eine diktatorische Ära. Ein Urteil des Oberverwaltungsgerichts Magdeburg erinnert uns daran, ganz wider Willen. Macht hat der Staat – und ist dieser republikanisch organisiert und freiheitlich gesinnt, dient die Machtfülle dem Gemeinwohl. Macht ist kein Teufelswerk. Hat die irdische Staatsmacht aber darum die Lizenz zur Seligkeit und, wie man spöttisch sagt, die Weisheit mit Löffeln gefressen? Darf der freie Rechtsstaat die Theologisierung seines eigenen Tuns betreiben? Er sollte es nicht, er tut es aber immer öfter, sei es auf dem Feld der Migrationspolitik, die humanitär genannt wird, weil man über sie nicht streiten sollen darf, oder jenem der Klimapolitik. Darum war schon der Titel einer Broschüre des Bundesumweltamtes vom Mai 2013 heikel: „Und sie erwärmt sich doch! Was steckt hinter der Debatte um den Klimawandel?“ Das verfremdete Zitat, ursprünglich Galileo Galilei zugeschrieben, hob Kritiker an der These vom ausschließlich menschengemachten Klimawandel pauschal in den Rang einer verhärteten Glaubensgemeinschaft. Und sich selbst, dem Bundesamt, sprach es die Weihen zu der alleinseligmachenden, da faktisch unbestreitbaren „wissenschaftlichen Resultate“. Niemand, der bei Sinnen ist, bestreitet den Einfluss der menschlichen Lebensweise auf das Weltklima, den Treibhauseffekt und den Anstieg der Erderwärmung. Auch ein Autor wie Michael Miersch („Lexikon der Öko-Irrtümer“) tut es nicht. Strittig ist die Plausibilität von quasi-apokalyptischen Zukunftsszenarien auf der Basis gegenwärtiger Daten. Und strittig ist, wie hoch der Anteil des Menschen am Klimageschehen sei. In der fraglichen Broschüre gab es jedoch nur einen als unwissenschaftlich gebrandmarkten, angeblich von finsteren Eigeninteressen getriebenen, zu ruchlosen Aktionen neigenden „Personenkreis, der die Erkenntnisse der Klimawissenschaft nicht anerkennt, die sogenannten Klimawandelskeptiker oder kurz Klimaskeptiker“ und: die Guten. Zweifel war plötzlich ein Vorwurf, hart am Rande zum Offizialdelikt. Der „Personenkreis“ der Verstockten wurde konkret benannt. Die Namen sind in der Broschüre nachzulesen, bis heute. Gegen solch undifferenziertes Prangertum durch Steuergeld klagte eine der Personen, besagter Michael Miersch. Das Verwaltungsgericht Halle verwarf seine Klage im November 2015, das Oberverwaltungsgericht Magdeburg nun ebenso. „Dieser Beschluss,“ heißt es am Ende des 19-seitigen Schriftstücks vom 2. Februar 2017, „ist unanfechtbar“. Dadurch bekommt das Urteil, unbeschadet der verhandelten Materie, grundsätzliche Bedeutung. Das Gericht sieht im „staatlichen Informationshandeln“ eine Methode, die „herrschende Meinung“ vorzutragen und letztlich durchzusetzen. Es begrüßt den Triumphzug der „herrschenden Meinung“, weil so die „Staatsleitung“ eine „Aufklärung der Bevölkerung“ leiste. Und diesen Satz möge man bitte rot unterstreichen und dick eintragen im Archiv des spätmodernen Bewusstseinswandels: „Wenn die Behörde deshalb versucht, einem ‚postfaktischen Diskurs‘ entgegenzuwirken, indem sie den auf Fakten beruhenden aktuellen Forschungsstand in den Vordergrund stellt, so ist dies Teil ihrer Öffentlichkeitsarbeit in Form zulässiger staatlicher Beteiligung am Prozess der gesellschaftlichen Meinungsbildung.“ Was lehren uns die Magdeburger Richter in der Sache „Miersch gegen Bundesrepublik Deutschland“ und weit darüber hinaus? Dass Aufklärung ein Begriff des Verwaltungsrechts geworden ist. Dass die Staatsleitung der Bevölkerung die Unterscheidung in wahre und falsche Informationen abnimmt, sie also Wahrheiten zuteilt. Dass der Staat Meinung bilden soll. Dass herrschende Meinungen gute Meinungen sind. Und dass der Zeitgeist vor Gericht gut gelitten ist: Die hohle, aber derzeit allgegenwärtige Rede vom „Postfaktischen“ diente einer letztinstanzlichen Urteilsbegründung. Der jüngste Schaum des Tages erhielt richterlichen Segen. Ganz am Schluss der hochfahrenden Broschüre aus dem Bundesumweltamt hieß es damals übrigens: „Der richtige Weg“ bestehe allein darin, „dieser Verantwortung gerecht zu werden und im Rahmen unserer jeweiligen Möglichkeiten dem Klimawandel zu begegnen. Die dazu notwendigen Schritte und Maßnahmen sind hinlänglich bekannt.“ Der Staat ist nicht mehr das Reich der Zwecke, sondern das Imperium des Richtigen. Der Staat will das einzige Faktum sein, wider das kein Zweifel möglich ist. So kehrt das „Auge Gottes“ in die Tagespolitik zurück. Mit ihm tun’s Ketzer, die stören. Die Moderne biegt ein in ihr Gegenteil.
|
Alexander Kissler
|
Kisslers Konter: Eine Broschüre des Bundesumweltamtes brandmarkte sogenannte Klimaskeptiker. Ein Gericht gibt dem Staat nun Recht. So kehren Obrigkeit und Untertänigkeit zurück – nicht nur in der Debatte um den Klimawandel
|
[
"Justizskandal",
"BMU",
"Bundesministerium für Umwelt",
"Klimawandel",
"Regierung",
"Gerichte",
"Klima"
] |
innenpolitik
|
2017-03-02T16:00:28+0100
|
2017-03-02T16:00:28+0100
|
https://www.cicero.de//innenpolitik/gerichtsurteil-der-staat-soll-wahrheitsagentur-sein
|
Rainald Grebe – „Und irgendjemand hätte Pilze dabei“
|
Ich habe mal ein Lied geschrieben, in dem jemand einen Brief bekommt, in dem steht: Das ist dein letzter Tag. So eine Nachricht erwischt einen immer kalt, und man fragt sich: Mache ich jetzt so weiter wie bisher? Zahnarzt? Online-Banking? Sofa waschen? Oder will ich jetzt all das nachholen, was ich versäumt habe? Koks? Nutten? Baum pflanzen? Das würde ja heißen, dass alles bisher falsch war. Über so etwas denke ich eigentlich ständig nach: was uns zum Glück fehlt oder zum guten Leben. Ich suche und sammle und knalle mein Bilderbuch voll mit extremen Momenten. Haben, Haben, Haben! Vielleicht liegt darunter ja auch die Angst vor dem Nichts. Entspannen, wie das andere immer erzählen, kann ich nicht. Da fühle ich mich nicht wohl. Der letzte Tag beginnt eigentlich mit der Nacht davor. Da war ich lange weg mit Freunden und stehe dann verkatert auf. Ich bin auf dem Land, in Brandenburg, es ist ein erstaunlich warmer Spätsommertag mit Wespen und Spinnweben. Ich trinke Kaffee und rauche, wie ich es immer zum Frühstück tue. Aber intensiver, sauge mich an den Objekten richtig fest und herze sie, weil sie mich bald nicht mehr haben. Mit einem dicken Brunch oder Frühstücksbuffet brauche ich jetzt auch nicht mehr anzufangen. Draußen sitzen meine Leute und erinnern sich an die wilde Nacht, wie schön es doch war und wie betrunken alle waren und wer mit wem in der Kiste war. Ich habe mein altes Grammofon aufgebaut und lege Platten von Maria Callas, Enrico Caruso und Hans Albers auf. Später dann Jimmy Hendrix, Billy Joel und ein paar alte Sachen von Elton John. Neue Deutsche Welle vielleicht noch und natürlich „Bakerman“ – das kann ich eigentlich immer hören. Wir würden dann alle am Frühstückstisch tanzen und mitgrölen. Irgendjemand hätte Pilze dabei, die wir uns einfahren und die mir einen Vorgeschmack auf das geben, was nach dem Ende nicht kommt: das Paradies. Wir gehen auf eine Art von Reise, an die ich schöne Erinnerungen habe. Alle Farben der Natur leuchten, und die Zeit steht. Wir schwimmen und haben Sex und liegen im Schilf, bis wir keine Lust mehr auf diese ganze Stille haben. Dann steigen wir in drei Helikopter und fliegen in die Hauptstadt der Gefühle. Große Pose, das muss schon sein. Wir kreisen über Berlin, über der Waldbühne. Da stehen schon die Massen und warten auf den letzten Akt. Alle wissen Bescheid. Ich singe meine Lieder mit all den Leuten, mit denen ich gern gespielt habe. Das Gefühl, dass etwas Einmaliges, Letztmaliges passiert, schwebt in der Luft, aber niemand sagt es. Bei meinem Atheisten-Ende wird das Leben mit allen Poren und Ableitungen gefeiert, denn danach ist das Nichts. Ich springe in die Menge, lasse mich tragen, verbrenne mich an Wunderkerzen und Feuerzeugen. Es riecht nach Schweiß und Verschwendung. Aber das macht alles nichts mehr, denn es ist sowieso gleich vorbei. Und dann sind alle plötzlich weg. Leere Bühne, alter Whisky, eine letzte Zigarette. Ich habe alles noch einmal gefühlt, alle noch einmal gesehen, ich habe alle Leuchtstäbe noch einmal abgebrannt. Und dann, erst dann, fühlt sich die Einsamkeit auch schön an, nach dem Inferno. Aufgezeichnet von Greta Taubert
|
Warum sich Raibald Grebe einen letzten Lebenstag ohne Drogen, Sex und drei Helikopter nicht vorstellen kann
|
[] |
kultur
|
2012-12-15T08:30:38+0100
|
2012-12-15T08:30:38+0100
|
https://www.cicero.de//kultur/rainald-grebe-irgendjemand-haette-pilze-dabei/52838
|
|
Sprachtests in Bayerns KiTas - Von „Bierfahrerbeifahrern“ und alarmierenden Leitsymptomen
|
Bayern führt verpflichtende Sprachtests im Kindergarten ein. Schulanfänger, die nicht richtig Deutsch können, müssen ein Jahr warten und zunächst den „Vorkurs Deutsch“ im Kindergarten absolvieren, der vier Stunden pro Woche umfasst. Das ist ein überfälliger Schritt in die richtige Richtung, doch den Ernst der Lage hat die Öffentlichkeit noch längst nicht erfasst. Ein Beispiel: Auf dem Tisch in der KiTa liegen einige Legosteine eng beieinander. „Passt genau auf, was jetzt passiert!“ Ich schiebe die Steine auseinander, so dass sie einen großen Kreis bilden. „Sind es jetzt mehr Steine geworden?“ Die Vorschulkinder sind unschlüssig. Manche nicken, andere schütteln den Kopf. „Was hat sich denn verändert?“, frage ich – und ergänze sofort, weil das Wort „verändert“ höchstens die Hälfte versteht: „Was ist jetzt anders als vorher?“ Das mache ich zur Zeit mit täglich neuen Kindern, da ich Dienstleister für professionelle Vorschule an KiTas bin. Derzeit werden die Gruppen für 2024/25 eingeteilt. Die Frage ist eigentlich ein Test zur Invarianz, d.h. zur Fähigkeit, die Eigenschaft „Menge“ von der Eigenschaft „Abstand“ oder „Größe“ getrennt zu betrachten. Diese Fähigkeit entwickelt sich im Vorschulalter, und es ist ein gutes Thema, um mit Kindern gemeinsam zu forschen. Doch heute frage ich das primär, um zu sehen, inwieweit die Kinder ihre Beobachtungen in Worte fassen können. Und das Ergebnis ist ernüchternd – wohlgemerkt im drittreichsten Landkreis Deutschlands, nicht in einem Brennpunktviertel. Typische Antworten sind: Schulterzucken, „Da!“ oder Zeigegesten und „Jetzt sind die da so“. Kommt nichts Besseres, lege ich Satzanfänge nahe: „Zwischen den Steinen ist jetzt meeehr …?“, und frage „Wie kann man das beschreiben?“, „Was habe ich gemacht?“. Selbst mit Hilfe sagt nur eines von sieben Kindern „Sie brauchen nun mehr Platz“ oder „Du hast sie weiter auseinander gelegt“. Etwa eines von 15 Kindern kann erklären, was „Zwischen den Steinen ist jetzt mehr Abstand“ bedeutet. Das afrikanische Mädchen mir gegenüber, laut Kinderarzt acht Jahre alt, laut Eltern fünf, zeigt zum Fenster hinaus und sagt „Look, a Vogel on the bobo.“ Als William und Clara Stern 1907 das bahnbrechende Werk „Die Kindersprache“ verfassten, beobachteten sie um den zweiten Geburtstag herum einen Wortschatz von 100 bis 300 Wörtern bei Kindern aus bürgerlichen Haushalten. Nach über 100 Jahren KiTa-Professionalisierung, Bildungspolitik, öffentlichen Büchereien und Elternaufklärung müsste man eigentlich erwarten dürfen, dass die bürgerliche Bildung von 1907 den Massen von 2024 verfügbar ist. Doch heute sind Kinderärzte froh, wenn Zweijährige 50 Wörter sprechen, und der Wortschatz von Schulanfängern sinkt seit mindestens zehn Jahren beobachtbar. Auch ich erlebe bei jungen Kindern besorgniserregend große Sprachprobleme; deutsche Muttersprachler eingeschlossen. Selbst die Fünfjährigen zeigen viel zu oft Leitsymptome von Sprachentwicklungsstörungen, die eigentlich mit 36 Monaten gelten: häufige Verwendung von Passepartout-Wörtern wie „so“, „machen“, „dings“, morphologische Fehler (z.B. „das Katze fressen“), syntaktische Fehler („Ich heimfahre“, „Warum du gehst?“), fehlendes Verständnis von Nebensätzen und Konjunktionen („Bevor du den Spitzer holst, musst du deine Stifte vom Boden aufheben“), desorganisiertes Erzählen, phonologische Auffälligkeiten wie das Auslassen, Ersetzen oder falsch Sprechen von Lauten („Bumeohl“ statt „Blumenkohl“, „Tinderdarten“ statt „Kindergarten“). Je mehr sich Eltern darauf verlassen, dass die KiTa die gesamte Bildung und Erziehung übernimmt, desto stärker sind diese Probleme ausgeprägt. Bei den Drei- bis Vierjährigen zeigt meiner Erfahrung nach die Mehrheit solche Defizite. Da ist es, das böse Wort: „Defizit“. Wenn Sie heute einen Pädagogen richtig derb beschimpfen wollen, werfen Sie ihm „Defizitorientierung“ vor und bezeichnen Sie verpflichtende Lerneinheiten als „übergriffig“. Seit den frühen 2000er Jahren hat sich nämlich die „neue Kindheitspädagogik“ durchgesetzt, deren Neusprech den Himmel auf Erden verhieß: „Ressourcenorientierung“, „von den Stärken ausgehen“, „Selbstbildung“, „kindzentriert“ und „Teilhabe“ sind Schlagworte, mit deren Hilfe man jeden Widerspruch in die Ecke der schwarzen Pädagogik stellt. „Defizitorientierung“ ist das Totschlagargument gegenüber allen, die das Fehlende hinter einem Fehler verstehen möchten, um einem Kind zielgerichtet zu helfen. Zum Beispiel mit Sprachscreenings. Dabei wollen selbst die größten Bildungsromantiker vom Arzt wissen, was genau ihnen fehlt, um die passende Behandlung zu erhalten. Auch Sportler zahlen viel Geld für Trainer, die ihnen sagen, was sie noch nicht können und wo sie sich verbessern müssen. Nur in der Pädagogik ist es in Verruf geraten, Fehler zu betrachten, um anschließend das Fehlende aufzubauen. Man hat Angst, dass Menschen als Gesamtperson verachtet werden, sobald man ihre Fehler benennt. Doch das ist eine Frage der Haltung, die sich durch Naivität nur verschleiern lässt, nicht verhindern. Man kann ein Kind nicht gezielt anleiten, ohne zu wissen, was es noch nicht kann. Aber das macht nichts, denn Führung und Anleitung durch Erwachsene lehnt die neue Kindheitspädagogik ebenfalls ab. Stattdessen ist nun „Selbstbildung“ angesagt. „Selbstbildung“ steht für den naiven Glauben, dass Kinder alles mit links lernen können, und zwar ohne Orientierung an objektiven Zielen und ohne beharrliche Ermutigung, sich ihren Schwächen zu stellen. Ihre triebhafte Neugier allein reiche dazu aus und würde sich gegen Geltungsdrang, Bequemlichkeit, Unwissenheit und mangelnde Weitsicht durchsetzen. Damit verwandt ist der Ansatz in der Sprachdidaktik, der es für überflüssig erklärt, Satzbau und Grammatik explizit zu vermitteln. Selbst, wer nur wenige Stunden pro Woche eine Sprache hört, soll sich angeblich auf die gleiche Art die Regeln für Morphologie, Syntax und Lexik aus ihr ableiten können wie ein Kind, das seine Muttersprache lernt. Man könnte meinen, im Kindergarten sei dies gegeben, doch das stimmt nicht. Muttersprachliches Lernen funktioniert, wenn man von der Mutter lernt – sprich: von einem kompetenten Erwachsenen, der die Fäden der Interaktion in der Hand hält, die Sprache fehlerlos beherrscht und den Lerner freundlich korrigiert. Doch solche Situationen gibt es kaum noch, seit man Anleitung und Korrekturen den goldenen Kälbern „Partizipation“ und „Selbstbildung“ geopfert hat. Kinder hören Deutsch nun primär von anderen Kleinkindern, die es selbst nicht richtig können. Das verzögert Studien zufolge den Spracherwerb; wenn Deutsch Zweitsprache ist, sogar um sechs bis sieben Jahre. Sprache als wichtigstes Lernmittel der Schulzeit muss vor diesem Hintergrund unterentwickelt bleiben, und das ist genau, was wir seit Jahren erleben. Der bayerische „Vorkurs Deutsch“ versucht, dies zu ändern. Er richtet sich aber nur an die Schwächsten und beinhaltet im Grunde das, was noch vor 20 Jahren selbstverständlicher Alltag im Kindergarten war. Hinzu kommt, dass die „neue Kindheitspädagogik“ Erzieherinnen ängstlich und führungsschwach macht. In der Praxis sieht das so aus: Die Kinder sitzen zu Tisch, doch die Essenslieferung ist verspätet. In den Gesichtern der Erzieherinnen lese ich Furcht. Sie bestätigen das in der Nachbesprechung: „Ich habe immer Angst, dass Chaos ausbricht, wenn die Kinder sitzen müssen, bevor das Essen auf dem Tisch steht. Sie können das nicht. Wenn der Erste Sachen schmeißt oder wegrennt, zieht er die ganze Gruppe mit.“ Panisch beginnen sie daher, ein Fingerspiellied zu singen: „Zehn kleine Zappelmänner zappeln hin und her …“ Der Sprachfördereffekt ist minimal, denn die Kinder singen nicht mit und verstehen den Text nur vage. Ich beschließe, an meinem Tisch die Zeit für ein echtes Tischgespräch zu nutzen. Ein Kind fragt nach dem Anhänger an meiner Halskette, in dem ein Löwenzahnsamen steckt. Wir sprechen darüber, warum die Blume „Löwenzahn“ heißt, aber auch „Pusteblume“: Die Blätter sind gezahnt wie die Zähne von einem Löwen. Die Blume ist zuerst gelb, ein wenig wie die Mähne von einem Löwen. „Mähne“, das sind die Haare, die dem Löwen rund ums Gesicht wachsen. Was passiert später mit der Blume? Die Blüte verwelkt. Die Blüte ist das Gelbe von der Blume, und verwelken heißt absterben, also den Saft verlieren, austrocknen. Dann nennt man sie „Pusteblume“. Warum? Was ist pusten? Wer kann alles pusten? Wozu pustet man die „Pusteblume“? Was passiert dann – und wie kann man das nennen? Schwebende Fallschirmchen vielleicht? Was ist ein Fallschirm? Was ist ein Regenschirm? Was ist der Unterschied zwischen schweben und fliegen? Und so weiter. Natürlich muss ich gelegentlich sagen „Warte, lass Luna ausreden!“ oder „Nein, wir reden jetzt nicht über Autos“. Doch die Kinder genießen die ungewohnte Situation. Die Erzieherinnen bitten mich später, ihnen in der Supervision beizubringen, wie man solche Tischgespräche führt. Es ist jedoch fraglich, ob ihre Vorgesetzte das gestattet. Sie besteht nämlich darauf, dass die Kinder über jede Aktivität abstimmen und alle Themen selbst wählen. Das nennt sich „demokratische Erziehung“ und steht in den Leitlinien des Trägers. Auch könnte es als „seelische Gewalt“ interpretiert werden, einem Kind, das andere nicht ausreden lässt, den Mund zu verbieten. Sie dürfen auch nicht „Drei Chinesen mit dem Kontrabass“ singen – ein Lied, mit dem Kinder noch in den 1980er Jahren ganz nebenbei lernten, die Vokale in einem Wort zu lokalisieren. Das Lied ist heute tabu. Ich schlage spontan vor, es mit „Bierfahrerbeifahrer“ zu versuchen. „Borforerboforer“ „Barfahrerbafahrer“, das kann heute auch kein einziges Kind, genausowenig wie „Dro Chonoson“. „Bierfahrerbeifahrer“ überhaupt nachzusprechen ist schon eine Herausforderung. Aber ein toller Sprechanlass – was ist denn ein Beifahrer? Was ist ein Bierfahrer? Und was für „-fahrer“ gibt es noch? Die bayerischen Grünen haben reflexartig die verpflichtenden Sprachtests als „KiTa-Abitur“ verunglimpft, weil sie traditionell nur fördern wollen, ohne Leistung zu fordern. Doch das eine geht nicht ohne das andere. Es ist Zeit, dass gerade die Bildungsromantiker dies einsehen. Denn bei aller Liebe zum Bier: Auch bayerische Kinder haben ein Recht darauf, später mehr als nur Bierfahrerbeifahrer zu werden. Literatur: Bayerisches Staatsministerium für Arbeit und Soziales, Familie und Integration; Bayerisches Staatsministerium für Bildung und Kultus, Wissenschaft und Kunst: Vorkurs Deutsch 240 in Bayern. Prozessbegleitende Sprachstandserfassung und methodisch-didaktische Grundlagen. https://www.bestellen.bayern.de/application/eshop_app000008? Pharmazeutische Zeitung: Lehrerverband: Wortschatz von Schulanfängern schrumpft. https://www.pharmazeutische-zeitung.de/2018-09/lehrerverband-wortschatz-von-schulanfaengern-schrumpft/ Stern, Clara und William: Die Kindersprache. Eine psychologische und sprachtheoretische Untersuchung. Leipzig, 1907. Verbeek, Veronika: Die neue Kindheitspädagogik: Chancen, Risiken, Irrwege. Stuttgart, 2023
|
Miriam Stiehler
|
Bayern führt verpflichtende Sprachtests im Kindergarten ein. Das ist ein überfälliger Schritt in die richtige Richtung, sollten mindestens all jene wissen, die heute mit Vorschulkindern arbeiten. Doch den Ernst der Lage hat die Öffentlichkeit noch längst nicht erfasst.
|
[
"Bildung",
"Kita",
"Sprache",
"Bayern"
] |
kultur
|
2024-07-29T15:50:45+0200
|
2024-07-29T15:50:45+0200
|
https://www.cicero.de//kultur/sprachtests-bayern-kita-csu-bildung
|
Eskalation des Nahost-Konflikts – Wie reagiert die Welt?
|
Die Eskalation des Konflikts zwischen Israel und der
radikalislamischen Hamas beunruhigt die Menschen in aller Welt –
und polarisiert zugleich die politischen Lager. Anders als noch bei
dem Krieg vor vier Jahren sind die Positionen in der arabischen
Welt heute differenzierter, seit der Arabische Frühling die alten
Machtstrukturen aufgebrochen hat. USA Die wichtigste Maxime von US-Präsident Barack Obama heißt
Eindämmung. Denn eine übergeordnete Strategie fehlt. Niemand im
Weißen Haus weiß, wie man Israelis und Palästinenser an den
Verhandlungstisch zurückbringen soll. Israels Recht auf Selbstverteidigung ist in Amerika über alle
Parteigrenzen hinweg unbestritten. Noch in der Nacht der ersten Raketenangriffe auf Gaza
telefonierte Obama mit Israels Premier Netanjahu und Ägyptens
Präsident Mursi. Beide fühlten sich anschließend unterstützt.
Israel und Ägypten empfangen die meiste Militärhilfe aus den USA.
Deshalb schaut man in Washington vor allem auf den Kurs Mursis.
Geht der demokratisch gewählte Präsident wegen der
anti-israelischen Stimmung in großen Teilen seines Volkes nun auf
größere Distanz zu Israel? Kündigt er gar den relativ stabilen
Kalten Frieden mit Israel auf? Das Chaos unter Kontrolle halten und hinter den Kulissen auf die
Akteure mäßigend einwirken: Zu mehr ist Washington derzeit nicht in
der Lage. Allein um die syrischen Chemiewaffenbestände zu sichern,
wäre der Einsatz von 75 000 Soldaten notwendig, teilte das Pentagon
soeben dem Weißen Haus mit. Obama war angetreten, Amerikas Kriege
zu beenden und es nicht in neue hineinziehen zu lassen. Der Nahe
Osten nimmt auf solche Versprechen keine Rücksicht. ÄGYPTEN Auf Ägyptens Präsident Mohammed Mursi ruhen nun viele
Hoffnungen. Ein Sprecher von Bundeskanzlerin Angela Merkel sagte am
Freitag, Ägypten müsse seinen Einfluss auf die Hamas nutzen, um
mäßigend auf diese einzuwirken. Doch die Muslimbruderschaft, die
nach dem Arabischen Frühling den Kurs der Außenpolitik bestimmt,
steht ideologisch der Hamas-Bewegung und den Palästinensern nahe.
Deshalb muss Mursi eine schwierige Gratwanderung unternehmen, um es
sich gleichzeitig nicht mit den USA zu verderben. So vermied
Ägyptens Regierungschef Kandil am Freitag bei seinem Besuch in
Gaza-Stadt jegliche verbale Eskalation. Aus seiner Umgebung
verlautete, Kairo wolle auf keinen Fall weiteres Öl ins Feuer
gießen. „Niemand kann ein Interesse daran haben, diese Aggression
weiter anzufachen. Gaza ist sowieso schon in einem sehr schlechten
Zustand“, erklärte einer seiner Mitarbeiter. Einziges Ziel sei es,
die Angriffe zu stoppen. Mursi hatte am Donnerstag das israelische
Vorgehen als „unakzeptable Aggression“ bezeichnet, ohne allerdings
das Hamas-Raketenfeuer zu erwähnen. Ägypten werde Gaza nicht im
Stich lassen, legte er am Freitag noch einmal nach, während aus der
Führung der Muslimbruderschaft wesentlich radikalere Töne kamen.
Ihr Chef, Mohammed Badie, beschimpfte Israel als „Projekt des
Teufels“. In Kairo versammelten sich unterdessen einige tausend Menschen
zum Protest auf dem Tahrir-Platz. „Israel ist unser Feind“,
skandierte die Menge sowie „Mit unserem Blut und unseren Seelen,
wir opfern alles für dich, Palästina“. Insgesamt hielten sich die
anti-israelischen Kundgebungen jedoch in Grenzen. Neben der
Muslimbruderschaft hatten dazu auch zahlreiche andere politische
Gruppen aufgerufen. Wie Iran, Syrien und die Türkei reagieren IRAN Auch in Teheran und 700 weiteren iranischen Städten wurde nach
dem Freitagsgebet gegen die israelischen Angriffe auf Gaza
demonstriert. „Die Rechte der Palästinenser zu verteidigen, ist
unsere Würde; die Nation verlangt die Zerstörung von Israel“,
zitierte die Tageszeitung „Hamshihri“ auf ihrer Webseite einen der
Slogans, die neben den üblichen „Tod Amerika“ und „Tod Israel“ zu
hören waren. Israel ist der Erzfeind des Iran, und so verurteilte die
politische Führung in Teheran die israelischen Militärschläge aufs
Schärfste. Der Sprecher des Außenministeriums nannte sie
„organisierten Terrorismus“. Außenminister Ali Akbar Salehi rief zu
entschlossenen internationalen Aktionen auf, um den „angekündigten
Massenmord“ an den Palästinensern zu verhindern. Als Vorsitzender
der Organisation der Blockfreien Staaten hat der Iran diese dazu
aufgefordert, ihre Beziehungen zu Israel abzubrechen. Kein Wort
dagegen zur Hamas. Der Einsatz der iranischen Fajr-5-Raketen, die bis nach Tel Aviv
reichen, sei ein großer Erfolg für den Widerstand, stellte dafür
der mit dem Iran verbündete Hisbollah-Chef Hassan Nasrallah in
Beirut fest. SYRIEN Die palästinensische Hamas-Bewegung unterhielt bis zum
vergangenen Jahr gute Beziehungen zu Syrien. Die Exil-Führung der
Hamas hatte ihren Hauptsitz in Damaskus. Sie wurde unterstützt vom
Regime von Präsident Baschar al Assad. Seitdem sich die Hamas auf
die Seite der Revolutionäre gestellt hat, zu denen auch die ihr
ideologisch nahestehende syrische Muslimbruderschaft gehört, ist
das Tischtuch zerschnitten. Ein Krieg zwischen Israel und den
militanten Palästinensern im Gazastreifen könnte den von vielen
Beobachtern erwarteten Sturz von Präsident Assad verzögern. Denn
die Bemühungen der arabischen und westlichen Partner der syrischen
Opposition würden sich eine Zeit lang auf die Lage in Israel und
den Palästinensergebieten konzentrieren. TÜRKEI Die Türkei hat die israelischen Angriffe auf Gaza am Freitag
verurteilt, sich zugleich aber bemüht, den Hauptpartner USA nicht
allzu sehr zu verärgern. Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan
sagte in Istanbul, er werde noch im Laufe des Tages mit
US-Präsident Barack Obama über die Lage reden. Die Türkei steht
nach den Worten Erdogans „an der Seite unserer Brüder in Gaza“. Auf
einen Besuch in Gaza will Erdogan aber verzichten. Am heutigen
Samstag wird er zu zweitägigen Gesprächen in Ägypten erwartet, die
vom Thema Gaza dominiert werden dürften. Der türkische Vize-Premier Bülent Arinc regte direkte Gespräche
zwischen der Türkei und Israel an, doch Erdogan hält davon offenbar
nichts. Auf die Frage, wie sich die Gefechte auf die
türkisch-israelischen Beziehungen auswirken würden, antwortete der
Ministerpräsident: „Von unseren Beziehungen ist doch eh nichts mehr
übrig.“ Was Deutschland sagt Ihre Verurteilung der Raketenangriffe auf Israel verband
Bundeskanzlerin Angela Merkel nur mit einer indirekten Mahnung an
die Regierung Netanjahu. Israel habe das Recht, seine Bevölkerung
„in angemessener Weise“ zu schützen, erklärte der stellvertretende
Regierungssprecher Georg Streiter. Zur Frage, ob das
Selbstverteidigungsrecht auch einen Einsatz von israelischen
Bodentruppen zulasse, wollte sich Streiter nicht äußern.
Außenminister Guido Westerwelle, der ebenfalls ein Ende der
Raketenangriffe anmahnte, nahm Israel stärker in die Pflicht: Es
handle sich um eine „sehr gefährliche Zuspitzung“, daher müssten
„alle Beteiligten“ sich bemühen, zivile Opfer zu vermeiden und die
„Logik der Eskalation“ zu beenden. SPD-Fraktionsvize Gernot Erler warf sowohl den Israelis wie auch
der Hamas Eskalationsstrategie vor. „Offenbar setzen beide Seiten
auf Gewalt“, sagte er dem Tagesspiegel. Mit der Ermordung des
Hamas-Militärführers und den Raketenangriffen auf Tel Aviv seien
„ganz bewusst rote Linien überschritten“ worden. Es sei leider zur
Zeit keine internationale Autorität in Sicht, die zu einer
Deeskalation der Lage beitragen könne. US-Präsident Barack Obama
sei durch sein belastetes Verhältnis zu Netanjahu nicht stark
genug. „Insofern ruhen die letzten Hoffnungen auf
UN-Generalsekretär Ban Ki Moon“, meinte Erler.
|
Die Eskalation der Angriffe zwischen Israel und der Hamas alarmiert weltweit die Politik. Wer steht auf welcher Seite?
|
[] |
außenpolitik
|
2012-11-17T11:24:14+0100
|
2012-11-17T11:24:14+0100
|
https://www.cicero.de//aussenpolitik/so-reagiert-die-welt/52594
|
|
Steigende Zahl an Austritten - Die Kirchensteuer schadet der Kirche
|
Ein schlechtes Gewissen nach dem Kirchenaustritt? Das kann dauern. In Deutschland wird die Verbindung zu Gott nicht unter den Augen eines gestrengen Pfarrers oder einer Gemeindesekretärin gelöst. Die Trennung von der Kirche ist ein Verwaltungsakt im Amtsgericht. Gut möglich, dass die Justizbeamtin verständnisvoll nickt, bevor sie das Formular zum Unterschreiben überreicht. Der Brief vom Pfarramt kommt dann erst Monate später. Die Zahl der Deutschen, die aus der Kirche austreten, steigt. Das ist keine neue Entwicklung. Neu aber ist, dass die Katholiken bei den Austrittszahlen zunehmend zu den Protestanten aufschließen. Und auffallend ist auch, dass in der ersten Hälfte dieses Jahres je nach Bistum und Kirchenkreis bis zu 60 Prozent mehr Menschen ihre Kirche verlassen haben. Für diesen Sprung machen die Kirchen ein Schreiben verantwortlich, das alle Bankkunden in Deutschland in den vergangenen Monaten in ihrem Briefkasten fanden. Unter der Betreffzeile: „Einbehalt von Kirchensteuer“ heißt es dort: „Als Bank sind wir ab 2014 gesetzlich verpflichtet zu prüfen, ob für Sie eine Kirchensteuerpflicht besteht.“ Hintergrund ist die vor fünf Jahren eingeführte Abgeltungsteuer von 25 Prozent auf Zinsgewinne und Dividenden. Sie ist eine pauschale Steuer und wird von den Banken direkt an den Staat überwiesen. Auch bisher schon mussten Kirchenmitglieder auf Kapitalerträge Kirchensteuer zahlen. Alles andere wäre auch ungerecht. Sonst würde der reiche Aktienbesitzer besser behandelt als sein durchschnittlich verdienender Glaubensbruder, der Angestellter ist. Die Kirchen sprechen von mehr Gerechtigkeit und einfacheren Verfahren. Bernd Baucks, Finanzchef der Evangelischen Kirche im Rheinland, warf Banken und Sparkassen kürzlich vor, sie hätten ihre Kunden zum Austritt animiert – ein gravierender Vorwurf, für den es bisher keine Belege gibt. Möglicherweise liegen die Kirchen mit ihrer Analyse hier völlig falsch. Vielleicht geht es den Austretenden nicht so sehr ums Geld und um Berichte von angeblich verschwendungssüchtigen Kirchenfürsten. Selbst bei Zinsgewinnen von 2000 Euro macht die Kirchensteuer gerade mal 44 Euro aus. Die Steuer wiederum bringt den beiden großen Kirchen kaum mehr ein als ARD und ZDF die Rundfunkgebühr. Vielleicht ist auch nicht nachlassender Glaube das Hauptproblem. Nicht jeder Konfessionslose empfindet sich als Atheist. Bloß wird das von Kirche und Staat geforderte „Bekenntnis“ durchaus strapaziert: Zwar heißt es, kein Bankmitarbeiter könne ohne Weiteres auf die Religionszugehörigkeit eines x-beliebigen Kunden zugreifen. Doch nicht wenigen Bürgern dürfte unangenehm aufgestoßen sein, dass überhaupt der Anschein einer Verquickung zwischen Bank und Kirche entstanden ist. Und die Frage, wie mit sehr persönlichen Daten umgegangen wird, bleibt brisant: Die Kirchen haben wegen der Steuer Zugriff auf Meldedaten, aus denen hervorgeht, wer ein zweites Mal verheiratet ist oder in einer gleichgeschlechtlichen Lebenspartnerschaft lebt. Nach dem Arbeitsrecht der katholischen Kirche ist dies ein Kündigungsgrund. Die Bischöfe schließen Missbrauch aus – doch Misstrauen bleibt. Am Ende stellt sich die Frage, ob die Kirchensteuer ihren eigentlichen Zweck noch erfüllt, nämlich die Bindung zwischen Kirche und Gläubigen zu stärken. Oder ob nicht eher das Gegenteil der Fall ist. Für die einen liefert sie einen guten Vorwand zum Austritt. Die anderen, die Amtsträger der Kirche, müssen sich mit den Abtrünnigen nicht wirklich auseinandersetzen. Weil der Austritt zum bürokratischen Akt verkommen ist. Es könnte im Interesse der Kirche sein, über die Zukunft ihrer Steuer nachzudenken. Zum Beispiel indem sie ihre Beiträge selbst erhebt – und damit die Gebühr an die Finanzämter spart. Oder indem man es wie in Italien macht. Dort gibt es eine Kirchen- und Kulturabgabe: Jeder kann auf der Steuererklärung selbst angeben, ob er sie an eine Religionsgemeinschaft, eine soziale Einrichtung oder den Staat abführen will.
|
Fabian Leber
|
Die Zahl der Kirchenaustritte steigt rapide - Hintergrund ist offenbar das neue Abzugsverfahren bei Kapitalerträgen. Nicht nur an diesem Fall zeigt sich: Die Kirchensteuer treibt die Menschen vom Glauben weg. Ein Kommentar in Kooperation mit dem Tagesspiegel
|
[] |
kultur
|
2014-08-14T09:53:50+0200
|
2014-08-14T09:53:50+0200
|
https://www.cicero.de//kultur/steigende-zahl-kirchenaustritten-die-kirchensteuer-ist-nicht-mehr-zeitgemaess/58069
|
Daten von Alexa und Siri als Beweismittel - „Ich denke nicht, dass es um einen Lauschangriff geht“
|
Rebekka Weiß ist Juristin beim Digitalverband Bitkom. Sie leitet dort die Abteilung Vertrauen & Sicherheit. Ihr Verband ist Mitglied der Initiative „Smart Living“, die die Interessen der Hersteller internetfähiger Haushaltsgeräte vertritt. Frau Weiß, welches internetfähige Haushaltsgerät fällt Ihnen als erstes ein, wenn es darum geht, Informationen zu sammeln, die Strafverfolgungsbehörden bei der Aufklärung von Kapitalverbrechen oder Terrorismus helfen könnten?
Der erste Gedanke geht natürlich vor dem Hintergrund der aktuellen Debatte in Richtung Sprachassistenten wie Alexa und Siri, aber auch der „smarte Kühlschrank“ kann Daten enthalten, die für Strafverfolgungsbehörden von Interesse sind. Ein Kühlschrank? Das müssen Sie mal erklären.
Es geht gar nicht so sehr um den Kühlschrank-Inhalt, sondern darum, zu sehen, wann Bestellungen ausgelöst werden. Das kann Rückschlüsse darauf geben, wann sich jemand im Haus befindet oder wie viele Personen sich in welchen Zyklen in welchen Häusern aufhalten. Das sind alles Informationen, die je nach Kontext interessant sein können – entweder für den Kunden, für den personalisierte Bestellungen beim Supermarkt ausgelöst werden können. Oder eben auch für Strafverfolgungsbehörden. Wie können Ermittler solche Geräte „anzapfen“, ohne dass der Besitzer es bemerkt?
Da gibt es verschiedene Möglichkeiten. Das eine ist das so genannte Hintertürchen, eine Ausleitungsschnittstelle, auf die zurückgegriffen werden kann. Eine Art Wanze?
Nein, das wäre noch ein Schritt weiter, dass Behörden direkt mithören könnten. Diese Ausleitungsschnittstelle ermöglicht lediglich den Zugriff auf Daten aus dem Gerät oder aus dahinterliegenden Datenbanken. Und der andere Weg?
Das ist der Weg, den die EU angedacht hatte – dass die Strafverfolgungsbehörden bestimmte Daten beim Anbieter abfragen können. In Deutschland hat jeder Bürger ein Grundrecht auf Schutz der Privatsphäre. Hebeln die Innenminister dieses Recht nicht aus, wenn sie jetzt auf ihrer Konferenz beschließen, internetfähige Haushaltsgeräte und Sprachassistenten als Beweismittel vor Gericht zuzulassen?
Das ist ein Aspekt, über den jetzt diskutiert werden muss. Die Frage ist bislang noch nicht abschließend geklärt. Man darf aber nicht vergessen, dass es jetzt schon viele Zugriffsmöglichkeiten zum Zweck der Strafverfolgung gibt. Denken Sie zum Beispiel an die Abfrage von Handy-Standortdaten bei Mobilfunkanbietern durch Strafverfolgungsvehörden. Auch eine Hausdurchsuchung ist ja in bestimmten Fällen erlaubt. Die Innenminister müssen nochmal neu abwägen zwischen dem Recht auf Privatsphäre und den Sicherheitsinteressen der Behörden. Die Opposition hat erhebliche Bedenken. Der parlamentarische Geschäftsführer der FDP, Marco Buschmann, spricht von einem „Lauschangriff 4.0“. Teilen Sie die Befürchtung?
Das ist eine sehr griffige Formulierung, die vielleicht auch einer gesellschaftlichen Stimmung entspricht. Ich denke aber, dass es den Innenministern im Kern nicht darum geht, ohne Anlass in alle Haushalte hineinzuhören, sondern darum, den Strafverfolgern neue Zugriffsmöglichkeiten zu eröffnen. Und zwar wie bisher auch schon mit entsprechenden Sicherungsmaßnahmen wie dem richterlichen Vorbehalt. Das heißt, die Polizei kann nicht einfach alles tun, was technisch möglich ist. Sie bedarf der Zustimmung eines Richters. Ihr Digitalverband Bitkom ist Mitglied in der Initiative „Smart Living“. Die will internetfähige Haushaltsgeräte bewerben. Wie kann sie Vertrauen in solche Produkte wecken, wenn die Käufer damit rechnen müssen, dass diese Geräte gegen sie verwendet werden können?
Vertrauen ist ein wichtiges Stichwort. Vertrauen kann es nur geben, wenn der Nutzer sich darauf verlassen kann das Gefühl hat, das Gerät hat keine Hintertüren, und sich darauf verlassen kann. Wo eine Ende-zu-Ende-Verschlüsselung drauf steht, ist auch eine drin. Es sollte aber jedem bewusst sein, dass die Daten unter bestimmten Voraussetzungen von Dritten ausgewertet werden können. Und das sind eben nicht die verschlüsselten Gesprächsinhalte, sondern so genannte Metadaten. Also wer hat wann mit wem kommuniziert. Die Verschlüsselungen können doch auch von Betrügern gehackt werden.
Grundsätzlich ist die Ende-zu-Ende-Verschlüsselung sicher, wenn sie richtig implementiert wurde. Aber wenn eine Software Fehler hat oder wenn die Anbieter für Strafverfolgungsbehörden Hintertüren einbauen müssen, dann können die auch von Kriminellen missbraucht werden. Mit potenziell desaströsen Folgen für die IT-Sicherheit. Wie oft kommt das vor?
Das muss nicht immer das Ergebnis der Arbeit von Hackern sein. Es können auch Datenpannen passieren oder Softwarefehler auftreten, die dazu führen, dass sich Dritte Zugriff auf Daten verschaffen können, die plötzlich frei verfügbar und für Dritte einsehbar sind. Fällt Ihnen dazu ein Beispiel ein?
Es gab schon ein paar Fälle, die von den Datenschutzbehörden verfolgt wurden. Relativ bekannt war der Fall „Knuddels“. Ein Datenleck in der Chat-Community hatte dazu geführt, dass plötzlich 1,8 Millionen Account-Daten im Internet veröffentlicht wurden. Als das bekannt wurde, wurden die Nutzer sehr schnell von den Datenschutzbehörden aufgeklärt und gebeten, ihre Passwörter zu ändern. So etwas kann und darf aber natürlich nicht passieren. IT-Sicherheit ist immer ein Katz-und-Maus-Spiel. Der US-Konzern Amazon wertet die Daten seiner Sprachassistentin „Alexa“ schon heute aus, ohne den Verbraucher darüber explizit in den Nutzungsbedingungen aufzuklären.
Gemäß der Datenschutzgrundverordnung hat der Anbieter die Pflicht, die Verbraucher über solche Nutzungen aufzuklären. Das gilt auch für Anbieter aus dem EU-Ausland. Offenbar nicht. Auf eine Anfrage der rheinland-pfälzischen Verbraucherschutz-Ministerin Anne Spiegel (Grüne) erklärte der Innenstaatssekretär im Bundesinnenministerium, Günter Krings (CDU), Käufer eines Alexa-Lautsprechers müssten damit rechnen, dass die Bereitschaft zur Nutzung cloudbasierter Sprachassistenten „das Ergebnis einer individuellen Risiko-Abschätzung des Nutzers“ sei. In anderen Worten: Selbst Schuld, wer sich so ein Gerät kauft.
Der Staat kann die Verantwortung nicht einfach auf den Verbraucher abwälzen. Wo personenbezogene Daten verarbeitet werden, gilt die Datenschutzgrundverordnung. Letztlich obliegt die Aufsicht den Datenschutzbehörden. Der Datenschutz ist europaweit harmonisiert. Das ermöglicht es uns, auch gegen Anbieter im Ausland vorzugehen.
In den USA heißt es, die Daten der Sprachassistenten würden bei Bedarf Geheimdiensten zu Verfügung gestellt werden. Man werte sie sonst nur aus, um die Spracherkennung zu trainieren. Wie glaubwürdig ist diese Erklärung?
Darüber kann ich mir kein Urteil erlauben. Bei Sprachassistenten ist es aber tatsächlich wichtig, dass sie aus nicht erkannte Fragen lernen oder sich an die Sprache gewöhnen, um die Stimme desjenigen zu erkennen, der sich das Gerät in den Haushalt stellt. Das ist ja auch im Interesse des Nutzers. Aber dem Konzern muss es doch in erster Linie um Daten gehen, aus denen er sich ein Profil des Kunden basteln kann, um ihn künftig noch zielsicherer mit Werbung umgarnen zu können.
Dass solche Daten für den Anbieter interessant sind, liegt auf der Hand. Je besser er den Kunden kennt, desto personalisiertere Dienstleistungen und Produkte kann er ihm anbieten. Das sind ja gerade die Dinge, die sich Nutzer von persönlichen Sprachassistenten wünschen. Aber auch darüber muss der Kunde belehrt werden. Genau im Hinblick auf neue digitale Anwendungen wurde ja die Datenschutzgrundverordnung erlassen. Sie soll den Nutzer befähigen, eine souveräne Entscheidung für einen Anbieter zu treffen. Die Entscheidung basiert auch darauf, was der Anbieter mit den Daten macht. Diese Verordnung ist erst vor einem Jahr in Kraft getreten. Hakt die Umsetzung noch?
Ja, den Eindruck habe ich – insbesondere, weil es noch so viele Rechtsunsicherheiten gibt. Viele Unternehmer sind noch immer mit der Umsetzung der neuen Regelungen beschäftigt, und auch die Nutzer müssen sich erst noch an den neuen Rechtsrahmen gewöhnen. Sie können ihre Rechte in Beuzg auf ihre Daten geltend machen und sollten sich darüber auch informieren. Im Zweifelsfall bleibt ihnen der Weg zur Aufsichtsbehörde.
|
Antje Hildebrandt
|
Hören Staatsanwälte künftig bei Alexa und Siri mit? Die Innenministerkonferenz berät darüber, ob Daten von Sprachassistenten und internetfähigen Haushaltsgeräten als Beweise vor Gericht herhalten können. Ein Verfassungsbruch? Einordnungen von Rebekka Weiß, Verband Bitkom
|
[
"Siri",
"Datensicherheit",
"Haushaltsgeräte",
"Sprachassistenten",
"Datenschutz"
] |
innenpolitik
|
2019-06-11T20:18:52+0200
|
2019-06-11T20:18:52+0200
|
https://www.cicero.de//innenpolitik/alexa-siri-datensicherheit-datenschutzgrundverordnung-sprachassistenten-haushalt-bitkom
|
Getreidehandel mit der Ukraine - Das schwarze Loch
|
Der Getreidehandel steckt schon wieder in Schwierigkeiten. Die Vereinten Nationen versuchen, das internationale Abkommen, das am 18. Mai ausläuft und die Ausfuhr ukrainischen Getreides aus den Schwarzmeerhäfen ermöglicht, aufrechtzuerhalten, aber Russland hat signalisiert, dass es nicht zustimmen wird. Moskau behauptet, das fast ein Jahr alte Abkommen zwischen der Uno, Russland, der Ukraine und der Türkei sei hinter seinen Anforderungen zurückgeblieben – doch die Hauptmotivation besteht darin, das Abkommen als Druckmittel in seinem Wirtschaftskrieg mit dem Westen einzusetzen. Russland hat Spielraum, weil es seine Exportquote fast erreicht hat. Der russische Außenminister Sergej Lawrow erörterte das Getreideabkommen am Montag mit UN-Generalsekretär Antonio Guterres, und in den kommenden Wochen werden weitere Treffen stattfinden. In der Zwischenzeit trafen sich die Landwirtschaftsminister der Europäischen Union am Dienstag, um die Lage der Landwirtschaft in der Union und die Auswirkungen des Kriegs zu erörtern. Zuvor hatten Polen, Ungarn, die Slowakei und Bulgarien vorige Woche Einfuhrverbote für ukrainische Produkte verhängt. (Rumänien, ein weiteres Land, in dem es wegen des Zustroms ukrainischer Produkte zu Protesten der Landwirte gekommen ist, hat von einem Verbot abgesehen und berät sich mit der Ukraine und der EU). EU-Beamte verurteilten die Einfuhrverbote und schlugen stattdessen zusätzliche finanzielle Unterstützung für Landwirte sowie Maßnahmen vor, die sicherstellen sollen, dass ukrainisches Getreide, das durch die EU transportiert wird, die Europäische Union auch wieder verlässt. In diesem Sinne haben sich die EU-Kommission und die betreffenden Länder am vergangenen Freitag auch tatsächlich geeinigt. Seit die EU im Juni voriges Jahres eine Verordnung zur vorübergehenden Liberalisierung des Handels mit der Ukraine erlassen hat, wurden mehr als 23 Millionen Tonnen ukrainisches Getreide durch die EU transportiert und auf dem europäischen Markt verkauft. Im November meldeten Polen, Rumänien, Bulgarien, die Slowakei und Ungarn die Angelegenheit bei der Europäischen Kommission an. Ungeachtet der hohen EU-Qualitätsstandards würden ukrainische Erzeuger und Händler ihre Waren zu Dumpingpreisen in ihre Länder einführen und damit ihre Landwirte schädigen, hieß es. Ein großer Teil des Problems besteht darin, dass die nicht besetzten Schwarzmeerhäfen der Ukraine nur über begrenzte Kapazitäten verfügen, was einen der größten Getreideproduzenten der Welt dazu zwingt, seine Ausfuhren auf andere Routen zu verlagern. Der größte Hafen in der Region, der rumänische Hafen Constanta, ist nicht nur wegen des ukrainischen Getreides, sondern auch wegen des zunehmenden Verkehrs aus dem so genannten Mittleren Korridor durch das Kaspische Meer und den Kaukasus stark ausgelastet. (Sowohl Georgien als auch Rumänien haben ihre Kapazitäten für den Frachtverkehr erhöht, da der Handel mit China nicht mehr über die Ukraine abgewickelt werden kann). Nach Recherchen der Schifffahrtszeitschrift Lloyd‘s List fließen etwa 70 Prozent des verdrängten Handels der Ukraine über den Hafen von Constanta, der Rest wird zum größten Teil in die polnischen Häfen Gdynia und Gdansk umgeleitet. Der Großteil des ukrainischen Exportvolumens wird auf dem Seeweg befördert, der Rest auf der Schiene (35%) oder auf der Straße (12%). Obwohl der ukrainische Infrastrukturminister letztes Jahr erklärte, dass der Ausbau des europäischen Schienennetzes ein strategisches Ziel sei, sind die Bauarbeiten noch nicht abgeschlossen. Wenn Russland sich weigert, das Getreideabkommen im nächsten Monat zu verlängern, werden der Hafen von Constanta und die Donau noch stärker belastet werden. Am 22. März schlug die Europäische Kommission vor, 56 Millionen Euro aus dem EU-Haushalt zu verwenden, um Polen, Bulgarien und Rumänien bei der Bewältigung der steigenden Getreide- und Ölsaateneinfuhren aus der benachbarten Ukraine zu helfen. Der Großteil der Hilfe, etwa 30 Millionen Euro, war für Polen vorgesehen, Bulgarien und Rumänien erhielten etwa 17 Millionen Euro bzw. 10 Millionen Euro. Unzufrieden mit der Antwort Brüssels, schloss Warschau am 15. April einseitig seine Grenze für ukrainische Agrarprodukte. Andere Länder folgten bald. Polen öffnete seine Grenze am 18. April wieder, allerdings nur für den Transit; ukrainische Agrarerzeugnisse dürfen weiterhin nicht in Polen entladen werden. Wiederum folgten andere Länder diesem Beispiel. Das könnte Sie auch interessieren: Die EU stellt der Ukraine Mittel zur Verfügung, um die Produktion zu modernisieren und EU-Qualitätsstandards zu übernehmen. Indem die EU die Ukraine offiziell mit dem EU-Binnenmarkt assoziiert, schränkt sie die Möglichkeit der Ukraine ein, Getreide – oder alles andere, was nicht den hohen EU-Standards entspricht – innerhalb der Europäischen Union zu verkaufen. Die Anpassung an den EU-Markt ist ein langwieriger Prozess, der nicht nur finanzielle Mittel, sondern auch qualifiziertes Personal erfordert, das in Kriegszeiten Mangelware sein kann. In Anbetracht all dessen ist es wahrscheinlich, dass die ukrainischen Erzeuger ihr Getreide so schnell wie möglich an die nächstgelegenen Märkte verkaufen wollen (wie die Märkte, die die Waren durchqueren). Ironischerweise befindet sich Russland in einer ähnlichen Notlage wie Europa. Die Getreideproduktion und die Lagerbestände waren im vergangenen Jahr weltweit hoch, und der Überschuss muss verkauft werden, bevor neue Ernten auf die Märkte gelangen können. Russland hat im Jahr 2022 eine Rekordernte eingefahren und ist wahrscheinlich nervös wegen der Nachricht, dass drei der weltweit größten Getreidehändler – Cargill, Viterra und Louis Dreyfus Co. – ihre Tätigkeit in Russland im Juli einstellen werden. Moskau sagt, dass lokale Anbieter sie ersetzen würden, aber ihr Geschäft kann nicht über Nacht erlernt werden – was bedeutet, dass einige russische Getreidesorten unverkauft bleiben könnten. Aufgrund der Getreideschwemme ist den russischen Landwirten, ebenso wie ihren europäischen Kollegen, kein angemessener Gewinn mehr sicher. Der Kreml will sicherstellen, dass die Landwirte nicht in den Ruin getrieben werden und die soziale Stabilität gefährden (ein geringeres Risiko als in Europa, aber dennoch ein Risiko). Einbrechende Gewinne vermindern auch die Fähigkeit der russischen Landwirte, in Saatgut und andere Materialien für die nächste Erntesaison zu investieren, was die russische Lebensmittelversorgung gefährden könnte.
Eine Möglichkeit, wie Russland diesem Problem begegnen kann, ist die heimliche Vermischung seines Getreides mit der ukrainischen Produktion. Kiew kann dagegen kaum etwas unternehmen; nach mehr als einem Jahr Krieg ist der Schwarzmarkt in der Ukraine gewachsen. Mit anderen Worten: Ein Teil des Getreides, das die europäischen Landwirte für ukrainisches Getreide halten, könnte aus Russland stammen. Dadurch profitieren die russischen Erzeuger und üben noch mehr Druck auf die EU-Länder an der Front aus, was einen Keil zwischen sie und Brüssel treibt. Auch zwischen der Ukraine und Polen, ihrem engsten Verbündeten, entstehen dadurch Gräben. Obwohl die durch die Pandemie verursachten Unterbrechungen der Lieferketten zu Ende gehen, zeigt der Krieg in der Ukraine eine neue Bedrohung für Europa auf: Die Ukraine könnte zu einem schwarzen Loch für die Wirtschaft werden. Der Krieg hat bereits die Handelsrouten verändert. Ein Fünftel der Ukraine steht unter russischer Kontrolle, und der Rest wird von Russland angegriffen. Der Westen diskutiert über den Wiederaufbau des Landes, muss sich aber zunächst vor den Auswirkungen des wachsenden ukrainischen Schwarzmarkts und des illegalen Handels, von Drogen bis hin zum Menschenhandel, schützen. Europa weiß noch, wie man mit dem Wiederaufbau nach Konflikten umgeht. Seine letzten Erfahrungen damit hat es auf dem westlichen Balkan gemacht. Doch obwohl seit diesen Kriegen mehr als drei Jahrzehnte vergangen sind, erhält das Gebiet immer noch EU-Mittel und befindet sich in vielerlei Hinsicht noch im Wiederaufbau. In der Ukraine wird der Wiederaufbauprozess mit dem wachsenden Einfluss Russlands konfrontiert sein. Der Getreidetransit ist nur eines von vielen Problemen, die auf Europa und die Ukraine zukommen werden. Die ukrainische Wirtschaft wird sich durch den Krieg und den Wettbewerb um Einfluss zwischen Russland und dem Westen weiter verändern. Auch wenn die Getreidepreise gegenüber den jüngsten Höchstständen deutlich gesunken sind, wird ihre Entwicklung in den kommenden Monaten von den Ereignissen in der Schwarzmeerregion, einschließlich des Schicksals des Getreideabkommens, bestimmt werden. In Kooperation mit
|
Antonia Colibasanu
|
Am 18. Mai läuft das internationale Abkommen zum Export ukrainischen Getreides aus. Polen, Ungarn, die Slowakei und Bulgarien wehren sich jetzt schon gegen billiges Getreide aus der Ukraine. Hier hat die EU-Kommission eine Lösung gefunden, aber Russland will der Verlängerung des Abkommens ohnehin nicht zustimmen.
|
[
"EU",
"Landwirtschaft",
"Ukraine"
] |
wirtschaft
|
2023-04-27T15:31:44+0200
|
2023-04-27T15:31:44+0200
|
https://www.cicero.de/wirtschaft/getreidehandel-ukraine-russland-eu-balkan-polen
|
Im Mikrokosmos Fußball wäre Angela Merkel als Trainerin längst entlassen worden
|
Herr Schwab, lassen Sie uns über die bekanntlich schönste Nebensächlichkeit der Welt sprechen, den Fußball…
… Von allen Allgemeinplätzen des Fußballs halte ich die Rede von der schönsten Nebensache der Welt für die falscheste. Die schönste Nebensache der Welt ist für mich Sex. Fußball markiert in meinem Leben ganz sicher eine der Hauptsachen. Nach meinem Sohn vielleicht die wichtigste Hauptsache. Sie sind Anhänger der These, dass mit Fußball letztlich alles erklärt werden kann. Ist Fußball eine Art Mikrokosmos des Lebens?
Ja, sicher. Auch ein Allgemeinplatz, aber zutreffend wäre die Gleichsetzung: Fußball = Leben, Leben = Fußball. Phänomenologisch präziser noch wäre die Gleichsetzung Welt = Fußball. In dem Sinne, dass sich im Fußball alle Phänomene der Welt wiederfinden. Und alle Sachverhalte der Welt sich auch durch Analogien aus der Welt des Fußballs erklären beziehungsweise umschreiben lassen. Wie würde sich beispielsweise die momentane Situation der schwarz-gelben Regierung mit diesem Fußballwelterklärungsmodell beschreiben lassen? In der Rhetorik Edmund Stoibers würde es vermutlich heißen, die Champions-League-Plätze sind in Gefahr.
Nun, wenn schwarz-gelb, wie in Baden-Württemberg gerade geschehen, in die Opposition gewählt wird, sind keine Champions-League-Plätze mehr in Gefahr – dann ist der Abstieg besiegelt. Das Problem aber ist, dass die Saison in der Politik vier Jahre Legislaturperiode vorsieht. Denn ein Trainer, der eine Bilanz wie Frau Merkel in den letzten Wochen und Monaten abliefern würde, wäre in der Bundesliga längst rausgeschmissen worden. Deutliche Parallelen sind auch zwischen Kunst, Literatur, Film und Fußball erkennbar. Sie appellieren auf verschiedenen Ebenen und mit unterschiedlichen Mitteln an dieselben elementaren Gefühle.
Natürlich. Betrachten wir den kommerziellen Fußball wertneutral als ein Spektakel, sind die Parallelen zu den anderen Aufführungsformen leicht ersichtlich. Deren Spektrum im Übrigen sich ebenso wie der Fußball zwischen bloßer Unterhaltung und wahrer Kunst erstrecken kann. Und die Anbindung des Zuschauers an das dargebotene Spektakel findet im Prinzip über die gleichen empathischen oder identifikatorischen Prozesse statt. Der Fußball spielt mit Motiven, mit denen sich die Literatur seit Jahrtausenden befasst: Heldentum, Leid, Schmerz, Solidarität, Neid sind auch zentrale Motive des Fußballsports – nur sind sie hier ungleich direkter, einfacher, oberflächlicher.
Weil sie authentisch sind. Sie finden statt, statt ausgedacht worden zu sein. Auch dies bitte wertneutral verstehen: Fiktionale Geschichten können mitunter wesentlich realistischer, wahrer anmuten als der allwöchentlich ausgefochtene Fußballwettbewerb, dessen Kampf aber authentisch und offen ist, deswegen auch häufig ungerecht oder langweilig. Aber stets authentisch, solange der Schiedsrichter nicht bestochen wurde. Aber geht die Authentizität denn nicht mit der extremen Kommerzialisierung des Profifußballs verloren? Was bitte ist authentisch an einer Kunst-/Werbefigur wie sie beispielsweise David Beckham darstellt, dessen fußballerische Klasse in keinem Verhältnis zum Marktwert steht. Wo bitte bleibt da der Bezug zur Lebenswirklichkeit?
David Beckham ist beziehungsweise war ein hervorragender Fußballsspieler, der auf dem Fußballplatz ebenso authentisch seine Spiele bestreiten musste, wie jeder andere Spieler, der nicht in den Verdacht gerät, eine Kunstfigur zu sein. Dass Beckhams Marktwert nicht allein mit seiner tatsächlichen Qualität als Fußballer zu tun hat, sondern mit den Projektionen der Fans und/oder Kunden, kann nicht unbedingt ihm angelastet werden. Denn im Kapitalismus zählt nicht die Qualität eines Produkts, sondern die Qualität des Verkäufers. Und verkaufen konnten sich die Beckhams schon immer. Dennoch ist zumindest der Profifußball – also das Fußballgeschäft – ein besonderer Raum. Die Kommerzialisierung ist totaler, gnadenloser. Der Profifußball ist kein wirklich menschenfreundliches System. Siehe Robert Enke oder Sebastian Deisler.
Jein. Ja, der Profifußball ist aufgrund seiner Popularität und seines enormen Marktwertes ein besonders umkämpftes und als solches ein gnadenloses System. Hier wird aber sicher nicht gnadenloser oder menschenunfreundlicher als in anderen Sektoren der kapitalistischen Finanzwelt etwa gekämpft. Im Unterschied dazu interessiert sich für den Fußball aber der überwältigende Teil der Menschheit. Und die Medien berichten über Einzelschicksale ausführlicher, weil diese Individuen den meisten Menschen bekannt sind und die sich für Enke und Deisler mehr interessieren als für deren Pendants in der Wirtschafts- und Finanzwelt. Das mag dann den Eindruck erwecken, der Fußball sei besonders gnadenlos. Im Unterschied zur Gesellschaft ist der Fußball extrem männerdominiert. Auch Homosexualität hat keinen Platz, dabei sind Gesellschaft und Politik doch bereits viel weiter. Herrscht im Fußball nicht ein ganz anderes, stehengebliebenes Männlichkeitsbild als im Rest der Gesellschaft? Warum ist das System Fußball so rückständig?
Die Homophobie im Fußball verstehe ich ehrlich gesagt nicht. Sobald es einige schwule Fußballer gibt, die sich dazu bekannt haben, mag es erkennbar werden, das die Furcht vor fehlender Anerkennung übertrieben war. Vielleicht ist Fußball als athletischer Kampfsport schlicht weniger homophil als andere Bereiche? In dem Sinne, dass Homosexualität als vermeintliche Schwäche gedeutet würde – die dem Sport innewohnende Homoerotik zugleich aber deutlich weniger ausgeprägt ist als in der Körperathletik des Kampfsports etwa. Andererseits war Homosexualität in den vorchristlichen Kriegerkulturen selten derart tabuisiert, wie dies beim Fußball im christlichen Abendland der Fall ist. Rational ist dies alles jedenfalls nicht zu erklären. Ich ertappe mich dabei, wie ich in der Champions-League als Werder-Bremen-Fan den Bayern die Daumen drücke. Dabei wähnte ich mich frei von patriotischer Gefühlsduselei. Was macht der Fußball da mit mir? Sorgt der Fußball da für eine Art von gesundem Patriotismus?
Wenn Sie den Bayern oder ich Schalke oder Werder, also Vereinen, die mir eigentlich wenig sympathisch sind, im Europapokal die Daumen drücke, folgen wir eigentlich nur der Grundsolidarität, die Mitglieder eines Stammes, einer Nation oder Fußballnation unter- und zueinander empfinden und zeigen sollten. Patriotismus im Fußball hingegen kann, wenn überhaupt, dann nur innerhalb des Fußballs geltend gemacht werden. Wenn ein Spanier jetzt behauptet, Spanien sei das beste aller Länder, hat er im Hinblick auf Fußball recht. Behauptet er es für alle Lebensbereiche, macht er sich lächerlich. Herr Schwab, vielen Dank für das Gespräch. Das Interview führte Timo Stein
|
Nicht Fußball, sondern Sex ist die schönste Nebensache der Welt, erklärt der Medienwissenschaftler Jan Tilman Schwab in einem Gespräch mit Cicero Online über den gemeinen Fußballsport und liefert Beispiele für dessen Welterklärungspotential.
|
[] |
kultur
|
2011-03-30T00:00:00+0200
|
2011-03-30T00:00:00+0200
|
https://www.cicero.de//kultur/im-mikrokosmos-fussball-ware-angela-merkel-als-trainerin-langst-entlassen-worden/41859
|
|
Nach Botschaftsbesetzung – Was steckt hinter Irans Alleingängen?
|
Wer steckt hinter der Besetzung der britischen Botschaft
in Teheran?
Bei dem Angriff handelte es sich keineswegs um eine spontane
Protestaktion, sondern eine gezielte Provokation, sagt der
Iran-Experte der Stiftung für Wissenschaft und Politik in Berlin,
Walter Posch. Nicht Studenten hätten die Botschaft gestürmt,
sondern Mitglieder der Basiji, einer paramilitärischen Miliz,
unterstützt von Mitgliedern der Revolutionsgarden. Dies habe er auf den Fotos erkennen können, an Alter und Art des
Vorgehens der Angreifer, an der relativ einheitlichen Kleidung mit
Windjacken und bestimmten Schuhen, sagt Posch. Auch in der
iranischen Presse werde das offen gesagt. Es gibt laut Experten
auch Hinweise darauf, dass selbst ein General der Revolutionsgarden
an der Aktion beteiligt war. „Dies würde erklären, warum die Wachen
vor der Botschaft nicht eingegriffen haben“, meint Posch. Die Basiji, im Krieg gegen den Irak als Freiwilligenmiliz
gegründet, werden von Präsident Mahmud Ahmadinedschad und Teilen
des Regimes bis heute als bezahlte Schlägertrupps finanziell
unterstützt und eingesetzt: Sie waren maßgeblich an der
Niederschlagung der Demokratiebewegung auf den Straßen Irans 2008
beteiligt. Auch gegen religiöse Minderheiten, wie beispielsweise
die Sufi-Derwische, setzt das Regime die Schlägertrupps ein. Lesen Sie auf der nächsten Seite, was uns die Ereignisse
über die innenpolitische Lage im Iran erzählen Was sagen uns die Ereignisse über die innenpolitische
Lage im Iran?
„Es ist seit längerem deutlich, dass diese Gruppen außer Kontrolle
geraten“, sagt Posch. Seit Monaten werde im Iran von verschiedenen
Fraktionen darüber diskutiert, dass der Rechtsstaat gestärkt werden
müsse. Dabei habe man die Basiji im Blick, die ihre Entmachtung
fürchten. „Daher hat die Aktion sowohl eine innen- wie eine
außenpolitische Komponente“, erklärt Posch. Innenpolitisch wolle
man seine Macht demonstrieren, außenpolitisch seien diese Gruppen
daran interessiert, Ausländer aus dem Iran zu vertreiben. „Das
Regime muss sich jetzt entscheiden, ob es diese Extremisten weiter
alimentieren will oder ihren Einfluss eindämmen“, fordert
Posch. Auch wenn die Bilder der Erstürmung der britischen Botschaft
Erinnerungen an die Besetzung der US-Botschaft 1979 wachrufen,
seien beide Vorgänge nicht zu vergleichen. Auf dem Höhepunkt der
Islamischen Revolution 1979 sei es um den Islam als globale Kraft
gegangen. 2011 sei die islamische Natur des Regimes längst zu Grabe
getragen, und die Erstürmung sei nur Ausdruck simpler
Fremdenfeindlichkeit von Nationalisten. Auf viele Iraner wirke die
Aktion eher peinlich. Die Basiji, die in ihrer „ideologischen
Scheinwelt“ lebten und von der „permanenten Revolution“ träumten,
seien die größten Feinde aller Pragmatiker in der iranischen
Führung. Aber im Staatsapparat hätten sie starke Verteidiger. Auch Präsident Ahmadinedschad hatte sich auf die Basiji und
Revolutionsgarden gestützt, sie zum Dank für Unterstützung in hohe
Ämter gehievt. Öfters tritt er selbst in der Uniform der Basiji
auf. Auch hat Ahmadinedschad seit kurzem den iranischen
Nationalismus als neue politische Kraft entdeckt und gefördert, um
seine Machtbasis gegenüber dem traditionellen religiösen Lager zu
stärken, das Ahmadinedschad gegenüber kritisch ist. Mittlerweile
ist auch ein offener Machtkampf zwischen Ahmadinedschad und dem
Religionsführer Ali Khamenei entbrannt. Wie wird sich die Botschaftskrise auf die wegen des
Atomprogramms ohnehin angespannten Beziehungen des Westens zum Iran
auswirken?
Die Krise ist laut Posch „sehr ernst“ und könnte sich verschärfen,
wenn keine adäquate Reaktion aus dem Iran kommt. Eine
Distanzierung, wie vom iranischen Außenministerium bereits
formuliert, werde nicht ausreichen. Eine formelle Entschuldigung
möglicherweise auch nicht. Wenn das Regime nicht „energisch“ gegen
die Basiji durchgreift, wüssten die EU-Staaten, dass jede andere
Botschaft auch Ziel solcher Angriffe werden könne. Posch befürchtet, dass die Basiji nicht in die Schranken
gewiesen würden, weil der Preis innenpolitisch zu hoch sei, da sie
viele Anhänger im Staatsapparat haben. Die Erstürmung der
britischen Botschaft habe gezeigt, dass das Regime Gewalt nicht
verhindern wolle oder könne. Ein Abzug der europäischen Botschafter
würde die Isolation des Iran entscheidend vorantreiben – wie von
den Basiji und anderen revolutionären Gruppen gewünscht. Ein
verschärftes Vorgehen im Atomstreit, bis hin zu einem möglichen
Militärschlag gegen den Iran, will Posch aus der Botschaftskrise
jedoch nicht automatisch ableiten. Die am Donnerstag von der EU
beschlossenen neuen Sanktionen seien lange geplant gewesen als
Reaktion auf das Atomprogramm Teherans.
|
Frage des Tages: Die westlichen Länder ziehen ihre Botschafter aus dem Iran ab, Sanktionen werden verschärft, weil das Land immer radikaler auftritt. Welche Gründe hat das und was folgt daraus?
|
[] |
außenpolitik
|
2011-12-02T08:53:21+0100
|
2011-12-02T08:53:21+0100
|
https://www.cicero.de//aussenpolitik/was-steckt-hinter-irans-alleingaengen/47460
|
|
Energiewende – Ein Orden für die Anti-AKW-Bewegung
|
Champagner! Für alle! Es gilt den wohlverdienten Ruhestand einer
jung gebliebenen alten Dame zu feiern. Noch mag man sich nicht
recht von ihr trennen. Sie war doch gerade so vital und tatkräftig
auf ihre alten Tage! Doch es liegt in der Natur der politischen
Sache: Wenn der Bundesrat am Freitag unter Tagesordnungspunkt 55c
„Entwurf eines 13.Gesetzes zur Änderung des Atomgesetzes“ das
schrittweise Aus für Deutschlands Atommeiler besiegelt, dann wird
auch eine gesellschaftspolitische Ära der bundesdeutschen
Nachkriegsgeschichte auslaufen. Die Anti-AKW-Bewegung wird sich aus unserem politischen Alltag
verabschieden. In ihren nunmehr 40 Jahren hat sie mit zivilem
Ungehorsam, nicht immer gewaltfreien Massenprotesten und Mut zur
Utopie die Politik auf Trab gebracht. Generationenübergreifend hat
sie ein Stück politische Kultur geprägt. Nun wird sie in ihrer
altbewährten Rolle von der Bühne abtreten – nicht aus
Amtsmüdigkeit, sondern weil sie ihre Mission erfüllt hat. Im Rückblick auf die Anti-AKW-Bewegung könnte man fast wehmütig
werden. Dabei sollte man sie doch mit zwei lachenden Augen ins
Archiv der Geschichte entlassen. Sie hat sich das Ruhepolster
verdient - durch beharrliche Arbeit, durch Sturheit und durch eine
hohe Dosis Selbstgerechtigkeit, mit der sie Spott, Demütigungen und
Niederlagen wegsteckte. Was war das für ein Gehöhne und Kopfschütteln, als 1973 im
Kaiserstuhl ein buntgemischtes Volk aus Winzern, Naturschützern und
Alt-68ern gegen den Bau eines Atommeilers auf die Straße zog und
monatelang den Bauplatz besetzt hielt. Wyhl, den Namen des
auserkorenen Standorts, können viele bis heute nicht richtig
aussprechen. Dabei wurden die vier Buchstaben des kleinen Fleckens
einst zum Initial eines bundesweiten Widerstands gegen ein
hemmungslos technikgläubiges Atomprogramm.[video:Schlacht gewonnen,
Thema verloren - Die Grünen ohne Atomenergie] Wenig später schrieben auch andere, bis dato unbekannte
Ortsnamen Geschichte: Wackersdorf, Gorleben, Kalkar, Brokdorf -
erst kamen einige Tausend, dann waren es Anfang der 80er Jahre über
100.000, die aus der gesamten Republik zusammenströmten und fast
immer gelang ein erstaunlicher Schulterschluss zur ansässigen
Bevölkerung. Während die AKW-Gegner unter Wasserwerferstrahl an
Bauzäunen rüttelten oder in Wackersdorf und Gorleben in
selbstgezimmerten Hütten auf Bauplätzen ausharrten, kannten Politik
und Wirtschaft nur zwei Reaktionsmuster: die Protestler als Spinner
verlachen oder als Chaoten kriminalisieren. Erst mit jahrelanger Verspätung realisierte die Politik, welch
brisantes Konfliktpotenzial diese irritierend spontane und
unorganisierte Bewegung barg. Und es sollte fast 40 Jahre dauern
bis auch die Letzten ernst nahmen, dass die „Spinner“ und „Chaoten“
für ein breites gesellschaftliche Unbehagen standen, aus dem die
Grünen als parlamentarische Kraft wuchsen. Spätestens heute, nach abenteuerlichen energiepolitischen
Wendemanövern, wäre da eigentlich Abbitte fällig. Abbitte bei
dieser Protestbewegung, für die es – anders als bei der Frauen-
oder der Gewerkschaftsbewegung - keinerlei Vorbilder gab. Gäbe es
also einen Orden für kollektiven Ungehorsam und Hartnäckigkeit -
Christ- und Freidemokraten sollten ihn der Anti-AKW-Bewegung
verleihen. Was stünde ganz oben auf der Liste der auszeichnungswürdigen
Verdienste? Unter der Meta-Botschaft, der Politik den Weg aus dem
Atomzeitalter gewiesen zu haben? Da ist zunächst ganz profan die Bewahrung vor gigantischen
Fehlinvestitionen. Auf Druck der Anti-AKW Bewegung wurde das AKW
Wyhl nie gebaut. In Wackersdorf wurde das größenwahnsinnige Projekt
einer nuklearen Wiederaufarbeitungsanlage begraben, in Kalkar der
geplante Schnelle Brüter eingemottet. Der Neubau von Atommeilern
ist hierzulande als „politisch nicht durchsetzbar“ längst obsolet
geworden. Darüberhinaus hat die Nein-Danke-Bewegung auch das Umfeld für
eine Ja- Bitte-Bewegung geschaffen. Im Zuge der Graswurzelbewegung
mit ihren „Solartüftlern“ und „Windmüllern“ ist so ein solides
High-Tech- Fundament gewachsen für die Entwicklung der Erneuerbaren
Energien, ohne die Deutschland sich auch nach Fukushima den
Ausstieg aus der Atomkraft nicht leisten könnte. Aber auch gesellschaftspolitisch hat die Anti-Atom-Bewegung ein
beachtliches Kunststück fertig gebracht. In ihren 40 Jahren hat sie
sich trotz Kontroversen nie spalten lassen. Sie hat sich immer
wieder verjüngt und ist zur Mehrgenerationenbewegung geworden. Und
sie ist weitgehend friedlich geblieben. Gewalttätige
Ausschreitungen am Bauzaun von Brokdorf oder bei den
Castor-Transporten nach Gorleben konnten den bunten, kreativen
Protest nie dominieren.[video:Schlacht gewonnen, Thema verloren -
Die Grünen ohne Atomenergie] Auch die apokalyptische Warnung des Zukunftsforschers Robert
Jungk vor dem übermächtigen, seine Bürger überwachenden „Atomstaat“
ist so nicht in Erfüllung gegangen. Im Gegenteil: Vor allem für
junge Leute ist die Anti-AKW-Bewegung mit ihrer lockeren
Organisationsstruktur und Kreativität immer wieder zur
Schulungsakademie für demokratische Partizipation geworden. Der
Konflikt mit dem Staat ums Streitthema Atom war erbittert. Aber er
machte auch Lust auf politische Einmischung. Jetzt könnte die
besiegelte Atomwende sogar Hoffnung schaffen gegen Politikverdruss:
Engagement bewirkt etwas. Politik ist unter Umständen
lernfähig. Und diese Bewegung soll jetzt von der politischen Bildfläche
verschwinden? Sie soll vielleicht nicht- aber sie wird. Denn das
ist anders als vor zehn Jahren, als Rot-Grün den Atomausstieg
durchkämpfte. Da ging die Anti-AKW-Bewegung zwar in Winterschlaf
und die deutsche Nuklearskepsis schmolz angesichts der
Klimaerwärmung. Doch mit dem schwarz-gelben Ausstieg aus dem
Ausstieg war der Protest sofort wieder da, zahlreicher und jünger
als zuvor. Jetzt jedoch, mit der Allparteienzustimmung, scheint der
Atomausstieg unumkehrbar besiegelt. Das einfach „AKW-Nee“, der
einigende Kristallisationspunkt der bundesweiten Bewegung wird
schmelzen. Das Atom, das die Gesellschaft über Jahrzehnte gespalten
hat, könnte sie nun sogar mit dem eigenen Land versöhnen. Sicher,
es wird weiter regionale Proteste geben gegen Atommülltransporte
oder Endlagersuche. Es wird Widerstand geben gegen Tricksereien der
Atomlobby, Atomdeals im Ausland und energiepolitische Versäumnisse.
Aber die gute alte Nein-Danke-Bewegung, wie wir sie seit 40 Jahren
kennen, hat sich überflüssig gemacht. Glückwunsch! Wir werden sie
vermissen.
|
An diesem Freitag besiegelt der Bundesrat endgültig den Ausstieg Deutschlands aus der Atomenergie. Damit wird sich auch die Anti-AKW-Bewegung aus dem politischen Leben der Republik verabschieden. Ein Nachruf
|
[] |
innenpolitik
|
2011-07-08T08:52:43+0200
|
2011-07-08T08:52:43+0200
|
https://www.cicero.de//innenpolitik/ein-orden-fuer-die-anti-akw-bewegung/42316
|
|
Rolle von Macron im Asylstreit - Der französische Realitätsschock
|
Die SPD und die Grünen setzen seit langem auf den französischen Präsidenten Emmanuel Macron. In ihren Augen steht er für die europäische Zusammenarbeit, für ein soziales Europa. Das streben die beiden Parteien zwar an, konnten es aber in der deutschen Politik bisher nicht umsetzen. Insofern ist Macron für sie ein Hebel, um ihre politischen Präferenzen durch die Hintertür einzuführen. Aber diese Liebe zu Macron wird sehr bald enttäuscht werden. Denn gerade weil die SPD-Politiker von seinen Vorschlägen für die Eurozone so begeistert sind, waren sie für seinen migrationspolitischen Kurs eher blind. Für deutsche Verhältnisse verfolgt der französische Präsident einen harten Migrationskurs. Sein jüngstes innenpolitisches Reformpaket zu diesem Thema war ein deutliches Zeichen dafür. Hauptantrieb der französischen Regierung – und das unterscheidet sie von der deutschen Politik – ist Realismus, nicht Idealismus. Dies ist unter anderem das nüchterne Resultat der französischen Erfahrung mit dem inländischen Terrorismus und der Kriminalität in den Banlieues, aber auch eines den französischen Eliten innewohnenden, sehr viel strikteren Verständnisses von administrativer Durchsetzungskraft. Macrons kürzliches Treffen mit dem neuen italienischen Premierminister Giuseppe Conte ist ein erster Hinweis auf seine Haltung auf EU-Ebene. In Deutschland wird die CSU-Führung von allen links der Mitte stehenden Politikern für eine zu harte Haltung in Sachen Migration heftig kritisiert. Die Gegner argumentieren, die CSU instrumentalisiere den Asylstreit für den bayrischen Wahlkampf. Dass aber gerade das vermeintlich so reaktionäre Bayern bisher wohl die besten Integrationserfolge am Arbeitsmarkt erzielt hat, wird immer geflissentlich verschwiegen. Der Schock der deutschen Linken und Linksliberalen wird umso größer ausfallen, wenn man feststellen wird, dass Macrons Kurs in Sachen Migration wahrscheinlich noch härter ist als das, wofür man derzeit die CSU zu brandmarken versucht. Der übliche Weg in der heutigen Politik, mit einem solchen Realitätsschock umzugehen, besteht darin, den verantwortlichen Regierungschef als herzlosen Neoliberalen zu brandmarken. Worauf Macron wahrscheinlich antworten würde, dass er nur ein Realist sei. In einem versteckten Seitenhieb auf die deutsche Regierungspolitik beschreibt er sich selbst immer wieder als einen Politiker, der die Aufgabe des vorausschauenden politischen Managements für sein Land erwiesenermaßen sehr ernst nimmt. All dies wird die linksorientierten Macron-Liebhaber in Deutschland sehr verwirren. Gerade der Mann, den sie als letzten Hoffnungsträger für eine engere Zusammenarbeit in der Eurozone betrachten, legitimiert nicht nur die Politik von Horst Seehofer und seiner CSU. Schlimmer noch: Er raubt ihnen und Angela Merkel ihre sorgfältig konstruierte Haltung, auf die Notwendigkeit einer „europäischen Lösung“ zu verweisen, um so nachhaltige Kursanpassungen auf dem Gebiet der Migration zu verhindern. Angela Merkel hat immer versucht, Zeit für ihren politischen Ansatz zur Migration zu gewinnen, indem sie politische Antworten auf EU-Ebene forderte. Ihre wahrscheinliche Hoffnung – und die ihrer vielen Verteidiger in den deutschen Medien – liegt darin, dass eine solche Lösung nicht zustande kommen wird, so dass die gegenwärtige deutsche Politik des Durchwurstelns weitergehen kann. Sie werden allesamt überrascht sein, auf der Brüsseler Bühne zu lernen, was ihnen eigentlich seit langem bekannt sein sollte: Der politische Konsens in Europa hat sich längst verschoben. Die Merkel-Regierung steht praktisch allein, ohne die Niederlande, ohne Dänemark, ohne Schweden – von Österreich, Ungarn oder Italien ganz zu schweigen. Trotz aller Bemühungen, dem umstrittenen ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán die Schuld zu geben, agiert Frau Merkel ihm gegenüber sehr unaufrichtig. Denn im Vorfeld und während des deutschen Wahlkampfs 2017 war Orbán ihr wichtigster Koalitionspartner, wenn auch nur inoffiziell. Ohne Orban wäre es ihrem damaligen Flüchtlingskoordinator Peter Altmaier und ihr nicht so gut gelungen, das Migrationsthema in der Skala der Wählerprioritäten nach unten zu schieben. Auf EU-Ebene ist die neue spanische Minderheitsregierung unter der Führung von Pedro Sanchez neben Alexis Tsipras in Griechenland die einzige Regierung, die derzeit an der Seite Deutschlands zu stehen scheint. Aber der hat in seinem eigenen Land viel größere Sorgen, als sich für liberale Migrationspraktiken einzusetzen. Die größte Ironie ist freilich die: Genauso, wie die deutsche Regierung eine faktische Bremse für Macrons Vision von einem „sozialeren“ Europa darstellt, steht die französische Regierung der deutschen Präferenz für offene Grenzen im Weg. Die eigentliche Überraschung dürfte indes darin bestehen, dass die CSU ganz losgelöst von der Berliner Bühne die Sachauseinandersetzung gewinnen dürfte – und zwar auf europäischer Bühne. Darin liegt wohl die größte Fehlkalkulation Merkels.
|
Stephan-Götz Richter
|
Frankreichs Präsident Macron gilt unter deutschen Linken als Hoffnungsträger für eine engere Kooperation der EU-Staaten. Aber sein Kurs in der Asylpolitik ist noch härter als der der deutschen CSU. Das wird auch Kanzlerin Merkel spüren, wenn sie Macron am Dienstag trifft
|
[
"Europäische Union",
"Asylpolitik",
"Frankreich",
"Emmanuel Macron",
"Horst Seehofer",
"Angela Merkel"
] |
außenpolitik
|
2018-06-18T11:19:50+0200
|
2018-06-18T11:19:50+0200
|
https://www.cicero.de//aussenpolitik/asylstreit-macron-eu-spd-gruene-merkel-kanzlerin
|
Parteineugründung - Ökonomen fordern Merkel heraus
|
„Jetzt, da auch noch Zypern gerettet wird, ist für mich das Ende der Fahnenstange erreicht“, sagt Ulrich Blum. „Wir hatten ja einen sehr offenherzigen Finanzminister, der die Kavallerie in die Schweiz einreiten lassen wollte wegen der angeblichen Schwarzgelder und jetzt sollen deutsche Steuerzahler auf Zypern oligarchisches Schwarzgeld aus Russland retten. Irgendwann muss doch mal Schluss sein.“ Das, was Blum da sagt, würden viele Politikverdrossene unterstreichen, nachplappern, abnicken. Blum ist ehemaliger Präsident des Instituts für Wirtschaftsforschung Halle und Professor für Wirtschaftspolitik an der Universität Halle-Wittenberg. Er weiß also, wovon er spricht. Und das erbost ihn umso mehr, denn keiner in der etablierten Politik will auf ihn hören. Darum zählt Blum nun zu den Mitbegründern der Partei „Alternative für Deutschland“. Bereits im September will die neue Partei an der Bundestagswahl teilnehmen. Ein anderer Kopf dieser Protestbewegung ist Bernd Lucke. Der Ökonomieprofessor der Universität Hamburg war 33 Jahre lang Mitglied der CDU, bevor er 2011 austrat. Aus Protest gegen die Eurorettungspolitik. Er gründete vor einem halben Jahr die Bürgerbewegung „Wahlalternative 2013“, diese soll nun Partei werden. Wie genau, scheint auch innerhalb der Bewegung unklar. Ebenso wie der Weg zu den noch recht überschaubaren Zielen. Die Bürgerbewegung „Wahlalternative 2013“ präsentiert auf ihrer Homepage eine Liste prominenter Unterstützer, viele von ihnen sind Wirtschaftsprofessoren, denen die aktuelle Euro-Rettungspolitik nicht zusagt. Die zentrale Forderung der neuen Partei lautet, das einheitliche Euro-Währungsgebiet aufzugeben. Stattdessen sollen kleinere Währungsverbünde organisiert oder die nationalen Währungen wiedereingeführt werden. Blum vertritt die Meinung, „dass der Währungsverbund, den wir faktisch über Jahrzehnte mit den Holländern und den Österreichern hatten, völlig unproblematisch ist“. In diesen könnten sogar skandinavische Länder und Polen eintreten. Willkommen im Zwei-Klassen-System! Konsens ist das unter den Parteigründern nicht. Man sollte eingestehen, dass das Experiment einer gemeinsamen Währung gescheitert ist, warnt Lucke. Ob er sich für die Rückkehr zu nationalen Währungen oder kleineren Währungsverbünden einsetzen wird, wollte er im Gespräch mit Cicero Online nicht verraten. Andernorts hatte er sich deutlicher geäußert: „Mindestens ein Drittel der Deutschen wünscht sich die D-Mark zurück“, sagte Lucke gegenüber den deutschen Wirtschaftsnachrichten. „Da muss es in einer Demokratie eine Partei geben, die sich dieses Wunsches annimmt.“ Gesetzt den Fall, die zukünftigen Parteimitglieder einigen sich auf eine Richtung, bleibt der Kampf um Wählerstimmen eine große Herausforderung. Die Eurokrise ist aus den Schlagzeilen wieder weitgehend verschwunden. Als das Gespenst Eurokrise vor zwei Jahren in Europa umging, verbreitete es Angst und Schrecken. Mittlerweile jedoch treiben die Deutschen neue Aufreger-Themen um: die Homo-Ehe, steigende Mietpreise, die Kosten der Energiewende, kurzum die politische Herstellung von Gerechtigkeit innerhalb Deutschlands. Diese Themen zu besetzen sind die roten wie die schwarzen, die grünen wie die gelben Stimmenfänger bemüht. Die Alternative für Deutschland hat sich zu diesen Themen hingegen noch nicht geäußert. „Wir werden ein Programm haben, das deutlich breiter aufgestellt ist, aber es wird kein Vollsortiment sein“, bestätigt Lucke. Auf dem Gründungsparteitag, der für den 14. April angesetzt ist, soll die Öffentlichkeit mehr erfahren. Aber die Ablehnung der Euro-Rettungspolitik soll im Mittelpunkt ihres Wahlkampfes stehen. Lucke ist überzeugt, dass seine Partei auf das richtige Thema setzt, die Zahl der Unterstützer wachse rasant. Vor allem bei Mittelständlern stößt die neue Partei auf große Resonanz. „Familienunternehmer machen sich viel mehr als große Aktiengesellschaften Gedanken darüber, wie sich die aktuelle Entwicklung in zehn, zwanzig Jahren auswirken wird“, sagt Lucke. Sie sorgten sich, was das für den Standort Deutschland in Bezug auf Steuerbelastung und Inflation bedeute. Seite 2: Die Alternative steht vor großen Herausforderungen Diese Sorgen in der Politik zu repräsentieren, ist das erklärte Ziel der Alternative für Deutschland. Für die Bürger seien die negativen Auswirkungen der Euro-Krise längst sichtbar, sagt Blum. Die Niedrigzinspolitik frisst die Zugewinnraten auch bei den lange Zeit als krisenfest gehandelten Lebensversicherungen auf, so der Wirtschaftsprofessor aus Halle. Er komme sich vor, wie in den großen Dramen, in denen einige Leute nicht mehr sehen, wie die Realität sein wird. Das klingt wie der Ruf nach einem heldenhaften Ritter, der ausreitet, um die verstummten Bürger aus dem Joch des Euro zu befreien. Doch es scheint, als sähen die Initiatoren der neuen Partei vor lauter ökonomischer Bäume den politischen Wald nicht mehr. Sie mögen Experten in ihrem Fachbereich sein, als Wissenschaftler, Unternehmer oder besorgte Bildungsbürger. Politiker sind sie nicht. Die Krise der Währungsunion müsse die Stunde des Parlaments sein, fordert Ulrich Blum und negiert damit die Realität des politischen Systems. Ein Blick in die Geschichte der Euro-Rettung zeigt, dass richtungsweisende Entscheidungen nie durch eine Debatte des Plenums getroffen wurden, sondern im kleinen Kreis, unter Ausschluss der Öffentlichkeit, von Vertretern der Exekutive sowie Experten in Berlin und Brüssel. Man mag das als postdemokratisch bezeichnen, als intransparent oder bürgerfern. Aber jeder gewählte Repräsentant des Volkes ist auf ein Politikfeld spezialisiert und wird über die Entscheidungen außerhalb des deutschen Parlaments nicht erst unterrichtet, wenn Merkel sie ihm zur Abstimmung vorlegt. Das öffentliche Bild vom leeren Plenarsaal und den Abgeordneten als Abnickern bildet in keiner Weise den politischen Entscheidungsprozess ab. Die Gründung einer Partei, die sich genau diesen öffentlichen Willensbildungsprozess aus dem Parlament heraus auf die Fahnen schreibt, ist dennoch folgerichtig. Politik lässt, egal wie klein die Handlungsspielräume sind, immer unterschiedliche Herangehensweisen zu. Die Christdemokraten unter Merkel profilieren sich auf internationaler Bühne aber lieber als Euro-Retter, konservative Positionen lassen sie verwaisen. In diese politische Vertretungslücke möchte die Alternative für Deutschland vordringen. Blum bezeichnet das als „Akt demokratischen Selbstverständnisses“. Das Ziel muss sein, die Wähler zu gewinnen, die von den etablierten Parteien nicht mehr erreicht werden können oder wollen. Zum einen, weil die Euro-Skeptiker, oder wie Blum sagt „die Ordnungsökonomen, in den Parteien eliminiert werden“, zum anderen, weil „das postdemokratische Konsensmodell keine Diskussion mehr zulässt“. Für ihr Vorhaben bleibt den Parteigründern ein gutes halbes Jahr. Die Teilnahme an der Bundestagswahl im September wurde bereits beim Bundeswahlleiter angezeigt. Nun gilt es, die Menschen zu überzeugen, auf sich aufmerksam zu machen und zu verdeutlichen, wo der Unterschied zu den anderen Protestparteien liegt: zu den Piraten oder den Freien Wählern. Vor allem Letztere sprechen ähnliche Wählerschichten an, wenngleich die Forderungen der Freien Wähler moderater sind. Die Freien Wähler glauben, dass eine Reform der Währungsunion den Euro erhalten kann, die Anhänger der Wahlalternative halten eine Rettung für ausgeschlossen. Der informierte Wähler wird diesen Unterschied zur Kenntnis nehmen und sein Kreuz entsprechend setzen. Mit den Piraten wird die neue Partei programmatisch vermutlich wenig verbinden. Dennoch konkurrieren alle drei Parteien um die Stimmen von Protestwählern. Bevor die Partei sich aber um den Stimmenfang kümmert, sollte sie sicherstellen, dass der Bundeswahlausschuss sie überhaupt als Partei anerkennt. Einige Kriterien sind eine solide Anzahl an Mitgliedern, eine Satzung, ein Parteiprogramm sowie die erfolgreiche Einrichtung von 16 Landesverbänden und Kandidatenlisten. Den Gründern der Alternative für Deutschland bleiben drei Monate, um auf diese Weise dem Bundeswahlleiter und dem Wähler die Ernsthaftigkeit ihres Vorhaben zu beweisen. Die Zeit wird knapp.
|
Lisa Schneider
|
Die CDU bekommt neue Konkurrenz von rechts. Dieser Tage wird eine weitere Partei geboren, um gegen die Politik der Etablierten zu demonstrieren. Die „Alternative für Deutschland“ erklärt das Experiment Euro für gescheitert und erhält dafür Unterstützung vor allem von Wirtschaftsexperten und mittelständischen Unternehmern. Nur, die Initiative kommt wohl zu spät
|
[] |
innenpolitik
|
2013-03-08T16:01:47+0100
|
2013-03-08T16:01:47+0100
|
https://www.cicero.de//innenpolitik/alternative-fuer-deutschland-euro-kritiker-fordern-merkel-heraus/53787
|
Buch über die „Schleimerstadt“ Washington - Wie Barack Obama vor den Lobbyisten kapituliert
|
Barack Obama trat als Präsidentschafts-Kandidat mit dem Versprechen an, dass Lobbyisten „mein Weißes Haus nicht leiten werden.“ Immer und immer wieder kündigte er an, „die Drehtür zu schließen, die Lobbyisten ungehindert an die Regierung lässt.“ Eine forcierte Anti-Lobby-Politik gehörte zur DNA von Obamas Profil. Eine Yes-we-can- Kernposition. Zumindest im Wahlkampf und in der ersten Amtsperiode. Wie rasch diese „Keine-Lobbyisten-Regel“ unter der unsichtbaren Hand der Lobby zerbröselte, beschreibt Mark Leibovich in seinem Buch „This Town“ mit pathologischer Genauigkeit. An Dutzenden Beispielen belegt der Hauptstadt-Insider, wie die proklamierte Distanz zu Lobbyisten sich auch unter Obama in das genaue Gegenteil wandelte. Allein dieser Bruch zwischen Anspruch und Realität drückt die Macht der milliardenschweren Lobby aus. Der Chef-Innenkorrespondent des New York Times Magazine konzentriert sich auf die schmutzige Seite des von ihm verhassten „Politzirkus Washington“. Die Fülle des empirischen Materials, genaue Beobachtungen der politischen Klasse und die intime Kenntnis der „Schakale“ (Journalisten) verdichtet Leibovich zu einem Sittengemälde, in dem autonomes Regierungshandeln allenfalls noch in Konturen zu erkennen ist. Der US-Journalist hat ein Lehrbuch zum langsamen Verschwinden der Politik vorgelegt. Nicht mehr die gewählten Repräsentanten geben den Ton an, sondern eine ruchlos agierende Lobbyindustrie im Verbund mit einem rücksichtslos-selbstbezogenen Medienkartell. In der „Schleimerstadt“ Washington „monetarisieren“ Staatsangestellte systemisch ihre Kontakte für die Lobby, machen hysterisch aufgeladene (Online)-Medien Politik und verkümmern Politiker zu „Sklaven“ egomanischer Spin Doctoren, heißt es da. Das klingt auf den ersten Blick martialisch, wird vom Autor aber auf 428 Seiten dicht belegt. Die Lobby-Industrie setzt in den USA für die Durchsetzung ihrer Ziele Milliarden ein. Personalwechsel werden mit astronomischen Gagen vergoldet. Vor allem Online-Dienste wie politico oder die Flut von Politik-Talkshows sind die Treiber einer hysterisierten, völlig aus dem Ruder gelaufenen politischen Kommunikation. Ein extrem personalisierter medialer Dauer-Alarm – ein Cocktail aus Intrigen, Indiskretionen und Attacken- ist der Soundtrack des politischen Prozesses in der US-Hauptstadt. „Medien bedeuten sofortige Befriedigung. Dort findet das eigentliche Leben der meisten Politiker statt, in der Wahrnehmung und Beurteilung durch andere, im stündlichen Zustandsbericht ihrer massiv von außen bestimmten Definition“, schreibt Leibovich. Er schildert die Gefahren des in den Lobbyismus „eingebetteten Journalismus“. Der routinierte Wechsel auch von Journalisten in den Lobbyismus und wieder zurück in Spitzenpositionen der Politik bestimmt den Washingtoner Alltag. Im Politzirkus sind Journalisten („stinkefaul“ und abhängig von externen Zulieferungen) höchstens noch abgehalfterte one-trick-ponys, die die Skandalrunden im Politzirkus drehen. Diese verkommene politische Kultur ist eingewoben in ein schier endloses celebrity-Business, in dem sich Politiker, Lobbyisten und Medienvertreter ständig begegnen, belagern und befruchten. Der US-Korrespondent hat sich für sein Buch, für das er auch den Alternativ-Titel „The Club“ vorgesehen hatte, in die offenbar permanente Polit-Party Washingtons gemischt. Heuchelei, Grabenkämpfe, Intrigen und Käuflichkeit sind die Narrative, die den Politzirkus am Laufen halten. Merkwürdig nur, dass Leibovichs krasse Analyse sich nur sehr selten in der etablierten US-Berichterstattung in deutschen Medien wiederfindet. Leibovich liefert mehr Substanz zum realen Amerika als viele Lehrbücher zusammen. „Keine Einzelentwicklung hat die Funktionsweise der amerikanischen Demokratie im letzten Jahrhundert so stark verändert wie die Politikberatung“, wird Jill Lepore mit seinem Text „Der Lügenfaktor“ zitiert. (The New Yorker, 24.9.2012) Diese Erkenntnis gilt natürlich auch für die europäischen Staaten wie für das „Raumschiff Brüssel“. Nur: im medialen und politikwissenschaftlichen Diskurs wird der Befund noch verdrängt. Die Welt, die Tom Wolfe in seinen Romanen entfaltet, oder den abgrundtiefen Zynismus des politischen Betriebs, den die Serie „House of Cards“ dokumentiert, deckt sich mit Leibovichs Befund einer gekauften Politik. Mit einem (wesentlichen) Unterschied: Der US-Korrespondent liefert die puren Fakten, die angreifbaren Details, die harten Stories. Romane und Filme hatten sich mit den Stilmitteln der Fiktion gearbeitet. Es kursiert ja häufig die These, dass die US-Entwicklungen in Politik und Gesellschaft eine Art Vorbote für europäische Länder seien. Leibovich geht mit seiner Analyse weit über die modischen Debatten der „Postdemokratie“ hinaus; selbst die wenigen fiktiv hochgetunten Betrachtungen des politischen Betriebs können mit seinen entlarvenden Fakten nicht mithalten. Gemessen an den Abgründen, an die Leibovich seine Leser führt, sind die Zustände in Berlin scheinbar intakt, fast perfekt. Aber ein vergleichbares Buch über die Anatomie der „Berliner Republik“ liegt ja (noch) nicht vor. [[{"fid":"64199","view_mode":"copyright","type":"media","attributes":{"height":420,"width":288,"style":"float: left; height: 204px; width: 140px; margin: 3px 5px;","class":"media-element file-copyright"}}]] Mark Leibovich: Politzirkus Washington. Wer regiert eigentlich die Welt? Stuttgart, 2014 (sagas.edition), 428 Seiten, Quelle: www.swr.de/leiftrifft - Die stille Macht im Land, SWR, 3.12.2014, 20.15 bis 21.00 Uhr
|
Thomas Leif
|
Eigentlich wollte Obama den Lobbyismus bekämpfen. Stattdessen gewinnen Strippenzieher immer mehr Einfluss auf die US-Politik und die Medien, kritisiert Mark Leibovich in „Politzirkus Washington“: Es ist das politische Buch des Jahres
|
[] |
außenpolitik
|
2014-12-02T11:09:52+0100
|
2014-12-02T11:09:52+0100
|
https://www.cicero.de//aussenpolitik/mark-leibovichs-politikzirkus-washington-die-hauptstadt-der-lobbyisten/58564
|
Andrej Hermlin im Gespräch mit Clemens Traub - Cicero Podcast Politik: „Vieles erinnert mich an die Spätphase der DDR“
|
Andrej Hermlin ist ein Pianist und Swing-Musiker aus Berlin. Sein Vater, der bekannte DDR-Schriftsteller Stephan Hermlin, stammte aus einer jüdischen Familie und konnte seiner Deportation 1942 in Frankreich nur knapp entkommen. Ein Glück, das seinem Großvater verwehrt blieb: David Leder wurde am 9. November 1938 in das Konzentrationslager Sachsenhausen verbracht. Er war nach sechs Wochen wieder frei und verließ Deutschland im Sommer 1939. Über drei Jahrzehnte, seit den frühen 1990er Jahren, war Hermlin Mitglied der Linkspartei. Im Cicero Podcast Politik spricht der 59-Jährige über die Israelfeindlichkeit seiner ehemaligen Partei, die ihn zu seinem Austritt bewogen hat. Auch blickt Hermlin auf seine Kindheit zurück: Wie war es, als Mitglied der Kulturelite in der DDR aufzuwachsen? Wie erlebte er die Autoren Stefan Heym und Christa Wolf, die enge Freunde seines Vaters waren? Resigniert blickt der zweifache Famlienvater auf den politischen Zustand des Landes. Auf die Arroganz der politischen Klasse, die ihn zunehmend an die Spätjahre der DDR erinnert. „Meine Frau stammt aus Kenia, wir haben dort ein Haus in einem Dorf an den Hängen des Mount Kenya. Für mich und meine Familie ist das der Plan B“, sagt Hermlin. Das Gespräch wurde am 16. Mai 2025 aufgezeichnet. Sie können den Podcast jetzt hier – klicken Sie dazu „Inhalte aktivieren“ – hören, oder auch auf allen Podcast-Portalen. Sie sind interessiert an weiteren Themen und noch kein Abonnent von Cicero Plus? Testen Sie uns, gratis für 30 Tage. Mehr Podcast-Episoden:
|
Clemens Traub
|
Der Swing-Musiker Andrej Hermlin spricht über die Israelfeindlichkeit in der Linkspartei, seine Familiengeschichte und darüber, warum ihn die Arroganz der politischen Klasse an die letzten Jahre der DDR erinnert.
|
[
"Podcast",
"Die Linke",
"Antisemitismus",
"DDR"
] |
2025-05-20T09:52:00+0200
|
2025-05-20T09:52:00+0200
|
https://www.cicero.de//innenpolitik/andrej-hermlin-im-gesprach-antisemitismus-linke-ddr-arroganz-politische-klasse
|
|
EU-Finanzgipfel in Brüssel - Rutte treibt, Merkel schweigt
|
Eigentlich sollte sich alles um Angela Merkel drehen. Die Kanzlerin, die seit dem 1. Juli den Ratsvorsitz der EU führt, wollte beim schon vorab als historisch titulierten Finanzgipfel in Brüssel eine Vermittlerrolle einnehmen. Mit der geballten Erfahrung von 14 Jahren Kanzlerschaft, so die Erwartung, würde Merkel eine schnelle Einigung auf das umstrittene Finanzpaket von fast 2 Billionen Euro sichern und einen Weg aus der Coronakrise weisen. Doch es ist anders gekommen, völlig anders. Schon beim Start in das erste Brüsseler Spitzentreffen seit dem Beginn der Corona-Pandemie am Freitagmorgen gab sich Merkel alles andere als siegesgewiß. „Ich erwarte sehr sehr schwere Verhandlungen“, sagte sie. Die Unterschiede seien noch sehr groß. „Wir müssen hart arbeiten“, forderte die Kanzlerin. Doch danach hörte und sah man wenig von der selbst ernannten „ehrlichen Maklerin“. In den Vordergrund drängte sich ein ganz anderer: Mark Rutte, der selbstbewußte rechtsliberale Regierungschef aus Den Haag, den Merkel seit dem dem Austritt Großbritanniens zu ihren engsten EU-Partnern zählt. Mit einem knallharten Powerplay trieben Rutte und seine Freunde von den „Frugal Four“ (Niederlande plus Österreich, Dänemark und Schweden) den Gastgeber Charles Michel und die Kanzlerin vor sich her. Dabei war Ratspräsident Charles Michel aus Belgien schon vor dem Treffen, das nun noch bis Sonntag oder Montag dauern könnte, auf die „Frugals“ zugegangen. Der liberale Belgier hatte den Entwurf für das EU-Budget gekürzt und eine Verlängerung der von Großbritannien geerbten Beitragsrabatte in Aussicht gestellt. Die Niederlande, aber auch Deutschland müssten damit weniger für den „Wiederaufbau“ nach Corona zahlen, Italien oder Frankreich dagegen mehr. Doch das reichte Rutte nicht. Er forderte gleich zu Beginn des Gipfels am Freitag ein Vetorecht gegen Finanzhilfen aus dem geplanten, 750 Milliarden Euro schweren Wiederaufbau-Fonds. Krisenländer wie Italien müssten nicht nur Reformpläne vorlegen, sondern diese auch implementieren, so Rutte. Wenn es daran Zweifel gebe, müsse seine Regierung ein Veto einlegen dürfen. Das führte zum Eklat. Rutte solle aufhören, sich wie „die Polizei von Europa“ aufzuführen, schimpfte Bulgariens Regierungschef Boiko Borissow. Die Stimmung war auf dem Tiefpunkt, Michel brach den Gipfel nach dem Abendessen ab. Doch es war nur der erste Akt, wie sich am Samstagmorgen zeigen sollte. Wiederum stand Rutte im Mittelpunkt, wiederum war von Merkels Vermittlung wenig zu sehen. Stattdessen machte Michel einen weiteren Schritt auf die „Frugals“ zu. Nach mehreren Beratungen im kleinen Kreis legte er einen Kompromiss vor, der eine Kürzung bei den Zuschüssen für Corona-Krisenländer vorsieht. Statt der ursprünglich geplanten 500 Milliarden Euro sollen es nur noch 450 Milliarden sein; demgegenüber könnten die Kredite von bisher 250 auf 300 Milliarden ansteigen. Doch Italien und andere Krisenländer wollen keine rückzahlbaren Kredite – sie brauchen dringend Zuschüsse, um die Lage zu meistern. Zudem sträuben sie sich gegen ein allzu strenges Reform-Korsett, wie es Rutte offenbar vorschwebt. Eigens für den Niederländer hat Michel nun auch noch eine Art „Super-Notbremse" vorgeschlagen, mithilfe derer Hilfsgelder gestoppt werden könnten. Der Gipfel bewegt sich also immer weiter auf Rutte und die „Frugal Four“ zu – und immer weiter weg vom Gedanken der bedingungslosen europäischen Solidarität. Dazu tragen auch die Osteuropäer von der Visegrád-Gruppe bei. Sie sträuben sich nicht nur – wie erwartet – gegen eine Rechtsstaats-Klausel, die zu empfindlichen Kürzungen bei EU-Hilfen für Polen oder Ungarn führen könnte. Nein, sie machen auch gegen den Klimaschutz und die Beitragsrabatte mobil. Warum, so fragen sie, sollen nur die Niederlande, Österreich oder Deutschland einen Nachlass erhalten (den Michel sogar noch erhöhen will)? Und wieso sollen ausgerechnet die Strukturfonds gekürzt werden, von denen Osteuropa bisher besonders profitierte? Auch die Visegrád-Gruppe belässt es nicht bei Fragen, auch sie spielt mit harten Bandagen. So drohte Ungarns Regierungschef Viktor Orban schon vor Beginn des Spitzentreffens mit einem Veto gegen den gesamten Finanzplan, falls die Auszahlung von EU-Geldern an den Rechtsstaat gebunden werden sollte. Zudem fordert er ein Ende des laufenden Rechtsstaats-Verfahrens gegen Ungarn. Damit ist Orban auch auf Konfrontationskurs zu Rutte gegangen. Denn der niederländische Premier will auf keinen Fall auf eine Rechtsstaats-Klausel verzichten. Auf dem Gipfel stehen deshalb nun nicht mehr nur die Nordeuropäer gegen die Südländer, sondern auch noch der Westen gegen den Osten. Es ist das Worst-Case-Szenario, das Merkel eigentlich vermeiden wollte. Es könnte den Gipfel zum Scheitern führen – aber auch in eine neue Verlängerung voller schmerzhafter, schwer vermittelbarer Kompromisse. Fest steht nur eins: In den ersten beiden Gipfeltagen sind die EU-Chefs ihrem eigenen Anspruch nicht gerecht geworden. Sie wollten sich und ihre Länder als solidarische Union präsentieren – und haben nur noch mehr Kapital zerschlagen. Rutte kommt dabei eine ganz besondere Verantwortung zu. Aber auch Merkel muss sich fragen lassen, warum sie sich und die EU so treiben ließ. Konnte sie nicht mehr tun, nachdem sie im Mai eine 180-Grad-Wende zugunsten von EU-Schulden hingelegt hatte? Oder wollte sie nicht – um den deutschen EU-Rabatt zu sichern? Die nächsten Stunden und Tage werden es weisen.
|
Eric Bonse
|
Beim EU-Finanzgipfel in Brüssel geben die „Frugal Four“ den Ton an. Der niederländische Premier Mark Rutte treibt sogar Kanzlerin Merkel vor sich her – oder gibt es ein stillschweigendes Einvernehmen?
|
[
"EU",
"EU-Gipfel",
"Brüssel",
"Mark Rutte",
"Angela Merkel",
"Kredite",
"Corona",
"Coronakrise",
"Soforthilfe"
] |
wirtschaft
|
2020-07-18T19:39:22+0200
|
2020-07-18T19:39:22+0200
|
https://www.cicero.de//wirtschaft/eu-finanzgipfel-bruessel-mark-rutte-angela-merkel-kredite-corona-hilfen
|
SPD-Forderung - Warum eine Bürgerversicherung unsolidarisch ist
|
Alle Jahre wieder kommt der Preisschock. Stets im Dezember verschicken die privaten Krankenversicherer die neuen Beitragsbescheide. Darin wird mit vielen Worten erläutert, warum der monatliche Obolus nun leider erneut drastisch erhöht werden muss. Zehn und mehr Prozent waren in den vergangenen Jahren eher die Regel als die Ausnahme. Je älter der Kunde, desto teurer. Die Hälfte der durchschnittlichen Standardrente von rund 1200 Euro kommt da schnell zusammen. Im Monat. Plus Zuzahlungen. Doch bevor nun das Mitleid mit den privatversicherten Senioren ausbricht, sei daran erinnert: Die hohen Beiträge im Alter sind die späte Rechnung für die günstigen Tarife, mit denen gutverdienende Berufsanfänger in die Private Krankenversicherung (PKV) gelockt werden. Sie haben sich damals bewusst der Solidargemeinschaft der Gesetzlichen Versicherten (GKV) entzogen – und zahlen jetzt den Preis dafür. Gerade diese Gruppe würde von einer Bürgerversicherung am stärksten profitieren – und damit den Anspruch einer allgemeinen Solidarversicherung, wie ihn die SPD anpreist, auf den Kopf stellen. Nicht ohne Grund ist es für über 55-Jährige nur noch in ganz wenigen Ausnahmen möglich, von der Privatkasse in die gesetzliche zu wechseln. Denn mit dem Alter steigen die Ausgaben. Und an diesen teuren Neu-Kunden haben weder AOK noch Barmer oder Techniker Krankenkasse ein Interesse. Zu Recht: Ihr Geschäftsmodell beruht tatsächlich auf solidarischer Kostenverteilung. Die Jungen zahlen für die Alten, die Gesunden für die Kranken, die Gutverdienenden für die Mittellosen. Jeder bekommt, was gerade als medizinisch notwendig erachtet wird – unabhängig von der Einzahlung. Wer den Höchstbeitrag von derzeit 646,06 Euro (die Hälfte finanziert der Arbeitgeber, jedoch nicht den Zuschlag von etwa einem Prozent) in die Gemeinschaftskasse einzahlt, wird nicht besser behandelt als der Hartz-IV-Empfänger, der die gesamte Leistungspalette umsonst bekommt. Die SPD will die Höchstbeiträge sogar noch anheben, was die Umverteilung von oben nach unten weiter verschärft. Die Privatkassen legen hingegen individuelle Risikogruppen fest. So wird der Topf der relativ vitalen Berufseinsteiger nach einer bestimmten Frist geschlossen. Jedes Jahr werden die Kosten für diese Gruppe nach den tatsächlichen Ausgaben neu berechnet. Es steigt naturgemäß mit den Jahren. Denn die jungen Neumitglieder werden in einen frischen Topf gesteckt, um jeweils günstige Lockprämien anbieten zu können. So fehlt die Mischkalkulation. Oder positiv ausgedrückt: Die tatsächlichen Gesundheitsrisiken werden transparent gemacht. Altern wird teuer. Da im SPD-Konzept private und gesetzliche Kassen zunächst jedoch weiterhin nebeneinander bestehen sollen, die Genossen aber gleichzeitig die Wechselmöglichkeit erleichtern wollen, ist das Ergebnis an fünf Fingern abzuzählen: Die mit dem hohen Gesundheitsrisiko flüchten sich in AOK, Barmer & Co. Die mit dem geringen bleiben bei DKV, Allianz & Co. Von Solidarität also keine Spur. Im Gegenteil: Selbst Karl Lauterbach, der entschiedenste SPD-Verfechter einer Bürgerversicherung, hält Beitragserhöhungen für alle Kassenkunden für nicht unwahrscheinlich. Ob diese dafür allerdings einen Termin beim Facharzt oder bessere Leistungen bekommen, wie die SPD zum Ausgleich verspricht, ist eher fraglich. Denn ohne Privatpatienten verlieren die Ärzte jene Kunden, bei denen sie nach der Gebührenordnung für Ärzte jeden Handgriff mit deutlich höheren Pauschalen abrechnen können. (47 Prozent davon sind übrigens Beamte.) Das Geld fehlt für Investitionen in neue Geräte, die sie Privatpatienten aus Konkurrenzgründen anbieten müssen, von denen jedoch auch Kassenkunden profitieren, weil die Apparate auch ausgelastet werden wollen. So gesehen subventionieren die Privatversicherten die Sozialversicherten – und nicht umgekehrt. Der Verband der Privatkassen rechnet vor: „Ohne die 13 Milliarden Euro, die Privatversicherte in das System pumpen, müsste die gesetzlichen Kassen die Beiträge von 15,6 um einen Prozentpunkt erhöhen.“ Der renommierte Gesundheitsökonom Jürgen Wasem warnt daher: „Eine Bürgerversicherung würde das System vielleicht ein bisschen gerechter machen. Aber die Nebenwirkungen sind möglicherweise hoch.“ Zu besichtigen sind diese negativen Nebenwirkungen in Ländern wie Großbritannien oder Frankreich, in denen es seit jeher Einheitskassen gibt: Die Versorgungswege sind wegen der geringeren Arzt- und Hospitaldichte deutlich weiter und die Wartezimmer nicht leerer. Ohne teure Zusatzversicherung bekommt man in den meisten Staaten nur eine Minimalversorgung. Viele Mediziner behandeln nur gegen Bares. Dort gibt es tatsächlich eine Zwei-Klassen-Medizin. In Deutschland reicht hingegen die Versicherungskarte als Türöffner in eines der besten Gesundheitssysteme der Welt. Die Klagen über „lange Wartezeiten“ ließen sich zudem verringern, wenn der Zugang zu den Fachärzten auf die tatsächlich Bedürftigen beschränkt würde. Heute wird bei jeder Unpässlichkeit nach dem vermeintlichen Spezialisten verlangt – und eine Zweitmeinung am besten gleich dazu. Kein Wunder, dass die Deutschen mit durchschnittlich 17 Arztbesuchen pro Jahr am häufigsten zum Doktor laufen. Fraglich ist zudem, ob Privatversicherte tatsächlich stets eine bessere Behandlung erhalten. Weil an ihnen mehr zu verdienen ist, laufen sie auch Gefahr, übertherapiert zu werden. Oft werden ihnen überteuerte Medikamente verschrieben und überflüssige Leistungen angeboten, was auch ein Grund für die ständig steigenden Beiträge ist. Krankenhäuser lassen bei den Privaten selten eine (teure) Untersuchung aus, von denen jede separat abgerechnet werden darf. Dann ist der Patient nach der Entlassung schon froh, vom Pförtner nicht auch noch eine Honorarnote zu bekommen – zum 3,5-fachen Satz versteht sich. Aber vielleicht schiebt die SPD „mehr Gerechtigkeit“ nur vor, um an mehr Geld zu kommen: Bei den Privatkassen lagern Altersrückstellungen für 240 Milliarden Euro. Damit ließen sich die Leistungen für ihre 8,77 Millionen Mitglieder acht Jahre finanzieren, rechnet der PKV-Verband vor. Bei den 100 Gesetzlichen Krankenkassen reichen die Rücklagen gerade mal für ein paar Wochen.
|
Wolfgang Bok
|
Die Bürgerversicherung ist eine der zentralen Forderungen der SPD in den Sondierungsgesprächen und soll das Gesundheitswesen gerechter gestalten. Doch das Gegenteil ist der Fall: Die Einheitsversicherung ist weder solidarisch noch von Nutzen für die Kunden von AOK, Barmer & Co. Ideologie leert die Wartezimmer nicht
|
[
"SPD",
"privat",
"Krankenkasse"
] |
wirtschaft
|
2018-01-08T15:52:11+0100
|
2018-01-08T15:52:11+0100
|
https://www.cicero.de//wirtschaft/buergerversicherung-spd-groko-krankenversicherung-gesetzlich-privat
|
10 Jahre WASG - Die Rot-Rot-Grün-Verhinderer
|
Es war ein kleines Häufchen sozialdemokratischer Gewerkschafter, das sich am 5. März 2004 im Haus des DGB in Berlin traf. Sie träumten im schönsten Funktionärsdeutsch von einer „neuen politischen Formation“, schätzen ihr Wählerpotenzial auf zwanzig Prozent und wollten nicht weniger als die „weitere Rechtsentwicklung der SPD“ stoppen. Ihr Unmut über die Politik der rot-grünen Bundesregierung war groß, die Agenda 2010 war für sie Ausdruck eines „neoliberal geprägten Umbaus der Gesellschaft“. Genau zehn Jahre liegt die Gründung der Wahlalternative für soziale Gerechtigkeit (WASG) zurück. Die Öffentlichkeit nahm von dem Treffen und dem Aufruf zur Gründung einer Wahlalternative damals zunächst kaum Kenntnis. Die taz nannte die Initiatoren „Altmeister der Heiße-Luft-Produktion“, die FAZ prophezeite der Wahlalternative „wenig Chancen“. Das damalige SPD-Präsidiumsmitglied Andrea Nahles erklärte, Überlegungen zur Gründung einer neuen Partei seien „ziemlicher Unsinn“, sie glaube nicht daran, dass es dazu kommen werde. So kann man sich irren, der Rest der Geschichte ist bekannt. Innerhalb kürzester Zeit mischte die WASG die deutsche Politik auf. Sie spaltete die SPD, eine ganze Reihe mittlerer Gewerkschaftsfunktionäre lief zu der neuen Partei über, auch der ehemalige SPD-Vorsitzende Oskar Lafontaine schloss sich dieser an. Drei Jahre später fusionierte die WASG mit der PDS zur Partei „Die Linke“ und verschob so nachhaltig die Koordinaten im bundesdeutschen Parteiensystem. Zweifelsohne gehört die WASG, auch wenn sie nur ein recht kurzes Leben hatten, zu den sehr wenigen erfolgreichen Parteigründungen in der bundesdeutschen Geschichte. Die WASG hauchte erst der ostdeutschen Regionalpartei PDS, die 2002 aus dem Bundestag geflogen war, neues Leben ein und verschaffte anschließend der neuen Partei „Die Linke“ eine westdeutsche Basis. Doch auch wenn die WASG als Partei längst wieder Geschichte ist, dominiert ihr ideologischer Geist bis heute die Politik der Linken und verhindert eine rot-rote Annäherung. Die Partei hat es in den letzten sieben Jahren nicht geschafft, sich vom SPD-Hass der WASG-Gründer und von deren engem politischen Weltbild zu emanzipieren. Die Linke hat es nicht geschafft jenseits einer traditionellen Gewerkschaftsorientierung, der Ablehnung von Hartz IV und der Forderung nach einer 75-prozentigen Millionärssteuer ein modernes linkes politisches Projekt zu formulieren. Wie einst die WASG definiert sich die Linke stattdessen bis heute fast ausschließlich in Abgrenzung zur SPD. Die „weitere Rechtsentwicklung der SPD“ bleibt also auch zehn Jahre nach Gründung der Wahlalternative das Lebenselixier der Linken. So gesehen ist die Große Koalition für die Linke ein Glücksfall. Wenn sich die Gründer der WASG also in diesen Tagen zur Geburtstagsparty treffen und sich gegenseitig stolz auf die Schulter klopfen, dann sollte es sich eigentlich auch die CDU nicht nehmen lassen, ein Glückwunschtelegramm zu schicken. Denn dank WASG gewann die Union nicht nur die Bundestagswahl 2005, sondern sie gewann auch ihre 1998 verlorene hegemoniale Stellung im Parteiensystem zurück. Und auch wenn sich SPD und Linke derzeit intensiv darum bemühen, ihr Verhältnis zu normalisieren, sieht es nicht danach aus, als würde sich daran etwas ändern. Auf die Rot-Rot-Grün-Verhinderer, die vor zehn Jahren von der SPD erst zur WASG und dann zur Linken wechselten, wird Verlass sein.
|
Christoph Seils
|
Vor 10 Jahren wurde in Berlin die „Wahlalternative für Soziale Gerechtigkeit“ gegründet. Die WASG ist längst wieder Geschichte, aber ihr ideologischer Geist wirkt fort und verhindert die Annäherung von SPD und Linken
|
[] |
innenpolitik
|
2014-03-03T15:03:33+0100
|
2014-03-03T15:03:33+0100
|
https://www.cicero.de//innenpolitik/10-jahre-wasg-die-rot-rot-gruen-verhinderer/57147
|
Islam-Debatte - Kopftuch und Staatsdienst schließen sich aus
|
Rührende Geschichten sind gefährlich. Wo das Sentiment regiert, schweigt der Verstand. Insofern war die mediale Begleitmusik zum neuesten Kapitel in der endlosen Kopftuch-Saga minder erhellend. Da kämpfe eine – sympathische, hübsche und kluge – Muslimin um ihr kleines Stückchen Gleichberechtigung. Betül Ulusoy sehe im Kopftuch, das sie trage, ein „Zeichen des Fortschritts, der Schönheit sowie der weiblichen Selbstbestimmung und eines rücksichtsvollen gesellschaftlichen Miteinanders“. Das Bezirksamt in Berlin-Neukölln stand von vornherein auf verlorenem Posten. Warum soll eine solch gewinnende Persönlichkeit, Absolventin der Rechtswissenschaft obendrein, nicht ebendort ihr Referendariat beginnen dürfen? Subjektiv ist das alles nachzuvollziehen, subjektiv fühlt eine bestens ausgebildete deutsche Staatsbürgerin sich aufgrund ihres Glaubens zurückgesetzt, subjektiv gehören unsere Sympathien der beharrlichen Einzelkämpferin und nicht dem Amt. Objektiv ist die derart gefühlsheiter erzählte Geschichte dennoch unwahr – zumindest dann, wenn man das Bündel an Hintergrundannahmen berücksichtigt, die diesen individuellen Fall als weltanschauliche Machtfrage erscheinen lassen. Zur Debatte steht einmal mehr der Streitfall, ob das ostentative Bekenntnis zum Islam mit den Fundamenten einer freiheitlichen Zivilgesellschaft übereinstimmt. Das Karlsruher Bundesverfassungsgericht entschied sich im März für einen inhaltlich weitgehend entkernten Religions- wie Toleranzbegriff und stellte es in das Belieben der Schulen, ob sie muslimische Lehrerinnen mit Kopftuch das Lehren gestatten. Generelle Verbote, ohne Ansehen der Person und des Einzelfalls, dürfe es nicht geben. Seitdem muss die Frage als massiv unentschieden gelten, ob das Kopftuch die muslimische Frau in die nichtmuslimische Mehrheitsgesellschaft hinein integriert oder aus dieser heraus exkludiert. Für beide Lesarten fanden sich begabte Sprecherrollen. Der Neuköllner Streit verschärft die Lage. Rechtsprechung, Rechtspflege sind in noch stärkerem Maße als das Schul- und Bildungswesen nicht privatisierbar, sind hoheitliche Aufgaben in des Wortes maximaler Bedeutung. Wer mit einer muslimischen Lehrerin heterodoxer Prägung nicht einverstanden wäre, hätte – zumindest theoretisch – die Auswahl unter anderen Klassen, anderen Schulen. Einen alternativen Staat kann niemand sich wählen. Darum reichen subjektive Gründe hier nicht hin. Um es hart zu formulieren: Private Kompetenzen und Neigungen sind irrelevant, wenn das Grundgefüge der republikanischen Ordnung zur Disposition steht. Auf den ersten Blick hat das Bezirksamt Neukölln zur salomonischen Lösung gefunden. Betül Ulusoy darf ihr Referendariat antreten, ihr bleibt aber die „Ausübung hoheitlicher Befugnisse“ verwehrt, sie wird das Land nicht „sichtbar nach außen vertreten“. In Lehr- und Schreibstube, heißt das, ist das Kopftuch kein Problem, im Publikumsverkehr wäre es eines: ein fader Kompromiss, der das Problem verlagert und neuen Streit, neue Ansprüche, neue Klagen provozieren dürfte. Worin liegen die weiter unentschiedene objektive Dimension des Falls und die Rechtfertigung dafür, dass das offensive Bekenntnis zum Islam letztlich nicht mit der Ausübung staatlicher Rechtsakte vereinbar ist? Ulusoy zufolge belege die mit dem Kopftuch markierte Geschlechtertrennung im Islam „ein besonderes Feingefühl“. Sie begrüßt es, auf der Empore in der Moschee unter ihresgleichen zu beten und nicht im Parterre Seite an Seite mit schwitzenden Männern. So einfach ist es nicht. Mit dieser süffigen Begründung stellt sie sich außerhalb eines breiten Stroms islamischer Überlieferung. Der Islam teilt die Öffentlichkeit in einen männlichen und einen weiblichen Bereich nicht aus Courtoisie, sondern aus Gründen der Hierarchie, zur Zähmung des Mannes und „um die Sexualität als Faktor im öffentlichen Leben der Gemeinschaft auszuschalten“. Weiß der muslimische Historiker Tamin Ansary, der folgert: „Ich erkenne nicht, wie eine einheitliche Gesellschaft geschaffen werden kann, in der ein Teil der Menschen der Ansicht ist, die Welt sollte in einen männlichen und einen weiblichen Bereich aufgeteilt werden, und ein anderer meint, die beiden Geschlechter sollten sich in den gleichen gesellschaftlichen Bereichen bewegen.“ Das Kopftuch ist ein Bekenntnis zur Geschlechtertrennung und damit ein Statement wider die Gleichheit. Mehr noch: Wen der Staat mit der Wahrung der Rechtsordnung beauftragt, der muss deren Kern, die Menschenrechte, ohne jede Einschränkung bejahen, innerlich wie äußerlich. Es gibt aber keine einzige Möglichkeit, die Menschenrechte, wie der Westen sie begreift, islamisch herzuleiten. Saudi-Arabien ließ unlängst verlauten, die Peitschenhiebe für den islamkritischen Blogger Raif Badawi könnten keine Verstöße gegen die Menschenrechte sein, weil die Scharia die Menschenrechte achte. Unter islamischen Vorzeichen bildet die Scharia den Rahmen für jedes Rechtsverhältnis. Menschenrechte im Islam sind Rechte für Muslime unter der Maßgabe der Scharia. Man lese nur die „Allgemeine Erklärung der Menschenrechte im Islam“ von 1981 und die „Kairoer Erklärung der Menschenrechte im Islam“ von 1990. Damit ist nichts ausgesagt über die staatsbürgerliche Loyalität von Muslimen, nichts gesagt gegen Religions- und Berufs- und Meinungsfreiheit und erst recht nichts gegen das Recht, sich zu kleiden, wie es einem oder einer beliebt, zu Hause und auf der Straße, auf den Plätzen, jederzeit. Doch im Staatsdienst markiert das Kopftuch die sichtbare Grenze jener fundamentalen Loyalität, auf der der Staat bestehen muss, um frei und freiheitlich zu bleiben.
|
Alexander Kissler
|
Kisslers Konter: Eine Muslimin darf mit Kopftuch ihr Referendariat auf dem Bezirksamt Neukölln antreten, aber nicht nach außen tätig sein. Der fade Kompromiss wird die Debatte nicht beenden. Letztlich muss der Staat auf einer Loyalität bestehen, die das Kopftuch sichtbar in Zweifel zieht
|
[] |
innenpolitik
|
2015-06-09T17:09:20+0200
|
2015-06-09T17:09:20+0200
|
https://www.cicero.de//innenpolitik/islam-debatte-kopftuch-und-staatsdienst-schliessen-sich-aus/59378
|
Trump und der Aktienmarkt - Der Zauber ist verflogen
|
Jedem Anfang wohne ein Zauber inne, meinte Hermann Hesse. So war es auch im Verhältnis des US-Aktienmarkts mit dem frisch gewählten US-Präsidenten Trump. Nach einer fulminanten Rally in den Jahren 2023 und 2024 legte der „Benchmark“ Index S&P 500 nach Trumps Sieg am 6. November noch einmal zu. Die Amtseinführung des neuen Präsidenten am 20. Januar dieses Jahres brachte eine weitere Welle des Optimismus, so dass der Index am 19. Februar ein Allzeithoch erreichte. Doch von da an gings bergab. Was ist geschehen? Die Langzeit-Rally des US-Aktienmarkts hatte zwei Treiber: Die enorme Robustheit der US-Wirtschaft, verbunden mit einem beeindruckenden Anstieg der Produktivität, und die technologische Führerschaft von US-Unternehmen im Bereich der künstlichen Intelligenz. Als Sahnehäubchen kamen ab September 2024 Zinssenkungen der US-Notenbank Federal Reserve dazu. Einen ersten Kratzer bekam der „amerikanische Exzeptionalismus“ jedoch Ende Januar, als die Nachricht die Runde machte, dass das chinesische Unternehmen DeepSeek den US-Unternehmen mit einem kostengünstigeren „Large-Language-Model“ Konkurrenz machen könnte. Der zweite Kratzer kam von der Fed, die den Schwung aus den Zinssenkungen nahm. Die Inflation hatte sich als hartnäckiger erwiesen als die Notenbanker gedacht hatten. Doch den größten Blechschaden verursachte Donald Trump. Der Markt hatte sich von Trump den Abbau von Regulierungen und Steuersenkungen erhofft. Sein Gerede über Zölle nahmen Investoren nicht wörtlich. Vielleicht waren das ja nur Drohungen, um die Handelspartner der USA zur Öffnung ihrer Märkte, Mexiko zur Eindämmung illegaler Grenzübertritte und Kanada zur energischen Bekämpfung des grenzüberschreitenden Drogenhandels zu bringen. Immerhin hatten die Märkte während Trumps erster Amtszeit floriert. Doch statt einer gezielten Deregulierung und Steuersenkungen verursachte Elon Musk Chaos im öffentlichen Dienst, während Trump scheinbar wahllos mit Zollankündigungen und teilweiser Rücknahme dieser Ankündigungen um sich warf. Das sah nicht nach dem Beginn eines neuen „Gilded Age“ aus. Vielmehr ähnelten Trump und Musk Don Quijote und dessen Knappen Sancho Pansa - und die neue US-Politik dem Kampf des Ritters von der traurigen Gestalt gegen Windmühlen. Doch während Don Quijote ein liebenswerter Träumer ohne Einfluss war, ist Donald Quijote der „mächtigste Mann der Welt“. Die von ihm verbreite Unsicherheit hat nicht nur die Märkte, sondern auch die Wirtschaft erschreckt. Noch signalisieren die Konjunkturindikatoren keine unmittelbare Gefahr, aber die Stimmung der Verbraucher und Unternehmer ist im Sinkflug. Schlechte Stimmungen im Markt und in der Wirtschaft könnten sich aufschaukeln, und die Wirtschaft in die Rezession und den Markt in den Abschwung ziehen. Noch ist die Hoffnung nicht gestorben, dass die schlechte Reaktion des Marktes auf seine bisherigen Aktionen Trump zur Vernunft bringen könnte. Der „Trump-Put“ ist nicht gänzlich abgeschrieben. Doch je schwerhöriger sich Donald Quijote zeigt, je wilder Sancho Pansa Musk agiert, desto geringer die Aussicht auf „Reflexivität“ – die Rückkoppelung vom Markt zur Politik. Von den Leiden des US-Markts hat vor allem der deutsche Aktienmarkt profitiert. Seit letzten November ist der Aktienindex DAX (in US-Dollar umgerechnet) bis zum 14. März um beinahe 20 Prozent gestiegen, während der S&P 500 um ein Prozent gefallen ist. Die übrigen Märkte Europas und der „Emerging Markets“ konnten jedoch nicht im gleichen Umfang profitieren. Der STOXX 600 Index, der auch britische und Schweizer Unternehmen enthält, ist immerhin um acht Prozent gestiegen, der FTSE-Index für die Eurozone jedoch um sechs Prozent gefallen. Der MSCI-Index für die „Emerging Markets“ blieb unverändert. Der Anstieg des DAX ist auf den ersten Blick umso erstaunlicher, als die deutsche Wirtschaft mit drei Rezessionsjahren die rote Laterne unter den großen Industrieländern hält. Doch die im DAX enthaltenen Unternehmen hängen von der deutschen Wirtschaft nur in mäßigem Umfang ab. Sie erzielen rund drei Viertel ihrer Umsätze im Ausland und beschäftigen dort um die sechzig Prozent ihrer Mitarbeiter. Wer also meint, die Weltwirtschaft bleibe robust, aber befürchtet, Trumps irrlichternde Politik würde dem Wirtschaftsstandort der USA schaden, könnte im deutschen DAX eine Alternative zum amerikanischen Markt sehen. Mit Umschichtungen in den DAX lässt sich das US-Risiko also bis zu einem gewissen Grad diversifizieren. Angesichts der viel geringeren Marktkapitalisierung des DAX ist die Möglichkeit zur Diversifizierung allerdings begrenzt. Donald Trumps geopolitische Disruption hat in Deutschland und Europa einen Schock ausgelöst. Der designierte Kanzler Friedrich Merz hat das Wahlversprechen einer soliden Finanzpolitik einkassiert und verhandelt mit der SPD und den Grünen über die größte Schuldenaufnahme seit der Wiedervereinigung. Aktien europäischer Rüstungsunternehmen sind im Höhenflug. Inwieweit die deutsche Schuldenorgie jedoch den gesamten Aktienmarkt beeinflussen wird, hängt davon ab, in welchem Umfang der mit der Verschuldung verbundene Anstieg der Zinsen die kurzfristig positiven Effekte höherer Staatsausgaben auf das Wirtschaftswachstums neutralisieren wird. Außerdem ist unklar, inwieweit der beginnende Zollkrieg Trumps mit dem Rest der Welt die globalen Umsätze der deutschen Unternehmen bremst. Nicht zuletzt ist die Frage ungeklärt, ob eine Regierung Merz die Versprechungen des Wahlkämpfers Merz von Steuerreform und Deregulierung umsetzen wird. Friedrich Merz könnte sich als der größte „Umfaller“ in der Geschichte der deutschen Politik erweisen. Ohne grundlegende Reformen wird der geplante Fiskalimpuls in der Wirtschaft jedoch nur einen Zuckerrausch auslösen. Vor diesem Hintergrund erscheint eine nachhaltige „Outperformance“ des DAX gegenüber dem Welt- oder US-Aktienmarkt fraglich. Nach der Rückkehr von seiner Abenteuerreise erkrankt Don Quijote an einem Fieber. Auf dem Sterbebett erkennt er, dass er einer Wahnvorstellung gefolgt ist. Man kann nur hoffen, dass Donald Quijote zur gleichen Einsicht früher kommt. Vielleicht erschreckt ihn die Reaktion des US-Aktienmarkts doch noch. Vielleicht bekommt er schließlich Angst, dass bei den Mid-term-Wahlen im November 2026 die republikanische Mehrheit in beiden Häusern des Kongresses verloren geht, wenn er seinen Kampf gegen die Windmühlen weiterführt. Vielleicht muss aber alles erst noch viel schlechter werden, bevor es wieder besser werden kann. Immerhin gibt es einen kleinen Trost für die Aktionäre: Sinken die Bewertungen der Aktien heute, steigt die für die Zukunft erwartete Rendite.
|
Thomas Mayer
|
Nach dem Wahlsieg Donald Trumps legte der US-Aktienmarkt in der Hoffnung auf einen Abbau von Regulierungen und Steuersenkungen ordentlich zu. Doch die vom Trump-Kabinett fortan verbreite Unsicherheit hat jetzt nicht nur die Märkte, sondern auch die Wirtschaft erschreckt. Was ist da los?
|
[
"Aktien",
"Donald Trump",
"Börse",
"USA"
] |
wirtschaft
|
2025-03-13T17:02:34+0100
|
2025-03-13T17:02:34+0100
|
https://www.cicero.de//wirtschaft/trump-und-der-aktienmarkt-der-zauber-ist-verflogen
|
Corona-Impfgipfel - Gedämpfte Erwartungen bereits vor dem Treffen
|
Die Kritik an der ruckelnden deutschen Impfkampagne nimmt nicht ab. Bundeskanzlerin Angela Merkel will daher heute am Montag mit den Regierungschefs der Bundesländer, den Ministern ihres Kabinetts und Vertretern der Pharmabranche über die aktuelle Situation beraten. Das Treffen soll um 14 Uhr beginnen. Wie bei den bisherigen Ministerpäsidentenkonferenzen soll danach eine Pressekonferenz stattfinden, bei der die Ergebnisse der Beratungen öffentlich gemacht werden. Diese werden Sie dann auch hier bei Cicero im Livestream verfolgen können. Viele Verbände und Politiker forderten mehr Klarheit über konkrete Zeitpläne der Impfungen und mit wie vielen Präparaten in den kommenden Wochen und Monaten zu rechnen ist. In einem Brief an Kanzlerin Merkel plädierte etwa Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller für einen „nationalen Impfplan“. Einen Hoffnungsschimmer sieht die EU im Konflikt mit dem Hersteller AstraZeneca. Nach den Angaben der EU will das Unternehmen im ersten Quartal des Jahres doch mehr Präparate liefern als zuerst befürchtet. Die Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen teilte mit, dass mit neun Millionen mehr Dosen des Herstellers zu rechnen sei. Damit erwartet die EU insgesamt 40 Millionen Impfdosen von AstraZeneca im ersten Quartal. Dies entspricht allerdings trotzdem nur der Hälfte der ursprünglich anvisierten Menge. Gesundheitsminister Jens Spahn dämpfte bereits vor dem Gipfel übertriebene Erwartungen an diesen. Im Interview mit Bild sagte er, er erhoffe sich mit dem Gipfel ein besseres Bild über aktuelle Schwierigkeiten. Mehr Impfstoff würde man durch das Treffen jedoch auch nicht produzieren können. Ähnlich äußerte sich auch der Präsident des Verbandes forschender Arzneimittelhersteller. Eine Produktionsstätte für Impfstoffe sei eine hochkomplexe Fabrik, die man nicht schnell aufbauen könne. Spahn stellte sich gegen Forderungen, Impfstoff-Hersteller zur Vergabe von Lizenzen zu zwingen. Dies wäre nur nötig, wenn die jeweiligen Unternehmen nicht kooperationsbereit wären, was jedoch nicht der Fall sei. Sein Kabinettskollege und Wirtschaftsminister Peter Altmaier schloss hingegen staatliche Eingriffe in die Impfstoffproduktion nicht aus, wenn einzelne Firmen egoistisch handelten. dpa / arn
|
Cicero-Redaktion
|
Wegen anhaltender Kritik an der deutschen Impfkampagne will sich Kanzlerin Angela Merkel heute mit den Ministerpräsidenten der Bundesländer und Vertretern der Pharma-Industrie zum Impfgipfel treffen. Übergroße Erwartungen an den Gipfel wurden jedoch von vielen Seiten bereits gedämpft.
|
[
"Corona",
"Impfstoff",
"Jens Spahn",
"AstraZeneca"
] |
innenpolitik
|
2021-02-01T11:14:51+0100
|
2021-02-01T11:14:51+0100
|
https://www.cicero.de/innenpolitik/corona-impfgipfel-gedaempfte-erwartungen-treffen
|
Porträt Salman Schocken - Kultur aus dem Kaufhaus
|
Als am 15. Mai 1930 das Kaufhaus Schocken in Chemnitz feierlich eröffnet wurde, befanden sich im vierten Obergeschoss neben dem beliebten Erfrischungsraum Verkaufsstände, an denen außer Kunstgewerbe, Spielwaren, Sprechapparaten und Schallplatten, Radio und Zubehör, Foto und Optik auch „Bücher und Noten“ zum Kauf angepriesen wurden. Unter anderem wurden „Neuerscheinungen und Antiquariat“ angeboten. Neben jüdischer Literatur waren dies aber auch Bücher aus der lustigen Wilhelm-Busch-Sammlung, Bücher von Gustav Freytag, Hans Fallada, Märchenbücher und Jugendschriften. Bücher des Schocken Verlages konnten noch nicht erworben werden. Das war erst ein Jahr später möglich, da der Verlag erst am 1. Juli 1931 in Berlin gegründet wurde. Doch Kaufhaus wie Verlag wurden von ein und demselben Mann gegründet: Salman Schocken. Für die geistige und kulturelle Selbstbehauptung des deutschen Judentums während des Nationalsozialismus spielte der Großkaufmann eine zentrale Rolle. Vor seiner Verlagsgründung gab es bereits den Verlag der Schocken Kommandit-Gesellschaft auf Aktien in Zwickau, der neben betriebseigenen Mitteilungen auch eine weniger bekannte „Jugendschriften-Reihe“ herausgab. Die Reihe, die unter anderem Erzählungen für Kinder von acht bis zwölf Jahren umfasste, konnte mit Sicherheit dort erworben werden. Dieser Verlag, der nicht mit dem späteren Schocken Verlag zu verwechseln ist, erwarb darüber hinaus mit der Veröffentlichung zeitgenössischer Ansichtskarten bleibende Verdienste. Auf „Echte Photographien“, die unter anderem von den bekannten Fotografen Albert Renger-Patzsch und Arthur Köster stammten, wurde dabei oftmals zurückgegriffen. Salman Schocken hatte bis zur Verlagsgründung vor allem Verdienste als Kaufhausgründer erworben. Gemeinsam mit seinem älteren Bruder Simon hatte er innerhalb von zweieinhalb Jahrzehnten das fünftgrößte Warenhausimperium Deutschlands ins Leben gerufen. Salman Schocken wandte sich schon frühzeitig gegen „die elende Oberflächlichkeit der modernen Welt“. Auf der Zusammenkunft der Zionistischen Ortsgruppe in Chemnitz betonte er am 29. Dezember 1913 gegenüber den Zuhörern, dass bei „den Juden der Gegenwart […] noch manches Ungünstige“ hinzukäme. „Wurzellos oder wurzellocker“ stünde „der jüdische Mensch im Wind der äußeren Einflüsse. Geschäftige Berufsarbeit und äußerlicher Genuss [seien] die zwei Welten seines Daseins“. Er trat daher für „die innere Renaissance, die innere Wiedergeburt des jüdischen Menschen“ ein, die ohne eigene Kulturarbeit nicht möglich wäre. Die Zusammenkunft, über deren Ablauf kaum etwas überliefert ist, fand mit großer Wahrscheinlichkeit in den Räumen des rituellen Mittagstisches der Gastwirtin Sabine Nathan statt, der sich in der Friedrichstraße 17 befand. Chemnitz war damals der Sitz des Sächsischen Gruppenverbandes der Zionistischen Vereinigung in Deutschland. Salman Schocken kam nach Chemnitz, um als einstiger Delegierter des XI. Zionisten-Kongresses in Wien einen persönlichen Bericht über dessen Verlauf zu geben. Auf dem Kongress wurde u. a. die Gründung einer Hebräischen Universität in Jerusalem beschlossen. Schockens Rede, die als „Makkabäerrede“ in die Geschichte des Zionismus einging, wurde von der Zionistischen Ortsgruppe Chemnitz – vom Redner selbst finanziert – herausgegeben und somit den Mitgliedern des Sächsischen Gruppenverbandes zugänglich gemacht. In der Folgezeit wurde S. Schocken Jr., wie sich Salman Schocken damals nannte, einer der wichtigsten Führer des Kulturzionismus. Als solcher wurde das von Ascher Ginsberg (bekannter unter seinem Pseudonym Achad Ha´am) in der zionistischen Bewegung vertretene Streben nach einer grundlegenden Erneuerung der jüdischen Kultur als unabdingbare Voraussetzung für ein jüdisches Nationalbewusstsein bezeichnet. Daher lag es auf der Hand, dass sich Schocken als Vorsitzender des Kulturausschusses der Zionistischen Vereinigung für Deutschland für „die Wiedergeburt des jüdischen Gemeinschaftsgeistes“ einsetzte. Dennoch gelang es ihm in dieser Position noch nicht, einen eigenen Buchverlag zu gründen. Jedoch unterhielt er über einen längeren Zeitraum Kontakt zu dem Ende 1901 gegründeten Jüdischen Verlag mit Sitz in Berlin. So gab es in den Jahren 1919 und 1930 Pläne, einen gemeinsamen Verlag unter aktiver Beteiligung Salman Schockens zu gründen. Als „Literaturliebhaber und Büchernarr“, wie der Historiker Julius H. Schoeps Schocken bezeichnete, gab dieser sein Verlagsprojekt nicht auf. Was für ihn ein „gutes Buch“ bedeutete, wird aus der oben genannten Widmung deutlich. Diese war später auch Motto der jährlichen „Büchergabe“ für das Personal der Schocken KG auf Aktien geworden. Damit wollten Simon und Salman Schocken „jugendliche Mitarbeiter anregen, am Besitz von Büchern Freude zu finden und den Umgang mit ihnen zu einer dauernden Gewohnheit werden zu lassen“. Ende der 1920er-Jahre fand Salman Schocken in Lambert Schneider und Moritz Schneider zwei geeignete Mitstreiter, um endlich einen Buchverlag zu gründen. Er selbst sah sich nach dem unerwarteten Unfalltod seines Bruders Simon Schocken im Oktober 1929 gezwungen, sich wieder mehr um den Konzern zu kümmern, obwohl er mit Georg Manasse und Siegfried Moses zwei äußerst befähigte Direktoren an dessen Spitze hatte. In dem Verlag, der seinen Sitz im Berliner Zeitungsviertel (Jerusalemer Straße 65/66) hatte, erschienen fortan Bücher in deutscher und hebräischer Sprache. Daher gab es auch zwei Abteilungen. In der bekannten Druckerei Offizin Haag Drugulin AG in Leipzig wurde der größte Teil der hebräischen Drucke gesetzt und gedruckt. Die deutschsprachige Abteilung war für das jahrhundertealte Kulturgut des Judentums in mustergültigen Übersetzungen und Ausgaben vorgesehen. Das Kernstück dieser Abteilung war die deutsche Übersetzung der hebräischen Bibel von Martin Buber und Franz Rosenzweig. Darüber hinaus erschienen Werke unter anderem von Franz Kafka, dessen Rechte am Gesamtwerk sich der Verlag gesichert hatte, Martin Buber, Leo Baeck, Hermann Fechenbach, Max Liebermann und Gershom Scholem. Die hebräische Abteilung war vor allem für das Gesamtwerk des Dichters Samuel Josef Agnon und die Arbeiten des 1929 gegründeten „Forschungsinstitutes der hebräischen Dichtung“ vorgesehen. Ab dem Jahr 1934 wurden zudem die Publikationen der 1919 in Berlin gegründeten „Akademie für die Wissenschaft des Judentums“ veröffentlicht. Damit fand das wissenschaftliche Vermächtnis des Philosophen Hermann Cohen eine neue Heimat. Durch zwei fast schon legendäre Verlagsproduktionen erwarb der Schocken Verlag auf Dauer bleibende Verdienste: die Almanache und die Bücherei. Insgesamt erschienen zwischen 1933 und 1938 sechs Almanache, die unter anderem ein jeweils komplettes Verlagsverzeichnis und kurze Beiträge der Verlagsautoren enthielten. In der Art der seit 1912 erscheinenden Leipziger Insel-Bücherei wurden zwischen Frühjahr 1933 und Herbst 1938 in der Bücherei des Schocken Verlages insgesamt 83 Bändchen herausgegeben. So erschien im Jahr 1936 unter der laufenden Nummer 62 ein Büchlein von Martin Buber unter dem Titel „Zion als Ziel und Aufgabe (Gedanken aus 3 Jahrhunderten)“. In der von dem jüdischen Chemnitzer Verleger Berthold Horwitz herausgegebenen „Jüdischen Zeitung für Mittelsachsen“ wurde dieses Bändchen besprochen und besonders den Anhängern des Zionismus „wärmstens empfohlen“. Am 17. Dezember 1938 erhielt der Schocken Verlag ein Schreiben von den NS-Behörden, in welchem dieser angewiesen wurde, sich bis zum 31. Dezember 1938 selbst aufzulösen. Außer in der beliebten Bücherabteilung im Kaufhaus Schocken in Chemnitz konnten die noch in der Stadt lebenden Juden Bücher aus dem Schocken Verlag in der hiesigen Niederlassung des Jüdischen Buchvertriebes Ludwig Freund in Beuthen (Oberschlesien) erwerben. Margarete Krämer, dessen Tochter, hatte den Ausverkauf „jüdischer Bücher aller Art“ im Haus Gravelottestraße 14 übernommen, wohl auch hier zu „Schleuderpreisen“. Der Religionsphilosoph Ernst Simon, der seit 1928 in Palästina lebte und zu den Autoren des Schocken Verlages zählte, hatte sich ein Jahr vor der Zwangsauflösung – auf Bitten der Berliner „Jüdischen Rundschau“ – mit der Bedeutung des Verlages beschäftigt: „Im Laufe von fünf Jahren“, schrieb er, „hat der Schocken Verlag an die 200 Bände veröffentlicht und verbreitet. Der innere Umfang seiner Gesamtproduktion ist ein Spiegel beinahe allen jüdischen Seins und Denkens, mit zwei großen, freilich bezeichnenden Aus-nahmen: die Gebiete der Wirtschaft und Politik sind nur in Ansätzen vertreten […].“ Vor allem die handgerechten Bände der Bücherei des Schocken Verlages gingen mit auf Reise in die Städte, wohin die deutschen Juden seit 1933 vertrieben wurden. Heute befinden sich diese oftmals in den Antiquariaten in Jerusalem, Haifa, London, New York, Stockholm oder São Paulo. Die Gemeindebibliothek der Chemnitzer Juden, die vom Kantor Leopold Krämer betreut wurde, überstand die Wirren des Zweiten Weltkrieges nicht. Auch ein Bestandsverzeichnis ist nicht überliefert. In den heutigen Beständen der Stadtbibliothek befinden sich lediglich sechs Bücher aus dem Schocken Verlag. Ein weiteres Buch ist in der Universitätsbibliothek zu finden. Derweil veranschaulichen die Ansichtskarten des Verlages der Schocken KG (ab November 1933 AG) noch immer die beeindruckende Architektur eines Teiles der 19 Schocken-Kaufhäuser. Zu bewundern sind sie heute in einer Erkerausstellung im Staatlichen Museum für Archäologie Chemnitz (SMAC), welches sich seit 2014 im Gebäude des einst von Erich Mendelsohn gebauten Kaufhauses befindet. Geht man von dort in das dritte Obergeschoss des weiträumigen Gebäudes, so sieht man dort unter anderem auch die 83 Bände der noch immer faszinierenden Bücherei des Schocken Verlages. Dies ist ein Artikel aus dem Sonderheft „Chemnitz Capital“ von Cicero und Monopol.
|
Jürgen Nitsche
|
In Chemnitz erinnert man Salman Schocken vor allem als Warenhaus-Unternehmer. Dabei hat er 1931 auch einen für seine Zeit wichtigen Verlag gegründet. Bei Schocken wurden Kafka, Buber und Liebermann verlegt
|
[] |
2024-08-14T15:51:06+0200
|
2024-08-14T15:51:06+0200
|
https://www.cicero.de//geschichte-schocken-verlag-kultur-aus-dem-kaufhaus
|
|
Euro-Rettung – Wird Europa zur Transferunion?
|
„Griechenland ist anders.“ So lautet das Urteil von Daniel Gros, Direktor des Brüsseler Think Tank „Centre for European Policy Studies“. Wenn der Ökonom von der Andersartigkeit Griechenlands spricht, dann hat er andere Länder im Blick, die vor ähnlichen Schuldenproblemen standen oder immer noch hart am Abbau des Defizits arbeiten. Gros erzählt von Lettland, das mitten in der Finanzkrise vom Staatsbankrott bedroht war und vom Internationalen Währungsfonds (IWF) und den Europäern mit Milliardenkrediten gerettet wurde. Lettland sei jetzt in der Lage, die Kredite zurückzuzahlen. Und auch Irland, das am Ende des vergangenen Jahres ein Rettungspaket von 85 Milliarden Euro zugesagt bekam, werde „letztendlich die Schulden zurückbezahlen“, ist Gros überzeugt. Im Falle Griechenlands lägen die Dinge aber anders. „Die Griechen werden wahrscheinlich ihre Schulden nicht komplett zurückbezahlen“, glaubt Gros. Die Einschätzung des Experten befeuert die Debatte darüber, ob aus der Euro-Zone wegen der Schuldenkrise eine Transferunion wird – also ein System von Ausgleichszahlungen solider Staaten wie Deutschland an schwächelnde Länder wie Griechenland. Der Ökonom Gros ist sich angesichts der Abstimmung im Athener Parlament, die am Mittwoch den Weg für ein weiteres Hellas-Hilfspaket frei machte, in seiner Einschätzung bereits sicher. Das zweite Hilfspaket für Griechenland, das ein Volumen von bis zu 120 Milliarden Euro haben soll, sei doch bereits der Ausdruck einer Transferunion, sagt er. Seine Rechnung geht so: Wenn nach dem ersten Griechenland-Hilfspaket vom Mai des vergangenen Jahres mit einem Volumen von 110 Milliarden Euro nun noch ein zweites Hilfsprogramm hinzukommt, werden die Hellenen bis Ende 2014 bei öffentlichen Geldgebern wie dem deutschen Staat und anderen EU-Ländern mit über 200 Milliarden Euro in der Kreide stehen. Weil es Gros für unwahrscheinlich hält, dass Griechenland von diesem Schuldenberg wieder ganz herunterkommt, ist die Gewährung des neuen Hilfsprogramms nach seinen Worten „wohl das, was man eine Transferunion nennt“. Ein Ausgleich innerhalb der Euro-Zone zwischen starken und schwachen Staaten könnte auch anders zustande kommen – etwa durch die Einführung gemeinsamer europäischer Anleihen. Solche Euro-Bonds werden aber von der Bundesregierung abgelehnt, weil sie zu einer milliardenschweren Mehrbelastung der deutschen Steuerzahler führen würden. Dass Griechenland unter den Krisenstaaten der Euro-Zone eine Sonderstellung einnimmt, zeigt auch ein Blick auf Portugal, das im Mai als drittes Land in der Euro-Zone ein Hilfspaket in Höhe von 78 Milliarden Euro von den Europäern und dem IWF zugesagt bekam. In Lissabon hat die Regierung des neuen Ministerpräsidenten Pedro Passos Coelho am Dienstag ein ehrgeiziges Privatisierungsprogramm vorgelegt. So soll die Privatisierung der Bank BPN nach dem Willen von Coelhos Regierung bereits bis Ende Juli in die Wege geleitet werden. Krisenstaat ist also nicht gleich Krisenstaat. „Man muss sich sehr genau jedes Land einzeln anschauen“, sagte auch die neue IWF-Chefin Christine Lagarde am Mittwoch.
|
Wird aus der EU im Zuge der Schuldenkrise eine Transferunion, also ein System von Ausgleichzahlungen solider Staaten an schwächelnde Länder? Das zweite Hilfspaket für Griechenland sei bereits ein Ausdruck einer solchen Transferunion, ist sich der Ökonom Daniel Gros sicher.
|
[] |
außenpolitik
|
2011-06-30T09:09:22+0200
|
2011-06-30T09:09:22+0200
|
https://www.cicero.de//wird-europa-zur-transferunion/42243
|
|
Rede an die Nation – Welche Wahlkampfstrategie verfolgt Obama?
|
Der Präsident hat Glück mit dem Timing. Als er den Termin für
die Rede zur Lage der Nation wählte, konnte er nicht wissen, dass
Steuergerechtigkeit das Thema des Tages sein würde. Am Morgen hatte
der Republikaner Mitt Romney nach tagelangem Druck seine
Steuererklärung offengelegt. Er zahlt nur etwa 15 Prozent auf gut
20 Millionen Dollar jährliches Einkommen. Das ist legal, für
Einkünfte aus Kapitalanlagen gilt der reduzierte Satz, weil sie in
den USA als Investitionen betrachtet werden, die Arbeitsplätze
schaffen. Doch es wirkt wie der Beweis, dass Amerika ein
Gerechtigkeitsproblem hat.[gallery:Obama wird 50 – Bilder aus dem
Leben des mächtigsten Mannes der Welt] In der Loge der First Lady Michelle Obama auf der Empore im
Kongress sitzt an diesem Abend auf Einladung des Weißen Hauses
Debbie Bosanek, die Sekretärin des Investment-Milliardärs Warren
Buffett. Buffett nennt es seit langem einen Skandal, dass er einen
niedrigeren Steuersatz zahle als seine Sekretärin. Und so findet
Obamas Forderung, dass jeder Einkommensmillionär nach der
„Buffett-Regel“ mindestens 30 Prozent Steuern zahlen solle, große
Resonanz. Generell stehen die Republikaner zu Beginn des Wahljahres nicht
gut da. Der erbitterte interne Kampf, wer im Herbst gegen Obama
antreten soll, garantiert Aufmerksamkeit für konservative Themen,
stößt aber zugleich Wähler ab. Nun konnte Obama eine Stunde lang
seine Sicht und seine Pläne für eine zweite Amtszeit darlegen – und
fast alle Sender übertrugen die Rede. Die Wirtschaft erholt sich,
die Arbeitslosenrate sinkt. Amerika ist wieder stark. Der Schwerpunkt lag auf der Innenpolitik, ihr galten etwa 80
Prozent der Rede. Obama sprach selbstbewusst und offensiv. Er
vermied aber die klassenkämpferischen Töne, die er kürzlich in
Anlehnung an Teddy Roosevelt in Kansas angeschlagen hatte: den
republikanischen Präsidenten, dem dessen eigene Partei 1901
sozialistische Neigungen vorgehalten hatte, weil er die Interessen
der Arbeiter verteidigte. Sozialneid auf Reiche kommt in den USA
nicht gut an, die Forderungen nach „fairer Lastenteilung“ dagegen
schon. Obama positionierte sich als Pragmatiker über den
parteipolitischen Lagern, kritisierte die Blockade der Republikaner
und die „Untätigkeit“ des Kongresses. Nächste Seite: Amerika ist stark, wenn es
zusammenhält Als Rahmen wählte er ein patriotisches Bekenntnis zu Amerikas
Stärke, auch seiner militärischen Stärke. Amerika ist stark, wenn
es zusammenhält. So haben wir den Irakkrieg beendet, sagte er zu
Beginn der Rede. So wurde Osama bin Laden gefasst, lobte er zum
Ausklang. Da applaudierten auch die Republikaner.[gallery:Obama
wird 50 – Bilder aus dem Leben des mächtigsten Mannes der Welt] Zur Stärke gehören Fairness und Gerechtigkeit. Manchmal müsse
der Staat diese Regeln durchsetzen. Oder der Wirtschaft helfen.
Dann kehren die Jobs zurück, zum Beispiel in der Autoindustrie. GM
sei heute wieder Weltmarktführer. Obama drohte China wegen unfairer
Handelspraktiken. Er lobte aber ausländische Firmen wie Siemens,
die bei der Modernisierung mit erneuerbarer Energie helfen. Seine Lagebeschreibung stand in scharfem Kontrast zu den
Schilderungen der republikanischen Präsidentschaftsbewerber, die
seit Monaten Schlagzeilen machen. Mitt Romney, Newt Gingrich und
die anderen lassen kein gutes Haar an Obama. Nach ihren Worten
steht Amerika unter ihm kurz vor dem Scheitern. Alles läuft
falsch. Dem setzte der Präsident seine Erfolgsbilanz entgegen: „America
is strong“, „America is back“. Und „wer behauptet, Amerika sei im
Abstieg, hat keine Ahnung, wovon er redet“. Das Programm für eine
zweite Amtszeit: Er will die Energiewende vollenden, die Reform des
Einwanderungsrechts durchsetzen und das Steuerrecht
korrigieren. Alle hatten an diesem Abend die Wahl im Herbst im Blick. Bei
kämpferischen Aussagen bekam Obama Standing Ovations der Demokraten
im Kongress. Die Republikaner blieben oft stumm sitzen. Sie
klatschten nur, wenn der Präsident das Militär lobte oder
bedingungslose Solidarität mit Israel versprach. Nach Obamas Rede
übertrugen die Sender wie stets die viel kürzere Antwort eines
Republikaners. In diesem Jahr war das Mitch Daniels, der Gouverneur
von Indiana. Er warf Obama vor, Amerika zu spalten. Er machte ihn
für die hohe Verschuldung verantwortlich. Und er sagte, Obama habe
die Folgen der Wirtschaftskrise durch seine falschen Rezepte
verschärft. Dank Timing und Inhalt steht Obama am Tag danach als Sieger da.
Wäre die Wahl jetzt, würde er gewinnen. Wenn diese Dynamik anhält,
bleibt er bis 2016 im Weißen Haus. Neun Monate vor der Wahl ist das
freilich ein großes Wenn.
|
Frage des Tages: Mitt Romneys Steuererklärung wirkt wie der Beweis, dass Amerika ein Gerechtigkeitsproblem hat. Und das war das Glück von Barack Obama als er seine letzte Rede zur Lage der Nation hielt - neun Monate vor den Präsidentschaftswahlen
|
[] |
außenpolitik
|
2012-01-26T08:59:44+0100
|
2012-01-26T08:59:44+0100
|
https://www.cicero.de//aussenpolitik/welche-wahlkampfstrategie-verfolgt-obama/48101
|
|
Platz 3 der meistgelesenen Artikel 2014 - Die blutige Guerilla-Taktik der Hamas
|
Das Leid der Welt gelangt alltäglich und allabendlich zu uns. Durch Fernsehen und Internet. Und alles fast in Echtzeit. So sehen wir auch die Schreckensbilder vom neuen Gazakrieg zwischen der palästinensischen Hamas und Israel. Wir sehen die Bilder. Wir sind sozusagen „dabei“ und meinen, zu wissen, was passiere und wer schuldig sei. Doch Vorsicht! Bilder sagen nichts. Kriegsbilder sagen noch weniger, wenn denn weniger als nichts möglich wäre. Trotzdem: Dass Menschen schrecklich leiden und im Krieg getötet werden, sehen wir. Das wiederum stimmt. Doch die Kriegsbilder führen uns nicht zum Kern des Leidens. Das liegt auch daran, dass die meisten Berichterstatter vom Wesen des Krieges nichts und vom Guerillakrieg rein gar nichts verstehen. Sie haben keine Ahnung. Sie urteilen vom Schein aufs Sein. Das also zeigen die meisten Bilder vom Gazakrieg: Erschossene palästinensische Zivilisten. Vor allem Frauen und Kinder. Zurecht sind die Zuschauer, sind „wir“ empört, denn jeder anständige Mensch empört sich über das Töten Unschuldiger. Ja, unschuldig sind diese Zivilisten. Aber wer ist schuld an ihrem Tod? Das aus den Bildern abgeleitete Urteil kommt schnell. „Israel“. Ja, das ist der Schein. Das Sein, der wahre Kern ist anders. Die meisten unschuldigen palästinensischen Zivilisten sind Opfer der palästinensischen Hamas. Wie das? Ganz einfach. Die Hamas ist militärisch in diesem Krieg der kleine David, Israel der Riese Goliath. Militär gegen Militär wäre die Hamas sofort besiegt. Die Hamas hat keine Panzer, keine Flugzeuge, keine Raketenabwehr. Sie hat außer Raketen nur mehr oder weniger leichte Waffen. Deshalb nutzt die Hamas, wie alle Davids gegen jeden Goliath dieser Welt die Guerilla-Strategie und erweitert sie um die Strategie des Terrors. Guerillas zielen aufs Militär, Terroristen aufs Zivil des Feindes. Kein Guerilla oder Terrorist kann seinen Feind, das überlegene feindliche Militär, besiegen. Aber Guerillas und Terroristen können – und haben stets – den Preis fürs feindliche Militär und Zivil in die Höhe getrieben, so sehr genervt, entnervt und zermürbt, dass kaum je Guerillas und Terroristen militärisch besiegt werden konnten. Es sei denn, das feindliche Militär hat die feindliche Guerilla sowie das feindliche Zivil vernichtet. Gaius Julius Caesar hat das mit den Galliern vor rund zweitausend Jahren gemacht. Vor wenigen Jahren erst ahmte das Militär von Sri Lanka diese Vernichtungsstrategie nach, und zwar gegen die „Tamil Tigers“, also die tamilischen Guerillas und Zivilisten. Guerilla-Strategie bedeutet an allen Orten dieser Welt und in allen Epochen der Weltgeschichte: Die Guerillas nutzen – man lese den Theoretiker und (!) Praktiker des Guerillakrieges Mao Zedong – ihre eigene Zivilbevölkerung als Schutzschild. Das sieht so aus: Raketen und andere Waffen werden aus Kindergärten, Krankenhäusern oder Moscheen auf israelische Zivilisten gefeuert. Dort befinden sich auch die Eingänge zu den nach Israel führenden Tunnel. Das wollen die Ärzte und Patienten so wenig wie die Kinder und Kindergärtnerinnen, wahrscheinlich auch nicht die Geistlichen in den Moscheen. Doch sie werden nicht gefragt. Sie müssen sich den Guerillas fügen. Wenn sie sich nicht fügen, werden sie ermordet. Nun schießen die Guerillas aufs feindliche Militär. So ist das in jedem Guerillakrieg. Das ist sozusagen das Gesetz des Guerillakrieges. Anders geht es nicht. So ist es also auch im Krieg zwischen der Hamas und Israel. Das von Guerillas beschossene israelische Militär hat nun, wie jedes Militär, zwei Möglichkeiten. Auf die Guerillas zurückschießen oder nicht. Wird nicht zurückgeschossen, geht der Beschuss aufs israelische Militär und Zivil weiter. Folglich wird zurückgeschossen. Das wiederum bringt für Israel, wie für jeden Goliath, politisch und psychologisch im wahrsten Sinne des Wortes verheerende Bilder. Abschreckende Bilder oder der Tod eigener Soldaten und Zivilisten: Das ist die Alternative, vor der Israel, wie jedes gegen Guerilla kämpfende Militär steht. Im Klartext: Guerillas, also auch die Hamas, missbrauchen die eigene Zivilbevölkerung als Geisel. Auf diese Weise wird der militärisch Überlegene – also Israels Soldaten und alle Bürger Israels – psychologisch und moralisch verunsichert. Die Guerilla aber, hier die Hamas, erobert durch die Schreckensbilder das Herz der fernsehschauenden Welt. Diese Bilder sind von hohem politischen Wert. Sie sind von der Hamas, wie von allen Guerillas zu allen Zeiten, gewollt. Das ist die Strategie der Guerillas. Sonst gehen auch sie unter. Sonst gäbe es keinen politischen Druck auf den Feind der Guerilla, also auf Israel. Diejenigen, die die Bilder machen und kommentieren, also die Journalisten, werden somit, gewollt oder nicht, doch ahnungslos, weil kenntnislos, zum Instrument der Guerilla. Die Zuschauer verlassen sich – wie könnte es anders sein? – auf die Bilder und die Kommentare der Berichterstatter. Und fertig ist das Bild. Wir haben alles gesehen und nichts verstanden. Wir „haben Augen und sehen nichts“. Wir haben Ohren und verstehen nichts. Dazu gibt es ein besonders krasses Beispiel aus dem jüngsten Gazakrieg. Drei am Strand spielende Palästinenserkinder wurden von Israels Militär getötet. Sie waren – wie könnte es anders sein? – völlig unschuldig, völlig unbeteiligt am Krieg. Unmoral total, denkt man aufgrund der Bilder sofort. Und sagt: „Israel handelt verbrecherisch.“ Stimmt das? Jenseits von Unmoral total war diese Tötung ein Irrtum des israelischen Militärs. Das wurde zugegeben. Davon werden jedoch die Kinder nicht wieder lebendig. Jenseits von Unmoral und Irrtum ist eine solche Tötung, weil zurecht Empörung auslösend, ein katastrophaler politischer Fehler, und freiwillig begeht keiner Fehler. Wir fragen weiter: Warum ließen die Eltern der Kinder, mitten im Kampfgeschehen, ihre Kinder am Strand spielen? Weil ihnen das Schicksal ihrer Kinder gleichgültig gewesen sollte? Eine zynische und dumme und unrealistische Annahme. Die Antwort ist einfach: Die palästinensischen Eltern waren sich sicher, dass Israel aus eben den genannten Gründen nicht auf palästinensische Zivilisten schießen würde. Wer hat sich hier aber diese Fragen jemals gestellt? Ich kenne niemanden. Kein Wunder, denn jeder urteilt nach Bildern, vom Schein aufs Sein. So sind wir Menschen nun einmal. Genau diese Menschlichkeit und das menschelnde, oft unscharfe Denken kennzeichnen uns Menschen. Gerade deshalb müssen wir regelrecht trainieren, nicht vom Schein aufs Sein zu schließen, vom Trugbild aufs Realbild. „Du sollst dir kein Bildnis machen.“ Das kennen wir aus dem Alten Testament. Dieses (Erste) der Zehn Gebote bezieht sich eben nicht nur auf Gott und den Menschen, sondern auch auf Menschen untereinander und übereinander. Man muss sich fragen, ob der Schein das Sein zeigt. Nein, meistens nicht. Hier erst recht nicht, zumal die Tragödie des palästinensischen Volkes unter anderem darin besteht, dass sich seine Führung seit jeher – seit mehr als 100 Jahren – selten ums Wohl der Menschen sorgte. Präsident Abbas ist eine Ausnahme, die Hamas entspricht dieser tragischen Regel. Auch das kann man beweisen, wenn man sogar nur Bild zu Bild fügt. Israel rief Gaza-Zivilisten an und forderte sie auf, ihre Wohnhäuser und -regionen rechtzeitig zu verlassen. Sie würden dann oder dann angegriffen. Es flohen Tausende palästinensische Zivilisten. Dann aber rief die Hamasführung ihre Zivilisten zurück und drohte Rückkehr-Unwilligen mit harten Strafen. Was blieb den Fliehenden anderes übrig, als in den eigenen Wohnraum zurückzukehren? Von dort feuerte die Hamas auf Israelis. Diese schossen zurück. Massenweise wurden palästinensische Zivilisten getötet. Wenn das so weitergeht, haben die Palästinenser noch in 1.000 Jahren keinen eigenen Staat. Michael Wolffsohn, 67, ist Historiker an der Bundeswehruniversität München und Autor des Buches „Wem gehört das Heilige Land?“ (Piper Verlag). Wie Palästina doch noch eine Chance hat und das ganz große Blutvergießen im Nahen Osten vermieden werden kann, beschreibt er in seinem nächsten Buch „Zum Weltfrieden. Ein politischer Versuch“, das im Frühjahr 2015 bei dtv erscheint.
|
Michael Wolffsohn
|
Aus dem Gaza-Krieg erreichen uns massenhaft Schreckensbilder von toten Kindern und Zivilisten. Genau das ist von der Hamas gewollt: Teil der palästinensischen Guerilla-Taktik ist es, die Zivilbevölkerung als Waffe einzusetzen
|
[] |
außenpolitik
|
2014-07-23T09:21:02+0200
|
2014-07-23T09:21:02+0200
|
https://www.cicero.de//aussenpolitik/trugbilder-im-gazakrieg-die-blutige-guerrilla-taktik-der-hamas/57966
|
Bundesrechnungshof Kritik an der Deutschen Bahn - Hilfloses Schweigen
|
Die gute Nachricht zuerst: In dieser Woche gab es keine neuen Schreckensmeldungen für die Kunden der Deutschen Bahn. Das liegt vor allem daran, dass sich Bahnfahrer und die Öffentlichkeit längst an das katastrophale Erscheinungsbild des bundeseigenen Unternehmens gewöhnt haben und defekte Züge, marode Infrastruktur und ständige Verspätungen mittlerweile als Normalität wahrnehmen. Kurz- und mittelfristige Besserung ist nicht in Sicht. Daran werden auch die in letzter Zeit regelmäßig einberufenen Krisensitzungen des Aufsichtsrats und des Vorstands sowie die Interventionen des Bundesverkehrsministeriums wenig ändern. Auch beim erneuten Gipfeltreffen zwischen Verkehrsminister Andreas Scheuer (CSU) und Bahn-Vorstandschef Richard Lutz am Donnerstag wurde wenig mehr als heiße Luft produziert. Längst geht es nicht mehr nur um straffere Unternehmensstrukturen und kurzfristige Maßnahmenpläne zur Stopfung der größten Löcher zum Beispiel bei der Pünktlichkeit. Um die Deutsche Bahn zu einem modernen, leistungsfähigen Dienstleistungsunternehmen zu entwickeln – das seine gesamtgesellschaftliche Verantwortung für sozial- und umweltverträgliche Mobilität mit entsprechender Quantität und Qualität wahrnehmen kann – müssten ganz dicke Bretter gebohrt und ein radikaler Bruch mit der jüngeren Vergangenheit vollzogen werden. Dazu müsste man sich auch endlich ehrlich machen. Die 1994 vollzogene Umwandlung der Bundesbahn in eine privatrechtlich agierende Aktiengesellschaft im Bundesbesitz ist eben keine „Erfolgsgeschichte“, sondern eine Geschichte des Scheiterns. Wenn man von den durchaus bemerkenswerten Fortschritten in Teilen des Regionalverkehrs einmal absieht. Das von den verschiedenen Bundesregierungen seit dieser Zeit auf Gewinnmaximierung und die Option eines späteren Börsengangs getrimmte Unternehmen, betrachtete seine Infrastruktur, das rollende Material und seine Wartung, die Servicequalität und nicht zuletzt das Personal in erster Linie als Einsparpotenziale – mit den bekannten verheerenden Folgen. Der Investitionsstau wird mittlerweile auf einen mittleren zweistelligen Milliardenbetrag beziffert. Viel Geld versickert bis zum heutigen Tag in verkehrspolitisch unsinnigen Großprojekten wie dem unterirdischen Bahnhof „Stuttgart 21“. Zudem führte die zeitweilige Ausrichtung auf die Schaffung eines Global Players in der weltweiten Logistikbranche zu zweifelhaften Investitionen in Milliardenhöhe. So fällt es schwer zu verstehen, dass der Einstieg in den Fernbusmarkt oder den Straßengüterverkehr, was beides in direkter Konkurrenz zum eigenen Mobilitätsangebot steht, zum Kerngeschäft eines bundeseigenen Schienenverkehrsunternehmens gehören sollten. Das gilt aber auch für Investitionen außerhalb Deutschlands. Derzeit ist die Bahn AG in 140 Ländern unternehmerisch tätig, 513 der insgesamt 700 Tochterfirmen haben ihren Sitz im Ausland, bis hin zur Weintransportlogistik in Australien oder dem Betrieb von Wassertaxen in einigen europäischen Ländern. Die dort erzielte Gewinne fließen auch nicht in die heimischen Geschäftsbereiche, sondern werden für weitere Expansionen verwendet. Mit dem Ergebnis, dass die Bahn AG seit 2017 nicht mehr in der Lage ist, mit den Erlösen aus dem operativen Geschäft die betriebsnotwendigen Investitionen in das Kerngeschäft zu tätigen, also den Transport von Gütern und Menschen auf der Schiene. Das hat jetzt auch den Bundesrechnungshof (BRH) auf den Plan gerufen. In seinem am Donnerstag veröffentlichten „Bericht zur strukturellen Weiterentwicklung und Ausrichtung der Deutschen Bahn AG am Bundesinteresse“ fordert der BRH in teilweise ungewöhnlich scharfem Ton eine umfassende Kurskorrektur. Der Bund müsse endlich seine Verantwortung wahrnehmen, um den im Grundgesetz fixierten Gemeinwohlauftrag zur Sicherstellung eines an den Verkehrsbedürfnissen orientierten Schienenverkehrs, so Bundesrechnungshof-Präsident Kay Scheller am Donnerstag in Berlin. Als Alleineigentümer müsse er ferner eindeutig festlegen „was für eine Bahn und wie viel Bahn wir haben wollen“, um auf dieser Grundlage die entsprechende Finanzierung sicherzustellen. Zu prüfen wäre daher der Verkauf von Tochterfirmen und Auslandsbeteiligungen. Auch das Konstrukt der Bahn als gewinnorientierter Aktiengesellschaft stellt der BRH in Frage. Denn dieses sei auf einen Börsengang der Bahn ausgerichtet gewesen, der aber seit mehr als zehn Jahren kein Thema mehr sei, so Scheller. Positiv steht der Bundesrechnungshof auch Überlegungen gegenüber, das Netz und dessen Unterhalt aus dem Konzern herauszulösen und als gesamtgesellschaftliche Infrastrukturaufgabe in direkte Bundesverantwortung zu übertragen. Denn bislang ist das Netz für den Konzern ein „Profit-Center“, da die Trassengebühren nicht unwesentlich zum Konzernergebnis beitragen und zudem die Verfügungsgewalt über die Infrastruktur private Konkurrenten partiell ausbremst. Schließlich käme auch niemand auf die Idee, deutsche Autobahnen an den VW-Konzern zu übertragen, der dann bestimmen dürfte, welche Autos anderer Fabrikate wann und zu welchem Preis dort fahren können. Dass Wettbewerb auf der Schiene funktionieren kann, zeigt – trotz nach wie vor bestehender Mängel – der Regionalverkehr. Die jeweiligen Teilnetze werden von den Ländern ausgeschrieben, mit klaren Vorgaben für Taktzeiten, Beförderungskapazitäten und Servicequalität sowie mit finanziellen Sanktionen bei Minderleistungen. Und auch das gewerkschaftliche Argument, dies befördere Lohndumping, da die Länder stets den billigsten Anbieter nehmen würden, zieht nicht mehr. Denn den Gewerkschaften, vor allem der GDL, ist es mittlerweile gelungen, fast alle privaten Bahnunternehmen einem Flächentarifvertrag zu unterwerfen, der sich an den Bedingungen der DB orientiert. Ohnehin wäre es angesichts des dramatischen Fachkräftemangels derzeit kaum möglich, zum Beispiel Lokführer mit Dumpinglöhnen abzuspeisen. Vielmehr sind „Kopfprämien“ bei einem Unternehmenswechsel längst keine Seltenheit mehr. Doch die Trennung von Infrastruktur und Fahrbetrieb böte noch eine weitere große Chance. Endlich könnte die Schienenverkehrsplanung wieder dem Primat der Politik unterworfen werden. Statt sinnlosen Großprojekten wie Stuttgart 21 und isolierten Hochgeschwindigkeitsstrecken ohne vernünftige Anbindung an das restliche Netz könnte die Trassenplanung im Sinne eines integrierten Verbundes vom Kopf auf die Füße gestellt werden. Heute werden in Deutschland Strecken erst gebaut und dann danach geschaut, welcher Fahrplan möglich ist. Das führt unter anderem dazu, dass man zwar mit „Sprinter“-Zügen schnell zwischen zwei Metropolen unterwegs ist, aber dort mitunter sehr lange auf Anschluss warten muss oder gar keinen hat. In einigen anderen Ländern, besonders in der Schweiz, ist es genau umgekehrt. Im Mittelpunkt der Planungen steht dort die Vertaktung des Fahrplans im gesamten Netz mit kurzen Umsteigezeiten unter Einbeziehung aller Verkehrsträger, also auch der Regionalzüge und Buslinien. Auf dieser Basis werden dann Neu- und Umbaumaßnahmen im Schienennetz realisiert. Längst liegen derartige Pläne unter dem Namen „Deutschland-Takt“ auch hierzulande in diversen Schubladen – und stauben vor sich hin. Auch weil die Bahn AG in erster Linie auf die profitablen „Rennstrecken“ setzt und sich wenig um die betriebswirtschaftlich weniger interessante Peripherie schert. Aber genau das wäre die Aufgabe einer zukunftsorientierten Bahnpolitik. Aber mehr als einige kurzfristige „Sofortmaßnahmen“ gegen Unpünktlichkeit, Netzengpässe, marode Züge und Arbeitskräftemangel sind vom derzeitigen Verkehrsminister und dem Bahn-Vorstand wohl kaum zu erwarten. Bundesrechnungshof-Präsident Scheller bezeichnet das Agieren der Verkehrspolitik in den vergangenen Jahren denn auch als „hilfloses Schweigen“. Und übt sich in Bescheidenheit. Er hoffe, dass die Verantwortlichen den aktuellen Bericht seiner Behörde und die darin enthaltenen Vorschläge wenigstens lesen, sagte er am Donnerstag. Denn in der Vergangenheit habe er „nicht immer den Eindruck gehabt, dass das der Fall war“.
|
Rainer Balcerowiak
|
Zum zweiten Mal innerhalb einer Woche musste der Vorstand der Deutschen Bahn ins Verkehrsministerium. Dieses Mal kam die Kritik vom Bundesrechnungshof. Dessen Präsident Kay Scheller fordert eine umfassende Kurskorrektur. Der Bund soll endlich wieder Verantwortung übernehmen
|
[
"Deutsche Bahn",
"Bundesrechnungshof",
"Kay Scheller"
] |
wirtschaft
|
2019-01-18T10:46:40+0100
|
2019-01-18T10:46:40+0100
|
https://www.cicero.de//wirtschaft/db-deutsche-bahn-bundesrechnungshof-kritik-kay-scheller-dobrindt
|
Deutschland 2030 – Die fetten Jahre kommen erst
|
Hätten wir vor zehn Jahren die Autoren ernst genommen, die den
Niedergang Deutschlands beschworen, dann hätten wir entweder
resigniert auf dem Deck der Titanic einen letzten Cocktail genießen
können, oder aber wir hätten das Land einer Rosskur à la Margaret
Thatcher unterziehen müssen, um die Wende zur Wettbewerbsfähigkeit
zu schaffen. Nichts von beidem ist geschehen, und trotzdem steht
Deutschland erheblich besser da als vor einem Jahrzehnt.
Offenkundig ist die deutsche Gesellschaft reformfähiger und
vernünftiger, als sie es selber glauben mochte. Es bedurfte eines mutigen Bundeskanzlers Gerhard Schröder, der
Reformen auf dem Arbeitsmarkt und im Sozialsystem auf Kosten seiner
Wiederwahl durchsetzte, und einer gemeinsamen Anstrengung von
Unternehmen und Gewerkschaften, um die Wettbewerbsfähigkeit der
deutschen Wirtschaft so zu verbessern, dass sie die Chancen der
Globalisierung besser nutzen konnte als andere Industrieländer. Ein
radikaler Kurswechsel, der die Gesellschaft in ihren Grundfesten
erschütterte, war das nicht, sondern eine Serie von Korrekturen an
der Konstruktion unseres Gemeinwesens. Darauf können wir
aufbauen. Die Erfahrung des vergangenen Jahrzehnts sollte uns Mut machen
für die kommenden Jahre. Wieder scheint der Problemberg
übermächtig, der sich vor uns auftürmt: Die globale Finanz- und
Wirtschaftskrise, die Krise der Europäischen Währungsunion, der
Klimawandel und der demografische Wandel stellen uns vor große
Herausforderungen. Doch unsere Analyse zeigt, dass es keinen Grund
für neue Untergangsvisionen gibt. Wie im vergangenen Jahrzehnt wird
sich erweisen, dass es nicht anonyme Mächte wie die
Weltfinanzmärkte sind, die unsere Zukunft bestimmen, sondern wir in
Deutschland mit unseren Entscheidungen. Das gilt vor allem für die
Eurokrise. Jetzt muss die Kanzlerin ohne Rücksicht auf ihre
Wiederwahlchancen handeln. Anders wird eine Lösung der Krise nicht
zu erreichen sein. Und auch im Inneren darf es keinen
Reformstillstand geben, vor allem, was die Anpassung der
Sozialsysteme an die demografische Entwicklung anbelangt. Wagen wir einmal einen optimistischen Blick voraus, in das Jahr
2030. Gehen wir davon aus, dass Deutschland auch in diesem
Jahrzehnt die Chancen ergreift, die sich bieten. Dann sieht unsere
Vision folgendermaßen aus:
Deutschland ist 2030 das Land mit dem höchsten Pro-Kopf-Einkommen
in der G-7-Gruppe der großen Industriestaaten. Obwohl Europas
Kernland durch den Aufstieg der großen Schwellenländer in der
Weltrangliste der Wirtschaftsmächte vom vierten auf den sechsten
Platz abrutscht, hat es seine Marktanteile im globalen
Exportgeschäft besser behauptet als die USA und Japan. Lesen Sie weiter, warum Deutschland das AAA-Rating
durchgehend behält... Als Lieferant von Investitionsgütern wie Maschinen und Anlagen,
Infrastruktur für die neuen Metropolen im Süden und Osten,
Technologien für den effizienten Energie- und Rohstoffeinsatz und
Luxuswagen für die neuen Mittelschichten ist Deutschland weiterhin
Weltspitze. Die Regierung hat durch eine verbesserte
Forschungsförderung geholfen, den technologischen Vorsprung in
vielen Bereichen zu erhalten. Die im G-7-Vergleich überdurchschnittlichen Wachstumsraten der
deutschen Wirtschaft und eine solide Haushaltsführung haben es dem
Staat ermöglicht, die Schuldenbremse einzuhalten. Die
Staatsverschuldung ist unter die im Maastrichter Vertrag
vorgeschriebenen 60 Prozent des Bruttoinlandprodukts gesunken.
Deutschland hat als einziges der großen Industrieländer
ununterbrochen die Bonitätsbestnote „AAA“ der Ratingagenturen
behalten und kann sich zu entsprechend niedrigen Zinsen
refinanzieren – teilweise über Bundesanleihen und teilweise
über Euroanleihen, die nur geringfügig höhere Zinsen aufweisen. Die Krise der Europäischen Währungsunion ist 2030 längst
überstanden. Deutschland und Frankreich haben gemeinsam den Aufbau
eines neuen Ordnungsrahmens für die Währungsunion vorangetrieben.
Im Nachhinein erscheint die Strategie, Zeit zu kaufen und in dieser
Zeit ein glaubwürdiges Regelwerk für die fiskalische Kooperation in
der Eurozone aufzubauen, goldrichtig. Die schrittweise Einführung
gemeinsamer Euroanleihen erwies sich als Stärkung des europäischen
Kapitalmarkts und hat dazu geführt, dass inzwischen fast
40 Prozent der internationalen Devisenreserven in Euro
gehalten werden. Ein Europäischer Währungsfonds, eine Europäische
Finanzaufsichtsbehörde und die gestärkte Wirtschaftsregierung
bilden gemeinsam die fiskalpolitische Säule, die der Europäischen
Währungsunion (EWU) als Ergänzung zur geldpolitischen Säule mit der
Institution EZB gefehlt hatte. Deutschland hat sich in diesen
schweren Zeiten als Führungsmacht bewährt und hat gelernt, die
eigenen Interessen selbstbewusster durchzusetzen. Lesen Sie weiter über Vollbeschäftigung und steigende
Löhne... Nach außen steht Deutschland also 2030 in unserem Szenario sehr
gut da. Doch wie sieht es im Inneren aus? Auch da hat sich viel
Positives getan. Mit einer Arbeitslosenquote von unter
5 Prozent herrscht faktisch Vollbeschäftigung. Die rückläufige
Zahl der Personen im erwerbsfähigen Alter wurde durch eine
steigende Erwerbsneigung und damit steigende Erwerbsquoten
kompensiert. Das liegt nicht zuletzt daran, dass es wieder mehr
Zuwanderer als Auswanderer gibt. Hunderttausende qualifizierte,
junge Arbeitskräfte aus Süd- und Osteuropa, aber auch aus
Nordafrika und Nahost sind nach Deutschland gekommen, weil die
deutschen Unternehmen verstärkt Fachkräfte im Ausland angeworben
haben. Doch ein wichtigerer Faktor im Kampf gegen den
Fachkräftemangel ist die höhere Erwerbsbeteiligung der Deutschen
selber. Dank besserer Familienförderung und Kinderbetreuung ist die
Erwerbsquote von Frauen gestiegen. Und Investitionen in die
Förderung benachteiligter Schüler haben den Anteil der
Schulabbrecher weiter zurückgehen lassen. Die dennoch spürbare Verknappung von Arbeitskräften hat die
Löhne deutlich kräftiger als zuvor steigen lassen. Das hat zum
einen geholfen, die Lohnquote wieder zu erhöhen, also die
Arbeitnehmerschaft stärker an den Erträgen des Wachstums und der
Globalisierung teilhaben zu lassen. Zum anderen haben die
steigenden Löhne dafür gesorgt, dass der private Konsum in
Deutschland kräftiger gewachsen ist. Das solide Wachstum der Wirtschaft und der Lohn- und
Gehaltssummen hat die Staatskasse so stark entlastet, dass zur
Einhaltung der Schuldenbremse sowie zur Finanzierung der Rettung
überschuldeter Eurostaaten und einzelner Banken nur geringfügige
Steuererhöhungen nötig waren, die das Wachstum nicht behinderten.
Der Abbau von Steuervergünstigungen und Finanzhilfen und der
Rückgang der Zahl der Arbeitslosen und Sozialhilfeempfänger halfen,
die Staatsausgaben zu drücken. Auch die Sozialkassen profitierten von der Boomphase. Die
Arbeitslosenversicherung erwirtschaftete Überschüsse und konnte den
Beitrag deshalb senken. Der Beitragssatz der Rentenkasse blieb dank
der Reformen früherer Jahre trotz der alternden und schrumpfenden
Bevölkerung stabil. Die Einführung einer steuerfinanzierten
Sockelrente verhinderte einen Anstieg der Altersarmut. Im
Gesundheitswesen verhinderten Reformen wie die aus Steuereinnahmen
finanzierte Einführung eines Freibetrags, dass wie in der
Vergangenheit mit den Gesundheitsausgaben die Arbeitskosten
steigen. Lesen Sie weiter über Toleranz und faire Chancen... Alles in allem ist es Deutschland auch gelungen, die
Wohlstandsgewinne aus der Eingliederung in die internationale
Arbeitsteilung gerechter zu verteilen als im vorangegangenen
Jahrzehnt. Die Schere zwischen relativen Globalisierungsgewinnern,
also etwa den Ingenieuren und Facharbeitern der Exportindustrie,
und den relativen Globalisierungsverlierern, also etwa den
binnenwirtschaftlich orientierten Dienstleistern oder niedrig
qualifizierten Arbeitnehmern, hat sich nicht weiter geöffnet. Der
wirtschaftliche Aufschwung in Verbindung mit Korrekturen an den
Agenda-2010-Reformen hat dazu beigetragen, die Aufstiegschancen aus
dem Niedriglohnsektor in reguläre Vollzeitbeschäftigung zu
verbessern. Der Gesetzgeber hat Fehlentwicklungen wie die
Umwandlung von Vollzeitstellen in mehrere Minijobs zurückgedrängt
und die Anreize für die Aufnahme von Arbeit weiter verbessert. Die
Durchschnittseinkommen im Niedriglohnsektor sind dank Mindestlöhnen
gestiegen. Deutschland hat sich seine politische Stabilität bewahrt und ist
trotz des steigenden Durchschnittsalters eine offenere Gesellschaft
geworden. Das Bewusstsein, Zuwanderer zu brauchen, hat eine
realistische Zuwanderungspolitik hervorgebracht. Die Zahl der
ausländischen Studenten an deutschen Hochschulen ist weiter
gewachsen, und die jungen Menschen erleben Deutschland als
tolerantes Land, das ihnen faire Chancen bietet. So weit unser Positivszenario. Selbstverständlich kann alles
ganz anders kommen. Die Eurokrise kann außer Kontrolle geraten und
zu einem Auseinanderfallen der ganzen Europäischen Union führen.
Auch Krisen in anderen Erdteilen können uns schwer treffen, denn in
der globalisierten Welt ist die gegenseitige Abhängigkeit der
Volkswirtschaften voneinander enorm gewachsen und der Verlauf von
Krisen unvorhersehbarer geworden. Die Risiken sind mannigfaltig, und dennoch kann man nicht
abstreiten, dass Deutschland eine realistische Chance auf eine gute
Zukunft mit wachsendem Wohlstand und steigender Lebensqualität hat.
Nicht nur bis 2030, sondern auch darüber hinaus. Die
Voraussetzungen dafür sind gut. Es kommt darauf an, was wir daraus
machen.
|
Die deutsche Gesellschaft ist reformfähiger als sie glaubt. Nutzt sie ihre Chancen, steht sie 2030 besser da als der Rest der G-7-Staaten
|
[] |
wirtschaft
|
2012-03-19T17:26:48+0100
|
2012-03-19T17:26:48+0100
|
https://www.cicero.de//wirtschaft/die-fetten-jahre-kommen-erst/48642
|
|
Weltnichtrauchertag - Beim Rauchen hört der Spaß auf
|
Wer über Tabak schreibt, und nicht Mitarbeiter der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung oder eines Krebsforschungszentrums ist, muss immer zuerst seine Distanz zu diesem Produkt äußern, um einen Shitstorm zu vermeiden. Anders als beim Alkohol oder bei Zuckerprodukten erntet der Raucher nach seinem Geständnis kein Augenzwinkern, sondern Abscheu und Ausgrenzung. Daher also zunächst zu meiner Person: Ich bin Nichtraucher – immer gewesen. Ich rate Jugendlichen – natürlich! – vom Rauchen ab. Tabak ist ein Produkt, das die Gesundheit massiv schädigen kann. Ich bin froh, dass in öffentlichen Gebäuden und Zügen nicht mehr geraucht werden darf. Ich will rauchfreie Restaurants und Cafés. Ich will keine Tabakwerbung im Fernsehen zu Zeiten, in denen Kinder zuschauen (also heutzutage fast immer). Ich will, dass auf Tabakverpackungen groß und deutlich draufsteht, welche gefährlichen Stoffe in welchen Mengen tatsächlich enthalten sind. Aber da beginnt bereits das Problem: Denn genau das will der Gesetzgeber nicht. Tabakproduzenten dürfen auf ihre Produkte nicht mehr schreiben, was darin enthalten ist. So beispielsweise beim Teer. Teer entsteht beim Verbrennen von Tabak. Er enthält krebserzeugende Stoffe. Wie viel Teer in einer Zigarette ist, soll der Verbraucher aber nicht erfahren. Das geht zurück auf die neueste europäische Tabakrichtlinie. Dort steht, dass Angaben auf Tabakverpackungen zu Teerwerten irreführend seien. Der Grund: Sie vermitteln Verbrauchern den Eindruck, dass bestimmte Zigaretten weniger schädlich seien als andere. Und dieser Eindruck sei falsch. Das aber würden die Verbraucher nicht kapieren. Die Folge? Man streicht die Informationen ganz. Bei jedem anderen Lebens- oder Genussmittel kann ich mich über deren Inhaltsstoffe informieren, nicht aber beim Tabak. Dort steht jetzt: „Tabakrauch enthält über 70 Stoffe, die erwiesenermaßen krebserregend sind.“ Das will ich keineswegs bezweifeln. Doch gibt man bei Google „krebserregende Lebensmittel“ ein, enthält man Warnungen vor: (1) Wurst, (2) Erfrischungs- und „Light“-Getränken, (3) raffiniertem Mehl (wird mit einem 220 Prozent erhöhten Risiko für Brustkrebs in Zusammenhang gebracht), (4) weißem Zucker (Kekse, Kuchen, Getränke, Saucen), (5) hydrierten Ölen, (6) industriell produziertem Obst und Gemüse (98 Prozent enthalten schädliche Pestizide, die krebserregend wirken. An erster Stelle stehen Äpfel, danach Trauben, Erdbeeren, Koriander und Kartoffeln). Der Stern schreibt: „Auch viele natürliche Lebensmittel oder verarbeitete Produkte sind wahrscheinlich oder möglicherweise Krebs auslösend. Dazu zählen etwa Reis, Fisch und Schokolade.“ Auf all diesen Produkten habe ich bisher noch keine Krebswarnung ausmachen können. Weshalb? Weil dort weniger als 70 Stoffe enthalten sind, die krebserregend sind? Vielleicht nur 50 oder 10 oder 2? Wo ist die Grenze, ab wann gewarnt wird? Und was passiert mit Tabakprodukten, die unter diese Grenze geraten? Müssen die dann keine Schockfotos mehr auf ihrer Verpackung zeigen? Ich habe verstanden: Tabakkonsum kann sehr gesundheitsschädlich sein. Deshalb werde ich davor gewarnt. Eine Wanderung in Süddeutschland kann aber auch sehr gesundheitsschädlich sein (Zecken!). Die bei manchen Leuten obligatorische Flasche Wein am Abend kann sehr gesundheitsschädlich sein (auf der Weinflasche wird lediglich gewarnt: „Enthält Sulfite!“; keine Schockfotos). Manche Sportarten können sehr gesundheitsschädlich sein (wie oft war Manuel Neuer jetzt schon am Fuß verletzt?). Der Besuch von Musikbars kann gesundheitsschädlich sein (Tinitus!). Büroarbeit kann gesundheitsschädlich sein („Sitzen ist das neue Zucker“). Leben an einer Hauptverkehrsstraße kann gesundheitsschädlich sein (Feinstaub!). Der Job als Vater kann gesundheitsschädlich sein (Schlafmangel!). Kinderspielzeug kann gesundheitsschädlich sein (Weichmacher!). Computerspiele können gesundheitsschädlich sein (Bewegungsmangel!). Vitaminpillen können Krebs fördern („Einige Vitamine fördern Krebs, nur wird das gerne ignoriert“, heißt es in der Apotheken Umschau vom 1. Mai 2016). Alles im Leben kann gesundheitsschädlich sein, es kommt halt auf die Menge an. Aber wie groß die Menge an Teer in einem Tabakprodukt ist, darf ich nicht wissen. Das könnte mich verwirren. Die Tabakindustrie sagt: Tabak ist ein legales Produkt. Man muss es produzieren, bewerben und verkaufen können. Andernfalls sollte man es verbieten. Ich finde das Argument gar nicht so dumm. (Okay, die Tabakindustrie sagt nicht, wie gefährlich ihr Produkt ist. Stimmt. Aber das sagen die ganzen anderen Hersteller und Anbieter – siehe oben – auch nicht.) Wenn es der Staat ernst meinte, müsste er Tabak verbieten. Es gibt genug Mittel, die verboten sind, wieso nicht der Tabak? Weil es so ausgehen würde wie die Prohibition? Wegen 14 Milliarden an Einnahmen aus der Tabaksteuer? Ich vermute einen anderen Grund: Ein Tabakverbot würde nicht das Verlangen von Menschen nach Genuss beenden. Die „Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen“ schreibt, dass etwa 50 bis 60 Prozent der Raucher abhängig sind (Tabak – Basisinformation, gefördert von der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, im Auftrag des Bundesministeriums für Gesundheit, 9. Auflage, Hamm 2017, 17). Daraus lese ich im Umkehrschluss: Etwa 40 bis 50 Prozent der Raucher sind nicht abhängig und folglich Genussraucher, die jederzeit das Rauchen beenden könnten, es aber nicht tun oder wollen. Bei Genussrauchern fehlen Studien, wie diese Personen im Falle eines Tabakverbots ihren Genuss substituieren würden. Naheliegend wäre ein Wechsel zu anderen Genussstoffen wie Alkohol. Möglicherweise würde aber auch zu Kokain gewechselt. Kokain gehört zu den illegalen Drogen, das sind die unreguliertesten und am wenigsten überwachten Genussmittel des Landes. Jeder Mist kann als Kokain verkauft werden. Tabak dagegen ist das am meisten überwachte und am höchsten regulierte Genussmittel in Europa. Ein Verbot würde Tabak (extreme Kontrollen) auf die gleiche Stufe wie Kokain stellen (null Kontrollen). Kubanischen Pfeifentabak gäbe es dann nicht mehr aus überwachten bayerischen Manufakturen, sondern von zwielichtigen Gestalten auf der Straße. Es hat – aus Sicht des Gesetzgebers – also einen Sinn, Tabak legal zu halten. Dann konkurriert es als legales Genussmittel mit anderen legalen Genussmitteln. Und sollte auch so behandelt und reguliert werden. Auch dabei, welche Angaben auf einer Verpackung angegeben sein müssen. Jeder Genussraucher sollte wissen, welche Stoffe er in welchen Mengen mit einem Tabakprodukt zu sich nimmt – genauso, wie der Weintrinker den Alkoholgehalt nachlesen kann und der Pralinenfreund die Zuckermenge. Bei Pfeifentabak darf aber nicht mehr einmal mehr draufstehen, ob er nach Cherry, Rum oder Marple schmeckt. Weshalb? Um Suchtraucher zu schützen? Wer aber bitte raucht Pfeife, wenn nicht ein Genussraucher? Das ist das nächste Problem der Tabakregulierung: Produkte werden in einen Topf geworfen, obwohl sie sich an unterschiedliche Personenkreise wenden. Der europäische Gesetzgeber hält den Raucher generell für dumm. Das ärgert mich. Nicht weil ich Raucher wäre, sondern weil ich es gefährlich finde, wenn man eine ganze Gruppe von Menschen für dumm erklärt. Wenn das einmal begonnen hat, wird es Schule machen. Als nächstes sind die Schleckermäuler dran, dann die Weintrinker, schließlich die Dieselfahrer, danach Flugreisende, später Sportler gefährlicher Sportarten (wie Fußball). Jetzt ist es nur das Verbot, die Inhaltsstoffe von Tabak benennen zu dürfen. Okay: Das ist ein vermeintlich harmloses Verbot und lediglich eine geächtete Personengruppe betreffend. (Raucher sind das einfachste Opfer, auf das wir uns alle einigen können. Noch besser als die Gruppe jener Menschen, die Tiere schächten.) Uns Nichtraucher mag all das in hämischer Verbundenheit freuen oder einfach egal sein. Doch der Damm ist gebrochen und beim übernächsten Mal sind wir vielleicht selbst betroffen. Dann hört der Spaß auf. Doch dann ist es zu spät.
|
Jochen Zenthöfer
|
Rauchen ist ungesund, das bezweifelt zum Weltnichtrauchertag wohl niemand. Aber wie ungesund? Das ist für den Verbraucher seit einer neuen EU-Richtlinie nicht mehr klar erkennbar. Damit wird eine ganze Bevölkerungsgruppe für dumm erklärt
|
[
"Weltnichtrauchertag",
"Nichtraucher",
"Raucher",
"EU",
"EU-Richtlinie",
"Tabak",
"Teer"
] |
kultur
|
2018-05-30T16:37:06+0200
|
2018-05-30T16:37:06+0200
|
https://www.cicero.de//kultur/weltnichtrauchertag-raucher-nichtraucher-tabak-eu-richtlinie
|
Volksabstimmungen – Europa, S21 und die Untiefen der direkten Demokratie
|
Die Griechen dürfen nun doch nicht über den Euro abstimmen. Nach
einer kurzen erregten Debatte wurde die geplante Volksabstimmung
wieder abgesagt. Stattdessen bekommt Griechenland einen neuen
Ministerpräsidenten und eine Übergangsregierung, die auch die
Opposition einschließt. Sie soll die Sparbeschlüsse des EU-Gipfels
von Ende Oktober umsetzen. Zu groß war die Angst der griechischen
Politik und Europas, das Volk könnte sich an den Abstimmungsurnen
als unberechenbar und wenig sparwillig erweisen. Anschließend gibt
es in Griechenland im Februar oder März Neuwahlen. Viel spricht
dafür, dass die regierenden Sozialisten dann ihre Mehrheit im
Parlament verlieren. Der Versuch von Ministerpräsident Georgios
Papandreou mit Hilfe des Volkes seine Macht zu sichern, ist schnell
gescheitert. Auch in Deutschland gibt es im Zusammenhang mit Europa und dem
Euro immer wieder lautstarke Rufe nach einer direkten Beteiligung
des Souveräns. Zunächst jedoch werden die Anhänger der direkten
Demokratie in den kommenden Wochen gebannt nach Baden-Württemberg
blicken. Am 27. November sind die Wähler des Landes dazu
aufgerufen, über die Zukunft des umstrittenen Großprojektes
Stuttgart 21 zu entscheiden. Der Ausgang der Befragung ist völlig ungewiss. Zunächst sah es
so aus, als hätten die Gegner des geplanten Tunnelbahnhofs kaum
eine Chance. Aber mittlerweile holen sie auf. Doch egal, wie die
Volksabstimmung ausgeht, schon jetzt ist völlig klar, der Konflikt
um das Milliardenprojekt, der das Land spaltet, wird damit nicht
gelöst werden. Für den grünen Ministerpräsidenten Winfried
Kretschmann fangen die Probleme damit erst an. Entweder er muss
anschließend einen Bahnhof bauen, den er und seine Partei vehement
ablehnen. Oder er muss ein Infrastrukturprojekt stoppen, in das
bereits ziemlich viel Geld investiert wurde und dessen Bau
rechtlich umfassend genehmigt wurde. Darüber hinaus wird die
Volksabstimmung auch den Konflikt mit dem Koalitionspartner SPD
nicht lösen. [gallery:„Occupy" around the world - Die Protestbewegung
in Bildern] Mit der Befragung des Souveräns erfüllt Kretschmann nicht nur
ein Wahlversprechen. Sie war zugleich die einzige Möglichkeit, den
tiefen Riss in der Regierungskoalition zu überbrücken. Denn genauso
vehement, wie die Grünen den Tunnelbahnhof ablehnen, so deutlich
befürworten die Sozialdemokraten dessen Bau. Die Volksabstimmung
ist also auch ein ziemlich fauler politischer Kompromiss, der es
der grün-roten Landesregierung ermöglichte, die CDU nach über einem
halben Jahrhundert in Baden-Württemberg von der Macht zu
verdrängen. Doch faule Kompromisse holen die Parteien meist
irgendwann ein. Schon jetzt zeigt sich, dass es Grünen und SPD
nicht gelingt, in der Landesregierung vertrauensvoll
zusammenzuarbeiten. Wie in Griechenland zeigt sich somit auch in Baden-Württemberg:
Es ist gar nicht so einfach, die direkte und die parlamentarische
Demokratie miteinander zu verknüpfen. Zwar werden auch in Deutschland Volksabstimmungen
immer populärer. Der Ruf nach mehr direkter Demokratie hat
längst die Parteien erreicht. Angesichts von erodierenden
Wählerbindungen und wachsender Kluft zwischen den Wählern und der
politischen Klasse gelten sie manchen Politikern gar als
Wundermittel. Der Ruf klingt zwar sympathisch, es scheint notwendig
geworden, in einer verkrusteten Parteiendemokratie den Willen der
Wähler gelegentlich in Volksabstimmungen zu ermitteln. Ein
Allheilmittel gegen Politik und Parteienverdrossenheit sowie gegen
die Krise der Demokratie sind sie nicht. Im Gegenteil: Die Untiefen
der direkten Demokratie sind unübersehbar. Lesen Sie auf der nächsten Seite, wo die Untiefen der
direkten Demokratie liegen. Erstens ist die Volksabstimmung ein klassisches
Instrument der Opposition, mit dem sie die Regierung zwischen den
Wahlen unter Druck setzen kann. Regierungen verfügen schließlich
über eine Mehrheit im Parlament, mit dessen Hilfe sie regieren
können. Am Wahltag wird dann abgerechnet. Wenn hingegen
Regierungschefs Volksabstimmungen ansetzen, dann dient dies in der
Regel dem Versuch, mit populistischen Tricks die eigene Macht zu
sichern. Zweitens betritt mit Volksabstimmungen ein
neuer politischer Vetospieler die Bühne der Demokratie. In
Deutschland gibt es mit dem Bundesrat jedoch bereits einen
einflussreichen Vetospieler. Die Gefahr, dass sich das politische
System mit mehr direkter Demokratie völlig blockiert und
strukturell entscheidungsunfähig wird, ist groß. Drittens ist der Klassencharakter der direkten
Demokratie unübersehbar. Für mehr direkte Demokratie engagieren
sich vor allem die gebildeten Mittelschichten. Die Unterschicht
hingegen ist in zivilgesellschaftlichen Initiativen kaum vertreten.
Immigranten sind eher die Ausnahme. Den Ausgegrenzten,
Marginalisierten und Armen hilft die Mittelschicht jedoch erst
dann, wenn sie ihre Privilegien gesichert hat. Deren Ressentiments
könnten im Vorfelde von Volksabstimmungen weiter geschürt und
populistisch zugespitzt werden. Viertens machen Volksabstimmungen die
Demokratie anfälliger für finanzstarke Lobbys, Unternehmen oder
Kapitalinteressen. Sie könnten versucht sein, ihre Ziele auf diesem
Wege mit populistischen Parolen, viel Geld und professionellen
Kampagnen durchzusetzen. Volksabstimmungen sind also alles andere als ein demokratisches
Wundermittel. Sie verschieben die Machtbalance in der Demokratie zu
Lasten der Parteien und zu Lasten derjenigen, denen es in der
Gesellschaft schwerer fällt, sich politisches Gehör zu verschaffen
und ihre Interessen zu artikulieren. Es mag sein, dass eine selbstbewusste Bürgergesellschaft und
Volksabstimmungen dazu beitragen können, die Demokratie in
Deutschland wieder zu konsolidieren. Es mag sein, dass Parteien und
Politiker gezwungen wären, wieder intensiver für ihre Politik zu
werben. Der Politologe Franz Walter nennt sie deshalb ein
„Frühwarnsystem“. Aber dies führt nicht notwendiger Weise zu mehr
Demokratie. Eine Alternative zur Parteiendemokratie und zum
Parlamentarismus ist sie nicht.
|
In Deutschland wird der Ruf nach mehr direkter Demokratie immer lauter. Dabei bergen Volksabstimmungen auch Gefahren. Sie bedeuten nicht unbedingt mehr Demokratie und sind keine Alternative zum Parlamentarismus
|
[] |
innenpolitik
|
2011-11-07T11:12:00+0100
|
2011-11-07T11:12:00+0100
|
https://www.cicero.de//innenpolitik/europa-s21-und-die-untiefen-der-direkten-demokratie/46426
|
|
EU-Kommissionspräsidentschaft - Es geht um die Macht
|
Vor fünf Jahren – ich war gerade frisch ins Europaparlament gewählt – stattete Jean-Claude Juncker unserer Fraktion einen Vorstellungsbesuch ab. Juncker war vom Europäischen Rat als Kommissionspräsident nominiert worden, und obwohl ihm dank der großen Koalition aus Christdemokraten und Sozialisten eine Mehrheit im Parlament sicher war, warb er auch bei meiner Fraktion, den Europäischen Konservativen und Reformern (EKR) um Unterstützung. Nun war Jean-Claude Juncker ja kein Unbekannter. Umso erstaunter war ich, als ich ihn über seine politischen Vorhaben sprechen hörte. Denn alles was er sagte, war Musik in unseren Ohren: Er wolle die Bürokratie reduzieren, die Gesetzesflut eindämmen, das Subsidiaritätsprinzip und damit die Gestaltungsrechte der Mitgliedsstaaten stärken und sich für Wettbewerb und Marktwirtschaft einsetzen. Kurz: Juncker sprach zur EKR wie ein EKR-Mann. Mich beschlich der Verdacht, dass er in der Grünen-Fraktion wie ein Grüner, bei den Sozialisten wie ein Sozialdemokrat und bei den Christdemokraten wie ein Christdemokrat sprechen würde. Der er ja auch ist. Wahrscheinlich muss man derart politisch geschmeidig sein, wenn man Kommissionspräsident werden will. Die soeben für dieses Amt nominierte Bundesverteidigungsministerin Ursula von der Leyen wird kaum umhin kommen, sich ähnlich flexibel zu präsentieren, denn sie steht vor einer ungleich schwierigeren Aufgabe: Sie verfügt bislang nicht über eine sichere Mehrheit im Europaparlament, sie ist – anders als Juncker – keine gewiefte und bestens vernetzte Europapolitikerin und sie war – anders als Juncker – bei der vorhergehenden Europawahl nicht Spitzenkandidatin einer europäischen Partei. Die Sache mit dem Spitzenkandidaten könnte das größte Problem werden. Jedenfalls, wenn das Parlament etwas auf sich hält. Denn mehrfach wurde in der vergangenen Legislaturperiode von Rednern fast aller Fraktionen betont, dass das Parlament nur bereit sei, jemanden zum Kommissionspräsidenten zu wählen, der zuvor als Spitzenkandidat seiner europäischen Partei bei den Europawahlen angetreten sei. Wohlgemerkt: Es kommt nicht auf das Ergebnis an, dass der Kandidat eingefahren hat. Auch wenn es ein ganz kümmerliches Resultat war: Hauptsache, sie oder er war Spitzenkandidat. Denn es geht hier gar nicht um die Demokratie oder den Volkswillen. Tatsächlich geht es um Macht. Das Spitzenkandidatenprinzip ist ein Versuch des Parlaments, dem Europäischen Rat die Prärogative bei der Bestimmung des Kommissionspräsidenten zu entwinden. Denn nach den EU-Verträgen hat der Rat das Vorschlagsrecht für den Kommissionspräsidenten. Dies wurde immer so verstanden, dass der Rat frei ist, einen geeigneten Kandidaten zu benennen. Das Europaparlament kann diesen Kandidaten bestätigen oder ablehnen, aber sollte es ablehnen, wäre der Rat erneut frei zu entscheiden, welchen Kandidaten er als nächstes vorschlagen möchte. Mit dem Spitzenkandidatenkonzept engt das Parlament das Vorschlagsrecht des Rates auf einige wenige Personen ein. Das Europaparlament hat dies in einem vielbeachteten Beschluss vom 7. Februar 2018 sehr deutlich gemacht: Es warnte davor, dass es „beim Verfahren zur Einsetzung des Kommissionspräsidenten bereit ist, jeden Kandidaten abzulehnen, der im Vorfeld der Wahl zum Europäischen Parlament nicht als Spitzenkandidat benannt wurde“. Sprich: Das Vorschlagsrecht des Europäischen Rates soll beschränkt werden auf die Personen (Spitzenkandidaten), die die europäischen Parteien vorgeschlagen haben. Hier wird die Macht von den gewählten europäischen Regierungen verlagert zu den – nicht gewählten! – europäischen Parteien. Denn die Parteien als Vereinigungen politisch interessierter Bürger haben zunächst einmal keinerlei demokratische Legitimation. Zudem nominieren sie ihre Spitzenkandidaten vor der Wahl. Es ist daher falsch, wenn das Spitzenkandidatenkonzept als Stärkung der europäischen Demokratie vermarktet wird. Vielmehr stärkt das Spitzenkandidatenkonzept die Macht der Strippenzieher in den Parteien. Zudem sollte sich bei einem Kommissionspräsidenten vielleicht auch die Frage der Qualifikation für das Amt stellen. Es ist ja nicht auszuschließen, dass die von den Parteien nominierten Spitzenkandidaten durchweg begnadete Bierzeltredner und joviale Phrasendrescher sind. Wohlgemerkt: Ich halte weder Herrn Weber für das eine noch Herrn Timmermans für das andere, aber grundsätzlich besteht diese Möglichkeit ja. Da ist es gut, wenn der Europäische Rat frei ist, die für die Leitung einer riesigen Behörde bestqualifizierte Persönlichkeit zu benennen. Leider hatte man in den vergangenen Wochen nicht den Eindruck, dass Qualifikation das beherrschende Kriterium war, an dem der Europäische Rat mögliche Kandidaten maß. Wichtiger schien bei der Besetzung der europäischen Spitzenämter vielmehr die „Balance“ zwischen Parteizugehörigkeit, Nationalität und Geschlecht zu sein. Und dann kam auch noch das Kriterium der Spitzenkandidatur hinzu, verbunden mit Frau Merkels laut geäußertem Wunsch, dass kein Konflikt zwischen Parlament und Rat riskiert werden solle. Nun ist es anders gekommen. Mit Ursula von der Leyen wurde eine Kandidatin nominiert, die nicht Spitzenkandidatin war. Welche besondere europapolitische Qualifikation Frau von der Leyen aufweist, erschließt sich mir noch nicht, aber immerhin hat der Rat eine intelligente, integre und regierungserfahrene Persönlichkeit vorgeschlagen. Das ist eine Herausforderung an das Parlament: Der Europäische Rat insistiert auf seinem Recht, die Qualifikation einer Kandidatin höher zu gewichten als die parteipolitische Macht. Die spannende Frage ist, ob das Parlament dies akzeptiert. Dies ist zugleich das Problem. Wenn das Europaparlament Frau von der Leyen wählt, knickt es ein. Das Spitzenkandidatenprinzip, für das sich das Europaparlament so sehr in die Brust geworfen hat, ist dann tot. Das wäre zweifellos gut für die EU, aber es wäre ein schwerer Schlag für das Selbstbewusstsein des Parlaments. Deshalb wird Frau von der Leyen sich viel Mühe geben müssen, die Parlamentarier von ihrer Eignung zu überzeugen.
|
Bernd Lucke
|
Es ist falsch, wenn das Spitzenkandidatenkonzept als Stärkung der europäischen Demokratie vermarktet wird – vielmehr stärkt es die Macht der Strippenzieher in den Parteien
|
[
"Von der Leyen",
"Europaparlament",
"Europarat",
"Spitzenkandidatin"
] |
außenpolitik
|
2019-07-03T18:05:17+0200
|
2019-07-03T18:05:17+0200
|
https://www.cicero.de/aussenpolitik/eu-kommissionsprasidentschaft-von-der-leyen-europaparlament-europarat-spitzenkandidatin
|
EU-Gipfel - Kanzlerin gerettet, Sprengsatz nicht entschärft
|
Beim diesem heiklen EU-Gipfel ging es vorrangig nicht um die Reform des europäischen Asylsystems, sondern um die Rettung von Merkels Kanzlerschaft. Insofern war der Gipfel ein voller Erfolg, denn parallel zu den zaghaften Zusagen von zwei Mittelmeerstaaten, Spanien und Griechenland, schon registrierte Asylsuchende zurückzunehmen, versammelte sich die deutsche Wirtschaft demonstrativ hinter der Kanzlerin. Das war professionell und wirkungsmächtig orchestriert. An der europäischen Asylpolitik ändert das Ergebnis des Gipfels allerdings nur sehr wenig. Der Sprengsatz, den dieser Politikbereich an die EU legt – das Handelsblatt titelte: „Scheitert Europa? Wie die Flüchtlingskrise zur Schicksalsfrage der EU wurde“ – hat kein Gramm an Sprengkraft verloren, nur das Zündholz ist wieder ein wenig weiter von der Zündschnur entfernt worden. Angesichts der Lage, in welche die Regierungen in den vergangenen Jahren die Europäische Union manövriert haben, ist das viel. Es dokumentiert, dass schon die Bewahrung der handlungsarmen Zerstrittenheit als Erfolg gewertet werden muss. Von effektiver Handlungsfähigkeit ist die EU in der Flüchtlingspolitik, und nicht nur hier, aber weiterhin Lichtjahre entfernt. Die vereinbarte Rücknahme der in dem Fingerabdruck-Identifizierungssystem Eurodac erfassten Schutzsuchenden nach Griechenland und Spanien wird es jedoch ermöglichen, zumindest eine Union zu retten. Nicht die Europäische, sondern die Fraktionsgemeinschaft der beiden Unionsparteien CDU und CSU in Deutschland. Dafür, so sagte die Bundesregierung zu, würden im Gegenzug Familienmitglieder aus diesen Staaten mit Familienmitgliedern, die sich schon in Deutschland befinden, zusammengeführt. Wie viele dies sind, dazu gab es keine umfassenden Hinweise. Dass die Regierungen auf Symmetrie achten werden, kann man sich denken. Der griechische Ministerpräsident Alexis Tsipras sagte der FAZ zufolge, dass es sich um 100 bis 150 Rückführungen pro Monat aus Deutschland handeln würde, im Gegenzug 950 Menschen aus Griechenland mit ihren Familien in Deutschland zusammengeführt würden. Parallel dazu wurde vereinbart, dass Griechenland und Spanien sowohl finanziell, als auch hinsichtlich der Ausstattung mit Polizisten an der Grenze unterstützt werden sollen, im Falle „der fünf Ägäis-Inseln in Griechenland und zur Unterstützung Spaniens sind zügig positive Maßnahmen zu ergreifen.“ #Deutschland, #Griechenland und #Spanien haben eine Politische Vereinbarung über Zusammenarbeit in der Migrationspolitik getroffen. #EUCO pic.twitter.com/1ew4QeHtCp Die Form dieser raschen Unterstützung, so wird man sich das ausmalen können, wird über den Eifer mitentscheiden, die anderen Vereinbarungen umzusetzen. Der spanische Ministerpräsident Pedro Sánchez wies schon darauf hin, dass die Kosten für die Rückführungen von Deutschland zu tragen seien und hierzu finanzielle Unterstützung zur Grenzüberwachung an Spanien versprochen sei. Die wichtigste Frage blieb hingegen unbeantwortet: Was geschieht mit den Flüchtlingen aus Italien, nachdem die neue italienische Regierung nur ein Ziel verfolgt, nämlich sie aus dem Land zu bringen? Möglicherweise wird erneut die österreichische Regierung die Maßnahmen ergreifen müssen, die der Bundesregierung den Rücken freihalten. Denn es ist nicht auszuschließen, dass der italienische Eifer zur Registrierung von Schutzsuchenden erlahmt. Ebenso wenig wird man Migranten an der Weiterreise in den Norden hindern. Dass die EU-Staaten zudem die Frontex-Agentur, zuständig für den europäischen Grenz- und Küstenschutz, stärken wollen, ist ein schon mehrfach geäußertes Ziel. Bisher blieben die entsprechenden Beschlüsse ohne erkennbare Wirkung. Jetzt soll es bis 2020 mit verstärkter Kraft vorangehen. Wie in vielen anderen Bereichen auch, wird diese Übereinkunft derzeit öffentlich nicht mit Zahlen unterlegt. Wie viel Personal ist wirklich erforderlich? Reicht die genannte Aufstockung auf 10.000 Mitarbeiter aus? Wie werden die Sicherheitskräfte in 18 Monaten einsetzbar sein? Welche Ausrüstung ist notwendig? Und vor allem: Was kostet das? So konkret wird keiner werden wollen, der wiedergewählt werden will. Die Staats- und Regierungschefs haben zudem die EU-Kommission aufgefordert, rasch zu prüfen, wo Asylzentren außerhalb der EU in Nordafrika errichtet werden können. Fast alle betroffenen Staaten lehnen dies aber ab, nicht zuletzt deshalb, weil sie befürchten, als Zielland für Migranten noch attraktiver zu werden, sollten solche Zentren auf ihrem Territorium errichtet werden. Möglicherweise wird man in einigen Fällen – in Niger oder Libyen – mit erheblichen finanziellen Mitteln etwas ausrichten können. Aber es bleibt angesichts des wirtschaftlichen und demographischen Drucks in vielen afrikanischen Ländern eine Illusion, der Herausforderung auf diesem Weg effektiv begegnen zu können. Zumal Marokko, Algerien und Ägypten sich dieser Idee wohl auch weiterhin verschließen werden. Der französische Präsident Emmanuel Macron und Spaniens Premierminister Pedro Sánchez hatten vor einigen Tagen angesichts der Krisen um Flüchtlingsboote privater Hilfsorganisationen auf offener See gemeinsam Aufnahmezentren für Bootsflüchtlinge innerhalb der EU gefordert. Dem ist der Gipfel gefolgt und hat beschlossen, dass geschlossene Aufnahmezentren errichtet werden können, allerdings – und mag letztlich entscheidend sein – auf freiwilliger Basis. Geschlossene Lager werden in europäischen Staaten sicher heftige politische Debatten auslösen. Es wird nicht lange dauern, bis sich Europarechtler zu Wort melden. Von dort aus sollen die Schutzsuchenden auf die EU-Staaten verteilt werden. Allerdings nur auf diejenigen, die sie freiwillig aufnehmen. Damit ist ein prinzipielles Ziel aufgeweicht worden, das die Bundesregierung bisher betont hat: dass es nämlich verbindliche, der gegenseitigen Solidarität in der EU entsprechende Quoten geben soll. Aber diese Initiative wurde von so vielen Staaten in der EU abgelehnt, dass sie sowieso von Beginn an tot war. Die Visegrád-Staaten (Ungarn, Polen, Tschechien und die Slowakei) haben sich damit fürs erste durchgesetzt. Hinter den Verabredungen des Gipfels wird versteckt, dass die Bundesregierung von diesem Prinzip abgerückt ist. Etwas verwundert soll der italienische Ministerpräsident Giuseppe Conte angesichts dieser Ergebnisse gefragt haben, was eine Einigung bei so viel Freiwilligkeit eigentlich wert sei. Das werden die nächsten Wochen und Monate zeigen.
|
Thomas Jäger
|
Der EU-Gipfel wird Angela Merkel vorerst stärken. Doch von effektiver Handlungsfähigkeit in der Asylpolitik bleibt die EU weit entfernt. Eine Analyse der Ergebnisse von Brüssel
|
[
"Flüchtlingskrise",
"EU-Gipfel",
"Angela Merkel",
"CSU",
"Außengrenze",
"EU-Außengrenze"
] |
außenpolitik
|
2018-06-29T22:49:11+0200
|
2018-06-29T22:49:11+0200
|
https://www.cicero.de//aussenpolitik/eu-gipfel-fluechtlinge-deutschland-angela-merkel-csu-horst-seehofer-solidaritaet
|
Aids-Konferenz in Brisbane - Australien könnte HIV-Epidemie besiegen
|
Der Generaldirektor der Weltgesundheitsorganisation (WHO), Tedros Adhanom Ghebreyesus, sagte: „Die Tatsache, dass wir jetzt in irgendeinem Land über die Eliminierung von HIV-Übertragungen sprechen, ist unglaublich. Es zeigt, was möglich ist und gibt uns Hoffnung.“ Laut der University of New South Wales wurden in Australien 2022 nur noch 555 neue HIV-Infektionen verzeichnet. Zum Erfolg hätten vor allem vorbeugende Maßnahmen wie verstärkte HIV-Tests und die Präexpositionsprophylaxe (PrEP) beigetragen. Diese ist für bestimmte Menschen in Australien – wie auch in Deutschland – auf Rezept mit kleiner Zuzahlung erhältlich. Dabei nehmen HIV-negative Menschen ein Medikament ein, um sich vor einer Ansteckung mit dem Virus zu schützen. Zudem kann dank der heutigen medizinischen Möglichkeiten immer besser verhindert werden, dass eine HIV-Infektion zur Immunschwächekrankheit Aids wird. Tausende Experten aus allen Bereichen von Wissenschaft und Politik sowie zahlreiche Aktivisten nehmen an der Konferenz an Australiens Ostküste teil. Bis Donnerstag sollen vor allem neueste Forschungen und innovative Behandlungsmethoden vorgestellt werden. Die IAS veranstaltet die Tagung im jährlichen Wechsel mit der Welt-Aids-Konferenz. Die „AIDS 2024“ wird in München stattfinden. „Australiens Erfolg zeigt uns, dass wir über die Wissenschaft, die Werkzeuge und das Know-how verfügen, um Infektionen zu stoppen und Leben zu retten“, erklärte Tedros. „Die Herausforderung, vor der wir jetzt alle stehen, besteht darin, diesen Erfolg überall auf der Welt zu wiederholen, insbesondere in den ärmsten, am stärksten marginalisierten und am schwersten erreichbaren Gemeinschaften.“ Zum Ende der IAS 2023 ist eine virtuelle Podiumsdiskussion mit dem US-Immunologen und ehemaligen Pandemiebekämpfer Anthony Fauci geplant. Es geht darum, wie die aus der Corona-Pandemie gewonnenen Erkenntnisse auf die globale HIV-Reaktion angewendet werden können. „Wir müssen uns weiterhin gegen Desinformation und Stigmatisierung wehren, denn Desinformation hat die Reaktion auf Covid-19 wirklich erschwert – und in bestimmten Fällen auch unsere Antwort auf HIV behindert“, sagte Fauci im Vorfeld der Debatte. Desinformation und Stigmatisierung seien „die Feinde der öffentlichen Gesundheit“. Quelle: dpa
|
Cicero-Redaktion
|
Australien könnte bald das erste Land sein, das ein Ende der HIV-Epidemie verkünden kann. Experten feierten die sinkenden Infektionszahlen bei der Eröffnung der 12. Konferenz der International Aids Society (IAS) als „monumentalen Meilenstein“.
|
[
"HIV",
"Weltgesundheitsorganisation",
"Australien"
] |
außenpolitik
|
2023-07-24T10:57:26+0200
|
2023-07-24T10:57:26+0200
|
https://www.cicero.de//aussenpolitik/aids-konferenz-in-brisbane-australien-konnte-hiv-epidemie-besiegen-
|
CO2-Kompensation - #techforfuture
|
Symbolpolitik beherrscht die Klimadebatte. Besonders deutlich ist das bei „Extinction Rebellion“. Sie setzen bewusst auf skurrile Kunstaktionen – wie zuletzt in Berlin. „Fridays for Future“, die sich mit „Scientist for Future“ zum Teil zusammengeschlossen haben, ist da noch konstruktiver und unterbreitet auch konkrete Vorschläge. Doch auch bei „Fridays for Future“ steht die Symbolpolitik im Zentrum. Immer geht es darum zu symbolisieren: Jetzt bedarf es mehr Öko-Radikalität. Die veröffentlichte Meinung haben die Demonstranten da durchaus auf ihrer Seite – zumindest größere Teile der linksliberalen Publizistik. In einem Grundsatzessay zum Klima endete Bernd Ulrich von der Zeit so etwa gerade mit den Worten: „Zurzeit wird mit wachsender Verzweiflung gefragt, wie um alles in der Welt die Wende noch zu schaffen sein könnte. Nun: Es ist ja noch nie wirklich probiert worden.“ Der Tenor ist hier: Mehr Öko-Radikalität bitte. Nur wird bei der ganzen Klima-Radikalitäts-Prosa oft vergessen: „Wie“ denn jetzt genau? Meine These ist: Diese ganze Symbolpolitik bringt wenig. Davon abgesehen, dass man Menschen mit Rufen nach mehr Radikalität und entsprechender Symbolpolitik auch auf den Baum treibt, und Geister ruft, von denen man nicht weiß, wie radikal sie noch werden – Extinction Rebellion ist ein Zeichen dafür, dass die Entwicklung gerade eher ungut ist –, ist Symbolpolitik eine Politik, die Emotionen anfacht, ohne Lösungen zu bieten. Noch mehr mediale Erhitzung und emotionale Entkopplung von der vernunftgeleiteten Debatte über die besten Lösungen, bringen die deutsche Demokratie in das falsche Fahrwasser. Symbolpolitik rettet das Klima jedenfalls nicht. Ich halte das auch nicht einfach für eine These unter vielen Thesen. Ich halte das für einen Fakt. Vor allem eine kleine 80-Millionen-Seelen-Nation wie Deutschland, die lediglich 2 Prozent zum weltweiten CO2-Ausstoß beiträgt, kann die Welt nicht im Alleingang vor dem Klimawandel retten. Auf diesen Einwand, dass Deutschland ja zu klein sei, und daher die deutschen Anstrengungen eh nur ein Tropfen auf dem heißen Stein wären, entgegnet der Klimaaktivist in der Regel, dass Deutschland eben ein „grünes Vorbild“ sein müsse. Aber wie denn? Ein „grünes Vorbild“ allein durch Symbolpolitik? Ein Vorbild dadurch, dass man die zentrale deutsche Industrie, nämlich die Autoindustrie, zum Beispiel mit Klimakiller-Plakaten über das Auto, mit einem Furor überzieht? Ein Vorbild dadurch, dass Postwachstumsideen aufkommen, die meinen, dass Ökologie im Zweifel wichtiger sei als Ökonomie? Ein Vorbild dadurch, dass auf einer identitätspolitisch-moralischen Ebene Gefolgschaft für die Idee geworben wird, dass man jetzt grüner werden muss – ohne einen Plan für den Weg dahin zu haben? Ein Vorbild dadurch, dass wir als Konsumenten irgendwie klimabewusster leben, uns vegan oder vegetarisch ernähren, weniger Plastik benutzen, und noch pflichtbewusster den Müll trennen? Nein, so können wir kaum ein Vorbild für andere Länder werden. Wir können nur ein „grünes Vorbild“ werden, wenn wir einen technologischen „Green New Deal“ als Projekt begreifen. Die Klimafrage also in die „politische Ökonomie“ transportieren und am Ende grünes Wachstum erzeugen. Warum in Deutschland vor allem die politische Linke das nicht genau so diskutiert, und sich stattdessen eher in diffusen Narrationen über die Klimagefahr und zudem in Symbolpolitik verliert, ist eine der größten Dummheiten innerhalb des gegenwärtigen politischen Diskurses. Bevor wir beginnen zu klären, worin denn die Überlegenheit eines technologischen Ansatzes liegt, müssen wir noch ein Gegenargument ausräumen. Es geht etwa so: Mit der Erde ist nicht zu verhandeln und was nütze schon Reichtum, wenn die Ökologie kaputt ist und was bringen zudem die Jobs, wenn die Erde brennt? Technologie sei zu spät dran, jetzt müsse gehandelt werden. Aber wie soll nun gehandelt werden? Durch „Verzicht“, wie etwa Bernd Ulrich fordert? Durch eine radikale CO2-Bepreisung – wie des Öfteren vorgeschlagen? Wenn man hier mal nüchtern nachfragen darf: Was bringt Verzicht? Was bringt ein CO2-Preis von 180 Euro pro Tonne CO2? Wir würden in ein paar Jahren vielleicht nicht mehr 2 Prozent des weltweiten CO2 ausstoßen, sondern 1.5 Prozent. Aber die deutsche Wirtschaft würde darunter zerbrechen, und zwar sowohl der Konsum erodieren als auch die deutsche Industrie sich langsam ins Ausland verabschieden. Währenddessen wird sich in China, Malaysia, Mexiko, im Nahen Osten, in Afrika und so weiter wenig ändern. Sie stoßen weiterhin kräftig CO2 aus. Manche wollen sich hier – gerade zumindest – nicht ändern und manche können es auch schlicht nicht. Letzteres liegt an schlichtem Governance-Versagen der Regierungen, etwa für Teile Asiens und Afrikas gilt das. Was lässt sich schon ein Fabrikbesitzer in Afrika von seiner Regierung erzählen? In der Regel nichts. Die Konsequenz von deutschem Verzicht und extrem hoher CO2-Bepreisung wäre also, dass der CO2-Ausstoß sich kaum verändert, und das einzige Ergebnis ist, dass wir in Deutschland volkswirtschaftlich ärmer werden und individuell weniger besitzen. Nichts gewonnen also. Weder für Ökologie noch Ökonomie. Wie wäre es also, wenn wir es mit einem Weg versuchen, der Ökologie und Ökonomie etwas bringt. Wir in Deutschland werden nur ein „grünes Vorbild“ sein können, wenn wir weiterhin Wachstum haben und sogar Weltmarktführer in grüner Technologie werden. Dann werden zu uns alle schauen und sagen: Die Deutschen zeigen, dass es geht. Aber wie sähe ein Green New Deal eigentlich aus und worin besteht der Ansatz des #techforfuture dann genau? 1. Ein Glaube an Technologie ist berechtigt. Es gibt Technologien, die man nur weiter fördern muss. Etwa durchsichtige Solarzellen, die als Fenster Strom liefern könnten. So ein durchsichtiges Solarpanel zu entwickeln, ist gerade Forschern der Michigan State University gelungen. Dann gibt es Vertical Farming. Es gibt auch ein Schweizer Start-Up, das mit riesigen Luftfiltern Kohlenstoffdioxid aus der Luft fitern will. Selbst Stahl-Hersteller wollen auf Wasserstoff setzen und so ihre Produktion umbauen. In Hamburg soll bald die weltweit größte Anlage für Wasserstoff-Elektrolyse entstehen. In grünem Wasserstoff liegt eine große Chance für Ökonomie und Ökologie. Zudem sind Power-to-X-Technologien bereits vorhanden. Power-to-X-Technologien machen es möglich Stromüberschüsse zu speichern. Energie kann damit verbraucht werden, wenn sie gebraucht wird und nicht, wenn die Sonne scheint oder der Wind weht. Auch über neue Alternativen der Kernenergie, wie die Kernfusion, wird zu wenig gesprochen und sie zu wenig gefördert. Technologien sind durchaus da. Das muss man nur über eine konsequente „ökologische Industriepolitik“ viel besser unterstützen. Gerade mit Milliarden Euro. Institutionell sollte man zu dem eine Gründung einer grünen Innovationsagentur verfolgen. In der taz habe ich dazu bereits vor ein paar Monaten vorgeschlagen, dass man die deutsche staatliche Innovationsagentur „SprinD“, die nach dem Vorbild der Darpa, einer staatlichen Innovationsagentur aus den USA, gerade in der Gründung begriffen ist, um eine weitere Agentur ergänzt, und zwar nach dem Vorbild der Arpa-E, ebenfalls aus den USA, und die sich dann auf Innovationsförderung in der Umwelt- und Energietechnik konzentriert. 2. Es braucht eine massive Investitionsoffensive in das Bildungssystem. Vor allem für Naturwissenschaften. Der grüne Vordenker Ralf Fücks schrieb vor kurzem auf Twitter an die Adresse der „Klimakids“, dass sie doch Ingenieurswissenschaften, Physik, Chemie und Biologie studieren sollten. Das ist der Weg. Doch dafür muss das Bildungssystem die Voraussetzungen schaffen. Das Geld fehlt überall im deutschen Bildungswesen. Zu dem kommt: Ein Fach wie „Technik“ gibt es an so gut wie keinem deutschen Gymnasium. Für ein deutsches Gymnasium müsste „Technik und Informatik“ Pflichtfach werden. Technologiefachkräfte müssen ausgebildet werden. Wenn Deutschland Klimamilliarden irgendwo gut anlegen kann, dann in der Förderung von MINT-Fachkräften. 3. Eine neue Forschungspolitik ist nötig. Es ist Zeit für eine Milliardenoffensive für Technik-Forschung. Das gilt für Universitäten. Aber es gilt umso mehr für die deutsche außeruniversitäre Forschungslandschaft. Deutschland hat mit den Fraunhofer-Instituten, den Leibniz-Instituten, der Helmholtz-Gemeinschaft und den Max-Planck-Instituten eine sehr gute außeruniversitäre Forschungslandschaft. Natürlich sind unter den Instituten solche, die zu Umwelt- und Energietechnik forschen. Neben einem generellen Programm zu einer stärkeren Forschungsförderung, sollten weitere Klimamilliarden diesen Instituten zu Gute kommen. Warum sich im Klimapaket der Bundesregierung hierzu keine Idee und kein Multi-Milliardenprogramm findet, ist bei bestem Willen nicht verständlich. Mit Technologie den Klimawandel langfristig stoppen, das geht. Aber man muss groß denken.
|
Nils Heisterhagen
|
„Extinction Rebellion“ und „Fridays for Future“ betreiben vor allem Symbolpolitik. Aber Öko-Radikalität und CO2-Preis helfen nicht aus der Klimakrise. Es braucht neue Technologien. Ein Plädoyer für mehr Vernunft
|
[
"Fridays for future",
"Technologie",
"Extinction Rebellion",
"Klima"
] |
wirtschaft
|
2019-10-15T14:11:28+0200
|
2019-10-15T14:11:28+0200
|
https://www.cicero.de//wirtschaft/co2-kompensation-klimaschutz-technologie-fridays-for-future
|
Charles Schwab – Möchtegern-Robin Hood der Wall Street
|
Charles Schwab redet gern. Der weißhaarige Mann, Spitzname
Chuck, sitzt auf seinem Sofa, trägt eine Brille mit schwarzem Rand,
Hemd und Krawatte und redet: über Inflation, den Dollar oder die
enorme US-Staatsverschuldung. „Conversations with Chuck“ heißt das
Videoformat auf der Website des Finanzdienstleisters „Charles
Schwab“. Die
Unterhaltungen mit Chuck haben nur einen Haken. Es sind eher
Monologe. Dabei würde man ihn so gern zu dem Thema befragen, das
seit einiger Zeit die Bankenwelt in Atem hält und Rechtsanwälte und
Aufsichtsbehörden weltweit elektrisiert: der sogenannte
Libor-Skandal. Und wer, wenn nicht der heute 75‑jährige Namensgeber
und Aufsichtsratsvorsitzende der Firma könnte dazu besser Stellung
nehmen? War es doch sein Unternehmen, das als eines der ersten im
Juni Klage auf Schadenersatz eingereicht und damit dem
Establishment der Finanzwelt den Kampf angesagt hat. Das Kürzel Libor steht für „London Inter Bank Offered Rate“. Es
ist der täglich ermittelte Durchschnittszins, zu dem sich die
Banken untereinander Geld leihen würden. Die 18 nach Marktaktivität
wichtigsten Banken geben an jedem Börsentag um 11 Uhr eine
Schätzung ab, zu welchem Zinssatz sie sich ohne Sicherheiten Geld
bei einer anderen Bank leihen könnten. Für die eigentliche
Berechnung werden nur die mittleren 50 Prozent der Angaben
berücksichtigt. Obwohl es sich lediglich um eine hypothetische
Selbstauskunft der Banken handelt, wird der Libor nicht umsonst als
„die wichtigste Zahl der Welt“ bezeichnet, weil auf diesem Zinssatz
Finanzprodukte im Wert von 800 Billionen Dollar basieren. Das
ist das Zehnfache des weltweit erwirtschafteten
Bruttosozialprodukts. Bereits Ende 2007 gab es bei der New Yorker Notenbank erste
Erkenntnisse über zu niedrige, manipulierte Libor‑Zinsen. Über die
britischen und amerikanischen Finanzaufsichtsbehörden kam der
Skandal ins Rollen, in dem bislang allerdings nur die britische
Barclays-Bank Manipulationen eingeräumt hat. Die Folgen: eine
Strafzahlung in Höhe von 450 Millionen Dollar sowie die
Rücktritte des Vorstandsvorsitzenden Bob Diamond und des
Verwaltungsratschefs Marcus Agius. Ein Ende des Skandals ist aber noch gar nicht abzusehen. Die am
Libor-Fixing beteiligten Großbanken fürchten sich vor allem vor
langwierigen Zivilprozessen, wie sie Charles Schwab und einige
andere bereits angestrengt haben. Schwabs Klagebegründung: Die
Manipulationen des Libor-Zinssatzes hätten seine Rendite und die
seiner Kunden geschmälert. Im Gegenzug hätten die beteiligten
Banken „Milliarden unberechtigter Gewinne“ eingefahren. Zu den von
Charles Schwab verklagten Geldhäusern gehören auch die Deutsche
Bank und die sich in Auflösung befindende WestLB, wodurch eventuell
Schadenersatz und Bußgelder vom deutschen Steuerzahler übernommen
werden müssten. Seite 2: Einer der reichsten Self-Made-Männer der
USA Der fünffache Familienvater Schwab schmückt sich gerne mit dem
Image des Saubermanns und Demokratisierers der Branche. Schwab, der
2003 kurz als möglicher Finanzminister der Bush-Regierung im
Gespräch war, ist in den USA durchaus angesehen, weil er
exemplarisch den amerikanischen Traum verkörpert: Der aus einfachen
Verhältnissen stammende Kalifornier steht in der aktuellen
Forbes-Liste der reichsten Amerikaner auf Platz 101 mit einem
geschätzten Vermögen von rund 3,5 Milliarden Dollar. Gepaart
mit dem Label: „Self-made.“ Ein Ritterschlag. Das Unternehmen
„Charles Schwab“ betreut heute rund acht Millionen Konten und eine
Summe von circa 1,65 Billionen Dollar. Besonderen Respekt erhält Schwab dafür, dass er es in seiner
Karriere inklusive MBA‑Abschluss an der amerikanischen
Elite‑Universität Stanford trotz ausgeprägter Lern- und
Leseschwäche so weit gebracht hat. Das Lesen bereitet ihm bis heute
Probleme. Eine von ihm und seiner Frau Helen gegründete Stiftung
kümmert sich daher um Kinder mit Lernschwächen. Ist der mehrfache Milliardär also eine Art Robin Hood? „Um
Himmels willen, nein“, sagt Karen Petrou, geschäftsführende
Partnerin bei Federal Financial Analytics, „Charles Schwab ist nun
wirklich kein kleines Unternehmen. Sie haben nur das gemacht, was
sie tun mussten: die Rechte ihrer Anleger schützen.“ Dafür bekomme
das Unternehmen schließlich seine Maklergebühren. Ohnehin hat das
Saubermann-Image der Bank und ihres Gründers im vergangenen Jahr
empfindliche Kratzer erhalten, als das Unternehmen von der
US‑Finanzaufsicht SEC zu einer Geldstrafe von 119 Millionen
Dollar verurteilt wurde, weil es einen seiner Fonds als sichere
Anlage angepriesen hatte, der voller hochriskanter Wertpapiere
steckte. Auch der restliche Lebensstil Schwabs bietet nur bedingt
Robin-Hood-Potenzial: Seit Jahrzehnten zählt der leidenschaftliche
Golfer zu den großzügigen Wahlkampfspendern der Republikaner und
fordert die Privatisierung der Sozialversicherungskonten und
weitere Steuersenkungen, weswegen er im laufenden
Präsidentschaftswahlkampf voll auf Herausforderer Mitt Romney
setzt. Das Wahlergebnis erfährt Schwab Anfang November. Wie lange
der Feldzug gegen die Banken dauern wird, ist dagegen nicht
abzusehen: „Das wird kompliziert und kann Jahre dauern“, schätzt
Petrou. Beides auf jeden Fall spannende Themen für weitere
„Conversations with Chuck“.
|
Der US-Milliardär und Finanzdienstleister Charles Schwab treibt im Libor-Skandal die Großbanken vor sich her. Der Bankier stilisiert sich zum Robin Hood der Bankenwelt
|
[] |
wirtschaft
|
2012-10-01T16:56:33+0200
|
2012-10-01T16:56:33+0200
|
https://www.cicero.de//wirtschaft/moechtegern-robin-hood-der-wall-street/51990
|
|
Union in der Krise – Ein Sommer ohne Sonne
|
Die Zahl allein markiert nur unzureichend die Tiefe des
Abgrunds. Die 26,3 Prozent der Stimmen, welche die einst große
und stolze Volkspartei CDU am 13. Mai 2012 in Nordrhein-Westfalen
noch einfahren konnte, sind zusätzlich schreckenerregend, wenn man
sie in Beziehung setzt zu einer Wahlbeteiligung von
59,6 Prozent. Im bevölkerungsreichsten deutschen Land
versammelten sich kaum mehr als 15 Prozent der
Wahlberechtigten hinter der Fahne der Union. Auch wenn sich –
gemessen daran – die von SPD (39,1 Prozent) und Grünen
(11,3 Prozent) gemeinsam bequem erreichte absolute Mehrheit
auf eine Zustimmung von 30 Prozent verringert: Die CDU an
Rhein und Ruhr und auch in Berlin kann darin keinen Trost
finden. Ordnet man das CDU-Ergebnis von Nordrhein-Westfalen in den
bisherigen Ablauf der 2009 begonnenen Landtagswahlen ein, fällt es
nur von seinem Ausmaß her aus dem Rahmen. Die Verluststrecke begann
in Düsseldorf schon zwei Jahre zuvor, als Jürgen Rüttgers aus dem
Amt gewählt wurde und die SPD-Frau Hannelore Kraft, diese
Möglichkeit eher mit zögerndem Verwundern ergreifend, eine auf das
Wohlwollen der Linken angewiesene rot-grüne Koalition bilden
konnte. Dabei hatte sich die Bundesregierung, aus Rücksicht auf die
CDU in NRW und vor lauter Angst, mit ernsthaftem politischen
Handeln vielleicht einen Wähler zu verschrecken, in einen
bedrückenden Stand-by-Modus begeben. Lähmung statt Leistung –
das Rezept ging nicht auf. Das Urteil von Opposition und Medien,
die Regierung Merkel habe zum Auftakt der Regierungsperiode einen
gründlichen Fehlstart hingelegt, konnte nicht widerlegt werden. Sicherlich gilt, dass Landtagswahlen auch von länderspezifischen
Themen und Akzenten geprägt werden. Unbestritten aber ist auch,
dass bundespolitische Einflüsse eine wichtige Rolle spielen. So
gesehen müssen Bundesregierung und Bundeskanzlerin, diese zudem in
ihrer Eigenschaft als Bundesvorsitzende ihrer Partei,
Landtagswahlergebnisse als Spiegel auch ihres politischen Handelns
sehen. Die seit der Bundestagswahl 2009 in den Ländern zu Ungunsten
der CDU eingetretenen dramatischen Veränderungen – der Verlust
der Regierungsmehrheit in Hamburg, Stuttgart und Kiel ist dabei
besonders schmerzlich – haben auch einen bundespolitischen
Absender. [gallery:Norbert Röttgen: Aufstieg und Fall eines
Möchtegern-Kanzlers] Dies gilt auch für die jüngste Landtagswahl in
Nordrhein-Westfalen. Es wäre verfehlt und ungerecht, das krachende
Scheitern der CDU allein dem Spitzenkandidaten Norbert Röttgen
zuzuschreiben. Allerdings muss sich dieser ein gerüttelt Maß an
Schuld an der Wahlkatastrophe seiner Partei anrechnen lassen. Eine
Kandidatur unter Vorbehalt – wenn es gut geht, bleibe ich,
wenn nicht, halte ich mir den Rückzug offen – empfinden die
Wähler als Zumutung. Horst Seehofer hat den Hinweis auf diese Praxis
der Wählervertreibung mit der Erinnerung daran verbunden, dass die
CDU zu Beginn des Wahlkampfs und beim Antritt von Röttgen in den
Umfragen klar vor der SPD lag. Und der CSU-Chef hat auch darauf
aufmerksam gemacht, dass die Strategie und Positionierung eines
Spitzenkandidaten, zumal im wichtigen Nordrhein-Westfalen, nicht
dessen Privatsache seien, sondern im Interesse der CDU und mit
Blick auf die nächste Bundestagswahl im Gesamtinteresse der Union
erfolgen müssen. Bemerkenswert, wenn auch nicht überraschend: Seehofers Wertung
hat, als Ablenkungsmanöver geeignet, einen Strom von
Krokodilstränen von mancher CDU-Seite darüber ausgelöst, wie man so
mit einem Verlierer umgehen könne – während hinter
verschlossenen Türen und inzwischen auch öffentlich die Analyse aus
Bayern auch von der CDU und insbesondere von der NRW-CDU bestätigt
wird. Eine Frage allerdings bleibt in diesem Zusammenhang: Warum hat Angela Merkel ihren Umweltminister und
NRW-Landesvorsitzenden nicht in die Pflicht genommen und ihn zu
einer Spitzenkandidatur „mit Leib und Seele“ angehalten? Zum
einen wurde Merkel stets ein besonders gutes Verhältnis zu Röttgen
nachgesagt. Zum anderen ist ihre Stellung in der CDU zu stark und
unangefochten, als dass sich Röttgen ihrem Drängen hätte
widersetzen können, auch für den Fall einer Niederlage sein Bleiben
in Düsseldorf zuzusagen. Die Bedeutung nordrhein-westfälischer
Wahlgänge für die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland ist
bekannt. Manchem Wechsel in Düsseldorf ist ein Wechsel in Bonn oder
Berlin gefolgt. Lesen Sie weiter über die mangelhafte Performance der
Bundesregierung... Der Verlust der Bundesratsmehrheit, verbunden mit der
Blockadepolitik der SPD, macht das Regieren für die Bundeskanzlerin
schwerer. Die Nervosität des vom Untergang bedrohten Koalitionspartners FDP
ebenso. Wenn auch die Umfrageergebnisse von Woche zu Woche
schwanken, sicher scheint, dass der Vorsprung der Union vor der SPD
kleiner geworden ist. Einerseits. Andererseits: Angela Merkel genießt höchste Reputation, liegt
hinter Bundespräsident Joachim Gauck, dem neuen Shooting
Star der deutschen Politik, auf dem zweiten Platz. Bei der
Direktwahl eines Bundeskanzlers würde sie jedes Mitglied der
sozialdemokratischen Troika schlagen; das „Dreigestirn“ Gabriel,
Steinmeier und Steinbrück wird auch in den eigenen Reihen mehr und
mehr als verzagt und unentschlossen eingeschätzt. Aber: Es gibt
keine Antwort auf die Frage, warum Ansehen und Wertschätzung,
welche die Kanzlerin und Vorsitzende erfährt, sich nicht auch in
deutlich besseren Umfragewerten für die Union niederschlagen. [gallery:Wahlen in NRW – Rheinländischer Übermut trifft
westfälische Vernunft] Dass dieser Gleichklang in der Zustimmung zwischen Kanzlerin und
CDU nicht erreicht wird, liegt in einer Performance der
Bundesregierung, die gerade von den Wählerinnen und Wählern oft als
mangelhaft empfunden wird, die der schwarz-gelben Koalition 2009 zu
einer klaren Mehrheit verholfen haben. Die Diskrepanz zwischen den
Ankündigungen des Wahl- und Regierungsprogramms und der
tatsächlichen Regierungsarbeit ist einfach zu groß und führt zum
Verdruss der Stammwähler. Wichtige Programmpunkte wurden nicht oder nur unzureichend
umgesetzt, andere gar, wenn auch aufgrund nicht vorhersehbarer
Entwicklungen und Zwänge, in ihr Gegenteil verkehrt. So wurden, um
einen zentralen Punkt herauszugreifen, die Erwartungen der
arbeitenden Menschen auf eine große Steuerreform, verbunden mit
deutlichen Steuersenkungen, nicht erfüllt. Die Steuereinnahmen des
Staates steigen auf Rekordhöhen, und Geld ist für alles da, nur
nicht für eine spürbare Entlastung der Steuerzahler. Dass SPD und Grüne geradezu in einen Steuererhöhungsrausch
verfallen, ist den Wählern von Union und FDP kein Trost. Bei
anderen Themen wurden, wenn auch mit beachtlichen Argumenten und
unter dem Druck nicht vorhersehbarer Ereignisse,
Programmankündigungen in ihr Gegenteil verkehrt. Mit dem Bekenntnis
zur Wehrpflicht zog die Union in die Wahl, politische, strategische
und finanzielle Zwänge führten zu ihrer Abschaffung. Mit dem Kopf
trugen die Mitglieder und Wähler der Unionsparteien diese
Kehrtwende mit, mit dem Herzen taten und tun sie sich schwer –
zu sehr und zu lange waren Bundeswehr und Wehrpflicht ein Kernthema
der Union. Lesen Sie weiter über die Richtlinienkompetenz der
Bundeskanzlerin... Oder, ein Beispiel mit besonderer Nachwirkung: Mit einem klaren
Ja zur weiteren friedlichen Nutzung der Kernenergie wurde im
Wahlprogramm um das Vertrauen der Menschen geworben und die Wahl
gewonnen. Der von Rot-Grün beschlossene Atomausstieg wurde sogar
weiter in die Zukunft verschoben. Nach Fukushima kam die Wende um 180 Grad.
Vielleicht hätte es gereicht, zur rot-grünen Regelung
zurückzukehren und nicht noch eins draufzusetzen. Der von der Union
vollzogene dramatische Kurswechsel und die täglichen Nachrichten
über Schwierigkeiten, Verzögerungen und vor allem auch Kosten der
Energiewende lassen diese bisher jedenfalls in den Augen vieler
Mitglieder und Anhänger der Union noch nicht zu einem Gewinnerthema
werden. [gallery:Fukushima und die Folgen] Unerklärlich und wenig attraktiv für Wählerinnen und Wähler sind
Punkte in der Regierungspolitik, die eigentlich klar und längst
entschieden sind, deretwegen aber der Öffentlichkeit quälender
Streit vorgeführt wird. Hier möchte man sich den Einsatz jener
unbeirrten Tatkraft wünschen, über die die Bundeskanzlerin sonst
durchaus verfügt. So ist es absolut unverständlich, dass
FDP-Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger über Monate
hin ihrem Hobby der Arbeitsverweigerung bei der Vorlage eines
überfälligen Gesetzes zur Vorratsdatenspeicherung nachgehen,
Deutschland in Europa isolieren und Millionen Strafzahlungen
heraufbeschwören kann. Wo bleibt hier die Richtlinienkompetenz der Bundeskanzlerin?
Völlig unverständlich auch das monatelange Tauziehen um das von der
CSU geforderte und von der Koalition längst beschlossene
Betreuungsgeld für Eltern, die ihre ein- bis dreijährigen Kinder
nicht in eine Kindertagesstätte schicken wollen. Dass hier lange
Zeit auch Widerstand aus der Partei der Kanzlerin für überflüssige
Verzögerung und für vermeidbaren öffentlichen Ärger sorgte, hat
nicht nur in der CSU zu besonderer Verärgerung geführt. Ein Thema,
mit dem man durch überzeugende Darstellung und Geschlossenheit
hätte punkten können, wurde verspielt. Euro- und Schuldenkrise liegen als besonders verantwortungsschwere Last auf
Bundesregierung und Bundeskanzlerin. Die Menschen haben Angst,
sie fürchten, dass die Milliardenbürgschaften, zu denen sich
Deutschland schon mit den bisherigen Rettungsschirmen verpflichtet
hat, zu konkreten Milliardenzahlungen werden. Der Druck auf
Deutschland wächst weiter, die Begehrlichkeit der anderen nach dem
Geld der Deutschen auch. Mit ihrer Festlegung, dass Europa
scheitert, wenn der Euro scheitert, und mit ihrem Beharren darauf,
dass alle gegenwärtigen Mitglieder der Eurozone dies auch in
Zukunft bleiben müssten, hat die Bundeskanzlerin das Druckpotenzial
all jener verstärkt, die das deutsche Schiff mit ihren Forderungen
bis zum Sinken belasten wollen. Europa ist mehr als nur eine Währung, Europa gab es vor dem
Euro, Europa wird es nach dem Euro geben. Und der Friede und
Zusammenhalt in Europa waren vor dem Euro stärker. Es ist höchste
Zeit für eine Exit-Strategie.
Umfragen sind Momentaufnahmen. Was heute schwächelt, kann morgen
stark sein. Ein Sommer ohne Sonne steht der Union bevor. Aber bis
zur Bundestagswahl bleiben mehr als zwölf Monate. Noch hat die
CDU/CSU, auch wegen der Schwäche der Opposition, alle Chancen. Wenn
sie eingetretene Irritationen überwindet, wenn sie handelt und
dadurch überzeugt.
|
Die Niederlage der CDU in Nordrhein-Westfalen war ein Warnsignal für die ganze Union und zwingt Bundeskanzlerin Angela Merkel zum Umsteuern: Die Wähler erwarten mehr Führung und Stetigkeit
|
[] |
innenpolitik
|
2012-07-22T12:05:58+0200
|
2012-07-22T12:05:58+0200
|
https://www.cicero.de//innenpolitik/ein-sommer-ohne-sonne/51299
|
|
Hundeverordnung in Berlin - Ein Gesetz ohne Biss
|
In diesen Tagen geht das neue Berliner Hundegesetz ins Abgeordnetenhaus, und es wird begleitet von einem großen stadtpolitischen Gekläffe. Die Zeitungen sind voll davon, Hundehalter und -gegner, einander in Hassliebe zugetan, begegnen sich umso misstrauischer. Viel Gebell um nichts, möchte man meinen. Aber das ist eine Täuschung. Das Gesetz bringt keinen Frieden in die Stadt der Hunde mit 165.000 gemeldeten Vierbeinern. Am Schlachtensee, einem wichtigen innerstädtischen Erholungsgebiet, kommt es zu Demos mit Hunden und ohne, seit eine grüne Stadträtin ein totales Hundeverbot erlassen hatte. Bürgerinitiativen pro und contra Hund gründen sich – mit ortsüblich geistreichen Namen wie „Berliner Schnauzen“ oder „Bello Adé“ . Die ersten Kanzleien haben sich auf Hunderecht spezialisiert. 30 Zentimeter. Das ist der momentan am meisten diskutierte Streitpunkt ums Hundegesetz. Die SPD-Fraktion nämlich hatte die geplante Leinenpflicht in einer Sondersitzung auch auf Hunde ausgedehnt, die kleiner als 30 Zentimeter sind. Auf Deutsch: Jeder Hund ist anzuleinen, egal wie klein er ist. Seitdem schreiben die Zeitungen „Auch Fifi muss an die Leine“. Die Hundefreunde toben. Für sie handelt es sich um einen „nicht artgerechten Leinenzwang“. Berlins Tierheimchefin Ines Krüger etwa sieht den natürlichen Bewegungsdrang von Hunden eingeengt. „Das provoziert sogar Verhaltensauffälligkeiten“, meint sie. Da schwingt ein drohender Unterton mit. Vielleicht lässt sich nirgends besser als am Leinengebot zeigen, wie untauglich das Gesetz ist, um dem Bellokrieg ein Ende zu setzen: Berlin führt den Leinenzwang ein – und erlässt zugleich eine generelle Ausnahme davon. Von der Pflicht, den Hund beim Gassigehen anzubinden, werden alle Bestandshunde sogleich wieder befreit. Bestandshunde, das sind alle Hunde, die es in Berlin bei Inkrafttreten des Gesetzes gibt. Gesetzestechnisch ist eine solche Regelung Kokolores, weil man sich eine wirkungslose Norm sparen sollte. Aber sie hat interessante Folgen für die Stadtgesellschaft: Hundebesitzer können nun über Leinentotalitarismus klagen, Hundekritiker über ein sinnloses Laissez-faire-Gesetz – und beide haben Recht. Auf der Straße sind spannende Gesetzesauslegungen zu erwarten. Hundehalter offenbaren in der Diskussion eine eigentümliche Vorstellung. Ihre tierischen Begleiter sollen von einer Regulierung durch den Staat ausgeschlossen sein. Es sei sinnlos, wenn der Gesetzgeber versuche, in das Hundeleben zu intervenieren, heißt das Mantra der Hundelobby: „Hundegesetze greifen nur bedingt, weil sie das Verhalten im öffentlichen Raum regeln“. Die meisten Beißvorfälle ereigneten sich nämlich im Privaten und nicht etwa auf der Straße. Diese Argumentation führt direkt in ein Arkanum von Hund und Halter, ein Privatissime, zu dem der Staat keinen Zutritt hat. Dahinter verbirgt sich eine Analogie zur Familie. Der Staat tut sich ja auch schwer, ins verfassungsmäßige Erziehungsrecht der Eltern hineinzuregieren. Der gleiche Anspruch wird nun für den Hund erhoben. Hasso heißt heute Lilly oder Elke und findet Aufnahme in die heilige Familie. Die Regulierungsfreiheit allerdings schafft im alltäglichen Zusammenleben von Hund und Mensch in der Stadt buchstäblich gesetzlose Räume – mit all' ihren unappetitlichen Folgen. Am Schlachtensee wurde gerade eine ältere Dame von drei großen Hunden umgerannt und verletzt. War es Zufall, dass die Frau eine Hundeverbots-Aktivistin war? Der Halter entschuldigte sich brav – und lieferte eine originelle Begründung für den Unfall: Das generelle Hundeverbot sei schuld, „sonst könnte ich die Hunde mit der Leine direkt ans Wasser führen, ohne dass sie sich oben auf dem Weg losreißen und ans Ufer rennen.“ Das soll wohl heißen: Reguliere meinen Hund nicht, sonst kehrt er in seinen Urzustand des Wolfs zurück. Man fühlt sich an Oliver Twist und den Ganoven Bill Sikes erinnert, der durch seinen grimmigen Terrier „Bull's Eye“ das Gesetz im gesetzlosen Londoner Frühkapitalismus darstellt. Beinahe 200 Jahre später hat die Hundefreiheit in der Metropole freilich ein anderes, verspieltes Gesicht. Es ist das von Maja Prinzessin von Hohenzollern, die auf der Hundemesse „House of Dogs“ auftritt, um veganes Hundefutter zu vermarkten. Die Besitzerin eines Teacup-Chihuahua „Berlin“ tut dort den Namen ihres Hündchens durch ein hellblaues, mit Glitzersteinen besetztes Halsband kund. Eine Hundehalterin trinkt aus einer Sprudelflasche – abwechselnd mit ihrer Bulldogge. „Der Hund ist heute ein Partner und kein Nutzhund mehr“, beschreibt Rainer Schröder den Stilwechsel. Schröder ist Vorsitzender des „Berufsverbandes der Hundeerzieher und Verhaltensberater“. Es dominieren nicht mehr die Dienst- und Berufshunde, sondern das Tier ist Beziehungsersatz, ein Gesellschaftshund neuen Typs. Damit geht ein Verlust an Erziehung einher. Mehr Hundehalter, die mit ihren Tieren keinen beruflichen Zweck verbinden, bedeuten generell weniger Führung. Der Begriff „Abrichten“ ist Hundebesitzern ein Gräuel. Verhaltensberater Schröder beschreibt, wie in den 1990ern Jahren die gewaltfreie Hundeführung einsetzte, mit den 2000ern sogar die stressfreie. Der Berliner Dogwalker – das ist der Berufsstand der professionellen Hundeausführer – Thomas Bursch beklagt, die Halter beherrschten zunehmend weniger das Abbruchsignal. Das heißt, es gelingt vielen nicht, ihren Hund zum Gehorchen zu bewegen, gerade dann, wenn´s drauf ankommt. Mal sehen, ob das Berliner Abgeordnetenhaus mehr Erfolg hat. Am Donnerstag soll das Hundegesetz verabschiedet werden. Christian Füller ist Autor, Journalist und hat einen Hund.
|
Christian Füller
|
Kaum ein Vorhaben ist im Land Berlin so umstritten wie das neue Hundegesetz, das am Donnerstag verabschiedet werden soll. Es versucht die Quadratur des Kreises: den Hund als neues Familienmitglied zu regulieren. Das Vorhaben wird sich als wirkungslos entpuppen
|
[
"Hundegesetz",
"Hundeverordnung",
"Berlin",
"Bello"
] |
innenpolitik
|
2016-06-22T16:49:38+0200
|
2016-06-22T16:49:38+0200
|
https://www.cicero.de//innenpolitik/hundegesetz-im-abgeordnetenhaus-kein-berliner-hundefrieden
|
Flüchtlinge in Griechenland - Hier versagt Europa
|
Im Schatten der hageren Bäume sitzt Murad, seine Hände locker im Schoß verschränkt. Die müden Augen funkeln auf, wenn er sagt: „Mein größter Traum war Deutschland. Aber Deutschland ist vorbei.“ Murad, der 32-jährige Jeside aus dem Irak, lebt seit fünf Wochen in Piräus. Er hat abgenommen, graue Stoppeln schimmern im schwarzen Bart. Oft sucht er unter den Bäumen Ruhe und etwas Abstand von den lauten Stimmen und Streitereien im Camp. Trotzdem: Gehen will Murad nicht. „Am Mittwoch kamen Polizisten und sagten, wir sollen bis zum 1. Mai von hier verschwinden. Ich warte bis zum letztmöglichen Tag.“ Hier im Hafen von Athen prallen Realitäten aufeinander. Touristen lehnen sich über die Reling einer sanft schaukelnden Motoryacht, blicken hinab auf Grüppchen von Syrern, Afghanen und Irakern. Hinter ihnen gähnen die trostlosen Passagierwartehallen und Bushaltestellen, in denen sie seit Tagen und Wochen schlafen. Die Flüchtenden stehen und sitzen auf dem heißen Beton und sehen zu, wie Schiffe am Horizont verblassen. Sie selbst kamen meist mit Fähren nach Piräus. Etwa von der Insel Lesbos, die Papst Franziskus am Samstag besuchte, bevor er von der schlimmsten humanitären Katastrophe seit dem Zweiten Weltkrieg sprach. [[nid:60800]] Für die meisten wäre Griechenland nur eine Station auf ihrer Flucht in den Westen der EU. Doch weil die Grenzschließungen eine Weiterreise verhindern, stecken aktuell 53.800 Flüchtende in Griechenland fest. Davon 3.700 in Piräus. Murad schüttelt entschlossen den Kopf. In die offiziellen Auffanglager gehe er auf keinen Fall. „Ich habe keinen Kontakt zu Leuten in den Lagern. Aber ich habe schon viele von dort nach Piräus zurückkehren sehen.“ Der Jeside runzelt die Stirn und blickt wachsam in Richtung der grauen Lagerhallen, deren Fassaden gigantische Graffitis bedecken. Nicht weit von hier schläft er selbst auf dem Boden einer stickigen Passagierwartehalle. „Auch in Piräus ist es nicht gut. Die Leute werden aggressiver, es gibt Messerstechereien. Aber hier sind wir wenigstens nicht abgeschottet“, sagt Murad. Eva Cossé ist Griechenlandexpertin der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch und veröffentlichte Ende März einen kritischen Bericht über Piräus. „Schon von Anfang an versuchen die griechischen Behörden, die Menschen im Hafen mit Bussen in die offiziellen Auffanglager zu bringen“, sagt sie. „Ohne Erfolg und das hat Gründe. Diese Lager sind schlecht.“ Doch laut Eva Cossé könne das provisorische Camp im Hafen Athens bald tatsächlich aufgelöst werden. „In der ersten Maiwoche sind hier Osterferien. Der Tourismus beginnt, deshalb wollen die griechischen Behörden keine Flüchtenden mehr dort sehen, wo Reisende verkehren“, so Cossé. Jetzt müsse man aufpassen, dass das Camp nicht mit Gewalt aufgelöst werde. Bereits am Samstag war die freiwillige Helferin Kristina Alicia dabei, als einer der Busse kam, die die Menschen in die Auffanglager bringen sollen. „Die Leute werden nicht informiert. Die Busse kommen einfach, aber wohin sie fahren und warum, das wird den Menschen nicht gesagt“, ärgert sich die Belgierin. Bereits seit Wochen seien nur die freiwilligen Helfer und das Internet Informationsquellen der Flüchtenden im Hafen. Für die Flüchtenden war Piräus mal das, was es eigentlich ist: ein Transitpunkt. Eine Station auf dem Weg in eine bessere Zukunft. Daran erinnert sich Kristina Alicia noch genau. „Ich war dabei, als die Grenzen geschlossen wurden. Als sich diese Station plötzlich zu einem Lager wandelte“, erzählt sie. Das war nur wenige Tage, bevor Murad in Piräus ankam. Wenn Murad darüber nachdenkt, muss er schlucken. „Ich kam zwei Wochen zu spät, die Grenzen waren dicht“, sagt er. Seine Flucht hatte zu lange gedauert. Zwei Mal versuchte Murad vergeblich, in die EU zu flüchten. Erst beim dritten Mal klappte es. „Als ich hier ankam, dachte ich: Wow, gleich bin ich in Deutschland, ich habe es geschafft!“, erzählt der Iraker und weitet ungläubig die Augen. In Piräus erwartete ihn das Gegenteil. Anfangs gab es keine Toiletten, das Essen war knapp, freiwillige Helfer mussten improvisieren. „Die Zustände schockieren mich bis heute”, sagt Kristina Alicia, mittlerweile eine gute Freundin von Murad. Das provisorische Camp hat nur zwei Duschen und wenige Toiletten, die meisten davon sind mintgrüne Dixiklos. „Ich bin so dankbar, dass es Kristina gibt“, erzählt Murad. „Sie ermöglicht mir einmal die Woche eine Dusche im Hotel.“ Dann deutet er auf die leere kleine Plastikbox neben seinem Knie. „Wir bekommen jeden Tag nur Linsen und Nudeln. Darin sind keine Nährstoffe, das ist Fastfood.“ Trotz der Zustände fürchten viele der Flüchtenden eine Schließung des Camps im Hafen. Ihre einzigen Alternativen sind die offiziellen Auffanglager. „Zwar hat Human Rights Watch keinen Zugang zu den Camps. Aber aus Gesprächen mit Flüchtenden weiß ich, dass die Zustände miserabel sind“, erzählt die Aktivistin Eva Cossé. „Das sind sehr einfache Lager, mitten im Nichts, schlecht angebunden und teils ohne Internetverbindung.“ Auch Murad hörte Gerüchte: „Ich habe Angst, dass wir endgültig in Griechenland feststecken, wenn wir in die Auffanglager kommen.“ Momentan können sich die Menschen weder für eine Umverteilung in andere EU-Länder registrieren noch Asyl beantragen. Das bestätigt Eva Cossé von Human Rights Watch. „Das griechische Asylcenter ist zusammengebrochen“, sagt Kristina Alicia. Zu viele Menschen hätten Asyl beantragt. Für Griechenland ist das ein langfristiges Problem. „Auch für die Umverteilung können keine Anträge gestellt werden. Der ganze Prozess ist eingefroren, weil die Behörden überfordert sind“, so Cossé. Monate hat es gedauert, bis sich die Regierungschefs der EU-Länder auf eine Entlastung der Ankunftsländer Griechenland und Italien einigten: 160.000 Flüchtende sollten von dort in andere EU-Länder umverteilt werden. Das war im November 2015. Daten von Mitte April zeigen: bisher sicherte diese Entscheidung nur 646 Flüchtenden eine Reise aus Griechenland in andere EU-Länder. Vereinbart wurden aber 66.400. Deutschland hat bislang 37 Flüchtende aus Griechenland aufgenommen. „2006 bis 2011 habe ich für die US Army übersetzt. Ich wollte auch in Deutschland als Übersetzer arbeiten“, erzählt Murad. Er vermisst die Arbeit. Den ganzen Tag nichts machen zu können, das nagt an ihm. „Die Zeit vergeht langsam. 40 Tage fühlen sich an wie 40 Jahre“, Murad lächelt sauer. Seine Familie sitzt noch im Irak fest. „Ich habe ihnen versprochen, 24 Stunden am Tag zu arbeiten. So lange, bis ich genug Geld verdient habe, um sie in Sicherheit bringen zu können.“ Warum Murad in Piräus bleiben will? „Ich weiß nicht. Ich denke, dass ich Deutschland insgeheim nie aufgeben werde“, flüstert er und senkt den Kopf. Fotos: Johannes De Bruycker
|
Olivia Kortas
|
Touristen soll der Anblick des Elends erspart bleiben: Am 1. Mai beginnt in Griechenland die Urlaubssaison. Bis dahin soll das provisorische Flüchtlingslager im Hafen von Athen aufgelöst werden. Die Flüchtenden sollen mit Bussen abtransportiert werden. Sie fürchten, das könnte eine Sackgasse sein
|
[] |
außenpolitik
|
2016-04-19T11:37:19+0200
|
2016-04-19T11:37:19+0200
|
https://www.cicero.de//aussenpolitik/piraeus-gefangen-zwischen-flucht-und-ankunft/60798
|
Pofalla vs. Bosbach – Harte Zeiten erfordern harte Worte
|
Jede politische Bewegung braucht auch ein Gesicht, das sie verkörpert. Dass nun ausgerechnet jenes von Ronald Pofalla die Rückkehr der Rüpelhaftigkeit in den – nun ja – demokratischen Diskurs symbolisieren soll, ist nicht ohne Witz. Schließlich sieht der Mann immer noch aus wie jener Typus eines Junge-Union-Vorsitzenden, den man gemeinhin eher mit biederer Freundlichkeit und institutionalisiertem Kofferträgertum in Verbindung bringt. Was natürlich ein böses Vorurteil ist. Außerdem, und dafür möchte ich Herrn Pofalla ganz besonders loben, hat er ein weiteres Vorurteil wortmächtig revidiert. Nämlich das vom schluffigen Sozialpädagogen, der für alles und in jeder Situation Verständnis aufbringt. Nach gängiger Lesart hätte Ronald Pofalla, Absolvent der Fachoberschule für Sozialpädagogik in Kleve, dem renitenten Wolfgang Bosbach zuerst ein Anti-Konflikt-Training (idealiter mit dem sympathischen CDU-Onkel Norbert Blüm als Coach) anbieten müssen, um ihn bei fortgesetzter Verweigerungshaltung in ein vom Steuerzahler finanziertes Auslandsprojekt für schwer erziehbare Parlamentarier zu schicken, wo er heute mit Eingeborenen im Urwald Staudämme bauen würde, anstatt in Deutschland den Geldfluss nach Griechenland aufzuhalten. Aber das wäre dann ja auch wieder nicht recht; bekanntlich sammeln sich ja insbesondere im rechten Law-and-Order-Flügel von Pofallas eigener Partei die erbittertsten Gegner der Kuschelpädagogik. Dann schon lieber ein paar deutliche Worte in der Manier eines Joschka Fischer, der dem gescholtenen Kanzleramtschef jetzt in alter Rock’n’Roller-Solidarität zur Seite gesprungen ist: Ihm sei „ein deftiges Wort des Zorns immer lieber als eine scheinbar freundlich vorgetragene süßsaure Hinterhältigkeit“. Machen wir uns doch nichts vor: Journalisten finden in der Öffentlichkeit ausgetauschte Verbalinjurien allemal spannender als staatstragende Reden mit erhöhtem Verlogenheitsanteil. Und den meisten Bürgern dürfte es ganz ähnlich gehen. Harte Zeiten erfordern harte Worte, da kann dann auch nicht jeder geplatzte Kragen gleich mit Rücktrittsforderungen geahndet werden. Allerdings wäre es mir lieber, die Union würde auf ihrem seltsam verdrucksten Modernisierungskurs konsequenter auf die „Methode Pofalla“ setzen, anstatt ihre Entschlossenheit hinter dubiosen Ethik-Kommissionen zu verstecken oder ständig irgendwelche Regionalkonferenzen zu veranstalten. Von einer bürgerlichen Partei erwarte ich bürgerliche Umgangsformen, und das bedeutet in diesem Land eben immer noch zuallererst: funktionierende Kommandostrukturen. Oder habe ich das mit dem „Durchregieren“ etwa falsch verstanden. Ein bisschen mehr Kasernenhofmentalität wird unser Grundgesetz schon noch aushalten; davon abgesehen ist mir auch kein Verfassungsartikel bekannt, in dem es heißt, man dürfe verdiente Bundestagsabgeordnete nicht als alte Hackfressen (oder so ähnlich) titulieren. Vor diesem Hintergrund muss man freilich zwei wichtige Reformvorhaben der CDU besonders kritisch sehen: die Verkleinerung der Bundeswehr zum einen, sowie zum anderen die geplante Abschaffung der Hauptschulen. Immerhin handelt es sich in beiden Fällen um Einrichtungen, in denen das offene und direkte Wort stets besonders gepflegt wurde. Von wo, bitteschön, soll die politische Elite dieses Landes künftig rekrutiert werden wenn nicht aus diesen altbewährten Kaderanstalten der gekonnten Demütigung? In welche Abgründe gesittete Umgangsformen dieser Tage führen, das wird uns ja derzeit vom besonders manierlichen Vorsitzenden einer Partei bewiesen, die die Dummheit besessen hat, dessen Vorgänger (einen begabten Autodidakten auf dem Gebiet der verbalen Entgleisung) aufs Abstellgleis zu stellen. Wenn nun ausgerechnet der Chef der Jungen Liberalen, der ja wohl so etwas wie eine Nachwuchshoffnung der FDP darstellt (vorausgesetzt, dort sind noch Restbestände von Hoffnung nachweisbar), die Schimpftiraden Ronald Pofallas besonders entrüstet kritisiert, kann ich nur sagen: voll am Thema vorbei! Die Freidemokraten täten wahrlich besser daran, sich im Berliner Aggro-Rapper-Milieu auf Talentsuche zu begeben. „Street Credibility“ heißt das Zauberwort, und was das angeht, besteht auch bei Ronald noch ein wenig Nachholbedarf – zumindest rein äußerlich. Vielleicht sollte er Joschka Fischer mal um dessen alte Lederjacke bitten.
|
Ronald Pofalla verkörpert die Rückkehr der Rüpelhaftigkeit in den demokratischen Diskurs. Gut so, denn ein bisschen mehr Kasernenhofmentalität wird unser Grundgesetz aushalten. Und auch den Liberalen täten Talente aus dem Berliner Aggro-Rapper-Milieu gut.
|
[] |
innenpolitik
|
2011-10-05T12:31:01+0200
|
2011-10-05T12:31:01+0200
|
https://www.cicero.de//innenpolitik/ronald-pofalla-gegen-wolfgang-bosbach-harte-zeiten-erfordern-harte-worte/43292
|
|
„Investigativer“ Journalismus - Von der Inflation eines Begriffs
|
Die Änderung kam still, ohne Presse- oder Hausmitteilung. Seit einer Woche gibt es den Begriff „investigativ“ nicht mehr im Spiegel. Ist das schon die erste Folge des „Innovationsreports“, den SWR-Chefreporter Thomas Leif Ende März zuerst offengelegt hatte und in dem der Spiegel über sich selbst schreibt: „Das Alleinstellungsmerkmal ‚Exklusivität‘ und ‚Hintergründe‘ besitzen wir nicht mehr“? Spiegel-Vize Alfred Weinzierl erklärt, es seien Leserzuschriften gewesen, die die Redaktion haben nachdenken lassen. Investigative Stoffe gehörten zur DNA des Blattes – „entsprechend verdienen viele Geschichten im Heft diese Bezeichnung“. Deutschland- und Wirtschaftsmeldungen mit dem Prädikat ‚investigativ‘ hervorzuheben, sei der Redaktion nicht mehr angemessen erschienen, sagt Weinzierl. „Wir verstehen das Weglassen dieses Begriffs als quasi allwöchentliche Detailarbeit am Heft.“ „Investigativ“ – was heißt das eigentlich? Der Duden versteht dieses Adjektiv als „nachforschend, ausforschend, enthüllend, aufdeckend“. Bei vielen Spiegel-Meldungen in den Ressorts „Deutschland investigativ“ und „Wirtschaft investigativ“ war es aber genau andersherum: Regierungen oder Unternehmen hatten ein großes Interesse daran, sie im Spiegel zu platzieren. In der Brexit-Ausgabe 11/2016 etwa erschien auf den Innenpolitik-Seiten eine Meldung über eine Idee des nordrhein-westfälischen Innenministers Ralf Jäger (SPD): Er will die Benutzung von Smartphones und Tablets am Steuer unter Strafe stellen. Das ist zwar interessant für die Nachrichtenagenturen. Aber eine solche Meldung tut niemandem weh und kritisiert auch niemanden: Mit seiner Spiegel-Platzierung will der Minister doch vor allem Werbung für sein Vorhaben machen. Die Leserinnen und Leser haben da offenbar ein feines Gespür gehabt. Es ist gut, dass der Spiegel ihnen zugehört hat. Die jetzige Lösung ist ehrlicher. Investigativ: Für die Pulitzer-Preisjury ist diese Form des Journalismus das „Finden und Offenlegen von Informationen, die Regierung oder private Institutionen lieber unterdrücken wollen“. In der Branche werden Begriffe wie „investigative Recherche“ und „Qualitätsjournalismus“ zunehmend inflationär gebraucht. Es ist erstaunlich: In den vergangenen fünf, sechs Jahren, in denen sich die Medienkrise drastisch verschärft, in denen überall Redaktionen und Zeitungen geschrumpft, zusammengelegt oder geschlossen wurden, sind die „Investigativressorts“ überall wie Pilze aus dem Boden geschossen: Stern, Welt, Zeit – das Büro der Nachrichtenagentur dapd überlebte gar nur drei Jahre –, schließlich die Rechercheredaktion von NDR, WDR und Süddeutscher Zeitung. Spürnasen überall, fürwahr, es müssten goldene Zeiten sein. Ab und zu sind auch ein paar echte Scoops dabei, wie die Snowden-Dokumente beim „Spiegel“, die ARD-Doping-Recherchen, die „Stern“-Enthüllung über die skrupellose Krebsmafia. Doch wie erklärt sich, dass zugleich auch Stiftungen und Lobbygruppen wie Greenpeace mit den TTIP-Leaks – „Investigatives“ bieten? Dass das gemeinnützige Recherchebüro wie „Correctiv“, das gerade in einem Abschiebegefängnis filmte, erklärt: „Die Medien haben Probleme, ihrer Wächterfunktion nachzukommen“? Der INSEAD-Journalistikprofessor Mark Lee Hunter rät seinem Recherchenachwuchs gleich ganz von der „Nachrichtenindustrie“ ab. Das Problem: Vieles, was als „investigativ“ über den Ticker läuft, entpuppt sich bei näherem Hinsehen als Ergebnis eines Nachrichtentausches. Da sind Antworten auf kleine Parlamentsanfragen, halbfertige Referenten- und Gesetzesentwürfe aus Ministerien, Verbandsberichte, die sich bei genauerem Hinsehen als geschickte Lobby- und Werbemaßnahmen entpuppen. Manchmal werden Informationen gezielt gestreut: So wollte der Focus-Chefredakteur aus „zuverlässiger Quelle“ vom Rücktritt des SPD-Chefs Sigmar Gabriel gewusst haben: leider eine Ente. Mancherorts gilt es als „Recherche“, mal eine Studie genauer durchzublättern. Wo „investigativ“ drauf steht, ist PR drin. Eine Stinkmorchel. Das ist bedenklich, weil die Trüffel dann manchmal übersehen werden. Die wohl herausragendste investigative Leistung des Jahres waren die „Panama Papers“. Auch hier war erst einmal PR außen drauf: Süddeutsche-Sonderseiten, opulente Grafiken, eine eigene Domain, ein Buch und zahlreiche Talkshowauftritte. Aber es ging auch um etwas – um teils kriminelle Offshore-Geschäfte von Diktatoren, Mafia-Bossen und Superreichen. Die Resonanz in den anderen Medien war überschaubar. Der Spiegel kümmerte sich in der Woche nach dem Scoop lieber um Immobilien und titelte: „Schlimmer wohnen“ – das Thema Steueroasen wurde im Heft hinten abgehandelt. „Investigativ“: Das ist nie das, was der andere hat. Der Chefredakteur der „Frankfurter Neuen Presse“, Joachim Braun, sagte Mitte Juni auf einem Podium der „Akademie für politische Bildung Tutzing“, dass inzwischen keiner mehr über die Panama Papers rede. Die Menschen seien nicht nachhaltig „ergriffen“. Liegt das wirklich an den Menschen? Oder nicht auch an den Medien, die etwa in Jubelberichten über Nico Rosberg Nico Rosberg zitieren, der sich bei seinem fünften Formel-1-Saisonsieg „fantastisch, spektakulär, perfekt“ fand, oder die Lobeshymnen anderer Medien über Nico Rosberg drucken, aber völlig versäumen zu erwähnen, dass dessen Vertrag mit Mercedes offenbar über eine Offshore-Firma der Kanzlei Mossack Fonseca läuft? Ein Branchendienst höhnte: Die Panama Papers seien „der ‚Mega-Skandal‘ mit der Mini-Halbwertszeit“. Vielleicht sollte man jetzt neu definieren: „Investigativ“ ist, wenn der Neid über den Nachrichtenwert siegt.
|
Petra Sorge
|
Es ist nur ein kleines Wort, das jetzt im Spiegel fehlt. Seit einer Woche verzichtet das Magazin in seinen Meldungsrubriken „Deutschland“ und „Wirtschaft“ auf den Begriff „investigativ“. Ein Wort, das sich inzwischen fast schon inflationär in der Branche verbreitet
|
[
"Investigativ",
"Spiegel"
] |
kultur
|
2016-06-24T17:19:33+0200
|
2016-06-24T17:19:33+0200
|
https://www.cicero.de//kultur/investigativer-journalismus-von-der-inflation-eines-begriffs
|
"Die Partei" - Plötzlich Abgeordneter
|
An dem Michel-aus-Lönneberga-Grinsen kann man ihn noch erkennen. Und daran, dass er sich bei PR-Terminen gerne mit einem Bierkrug bewaffnet. Bastian Langbehn, 30, redet dann, wie Politiker eben so reden. Eine Phrase folgt auf die andere. Schon nach fünf Minuten hat man vergessen, wonach man ihn gefragt hat, so weit ist er vom Thema abgeschweift. Man muss aufpassen, dass er einen dabei nicht noch duscht. Denn beim Gestikulieren stemmt er den Bierkrug in die Luft, so, als wolle er seine Sätze mit einem unausgesprochenen Prösterchen unterstreichen. Wenn man nicht wüsste, dass dieser Mann gerade mit 831 Stimmen den Einzug in den Stadtrat von Lübeck geschafft hat, würde man ihn für einen Karnevalisten halten. Dabei muss das eine das andere gar nicht ausschließen. Das will, nein muss Bastian Langbehn jetzt beweisen. Er ist Abgeordneter einer Partei, die sich „Die Partei“ nennt. Schon der Name ist blanke Ironie. „Die Partei“, das ist die Parodie einer Partei. P wie Pappnase. Ein Stammtisch von Satirikern, die sich einen Jux daraus machen, ein bisschen Sand ins Getriebe der Politik streuen. Für Elitenförderung sind sie, aber auch für basisdemokratische Initiativen. Und die Mauer wollen sie auch wieder zurück. Spalten statt vereinigen, mit dieser Forderung fing es an. Das war 2004. Inzwischen zählt „Die Partei“ 10 000 Mitglieder und einer von ihnen ist Bastian Langbehn, gelernter Einzelhandelskaufmann und Gelegenheits-DJ. Ein freundlicher Riese. Der Bart wächst, wo er will in seinem weichen Gesicht. Dort, in seinem Gesicht, konnte man erahnen, was am Abend des 26. Mai geschehen war. Entgegen aller Prognosen und Hoffnungen war aus Jux plötzlich Ernst geworden. 831 Lübecker hatten ihm ihre Stimme gegeben. Das waren nicht viele, reichte jedoch, um ein Mandat für den Stadtrat zu bekommen.* 2008 hatte das Verfassungsgericht die Fünf-Prozent-Hürde bei Kommunalwahlen für verfassungswidrig erklärt, weil sie kleinere Parteien benachteilige. Plötzlich Abgeordneter. Langbehn sagt, er könne sich nicht mehr an seine erste Reaktion auf diese Nachricht erinnern. Schadenfreude? Oder eher Schrecken? Es ist nicht einfach, den 30-Jährigen zu verstehen, er versteckt sich hinter einem Panzer aus Ironie. „Wir wollten noch feiern gehen, und plötzlich hatte ich ganz viele Mikros im Gesicht.“ Stocknüchtern, wie er gewesen sei, habe er sich dabei ertappt, wie er in einer Kneipe eine Rede gehalten habe, ein Bierkrug in der Hand. Es war ein historischer Moment. Er war der erste Abgeordnete der „Partei“, der ein Mandat erhalten hatte. Politiker-Darsteller gab es viele, doch dieser eine muss jetzt dazu stehen. Irgendwie. Die Realität hat die Satire eingeholt. Es war das dicke Ende eines Wahlkampfes, der so luftig-leicht begonnen hatte, als Komödie. Dass alle Parteien mit F am Anfang verboten werden sollten, hatte Langbehn gefordert. Saubere Schultoiletten, nicht zu vergessen, und ein eigenes Ministerium für Clubkultur. „Nicht rumeiern, sondern feiern“, lautete sein Credo. Bei 16-jährigen Erstwählern kam so etwas gut an und möglicherweise auch bei denen, die noch gar nicht lesen können. „Keine Kita-Maut!“, forderte Langbehn. Neues Leben wollte er der Stadt einhauchen und Gewissheiten ins Wanken bringen. Sogar das Holstentor war nicht vor ihm sicher, diese Festung der Spätgotik, das Wahrzeichen der Stadt. Einer zeitgemäßeren Nutzung wollte er es überführen - als Swingerclub. Die Grünen grinsten nachsichtig, in der SPD und CDU taten einige so, als hätten sie das nicht gehört. Ach, der schon wieder, hörte man sie raunen. Lass den doch reden. Dumm Tüch, dummes Zeug. Das Lächeln sollte ihnen nach dem 26. Mai jedoch gefrieren. Da spazierte der frischgewählte Kandidat der Partei mit einem Bierglas in der Hand ins Rathaus und erkundete sein versehentlich erobertes Reich, Reporter in seinem Schlepptau. Sie beäugten ihn, wie man jemanden beäugt, der im Verdacht steht, er könne Viren einschleppen aus einer anderen Galaxie. Und Bastian Langbehn spielte das Spiel mit. Augenzwinkernd, das kann er gut. * In einer früheren Version hatten wir fälschlicherweise behauptet, die Partei hätte mehr Stimmen als die FDP erhalten. Dabei war die Lage ernst, bierernst. Sowohl Rot-Grün als auch Schwarz-Grün fehlte nur ein einziger Sitz für die Mehrheit. Ein Gau für Lübecks Kommunalpolitiker. Willkommene Werbung für die Satire-Partei. Der Abgeordnete aus Versehen als fleischgewordener PR-Gag. Noch hat die Spaß-Guerilla die Hoffnung nicht aufgegeben, dass sie doch noch ein Schlupfloch findet, um bei der Bundestagswahl anzutreten. In aller Bescheidenheit hat ihr Gründer und Bundesvorsitzender Martin Sonneborn, ehemaliger Chefredakteur des Satire-Magazins „Titanic“ und vielen besser bekannt als Außenreporter der ZDF-heute-show, schon mal die Richtung vorgegeben: „100 Prozent - plus x.“ Was, wenn ausgerechnet von diesem Abgeordneten die politische Zukunft der Hansestadt abhängen sollte? Nun, so weit dürfte es nicht kommen. Am Donnerstag hat sich die Bürgerschaft zu ihrer ersten konstituierenden Sitzung getroffen. Und so wie es aussieht, läuft es auf eine rot-grüne Koalition hinaus - mit freundlicher Unterstützung eines Kandidaten der Initiative „Freie Wähler“. Der ist gegen Lohndumping und Tempo-30-Zonen, für mehr Ganztagsangebote an Schulen. Keine visionären, aber sehr berechenbare Ziele. Und Bastian Langbehn? Dem ist die Erleichterung darüber anzumerken. Die Bruchlandung auf dem Boden der Tatsachen, das Schicksal aller Politiker, die sich plötzlich auf den harten Bänken der Regierung wiederfinden, bleibt ihm vorerst erspart. Er formuliert es naturgemäß diplomatischer. „Man muss auch ein bisschen auf die Außenwirkung achten. Wenn wir uns bei der CDU oder bei der SPD angewanzt hätten, hätten wir gar nicht so gut Missstände anprangern können. Dann wäre auch das Interesse ganz schnell weg.“ Gerade nochmal die Kurve gekriegt. So aber kann er sich zurücklehnen und wieder das machen kann, was er am liebsten macht: Sand ins Getriebe der Politik zu streuen. Er hat sich mit dem einzigen Piraten im Parlament zusammengeschlossen. „Eine Minderheiten-Regierung“, so nennt er die Zwei-Mann-Fraktion. Doch das ist auch wieder so ein Euphemismus. Zusammen ätzt man weniger allein. An Gelegenheiten dazu würde es ihnen nicht mangeln. Theoretisch. Lübeck schiebt einen Berg von Schulden vor sich her. Bis 2019 wird die Stadt 660 Millionen Euro aufgetürmt haben. In ihrer Not hat sie schon den defizitären Flughafen an einen Geschäftsmann verkauft - für den symbolischen Preis von einem Euro. Doch praktisch ist Bastian Langbehn noch vollauf damit beschäftigt, sich ins Klein-Klein zu verstricken und sich von den Folgen des Pokers um die Mehrheitsfindung zu erholen. Von der Niederlage, die doch eigentlich ein Sieg ist. Für seinen ersten großen Auftritt in der konstituierenden Sitzung der Bürgerschaft hatte er sich extra eine rote Pappnase bestellt. Eine Kampfansage sollte es sein an die SPD. Die Partei, die ihn nicht wollte. Einen Clown, so hatten ihn die Genossen genannt und sich hinter seinem Rücken über ihn beschwert: Die Demokratie sei keine Juxveranstaltung. Wohl wahr: Reden ließen sie ihn am Donnerstag nicht und die Pappnase, die er bei Amazon bestellt hatte, kam auch nicht rechtzeitig an. Bastian Langbehn hebt sie jetzt auf. Er wird sie noch brauchen. Hinweis: In einer früheren Version hieß es, Die Partei habe mehr Stimmen bekommen als die FDP. Tatsächlich erhielt die FDP 2029 Stimmen, Die Partei 831. Das sollte natürlich nicht Teil der Satire werden, bevor uns Michael Hoffmann freundlicherweise darauf aufmerksam machte...
|
Antje Hildebrandt
|
Als erster Abgeordneter der Spaßpartei „Die Partei“ hat Bastian Langbehn ein Mandat in einem Parlament gewonnen. Der 30-Jährige sitzt in der Lübecker Bürgerschaft. Porträt von einem, der aus Versehen im Tollhaus landete
|
[] |
innenpolitik
|
2013-06-21T16:17:06+0200
|
2013-06-21T16:17:06+0200
|
https://www.cicero.de//innenpolitik/die-partei-ploetzlich-abgeordneter/54841
|
Epidemiologe Scholz zur neuen Corona-Variante - Wie gefährlich ist die Mutation?
|
Prof. Dr. Markus Scholz arbeitet an der Universität Leipzig am Institut für Medizinische Informatik, Statistik und Epidemiologie. Herr Scholz, Sie haben bereits vor zwei Wochen mit uns gesprochen. Damals haben Sie die Corona-Lage mit Sorgen betrachtet. Wurden diese Sorgen jetzt mit der Nachricht über ein mutiertes Corona-Virus aus England bestärkt? Höchstens leicht. Es ist tatsächlich so, dass sich dort eine Mutation entwickelt hat, die als kritisch eingestuft wird. Aber man muss sagen, dass Mutationen bei diesem Virus die Regel sind. Das ist also nicht die erste Mutation des Virus? Das Virus mutiert die ganze Zeit, wenn auch langsamer als zum Beispiel die Grippe-Viren. Es gibt ungefähr ein bis zwei Mutationen pro Monat. Was ist an dieser so besonders? Die Mutation, die jetzt entdeckt wurde, wurde mit größerer Sorge betrachtet, weil jetzt Proteine betroffen sind, die das Andocken des Virus beeinflussen. Es ist allerdings nicht klar, ob dadurch die Viren wesentlich besser eindringen können. Es liegen auch Daten vor, dass Infizierte mit der mutierten Version eine höhere Viruslast haben. Was ist die Viruslast? Es ist so, dass man das Virus regelmäßig sequenziert. Das heißt, dass man anhand von Proben die Erbinformation des Virus ausliest. Daran sieht man, wie sich das Virus verändert. Und dabei bestimmt man auch, wie viele Viren diejenigen tragen, die infiziert sind. Wie stark ein Patient also von dem Virus befallen ist. Das bezeichnet man als Viruslast. Und bei der neuen Mutation ist diese Viruslast höher. Das würde darauf hinweisen, dass die Mutation jetzt aggressiver ist. Das ist aber nur ein Hinweis aus vorläufigen Daten. Ich sehe keinen Grund, deswegen in Panik zu geraten. Auch in den Sommermonaten war eine Virusvariante aus Spanien mit ähnlichen Hinweisen im Gespräch, was sich dann jedoch nicht bestätigt hat. Außerdem soll die mutierte Version ansteckender sein. Von 70 Prozent ist häufig die Rede. Was genau heißt das? Diese 70 Prozent stammen indirekt aus epidemiologischen Daten. Man vergleicht, wie sich verschiedene genetische Varianten des Virus ausbreiten. Und dabei kommt man zu der Einschätzung, dass sich diese Variante schneller ausgebreitet hat. Das ist jedoch ein lokaler Ausbruch in Südengland. Die spezifische Dynamik dort vor Ort könnte die stärkere Ausbreitung auch nur vortäuschen. Diese Zahl ist also mit Vorsicht zu genießen. Weil Südengland ohnehin ein stärkerer Hotspot sein könnte? Richtig. Es könnte durchaus an anderen Gründen liegen, dass die Zahlen dort explodieren. Es gibt Berichte, dass dort viele Weihnachts-Shopping-Events und ähnliches stattfanden. Die Zahlen lassen sich wegen lokaler Begebenheiten daher eventuell nicht verallgemeinern. Über die 70 Prozent wird viel berichtet, weil die natürlich schockieren, aber die Zahl ist wackelig. Wie sieht so eine epidemiologische Untersuchung zur Ansteckungshäufigkeit aus? Die Ansteckung misst man über die so genannte „Attack-Rate“. Die besagt, wie viel Prozent bei einem Risikokontakt der Kategorie 1 angesteckt werden. Das wäre beispielsweise bei einem Kontakt innerhalb eines Haushalts. Verschiedene Studien zeigen, dass dieser Wert bei Sars-Cov-2 bei circa 20 Prozent liegt. Also gar nicht so hoch. Dieses Virus wird in vielen Fällen gar nicht weitergegeben, aber in einigen an ganz viele. Man kann also sagen, dass sich das Virus im Wesentlichen über Superspreading verbreitet. Es hängt auch von der Phase ab, in der man gerade in der Infektion ist. Es ist nur ein relativ kleines Zeitfenster, in dem man wirklich sehr ansteckend ist und ansonsten ist die Hochinfektionsphase schnell vorbei, aber man weiß diesen Zeitpunkt nicht genau. Im Mittel kommt man auf diese 20 Prozent. Bei einer 70-Prozent-Erhöhung wären das dann 34 Prozent. Aber nochmal: Diese Zahl kommt nur aus indirekten epidemiologischen Daten. Ist es ein Zufall, dass die Mutation aus England kommt? Oder könnte sich das Virus bereits an die ersten Impfungen dort angepasst haben? Das kann ich mir nicht vorstellen. Durch die Impfung kann es schon einen Selektionsdruck auf das Virus geben. Aber so viel wurde auch in England noch nicht geimpft. Es ist auszuschließen, dass das etwas mit der Impfung zu tun hat. Es gelten jetzt Einreisestopps aus England. Bringen die aus epidemiologischer Sicht überhaupt etwas? Die mutierte Version kommt doch wahrscheinlich ohnehin aufs europäische Festland. Man kann Deutschland gegen diese Virusvariante nicht abriegeln. Diese Einreisebeschränkungen verschaffen höchstens ein paar Wochen Zeit, um die Mutation mit biologischen Untersuchungen besser einschätzen zu können. Es ist auch schon berichtet worden, dass die mutierte Variante wohl in anderen Ländern wie Italien oder den Niederlanden aufgetreten ist. Deutschland lässt sich davon nicht dauerhaft isolieren. Wie beurteilen Sie im Anbetracht dessen die Einreisestopps? Es ist nur ein kurzer Zeitgewinn. Man kann die Entscheidung schon so treffen, um die mutierte Version so lange wie möglich gering zu halten. Auch innerhalb von England wird Südengland zu isolieren versucht. Das Vorgehen war bei der ersten Welle das gleiche. Auch damals wurde über Einreisebeschränkungen versucht, Sars-Cov-2 so lange wie möglich aus Deutschland herauszuhalten. Eine Weile hat es auch funktioniert, aber dauerhaft ist es bei dem Reiseverkehr nicht möglich. Ist der bisherige Impfstoff gegen die mutierte Version eigentlich noch wirkungsvoll? Man weiß ohnehin nicht genau, wie anhaltend der Impfstoff Schutz bietet. Das Problem ist, dass man das nur schwer testen kann. Man kann schließlich Geimpfte nicht absichtlich mit Sars-Cov-2 infizieren, um zu überprüfen, ob die Impfung noch wirkt. Ob die Impfung jetzt auf die neue Variante passt, ist deshalb auch nicht klar. Das ist ähnlich wie beim Grippeimpfstoff, der auch immer unterschiedlich gut wirkt. Ich bin aber überzeugt, dass der Impfstoff auch bei der mutierten Variante eine Wirkung hat. Die mutierte Version soll sich genetisch stark unterscheiden. In der Genomanalyse ist aufgefallen, dass die mutierte Version viele genetische Veränderungen aufweist. Es sind auch Gene betroffen, die die Immunwirkung der Impfung beeinflussen können, aber ich gehe davon aus, dass der Impfstoff dann nur leicht modifiziert werden muss. Wenn man einmal die Zielstruktur des Impfstoffes hat, kann man den auch schnell auf neue Varianten adaptieren. Wie lange dauert so eine Adaption? Das ist wesentlich einfacher, als die Impftechnologie selbst zu etablieren. Das wird viel schneller gehen als bei der Erstentwicklung. Ich kann mir vorstellen, dass für Sars-Cov-2 wie bei der Grippe regelmäßig Impfungen notwendig sein werden. Sodass man jährlich neue Impfstoffe gegen neue Varianten hat. Für die Impfung ist die Mutation also nicht weiter kritisch. So wie das Virus mutiert, kann voraussichtlich auch der Impfstoff modifiziert werden. Die Fragen stellte Jakob Arnold.
|
Jakob Arnold
|
Auch das noch. In Südengland wurde eine mutierte Corona-Variante entdeckt, die deutlich ansteckender sein soll. Der Epidemiologe Markus Scholz verrät im Interview, warum ihn diese Nachricht nicht beunruhigt und wie die Einreisestopps zu beurteilen sind.
|
[
"Corona",
"Mutation",
"England",
"Flugverkehr"
] |
innenpolitik
|
2020-12-21T16:41:38+0100
|
2020-12-21T16:41:38+0100
|
https://www.cicero.de/innenpolitik/corona-mutation-grossbritannien-reisestopp-impfstoff
|
Russlands Krieg gegen die Ukraine - Warum Putin uns vollkommen richtig eingeschätzt hat
|
In der Nacht vom 23. auf den 24. Februar brachen alle Gewissheiten zusammen, die der Westen, Europa und Deutschland vorneweg über Putins Russland mühsam aufgebaut hatten. „Der Russe kommt nicht mehr“, dieser sehnsüchtig-pazifistische Satz, auf dem all unsere verteidigungs- und geopolitischen Entscheidungen der letzten drei Jahrzehnte basieren, stand plötzlich der Realität eines russischen Angriffskrieges auf Europa gegenüber. Wladimir Putin, das mussten wir über Nacht erkennen, hat sich als Großmeister darin erwiesen, westliche Gewissheiten zu schaffen und uns in Sicherheit zu wiegen. Er hat sich dabei höchst geschickt die Sehnsüchte gesellschaftlicher Mehrheiten, die Naivität unserer Eliten und die Korrumpierbarkeit viel zu vieler höchstrangiger Einzelner (von Schröder bis Schwesig) zunutze gemacht. Man kann sagen, der einzige wahre russische Exportschlager neben Gas und Öl sind Gewissheiten, die Putin mit der Präzision und Geduld einer KGB-Operation in unsere Hauptstädte, in ganze Generationen von Politikern und Journalisten getragen hat. Ich fürchte, Putin hat auch vorausgesehen, wie wir auf den historischen Kollaps unserer absoluten Gewissheiten reagieren würden: Indem wir uns rasant neue absolute Gewissheiten schaffen. Dabei hilft uns Putins Propaganda-Maschine, seine Kolonnen von willigen Kollaborateuren nur zu gern, denn sie wissen, dass für uns, für den Westen und die Nato nichts gefährlicher und schwächender ist, als Strategien, die auf falschen Gewissheiten, auf Täuschung beruhen. Wir haben noch immer nicht verinnerlicht, dass wir es bei Putins Machtapparat mit einem globalen Spiegelkabinett der Täuschung zu tun haben. Ein einfacher Merksatz, den ich als Reporter in Syrien unter Putins Bomben bitter gelernt habe: Wenn Putin „Waffenstillstand“ sagt, meint er die Vorbereitung der noch blutigeren und skrupelloseren Offensive. Wenn er von „humanitären Evakuierungskorridoren“ spricht, meint er, dass er in seinem Narrativ eine ganze Stadt zum legitimen militärischen Ziel macht. Wenn er sagt, alles wird gut, wird es schlimm. Was aber nicht bedeutet, dass es gut wird, wenn er sagt, es werde schlimmer. Wer Putins Wahnwelt durchdringen will, muss vor allem hinterfragen, was Putin uns glauben machen will. Putin liebt Judo. Er wendet die Kraft, die wir aus Gewissheiten schöpfen, gegen uns selbst. Putins Spiel ist Schach, bei dem die Regeln nur für uns gelten. Seine Türme können springen, seine Läufer schlagen in gerader Linie zu. Am häufigsten liest man derzeit, Putin habe sich wohl „verkalkuliert“, er habe „zu hoch gepokert“, er habe mit der Entschlossenheit des Westens nicht gerechnet. Das mag zutreffen. Aber für wahrscheinlicher halte ich, dass es nicht zutrifft und Putin bloß will, dass wir genau das denken, weil es uns in Sicherheit wiegt und für die entscheidenden Sekunden unaufmerksam macht. Gewiss ist nur: Es gibt keine einzige Sanktion, die Putin nicht hätte kommen sehen können. Wenn wir jeden Morgen aufwachen und uns triumphierend daran erfreuen, dass das sagenhaft tapfere Kiew noch steht, dann sollten wir immer bedenken: Kiew steht noch, weil Putin (aus uns unbekannten Gründen) entschieden hat, dass Kiew noch stehen soll. Er hat entschieden, die furchterregende Feuerkraft seines Militärs noch nicht gegen die ukrainische Hauptstadt zu entfesseln. Warum? Wir wissen es nicht. Wir wissen nur, dass Putin so entschieden hat, weil er glaubt, dass es ihm nutzt. Vielleicht, damit wir denken, er habe sich verkalkuliert? Wenn wir auf die deutschen Sanktionen blicken, müssen wir feststellen, dass Putin uns (bisher) genau richtig eingeschätzt hat. Jeden Tag fließen aus der EU rund 600 Millionen Euro an das russische Angriffskriegs-Regime, auch um die Energieversorgung Deutschlands nicht zu gefährden. Wirtschaftsminister Robert Habeck liefert Putin alles, was der Tyrann wissen muss, wenn er sagt, man würde sonst den „sozialen Frieden in Deutschland gefährden“. Putins Annahme, wir würden eher das Leben der Ukrainer als unsere warmen Wohnungen riskieren, hat sich als vollkommen zutreffend erwiesen. Auch wenn es uns das Herz zerreiße, wie Außenministerin Annalena Baerbock sagt, auch wenn sie angekündigt hat, wir wären bereit, einen hohen wirtschaftlichen Preis im Kampf gegen Putin zu zahlen, sind wir nun offenkundig nicht bereit, einen hohen wirtschaftlichen Preis zu zahlen. Putin lag also vollkommen richtig mit seiner Einschätzung über die Politiker, die uns bis vor vier Wochen selbstgewiss erzählt haben, Nordstream würde Deutschland natürlich nicht in die strategische Abhängigkeit führen. Putin lag richtig mit seiner Einschätzung, dass man in Deutschland eher die Ukraine untergehen lassen würde, als mit aller Kraft alle bestehenden Atomkraftwerke wieder hoch zu fahren oder weiter laufen zu lassen. Bevor die Grünen ihre Anti-Atomkraft-Ideologie fallen lassen, lassen sie eher Kiew fallen. Wenn deutsche Medien dieser Tage Bilder von Putin analysieren und vermelden, Angst in seinem Gesicht entdeckt zu haben, vergessen sie, dass wir nur die Bilder sehen, die Putin uns zeigen will. Und wir merken daran, dass Putin vollkommen richtig lag in der Einschätzung, dass deutsche Journalisten das vergessen würden. Wenn die deutsche Medienlandschaft auf Putins Angriffskrieg damit reagiert, John Lennons schrecklich utopische Pazifistenhymne „Imagine“ zu spielen, in der es heißt „nothing to kill or die for“, während wir erwarten, dass Ukrainer „für unsere Freiheit“ töten und sterben, wenn deutsche Radiosender synchronisiert „Give Peace A Chance“ spielen, dann hat Putin sich nicht verkalkuliert, sondern unsere wehruntaugliche, bedingungslose Friedenssehnsucht vollkommen richtig eingeschätzt. Wenn es auf Social Media nun durchgehend heißt, dies sei ausschließlich Putins Krieg und „nicht der Krieg der Russen“, dann haben wir im Blick auf beides, unsere Geschichte und die Gegenwart vor unseren Augen, noch nicht begriffen, wozu nationalistische Ideologien imstande sind. Natürlich haben wir es mit einer feindlichen Macht, mit feindlichen Millionen, nicht bloß mit einem feindseligen Mann zu tun. Und natürlich residiert dieser Feind mit seinen Propaganda-Sendern, Social-Media-Armeen, Immobilien, Fußballvereinen, Bankkonten mitten unter uns. Putin lag richtig mit der Einschätzung, dass es freien, reichen westlichen Gesellschaften sehr schwer fällt, andere Feinde zu erkennen als den Klimawandel. Wer davon ausgeht, dass es nichts Gefährlicheres gibt als unsere eigenen Gewissheiten, wer hinterfragt, was in unseren Hauptstädten schon wieder Konsens zu werden droht, muss sich fragen: Was, wenn Putin uns derzeit eine Falle stellt, wie er uns seit Jahren Fallen stellt? Was, wenn er nicht nur die Ukraine meint, sondern die Nato? Was, wenn Putin seit Jahren alles dafür tut, um ein nationalistisches Selbstverteidigungsnarrativ zu schaffen, in dem er gegen die Nato losschlagen kann? Was, wenn er der Überzeugung ist, dass er ohne Konsequenzen Artikel 5 auslösen kann, zum Beispiel mit einem taktischen Atomschlag gegen eine kleine deutsche Stadt, weil er weiß, dass wir nach Frieden und Verhandlungen rufen würden, nicht nach nuklearer Vergeltung? Die einzig historisch erprobte Antwort auf ein ultra-aggressives Russland ist ultra-aggressive Abschreckung, militärisch, wirtschaftlich und rhetorisch. Solange wir die strategische Dynamik der Gewissheiten nicht umkehren, sind wir Putins Wahnsinn schutzlos ausgeliefert. Wir müssen Putins bisher leider berechtigte Gewissheiten zertrümmern, statt uns von ihm neue Gewissheiten wie Gift einflößen zu lassen. Wenn wir Nato-Truppen nach Osten verlegen, sollten wir nicht mehr über Kompanien, sondern über Divisionen sprechen. Wenn wir über Sanktionen gegen Putins allmächtiges Oligarchen-Umfeld sprechen, sollten wir deutlich machen, dass sie allesamt, inklusive ihrer Internatskinder, nichts mehr zu suchen haben in Europa. Es gibt einen einfachen Grund dafür, dass so viele reiche Russen in Europa leben: Sie wollen nicht in Russland leben. Kein einziger Dollar, kein einziger Euro darf mehr nach Russland fließen, egal, welchen wirtschaftlichen Schaden es bei uns anrichtet. Kein Politiker, kein Geschäftsmann, der je Putins Geschäft in Europa erledigt hat, sollte von staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen und Sanktionen unbehelligt bleiben. Haben wir wirklich schon alle juristischen Mittel ausgeschöpft, um die Vermögen von Gerhard Schröder und seiner deutschen Gazprom-Bande einzufrieren? Haben wir allen Putin-Freunden das Leben schon so schwer wie möglich gemacht? Nein, natürlich nicht. Putin ist noch weit entfernt von der Gewissheit, dass er die größte Wirtschafts- und Militärmacht der Weltgeschichte ernsthaft fürchten muss. Mit Putin wird es keinen Frieden mehr in Europa geben. Deswegen muss alle Politik darauf ausgerichtet sein, sein Regime abzuschrecken, zu spalten und zu zerschlagen. Die deutsche Gewissheit, Frieden könne es nur mit Putin geben, hat uns an den Rande des dritten Weltkriegs geführt.
|
Julian Reichelt
|
Fast überall ist zu lesen, Wladimir Putin habe sich verkalkuliert, weil er nicht mit derart massiven Sanktionen gerechnet habe, und weil der Vormarsch seiner Truppen mitunter ins Stocken gerät. Aber was, wenn das Gegenteil der Fall ist und wir schon wieder auf eines seiner Täuschungsmanöver hereinfallen? Die einzig historisch erprobte Antwort auf ein ultra-aggressives Russland ist ultra-aggressive Abschreckung.
|
[
"Ukraine-Krieg",
"Wladimir Putin",
"Gerhard Schröder",
"Julian Reichelt",
"Ukraine"
] |
außenpolitik
|
2022-03-05T16:20:30+0100
|
2022-03-05T16:20:30+0100
|
https://www.cicero.de/aussenpolitik/russlands-krieg-ukraine-wladimir-putin-julian-reichelt
|
Rot-Rot-Grün - Die Wähler sind weiter als die Politiker
|
Sie sind wie Königskinder, sie wollen, aber sie können nicht zusammenkommen. Seit mehr als zwei Jahrzehnten wird in Deutschland über ein Bündnis von SPD, Linken und Grünen diskutiert. Aber bei einer Annäherung stehen sich die drei Parteien ständig selbst im Wege. Immerhin: Die SPD hat vor drei Jahren auf einem Parteitag in Leipzig beschlossen, eine Koalition mit Grünen und Linken nicht mehr auszuschließen. Aber sie tut im politischen Alltag wenig dafür, sich diese Machtalternative strategisch zu erschließen und die programmatischen Gemeinsamkeiten auszuloten. Dabei sehnt sich ein Großteil der sozialdemokratischen Parteibasis nach einer Alternative zur Großen Koalition. Auch der Demokratie tut es nicht gut, wenn die Große Koalition von der Ausnahme zur Regel und die Lagerlogik im Parteiensystem auf Dauer blockiert wird. Österreich hat gezeigt, welche Folgen das haben kann. Dort stellt sich für die einstigen Volksparteien SPÖ und ÖVP bereits die Existenzfrage. Die rechtspopulistische FPÖ hingegen eilt von Wahlerfolg zu Wahlerfolg. Wenn SPD und Union so weitermachen, gibt es auch nach der Bundestagswahl 2017 keine Alternative zur Großen Koalition. Deutschland drohen schon bald österreichische Verhältnisse. Dass SPD und Linke nicht zusammenkommen, liegt allerdings auch an den Linken. Viele Linken-Politiker waren früher in der SPD und haben die Partei aus Protest gegen die Schröderschen Sozialreformen verlassen. Für sie scheint die SPD, nicht die Union, der Hauptfeind zu sein. Allen voran für den ehemaligen SPD-Vorsitzenden Oskar Lafontaine, der bei den Linken immer noch viel Einfluss besitzt, obwohl er sich aus der Parteiführung zurückgezogen hat. Für eine Zusammenarbeit stellen Politiker der Linken unannehmbare Bedingungen, etwa die Rücknahme der Hartz-Reformen, vor allem die Abschaffung von Hartz IV. Oder die Beendigung aller Auslandseinsätze der Bundeswehr. Die Grünen sind mittlerweile ziemlich genervt vom Streit der beiden sozialdemokratischen Parteien. Sie glauben nicht mehr an ein Linksbündnis und setzen stattdessen auf Schwarz-Grün. Selbst der linke Flügel der Öko-Partei plädiert nur noch aus Gründen der innerparteilichen Machttaktik für ein rot-rot-grünes Bündnis. Dabei gäbe es sogar im aktuellen Bundestag eine rot-rot-grüne Mehrheit. CDU und CSU verfügen über 310 Abgeordnete. SPD, Linke und Grüne haben zusammen 320. Sie könnten sich jederzeit zusammentun, um die Große Koalition zu beenden und Merkel abzuwählen. In einem konstruktiven Misstrauensvotum könnten die drei Parteien einen Sozialdemokraten zum Kanzler wählen. Ein Schreckgespenst wäre ein rot-rot-grünes Bündnis für die Wähler nicht mehr. Selbst wenn es noch in dieser Legislaturperiode dazu käme. Dies geht aus einer repräsentativen Umfrage des Meinungsforschungsinstituts INSA im Auftrag von Cicero hervor. Dafür wurden im Zeitraum 15. bis 18. Juli insgesamt online 2037 Wahlberechtigte befragt. 28 Prozent der Befragten würden es demnach begrüßen, wenn es kurzfristig zu einem rot-rot-grünen Bündnis käme. Nur noch 34 Prozent sprachen sich dagegen aus. 38 Prozent antworteten mit „Weiß nicht“ oder machten keine Angaben. Bei den bürgerlichen Wählern von CDU und CSU, von FDP und AfD stieße ein Linksbündnis auf deutliche Ablehnung. Doch die Wähler von SPD, Linken und Grünen sind mit großer Mehrheit dafür. So stimmten 54,2 Prozent der Befragten, die 2013 SPD gewählt haben, der Aussage zu, die drei Parteien sollten ihre rechnerische Mehrheit im Bundestag nutzen. Bei den Wählern der Linken von 2013 sind es 64,4 Prozent, bei den Grünen 58,5 Prozent. Die Gegner sind in der Minderheit (SPD: 21,7 Prozent; Linke 13,6 Prozent; Grüne 12,9 Prozent). Es scheint so, als seien die Wähler längst weiter als die Politiker.
|
Christoph Seils
|
Rein rechnerisch hätte eine Koaliton aus SPD, Grünen und Linken eine Mehrheit im Bundestag. Obwohl sich die Parteien selbst schwer tun mit einer Annäherung, hat das Bündnis bei den Wählern seinen Schrecken verloren. Das zeigt eine INSA-Umfrage im Auftrag von Cicero
|
[
"SPD",
"Linke",
"Grüne",
"Koalition",
"Umfrage",
"Insa",
"rot-rot-grün"
] |
innenpolitik
|
2016-08-01T12:58:19+0200
|
2016-08-01T12:58:19+0200
|
https://www.cicero.de//innenpolitik/rot-rot-gruen-die-waehler-sind-weiter-als-die-politiker
|
Piraten-Wahlleiter – „Das ist nicht meine Partei“
|
Cicero Online: Was war in den vergangenen zwei Tagen der Moment, der bei Ihnen das Fass zum Überlaufen brachte? Stephan Urbach: Für mich war schon gefühlt ein Drama, dass ich eine Akkreditierungskarte mit mir herum tragen musste. Bisher war es nie ein Problem, bei den Sicherheitsbeauftragten durchzukommen. Mich haben immer alle erkannt! Jetzt sind wir einfach zu viele. Der Höhepunkt aber war, als der Programmantrag zur Inklusion mit dem Begriff „nationale Identität“ angenommen wurde. Wir sind eine linke Partei und keine, die am rechten Rand schöpfen muss. In diesem Moment habe ich schriftlich meinen Austritt erklärt. Als der Antrag später in einer dritten Abstimmung wieder abgelehnt wurde – demokratisch übrigens höchst fraglich – habe ich meine Erklärung beim Verlassen der Bühne wieder zerrissen. Philip Brechler: Bei mir war es die Debatte über den Umweltantrag PA188. In dem waren weitere Geschäftsordnungsänderungs- sowie Programmanträge versteckt. Also nach dem Prinzip: Wenn der Antrag als Ganzes angenommen wird, sind Anträge B und C zu behandeln. Andernfalls soll er in Module aufgeteilt werden, über die jeweils wieder einzeln abzustimmen ist. So versuchen die Antragsteller, die Tagesordnung auszutricksen. Übrigens hat das auch Laura Dornheim in ihrem Wirtschaftsantrag versucht. Diese ganze Modularisierung war einfach furchtbar! Können die sich nicht vorher auf eine gültige Version einigen? Wie stehen Sie jetzt zu Ihrer Partei?
Brechler: Vielen Piraten fehlt die politische Bildung – und sie sind extrem obrigkeitshörig. Diese Anforderung wurde auch ständig an uns herangetragen: Ja, bitte, seid strenger! Urbach: Mein Gefühl gerade ist: Das ist nicht meine Partei. Sind auch noch andere Mitglieder des Wahl- bzw. Versammlungsleiterteams vorzeitig abgereist?
Brechler: Nein, aber verzweifelt sind im Team wirklich alle. Uns geht es nicht gut gerade. Wie lange sind Sie jeweils in Ihrer Funktion für die Piraten tätig?
Urbach: Das erste Mal war ich im Wahlleitungsteam in Bingen 2010. Insgesamt habe ich diese Funktion bei sieben Bundes- und vier Landesparteitagen ausgeübt. Außerdem war ich bei 18 Kreisparteitagen und einer Bundesmitgliederversammlung der Jungen Piraten Wahlleiter. Brechler: Bei mir waren es fünf Bundes- und acht Landesparteitage. Wir machen diese Arbeit übrigens komplett ehrenamtlich. Wenn wir Glück haben, werden uns die Fahrten erstattet. Was lief in Bochum schief?
Es gab eine richtig aggressive Grundstimmung. Einige Piraten sind zu uns nach vorn gestürmt und haben uns gesagt, das sei alles Scheiße hier. Ich kann da nur sagen: „Leute, ihr habt doch selbst über die Tagesordnung abgestimmt.“ Und dann sagten die: „Ja, aber egal. Wir wollten uns mal beschweren.“ Brechler: Wenn man als Versammlungsleiter die Regeln durchsetzt, die das Plenum vorher selbst beschlossen hat, heißt es: „Ihr seid diktatorisch.“ Ja, was wollt ihr denn bitteschön? Weil das immer schlimmer geworden ist, habe ich einen „Shitstormkristallisationspunkt“ vorgeschlagen. Der wurde dann auch eingerichtet. Seite 2: „Die Basisdemokratie ist die Lebenslüge der Piratenpartei“ Urbach: Wir sind eine andere Performance bei Parteitagen gewohnt. Chemnitz 2010 war der erste nach einem solch extremen Wachstum. Die Debatten dauerten lang, aber wir haben mit dem bedingungslosen Grundeinkommen ein extrem gutes Ergebnis mitgebracht. Offenbach 2011 war auch gut, und selbst nach dem Wahlparteitag in Neumünster vor einem halben Jahr war ich optimistisch. Brechler: Es ist ja nicht so, dass wir nicht an harte Auseinandersetzungen gewöhnt wären. Ich erinnere mich an einen Parteitag, bei dem sich zwei Gruppen völlig zerstritten hatten, weil sie sich nicht auf einen Satzungsänderungsantrag einigen konnten. Und in Berlin wurde einmal eine Wahlleiterin regelrecht von einem Basispiraten bedroht. Ist das also alles noch Basisdemokratie?
Urbach: Die Basisdemokratie ist die Lebenslüge der Piratenpartei. Wir sind jetzt eine Elitendemokratie – oder Geldoligarchie. Weil nur der zum Parteitag kommen kann, der die Zeit und Mittel dafür hat. [gallery:Wie sich die Piraten anpassen] Wie könnte man die Entscheidungsfindung in Zukunft verbessern?
Urbach: Ich befürworte das Modell der ständigen Mitgliederversammlung, bei der alle Piraten im Netz teilnehmen können. Damit wäre der Einfluss der Geldelite verringert. Aber es gibt auch andere Möglichkeiten: Delegierte mit und ohne imperativem Mandat, dezentrale Parteitage, oder – für die Neubesetzung des Vorstands – die Urwahl. Aber egal, welches Modell man wählt, jeder einzelne Pirat hat Angst, seine eigene Macht zu verlieren. Brechler: Ich unterstütze die ständige Mitgliederversammlung auch. Wenn man das System der Delegierten mit imperativem Mandat wählt – normale Delegierte gehen gar nicht –, dann muss aber eine Rotation her. Ich werde demnächst aber erst einmal einen Soli-Topf beim Bundesvorstand beantragen: Damit soll es auch finanzschwächeren Mitgliedern ermöglicht werden, zu Parteitagen zu fahren. Wie hat aus Ihrer Sicht der Bundesvorstand auf all die Probleme in Bochum reagiert?
Urbach: Ganz ehrlich: Die sogenannte Aussprache mit der Basis am Freitagabend war einfach lächerlich. Sie haben die Presse eingeladen – klar, dass dann nur hohle Phrasen gedroschen werden. Ich halte das für unreif. Brechler: Wir sind beide absichtlich nicht dorthin gegangen. Urbach: Es gibt aber auch Mandatsträger, die meinen, sie seien bessere Piraten. Würden Sie sich selbst ein Mandat zutrauen?
Brechler: Ich weiß es noch nicht genau. Ich bin Softwareentwickler; meine Arbeit macht mir gerade viel Spaß. Urbach: Ja, ich würde gern für den Bundestag kandidieren. Im Februar ist in Berlin die Aufstellungsversammlung. Darauf freue ich mich schon! Brechler: Wir möchten auch noch einmal betonen, dass wir beide weitermachen werden. Wir sind trotzdem noch Piraten. Urbach: Auf jeden Fall. Aber Politik zu machen heißt auch, eine Haltung zu haben. Herr Urbach, Herr Brechler, vielen Dank für das Gespräch. Das Interview führte Petra Sorge. Fotos: picture alliance (Titel, Urbach) und Ben de Biel/Piratenpartei Deutschland (Brechler)
|
Der Bundesparteitag der Piraten hat sie krank gemacht: Wahlleiter Stephan Urbach und der stellvertretende Versammlungsleiter Philip Brechler sind am Sonntagabend aus Gesundheitsgründen vorzeitig aus Bochum abgereist. Über den Ablauf der Programmdebatte sind sie frustriert. Bei Cicero Online erklären sie warum – exklusiv.
|
[] |
innenpolitik
|
2012-11-26T00:17:38+0100
|
2012-11-26T00:17:38+0100
|
https://www.cicero.de//innenpolitik/das-ist-nicht-meine-partei/52668
|
|
Chinas wirtschaftliche Schwäche - Peking im Krisen-Modus
|
Die chinesische Regierung scheint aggressive Maßnahmen zur Stabilisierung und Wiederbelebung der Wirtschaft zu ergreifen, indem sie nach 14 Jahren die Geldpolitik ändert und das Haushaltsdefizit auf beispiellose 4 Prozent des Bruttoinlandsprodukts im Jahr 2025 erhöht. Dieser Wechsel spiegelt die Absicht der People's Bank of China wider, die Wirtschaftstätigkeit angesichts sinkender Wachstumsraten und anhaltender Deflationsrisiken zu stimulieren. Zwar sind Indikatoren für eine wirtschaftliche Schwäche, wie geringe Einzelhandelsumsätze und schwindendes Verbrauchervertrauen, nicht neu, doch die Zurückhaltung der Regierung bei der Anwendung von Konjunkturmaßnahmen seit 2009 spiegelt die Lehren aus der Vergangenheit wider. Nach der globalen Finanzkrise 2008 hatte ein massives Konjunkturpaket das chinesische Wachstum vorübergehend angekurbelt, aber zu erheblichen langfristigen Negativfolgen geführt, darunter eine Immobilienblase, eine untragbare Verschuldung der lokalen Behörden und eine sinkende Investitionseffizienz. In Anbetracht dieser Fallstricke verzichtete die chinesische Politik während der Corona-Pandemie auf ähnlich aggressive Maßnahmen und entschied sich stattdessen für zurückhaltendere Interventionen. Die Maßnahmen zur Risikominderung funktionierten zwar, trugen aber auch zu einer langsameren Erholung bei und verstärkten den Eindruck staatlicher Untätigkeit. Tatsächlich stagniert die Wirtschaftstätigkeit in China seit der Pandemie, was die Herausforderungen offenbart, die sich seit mehr als einem Jahrzehnt aufgebaut hatten. Diese zeigten sich sowohl im Verhalten der Verbraucher als auch der Produzenten. Anders als in den Vereinigten Staaten, wo die Haushalte nach dem Ende der Sperren Anfang 2021 schnell begannen, die angesammelten Ersparnisse auszugeben, sparten die chinesischen Haushalte weitgehend weiter. Zwischen Januar 2020 und August 2024 stiegen die Bankeinlagen der privaten Haushalte in China um atemberaubende 65,4 Billionen Yuan (umgerechnet 8,6 Billionen Euro). Dieser sprunghafte Anstieg der Ersparnisse verdeutlicht den weit verbreiteten Mangel an Verbrauchervertrauen und spiegelt die ebenso weit verbreitete Skepsis gegenüber der Fähigkeit der Regierung wider, die seit langem bestehenden wirtschaftlichen Herausforderungen wirksam anzugehen. Die Hersteller haben sich ähnlich vorsichtig verhalten. Das Vertrauen der Unternehmen wurde durch eine Reihe von behördlichen Eingriffen in den Finanzsektor, den Immobiliensektor und die Plattformwirtschaft (Technologieunternehmen und digitale Plattformen) erschüttert. Diese Maßnahmen zielen zwar darauf ab, systemische Risiken zu bekämpfen, haben aber die Unsicherheit für private Unternehmen erhöht, so dass sie noch mehr zögern, zu investieren und zu expandieren. Die kombinierte Zurückhaltung der Verbraucher bei den Ausgaben und der Produzenten bei den Investitionen hat ein deflationäres Umfeld geschaffen. Die Preise für Waren und Dienstleistungen haben stagniert oder sind angesichts der schwachen Nachfrage gefallen. Die sinkenden Preise wiederum haben zusätzliche Ausgaben und Investitionen verhindert, so dass der Kreislauf der wirtschaftlichen Stagnation fortgesetzt wurde. Gleichzeitig hat die Deflation die reale Schuldenlast erhöht, so dass es für Unternehmen und Kommunen noch schwieriger geworden ist, ihre Verbindlichkeiten zu verwalten, insbesondere in Sektoren wie dem Immobilienbereich, in denen die Verschuldung bereits untragbar hoch war. Die Deflation ist daher die wichtigste Herausforderung für die chinesische Regierung in der Zukunft. Sie signalisiert den in- und ausländischen Akteuren, dass die Wirtschaft unterdurchschnittlich abschneidet, was zu einem geringeren Vertrauen der Investoren und höheren Kapitalabflüssen führt. Je länger der deflationäre Druck anhält, desto schwieriger wird es, die Wirtschaft anzukurbeln. Gleichzeitig stellt die Aussicht auf höhere Zölle unter der neuen Trump-Regierung eine direkte Bedrohung für Chinas Exportsektor und damit für die wirtschaftliche Stabilität im Allgemeinen dar. (China ist nicht nur in hohem Maße von Exporten abhängig, sondern eine Deflation schwächt auch die Inlandsnachfrage und schränkt Pekings Fähigkeit ein, sich an externe Schocks anzupassen.) Aus diesem Grund sieht es die Regierung als dringend notwendig an, die Verbraucherausgaben und Investitionen zu fördern. Es wird erwartet, dass die People`s Bank of China (PBoC) die Zinssätze entsprechend senken wird, um die Kreditkosten für Unternehmen und Privatpersonen zu mindern. Gleichzeitig werden die erhöhten Liquiditätsspritzen die Kreditvergabe fördern, insbesondere in Sektoren wie dem verarbeitenden Gewerbe und dem Technologiesektor, die für das langfristige Wachstum von entscheidender Bedeutung sind. Bislang haben die Finanzmärkte positiv reagiert. Die Aktienindizes sind gestiegen, und die Renditen von Staatsanleihen haben historische Tiefststände erreicht. Diese Anpassung ist jedoch nicht unproblematisch. Eine übermäßige Liquidität könnte den Yuan weiter schwächen, was die Importe verteuern und in Zukunft möglicherweise einen Inflationsdruck auslösen könnte. Und obwohl dies die Exporte ankurbeln dürfte, werden die chinesischen Exporteure angesichts der von der Trump-Regierung geplanten Zölle Alternativen zum amerikanischen Markt finden müssen. Dennoch unterstreicht die neue Geldpolitik die Entschlossenheit Chinas, der nachlassenden Wirtschaftsdynamik entgegenzuwirken und ein wachstumsförderndes Umfeld zu schaffen. Entscheidend für all dies wird sein, ob es Peking gelingt, das Vertrauen in die Fähigkeit der Regierung, die Wirtschaft zu steuern, wiederherzustellen. In den vergangenen Jahren haben die Sparsamkeit der Verbraucher, die Vorsicht der Unternehmen und die zurückhaltende Intervention der Regierung ein tief sitzendes Misstrauen in die ökonomische Problemlösungskompetenz des Staates geschaffen. Die neue Geldpolitik wird wenig bewirken, wenn Peking nicht die entsprechenden Reformen durchführt, um das Vertrauen der Öffentlichkeit zurückzugewinnen. Ergänzend zur Änderung der Geldpolitik hat sich China daher verpflichtet, sein Haushaltsdefizit bis 2025 auf 4 Prozent des BIP zu erhöhen. Diese fiskalische Expansion spiegelt die Dringlichkeit wider, mehrere wichtige Schwachstellen zu beseitigen: die geschwächte Binnennachfrage, den Niedergang des Immobiliensektors und die hohe Verschuldung der Kommunen. Ende September stellte der Gouverneur der PBoC, Pan Gongsheng, drei entscheidende Maßnahmen zu diesem Zweck vor: die Senkung des Mindestreservesatzes der Banken, um Liquidität freizusetzen, die Senkung der Leitzinsen, um die Kreditkosten zu senken, und die Einführung geldpolitischer Instrumente zur Unterstützung des Aktienmarktes. Diese Maßnahmen spiegeln die Dringlichkeit wider, die Finanzmärkte zu beleben und die Kreditvergabe zu fördern. Kurz darauf, am 12. Oktober, kündigte Finanzminister Lan Foan eine Reihe von fiskalischen Maßnahmen an, um seit langem bestehende Probleme wie die Verschuldung der lokalen Gebietskörperschaften, die anhaltende Immobilienkrise und die stagnierende Beschäftigungsrate zu bewältigen. Darauf aufbauend führte die Regierung Anfang November einen Zehn-Billionen-Yuan-Schuldenumwandlungsplan für Kommunalverwaltungen ein, um die Steuerlast zu verringern und die finanzielle Stabilität auf kommunaler Ebene wiederherzustellen. Pan und Lan haben angedeutet, dass weitere Anreize in Aussicht stehen. Es wird erwartet, dass die zusätzlichen Staatsausgaben den Konsum ankurbeln und der Wirtschaft, deren Einzelhandelsumsätze in letzter Zeit ins Stocken geraten sind, den dringend benötigten Auftrieb geben werden. Ein großer Teil davon wird auf die Unterstützung des Immobiliensektors ausgerichtet sein, auf den etwa 20 Prozent des BIP-Wachstums und etwa 70 Prozent des Vermögens der privaten Haushalte entfallen. Die Stabilisierung der Immobilienpreise und die Verhinderung weiterer Zahlungsausfälle bei Bauträgern sind zentrale Ziele der Regierung. Die vielleicht größte Herausforderung für Peking ist die Tatsache, dass viele Kommunalverwaltungen mit einem untragbaren Schuldenstand belastet sind. Das grundlegende Problem ist das wachsende Missverhältnis zwischen ihren Ausgaben und ihren Steuereinnahmen. Jahrelang verließen sich die Kommunalverwaltungen bei der Aufstockung ihrer Haushalte in hohem Maße auf Grundstücksverkäufe und kommunale Investitionsgesellschaften – also nicht auf die Zentralregierung. Da diese Einnahmequellen jedoch aufgrund des Abschwungs auf dem Immobilienmarkt und der strengen gesetzlichen Vorschriften immer weniger werden, haben die Kommunalverwaltungen Schwierigkeiten, ihren Verpflichtungen nachzukommen. Durch die Erhöhung des Haushaltsdefizits will die Zentralregierung diesen Druck etwas mindern und sicherstellen, dass die lokalen Behörden weiterhin in wichtige Infrastrukturen und Sozialprogramme investieren können. Die Entscheidung, außerbudgetäre Sonderanleihen auszugeben, unterstreicht die Kreativität der Regierung bei der Bewältigung ihrer Haushaltszwänge. Durch diese Anleihen werden zusätzliche Mittel bereitgestellt, ohne dass sich dies unmittelbar auf die offiziellen Haushaltszahlen auswirkt, was eine größere Flexibilität bei der Bewältigung wirtschaftlicher Herausforderungen ermöglicht. Mit anderen Worten: Um das Problem zu lösen, überträgt die Zentralregierung einen beträchtlichen Teil der allgemeinen Einnahmen an die lokalen Behörden, um die Finanzierung der öffentlichen Dienste aufrechtzuerhalten. Über die unmittelbaren fiskalischen Transfers hinaus steht China jedoch vor der tiefgreifenderen Herausforderung, das Gleichgewicht der fiskalischen Zuständigkeiten innerhalb der Regierung neu zu gestalten. Ohne eine strukturelle Neuordnung der Einnahmequellen und Ausgabenpflichten wird die finanzielle Belastung der lokalen Gebietskörperschaften eine anhaltende Belastung für die Gesamtwirtschaft bleiben. Auch wenn es nach wie vor große Herausforderungen gibt, signalisiert China unterm Strich einen proaktiven Ansatz zur Krisenbewältigung und Wachstumsstimulierung. Die Verabschiedung einer akkommodierenden Geldpolitik und eines rekordhohen Haushaltsdefizits unterstreicht die Dringlichkeit, die stagnierende Inlandsnachfrage, einen schwächelnden Immobilienmarkt, ineffiziente Kommunalverwaltungen und die Gefahr eskalierender Handelsspannungen mit den USA zu bekämpfen. Doch all dies bedeutet nicht viel, wenn Peking seine Bevölkerung nicht davon überzeugen kann, dass es ein vertrauenswürdiger Verwalter der eigenen Wirtschaft ist – vor allem, wenn die zurückliegenden Jahre sie eines Besseren belehrt haben. Angesichts der eskalierenden Handelsspannungen mit den USA und des sich abschwächenden wirtschaftlichen Umfelds im eigenen Land darf sich die Politik Pekings nicht nur auf kurzfristige Anreize konzentrieren, sondern muss auch die soziale Notlage angehen, die sich in den letzten Jahren aufgebaut hat. Zunehmende Ungleichheit, sinkende Beschäftigungsmöglichkeiten und die Immobilienkrise haben zu einem Gefühl der Unzufriedenheit geführt, das nicht ignoriert werden kann. Das vielleicht beste Beispiel für die Gratwanderung, auf der sich China derzeit befindet, ist die Jugendarbeitslosigkeit, die aktuell bei 15 Prozent liegt, verglichen mit 10 Prozent im Jahr 2019 – ein auffälliges Ergebnis der letzten Jahre der Stagnation, das die wachsende Bedrohung der politischen Stabilität verdeutlicht. Die hohe Jugendarbeitslosigkeit ist nicht nur ein wirtschaftliches Problem, sondern spiegelt auch die Ängste vor unzureichenden Chancen in einer Wirtschaft wider, die mit Strukturwandel und geringerem Wachstum zu kämpfen hat. Ohne deutliche Verbesserungen bei der Schaffung von Arbeitsplätzen besteht die Gefahr, dass dieser Teil der Bevölkerung zunehmend desillusioniert wird. Und diese Desillusionierung könnte die sozialen Spaltungen verschärfen und zu Unruhen führen, insbesondere wenn die Maßnahmen der Regierung keine Reformen zur Folge haben. Bleibt diese soziale Belastung unbeantwortet, könnte sie sich bis 2025 in einer breiteren Instabilität niederschlagen – und genau das Wachstum und die Stabilität untergraben, die Pekings Politik anstrebt. In Kooperation mit:
|
Antonia Colibasanu
|
Die chinesische Volkswirtschaft leidet derzeit unter vielen Symptomen – von Deflation bis zu hoher Jugendarbeitslosigkeit. Die größte Gefahr für die Regierung in Peking besteht allerdings im mangelnden Vertrauen der Bevölkerung in die staatliche Problemlösungskompetenz.
|
[] |
wirtschaft
|
2024-12-30T15:05:50+0100
|
2024-12-30T15:05:50+0100
|
https://www.cicero.de//wirtschaft/china-wirtschaft-krise-peking-reformen
|
Merkels Marschbefehl - Wie sich die Kehrtwende in der Flüchtlingsfrage erklärt
|
Viele Flüchtlinge haben auf dem Weg nach Europa inzwischen eine Art Marienbildnis dabei. Ein Foto von Angela Merkel, ein zusammengefaltetes Stück Papier. „Wir wollen zu Mother Merkel“, sagen sie in die Kameras. Die deutsche Kanzlerin als Schutzheilige in der Jackentasche, Deutschland als Ziel der Träume im Herzen. So kommen Tausende und Abertausende verzweifelte Menschen aus den Kriegsgebieten an den Außengrenzen der Europäischen Union an. Und wollen weiter. Zu Mutter Merkel. Diese Entwicklung hat mit einer Kehrtwende der Kanzlerin zu tun. Einer Kehrtwende, die sich zwischen dem 16. Juli und dem 31. August dieses Jahres vollzogen haben muss. Eine Kehrtwende, für die es ein Erklärungsmuster gibt. Erinnern wir uns: Angela Merkel war am 16. Juli zu Gast bei einer Bürgerveranstaltung in Rostock. Ein palästinensisches Mädchen, das mit seiner Familie vor der Abschiebung stand, sprach die Kanzlerin ergreifend an. Die Schülerin sprach von ihren Wünschen, Träumen und Ängsten und davon, wie unangenehm es sei, dass andere ihre Leben genießen könnten und sie nicht. Darauf entgegnete Angela Merkel wörtlich (ab Minute 0:57): „Ich verstehe das, und dennoch: Das ist manchmal auch hart, Politik. So, wie du jetzt vor mir stehst, bist du ja ein unheimlich sympathischer Mensch. Aber du weißt auch, in den palästinensischen Flüchtlingslagern gibt es noch Tausende und Tausende. Und wenn wir jetzt sagen: ‚Ihr könnt alle kommen, und ihr könnt alle aus Afrika kommen‘ – das können wir jetzt auch nicht schaffen.“ Als hartherzig wurde ihr das seinerzeit ausgelegt. Sechs Wochen später gab eine ganz andere Angela Merkel ihre alljährliche Sommerpressekonferenz (Minute 12:40 bis 13:29). Sie zeigte Mitgefühl für den „Zustand völliger Erschöpfung auf der Flucht, verbunden mit Angst um das eigene Leben oder das Leben der Kinder oder der Partner“ und Bewundern für die Flüchtlinge, „die Situationen überwinden oder Ängste aushalten, die uns wahrscheinlich zusammenbrechen ließen“. Und dann sagte sie angesichts der Flüchtlingswelle, die Deutschland erreicht: „Deutschland ist ein starkes Land. Das Motiv, mit dem wir an die Dinge herangehen, muss sein: Wir haben so viel geschafft – wir schaffen das! Wir schaffen das!“ August 2015: „Wir schaffen das! Wir schaffen das!“ Über das Motiv dieser 180-Grad-Wende der Kanzlerin kann man nur spekulieren. Es gibt aber eine plausible und stringente Erklärung, wenn man sich anschaut, was dazwischen geschah, zwischen dem 16. Juli und dem 31. August. Dazwischen brannten Heime. Dazwischen wurden Flüchtlinge von einem rechtsradikalen Mob beschimpft, bespuckt, dazwischen hatte einer dieser Neonazis in einer U-Bahn auf ein Flüchtlingskind uriniert. Es gibt wenige wirkliche Konstanten bei Angela Merkel. Oft ist sie geschmeidig und flexibel. Aber bei einem Thema ist mit ihr nicht zu spaßen: bei Antisemitismus und Rechtsradikalismus. Da kennt sie im Zweifel keine Freunde. Das musste der CDU-Abgeordnete Martin Hohmann am eigenen Leib erleben, als Merkel seine Karriere nach fragwürdigen Aussagen jäh beendete oder als sie ihrem Vertrauten Dieter Althaus in die Parade fuhr, als dieser als Ministerpräsident von Thüringen einen einschlägig beleumundeten CDU-Politiker namens Peter Krause zum Kulturminister machen wollte. Nicht einmal der Papst bleibt bei diesem Thema vor Attacken der Kanzlerin gefeit. Das musste Benedikt XVI. am eigenen Leib erfahren, als er sich aus Merkels Sicht zu wenig von der Holocaust-Leugnung der Piusbruderschaft distanziert hatte. Die brennenden Heime, die zynischen Parolen und die dahinterstehende Ideologie dürften bei Merkel zur Kehrtwende beigetragen haben. Das „Nie wieder!“ hat die Kanzlerin tief verinnerlicht und in diesem Fall mutmaßlich ihre Sicht auf die Flüchtlingsfrage verändert. Das ist ein edles Motiv. Es hat aber unbestreitbar zur Folge, dass Merkel mit diesen neuen Worten und neuen Tönen ungewollt eine Art Marschbefehl ausgesprochen hat. Vielleicht wären die Flüchtlinge früher der später ohnehin gekommen. Dass sie aber jetzt in dieser Zahl kommen, hat direkt mit Merkels Worten zu tun. Im Zeitalter von Whatsapp und Facebook haben diese sich blitzschnell herumgesprochen – auch bis zu den Tausenden Menschen in den Krisengebieten und den palästinensischen Flüchtlingslagern, welche Merkel dem Mädchen noch als Argument vorgehalten hatte, weshalb Deutschland nicht alle nehmen könne.
|
Christoph Schwennicke
|
Noch vor wenigen Wochen zeigte Angela Merkel in der Flüchtlingspolitik Härte, nun gilt sie vielen Hilfesuchenden als Schutzheilige. Ihre Botschaft: „Wir schaffen das.“ Wie erklärt sich diese 180-Grad-Wende?
|
[] |
innenpolitik
|
2015-09-11T13:37:24+0200
|
2015-09-11T13:37:24+0200
|
https://www.cicero.de//innenpolitik/merkels-marschbefehl-wie-sich-die-kehrtwende-der-fluechtlingsfrage-erklaert/59822
|
Schulische Bildung - Wenn es den lieben Eltern nicht gefällt
|
Als Klassenlehrer kann man die Erfahrung machen, dass einen der Elternsprecher seiner Klasse am Schuljahresende mit einem Wunschzettel der besonderen Art überrascht. Auf ihm sind die Lehrer vermerkt, die sich die Eltern, die er vertritt, im neuen Schuljahr für ihre Kinder wünschen. Dabei sind die Eltern bestens über die vermeintlichen Qualitäten und Schwächen der Lehrer informiert. Die Flüsternetzwerke innerhalb der Elternschaft funktionieren auf höchstem kommunikativem Niveau. Ihre Wünsche sind nicht gerade von Bescheidenheit geprägt: Der Mathe-Lehrer mit dem besten Erklär-Talent muss es sein oder die Deutschlehrerin, die das kreative Schreiben blendend beherrscht. Der Haken an der Sache ist, dass nur eine Klasse das Menü mit der idealen Lehrermischung bekommen kann. Die anderen müssten sich mit fachlich-pädagogischer Hausmannskost begnügen. Zu einer solchen Lehrerwahl durch die Eltern kann es schon aus einem schlichten Grunde nicht kommen: Kein Schulleiter lässt sich die Lehrerverteilung für den Unterricht aus der Hand nehmen, schon gar nicht von Schulfremden. Der Lehrereinsatz gehört zu seinen vornehmsten und wichtigsten Aufgaben. Er gehorcht zudem Kriterien, die für Außenstehende nicht einsichtig sein können. An diesem Beispiel kann man ablesen, wie weit bei vielen Eltern die Vorstellung, die Schule sei ein pädagogischer Servicebetrieb, der zu „liefern“ habe, schon gediehen ist. In der modernen Dienstleistungsgesellschaft hat sich die Einstellung der Eltern gegenüber der Schule entscheidend gewandelt. War sie im vorigen Jahrhundert noch eine staatliche Institution, der man sich mit Ehrfurcht näherte, betrachten Eltern die Schule heute als Servicebetrieb, vergleichbar mit einem Telekom-Anbieter. Man schließt einen Vertrag und bekommt eine Leistung. Am Ende der Schulzeit erwarten die Eltern ein wohlerzogenes junges Mädchen oder einen höflichen jungen Mann mit einer umfassenden Allgemeinbildung und einem hervorragenden Schulabschluss. Der Trugschluss dieser Haltung besteht darin, dass die Lehrer für all dies nicht allein zuständig sind, dass sie es schon gar nicht garantieren können. Die erwünschte „Serviceleistung“ kann nur dann erbracht werden, wenn der Schüler oder die Schülerin „mitspielt“. Viele Schüler kommen mit den schulischen Anforderungen nicht zurecht, weil sie es in der häuslichen Sozialisation nicht gelernt haben, sich für eine anstrengende Sache ins Zeug zu legen, sich auch dann anzustrengen, wenn sich das Erfolgserlebnis nicht unmittelbar einstellt. Viele lassen auch die nötige Selbstkontrolle – ein entscheidender Faktor für schulischen Erfolg – vermissen. Ihre Frustrationstoleranz ist oft so gering, dass sie vor den geistigen Anstrengungen, die ihnen der Unterricht abverlangt, kapitulieren. Der emeritierte Schulleiter Gerhard Fels beschreibt die Schüler als „charmante Epikureer, ganz auf die Vermeidung von Unlust programmiert“ („Der verwaltete Schüler“, 1994). Gegen eine solche Haltung des optimierten Lustgewinns sind die Lehrer oft machtlos. Die Lehrkraft kann bei den unterschiedlichen Formen hinhaltenden Widerstandes seiner Schüler kaum erkennen, welche Probleme sich dahinter verbergen. Sie kann nur vermuten, dass familiäre oder persönliche Konflikte der Lernunlust zugrunde liegen. Wenn Lukas oder Laura nicht lernen wollen oder können, weil sich andere, wichtigere Dinge in den Vordergrund drängen, ist die Lehrkraft letztlich machtlos. Wenn sich die Eltern scheiden lassen und Petra deshalb in eine Depression versinkt, hilft der beste Englisch-Unterricht nicht weiter. Wenn der intelligente Paul in die Drogenszene abgleitet, weil seine Freundin Conny mit ihm Schluss gemacht hat, muss die Schule kapitulieren. „Schulprobleme der Kinder sind oft Lebensprobleme.“ Diesen Satz des Reformpädagogen Hartmut von Hentig vor Augen muss man zu dem Schluss kommen, dass die Ansprüche an die Schule dort ihre Grenzen finden, wo den Schwierigkeiten der Kinder und Jugendlichen und ihren seelischen Nöten mit schulischen Mitteln nicht (mehr) beizukommen ist. Viele Kinder wachsen als Einzelkinder auf. Als Einzelwesen sozialisiert glauben sie, sich unter den Klassenkameraden mit demselben berstenden Ego durchsetzen zu können, wie sie es bei Vater, Mutter und Oma immer geschafft haben. Wenn sie es nicht lernen, sich den Belangen der Klasse unterzuordnen, sind Konflikte programmiert. Manche Eltern können sich mit der Rückmeldung, dass es sich bei ihrem Sprössling keinesfalls um everybody‘s darling handelt, sondern um ein ich-bezogenes, quengeliges Wesen, nur sehr schwer anfreunden. Allzu oft geben sie dann dem Lehrer die Schuld, weil er nicht sensibel genug auf Klein-Jonas oder Klein-Lisa eingegangen ist. Ein Aspekt, der den Lehrern oft das Leben schwer macht, ist die Klagefreudigkeit der Eltern. Immer häufiger wehren sie sich mit dem Rechtsanwalt gegen schulische Entscheidungen. Wenn ein Mädchen bei einer Klausur getäuscht und dafür eine Sechs bekommen hat, flattert dem Schulleiter ein anwaltliches Schreiben auf den Tisch. Man solle bitteschön die Täuschung minutiös belegen. Wenn Kinder beim Übergang von der Grundschule zum Gymnasium nicht an ihrer Wunschschule angenommen werden, klagen die Eltern den Platz für ihr Kind ein. In Berlin gibt es Gymnasien, die in ihren Eingangsklassen zwei Plätze für solche Klage-Schüler – so die Schulleiter-Diktion – freihalten. Es gibt Schüler, die das Drohpotenzial der Eltern bewusst gegen ihre Lehrer ausspielen. An einer Schule habe ich erlebt, dass eine Schülerin, die eine Fünf im Deutsch-Aufsatz bekam, noch im Unterricht auf ihrem Handy die Mutter anrief und triumphierend in das Klassenzimmer rief: „Frau Weber, meine Mutter möchte Sie sprechen!“ Die Lehrerin reagierte professionell. Sie kassierte das Handy ein und deponierte es im Sekretariat. Die Eltern konnten es nur auslösen, indem sie sich auf ein pädagogisches Gespräch mit der Lehrerin einließen. Leider reagieren nicht alle Lehrer in ähnlichen Fällen so professionell. Statt den Strauß zu wagen und es auch einmal auf eine Klage ankommen zu lassen, wird in vorauseilendem Gehorsam die Sache „im Sinne der Eltern geregelt“ (Schulleiter-Diktion). Das willfährige Verhalten von Schulleitern und Schulbehörden gegenüber klagebereiten Eltern trägt viel zur Hilflosigkeit der Institution Schule gegenüber den Ansprüchen der Eltern bei. Es verunsichert zudem die Lehrer, weil sie sich nie sicher sein können, ob die Schulbehörde zu ihren pädagogischen Entscheidungen steht. Es gehört auch zur Fürsorgepflicht des Dienstherrn, dass er den Lehrkräften bei ihrer schwierigen „Arbeit an der Front“ den Rücken stärkt – gerade auch gegenüber den Eltern. Junge Lehrer, die frisch von der Universität an die Schule kommen, wundern sich darüber, dass der Schulleiter bei pädagogischen Versammlungen seinen Kollegen ständig ins Gewissen redet, sie sollten ihre Entscheidungen so fällen, dass sie „justiziabel“ sind. Sonst drohe eine Klage der Eltern. Der Blütentraum des Referendars, an der Schule gehe es ausschließlich um Pädagogik, erlebt so eine herbe Enttäuschung. Er lernt, dass er sich durch Berge von schulischen Erlassen und Ausführungsvorschriften hindurcharbeiten muss, um sein pädagogisches Handeln „rechtsförmig“ zu gestalten. Die Gefahr, von den Eltern für schulisches Handeln verklagt zu werden, hat einen unguten Teufelskreis in Gang gesetzt. Die Regelungswut der Schulbehörden, die viele Lehrkräfte beklagen, ist der Absicht geschuldet, sich gegenüber den klagefreudigen Eltern durch „wasserdichte“ Regelungen abzusichern. Selbst einfache Sachverhalte, wie etwa eine Exkursion ins Museum, sind inzwischen so komplex geregelt, dass sie sich wie Gesetzestexte lesen. Die Leiterin einer Neuköllner Grundschule klagte öffentlich ihr Leid: „Alles wird komplizierter gemacht. Wir haben hier seit Jahren einen einfachen Wasserspender im Flur stehen und plötzlich brauchen wir dafür eine Sicherheitseinweisung. Die ist dann so umfangreich, dass man denkt, wir hätten hier einen Atomreaktor im Gebäude.“ Grundschullehrkräfte erleben die Kinder so, wie sie in ihren Elternhäusern erzogen worden sind. Wenn sie in die erste Klasse kommen, kollidieren ihre zu Hause eingeübten und geduldeten Verhaltensweisen mit den Spielregeln einer Lerngruppe. Sehr schnell kann man erkennen, wer es gelernt hat, sein eigenes Ich den Erfordernissen einer Gruppe unterzuordnen, sich einzufügen in die notwendigen Regeln und Rituale, die Unterricht erst möglich machen. Dabei kann man zwei Arten von Defiziten unterscheiden: Mangelnde Selbstkontrolle im Unterricht und unhöfliches, distanzloses und ellenbogenbewehrtes Verhalten im Umgang mit anderen. Manche Kinder beherrschen nicht die einfachsten Regeln des richtigen Benehmens anderen Kindern und Erwachsenen gegenüber. Wie Menschen im „wilden Rohzustand“ setzen sie ihre Bedürfnisse durch, drängen sich in den Vordergrund, benutzen ihre Ellenbogen, um sich Vorteile gegenüber den Klassenkameraden zu verschaffen. Diese Kinder benötigen eine zweite Sozialisation, eine Einübung zivilisierter Umgangsformen im Gruppenzusammenhang. Einige Schulen haben deshalb das Schulfach „Benehmen“ eingeführt, in dem die Kinder die Umgangsformen eines zivilisierten Miteinanders lernen und im Rollenspiel üben. Lehrer erleben dann, wie erstaunt manche Kinder sind, wenn sie an einer Pendeltür lernen, wie man dem Nachfolgenden den Türflügel aufhält oder wie man einem Menschen, der in beiden Händen eine Tasche trägt, die Tür öffnet, um ihn hindurchgehen zu lassen. Früher Selbstverständliches wird so neu entdeckt. Bei einer Fahrt mit der Berliner U-Bahn wurde ich zufällig Zeuge der praktischen Anwendung eines Benimm-Unterrichts. Eine Grundschulklasse betrat den Waggon. Die Schüler verteilten sich lärmend auf die leeren Plätze. An der nächsten Station stieg eine gebrechliche ältere Dame ein, die keinen Sitzplatz mehr fand. Als ihr ein älterer Herr einen Platz anbot, schritt die Lehrerin ein: „Kinder, was haben wir neulich im Unterricht gelernt?“ Prompt standen zwei Mädchen auf und machten ihre Plätze für die Dame frei. Früher haben die Kinder solche Verhaltensregeln von ihren Eltern gelernt. Älteren Menschen sind sie noch so geläufig, dass sie reflexhaft reagieren, wenn im öffentlichen Leben Höflichkeit und Rücksichtnahme gefordert sind. Auf solche Automatismen kann sich die Schule heute nicht mehr verlassen. Vermutlich sind diese Normen im Laufe der gesellschaftlichen „Modernisierung“ verloren gegangen. Soziologen begründen diesen Werteverlust häufig damit, dass die Familien zu sehr in ihren täglichen Existenzkampf verstrickt seien, um solche „Petitessen“ noch für wichtig zu halten. In den modernen Patchwork-Familien gebe es auch eine Verunsicherung darüber, was an gesellschaftlich wünschenswerter Erziehung geleistet werden müsse. Wie dem auch sei: Offensichtlich kann sich die heutige Schule nicht mehr uneingeschränkt darauf verlassen, dass in den Familien die Regeln des verträglichen Miteinanders in der Gemeinschaft hinlänglich vermittelt werden. Das Verhalten von Schülern ist immer auch geprägt von gesellschaftlichen Trends und technischen Moden. Das pädagogische Tun der Lehrkräfte muss sich dieser Entwicklungen bewusst sein, um adäquat darauf reagieren zu können. Gerade weil viele Kinder an den Unterricht Ansprüche wie an eine Fernsehshow stellen (spannend, kurzweilig, mit einem coolen Moderator), muss die Schule das vermitteln, was dem schulischen Lernprozess zu eigen ist: gegen den unverbindlichen Smalltalk die Zuhörkultur, gegen motorische Kurzatmigkeit die Konzentration, gegen die zappenden Bildläufe der Medien die Ruhe des Nachdenkens, gegen schwafelige Beliebigkeit die Genauigkeit im Denken und Sprechen, gegen den ellenbogenbewehrten Egoismus die Solidarität. Die Schulen, die diese überkommenen und bewährten Methoden geistiger Arbeit gegen modische didaktische Trends und mediale Verlockungen verteidigen, können es schaffen, eine verbindliche und zugleich geistig anregende Lernkultur dauerhaft zu etablieren. Was haben die Lehrkräfte dem überzogenen Anspruchsdenken der Eltern und ihrem Versagen bei der Erziehung ihrer Kinder entgegenzusetzen? Hier helfen nur ein starkes Selbstbewusstsein und pädagogische Professionalität. Lehrer müssen an die Eltern nachdrücklich ihre Wünsche und Ansprüche an korrektes Verhalten der Kinder, an eine gute Erziehung und Fürsorge im Elternhaus herantragen. Auf Elternabenden, bei Elternsprechtagen und im persönlichen Gespräch müssen sie die Eltern auf Fehlentwicklungen im Verhalten ihrer Kinder aufmerksam machen und ein verändertes Erziehungsverhalten anmahnen. Viele Schulen haben gute Erfahrungen mit „Erziehungsvereinbarungen“ gemacht, in denen die Eltern sich mit ihrer Unterschrift verpflichten, auf eine Verhaltensänderung ihres Sohnes oder ihrer Tochter hinzuwirken. Das kann den Handykonsum genauso betreffen wie den Ton, den sie gegenüber ihren Mitschülern anschlagen. Solche Vereinbarungen zeigen den Eltern, dass sich die Schule um ihre Kinder kümmert, dass sie aber auch den Erziehungsauftrag der Eltern ernst nimmt. Wenn die Eltern so von der Schule in die Pflicht genommen werden, lernen sie, sich ihrer Aufgabe zu stellen. Manchmal begreifen sie zum ersten Mal, dass das, was in der Vereinbarung niedergelegt ist, überhaupt zur ihren Erziehungspflichten gehört.
|
Rainer Werner
|
Heute betrachten Eltern die Schule verstärkt als pädagogischen Servicebetrieb, der zu liefern habe. Doch können ihre Ansprüche nur erfüllt werden, wenn Schüler und Eltern gleichermaßen mitmachen. „Erziehungsvereinbarungen“ können dabei helfen.
|
[
"Schule",
"Bildung",
"Eltern",
"Schüler"
] |
kultur
|
2021-10-13T17:58:46+0200
|
2021-10-13T17:58:46+0200
|
https://www.cicero.de//kultur/schulische-bildung-wenn-es-den-lieben-eltern-nicht-gefallt
|
Brexit Plan B - Brexitannia nimmt Kurs auf Eisberg
|
Gute Nachrichten gab es am Montag nur für EU-Bürger in Großbritannien. Unter dem zustimmenden Gemurmel der Parlamentarier im Unterhaus verkündete die britische Regierungschefin Theresa May, dass die bisher geplante Gebühr von 65 Pfund Sterling (74 Euro und 50 Cent) doch nicht fällig wird, wenn sich EU-Bürger im Vereinigten Königreich um den sogenannten „Settled Status“ bewerben, um auch nach dem Brexit die gleichen Rechte wie bisher zu genießen. Zustimmung im House of Commons? Das ist Theresa May schon lange nicht mehr passiert. Damit war es mit ermutigenden Vorschlägen zur derzeit verfahrenen Brexit-Lage aber auch schon wieder vorbei. Theresa May präsentierte einen Plan B zu den Brexitverhandlungen, der wie Plan A klang. Sie will weiter in Brüssel über Zugeständnisse zu dem mit Brüssel im Dezember ausgehandelten Austrittsvertrag verhandeln. Plan A aber ist bereits am 15. Januar mit Bomben und Granaten und einem Überhang von 230 Stimmen im Parlament durchgefallen. Den Brexit-Befürwortern ist die enge Anbindung an die EU durch eine Zollunion zu nahe an der EU, den Brexit-Gegnern geht das Scheidungsabkommen grundsätzlich zu weit. Viele fordern inzwischen eine zweite Volksabstimmung zur Causa Nummer Eins. Theresa May aber scheint die Signale nicht hören zu wollen. Sie lehnt ein zweites Referendum genauso ab wie sie das No-Deal-Szenario nicht vom Tisch nehmen möchte. Sie will den Austritt aus der EU ohne Abkommen – der nach Meinung der Bank of England die britische Wirtschaft bis zu acht Prozent schrumpfen könnte – als Druckmittel für Verhandlungen erhalten. Die Regierungschefin stemmt sich auch gegen eine dritte Option: den Artikel 50 auszusetzen. Dabei handelt es sich um die Klausel für den Austritt aus dem EU-Vertrag, den sie vor zwei Jahren selbst eingefädelt hat. Deshalb wird Großbritannien am 29. März 2019 aus der Europäischen Union kippen – egal, ob es bis dahin einen Deal gibt oder nicht. Es sind gerade noch acht Wochen Zeit, um eine Lösung für das Brexitchaos zu finden. Das Unterhaus brummte auf beiden Seiten vor Frustration über Plan B. Labour-Chef Jeremy Corbyn rief: „Diese Regierung ist ein totales Durcheinander!“ Die proeuropäische Tory-Abgeordnete Anna Soubry meinte: „Wir machen uns einfach lächerlich!“ Ihren parteiinternen Gegenspieler Boris Johnson sah man auf seiner Sitzbank auf den hintersten Bänken des Unterhauses herzhaft gähnen, bevor er das Wort ergriff: „Bekommen Sie denn jetzt in Brüssel eine rechtlich bindende Änderung des Backstops?“ Dieser Backstop – die Rückfallposition im Scheidungsvertrag, sollte es nicht zeitgerecht zu einem neuen Freihandelsabkommen zwischen dem Vereinigten Königreich und der EU kommen – ist und bleibt des Pudels Kern. Wie bei Goethes Faust hat sich der Backstop in den Teufel schlechthin verwandelt. Im Scheidungsabkommen steht, dass das Vereinigte Königreich so lange in der Zollunion bleibt, bis die Verhandlungen über die Zukunft der Beziehungen abgeschlossen sind. Die harten Brexitiere lehnen das ab. Die EU hat allerdings klargestellt, dass über den Backstop nicht mehr verhandelt wird: „Der Austrittsvertrag ist fertig, da ist nichts zu machen“, meinte EU-Brexit-Verhandler Michel Barnier am Montag noch einmal. Für die EU bleibt es zentral, die vom Karfreitagsabkommen 1998 garantierte grüne Grenze zwischen Nordirland und Republik nicht aufs Spiel zu setzen. Das Bombenattentat der „Neuen IRA“ in Londonderry am Wochenende hat deutlich gemacht, wie fragil der Friede in Nordirland ist. Im britischen Parlament zeigen die moderaten Abgeordneten jetzt ihre Muskeln. Sie wollen nächste Woche mit Änderungsantragen zu Mays Plan B die Regierung von ihrem harten Kurs abbringen. Dies könnte dazu führen, dass Großbritannien zustimmt, in der EU-Zollunion zu bleiben, was den Backstop obsolet machen könnte. Über eine dahingehende Änderung der – rechtlich nicht bindenden – politischen Erklärung über die zukünftigen Beziehungen, die neben dem Austrittsvertrag zwischen Vereinigtem Königreich und der EU ausgehandelt worden ist, lässt Brüssel mit sich reden. Für die britischen EU-Skeptiker riecht diese Option allerdings nach einer Falle – solange Großbritannien in der Zollunion bleibt, kann das Land keine Freihandelsabkommen mit Drittstaaten abschließen. May hofft in dieser verfahrenen Lage auf positive Signale aus Berlin. Annegret Kramp-Karrenbauers Appell an die Briten in der konservativen Tageszeitung The Times, in dem sie die Briten noch einmal zum Bleiben aufforderte, hatte am Wochenende noch gute Stimmung verbreitet. Auch wenn die Briten austreten, heißt es im Brief, „werden wir immer Freunde bleiben“. Wenige machen sich allerdings Illusionen darüber, dass die pragmatischen Deutschen aus Sympathie zu den Briten die EU-Regeln aufweichen werden. „Sympathie, Geduld und der Wille, darauf zu warten, dass die britische Position sich klärt, sollten nicht für Parteipolitik missbraucht werden“, warnt der deutsche Wirtschaftsminister Peter Altmaier auf Twitter. Theresa Mays Versuch, die „Brextremisten“ zur Vernunft zu bringen, ist eine fromme Hoffnung. Die Polarisierung im Brexitchaos hat dazu führt, dass manche sich wieder im zweiten Weltkrieg wähnen. Die Tory-Abgeordnete Anna Soubry, die dafür kämpft, dass ihr Land in der EU bleibt, wurde vor dem Parlament bereits von Hooligans als „Nazi“ beschimpft. Der Rückfall in längst überwunden geglaubte Schemata hat tiefe historische Gründe: „Die Briten sind immer noch vom Zweiten Weltkrieg besessen. Auch deshalb, weil sie nach ihrem Sieg nicht bekamen, was sie sich versprochen haben. Deutschland wurde besiegt. Doch in kurzer Zeit wurde das vernichtend geschlagene Land wieder aufgebaut, hatte eine boomende Wirtschaft und wurde die treibende Kraft in der EU. Die Briten dagegen? Nicht so glanzvoll“, erklärt der irische Autor Fintan O’Toole im Interview mit Cicero. In seinem soeben erschienenen Buch „Heroic Failure. Britain and Brexit“ analysiert O’Toole das Verhältnis der Briten zu Deutschland: „Deshalb glauben die EU-Feinde, dass Deutschland doch heimlich den Krieg gewonnen hat und dass die EU in Wahrheit das Trojanische Pferd der Deutschen ist.“ Für die nächste Runde im Brexit-Gerangel hat Theresa May ein bedenkliches Signal gesetzt. Statt sich ernsthaft auf Gespräche mit der moderaten Mehrheit des Parlaments über einen Verbleib in der EU-Zollunion einzulassen, bemüht sich Theresa May weiter um die EU-Feinde in der eigenen Partei. Denn nichts fürchtet die konservative Parteichefin mehr als eine Spaltung der ehrwürdigen Tories. Nicht einmal die Aussicht, dass am 29. März ein Austritt aus der EU ohne Abkommen droht.
|
Tessa Szyszkowitz
|
Theresa May hat ihren Plan B für den Brexit vorgelegt. Er klingt wie ihr Plan A. Die britische Premierministerin hofft auf Hilfe aus Brüssel und Berlin. Derweil steuert die Brexitannia immer schneller auf den Eisberg zu – auf einen Austritt am 29. März. Ohne Abkommen
|
[
"Brexit",
"Plan B",
"Theresa May",
"Großbritannien",
"England"
] |
außenpolitik
|
2019-01-22T10:51:39+0100
|
2019-01-22T10:51:39+0100
|
https://www.cicero.de//aussenpolitik/brexit-plan-b-theresa-may-england-grossbritannien
|
SPD - Partei des donnernden Weder-noch
|
„So sehen Sieger aus!“, sangen die Sozialdemokraten, als am Sonntagabend der Wahlsieg von Malu Dreyer feststand. Laut sangen sie, fröhlich sangen sie, ganz so, als glaubten die Genossen, sie könnten mit diesen Gesängen zugleich die bösen Geister vertreiben. Auch am Montag stand die Parteispitze ganz im Bann des unerwarteten Wahlsieges in Rheinland-Pfalz. Für Parteichef Sigmar Gabriel war dieser der sichere Beleg, „dass die SPD Wahlen gewinnen kann und starke Volkspartei ist“. Über Baden-Württenberg und Sachsen-Anhalt sprach Sigmar Gabriel nur kurz. Was hätte er auch sagen sollen? 12,7 Prozent in Baden-Württemberg, 10,6 Prozent in Sachsen-Anhalt. Zweistellige Verluste, rund die die Hälfte der Wähler eingebüßt. Auf den dritten beziehungsweise vierten Platz in der Wählergunst zurückgefallen. Es ist nachvollziehbar, dass Sigmar Gabriel am Montag den Journalisten keine Fragen beantworten mochte. Für schnelle Erklärungen und flüchtige Analysen ist die Lage der SPD viel zu dramatisch. Nur notdürftig kann Malu Dreyer, die ja auch nur 0,5 Prozentpunkte zulegen konnte, während der grüne Koalitionspartner verloren ging, überdecken: Die SPD steckt in einer Existenzkrise. Natürlich gibt es in Baden-Württemberg und Sachsen-Anhalt hausgemachte Gründe. In Baden-Württemberg hat ein überragender grüner Ministerpräsident Winfried Kretschmann dem Koalitionspartner keine Luft gelassen. In Sachsen-Anhalt war die SPD-Spitzenkandidatin im Wahlkampf völlig blass geblieben. Es mag zudem sein, dass Landtagswahlen immer mehr zu Ministerpräsidenten- beziehungsweise Ministerpräsidentinnenwahlen geworden sind, dass die Juniorpartner in den Landesregierungen vom Wähler sowieso nicht mehr wahrgenommen werden. Es mag zudem sein, dass es die SPD im konservativen Baden-Württemberg schon immer schwer hatte. In Sachsen-Anhalt haben die Wähler wie überall im Osten keine festen Bindungen zur Parteiendemokratie aufgebaut. Der Frust und die Bereitschaft zur Protestwahl sind dort besonders groß. Aber all das erklärt den Absturz der Sozialdemokraten nicht hinreichend. Die SPD hat kein Zukunftsprojekt mehr. Sie hat keine Idee, wie sie ihre Wählerbasis, die seit 1998 kontinuierlich schrumpft, wieder erweitern kann. Sie weiß nicht, wie sie in der neuen Mittelschicht Wähler gewinnen kann, wie unter traditionellen Arbeitnehmern oder in der neuen Unterschicht. Eine selbstbewusste SPD könnte sich etwa der Angst der AfD-Wähler annehmen, die ja eine doppelte Angst vor kultureller Überfremdung und vor sozialem Abstieg ist. Stattdessen beschimpfen führende Sozialdemokraten die AfD-Wähler dafür, dass sie rechtsextremen und rassistischen Rattenfängern hinterherlaufen. Themen gäbe es genug. Die soziale Spaltung in Deutschland, die ungleichen Bildungschancen. Die SPD könnte die Integration zu einem gesellschaftlichen Projekt machen, das mehr ist als die ökonomistische Forderung nach mehr Wohnungen, mehr Arbeit und mehr Sprachkurse. Gerade eine SPD, die so stolz in der Tradition von Willy Brandt steht, müsste auch die kulturelle Dimension der Zuwanderungswelle als politische Herausforderung begreifen. Tut sie aber nicht. Nicht einmal auf die zunehmende Sprachlosigkeit zwischen den globalisierten politischen und ökonomischen Eliten einerseits sowie den heimatverbundenen und in regionalen Netzwerken lebenden kleinen Leute andererseits findet die SPD noch eine Antwort. Die Partei der kleinen Leute war am Sonntag die AfD. Stattdessen reden sich die Sozialdemokraten unermüdlich ein, dass sie der Motor der Großen Koalition seien. Ihnen sei es zu verdanken, dass die Bundesregierung unverkennbar ein sozialdemokratisches Profil habe. Und dass sich dies, wenn man den Wählern nur beharrlich erkläre, wer das sozialdemokratische Original sei, schon irgendwann auszahlen werde. Doch Rente mit 63 und Mindestlohn, Frauenquote und Mietpreisbremse sind aus Sicht der Wähler politische Projekte der Vergangenheit. Versprechen von früher. Zukünftige Wähler gewinnt die Partei mit solchen Retro-Kampagnen nicht. Es ist zudem auch nur die halbe Wahrheit. Denn mit ihrem sozialdemokratischen Wohltatenprogramm hat die SPD bei der Bundestagswahl 2013 trotzdem nur 25,7 Prozent eingefahren. Mehr werden es selbst dann nicht, wenn die SPD jetzt alle ihre Wahlversprechen erfüllen würde. Die Union hingegen holte mit dem Versprechen, die Steuern nicht zu erhöhen sowie mit einer populären Kanzlerin, also mit dem leicht verständlichen Versprechen, bei uns ist das Land in guten Händen, 41,5 Prozent der Stimmen. Der Motor dieser Großen Koalition ist und bleibt Merkel. Und gerade jetzt, wo die CDU schwächelt, wo Christdemokraten beginnen, an der Kanzlerin zu zweifeln und die CSU sogar offen opponiert, fällt ganz eines besonders auf: Die SPD kann keinen überzeugenden Kanzlerkandidaten aufbieten, keine populäre personelle Alternative zu Merkel. Wenn die SPD in ihrer Not deshalb 2017 Parteichef Sigmar Gabriel als Kanzlerkandidaten ins Rennen schickt, hätte sie den Wahlerfolg damit schon hergeschenkt. An ihn glauben ja noch nicht einmal die eigenen Leute. 23 Prozent holte die SPD bei der Bundestagswahl 2009 25,7 Prozent bei der Wahl 2013. Auch bei Umfragen steckt die SPD seit vielen Jahren im Stimmungstief. So sehr die Sozialdemokraten damit hadern, dass es in der Wählergunst nicht wieder aufwärts geht, so überzeugt waren sie bislang, noch tiefer könne ihre Partei nicht fallen. Seit vergangenem Sonntag sollte sie sich da nicht mehr so sicher sein. Immer, wenn der SPD in den letzten Jahren der Wind politisch ins Gesicht blies, dann erinnerte sie sich an Willy Brandt. Jenen sozialdemokratischen Superhelden, der seine Partei in den glorreichen Zeiten 1969 an die Macht führte und 1972 mit 45,8 das beste Ergebnis in ihrer über hundertfünfzigjährigen Geschichte erkämpft hatte. Zuletzt berief sich Gabriel gerne auf die Willy-Brandt-Empfehlung, „wir sind die Partei des donnernden Sowohl-als-auch“. Es sei nicht der Mangel am Willen zur Eindeutigkeit, der diese Haltung der SPD präge, so Gabriel, „sondern das Wissen, dass das Leben kluge Kompromisse, Balance, Maß und Mitte braucht“. Doch wenn die Sozialdemokraten nicht aufpassen, dann könnten sie schon bald die Partei des donnernden Weder-noch sein: weder Wähler – noch Zukunft.
|
Christoph Seils
|
Die Sozialdemokraten feiern Malu Dreyer und verdrängen ihren dramatischen Niedergang in Baden-Württemberg und Sachsen-Anhalt. Wenn die SPD so weitermacht, brechen auch bundespolitisch bittere Zeiten an
|
[] |
innenpolitik
|
2016-03-14T18:43:34+0100
|
2016-03-14T18:43:34+0100
|
https://www.cicero.de//innenpolitik/spd-partei-des-donnernden-weder-noch/60631
|
lesen: Journal – Mit Molière in Amerika
|
In der Mitte dieses grandiosen Epos – wir haben bereits die Französische Revolution, Napoleons Diktat, die Rückkehr der Bourbonen sowie manche abenteuerliche Überfahrt und Flucht durchgestanden – begegnet sie plötzlich, «jene für dieses Land so unvermeidliche Apparatur, dieses grässliche Monument demokratischer Ruhelosigkeit – ein Schaukelstuhl». Olivier de Garmont, ein liebenswürdig eitler Snob, sichtlich nach dem Bilde und der Biografie von Alexis de Tocqueville modelliert, übersieht in seiner Interpretation wie stets das Wichtigste: Was der Schaukelstuhl nämlich eigentlich symbolisiert, das ist die Poetologie von «Parrot und Olivier in Amerika» selbst. Einem stolzen Boot gleich steuert diese ruhelose Erzählung, die sich vor keinem der epischen Denkmäler des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts zu verstecken braucht, über das Auf und Ab der Wellen, parodiert mit dem Genie eines Dickens die wohl berühmteste Reise nach Amerika.
Historische Akkuratesse und selbstbewusste Autonomie sind dabei zu einem Ornament verschlungen. So ist etwa Oliviers Anliegen ganz originalgetreu das Studium amerikanischer Strafanstalten, die wir in einer Michel Foucaults würdigen Weise auch zu sehen bekommen. Eigentlich aber sind dem Adligen Amerikas Segnungen völlig schnuppe, denn der wirkliche Grund der Reise ist, dass die besorgten Eltern ihn, das Muttersöhnchen, im egalitär brodelnden Frankreich aus der Schusslinie nehmen wollen. Wie der lebensuntaugliche «französische Kommissär» nun überheblich durch das Reich der Barbaren stolziert und bald Herz wie Verstand verliert, einzig darauf aus, der Geliebten Molières hofkritischen «Tartuffe» im Original zu rezitieren, den es aber in ganz New York nicht gibt – das ist so randvoll mit geistreicher Tändelei und ironischem, ja: brüllend komischem Witz, dass alle Kehlmänner erblassen müssten. Schließlich schafft es dieses Buch auch noch, zugleich ein gewiefter aktueller Kommentar zu sein – von morscher Häuserarchitektur bis hin zu dem, «was Amerikaner ihren Mägen einverleiben». Wir hängen also am Scharnier der Moderne, schaukeln zwischen Alter und Neuer Welt, zwischen Demokratie und Monarchie, zwischen dem brutal pragmatischen homo oeconomicus und dem lieblich verknöcherten Feudal-Adel, doch mehr als alles andere stellt Peter Careys Roman die ideologiesprengende Kraft der Freundschaft ins Zentrum. Die wichtigste Abweichung von den geschichtlichen Begebenheiten nämlich bildet die Ersetzung des standesgleichen Mitreisenden Tocquevilles durch einen Schalk erster Güte: den fast fünfzigjährigen, dem gemeinen englischen Volk entstammenden Diener Parrot, der samt unberechenbarer Frau und unverwüstlicher Schwiegermutter die große Fahrt antritt.
Gemeinsam führt das ungleiche Paar das alte Spiel von Narr und König auf, allerdings in einer närrischer werdenden Welt: Alternierend berichten sie ihre Version der Geschichte, die jeweils voller charmanter Demütigungen des anderen steckt, zumal Olivier auch an Parrots hübscher Frau Gefallen findet. Der aus dem Fälschermilieu stammende, welterfahrene Diener ist seinem Brotgeber «Lord Migräne», welcher ihm gleichwohl immer mehr ans Herz wächst (wie auch umgekehrt), bis zuletzt intellektuell überlegen; doch nicht nur das, denn Parrots eigentliches Talent liegt im Zeichnerischen. So eröffnet sich zunehmend eine weitere Dimension – vielleicht die Einzige, die hier ganz ernst gemeint ist, denn am Horizont dieser Geschichte leuchtet ein furioses Plädoyer für das erfüllende Wagnis der Kunst.
Carey erfindet das Erzählen nicht neu, aber er führt mit diesem brillant übersetzten Wunderwerk die von Swift über Sterne und Dickens führende Tradition des satirischen Realismus in einer Weise fort, dass man ihm dafür – auf der Shortlist stand es bereits – den dritten Man Booker Prize gern gegönnt hätte. Peter Carey Parrot und Olivier in Amerika
Aus dem Englischen von Bernhard Robben. S. Fischer, Frankfurt a.M. 2010. 560 S., 24,95 €
|
Da erblassen alle Kehlmänner: Peter Carey schickt ein ungleiches Männerpaar in die Jahre des revolutionären Beginns der Moderne – ein fulminantes Schelmenstück über Stand und Würde. Roman
|
[] |
kultur
|
2010-11-12T15:12:37+0100
|
2010-11-12T15:12:37+0100
|
https://www.cicero.de//kultur/mit-moliere-amerika/47223
|
|
Euro-Pleite? – Italien ist kein zweites Griechenland
|
Herr Vaubel, Sie haben als einer von 16 Unterzeichnern
gefordert, man müsse die Möglichkeit einer geordneten
Staatsinsolvenz für Griechenland in Erwägung ziehen.
Das gleiche gilt auch für die ungeregelte Insolvenz. Gelten die Inhalte der Forderung genauso für Italien,
den nächsten Dominostein im Planspiel Europa?
Jeder zahlungsunfähige Staat muss einen Schuldenschnitt
vornehmen. Halten Sie den viel beschworenen Zinssatz von
sieben Prozent auf Neuschulden für einen Indikator des
italienischen Untergangs?
Das ist lediglich eine fallabhängige Nummer. Klar, Portugal und
Irland nahmen die Hilfe von außen an, als dieser Zinssatz erreicht
war. Italien muss aber nicht im gleichen Maße neue Schulden
machen wie diese zwei Länder. Glauben Sie, dass Italien es besser schaffen wird als
Griechenland, den Arbeitsmarkt zu flexibilisieren und die Krise mit
den eigenen Hausmitteln abzuwenden?
Auf jeden Fall. Italien sitzt nicht so tief in der Tinte wie
Griechenland. Die Zahlen ergeben da ein klares Bild. Die
Lohnerhöhung in Italien lag bei Weitem nicht so stark über dem
Produktivitätsfortschritt wie im Falle Griechenlands und Portugals.
Auch beim Haushaltsdefizit ist Italien in den letzten neun Jahren
nicht sonderlich unangenehm aufgefallen. Spitzenreiter war
Griechenland, dann Irland, dann Portugal. Die kritische
3-Prozenthürde für die Neuverschuldung wurde in diesem Zeitraum von
Griechenland etliche Male überschritten, Italien steht auf der
Liste weiter unten. Nur bei der Gesamtstaatsschuld ist Italien auf
dem zweiten Platz. [gallery:Von Gipfel zu Gipfel: Versuche, den Finanzmarkt zu
regulieren] Angenommen, Italien ginge in die Staatsinsolvenz, wäre
dann das Ende Europas besiegelt?
Nein, keineswegs. Genauso wenig wäre es das Ende für die USA, wenn
Kalifornien bankrott machte. Italien wäre nur für die Banken ein
viel größerer Brocken als Griechenland. Wenn Griechenland einen
Schuldenschnitt von 50 Prozent macht, gehen allein die griechischen
und zypriotischen Banken unter. Sie ziehen gerade den Vergleich zu den föderalistischen
USA heran. Andere Stimmen behaupten, dass ein größerer europäischer
Zusammenschluss nach amerikanischem Vorbild die Krise abgewendet
hätte.
Das verstehe ich nicht. Die politischen Strukturen sind ja gerade
so, dass es in den USA keine Abstimmung der Haushaltspolitik gibt
zwischen den Staaten oder zwischen Staaten und Bund. Es gibt
keinerlei Haftung. Lesen Sie auf der nächsten Seite, warum Vaubel keine Angst
vorm Dominoeffekt hat und was in der Krise als nächstes passieren
wird. Warum hantieren wir überhaupt mit dem Begriff
Dominoeffekt? Verbreitet der nicht unnötige Ängste?
Es gibt hier zwei verschiedene Definitionen dieses Begriffs.
Erstens haben wir eine Marktinterdependenz, das heißt die Pleite in
einem Staat wirkt sich auf die Banken des anderen aus. Zweitens
gibt es eine psychologische Ebene, die so genannten
Vertrauensexternalitäten. Dominoeffekte beängstigen mich nicht.
Banken tragen nur geringe Prozentsätze von Staatsschulden, haben
erhebliche Kapitalpuffer, mit denen sie Verluste auffangen können.
Es ist unvergleichlich viel billiger, Banken zu stützen, als die
Bürgschaft für die Staatsschuld von Griechenland zu übernehmen. Italiens Probleme wurden in der öffentlichen
Aufmerksamkeit von Griechenland überschattet. Was glauben Sie, wird
in dieser Dauerkrise als nächstes "überraschend" auf den Plan
treten?
Es wird zwei Arten von Überraschungen geben. Es werden weitere
Problemstaaten umschulden, als nächstes Portugal. Griechenland wird
aus der Währungsunion ausscheiden, entweder auf eigenen Wunsch oder
weil es rausgeworfen wird, da es sich den Beitritt erschlichen hat
– das kann man juristisch geltend machen. [gallery:Eine kleine Geschichte des Euro] Wäre das denn im Interesse der europäischen
Sache?
Sie haben Recht, der Rauswurf wird wohl nicht kommen. Die Griechen
werden von selbst austreten wollen, es ist in ihrem Interesse. Es
wäre auch nicht schwierig, das zu machen. Es wird befürchtet, mit
der Abwertung Griechenland würde es Kapitalflucht geben, ein Run
auf die Banken einsetzen. Das ist vermeidbar, indem man den
Griechen erlaubt, ihr Bargeld und ihr Sichtguthaben in Euro zu
halten. Diese sind von der Abwertung keinesfalls betroffen. Alle
Forderungen und Verbindlichkeiten gegenüber Inländern werden dann
umgestellt auf die neue Drachme. Einziges Problem bleibt, das die
Forderungen der Banken sämtlich abgewertet werden, die
Verbindlichkeiten der Banken nicht. Dafür muss man sie
entschädigen. Wäre das denn wirklich billiger?
Ja, denn die Sichteinlagen in Griechenland betragen 20 Milliarden
Euro. Angenommen, die Drache würde um 20 Prozent abgewertet, dann
liegen die Verluste bei der Garantie für Sichteinlagen bei 4
Milliarden. Verglichen mit den 400 Milliarden im Rettungsschirm
sind das Peanuts. Roland Vaubel ist ausgewiesener Eurogegner und Experte für
internationale Währungspolitik. Er unterrichtet Volkswirtschaft und
Politische Ökonomie an der Universität Mannheim. Das Gespräch
führte Paul Solbach.
|
Der Volkswirtschaftler und ausgewiesene Eurogegner Roland Vaubel erklärt im Interview mit CICERO-Online, warum wir Griechenland auch mit wenig mehr als 4 Milliarden retten können.Vaubel und 15 weitere Kollegen unterstützen in einer Forderung den Vorschlag des Wirtschaftsministers Rösler, auch die Staatsinsolvenz für mögliche Euro-Aussteiger zu thematisieren.
|
[] |
wirtschaft
|
2011-11-17T08:54:54+0100
|
2011-11-17T08:54:54+0100
|
https://www.cicero.de//wirtschaft/italien-ist-kein-zweites-griechenland/46529
|
|
Inzest und Verantwortung – Der verdächtige Nachbar
|
Bei uns im Viertel steht ein gelbes Haus mit Rauputz. Ein
kleiner Gartenzwerg hockt im liebevoll gemachten Beet vor einem
Anbau, deren großes Fenster mit schwarzer Teerpappe abgedeckt
ist. Auch an der Seitenwand dieses Anbaus ist ein Fenster mit
Teerpappe verhängt. Irgendwie habe ich ein mulmiges Gefühlt, wenn
ich an dem Haus vorbei gehe, das sonst eigentlich ganz normal
aussieht. Was geschieht in den abgedunkelten Räumen?
Renovierungsarbeiten? Fotoentwicklung? Kindesmissbrauch? In den 60er Jahren machte ein brutaler Mord in New York
Schlagzeilen. Nicht, dass Morde in New York etwas Besonderes
gewesen wären. Aber im Fall von Kitty Genovese war plötzlich ein
ganzer Häuserblock angeklagt. Die 28-jährige Frau war spät in der
Nacht in ihrem Häuserblock in Queens mit dem Auto angekommen, als
sie vom gleichaltrigen Winston Moseley angegriffen, vergewaltigt
und mit Messerstichen traktiert wurde. Ihre Schreie hallten an den
Wänden der Häuser wieder. Als jemand aus einem der offenen Fenster
rief, ob Hilfe benötigt würde, ließ Moseley von Kitty Genovese ab.
Die schleppte sich schwer verletzt in den Hauseingang ihrer
Wohnung. Keiner der Anwohner kam ihr zu Hilfe als Moseley nach
einigen Minuten zurückkehrte, um wieder auf sein Opfer los zu
gehen. Im Nachhinein stellte die Polizei fest, dass 38 Menschen Zeugen
der Tat wurden. Erst nach einer guten halben Stunde aber rief einer
von ihnen die Polizei. Kitty Genovese starb noch auf dem Weg ins
Krankenhaus. Die Psychologen John M. Darley und Bibb Latané
entwickelten in den folgenden Jahren den Begriff der
Verantwortungsdiffusion: Wenn viele Menschen in einer
Notfallsituation zugegen sind, die in der Lage wären zu helfen,
kann es geschehen, dass keiner hilft. Es ist der gleiche Effekt,
wie bei dem Mädchen, das in der vollen S-Bahn vergewaltigt wurde
oder bei dem kleinen Jungen, der in einem Teich ertrank, während 25
Erwachsene draußen standen und zusahen. In jedem dieser Fälle
dachten die Herumstehenden, ein anderer würde helfen. Klassische
Verantwortungsdiffusion. So kann man es jetzt auch im bayerischen Dörfchen Willmersbach
beobachten. Die Verantwortungsdiffusion hat dort die gesamte
Bevölkerung erfasst. 34 Jahre lang soll im Ort ein Vater seine
Tochter missbraucht haben. Im Laufe der Jahre zeugte er drei Söhne
mit ihr, alle drei behindert. Zwei von ihnen starben in jungen
Jahren. Der Vater ihres vierten Sohnes soll der Onkel der Frau
sein. Das ganze Dorf habe sich über Jahre lustig gemacht über
die Jungen, die „ihrem Großvater wie aus dem
Gesicht geschnitten waren“, heißt es in der Süddeutschen
Zeitung. Lesen Sie auf der nächsten Seite, wie der Bürgermeister von
Willmersbach zu retten versucht, was nicht zu retten ist. Jürgen Mönius, Bürgermeister von Willmersbach, versucht nun zu
retten, was nicht zu retten ist. In Interviews will er den Ruf der
Willmersbacher wieder herstellen. Indes, es gelingt ihm nicht, denn
diese verflixte Verantwortungsdiffusion mag noch so plausible
wissenschaftliche Gründe haben; sie bleibt ein widerlicher Zug des
Menschen. Man habe nichts gesagt, weil man sich schließlich „keine
Verleumdungsklage einhandeln“ wolle, so seine hilflose Erklärung.
In anderen Inzestfällen, in denen über Jahre das Martyrium der
Betroffenen unbeachtet blieb, konnten sich Nachbarn und Angehörige
meist erfolgreich herausreden. Vater Fritzl aus Amstetten etwa
blieb in der Öffentlichkeit als alleiniger Schuldiger stehen.
Genauso der Vater der beiden Frauen aus dem österreichischen
Braunau, die ein halbes Leben lang von ihm missbraucht wurden bis
der Mann so alt und klapprig wurde, dass er sich nicht mehr bewegen
konnte und die eingeschüchterten Töchter endlich selbst Hilfe
holten. Niemand kam diesen Menschen zu Hilfe, was doch
verwunderlich ist, wenn man sich diese Vorfälle in einem Dorf
vorstellt, in dem jeder jeden kennt. Was mir immer auffällt, wenn ich im Dorf meiner Schwiegereltern
zu Besuch bin: Es schickt sich nicht, offen aus dem Fenster zu
gucken. Jedes Haus hat diese merkwürdigen Spitzenplastikgardinen,
die alles Licht absorbieren, gegen Abend werden dann auch noch die
Rollläden heruntergelassen. Nie habe ich verstanden, was das
eigentlich soll. Trotzdem weiß natürlich jeder über jeden Bescheid,
keine Frage. Und wenn einmal nicht bekannt ist, was die Müllers von
schräg gegenüber da eigentlich in ihrem Garten machen oder wem das
neue rote Auto gehört, das jetzt immer in der Einfahrt parkt, dann
fragt man die Meiers von rechts, natürlich nicht die Müllers von
drüben. Mir, die ich gerne Menschen beobachte und ihnen in die
Fenster schaue, wird meine Neugierde in diesen Gefilden stets als
unanständig angekreidet. In unserem Berliner Viertel steht nun also dieses Haus mit der
Teerpappe vor den Fenstern. Ich wohne noch nicht lange hier. Da
kann man schlecht anklopfen und fragen: Verzeihung, missbraucht ihr
Mann ihre Tochter gelegentlich im Hinterzimmer? Wäre ich die
direkte Nachbarin, ich könnte mir Tüllgardinen anschaffen und den
ganzen Tag auf der Lauer liegen. Und wenn mir etwas komisch
vorkommt? Rufe ich dann die Polizei? Als ich neulich auf dem Weg
zum Bäcker vorbei ging, stand ein älteres Ehepaar vor der Tür des
Hauses und unterhielt sich mit einer anderen Frau. Sie sahen
eigentlich nett aus.
|
Der Ort ist bekannt geworden als „das Dorf, das alles wusste“. Seine Einwohner machten Witze über den Vater, der mit seiner Tochter drei Söhne zeugte. Nun muss sich Willmersbach rechtfertigen für sein verantwortungsloses Zusehen.
|
[] |
kultur
|
2011-09-16T17:09:07+0200
|
2011-09-16T17:09:07+0200
|
https://www.cicero.de//kultur/der-verdaechtige-nachbar/43057
|
|
Rechtspopulismus – Europas Demokraten müssen die Herzen der Menschen zurückgewinnen - Allons Enfants !
|
Es ist erst 20 Jahre her, da musste Deutschland die Völker des Kontinents beschwichtigen: Nichts Unschickliches, nichts Anmaßendes, nichts Gefährliches sei mit der Wiedervereinigung beabsichtigt. Es werde kein deutsches Europa geben. Sondern ein europäisches Deutschland. Nun macht sich Angela Merkel daran, Europa die Richtung zu weisen: durch einen „Pakt für Wettbewerbsfähigkeit“. Also doch ein deutsches Europa? Kein europäisches Deutschland? Das Gespenst deutscher Übermacht schreckt heute niemanden mehr. Eher knüpfen sich Heilserwartungen an Berlins Forderung, Steuern, Sozialausgaben und Löhne im Euroraum anzugleichen. Die Franzosen, ökonomisch die zweite europäische Kraft, marschieren mit den Deutschen Seit an Seit. Spaniens sozialdemokratischer Premier fordert ein „deutscheres“ Europa. Und aus Hamburg trompetet Die Zeit: „Europa wird deutsch.“ Soll am deutschen Wesen mal wieder die Welt genesen? Nein, die Hybris von einst ist einem vernünftigen Anspruch gewichen. Europa braucht das deutsche Engagement, allerdings weit über die ökonomischen Belange hinaus. Deutschland ist die modernste europäische Demokratie. Ein Gesamtkunstwerk aus angelsächsischer Inspiration. Aus der Not geboren nach den Nazijahren. Und gerade darum besonders solide. Voller Inbrunst und höchst selbstkritisch leben die Deutschen ihre junge Demokratie, unablässig bemüht zu prüfen, ob sie denn nun wirklich und für immer gute Demokraten seien. Die Europäische Union ist das gewaltigste politische Friedenswerk der Welt. Aus der Not geboren, dem Sicherheitsstreben versehrter Nationen entsprungen: Nie wieder Krieg! Doch die klassische Sinnstiftung der Gründerväter begeistert die Twitter-Generation nicht mehr. Für sie ist selbstverständlich, dass die Völker Europas nicht mit Waffen gegeneinander losziehen. Trotzdem ist auch die Jugend beseelt vom Wunsch nach Sicherheit. Der Kontinent soll der sichere Ort sein in einer unsicheren Welt, in unsicheren Zeiten: mit gesicherter Freiheit, mit stabiler Demokratie, mit funktionierendem Rechtsstaat. Europa als Hort von Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Auch der ganz gewöhnliche Mittelstand sorgt sich um die Grundwerte der offenen westlichen Gesellschaft. Sie sollen gepflegt, bewahrt und, wo immer nötig, verteidigt werden: gegen autoritäre Erfolgsstaaten wie jene im Fernen Osten; gegen religiös-totalitäre Herrschaftsansprüche wie jene im islamischen Raum; gegen marktradikalen Neofeudalismus wie jenen der globalisierten Finanzmächte im Westen. Im Angesicht der vielfältigen Bedrohung erhält das europäische Modell gerade einen neuen Sinn, der sich reimt auf das Gesellschaftsmodell des bewährten rheinischen Kapitalismus: Primat der Politik, aufgeklärtes Unternehmertum und Bürgersinn. Mehr als 60 Jahre lang waren die großen demokratischen Parteien Hüter dieser politischen Kultur. Doch ökonomische Kalamitäten – Finanzkrise, Schuldenkrise, Eurokrise – haben den traditionellen Trägern des europäischen Erbguts den Blick dafür verstellt, dass die Verunsicherung der Bürger tiefer reicht als der Blick ins Portemonnaie: Sie erfasst die Menschen in ihrem Innersten. Angst essen Seele auf. Darum geht es. Und das haben Gruppierungen erkannt, die sich jenseits der klassischen demokratischen Kräfte zu problematischen Bewegungen aufschwingen. Populisten der alten und der neuen Art: rechtsradikal wie der französische Front National, konservativ-liberal wie Geert Wilders Partij voor de Vrijheid. Gestern propagierten die Populisten Rassismus, Antisemitismus, Autoritarismus. Heute reden sie Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit das Wort – Freiheit von religiöser Bevormundung, Gleichheit der Frauen, Brüderlichkeit im Sozialstaat. Sie fordern die Durchsetzung der Grundgesetze auch in Migrantenmilieus. Dem Populismus wächst damit eine Legitimation zu, die von den etablierten demokratischen Parteien bisher als ihre Domäne betrachtet wurde: Hüter zu sein der Werte Europas. Millionen Wähler fühlen sich von den Populisten erhört – und wenden sich ab von den CDUs und SPDs, die so lange die christlich-sozialdemokratische Kultur der Europäischen Union geprägt haben. Was begeistert die Menschen noch für Europa? Wer entfacht das fast erloschene „feu sacré“ der europäischen Idee? Die heilige sozialpolitische Einfalt der Sozialdemokraten ist es nicht. Der schlichte wirtschaftspolitische Lobbyismus der bürgerlichen Parteien ebenso wenig. Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit – das ist viel, viel, viel mehr als die Formel: Sozialausgaben plus Wachstumsraten. Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit – das ist der Ruf, auf die Barrikaden zu steigen: zum Kampf für die politische Kultur der Aufklärung, der Französischen Revolution, des demokratischen Bürgertums. Es ist diese Herausforderung, der sich die wundersame deutsche Demokratie zu stellen hat. Gemeinsam mit Frankreich, der Begründernation unserer Freiheiten, kann sie Europa mit neuem „élan vital“ erfüllen. Allons Enfants!
|
Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit – die Werte der Französischen Revolution sind mehr als eine Formel. Europaweit inszenieren sich Rechtspopulisten als ihre Hüter. Sie nutzen die Krise, schüren Ängste. Viele Europäer fühlen sich erhört. Ihre Herzen zurückgewinnen – darin sieht Journalist Frank A. Meyer die Herausforderung europäischer Demokratien. Ein Kommentar
|
[] |
außenpolitik
|
2011-02-24T00:00:00+0100
|
2011-02-24T00:00:00+0100
|
https://www.cicero.de//weltbuhne/europas-demokraten-mussen-die-herzen-der-menschen-zuruckgewinnen-allons-enfants/41704
|
|
Der Mord von Limburg - Femizid statt Familiendrama
|
Es waren Bilder, die selbst hartgesottene Ermittler schockierten. Augenzeugen haben sie mit dem Handy aufgenommen und im Internet hochgeladen. Ein Mann rast mit einem schwarzen Audi auf eine Frau zu. Er schleift sie über 30 Meter weit mit – über die Straße, über einen Parkplatz, durch ein Metalltor, das zufällig offen steht. Der Wagen kracht in ein denkmalgeschütztes Backsteingebäude. Der Fahrer steigt aus, und holt eine Axt aus dem Kofferraum. Er zertrümmert der Frau mit fünf Hieben den Schädel. Der Mann ist nicht irgendein Mann. Es ist der Noch-Ehemann der Frau. Für die Polizei in Limburg stand das Tatmotiv deshalb schnell fest. Sie sprach von einer „Beziehungstat“. Medien haben diese Lesart übernommen. Von einer „Familientragödie“ oder einem „Eifersuchtssdrama” ist in solchen Fällen die Rede. Phrasen, die suggerieren, die Täter-Opfer-Beziehung sei in Wirklichkeit eine gleichberechtigte gewesen – und die Frau auch selbst mit Schuld an ihrem gewaltsamen Tod. Angesichts der Brutalität, mit der der Täter in Limburg Opfer getötet hat, wirken solche Begriffe beinahe beschönigend. Menschen, die das Video gesehen haben, sagen, der Mann habe die Frau „beinahe enthauptet“. Gegen den Täter von Limburg hat das Amtsgericht Limburg inzwischen Haftbefehl wegen Mordes erlassen. Seine Frau ist Opfer einer Gewalttat geworden, weil sie eine Frau ist. Weil sie es gewagt hat, aus einer Ehe auszubrechen, von der Bekannte des Opfers berichten, sie sei ein Gefängnis gewesen. Deshalb soll die Frau mit den beiden gemeinsamen Kindern vor dem Mann in ein Frauenhaus geflüchtet sein, wo er ihr aufgelauert habe. In Mexiko und anderen lateinamerikanischen Ländern gibt es für solche Morde schon seit einigen Jahren einen eigenen Straftatbestand: Femizid. Dieser Begriff drückt aus, dass Gewalt in einer Beziehung keine Privatsache ist. Das Muster dieser so genannten „Beziehungstaten“ ist oft dasselbe. Eine Frau verlässt ihren Mann. Der rächt sich für diese narzisstische Kränkung. In der islamischen Kultur spricht man in diesem Fall von einem „Ehrenmord.“ Um einen solchen handele es sich auch im Fall des Täters von Limburg, sagt die bekannte Anwältin und Frauenrechtlerin Seyran Ates. Dass der Täter, Imad A., einen deutschen Pass besitzen soll, dass seine Vorfahren aus Tunesien stammen, werde bei der Gerichtsverhandlung keine Rolle spielen. Auf mildernde Umstände oder einen kulturellen „Bonus“ könne der Mann nicht hoffen, sagt sie. Das sei bis 2005 noch anders gewesen. Der so genannte Ehrenmord an Hatun Sürücü, einer 23-jährigen Deutsch-Türkin, die in Berlin auf offener Straße von ihrem Bruder erschossen wurde, habe zu einem Umdenken geführt. Die Urteile zu Ehrenmorden fielen jetzt strenger aus, weil Gerichte eher niedrige Beweggründe als Mordmotiv annehmen, sagt die Vorsitzende der Strafrechtskommission des Deutschen Juristinnenbundes, Leonie Steinl. Mehr als zwei Drittel der Tatverdächtigen sind aber Deutsche. Dass auch sie Frauen schlagen, quälen oder töten, gilt immer noch als Tabu. „Es besteht eine Schieflage bei der Bereitschaft, Gewalt gegen Frauen zu erkennen. Sie wird gesellschaftlich viel eher als Problem anerkannt, wenn sie sich vermeintlich exklusiv bei religiösen oder ethnischen Minderheiten verorten lässt“, sagt Steinl. Eine vergleichbare patriarchale Besitzkonstruktion werde anders gewertet. Das spiegelt sich auch in den Gerichtsurteilen wieder. Nach einem Urteil des Bundesgerichtshofs von 2008 steht das Mordmerkmal der niedrigen Beweggründe in Zweifel, „wenn die Trennung von dem Tatopfer ausgeht und der Angeklagte durch die Tat sich dessen beraubt, was er eigentlich nicht verlieren will.“ Dann liege kein Mord vor, sondern Totschlag. Und das bedeutet: Statt lebenslänglich kommt der Täter im günstigsten Fall nur fünf Jahre Gefängnis. Ein Dilemma, sagen Frauenrechtlerinnen mit Verweis auf eine Statistik des Bundeskriminalamtes. Danach wird in Deutschland alle zwei bis drei Tage eine Frau von ihrem Partner oder Ex-Partner getötet. Täglich werden 380 Menschen Opfer von partnerschaftlicher Gewalt, davon 80 Prozent Frauen. Wie groß das Problem in Deutschland ist, zeigt eine Europastudie aus dem Jahr 2016 über die Zahl der vorsätzlich getöteten Frauen pro 100.000 Einwohner: Dort liegt Deutschland auf Platz sechs – hinter Lettland, Litauen, Ungarn, Estland und Zypern. Bekannt werden in der Regel aber nur solche Taten, über die die Medien berichten – auch deshalb, weil sie wie der Mord in Limburg im öffentlichen Raum stattgefunden haben. Dass amselben Tag im brandenburgischen Teltow ein deutscher Mitarbeiter des Bundestags seine von ihm getrennt lebende Ehefrau vor der Haustür ihres Eigenheims erstochen hat, obwohl die Frau nach zahlreichen Übergriffen ein Näherungsverbot erwirkt hatte, über dieses „Familiendrama“ wird zwar auch berichtet. Das Verbrechen wird aber nicht von der AfD instrumentalisiert. Wenn es um Gewalt gegen Frauen geht, hinkt die Gesetzgebung der Realität hinterher. Vergewaltigung in der Ehe ist erst seit 1999 ein eigener Straftatbestand. Dass ein „Nein“ auch ein „Nein“ bedeuten muss, regelt das Sexualststrafrecht seit 2017. Doch wenn es um die schlimmste Form von Gewalt gegen Frauen und ihre Kinder geht, lässt der Gesetzgeber die Frauen allein. Auf eine Anfrage der Linken im Mai dieses Jahres erklärten die rechtspolitischen Sprecher der Bundestagsfraktionen, das bisherige Strafrecht müsse nicht verschärft werden. Es reiche, wenn man es konsequent anwende. Aber mit bloßen Absichtserklärungen ist den Opfern nicht geholfen. Nicht jede Tötung einer Frau darf zwar als Mord verurteilt werden. Aber wenn ein Täter aus Eifersucht tötet, darf die Annahme eines Mordes aus niedrigen Beweggründen nicht mehr ausgeschlossen werden. Solche Morde richtig zu benennen, ist der erste Schritt, um sie bekämpfen zu können. Das Bewusstsein für Gewalt gegen Frauen fängt mit der Sprache an.
|
Antje Hildebrandt
|
In Limburg hat ein Mann seine Ehefrau mit der Axt erschlagen, weil sie ihn verlassen hatte. Polizei und Medien sprechen von einer „Beziehungstat”. Dabei gibt es längst die Forderung, Mord aus Eifersucht als eigenen Straftatbestand ins Gesetzbuch aufzunehmen. Ein Plädoyer
|
[
"Ehrenmord",
"Limburg",
"Rechtsstaat",
"Feminismus"
] |
innenpolitik
|
2019-10-29T10:08:37+0100
|
2019-10-29T10:08:37+0100
|
https://www.cicero.de/innenpolitik/limburg-mord-beziehungstat-familiendrama-femizid
|
Wahlrechts-Reform – „Die Union verzerrt den Wettbewerb“
|
Herr Meyer, Sie haben das bestehende Wahlsystem mit der von Ihren vertretenen Klage 2008 vor dem Bundesverfassungsgericht zu Fall gebracht. Jetzt hat der Bundestag mit den Stimmen von CDU, CSU und FDP – und gegen die Opposition – ein neues Wahlrecht beschlossen. Was halten Sie von dem Gesetzesentwurf?
Überhaupt nichts. Er ist verfassungswidrig. Er behebt das Problem des sogenannten negativen Stimmgewichts nicht. Was bedeutet das?
Die Voraussetzung für das negative Stimmgewicht ist, dass das Wahlergebnis in einem Land sich auf das Wahlergebnis in einem anderen Land auswirken kann. In dem neuen Entwurf sind zwar die Landeslisten nicht mehr miteinander verbunden, aber die Landeswahlergebnisse. Sie beeinflussen sich gegenseitig. Praktisch kann es etwa so sein, dass 10.000 Zweitstimmen für die SPD in Bremen der Partei nicht viel helfen, weil sie genügend Direktmandate gewinnt. Aber dafür könnte ein Mandat aus Sachsen-Anhalt oder Nordrhein-Westfalen nach Bremen wandern – und das muss kein SPD-Mandat sein. Es kann ein beliebiges Mandat sein. Dann hätten wir also Ergebnisse, die dem Wählerwillen völlig widersprechen. Die Reform eröffnet ein neues Feld des negativen Stimmgewichts. Das hat die Koalition verschwiegen. Und wie bewerten Sie die Vorschläge von der Opposition, die allesamt abgelehnt wurden?
Bei den Entwürfen von Linken und Grünen hätte es das nicht gegeben, und in meinen Augen auch nicht bei dem SPD-Vorschlag, der mit Ausgleichsmandaten arbeitet. Müsste man die Überhangmandate abschaffen?
Ja. Und genau das wollte die Union nicht. Denn sie profitiert davon. Inwiefern?
Die Union hat bei der Bundestagswahl 2009 insgesamt 24 Überhangmandate erworben. 21 für die CDU und drei für die CSU. Nehmen wir zwei Beispiele: 2005 hatte die CDU in Baden-Württemberg drei Überhangmandate. Vier Jahre später hat sie 400.000 Zweitstimmen verloren, aber zehn Überhangmandate gewonnen. Und die CSU hat in Bayern überhaupt zum ersten Mal Überhangmandate bekommen, weil sie über 600.000 Zweitstimmen verloren hat. Das heißt, der Verlust an Anhängerschaft wurde durch Überhangmandate vergütet. Das ist wie bei den Bänkern, die Boni bekommen, weil sie das Finanzsystem gegen die Wand gefahren haben. Lesen Sie, warum 24 Unionspolitiker illegal im Bundestag sitzen. Im Bundestag sitzen also 24 Unionsabgeordnete zu Unrecht? Illegal?
Ja. Die Bundestagswahl 2009 war eigentlich verfassungswidrig. Aber, noch schlimmer: Zum ersten Mal wurde jetzt das Wahlgesetz nicht einvernehmlich zwischen den Fraktionen ausgehandelt, weil die Union ihre Überhangmandate behalten wollte. Sie wollte also ihre Privilegien behalten. Das ist ein Skandal! Denn das Wahlrecht ist eigentlich ein Wettbewerbsrecht für die Parteien. Es käme doch auch kein Mensch auf die Idee, etwa den Wettbewerb innerhalb der Automobilindustrie von Mercedes-Benz und einem kleinen Autofabrikanten allein entscheiden zu lassen. Da würde man doch sagen: Ihr seid verrückt geworden! Die Union hat erstaunlicherweise in ihrer Entwurfsbegründung selbst ganz eindeutig gesagt, dass sogenannte doppelte Stimmgewichte verfassungswidrig sind. Doch die Überhangmandate – die eben nicht abgeschafft werden – beruhen zu einem erheblichen Teil auf doppelten Stimmgewichten. Erklären Sie das bitte mal genauer. Was bedeutet „doppeltes Stimmgewicht“?
Der typische FDP-Wähler in Baden-Württemberg hat etwa bei der Wahl 2009 seine Erststimme einem CDU-Kandidaten gegeben. Das ganz vernünftige Kalkül dahinter war, dass es keinen Sinn hat, sie dem FDP-Erstkandidaten zu geben, weil er das Mandat sowieso nie gewinnt. Mit meiner Stimme für den CDU-Kandidaten kann ich aber einem Direktmandaten der CDU zum Sieg verhelfen. Das ist im Ländle bei mindestens der Hälfte der dort angefallenen Überhangmandate der Fall. Durch Stimmensplitting werden CDU-Überhangmandate erworben. Sein direkt gewählter CDU-Kandidat kann auf den Zweitstimmenanteil der CDU wegen des Überhangs nicht angerechnet werden. Somit hat der splittende Wähler ein doppeltes Stimmgewicht. Die treuen Wähler einer Partei sind also die Dummen. Überspitzt gesagt: Sie fordern ein Wahlrecht ohne Stimmensplitting? Die Abschaffung des Zwei-Stimmen-Wahlrechts?
Ja. Das Wahlgesetz ist für ein doppeltes Stimmgewicht des Wählers eigentlich nicht geschaffen. 1949 gab es nur eine Stimme. Mit der Erststimme – es gab nur diese – hat man sowohl den Direktkandidaten gewählt wie auch die Liste dieser Partei. 1953 hat die damalige bürgerliche Koalition das Zweistimmensystem als eine große Errungenschaft eingeführt. Und das ist in sich widersprüchlich. Aber die Idee des Erststimmenmandats ist doch, dass ich unabhängig der Partei meinen Abgeordneten wähle, also eine Person.
Das ist absoluter Unfug. Der Wahlkreisabgeordnete vertritt mein Interesse, meinen Wahlkreis, nur bei ihm habe ich eine Chance, ihn kennenzulernen.
Ich habe noch nie in meinem Leben meinem Wahlkreisabgeordneten die Hand gegeben. Bekannt sind nur die Wahlkreiskandidaten, die im Fernsehen auftreten, alle anderen sind graue Mäuse. Wenn die Hälfte der FDP-Wähler in Baden-Württemberg ihre Stimme splittet, dann heißt das doch nicht, dass sie den FDP-Kandidaten für zu blöd und den CDU-Kandidaten für so gut halten. Sie sagen, dass es keinen Zweck hat, den FDP-Kandidaten zu wählen. Es geht überhaupt nicht um Personalentscheidungen. Im Übrigen sagt Artikel 38 des Grundgesetzes, dass das Parlament das ganze Volk vertritt und nicht nur die Wähler. Lesen Sie auch, wie das Bundesverfassungsgericht zum neuen Gesetzgeber werden könnte. Umfragen zeigen, dass Wähler häufiger die Parteien wählen, die auf jeden Fall die Fünf-Prozent-Hürde schaffen. Mit einem Ein-Stimmen-System hätten dann ja kleine Parteien keine Chance mehr.
Nein, eher das Gegenteil wäre der Fall. Die derzeitigen Entwicklungen, dass die Leute so unentschieden sind, welche Partei sie überhaupt wählen sollen, dass es auf einmal große Ströme und Wählerwanderungen gibt, dass eine Partei plötzlich zehn Prozentpunkte verliert – die waren doch früher undenkbar. Das alles beruht auch auf dem Stimmensplitting. Sie sagen also, die Möglichkeit zur Zweitstimme hat die Verbundenheit zu den Parteien gelockert?
Ja. Ich sehe einen Zusammenhang mit der Auflösung der Parteimilieus – sowohl bei der Arbeiterschaft für die SPD als auch beim katholischen Milieu für die CDU. Wenn man schon anfängt, mit zwei Parteien zu jonglieren, kann man auch mal ganz zur zweiten Partei wechseln. Beim Einstimmensystem war das noch anders: Man musste sich klar für eine Partei entscheiden. Das klingt ja wie eine schöne Ausrede für den derzeit dramatischen Absturz der FDP…
Wenn die Liberalen nicht so viel Angst hätten, bei den nächsten Wahlen zu verlieren, würden sie möglicherweise mal auf dieses Problem eingehen. Werden Sie also erneut gegen diesen Gesetzentwurf vors Bundesverfassungsgericht ziehen?
Ja, das ist schon beschlossen. Wann soll es losgehen?
Sobald das Gesetz in Kraft getreten ist, wird die Klage eingereicht werden. Die Richter werden sicher schneller urteilen als beim letzten Mal und werden auch erheblich kürzere Fristen für die Korrektur setzen. Was, wenn die Koalition doch zerbricht und es jetzt zu Neuwahlen käme?
Das wäre tatsächlich ein Problem. Das Gericht ist ja blamiert durch das Verhalten der Politik. Im Urteil von 2008 hieß es, acht Monate sind nicht genug Zeit, um das Wahlrecht ordentlich zu reformieren, und jetzt hat die Koalition das innerhalb von drei bis vier Monaten gemacht. Im Fall von Neuwahlen dürfte das Gericht entweder sofort entscheiden oder selbst das Wahlgesetz machen. Das hatte der Präsident, Andreas Voßkuhle, bereits in einer Rede in Berlin angekündigt. Gab es so etwas schon einmal, dass das Bundesverfassungsgericht selbst einen Gesetzentwurf ausarbeitet?
Ja, zum Beispiel bei der Parteienfinanzierung: Da haben die Richter auch nicht daran geglaubt, dass die Parteien die Beschränkung des Gerichts ordentlich gesetzgeberisch umsetzen würden. Also haben sie detailliert vorgegeben, wie viel Geld die Parteien erhalten dürfen. Dann wäre also das Bundesverfassungsgericht der neue Gesetzgeber?
Das wäre dann der Fall. Aber ich glaube, so schnell wird die Koalition nicht auseinandergehen. Denn im Augenblick sieht es da ganz böse aus für sie aus. Die Koalition weiß, dass sie bei der nächsten Wahl verlieren würde. Deshalb ist dieses Szenario eher unwahrscheinlich. Herr Meyer, vielen Dank für das Gespräch. Das Interview führte Petra Sorge.
|
Der vom Bundestag beschlossene Gesetzentwurf zur Reform des Wahlrechts ist verfassungswidrig, sagt der Staatsrechtler Hans Meyer. Denn CDU und CSU sicherten sich damit Privilegien. Im CICERO-ONLINE-Interview spricht der frühere Präsident der Berliner Humboldt-Universität von einem „Skandal“.
|
[] |
innenpolitik
|
2011-10-01T15:32:56+0200
|
2011-10-01T15:32:56+0200
|
https://www.cicero.de//innenpolitik/die-union-verzerrt-den-wettbewerb/43255
|
|
Pariser Polizei-Erlebnisse - Zum Glück rief er nicht „Allahu Akbar!“
|
Ich, ein friedfertiger Rentner im dritten Arrondissement, wollte an diesem sonnigen Sonntagmorgen nur das Brot holen. Unsere Wohnung liegt vierzig Meter vom Cirque d'Hiver entfernt, dem prächtigen, 150 Jahre alten Winterzirkus, wo sich am Mittag die „Reporter ohne Grenzen“ versammeln wollten, um später mit François Hollande, Angela Merkel, David Cameron, Benjamin Netanjahu und einer Million Parisern für die Pressefreiheit und gegen den Terror zu marschieren. Noch aber waren alle Straßen wunderbar leer, und auf dem Weg zum Bäcker in der Rue de Bretagne wollte ich mir an der Ecke noch etwas Geld holen. Im Bankraum mit den automatischen Schaltern lag eine schlafende Gestalt auf dem Fußboden; das kann in Paris vorkommen. Als ich indessen die Bankkarte eingeschoben und meinen Code eingetippt hatte, stand der Schlafende auf einmal neben mir und war hellwach. Es handelte sich um einen Jugendlichen weißer Hautfarbe, der ebenfalls Bargeld benötigte, aber anscheinend keine Bankkarte besaß. Er schob sich geschmeidig zwischen den Geldautomaten und mich, wobei es ihm gelang, auf den roten Knopf mit der Beschriftung „Annuler“ zu drücken. Ich war schon erleichtert, dass er nicht „Allahu Akbar!“ gerufen hatte, und es gelang mir, die nun wieder herauskommende Bankkarte selber zu ergreifen und in die Hosentasche zu stecken. Nachdem ich den Jugendlichen weggestoßen und in französischer Sprache beschimpft hatte, entfernte ich mich zügig in Richtung Bäckerei. Schon nach wenigen Schritten fiel mir aber ein, dass ich für meinen Einkauf Bargeld benötigte, also kehrte ich um und ging zur Bank zurück. Dort stand inzwischen eine halbe Hundertschaft nervöser, dunkelblau uniformierter, mit schusssicheren Westen, Maschinenpistolen und schwarzen Knüppeln ausgerüsteter Mitglieder der Police Nationale. Weder dem Jugendlichen noch mir war vorher aufgefallen, dass in einer Seitenstraße mehrere blau gestrichene Busse und Panzerfahrzeuge geparkt waren – Sicherheitskräfte, die das Geschehen im Umkreis der nahe gelegenen Place de la République zu überwachen hatten. Dort lief allmählich die größte Menschenversammlung zusammen, die Paris seit der Befreiung durch die Alliierten im August 1944 erlebt hat. Ein Sicherheitsmann dürfte durch die gläserne Schiebetür die Szene vor dem Geldautomaten beobachtet haben, worauf den Fahrzeugen die geballte, zur Terrorabwehr entschlossene Staatsmacht entströmt war. An die dreißig Uniformierte sprinteten in die Rue de Turenne, um den Jugendlichen zu verfolgen. Nach ein paar Minuten hatten sie ihn gefasst – und beide wurden wir mit heulenden Sirenen auf das nächste Polizeirevier gebracht. Dort stellte ich klar, dass der etwa Sechzehnjährige keine Gewalt angewendet und mir (wie ich meinte) auch nichts gestohlen hatte. Nach kurzer Hinterzimmer-Vernehmung wurde er auf die Straße geworfen; ich hingegen empfing einen solidarischen Händedruck. „The rest is history“, hätte ich nun schreiben können. Tatsächlich: nach dem Kauf der jetzt nicht mehr so frischen Frühstücks-Croissants begegnete ich auf dem Boulevard Beaumarchais einer gefühlten Million Menschen, und an der nahen U-Bahn-Station Oberkampf fuhr der Bus mit Angela Merkel und vierzig anderen Staatschefs vorbei, die alsbald untergehakt und mit betretenen Gesichtern durch eine Sperrzone in Paris gegen den Terror marschieren würden. Das war‘s, sagte ich mir. Doch zwei Tage später klingelte das Telefon, und es meldete sich Monsieur Renaudot, Polizeirevier Beaubourg. Ich möge bitte einen Blick in mein Konto werfen. Dort fehlten 300 Euro, abgehoben in Paris an jenem historischen Sonntagmorgen. Kaum hatte ich vor ihm Platz genommen und ihm meinen Kontoauszug gezeigt, blätterte Monsieur Renaudot feierlich zwanzig Geldscheine auf den Schreibtisch: zehn blaue Zwanziger, zehn rote Zehner. „Die haben wir dem Jungen am Sonntag bei der Leibesvisitation abgenommen. Verhaften konnten wir ihn nicht: Er ist ein Profi, aber minderjährig. Bitte bedienen Sie sich.“
|
Carlos Widmann
|
Draußen marschierten Angela Merkel, François Hollande und Millionen Trauernde für die Charlie-Hebdo-Opfer. Drinnen wollte Carlos Widmann einfach nur Geld abheben. Da näherte sich ihm ein Jugendlicher – und machte etwas Kurioses mit dem mehrfach ausgezeichneten Reporter
|
[] |
außenpolitik
|
2015-01-16T16:22:21+0100
|
2015-01-16T16:22:21+0100
|
https://www.cicero.de//aussenpolitik/charlie-hebdo-paris-polizei-zum-glueck-rief-er-nicht-allahu-akbar/58741
|
Comic "Jimmy Corrigan" - One-Night-Stand mit Superman
|
Die Sonne scheint, da sie keine andere Wahl hat, auf nichts Neues. Seine Tage verbringt Jimmy Corrigan sprachlos in einer winzigen Wabe in einem großen Büro; seine Abende verbringt er sprachlos zu Hause und blickt aus dem Fenster auf die Ödnis seiner Vorstadt. Einmal am Tag klingelt das Telefon, dann ruft seine Mutter aus dem Altenheim an und zwingt ihn mit ihrer herrischen Sprache zurück in jene Rolle des unreifen Kindes, aus der Jimmy in Wahrheit nie ausbrechen konnte. «Jimmy Corrigan – der klügste Junge der Welt» heißt dieser auf geradezu barocke Weise nihilistische Comic-Roman von Chris Ware. «Der klügste Junge der Welt» ist Jimmy Corrigan natürlich nur in jenen wiederkehrenden Phantasien, in denen er sich als Superman sieht oder als sonst irgendein maskierter Rächer mit Superkräften und unwiderstehlicher erotischer Anziehungskraft. Er selbst hat mit fast vierzig Jahren noch nie eine Freundin gehabt, und der einzige Superman, den er jemals persönlich traf, war ein kostümierter Werbeträger in einem Billig-Kaufhaus, der das Staunen des naiven Knaben sogleich dazu nutzte, seine einsame Mutter zu einem One-Night-Stand abzuschleppen. Seinen Vater hat Jimmy Corrigan nie kennengelernt – bis dieser, kurz vor dem eigenen Tod, doch noch den Kontakt zu seinem Sohn sucht. In einer tristen Flughafenhalle treffen sie erstmals aufeinander, eine nicht enden wollende Szene von quälender Sprachlosigkeit. Doch in der Leere zwischen seinen beiden Figuren entfaltet Chris Ware bald ein ganzes Panorama der Familien- und Gesellschaftsgeschichte. Jimmy Corrigan lernt auch den Vater seines Vaters kennen, der ebenfalls Jimmy Corrigan heißt; dessen Biografie führt zurück in die USA der vorletzten Jahrhundertwende, wo Jimmy der Ältere von seinem verwitweten Vater eines Tages sang- und klanglos verlassen wird. So begegnen uns drei Generationen entfremdeter Männer, die um die Liebe und um das Geliebtwerden ringen. Einen Moment lang schimmert am Ende dieser herzzerreißenden Geschichte sogar so etwas wie Hoffnung auf. Und erlischt. In einem kunstvollen Geflecht aus Vor- und Rückblenden, aus scheinbar realistisch erzählter Geschichte und Gedankenbildern, Erinnerungen und Fantasien zeigt Chris Ware, wie die Schicksale seiner Figuren miteinander verbunden sind und warum diese Männer, bei aller Sehnsucht, doch nicht zueinander kommen können. Die lineare Abfolge von Szenen löst Ware dabei immer wieder auf; in ganzseitigen Bild-Architekturen verschränkt und verwirrt der Zeichner Vergangenheit und Gegenwart, die Wirklichkeit und die Wünsche. Seine Grundformen bleiben indes geometrisch: In den strengen, meist planvoll zu eng beschnittenen Szenen wirken die Figuren existenziell eingeklemmt und gefangen. 1967 in Nebraska geboren, wurde Chris Ware Ende der Achtzigerjahre von dem «MAUS»-Zeichner Art Spiegelman entdeckt; seine ersten kurzen Geschichten erschienen in dessen Comic-Avantgarde-Magazin «RAW». Die ersten «Jimmy Corrigan»-Folgen veröffentlichte Ware vor fast zwanzig Jahren in seiner Heftserie «ACME Novelty Library», 2000 wurden sie in gesammelter Form als Buch herausgebracht. Noch einmal dreizehn Jahre hat es gedauert, bis nun endlich eine deutsche Ausgabe erschienen ist. Und das lag nicht nur an der Mühsal der Übersetzung von Wares literarisch anspielungsreicher und komplexer Sprache (die Heinrich Anders und Tina Hohl kongenial ins Deutsche übertragen haben), sondern vor allem am Perfektionismus des Zeichners und Buchkünstlers. Bis in die winzigste Farbton-Nuance pflegt Ware den Verlegern die Gestaltung seiner Comics zu diktieren. Mit seinen winzigen, typografisch stets wechselnden Schriften verlangt er nicht nur dem Blick des Betrachters viel ab, sondern auch dem Talent seiner Grafiker und Layouter. Allein der kompliziert zusammengelegte Schutzumschlag ist ein Kunstwerk eigenen Rechts: Beim Entfalten enthüllt er ein gewaltiges Pfeildiagramm, in dem die Geschichte des Buchs wie in einem psychogeografischen Schaltplan zusammengefasst und gedeutet wird. Seine Bilder, so hat Chris Ware einmal gesagt, seien wie Schriftzeichen zu sehen: Man solle sie nicht betrachten, sondern lesen. Auch die Physiognomien seiner Figuren hat er auf symbolhafte grafische Formen verkürzt. Vom psychologischen Realismus vieler jüngerer «Graphic Novel»-Adepten sind Wares Zeichnungen weit entfernt; gerade deswegen aber wirken sie so psychologisch detailgetreu und berührend. Das Innenleben seiner Protagonisten, ihre Gefühle und Schmerzen, ihre Hoffnungen und ihre Verzweiflung bringt Ware in der Form seiner Bilder zum Ausdruck: durch die Öffnung und Verengung der Räume, die seine Figuren umgeben; durch die Kadrierung der Szenen, durch Symmetrien und Asymmetrien, durch den Beschnitt von Körpern und die Verhüllung von Gesichtern durch darüber montierte Texte. Aus der Comic-typischen Verschränkung von Bild und Schrift, von räumlicher Darstellung und sequenziellem Erzählen schlägt er so die größten und feinsten Effekte: «Jimmy Corrigan» ist nichts anderes als ein Meisterwerk, und Chris Ware ist der bedeutendste Bild-Erzähler seiner Generation. Chris WareJimmy Corrigan – der klügste Junge der WeltReprodukt, Berlin 2013.384 S., 39 €
|
Jens Balzer
|
«Jimmy Corrigan» ist ein Meisterwerk. Und sein Schöpfer Chris Ware der bedeutendste Bild-Erzähler seiner Generation
|
[] |
kultur
|
2013-06-15T12:42:15+0200
|
2013-06-15T12:42:15+0200
|
https://www.cicero.de//kultur/comic-jimmy-corrigan-one-night-stand-mit-superman/54658
|
Ukraine-Konflikt - Russland befiehlt Entsendung von Truppen in die Ostukraine
|
Allen Warnungen des Westens zum Trotz hat der russische Präsident Wladimir Putin die Entsendung von Truppen in den umkämpften Osten der Ukraine befohlen. Die Einheiten sollen in den selbst ernannten Volksrepubliken Luhansk und Donezk für „Frieden“ sorgen, wie es in einem Dekret heißt, das der Kremlchef am Montagabend in Moskau unterzeichnete. Zugleich erkannte Putin die beiden von prorussischen Separatisten kontrollierten Gebiete, die völkerrechtlich zur Ukraine gehören, als unabhängige Staaten an. Wann die russischen Soldaten dort einrücken, blieb zunächst unklar. Die USA und die EU protestierten und kündigten Strafmaßnahmen an. Der vor Jahren vereinbarte Waffenstillstand in Donezk und Luhansk hält angesichts Hunderter Verstöße nicht mehr, es bekämpfen sich dort ukrainische Regierungstruppen und Aufständische. Russland hat nach westlichen Angaben etwa 150.000 Soldaten an den Grenzen zum Nachbarland zusammengezogen. Ein baldiges Vorrücken in die Ostukraine wäre daher leicht möglich. Moskau hatte seit Wochen Befürchtungen des Westens widersprochen, dass ein Einmarsch bevorstehen könnte. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj reagierte auf die russische Anerkennung der „Volksrepubliken“ zurückhaltend. „Wir sind dem friedlichen und diplomatischen Weg treu und werden nur auf diesem gehen“, sagte er. Auf Provokationen werde Kiew nicht reagieren – aber auch kein Territorium aufgeben. „Wir erwarten von unseren Partnern klare und wirkungsvolle Schritte der Unterstützung.“ Die US-Regierung geht davon aus, dass Russland seine Ankündigung, Truppen in den umkämpften Osten der Ukraine zu schicken, schon bald umsetzen wird. Russland könnte „heute Nacht oder morgen oder in den kommenden Tagen“ handeln, sagte der stellvertretende nationale Sicherheitsberater Jon Finer dem Sender CNN. Die amerikanische UN-Botschafterin Linda Thomas-Greenfield sagte bei einer kurzfristig anberaumten Dringlichkeitssitzung des UN-Sicherheitsrates in New York am Montagabend, der Entsendungsbefehl russischer Truppen sei der erste Schritt zum vollständigen Einmarsch. „Darüber hinaus ist dieser Schritt von Präsident Putin eindeutig die Grundlage für den Versuch Russlands, einen Vorwand für eine weitere Invasion der Ukraine zu schaffen.“ Die Vereinten Nationen kritisierten, der russische Entsendungsbefehl sei ein Verstoß gegen die UN-Charta. „Wir bedauern auch den Befehl, russische Truppen in der Ostukraine zu stationieren, Berichten zufolge im Rahmen einer Friedensmission“, sagte die UN-Beauftragte für politische Angelegenheiten, Rosemary DiCarlo, bei der Dringlichkeitssitzung. „Die nächsten Stunden und Tage werden entscheidend sein. Das Risiko eines größeren Konflikts ist real und muss um jeden Preis verhindert werden.“ Russland schloss „Freundschaftsverträge“ mit den selbst ernannten Volksrepubliken Donezk und Luhansk, die in der Nacht zum Dienstag auf der Internetseite der Staatsduma veröffentlicht wurden. Danach darf Russland eigene Militärstützpunkte in der Ostukraine errichten und betreiben. Darin ist zudem die Rede von einem gemeinsamen Grenzschutz. Die Vereinbarung solle zunächst über zehn Jahre Bestand haben, mit der Möglichkeit einer automatischen Verlängerung. Die EU reagiert mit Sanktionen auf die Entscheidungen Russlands, wie EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und Ratspräsident Charles Michel erklärten. Die Strafmaßnahmen sollen diejenigen treffen, die daran beteiligt sind. Der offizielle Beschluss über die Sanktionen soll bereits an diesem Dienstag auf den Weg gebracht werden. Wie die derzeitige französische EU-Ratspräsidentschaft ankündigte, wird es dazu am Vormittag um 9.30 Uhr ein Treffen der ständigen Vertreter der EU-Staaten in Brüssel geben. Auch die US-Regierung will an diesem Dienstag neue Maßnahmen gegen Russland ankündigen. US-Präsident Joe Biden unterzeichnete eine Exekutivanordnung mit Sanktionen. Diese sollen neue Investitionen, Handel und Finanzierung durch US-Personen in Donezk und Luhansk verbieten. Biden bekräftigte, dass die USA im Gleichschritt mit ihren Verbündeten und Partnern „rasch und entschlossen“ auf eine weitere russische Aggression reagieren würden. Der britische Premierminister Boris Johnson prangerte den Schritt Putins ebenfalls als „offenen Bruch internationalen Rechts“ an und sprach von einer „schamlosen Verletzung der Souveränität und Integrität der Ukraine“. Putin forderte mit Blick auf die verschärften Kämpfe im Donbass die ukrainische Führung auf, sofort das Feuer einzustellen. Andernfalls werde Kiew die volle Verantwortung dafür tragen, sagte er. Der Kremlchef warf zudem der Nato vor, mit einer „unverschämten Aneignung“ der Ukraine begonnen zu haben. Der Westen wolle die Ukraine als „Theater möglicher Kampfhandlungen“ erschließen. Die prorussischen Separatistenführer in den beiden Regionen hatten Putin zuvor um Beistand im Kampf gegen die ukrainischen Regierungstruppen gebeten. Nach UN-Schätzungen gibt es in dem seit acht Jahren währenden Konflikt bisher mehr als 14.000 Tote. Putin sprach in der Fernsehansprache trotz fehlender Beweise von einem Massenverbrechen am russischstämmigen Volk in der Ostukraine. „Die sogenannte zivilisierte Welt zieht es vor, den von Kiew begangenen Genozid im Donbass zu ignorieren“, sagte Putin. Vier Millionen Menschen seien betroffen. Die USA hatten Russland zuletzt beschuldigt, möglicherweise den Vorwurf des Völkermordes als Vorwand für eine Invasion nutzen zu wollen. Putin warf der Nato überdies eine jahrelange Täuschung vor. Russland sei zu Sowjetzeiten bei der Wiedervereinigung Deutschlands versprochen worden, dass die Nato sich kein bisschen nach Osten ausdehne. „Sie haben uns betrogen“, sagte Putin und warf dem westlichen Bündnis vor, bereits fünf Wellen der Ausdehnung nach Osten durchgezogen zu haben – und Russland wie einen Feind zu behandeln. „Warum das alles? Wozu?“, fragte Putin. Er hatte zuletzt mehrfach vor einer Aufnahme der Ukraine in die Nato gewarnt. Bundeskanzler Olaf Scholz, Biden und der französische Präsident Emmanuel Macron telefonierten am Abend und waren sich einig, dass dieser Schritt Russlands nicht unbeantwortet bleiben werde. „Die Partner waren sich einig, nicht nachzulassen in ihrem Einsatz für die territoriale Integrität und Souveränität der Ukraine.“ Kanadas Regierungschef Justin Trudeau twitterte: „Kanada steht fest an der Seite der Ukraine – und wir werden Wirtschaftssanktionen für diese Handlungen verhängen.“ Außenministerin Annalena Baerbock verurteilte die Anerkennung der Separatisten-Regionen durch Russland als „eklatanten Bruch des Völkerrechts“. Litauens Staatspräsident Gitanas Nauseda erklärte: „Was wir heute Abend erlebt haben, mag für die demokratische Welt surreal erscheinen. Aber die Art und Weise, wie wir darauf reagieren, wird uns für die nachfolgenden Generationen definieren.“ Die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) verurteilte die Anerkennung der „Volksrepubliken“ scharf. Derweil verlegte die US-Regierung ihr diplomatisches Personal in der Ukraine aus Sicherheitsgründen vorerst nach Polen. Die Mitarbeiter des Außenministeriums, die sich derzeit in Lwiw aufhielten, würden die Nacht in Polen verbringen, teilte das US-Außenministerium mit. Die Mitarbeiter sollen aber regelmäßig zurückkehren, um ihre diplomatische Arbeit in der Ukraine fortzusetzen. Der Separatistenführer in Donezk, Denis Puschilin, nannte die Anerkennung durch Russland einen „historischen Moment“. Sie wurde in der Stadt mit einem angeblich spontanen Feuerwerk gefeiert. Quelle: dpa
|
Cicero-Redaktion
|
Seit 2014 kämpfen im Osten der Ukraine Regierungstruppen gegen von Moskau unterstützte Separatisten. Nun hat Russland die „Volksrepubliken“ Donezk und Luhansk offiziell anerkannt und die Entsendung von Truppen dorthin angeordnet. Der Westen protestiert und verhängt Sanktionen. Lässt sich Kremlchef Putin davon beeindrucken?
|
[
"Russland",
"Ukraine",
"Nato",
"Krieg"
] |
außenpolitik
|
2022-02-22T08:14:07+0100
|
2022-02-22T08:14:07+0100
|
https://www.cicero.de/aussenpolitik/ukraine-konflikt-russland-befiehlt-entsendung-von-truppen-in-die-ostukraine
|
Wählen und wählen lassen – Die Kolumne zur Bundestagswahl - Warum die FDP keine Ratschläge von Markus Söder braucht
|
Mit 87,6 Prozent ist Markus Söder an diesem Freitag für weitere zwei Jahre als Parteivorsitzender der CSU bestätigt worden. Nun könnte man einwenden, dass das entsprechende Ergebnis vor knapp zwei Jahren noch bei 91,3 Prozent lag – und Söder mithin trotz seiner Omnipräsenz leichte Einbußen zu verzeichnen hatte. Umgekehrt gilt aber auch: Der gescheiterte Versuch, die Kanzlerkandidatur zu erringen, hat dem bayerischen Ministerpräsidenten nicht wirklich geschadet, auch nicht die permanenten Sticheleien gegenüber der Schwesterpartei. Auf die Delegierten der CSU ist jedenfalls weitgehend Verlass. Bahn frei also für Markus Söder, der zwei Wochen vor der Bundestagswahl (und mit düsteren Aussichten für die Union) wohl oder übel so tun muss, als hielte er Armin Laschet tatsächlich für den richtigen Mann fürs Kanzleramt. Laschet selbst ging auf dem Parteitag an diesem Samstag kaum auf die Obstruktionen seines Rivalen ein und beschwor vielmehr mit einer kämpferischen Rede die Gemeinsamkeiten von CDU und CSU sowie deren „klaren Kurs“ insbesondere an historischen Wegmarken. Tatsächlich wirkte der nordrhein-westfälische Ministerpräsident bei seinem Gastauftritt vor der Schwesterpartei regelrecht befreit; deren Delegierte quittierten es hinterher mit stehendem Applaus. Man scheint Burgfrieden geschlossen zu haben, zumindest zeitweilig. Was aber alles noch längst nicht bedeutet, dass Söder der dritten Partei im sogenannten bürgerlichen Lager nicht ein paar gute Ratschläge mit auf den Weg geben könnte: Von der FDP forderte er am Freitag eine klare Absage an eine Ampel mit SPD und Grünen. „Ich würde jetzt gerne von Christian Lindner und der FDP wirklich wissen, (...) wollen sie die Ampel oder nicht“, so der CSU-Chef. Die FDP müsse erklären, „dass sie dieses unmoralische Angebot der Linken ablehnen“. Da beginnt im Hans-Dietrich-Genscher-Haus zu Berlin jetzt ganz gewiss das große Zittern, wenn der bayerische Löwe derlei mahnende Worte spricht. Man könnte aber auch mit Fug und Recht fragen: Warum sollte die FDP eigentlich etwas tun, wozu CDU und CSU aufgrund ihrer misslichen Lage schlicht nicht willens und in der Lage sind – nämlich eine Koalition mit SPD und Grünen ausschließen? Dem Vernehmen nach könnten sich mit einer solchen Liaison der eine oder andere Unionist sogar eher anfreunden als mit Schwarz-Gelb. Quod licet Iovi, non licet bovi? Einmal davon abgesehen, dass die Liberalen keine Tipps von der politischen Konkurrenz benötigen – wenn sie jetzt eine Ampel ausschlössen, stünde das in exaktem Widerspruch zu allem, womit sie in den vergangenen Jahren politisches Kapital gesammelt haben. Nämlich der Fokussierung auf Inhalte anstatt auf irgendwelche Farben. Inhaltliche Gründe waren es, an denen die FDP ihre Jamaika-Sondierungsgespräche mit CDU/CSU und den Grünen im November 2017 hat scheitern lassen. Wie plausibel ist es da wohl, dass nach der nächsten Bundestagswahl ausgerechnet ein Bündnis der Liberalen mit den Grünen und der SPD auf den Weg gebracht werden kann? Die Schnittmenge dürfte aus Sicht der FDP denkbar gering sein. Aber um womöglich (beziehungsweise mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit) genau das festzustellen, müssen zuvor eben Gespräche geführt werden. Das ist schlicht ein Gebot der Ernsthaftigkeit und der politischen Kultur. Bereits vor einer Wahl alles Mögliche auszuschließen, ist gewiss kein Zeichen von Souveränität. Mitunter wirken solcherlei selbst auferlegten Kontaktverbote sogar dann reichlich gequält, wenn sie von der Union mit Blick auf die AfD erfolgen. Ganz abgesehen davon ist es natürlich geradezu lachhaft, wenn der Vorsitzende einer Unionspartei, in diesem Fall also Markus Söder, es für angemessen hält, ausgerechnet die Liberalen zu schulmeistern. Denn nicht nur im Gegensatz zu CDU und CSU, sondern auch zu allen anderen relevanten Parteien ist die FDP mit sich völlig im Reinen: Die Union zerstritten und nach den langen Merkel-Jahren inhaltlich ausgehöhlt; die SPD zwar im Aufwind – aber nur, weil sie ihre eigenen Parteivorsitzenden hinter dem Kanzlerkandidaten Olaf Scholz versteckt. Die Grünen wiederum haben mit Annalena Baerbock komplett auf die falsche Karte gesetzt. Und die Linke nähert sich aus nachvollziehbaren Gründen (versuchter Ausschluss von Sahra Wagenknecht und ähnliche Sperenzchen) langsam, aber sicher der Fünf-Prozent-Marke. Es darf hingegen konstatiert werden, dass Christian Lindner aus den Freien Demokraten eine politische Kraft geformt hat, die sich weder vorwerfen lassen muss, „Partei der Besserverdienenden“ zu sein, noch ein liberales Anhängsel der Union. Da wird er ausgerechnet jetzt einen Teufel tun, über irgendwelche Stöckchen zu springen, die Markus Söder ihm hinhält. Und das ist auch gut so. Lindner hat in den vergangenen Jahren hart daran gearbeitet, der FDP jene Souveränität und Eigenständigkeit zurückzugeben, die sie in den Augen vieler Wähler verloren hatte. Und der Abbruch der Jamaika-Sondierungen vor knapp drei Jahren war dafür ein starkes Signal. Die FDP-Wähler wissen ganz genau, dass die Wahrscheinlichkeit von Rot-Grün-Gelb aus Sicht der freidemokratischen Führung gegen null tendiert. Dafür brauchen sie keine vorauseilende „Ausschließeritis“. Und vor allem keine Belehrungen aus der Münchener Staatskanzlei. In unserem exklusiven Kolumnenticker „Wählen und wählen lassen“ widmen sich Alexander Marguier, Ralf Hanselle, Daniel Gräber und Moritz Gathmann den spannendsten Fragen zur Bundestagswahl 2021: Regierungskonstellationen, Schattenkabinette, Wahlkampftaktiken, Post-Merkel-Gehversuche, aber auch Pannen und Umfragezwischenhochs sowie ein Hauch Medienkritik, mit einem Augenzwinkern. Zur Bundestagswahl werden wir außerdem live berichten. Passgenau erscheint am 23.09. die neue Cicero-Ausgabe.
|
Alexander Marguier
|
Markus Söder verlangt von der FDP eine klare Absage an eine Ampel-Koalition mit SPD und Grünen. Aber warum eigentlich sollte die FDP etwas tun, wozu CDU und CSU selbst aufgrund ihrer misslichen Lage schlicht nicht willens und in der Lage sind?
|
[
"Bundestagswahl",
"Markus Söder",
"Christian Lindner",
"FDP",
"Wählen und wählen lassen"
] |
innenpolitik
|
2021-09-11T10:41:32+0200
|
2021-09-11T10:41:32+0200
|
https://www.cicero.de/innenpolitik/bundestagswahl-kolumne-alexander-marguier-fdp-ratschlaege-markus-soeder
|
Design in der DDR - Meine Jahre mit Erika
|
Wie sich das wohl anfühlt, wenn der eigene Name mit Alltagsikonen wie der Simson, dem Wartburg oder der legendären Schreibmaschine Erika verknüpft ist? Diese Frage geht mir nicht mehr aus dem Kopf, als ich mich auf den Weg nach Chemnitz mache, um den Gestalter Karl Clauss Dietel in seinem Atelier zu besuchen. Sein Gesamtwerk, für das er als erster DDR-Gestalter mit dem Bundesdesignpreis ausgezeichnet wurde, wirkte weit über die Grenzen der einstigen DDR hinaus ikonisch. Ich selbst etwa wurde als Kind auf die Sitzfläche zwischen Vater und Mutter geklemmt, ohne Helm natürlich – es waren andere Zeiten –, und auf der Simson S50 zum Kindergarten gebracht. Ohne Dietel wäre ich vielleicht sicherer, aber bestimmt nicht abenteuerlicher befördert worden. An einem kleinen Weg an der Stadtgrenze liegen Haus und Atelier des Formgestalters. Formgestalter – eigentlich ist der Begriff ein Pleonasmus, beinhaltet Gestalt doch stets auch Form. Und vice versa. Dietel begrüßt seinen Besuch höflich und beginnt sogleich mit der Zubereitung eines Tees. Genug Zeit, um sich im Atelier umzuschauen, wo man auf Ikonen der Formgestaltung blicken kann: hier ein Thonet-Stuhl, dort Marianne Brandts legendäre Bauhaus-Teekanne. Mit Brandt übrigens verband Dietel eine enge Freundschaft. Er entwarf später sogar die Gedenkstele für das Grab einer der wichtigsten Töchter von Chemnitz. Dietel bittet mich, an einem langen Tisch Platz zu nehmen. Er serviert köstlichen Tee und stellt mir ein großes Keksglas direkt vor die Nase – Süßkram in verschiedensten Formen und Farben. Während unseres Gesprächs wird er mich mehrmals zum Zugreifen „nötigen“. Aber man kann sich natürlich schlimmeren Verlockungen fügen. Man merkt Dietel an, dass er sich nicht zum ersten Mal in der Position des Befragten befindet. Der Tisch in seinem Atelier ist für das Gespräch bestens vorbereitet. Stapel mit Dokumenten liegen links und rechts verteilt. Auf ihnen ruhen Steine in Faustkeilgröße, wie natürliche Werkzeuge, von den Gezeiten auf Menschenhandmaß gebracht. Später, während Dietel sich kurze Notizen macht, werden die abgerundeten Steine auf der Tischplatte in Schwingung geraten und seinen Worten einen Hintergrundsound beimischen. Unter der niedrig hängenden Edelstahllampe hindurch schaue ich zu ihm. Ein wenig erinnert die Situation an ein Verhör, nur komme ich mir wie die Verdächtige vor; etwas Skepsis merkt man ihm an. Vielleicht liegt es daran, dass mir bereits in unserem ersten Telefonat ein Fauxpas unterlief, als ich Dietel als „Designer“ bezeichnete. Dabei lehnt er wohl keinen Begriff stärker ab. Er versteht sich als Gestalter, in einer langen, sehr deutsch geprägten Tradition, die vom Werkbund bis zum Bauhaus reicht. Das Design-Konzept ist ihm zu beschränkt, obendrein impliziert es „Styling“, einen Fokus auf die Erscheinung. Viel Glanz, wenig dahinter. Er mag das nicht. Zur Erklärung deutet er auf die kleine Dose, aus der er eben noch Zucker in seinen Tee gelöffelt hat. Die Grundform des Kruges oder der Vase existiert seit Jahrtausenden. Aber diese hier besitzt einen kleinen Rand, eine Kehle, die nichts mit der Funktionalität des Gegenstandes zu tun hat, wohl aber mit seiner Gestalt. Seine Finger, die leicht zittern, folgen der sanften Einbuchtung. Wenn er von der „Poesie des Funktionalen“ spricht, dann meint er genau diese Einbuchtung. Dietel spricht mit großem Ernst. Nicht nur inhaltlich, auch was die Sprache anbelangt. Er formt Sätze, die er noch während des Sprechens korrigiert. Beinahe lyrisch mutet das an. Seine Blicke fahren über das Bücherregal zu seiner Rechten, in dem an prominenter Stelle Peter Handke von einem Bild sinnierend in den Raum hineinschaut. Kein Zufall, sagt Dietel. Kaum ein deutschsprachiger Autor gehe schließlich so präzise mit der Sprache um. Vielleicht also gibt es da Parallelen. Das Eis ist gebrochen. Er erzählt und erzählt. Dietel wird in Reinholdshain geboren; er ist, wie er betont, ein „in der Wolle gefärbter Sachse“. Weil sein Vater vor dem Zweiten Weltkrieg einen Wagenverleih betrieb, wird er als Unternehmer eingestuft. Der Sohn darf in der Folge das Gymnasium nicht besuchen. Der Traum vom Architekturstudium platzt. Dietel beginnt in der noch jungen DDR mit einer Ausbildung zum Maschinenschlosser und studiert im Anschluss an der Ingenieurschule für Kraftfahrzeugbau Zwickau. Kurz darauf tritt er sein Studium an der Kunsthochschule Berlin-Weißensee an. Von vornherein ist er Teil beider Welten: Ingenieur und Gestalter. Danach führt ihn seine erste Anstellung nach Chemnitz, ins Herz der sächsischen Industriekultur. Die Stadt wird ihm zum Schicksal. Rasch zieht es ihn in die Selbstständigkeit, die Angestelltentätigkeit ist ihm nichts. Bereits in seiner Diplomarbeit setzt er sich mit der Fahrzeugfertigung der DDR auseinander – und stellt ihr ein vernichtendes Urteil aus. Von Gestaltung könne keine Rede sein, meint er. Viel Chuzpe für einen jungen Mann. Er will es anders machen, besser. Dietel ist ein Denker-Ingenieur. Seine gestaltete Form ist produktgewordene Philosophie. Für Dietels Werk als Gestalter ist seither eine Sache besonders wichtig: das offene Prinzip, wie man es später wohl idealtypisch an seinem Entwurf der Simson S50, dem legendären Mokick, verwirklicht sieht. Das Prinzip ist so simpel wie genial und würde heute wohl unter dem Label „nachhaltig gedacht“ vermarktet. Die Form soll so gestaltet sein, dass die vom Verschleiß betroffenen oder dem technischen Fortschritt unterworfenen Teile vom Nutzer selbst ausgetauscht werden können. „Eine echte Emanzipation des Nutzers“, nennt Dietel das. Denn dieser Nutzer ist eben nicht nur Konsument, sondern gestaltet den Gegenstand quasi mit, passt ihn seinen Bedürfnissen im Wandel der Zeit an. Prompt muss ich an die Gegenstände meines Arbeitsalltages denken – das Smartphone in meiner Hand zum Beispiel, dessen technisches Skelett unter einer weich designten Hülle verschwindet. Dessen technische „Natur“ ist somit gar nicht greifbar, im Gegensatz zur Simson, deren Skelett Herz und Lunge – Motor und Vergaser – offenlegt. Zum offenen Prinzip gesellen sich noch die fünf großen L: Langlebig, Leicht, Lütt, Lebensfreundlich, Leise. Die drei ersten L garantieren minimalen Ressourceneinsatz. Lebensfreundlichkeit indes fällt nicht nur unter den Begriff der Nachhaltigkeit, sondern stellt auch den Nutzer als Menschen in den Vordergrund, ebenso wie das Attribut „leise“. Gewappnet mit dieser Philosophie schickt Dietel sich in den folgenden Jahren an, sich dem Herzstück der deutschen Nachkriegslebenswirklichkeit zu widmen: dem Automobil. Zwei Fahrzeuge markieren bald Höhe- und Tiefpunkt seiner Karriere. Der Trabi, für den Dietel zusammen mit Lutz Rudolph an insgesamt sieben Nachfolgemodellen arbeiten wird. Und der Wartburg, dessen Grundentwurf auf einer Studie Dietels aus dem Jahr 1962 basiert. „Es gibt auch Dummköpfe, die mir meinen Wartburgentwurf streitig machen wollen“, bemerkt er eher enerviert als wütend. Er entrollt ein Poster und erklärt den Entwurf. Dabei folgen seine Finger den abgerundeten Formen, erläutern mir deren Semantik. Ziel war es, so sagt er, „dieses Produkt auf menschliches Maß zu bringen“. Breite und Höhe von Tischen und Stühlen ergeben sich aus den Maßen des menschlichen Körpers, erläutert er. Dietel beugt sich nun über den Tisch und breitet seine Arme aus. Mein Blick fällt auf die Wand rechts von mir, wo Leonardo da Vincis vitruvianischer Mensch als Zeitungsausschnitt hängt. Leonardo erscheint hier wie ein Hausgott, nein, der prototypische Gestalter, nicht der Erfinder, zu dem er oft stilisiert wird. Überhaupt gerät Dietel nun in Bewegung, verweilt kaum noch am Tisch. Überall in seinem Atelier hängen Bilder, Zeitungsausschnitte, Plakate, die illustrieren sollen, was er meint. Er geht zur gegenüberliegenden Wandseite, dort hängt ein ganzer Bilderstreifen. Er zeigt ihn als kleinen Hosenmatz am Lenkrad des väterlichen Wagens. Geradezu zwangsläufig erscheint da seine spätere Beziehung zum Automobil. Dietel hat einen weiteren Zeitungsausschnitt parat. Dieser zeigt einen Entwurf für ein Elektroauto der Marke Honda. Die Schnauze erinnert an ein freundliches, vereinfachtes Gesicht. Er legt seinen Wartburgentwurf daneben. Die Formsemantik ist dieselbe, „’Ne anständige Sache“, nennt Dietel es. Das vermutlich schon größte Kompliment, das er vergibt. Er freut sich über die „geistige Kongruenz“. „Da fühlt man sich nicht einsam.“ Und dann sei sagt er einen dieser druckreifen Dietel-Sätze: „Das verankert eigenes Tun hinein in die Ströme der Zeiten.“ Doch genug der schönen Sprache. Jetzt schwenkt er hinüber zum zeitgenössischen Automobil. So mancher moderne SUV, ein wahres Schlachtschiff auf den Straßen, in denen Menschen wie Monaden im ewigen Stau der Innenstädte und Autobahnen stehen, vielleicht Ausdruck des Wunsches, der klaustrophobischen Nähe zu entgehen, meint er. Ob das Auto Zukunft hat? Das mechanische Zeitalter, das mit der Renaissance begann, es wird in absehbarer Zeit zu Ende gehen, glaubt er. Und mit ihm zusammen wohl auch das Auto. Dietels Lebenswerk begleitete die Hochphase des Automobils, dessen Goldenes Zeitalter und dessen Ende. Nun könnte man meinen, dass er im falschen Teil Deutschlands gelebt hat, wo die politischen Vorgaben seine Schöpferkraft hemmten. Zwar notierte er am Tag der Maueröffnung in sein Tagebuch „Endlich endet die Entmündigung“, aber die Gängelei hat ihn wohl auch angespornt. Das damals einzigartige Studium des Karosseriebaus, die Arbeit im Zentrum des DDR-Autobaus sowie die Notwendigkeit der Materialreduktion aufgrund der ökonomischen Zwänge – all das prägte sein Schaffen auf positive Weise. Was also bleibt, nach Jahrzehnten schöpferischer Arbeit? Produkte, die für den Nutzer als Menschen geschaffen sind und die das Menschliche zum Maß der Dinge erheben. Dies ist ein Artikel aus dem Sonderheft „Mensch & Maschine“ von Cicero und Monopol
|
Marlen Hobrack
|
Karl Clauss Dietel hat Design-Geschichte geschrieben. Ein Hausbesuch bei dem Mann, der Lautsprecherboxen, Schreibmaschinen und sogar Kleinwagen eine je ganz besondere Form gegeben hat
|
[
"DDR",
"Sachsen",
"Ostdeutschland",
"Design",
"Industriekultur"
] |
kultur
|
2020-07-06T14:30:29+0200
|
2020-07-06T14:30:29+0200
|
https://www.cicero.de//kultur/design-in-der-ddr-erika-industrie-kultur-sachsen-ostdeutschland
|
Weiterer Putsch in Afrika - Gabun: Militär erklärt Machtübernahme
|
Wenige Tage nach der Wahl in Gabun hat das Militär nach eigenen Angaben die Macht an sich gerissen. Die Abstimmung, die Präsident Ali Bongo Ondimba im Amt bestätigt hatte, sei gefälscht, sagte eine Gruppe von Offizieren am Mittwochmorgen im Fernsehen des zentralafrikanischen Landes an der Atlantikküste. Die Wahlergebnisse wurden annulliert und die Grenzen geschlossen. Und staatliche Institutionen seien ab sofort aufgelöst, hieß es weiter von der Gruppe, die sich Ausschuss für Übergang und Wiederherstellung von Institutionen (CTRI) nennt. Man habe beschlossen, dem „derzeitigen Regime ein Ende zu setzen“, sagte einer der Offiziere. Der mehr als 50 Jahren autokratisch regierenden Bongo-Familie wird seit langem Korruption vorgeworfen. Sie gilt Berichten zufolge als eine der reichsten Familien der Welt, besitzt eine private Flugzeugflotte, etliche Luxusautos und soll gemäß der Nichtregierungsorganisation Transparency International Dutzende Residenzen in Frankreich im Wert von vielen Millionen Euro besitzen. Wenige Stunden vor der Erklärung der Militärs hatte die Wahlbehörde den 64-jährigen Bongo zum Sieger der Wahl erklärt – mit 64,27 Prozent der Stimmen. Sein größter Herausforderer, Albert Ondo Ossa, erhielt demnach 30,77 Prozent. Nun hätte die dritte Amtszeit Bongos begonnen. Er hatte das Präsidentenamt 2009 von seinem Vater Omar Bongo übernommen, der von 1967 bis zu seinem Tod regiert hatte. Eine erste Wiederwahl 2016 hatte Bongo nur mit einem Vorsprung von gut 5000 Stimmen gewonnen. Ihm wurde auch damals Manipulation vorgeworfen. In der Folge kam es zu schweren Ausschreitungen. Die Bevölkerung des Opec-Mitgliedsstaats Gabun, etwa 2,3 Millionen Menschen, lebt trotz Öl-Reichtums größtenteils in Armut. Das Land liegt direkt am Äquator, grenzt im Norden an Kamerun und hat etwa drei Viertel der Größe Deutschlands. Um den Reichtum Bongos gab es immer wieder Skandale. Nach Angaben von Transparency International gehört Gabun zu den korruptesten Ländern der Welt. 2008 verklagte die Gruppe Bongo aufgrund von Veruntreuung staatlicher Öleinnahmen durch Privatkonten in Frankreich. Die Ermittlungen endeten jedoch ohne Ergebnis. Das könnte Sie auch interessieren: Nach der Verkündung des Putsches waren am Mittwochmorgen in der Hauptstadt Libreville Schüsse zu hören, berichtete der französische Sender RFI. In der westlichen Stadt Port Gentile strömten Augenzeugenberichten zufolge Tausende Einwohner auf die Straßen, um das Ende des Bongo-Regimes zu feiern. Die Abstimmung vom 26. August hatte in der ehemaligen französischen Kolonie für Kritik gesorgt. Während der Auszählung hatte die Regierung am Wochenende den Internetzugang gesperrt, eine Ausgangssperre von 19.00 bis 6.00 Uhr verhängt und mehreren französischen Rundfunksendern die Ausstrahlung verboten. Die Wahl war zudem durch das Fehlen internationaler Beobachter geprägt. Anfragen ausländischer Journalisten auf Akkreditierung wurden systematisch abgelehnt. Der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell äußerte sich am Rande eines EU-Verteidigungsministertreffens im spanischen Toledo besorgt über die Berichte aus Gabun. Wenn sich die Informationen bestätigen sollten, handele es sich um einen weiteren Militärputsch, der die Instabilität in der Region noch einmal erhöhen werde, sagte er. Erst vor knapp einem Monat hatte die Präsidentengarde im Niger den demokratisch gewählten Präsidenten Mohamed Bazoum abgesetzt. Zuvor hatte in der Sahelzone auch in Mali und Burkina Faso das Militär die Macht übernommen. In Gabun war 2019 ein Militärputsch gescheitert. Mehrere bewaffnete Soldaten hatten damals den staatlichen Radiosender besetzt und die Einwohner zum Aufstand aufgerufen. Sicherheitskräfte nahmen den Chef der Putschisten aber binnen kurzer Zeit fest und beendeten den Versuch einer Machtübernahme. Quelle: dpa
|
Cicero-Redaktion
|
Das Militär hat in einem weiteren Land in Afrika geputscht. Nach Mali, Burkina Faso und dem Niger hat nun auch weiter südlich in Gabun die Armee die Macht übernommen. Die Bevölkerung feiert: Die alte Regierung galt als korrupt.
|
[
"Afrika",
"Militärputsch",
"Niger"
] |
außenpolitik
|
2023-08-30T12:18:27+0200
|
2023-08-30T12:18:27+0200
|
https://www.cicero.de//aussenpolitik/putsch-afrika-gabun-militarputsch
|
Neustart nach dem Corona-Shutdown - Wie wir die Insolvenz des Staates verhindern
|
Seit fast fünf Wochen nun stehen große Teile des öffentlichen Lebens in Deutschland in Folge der dringend notwendigen und unvermeidbaren Maßnahmen zur Bekämpfung der COVID-19-Pandemie weitgehend still. Klar ist heute schon: Die Shutdown-Strategie wird tiefgreifende strukturelle wirtschaftliche Folgen haben, die in ihrer Tragweite noch nicht absehbar sind. Trotz aller staatlichen Hilfsmaßnahmen sind weitere Insolvenzen und damit der Verlust von Arbeitsplätzen zu befürchten. Eine deutliche Rezession wird die vor der Krise erlebte zehnjährige Hochkonjunkturphase in noch hellerem Licht und die Verluste dagegen noch düsterer erscheinen lassen. Es geht hier um Existenzen, Auskommen und Wohlstand. Jeder Arbeitsplatz, der verloren geht, steht für das Auskommen einer Arbeitnehmerin, eines Arbeitnehmers – für Familien mit Kindern. Es muss deshalb jetzt über die nach der Beendigung des COVID-19 bedingten Ausnahmezustands notwendigen Weichenstellungen nachgedacht werden - und diese müssen vorbereitet werden. Dabei ist klar: Nach dem Ausnahmezustand ist nicht vor dem Ausnahmezustand. Wir haben die Verhältnisse nicht einfach eingefroren, so als brauchten wir sie jetzt nur wieder aufzutauen. COVID-19 hat die Welt grundlegend verändert. Deshalb können wir nicht einfach da weitermachen, wo wir vor der Krise aufgehört haben. Wir brauchen einen Neustart für unser Staats-, Gesellschafts- und Wirtschaftsleben. Bestandsaufnahme nach der Krise Voraussetzung für jede Überlegung zur Ankurbelung der Wirtschaft ist, dass die administrativen Bremsen für die Angebots- wie die Nachfrageseite, also die Maßnahmen nach dem Infektionsschutzgesetz, beseitigt sind, das normale Leben also wieder begonnen hat. Wir müssen für diesen Zeitpunkt beachtliche Einkommens- und Kapitalverluste eines hohen Anteils der wirtschaftlichen Akteure voraussetzen, die durch die jetzt beschlossenen Notmaßnahmen nur abgemildert werden konnten. Deshalb muss kurzfristig eine wirtschaftliche Krisenbilanz vorgelegt werden, die folgende Punkte enthält: Zahl der Arbeitsplatzverluste, Zahl Unternehmensinsolvenzen und Unternehmensaufgaben, Erreichtes und für das Folgejahr zu erwartendes positives oder negatives Wirtschaftswachstum, Feststellung der vorrangig betroffenen Branchen, Lage der Haushalte, Höhe der Neuverschuldung, Inanspruchnahme der Kreditermächtigungen, Vorbelastung durch erhöhte Zinsleistungen, Entwicklung der Steuereinnahmen Beim Ausklingen der COVID-19-Krise stehen wir vor einer doppelten Aufgabe: Die Wirtschaft muss wieder in den Aufschwung kommen, die Einbrüche bei Angebot und Nachfrage gleichzeitig müssen wieder ausgeglichen werden. Und es gilt, die gewaltige Neuverschuldung des Staates wieder zurückzuführen, Schulden zu tilgen. Beides zugleich erscheint auf den ersten Blick wie die Quadratur des Kreises. Ein Ausweg aus diesem Dilemma erfordert eine klare und konsequente Richtungsentscheidung. Die Entscheidung muss lauten, zuerst alles zu tun, um die Wirtschaft wieder zu beleben, um dann mit der wieder wachsenden Steuerkraft die Staatsfinanzen zu sanieren. Das kann nicht gelingen, wenn die ohnehin finanziell geschwächten Firmen und Privathaushalte auch noch mit Steuererhöhungen belastet werden. Wie gut und wie schnell diese doppelte Aufgabe gelöst wird, hängt davon ab, wie lange der Shutdownaufrechterhalten wird. In seinem Sondergutachten beschreibt der Sachverständigenrat dazu drei alternative Szenarien. Die beiden ersten Szenarien sind zwei Varianten eines Wiederaufschwungs der Wirtschaft im Sommer 2020 oder im Herbst/Winter 2020/2021 („Basisszenario“ und „ausgeprägtes V“). Beide setzen voraus, dass der Shut Down vor dem Sommer beendet wird. Das dritte Szenario („Risikoszenario langes U“) beschreibt eine sehr viel kritischere Lage, wenn der Shut Down über den Sommer in Herbst und Winter anhält. Für diesen Fall gehen die Befürchtungen der Sachverständigen bis hin zu „negativen Rückkoppelungen über die Finanzmärkte oder das Bankensystem.“ Das ist seine sehr zurückhaltende Beschreibung für eine neue Finanzkrise, die direkt an die COVID-19-Krise anschließt. Die zwar zwischen den Zeilen ausgesprochene aber dennoch glasklare Botschaft ist: Im Sommer dieses Jahres muss das Leben im Land wieder normalisiert sein, wenn wir die ökonomische Lage im Griff behalten wollen. Um das zu erreichen, sollten Bund und Länder keine Kosten scheuen, um valide Kenntnisse über Covid-19 zu erhalten und die Kapazitäten des Gesundheitswesens hochzufahren. Alles andere würde weit teurer werden. Investitionen verstetigen und Investitionsstau auflösen. Die Erfahrungen mit den Konjunkturprogrammen nach der Finanzkrise 2008 haben gezeigt, dass die staatlichen Investitionsprogramme zu langsam anlaufen und viel Geld erst dann wirklich abfließt, wenn die Krise schon überwunden ist. Deshalb sollten die staatlichen Investitionspläne so, wie sie jetzt beschlossen sind, kontinuierlich fortgesetzt werden. Wir müssen aber versuchen, den Stau beim Abfluss der Mittel durch administrative und rechtliche Hindernisse abzubauen. Zur Beschleunigung kommunaler Investitionen und zur Förderung der regionalen Wirtschaft sind (zeitlich begrenzt) vereinfachte, freihändige Vergaben und beschränkte Ausschreibungen verstärkt zuzulassen. Um der Wirtschaft die notwendige Luft zum Atmen zu verschaffen, sollte darüber hinaus ein zeitlich befristetes grundsätzliches Moratorium für zusätzliche Belastungen z.B. bei den Energiepreisen, bei direkten Kosten oder zusätzlichem Verwaltungsauf-wand beschlossen werden. Vor der Krise wurde in vielen Bereichen ein Investitionsstau diagnostiziert - Rheinland-Pfalz ist dabei ein Musterbeispiel. Der notwendige Neustart nach der Krise kann deshalb ideal als Chance genutzt werden, unsere öffentliche Infrastruktur über Konjunkturprogramme zu modernisieren und damit einen wichtigen Impuls für die Ankurbelung der Wirtschaft zu geben. Das gilt z.B. für den Brücken- und Straßenbau, die Digitalisierung, das Gesundheitswesen (kleine Krankenhäuser), Schul- und andere öffentliche Gebäude. Hierzu zählt z.B. auch ihre energetische Ertüchtigung. Die Möglichkeit der Beschleunigung durch vereinfachte Genehmigungs- und Bewilligungs-verfahren muss dabei genutzt werden. Bestandteil eines Konjunkturprogramms zur Ankurbelung der Wirtschaft könnte ein umfangreiches Wohnungsbauprogramm sein. Hierunter fällt der Neubau wie auch die Renovierung von Wohnungen mit Sozialbindung (sozialer Wohnungsbau). Der Staat sollte auch wieder stärker in die Förderung des Eigenheimbaus und des selbst-genutzten Wohnraums sowie dessen Renovierung und Sanierung einsteigen Für den Neustart müssen Kräfte mobilisiert und freigesetzt werden. Die Forderung nach höheren Belastungen (Vermögensabgabe), wie sie jetzt schon wieder von der SPD ins Spiel gebracht werden, wirkt kontraproduktiv und ist zurückzuweisen. Mit Neidkomplexen kann der Neustart nicht gelingen! Unternehmen müssen entlastet, die Kaufkraft der Verbraucher gestärkt werden. Als unmittelbar erfolgreich haben sich die in den Konjunkturpaketen nach 2008 enthaltenen Steuererleichterungen mit Erhöhung des Grundfreibetrages der Einkommensteuer, der noch vorsichtigen Abflachung des progressiven Steuertarifs und höhere Freibeträge für die Familien erwiesen. Auch der Sachverständigenrat plädiert in seinem Sondergutachten dafür, Unternehmen und Haushalten mit Steuererleichterungen größere Nachfrage möglich zu machen (Langfassung S. 87, Punkt 173). Nach den finanziellen Einbußen müssen Unternehmen und private Haushalte liquide Mittel haben, um die Nachfrage anzuregen. Deshalb sollte Folgendes getan werden: - Eine Reform der Unternehmenssteuer, wie von der CDU/CSU-Bundestagsfraktion vorgeschlagen. - Eine dreistufige Reform der Einkommensteuer, wie vom letzten CDU-Bundes-parteitag beschlossen. Dabei ist zu überlegen, ob nicht schon im ersten Schritt der Einkommensteuertarif gestreckt wird und die anderen Schritte folgen. - Eine Reform der Abgeltungssteuer mit Erhöhung der Sparerfreibeträge auf 2.000 bzw. 4.000 Euro und der Verrechnung der realen Kapitalverluste infolge extremer Niedrigzinsen mit der Steuerschuld. Selbständige, Unternehmer und Beschäftigte dürften in der Krise auf private Geldreserven zurückgreifen. Diese private Vorsorge wirkt sich stabilisierend aus. Diese privaten Geldreserven müssen wieder aufgestockt werden. Das muss steuerlich erleichtert werden. - Eine vollständige Abschaffung des Solidarzuschlags. Alle diese steuerlichen Maßnahmen bedürfen der Zustimmung von Bund und Ländern. Die Bundesländer sind deshalb gefordert! Die Erfahrung hat gezeigt, dass Nettosteuer-entlastungen mit etwa einjähriger Verzögerung durch Wirtschaftsbelebung zu erhöhten Steuereinnahmen führen (z.B. Reform der 80er Jahre). Die Länder haben durch die gute Konjunktur der zurückliegenden Jahre und die damit verbundenen hohen Steuereinnahmen zum Teil beachtliche Haushaltsreserven anlegen können. In Rheinland-Pfalz sind das mindestens 700 Mio. Euro. Diese können jetzt eingesetzt werden. Die Rettung der Wirtschaft vor dem totalen COVID-19-Crash darf unter keinen Umständen zur Staatsinsolvenz mit all ihren schrecklichen Auswirkungen etwa für den Sozialstaat führen. Im Vergleich dazu wäre die Finanzkrise 2008/2009 nur ein laues Lüftchen gewesen. Zunächst ist festzustellen: Die Finanzverfassungen des Bundes und der Länder haben sich als krisenfest erwiesen. Die vorangegangene konsequente Politik der schwarzen Null - zumindest beim Bund - machte den Staat in der Krise stark und handlungsfähig. Nur weil in Zeiten der Hochkonjunktur keine Schulden gemacht wurden, konnte der Bund jetzt einen finanziellen Schutzschirm aufspannen, den es in dieser Dimension noch nicht gegeben hat. Hierfür geht der Staat in ungekanntem Ausmaß in die Verschuldung. Das steht durch-aus im Einklang mit der Schuldenregel des Grundgesetzes und der Verfassungen der Länder. So sehen das Grundgesetz und z.B. auch die rheinland-pfälzische Landesverfassung in „außergewöhnlichen Notsituationen, die sich der Kontrolle des Staates entziehen“ (Art. 109, Abs. 3 GG und Art. 117, Abs. 1 LV) die Aufnahme von Krediten ausdrücklich vor. Weder für den Schutzschirm während der Krise noch für schulden-finanzierte Maßnahmen zum Neustart nach der Krise müssen die Schuldenregel oder das Grundgesetz bzw. die Verfassungen außer Kraft gesetzt bzw. geändert werden. Die Neuverschuldung wird jedenfalls drastisch, gegegbenenfalls in ungeahnte Höhen steigen. Und es wird immer neue Gründe geben, immer noch mehr Geld auszugeben. Dabei darf aber eines auf keinen Fall vergessen werden: Auch der Staat kann insolvent gehen, auch ihm sind Grenzen gesetzt und alles staatliche Geld, das wir in dieser Ausnahmesituation aus noch so gutem Grund in großem Umfang ausgeben, muss von den Einkommen der Bürger durch Steuern und Abgaben jetzt und in der Zukunft finanziert werden. Deshalb ist verfassungsrechtlich explizit vorgeschrieben, dass für diese Schulden eine „entsprechende Tilgungsregelung“ vorzusehen ist. Hiervon soll bewusst eine disziplinierende Wirkung ausgehen. Es muss deshalb bei aller Unterstützung sinnvoller schuldenfinanzierter Maßnahmen zum wirtschaftlichen Neustart immer wieder auch die Einhaltung der verfassungsrechtlichen Vorgaben angemahnt werden. Die Sanierung der Haushalte ist Pflicht, sobald die Wirtschaft wieder Wachstumsergebnisse erzielt und spätestens, wenn das Niveau der Steuereinnahmen von 2019 wieder erreicht ist. Dann muss die schwarze Null wieder eingehalten werden. Von diesem Zeitpunkt an dürfen die Haushaltspläne keine Neuverschuldung mehr ausweisen und sollen/müssen ggf. Nettotilgungen von Schulden veranschlagen (Tilgungsregelung). Haushaltsüberschüsse im Ist sollten zur Hälfte zur Schuldentilgung und zur Bildung einer Haushaltsrücklage verwendet werden. Dies entbindet nicht von der Notwendigkeit, verzichtbare Haushaltsausgaben zu kürzen oder zu streichen. Sollte zum Beispiel wegen steigender Zinssätze oder infolge einer noch höheren Belastung der Staatshaushalte durch die COVID-19-Krise eine schnellere Entschuldung notwendig sein, dann kann/muss nach Einsatz des wirtschaftlichen Aufschwungs über zeitlich sehr begrenzte Einmalabgaben nachgedacht werden. Eine Vermögensabgabe oder Vergleichbares als Abgabe auf die Substanz ist abzulehnen. Die Maßnahme sollte auf die Ertragssteuern gerichtet sein. Die Ergänzungsabgabe gibt es nur für den Bund. Bund und Länder könnten aber z.B. einen auf ein bis drei Jahre von vornherein begrenzten „Sanierungspakt“ schließen. Der kann für den Bund eine befristete Ergänzungsabgabe vorsehen. Im Gegenzug werden die Anteile von Ländern und Gemeinden an der Mehrwertsteuer befristet erhöht. Beides geht ohne Grundgesetzänderungen. So würde die Sanierungsleistung der Bürger zwischen Bund, Ländern und Gemeinden aufgeteilt. Entscheidend ist, dass eine solche Maßnahme auf die oben geforderten und vollzogenen Steuersenkungen aufsetzt.
|
Christian Baldauf
|
Die Rettung der Wirtschaft vor dem totalen Corona-Crash darf unter keinen Umständen zur Staatsinsolvenz mit all ihren schrecklichen Auswirkungen etwa für den Sozialstaat führen. In seinem Gastbeitrag schlägt Christian Baldauf (CDU) einen „Sanierungspakt“ vor.
|
[
"Ausnahmezustand",
"Coronakrise",
"Wirtschaftskrise"
] |
wirtschaft
|
2020-05-06T14:54:57+0200
|
2020-05-06T14:54:57+0200
|
https://www.cicero.de//wirtschaft/neustart-coronavirus-shutdown-wirtschaftskrise-insolvenz-staat
|
Meinungsherrschaft - Ziemlich verstiegen
|
Das World Economic Forum, traditionell in Davos zu Hause, ist eine globaleske Veranstaltung. Doch die Pandemie hat das WEF nicht nur aus der hässlichen Bergstadt in weltschönster Gebirgsgegend vertrieben. Auch der Bürgenstock, Katars Hochsitz über den Stammwassern der Eidgenossenschaft, darf dem WEF nicht Herberge sein. Und nun fällt sogar noch die Finanzfeste Singapur als Tagungsort aus, denn dort ist die Indien-Mutante des Virus aufgetreten. Die Welt muss auf das weltläufige WEF verzichten. Dabei wäre es doch gerade jetzt wichtiger denn je. Davon ist jedenfalls sein Gründer und Forums-Großvater Klaus Schwab überzeugt. Mit geübtem Blick rund um den Globus und über den irdischen Tellerrand stellt er fest: „Reine Regierungstreffen wie G20 und G7 müssen durch ein Treffen ergänzt werden, das alle Entscheidungsträger umfasst.“ Ein Treffen? Welches Treffen? „Die Pandemie hat uns gezeigt, dass die großen Herausforderungen nur durch eine Zusammenarbeit zwischen Regierungen und Unternehmen bewältigt werden können.“ Ohne Namen zu nennen, verrät Schwab, was er meint: sein WEF. Die Zusammenkünfte der weltwichtigsten Regierungen: zweitrangig. Erstrangig dagegen, also wirklich wichtig: das World Economic Forum! Der geniale Gastgeber und grandiose Causeur, der Zauberkünstler, der jeder noch so durchsichtigen Banalität flugs philosophische Höhe, Breite und Tiefe verleiht – er weiß, was die fünf Kontinente nach der Pandemie dringend brauchen: Ihn – Klaus Schwab. Er weiß auch, was aus dieser Einsicht folgt: Die Politik ist nur noch eine Kraft neben der Wirtschaft, die sich zur gleichwertigen Entscheidungsträgerin erhoben sieht. Ja, so beiläufig klingt die Relativierung der Demokratie, welche bisher auf dem Primat der Politik gründete: WEF-Upgrading für die Wirtschaft, WEF-Downgrading für die Politik – zum Heil des Erdballs trifft man sich auf gleicher Davoser Hoch-Ebene. In der Tat alles ziemlich verstiegen, mindestens auf 1.560 Meter über Meer. Doch der WEF-Gründer und geschäftsführende Vorsitzende ist in Zeiten der Pandemie-Notstandsgesetze nicht allein mit seinen Gedankenspielen. Europas Klimabewegung, grün und links, bemüht sich gerade, ähnlich autoritäre Einsichten programmatisch umzusetzen: Statt Virologen und Epidemiologen weissagen künftig Klimatologen und Soziologen den mit Verboten und Geboten gepflasterten Weg in die klima-religiöse Zukunft – und schon erfüllt sich, was Greta Thunberg, Göttin von Fridays for Future (FFF), der klima-katastrophierten Weltgesellschaft zugerufen hat: „Folgt der Wissenschaft!“ Greta war – wie könnte es anders sein – bereits zu Gast am Davoser Gipfel. So kommt eins zum andern und fügt sich zur neuen Welt-Elite. Zum post-postmodernen Abklatsch von Platons Philosophen-Republik. Davor warnte einst Karl Popper in seinem Werk „Die offene Gesellschaft und ihre Feinde“: Der Philosoph forderte kategorisch den dauerhaften Widerstreit von Versuch und Irrtum und damit die – politische – Debatte in der Demokratie. Auch die Freiheitsdenkerin Hannah Arendt konstatierte die Identität von Freiheit und Politik. Politik zuerst – das ist die Grundlage der aufgeklärten Gesellschaft und des Bürgertums. Beide sollen gerade zurückgestuft werden: zu Objekten der Erziehung durch eine selbstherrliche Kaste – vom WEF bis zu FFF, Chiffren der Bevormundung von Bürgerinnen und Bürgern. Der Staat wird umgedeutet zur moralischen Besserungsanstalt. Höchste Zeit, dem liberalen Gründergeist in den freisinnigen Parteien auf die Sprünge zu helfen – nach der alten, aber aktuellen Weisheit: „Wehret den Anfängen!“ Akademische, kulturelle, mediale und wirtschaftliche Eliten greifen nach der gesellschaftlichen Macht – rechts über die Politik hinweg, links unter der Politik hindurch. Ein materiell bestens ausgestattetes Milieu versucht, seine Meinungsherrschaft zu zementieren und die einfachen Menschen maternalistisch-paternalistisch mit sozialen Wohltaten zu sedieren, auf dass man beim Lenken nicht gestört werde durch gemeines Volk. Ob WEF oder FFF: Die Corona-Verhältnisse dienen diesen als Blaupause beziehungsweise Grünpause – je nachdem.
|
Frank A. Meyer
|
Die Welt muss angesichts der Pandemie auf das weltläufige World Economic Forum verzichten. Dabei wäre es gerade jetzt wichtiger denn je. Das jedenfalls meint sein Gründer Klaus Schwab. Die Politik ist damit nur noch eine Kraft neben der Wirtschaft.
|
[
"Klaus Schwab",
"Fridays for future",
"Greta Thunberg",
"Corona"
] |
wirtschaft
|
2021-05-25T11:39:44+0200
|
2021-05-25T11:39:44+0200
|
https://www.cicero.de//wirtschaft/meinungsherrschaft-ziemlich-verstiegen
|
Papst Benedikt wird 86 Jahre alt - Avantgardist der Stille
|
Ganz in der Stille feiert der Mensch, der einmal Papst Benedikt XVI. gewesen ist, heute seinen 86. Geburtstag. Kein Bild wird er uns liefern, kein einziges Wort. Joseph Ratzingers vorletzte Etappe hat ihn in jenes Reich der Stille geführt, dem er ein Leben lang nachspürte. Vielleicht wird es einst nicht die Versöhnung von Vernunft und Religion sein, mit der man dieses Pontifikat verbindet, vielleicht nicht der Ruf nach einer Entweltlichung der Kirche oder die Warnung vor einer Diktatur des Relativismus. Vielleicht wird man dieser radikalen Selbstverpuppung des Menschen Joseph Ratzinger den größten Respekt zollen. Denn kaum etwas muss heute stärker erkämpft werden als das Recht auf Stille und Rückzug. Lärm versteht sich von selbst. Wir leben in einer Welt der Alphatiere, des pausenlosen Geredes und der Bilderfluten. Nicht mitzumachen, ist verboten. Auch Benedikts Nachfolger kennt die Gefahren des Betriebs, die, ins Theologische gewendet, Versuchungen sind. Papst Franziskus nannte das Geschwätz vor wenigen Tagen eine „Versuchung des Teufels“. Das Geschwätz sei der größte Feind der Sanftmut. Auch in dem soeben auf Deutsch erschienenen Gesprächsband „Mein Leben, mein Weg“ kritisiert Jorge Maria Bergoglio scharf die überflüssigen Worte, die allein der „Oberflächlichkeit, Banalität, Zeitverschwendung“ dienten. „Könnten wir“, fragt er, „aufmerksamer sein, was wir sagen oder nicht sagen – insbesondere wir, deren Mission es ist, zu lehren, zu sprechen, zu kommunizieren?“ [[nid:54195]] Joseph Ratzinger versteht diese Frage sehr gut. Schon als Erzbischof von München und Freising geißelte er die „geistige Umweltverschmutzung“ der Plapperer und der Dauerengagierten. Ihr gelte es entgegen zu wirken durch den „Mut zum Ungetanen“, zum bewussten Nicht-Tun, wo alle Welt Aktion und Dynamik verlangt. Wer auf Gott höre, halte die Wurzeln seines Seins „in die fruchtbare Stille Gottes hinein.“ Gerade wenn etwas keinen Aufschub zu vertragen scheint, zeichne sich die richtige Lösung in der Pause ab, im Schweigen. Aktionismus hilft nie weiter, nicht in der Kirche und erst recht nicht in der Welt. Der emeritierte Pontifex lebt heute in Castelgandolfo, schwach und schwächer werdend, aber freiwillig in einer Atmosphäre, die er oft so sehnsuchtsvoll ausdrückte, am schönsten in der Kartause Serra San Bruno in Kalabrien. Dort, bei den schweigenden Mönchen des heiligen Bruno, schwärmte der Papst des Wortes im Oktober 2011 von der Stille: „Wenn sich der Mensch in die Stille und Einsamkeit zurückzieht, setzt er sich in seiner Nacktheit sozusagen der Wirklichkeit (…) aus, um die Anwesenheit Gottes, die Fülle der realsten Wirklichkeit, die es geben kann und die jede sinnlich wahrnehmbare Dimension übersteigt, zu erleben. Eine Anwesenheit, die in jedem Geschöpf wahrnehmbar ist: in der Luft, die wir einatmen, im Licht, das wir sehen und das uns wärmt, im Gras, in den Steinen…“ Benedikt wusste: Alles Große wird in der Stille geboren. Im Leitwort zum Welttag der Sozialen Kommunikationsmittel 2011 forderte er, was nun auch Papst Franziskus umtreibt, ein „Ökosystem, das Stille, Wort, Bilder und Töne ins Gleichgewicht zu bringen weiß“. Die Stille sei kostbar, „um das nötige Unterscheidungsvermögen zu fördern im Hinblick auf die vielen Umweltreize und die vielen Antworten, die wir erhalten“. Der Mensch werde von zahllosen „Antworten auf Fragen bombardiert, die er sich nie gestellt hat, und auf Bedürfnisse, die er nicht empfindet“. Innehalten im Angesicht der Zerstreuungsindustrie sei das Gebot der Stunde. Ist es nicht in der Tat befremdlich, dass selbst mancher Umweltschützer von lautstarker Hysterie getrieben ist? Nächste Seite: Benedikt schwebte ein ganzheitliches Ökosystem der Stille vor Das ganzheitliche Ökosystem hingegen, das Benedikt XVI. vorschwebte, soll eine „Erziehung zur Stille und zur Innerlichkeit“ umfassen. Die Stille ist auch jener Ort, an dem die knappste Ressource unserer Zeit wachsen kann, die Hoffnung. Die Abkehr vom allzu leicht hoffnungs- und atemlosen, gehetzten Blick auf die Welt verlangt den Mut, Stille zuzulassen, Stille auszuhalten, die Stille zu suchen und so den inneren Menschen wachsen zu lassen. Die Stille kann den Suchenden dann mit einer Zuversicht belohnen, wie sie Benedikt einst formulierte: „Das Gute siegt. Auch wenn es manchmal von Unterdrückung und Schläue besiegt zu sein scheint, wirkt es in Wahrheit dennoch im Stillen und Verborgenen weiter und trägt auf lange Sicht Früchte.“ Zudem ist dieser päpstliche Rückzug - mehr Stille wagen! - ein flammendes Plädoyer für die Gleichberechtigung des introvertierten Lebensstils. Heute, hat unlängst Susan H. Cain in ihrem Buch „Still“ dargelegt, leben wir in einem „Wertesystem, das vom Ideal der Extraversion geprägt ist“. Der archetypische Extravertierte handele lieber als nachzudenken, sei eher risikofreudig als fürsorglich und ziehe Gewissheit dem Zweifel vor. Das Gegenbild, die Introversion, gelte „zusammen mit ihren Attributen der Empfindsamkeit, Ernsthaftigkeit und Schüchternheit als Persönlichkeitsmerkmal zweiter Klasse, das irgendwo zwischen enttäuschenden und pathologischen Merkmalen angesiedelt ist.“ Mehr noch, „heutzutage glauben wir, extravertierter zu werden mache uns nicht nur erfolgreicher– es mache uns auch zu besseren Menschen“. Wer schweigt, gilt als bockig, wer keine Witze macht, muss sich rechtfertigen. Bedächtigkeit wird zur Charakterschwäche.[[nid:54195]] Benedikt XVI. glaubte all das nicht. Er, der introvertierte Denker, gab nichts auf Applaus und Rampenlicht. Er zog den guten Gedanken der guten Laune vor, sah Heil oder Unheil, Gewinn oder Verlust ausschließlich im inneren Menschen verbürgt. Die Welt, ahnte er, wird nie ein besserer Ort, wenn wir nicht alle inwendig bessere Menschen werden. Und Gerechtigkeit, ahnte er ebenfalls, stellt sich nicht dann ein, wenn der Staat soziale Gerechtigkeit zuteilt, sondern wenn es auf der Welt mehr Gerechte gibt. Vielleicht liegt darin der größte Freiheitsdienst dieses Pontifikats: Benedikt XVI. zeigte, dass es ein Menschenrecht auf Stille gibt, auf das eigene Tempo und auf das eigene Gewissen. Die Masse verstand ihn nicht, sie eilte, hetzte weiter. Von Alexander Kissler ist soeben erschienen: „Papst im Widerspruch. Benedikt XVI. und seine Kirche 2005-2013“ (Pattloch).
|
Alexander Kissler
|
Sein Leben lang spürte Josef Ratzinger der Stille nach. In einer Welt der Alphatiere, des pausenlosen Geredes und der Bilderfluten - auch seinen 86. Geburtstag wird er in diesem Sinne verbringen.
|
[] |
kultur
|
2013-04-16T11:37:33+0200
|
2013-04-16T11:37:33+0200
|
https://www.cicero.de//kultur/papst-benedikt-geburtstag-86-avantgardist-der-stille/54201
|
Seenotrettung - Die Moral geht nach Hause
|
Vorweg: Jeder Schiffseigner oder Kapitän hat das Recht, mit seinem Schiff im Mittelmeer zu kreuzen und in internationalen Gewässern Flüchtlinge und Migranten aufzunehmen. Er ist sogar dazu „verpflichtet, allen Personen, selbst feindlichen, die auf See in Lebensgefahr angetroffen werden, Beistand zu leisten, soweit er dazu ohne ernste Gefahr für sein Schiff und für dessen Besatzung und Reisende imstande ist.“ So lautet die Seerechtskonvention von 1911, so weit die formale Rechtslage. Sie trifft zweifellos zu, wenn auf hoher See Flüchtlinge und Migranten in einem hochseeuntauglichen Schlauchboot angetroffen werden und von einem Rettungsschiff an Bord genommen werden. Dies zu unterlassen, brächte sie in unmittelbare Lebensgefahr. Doch wie kam die Situation überhaupt zustande? Im Umgang mit dem Begriff „Seenot“ herrscht heute eine heillose Verwirrung. Der Normalfall ist eine Situation, in der ein Schiff im Sturm, aufgrund eines Maschinenschadens oder einer Havarie so stark beschädigt ist, dass es zu sinken droht; daraufhin werden über Funk die Küstenwache oder der Seenotrettungskreuzer alarmiert, die sofort auslaufen, um die Schiffbrüchigen zu retten. Seenot ist mithin etwas, in das man „gerät“, nicht etwas, in das man sich willentlich begibt. Der Sturm ist ein Ereignis, das über einen hereinbricht, er ist alles andere als beabsichtigt oder ein kalkuliertes Risiko. Diese Art Seenot – und das ist die übliche Wortbedeutung – bringt den anderen unverschuldet in Lebensgefahr, aus der er gerettet werden muss. Von dieser Situation ist das, was sich heute im Mittelmeer abspielt, grundverschieden. Gewiss lässt die unmittelbare Situation keine Wahl, trotzdem zeigen die Handlungsketten, die diese Lage erst herbeigeführt haben, ein anderes Bild. Die Flüchtlinge sind vor Krieg und Verfolgung geflohen, die Wirtschaftsmigranten sind aufgebrochen, um für sich und ihre Familie ein neues Leben in Europa zu beginnen. Sie haben sich für die Fluchtroute über Libyen entschieden, und es ist kaum glaubhaft, dass sie über die Gefahren für Leib und Leben nicht informiert waren, die sie dort erwarteten. Sie haben es trotzdem gewagt. Der Wunsch, um jeden Preis nach Europa zu gelangen, war stärker. Die gleiche Risikokalkulation gilt für das Besteigen der untüchtigen Schlauchboote. Sie bringen sich bewusst in Lebensgefahr, haben aber die Hoffnung, von einen NGO-Rettungsschiff aufgenommen zu werden. Oft ist diese Hoffnung begründet, in anderen Fällen jedoch nicht. Sie haben sich in Gefahr gebracht und kamen darin leider um. Wer das als hartherzig oder zynisch verurteilt, sollte bessere Erklärungen beibringen. Für die NGOs stellt sich die Situation freilich anders dar. Das unmittelbare An-Bord-Nehmen ist sicherlich Rettung. Doch was danach geschieht, das Kurs-Nehmen auf einen südeuropäischen Hafen ist moralisch-humanitäres Schleppen: Weiterleiten der Flüchtlinge und Migranten zu ihrem Ziel Europa. Es handelt sich tatsächlich um eine unausgesprochene Kooperation von kriminellen und humanen Schleppern, was den Transport angeht. Sicher sind die Motive und Beweggründe bei den Aktivisten der NGOs völlig anders: kein Entgelt, gleichzeitig jedoch moralische Selbstüberhöhung und großer Beifall in der Community. Trotzdem ist das Bestreben irreführend, das ganze Unternehmen nur als Rettung aus Seenot darzustellen. Dies zeigt sich auch daran, dass hier vom üblichen Verfahren der Rettung auf See grundsätzlich abgewichen wird. Wären es wirklich Schiffbrüchige, so müssten sie sofort in den nächsten sicheren Hafen gebracht werden. Und „sicher“ heißt hier: fester Boden unter den Füßen, medizinische Betreuung, Versorgung mit Essen und warmer Kleidung. Es kann nicht heißen: geschützt vor politischer Verfolgung und krimineller Repression, zumindest nicht im Deutungsrahmen der Seenotrettung. Tatsächlich herrscht hier ein heilloses Durcheinander der Begründungen – alle mit dem Ziel, die Aktionen moralisch zu überhöhen und die Sachverhalte zu vernebeln. So begründete die Mannschaft der „Alan Kurdi“ ihren Entschluss, sofort wieder die Rettungszone vor Libyen anzusteuern, unter anderem damit, dass das anhaltend ruhige Wetter den Schlauchbooten gute Bedingungen für eine Abfahrt biete (FAZ vom 9. Juli 2019). Man muss sich die verquere Logik dieser Argumentation einmal vor Augen führen: Normalerweise ist ein Sturm die Ursache dafür, dass Menschen in Seenot geraten. In diesem Fall wären ein Sturm und eine hohe Brandung gerade die Ursache dafür, Menschen davon abzuhalten, sich in Seenot zu begeben. Gewiss, es gibt starke moralische Gründe, die Geretteten nicht nach Libyen zurückzubringen. Nur muss man für die damit verbundene Rechtsbrüche und Gesetzesübertretungen auch die Konsequenzen tragen – wobei das Risiko einer längeren Inhaftierung bei der Übermacht einer moralisierend-skandalisierenden Öffentlichkeit denkbar gering ist. Überhaupt dürften die weitreichenden gesellschaftlichen Folgen die Retter kaum interessieren. Für deren Bewältigung sind andere zuständig, die Ausführung und Umsetzung seiner Anliegen delegiert der Protest stets an andere. Die Moral geht nach Hause und kostet dort ihren situativen Triumph aus.
|
Rainer Paris
|
Die Stadt Paris möchte Carola Rackete eine Ehrenmedaille verleihen. Nachdem Frankreich die Flüchtlinge der Sea Watch 3 erst nicht aufnehmen wollte. Doch das Treiben der deutschen Kapitänin hat mit der eigentlichen Seenotrettung wenig zu tun
|
[
"Sea Watch 3",
"Alan Kurdi",
"Carola Rackete"
] |
außenpolitik
|
2019-07-15T11:00:02+0200
|
2019-07-15T11:00:02+0200
|
https://www.cicero.de//aussenpolitik/seenotrettung-sea-watch-carola-rackete-alan-kurdi
|
Islam und Politik - Die Reislamisierung von unten
|
Dass es die Kalifen beziehungsweise die muslimischen Herrscher waren, die den Islam korrumpiert haben, um ihre Herrschaft zu konsolidieren, ist eine häufig zu findende Behauptung, die jüngst auch der Münsteraner Theologe Mouhanad Khorchide in seinem neuen Buch „Gottes falsche Anwälte‟ aufgestellt hat. Ohne hier näher auf das grundsätzlich lesenswerte Buch eingehen zu wollen, sei gesagt, dass in der islamischen Welt der Fortschritt meist von oben kam, der Widerstand gegen ihn aber von unten. Da die Herrschaftsansprüche der frühen islamischen Dynastien immer umstritten waren, vermochten diese es nie, sie dauerhaft abzusichern. Eine Kodifizierung des islamischen Rechts schien außerhalb des Machbaren, eine davon unabhängige Gesetzgebung erst recht. Am Hof der Abbasiden (ab 750) herrschte, wie dies schon unter den Umayyaden der Fall war, anfänglich eine gewisse Laxheit der Sitten vor, weshalb sie mit einer Theologenschule sympathisierten, die sich Mu‛taziliten nannte. Die Mu‛taziliten glaubten an den freien Willen des Menschen und daran, dass die Religion an der Vernunft gemessen werden müsse. Zwar verfochten sie eine strenge Befolgung der religiösen Gebote, doch erlaubten sie eine gewisse Vielfalt an Deutungen. Diese Islamvorstellung kam dem Abbasidenkalifen al-Ma‛mun gelegen, der seine Herrschaft gegen eine stärker werdende Gelehrtenschaft absichern wollte. Deren Ziel war es, Normen zu formulieren, denen auch ein Kalif sich zu unterwerfen hat. Die Abbasiden versuchten, über die Ernennung von Richtern auf die Rechtspraxis einzuwirken, was jedoch den grundlegenden Konflikt mit den Spezialisten des Rechts nicht entschärfen konnte. Kalif al-Ma‛mun ging sogar so weit, 833 den rationalistischen Islam der Mu‛tazila und damit seine eigene religiöse Autorität gegenüber der Gelehrtenschaft mit Hilfe der sogenannten Mihna, der islamischen Variante der Inquisition, gewaltsam durchzusetzen. Das Vorhaben war zum Scheitern verurteilt und drei Kalifen nach ihm wurde die Mihna nicht nur aufgehoben, sondern auch die mu‛tazilitische Doktrin verboten. Den Sieg davongetragen hatten die Gelehrten. Als im 10. Jahrhundert endlich geordnete Hadith-Sammlungen vorlagen, war der sunnitische Islam soweit gereift, dass er sich als Glaube der Massen durchsetzen konnte. Der Koran alleine konnte keine Quelle für eine umfassende Gesetzgebung sein, dafür bot er zu wenige Anhaltspunkte. Staat und Religion waren seitdem zwar mehr oder weniger getrennt, aber die Gesellschaft lebte unter dem Gesetz der Religion, der Scharia, die in Koran und Sunna wurzelt. Schließlich erklärte Kalif al-Qadir 1017 den sunnitischen Islam gegen andere Anschauungen zur einzig wahren Lehre. Im Laufe des 10. Jahrhunderts herrschte immer mehr eine Art Arbeitsteilung vor: Der politisch stark geschwächte Kalif hielt noch als ein Symbol für ein Reich her, das sich immer weiter ausdehnen sollte. Die Schariagelehrten hingegen übernahmen die Anleitung der Gesellschaft. Das im 11. Jahrhundert entstehende Muftiamt zementierte diesen Anspruch. Dass der Fortschritt von oben, der Widerstand dagegen von unten kommt und es schließlich die Staatsmacht ist, die sich dem Druck beugt, ist ein Muster, das uns bis in die Gegenwart hinein begegnet. Zum Beispiel in Indien. Im 16. Jahrhundert pflegte der Mogulkaiser Akbar einen entspannten Umgang mit der Religion und versammelte Vertreter verschiedener Glaubensgemeinschaften zum gelehrten Gespräch um sich. Er selbst war nur nominell Muslim und Anhänger einer Religion, die er Din-e elahi nannte, „die göttliche Religion‟. Der Widerstand gegen diese Form aufgeklärter Herrschaft kam von unten: Von den Religionsgelehrten, aber auch von den Sufis. Akbars Enkel Schah Jahan, bekannt als Erbauer des Taj Mahal, drehte schließlich die Toleranzpolitik seines Großvaters zurück, bevor ab 1658 sein Sohn und Nachfolger Aurangzeb, genannt Alamgir, die Zügel weiter straffte, Nicht-Muslime zum Teil verfolgte und die Expansionspolitik wieder vorantrieb. Auch Ägypten dient als Beispiel. Ab dem 19. Jahrhundert hatte das Land am Nil eine Reihe von Reformen erlebt, weltliche Gesetze drängten die Scharia zurück. Dies setzte sich bis 1980 fort. Frommer Widerstand, der sich von unten organisiert hatte, brachte die Regierung 1985 dazu, die Scharia wieder zur Hauptquelle der Rechtsprechung zu machen, womit unter anderem die Frau in der Ehe wieder schlechter gestellt wurde. In der Türkei können wir diese Entwicklung ebenfalls verfolgen: Nach Ausrufung der Republik 1923 hatte das Land zunächst eine rigide Trennung von Staat und Religion vollzogen und 1928 den Islam als Staatsreligion abgeschafft. Die breite Bevölkerung blieb jedoch eher national-religiös gestimmt und bereits 1961 wurde der Islam erneut faktisch Staatsreligion. Das Ausmaß an persönlicher Freiheit war zwar nach wie vor groß, die Islamisten jedoch erhielten zunehmend Auftrieb. Mit den Wahlerfolgen Erdogans und seiner AKP findet die Reislamisierung nur ihren vorläufigen Höhepunkt. Schauen wir nach Pakistan: Zwar hatte hier wie auch im benachbarten Indien der Volksislam immer viel stärkeren Einfluss auf die Massen als die sunnitische Orthodoxie, dennoch fügt sich Pakistan in das Muster: Vertrat die Gründungsriege des Landes noch einen eher liberalen Islam, hatten die Islamisten, die es verstanden, den Unmut gegen weltliche Gesetze zu einem Widerstand von unten zu mobilisieren, schon früh dagegengehalten. Die säkulare Verfassung von 1962 fiel unter dem Druck von unten der Islamisierung zum Opfer, die ab 1977 unter Zia-ul-Haq dann auch von oben vorangetrieben wurde. Wie V.S. Naipaul über das Land am Indus schrieb, fand die Islamisierung auch hier von unten nach oben statt. So kamen erst die „einfachen Negierungen, die emotionalen Bedürfnissen entsprachen: kein Alkohol, keine weibliche Unkeuschheit, keine Bankzinsen.“ Dann kamen weitere Negierungen hinzu: „keine politischen Parteien, kein Parlament, kein Dissens, keine Gerichtshöfe. So wurden existierende Institutionen für unislamisch gehalten und untergraben oder abgeschafft.“ Ein letztes Beispiel: Tunesien. Trotz einer jahrzehntelangen säkularen Politik unter Habib Bourguiba, der die Scharia zurückdrängte, gibt es schon sehr lange eine signifikante fundamentalistische Bewegung. Diese wurde zeitweise gegen die politische Opposition instrumentalisiert, später wieder unterdrückt, dann hofiert. Letztlich aber kam der Druck zu einer Reislamisierung des Landes von unten und richtete sich unter anderem gegen den Versuch der Regierung 1961, das Fasten im Ramadan einzuschränken, weil dies schädlich für die Wirtschaft sei. Dass Bourguiba diesen Schritt islamisch zu legitimieren versucht hatte, sollte ihm nichts nützen und so musste er von seiner Position abrücken. Am Ende räumte die Regierung den Schariagelehrten, solange sie nur staatstragend waren, mehr Macht ein. Es ist daher zu einfach, den rigiden Islam der sunnitischen Orthodoxie wie der Islamisten einfach als Produkt eines Missbrauchs durch die Herrschenden darzustellen. Seit dem Untergang des rationalistischen Islam haben wir es in den muslimischen Ländern mit einer Gemengelage von Religion und Politik zu tun. Dass die Scharia von einem sehr weltlichen Charakter ist und Vorschriften zum Familien-, Vertrags- und Verwaltungsrecht umfasst, lässt die Sphären der Religion und der Politik nur noch weiter verschwimmen. In progressiven Kreisen und besonders an der Universitäten mag man derlei Verschwommenheit als Ambiguitätstoleranz verklären. Es ändert nichts an dem Umstand, dass die muslimischen Länder bei aller kulturellen Verschiedenheit innerlich doch ziemlich blockiert sind. Die häufig gehörte Klage, die Religion sei ein Opfer der Herrschenden und müsse nur richtig verstanden werden, ist schon seit jeher mehr ein Teil des Problems als ein Teil der Lösung gewesen.
|
Michael Kreutz
|
In der islamischen Welt kam der Fortschritt meist von oben, der Widerstand dagegen von unten. Dass die Religion von der Politik korrumpiert wurde, ist ein Mythos.
|
[
"Islam",
"Erdogan",
"Türkei",
"Pakistan",
"Tunesien",
"Glaube",
"Religion",
"Hagia Sophia",
"Moschee",
"Regierung",
"Gott",
"Sunniten",
"Widerstand",
"Fortschritt",
"Scharia",
"Islamisierung",
"Säkularisierung",
"Muslime"
] |
kultur
|
2020-07-29T11:03:44+0200
|
2020-07-29T11:03:44+0200
|
https://www.cicero.de//kultur/islam-politk-reislamisierung-tuerkei-pakistan-tunesien
|
US-Wahl – Machtverlust der weißen Protestanten
|
Noch 13 Tage – und am 6. November wählen die USA ihren Präsidenten: Cicero-Online-Korrespondent Malte Lehming berichtet zu diesem Anlass in einem Countdown über besondere Ereignisse und Kuriositäten während des Wahlkampfs. Kurz vor Halloween ist ein Gespenst verloren gegangen, das einst umging in Amerika. Es war reich und einflussreich, wohnte in bewachten Villengegenden, schickte seine Kinder auf sündhafte teure Privatuniversitäten, spielte Golf und Polo, bildete Familienclans, besuchte regelmäßig die Gottesdienste der Episcopal Church, hielt viel von guten Manieren, Pünktlichkeit, Disziplin und Hygiene. Man nannte das Gespenst oft abfällig den WASP, das stand für „White Anglo-Saxon Protestant“. Die Wasps galten als sehr mächtig. Und heute? Zum erstenmal überhaupt in der amerikanischen Geschichte haben weder Demokraten noch Republikaner einen Wasp im Präsidentschaftsrennen. Barack Obama ist nicht weiß, Mitt Romney ein Mormone, Joe Biden und Paul Ryan sind katholisch. Seit zweieinhalb Jahren bereits sitzt kein Wasp mehr im Supreme Court, dem obersten Verfassungsgericht. Die neun Richter sind entweder Katholiken (sechs) oder Juden (drei). Die Zahl der Protestanten im Kongress ist auf 55 Prozent geschrumpft, vor fünfzig Jahren waren es noch 74 Prozent. Außerdem bilden erstmals in der amerikanischen Geschichte die Protestanten nicht mehr die Bevölkerungsmehrheit. Vor zwei Wochen veröffentlichte das in Religionsfragen führende Forschungszentrum Pew eine Studie, die den gesellschaftlichen Wandel drastisch illustriert. Während sich vor 40 Jahren noch zwei Drittel der erwachsenen Amerikaner einer protestantischen Kirche verbunden fühlten – sowohl evangelikaler als auch traditioneller Denomination -, sind es heute nur noch 48 Prozent. Die Verluste gehen ausschließlich auf das Konto der weißen Protestanten, nicht der schwarzen oder anderer ethnischer Minderheiten. Weiße Protestanten sind die Stammwähler der Konservativen. Vor vier Jahren stimmten zwei Drittel von ihnen für den Republikaner John McCain. Auch Romney, obwohl Mormone, wird mehrheitlich von ihnen unterstützt. Doch diese Mehrheit wird sowohl in absoluten Zahlen als auch in Relation zur Gesamtbevölkerung immer kleiner. Die Wasps schrumpfen und schrumpfen, doch nicht etwa zu Gunsten anderer Religionsgemeinschaften, sondern zu Gunsten der „Nones“. „Nones“ sagen, dass sie sich keiner real existierenden Glaubensgemeinschaft zugehörig fühlen. Doch nicht alle von ihnen sind agnostisch oder atheistisch. Einige „Nones“ beten regelmäßig und glauben an eine überirdische Macht. Bloß leben sie ihre Spiritualität außerhalb der bestehenden Denominationen. Fast jeder Fünfte, nämlich 19,6 Prozent der Amerikaner, rechnet sich inzwischen zu den „Nones“. Und der Trend ist eindeutig: Vor vierzig Jahren waren es 7 Prozent, vor fünf Jahren 15,3 Prozent. „Nones“ sind überwiegend jung, sie stehen sozial und kulturell eher links. Der Aufstieg der „Nones“ wiederum verändert die religiöse Identität der Wasps. Sie definieren sich nun nicht mehr primär als Protestanten, Lutheraner oder Evangelikale, sondern eher entlang der Trennlinie liberal-konservativ. Das führt gelegentlich sogar zu neuen Koalitionen von konservativ evangelikalen Protestanten mit traditionellen Katholiken. „Nicht der Verlust einer protestantischen Mehrheit in den USA sollte uns besorgen“, schreibt etwa Russell D. Moore, ein Baptist und Professor für christliche Theologie und Ethik, „sondern der Verlust einer wahrhaft christlichen Mehrheit in unseren Kirchen.“ Verantwortlich dafür seien „krypto-marxistische Befeiungsideologien, sexuelle Identitätspolitik, neuheidnische Gottesvisionen und geschlechtsneutrale Liturgien“. Das Zeitalter der protestantischen Mehrheit in Amerika sei vorüber, meint Moore, „also lasst uns für etwas Neues beten – eine globale christliche Mehrheit, auf der Erde wie im Himmel“. Bis es so weit ist, wenn es denn überhaupt dazu kommt, dürfte die Präsidentschaftswahl allerdings vorbei sein.
|
Weiße protestantische Männer galten über Jahrzehnte als überaus einflussreich in der US-Politik. Damit ist längst Schluss. In der Gesamtbevölkerung sinkt ihr Anteil und weder Demokraten noch Republikaner haben einen von ihnen aufgestellt
|
[] |
außenpolitik
|
2012-10-24T13:05:43+0200
|
2012-10-24T13:05:43+0200
|
https://www.cicero.de//aussenpolitik/machtverlust-der-weissen-protestanten/52303
|
|
Wasser für die Elefanten – Christoph Waltz und die entzauberte Magie
|
Er schmunzelt hämisch, krault sich den veritablen Bart. Seine
Ausdrucksweise ist fein prononciert, bis zum letzten Konsonanten.
Mimik, Gestik, alles sehr bestimmt bei Christoph Waltz, der neuen
Lichtgestalt des Films. Schon seine Urgroßeltern hatten sich dem
Theater verschrieben. Die Bühne und damit die etwas affektierte
Selbstinszenierung liegen ihm im Blut. Im karamellfarbenen
Maßanzug, das schon leicht grau melierte Haar ordentlich
gescheitelt. Eine Erscheinung, dieser Mann. Keine Frage. Zu seiner
Rechten, sein Protegé Robert Pattinson. Der schmunzelt ebenfalls,
eher verlegen als hämisch und auch die Gesichtsbehaarung ist mehr
Flaum als Bart. Gekrault wird trotzdem, der gespielten Verlegenheit
wegen. Ein harmonisches Paar, das die beiden, ja man darf sagen
Hollywoodgrößen bei einer Pressekonferenz im Hotel de Rome da
abgeben. Gemeinsam mit dem Regisseur Francis Lawrence waren sie zu
Gast in Berlin, um ihren neuen Film, das Zirkusspektakel „Wasser
für die Elefanten“ (2011) vorzustellen. Der Zauber des Zirkus, man kennt ihn aus Kindertagen. Unter dem
schirmförmigen Chapiteau verschmelzen warmer Pferdeduft und
Zuckerwatte mit der Magie der Manege. Und wo die Wirklichkeit beim
Betreten der Zirkuswelt auf der Fußmatte abgestreift wird, beginnt
die Illusion. Metaphorisch zieht Regisseur Lawrence dabei die bunte
Scheinwelt des Zirkus für die Inszenierung des Themas des
persönlichen Wandels heran. Die Illusion definiert in diesem
Zusammenhang jeden der Charaktere und ihre Motivation im Film. Die
Faszination am Transzendenten, der Bruch mit den eigenen Dämonen,
die zu Tage treten, wenn die Weichzeichnung durch das
Scheinwerferlicht auf einmal aussetzt; das sei es, was Waltz an
diesem Projekt begeistere. Den narrativen Rahmen für die Verfilmung von Sara Gruens
gleichnamigem Roman spannt der gealterte Protagonist Jacob
Jankowski (Hal Halbrook). Die Nostalgie treibt den verträumten
Pensionär zurück zum zentralen Schauplatz seines Lebens, dem Zirkus
Barzini Brothers. Via Rückblende und Voiceover offenbaren sich dem
Betrachter Bilder einer Realität, die scheinbar nur noch in
Jankowskis emotionalem Gedächtnis lebendig zu sein scheinen. Hier
flammt sie noch einmal auf, die vergangene Glanzzeit, das „große
Leben“, das Jankowski einst führte. Ein Zeitsprung versetzt die Geschichte in das Jahr 1931. Es ist
die große Ära des Zirkus, der die Menschen zu jener Zeit zu Hauf in
seine Zelte lockt, um der Tristesse des Alltags für einen Moment zu
entkommen. Denn Amerika wird von den Folgen des Zusammenbruchs der
Börse 1929 gebeutelt und versinkt in der großen Depression. Den
jungen Jankowski (Robert Pattinson) könnte das nicht weiter
tangieren. Er steht kurz vor dem Abschluss in Veterinärmedizin an
dem renommierten Cornell College, als er mitten im Examen durch den
tragischen Tod seiner Eltern aus seinem Idyll gerissen wird. Dies
und der familiäre Bankrott treiben ihn dazu, mit seinem bisherigen
Leben zu brechen. Er springt auf einen Zug auf, dessen ratternde
Wagons ihn in eine ungewisse Zukunft führen. Nicht sicher, ob er diesen Zug ausgesucht hat, oder der Zug ihn,
findet sich Jacob am nächsten Morgen in den Reihen eines
Wanderzirkus wieder, dem Zirkus Barzini Brothers. In einem
skurrilen Soziotop fasst Jakob Fuß, gewinnt die nicht leicht zu
erringende Gunst des Zirkusdirektors August Rosenbluth (Christoph
Waltz), der seine Chance wittert und Jakob als zirkuseigenen
Veterinär engagiert. Vielleicht lässt sich so am wackeligen
Zeltmast des konkurrierenden Ringling Zirkus rütteln. Auch Jacobs
Herz schlägt bald wieder höher, als er die schöne Kunstreiterin
Marlena (Reese Witherspoon) erblickt. Nur gibt es hierbei einen,
dafür aber beträchtlichen Haken: Sie ist die Gemahlin des Chefs. An
seiner Übermacht drohen Jacob, Marlena und das restliche
Zirkusgefolge peu à peu zugrunde zu gehen. Und das nicht nur vor
der Kamera. Auch abseits davon verblassen beispielsweise Pattinsons
durchaus ambitionierte Versuche, sich neben Schauspielgewalt Waltz
zu behaupten – gelinde gesagt. Lesen Sie im zweiten Teil, wie sich an der Figur des August
ein rigider Machtkosmos auftut. Während Beau Pattinson („Twilight“, 2008, "Remember Me", 2010)
die vampireske Bürde leider immer noch zu Unrecht auf den schönen
Schultern lastet, so haftet Christoph Waltz weiterhin Hans Landa
an. Was alles andere als schlimm ist. Immerhin brachte ihm die
Rolle des sadistischen SS-Standartenführers mit seinem charmanten
„It’s a Bingo!“ in Quentin Tarantinos „Inglorious Bastards“ (2009)
zu Recht einen Oscar ein, katapultierte ihn hoch in den Filmolymp.
Und dort sitzt er nun, lässt sich verwöhnt von all der
Aufmerksamkeit seine Filmrollen auf einem goldenen Tablett
servieren und sucht aus: Ene mene mu, ein Zirkusdirektor will ich
sein. Sein Auftritt in „Wasser für die Elefanten“ erinnert in der
Intensität stark an Landa. So wächst der Mikrokosmos Zirkus unter
Rosenbluths wachsamen Augen zu einem souveränen Staat heran, zu
einer ja schon kafkaesken (Straf)Kolonie, in welcher das Gesetz des
Stärkeren gilt. Mit eiserner Hand führt er sein Unternehmen wie
auch seine Ehe und demonstriert seine Macht, indem er „den Himmel
an nur einem Tag entstehen“ lässt. Trotz großer Depression. Denn
diese Realität existiert hier nicht. Zumindest nicht vor den
Kulissen. An der Figur des August tut sich ein rigider Machtkosmos auf.
Seinen Einfluss generiert er dabei wie schon Landa über eine
geschickte Rhetorik. Er versteht es, seinen Machtspielraum
akribisch zu kontrollieren, seine stets geballte Faust durch
subtile Anspielungen latent mitschwingen zu lassen. Bis sie
zuschlägt. Doch hat er – anders als Landa – auch eine
Achillesferse: Seine ihn zermarternde Unsicherheit, die er über
einen schizoiden Kontrollzwang zu kompensieren sucht. Sei es in
Form des Eisenhakens, den er Elefantendame Rosie unerbittlich in
die Seite sticht, um ihren Eigenwillen zu brechen damit sie endlich
pariere, oder durch psychologisch ausgeklügelte Verbalattacken, mit
denen er sein Umfeld manipuliert. Vor allem seine Frau Marlena
nimmt er dabei genau ins Visier, deren Loyalität und Treue er
zunehmend in Zweifel zieht, macht sie doch dem jungen Veterinär
Avancen. Das vielgesprochene „Darling“, welches dabei zwischen
August und Marlene fast schon unerträglich oft hin- und hergereicht
wird, hinterlässt in diesem Zusammenhang unschöne Flecken auf der
bröckelnden Ehefassade. Lawrence inszeniert mit „Wasser für die Elefanten“ den Zirkus
als fragiles Autoritätsgefüge, synonym für einen lebendigen,
sozialen Organismus, der einer interaktiven Dynamik unterliegt.
Dabei zeigt der Regisseur auf, dass Augusts Autorität kein
Verfügungsgut darstellt, sondern sich der Dynamik entsprechend
verschieben lässt. Augusts geballte Faust wendet sich letztendlich
im Sinne der Dynamik gegen ihn selbst. Ironischerweise geschieht
dies in seinem Falle durch ein ebenbürtiges Schwergewicht, nämlich
durch die sommersprossige Elefantin, die der Willkürherrschaft
Augusts ein jähes Ende setzt. So fordert die Natur ihr Recht. Der
Regisseur erlaubt hier einen differenzierten Blick hinter die
Kulissen und entzaubert die Illusion der phantastischen Scheinwelt
des Zirkus. Dabei entstehen magische Bilder, wie das der Marlena,
die sich lyrisch in ihrem weißen Kostüm auf einem ebenso weißen
Dressurschimmel wiegt. Diese setzt er in harten Kontrast zu einem
zitternden August. Hinter den geschlossenen Vorhängen seines
Wohnwagons sieht man den Direktor seine Maske desillusioniert
ablegen und damit auch seine Übermacht, das beschämte Gesicht tief
in den Hände vergraben. Stellenweise erinnert Lawrences Zirkusspektakel an den epischen
Charme eines Sidney Pollacks und dessen virtuose Aufnahmen aus
"Jenseits von Afrika" (1985). Schade ist es allerdings, dass er
gerade gegen Ende des Films die Magie seiner Bilder wieder
entzaubert. Plump zerstört er die so mühsam aufgebaute Spannung
zwischen Schein und Sein, indem er die Poesie des Zirkus einem
konstruierten Showdown in der Manege weichen lässt. Noch weniger
hätte es die schwarz-weiße Schlusseinstellung im Stil einer
knisternden Dreißiger-Jahre-Filmrolle gebraucht. Aber gut. Ein
Blick auf und hinter die Leinwand lohnt sich dennoch. Schon allein
der beiden Dickhäuter Waltz und Rosie wegen.
|
Es stellt sich vor: Christoph Waltz, die Lichtgestalt. Gemeinsam mit Robert Pattinson und Regisseur Francis Lawrence präsentierte er seinen neuen Film "Wasser für die Elefanten" in Berlin. Von Spektakel, Schwergewichtern und warum Lawrence die Magie der Zirkuswelt entzaubert.
|
[] |
kultur
|
2011-05-03T00:00:00+0200
|
2011-05-03T00:00:00+0200
|
https://www.cicero.de//kultur/christoph-waltz-und-die-entzauberte-magie/41957
|
|
#allesdichtmachen - Ein Meisterwerk, das uns nachdenklich machen sollte"
|
Es gibt Schauspieler, die treffen mitten ins Herz ihrer Zeit. Hildegard Knef war so eine. Die Fünfzigerjahre lagen wie Mehltau über dem Land, als die Schauspielerin in Willi Forsts Nachkriegsfilm „Die Sünderin“ einen Skandal lostrat. Nackt und in Wilder Ehe lebend hielt sie in der Rolle der Marina der verknöcherten Adenauer-Republik den Spiegel vor. Was damals für viele Progressive eine Befreiung war, das war für Konservative eine Schande. Ganz ähnlich lässt sich vielleicht jenes Skandalon verstehen, das derzeit unter dem Hashtag #allesdichtmachen die Republik erschüttert. 53 prominente Schauspielerinnen und Schauspieler kritisieren in kleinen und oftmals ironisch bis sarkastisch daherkommenden Videos die Corona-Politik der Bundesregierung. Es ist ein Knall. Gestern hatte man noch geglaubt, die heimischen Kulturschaffenden seien treu auf Kurs der Berliner Großkoalitionäre, drehten mit Uschi Glas ein paar Trailer fürs Impfen, verhielten sich ansonsten aber wie gefügige Lockdown-Langschläfer und hielten still, so ist man nun eines Besseren belehrt worden. Seit diesen 53 Youtube-Clips kann niemand mehr sagen, der Protest gegen die Corona-Maßnahmen käme einzig aus den Reihen von Neu-Rechten oder Esoterikern. Ein ohnehin brüchiges Framing ist endgültig zerborsten. Und während sich die einen noch fragen, warum der intelligente Protest so lange gedauert hat, wischen sich andere erstaunt die Augen und wissen nicht, wie sie das deuten sollen, was sie da derzeit in den Medien sehen. Im Folgenden haben wir einige Reaktionen aus Social Media-Kommentaren zusammengestellt. Sie dokumentieren die ganze Bandbreite der Reaktionen und zeigen bei aller Unterschiedlichkeit doch eines: Nach #allesdichtmachen wird der Diskurs um die Corona-Maßnahmen nicht mehr so sein wie zuvor. Der SPD-Gesundheitspolitiker Karl Lauterbach: Ausserdem riskieren wir kurz vor Impfung noch viele Tote bei der Gruppe der Risikoträger ohne Impfung und Mutationen die den Impferfolg gefährden. Das will keiner. #allesdichtmachen Künstler auch nicht. Daher: jetzt kein Hass. Davon haben wir genug. Ich weiss wovon ich rede. Alice Weidel, Co-Vorsitzende der AfD-Bundestagsfraktion Marina Weisband, Publizistin Eine kurze Nachricht an meine Freunde von #allesdichtmachen #allesschlichtmachen zum Thema Meinungsfreiheit. pic.twitter.com/ZKsAMgIbhn Robin Alexander, stellvertretender Chefredakteur der Tageszeitung "Die Welt" Ich wollte zu #allesdichtmachen nichts schreiben. Aber hier fordert ein führender SPD-Funktionär und Rundfunkrat des @WDR Berufsverbote für Künstler, weil ihm ihre Meinung nicht passt. Das geht nicht. Das ist verrückt. ? pic.twitter.com/cpIuf3v1rU Jonas Schmidt-Chanasit, Virologe Super überzeugend, wie im Video von #janjosefliefers angeklagt wird, dass kein offener, kritischer Diskurs möglich sei, aber dann GLEICHZEITIG die Kommentare zum eigenen Video deaktiviert sind. Ich habe jetzt alle 53 #allesdichtmachen Videos angeschaut - ein Meisterwerk - es sollte uns sehr nachdenklich machen https://t.co/hhQiPtOhFB via @YouTube Helge Lindh, Bundestagsabgeordneter der SPD Ich verstehe, dass Schauspieler*innen der Applaus fehlt. Ich verstehe nicht, dass sie sich diesen nun bei den Querschwurblern holen.
Die Pandemie sei nur Angstmache? Erzählt das mal den Angehörigen der 80.000 Toten & den Ärzt*innen auf der ITS. Zynisch & schäbig #allesdichtmachen Stefan Homburg, Finanzwissenschaftler Liebe Schauspieler,
mit Ihren ironischen Spots #allesdichtmachen haben Sie der Gesellschaft einen Dienst erwiesen und vielen Menschen Mut gemacht - danke!
Lassen Sie sich jetzt bitte nicht von den Diffamierungs-Portalen mit Kontaktschuld-Rhetorik ins Bockshorn jagen! Liebe Schauspieler,
mit Ihren ironischen Spots #allesdichtmachen haben Sie der Gesellschaft einen Dienst erwiesen und vielen Menschen Mut gemacht - danke!
Lassen Sie sich jetzt bitte nicht von den Diffamierungs-Portalen mit Kontaktschuld-Rhetorik ins Bockshorn jagen! Sahra Wagenknecht, Publizistin und Politikerin (Die Linke) #allesdichtmachen #niewiederaufmachen #lockdownfürimmer – eine klasse Playlist, in der bekannte Schauspieler/innen ihre Empörung über die aktuelle #Corona-Politik wunderbar ironisch zum Ausdruck bringen: https://t.co/7Uo24KqtLt
|
Ralf Hanselle
|
Deutschland redet über 53 kleine Videos. Cicero hat Kommentare von Politikern, Medizinern und Medienschaffenden zusammengestellt, die die ganze Bandbreite der Reaktionen auf #allesdichtmachen aufzeigen. Eines ist dabei klar: Wir werden in Zukunft wohl anders über die Kritik an den Corona-Maßnahmen reden müssen.
|
[
"Kultur",
"Film"
] |
innenpolitik
|
2021-04-23T17:15:37+0200
|
2021-04-23T17:15:37+0200
|
https://www.cicero.de//innenpolitik/dach-allesdichtmachen-
|
"Floor on Fire" in Dresden - Hellerauer Hüftgeschüttel
|
Es ist ein Feuerwerk. Man weiß nicht, wo man zuerst hinschauen soll. So schnell, so viel saust an diesem Abend über die Bühne, hier kommt zusammen, was sonst nicht zusammengehört. Ein Tänzer dreht sich springend auf einem Bein, legt die Arme auf den Rücken und flattert mit den Händen. Ein Viererteam hebt einen Solisten in die Höhe, der von oben Küsse in die Luft pustet. Ein Breakdancer hüpft auf einer Hand. Überall Moves, Bewegung, wie ein einziger Rausch. Aus den Boxen erklingt eine Mischung von Hip-Hop bis Barock. Das Publikum klatscht rhythmisch mit. Das ist sie also, „the real total craziness“, die sich der Moderator zum Finale gewünscht hat. Da wirkt es für einen Moment wie ein Programmfehler, dass die Show nun vorbei sein soll. Mehr als zwei Stunden haben 500 Leute mitgefiebert, mitgejubelt, mitgeklatscht. Jetzt applaudieren sie ein letztes Mal für jene Tänzer, die auf dem Siegerpodest zum Posen antreten. Glitzerschnipsel flittern hinunter, während der DJ schnell in den Partymodus überblendet: „Let's Twist Again“. Männer, Frauen, Kinder: Die Tanzfläche gehört euch! Tanz gibt es das ganze Jahr über im Festspielhaus Hellerau, dem europäischen Zentrum der Künste. Aber kein anderes Format euphorisiert die Zuschauer dermaßen wie „Floor on Fire“ seit 2015. Bei kaum einem anderen Programm sieht das Publikum eine derartige Bandbreite an professionellem Tanz. An drei, vier Abenden in der Saison begegnen sich Breakdancer und Ballerinas im Wettbewerb, messen sich Hip-Hopper mit zeitgenössischen Tänzern. Vor allem für letztere kennt man das Festspielhaus auch jenseits der Stadtgrenzen. Bei „Floor on Fire“ sind die Karten jedes Mal binnen Stunden weg. „Es ist die einzige Veranstaltung, für die wir keine Werbung machen müssen“, sagt Anna Bründl, künstlerische Mitarbeiterin der Intendanz. Sie hat das Format zusammen mit Breakern von „The Saxonz“ mitentwickelt, mit dem das Festspielhaus schon in Prag und Paris gastierte. Der Ursprung liegt im Breakdance, den Battles der B-Boys,die sich gegenseitig beweisen, wer am meisten draufhat. „Floor on Fire“ belässt es nicht dabei. „Es geht darum,“ sagt Bründl, „sich selbst, sein Ego und seinen Stil zurückzunehmen. Im Idealfall vergessen die Leute ihren eigenen Background, wachsen über ihre Grenzen hinaus und im Team kann etwas ganz Neues entstehen.“ 16 Tänzer und Tänzerinnen sind an diesem Abend am Start. Drei Stunden vor dem Start trudeln sie im Nebenraum der Bühne ein. Manche begegnen sich dort zum ersten Mal. Sie kommen vom Ballett der Dresdner Semperoper, ein Teil tanzt zeitgenössisch in der freien Szene, andere gehören zu „The Saxonz“, jener Breakdance-Company aus Sachsen, die zweimal deutscher Meister war. Dehnen, springen, Übungen mit Partnern, erster Schweiß läuft über Rücken und Stirn. Vom Organisationsteam kommt jemand mit einem Basecap, in dem 16 Zettel liegen. Für die erste Runde werden Paare ausgelost. Die Vorgabe lautet, dass sich die Tanzstile mischen müssen. Im Laufe des Abends siebt eine Jury immer weiter aus, wobei klar ist, dass witzige Schnuten und sexy Hüftschüttelei mehr punkten als Innerlichkeit. Gewinner einer Runde dürfen sich einzelne Tänzer aus dem Verliererteam in die eigene Gruppe holen. Durch das ausgeklügelte System wachsen die Teams und kriegen ständig neues Blut. „Es ist wie Lotterie“, sagt Dalier Burchanow, der mit drei Kollegen vom Ballett des Theaters Halle für diesen Abend nach Dresden gekommen ist. „Man kann sich nicht vorbereiten.“ Dieser Umstand macht es besonders Balletttänzern wie ihm schwer. Tag für Tag führen sie aus, was ein Choreograf sehen will, heute müssen sie improvisieren. Erschwerend kommt hinzu, dass der DJ wie immer bei „Floor on Fire“ einen unvorhersehbaren Stilmix auflegt, Salsa, Pop, Dance, Klassik – alles ist dabei. Da ist es umso bemerkenswerter, was Dalier, 28, schwarzes Haar, schwarze Jogginghose und rot gemustertes Laufshirt, mit seinem Körper anstellt. Überschläge mit einer Hand zu „Forever Young“, Drehungen mit wechselndem Sprungbein zu einem Rocksong der Red Hot Chili Peppers. Schongang geht anders. Alexander Kelox Miller von den „Saxonz“, bei „Floor on Fire“ von Anfang an dabei, beschreibt es so: „Man kann sich nicht vorbereiten, du weißt nicht, was passiert. Du springst über deinen eigenen Schatten und dann kannst du einfach nur du selbst sein.“ Daliers Team hat sich inzwischen zu wenig aufeinander eingestellt, die Gegner waren einfach besser. Scheinwerfer strahlen auf die fünf Jurymitglieder, die mit ausgestreckten Armen abstimmen. Die Sieger entscheiden sich, die beiden Mittänzer von Dalier bei sich aufzu-nehmen. In diesem Moment könnte die Nebelschwade über der Bühne eine Zorneswolke sein. Das Publikum, verteilt auf zwei gegenüberliegenden Tribünen, schreit, buht, klatscht, klatscht weiter, als ließe sich so die Entscheidung noch einmal rückgängig machen. Vergebens. Dalier fällt im Halbfinale raus. Abgekämpft wird er sich nach der Show unter die Zuschauermenge mischen. Eine Frau, die seine Mutter sein könnte, wird ihm anerkennend auf die Brust klopfen und sagen, dass er, Dalier, für sie der eigentliche Gewinner des Abends ist. Mehr Infos unter: www.hellerau.org
|
Rafael Barth
|
Breakdance trifft Ballett: Das Format "Floor on Fire" beschert der Dresdner Tanzszene energiegeladene Abende
|
[] |
kultur
|
2017-10-18T16:12:51+0200
|
2017-10-18T16:12:51+0200
|
https://www.cicero.de//kultur/-floor-on-fire-in-dresden-hellerauer-hueftgeschuettel
|
Wahlsieger - Nach dem Spiel ist vor dem Spiel
|
Schluss, aus, das Spiel ist vorbei. Es gab so viele Um– und Sonntagsfragen wie nie zuvor, deshalb möchte ich heute ausnahmsweise mal darauf verzichten, Umfrage-Ergebnisse für mein Fazit zur Bundestagswahl heranzuziehen. Mir ist stattdessen nach Fußball. Wie kann man den Bundestagswahlkampf 2013 fussballerisch deuten? Es gibt Spiele, die sind nach dem Spiel interessanter als während des Spiels. Erinnern Sie sich noch an das Interview zwischen Waldemar Hartmann und Rudi Völler, die sogenannte Wutrede? Das war 2003. Jeder Fußballfan wird sich daran erinnern können. Aber sicherlich nicht an das Spiel davor. Dieser Wahl wird es ebenso ergehen. Sie wird nicht wegen des Wahlkampfs in die Annalen eingehen, sondern wegen des Wahlabends, der aufgrund der knappen Ergebnisse für AfD und FDP und der kurzfristigen Aussicht auf eine alleinige Mehrheit von CDU/CSU so spannend war wie selten zuvor. [[nid:55875]] Es gibt immer ein erstes Mal. Auch beim Absteigen. Dieses Mal hat es die FDP erwischt. Aus eigener Kraft oder eigenem Unvermögen. Wie die FDP wieder nach oben kommen kann? Den 1. FC Kaiserslautern zum Vorbild nehmen. Die sind in der Spielzeit 94/95 auch das erste Mal aus der Bundesliga abgestiegen, nur um ein Jahr später wieder aufzusteigen und direkt danach Deutscher Meister zu werden. Was die gemacht haben: Das Präsidium ausgetauscht und verdiente FCK-Recken wie Otto Rehhagel, Hans-Peter Briegel und Jürgen Friedrich zurückgeholt. Die Rücktritte von Rösler und Brüderle gehen ja schon mal in die richtige Richtung. Es gibt Spiele, die hat man schon verloren, bevor man richtig auf dem Spielfeld angekommen ist. So in etwa muss sich Peer Steinbrück vorgekommen sein, der das Spiel direkt in den ersten fünf Minuten seiner Kandidatur verloren hat. Die Tore (oder sollte man besser sagen Eigentore) schossen unter anderem die Clown-Diskussion, die Diskussion ums Kanzlergehalt und seine Nebeneinkünfte. Auch die im weiteren Spielverlauf folgende Mannschaftsleistung konnte nicht voll überzeugen. Da half auch die eigentlich gelungene Performance beim TV-Duell und die damit eingeläutete Schlussoffensive nicht mehr. Der Rückstand war bereits zu groß. Auch die Einlösung des „Stinkefinger“-Jokers kurz vor Schluss sorgte lediglich für Unruhe auf dem Spielfeld, führte aber nicht mehr zu Toren. Angela Merkel ist die Matchwinnerin und der Star des Spiels gewesen. Sie hat vorne Tore geschossen und hinten keine Bälle reingelassen. Die Taktik, die Kanzlerin und nichts als die Kanzlerin in den Fokus des Wahlkampfs zu stellen, ist voll aufgegangen. Als langfristige Strategie ist das vielleicht nicht brauchbar. Jetzt hat man ja erstmal vier Jahre Zeit eine Mannschaft aufzubauen, die auch ohne den Star die nächste Spielzeit überstehen wird. Nach der Wahl - Analysen, Kommentare, Reportagen – Was der 22. September für Deutschland bedeutet. Das Wahl-Spezial von Cicero liegt der Oktober-Ausgabe des Magazins bei und ist ab Donnerstag am Kiosk und in unserem Online-Shop erhältlich
|
Holger Geißler
|
Das Spiel ist vorbei, die Wahl ist gelaufen. Was aber wird vom Wahlkampf 2013 übrig bleiben?
|
[] |
innenpolitik
|
2013-09-24T12:44:07+0200
|
2013-09-24T12:44:07+0200
|
https://www.cicero.de//innenpolitik/bundestagswahlkampf-nach-dem-spiel-ist-vor-dem-spiel/55907
|
Familiensoziologe - „Die Debatte ist unwissenschaftlich“
|
Professor Bertram, Deutschlands Familienpolitik ist
gescheitert, befindet eine viel beachtete Studie. Elterngeld, Kindergeld,
Ehegattensplitting – jeglicher Sinn dieser staatlichen Leistungen
wird angezweifelt. Wie ordnen Sie diese Debatte ein?
Ich empfinde sowohl die Untersuchung als auch die Debatte als
ziemlich unwissenschaftlich. Man kann das an der Kritik am
Ehegattensplitting sehen. Da wird nicht erkannt, dass es nicht zur
Geburtenförderung eingeführt wurde, sondern als Nachteilsausgleich
für Verheiratete, die bei einer Zusammenveranlagung höher besteuert
wurden als Nicht-Verheiratete. Das war der einzige Hintergrund für
dieses blöde Splitting. Aber kein Mensch wäre bei der Einführung
auf die Idee gekommen, es hinsichtlich der Familienplanung zu
prüfen. Was
ist heute anders? Heute haben sich die Lebensverläufe
verändert. Frauen bekommen mit 30 Jahren ihr erstes Kind, geben
sich Mühe, mit 32 das zweite zu bekommen. In früheren Jahrzehnten
haben sich die Frauen mehr Zeit gelassen. Sie fingen mit 23, 24 an
und waren erst mit 35 fertig. Das Ehegattensplitting ist für diese
Lebensläufe nicht geeignet. Wo sollte man mit der Debatte eher
ansetzen? Ich finde es viel interessanter, über
Lösungen nachzudenken, als jetzt darüber zu sprechen, was unsere
Altvorderen vor 40 Jahren unter ganz anderen Bedingungen falsch
oder richtig gemacht haben. Ich kann Geschichte nicht verändern.
Ich kann aber darüber nachdenken, wie ich die Zukunft gestalten
will. Deswegen finde ich die Diskussion ziemlich blöd. Was müsste die Politik ändern? In unserer
Studie haben wir vorgeschlagen, eine
Kindergrundsicherung von 300 oder 350 Euro einzuführen, die man von
der Steuerschuld abzöge. Das Kind des Millionärs wäre dem Staat
dann genauso viel Wert wie das Kind der Familie, die keine Steuern
zahlt. Hier käme das Finanzamt für die Grundsicherung auf. Damit
gäbe es auch keine Hartz-IV-Kinder mehr. Der Kinderschutzbund
schlägt vor, zu dieser ökonomischen Grundsicherung noch etwa 200
Euro für Bildungsgutscheine draufzulegen. So könnten die Eltern
entscheiden, was sie in Bildungsangeboten anlegen, ob sie davon die
Kita zahlen oder der achtjährigen Tochter Musik-, Nachhilfe- oder
Sportunterricht ermöglichen. Die Zahlungen gäbe es dann bis zum 18.
Lebensjahr. Und alle anderen Leistungen der Familienpolitik fielen
weg? Richtig. Alle Leistungen für Kinder würden
entfallen, es gäbe nur noch eine Kindergrundsicherung mit dem
Bildungsgutschein. Aber so etwas ist politisch nicht
durchsetzbar. Gibt es denn keine Untersuchung der Bundesregierung in
diese Richtung? Ich weiß natürlich nicht, was die
Bundesregierung genau tut. Soweit ich es aber einschätze, tun sich
die CDU und die SPD in Bezug auf die Kindergrundsicherung schwer
und zwar deswegen, weil die Grünen sie im Parteiprogramm haben.
Damit ist es eben nicht mehr eine vernünftige Lösung, sondern eine
grüne Lösung. Und das, obwohl der Sozialdemokrat Tony Blair das
Modell in England eingeführt hat. Ähnliches kennen wir auch von der
Regierung Clinton in den USA. Auch dort gab es früher diese
Splitting-Systeme. Man überführte sie damals alle in ein
Grundsicherungssystem, genannt Family Tax. Unsere gegenwärtige
Diskussion bewegt sich aber viel zu sehr im Gefängnis der alten
Lebensvorstellungen, um neue Perspektiven entwickeln zu können. Was sagen die Kritiker der Grundsicherung?
Man hat immer Angst, die Falschen würden von so einer Politik
profitieren, lauter Kinder kriegen und sich in die soziale
Hängematte legen. Dabei gibt es dafür keinerlei Hinweise: Nur fünf
Prozent aller Mütter haben keinen Berufsabschluss. Deutschland
hatte noch nie eine so gebildete und gut qualifizierte
Mutterschaft. In den 70er Jahren noch hatte die Hälfte der
deutschen Mutterschaft keine Berufsausbildung. Heute steht
Deutschland mit der Frauen-Erwerbsquote an vierter Stelle in
Europa. In den vergangenen zehn Jahren hat sich eine stille
Revolution ergeben – und wir diskutieren die Probleme der 50er
Jahre. Sie hantieren nun mit vollkommen anderen Zahlen als die
aktuellen Kritiker der Familienpolitik. Auch bei der viel
beschworenen niedrigen Geburtenrate kritisieren Sie und andere
Forscher, man müsse berücksichtigen, dass Frauen immer später
Kinder bekommen. Wenn man diesen „Tempo-Effekt“ einberechnete,
ergäbe sich auch eine viel höhere Geburtenrate…
Richtig. Aber das Problem, dass es in der Arbeitswelt voller
unbefristeter Stellen und Unsicherheiten noch immer schwierig ist,
Job und Kinder zu vereinbaren, kann auch eine Kindergrundsicherung
nicht lösen, oder?
Ja, wir haben für den Nachwuchs in Deutschland ein hohes Maß an
Unsicherheit erzeugt. Im öffentlichen Dienst Anfang der 90er Jahre
hatte eine junge Frau durchschnittlich vier Jahre Berufstätigkeit
hinter sich, bevor sie sich fürs erste Kind entschied. Heute sind
es sieben Jahre. Im Pressewesen haben 60 Prozent keine Kinder, bei
einem großen Teil, etwa 70 Prozent, geht man davon aus, dass sie
partnerlos leben. Junge Frauen und Männer warten ab, bis sie eine
sichere Lebensperspektive haben. Erst dann entscheiden sie sich für
Kinder. Das ist in der Frage der Geburtenrate viel wichtiger als
die ganze Diskussion um finanzielle Umverteilungsprozesse. Nächste Seite: Sexualität ist keine Treueprämie
mehr Sind wir an der hohen Partnerlosigkeit nicht auch selber
schuld, weil wir uns nicht entscheiden wollen, nicht fest
binden?
Es gibt in Amerika die Debatte des „Emerging Adulthood“, des sich
entwickelnden Erwachsenenalters. Früher war klar: Ökonomische
Selbstständigkeit, eigenes Haus, Heirat, Kinder. Durch die
verlängerte Ausbildung, die unsicheren Berufe dauert dieser Prozess
der Selbstständigkeit und eigenständigen Lebensführung sehr viel
länger. Deshalb spielen auch die Eltern länger eine Rolle. Sie
unterstützen die Kinder ökonomisch, die ziehen zwar aus dem
Elternhaus, kommen aber hin und wieder zurück. Es sind also
vielfältige Verhältnisse. Und das wirkt sich auf unsere Beziehungen
aus… Das traditionelle Modell hat Partnerschaft und
Sexualität eng verknüpft. Das ist in den letzten 50, 60 Jahren
aufgelöst worden. Heute hat man den ersten Partner mit 17 bis 18,
man heiratet aber mit 30. Die Frau hat dann im Durchschnitt vier
Partner gehabt. Sexualität wurde billiger, ist leichter verfügbar –
und keine Treueprämie mehr. Wir wissen noch nicht, welche
Konsequenzen sich aus diesem sich verändernden Lebensmuster für
langfristige Partnerbindungen ergeben. Wir können nur sagen: Wir
müssen akzeptieren, dass es heute viel schwieriger ist, eine
längere Partnerschaft zu haben, in der wir uns auch für Kinder
entscheiden. Die Politik versucht noch immer, das Zusammenleben in
Kategorien zu bündeln. Die Wissenschaft sagt, die sind völlig
egal?
Ja, das tun wir. Es geht nicht um eine spezifische Lebensform, es
geht um die verbindliche Fürsorge für einen Dritten. In diesem Fall
um das schwächste Glied der Gesellschaft, nämlich die Kinder. Egal,
wie diese verbindliche Fürsorge organisiert ist, ob das ein
homosexuelles Paar, eine alleinerziehende Mutter oder die
Großeltern sind. Der Staat hat nur sicher zu stellen, dass dieses
schwächste Glied auf die verbindliche Fürsorge bauen kann. Darunter könnte man dann auch die Pflege für Ältere
fassen? Genau. Wenn zwei ältere Damen zusammenziehen
und sich umeinander kümmern wollen und die eine wird krank, wird
die andere nicht ausreichend informiert. Das sind Dinge, die in
unserer Gesellschaft nicht debattiert werden. Wir streiten über
Lebensformen, aber keiner fragt danach, wie Fürsorglichkeit
organisiert werden kann. Das ist das entscheidende Element. Und
diese private Solidarität kann ich nicht durch den Staat
ersetzen. Jutta Allmendinger, Präsidentin des Berliner
Wissenschaftszentrum für Sozialforschung, spricht von einer
32-Stunden-Woche, die für sie „die neue Vollzeit“ bedeutet. Ist das
Wunschdenken?
Die Diskussion um Stundenzeiten ist totaler Blödsinn, weil wir
heute eine projektorientierte Arbeit haben. Wenn Sie in einem Team
eine Computersoftware entwickeln, können Sie nicht sagen: Ich habe
meine 32 Stunden voll. Dann erwartet die Projektgruppe, nicht
einmal der Arbeitgeber, dass Sie das gemeinsam zu Ende machen. Das
Problem ist, dass wir noch keine wirkliche Antwort haben, wie diese
Projektarbeit gestützt werden kann. Mit der flächendeckenden Kinderbetreuung ab einem Jahr
versucht die Politik es dem Vorreiter Schweden
nachzumachen.
Wir bauen die Kinderbetreuung institutionell aus. Es wäre aber
vielleicht viel besser, wie es die Franzosen gemacht haben: Dort
hat man auf hoch qualifizierte Tagesmütter gesetzt. Wenn Sie in
dieser anderen Situation jemanden haben, der hoch qualifiziert ist,
dann kann der in einer Woche ranklotzen, weil er sein Kind in guten
Händen weiß. In der darauffolgenden Woche wiederum kann er sich
mehr mit dem Kind beschäftigen. So etwas ließe sich mit einer
Tagesmutter besser aushandeln. Wir übernehmen jetzt das schwedische
System und nicht das französische. Und da ist die Variationsbreite,
die Flexibilität gering. Ich denke, auch darüber müssten wir eine
Debatte führen. Herr Bertram, vielen Dank für das Gespräch. Das Interview führte Marie
Amrhein
|
Marie Amrhein
|
Die deutsche Familienpolitik sollte sich lieber an England und Frankreich orientieren, sagt Familiensoziologe Hans Bertram. Denn das hochgelobte schwedische Kitamodell sei fehlbar. Im Cicero-Online-Interview kritisiert der Forscher zudem den Streit über verschiedene Lebensformen
|
[] |
innenpolitik
|
2013-02-07T14:36:08+0100
|
2013-02-07T14:36:08+0100
|
https://www.cicero.de//innenpolitik/die-debatte-ist-unwissenschaftlich/53434
|
Ergebnis SPD-Mitgliederentscheid - Selbstmord abgewendet, mehr nicht
|
Das war deutlicher als erwartet. Mit 66,02 Prozent der Stimmen haben sich die SPD-Mitglieder für den Koalitionsvertrag mit CDU und CSU ausgesprochen. 239.604 Mitglieder stimmten mit „Ja“, 123.329 Mitglieder mit „Nein“. 78,39 Prozent der 463.722 SPD-Mitglieder hatten sich an der Abstimmung beteiligt. Auch die nächste schwarz-rote Bundesregierung kann also kommen. Am 14. März und damit fast ein halbes Jahr nach der Bundestagswahl am 24. September soll nun die Kanzlerinnenwahl stattfinden. Der Weg für Schwarz-Rot und Angela Merkels vierte Amtszeit scheint frei. Die Existenzkrise der SPD jedoch wird auch nach dem positiven Mitgliedervotum weiter schwelen. Die Erleichterung war dem kommissarischen SPD-Vorsitzenden Olaf Scholz am Sonntagmorgen anzusehen, als um 9.35 Uhr in der Berliner Parteizentrale das Ergebnis des Mitgliedervotums verkündet wurde. Der voraussichtliche Finanzminister der neuen Regierung zeigte sich anschließend in einer knappen Erklärung überzeugt davon, dass die Partei in der Diskussion über eine Regierungsbeteiligung „weiter zusammengewachsen“ sei, der Ausgang des Mitgliedervotums gebe der Partei „Kraft für den Prozess der Erneuerung“. Zuvor hatte schon die designierte Parteivorsitzende Andrea Nahles angekündigt, es gehe darum, in der SPD jetzt „Raum für Zukunftsdebatten“ zu schaffen. Einfach wird dies allerdings nicht werden. Keines der Probleme der SPD wird gelöst, wenn die Partei jetzt in die Regierung eintritt und als Juniorpartner der Union die Kanzlerschaft von Angela Merkel um weitere vier Jahre verlängert. Nicht die programmatische Orientierungslosigkeit, nicht die Vertrauenskrise der SPD-Führung und auch nicht die fehlende sozialdemokratische Machtperspektive. Auch der Koalitionsvertrag, den die SPD mit CDU und CSU verhandelt hat, gibt keine Anhaltspunkte dafür, wie die Erneuerung der SPD aussehen könnte oder wie die SPD vor allem jene traditionellen Wähler zurückgewinnen will, die sie an die AfD verloren hat. Stattdessen ist der Koalitionsvertrag ein Sammelsurium beliebiger politischer Ideen, kein Signal des Aufbruchs, sondern der Stagnation. Die quälenden innerparteilichen Debatten der vergangenen Monate und das eklatante Führungsversagen des zurückgetretenen Parteivorsitzenden Martin Schulz haben die SPD zusätzlich stark geschwächt. Die neue Parteiführung um Andrea Nahles ist angeschlagen, bevor sie überhaupt im Amt ist. Die SPD ist tief gespalten und seit der Bundestagswahl, bei der die Partei mit 20,5 Prozent das schlechteste Ergebnis ihrer Geschichte erreicht hatte, haben sich noch mehr Wähler von der Partei abgewandt. Nicht einmal jeder fünfte Wähler in Deutschland würde derzeit SPD wählen. Und vermutlich hat die Krise der SPD die Talsohle noch nicht einmal erreicht. Schon in den vergangenen Jahren hat sich gezeigt, dass die SPD, angetrieben von einer ideologisch bornierten Funktionärskaste, eher politische Randthemen diskutiert, wie etwa die Vorratsdatenspeicherung, das Freihandelsabkommen Ceta oder den Familiennachzug für subsidiär schutzberechtigte Flüchtlinge. Für alle Kritiker der Regierungsbeteiligung als Juniorpartner der Union wurde ein rot-rot-grünes Bündnis in den vergangenen vier Jahren zum Sehnsuchtsort, obwohl die gesellschaftliche Akzeptanz für ein solches gegen Null tendiert. Gleichzeitig hat sie SPD keine Antwort auf die zentralen Zukunftsfragen der Gesellschaft gefunden. Wie zum Beispiel lässt sich in einer globalisierten Welt die Migration steuern und begrenzen? Wie muss Deutschland im Inland und im Ausland der Herausforderung des islamistischen Terrorismus begegnen? Wie lautet die sozialdemokratische Antwort auf die Digitalisierung der Arbeitswelt? Was heißt soziale Gerechtigkeit in einer individualisierten Wohlstandsgesellschaft? Die Sozialdemokraten werden den Mut brauchen, ausgetretene programmatische Wege zu verlassen, wollen sie ihre inhaltliche Leere wieder mit in der Gesellschaft mehrheitsfähigen Antworten füllen und sie werden eine völlig andere innerparteiliche Diskussionskultur brauchen. Solange jede ungewöhnliche Idee in der SPD wahlweise als neoliberal oder linkspopulistisch denunziert wird, als Neuauflage der Agenda-Politik oder als Anbiederung an AfD-Wähler, als utopisch oder unfinanzierbar, solange wird die Erneuerung keine Chance haben. Als erstes wird die SPD jetzt also die Frage beantworten müssen, ob Mitglieder, Funktionäre und Spitzenpolitiker der Partei bereit sein werden, beides aufzubringen, programmatischen Mut und einen anderen Umgang miteinander. Alle Debatten über ein Linksbündnis wird die SPD zugleich zurückstellen müssen, auch wenn die Sehnsucht nach Rot-Rot-Grün beziehungsweise nach einer linken Sammlungsbewegung unter den Genossen mit dem erneuten Eintritt in eine Merkel-Regierung stark anwachsen wird. Vordergründige machtstrategische Debatten werden die programmatischen Debatten, die notwendige Öffnung für neue und ungewöhnliche Ideen jedoch eher erschweren als ermöglichen. Zweifel, ob die SPD zur Erneuerung fähig ist, sind also angebracht. Denn noch etwas hat die Mitgliederbefragung offenbart: Die SPD hat sich mit dieser in die Geiselhaft ihrer Basis begeben. Sie ist abhängig von innerparteilichen Stimmungen, von den mittleren Funktionären und von innerparteilichen Kampagnen. Politische Führung hingegen ist in der SPD mittlerweile verpönt, Zukunftsdebatten werden auch deshalb nicht einfacher. Große Hoffnung, dass sich dies nun schnell ändert, darf man nicht haben. Und schon nach zwei Jahren, so hat es die SPD ihren Mitgliedern versprochen, soll eine innerparteiliche Bilanz der Arbeit der Koalition erfolgen. Ein erneutes Mitgliedervotum scheint dann nicht ausgeschlossen. Auch das wird das Regieren für die SPD und die politisch-strategische Neuaufstellung nicht erleichtern. Trotzdem ist es richtig, dass die SPD jetzt in die Regierung eintritt. Ein „Nein“ zur Koalition mit CDU und CSU wäre einem politischen Selbstmord gleichgekommen. Die Partei wäre implodiert, die gesamte Parteiführung desavouiert worden, auch die letzten treuen SPD-Wähler hätten sich mit Grauen abgewendet. Schnelle Neuwahlen hätten wohl zum endgültigen Absturz geführt. Immerhin gewinnt die SPD stattdessen jetzt etwas Zeit. Oder anders gesagt: Der Überlebenskampf der SPD hat an diesem Sonntag gerade erst begonnen.
|
Christoph Seils
|
Das Ergebnis beim SPD-Mitgliederentscheid steht fest: Mit deutlicher Mehrheit stimmen die SPD-Mitglieder für den Koalitionsvertrag mit der Union. Deutschland bekommt eine neue Regierung. Doch die Partei ist gespalten. Der Überlebenskampf der Sozialdemokraten geht weiter
|
[
"SPD",
"Mitgliederentscheid",
"Groko",
"große Koalition",
"Angela Merkel"
] |
innenpolitik
|
2018-03-04T11:49:26+0100
|
2018-03-04T11:49:26+0100
|
https://www.cicero.de//ergebnis-mitgliederentscheid-spd-mitgliedervotum-groko-olaf-scholz
|
CO2-Steuer - Im nationalen klimapolitischen Nebel
|
CO2-Steuer, Emissionsrechtehandel, CO2-Bepreisung: in der Diskussion um eine effektive und effiziente Klimapolitik kann man schnell den Überblick verlieren. Dabei sind sich Ökonomen und zunehmend auch Politiker weitgehend einig, dass CO2 ein Preisschild bekommen sollte. Wer CO2 emittiert, soll für die dadurch entstehenden Umweltkosten auch einstehen. Umstritten ist daher weniger das „ob“ als das „wie“ der CO2-Bepreisung: Soll der Staat CO2 mit einer Steuer belegen oder soll er besser CO2-Emissionsrechte in weiteren Sektoren versteigern? Worum es bei der CO2-Steuer geht, können Sie hier nachlesen. Mit dem Instrument CO2-Steuer kann der Staat recht zielsicher die Einnahmen des Staates und die Kosten für CO2-Emittenten – also Industriewerke, Autofahrer oder Mieter – erhöhen. Weit weniger sicher ist, ob die CO2-Emittenten durch die Steuer im gewünschten Maß ihren CO2-Ausstoß verringern. Ob die Klimaziele eingehalten werden, stellt sich erst im Nachhinein heraus. Als Reaktion kann der Staat, wie in der Schweiz, die Steuer dann Schritt für Schritt weiter erhöhen. Oder er kann wie in Frankreich durch empörte Bürger davon abgehalten werden. Im Ergebnis stochert jedes Land mit ganz unterschiedlichen CO2-Abgaben im nationalen klimapolitischen Nebel. Auf Akzeptanz in der Bevölkerung wird diese Methode mit Sicherheit nicht stoßen. Wie daraus eine abgestimmte, stimmige Strategie werden soll, um weltweit die Ziele des Pariser Abkommens zu erreichen, bleibt das Geheimnis jener Politiker, die eine CO2-Steuer fordern. Effektiver und effizienter ist es, den bestehenden EU-Emissionsrechtehandel (ETS) auf zusätzliche Sektoren wie Verkehr und Gebäude auszuweiten. Effektiv, da das ETS der Politik ermöglicht, zielgenau die europäischen Klimaziele zu erreichen. Emittiert wird in diesem System genau die Menge an CO2, für die die Politik zuvor Rechte ausgegeben oder versteigert hat. Effizient ist das ETS, da es länder- und sektorenübergreifend wirkt. Es ist damit das Pendant zum EU-Binnenmarkt. Während der Binnenmarkt dafür sorgt, dass Güter genau dort produziert werden, wo es am besten und am günstigsten möglich ist, sorgt das ETS dafür, dass CO2 genau dort vermieden wird, wo es am besten und am günstigen möglich ist. Dem Klima ist es jedenfalls egal, ob CO2 aus einem Auto in Deutschland oder einem Kohlekraftwerk in Polen oder China emittiert wird. Da bereits alle Mitgliedstaaten am ETS beteiligt sind, wirkt es - anders als die CO2-Steuer - bereits länderübergreifend. Da auch Länder außerhalb der EU – allen voran China – einen Emissionsrechtehandel etablieren, kommen wir mit einem ausgeweiteten ETS einer globalen Lösung des globalen Problems Klimawandel einen entscheidenden Schritt näher. Wenn wir das ETS um die Sektoren Verkehr und Wärme erweitern, erübrigt sich eine staatliche Feinsteuerung, die die Unternehmen und die Verbraucher gängelt und sie bereits heute an die Grenzen der Belastbarkeit führt. Statt auf Verbote, Steuern, Umlagen und Subventionen zu setzen, sollten wir die zusätzlichen Erlöse aus dem ETS nutzen, um die Energieverbraucher an anderer Stelle in gleicher Höhe zu entlasten – etwa indem wir die Ökosteuer, die Stromsteuer und die EEG-Umlage abschmelzen oder sogar abschaffen. Die Ausweitung des ETS ist damit nicht einfach eine weitere klimapolitische Maßnahme unter vielen. Sie ist vielmehr eine echte marktwirtschaftliche Alternative, mit der wir unserer Verantwortung für das Klima, für unseren Wohlstand und für den gesellschaftlichen Zusammenhalt gerecht werden.
|
Carsten Linnemann
|
Mit einer CO2-Steuer können weder die nationalen und schon gar nicht die internationalen Klimaziele genau erreicht werden. Die finanzielle Belastung der Bevölkerung wird weiter steigen, die Akzeptanz weiter abnehmen. Was es braucht, ist eine länder- und sektorübergreifende Lösung
|
[
"co2-steuer",
"co2",
"Klimawandel",
"Carsten Linnemann",
"CDU",
"Klima",
"Emissionsrechtehandel"
] |
wirtschaft
|
2019-05-03T07:07:45+0200
|
2019-05-03T07:07:45+0200
|
https://www.cicero.de//wirtschaft/co2-steuer-carsten-linnemann-cdu-gastbeitrag
|
DDR-Geschichte - „Wir haben die Logik der Stasi nicht durchbrochen “
|
Herr Kowalczuk, Sie monieren, dass der intensive Blick auf die Stasi das Bild der DDR verzerrt habe. War alles also doch nicht so schlimm?
Im Gegenteil. Die Perspektiven sind insofern verzerrt, als es sich bei der DDR um eine SED- und nicht um eine Stasi-Diktatur handelt. Die Staatssicherheit war ein zentrales Instrument, aber der Befehlsgeber war die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands. Das ist in der Öffentlichkeit und teilweise auch in der Wissenschaft aus dem Blick geraten. Insbesondere die Debatte um die Inoffiziellen Mitarbeiter (IM) war eine Stellvertreterdebatte. Das führte zu dem absurden Umstand, dass sich die entlastet fühlen konnten, die nicht dieses Label „IM“ hatten. So gerieten die eigentlichen Auftraggeber aus dem Blick. Jeder SED-Kreissekretär war mächtiger als ein Kreisdienstellenleiter der Staatssicherheit, jeder SED-Bezirkssekretär weitaus einflussreicher als der Chef einer Stasi-Bezirksverwaltung. Die Stasi war also kein Staat im Staate, sondern „Schild und Schwert der Partei“.
Ich gehe sogar noch einen Schritt weiter und sage, die Stasi war nicht nur Schild und Schwert, sondern ein fester Bestandteil, ein Strukturelement der Partei. In diesem Zusammenhang sprechen Sie davon, dass die Stasi bis 1989 mythisiert, ab 1990 dämonisiert wurde. Das könnte auch als Verharmlosung missverstanden werden.
Ich verharmlose nicht. Bei Lichte betrachtet, verschärfe ich das Problem. Mythisiert deshalb, weil es das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) geschafft hat, dass sich die Mehrheit in der DDR so verhielt, als sei die Stasi omnipräsent. Praktisch hatte die Stasi gar nicht die Möglichkeiten dazu. Aber sie hat ein Klima von Angst und Einschüchterung erzeugt.
Die Dämonisierung setzte nach der Revolution ein, als wir alle, mich eingeschlossen, diese Allmachtsbilder reproduzierten. Wir haben die Logik der Stasi nicht durchbrochen. Eine spektakuläre Enthüllung jagte die nächste. Das führte Anfang der 90er zu der Vorstellung, die DDR sei ein reiner Stasi-Staat gewesen – und das wirkt bis heute fort. Ich möchte aber, dass wir genauer hinschauen. Sie kritisieren die Fokussierung auf den Inoffiziellen Mitarbeiter. Gerade jene würden das Regime verharmlosen, die die SED-Diktatur zu stark auf das MfS und auf die IMs beschränken.
Unser IM-Bild ist geprägt von spektakulären Enthüllungen prominenter Einzelfälle. Dabei waren diese Fälle nicht typisch für ihre Arbeit. Die meisten waren nicht lebenslang IM, andere wiederum waren noch viel mehr als „nur“ IM, manche hatte eine IM-Registrierung, berichteten aber gar nicht. Ganz viele Leute, die zufälligerweise nicht dieses Label hatten, haben sich zum Teil schlimmer als die tatsächlichen Inoffiziellen Mitarbeiter verhalten. Mir geht es darum, die Komplexität dieser Gesellschaft in den Blick zu nehmen und die Stasi als ein wichtiges Herrschaftsinstrument zu begreifen. Aber nicht als das einzige. Gregor Gysi ist einer dieser prominenten Fälle. Halten Sie die IM-Frage auch hier für nebensächlich?
Ja. Bei Gysi interessiert mich nicht so sehr die Frage, ob er nun IM war oder nicht. Wenn man genau hinschaut, wird man etwas anderes feststellen: Wer überhaupt konnte in der DDR Rechtswissenschaften studieren? Das war kein freies Studium. Nur die Stasi, das Innen- oder Justizministerium – allesamt zentrale Säulen des SED-Herrschaftsapparates – konnten jemand dorthin delegieren. Wer ist anschließend Anwalt geworden? Am Ende der DDR gab es 592 Anwälte, in der BRD zur gleichen Zeit etwa 55.000. Gysi wurde bereits mit 23 Jahren Anwalt. Wenn man noch sieht, dass er bereits 1976 den ersten großen politischen Strafprozess als Anwalt bestreiten durfte, stellt sich nicht so sehr die Frage, ob er IM war oder nicht, sondern dann muss man feststellen, dass er von vorne bis hinten ein Mann der SED war. Er war ein Vertrauensanwalt der SED und ihrer wichtigsten Institutionen. Er hat, wie jeder Anwalt in der DDR, der in solche Fälle involviert war, natürlich mit der Stasi reden müssen. Er war eine Stütze des Systems, ein Teil der SED. Bei ihm ist in der Tat die Frage, ob er IM war oder nicht, nur deswegen hochpolitisch, weil er sie leugnet. Es wäre viel einfacher gewesen, wenn er von Anfang an gesagt hätte, natürlich hat es diese Gespräche gegeben. Manfred Stolpe beispielsweise ist deutlich besser aus der Nummer herausgekommen. Warum taucht der Name Gysi in Ihrem Buch in diesem Zusammenhang kein einziges Mal auf?
Erstens kenne ich das Presserecht und zweitens, viel wichtiger, geht es in meinem Buch gerade nicht um solche Einzelfälle. Mich interessiert das Gesamtsystem. Da muss ich in die Fläche und die Täler schauen und nicht nur auf Bergspitzen. Wenn Sie von der Logik der Stasi sprechen, die immer noch nicht durchbrochen wurde, dann missfallen Ihnen sicherlich auch die IM-Kategorien, die im Grunde immer noch Stasi-Kategorien sind.
Richtig, wir verwenden nach wie vor Stasi-Kategorien. Zur Historisierung gehört aber, dass wir Verhaltenstypologien in der Diktatur entwickeln. Bezogen auf Denunziantentum, auf Verrat, auf das Mitmachen. Hier brauchen wir andere Kategorien als die Begrifflichkeiten der Stasi. Wir sollten nicht fragen, ob jemand nun eine Anbindung an die Stasi hatte oder nicht, sondern was der Einzelne konkret in der Diktatur machte. Dann kommen wir zu differenzierteren Bildern, die überhaupt nicht zur Entlastung der Stasi beitragen, die aber zeigen, dass das ganze Herrschaftsgefüge der DDR weitaus komplexer war. Konkret, wie muss ich mir das Anwerben eines Inoffiziellen Mitarbeiters vorstellen?
Das lief in den 50er Jahren ganz anders ab als in den 80er Jahren. Im Kern kann man sagen, dass in den 50er Jahren sehr viele Menschen unter Druck angeworben worden. Viele sind erpresst worden, viele haben es auch freiwillig gemacht, versprachen sich Vorteile. In den 70er und 80er Jahren gehörte die Anwerbung über offenkundigen Druck eher zur Ausnahme. Andererseits muss man berücksichtigen, dass in einer Diktatur ohnehin auf alle ein großer Druck ausgeübt wird. Menschen reagieren darauf unterschiedlich, angeworben zu werden. Der eine erhoffte sich Vorteile im Beruf, der andere wollte seine Familie schützen, ein anderer aus voller ideologischer Überzeugung, der Nächste machte das, nicht nur aus purer Angst, sondern ohne groß darüber nachzudenken. Die Mehrheit – was ja auch zur Geschichte gehört – sagte nicht bewusst Nein. Nächste Seite: Die Stasi hatte ein Bildungsproblem Stimmt es, dass auch Minderjährige angeworben wurden?
Ja. Ende der 80er Jahre wurden mehrere hundert junge Menschen unter 18 als IM angeworben. Das ist das natürlich ein Sonderfall. Gleichzeitig aber ist es auch ein besonders schweres Verbrechen, Heranwachsende in ein solches System einzubinden. Viele leiden noch heute unter den psychischen Spätfolgen. Die Stasi hat ihr Betätigungsfeld immer weiter ausgeweitet. Das trieb absurde Blüten. Sie beschreiben einen Fall, bei dem Stasi-Mitarbeiter Bilder, die zu Propagandazwecken in Auftrag gegeben wurden, mit den Worten beurteilten: „Gesichtszüge ändern. Mehr Optimismus hineinlegen.“
Ja, kaum ein Bereich wurde ausgelassen. Im Laufe der Zeit hat sich das Aufgabenfeld der Stasi mehrfach verändert und vor allem erweitert. Erstens hatte die Stasi das Problem, dass die Masse der Mitarbeiter relativ jung war – im Gegensatz zur Führungsspitze, die von älteren Herren besetzt war. Da kam es zu Aufstiegskonflikten. Zweitens hatte die Stasi ein Bildungsproblem. Die Leute waren unterdurchschnittlich schlecht qualifiziert und ausgebildet. Es gab nur wenige Abiturienten – zuletzt etwa 20 Prozent – und kaum Hochschulabsolventen. Die Stasi hatte auch ein geschlechtsspezifisches Problem. Sie bestand größtenteils aus Männern.
Ja. Diese drei Dinge, das schlechte Bildungsprofil, die verstopften Aufstiegskanäle und die Männerdominanz haben dazu geführt, dass der Apparat eine ganze Reihe von Absurditäten vor sich hertrug. Und: Kaum eine Gruppe hat sich so stark gegenseitig ausgespitzelt wie Stasi-Offiziere. Das führte zu vielen neurotischen Störungen. Die Stasi selbst stufte den psychologischen Zustand ihrer eigenen Mitarbeiter als außerordentlich bedenklich ein. Das System fraß also zuallererst sich selbst: Stasimitarbeiter, gefangen im eigenen System.
Besonders hart traf es auch die Kinder von Stasimitarbeitern. Sie sind quasi alle mit dem Auftrag erzogen worden, du musst täglich lügen. Niemand durfte genau sagen, was Papa und Mama eigentlich den ganzen Tag machten und die durften zu Hause nicht darüber sprechen. Das müssen teilweise gespenstische Zustände gewesen sein. Sie schreiben in Ihrem Buch, die Wissenschaft der Spionagegeschichte sei eine mitunter kuriose Disziplin: Irre und Verrückte gebe es zuhauf. Wer das nicht glaube, solle doch mal einen Fachkongress besuchen. Dass müssen Sie uns erklären.
Das Problem an der Geheimdienstforschung ist, dass ganz viel im spekulativen Bereich bleibt. Im Fall der Staatssicherheit haben wir das Glück, dass wir zumindest einen ganz kleinen Teil der Akten haben. In anderen Bereichen gibt es gar keine Akten. Wenn man sich auf solchen Kongressen umschaut, dann sind da extrem viele Verschwörungstheoretiker unterwegs.
Auch in Bezug auf die Stasi, insbesondere auf den Auslandsnachrichtendienst, der Hauptverwaltung A (HV A), gibt es viel Spekulation. Ich erinnere an die These von der Unterwanderung der Bundesrepublik durch die Stasi. Die hat es ernsthaft nie geben. Es gab natürlich die Stasi in der Bundesrepublik. Aber auch hier: Bitte bei dem bleiben, was man belegen kann und nicht permanent übertreiben! Wir wissen letztlich über die HV A weitaus weniger, als viele, die durchs Land rennen, uns weiß machen wollen. Wenn ich an den DDR-Agenten im Kanzleramt Günter Guillaume denke, die Romeo-Methoden, bei denen DDR-Spitzel auf Sekretärinnen angesetzt wurden, oder Karl-Heinz Kurras, von dem wir heute wissen, dass er auch mit der Stasi zu tun hatte, dann zweifle ich an Ihrer These.
Ich werte die Einzelfälle keineswegs ab. Aber wenn man sich anschaut, wie viele Agenten es tatsächlich waren, entsteht ein anderes Bild. Ende der 80er Jahre hatte die Stasi etwa 500 Quellen in zentralen Institutionen der BRD – darunter Agenten, aber vor allem Personen, die nichtwissentlich von der Stasi abgeschöpft wurden. Zum Fall Guillaume: Wir wissen, dass der Wert seiner Informationen selbst innerhalb der Stasi als außerordentlich gering eingestuft wurde. Zum Fall Kurras: Er war SED-Mitglied, Stasispitzel und hat Geld kassiert. Aber jetzt zu sagen, man muss die Geschichte umschreiben, weil er im Auftrag der SED geschossen haben könnte? Nein. Er hat es schlichtweg nicht. Dafür gibt es keinen Beleg und es gibt auch keine schlüssige Erklärung, warum ihm die Stasi diesen Auftrag hätte geben sollen. Außerdem war Ohnesorg jemand, der völlig unbekannt war. Kurras war einfach ein durchgeknallter Polizist, der diese Typen hasste. Wir wissen auch, dass sich die Bewegung nach dieser Tat radikalisierte. Es brauchte gar kein bestimmtes, sondern allein ein zufälliges Opfer, um dieses Pulverfass zu entzünden.
Richtig. Sie unterstellen aber, dass die Stasi Interesse daran hatte, dass sich in West-Berlin eine radikale Studentenbewegung beziehungsweise Terrorismus herausbildete. Durchaus.
Erstens war diese Entwicklung nicht vorhersehbar. Zweitens gab es von Seiten der SED kein Interesse an einem solchen Szenario. Die SED hatte Angst vor Terroristen. Zwar hat sie später immer wieder Terroristen aktiv unterstützt, im Nahen Osten beispielsweise, aber eher aus der Überlegung heraus, dann selbst von diesem Terror verschont zu bleiben. Diese Argumentation kann ich auch auf die radikale Linke in der BRD anwenden. Immerhin hat die DDR die RAF unterstützt und Hilfe geleistet.
Sagen Sie. Dass die Stasi aktiv auf bundesdeutschem Gebiet mit der RAF kooperiert hätte, ist nicht belegbar. Dafür gibt es keine Hinweise. Aber es gibt Hinweise darauf, dass die RAF von Seiten der SED finanzielle Unterstützung erfuhr. Auch wurde doch den RAF-Terroristen Unterschlupf in der DDR geboten.
Hier trafen sich SED und RAF in ihrem Hass auf die Bundesrepublik und die „antiimperialistischen“ Feinde. Der Unterschlupf für RAF-Verbrecher in der DDR diente den eigenen Sicherheitsinteressen der DDR – so glaubte es jedenfalls die SED-Führung um Honecker und Mielke. Das kann man als aktive Unterstützung der RAF interpretieren. Muss man aber nicht.
Damit heiße ich das nicht gut, ich habe dafür auch kein Verständnis. Aber ich versuche als Historiker die Logik der SED-Herrschaft und das, was dahinter steht, zu verstehen und nicht permanent mit einer moralischen Erregung durchs Land zu rennen. Das haben wir 20 Jahre lang gemacht. Herr Kowalczuk, vielen Dank für das Gespräch Das Interview führte Timo Stein. Ilko-Sascha Kowalczuk: „Stasi konkret: Überwachung und Repression in der DDR“, Verlag: Beck. Dr. phil. Ilko-Sascha Kowalczuk, geboren 1967, Historiker, war sachverständiges Mitglied der Enquete-Kommission „Überwindung der Folgen der SED-Diktatur im Prozess der deutschen Einheit“ und arbeitet seit mehreren Jahren als Projektleiter in der Forschungsabteilung der Stasi-Unterlagen-Behörde.
|
Timo Stein
|
Er hat einen Historienstreit in der Stasi-Unterlagenbehörde heraufbeschworen: Ilko-Sascha Kowalczuk kritisiert die einseitige Überhöhung der Staatssicherheit und ihrer Inoffiziellen Mitarbeiter, wenn es um die Verbrechen der DDR geht. In seinem Buch „Stasi konkret“ fordert er eine Entdämonisierung von Erich Mielkes Geheimdienst
|
[] |
innenpolitik
|
2013-03-15T09:49:11+0100
|
2013-03-15T09:49:11+0100
|
https://www.cicero.de//innenpolitik/ddr-geschichte-wir-haben-die-logik-der-stasi-nicht-durchbrochen/53836
|
Stasi-Verdacht - Wie sich ein Journalistenfunktionär gegen Journalisten wehrt
|
Der Ärger begann mit einer Exklusivmeldung der Abendschau des Rundfunks Berlin-Brandenburg (RBB) Mitte September: „Stasi-Verdacht gegen Chef des Berliner Journalistenverbandes“. Der Fotograf Bernd Lammel soll demnach in den 1980er Jahren Informeller Mitarbeiter (IM) gewesen sein. Der Stasi-Unterlagenbehörde lägen Hinweise vor, die es rechtlich erlauben, den Decknamen IM „Michael“ Bernd Lammel zuzuordnen – darunter zwei Karteikarten mit identischer Registraturnummer. Sein Einsatzort: Hauptabteilung II, Spionageabwehr. Einmal soll es gemäß der Unterlagen sogar zu einem Treffen zwischen IM „Michael“ und der Stasi in einer konspirativen Wohnung gekommen sein. [[{"fid":"67816","view_mode":"full","type":"media","attributes":{"height":422,"width":750,"style":"width: 350px; height: 197px; margin: 3px 5px; float: left;","title":"Akte des IM \"Michael\". Quelle: BStU","class":"media-element file-full"}}]]Der Bericht erschien kurz nachdem die „Bild“-Zeitung auch andere Journalisten einer Zusammenarbeit mit der DDR-Geheimpolizei verdächtigt hatte. So sollen Journalistenfunktionäre in Thüringen, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Brandenburg in dem früheren sozialistischen Staat spioniert haben. In Sachsen-Anhalt trat der gesamte Landesvorstand des Deutschen Journalisten Verbandes (DJV) zurück, nachdem die Vorwürfe gegen drei der sechs Mitglieder bekannt geworden waren. Der Gesamtvorstand forderte alle eigenen Funktionsträger auf, sich bei der Stasi-Unterlagenbehörde überprüfen zu lassen. Der Berliner DJV-Chef Bernd Lammel bestritt laut dem RBB-Bericht am Telefon, Inoffizieller Mitarbeiter gewesen zu sein. Er habe aber eingeräumt, sich mit einem Stasi-Mitarbeiter getroffen und Informationen weitergegeben zu haben. Lammel lehnte einen Rücktritt von seinem Vorstandsposten ab. Es folgte weitere Berichterstattung – bundesweit. Der Tenor: Steht die Journalistengewerkschaft nicht gerade für Transparenz und Aufklärung? Wie passt das dann mit einer solchen Personalie zusammen? Einen Monat später verfasste Lammel eine Eidesstattliche Erklärung: „Ich habe zu keiner Zeit wissentlich für das Ministerium der Staatssicherheit der ehemaligen DDR (MfS) gearbeitet oder mich bereit erklärt, diesem Informationen zu liefern.“ Ihm sei damals nicht bekannt gewesen, dass die Stasi Unterlagen über ihn angelegt oder einem Decknamen IM „Michael“ zugeordnet habe. Lammel ergänzte, dass er bei „Befragungen“ zu Vorwürfen gegen sich Stellung genommen habe. Ab 1987 sei er davon ausgegangen, „dass es sich um Personen des MfS handelte“. Prompt verwendete der Mediendienst „Kress“ Lammels Einlassungen gegen ihn und veröffentlichte eine Expertise von Helmut Müller-Enbergs, Politikwissenschaftler an der dänischen Syddansk-Universität: Durch die Bereitschaft, an Personen des MfS Informationen zu liefern, habe Lammel die Merkmale erfüllt, „ihn als IM des MfS bezeichnen zu können“. Die Belege in den bislang aufgefundenen Materialen seien „zureichend“, in dem Betroffenen IM „Michael“ zu sehen. Bernd Lammel zeigte sich bestürzt. Er sieht in der Berichterstattung eine Missachtung ethischer Prinzipien. Auf dem bundesweiten DJV-Verbandstag in Fulda Anfang November sprach er von einer „Rufmord- und Verleumdungskampagne“. Es gehe gar nicht mehr um journalistische Aufklärung. Die RBB-Reporterin Gabi Probst weist diesen Vorwurf zurück. Zwei Tage vor der Sendung schickte sie Lammel ihre Fragen und bot ihm auch ein Interview an. Lammel schlug ein persönliches Gespräch vor. Doch anderthalb Stunden vor der Sendung sagte er den Termin per E-Mail ab. Seitdem habe er überhaupt nicht mehr mit Gabi Probst geredet. Lammel hielt dem RBB, der Bild-Zeitung und Kress vor, E-Mails „wortgleich Copy & Paste“ geschickt zu haben. Er sprach von „Trittbrettfahrern“, die sich „kampagnenartig organisiert“ hätten, was die Betreffenden jedoch bestreiten. Er wiederholte, was ein anderer zunächst vermutet hatte: „Es könnte auch sein, dass persönliche Rechnungen oder innerverbandliche Dinge auf diese Art und Weise versucht worden wären zu klären.“ Hintergrund ist, dass der Deutsche Journalisten Verband zwei Gliederungen in der Hauptstadt hat: den DJV Berlin mit Lammel an der Spitze und den Journalistenverband Berlin-Brandenburg (JVBB). Jahrelang gab es Versuche, beide Gewerkschaften zu fusionieren. Doch die Gespräche sind immer wieder gescheitert. Der JVBB weist jede Einflussnahme im Fall Lammel von sich. Lammel kritisierte, die RBB-Reporterin Gabi Probst habe die Stasi-Akten seit fünf Jahren „als kleine Vorratsdatenspeicherung in ihrem Schreibtisch gehalten“, um sie genau am Vorabend einer Verbandsvorstandssitzung auf den Sender zu bringen. Probst wehrte sich in einem offenen Brief gegen die Vermutung, den DJV Berlin mit der Veröffentlichung schaden zu wollen: Der Termin sei „blanker Zufall“, der Fernsehverantwortliche habe gerade Platz in der Sendung gehabt. „Wenn ich das gewollt hätte, was Sie mir unterstellen, dann hätte ich viel früher gesendet. So zum Beispiel, als Sie vor Jahren vom Stellvertreter zum Vorsitzenden gewählt wurden oder als die Fusion beider Verbände in Berlin auf der Tagesordnung stand. Nichts dergleichen ist jetzt der Fall!“ Ist der Fall Lammel also ein Beispiel für eine unangemessene Skandalisierung durch die Medien? Fakt ist: Lammels Unterlagen sind nicht geeignet, ihm Täterschaft und aktives Denunzieren vorzuwerfen. Bislang ist zudem keine schriftliche IM-Verpflichtungserklärung vorhanden, mit dem sich die Informanten in der Regel bereit erklärten, für das MfS zu arbeiten. Auch habe er der Stasi „ausweislich der wenigen vorliegenden Dokumente keinerlei belastende, ja nicht einmal verwertbare Informationen geliefert“, sagt Ilko-Sascha Kowalczuk, Forscher beim Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen (BStU). Der Politikwissenschaftler Enbergs indes betont gegenüber Cicero: Auf den Inhalt der Informationen komme es mit Blick auf die gesetzlichen IM-Definitionen gar nicht an. Kowalczuk bestreitet nicht, dass das MfS Lammel als IM registriert hat. Ungewöhnlich sei aber, dass „Michael“ vier Jahre lang als „IM-Vorlauf“ angelegt wurde. Eine Zeit, in der er selbst beobachtet wurde. „In der Regel dauerte dieser Vorgang nicht länger als ein Jahr. Offenbar lag der Stasi nicht genug Material vor, um ihn final zu verpflichten.“ In den Unterlagen befindet sich der IM-Eintrag „Michael“ im Vorgangsheft des Führungsoffiziers Peter Geffke. IM „Michael“ hat laut den Akten des Majors außerdem Informationen zu einem Empfang des britischen Botschafters im Februar 1989 geliefert. War Lammel also die Quelle? RBB-Reporterin Gabi Probst, die seit 15 Jahren die Identität früherer Stasi-Mitarbeiter aufdeckt, ist sich sicher: „Woher soll er sonst die Informationen bekommen haben? Zumal er am Telefon zugab, sich mit diesem Stasi-Mann getroffen zu haben. Gern hätte ich erfahren, warum und als was er das tat.“ Kowalczuk jedoch sagt, auch andere Personen hätten bei einer öffentlichen Veranstaltung Zuträger sein können. Ungewöhnlich sei zudem, dass auf dem Original die handschriftliche Notiz „ZMA“ steht, wonach das Material zum Botschaftsbesuch einzig in die „Zentrale Materialablage“ der Stasi gebracht worden sei, statt es in Lammels IM-Akte zu heften. Die Frage muss also nicht mehr lauten: War Bernd Lammel IM „Michael“? Sondern: War es möglich, dass DDR-Bürger Inoffizielle Mitarbeiter des MfS waren, ohne davon zu wissen? Der Historiker Kowalczuk sagt: „Natürlich konnte das vorkommen.“ Stasi-Forscher Müller-Enbergs widerspricht: Zwar habe im Regelfall kein Betroffener geahnt, dass er vom MfS als „Inoffizieller Mitarbeiter“ geführt wurde. Im Prozess des Kennenlernens sei es jedoch üblich gewesen, sich ab einem geeigneten Zeitpunkt als Vertreter des Ministeriums zu erkennen zu geben. „Insoweit wussten IM regelmäßig, dass ihr Gesprächspartner vom MfS war, mit dem bestimmte Fragen erörtert wurden.“ Auch die Abteilung der Stasi-Unterlagenbehörde, die die Medienanträge bearbeitet, sieht das anders als Kowalczuk. In dem Begleitschreiben zur Lammel-Akte heißt es: „Anhand verschiedener Karteikarten sowie nach Auswertung der Sachakten (…) ist nachvollziehbar, dass mit dem IM „Michael“ ab 1988 aktiv zusammengearbeitet wurde.“ Dass sich Lammel gegen die jüngsten Berichte wehrt, ist nicht überraschend. Der Befund „Inoffizieller Mitarbeiter“ ist ein Stigma für Betroffene. Der Thüringer Linken-Abgeordnete Frank Kuschel, der seine Stasi-Verstrickung früh aufgearbeitet hat, muss sich bis heute schlimme Anwürfe gefallen lassen. Dabei war IM nicht gleich IM. Einige wurden vom Geheimdienst erpresst. Daran glaubt auch Lammel. Auf dem DJV-Verbandstag sagte er: „Ich war zu dieser Zeit alleinerziehender Vater… und massiv unter Druck gesetzt.“ Aber warum weist er erst in einer Erklärung jegliche wissentliche Zusammenarbeit mit dem MfS von sich und spricht dann auf dem Kongress von einer Zwangslage?
|
Petra Sorge
|
Gegen Bernd Lammel, den Chef des Deutschen Journalistenverbandes Berlin, gibt es Vorwürfe, als Inoffizieller Mitarbeiter gearbeitet zu haben. Ob er davon wusste oder hätte wissen müssen, ist unklar. Seitdem Journalisten darüber berichteten, sieht er sich als Opfer einer „Kampagne“. Der Fall zeigt, wie sich Perspektiven ändern können.
|
[] |
kultur
|
2015-12-17T10:36:01+0100
|
2015-12-17T10:36:01+0100
|
https://www.cicero.de//kultur/djv-chef-unter-stasi-verdacht-wie-sich-ein-journalistenfunktionaer-gegen-journalisten-wehrt
|
Jeremy Corbyn - Hat die Labour-Partei ein Antisemitismus-Problem?
|
Seit Jeremy Corbyns Wahl zum Labour-Chef 2015 und dem damit einhergehenden Ruck nach links macht die altehrwürdige Partei immer wieder mit antisemitischen Skandalen Schlagzeilen. Londons Altbürgermeister Ken Livingstone etwa behauptete 2016, „auch Hitler sei Zionist gewesen“. Erst im Mai 2018 musste er die Labour-Partei verlassen. Jüngster Anlass für Aufregung ist eine grundsätzliche Frage: Wie definiert man Antisemitismus? Im Katalog der „Internationalen Allianz für das Gedenken an den Holocaust“ IHRA gibt es eine lange Liste dafür, was unter Antisemitismus fällt. Die deutsche und die britische Regierung haben sich dieser Sichtweise angeschlossen. Die britische Labour-Partei im Prinzip auch – allerdings wurden in ihrem Kodex in diesem Juli einige Punkte gestrichen. Dort, wo es um Israel-Kritik geht, will Jeremy Corbyns Labour-Partei eine andere Linie vorgeben. Es ist demnach nicht antisemitisch zu sagen, dass schon die grundsätzliche Idee eines Staates für das jüdische Volk ein „rassistisches Unterfangen“ wäre. Für viele Labour-Mitglieder ist dies skandalös. Vor allem jüdische Abgeordnete lehnen sich gegen den neuen Kurs auf. Margaret Hodge, die aus der deutschen Industriellenfamilie Oppenheimer stammt und einige Verwandte in der Shoah verloren hat, ging mit ihrer Kritik an die Öffentlichkeit: „Für mich ist es so, als hätte meine Partei die Erlaubnis gegeben, Antisemitismus nicht mehr zu verfolgen.“ Im Parlament rief die 74-jährige Abgeordnete wütend ihrem Parteichef entgegen: „Du bist ein Antisemit und ein Rassist.“ Darauf brach eine Welle antisemitischer Kommentare auf sozialen Medien über sie hinein: Sie sei ein „zionistisches Biest“ und „von zionistischen Auftraggebern bezahlt“. Die Serie antisemitischer Äußerungen, die an die Öffentlichkeit gebracht wurden, begann 2016 mit einem Tweet von Naz Shah. Die Labour-Abgeordnete aus Bradford hatte 2014 eine Grafik weiterverbreitet, in der Israel in die Landkarte der Vereinigten Staaten inkludiert worden war mit der Bemerkung: „Lösung für den Israel-Palästina-Konflikt – Umsiedlung Israels in die USA. Problem gelöst.“ Shah wurde suspendiert. Sie entschuldigte sich dann öffentlich: Sie sei es nicht, aber ihr Tweet sei antisemitisch gewesen. Naz Shah stammt aus einer britisch-pakistanischen Familie, sie wuchs ohne Vater auf, wurde in Pakistan zwangsverheiratet, nachdem ihre Mutter einen Mann vergiftet hatte, der sie misshandelt hatte und dafür 14 Jahre ins Gefängnis musste. Die 44-Jährige hat sich aus diesem repressiven Umfeld selbst befreit, sie ist eine mutige Feministin, die in ihrem Umfeld aber für eines offenbar nicht sensibilisiert wurde: für jüdische Belange. Nach einigen Monaten wurde Naz Shah 2016 wieder aktives Labour-Mitglied. Seit Juli 2018 ist sie Frauenministerin im Schattenkabinett von Jeremy Corbyn. Das ist ein Teil des Problems der heutigen Labour-Partei: Viele der jungen, engagierten neuen Labour-Aktivisten stammen aus asiatischen Einwandererkreisen, denen der europäische Diskurs nach Auschwitz gleichgültig oder auch fremd ist. Manche von ihnen kritisieren Israel mit antisemitischen Äußerungen. Nicht alle sind wie Naz Shah beherzt genug, dies zu erkennen und um Entschudligung zu bitten. Ein weiterer Aspekt ist die Haltung der alten, linken Friedensaktivisten, die sich wie Corbyn seit den 70er Jahren für Menschenrechte in allerlei Konflikten in der Welt eingesetzt haben: gegen die Apartheid in Südafrika wie gegen die Unterdrückung der Palästinenser in Israel und in den besetzten Gebieten. Das war im Falle Corbyns per se nicht antisemitisch. Doch man trifft auf Solidaritäts-Demos für die Rechte der Palästinenser durchaus auch Menschen mit antisemitischen Haltungen. Als er noch links außen hinten im Parlament saß, schadeten Corbyn seine Kontakte nicht. Doch als Parteichef der gesamten Labour-Party repräsentiert der 69-jährige auch viele moderate Juden, die sich bisher in der Partei zu Hause fühlten. Corbyn hat sich in den vergangenen drei Jahren als Chef der Labour-Party schwer getan, sich klar von so manchen alten Kontakten zu distanzieren. 2016 entschuldigte er sich dafür, dass er einmal die palästinensische Hamas-Bewegung als „Freunde“ bezeichnet hat. Doch immer wieder tauchen neue Videoclips auf: 2010 etwa trat Corbyn bei einem Event „Nie wieder – für niemanden“ auf. Ein jüdischer Holocaust-Überlebender verglich dort die israelische Politik gegenüber Gaza mit einem Nazi-Konzentrationslager. Corbyn entschuldigte sich erst vergangenen Mittwoch für seine Anwesenheit bei dieser Veranstaltung: „Ich billige diese Meinung nicht.“ Am Donnertag aber tauchte wieder ein neues Video aus dem Jahr 2010 auf, in dem Corbyn auf einer Palästina-Solidaritäts-Veranstaltung sagte: „In Gaza habe ich den psychologischen Schaden gesehen, den eine Bevölkerung erleidet, wenn sie so lange wie Leningrad oder Stalingrad unter Belagerung steht.“ Die Zivilisten in Gaza oder den sowjetischen Städten im Zweiten Weltkrieg hätten einer solchen Situation sicher nie ausgesetzt sein sollen, das ist klar. Doch die Verbindung beider Situationen macht die Aussage prekär. Wer schneidet Gaza von der Welt ab? Israel. Und wer belagerte Stalingrad? Nazi-Soldaten. Der indirekt angestellte Vergleich hat für viele innerhalb – und im übrigen auch außerhalb – der Labour-Partei einen schlechten Beigeschmack. Was die Sachlage in der bitteren Diskussion um Israel, die Juden und die Labour-Party noch dramatisiert, ist die Tatsache, dass die rechte israelische Regierung dem eigenen Land, das als Hoffnung für alle verfolgten Juden nach dem Zweiten Weltkrieg gegründet wurde, seit Jahren immer schärfere anti-arabische Gesetze gibt. Erst im Juli wurde in der Knesset das Gesetz zum „jüdischen Nationalstaat“ verabschiedet, das besagt, dass nur Juden in Israel das Recht auf Selbstbestimmung haben. Das finden viele, und nicht nur in Corbyns Kreisen, rassistisch. Anderen fehlt deshalb ein klarer Ordnungsruf des Parteifchefs: Kritik an den Gesetzen der israelischen Regierung kann erfolgen, ohne dass antisemitisch gehetzt wird – indem zum Beispiel alle Juden, auch die in Britannien wie Margaret Hodge, für israelische Politik verantwortlich gemacht werden. Corbyn sagte bisher aber nur: „Ich bedauere, dass mein Verhalten Bedenken und Besorgnis ausgelöst hat.“ Inhaltlich geklärt ist damit wenig. Längst treffen die antisemitischen Äußerungen auch jene, die Labour zu einer Massenpartei von knapp 600.000 Mitgliedern gemacht haben. Jon Lansman, den Chef der Pro-Corbyn-Bewegung „Momentum“, meint etwa im Gespräch mit Cicero: „Ich bin Jude und erlebe Antisemitismus oft genug selbst. Auch von Labour-Mitgliedern auf meinem Facebook-Feed. Es war mir nicht klar, wie weit verbreitet das Problem ist.“ Jon Lansman hält es für sinnlos zu glauben, dass man Rassismus „ausrotten” kann, wie es jetzt oft von der Labour-Spitze angekündigt wird: „Vorurteile wird es immer geben, wir können nur aufklären und für ein gewisses Bewusstsein kämpfen.” Vor allem im globalisierten, aufgeklärten London wird Jeremy Corbyn die saloppe Handhabung von antisemitischen Vorfällen auch von den Wählern bereits übel genommen. Die Eroberung der konservativen Bezirke bei den Kommunalwahlen zum Beispiel misslang am 3. Mai. Das lag an der Kontroverse um Antisemitismus ebenso wie an seiner lauwarmen Kritik am Brexit. Corbyns Sanfte-Brexit-Linie ähnelt jener der Regierung. Das grenzt bei einem Oppositionschef an Themaverfehlung. Der Labour-Chef ist sich allerdings selbst inhaltlich treu und verbiegt sich nicht, nur weil die konservative Tory-Partei heute eine EU-feindliche Politik verfolgt. Corbyn ist ein Sozialist alter Schule, der immer in der EU-skeptischen Friedensszene zu Hause war. Solange Labour in den Umfragen vor den Tories führt – Mitte Juli waren es 40 zu 36 Prozent – wird Corbyns Führung kaum in Frage gestellt. Das ist auch jungen, kritischen Labour-Ideologen anzumerken, die sonst zum anti-rassistischen, pro-europäischen Lager gehören. Der Publizist Owen Jones wiegelt im Gespräch mit Cicero ab: „Wir werden den Antisemitismus ausmerzen. Der ist aber kein Massenphänomen, es betrifft nur eine kleine, lautstarke Minderheit.“ Die Diskussion über Judenhass in der Partei wird nach der Sommerpause jedenfalls mit Sicherheit weitergehen. Im September wollen die Labour-Abgeordneten noch einmal über die IHRA-Definition von Antisemitismus abstimmen.
|
Tessa Szyszkowitz
|
Die britische Labour-Partei ringt um ihren Israel-Kurs. Einige Angeordnete fallen mit antisemitischen Äußerungen auf. Diese werden auch Parteichef Jeremy Corbyn vorgeworfen. Doch klar distanziert hat auch er sich nicht. Über die moralischen Standards einer europäischen Volkspartei
|
[
"Labour",
"Jeremy Corbyn",
"Antisemitismus",
"Großbritannien",
"Israel"
] |
außenpolitik
|
2018-08-03T12:21:21+0200
|
2018-08-03T12:21:21+0200
|
https://www.cicero.de//aussenpolitik/Labour-Jeremy-Corbyn-Antisemitismus-Grossbritannien-Israel
|
Klimapolitik der Ampelkoalition - Planlos in die Planwirtschaft
|
Eigentlich sollte die Sache klar sein. Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs konnte sich jeder mit eigenen Augen davon überzeugen, dass die sozialistische Planwirtschaft nicht nur die Wirtschaft, sondern auch die Gesellschaften, denen sie aufgezwungen wurde, zugrunde gerichtet hat. Besonders offensichtlich war ihr Versagen im Bausektor und beim Umweltschutz. Die DDR hatte es geschafft, die Altbauten bis auf die Substanz abzuwirtschaften und eine Neubauwüste zu hinterlassen, die aus monotonen Plattenbauten bestand, die kleine Wohnungen niedrigster Qualität boten, die wegen der eklatanten Wohnungsnot dennoch heiß begehrt waren. Bis zum Schluss wurden in der DDR viele Ehen nur deshalb geschlossen, weil sich durch die Heirat die Aussichten auf die begehrten Zweiraumwohnungen in der Platte verbesserten. Die staatlich gesteuerte Herstellung von Wohnraum hinterließ ein Desaster. Bei der Umwelt war es nicht besser. Wer wissen wollte, warum die Lebenserwartung in der DDR um Jahre geringer war als in Westdeutschland, musste nur den Universitätsturm im Zentrum von Leipzig besteigen. Als ich dies 1989 tat, hätte ich eigentlich einen herrlichen Blick auf die Stadt haben müssen, denn es war ein strahlend schöner Tag, aber stattdessen sah ich auf eine undurchdringliche Smog-Schicht, die über der ganzen Stadt lag. Nein, wirklich jeder konnte sich überzeugen, dass die Planwirtschaft vollständig gescheitert war. Die westliche Marktwirtschaft war ihr haushoch überlegen. Offensichtlich ist das Gedächtnis vieler Politiker und vieler Journalisten zu kurz, um sich an diese Erfahrung zu erinnern. Wie anders ist es beispielsweise zu erklären, dass in Berlin von 2016 bis 2020 mit Frau Lompscher eine Bausenatorin der Linken im Amt war, die als SED-Mitglied ihre ersten Berufserfahrungen an der Bauakademie der DDR gesammelt hatte? Und wie kommt es, dass viele Politiker und Journalisten die Lösung von Problemen auf dem Wohnungsmarkt in einem staatlich gelenkten Wohnungsbau sehen? Noch dramatischer ist die Situation in der Umweltpolitik und hier vor allem beim Klimaschutz. Auch hier stellt sich die Frage, ob man beim Umbau der Wirtschaft auf Märkte vertraut und den Emissionshandel oder eine CO2-Steuer als Instrument wählt, oder zu Command and Control, also der planwirtschaftlichen Variante, greift. Letzteres ist inzwischen die Regel und die Verbote und Gebote, die der staatliche Planer einsetzt, um die große Transformation zu erzwingen, greifen immer tiefer in die individuellen Freiheitsrechte ein und zeigen immer deutlicher die dramatischen Folgen der Planwirtschaft. Wir sollen nicht mehr wählen dürfen, welche Art von Auto wir fahren oder wie wir unsere Häuser bauen. Die Technologie, die für die Energieerzeugung eingesetzt werden darf, wird staatlich festgelegt, und ob wir das Flugzeug benutzen oder ob und wo wir überhaupt noch Urlaub machen, wird in entsprechenden Kreisen schon lange hinterfragt. Auch das Ziel ist durch den Plan des Staates fest und unverrückbar vorgegeben: Deutschland muss klimaneutral werden, egal wie. Dieses Ziel zu hinterfragen ist ausgeschlossen. Wer es dennoch tut, wird ins moralische Abseits gestellt – eine Methode, die auch in der DDR sehr beliebt war. Dabei sollte doch eigentlich klar sein, dass es beim Klimaschutz nicht darum geht, wer als erster klimaneutral ist, sondern darum, die globalen CO2-Emissionen so weit abzusenken, dass der Erderwärmung Einhalt geboten wird. Deutschland mit der klimapolitischen Brechstange klimaneutral zu machen, führt zu extrem hohen Lasten und Kosten. Es wäre mit Leichtigkeit möglich, eine Klimapolitik zu betreiben, bei der Deutschland nicht klimaneutral wird, weniger Lasten entstehen, aber deutlich mehr CO2 eingespart wird – aber das sieht der Plan leider nicht vor. Ganz besonders deutlich wird der Unterschied zwischen Markt und Plan, wenn es darum geht, im Wärmemarkt CO2 einzusparen. Minister Habeck und sein Staatssekretär Graichen haben sich für planwirtschaftliche Brachialgewalt entschieden. Sie verbieten einfach fossil betriebene Heizungen und zwingen Hausbesitzer zum Einbau einer Wärmepumpe. Das könnte Sie auch interessieren: Sowohl die dadurch verursachten Kosten als auch die Menge CO2, die dadurch eingespart wird, variieren sehr stark, weil beides von einer ganzen Reihe von Parametern abhängt. Das Alter des Hauses spielt eine Rolle, die Dämmung, die Heizungsanlage und nicht zuletzt die Frage, welche Heizung ersetzt wird. Die Kosten bewegen sich allerdings grundsätzlich im fünfstelligen Bereich und die eingesparten CO2-Mengen sind überschaubar. Da Wärmepumpen erst dann klimaneutral sind, wenn der Strom, den sie massenhaft verbrauchen, ausschließlich aus erneuerbaren Energien stammt, lassen sich durch eine Wärmepumpe nur 3 bis 4 Tonnen CO2 pro Jahr einsparen. Die Kosten pro Tonne variieren dabei von einigen hundert bis weit über tausend Euro pro Tonne. Für die wenigsten Hausbesitzer rechnet sich die Investition und insbesondere die Besitzer von Altbauten können sich sehr ernsten Problemen gegenübersehen, weil sie unter Umständen nicht nur die Wärmepumpe, sondern auch eine zusätzliche Hausdämmung finanzieren müssten, wenn sie nicht frieren wollen. Das kann zu extremen Belastungen führen. Deshalb wird der ersten Regulierung auch gleich die zweite nachgeschoben: Um die schlimmsten Folgen abzufedern wird es Transfers geben, d.h. alle Steuerzahler werden zur Deckung der viel zu hohen Kosten herangezogen. Wie sieht die marktwirtschaftliche Alternative aus? Sie besteht darin, den Wärmemarkt in den Europäischen Emissionshandel (ETS) zu integrieren. Die EU legt für den ETS-Sektor (zu dem dann auch der Wärmemarkt zählt) eine CO2 Höchstmenge fest, die pro Jahr emittiert werden darf und die jährlich abgesenkt wird. Über diese Menge werden Emissionsrechte ausgegeben, die handelbar sind. Jeder, der CO2 emittiert, muss ein entsprechendes Recht erwerben. Da die Anzahl der Emissionsrechte fix ist, bedeutet das, dass die Emissionen, die beispielsweise durch eine Ölheizung verursacht werden, an anderer Stelle eingespart werden müssen. Der Preis für das Emissionsrecht signalisiert die Kosten, die dabei anfallen. Besitzer von fossilen Heizungen müssten deshalb die Kosten für die Einsparung der CO2-Emissionen übernehmen, die sie selbst verursachen, oder sie sparen diese Kosten, indem sie eine CO2-freie Heizung einbauen. Die Entscheidung darüber trifft allein der Hausbesitzer und natürlich werden dabei die jeweiligen Gegebenheiten berücksichtigt. Im Ergebnis kommt es nur dort zu einer neuen Heizung, wo die Kosten niedriger sind als bei allen anderen Möglichkeiten der CO2-Vermeidung, die es im ETS-Sektor gibt. Das dürfte äußerst selten der Fall sein. Die Marktlösung sichert, dass die CO2-Emissionen in Europa sicher und planbar abgesenkt werden. Sie überlässt dabei die Entscheidung über die Art und Weise der Vermeidung von CO2 den einzelnen Emittenten, kommt fast ohne staatlichen Zwang aus und minimiert die Lasten und Kosten, die die Klimapolitik nun einmal auslöst. Wo ist der Haken? Im Grunde gibt es keinen, aber die Vertreter einer planwirtschaftlichen Lösung haben einen erfunden: Die Marktlösung stellt nicht sicher, dass Deutschland schnellstmöglich klimaneutral wird. Es könnte ja sein, dass die Vermeidung von CO2 außerhalb Deutschlands viel günstiger möglich ist und der Markt deshalb auf nicht-deutsche Vermeidungen zurückgreift. Das ist eigentlich sehr vernünftig, aber mit der Planvorgabe nun einmal nicht zu vereinbaren. Am Plan darf nicht gezweifelt werden. Der Plan ist auf jeden Fall richtig. So war es in der Sowjetunion und so war es in der DDR. Und so soll es wohl auch bei uns sein. Leider ist dieser Vergleich keine Übertreibung, wie sich an dem letzten Beispiel für planwirtschaftliche Klimapolitik zeigt. Kanzler Scholz hat gesagt, dass in Zukunft fünf bis sechs Windkraftanlagen pro Tag errichtet werden sollen. Das klingt wie die Verkündigung des nächsten 5-Jahresplans durch die SED. Aber die SED hat wenigstens sinnvolle Ziele gesetzt: Wohnungen und Autos bauen. Windkraftanlagen sind als klimapolitisches Instrument dagegen vollkommen sinnlos. Wie bereits gesagt, die EU legt für den ETS-Sektor eine Höchstmenge für die CO2-Emissionen fest und vergibt eine entsprechende Menge an Emissionsrechten. Der Energiesektor ist Teil des ETS-Sektors. Wenn also Deutschland versucht durch Windkraft klimaneutral zu werden, hat das auf die Anzahl der Emissionsrechte in Europa keine Auswirkung. Die Rechte, die wir in Deutschland durch Windkraft sparen, werden verkauft und an anderer Stelle ausgeübt. Es kommt deshalb nicht zu einer Einsparung von CO2 in Europa, sondern nur zu einer Verlagerung der Vermeidung nach Deutschland – also dorthin, wo es besonders teuer ist. Den anderen Europäern kann es recht sein, denn die horrenden Kosten tragen ja allein die Deutschen. Um es polemisch zuzuspitzen: Der planwirtschaftliche Ausbau der Windkraft in Deutschland ist die schlechteste denkbare Klimapolitik, denn sie bezahlt einen sehr hohen Preis für keinen Klimaschutz – so etwas hat nicht einmal die SED hinbekommen.
|
Joachim Weimann
|
In der ökologischen Transformation der Wirtschaft setzt die Ampel lieber auf staatliche Planvorgaben als auf die freien Kräfte des Marktes. Dies ist nicht nur teuer, sondern geht auch mit tiefen Eingriffen in die individuellen Freiheitsrechte einher.
|
[
"Planwirtschaft",
"Emissionsrechtehandel",
"Robert Habeck",
"Ampelkoalition"
] |
wirtschaft
|
2023-03-15T14:11:02+0100
|
2023-03-15T14:11:02+0100
|
https://www.cicero.de/wirtschaft/planwirtschaft-emissionsrechtehandel-roberthabeck-ampelkoalition
|
Peer Steinbrück – „Ich würde Ludwig Erhard für die SPD okkupieren“
|
Text…
|
Peer Steinbrück im Cicero-Foyergespräch über Europa, den Finanzkapitalismus und die Kanzlerin
|
[] |
innenpolitik
|
2012-12-03T12:26:58+0100
|
2012-12-03T12:26:58+0100
|
https://www.cicero.de//innenpolitik/ich-wuerde-ludwig-erhard-fuer-die-spd-okkupieren/52746
|
|
Sven-Christian Kindler – Außen FDP, innen Grünen-Fundi
|
„Bingo!“, ruft ein Störer. Sven-Christian Kindler stockt; der
grüne Bundestagsabgeordnete spricht gerade zu Besuchern aus seinem
niedersächsischen Provinz-Wahlkreis: Rotenburg
I-Soltau-Fallingbostel. Der Zwischenrufer springt aus seinem Stuhl.
Er hat beim „Bullshit-Bingo“ genau auf die drei Worte getippt, die
in der Politiker-Ansprache gerade gefallen sind: „solidarisch“,
„grün“ und „Wahlkreis“. Das freche Spiel hatten sich ein paar
Vertreter der Grünen Jugend vor dem Rundgang mit dem Abgeordneten
ausgedacht. Der Volksvertreter hält kurz inne, lächelt etwas
gequält und redet dann weiter. [gallery:Das sagen grüne Politiker zu ihrer Urwahl] Ist Kindler etwa das, als was die Grüne Jugend ihn entlarven
wollte: ein angepasster Karrierist? Von außen betrachtet, wirkt er
tatsächlich wie ein FDP-Verschnitt. Während der Sitzungswochen
trägt der 27-Jährige Jackett und weißes Hemd. Er hat eine typische
Frisur, die auch bei den Nachwuchsökonomen von McKinsey oder Ernst
& Young häufig zu sehen ist. Zudem hat Kindler von 2004 bis
2007 an der Leibniz-Akademie in Hannover Betriebswirtschaftslehre
studiert, als Controller bei Bosch prüfte er Arbeitsprozesse auf
ihre Effizienz. Vom urgrünen Image scheint er sehr weit
entfernt. Doch der Eindruck trügt. Schon als Jugendlicher zeigte sich
Kindler naturverbunden, engagierte sich bei den Pfadfindern. Noch
heute, in der schnellen digitalen Welt, schätzt er den Ruhepol:
„Man sitzt am Lagerfeuer, macht Musik, da guckt niemand auf sein
Smartphone, um die neuesten Nachrichten zu checken.“ Von den
Pfadfindern kam er 2003 zur Grünen Jugend und zur Partei.
Kinderarmut in den Pfadfindergruppen motivierten ihn, politisch
aktiv zu werden. Er zählt zum linken Parteiflügel: „Mich verbindet
viel mehr mit Hans-Christian Ströbele als mit Philipp Mißfelder von
der Jungen Union.“ Ein anfänglicher Stammtisch junger Abgeordneter
sei ziemlich schnell eingeschlafen. „Es fehlten die politischen
Gemeinsamkeiten.“ Auch Planspiele für eine schwarz-grüne
Regierungskonstellation nach 2013 erteilt er eine klare Absage, er
sehe auf zentralen Politikfeldern keine Gemeinsamkeiten,
insbesondere mit einer europafeindlichen Partei wie der CSU sei
keine Zusammenarbeit möglich. Man merkt es ihm an, dass er mit den vermeintlichen
Widersprüchen des äußeren Eindrucks und der inneren Positionen sehr
gern lebt, damit gar kokettiert. Das hat nicht zuletzt mit seiner
Rolle als Mann der Finanzen zu tun: Bei den Pfadfindern verwaltete
er die Kasse, als BWLer Unternehmensbilanzen, bei Bosch wurden die
Zahlen noch größer. Aber das, was ihm seit 2009 im Haushaltsausschuss begegnet,
stellt alles in den Schatten. In kürzester Zeit musste er Begriffe
wie Six-Pack, EFSF, ESM und Fiskalpakt nicht nur pauken, sondern
die Krisenursachen auch verstehen und mit der eigenen Politik
verknüpfen. Er sitzt mit am Tisch, wenn es um Milliardenbeträge für
spanische Banken geht. Man spürt, dass die Finanzkrise auch bei
Kindler Spuren hinterlassen hat. Die frischen, adoleszenten
Gesichtszüge vom Anfang sind einer gewissen Blässe gewichen.
Kindler deutet auf mehrere dicke Aktenordner, die nur einen kleinen
Teil seiner Arbeit abbilden. Dabei führten die Farbe Grün und die Finanzpolitik lange Zeit
ein herzliches Nichtverhältnis. In dieses Vakuum rückten
Exzentriker wie Oswald Metzger, die sich in den rot-grünen
Regierungsjahren mit extremen Positionen profilieren konnten.
Mittlerweile ist Metzger bei der CDU. Auf der folgenden Seite: Kindlers Weg vom Nachwuchspolitiker
zum Krisenerklärer Kindler durchbricht auch hier die alten Grenzen: Zusammen mit
wenigen weiteren Abgeordneten seiner Fraktion gehört er zur neuen
finanzpolitischen Avantgarde. Nach Fukushima müssen die Grünen neue
Politikfelder erobern. Ihr Markenkern ist ihnen über Nacht abhanden
gekommen. In Zeiten, in denen Jürgen Trittin alles tut, der nächste
Finanzminister zu werden, liegt Kindlers Engagement im Trend. Ihm
könnte in Zukunft eine zentrale Rolle zukommen. [gallery:Wer sind die neuen Grünen?] Wenn er die schwarz-gelbe Krisenpolitik bewertet, geht er
gleichwohl differenziert vor. Er hat fast alle Kriseninstrumente
mitgetragen, auch den permanenten Rettungsschirm ESM. Kindler sagt,
der ESM könne mittelfristig ein Europäischer Währungsfonds werden.
Das würde auch südeuropäischen Staaten helfen. Den Fiskalpakt aber lehnt er ab, er sei keine intelligente
Schuldenbremse und würde die Schulden nicht begrenzen. „Es wird
europäischen Finanzbeamten obliegen, wann in die Rezession geratene
Krisenländer Schulden machen können. Deren Berechnungen waren
bisher häufig ungenau. Sie ziehen nicht alle ökonomischen Parameter
heran, auf die es dabei ankommt.“ Kindler versuchte, seine Partei davon zu überzeugen, nicht für
den Fiskalpakt zu stimmen. Vergebens: Die Grünenspitze hatte vorher
im Kanzleramt verhandelt – und musste nun Stimmen liefern, damit es
für die nötige Zwei-Drittel-Mehrheit reichte. Kindlers war nicht
dabei – ausgerechnet jene eines wichtigen Finanzexperten in der
Fraktion. Bei der Abstimmung enthielt er sich. Damit gehörte er
neben Ströbele zu den ganz wenigen grünen Abweichlern. Kindler sagt, die Diskussion um Merkels Krisenpolitik verlaufe
„unterkomplex.“ Ihre „einseitige Austeritätspolitik“ sei
gescheitert. Und er warnt: „Wenn Griechenland aus der Euro-Zone
geworfen würde, würden neben griechischen auch mazedonische,
serbische und albanische Banken bankrott gehen.“ Der Balkan sei
erst in den 1990er Jahren aus einem sehr blutigen Bürgerkrieg
herausgekommen. Als Kindler vor knapp drei Jahren erstmals am Redepult stand,
traten die Politiker auf der Regierungsbank dem juvenilen Newcomer
noch wohlwollend gegenüber. Seine Redebeiträge wirkten holprig
unabgeklärt. Heute tritt er mit weit mehr Sicherheit auf. Auch die
Zwischenrufe aus dem Plenum sind längst rauer geworden. Man nimmt
ihn ernst. Kindler ist inzwischen eine nicht mehr wegzudenkende
finanzpolitische Säule seiner Fraktion. Kindlers Zeit mit der Besuchergruppe im Bundestag ist fast
vorüber. Auf die Frage, ob er im nächsten Jahr wieder kandidiere,
antwortet er: „Das entscheidet die Partei.“ Ein anderer
widerspricht: „Entscheidet das nicht der Wähler?“ Tatsächlich ist der März 2013 für den Nachwuchspolitiker die
wichtigere Hürde: Da stellen die Grünen in Niedersachsen ihre
Landesliste für die Bundestagswahl auf. Die Chancen auf einen
Wiedereinzug in den Bundestag stehen nicht schlecht für den linken
Realisten.
|
Der Grünen-Abgeordnete Sven-Christian Kindler ist einer Jüngsten im Bundestag und gilt schon als Krisenexperte. So stimmte er gegen seine eigene Fraktion. Doch ihm klebt ein nerviges Etikett an. Ein Porträt
|
[] |
innenpolitik
|
2012-11-06T11:13:32+0100
|
2012-11-06T11:13:32+0100
|
https://www.cicero.de//innenpolitik/sven-chrstian-kindler-aussen-fdp-innen-gruenen-fundi/52399
|
|
Literaturagent Andrew Wylie – Amazon verkauft Bücher wie Hotdogs
|
Vielleicht räkelte sich Hampton, die Ladenkatze, gerade auf der
Holztheke neben der antiken Registrierkasse, als Andrew Wylie die
bimmelnde Tür des Corner Bookstore nach einem Lauf im Central Park
öffnete. Vielleicht brauste gerade der Bus M3 auf der Madison
Avenue auf dem Weg nach Harlem vorbei. Vielleicht war wieder mal
kein Vogel im Central Park zu hören gewesen, nur das Rauschen des
Verkehrs, das Klicken der Touristenkameras und das dumpfe Wummern
der iPods der anderen Jogger. Man findet alles in Manhattan, nur
keine Stille. Es sei denn, man sucht Zuflucht an der Ecke der
93. Straße in dieser kleinen Kathedrale der guten Literatur, in der
Frank McCourt erstmals „Die Asche meiner Mutter“ vorstellte und das
Geräusch der Sohlen auf dem alten rot-grauen Terrazzoboden zu
leisen Schritten gemahnt. Wylies Blick fiel auf „Vertigo“, die erste Übersetzung von
W. G. Sebalds Erzählungsband „Schwindel. Gefühle“. „Ist
literarische Größe noch möglich?“, fragt da Susan Sontag rhetorisch
auf dem Einband. „Ich hatte kein Geld dabei, aber nahm das Buch mit
und rief Susan an“, erinnert sich Wylie. Sontag geriet ins
Schwärmen. „Okay“, sagte ich. „Ich werde duschen, gehe das Buch
bezahlen und lese es dann. Nachdem ich durch war, habe ich sie
direkt danach wieder angerufen und gesagt ‚Mein Gott, Susan, das
ist großartige Literatur!‘“ Wylie besorgte sich Sebalds Nummer und
beschloss, ihn weltweit berühmt zu machen. Wenig später fuhr er mit
dem Zug ins ostenglische Norwich und besiegelte die Zusammenarbeit
wie üblich per Handschlag. Bald verband Andrew und Max, wie Sebald
von Freunden genannt wurde, eine innige Freundschaft. [gallery:Literaturen: Die besten Romane für den Herbst] Wenn Wylie einen Autor gewinnen will, reist er an und spielt
notfalls über die Bande. „Er ist ein meisterhafter Stratege“, sagt
der Autor George Prochnik. So hat Wylie einst die Kooperation mit
der früheren pakistanischen Politikone Benazir Bhutto als Köder
ausgeworfen, um Salman Rushdie für seine Agentur zu gewinnen. Kaum
ein Agent verfügt über derart solide internationale Verlagskontakte
von Nordamerika und Europa bis nach Japan, China und in die
arabische Welt. Seit der Harvard-Absolvent und Sohn einer wohlhabenden Bostoner
Familie nach wilden Jahren als bärtiger Taxifahrer und Partygast
von Andy Warhol 1980 die Wylie Agency gründete, hat er sein
Netzwerk aus Autoren und Verlegern, Chefredakteuren und Rezensenten
unermüdlich ausgebaut. Wer von Wylie vertreten wird, hat gute
Chancen, in New York und London besprochen und bis nach Karachi
gelesen zu werden. Sebalds Roman „Austerlitz“ wurde von der New
York Times zu einem der zehn wichtigsten Bücher des Jahres gewählt
und ein weltweiter Erfolg. „Mein letztes Buch wurde von Wylies
Agentur nach Südkorea und Katar verkauft“, sagt Prochnik. „Kein
anderer meiner Agenten hat diese Märkte vorher auch nur für
relevant gehalten, geschweige denn Verbindungen dorthin aufgebaut.“
Für die Autoren summieren sich diese internationalen Verkäufe. Wie im Corner Bookstore herrscht auch in Wylies New Yorker Büro
in der Nähe von Broadway und Carnegie Hall eine fast schon
gespenstische, weltabgewandte Ruhe. Es würde einen nicht wundern,
wenn Wylie statt elegantem Maßanzug einen weißen Kittel trüge, um
in seinem Chemielabor ungestört von dem Getöse der Bestsellerlisten
die Essenz der Weltliteratur zu destillieren. Es ist
Mittwochnachmittag, die drückende Hitze Manhattans wird sich in
wenigen Minuten in einem heftigen Sommersturm entladen.
18 Mitarbeiter in kleinen Büros und Arbeitsnischen
beschäftigen sich hier nahezu geräuschlos mit ihren Manuskripten,
umgeben von Tausenden von Erstausgaben ihrer Autoren. Niemand
spricht, niemand blickt auf, als der Chef mit festem Schritt
vorbeieilt. Ein Mitarbeiter isst ein Reisgericht aus einer
Aluschale und brütet über einem Balkendiagramm. Zu den
Geschäftspraktiken der Agentur gehören Zahlen und Präzision: Wie
hoch schätzt man das Potenzial eines Buches ein, welche
zusätzlichen Märkte könnte man dafür noch erobern? Wie viel
Vorschuss kann man einem Verlag abhandeln? Seite 2: Mit raubkatzenhaften Augen Wylie nimmt auf einem Sessel Platz, schlägt die Beine
übereinander und beobachtet mich auf dem dunkelblauen Sofa. Die
eigenartige Schräge seiner hellen Augen geben seinem schmalen Kopf
etwas Raubkatzenhaftes. Seit er 1995 Martin Amis von dessen
langjähriger Agentin Pat Kavanagh, der Frau des britischen
Schriftstellers Julian Barnes, abwarb, haftet ihm der Spitzname
„Schakal“ an. Dabei handelt Wylie weniger wie ein aasfressender
Wildhund, sondern eher wie ein Gepard, von dem man sagt, er
beobachte seine Beute lange im Verborgenen, bevor er zugreife. „Oft
stellen wir fest, dass ein Autor von sieben internationalen
Verlagen gedruckt wird, die allesamt für ihren schlechten Geschmack
und ihr mangelndes Urteil bekannt sind. Das spart mir unglaublich
viel Zeit, weil ich mir dann die Werke noch nicht mal anschauen
muss“, meint er trocken. Man tue Autoren keinen Gefallen damit, ihre Bücher an Joe
Mudpuddle in Sussex zu verkaufen. Mancher wirft ihm vor, nur
etablierten Autoren zu Ruhm zu verhelfen, dabei findet man bei der
Durchsicht seines 240 Seiten starken Katalogs eine Reihe von
Debütwerken. Und niemand kann ihm vorwerfen, sein Geld mit
Buchmarkt-Trash oder billiger Mädelliteratur zu verdienen. „Dieser
Mann hat einen unglaublich guten Geschmack“, sagt Steve Wasserman,
bis vor kurzem New Yorker Direktor der Konkurrenzagentur
Kneerim & Williams. Würde er einschlagen, wenn E. L. James, die alleine in den USA
gerade 35 Millionen Exemplare ihrer Sadomaso-Trilogie verkauft
hat, ihn bäte, ihr Agent zu werden? Wylie lächelt genüsslich. „Ich
würde ihr sagen, dass ich ihre Arbeit nicht gelesen habe“, sagt er
lang gedehnt und unterdrückt ein Lachen, „was der Fall ist. Und
dass ich das Gefühl habe, dass wir nach dem, was ich höre, nicht
die richtigen Agenten für sie wären.“ Vor James bekam Danielle
Steel lange den Spott Wylies ab, der „kein Interesse an Literatur
für frustrierte Frauen hat“ – es sei denn auf dem
literarischen Niveau von Charlotte Brontës „Jane Eyre“. [gallery:Literaturen: Die besten Sachbücher für den Herbst] Einen Steinwurf entfernt von Wylies Agentur sitzt einer seiner
wichtigsten Geschäftspartner in einem raumgreifenden Büroturm, der
die Macht des größten internationalen Publikumsverlags spiegelt:
Markus Dohle, CEO von Random House, Verleger von E. L. James,
Danielle Steel und einer beachtlichen Zahl von Wylies Klienten wie
dem vor elf Jahren verstorbenen W. G. Sebald. Der energische Westfale ist dieser Tage bestens gelaunt, denn
dank der „Mommy-Porn“-Trilogie und anderer erfolgreicher Titel
läuft das Geschäftsjahr 2012 trotz allgemeiner Krisenstimmung
hervorragend. Im Herbst geht Random House mit Salman Rushdies
Memoiren „Joseph Anton“ sowie neuen Werken von John Grisham und Ian
McEwan an den Start. Hinzu kommt der rapide Anstieg der
E‑Book-Verkäufe, mit denen laut Dohle neue Käuferschichten gewonnen
wurden. So rapide, dass selbst der Zusammenbruch der amerikanischen
Buchhandelskette Borders mit 700 nun fehlenden Verkaufsstellen
verkraftbar scheint. „Ich werde häufig gefragt, wie es uns denn mit
unserem ‚traditionellen‘ Verlagsmodell geht. Uns geht es sehr gut,
weil wir das Modell modernisiert haben und weiterentwickeln!“, sagt
der 44-Jährige. Derweil steht der internationale Buchmarkt unter Druck:
Einerseits soll laut des Marktforschungsunternehmens Forrester
Research 2015 der Umsatz mit E-Books in den USA auf ganze drei
Milliarden Dollar klettern. Andererseits hat Jeff Bezos, Chef des
amerikanischen Buchversandriesen Amazon, den Verlagen mit der
Einführung des hauseigenen digitalen Lesegeräts Kindle und der
Gründung eines eigenen Verlags de facto den Krieg erklärt. Dass
Amazon Publishing vom Verlagsurgestein Larry Kirshbaum, dem
früheren CEO der Time Warner Book Group, geleitet wird, ist für das
Feld der Konkurrenten keine Beruhigung. „16 von
100 Bestsellern auf dem Kindle werden heute mit unserer Hilfe
selbst verlegt“, erklärte Bezos kürzlich stolz dem
New-York-Times-Starkolumnisten Thomas L. Friedman. „Das bedeutet:
kein Agent, kein Verleger, kein Papier – nur ein Autor, der
den Großteil der Lizenzgebühren bekommt, plus Amazon und Leser.“
Wann immer er die Gelegenheit hat, trompetet Jeff Bezos: „Weg mit
den Türhütern!“ Die Zukunft des Verlegens sei digital und
demokratisch. Seite 3: Autoren brauchen Geld und deshalb
Verlagsstrukturen Wylie und Dohle sind da natürlich gänzlich anderer Meinung.
Schon seit langem halten sie dagegen, dass Buchproduktion ohne
Qualitätskontrolle das Netz verstopfe wie Schmutz ein Abflussrohr.
„Der einzige Ehrgeiz von Amazon ist Größe. Für die macht es gar
keinen Unterschied, ob sie Hot Dogs verkaufen oder ‚Ulysses‘,
solange es nur 99 Cents kostet“, schnarrt Wylie. Dass der
Internetversand und E-Book-Verleger seinen Autoren 70 Prozent
der Einnahmen verspricht, sei aufgrund der in den USA relativ
niedrigen Verkaufspreise von E-Books ohnehin Rosstäuscherei. Wenn
er einen Vorschuss von drei bis vier Dollar pro Buch auf
prospektive 100 000 Printexemplare aushandle, könne sich der
Autor zwei Jahre zum Schreiben zurückziehen. Aber wenn man
30 Cents von 100 000 digitalen Exemplaren bekäme, die zu
Schleuderpreisen auf den Markt geworfen würden, sei man rasch
pleite. „Oder man arbeitet sieben Jahre bei McDonalds und schreibt
nach Feierabend ‚Ulysses‘ und versucht, sich nicht
aufzuhängen.“ In den Gängen der Verlage geht dennoch das Gespenst der
Autorenautonomie um. Dohle räumt ein, dass er vor den neuen
Spielern und Marktmodellen großen Respekt hat. „Wir beobachten und
analysieren die Marktentwicklungen ganz genau.“ Allerdings bemüht
er sich auch darum, den Hype zu dämpfen. Nur ganz wenigen der sich
selbst online verlegenden Autoren sei es gelungen, nach oben
auszubrechen. Von denen seien dann zudem durchaus viele zu
klassischen Verlagen gegangen, um satte Vorschüsse zu
kassieren. So unterzeichnete etwa Amanda Hocking, die mit online selbst
veröffentlichten Vampirromanen berühmt wurde, bei der
amerikanischen Verlagsgruppe Macmillan. „Amanda wer?“, knarzt Wylie
mit hochgezogenen Brauen. „Was fasziniert Leute überhaupt so an
diesen Vampirbüchern? Ich kann das echt nicht nachvollziehen.“
Überhaupt tummelten sich im Netz Tausende von „matschbesprengten
Schreiberlingen, die an gnadenloser Selbstüberschätzung leiden“.
„So viele Autoren können einfach nicht schreiben und glauben
trotzdem, dass jemand einen Haufen Geld für den von ihnen
fabrizierten Müll zahlen sollte.“ Für Stefan Zweig war die
Literatur der Eingang in eine andere Welt. Wylie scheint bereit zu
sein, diesen Eingang wie ein Zerberus zu verteidigen. Random House verfolgt eine andere Strategie. Auf die
Herausforderung der E-Book-Ära stellt man sich hier nolens, volens
ein. In einem Imagefilm auf seinem US-Autorenportal präsentiert der
Verlagsriese eine ausgeklügelte Marketingstrategie: Experten für
Social Media, Blogger und Mundpropagandisten, Analysten digitaler
Entwicklungen, Beobachter der explodierenden Self-Publishingszene,
die gezielt erfolgreiche Autoren anwerben, Mitarbeiter, die selbst
kreierte Online-Literaturseiten wie „Suvudu“ oder „Everyday eBook“
bespielen – sie alle sollen den Autoren des Hauses und seiner
zahlreichen Imprints die Gewissheit geben, dass die Verlagsmaschine
brummt und man werbe- und vertriebstechnisch längst im
21. Jahrhundert angekommen ist. Während das Geschäft mit den
E-Books in Deutschland wegen der Buchpreisbindung und der damit
verbundenen verhältnismäßig hohen Preise nur schleppend in Gang
kommt, liegt ihr Umsatzanteil in den USA bei gut 25 Prozent.
„In drei Jahren könnten wir 35 bis 40 Prozent erreichen“, sagt
Dohle. Für Steve Wasserman, mittlerweile Cheflektor bei der Yale
University Press, bleibt die Zukunft des Verlegens ein Geheimnis.
„Ob Autoren weiter auf traditionellem Wege veröffentlichen oder
ihre Werke lieber direkt online stellen werden, ist eine offene
Frage. Wie sie beantwortet wird, ist der Kern der aktuellen
Auseinandersetzung zwischen Amazon und traditionellen Verlegern“,
schrieb er unlängst in der amerikanischen Wochenzeitschrift The
Nation. Den Unterschied zwischen E-Books und Printausgaben
beschreibt er in unserem Gespräch so: „Das ist wie virtueller und
echter Sex. Jeder weiß, dass echter Sex besser ist, aber für den
virtuellen gibt es trotzdem einen großen Markt.“
Andrew Wylie will, dass seine Agentur 100 Jahre besteht und
den Wandel überdauert. „Ich glaube, dass die Autoren, für die ich
mich interessiere, einen bleibenden Wert haben. Deswegen sollten
sie nicht nur dafür bezahlt werden, was ihr Buch in einem Jahr
einbringt, sondern im Verlauf von 50 Jahren. Wie kann man
jemals genug für Sebald zahlen? Jeder Verleger sollte sich für
Sebald ruinieren. Stattdessen ruinieren sie sich für E. L. James.
Das ist einfach verrückt“, meint Wylie zum Abschluss meines
Besuchs, und man kann die Leidenschaft durchhören, mit der er
Verhandlungen führt. Im Corner Bookstore liegt auf den gediegenen Lesetischen zurzeit
Dave Eggers’ viel gelobter neuer Roman „A Hologram for the King“,
neben vielen anderen anspruchsvollen Neuerscheinungen aus der
Schmiede des Staragenten. Irgendwann wird hier Prochniks neues Buch
über Stefan Zweig liegen, für den Bücher eine Handvoll Stille
inmitten von Unruhe und Qual waren. „Sie verkaufen also nicht
‚Shades of Grey‘?“, frage ich Robert, den Buchhändler. „Doch, doch,
das hält den Laden am Leben“, seufzt er. „Wollen Sie’s haben?“
|
Andrew Wylie ist der berühmteste Literaturagent der Welt. Zu seiner scheinbar endlosen Klientenliste gehören Größen wie Salman Rushdie oder John Updike. Er kritisiert Branchen-Riesen wie Amazon fürs Bücherverramschen — und kämpft selbst vor allem für eines: gute Literatur
|
[] |
kultur
|
2012-10-14T10:19:56+0200
|
2012-10-14T10:19:56+0200
|
https://www.cicero.de//kultur/literaturagent-portrait-andrew-wylie-amazon-verkauft-buecher-wie-hotdogs/52160
|
|
AfD vor der Bayernwahl - „Wir sind ein wenig wie die CSU unter Franz-Josef Strauß“
|
Frau Ebner-Steiner, von Ihnen stammt das Zitat: „Die AfD ist die Strafe Gottes für die CSU“. Geht es auch eine Nummer kleiner?
Das ist ein griffiger Wahlkampfslogan. Bayern ist ein sehr kirchlich geprägtes Land. Die CSU hat ein großes C im Namen. Sie hat den Kontakt zur Basis ihrer Wählerschaft verloren und kümmert sich nicht glaubwürdig um deren vordringliche Themen: Vom Stopp der illegalen Migration bis zur Eindämmung der schleichenden Islamisierung. Weil die CSU hierbei sozusagen „sündigt“, wählen deren bisherige Stammwähler „zur Strafe“ zunehmend AfD. Denn die AfD steht für die Werte, die von der CSU links liegen gelassen werden. Sie selber stammen aus einer Familie, die immer CSU gewählt hat. Das Gros der AfD-Wähler sind ehemalige CSU-Wähler. Bayern steht doch glänzend da. Warum braucht es dann die AfD?
Die AfD ist bodenständig, heimatverbunden, wertkonservativ – und ein wenig wie die CSU zu Zeiten von Franz-Josef Strauß. Die CSU von heute ist nach links gedriftet, sie koaliert in Berlin mit der SPD und in Bayern voraussichtlich mit den Grünen. Das geht vielen CSU-Anhängern zu weit. Die AfD ist die „neue alte Heimat“ für sie. Die bayerische AfD ist so zerstritten, dass sie sich nicht mal auf einen Spitzenkandidaten einigen konnte. Sie treten als eine von sieben Spitzenkandidatinnen an. Ist das für die Wähler nicht verwirrend?
Inhalte gehen vor Personen. Der AfD-Parteitag hat beschlossen, keinen Spitzenkandidaten aufzustellen, weil das reine Symbolik wäre. Es gibt keine einheitliche Landesliste, sondern sieben Regionallisten mit jeweils einem Platz 1. Das sind „Spitzenkandidaten“ genug. Den Wähler verwirrt das keineswegs. Und zerstrittene Parteien sieht man eher bei den Linken oder der Union. Was sind denn Ihre persönlichen politischen Ziele?
Dass wir möglichst zahlreich in den Landtag kommen, um alle Themen, für die wir gewählt wurden, auf die Tagesordnung zu setzen. Geht es ein bisschen konkreter?
Meine persönlichen Ziele sind der Erhalt meiner Heimat mit allen ihren sozialen und kulturellen Traditionen sowie die Sicherung der Zukunft meiner Kinder in einer freiheitlichen, demokratischen und möglichst gefahrlosen Welt. Wie sind Sie eigentlich zur Politik gekommen?
Durch die Eurokrise und die Griechenland-Rettungsmilliarden, von denen nur die Banken profitiert haben. Dann kam die Migrationskrise mit allen Nebenwirkungen dazu, als Zuwanderer-Massen 2015 quer durch meinen Wahlkreis Niederbayern zogen. Mit einem Ausländeranteil von 12,1 Prozent liegt Bayern im bundesweiten Durchschnitt im Mittelfeld, in der bayerischen Provinz liegt er sogar deutlich darunter. Wie kann man da von Zuwanderer-Massen sprechen?
Bei mir in Deggendorf wurde für 3,2 Millionen Euro eine große neue Moschee mit Minarett gebaut. Optisch sichtbarer kann man die Islamisierung nicht machen. Zudem ist hier ein Asylbewerber-Ankerzentrum mit mehreren Hundert Menschen. Ich denke, man muss schon über ein Problem sprechen, während es sich abzeichnet und nicht erst, wenn der Ausländeranteil schon bei über 50 Prozent liegt – wie es in einigen Großstädten heute schon der Fall ist. Stimmt es, dass Sie wegen Ihrer AfD-Mitgliedschaft in Ihrer Heimatstadt nicht in den Trachtenverein aufgenommen wurden?
Das stimmt. Da sieht man, wie kleinlich und lächerlich das Ausgrenzen von Menschen mit AfD-Parteibuch ist. Zudem gab es auch Druck von etablierten örtlichen Parteien. Sie wollen die Grenzen schließen, werfen aber den anderen Parteien vor, dass sie ausgegrenzt werden?
Der Grund ist immer derselbe. Die AfD wurde schon gleich nach der Gründung 2013 von konkurrierenden Parteien als rechtslastig diffamiert, und die meisten Medien haben diese Behauptungen nicht nur weiter verbreitet, sondern sich leider oft zu Eigen gemacht. Manchmal mit missionarischem Eifer. Aber spätestens seit der Bundestagswahl 2017 fangen vor allem die Leitmedien an, differenzierter und umfassender über die AfD zu berichten. Das hat auch damit zu tun, dass sich AfD-Politiker und Journalisten zunehmend persönlich kennenlernen. Zuvor haben viele Medien nur per Ferndiagnose vom Schreibtisch aus über die AfD geschrieben, ohne jemals eine Veranstaltung oder einen Parteitag besucht zu haben. Sie wehren sich gegen Vorwürfe der Rechtslastigkeit, sind aber eine Vertraute von Björn Höcke. Sein thüringischer Landesverband wird jetzt vom Verfassungsschutz überwacht. Für viele gilt er als Nazi. Was verbindet Sie mit ihm?
Er ist kein Nazi, sonst wären wir nicht befreundet. Er ist in Thüringen als Fraktions- und Landeschef erfolgreich und liegt in Umfragen derzeit bei 23 Prozent mit seiner Partei. Wir verstehen uns menschlich sehr gut, auch politisch gibt es viel Übereinstimmung. Aber jeder macht in seinem Bundesland seine eigenständige Politik mit unterschiedlichen Schwerpunkten. Sie wohnen in der niederbayerischen Kleinstadt Deggendorf. Glaubt man dem Pfarrer der katholischen Kirchengemeinde, dann „läuft die Integration der Syrer und Iraker“ sehr gut. Wo ist das Problem?
Das Problem ist ein Pfarrer, der meint, von Berufs wegen alles schönreden zu müssen. Geistliche sind nicht unbedingt die Kompetenzträger zur Analyse und Bewältigung ganz realer weltlicher Probleme. Natürlich findet man immer positive Einzelbeispiele. Das begrüße ich ja auch. Aber das sind wenige angesichts der 1,5 Millionen Menschen, die seit 2015 hierhergekommen sind. Und es kommen immer noch pro Jahr über 220.000 Zuwanderer, wie sie der Pressemitteilung des Bundesinnenministeriums vom 20.6.18 entnehmen können. Die von der Koalition vereinbarte Obergrenze sei nicht zu halten, steht drin. Das bedeutet, bis zur nächsten Bundestagswahl kommen erneut eine Million Migranten nach Deutschland. Das Fass läuft weiter über. Inhaltlich liegen Sie da nicht so weit vom Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) entfernt. Wie kommt es dann, dass die CSU an Stimmen verliert, während die AfD ständig neue Stimmen gewinnt?
Weil die Bürger verstanden haben, dass die AfD hält, was die CSU nur verspricht. Wir sind mit unserer Politik glaubwürdig, während die CSU das Vertrauen ihrer Wähler verspielt. In einem Interview mit dem Spiegel haben Sie gesagt, Horst Seehofer sei für die AfD wie ein Pressesprecher. Warum macht der – wenn natürlich unfreiwillig – Werbung für die AfD?
Wenn er mitteilt, in Deutschland gebe es eine „Herrschaft des Unrechts“, dann sagen die Leute zweierlei: Recht hat er, aber warum tut er nichts dagegen? Und dann hören sie die Botschaften der AfD und setzen ihr Vertrauen in uns, diesen Missstand zu ändern. Es darf nicht sein, dass jeder, der aus einem sicheren Drittland gesetzeswidrig hierher kommt, sich ein Asylverfahren oder einen Duldungsbescheid ertrotzen kann. Ihre Prognose für die Landtagswahl: Wie viel Prozent der Stimmen bekommt die AfD?
Ich hoffe auf die 12 Prozent vom Bayern-Ergebnis der Bundestagswahl plus ein großes X. Man muss aber bedenken, dass die Freien Wähler in Bayern seit 10 Jahren im Landtag sind und ein großes konservativ-bürgerliches Wählerpotenzial binden. Sonst hätte die AfD bei Umfragen immer mindestens 5 Prozent mehr. Von allen Parteien hat die AfD die größte Schnittmenge mit der CSU. Wären Sie bereit, mit ihr zu koalieren?
Auf absehbare Zeit sicher nicht. Aber in Sachsen wird von der CDU ja schon laut über AfD-Koalitionen nachgedacht. Die Diskussion beginnt bundesweit. Aber mit den Grünen wollte in der 80er-Jahren auch keiner koalieren. Macht es eigentlich mehr Spaß, immer nur dagegen zu sein, als zu sagen, wofür Sie sind?
Nein. Ich sage auch lieber, dass ich für Sonnenschein bin. Ich möchte mich nicht dauernd gegen schlechtes Wetter äußern müssen.
|
Cicero-Redaktion
|
Blond, blauäugig – und immer im Dirndl. Katrin Ebner-Steiner gilt als Vorzeige-Frau der bayerischen AfD, sagt aber auch, dass sie mit dem Rechtsaußen Björn Höcke „viel verbinde“. Bei der Bayernwahl wollen sie und ihre Partei die CSU bestrafen. Warum eigentlich? Ein Interview zwischen Tür und Angel im Wahlkampf-Endspurt
|
[
"Landtagswahl Bayern",
"AfD",
"CSU",
"Grüne",
"Horst Seehofer",
"Katrin Ebner-Steiner"
] |
innenpolitik
|
2018-10-12T16:37:12+0200
|
2018-10-12T16:37:12+0200
|
https://www.cicero.de//innenpolitik/bayernwahl-afd-csu-katrin-ebner-steiner-horst-seehofer
|
Konsequenzen aus Wirecard-Skandal - Deutschland hat ein massives Problem mit Finanzkriminalität
|
Würde das Stück im Schauspielhaus dargeboten, fänden wir es unterhaltsam und kurzweilig. Doch leider ist das unwürdige Schauspiel um den Finanzkonzern Wirecard nicht die Erfindung eines genialen Schriftstellers, sondern sehr real: Milliardenverluste für Anleger; teilweise Geld, das fürs Alter bestimmt war; der Ruf des Finanzstandorts Deutschland ramponiert; Banken, die eh schon schwächeln wegen schwacher Erträge und wachsender Risiken, müssen ihre Kredite weitgehend abschreiben; hunderte Mitarbeiter verlieren ihre Arbeitsplätze. Und noch etwas stört in der Realität genauso wie im Theater enorm: eine schwache darstellerische Leistung der tragenden Akteure. Seinen Beginn nahm das Drama im beschaulichen Aschheim bei München. Eine kleine Software-Schmiede machte sich auf, die große Welt der Zahlungsdienstleister zu erobern. Ein Zukunftsfeld, die digitale Zahlungsabwicklung im Hintergrund, wurde in den Kern des Geschäftsmodells gestellt.
Über die Jahre wuchs Wirecard dann auch kräftig. Das klang alles plausibel, denn die Zahlungsströme im Netz wuchsen ebenfalls kontinuierlich. Der Aufstieg in den deutschen Aktienindex Dax im September 2018 erschien also nur folgerichtig. Als strahlende Helden feierte die Börse den Aufsteiger. Weniger heldenhaft agierte die Finanzaufsicht BaFin, deren Aufgabe es ist, die Integrität des deutschen Finanzmarktes sicherzustellen. Seit dem Jahr 2008 bestanden Vorwürfe der Bilanzmanipulation bei Wirecard, seit 2015 wurden in der renommierten Financial Times schwere Vorwürfe der Bilanzmanipulation erhoben, seit 2018 stand Wirecard mit seinem Dax-Eintritt im öffentlichen Fokus. Eine Finanzaufsicht, die nicht in der Lage ist hier einzugreifen, degradiert sich selber zum Komparsen am Finanzmarkt. So eine Aufsicht braucht niemand. Auftritt Wirtschaftsprüfer. Die Institution des Wirtschaftsprüfers wurde nach dem Börsencrash 1929 geschaffen, um als Wächter der Marktwirtschaft über die Bilanzen von Unternehmen zu fungieren. Doch berechtigte Zweifel an der vermeintlichen Erfolgsstory Wirecards wurden nicht ernst genommen. Die manipulierte Bilanz des Unternehmens wurde bis ins Jahr 2018 anstandsfrei testiert. Solche Wirtschaftsprüfer, die sich als Opfer der Bilanzfälschungen hinstellen, statt ihrer Rolle als Wächter zu spielen, sind überflüssige Staffage. Irritierend auch die Rolle der Staatsanwaltschaft, die nur einseitig gegen die aufklärenden Journalisten, nicht aber gegen die Verantwortlichen des Konzerns ermittelte, und des Aufsichtsrats, der offenbar willfährig alles mitmachte, was der Vorstand so trieb, anstatt seiner Kontrollfunktion gerecht zu werden. Und die Politik? Die zuständigen Ministerien, die Ressorts Wirtschaft und Finanzen, führen in den letzten Wochen seit der Insolvenz ihr eigenes Stück auf. Die wenig originelle Handlung könnte auch mit „Schuld ist immer jeweils der andere“ zusammen gefasst werden. Finanzminister Scholz sieht vor allem auch Versäumnisse auf Seiten der Wirtschaftsprüfer, welche im CDU-geführten Wirtschaftsministerium beaufsichtigt werden. Auf Unionsseite ist es umgekehrt. Echte Konsequenzen aus dem Drama Wirecard wird es so kaum geben. Das schlimmste aber ist, dass diese Art Schauspiel in Deutschland schon seit Jahren wiederholt gegeben wird. Die Titel variieren – zum Beispiel CumEx oder P&R oder Geldwäsche – doch das Versagen von Finanzaufsicht, Wirtschaftsprüfern und Aufsichtsräten, sowie die mangelnde Bereitschaft zu durchgreifenden Konsequenzen auf Seiten der Regierung wiederholen sich routinemäßig. Und damit ist das nächste Drama in dieser Reihe programmiert. Deutschland hat ein massives Problem mit Finanzkriminalität. Erstaunlich ist, wie passiv unser Land dieses Treiben hinnimmt, als seien wir alle unbeteiligte Zuschauer und nicht Geschädigte – als Steuerzahler, deren Geld ergaunert wird; als ehrliche Unternehmer, die von mafiöser Konkurrenz an den Rand gespielt werden; als fürs Alter vorsorgende Anleger, die relevante Summen verlieren. Ich meine: Es wird Zeit, an dieser Situation endlich etwas zu ändern und Finanzkriminalität effektiv zu bekämpfen. Aus den Komparsen Finanzaufsicht, Wirtschaftsprüfer und Aufsichtsrat müssen wachsame Kontrolleure werden. Denn das Problem Finanzkriminalität ist real und es gibt viel zu viele Verlierer.
|
Gerhard Schick
|
Im Wirecard-Skandal wird es keine echten Konsequenzen geben, glaubt Gerhard Schick, Gründer der „Bürgerbewegung Finanzwende“. Dabei habe Deutschland ein massives Problem mit Finanzkriminalität. Opfer seien ehrliche Unternehmer und Steuerzahler, deren Geld immer wieder ergaunert werde.
|
[
"Wirecard",
"Finanzkriminalität",
"Steuerzahler",
"Sondersitzung",
"Finanzausschuss",
"Bürgerbewegung Finanzwende"
] |
wirtschaft
|
2020-08-31T11:45:11+0200
|
2020-08-31T11:45:11+0200
|
https://www.cicero.de//wirtschaft/wirecard-skandal-konsequenzen-bafin-wirtschaftspruefer-gerhard-schick
|
Das Plagiat, der Skandal und die Macht. Wann muss Karl-Theodor zu Guttenberg zurücktreten?
|
Die Frage, wann und warum Politiker zurücktreten müssen, lässt
sich so einfach gar nicht beantworten. Die Opposition ist mit der
Forderung in der Regel schnell bei der Hand, genauso reflexartig
scharen sich Parteifreunde hinter den Angegriffenen und weisen
dieses Ansinnen entschieden zurück. Trotzdem stellt sich angesichts
der Plagiatsvorwürfe gegen Bundesverteidigungsminister Karl-Theodor
zu Guttenberg die Frage, wie viel individuelles Fehlverhalten hält
ein politisches Amt aus? Wie viel politische Verantwortung kann die
Öffentlichkeit von einem Minister erwarten, der eklatant gegen die
wissenschaftlichen Regeln, die für alle Doktoranden gelten,
verstoßen hat. Das scheint mittlerweile offensichtlich zu sein. Zumindest Teile
seiner Doktorarbeit hat der Freiherr nach dem Prinzip „Copy und
Paste“ erstellt. Seine Verteidigungsstrategie, wonach es sich um
ein paar Nachlässigkeiten angesichts von 1200 Fußnoten handle, ist
zusammengebrochen. Ein Kavaliersdelikt ist dies nicht. Ob es sich
um Betrug handelt und der CSU-Politiker sich seinen Doktor-Titel
erschlichen hat, muss nun die Universität Bayreuth entscheiden. Nur
muss Karl-Theodor zu Guttenberg deshalb vom Amt des
Bundesverteidigungsministers zurücktreten? Gute Frage. Fest steht, es gab Politiker, die haben ihr Amt aus nichtigeren
Gründen aufgegeben: eine schwarz beschäftigte Putzfrau, eine
Urlaubsreise auf Kosten eines Tourismusunternehmens oder der
Privatkredit eines PR-Beraters. Der ehemalige
Bundeswirtschaftsminister Jürgen Möllemann stürzte Anfang der 90er
Jahre über einen Briefkopf des Ministeriums, auf dem er sich für
die geschäftlichen Interessen eines Verwandten eingesetzt hatte.
Der sächsische Ministerpräsident Kurt Biedenkopf konnte sich nicht
mehr im Amt halten, weil publik geworden war, dass er an der Kasse
eines Möbelhauses mit Hinweis auf sein Amt um einen Rabatt
gefeilscht hat. Petitessen waren dies im Vergleich zu den
Vorwürfen, die nun im Fall zu Guttenberg im Raum stehen. Doch meist
waren solche Politiker betroffen, die ihren politischen Zenit
überschritten hatten und selbst in den eigenen Reihen nicht mehr
wohl gelitten waren. Der Skandal war nur der Anlass für den
Rücktritt aber nicht der Grund. Auf der anderen Seite gab es ebenso Politiker, die wesentlich
schwerere Vorwürfe politisch ausgesessen und ihre politische
Karriere fortgesetzt haben, die trotz Meineides Minister wurden,
denen eklatante politische Fehlentscheidungen, die finanzielle
Begünstigung von Parteifreunden oder die massive Verschwendung von
Steuergeldern wenig anhaben konnten. Der ehemalige hessische
Ministerpräsident Roland Koch zum Beispiel überlebte die schwarzen
Kassen seines CDU-Landesverbandes. Koch wurde gar der Lüge
überführt, er hatte illegale Zuwendungen an die Partei als
„jüdische Vermächtnisse“ deklariert. Johannes Rau blieb
Bundespräsident, obwohl er als Ministerpräsident von
Nordrhein-Westfahlen zusammen mit seinem Kabinett in eine
Flugaffäre um die Westdeutsche Landesbank verwickelt war. Den
Fraktionsvorsitzenden der Linken Gregor Gysi wiederum stört es
wenig, dass seine Stasi-Kontakte im SED-Staat seit Jahren
aktenkundig sind. Auch der grüne Außenminister Joschka Fischer sah sich nicht zum
Rücktritt gezwungen, nachdem er einräumen musste, im Straßenkampf
in Frankfurt in den siebziger Jahren einen Polizisten verprügelt zu
haben. Doch sowohl Koch und Rau als auch Gysi und Fischer waren für
ihre Parteien unverzichtbar, an der eigenen Basis beliebt, sie
waren wichtige Identifikationsfiguren und zudem erfolgreiche
Wahlkämpfer. Koch gewann für die hessische CDU trotz des Skandals
die absolute Mehrheit, Gysi führte die Partei zurück in den
Bundestag, auch Fischer und Rau waren Garanten für herausragende
Wahlergebnisse. Deshalb konnten sie ihr Fehlverhalten politisch
überleben, alle Vorwürfe aussitzen. Der SPD-Politiker Rudolf Scharping hingegen sah im Sommer 2002
nicht ein, dass er wegen Honorarzahlungen eines PR-Unternehmers in
Höhe von 140.000 D-Mark als Verteidigungsminister untragbar
geworden war. Er wurde schließlich von Bundeskanzler Gerhard
Schröder entlassen, weil dieser zu Beginn des Bundestagswahlkampfs
seine Siegeschancen akut in Gefahr sah. Die Frage, ob ein Politiker zurücktreten muss, ist also häufig
keine Frage von Anstand oder Verantwortung, die Konsequenz von
eingestandenem Fehlverhalten oder überführter Lügen. In der Regel
stellt sich die Frage nach dem Rücktritt erst dann, wenn ein
Politiker für die eigene Partei zur politischen Belastung geworden
ist, wenn er machtpolitisch in die Defensive geraten ist und sich
wichtige politische Mitstreiter abwenden. Karl-Theodor zu Guttenberg wird also solange nicht zurücktreten,
solange seine Partei einerseits und die Bundeskanzlerin
andererseits hinter ihm stehen. Beide werden ihn solange stützen,
solange er ihnen mehr nützt als schadet. Bislang war der
Verteidigungsminister ein politisches Schwergewicht in der
Bundesregierung, trotz zuletzt negativer Schlagzeilen, trotz
Kunduz-Untersuchungsausschuss und trotz der Diskussionen um den Tod
einer jungen Matrosin auf der Gorch-Fock. Seine große Beliebtheit
bei den Wählern hatte darunter nicht gelitten. In der CSU verknüpfte sich mit dem jungen Adligen darüber hinaus
die Hoffnung, an alte Stärke in Bayern anknüpfen zu können und
erstmals sogar den Bundeskanzler stellen zu können. Zu Guttenberg
schien auf geradezu ideale Weise Konservatismus und Moderne
verknüpfen zu können, bayerische Lebensart und Weltläufigkeit,
Ehrgeiz und Fleiß. Vor allem die Sympathien vieler kleiner Leute,
die sich nach Eleganz und Glamour sehnten, flogen ihm zusätzlich
zu. Gleichzeitig galt der CSU-Politiker als bürgerlicher
Hoffnungsträger für die Zukunft des schwarz-gelben Projekts nach
dem absehbaren Scheitern der Regierung Merkel, Westerwelle.
In den eigenen Reihen lauern somit die eigentlichen Gefahren für
die politische Karriere des Karl-Theodor zu Guttenberg. Lesen Sie im zweiten Teil des Artikels, warum nun seine
eigenen Anhänger über die politische Zukunft von Karl-Theodor zu
Guttenberg entscheiden und welche Verteidigungsstrategien ihm jetzt
helfen könnten. Entscheidend ist, ob wie bei Koch, Gysi oder Fischer die eigenen
Anhänger das Fehlverhalten entschuldigen, ob sich mit ihm weiter
politische Hoffnungen und machtpolitischer Erwartungen verknüpfen.
Die ritualisierte Empörung der Opposition hingegen wird
Karl-Theodor zu Guttenberg genauso wenig zum Rücktritt zwingen wie
moralisch anklagende Leitartikel. Wenn seine Anhänger über die lässliche Sünde beim Formulieren
seiner Doktorarbeit hinwegsehen, weil ja alle schon mal irgendwo
geschummelt haben, bei Klassenarbeiten, bei Bewerbungen oder bei
der Steuererklärung, dann ist die Affäre irgendwann ausgestanden.
Wenn seine Anhänger in ihm weiterhin einen Hoffnungsträger sehen,
dann wird die Plagiatsaffäre irgendwann vergessen sein, selbst wenn
dieser seinen Doktortitel zurückgeben muss. Gefährlich wird es für den Verteidigungsminister und seine
politischen Ambitionen erst, wenn seine Anhänger und seine
Parteifreunde den Daumen senken. Die Gefahr ist längst noch nicht
ausgestanden. Denn beliebt war zu Guttenberg vor allem bei jenen
Wählern aus dem politischen Kleinbürgertum, die nach Recht und
Gesetz leben, immer brav ihre Steuern zahlen und davon überzeugt
sind, dass, wer etwas werden will, sich anstrengen sowie hart
arbeiten muss. Beliebt war er bei solchen Wählern, die sich
zugleich darüber empören können, wenn die da oben es mit dem Recht
und dem Gesetz nicht genau nehmen. Viele dieser Anhänger haben
zugleich zu Guttenbergs Ehrgeiz und Chuzpe bewundert. Dass er für
seinen Erfolg hart arbeitet, war Teil seines erfolgreichen
Images. Gerade an dieser Stelle könnte die große Bewunderung nun schnell
in genauso große Enttäuschung umschlagen. Und wenn sich in der
Union oder bei Bundeskanzlerin Angela Merkel der Eindruck
verfestigt, die Eskapaden des Verteidigungsministers schaden ihren
Wahlaussichten im Superwahljahr 2011, erst dann könnte es für
Karl-Theodor zu Guttenberg eng werden. Es wird in den
Parteizentralen von CDU und CSU sowie im Kanzleramt deshalb viele
geben, die sich dessen Sympathiewerte und die Sonntagsfrage in den
kommenden Wochen sehr genau ansehen werden. Entscheidend wird darüber hinaus jedoch auch die Frage sein, wie
sich jetzt die Machtverhältnisse in der Union verschieben.
Karl-Theodor zu Guttenberg ist durch die Affäre ohne Zweifel
politisch angeschlagen. Seine Gegner in der CDU und in der CSU
könnten nun die Chance wittern, einen Konkurrenten politisch ins
Abseits zu drängen. Doch gleichzeitig ist zu Guttenberg als
Verteidigungsminister gar nicht so einfach zu ersetzen. In der CSU
gibt es keinen profilierten Verteidigungspolitiker, der ihn beerben
könnte. Ein Rücktritt würde die Bundeskanzlerin fast zwangsläufig
zu einer größeren Kabinettsumbildung zwingen, bei der es mehr als
einen Gewinner und Verlierer geben würde. Solange nicht absehbar
ist, wer von einem Rücktritt profitiert und wer mit ihm zusammen
Macht und Einfluss einbüßt, wird sich der eine oder andere
Konkurrent bedeckt halten. Die Plagiatsaffäre um Karl-Theodor zu Guttenberg ist also längst
noch nicht ausgestanden. Spannend wird auch sein, zu welcher
Verteidigungsstrategie sich Karl-Theodor zu Guttenberg entschließt.
Klar ist, niemand glaubt Karl-Theodor zu Guttenberg mehr, dass es
bei den Vorwürfen nur um nachlässiges Zitieren geht, die Zweifel
daran, dass er die Arbeit ohne fremde Hilfe erstellt hat, wachsen
von Tag zu Tag. Strategien, den Skandal zu überleben, gibt es viele, sie reichen
vom standfesten Leugnen, über Wegducken, bis zur reuigen Beichte.
Gregor Gysi streitet bis heute alle Vorwürfe ab, obwohl die
Aktenlage Bände spricht, der Linken-Politiker stilisiert sich
stattdessen erfolgreich als Opfer einer Hetzkampagne der Medien.
Roland Koch versprach als die schwarzen Kassen aufgeflogen waren
„brutalstmögliche Aufklärung“ und trieb gleichzeitig die
Vertuschung voran. Als Joschka Fischer seine Jugendsünde aus dem Frankfurter
Straßenkampf nicht mehr leugnen konnte, gab er sich als reuiger
Sünder, entschuldigte sich wortreich in einem Zeitungsinterview und
traf sich mit dem damaligen Opfer. Viele andere Politiker, wie zum
Beispiel Johannes Rau haben Affären einfach ausgesessen, bis die
Opposition keine neuen Vorwürfe mehr vorbringen kann, mit denen
sich die Aufregung neu anheizen ließe. Irgendwann wird dann die
nächste Sau durchs Mediendorf getrieben.
|
Es gibt Politiker, die haben ihre Ämter wegen lässlicherer Sünden aufgegeben als aufgrund eines Plagiatsvorwurfs. Andere konnten sich trotz größerer Skandale im Amt halten. Entscheidend für die politische Zukunft des Verteidigungsministers wird es deshalb sein, wie sich seine Sympathiekurve in den kommenden Wochen entwickelt und wie sich die Machtverhältnisse in der Union verschieben.
|
[] |
innenpolitik
|
2011-02-21T00:00:00+0100
|
2011-02-21T00:00:00+0100
|
https://www.cicero.de//innenpolitik/das-plagiat-der-skandal-und-die-macht-wann-muss-karl-theodor-zu-guttenberg
|
|
Thüringen-Krise - Die CDU verliert den Osten
|
Thüringens Regionalpolitiker, an vorderster Front Mike Mohring (CDU) und Thomas Kemmerich (FDP), gelten derzeit als oberste politische Deppen der Nation. Insbesondere die Bundeshauptstadt ergeht sich seit Wochen in unermüdlichen Belehrungen und überheblichen Gesten. Dabei wurzelt die politische Krise Thüringens vor allem in den Berliner Parteizentralen selbst. Noch einmal zur Ausgangslage: Mit der Landtagswahl in Thüringen konnten Die Linke und AfD zusammen mehr als 50 Prozent der Wählerstimmen auf sich vereinen. Um die zwingende Schlussfolgerung hieraus zu ziehen, braucht es nur den Mathematikstoff der Sekundarstufe I, genauer: rudimentäre Kenntnisse in Prozentrechnung. Eine stabile Regierungsmehrheit gegen Linke und AfD gleichzeitig ist unter diesen Voraussetzungen schlicht eine logische Unmöglichkeit und die Ausschließeritis der CDU eine politische Dummheit. Mike Mohring, Vorsitzender der CDU-Landtagsfraktion in Thüringen, legte sich die Gefechtslage nach der Wahl schnell und nüchtern zurecht: Eine Kooperation ausgerechnet mit der Höcke-AfD kam kaum in Frage. Also musste die bürgerliche CDU wohl oder übel in den saueren Apfel beißen und ein Arrangement mit dem linken Wahlsieger Bodo Ramelow suchen. „Mir sind stabile Verhältnisse wichtiger für das Land, als dass es nur um parteipolitische Interessen geht“, ließ Mohring nur einen Tag nach der Wahl die staunende Öffentlichkeit im ARD-Morgenmagazin wissen. Auf kommunaler Ebene sei in Thüringen die Zusammenarbeit der CDU mit den Linken ohnehin nichts Neues. In der Bundes-CDU stießen derartige Offerten postwendend auf prinzipiellen Widerstand. Sie gipfelten nach dem Wahldesaster rund um den inzwischen wieder zurück getretenen Ministerpräsidenten Kemmerich (FDP) gar in der Rückzugsankündigung von Kramp-Karrenbauer. Anstatt es beim Eingeständnis des eigenen politischen Scheiterns zu belassen, ließ die CDU-Chefin allerdings auf ihren letzten Metern noch einen neuerlichen, zehn Seiten umfassenden Abgrenzungsbeschluss gegen AfD und Linke fassen. Auf die Frage, ob die West-CDU mit ihrer Haltung nicht die CDU Thüringen, ja, vielleicht sogar den ganzen Osten politisch auf dem Altar der eigenen Ideologie opfere, sagt Mohring lieber nichts. Wer daher bisher geglaubt hatte, die SPD hätte ein exklusives Abonnement auf politischen Dilettantismus, sieht sich nun eines Besseren belehrt. AKK vermachte mit dem Abgrenzungsbeschluss ihrem künftigen Nachfolger genau jenes vergiftete Geschenk, an dessen Logik sie selbst politisch gescheitert war und unter Billigung der Kanzlerin die CDU-Thüringen mit in den Abwärtstrudel gezogen hatte. CDU-Chefapparatschik Paul Ziemiak wird auf dieser Grundlage nicht müde, vor einer wie auch immer gearteten Unterstützung Ramelows durch die CDU Thüringen zu warnen: „Alle Mitglieder der CDU Deutschlands sind an die Beschlüsse des Bundesparteitags gebunden.“ Das gilt offenbar selbst für frei gewählte Abgeordnete, die laut Verfassung eigentlich allein ihrem Gewissen verpflichtet sind. Im Osten nannte man das früher einen „Parteiauftrag“. Sascha Lobo wählt zur Beschreibung der Lage sarkastische Worte: „Die CDU weitet ihren Unvereinbarkeitsbeschluss aus. Künftig werde man weder mit AfD und Linkspartei noch mit der Realität zusammenarbeiten.“ Den Vorsitzaspiranten Jens Spahn und Friedrich Merz bleibt nun nichts anderes mehr übrig, als in das Horn der Bundespartei zu stoßen, wollen sie ihre Unterstützung in der West-CDU nicht verlieren. Beide überbieten sich auf Twitter geradezu darin, ihre Beschlusstreue zu dokumentieren. Und das alles gilt offenbar selbst dann, wenn es bloß darum geht, Ramelow für eine kurze Übergangszeit ins Amt zu hieven, um Neuwahlen herbeizuführen. Die Konsequenzen dieser Haltung sind für den dieser Tage viel gescholtenen CDU-Fraktionsvorsitzenden Mohring klar: „Wenn Linke und AfD die Mehrheit der Mandate haben, gelten die üblichen Antworten einfach nicht mehr. Die Beschlusslage der Bundespartei trifft auf eine andere Lebenswirklichkeit und verlangt von der CDU im Osten daher etwas logisch Unmögliches“, bringt Mohring das Dilemma auf den Punkt. Sprechen wir einfach aus, was der aus der Zeit gefallene Beschluss der CDU letztlich bedeutet: Im Grunde verabschieden sich die Christdemokraten im Osten aus der parlamentarischen Demokratie. Denn wozu sollte man sie künftig noch wählen, wenn von Anfang an klar ist, dass sie sich der parlamentarischen Zusammenarbeit verweigert, sobald ihr das Wahlergebnis nicht passt? Jeder gelernte DDR-Bürger ist angesichts solcher Vorkommnisse sofort an den Aufstand vom 17. Juni 1953 und die berühmte Frage des Dramatikers Bertolt Brecht an die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands (SED) erinnert: „Das Volk hat das Vertrauen der Regierung verscherzt. Wäre es da nicht doch einfacher, die Regierung löste das Volk auf und wählte ein anderes?“ Der Soziologe Raj Kollmorgen hat daher ganz Recht. In einem Interview mit der Zeit erklärt er das Chaos um Thüringen zum „Endpunkt der Bonner Republik“. Auch dreißig Jahre nach der Wende hätte der Westen Deutschlands nicht verstanden, dass der Osten anders ticke und auf autoritäre Ansagen aus Berlin allergisch reagiere. Und vor allem hat der Westen bis heute nicht zur Kenntnis genommen, dass die Linkspartei einen ähnlichen Anpassungsprozess hinter sich gebracht hat wie im Westen die Grünen. Auch die galten einmal als extremistische Spinner, mit denen man nicht zusammen arbeiten könne. Aber das hat sich wie bei den Linken inzwischen geändert. Der westdeutsche Gewerkschafter und Protestant Ramelow würde heute nicht einmal mehr als Mitglied der CDA großartig auffallen. Nur: Was den Osten und die Linke angeht, verbarrikadiert sich die West-CDU bis heute im erlernten Antikommunismus. Nicht die Linke hat ein Problem mit der Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit, sondern die West-CDU mit der Verarbeitung der letzten 30 Jahre seit der Wende. Und es ist ausgerechnet das Versäumnis einer ehemaligen FDJ-Sekretärin für Agitation und Propaganda und Bundeskanzlerin aus dem Osten, in dieser Frage weder zur gesamtdeutschen Versöhnung noch Eröffnung neuer Machtoptionen für die Ost-CDU beigetragen zu haben. Im Gegenteil. Und das wird nicht ohne Folgen bleiben. Man sollte die aktuellen dramatischen Umfragewerte für die CDU Thüringen und die wachsende Zustimmung für die Linken daher nicht falsch verstehen. Sie sind nicht nur Ergebnis der Wahl Kemmerichs zum Ministerpräsidenten, sondern vor allem auch ein Protest ostdeutscher Wähler gegen die offenkundige Arroganz der Berliner Parteizentralen. Auch das kennt man schon von früher aus dem „Politbüro“. Bei Neuwahlen dürfen Linke und AfD insgesamt in Thüringen nunmehr auf deutlich mehr als 60 Prozent aller Wählerstimmen hoffen. Die Bundes-CDU verhilft damit ungewollt ausgerechnet Bodo Ramelow mutmaßlich zu einer rot-rot-grünen Mehrheit. Tritt dies nicht ein, zum Beispiel weil die Grünen den Wiedereinzug in den Landtag verfehlen, werden die aktuellen Probleme der Regierungsbildung noch größer sein als jetzt. Wenn der Westen nicht bereit ist umzulernen, werden die etablierten Parteien daher nicht nur „zerrieben zwischen den Interessen der westdeutschen Zentralen und ostdeutschen Eigensinnigkeiten“ (Kollmorgen). Sie verlieren auch den Osten insgesamt.
|
Mathias Brodkorb
|
Wer bisher geglaubt hatte, die SPD hätte ein exklusives Abonnement auf politischen Dilettantismus, sieht sich nach Thüringen eines Besseren belehrt. Die CDU verabschiedet sich mit ihrer Auschließeritis im Osten aus der parlamentarischen Demokratie.
|
[
"CDU",
"Thüringen",
"Mike Mohring",
"Thomas Kemmerich",
"Kramp-Karrenbauer"
] |
innenpolitik
|
2020-02-24T11:05:51+0100
|
2020-02-24T11:05:51+0100
|
https://www.cicero.de/innenpolitik/thueringen-krise-cdu-osten-annegret-kramp-karrenbauer-linke-mike-mohring
|
Datenschutz - Googlephilosophie stellt Grundrechte infrage
|
Kürzlich ist der Google-Mitgründer Larry Page bei einer Zukunftskonferenz aufgetreten. Dabei betonte er die Bedeutung von Informationen für das Wohl der Menschheit im Allgemeinen. Zum Beleg wurde zunächst ein mit emotionaler Musik untermalter Film eingeblendet: Der handelte von einem afrikanischen Bauern, der mithilfe von gegoogeltem Wissen seine Kartoffelernte rettet. Dann sagte Page: „Wäre es nicht großartig, wenn jedermanns medizinische Daten in anonymisierter Form Forschern zur Verfügung stünden? Wir könnten noch in diesem Jahr 100 000 Leben retten!“ Google rühmt sich zu Recht, bei technologischen Entwicklungen immer ganz vorn zu schwimmen. Aber auch darin, gesellschaftliche Entwicklungen vorwegzunehmen und zu befördern, ist das Unternehmen nicht schlecht. Die als Idee formulierte Forderung des Google-Gründers zeigt einen Trend, der in den USA bereits stark ist und der sich längerfristig auch hierzulande durchsetzen könnte: die Umkehrung des Begründungszwangs bei der Verwendung persönlicher Daten. Bisher, so will es das europäische Datenschutzrecht, braucht es eine Einwilligung des „Datenbesitzers“ zur Verwendung seiner Daten. Doch je mehr Instrumente zu ihrer Verwertung zur Verfügung stehen, je größer der echte oder vermeintliche Nutzen, desto mehr wird dieses Prinzip infrage gestellt. Ginge es nach Page, könnte es in Zukunft so sein: Alle Daten sind öffentlich, wer das nicht will, muss es begründen. 100 000 Leben retten – wer wollte das nicht? Auch wenn die Zahl aus der Luft gegriffen scheint, sind doch viele Wissenschaftler überzeugt, dass mit großen Sammlungen medizinischer Daten und der entsprechenden Analysesoftware viel erreicht werden kann. Sie hoffen etwa, mehr über Neben- und Wechselwirkungen von Medikamenten zu erfahren und Therapien besser auf den einzelnen Patienten ausrichten zu können. Dazu braucht man große Datenbanken mit Patientenakten, die bisher aus rechtlichen Gründen nicht ohne Weiteres zusammengeführt werden dürfen. Kostet der Datenschutz also Leben, wie Page suggeriert? Aus dieser Perspektive wird die rechtliche zu einer ethischen Frage. Müssten wir nicht zum Wohl des großen Ganzen auf so etwas Nebensächliches wie die Hoheit über unsere Daten verzichten? Handeln wir unmoralisch, indem wir sie so eifersüchtig hüten wie die Krähe ihr Nest? Die Kritik an großen Sammlungen sensibler Daten ist zunächst praktisch. Ein Einwand ist: Selbst wenn alle Namen aus der Datenbank getilgt werden, ist die Anonymität des „Datenspenders“ in Wahrheit nicht gewährleistet. Die Datenprofile sind so individuell, dass es letztlich nur einen Anknüpfungspunkt oder einen Abgleich mit weiteren Daten braucht, um einen Namen zum Profil zu finden, das belegen Studien immer wieder. Eben erst wurde gezeigt, wie aussagekräftig vermeintlich anonymisierte Telefon-Metadaten sein können, wie die NSA sie speichert. Sei es ein Schnipsel unserer Erbinformation oder das Sprachmuster unserer Online-Kommentare – unser digitaler Daumenabdruck klebt an vielen Türgriffen des weltweiten Netzes und wird immer leichter zu identifizieren und zuzuordnen sein. Welche politischen oder kommerziellen Verwertungen sich dann in Zukunft ergeben, ist kaum absehbar. Noch beunruhigender allerdings ist die Art und Weise, wie der Einzelne mit Verweis auf das Gemeinwohl in die Verteidigung gedrängt wird. Dahinter verbirgt sich ein Denken, das wenig auf liberale Prinzipien gibt. „Wir können keine Demokratie sein, wenn wir Sie und unsere Nutzer vor der Regierung schützen müssen“, sagte Page bei seinem Auftritt und kritisierte die Abhörpraxis der Obama-Regierung. Wir können aber auch keine Demokratie sein, ohne das Selbstbestimmungsrecht des Einzelnen zu respektieren. Dieses Recht wiegt so schwer, dass es auch bei scheinbar geringfügigen Beweggründen das Interesse der Allgemeinheit aushebeln kann. Es ist dasselbe Recht, das verhindert, dass verpflichtende Organspendeausweise eingeführt werden – auch, wenn durch eine solche Verpflichtung ebenfalls zahlreiche Leben gerettet werden könnten. Die Argumentationsstrategie, die im Auftritt des Google-Gründers deutlich wurde, ist besonders perfide, da sie sich als Idealismus verkleidet: In Turnschuhen und T-Shirt strich Page seinen Zuhörern rührseligen Weltverbesserungskitsch zentimeterdick auf’s Brot – und stellte im selben Atemzug Grundrechte infrage. Nein, das ist gar nicht „großartig“.
|
Anna Sauerbrey
|
Handeln wir unmoralisch, wenn wir auf der Hoheit über unsere Daten bestehen? Nein, auch das Gemeinwohl rechtfertigt keine große Datensammlungen. Ein Beitrag in Kooperation mit dem Tagesspiegel
|
[] |
kultur
|
2014-04-04T12:15:49+0200
|
2014-04-04T12:15:49+0200
|
https://www.cicero.de//kultur/datenschutz-googles-weltverbesserungskitsch/57349
|
Der Westen und Russland - Kalter Krieg 2.0
|
Es erinnerte an einen Thriller von John Le Carré. Ein Russe, später identifiziert als Jewgeni N., war in einem Luxusauto mit seiner Freundin durch die Prager Innenstadt gefahren, nun hatte sich das Paar in einem schicken Restaurant zum Abendessen hingesetzt. Dann schlug die tschechische Polizei zu. Die Ermittler stürmten das Restaurant und nahmen ihn fest. Der junge Mann war so erschrocken, dass er in Ohnmacht fiel (Die Festnahme im Video). Die Verhaftung erfolgte schon am 5. Oktober, doch erst vor einer Woche machte die tschechische Polizei sie publik. Später kam heraus: Die tschechischen Behörden hatten mit der US-amerikanischen Bundespolizei FBI zusammengearbeitet. Jewgeni N. wird vorgeworfen, die Internetdienste LinkedIn, Dropbox und Formspring als Hacker infiltriert zu haben und zwar im Dienst der russischen Regierung. Nun bemüht sich die USA um eine Auslieferung des Hackers. Russland protestierte gegen die Verhaftung. „Die Vereinigten Staaten veranstalten eine regelrechte Hetzjagd auf russische Bürger in der ganzen Welt. Wir arbeiten mit den tschechischen Behörden zusammen, um die Auslieferung eines russischen Staatsbürgers in die USA zu verhindern“, sagte eine Sprecherin dem Nachrichtendienst Bloomberg. Es scheint, als befänden wir uns wieder mittendrin in längst vergessenen Zeiten, aber unter neuen Vorzeichen. Nach der Annexion der Krim, der Ukraine-Krise und Putins militärischer Intervention in Syrien sprechen Diplomaten offen von einer Rückkehr des Kalten Krieges zwischen dem Westen und Russland. Auch beim Treffen der Nato-Verteidigungsminister in Brüssel am heutigen Donnerstag dominiert der Umgang mit Russland die Gespräche. Erst am Montag hatten die USA bekannt gegeben, dass sie Soldaten im norwegischen Trondheim stationieren wollen, etwa tausend Kilometer Luftlinie westlich von Russland. Prompt folgte die russische Kritik. Diesmal aber, so scheint es, erleben wir eine neue Ära, einen Cyberkrieg oder einen Kalten Krieg 2.0. – anders im Charakter, aber potenziell genauso bedrohlich, wenn nicht sogar bedrohlicher. Denn im Kalten Krieg 2.0 gibt es keine klaren Regeln. Der vorläufige Höhepunkt des Cyberkriegs waren die von Wikileaks im Juli veröffentlichten E-Mails der demokratischen Präsidentschaftskandidatin Hillary Clinton. Sie zeigten, dass die Führung der Demokratischen Partei Clinton bei der Nominierung systematisch bevorzugt hatte – zum Nachteil von Bernie Sanders, ihrem innerparteilichem Konkurrenten. Die damalige Parteivorsitzende der Demokraten, Debbie Wasserman Schultz, trat daraufhin von ihrem Amt zurück. Anfang Oktober machte die US-Regierung offiziell Russland für das Hacken der E-Mail-Konten verantwortlich. Das Ziel sei gewesen, Hillary Clinton zu schwächen und eine Wahl Donald Trumps wahrscheinlicher zu machen, und so eine Instabilität in der US-amerikanischen Regierung zu verursachen. Indirekt beschuldigten der Direktor der nationalen Nachrichtendienstes und das Heimatschutzministerium Wikileaks und dessen Gründer Julian Assange, mit Russland zusammenzuarbeiten. „Wir denken, dass nur leitende russische Beamte diese Aktivitäten beauftragt haben können“, hieß es. Daraufhin ließ das Außenministerium Ecuadors, die Internetverbindung von Julian Assange kappen, er lebt in der Londoner Botschaft des Landes. Am selben Tag wurden die Konten des russischen Fernsehsenders RT bei den britischen Banken Natwest und der Royal Bank of Scotland-Gruppe eingefroren – wer dahintersteckt, ist bis heute unklar. In den USA wird derweil offen über Vergeltungsschläge diskutiert. Die CIA plane eine „beispiellose Cyberattacke“ auf Russland, sagten US-Geheimdienstmitarbeiter dem Fernsehsender NBC. Vermutlich wird es dabei um die Enthüllung zwielichtiger Taktiken Putins und finanzieller Machenschaften gehen. Pikant dabei: Michael Hayden, der ehemalige Chef der Nationalen Sicherheitsbehörde (NSA) gab zu, dass die USA schon in der Vergangenheit ganz ähnlich vorgegangen sind, wie sie es jetzt Russland vorhalten. Jeder spioniert den anderen aus, eine Veröffentlichung folgt der anderen, soll es ewig so weitergehen? Die Wahrscheinlichkeit, dass Putin auf eine weitere Cyper-Attacke der USA mit dem sofortigen Abbruch der russischen Aktivitäten reagieren würde, ist gleich null. Russland wird nicht aufhören, mit moderner Technologie Geheimdienstinformationen über die USA zu sammeln, und andersherum genauso. Doch die Spannung in den klassischen Feldern der Politik zwischen den Großmächten ist bereits hoch genug, eine Eskalation des Cyberkriegs könnte fatal sein. Schon Anfang Oktober hatte Außenminister Frank-Walter Steinmeier gesagt: „Die neuen Zeiten sind anders, sind gefährlicher. Früher war die Welt zweigeteilt, aber Moskau und Washington kannten ihre roten Linien und respektierten sie.“ Ob das auch im Cyberkrieg gilt, der noch dazu mithilfe von außenpolitisch völlig unerfahrenen Hackern ausgetragen wird, ist zweifelhaft. Es ist nur eineinhalb Jahre her, dass China als größte Cyber-Bedrohung der USA galt. Chinesische Hacker hatten immer wieder die Server großer amerikanischer Firmen infiltriert und sich außerdem Zugang zu Akten der US-Regierung verschafft. Anstatt kriegerische Reden zu schwingen, verhandelte die US-Regierung mit China. Heute gibt es von dieser Seite aus kaum noch Attacken. Im Kalten Krieg kam es trotz aller martialischer Rhetorik auf beiden Seiten stets zu Verträgen, die einer Eskalation entgegenwirkten. Die Zeit wäre reif für ein internationales Cyber-Abkommen.
|
Constantin Wißmann
|
Die Kluft zwischen dem Westen und Russland wird immer größer und erinnert an längst überwunden geglaubte Zeiten. Doch diesmal wird der Konflikt auch im Cyberspace ausgetragen, was ihn noch gefährlicher machen könnte. Denn klare Regeln gibt es nicht
|
[
"Kalter Krieg",
"Hacker",
"USA",
"Russland",
"Putin",
"Wikileaks",
"Julian Assange",
"Cyberangriff"
] |
außenpolitik
|
2016-10-26T14:33:44+0200
|
2016-10-26T14:33:44+0200
|
https://www.cicero.de//aussenpolitik/der-westen-und-russland-kalter-krieg-20
|
Subsets and Splits
No community queries yet
The top public SQL queries from the community will appear here once available.