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Gesundheitssystem - Wer soll das noch zahlen?
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Die Kosten für die Krankenversicherung steigen – doch darüber, wer diese Ausgaben schultern soll, sind Union und SPD heillos zerstritten. So wird die Gesundheitspolitik zum Prüfstein dafür, wie ernst es beide Seiten mit der großen Koalition meinen. Am Donnerstag muss sich die große Runde damit befassen. Viele verstehen die Aufregung nicht: Die gesetzliche Krankenversicherung (GKV) schwimmt im Geld, das Leistungsspektrum des deutschen Systems ist weltweit eines der besten. Aber seriösen Schätzungen zufolge verwandeln sich die heutigen Milliardenreserven spätestens 2017 in ein zweistelliges Milliardenloch. Der Beitragsfluss – angeschwollen durch eine Erhöhung um satte 0,6 Prozentpunkte und die gute Konjunktur mit wenigen Arbeitslosen – wird sich deutlich verringern. Die Demografie schlägt zu Buche, der medizinische Fortschritt verlangt seinen Preis. Und viele Experten sind sich auch sicher, dass das System der privaten Krankenversicherung (PKV), wenn es nicht umfassend reformiert wird, vor die Wand fährt – weil es unbezahlbar wird. Die Privatkassen haben keine Möglichkeit, auf Qualität, Menge und Kosten der Leistungen Einfluss zu nehmen. Und die Ärzte halten sich an ihren Privatpatienten immer offensichtlicher schadlos. Die Union findet, dass alles auf bestem Wege und „mit einer umsichtigen Ausgabenpolitik“ beherrschbar ist. Das heißt: Die Arbeitgeberbeiträge blieben eingefroren und um 0,9 Punkte niedriger als die der Arbeitnehmer. Und alle künftigen Kostensteigerungen werden über pauschale Zusatzbeiträge allein von den Versicherten gestemmt. Die SPD dagegen möchte zurück zur paritätischen Finanzierung, bei der Arbeitgeber wieder exakt die Hälfte des Beitrags bezahlen. Sie will die einkommensunabhängigen Zusatzbeiträge, die sie für ungerecht hält, wegbekommen. Und sie möchte auch keinen Einheitsbeitrag mehr, sondern die Kassen wieder individuell die Beitragshöhe bestimmen lassen. Schon in drei bis vier Jahren, so warnt SPD-Verhandlungsführer Karl Lauterbach, müssten Versicherte im Schnitt Zusatzbeiträge von monatlich 30 bis 35 Euro obendrauf zahlen. Es könne nicht sein, dass man Rentner und Arbeitnehmer mit kleinen und mittleren Einkommen immer stärker belaste. Sein Unions-Kollege Jens Spahn dagegen malt den Verlust von Arbeitsplätzen an die Wand: Die Rückkehr zur Parität würde die Arbeitgeber knapp fünf Milliarden Euro kosten, rechnet der CDU-Politiker vor. Und mit den Zusatzbeiträgen habe man es endlich geschafft, die Gesundheitskosten vom Arbeitsmarkt zu entkoppeln. Ja, und zwar uneingeschränkt. Wegen des Widerstands der Union gebe es „nicht einen einzigen Schritt in Richtung Bürgerversicherung“, konstatierte Lauterbach nach der letzten Arbeitsgruppensitzung in der Nacht zum Dienstag. Spahn bestätigte dies. Angesichts des Wahlergebnisses könne „ niemand ernsthaft von uns verlangen, dass wir über eine Bürgerversicherung diskutieren“. Der SPD-Wunsch, auch Beamte und Selbstständige in ein solidarisch finanziertes System zu bekommen, ist damit endgültig vom Tisch. Immerhin hat man ein bisschen was für die Kosmetik getan. Kassenpatienten dürfen sich künftig, wenn sie länger als vier Wochen auf einen Termin beim Facharzt warten müssen, auch im Klinikum behandeln lassen. Bezahlt würde das dann aus dem Fachärzte-Budget. Die SPD verkauft dies, weil sie sonst kaum was hat, als „wesentlichen Schritt zum Abbau der Zwei- Klassen-Medizin“. Real jedoch wird sich an der Benachteiligung wenig ändern. Da die Ärzte für Privatpatienten weiter deutlich höhere Honorare verlangen können, bleiben gesetzlich Versicherte zweite Wahl. Dafür müssen die Bevorzugten immer tiefer ins Portemonnaie greifen – und kleine Beamte, Selbstständige und Rentner kommen auch künftig nicht aus der teuren Privatversicherung heraus. Nachdem die Union mit ihrem Wunsch ebenfalls gescheitert ist, die Wechselmöglichkeit innerhalb des privaten Systems zu erleichtern, bleiben die Kunden dort weiter allen Beitragssteigerungen ausgeliefert. Eine echte Wechseloption hätten sie nur, wenn sie ihre Altersrückstellungen mitnehmen dürften. Hier sperrte sich aber die SPD, denn die Betroffenen sind nicht ihre Klientel. Außerdem hat sie kein Interesse daran, das PKV-System durch Verbesserungen zu stabilisieren. Mit den kleinen Vorwärtsbewegungen in Richtung Bürgerversicherung war es schon mal nichts. Die Union ließ sich weder ein Zeitfenster ein, innerhalb dessen unzufriedene Privatversicherte wieder ins gesetzliche System hätten zurückwechseln können, noch akzeptierte sie eine einheitliche Gebührenordnung, die Schluss gemacht hätte mit höheren Honoraren für Privatpatienten. Doch um sich zu einigen, müssen die Sozialdemokraten auch was bekommen. Bei der Arbeitgeber-Beteiligung wird sich die Union stur stellen. Bleiben die Zusatzbeiträge. Wenn sie nicht ganz wegzukriegen sind, könnte man sie wenigstens einkommensabhängig gestalten. Sprich: Reiche zahlen mehr. Dabei sorgt sich die SPD weniger um die ganz Armen, denn für die gibt es einen Sozialausgleich. Betroffen seien vor allem Bezieher mittlerer Einkommen, sagt Lauterbach. Weil die Zusatzbeiträge mit voller Wucht in die nächste Wahl prasseln dürften, ist ein Einlenken der Union hier zumindest denkbar. Als Gesundheitsminister a.D. und praktizierender Populist dürfte CSU-Chef Horst Seehofer die Brisanz einer sich ausweitenden Kopfpauschale erahnen. Auch hier müssen die Parteichefs eingreifen. Die Experten von Union und SPD sind sich zwar einig, dass vieles verbessert werden muss und dafür auch die Beiträge steigen müssen. Mit dem von der SPD geforderten Aufschlag um 0,5 Prozentpunkte können CDU und CSU ebenfalls leben. Allerdings wollen sie die Erhöhung nur schrittweise – und davon auch noch 0,1 Punkte in eine Reserve für geburtenstarken Jahrgänge stecken, die ab 2035 ins Pflegealter kommen. Die Sozialdemokraten finden das angesichts der niedrigen Verzinsung auf den Kapitalmärkten unsinnig und argumentieren, jeder Euro werde für die aktuell Pflegebedürftigen benötigt.
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Rainer Woratschka
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Der künftige Kurs in der Gesundheitspolitik ist bei den Koalitionsverhandlungen heftig umstritten. Das Problem sind die steigenden Kosten. Wer soll dafür zahlen?
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innenpolitik
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2013-11-20T09:05:21+0100
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2013-11-20T09:05:21+0100
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https://www.cicero.de//innenpolitik/gesundheitssystem-wer-soll-das-noch-zahlen/56449
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Cicero im Dezember - Mischas Bester
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Es könnte die Millionen-Euro-Frage bei Günther Jauch sein: Wie hieß der größte Spion der DDR? War das a) Peter Pauls, b) Günter Guillaume, c) Mata Hari oder d) Adolf Josef Kanter? Die scheinbar leichte Frage würde jeder Quiz-Gast schnell beantworten – und damit 500.000 Euro verspielen. Der erfolgreichste Geheimagent, den die DDR in der Bundesrepublik je hatte, war nicht Günter Guillaume, sondern ein unscheinbarer Herr, der sein Büro Tür an Tür mit dem Parlamentsbüro des Spiegels in der Bonner Dahlmannstraße hatte. Unser Autor Dirk Koch, damals dort Büroleiter, hätte Adolf Josef Kanter einst mehr Aufmerksamkeit schenken sollen. Dann würde diese Geschichte nicht erst 30 Jahre nach dem Mauerfall erzählt werden. Es gab Hinweise. Geheimdienstchef Markus (Mischa) Wolf bezeichnet Kanter in seinen Memoiren als seinen besten Mann. In den Erinnerungen von Eberhard von Brauchitsch finden sich Passagen zu dem Mann, der sich erfolgreich an die Rockschöße der Schlüsselfigur der Flick-Affäre gehängt hatte. Kanter hatte Zugang zu Helmut Kohl, Hans Dietrich Genscher, Wolfgang Schäuble, Franz Josef Strauß und Egon Bahr. Sein Wissen und sein Geld machten die Spitzenakteure des Bonner Parketts abhängig. Seine Informationen gaben der DDR ein Dossier an die Hand, mit dem Markus Wolf und Erich Honecker die Regierung in Bonn jederzeit hätten düpieren können. Das Wissen wurde von der DDR gehütet und nur manchmal eingesetzt, wie möglicherweise beim ominösen Zwei-Milliarden-Kredit, den Strauß der zahlungsunfähigen DDR 1983 gewährt hatte. Über Kanter war bislang wenig bekannt. In seinem dürren Wikipedia-Eintrag stimmt nicht einmal der Vorname. Koch hat über Jahre die Puzzleteile zusammengefügt, bei der Stasi-Unterlagenbehörde recherchiert, mit Zeitzeugen gesprochen, das bisher geheime Gerichtsurteil gegen Kanter aufgetrieben – und damit der DDR ihr letztes Geheimnis entrungen. Mit zwei Jahren auf Bewährung kam Kanter nach seiner Enttarnung davon. Ein Urteil der Milde, das weggeschlossen wurde. Der politische Betrieb hat Kanters Fall immer vertuscht. Nach Kochs Recherche muss nun in jedem Fall die Wikipedia-Seite über Adolf Josef Kanter umgeschrieben werden. Vielleicht sogar ein Teil der deutsch-deutschen Geschichte. Die Titelgeschichte lesen Sie hier. Dieser Text ist in der Dezember-Ausgabe des Cicero, die Sie am Kiosk oder direkt bei uns portofrei kaufen können. Jetzt Ausgabe kaufen Lesen Sie außerdem in dieser Ausgabe: „Kneift nicht“ –Warum Annalena Baerbock nicht mehr die Frau an Robert Habecks Seite ist „Die Knochenjäger“ – Tausende Freiwillige suchen auf früheren sowjetischen Kriegsschauplätzen nach den Überresten vermisster Soldaten „Wie, wenn nicht nur Wir“ – Laut World Energy Council wird die Welt die Ziele des Pariser Klimaabkommens verfehlen – auch wegen deutscher Scheuklappen „Integration ist eine bringschuld“ – Der Musiker Leslie Mandoki über Angela Merkel, Viktor Orbán und eigene Versäumnisse
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Christoph Schwennicke
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Er war einer der absoluten Top-Spione der DDR, und doch ist sein Name bis heute praktisch unbekannt. Dabei hatte Adolf Josef Kanter direkten Zugang zu Politikern wie Helmut Kohl oder Hans Dietrich Genscher. Aufgrund bisher unausgewerteter Dokumente zeigt sich in der neuen Ausgabe von „Cicero“ das Bild eines Mannes, der die Bundesrepublik erpressen konnte
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"Spion",
"DDR",
"BRD"
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innenpolitik
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2019-11-22T12:39:13+0100
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2019-11-22T12:39:13+0100
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https://www.cicero.de//innenpolitik/cicero-dezember-ddr-spion-kanter-brd
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Referendum in den Niederlanden - Die Perversion der Demokratie
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Wer am Morgen nach diesem unglücklichen Referendum in den Niederlanden die Zeitung aufschlug oder sich durch die Onlineseiten klickte, musste ein betrübliches Bild von unseren Nachbarn erhalten: „Ein klares Nee richtet sich gegen Europa“, „Nee“ zum Ukraine-Abkommen, „Nee“ zur EU, so lauteten einige der Schlagzeilen. Die BILD-Zeitung meldete „Niederlande stimmen gegen EU-Ukraine-Abkommen“, 64 Prozent der Wähler hätten engere Beziehungen zur Ukraine abgelehnt – ohne auch nur in einem einzigen Satz zu erklären, dass das 30-Prozent-Quorum wackelte. Am Donnerstag war klar: Es wurde nur ganz knapp erreicht, mit 32 Prozent. Von einer „klaren Mehrheit“ kann keine Rede sein. Wenn man das Ergebnis betrachtet, ist das Gegenteil wahr: Gerade mal ein Fünftel der Holländer stimmte gegen das Assoziierungsabkommen. Zwar ist das Referendum nicht bindend. Aber es zwingt das Parlament, sich erneut mit einer Sache zu befassen. Das Referendum war eine Unverfrorenheit. Erstens, weil es von Populisten orchestriert wurde, die den Wählern auch noch vorgespiegelt hatten, es sei um einen EU-Beitritt der Ukraine gegangen. Zweitens, weil die Abstimmung alle demokratischen Prinzipien verdrehte. Wer für das Assoziierungsabkommen stimmen wollte, saß in einer Falle: Stimmte er an der Wahlurne mit „Ja“, sorgte er dafür, dass das Quorum erfüllt wurde – und half den Populisten. Das betraf genau 36 Prozent der Teilnehmer. Sie wurden dafür bestraft, dass sie ihr Stimmrecht ausübten. Sinnvoller wäre es für sie gewesen, gleich ganz zu Hause zu bleiben. Dann wäre das Quorum nie erreicht worden, Geert Wilders wäre krachend gescheitert. Thema erledigt. Das Referendum war also nicht nur europafeindlich. Es war eine Perversion der Demokratie. Wer jetzt, wie der EVP-Fraktionschef Manfred Weber, mehr Bürgerbeteiligung in Europa fordert, zieht daraus die falschen Konsequenzen. Mehr direkte Demokratie ist nicht das Allheilmittel, mit dem sich Politikverdrossenheit und die Entfremdung zwischen oben und unten bekämpfen lassen. Wie der Politikwissenschaftler Armin Schäfer seit langem warnt, verschärft sie die Ungleichheit noch. Zahlreiche Volksentscheidungen auf nationalen und regionalen Ebenen haben gezeigt: Einkommens- und bildungsstarke Bevölkerungsschichten bringen ihre Interessen viel stärker in den politischen Prozess ein als benachteiligte Gruppen. Dass es holländischen Populisten mit diesen Mitteln gelang, Bürger unter völlig falschen Annahmen ihres Handels an die Urnen zu locken und so das niederländische Parlament, ja ganz Europa in Geiselhaft zu nehmen, ist ein handfester Skandal: Wahltagsbefragungen in den Niederlanden zeigten, dass viele überhaupt nicht wussten, worum es in dem Referendum ging. Der Politikwissenschaftler Markus Linden vom Forschungszentrum Europa an der Universität Trier hat jüngst in der „Frankfurter Allgemeinen“ herausgearbeitet, welche Gefahr zu viel direkte Demokratie birgt. Das kann man in Hamburg betrachten, wo das Wahlrecht mit plebiszitären Elementen ergänzt wurde. Es wurde in großen Teilen nach den Vorstellungen des Vereins „Mehr Demokratie“ reformiert. Bei der Bürgerschaftswahl 2015 dann gab es sehr viele ungültige Stimmen. Viele Menschen waren von der Listenwahl schlicht überfordert. Zudem habe das neue 10-Stimmen-Modell zu einer starken Personalisierung geführt, schrieb Linden. Auch in Thüringen darf „Mehr Demokratie“ demnächst einen neuen Gesetzentwurf für kommunale Bürgerbegehren und Bürgerentscheide ausarbeiten. Der Ausbau des Plebiszits aber geht auf Kosten der Parlamente. Sie sind eigentlich das Herzstück der Demokratie. Die Antwort auf die Legitimitätskrise in Europa darf nicht die Zunahme nationaler Referenden sein, sondern die Stärkung der repräsentativen Funktion – des Europäischen Parlaments. „Mehr Demokratie“ hatte das von Rechtspopulisten initiierte holländische Referendum übrigens am Dienstag in einer Pressemitteilung gefeiert – als „Erstes von Bürger/innen ausgelöstes Referendum“. Am Donnerstag, als das verheerende Ergebnis feststand, hörte man von „Mehr Demokratie“ dann nichts mehr. Auf der Webseite: kein Kommentar.
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Petra Sorge
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Bei dem Referendum in den Niederlanden wurden die Unterstützer des EU-Ukraine-Abkommens darin bestraft, dass sie ihr Stimmrecht ausübten. Das zeigt, dass direkte Demokratie tatsächlich zu weniger Demokratie führt
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außenpolitik
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2016-04-07T16:51:20+0200
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2016-04-07T16:51:20+0200
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https://www.cicero.de//aussenpolitik/referendum-den-niederlanden-die-perversion-der-demokratie/60745
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Budgetgipfel – Merkels Europa ist satt und egoistisch
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Text…
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England statt Frankreich, Schweden statt Polen - beim Budgetgipfel hat sich die Kanzlerin für den reichen Norden entschieden.
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außenpolitik
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2012-11-27T09:14:56+0100
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2012-11-27T09:14:56+0100
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https://www.cicero.de//aussenpolitik/merkels-europa-ist-satt-und-egoistisch/52688
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Kunst trifft Piratenpartei – Dmitri Vrubel – Der Kinski der Moderne
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Berlin. 400 Piraten haben ihre Notebooks aufgeklappt. Die
Piratenpartei hat zur Landesmitgliederversammlung geladen. Laptop
an Laptop, ein permanentes Summen schwebt hörbar im Raum. Der
typische Parteitagstinnitus einer Partei, die sich im digitalen
Zeitalter angekommen glaubt. Während auf dem Podium eine Frau
sichtlich bemüht ist, analoge Ordnung in das bunte Chaos zu
bekommen und quatschende Delegierte zur Ruhe ermahnt, geht am
Tresen die 600. Flasche des koffeinhaltigen Szenegetränkes Club
Mate über die Theke. Am Nebentisch werden Äpfel verteilt,
selbstgeschmierte Schmalzbrote werden gereicht. Mittendrin ein Mann mit Hut. Es ist der russische Künstler
Dmitri Vrubel. Ein prächtiger Schnauzer prangt auf seiner Oberlippe
und wenn er spricht, blitzt eine listige Zahnlücke auf. „Dass sich
Menschen in den sogenannten Problembezirken nicht für
zeitgenössische Kunst interessieren, ist das Problem der
zeitgenössischen Kunst“, sagt Vrubel. Die Kunst habe sich vom
Menschen entfernt. Er will sie wieder zueinander führen. Seine
Vision: Er will Marzahn artifizieren. Mit Hilfe der Kunst sollen
Problembezirke aufgewertet werden. Das klingt ein bisschen nach
Werner Herzogs Film "Fitzccaraldo", in dem ein exzentrischer
Abenteurer, gespielt von Klaus Kinski, ein Opernhaus im Urwald
errichten will. Doch Vrubel ist es ernst damit. Er ist der Kinski
der Moderne, nur ohne Wut und Eitelkeit. An
der East-Side-Gallery hatte eine solche Form der Aufwertung bereits
Erfolg. Der 51-jährige Vrubel malte 1991 auf die Ostseite der
Berliner Mauer das berühmte Bild auf dem Erich Honecker Leonid
Breschnew küsst. Der „Bruderkuss“ wurde zu einem Wahrzeichen des
wiedervereinigten Berlins, zum Sinnbild für Freiheit. Die Gegend um
den Bruderkuss war einst einer der unschönsten und trostlosesten
Orte überhaupt. Es war der Übergang von Ost nach West, die tote
Schnittstelle zweier verfeindeter Systeme. „Dank der Kunst gibt es
jährlich eineinhalb Millionen Menschen, die daran vorbeigehen.
Kunst hat diesen toten Ort belebt“, strahlt Dmitri. Es ist sein
Muster dafür, wie Kunst aus toten Räumen lebendige macht. Vrubel nennt seinen Versuch, zu vereinen, was schwer zu vereinen
ist, Art 3.0. Hier stehen weder Künstler noch Publikum im
Mittelpunkt, sondern die Kunst in Form eines sozialen Problems
selbst. Erst kürzlich ist der Mann gemeinsam mit seiner Frau
Victoria Timofeeva den Piraten beigetreten. Dort glaubt er seine
Ideen bestmöglich umsetzen zu können. Im Falle des Projektes Art.
3.0 heißt das: Mittels kurzer Interviews sollen die Probleme der
Menschen lokalisiert werden, um sie dann vor Ort, in den Bezirken,
angehen und künstlerisch umsetzen zu können. Welche Kunst am Ende
tatsächlich entstehen wird, weiß aber niemand so genau, nicht
einmal Dmitri selbst. Es ist diese gewollte Unfertigkeit, die ihn mit den Piraten
verbindet. Für ihn geht es um den Prozess, weniger um das Ergebnis.
„Wir müssen auch verstehen, dass zeitgenössische Kunst vielleicht
am Ende nie zur Kunst wird“, sagt er. Sich selbst sieht er als
Mittler, als Initiator. Vergleichbar mit den Piraten in den
Vorständen, die sich als reine Verwalter, reine Administratoren
politischer Prozesse betrachten. Was zählt sei die Basis. Lesen Sie im zweiten Teil, warum Dmitri Vrubel Stalin mit roten
Narben malte Ähnlich wie es das Selbstverständnis der Piraten vorsieht, die
Partei aufzulösen, sobald sie ihre politischen Ziele erreicht hat,
so hat sich nach Vrubel‘scher Diktion Kunst aufzulösen, sobald das
soziale Problem, das hinter dem Kunstwerk steht, nicht mehr
existent ist. Kunst und Politik als schlichtes Instrument. In
diesem Bild treffen sich die Piraten und Vrubel wohl am
ehesten. Nah
ist Vrubel den Piraten auch, wenn es um das Verständnis von
geistigem Eigentum geht. „Der Umgang des deutschen Gesetztes
was den Bruderkuss angeht, ist der Traum aller Piraten“, sagt
Dmitri und lacht. Alle Menschen hätten, was dieses Bild betrifft,
die gleichen Rechte. Für die Verbreitung habe er nie auch nur einen
Cent gesehen. „In Amerika wäre ich Millionär, aber dort
gibt es keine Berliner Mauer“, scherzt er. Der quirlige Vrubel hasst Stillstand. „Was wir uns heute
einfallen lassen, wird morgen schon von gestern sein. Wir müssen
uns immer etwas einfallen lassen oder wir landen im Museum“, sagt
Dmitri. Und dort will Vrubel mit seiner Art 3.0 auf keinen Fall
hin. „In dem Moment, wo Kunst im Museum landet, hört sie auf,
interessant zu sein. Das Ziel der Kunst sollte nicht heißen, ins
Museum zu kommen, das Ziel sollte heißen, die Gesellschaft im
Positiven zu verändern“, schildert er gestenreich. Und genau das ist es, was ihn antreibt: Die permanente
Veränderung. Der kritische Blick auf sich und die Welt. Einen
Blick, den er bereits in frühster Kindheit zu schärfen begann.
Einer seiner Großväter fiel 1937 im Krieg, der andere war Offizier
im Gulag. Die Eltern waren leise Dissidenten. Im heimischen
Bücherregal dominierten Lenin und Marx. Unterm Bett aber fand der
junge Dmitri Solschenizyn. Als Kind malte er Stalin mit
roten Haaren und tiefen Narben im Gesicht. Kunst und Politik waren
für Dmitri schon immer untrennbar miteinander verbunden. Fotos: Richard Marx
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Dmitri Vrubel hat 1991 den „Bruderkuss“ auf die Berliner Mauer gemalt und damit ein Wahrzeichen geschaffen. Dass er nie irgendwelche Honorare dafür bekam, findet er gut. Aber das war nicht der einzige Grund für ihn, Mitglied der Piraten zu werden
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kultur
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2012-05-01T10:52:05+0200
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2012-05-01T10:52:05+0200
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https://www.cicero.de//kultur/dmitri-vrubel-der-kinski-der-moderne/49055
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Bloggerin in Tunis zum Schmähvideo – „Es gibt ein Recht zu protestieren“
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Rauch lag über der Stadt, vor der US-Vertretung in Tunis
herrschte Chaos. Salafisten und Sicherheitskräfte drängten sich vor
dem Gebäude. Gegenüber räumte ein Mob die amerikanische Schule aus.
Computer, Instrumente und Möbel – nur die Schulbücher ließen die
Islamisten zurück. Lina Ben Mhenni ist noch immer fassungslos, wenn sie an jenen
11. September zurückdenkt. Die tunesische Bloggerin war mit Kamera
und Schreibblock gekommen, um über die Botschaftskrawalle zu
berichten. Jetzt sitzt die zierliche Schwarzhaarige in einem Café in Bonn;
sie soll an diesem Tag einen Vortrag über die Scharia halten. Ben
Mhenni kämpft seit Beginn der Jasminrevolution mit ihrem Blog „A
Tunesian Girl“ unermüdlich für die Menschenrechte, 2011 wurde sie
deshalb für den Friedensnobelpreis nominiert. Seitdem reist sie
fast wöchentlich auf Konferenzen, um über die Situation in Tunesien
zu berichten. „Seit Beginn der Revolution habe ich kein Privatleben
mehr“, sagt Ben Mhenni, „jetzt lebe ich eben für mein Land.“ Die 29-Jährige erzählt, dass sie selbst im Internet Hinweise auf
die Demonstration finden konnte. Die tunesische Polizei habe die
Salafisten dennoch nicht gestoppt. „Wenn es darum geht, andere
Demonstrationen zu unterbrechen, greift die Polizei in Tunesien
immer sehr hart durch.“ Erst, als eine Sondereinheit des
Innenministeriums eintraf, hätten die Angreifer umgehend aufgehört.
Die Bloggerin senkt ihre Stimme: „Das ist doch sehr seltsam. Welche
Verbindung besteht zwischen den Salafisten und dem
Innenministerium?“ Es war das umstrittene Mohammed-Video eines US-amerikanischen
Filmemachers, das die Demonstranten in Tunis so empört hat. Darin
wird der Prophet als Tyrann und blutrünstiger Wüstenkrieger
gezeigt. Ben Mhenni setzt sich für freie Meinungsäußerung ein. Obwohl sie
gläubige Muslimin ist, fühlt sie sich nicht von dem Film
attackiert. Und doch sagt sie: „Die Menschen haben ein Recht zu
protestieren – aber eben ohne Gewalt.“ Seite 2: Schlimmer sind die französischen
Karikaturen Viel schlimmer als der Film seien die Karikaturen des
französischen Satire-Blatts „Charlie Hebdo“. Bereits in der Nacht
vor der Veröffentlichung schaute sich Ben Mhenni die Bilder im
Internet an, eine „pure Provokation gegen die muslimische Welt“.
Die junge Bloggerin ärgerte sich so sehr, dass es eine schlaflose
Nacht wurde. Es sei nicht nötig gewesen, Öl ins Feuer zu gießen,
wenn die islamische Welt bereits in Flammen steht, sagt sie. Als Cicero im Juli 2011 mit Lina Ben Mhenni sprach, war sie noch
sehr optimistisch. „So wie heute kannte ich Tunesien bisher nicht“,
sagt sie nun. Die Sicherheitskräfte stünden unter der Kontrolle des
Regimes – und nicht auf der Seite der Bevölkerung. Ben Mhenni zieht vorsichtig das linke Hosenbein hoch. Der
Fußknöchel ist leicht blau gefärbt. Anfang August wurde als sie von
Polizisten zusammengeschlagen, zum zweiten Mal in diesem Jahr.
Beide Male musste sie ins Krankenhaus. Einige der Sicherheitskräfte
erkannte sie wieder – aus den Zeiten Ben Alis. Damals stand die
Folter von Gefangenen noch auf der Tagesordnung. „Und vor einigen
Tagen wurde bekannt, dass ein Inhaftierter gefoltert wurde“. Ein
herber Rückschlag: „Wir dachten eigentlich, diesen dunklen
Abschnitt überwunden zu haben. Diese schlechten Nachrichten sind
ein herber Rückschlag.“ In den vergangenen Tagen habe die Regierung auch den Missbrauch
von Polizisten an einem Mädchen auf offener Straße gerechtfertigt,
erzählt Ben Mhenni. „Wie steht es um eine Regierung, wenn sie
hinter solch einem Verbrechen steht?“ Alltägliche Probleme kommen
in Tunesien noch hinzu – manchmal fehlt fließend Wasser oder
Elektrizität. Eigentlich sollte die Regierung im vergangenen Jahr beginnen,
eine Verfassung für das Land zu erarbeiten. „Das ist bisher nicht
geschehen.“ Am 23. Oktober 2012 jährt sich die Wahl in Tunesien. Im
Internet werden bereits jetzt Demonstrationen angekündigt. Ben Mhenni starrt ins Leere. Unter ihren Augen zeichnen sich
Schatten ab. Sie hat Angst um ihr Land.
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Der Konflikt um die Mohammed-Darstellungen entzweit sogar die Vorkämpfer des Arabischen Frühlings. Lina Ben Mhenni, tunesische Bloggerin und Menschenrechtsaktivisten, nennt neben westlichen Urhebern und gewalttätigen Salafisten sogar noch einen dritten Schuldigen für die Ausschreitungen: die tunesische Regierung
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außenpolitik
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2012-09-25T13:13:57+0200
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2012-09-25T13:13:57+0200
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https://www.cicero.de//aussenpolitik/es-gibt-ein-recht-zu-protestieren/51970
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Kerstin Ekman - Melancholisch, weise und überraschend vergnügt
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Die schwedische Schriftstellerin Kerstin Ekman ist eigentlich nicht als Autorin komischer Bücher bekannt. Sprachgewaltig beschreibt sie zumeist die existentielle Einsamkeit, ihre Figuren sind dem Schicksal ausgeliefert wie einer Naturgewalt. Umso fulminanter ihr neuer Roman: Mit „Schwindlerinnen” hat Ekman, die im nächsten Jahr achtzig wird, ein hoch amüsantes Buch über das Schreiben und die Liebe, über das Nobelpreiskomitee, die Literaturbranche und über sich selbst geschrieben. „Schwindlerinnen” ist ebenso ein satirischer Rückblick auf die letzten fünfzig Jahre der schwedischen Gesellschaft wie eine autobiografische Verwirbelung. Mit ähnlicher Lust am ästhetischen Spiel wie Vladimir Nabokov in seinem Roman „Sieh doch die Harlekine” nimmt Ekman die eigene Biografie zum Anlass, das Leben als Autorin zu hinterfragen. Lillemor Troj, eine 79-jährige Schriftstellerin, erfährt von ihrem Lektor, dass jemand einen Roman über ihr Leben geschrieben hat, der intime Details enthüllt. Der Lektor hält das Buch für eine Autobiografie, die Troj einem anderen Verlag unter Pseudonym gegeben hat. Aber Troj hat noch nie einen Roman geschrieben – das ist das Geheimnis ihres Lebens. Ihre Romane nämlich verfasste Barbro Andersson, die zu Studienzeiten einen Deal mit Troj gemacht hatte: Barbro würde die Bücher schreiben, Lillemor sich mit Namen und Foto der Öffentlichkeit stellen. Eine perfekte Symbiose: die eine unansehnlich, ohne Sinn für Etikette, aber mit kritischem Verstand und einem rauschhaften Zugang zur Sprache, die andere mit Sinn für Mode und Small-Talk und einem fürs Lektorieren notwendigen analytischen Sprachverstand. Damit sind zugleich zwei Seiten einer Autorin charakterisiert; die weltgewandte Person der Lesungen und Auftritte und die unkorrumpierbare, einsam Schaffende. Ekman lässt diese konträren Seiten in Gestalt zweier eigenwilliger Frauen so aufeinanderprallen, dass die Skurrilität dessen, was wir für normal halten, offensichtlich wird – mag es nun um die Literaturbranche oder die Hörigkeit der kleinen Leute gegenüber der schwedischen Sozialdemokratie gehen. Barbro kommt aus der Arbeiterklasse, Lillemor aus einer bürgerlichen Familie. Plastisch lässt Ekman das unbeholfene, aber rechtschaffene Schweden mit demjenigen der Bessergestellten und deren Idee kollidieren, das schwedische Gutmenschentum in die Welt exportieren zu wollen. Barbro etwa verabscheut Lillemors Aufnahme ins Nobelpreiskommittee. Lillemor dagegen fühlt sich in der Akademie zu Hause, sie mag das weltentrückte Beisammensein der Auserwählten. Von schlechten Rezensionen und nörgelnden Lesern geplagt, scheint ihr die Akademie wie eine zeitlose Hülle. Die erfrischenden Szenen, die einen Einblick in die Arbeit der Jury der weltweit wichtigsten literarischen Auszeichnung vorgaukeln, leben von Ekmans eigenen Erfahrungen als Akademiemitglied. Allerdings ist ihr Stuhl seit Jahren unbesetzt geblieben: Sie verweigert die Mitgliedschaft, seit sich die Akademie im Fall der Fatwa gegen Salman Rushdie nicht deutlich positionierte. Seine Komik gewinnt das Buch auch dadurch, dass es sich hier um zwei alte Damen handelt, die in jugendlichem Tempo denken und reden (mit dem die Übersetzung von Hedwig M. Binder nicht immer mithalten kann). Zeichnete Ekmans Figuren schon immer die große Menschenkenntnis ihrer Autorin aus, strotzen sie hier nun vor Leben. Die inneren Monologe der Frauen wechseln sich ab mit schnellen Dialogen und aberwitzigen Abschweifungen. Die Männer kommen und gehen – ein egomaner Akademiker, ein bankrotter Schweinezüchter, ein trinkfester Straßenmusikant. Das enge Verhältnis der Frauen überdauert bis zum Schluss, als Lillemor sich entschließt, das gefälschte Manuskript zu veröffentlichen: „Muss unser Verhältnis, das vielleicht nicht so leicht erklärbar ist, eine Lüge sein? Wird denn etwas dadurch wahr, daß es öffentlich wird?” Dieses grandiose Finale einer Schriftstellerin, deren Romane ein halbes Jahrhundert schwedischer Literatur mitgeprägt haben, verhandelt nicht zuletzt die Frage nach dem Ursprung eines Textes. Anstelle des Bildes vom aus sich selbst schöpfenden Genie entwickelt Ekman eine Zweiheit, die an Gertrude Steins „Autobiografie von Alice B. Toklas” erinnert – die Frage nach dem Ursprung beginnt zu irrlichtern, wenn eine andere Person die eigene Autobiografie erzählt. Melancholisch, weise und überraschend vergnügt ist diese Abrechnung mit dem menschlichen Theater, auf das Ekman hier zurückblickt. Sie selbst fasst es im Roman so zusammen: „Irgendwie ist die Vergangenheit besser. Sie ist zumindest vorbei.” Kerstin Ekman
Schwindlerinnen. Roman
Aus dem Schwedischen von Hedwig M. Binder
Piper, München 2012
368 S., 22,99 € ____________________________________________________________
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Antje Rávic Strubel
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Kerstin Ekman macht sich einen tollen Jux mit dem Schreiberleben
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kultur
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2013-01-29T16:48:04+0100
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2013-01-29T16:48:04+0100
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https://www.cicero.de//kultur/schwindlerinnen-eine-autorin-kommt-selten-allein/53312
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Spanien - Der lange Schatten von Bürgerkrieg und Diktatur
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Keine königliche Ansprache, keine Verurteilung des Militärputsches und der darauf folgenden, fast vierzigjährigen Diktatur, keine Trauerfeier für die 500.000 Toten, die halbe Million Flüchtlinge: Am 18. Juli jährt sich der Beginn des Bürgerkrieges zum 80. Mal. Doch das offizielle Spanien schweigt. Das liegt nicht daran, dass das Land nach den zweiten Wahlen in sechs Monaten immer noch damit beschäftigt ist, eine neue Regierung zu finden – am Dienstag tritt erstmals das Parlament zusammen: Spanien tut sich mit seiner Vergangenheit schwer, belässt Bürgerkrieg und Diktatur lieber im Ungewissen, statt sich einem zu allen Seiten gleichermaßen kritischen Dialog zu stellen. Immer noch liegen über hunderttausend überwiegend republikanische Bürgerkriegsopfer anonym verscharrt unter der Erde, die Menschenrechtsverletzungen der Diktatur sind auf Grund des generösen Amnestiegesetzes weiter ungesühnt. Solches Nicht-Handeln schafft ein Klima, in dem sich alte Vorurteile konservieren – mit erheblichen Folgen auf die politische Kultur. Selbst im Wahlkampf flammten jüngst die alten Bürgerkriegs-Topoi auf: Da sahen rechtskonservative Medien „Spanien vor den Türen eines revolutionären Kommunismus“ und perplex registrierte die spanische Öffentlichkeit, wie die Kleinstadt Guadamur bei Toledo Diktator Franco als Staatsmann feierte, der Spanien vor dem Zweiten Weltkrieg bewahrt habe. Im Dorf reagierte man auf die mediale Entrüstung mit Unverständnis („Ohne Franco hätten hier viele keinen Job“) und irgendwann wurde die Affäre dann mit resigniertem Schulerzucken ad acta gelegt. Die Unkenntnis über Franco ist groß, das fördert die Mythenbildung, so gehen Affekt und Geschichtsvergessenheit Hand in Hand. Seine Schüler sähen sich immer noch als Urenkel der Bürgerkriegssieger, die das Land vor der Gefahr des Kommunismus gerettet hätten, oder als Nachkommen der gedemütigten Kriegsverlierer, konstatierte jüngst ein Lehrer in der NZZ. Gleichzeitig wussten in einer Befragung von 2014 wussten dreißig Prozent der Lehramtsstudenten nicht, wie lange Franco regierte – knapp vier Jahrzehnte; 80 Prozent nicht, wann die letzten Todesurteile vollstreckt wurden – im Herbst 1975, nur Wochen vor dem Tod des Diktators. Diese Unkenntnis ist umso erstaunlicher, als dass die Diktatur die Demokratie ganz wesentlich mitgeprägt hat und sie in Teilen noch bis heute bestimmt. Es war Franco, der Juan Carlos I. zum Staatsoberhaupt bestimmte. Es waren die franquistischen Cortes, die das Parteiengesetz reformierten und gemeinsam mit der Franco-Opposition die Weichen für Wahlen und Verfassung stellten. Politisch war die transición, der friedliche Übergang von der Diktatur zu Demokratie, eine Meisterleistung. Aber die Bruchlosigkeit macht den Übergang zugleich zum Geburtsmakel der spanischen Demokratie. Francos Minister blieben Strippenzieher, nicht im Parlament, aber in den Verwaltungsräten der großen spanischen Unternehmen, bei Endesa, La Caixa, Telefónica, Iberdrola. Francos Richter wechselten vom Gericht der Öffentlichen Ordnung zum Obersten Gerichtshof. Eine Hypothek, die Spanien trotz Reformen, trotz Generationenwechsel noch heute nicht gänzlich überwunden hat: „Francos Politiker hatten keine Schuldgefühle, es gab nichts, wofür sie sich schämen mussten – diese Haltung hat sich auf die Nachfolgegeneration vererbt“, diagnostiziert der katalanische Historiker Joan B. Culla: Wer in Milieus großgeworden ist, in denen nie ein schlechtes Wort über Franco fiel, zeige autoritären Praktiken gegenüber eine größere Toleranz. Im unabhängigkeitsbewegten Katalonien erklärt man mit diesem Deutungsmuster alle möglichen Absonderlichkeiten Spaniens: von der grassierenden Korruption bis zur Abhöraffäre um den Innenminister Jorge Fernández Díaz, der sich der staatlichen Antikorruptionsbehörde bediente, um politische Gegner zu diskreditieren. So schmissige Pauschalurteile halten keiner historischen Analyse stand und sind zuvorderst politischem Opportunismus geschuldet. Am sichtbarsten fällt der lange Schatten von Bürgerkrieg und Diktatur immer noch auf die katholische Kirche Spaniens. Störrischer als anderswo stellt sie sich dem Modernisierungsschub durch Papst Franziskus entgegen und gehörte in den letzten Jahren zu den entschiedensten Gegnern jeder Gesellschaftsreform, jeder vergangenheitspolitischen Maßnahme. Sie organisierte Massendemonstrationen „für den Erhalt der Familie“, las vor Francos gigantischem Totenmal im Valle de los Caídos Feldmessen gegen die „Verfolgung der Gläubigen“. Auch die konservative Volkspartei Partido Popular ist nicht frei von Marotten dieser Art. Tatsächlich rang sich die Nachfolgerin der von Manuel Fraga, Francos Informationsminister und kurzzeitigem Regierungspräsidenten, gegründeten Alianza Popular, erst sehr spät, erst 2002, zu einer Verurteilung des Putsches durch. Und noch immer finden sich am rechten Rand der ideologisch breit aufgestellten Formation viele, die mehr oder weniger offen mit Francos autoritären Führungsstil kokettieren. Es ist kein Zufall, dass die einzige vergangenheitspolitische Maßnahme der PP war, das im Erinnerungsgesetz vorgesehene Budget für Exhumierungen auf Null Euro herunter zu fahren. Am schwersten wirken allerdings die ideologischen Altlasten. Als Mariano Rajoy am 26. Juni überraschend deutlich die Wahlen gewann, feierten das seine Anhänger mit Spanienfahnen und „Yo-soy-español , español, español-“Chören und aus Rajoys wirrer Dankesrede stach eine einzige Idee heraus: „Die Fahne der Partido Popular ist die Fahne Spaniens; der Partido Popular ist Spanien.“ Die Identifikation einer einzigen Partei mit einer Nation - das müffelt nicht nur nach Diktatur, sondern zeugt auch von einer Haltung, die bereits in der letzten Legislatur zu einer Zuspitzung des territorialen Konflikts und des Dauerzanks mit der katalanischen Regionalregierung beitrug: Was Spanien ist, bestimmen wir. Wer etwas anderes will, mit dem reden wir gar nicht. Aller Voraussicht nach wird dieser lange Schatten aus der Vergangenheit auch in der kommenden Legislatur zur Hypothek werden. Es ist das letzte, was das Land gebrauchen kann.
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Julia Macher
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Vor 80 Jahren putschte General Francisco Franco gegen die spanische Republik. Ein dreijähriger, blutiger Bürgerkrieg begann. Der Konflikt prägt Spaniens Politik und Gesellschaft noch heute
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"Jahrestag"
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außenpolitik
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2016-07-15T12:21:06+0200
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2016-07-15T12:21:06+0200
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https://www.cicero.de//aussenpolitik/spanien-der-lange-schatten-von-buergerkrieg-und-diktatur
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Marius Busemeyer im Gespräch mit Axel Meyer und Michael Sommer - Cicero Podcast Wissenschaft: „Die Rechtspopulisten profitieren vom negativen Framing“
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Der Politikwissenschaftler Marius Busemeyer ist Autor der Erhebung des Konstanzer Ungleichheitsbarometers und als Wissenschaftler interdisziplinär an der Schnittstelle zwischen Politikwissenschaft, Soziologie und Ökonomie unterwegs. In seiner Forschung betrachtet er die politischen Ursachen und Konsequenzen von Ungleichheit und berät die Politik, etwa als Teilnehmer einer Enquete-Kommission des Landtags von Baden-Württemberg zum Thema krisenfeste Gesellschaft. Der Ungleichheitsforscher untersucht, wie sich beispielsweise Ungleichheit der Menschen auf politische Beteiligung auswirkt. In seinen Studien zeigt Busemeyer, dass gerade die Subjektivität von Wahrnehmung wichtig ist, wenn es um politische (Wahl-)Entscheidungen geht. Und dass die heutzutage tendenziell pessimistischen Einschätzungen zur Entwicklung von Ungleichheit eher mit einer höheren Unterstützung für rechtspopulistische Parteien einhergehen, speziell die AfD (aber auch für das Bündnis Sahra Wagenknecht). Das Gespräch wurde am 9. Januar 2024 aufgezeichnet. Sie können den Podcast jetzt hier – klicken Sie dazu „Inhalte aktivieren“ – hören, oder auch auf allen Podcast-Portalen. Sie sind interessiert an weiteren Themen und noch kein Abonnent von Cicero Plus? Testen Sie uns, gratis für 30 Tage. Mehr Podcast-Episoden:
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Cicero-Redaktion
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Der Ungleichheitsforscher Marius Busemeyer vertritt die These, dass die subjektive Wahrnehmung von Ungleichheit wächst. Mit Michael Sommer und Axel Meyer diskutiert er, welche Auswirkungen dies auf das Wahlverhalten der Bürger hat.
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"AfD",
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2024-01-18T11:56:45+0100
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2024-01-18T11:56:45+0100
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https://www.cicero.de//kultur/marius-busemeyer-podcast-cicero-ungleichheit-afd-framing
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Atomwaffen im Ukraine-Krieg - Kuba-Krise in Zeitlupe?
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Die Vereinigung Deutscher Wissenschaftler (VDW) ist ein 1959 von u.a. Otto Hahn, Werner Heisenberg, Wolfgang Paul und Carl Friedrich von Weizsäcker gegründeter Zusammenschluss von Wissenschaftlern aus allen Disziplinen, die ihre Verantwortung für die Folgen von wissenschaftlicher Forschung und technischer Entwicklung kritisch reflektieren und mit differenzierter Expertise an der gesellschaftlichen Debatte aktiv teilnehmen, vor allem auf den Gebieten Frieden, Klima, Biodiversität und Ökonomie. Die Vereinigung hat sich seit ihrer Gründung 1959 stets zu zentralen Fragen der Europäischen Sicherheit geäußert. Cicero dokumentiert im Folgenden die aktuelle Stellungnahme der Vereinigung. Stellungnahme der Vereinigung Deutscher Wissenschaftler (VDW) auf der Basis der Arbeit der Studiengruppe „Europäische Sicherheit und Frieden“ Ein Nuklearwaffeneinsatz ist seit 77 Jahren ein Tabu, das jetzt wieder in Frage gestellt wird. Wie bei der Kuba-Krise von 1962 stehen wir erneut vor einem gefährlichen Risiko eines Atomwaffeneinsatzes. Heute ist Europa sogar unmittelbar betroffen. In der Kuba-Krise konnte die nukleare Katastrophe durch eine Kombination von öffentlich kommunizierter Standfestigkeit auf der einen Seite, der Nutzung persönlicher Gesprächskanäle bei gleichzeitig signalisierter Verhandlungsbereitschaft der Parteien auf der anderen abgewendet werden. Auch heute ist beides notwendig. Präsident Putin hat seit Kriegsbeginn mehrfach und zuletzt eindringlich mit dem Einsatz russischer Atomwaffen gedroht. Diese russische Rhetorik bezweckt vermutlich, den Westen von einer wirkungsvollen Unterstützung der Ukraine abzuschrecken, die Ukraine von entschiedener militärischer Gegenwehr abzuhalten und nationalistische Extremisten in Russland zu beschwichtigen. Mittlerweile hat sich die wechselseitige Drohrhetorik nach oben geschraubt. US-Präsident Biden warnt Russland massiv vor einem Armageddon, und der ukrainische Präsident Selenskyj bringt Präventivschläge ins Spiel, um einen Atomwaffeneinsatz Russlands unmöglich zu machen. Militärisch mussten die russischen Streitkräfte zuletzt Rückschläge in den von ihnen besetzten Gebieten hinnehmen. Die reale Gefahr besteht, dass aufgrund von Fehlkalkulationen oder absichtlich Nuklearwaffen von Russland eingesetzt werden, um kriegsentscheidende militärische Rückschläge zu verhindern. Von Bedeutung ist in diesem Zusammenhang auch die gefährliche Lage um das von russischen Streitkräften besetzte größte ukrainische Kernkraftwerk Saporischschja, dessen Areal wiederholt von Raketen beschossen wurde. Die kämpfenden Seiten tragen hier die Verantwortung für die Verhinderung eines Nuklearunfalls. Ein Abrücken des Westens von einer verantwortungsbewussten Unterstützung der Ukraine als dem Opfer eines völkerrechtswidrigen Angriffskrieges verbietet sich, weil das nuklearer Erpressung weiteren Aufwind geben würde. Die unbekümmerte Auffassung einiger Befürworter unbegrenzter Waffenlieferungen, Putins Rhetorik sei „ein Bluff“, ist gefährlich. Es ist nicht auszuschließen, dass Putin (auch unter dem Druck seiner politisch-militärischen Umgebung) taktische Nuklearwaffen als letzte Zuflucht vor einer Niederlage der russischen Streitkräfte in der Ukraine oder als Stoppsignal an den Westen einsetzen könnte, um diesen von seiner militärischen Unterstützung der Ukraine abzubringen. Der Westen könnte sich genötigt sehen, in irgendeiner Weise auf einen russischen Atomwaffeneinsatz zu reagieren. Ein Atomwaffeneinsatz der Nato würde aber eine unkontrollierbare Eskalation nach sich ziehen. Die Biden-Administration scheint ihre Überlegungen auf massive konventionelle Gegenschläge gegen russische Streitkräfte zu konzentrieren, die länger andauern würden. Dadurch würde die Nato allerdings unmittelbar in den Krieg mit hineingezogen. Putin bliebe dann angesichts der westlichen konventionellen Überlegenheit möglicherweise nur noch die Wahl zwischen Niederlage und weiterer nuklearer Eskalation. Ein möglicher Atomkrieg in Europa würde nicht nur Millionen Tote kosten, sondern auch große Teile Europas langfristig unbewohnbar machen. Atomwaffeneinsätze hätten zudem unkalkulierbare Wirkungen auf das weltweite Wetter-, Öko- und Klimasystem. Beginn und Verlauf des russischen Einmarschs in die Ukraine lassen erkennen, dass solche Zusammenhänge in der russischen Entscheidungsfindung bisher offenbar eine geringe Rolle spielen. Umso mehr müssen sie in der westlichen Politik zur Geltung kommen. Das Vorsichtsprinzip gebietet, eine Eskalation des Ukraine-Krieges hin zum Nuklearkrieg unbedingt zu verhindern. Das Eskalationsrisiko muss Anstoß sein, die Kampfhandlungen schnellstmöglich zu beenden und diplomatische Lösungen für die Wiederherstellung der territorialen Integrität der Ukraine auf den Weg zu bringen. Dies wird Zeit in Anspruch nehmen. Ohne die Grenzen der Vergleichbarkeit der Kuba-Krise mit der gegenwärtigen Situation zu ignorieren, lässt sich festhalten, dass es in der Kuba-Krise, also in einer an Gefährlichkeit kaum zu überbietenden Konfrontation, möglich war, nicht nur eine weitere Eskalation des Konflikts zu verhindern, sondern auch ein Instrumentarium für eine über die unmittelbare Krise hinausgehende Vertrauensbildung und Verständigung der Konfliktparteien zu entwickeln. Die Kuba-Krise beförderte in erheblichem Maße die Bemühungen um Stabilität mittels nuklearer Rüstungskontrolle. Ein zentrales Element ist die Begrenzung des Risikos eines Atomkrieges auch aufgrund von Fehlwahrnehmungen und Fehlkalkulationen. Unter dieser Perspektive ergeben sich die folgenden Anforderungen an einen verantwortbaren Umgang mit der gegenwärtigen Konfrontation: Erarbeitet von der VDW-Studiengruppe „Europäische Sicherheit und Frieden“
Prof. Dr. Lothar Brock, Frankfurt
Prof. Dr. Michael Brzoska, Hamburg
Dr. Hans-Georg Ehrhart, Bonn
Dr. Miriam Engel, Darmstadt
Dr. Ute Finckh-Krämer, Berlin
Brigadegeneral a.D. Helmut W. Ganser, Hamburg
Prof. Dr. rer. nat. Hartmut Graßl, Hamburg
Botschafter a.D. Rüdiger Lüdeking, Tangermünde
Dr. rer.pol. Hans-Jochen Luhmann, Wuppertal
Parl. Staatssekretär a.D. Dr. Hans Misselwitz, Berlin
Prof. Dr. rer. nat. Götz Neuneck, Wuppertal
Prof. Dr. Konrad Raiser, Berlin
Prof. Dr. Michael Staack, Hamburg
Prof. Dr. Jürgen Scheffran, Hamburg
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Vereinigung Deutscher Wissenschaftler
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Die Rückschläge, die die russische Armee zuletzt in den von ihr besetzten Gebieten in der Ukraine hinnehmen musste, erhöhen nach Meinung der Vereinigung Deutscher Wissenschaftler (VDW) das Risiko einer nuklearen Eskalation. „Die reale Gefahr besteht, dass aufgrund von Fehlkalkulationen oder absichtlich Nuklearwaffen von Russland eingesetzt werden“, schreibt ein prominent besetztes Autorenteam aus Reihen des 1959 gegründeten Zusammenschlusses von u.a. Diplomaten, Friedensforschern und Politologen in einer aktuellen Stellungnahme. „Cicero“ dokumentiert den Text im Wortlaut.
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"Russland",
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außenpolitik
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2022-10-27T11:37:12+0200
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2022-10-27T11:37:12+0200
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https://www.cicero.de//aussenpolitik/atomwaffen-im-ukraine-krieg-vereinigung-deutscher-wissenschaftler-stellungnahme
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Künstlerin Yehudit Sasportas - Flucht vor der Routine
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Yehudit Sasportas steht in einem pechschwarzen Ausstellungsraum. Die Dunkelheit verleiht ihrer Kunst mehr Ausstrahlungskraft. Auf der Wand hinter ihr im Israel Museum in Jerusalem läuft ihr Video. Schwarz-weiße Bäume sind zu sehen, sie rascheln und werfen Licht in den Raum. Direkt auf Sasportas. Alle Blicke sind auf sie gerichtet. Sasportas jedoch schaut streng geradeaus, während sie über ihre Kunst spricht und übersieht die Silhouetten der Museumsbesucher. Ein Großteil der Zuschauer starrt Sasportas voll Bewunderung an. Ihre wachen, mandelbraunen Augen, die hohen Wagenknochen, die schön geschwungenen Hüften. Ein eintöniger meditativer Rhythmus spielt im Hintergrund. „Das gleichmäßige Geräusch sind die Herzschläge meiner Familienmitglieder“, sagt die junge Künstlerin, „ich habe sie fünfzehn Jahre lang aufgenommen. Ohne, dass sie davon wussten.“ Jetzt starren die Zuhörer betreten auf den Boden. Keiner traut sich, etwas zu erwidern. Sasportas genießt die allgemeine Verwirrung und das Unbehagen.Sie suche stets nach Seltsamem, sagt sie, um ihre Routine zu durchbrechen. Genau das soll ihre Kunst auch in anderen auslösen. Vor allem eines habe ihr dabei geholfen diesem Impuls zu folgen: Die Fremde und die Einsamkeit auf die sie in Berlin stieß. Sasportas ist weltweit eine der berühmtesten israelischen Künstlerinnen. 1969 ist sie in Ashdod, einem kleinen Ort bei Tel Aviv, zur Welt gekommen. Als Kind verbrachte sie jede Woche einige Stunden in der Schreinerei ihres Vaters. Dort hat sie Kunst für sich entdeckt. Ihre frühen Werke sind hauptsächlich Skulpturen, die Objekten aus der Schreinerei ähneln. Studiert hat sie später an der Universität in Bezalel in Jerusalem, an der sie seit 1994 auch unterrichtet. 2003 ist Sasportas für ein Stipendium in das Künstlerhaus Bethanien nach Berlin gezogen. "Ursprünglich wollte ich nur das eine Jahr bleiben", sagt Sasportas. Aus einem Jahr wurden zehn. Heute lebt die Künstlerin zwischen Berlin und Tel Aviv. Auch nach Berlin kam Sasportas, um vor der Routine zu fliehen. Dort traf sie auf Einsamkeit, die sie dazu bewegte, Ungewöhnliches aufzusuchen. “Berlin war für mich nie ein physisches Zuhause“, erklärt Sasportas. Weder ihre Sprache oder ihr Klima, noch ihre Familie, waren dort. Sie begann bereits nach kurzer Zeit, eine innere Leere zu spüren, trotz vieler Aufträge und der Empfänglichkeit für ihre Kunst. Zunächst versuchte sie mit Meditation dagegen anzukämpfen. Dann begann sie ihre Einsamkeit zu erkunden, sie führte sie an den Rand von Deutschland. Während einer Zugfahrt nach Leipzig saß Sasportas neben einer Frau, die ihr eine Fotoaufnahme des Restmoor Dreesberg bei Oldenburg zeigte. Als sie das Bild sah, war ihr klar: dort muss sie hin. Innerhalb von sieben Jahren besuchte die Künstlerin alle paar Monate das Moorgebiet. Jedes Mal nahm sie ein Taxi zum Rande des Moors. Jedes Mal fragte sie der Fahrer, ob sie denn wirklich so weit fahren wolle. Im Moorgebiet setzte sie sich in ein Kanu. „Ich fühlte mich wie auf dem Boot des Fährmann Charon, der in die Unterwelt fährt“, erzählt sie. Es war totenstill. Nur wenige Tiere überleben hier, durch den Säuregehalt werden Tote aber über Jahre konserviert. Sasportas filmte, fotografierte und nahm auf. Als ein Rascheln die Stille brach, zwang sie sich dem Klang zu folgen. Sie fuhr mit der Hand über die Sumpfoberfläche, spürte eine Bewegung und griff ins Leere. Dann fuhr die Künstlerin weiter, ihrer Angst hinterher. Sie durfte aber nie zu weit fahren, um nicht im Sumpf stecken zu bleiben. „Ich verbrachte dort immer vier, fünf Stunden, ohne mich zu unterhalten. Es war, als ob die Zeit stehen blieb.“ Ihr künstlerisches Schaffen während der Zeit in Deutschland baut auf dem Moor auf. Es inspirierte sie sowohl zu Skulpturen, sie baute Charons Boot nach, als auch zu Fotos, Videos und zur Malerei. Sasportas vertritt einen driftenden Realismus. Die Bäume und Wälder in ihren Werken sind real, die Dimensionen entsprechen fotografischer Korrektheit. Die Wurzeln einiger Bäume führen aber ins nirgendwo. Der Betrachter fühlt sich im Gestrüpp verloren. Diese Beklommenheit überkommt den Zuschauer in ihren Videos noch stärker. Ihr Film The Light Workers besteht aus über 100 Bildern. Dafür hat sie hypersensitive Mikrophone im Inneren einiger Bäume im Schwarzwald angebracht. Sie nehmen Geräusche auf, die das menschliche Ohr nicht hören kann. Wie zum Beispiel die Schritte einer Ameise oder leise knisternde Blätter. „Ich habe mir die Aufnahmen stundenlang angehört“, erzählt Sasportas. Der Zuschauer soll nicht nur hören, was tief unter der Oberfläche des Baumstamms vor sich geht. In dem Film erscheinen Farbfilter, die das Innere der Bäume nach außen kehren. Das Video ermöglicht dem Betrachter übermenschliche Sinneseindrücke. Je länger er das Werk anschaut, desto unwohler wird ihm. Sasportas will Menschen aus ihren gewohnten Wahrnehmungsformen reißen. Offensichtliches Infragestellen ist auch etwas, dass sie ihren Studenten in Bezalel mit auf den Weg gibt. „Die ersten beiden Jahre bei mir an der Uni sind eine psychische Detox-Kur“, sagt Sasportas. Ich fordere meine Schüler auf, sich von der Schein-Identität, die sie aufgebaut haben, zu befreien. „Jeder Künstler muss sich und sein Werk von außen betrachten können und radikal in der eigenen Tiefe graben“, meint Sasportas. Das gehe nur, wenn man eine enorme Distanz zu sich schafft. Ihre Zeit in Berlin hat Sasportas zu der gemacht, die sie ist. Zu einer Frau, die durch ihre Kunst Menschen aus der Reserve lockt. Die Besuchergruppe des Israel Museum taut auch langsam auf. Sie stellen Sasportas präzise Fragen. „Wieso haben sie ihre Familie aufgenommen?“, fragt ein junger Mann. Sasportas erzählt, sie wollte damals ihre Familie aufnehmen, um sich vor dem Alleinsein zu schützen. Heute wisse sie, dass es lohnender ist, Einsamkeit zu erforschen: „Durch meine Erfahrungen in Deutschland ist Berlin mein methaphysiches Zuhause geworden, aus dem ich endlos Kunst schöpfe.“
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Laetitia Grevers
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Die israelische Künstlerin Yehudit Sasportas flieht vor der Routine. Akribisch versucht sie, Unbewusstes aufzudecken. Auch der Betrachter ihrer Kunst muss sich mit Ungewöhnlichem auseinandersetzen und erlebt radikale Sinneseindrücke
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kultur
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2014-04-28T15:18:01+0200
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2014-04-28T15:18:01+0200
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https://www.cicero.de//kultur/yehudit-sasportas/57484
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Israel – Von Jaffa zu Java
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Fast wäre Avi Yaron bei dem Motorradunfall auf der Stadtautobahn
Tel Avivs tödlich verunglückt. Im Nachhinein hat der Unfall dem
jungen Israeli erst das Leben gerettet und ihn dann auf eine neue
Geschäftsidee gebracht: Als die Ärzte ihn auf Brüche untersuchten,
entdeckten sie zufällig einen Gehirntumor, mit tödlicher Prognose.
Yaron ließ sich nicht entmutigen. Er fuhr zu einem Spezialisten in
den USA, um das Geschwür entfernen zu lassen. Nach der OP hatte der
Arzt gleichwohl schlechte Nachrichten: Der Tumor konnte nicht
vollends beseitigt werden, ohne irreparable Schäden anzurichten.
Der Chirurg machte Avi jedoch Mut: „Eines Tages wird jemand eine
Kamera erfinden, die klein genug ist, um im Schädel
dreidimensionale Aufnahmen zu machen. Dann kann ich es gern nochmal
versuchen.“ Yaron wollte sich aber nicht auf den Erfindergeist
anderer verlassen. Statt abzuwarten, entwickelte er die Kamera
selbst und gründete die Firma Visionsense. Inzwischen produziert
sein Unternehmen eine 3,4 Millimeter große Kamera, die aus dem
Körperinneren dreidimensionale Bilder liefert. Für den Finanzexperten Dan Senor ist Yarons Geschichte zwar ein
extremes Beispiel, aber gleichzeitig typisch für den
Unternehmergeist vieler Israelis. In dem Buch „Start Up Nation“
haben er und der Journalist Saul Singer „Israels Wirtschaftswunder“
analysiert: „Dieser Staat hat einen nationalen Überlebensethos.
Zähigkeit und stures Festhalten trotz aller Widrigkeiten sind
israelische Eigenschaften, die sich auch im Geschäftsleben bezahlt
machen“, sagt Senor. Gezielte Förderung von Zukunftstechnologien durch den Staat, die
Armee als Kaderschmiede für Führungskräfte, eine erfolgreiche
Einwanderungspolitik und ein ausgezeichnetes Schul- und
Universitätssystem haben den überraschenden wirtschaftlichen
Aufschwung ermöglicht. Allen widrigen Umständen zum Trotz hat sich
Israel, umzingelt von Feinden, vom armen Agrarstaat Anfang der
Achtziger zum boomenden Hightech-Standort entwickelt. Nicht einmal
die Finanzkrise hat das Land wirklich beeinträchtigt. Bei seiner Gründung 1948 hatte Israel andere Sorgen als den
Aufbau einer modernen Marktwirtschaft. Es ging ums nackte
Überleben. „Kanonen statt Strümpfe“ lautete das Motto der fünfziger
Jahre, mit dem die Bürger dazu angehalten wurden, staatliche
Anleihen für die Aufrüstung zu kaufen. Bis heute ist das
Verteidigungsbudget einer der größten Posten im Haushalt. Vor dem
Libanonkrieg 2006 erhielt das Militär rund 8,4 Milliarden Euro,
etwa 17 Prozent des Etats. Angesichts der Gefahr aus dem Iran und
der Bedrohung durch Terrororganisationen bekommt das Militär heute
noch mehr. Der wirtschaftliche Einfluss der Armee ist sogar noch
größer, als der Staatshaushalt auf den ersten Blick erahnen lässt:
„Rund die Hälfte des Staatsgebiets Israels gehört den israelischen
Sicherheitskräften oder wird von ihnen verwaltet“, sagt der Geograf
Amir Oren vom Van-Leer-Institut. Bauland ist daher eine knappe
Ressource und steht der Privatwirtschaft nur eingeschränkt zur
Verfügung. Dan Senor glaubt trotzdem, dass gerade das Militär eine zentrale
Rolle für Israels Wirtschaftsaufschwung spielt: „Junge Israelis
werden in Kriegseinsätzen zu Führungspersönlichkeiten. Sie müssen
trotz lückenhafter Informationen schnell harte Entscheidungen
fällen. Und sie geben niemals auf.“ Das mag sich für
mitteleuropäische Ohren absurd anhören, aber Stellenanzeigen in
Israel, in denen gezielt nach Soldaten aus Eliteeinheiten gesucht
wird, belegen Senors These. Mittlerweile muss die Armee aufpassen,
dass die Soldaten nicht frühzeitig den Dienst quittieren, weil
ITUnternehmen sie mit attraktiveren Gehältern abwerben. Dan Lichtenfeld, Generaldirektor und Eigentümer der Firma
ideomobile, ist ein Paradebeispiel dafür, wie Israels Armee Hebamme
für die Hightech-Revolution spielt: „Bevor ich eingezogen wurde,
interessierte ich mich kaum für Computer.“ In einer Spezialeinheit
des militärischen Geheimdiensts wurde er binnen sechs Monaten zum
Programmierer ausgebildet: „Noch bevor ich 20 Jahre alt war,
leitete ich Millionenprojekte“, sagt Lichtenfeld. „Ich musste alles
machen, von der Planung bis zum fertigen Produkt. Nichts kann diese
Erfahrung ersetzen: Im privaten Sektor hätte ich niemals so schnell
so viel Verantwortung erhalten.“ Lichtenfeld lernte, dass
Hierarchien in der israelischen Armee nicht so starr sind wie
anderswo auf der Welt: „Debatten sind erwünscht. Man darf seinen
Vorgesetzten widersprechen, soll es sogar, wenn man überzeugt ist,
recht zu haben.“ Das Wissen aus der Armee nutzt Lichtenfeld noch
heute in seiner beruflichen Karriere. Noch während des Wehrdiensts
gründete er seine erste Firma, später halfen ihm die Beziehungen,
die er in der Armee geknüpft hatte, an andere Jobs zu kommen. „In
der IT-Branche kennt man sich“, sagt Lichtenfeld. „Das erleichtert
das Networking ungemein. Wenn man Fragen oder Ideen hat, kommt man
schnell an jeden heran.“ Dass sich die Mentalität der Armee auch auf das Verhalten der
Unternehmen auswirkt, stellte der große Werkzeughersteller Iscar
während des zweiten Libanonkriegs 2006 eindrucksvoll unter Beweis.
„Der Generaldirektor gab das Motto aus: Solange wir Kunden haben,
herrscht für uns kein Krieg“, erzählt Senor. So ging die Produktion
in der Zentrale des Unternehmens in Galiläa auch unter
Raketenbeschuss weiter. Neben der Armee fördert auch das israelische Erziehungssystem
den Unternehmergeist. Das verstehe jeder, der einmal eine
Thoraschule besucht habe, sagt der israelische Wirtschaftsexperte
Tanny Goldstein: Rabbiner, die langatmige Vorträge halten, sucht
man hier vergeblich. Stattdessen diskutieren zig Schüler stehend
und wild gestikulierend in der Bibliothek, bis sie sich abends
erschöpft und uneins wieder trennen. „Das Judentum ermutigt
Diskussion, ständiges Hinterfragen ist selbstverständlich.
Eigeninitiative, Debattieren und eine Kultur des Lernens wird uns
von Kindesbeinen an eingeimpft“, sagt Goldstein. Die OECD bezeichnete Israels Bildungspolitik im weltweiten
Vergleich als „herausragend“. Seit dem Jahr 2000 erhielten vier
Israelis Nobelpreise in den Disziplinen Wirtschaft und Chemie. Laut
einem Bericht des Weltwirtschaftsforums herrscht unter den
insgesamt rund 7,5 Millionen Israelis die weltweit größte Dichte an
Wissenschaftlern, Ingenieuren und Technikern. Ein Viertel der
Arbeitskräfte hat einen akademischen Abschluss. Das
Weizmann-Institut gilt als die zweitbeste Forschungseinrichtung der
Welt außerhalb der USA, nur das Max-Planck-Institut schnitt in
einer Studie des Magazins The Scientist besser ab. Israels
Wirtschaftsforscher werden öfter zitiert als die jeder anderen
Nation: sieben Mal mehr als die Ökonomen Großbritanniens, die Platz
zwei belegen. Auch bei technischen Innovationen liegt das Land inzwischen weit
vorn. „Kein anderer Staat auf der Welt meldet pro Einwohner mehr
medizinische Patente an als Israel“, sagt Tanny Goldstein.
Insgesamt rangiert das Land bei Patenten pro Einwohner laut einem
Bericht des Weltwirtschaftsforums auf Platz drei. Gemessen an
seinem Bruttoinlandsprodukt (BIP) meldete Israel im Jahr 2003 sogar
69 Prozent mehr Patente an als die Staaten der G7. Seit 1997
arbeiten hier rund 8000 Wissenschaftler pro Million Einwohner in
Forschung und Entwicklung. In Asien sind es 7000, in Europa nur
4500. Doch nicht nur das Militär und ein fortschrittliches
Erziehungssystem haben Israels Hightech-Sektor aufblühen lassen.
„Bis zu Beginn der neunziger Jahre hatten israelische Unternehmer
einen deutlichen Nachteil“, sagt Goldstein. Eine neosozialistische
Staatswirtschaft hielt den Markt in Fesseln. Noch in den fünfziger
Jahren machten landwirtschaftliche Produkte, allen voran die
Jaffa-Orange, 48 Prozent des Exports aus. Noch Anfang der achtziger
Jahre dauerte es mehrere Monate, ehe man eine Telefonleitung
zugeteilt bekam. Das Fernsehen wurde, staatlich verordnet, in
Schwarz-Weiß ausgestrahlt. Nicht nur Ideologie und ein kleiner
Binnenmarkt, auch der arabische Boykott behinderte die Entwicklung
der israelischen Wirtschaft, sodass keine großen Privatunternehmen
entstehen konnten. „Daher gab es nur zwei Alternativen: Entweder
ging man in einen staatlichen Konzern, oder man machte sich
selbstständig“, sagt Goldstein. Unternehmensgründer müssen dabei von Anfang an darauf achten,
international wettbewerbsfähig zu sein, um dauerhaft überleben zu
können. Denn der Binnenmarkt ist einfach zu klein. Im Jahr 2007
machten Exporte 43 Prozent des BIP aus. „Israelis sind dazu
verdammt, erfinderisch zu sein. Wir können nur Gewinne machen, wenn
wir einzigartige Produkte herstellen“, sagt Goldstein.
Landwirtschaftliche Produkte machen heute nur noch 2 Prozent des
israelischen Exports aus, dem Rest der Wirtschaft gelang der Wandel
von Jaffa zu Java. Modernes Leben wäre ohne israelische Patente heute undenkbar: Ob
Handy, der USB-Memory-Stick, die Firewall, die ZIP-Kompression, der
Stent für Herzkranke, die Tropfenbewässerung, Cherrytomaten oder
Telefonieren über das Internet – all das wurde in Israel
erfunden. Die verschiedenen Regierungen haben das vorhandene Potenzial
frühzeitig erkannt und gezielt gefördert. Seit 1984 gibt es die
sogenannten Inkubatoren. Diese Brutkästen für Unternehmensgründer
werden vom Staat finanziert: „Sie stellen den Gründern bis zu 50
Prozent ihres Startkapitals zu sehr günstigen Bedingungen zur
Verfügung“, sagt Roby Nathanson vom Makro Center für
Wirtschaftspolitik, einem unabhängigen Thinktank in Tel Aviv. Damit
spielt der Staat eine entscheidende Rolle: Israel investiert mit
4,7 Prozent des BIP in Forschung und Entwicklung. In Deutschland
sind es nur 2,5 Prozent, in den OECD-Ländern liegt der Durchschnitt
bei 2,1 Prozent. Durch sein eigenes Engagement bei
Unternehmensgründungen hat der israelische Staat auch privates
Wagniskapital ins Land gelockt. „Pro Einwohner gibt es in Israel
mehr als doppelt so viel Risikokapital wie in den USA, 30 Mal mehr
als in Europa, 80 Mal mehr als in China und 350 Mal mehr als in
Indien“, sagt Senor. Selbst in absoluten Zahlen schlägt Israel
Industrienationen wie Deutschland: Laut Angaben des Bundesverbands
Deutscher Kapitalbeteiligungsgesellschaften summierten sich die
Wagniskapitalinvestitionen im Jahr 2009 in Deutschland auf 600
Millionen Euro, in Israel waren es im selben Zeitraum rund 815
Millionen Euro. Dabei sind israelische Geldgeber auch wesentlich
risikobereiter als ihre deutschen Pendants: Letztere investierten
nur rund 16 Prozent ihrer Gelder in Firmen, die sich in der frühen
Gründungsphase befanden, in Israel waren es mehr als 40 Prozent.
Mit mehr als 3800 Start-ups gibt es in Israel in absoluten Zahlen
mehr Hightech-Unternehmen als irgendwo sonst außer in den USA. Kein Wunder also, dass immer mehr ausländische Firmen auf
israelische Technologien setzen. Allein 2009 erwarben sie 63
israelische Unternehmen für rund 2,5 Milliarden Dollar. Den größten
Deal machte dabei Siemens, das für 418 Millionen Dollar das
Solarunternehmen Solel kaufte. Dank Globalisierung und Internet
überwinden Israelis heute auch leichter ihren geografischen
Standortnachteil. Rund 80 Unternehmen sind an der New Yorker
Technologiebörse Nasdaq gelistet: „Das ist mehr als aus Europa,
Indien, China, Singapur, Japan und Korea zusammen“, sagt Senor. Für Roby Nathanson spielt aber auch der Friedensprozess in den
neunziger Jahren eine zentrale Rolle für den Umschwung: „Das
erlaubte uns, den Verteidigungshaushalt für kurze Zeit drastisch zu
kürzen. Mehr als 4000 Ingenieure und Wissenschaftler wurden
entlassen, weil Israel nicht mehr alle Waffen selbst herstellen und
entwickeln wollte, sondern sie stattdessen in den USA kaufte.“ Die Regierung begann einen tief greifenden strukturellen Wandel
und privatisierte zahlreiche Unternehmen. Heute wartet niemand mehr
auf einen Telefonanschluss: Israel hat eine der höchsten
Durchdringungsraten von Handys weltweit, im Kabelfernsehen brummen
zig Kanäle, und kostenlose schnelle Internetverbindungen sind
vielerorts eine Selbstverständlichkeit. Einig sind sich die Experten, dass der heutige Boom ohne die
Einwanderung von mehr als einer Million Juden aus der ehemaligen
Sowjetunion, von denen über 40 Prozent einen akademischen Abschluss
besaßen, nicht möglich gewesen wäre. Diese Migrationswelle krönte
eine langfristige israelische Strategie mit unerwartetem Erfolg:
„Israels Einwanderungspolitik hat schon immer darauf abgezielt,
Juden mit allen Mitteln dazu zu bewegen, ins Land zu kommen“, sagt
Senor. Es habe zwar auch Spannungen gegeben, als die Bevölkerung
innerhalb weniger Jahre um 20 Prozent wuchs, trotzdem sei die
Integration dieser Einwanderer aus insgesamt mehr als 70
verschiedenen Ländern außergewöhnlich gut gelungen. Längst hat sich der Standortvorteil Israels in internationalen
Konzernen herumgesprochen: Microsoft, Motorola, Intel, HP, Siemens
oder die Telekom haben Teile ihrer Forschungszentren ins „Silicon
Wadi“, das Dreieck zwischen Tel Aviv, Jerusalem und Herzliya,
verlegt. Rund die Hälfte der israelischen Wissenschaftler arbeitet
im eigenen Land für ausländische Konzerne. Das ist mehr als doppelt
so viel wie in den EU-Staaten Schweden, Großbritannien, Italien
oder Finnland. Andere Industrienationen beneiden Israel derzeit um sein
robustes Wirtschaftswachstum. Dank seines risikoscheuen Bankwesens
hat das Land selbst die jüngste Weltwirtschaftskrise besser
überstanden als die meisten westlichen Nationen. Aber der Boom hat
auch Schattenseiten. Der Abstand zwischen Arm und Reich wächst
schneller als in allen anderen Staaten der OECD: Im Jahr 1979 lag
das Einkommen von rund 26 Prozent der Haushalte unter der
Armutsgrenze, heute sind es mehr als 32 Prozent. Noch dämpft die
Sozialhilfe diesen Effekt: Netto ist der Anteil der Armen nur von
18,8 Prozent auf 19,9 Prozent gestiegen. Trotzdem sind immer mehr
Familien auf staatliche Zuwendungen angewiesen: 1979 waren es nur 7
Prozent, heute sind es 12 Prozent. Ausgerechnet die
Bevölkerungsgruppen, die aufgrund mangelnder westlicher Bildung nur
in geringem Maße an Israels moderner Marktwirtschaft teilnehmen,
wachsen am schnellsten. Die israelische Durchschnittsfamilie hat
2,4 Kinder, ein muslimischer Haushalt 4, ein ultra-orthodoxer
Haushalt sogar 7,7. Ultra-orthodoxe Juden und Araber machen rund 40
Prozent der Bevölkerung aus, am modernen Wirtschaftsleben nehmen
sie kaum teil: Die einen ziehen es vor, die Heiligen Schriften zu
studieren, die anderen bringen nicht die notwendigen
Qualifikationen mit, um in Hightech-Unternehmen zu arbeiten oder
werden von der jüdischen Mehrheit ausgegrenzt. Beide
Bevölkerungsgruppen leben in großem Umfang von staatlichen
Zuschüssen. Die Steuerlast ist deswegen hoch und löst, zusammen mit den
politischen Spannungen in der Region, einen beispiellosen
„Braindrain“ aus. Viele gut ausgebildete Arbeitskräfte wandern aus,
hauptsächlich in die Vereinigten Staaten. Auch Avi Yaron verließ Israel, um in Kalifornien Geschäfte zu
machen. Doch inzwischen will er heimkehren. Nach einer weiteren
Operation, in der die von ihm entwickelte Kamera zum Einsatz kam,
ist er bislang tumorfrei. Pausenlos denkt er darüber nach, wie er
mit Visionsense weiter expandieren könnte. Alles dank eines
glücklichen Unfalls.
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Während Deutschland über Integrationsprobleme und Fachkräftemangel klagt, zeigt Israel, wie es geht. In den vergangenen zwei Jahrzehnten hat das Heilige Land Immigranten aus 70 verschiedenen Ländern aufgenommen und sich gleichzeitig zum Hightech-Standort entwickelt.
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wirtschaft
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Politische Korrektheit - Vom Furor des Fortschritts
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Dieser Text erschien zunächst in der Printausgabe des Cicero (April). Wenn Sie das monatlich erscheinende Magazin für politische Kultur kennenlernen wollen, können Sie hier ein Probeabo bestellen. Seit eh und je steht der Berliner Bezirk Kreuzberg im berechtigten Verdacht, ein quicklebendiges Laboratorium sozialer Utopien zu sein. Nirgendwo sonst wurden in den achtziger Jahren so viele Häuser besetzt, nirgendwo sonst hatte die konkrete Anarchie des Alltags so viel Auslauf, und nirgendwo sonst wurde der 1. Mai, internationaler „Kampftag“ der Arbeiterklasse, derart beim Wort genommen. So war es nur konsequent, dass diese revolutionäre Tradition auch nach der politisch zunächst verschmähten Wiedervereinigung mit dem Ostberliner Bezirk Friedrichshain fortgesetzt wurde. Unter der doppelten Regentschaft des Königs von Kreuzberg, Christian Ströbele I., und seines grünen Bezirksbürgermeisters Franz Schulz geht FriedrichshainKreuzberg seinen antiimperialistisch-ökofeministisch-multikulturellen Weg unbeirrt weiter. Die letzte Errungenschaft ist erst ein paar Wochen alt: die Unisex-Toilette. In der Drucksache Nr. DS/0550/IV der Bezirksverordnetenversammlung heißt es, dass diese neuartigen Toilettenanlagen in öffentlichen Gebäuden von Menschen benutzt werden sollen, „die sich (1) entweder keinem dieser beiden Geschlechter zuordnen können oder wollen oder aber (2) einem Geschlecht, das sichtbar nicht ihrem biologischen Geschlecht entspricht“. Spontan fallen einem hier etwa die Dschungelkämpferin Olivia Jones ein, womöglich auch Tony Marshall und Jens Riewa.Selbstverständlich belassen es die Kräfte des Fortschritts nicht bei vergleichsweise banalen Handreichungen im Zuge der unzweifelhaft komplexer gewordenen Verrichtung menschlicher Notdurft. Nein, sie liefern höhere Soziologie, Erkenntnistheorie und Metaphysik gleich mit. Die Unisex-Toilette verhindere eine tendenziell repressive „Selbstkategorisierung in das binäre Geschlechtersystem“. Originalton Drucksache DS/0550/IV: „Das kann selbst für Menschen, die sich prinzipiell zuordnen können, dazu aber nicht ständig angehalten werden möchten, angenehm sein. Sie regen außerdem dazu an, über Geschlechtertrennungen im Alltag nachzudenken.“ [gallery:20 Gründe, warum Ökobürger nerven!] Ein Quantensprung: die Toilette als Ort der Selbstreflexion, Ausgang aus der selbst verschuldeten Unmündigkeit. Wenn Immanuel Kant davon gewusst hätte, wäre Königsberg zum Clochemerle Preußens geworden. Der kategorische Imperativ als dringende Bedürfnisklärung: Wo pinkle ich, wer bin ich, und wenn ja, wie viele? Endlich sind reaktionär verkürzte und polemisch-chauvinistische Selbstzuschreibungen jenseits des Gender-Mainstreaming wie „Ich muss mal!“ passé. Wie lange haben wir auf diese Befreiung gewartet! „Deutschland – Land der Ideen“ lautete das Motto zur Fußballweltmeisterschaft 2006. Damals wurde es von nicht wenigen belächelt. Heute sehen wir, dass es keine leere Parole war. „Völker der Welt, schaut auf diese Stadt!“, möchte man mit Ernst Reuter ausrufen. In Friedrichshain-Kreuzberg beginnt die Zukunft schon jetzt. Einen Flughafen braucht es dafür am allerwenigsten. Im Frühling 2013 aber fegt der frische Sausewind des unaufhaltsamen Fortschritts in ganz Deutschland die letzten Reste konservativ-reaktionärer Verkrustungen hinweg. Obwohl in Berlin eine Eiserne Lady regiert, die Europa unter der Knute ihres unbarmherzigen Spardiktats in Angst und Schrecken hält, übt sich die deutsche Gesellschaft derzeit in einem täglichen Wettlauf um mehr Weltoffenheit, Liberalität und progressive Gesinnung. Schon die „Sexismus“-Debatte hat gezeigt, dass nun auch die letzten Winkel frauenfeindlicher Einstellungen gnadenlos ausgeleuchtet werden, selbst in den Redaktionen der führenden Nachrichtenmagazine und Illustrierten. Der Stern etwa erwägt, will man Gerüchten glauben, die Einstellung einer Frauenbeauftragten, die auch die Gestaltung allzu busenlastiger Titelbilder überwachen soll. Schließlich hat die Auseinandersetzung über Sexismus sogar den Bundespräsidenten erreicht, der gewagt hatte, das Wort vom „Tugendfuror“ in den Mund zu nehmen.„Durch die Verwendung dieses Wortes“, so schrieben sieben empörte junge Frauen, darunter Protagonistinnen der #Aufschrei-Debatte, in einem offenen Brief an Joachim Gauck, „bringen Sie erniedrigende, verletzende oder traumatisierende Erlebnisse sowie das Anliegen, diese Erfahrungen sichtbar zu machen, in Verbindung mit dem Begriff Furie.“ Da das Wort verwendet werde, um die Wut der Frauen lächerlich zu machen, bediene er „jahrhundertealte Stereotype über Frauen“. Die Idee zum Brief hatte die 23-jährige Studentin Jasna Lisha Strick: „Wenn man so ein supereigenartiges Wort wie Tugendfuror liest, tut das weh und macht wütend.“ Vielleicht wären Schmerz und Wut ein wenig kleiner gewesen, hätte frau zuvor mal kurz in den Duden geschaut. Womöglich wäre ihr dann der Gedanke gekommen, dass Gauck mit diesem supereigenartigen Wort vor allem die Raserei, also den Furor unserer medialen Erregungs- und Entrüstungsgesellschaft meinte, deren Talkshows sich binnen weniger Tage in eine Art virtuelles Dauertribunal hineingesteigert haben, das kaum weniger hysterisch und heuchlerisch war als die Revolutionstribunale von Fouquier-Tinville und Robespierre zwischen 1793 und 1794. [gallery:20 Gründe, zum Spießer zu werden] Doch auf derart feine Unterscheidungen kann der rasende Fortschritt keine Rücksicht nehmen. Das gilt nicht zuletzt für unsere Essgewohnheiten, die nicht bleiben können, wie sie sind. Täglicher Fleischkonsum, und sei es nur die bayerische Wurstsemmel in der Brotzeit – weg damit! Donnerstag ist „Veggie-Tag“, auch am Münchner Viktualienmarkt und in der weiß-blauen Landtagskantine. Die einzige Frage ist: Darf man „Mohrrübchen“ oder „Schwarzwurzeln“ anbieten? Völlig klar ist dagegen: Die „kleine Hexe“ oder „zehn kleine Negerlein“ im Kinderbuch – das geht gar nicht. Auch der historische Begriff der „Hexenverbrennung“ muss überdacht werden. Selbst die katholische Kirche hat ja ihre „Heilige Inquisition“ schon in die unverfängliche „Glaubenskongregation“ verwandelt. Besorgte Sozialpädagogen fordern längst die systematische Durchkämmung aller Kinderbücher nach 1918. Und was ist eigentlich mit Lukas, dem Lokomotivführer (!), der mit seiner „Emma“ (!) durch Lummerland (!) gondelt, um am Ende noch den kleinen Jim Knopf in die dampfend-stählerne (!) Männerdomäne (!) einzuführen (!)? Geht’s noch patriarchalischer? Wo bleibt das Nachdenken über den binären Geschlechter-Code?Derweil durchforsten die Säuberungskommandos der Netz-„Community“ sogar den Otto-Katalog aus Hamburg. Und siehe da, sie wurden fündig. Das Corpus delicti: Ein blaues, kurzärmeliges T-Shirt mit der Aufschrift „In Mathe bin ich Deko“. Hätte Dieter Bohlen oder Stefan Raab dringesteckt – kein Problem. Es wäre der Brüller gewesen, ein Must-have für alle starken Typen, die die Infinitesimalrechnung gehasst haben wie Kniestrümpfe und kurze Lederhosen. Leider hat der Otto-Versand ein kleines Mädchen posieren lassen, und schon brach auf Facebook und Twitter der Shitstorm los: „Reaktionär, chauvinistisch, sexistisch!“ Das üble Klischee von den mathematisch unbegabten Frauen! Ha! Dass Frauen den Slogan entworfen hatten, spielte hier keine Rolle. Provokation, Ironie? Moralisten kennen keine Ironie! Nach zwei Tagen knickte Otto ein und nahm das T-Shirt aus dem Markt. Man darf gespannt sein, wann die erste #Aufschrei-Brigade politisch unkorrekte Kabarettisten aufstöbert und an den Pranger stellt. Die Sprache ist ein Abbild der Realität, und wenn der soziale Fortschritt einmal eine Atempause einlegt, bleibt immer noch die Ächtung politisch unkorrekter Bezeichnungen, die sie falsch oder diskriminierend darstellen. So hat die Nationale Armutskonferenz jüngst 23 „soziale Unwörter“ aufgespürt, darunter sogar das moderne Attribut „alleinerziehend“. Grund: Der Begriff sage „nichts über mangelnde soziale Einbettung oder gar Erziehungsqualität“. Wir verstehen: Ein solches Wort kann man nicht einfach so allein stehen lassen. Man müsste gleich einen ganzen Aufsatz schreiben. Auch von „Arbeitslosen“ soll fortan nicht mehr die Rede sein. Stattdessen muss es „Erwerbslose“ heißen, weil es „viele Arbeitsformen gibt, die kein Einkommen sichern“.Als gesellschaftliche Idealfigur erscheint hier Johannes Ponader, Noch-Geschäftsführer der Piratenpartei, der sich jeder autoritären Definition seiner hochsensiblen Identität entzieht – bis in den Privatbereich hinein, wo er sich „polyamor“, als nach allen Seiten offener Zeitgenosse auslebt. Er hat verstanden, was Judith Butler sagt: Geschlecht und Eros sind nichts als ein „soziales Konstrukt“. Wer daran arbeitet, ist also keinesfalls arbeitslos, auch wenn er von Hartz IV lebt. Zugegeben: Es ist auch wirklich nicht ganz leicht, die jeweils richtigen Worte zu finden. Nachdem etwa der gute alte „Ausländer“ schon vor Jahren durch die „Person mit Migrationshintergrund“ ersetzt wurde (Kurzform: Migrant), erweist sich nun selbst diese Formulierung als diskriminierend, weil sie „häufig mit einkommensschwach, schlecht ausgebildet und kriminell in Zusammenhang gebracht“ werde. Auch die Bezeichnung „Person mit Migrationshintergrund ohne eigene Migrationserfahrung“ ist also nicht restlos korrekt. Sogar die Sprachsäuberer der Nationalen Armutskonferenz also wissen hier keine klinisch reine Endlösung. [[nid:53825]] Immerhin ist beim Ausdruck „bildungsferne Schichten“, auch schon ein weich gespülter Neologismus aus dem Geist des Warmbadetags, guter Rat zur Hand. „Fern vom Bildungswesen“ sollen wir nun sagen. Besser noch: „vom Bildungswesen nicht Erreichte“.Rainer Brüderle hat all das noch nicht begriffen. Hätte er mit der jungen Stern-Kollegin an der Bar des Maritim-Hotels über soziale Geschlechterdifferenz, korrekte Genderpolitik und das poststrukturalistische Rhizom-Konzept von Deleuze/Guattari gesprochen, wäre ihm die Dirndl-Sache erst gar nicht in den Sinn gekommen. Aber so ist das mit alten, peinlich zurückgebliebenen Männern: Sie leben noch voll das anachronistische Programm 1.0. Und dabei ahnen sie noch nicht einmal, was ihnen in diesem Bücherfrühling prophezeit wird: Ganz schlicht „Das Ende der Männer“.Hinterwäldlerische Null-Checker sind auch jene Zeitgenossen, die das voll krasse Sprachgemisch namens „Kiezdeutsch“ nicht umstandslos für eine segensreiche Erweiterung der deutschen Hochsprache halten. „Geh isch Aldi, Alter!“ ist eben kein Ausdruck „reduzierter Grammatik“, wie rassistische Ignoranten behaupten, die nur Goethe und Thomas Mann gelten lassen, sondern vielmehr „eine faszinierende Entwicklung in unserer Sprache“. Das jedenfalls erklärt eine Potsdamer Professorin. Mögen Ausrufe wie „Mach isch disch Krankenhaus!“ wahlweise „Schlag isch disch Urban!“ in ihrem semantischen Gehalt durchaus diskussionswürdig sein, was ihre tendenziell aggressive Botschaft betrifft, so spiegeln sie doch den signifikanten linguistischen Austausch zwischen unterschiedlichen Kulturen. German Mainstreaming ist hier das Zauberwort, die multikulturelle Angleichung der Sprechverhältnisse. Überhaupt, die faszinierende Vielfalt der Kulturen. Nachdem nun offiziell geworden ist, dass Zehntausende Roma und Sinti aus Bulgarien, Rumänien und anderen südosteuropäischen Staaten nach Deutschland einwandern, wird als Erstes der Rassismus bekämpft, der aus den Problemen resultieren könnte, die diese neue Form europäischer Armutswanderung unweigerlich mit sich bringt. Vor allem Claudia Roth, die Schmerzensfrau des grünen Gutmenschentums, tut sich dabei hervor, tatsächliche soziale Probleme zu leugnen, indem sie in einer Art moralischer Übersprungshandlung mögliche Reaktionen darauf zur einzig wahren Gefahr für Frieden und Freiheit darstellt. Auch der Migrationsforscher Klaus J. Bade ist ein Meister in der Disziplin „Flucht in die Ideologiekritik“, bei der die Konflikte einer Einwanderungsgesellschaft – und das ist die Bundesrepublik – fast ausschließlich auf das Schuldkonto der tendenziell „rassistischen“ Mehrheitsgesellschaft gebucht werden. Stets liegt ein deutliches, wenn auch unhörbares „Schämt euch!“ in der Luft. So kommt es, dass sogar die Berliner Staatsanwaltschaften, die sich in einem Brief an den Justizsenator über die mangelhafte personelle wie technische Ausstattung ihrer Ämter beklagten, Angst vor der eigenen Courage haben, wenn es um Tatsachen geht, die ihnen selbst vorliegen. Die Zahl der Verfahren sei stark gestiegen, schrieben sie laut Tagesspiegel. Allein der Zuzug von Menschen aus Rumänien und aus anderen Ländern Osteuropas habe zu einer „Explosion“ bei Einbrüchen und Diebstählen geführt. Aber das dürfe man ja nicht laut sagen. Wieso man das nicht darf, wenn es doch stimmt, wird leider nicht weiter ausgeführt. Eine extreme Blüte jener politischen Korrektheit, die die alte Ausländerfeindlichkeit durch eine neue Inländerfeindlichkeit kompensieren will, bot dieser Tage ein Leserblog in der taz. Nachdem Dutzende Asylbewerber seit Monaten auf dem Kreuzberger Oranienplatz campieren, um gegen das „unmenschliche“ deutsche Asylverfahren zu demonstrieren, schlug Blogger „Cometh“ ein ganz neues Verfahren vor: „In den besseren Bezirken sollte jeder Berliner mit einer 3-Zi-Wohnung aufgefordert werden, einen Flüchtling aufzunehmen. Das wäre gelebte internationale Solidarität (natürlich gegen Kostenersatz vom Senat). Aber das nur, wenn unsere FreundInnen damit einverstanden sind, denn sie sind traumatisiert und Flüchtlinge und wollen vielleicht gar nicht mit ihren Unterdrückern und denjenigen, die an Waffengeschäften verdient haben, in einer Wohnung sein.“ In Dahlem, Friedenau, Wilmersdorf und Charlottenburg konnte man das Aufatmen der ansässigen Sklavenhalter, Blutsauger und Waffenhändler förmlich hören. Aber letztlich geht es hier nicht um Einzelschicksale. Es geht, wie oft in Deutschland, ums Ganze, Grundsätzliche. Alles soll gut werden. Es soll überall solidarisch und gerecht zugehen, friedlich und demokratisch. Weil die Wirklichkeit aber seit Menschengedenken nicht solidarisch und gerecht ist, oft auch nicht friedlich und demokratisch, muss kräftig nachgeholfen werden. Das eine Mittel deutscher Fortschrittsfreunde ist die Verbesserung der Welt durch die Veränderung der Worte, mit denen sie beschrieben wird. Ein schlechter Schüler, gar ein „dummer Bub“, wie es früher im Frankfurter Bembel-Soziotop hieß, ist dann eben ein „vom Bildungswesen nicht Erreichter“. So muss sich das Bildungswesen ganz mächtig anstrengen, um an ihn ranzukommen. (Für die jüngeren Leser: Früher war das eher andersherum.) Sitzen bleiben soll der bildungsferne Bub aber keinesfalls mehr. Die andere, deutlich schwierigere Strategie ist die Verbesserung der Welt durch ihre systematische Veränderung. Ein äußerst anspruchsvolles Programm, an dem sich seit der Antike schon unzählige Generationen versucht haben. Wunsch und Wirklichkeit, Ideal und Realität, geraten dabei häufig durcheinander. Nicht selten wird die Wunschvorstellung mit einer bereits veränderten Wirklichkeit verwechselt. Dabei zielt der Kampf stets in eine Richtung: Jeder soll anders sein dürfen, aber auch ganz gleich – genau wie alle anderen. Auch wenn sich viele Menschen selbst diskriminieren, also von anderen ganz bewusst unterscheiden wollen – diskriminiert werden dürfen sie keinesfalls. So wird unermüdlich das Lob unserer bunt-individualistischen, schrillen, multikulturellen Patchwork-Gesellschaft gesungen, in der vor allem das andere, Nonkonformistische, Subversive, Randständige und Kreative zählen. Im selben Atemzug aber verlangt man Gleichheit in allen Lebenslagen, viel mehr also als die grundgesetzlich garantierte Gleichheit jedes Bürgers vor dem Gesetz. Auch der Anarcho-Punk im besetzten Haus, der „Fuck off Deutschland!“ und „Scheißsystem!“ an die Wände sprüht, soll Anspruch auf das Ehegattensplitting haben, wenn er mit Matze und Hund Bakunin eine eingetragene Lebenspartnerschaft eingeht. Alles was recht ist. [gallery:20 Gründe, warum wir auf Religion nicht verzichten können] Dass zum Beispiel eine strikt angewandte Frauenquote dazu führen kann, den Gleichheitsgrundsatz im konkreten Fall auszuhebeln, zeigt nur, wie im Namen des gesellschaftlichen Fortschritts manches noch gleicher sein darf als gleich. Das „Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz“ (AGG) hat hier schon Pionierarbeit geleistet. Ein Zahnarzt, der eine technisch-medizinische Assistentin einstellen will, darf nicht verlangen, dass sie im Dienst ihr islamisches Kopftuch ablegt. Wenn er sie deshalb abweist, muss er Strafe zahlen. Es sei denn, er ist so schlau, einen anderen, unverfänglichen Grund vorzuschieben. Nun also liefern Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts über die letzten rechtlichen Details einer absoluten Gleichstellung homosexueller Partnerschaften mit der bürgerlichen Ehe neuen Stoff für den großen Gleichheitsdiskurs. Unverkennbar zieht hier ein Hauch jenes „social engineering“ durchs Land, jenes sozialrevolutionären Ingenieurwesens aus den zwanziger und dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts, das nicht neue Maschinen bauen wollte, sondern den „neuen Menschen“. Am Reißbrett systematischer Gesellschaftsplanung wurde die allumfassende egalitäre Persönlichkeit entworfen, die sich von allen rückständigen Traditionen gelöst hat und in den großen Kollektiven der kommunistischen Lebenswirklichkeit ihre historische Erfüllung am roten Horizont der endlich befreiten Humanität findet. Zugegeben, heute geht es weniger pathetisch zu, ja geradezu putzig und bieder. Niemand will sich im Industriekombinat „Roter Oktober“ selbst verwirklichen. Doch die strenggläubige neue linke Betulichkeit, die vom Spießertum nicht immer zu unterscheiden ist (Achtung: Diskriminierung!), verlangt strikten Gehorsam, wenn es um den sozialen Fortschritt geht. Weh dem, der da nicht umstandslos und fröhlich in den Chor miteinstimmt und den Hinweis auf „neue Lebenswirklichkeiten“ nicht als einziges schlagendes Argument gelten lässt! Weh dem, der über die fortschreitende Entkopplung biologischer und sozialer Realitäten samt ihren möglichen Folgen wenigstens ernsthaft reden will: Er ist ein hoffnungsloser Reaktionär, über den sich selbst Guido Westerwelle lustig macht, jener Mann, der noch vor einiger Zeit „altrömische Dekadenz“ in Deutschland beklagt hat und so selbst zu einem reaktionären Bösewicht wurde. Nein, nun müssen alle frohgemut und zukunftstrunken mitmachen beim großen Zug der Zeit; wer da fragend, gar mäkelnd zurückbleibt, den soll der Teufel, Pardon: die Teufelin holen. Das Schöne: Die Avantgarde der progressiven Gesinnung braucht keine Kritik, denn sie ist ja die Kritik in Person, auf die sie ein lebenslanges Abo hat. Wer sich also kritisch gegenüber den notorischen Gesellschaftskritikern äußert, stellt sich selbst ins Abseits. Und so triumphiert ein vermeintlich fortschrittlicher Mainstream ganz entspannt im Hier und Jetzt, gleichsam en passant. Auf echte Diskussion kann er locker verzichten. Auch der kritische Journalismus reiht sich da gern ein in die Einheitsfront. Vor allem das öffentlich-rechtliche Radio hat sich zum Vorreiter einer politischen Korrektheit gemacht, die andere Positionen nur noch als lästige Randerscheinungen wahrnimmt. „100 Prozent Quote!“, jubilierte eine Woche lang „Radio 1“ vom RBB – vom 4. bis 8. März 2013 durften nur Frauen ans Mikro. Kein Wunder, dass auch eine lesbische Partnerschaft – „Mama und Mami“ – ausführlich zu Wort kam. Zwei Töchter sind der Beziehung entsprungen, für die ein passender Samenspender ausfindig gemacht wurde: die perfekte „Regenbogenfamilie“. Wer bei vier gleichgeschlechtlichen Wesen im Haus den bunten Regenbogen vermisst, dem ist wirklich nicht zu helfen. Hauptsache, der männliche Träger des „genetischen Materials“ (O-Ton Mama) hat der Adoption jeweils zugestimmt. Jetzt darf er alle paar Wochen mal vorbeischauen. „Erziehungsaufgaben hat er nicht“, stellt Mama zur Sicherheit klar. So weit kommt’s noch, dass das genetische Material über Schulprobleme seiner Kinder mitdiskutieren darf. Eine einzige kritische Frage oder skeptische Anmerkung der Moderatorin? Göttin bewahre! Nebbich. Wir freuen uns jedenfalls schon auf die Einweihung der ersten Kreuzberger Unisex-Toilette am 1. Juni, um endlich einmal wieder in Ruhe über „Geschlechtertrennungen im Alltag nachzudenken“. Wie sagte einst Karl Valentin zu Liesl Karlstadt: Es ist so einfach, und man kann sich’s doch nicht merken.
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Reinhard Mohr
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Homo-Ehe, Sexismus-Streit, ein gesäubertes Vokabular – und Einheitstoiletten als Symbol gegen die Repression: Es triumphiert die Avantgarde der progressiven Gesinnung. Wer dabei nicht mitmachen will, stellt sich ins gesellschaftliche Abseits. Nachrichten aus dem politisch korrekten deutschen Frühling
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innenpolitik
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2013-05-15T14:19:10+0200
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2013-05-15T14:19:10+0200
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https://www.cicero.de//innenpolitik/tugend-politische-korrektheit-vom-furor-des-fortschritts/54433
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Wertestudie - Was linke Politiker reden, interessiert linke Wähler nicht
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Wie passen die Wertvorstellungen der Wähler einer Partei und ihrer gewählten Abgeordneten zusammen? Bei welcher Partei klaffen die größten Lücken zwischen den Werten ihrer Anhänger und ihrer Volksvertreter? Logisch: Die Linke ist die ideologisch strammste der Parteien. Deshalb werden sich die Wertvorstellungen ihrer Wähler und Politiker am meisten ähneln, sollte man meinen. Und in einer liberalen Partei wie der FDP kann jeder nach seinen individuellen Werten glücklich werden – also müsste der Wertekanon in einer liberalen Partei am heterogensten sein. Beides klingt plausibel. Es ist aber genau umgekehrt. Die Werte bei der Linken klaffen von allen Bundestagsparteien am stärksten auseinander, bei der FDP sind sie am homogensten. Dies sind zwei der überraschenden Ergebnisse der Wertestudie 2013, die wir zusammen mit dem Meinungsforschungsinstitut YouGovAG, Köln, kürzlich durchgeführt haben. Was sind eigentlich Werte? In den Sozialwissenschaften sind das verdichtete Vorstellungen, von denen sich die Menschen in ihrem Alltag – in dem, was Gesellschaft wesentlich ausmacht – leiten lassen. Was ihre wichtigsten Werte seien, haben wir im Juli 2013 eine repräsentativ zusammengesetzte Bevölkerungsstichprobe gefragt. Die gleiche Frage wurde in einer Parallelbefragung von über tausend Volksvertretern beantwortet, Mandatsträgern in den großen Städten, in den Landtagen und im Bundestag. Mehr Pragmatismus in der Bevölkerung Das mindestens in Deutschland einzigartige Studiendesign erlaubt direkte Vergleiche zwischen dem Souverän aller politischen Entscheidungen, also dem Volk, und seinen Repräsentanten, also den Volksvertretern. Dabei kommen interessante Ergebnisse zu Tage. Zunächst: In mancherlei Hinsicht kommen die Bürger und ihre Abgeordneten zu durchaus ähnlichen Resultaten. Auf beiden Seiten heißt es, die Bedeutung von Werten habe in den vergangenen Jahren abgenommen. Das kann als allgemeiner Kulturpessimismus gedeutet werden („ach, früher war alles besser und Werte wurden auch höher gehalten...“) oder schlicht als ein Trend zu mehr Pragmatismus, wenn es um die Orientierungspunkte unseres Handelns geht. [gallery:20 Gründe, warum sich Ehrlichkeit in der Politik nicht lohnt] Vieles spricht für die zweite Interpretation. So scheinen die Bürger deutlich „wertnüchterner“ zu sein. Unter ihren fünf Favoriten finden sich – im Vergleich zu den Politikern – eher alltagsorientierte Werte: Respekt, Gerechtigkeit, Ehrlichkeit, Familie und Freiheit. Die Abgeordneten – übrigens ohne große Unterschiede zwischen den drei parlamentarischen Ebenen Bund, Land und Kommune – präferieren Gerechtigkeit, Toleranz, Freiheit, Solidarität und Respekt, jeweils auf einem deutlich höheren Zustimmungsniveau als die Bürger. Allesamt hehre Wertkonzepte, die auch direkt aus den Programmen der Parteien übernommen worden sein könnten. Sie orientieren sich natürlich stärker am politischen Schönsprech, der auch ihren Alltag bestimmt. Wenn man genauer hinschaut, gibt es sie dann doch, die Kluft zwischen dem Volk und seinen Vertretern. Ausdrücken lässt sie sich im von uns entwickelten „Diskrepanzindex“. Er zeigt an, um wie viel Prozentpunkte sich die Wertpräferenzen bei zwanzig abgefragten Werten insgesamt unterscheiden und fasst damit die einzelnen Abstandsmaße in einem einzigen, griffigen Wert zusammen. Zwischen Bürgern und Abgeordneten insgesamt liegt der Diskrepanzindex durchschnittlich bei 9,1 Prozent. Noch interessanter wird es allerdings, wenn man sich anschaut, wie die Unterschiede zwischen den Abgeordneten einer bestimmten Partei und den Wählern genau dieser Partei aussehen. Diese Diskrepanz nämlich ist höchst unterschiedlich ausgeprägt. Interessant ist zunächst, dass nicht etwa die beiden großen Parteien wert-heterogen und die drei kleineren Parteien wert-homogen sind. Sondern die Wertekluft wächst von rechts nach links. Dass der Werte-Abstand zwischen Politikern und Wählern bei der liberalen FDP mit 6,5 Prozent gar nicht so groß ist, wie man auf den ersten Blick annehmen könnte, leuchtet durchaus ein. Denn die FDP von heute umspannt nicht mehr das weite Spektrum von den links- bis zu den rechtsliberalen. Sie ist eher eine Klientelpartei geworden. Und so sind die Demografie der Wählerschaft und auch die vertretenen Haltungen recht einheitlich geraten. Am größten ist mit 14,3 Prozent der Abstand zwischen Wählern und Politikern der Linkspartei. Es ist also keine Erfindung der Medien oder der anderen Parteien, dass die Linke von sektiererischen, teilweise anarchischen Splittergruppen im Westen bis zu konservativen Staatssozialisten im Osten reicht. Die Wähler und die Politiker der Linken – sie verstehen sich nicht. [[nid:54455]] Zwischen FDP und Linken reihen sich dann in schönster Rechts-Links-Reihenfolge die CDU/CSU (7,8 Prozent), die Grünen (9,3 Prozent) und die SPD (11 Prozent) ein. Obwohl sich die Union – ob beim Streit zwischen CDU und CSU oder zwischen Modernisierern und konservativen Hardlinern – keineswegs harmoniesüchtig darstellt, ist ihr Wertehimmel doch noch recht intakt. Ihre Wähler und Politiker sehen sich wohl doch noch als Angehörige einer Wertefamilie. Die Grünen repräsentieren fast genau die durchschnittliche Abweichung von Werten ihrer Wähler und ihrer Politiker. Ein weiteres Indiz dafür, dass sie ziemlich in der Mitte des Parteienspektrums angelangt sind. Wähler und Politiker von SPD ticken anders Bei der SPD dagegen ist die Diskrepanz klar überdurchschnittlich. Genau das ist wohl ihr Problem: Ihre Wähler und ihre Volksvertreter ticken nicht im gleichen Takt. Vielleicht ist dieses Faktum viel wichtiger als die Debatten um den Spitzenkandidaten. Bei den beiden linken Parteivertretern von SPD und Linkspartei werden die Wertbegriffe aus der Parteitradition – besonders Solidarität – am deutlichsten präferiert. Ihre Wähler sind da viel nüchterner. Das sollte den Parteistrategen im Willy-Brandt- oder dem Rosa-Luxemburg-Haus zu denken geben, zumal die Wertunterschiede gerade bei den linken Parteien zwischen 2011 und heute noch zugenommen haben. Daraus ergeben sich viele Fragen. Zum Beispiel: Sollten die Parteistrategen vielleicht genauer hinschauen, was für die eigene Klientel wirklich wichtig ist? Sollte man in den Programmen daran arbeiten, ob die teilweise bereits vor Jahrzehnten geprägten – und von den Abgeordneten brav replizierten Wertbegriffe – noch „passen“? Eigentlich ist der Wahlkampf keine schlechte Zeit dafür, im Dialog mit den Wählern genau darüber zu reden. Auch wenn Veränderungsprozesse im Werteverständnis und Programmatik Jahre brauchen werden – lohnen könnte sich ein vertiefter Dialog mit den Wählern darüber allemal. Die Wertestudie 2013 entstand in Zusammenarbeit des Meinungsforschungsinstituts YouGovAG, Köln, mit dem Think Tank Change Centre, Meerbusch. Prof. Dr. Joachim Klewes ist Sozialwissenschaftler und leitet die unabhängige Wissenschaftsstiftung Change Centre Foundation. Prof. Dr. Ulrich von Alemann (Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf) ist Politikwissenschaftler.
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Ulrich von Alemann
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Linker Schönsprech kommt bei den Wählern kaum an. Das geht aus einer Wertestudie des Meinungsforschungsinstituts YouGov und des Change Centres in Meerbusch hervor. Anhänger und Politiker von SPD und Linke haben demnach sehr unterschiedliche Wertvorstellungen
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innenpolitik
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2013-08-12T10:25:14+0200
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2013-08-12T10:25:14+0200
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https://www.cicero.de//innenpolitik/wertestudie-was-linke-politiker-reden-interessiert-linke-waehler-nicht/55359
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Unruhe als Lebenseinstellung - Fataler Konsens der Moderne
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Wir hatten kurz den Job getauscht: er die Kinder, ich die Tiere. Die Pferde mussten auf die Weide, die etwa 400 Meter trotteten sie neben mir her. Wahnsinnig langsam, so kam es mir vor, musste ich doch weiter: Zu der Glucke mit ihren Küken, die sich Zeit nahm und genussvoll im Gras pickte und herumstakste, während ich ungeduldig am geöffneten Gehege wartete, wo sie Schutz vor Katzen und Raubvögeln fände. Dann die Gänse. Es dauerte ewig, bis sie sich endlich in Bewegung setzten, um über die Straße und zwischen den Teichen zu verschwinden. Und während ich die Tiere mahnte, sich zu eilen, kam ich mir wahnsinnig stressig vor. Dieser Zeitdruck war es doch, dem wir uns hier auf dem Land ein wenig entziehen wollten. Stattdessen war ich nun dabei, den Viechern meine eigene Unruhe aufzuoktroyieren. Vom Lebensgefühl der „Happy Workoholics“ schreibt der Philosoph Ralf Konersmann in seinem gerade erschienenen Buch „Die Unruhe der Welt“. Er hat sie in Kunstwerken, Schriften, Geschichten und Philosophien aufgesucht und stellt sich die Frage, wann und warum wir eigentlich gelernt haben, diese Unruhe so sehr zu lieben. Verwunderlich ist es doch, liegt ihr kulturgeschichtlicher Ursprung doch in der Bibel, wo die Höchststrafe nach der Vertreibung aus dem Paradies lautete: „Rastlos und ruhelos wirst du auf der Erde sein.“ Heute aber tritt die Unruhe in allen Lebensbereichen auf. Sie maskiert sich als Aktion, Veränderung, Bewegung, als Wandel, als Zerstreuung, Stress oder Burnout, wie Konersmann schreibt. Er stellt fest, dass sie „nicht in Gestalt der Beschleunigung oder der Gier in die eben noch intakte Welt eingebrochen“ ist. Vielmehr haben wir selbst die Ruhe als lethargisch und lähmend unter Verdacht gestellt, haben das Stehenbleiben und Nichtvorankommen, den Stau und die Flaute zu Inbegriffen des Schreckens gemacht. So wurde die Unruhe zum Konsens der Moderne. Sie ist damit alles, was wir zivilisatorisch erreicht haben und steht für das Versprechen, dass sich alles verändert, verändern muss. Die Unruhe sichert uns zu, dass es irgendwann besser wird. Ohne die Rastlosigkeit also keine Hoffnung? Konersmann schreibt: „Es ist ihr gelungen, sich uns als die Summe unserer Weisheit zu empfehlen. So regiert sie unangefochten und absolut.“ Auf der Strecke bleibe dabei das moralische Empfinden, die Unruhe laufe leer und „in dem vergeblichen Bemühen, diese Leere mit Amüsement und Zerstreuung zu füllen, wird das Leben kurz“. Gibt es Rettung? Konersmann plädiert für eine Kultur, die ihre Unruhe nicht immer weiter anheizt und blindlings steigert, sondern als „ihr Eigenes anerkennt und klug begrenzt“. Die Antriebsstruktur soll begriffen und beherrscht werden. „So eile denn zufrieden!“, hat Hölderlin im Jahr 1800, am Fuße der Moderne seinen Mitmenschen zugerufen. Das war offensichtlich leichter gesagt als getan. Ich versuche es demnächst mal wieder bei einem Spaziergang mit den Pferden.
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Marie Amrhein
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Kolumne Stadt, Land, Flucht: Unsere Gesellschaft ist dem Stress verfallen. Mit der permanenten Veränderung kommt die Hoffnung, dass alles irgendwann besser wird. Bei all der Rastlosigkeit bleibt aber die Moral auf der Strecke, fürchtet der Philosoph Ralf Konersmann
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kultur
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2015-06-07T10:24:32+0200
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2015-06-07T10:24:32+0200
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https://www.cicero.de//kultur/unruhe-als-lebenseinstellung-so-eile-denn-zufrieden/59361
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Corona-Krise in Großbritannien - Boris Johnsons Hilfe für die Helden des NHS kommt zu spät
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Mitten in dunkelster Nacht hatte Krankenschwester Florence Nightingale einst 1854 den verwundeten britischen Soldaten auf ihrem Rundgang durch ein Lazarett auf der Krim mit ihrer Lampe einen Hoffnungsschimmer gebracht. „Die Lady mit der Lampe” wurde zum Inbegriff für viktorianisches Pflichtbewusstsein. Dank der Sozialreformerin Nightingale wurde die Krankenschwester später als offizieller Beruf im Vereinigten Königreich etabliert. In Zeiten der Coronakrise greifen die Briten gerne auf diese Nationalheilige zurück. Das funkelnagelneue Nightingale-Lazarett im Osten Londons wurde nach chinesischem Vorbild flugs in neun Tagen gebaut und soll am Wochenende bereits Platz für 500 von insgesamt 4.000 Covid-19-Patienten bieten. Das neue Feldhospital North Nightingale in Manchester soll den gesamten Nordwesten mit 500 Betten entlasten. Von jedem Rollbett baumelt prominent eine Sauerstoffmaske. Die neuen Intensivstationen werden dringend gebraucht. In Großbritannien sterben bereits täglich bis zu 600 Menschen an Covid-19. „Wir müssen die Tests massiv aufstocken”, erklärte Boris Johnson in einer beunruhigenden Videobotschaft aus seinem Krankenquartier, der Amtswohnung über Downing Street 11 am Mittwochabend. Der britische Premierminister war vor einer Woche positiv auf Covid-19 getestet worden. Der 55-jährige Konservative forderte mehr Tests, als sei er ein einfacher Kranker und nicht der Entscheidungsträger, der es unterlassen hat, genau diese Maßnahmen schon vor Wochen zu ergreifen. „Die Regierung schafft es nicht, ihre Corona-Strategie zu erklären”, kritisiert inzwischen sogar der sonst so Johnson-treue Daily Telegraph. Vor allem an vorderster Front im Kampf gegen das Coronavirus fehlt es eklatant an Testmöglichkeiten. Von den 500.000 Menschen im Pflegedienst, die sich derzeit unter Gefährdung ihrer eigenen Gesundheit im Nationalen Gesundheitsdienst NHS um die explodierende Zahl an Erkrankten kümmern, sind bisher nur 2.000 getestet worden. Fast ein Drittel des Pflegepersonals ist derzeit entweder erkrankt oder in Isolation. Die Regierung hat es nicht einmal geschafft, wenigstens das Pflegepersonal mit der von der WHO empfohlenden Schutzkleidung auszustatten. Das Vereinigte Königreich hatte sich erst sehr spät entschlossen, das Coronavirus ernst zu nehmen. Als in Deutschland schon täglich zehntausende Menschen auf Covid-19 getestet wurden, empfahl die britische Regierung der Bevölkerung noch locker, „Herdenimmunität” durch Massenansteckung zu erreichen. Größere Mengen an Tests und Ventilatoren wurden weder im Land noch international bestellt. Großbritannien nahm von sich aus auch nicht an einer EU-Initative teil, gemeinsam große Mengen an Ventilatoren zu bestellen. Erst ab dem 16. März begann ein radikaler Schwenk, als immer deutlicher geworden war, dass die Infektionszahlen und jene der schweren Erkrankungen in die Höhe schnellten. Spät aber doch wurden Restaurants, Pubs, Schulen und öffentliche Sportclubs geschlossen und die Bevölkerung nach Hause geschickt. Das Tennisturnier Wimbledon und das Kulturfestival in Edinburgh im August wurden inzwischen auch abgesagt. Doch auf Londons Straßen sind immer noch kaum Gesichtsmasken zu sehen. Auch an anderen Maßnahmen fehlt es. Bisher werden die Kontakte von Erkrankten nur nachlässig verfolgt. Eine App, die Kontakte von Infizierten nachverfolgen könnte, soll erst in einigen Wochen einsetzbar sein. Der NHS entwickelt diese mit Partnern aus dem universitären und industriellen Sektor. Die Initiative wäre aber nur effektiv, wenn 60 Prozent der Bevölkerung mitmachen und Symptome und Testresultate eingeben. Ohne großangelegte Kampagne ist dies kaum denkbar. Boris Johnson hat jetzt den australischen PR-Guru Isaac Levido angeheuert, der eine Linie in die bisher chaotische Corona-Politik bringen soll: „Bleib zu Hause, beschütze die NHS, rette Leben” lautet der neue Slogan. Doch das bisherige Versagen der Regierung, im Angesicht der weltweiten Coronakrise eine klare Linie vorzugeben, beschädigt nicht nur Johnsons Glaubwürdigkeit als Staatsmann. Der eklatante Mangel an Planung in Sachen Corona-Pandemie belastet auch eines der Herzstücke des britischen Nationalstolzes schwer. Neben Florence Nightingale, der Queen und ihrem Parlament ist den Briten der nationale Gesundheitsdienst NHS geradezu heilig. Schließlich behauptet man auf der Insel, der NHS sei als erste universelle Krankenversorgung weltweit eingeführt worden: „Jeder – reich oder arm, Mann, Frau oder Kind – kann es nutzen”, stand in einem Flugblatt, das an jeden Haushalt 1948 verteilt worden war: “Doch es handelt sich nicht um „Nächstenliebe”, alle zahlen mit ihren Steuern dafür.” Vor der Einführung des NHS musste man für Arztbesuche zahlen. Wer dies nicht konnte, vertraute auf wohltätige Vereine. Schon vor dem Zweiten Weltkrieg musste der Londoner Bezirksrat die Verantwortung für 140 Spitäler übernehmen, eine Art lokaler Vorläufer des NHS. Der schottische Arzt und Autor Archibald Joseph Cronin kritisierte in seinem Roman „Die Zitadelle” 1937 nicht nur die Mängel im Gesundheitssystem, er skizzierte auch Ideen für ihre Behebung. Seine innovativen Ideen inspirierten die Gründer des NHS. Nachdem 1945 die Labour-Party die Wahlen gewonnen hatte, wurde unter Premierminister Clement Attlee das Vorhaben, ein kostenfreies Gesundheitssystem für alle einzuführen, umgesetzt. Gegen den erklärten Widerstand der Ärzte wurde zwischen 1946 und 1948 ein nationales Netzwerk an Krankenhäusern entwickelt. Jeder wurde einem Allgemeinarzt zugewiesen und über dessen Diagnose in das Gesundheitssystem inkludiert. Der Staat wurde so Arbeitgeber einer stets wachsenden Zahl an Pflegepersonal. Heute arbeiten eineinhalb Millionen Menschen in Administration und medizinischer Betreuung des NHS. Wie andere europäische Länder kämpft auch Großbritannien seit Jahrzehnten mit den explodierenden Kosten des Wohlfahrtstaates. Die Bevölkerung wird immer älter und braucht immer mehr Betreuung. Hinzu kommt noch, dass es in Großbritannien keine Meldepflicht und keine Krankenversicherungskarte gibt. Auch Touristen können den NHS nutzen. Statt das Meldesystem zu ändern, setzte die konservative Premierministerin Margaret Thatcher in den achtziger Jahren auf Hilfskräfte, um billigere Arbeitskräfte einsetzen zu können. Das führte zu landesweiten Streiks des Pflegepersonals. Hatte die Labour-Regierung unter Tony Blair in den neunziger Jahren wieder mehr Geld für den NHS ausgegeben, wurde nach der Finanzkrise 2008 und dem Wechsel zu den Tories 2010 der große, rote Sparstift angesetzt. Im Vereinigten Königreich obliegt die Finanzierung des Gesundheitssystems den jeweiligen „devolved governments”. Schotten, Waliser und Nordiren können selbst entscheiden, wie sie die ihnen aus dem britischen Gesamtbudget zustehenden Gelder ausgeben. Die sozialdemokratischen schottischen Nationalisten sparten weniger als die britische Regierung in England. England besitzt als einzige Nation keine eigene Regionalregierung. Nach zehn Jahren britischer Tory-Regierung war der NHS England vor der Coronakrise bereits hoffnungslos unterfinanziert. Seit der Brexitentscheidung der Briten hatten bis Ende 2019 außerdem noch 11.600 EU-Bürger, die im NHS gearbeitet haben, ihre Jobs verlassen und waren zurück in ihre Ursprungsländer gezogen. Knapp die Hälfte davon waren Krankenpfleger. Nach dem EU-Referendum 2016 und dem Chaos der Brexitverhandlungen versickerte zudem der Strom der EU-Einwanderer nach Großbritannien. In den vergangenen drei Jahren war die Zahl des Krankenpersonals, das aus anderen EU-Staaten ins Vereinigte Königreich gekommen war, um 87 Prozent eingebrochen. Im Dezember 2019 waren nach offiziellen Zahlen 106.000 Stellen im NHS unbesetzt. 44.000 davon in der Krankenflege. Boris Johnsons Versprechen, den nationalen Gesundheitsdienst mit Finanzspritzen zu retten, kommt für die jetztige Krise zu spät. Die fatale Kombination aus Sparpolitik, Brexitentscheidung und Coronavirus-Epidemie droht den NHS k.o. zu schlagen. „Klatscht für die NHS-Helden” forderte die Sun ihre Leser am Donnerstag auf. Um acht Uhr abends wird jeden Donnerstag dem Pflegepersonal landesweit applaudiert. Inzwischen hat sich aber eine halbe Million Briten freiwillig gemeldet, um das überforderte Personal des NHS zu entlasten. Darunter sind pensionierte Ärztinnen oder Privatpersonen, die sich als Fahrer anbieten. Da die politische Führung versagt, greift die Bevölkerung eben zur Selbsthilfe.
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Tessa Szyszkowitz
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Die Briten verehren nicht nur die Queen. Zu den nationalen Heiligtümern zählt auch der Nationale Gesundheitsdienst. Doch der NHS ist in Zeiten der Coronavirus-Epidemie schwer in Bedrängnis.
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"Großbritannien",
"UK",
"Boris Johnson"
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außenpolitik
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2020-04-02T11:48:23+0200
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2020-04-02T11:48:23+0200
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https://www.cicero.de//aussenpolitik/corona-krise-grossbritannien-nhs-uk-boris-johnson
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Notenbanken - Der Staat als Geldmonopolist
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„Nach Golde drängt, am Golde hängt doch alles“, sagt Gretchen in Goethes „Faust“. Schön wär’s, ist man heutzutage geneigt zu sagen. Doch leider hängt nichts mehr am Gold, sondern vielmehr am Geld. Und das ist ein gewaltiger Unterschied. Denn Geld lässt sich beliebig vermehren, auch wenn ihm kein Gegenwert entspricht. Hier liegt die Wurzel so manchen Übels. Geld hat die Menschen immer fasziniert. Das ist verständlich. Immerhin verspricht es Sicherheit und Wohlstand. Zugleich war es den Menschen aber auch immer ein bisschen unheimlich. Geld scheint magische Kräfte zu haben: Obwohl es selbst keinen Wert hat, kann man es gegen unendlich wertvolle Dinge eintauschen, und wie von Zauberhand verwandelt es den einen Gegenstand in einen anderen. Wer jetzt glaubt, dass unsere hoch technisierte, digitalisierte Gesellschaft mit all ihren Ökonomen, Finanzfachleuten und komplexen Computermodellen dieses magische Denken überwunden hat, irrt erheblich. Im Grunde stehen wir vor dem schnöden Mammon, so wie einst Naturvölker: eingeschüchtert, verzaubert, mit großen Augen und an Wunder glaubend. Doch Wunder gibt es nicht. Schon gar nicht beim Geld. Keine Frage, Geld ist eine der großartigsten Erfindungen. Gegenüber anderen Zahlungsmitteln hat es viele Vorteile. Man kann es leicht transportieren, es ist einfach zu teilen, es verdirbt nicht, es hat eine hohe Kaufkraft, und es harmonisiert den Tausch von Gütern – absurde Streitigkeiten, etwa darüber wie viele Äpfel ein Fußball wert ist, bleiben einem erspart. Durch diese Eigenschaften erhöht Geld die Anzahl möglicher Tauschakte und erweitert die Distanz, über die hinweg getauscht werden kann. Das ermöglicht eine hohe Arbeitsteilung und steigert den Wohlstand erheblich. Zudem hat Geld eine weitere faszinierende Eigenschaft: Es ist eine Art Arbeitsspeicher. Man kann eine Zeit lang mehr arbeiten, um Geld zu sparen und dann von der in der Vergangenheit geleisteten Arbeit leben. Gerade weil Geld so viele Möglichkeiten bietet und sich mit ihm so viele Dinge verwirklichen lassen, neigen Menschen dazu, den Besitz von Geld als Selbstzweck anzusehen. Aus dem Mittel wird das Ziel. Besonders attraktiv ist daher der Besitz des Geldmonopols. Darauf sind Herrscher recht früh gekommen. Der Vorteil: Ist die Staatskasse leer, prägt man einfach neues Geld. Oder man macht das Geld schlecht, indem man beginnt, den Goldgehalt von Goldmünzen zu strecken. Beides geht auf Dauer schief, da die Kaufkraft des betroffenen Geldes rapide verfällt. Trotzdem bleiben die zwei Verfahren populär – nur haben moderne Regierungen dafür ganz andere Mittel zur Verfügung als die harmlosen Goldpanscher vergangener Zeiten. Für diese Entwicklung waren zwei wichtige Erfindungen notwendig, die eng miteinander zusammenhängen: das Papiergeld und die Notenbank. Vorläufer des Papiergeldes waren Zahlungsanweisungen. Mit der Zeit akzeptierten Händler solche Zahlungsanweisungen als Zahlungsmittel. Für die Banken und den Staat war das eine tolle Entdeckung. Man konnte sehr viel mehr Zahlungsmittel ausgeben, als man wirklich in Form von Münzen zur Verfügung hatte. Doch da das Bedürfnis nach Geld bekanntlich grenzenlos ist, kamen schlaue Fachleute auf noch wundersamere Möglichkeiten der Geldvermehrung, etwa die Kreditausweitung: Banken begannen Geld zu verleihen, in dem Vertrauen darauf, dass nicht alle Geldeinlagen tatsächlich auf einen Schlag abgehoben werden. Die zur Verfügung stehende Geldmenge steigt, ohne dass faktisch mehr Geld vorhanden ist. Zudem stellten Bankiers schnell fest, dass viele Kreditnehmer ihren Kredit nicht auf einen Schlag wahrnehmen. Man kann also Geld, das man im Grunde nicht hat, sogar mehrfach verleihen. Dann ist das gesamte Kreditsystem nur zu einem sehr geringen Teil gedeckt. Das wäre auf einem freien Geldmarkt erst einmal nicht schlimm. So richtig problematisch wird es, wenn ein ganz großer Spieler mitspielt: der Staat und seine Zentralbank. Um sich die Pointe der Sache vor Augen zu halten, muss man sich klar machen, dass Notenbanken nicht gottgegeben sind. Bürger, Produzenten und Händler kämen ganz gut ohne sie aus. Der Staat braucht sie dringend. Denn mittels der Zentralbank tritt der Staat als Geldmonopolist auf. Über seine Steuern sorgt er zudem dafür, dass alle Bürger ihre Steuerschulden ausschließlich in dem vom Staat zur Verfügung gestellten Geld zu begleichen haben: ein geschlossenes Zwangssystem. Dessen eigentlicher Zweck ist anders lautenden Gerüchten zum Trotz die Geldvermehrung. Ein derzeit beliebtes Mittel hierzu ist der Ankauf von Schuldentiteln. Das Ergebnis ist eine Geldflut. Kleiner Nebeneffekt: Die Umverteilung von Vermögen zugunsten Wohlhabender und ins Fantastische steigende Immobilienpreise. So entstand die Finanzkrise – wohlgemerkt durch staatliche Notenbanken und nicht durch freie Finanzmärkte. Die Gesamtschulden weltweit, so errechnete McKinsey Anfang des Jahres, belaufen sich auf 199 Billionen Dollar. Das sind 286% des weltweiten Bruttoinlandsproduktes. Dass diese, aus vielen Einzelblasen bestehende Riesenblase platzt, ist sicher. Die Frage ist nur, wann. Die Politik spielt auf Zeit und hofft auf ein Wunder. Doch wie gesagt: Wunder gibt es nicht. Schon gar nicht beim Geld.
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Alexander Grau
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Kolumne Grauzone: Bei keinem Thema ist der moderne Mensch abergläubischer als beim Geld. Der Zauber wird durch das Wirken der Notenbanken angeheizt. Das Ergebnis: Geldflut, Finanzkrise und der Staat als Geldmonopolist. Bis die Riesenblase platzt
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wirtschaft
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2015-07-18T10:47:50+0200
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https://www.cicero.de//wirtschaft/vom-schein-der-geldscheine-wunder-gibt-es-nicht-schon-gar-nicht-beim-geld/59583
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Mehr Schulden fürs Innenministerium - SPD-Abgeordnete fordern neues „Sondervermögen“ für Sicherheit
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Die Vorsitzenden der einflussreichen SPD-Landesgruppen Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen/Bremen im Bundestag fordern ein neues Sondervermögen für die Stärkung der inneren und äußeren Sicherheit. „Äußere Sicherheit kann nicht ohne innere Sicherheit gedacht werden“, heißt es in einem Positionspapier von Wiebke Esdar, Dirk Wiese und Johann Saathoff für eine Klausurtagung, die am Donnerstag auf Norderney beginnt. „Daher muss im neuen Sondervermögen auch mindestens 20 Prozent der Summe für die enormen Herausforderungen aufgrund der Zeitenwende für die innere Sicherheit in der Zuständigkeit des Bundesinnenministeriums investiert werden.“ Saathoff ist Parlamentarischer Staatssekretär bei Bundesinnenministerin Nancy Faeser. Die beiden Landesgruppen, denen 77 der 207 Bundestagsabgeordneten der SPD angehören und damit mehr als ein Drittel, tagen am Donnerstag und Freitag auf der Nordseeinsel Norderney. Daran werden auch Bundeskanzler Olaf Scholz und Verteidigungsminister Boris Pistorius teilnehmen. Scholz hatte drei Tage nach dem russischen Angriff auf die Ukraine in seiner Zeitenwende-Rede ein kreditfinanziertes Sondervermögen von 100 Milliarden Euro für die Aufrüstung der Bundeswehr auf den Weg gebracht. Das Geld wird nach jetzigem Planungsstand Ende 2027 aufgebraucht sein. Wie danach das Nato-Ziel erreicht werden soll, zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts in Verteidigung zu investieren, ist unklar. Die drei SPD-Landesgruppenchefs halten ein weiteres Sondervermögen für notwendig, das auch der Polizei und anderen Behörden zugutekommen soll, die sich um die Sicherheit im Inneren kümmern. In dem Positionspapier wird auch eine Reform der im Grundgesetz verankerten Schuldenbremse gefordert. „Generationengerechtigkeit bemisst sich gerade nicht in Schulden oder an einer schwarzen Null“, schreiben die Abgeordneten. „Heute sind wir in der Pflicht, durch Investitionen ein gutes Bildungssystem, eine starke Wirtschaft und eine funktionierende Infrastruktur für zukünftige Generationen zu sichern.“ dpa
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Cicero-Redaktion
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Ende 2027 ist das schuldenfinanzierte Sondervermögen für die Bundeswehr aufgebraucht. Innenstaatssekretär Johann Saathoff und andere SPD-Politiker wollen dann ein neues Sonderschuldenpaket aufnehmen, das auch fürs Innenministerium verwandt werden soll.
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"innere Sicherheit",
"Staatsschulden",
"SPD"
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innenpolitik
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2024-04-18T16:38:49+0200
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2024-04-18T16:38:49+0200
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https://www.cicero.de//innenpolitik/sondervermoegen-innenministerium-spd
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Der Reichstagsbrand - Republik unter Feuer
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Bis heute schwelt der Streit darüber, wer es war. Die Kandidaten sind: Marinus van der Lubbe, ein holländischer Hilfsarbeiter und serieller Brandstifter im Namen der Weltrevolution, der sich am Tatort widerstandslos festnehmen ließ; ein kommunistisches Kommando oder aber einige anonyme SA-Leute, die entweder im Auftrag der Partei oder sogar auf eigene Faust handelten. Wer hat in der Nacht vom 27. Februar 1933 wirklich den Reichstag angezündet? Van der Lubbe ist ein typischer Verlierer der Geschichte. 24 Jahre alt, früh verwaist, alleinstehend, arbeitslos, rastlos und sehr, sehr wütend. Bei einer Schlägerei auf einer Baustelle waren seine Augen mit ungelöschtem Kalk verätzt worden. Er sah deshalb schlecht. Dafür bekam er in seiner Heimatstadt Leiden eine Invalidenrente von sieben Gulden pro Woche. Als er im Januar 1933 nach Berlin reiste, kam er gerade aus einer Augenklinik. Seine politischen Überzeugungen waren kommunistisch oder anarchistisch, er war politisch engagiert, gehörte aber keiner Partei an. Heute wäre er der ideale Rekrut für eine Terrororganisation. Für seine Täterschaft spricht, dass er zweimal Berlin besucht (einmal hatte er den Weg zu Fuß zurückgelegt) und dort Kommunisten aufgefordert hatte, ein revolutionäres Fanal zu entfachen. Er gab auch zu, schon zwei Tage früher drei kleinere Feuer an öffentlichen Gebäuden gelegt zu haben. Im Verhör gestand er die Brandstiftung im Reichstag. Adolf Hitlers Stoßseufzer in der Brandnacht, „gebe Gott, dass dies das Werk der Kommunisten ist“, lässt eine nationalsozialistische Verschwörung ebenfalls als unwahrscheinlich erscheinen. Auch Joseph Goebbels zeigte sich in seinen Tagebüchern überrascht. Willkür und Notstandsverordnung Gegen van der Lubbe aber spricht, dass der Brand im Reichstagsgebäude eben keine improvisierte Zündelei war, sondern fachmännisch durchgeführt wurde, wahrscheinlich mit mehreren Brandherden. Diente der Kommunist und gewaltbereite Brandstifter Marinus van der Lubbe als geradezu idealer Sündenbock? War er am Ende sogar von nationalsozialistischen Provokateuren angestiftet und unterstützt worden? Auch der Prozess konnte die Frage nach der Täterschaft nicht eindeutig klären. Van der Lubbe verwickelte sich zwar in Widersprüche, hielt aber an seiner Alleintäterschaft fest. Wollte er vielleicht den Ruhm für sich allein? Am 23. November 1933, in der 42. Sitzung, forderte er das Gericht auf, ihn allein zu verurteilen: „Ich kann bloß zugeben, dass ich den Brand allein gelegt habe, aber mit der Entwicklung des Prozesses bin ich nicht einverstanden. Ich verlange jetzt von dem Senat, dass ich eine Strafe bekomme; was hier geschieht, ist ein Verrat an den Menschen, an der Polizei, an der kommunistischen und nationalsozialistischen Partei. Ich verlange hier, dass ich mit Gefängnis oder mit dem Tode bestraft werde.“ Außer Zweifel stehen die Konsequenzen des Reichstagsbrands. Die neue, nationalsozialistische Regierung schien von dem Brand überrascht, ergriff aber ohne Zögern die Gelegenheit, die Weimarer Verfassung im Namen der öffentlichen Ordnung und des Kampfes gegen den Bolschewismus außer Kraft zu setzen. Die „Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutz von Volk und Staat“ vom 28. Februar 1933, dem Tag nach dem Brand, schaffte Bürgerrechte wie freie Meinungsäußerung, Pressefreiheit, Versammlungsfreiheit, Postgeheimnis, den juristischen Beistand für Staatsgefangene und den Föderalismus praktisch ab und ersetzte sie durch staatliche Willkür. Ab jetzt regierte Hitler per Notstandsverordnung. Das demokratische Experiment der Weimarer Republik war damit beendet. Nächste Seite: Ein kleines, gemeines Gesetz Hitler und andere Regierungsmitglieder gingen augenscheinlich von einem kommunistischen Aufstand vor den Reichstagswahlen am 5. März aus und überschätzten wohl auch die militärische Gefahr einer bereits geplanten Revolution, die von der Kommunistischen Partei ausging. Noch in der Brandnacht entschlossen sie sich zum Präventivschlag. Hitler gab sogar den Befehl, alle kommunistischen Reichstagsabgeordneten aufzuhängen. Wie viele seiner impulsiven Anordnungen wurde auch diese nicht in die Tat umgesetzt. Ein Kleines, gemeines Gesetz Trotzdem machten die Nationalsozialisten ernst. Am Tag nach dem Brand wurden rund 1500 kommunistische Funktionäre und andere Oppositionelle festgenommen und in Gefängnisse oder improvisierte Haftlager gebracht. Unter ihnen waren Rudolf Bernstein, Egon Erwin Kisch, Erich Mühsam, Carl von Ossietzky und Walter Stoecker. Die Verhaftungswelle rollte weiter, in den nächsten Wochen wurden allein in Preußen noch weitere circa 100 000 Kommunisten und Sympathisanten ohne konkrete Anklage verhaftet. Vor der Reichstagswahl wollte die nationalsozialistische Führung die Gefahr an der Urne neutralisieren. Auch oppositionelle Zeitungen und Wahlwerbung wurden verboten. Die NSDAP sollte die Wahl mit satten 43,9 Prozent gewinnen. Der Wahltag war einer der blutigsten der deutschen Geschichte: 69 Menschen starben bei Zusammenstößen zwischen SA und Kommunisten, Hunderte wurden verletzt. Und van der Lubbe? Für ihn erließ die Regierung am 29. März ein kleines, gemeines Gesetz. Das „Gesetz über Verhängung und Vollzug der Todesstrafe“ legte fest, dass die „Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutz von Volk und Staat“ auch auf Taten zwischen dem 31. Januar und dem 28. Februar anwendbar sei. Damit wurde es möglich, den Angeklagten zum Tode zu verurteilen. Brandstiftung war bis dahin kein Kapitalverbrechen gewesen. Der Prozess wurde unter den Augen der misstrauischen Weltöffentlichkeit breit aufgerollt. Eine umfassende kriminalistische Untersuchung war zu unklaren Ergebnissen zur Anzahl der Brandherde und der Täter gekommen. Van der Lubbe wurde ausführlich vernommen. Ein psychiatrisches Gutachten bescheinigte ihm volle Zurechnungsfähigkeit. Sein Gutachter hieß Karl Bonhoeffer und tat sich später als Verfechter der Zwangssterilisierung „erbkranker“ Menschen hervor. Auch einen „Halbjuden“ stufte er als erbkrank ein und empfahl dessen Sterilisierung. Sein Sohn, der Theologe Dietrich Bonhoeffer, wurde am 9. April 1945 auf persönlichen Befehl Hitlers hingerichtet. Während der Verhandlung schien Marinus van der Lubbe meist apathisch und benommen, was Beobachter zu der Vermutung veranlasste, er sei sediert oder sogar vergiftet worden. Bei der Urteilsbegründung schlief er ein. Seine vier Mitangeklagten, der kommunistische Politiker Ernst Togler sowie drei bulgarische Kommunisten, wurden aus Mangel an Beweisen freigesprochen. Auch gegen van der Lubbe lagen neben seinen oft widersprüchlichen Aussagen und seiner Festnahme am Tatort keine konkreten Tatbeweise vor. Trotzdem wurde er zum Tode verurteilt. Am 10. Januar 1934, vier Tage vor seinem 25. Geburtstag, wurde er in Leipzig mit der Guillotine enthauptet. In der Serie „1933 – Unterwegs in die Diktatur“ sind bisher erschienen: Die Machtergreifung: Religion der Brutalität Der Reichstagsbrand: Republik unter Feuer Das Ermächtigungsgesetz: Als Deutschland die Demokratie verlor Die Bücherverbrennung: Das Ende des Landes der Dichter und Denker Die Volkszählung 1933: Die statistische Grundlage für den Holocaust Das Reichskonkordat: Fauler Handel mit der Kirche Der Volksempfänger: Das Propagandawerkzeug der Nazis DIe Reichskulturkammer: Die Gunst war wichtiger als die Kunst Der Völkerbund: Deutschlands Austritt ebnete den Weg in den Krieg Dieser Text ist in der März-Ausgabe des Cicero erschienen. Sie ist im Handel und im Online-Shop erhältlich.
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Philipp Blom
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Vor 80 Jahren brannte der Reichstag. Unmittelbar danach wurden die Bürgerrechte außer Kraft gesetzt. Die Demokratie war damit beendet. Zweite Folge unserer Serie „1933 – Unterwegs in die Diktatur”
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kultur
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2013-02-27T12:10:55+0100
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2013-02-27T12:10:55+0100
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https://www.cicero.de//kultur/republik-unter-feuer/53622
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Kampf um Kobane - Ein neues Srebrenica
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Nun also Kobane. Eine Kleinstadt wie so viele im Irak und in Syrien, die die Terrormiliz „Islamischer Staat“ (IS) in den letzten Monaten ihrem „Kalifat“ einverleibt hat. Eigentlich also nicht der Rede wert, weder geografisch noch militärisch noch wirtschaftlich. Und dennoch könnte diese Stadt einmal in einem Atemzug genannt werden mit Srebrenica in Bosnien oder Ruanda, wo Massaker an Zivilisten stattfanden. In Kobane – arabisch Ain al-Arab – sind zwar keine Massaker zu erwarten, da ihre kurdischen Verteidiger die Zivilbevölkerung über die nahe türkische Grenze in Sicherheit gebracht haben. Sollte die Stadt an den IS fallen, wird sie den gleichen Ruf wie Srebrenica oder Ruanda erlangen – als Synonym für das Versagen der Weltgemeinschaft. Seit fast einem Monat belagern die Extremisten Kobane – quasi unter den Augen der Weltöffentlichkeit. Von den nahen Hügeln der Türkei aus beobachten TV-Teams aus aller Welt jeden Granateneinschlag, jede schwarze IS-Flagge, die irgendwo vor oder in der Stadt gehisst wurde. Unaufhaltsam rücken die IS-Einheiten vor – trotz des erbitterten Widerstandes der kurdischen YPG-Einheiten, trotz der gelegentlichen US-Luftangriffe, trotz der in Sichtweite in Stellung gegangenen türkischen Truppen und Panzer. Der Fall von Kobane wäre ein unglaublicher Propaganda-Erfolg für den IS. Vor den Augen der Welt siegen seine Milizen, obwohl scheinbar die ganze Welt gegen sie ist. Sie setzen sich gegen die Supermacht USA und deren Verbündete durch. Sie trotzen der hochgerüsteten Türkei. Und sie fügen den vom Westen gepäppelten Kurden gerade eine vernichtende Niederlage zu. Dieser Erfolg ist mehr als nur Stoff für die IS-Propagandaabteilung. Der IS wird unter militanten Islamisten in aller Welt weitere Sympathien gewinnen, wird weitere Rekruten zur militärischen Vergrößerung seines „Kalifats“ gewinnen. Schließlich ist der IS nach Al-Kaida die erste islamistische Organisation, die dem „Teufel“ USA getrotzt hat. Sieger sind immer sexy. Rühmen kann sich der IS, weil er in Kobane gleich eine ganze Reihe von Gegnern schlägt: militärisch die syrisch-kurdische YPG, politisch und moralisch die USA und deren arabische Verbündete, dazu die Europäische Union und auch die Türkei. Dass dem IS alleine mit Luftangriffen nicht beizukommen sein wird, war von vornherein klar. Dennoch hält US-Präsident Barack Obama an dieser halbherzigen Strategie fest. Die EU muss sich zurecht die Frage gefallen lassen, weshalb sie zwar die irakischen Kurden mit Waffen und Ausbildern unterstützt, nicht aber die syrischen, die Kobane verteidigen. Eine Frage, auf die es keine vernünftige Antwort gibt. Zu den großen Verlierern der Schlacht von Kobane gehört aber auch die Türkei. Politisch und militärisch wäre sie in der Lage, den IS-Vormarsch nachhaltig zu stoppen. Sie tut es nicht. Stattdessen unterstützt sie indirekt sogar die Terrormiliz, solange ihre Grenztruppen es türkischen Kurdenkämpfern verwehren, ihren syrischen Freunden in Kobane zu Hilfe zu eilen. Ankara bekämpft die PKK und fürchtet, dass sich die Kurden vereinigen könnten, ja sogar einen eigenen Staat vor der Haustür gründen könnten. Die Angst vor den Kurden ist größer als jene vor dem sunnitischen IS. Noch. Versagt hat die Türkei vor allem als Regionalmacht, als die sie sich sieht und die sie sein könnte. Anstatt den IS-Terror zu bekämpfen, sieht sie seelenruhig zu, wie sich direkt vor ihrer Haustür das IS-„Kalifat“ etabliert. Was dies bedeutet, wird Ankara wohl erst begreifen, wenn die IS-Milizen in der Türkei einfallen. Etliche IS-Anhänger haben bereits angekündigt, dass die Türkei das nächste Angriffsziel sein wird. Doch Präsident Recep Tayyip Erdogan ist – wie EU und USA – immer noch zu sehr im alten Denken (= die Kurden sind der Gegner) verhaftet, als dass er auf ein neues Phänomen wie den IS adäquat reagieren könnte. Menschlich und moralisch ist aber eines besonders bitter: Die Verteidiger von Kobane gehören der YPG an, eben jener kurdischen Volksmiliz, die vor wenigen Wochen erst die überlebenden nordirakischen Jesiden vor dem IS-Terror rettete und deshalb weltweit gefeiert wurde. Jetzt, da die YPG selbst Hilfe braucht, wird sie von eben jener Welt im Stich gelassen. Dieser Beitrag erscheint in Kooperation mit dem Opinion Club.
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Andreas Theyssen
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Die Eroberung der syrischen Kleinstadt Kobane an der Grenze zur Türkei ist mehr als nur ein weiterer militärischer Sieg für den „Islamischen Staat“. Wenn die internationale Gemeinschaft weiter nur zusieht, dürfte Kobane bald in einem Atemzug genannt werden mit Srebrenica und Ruanda
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außenpolitik
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2014-10-13T13:08:30+0200
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2014-10-13T13:08:30+0200
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https://www.cicero.de//aussenpolitik/kamp-um-kobane-ein-neues-srebrenica/58323
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Hamburger CDU-Debakel - So funktioniert die neue Parteiendemokratie
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Beginnen wir mit einem Gedankenexperiment. Nehmen wir an, Angela Merkel würde völlig überraschend ihren Rücktritt als Bundeskanzlerin erklären. Hektisch müssten CDU und CSU einen Nachfolger suchen oder eine Nachfolgerin. 2017 zöge die Partei ohne Mutti in den Wahlkampf. Egal ob Ursula von der Leyen oder Thomas de Maizière die Nachfolge anträte, die Frage wäre nur: Wie tief stürzt die Union in der Wählergunst? Womit wir in Hamburg wären. Zehn Jahre ist es her, da gewann die CDU in der Hansestadt mit 47,2 Prozent die absolute Mehrheit, Ole von Beust war ein strahlender Bürgermeister und feierte seine CDU als moderne Großstadtpartei, der es gelungen war, tief in linke und alternative Großstadtmilieus einzudringen. Dann trat er zurück, es kam erst ein Nachfolger und dann auch noch ein neuer Spitzenkandidat. Aber es half alles nichts. Zwei von drei Hamburger CDU-Wählern haben seit 2004 das Weite gesucht, die Verluste sind rekordverdächtig, noch nie in der bundesdeutschen Geschichte ist die Wählerbasis einer Partei innerhalb von einem Jahrzehnt in einem Bundesland so erodiert. Und was für die CDU zusätzlich dramatisch ist: Vor allem die Alten haben sich bei der Bürgerschaftswahl in Hamburg am vergangenen Sonntag von der CDU abgewendet und damit jene Wählerschaft, die bislang noch zu der treuesten Anhängerschaft der Partei gehörte. Führende Christdemokraten dagegen haben das blamable Hamburger Ergebnis routiniert kommentiert. Sie verwiesen auf die fast schon traditionelle Schwäche der CDU in den Großstädten, auf den SPD-Bürgermeister, der nun mal beliebt gewesen sei. Da kann man halt nichts machen. So gehen sie zur Tagesordnung über. Dabei geht die strukturelle Schwäche der CDU weit über die Großstädte hinaus. Ohne Merkel hätte die Union vermutlich ähnliche strukturelle Probleme wie die SPD, möglicherweise sogar noch größere. Der Erfolg von CDU und CSU bei der Bundestagswahl 2013 hat die Union blind gemacht für die grundlegenden Veränderungen in der Parteiendemokratie und für die großen Veränderungen im Wahlverhalten der Deutschen. Denn so sehr sie davon profitiert, wenn das Pendel in der Kanzlerschaft Merkel in die eine Richtung ausschlägt, so groß ist die Gefahr, dass das Pendel anschließend in die andere Richtung schwingt. Die SPD musste diese Erfahrung bereits machen. Mit Schröder ging es für die SPD rauf bis auf 40,9 Prozent. Selbst nach der umstrittenen Agenda 2010 kam dieser 2005 noch auf 34,2 Prozent. Von solchen Wahlergebnissen träumt SPD-Chef Sigmar Gabriel heute. Willkommen in der neuen Parteiendemokratie. Es gibt fünf Regeln, nach denen die neue Parteiendemokratie funktioniert. Fünf Gründe dafür, dass die Ausschläge in der Wählergunst immer größer werden: Die Wähler in Deutschland werden immer anspruchsvoller und sind schneller bereit, ihre Partei abzustrafen. Die Wähler sind nicht mehr an bestimmte Parteien gekettet, traditionelle Wählerbindungen zählen kaum noch. Mittlerweile gibt es in Deutschland stattdessen mehr Wechselwähler als Stammwähler. Nur noch eine Minderheit kann sich vorstellen, nur eine Partei zu wählen und gilt damit im klassischen Sinne als Stammwähler. So beträgt etwa das Wählerpotenzial der CDU zwar seit den 1970er Jahren stabil rund 50 Prozent, doch die Zahl der Stammwähler, die treu zu ihrer Partei stehen, hat sich im selben Zeitraum auf unter 20 Prozent halbiert. Die Mehrheit der Deutschen steht zwar einer Partei nahe, sie hat aber auch eine Zweit- und eine Drittpräferenz. Die Wechselbereitschaft geht dabei längst über die Grenzen der politischen Lager hinweg. Etwa jeder dritte CDU-Wähler kann sich vorstellen auch SPD zu wählen und etwa jeder vierte die Grünen. Und die Wähler machen von ihrer parteipolitischen Flexibilität Gebrauch. Bei der Bundestagswahl 2013 etwa stimmte jeder fünfte Wähler anders als 2009. Weil immer mehr Wähler keine festen Parteienpräferenzen mehr haben, kommt es bei Wahlen immer entscheidender auf die Spitzenkandidaten an. Merkel ist für CDU und CSU eine Bank. Sie genießt hohe Anerkennung weit über die eigene Partei hinaus und zieht ihre Partei nach oben. Selbst bei SPD-Wählern ist die Kanzlerin beliebter als der Vizekanzler und SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel. Bei Helmut Kohl war dies anders, er war als Kanzler immer weniger beliebt als seine Partei, konnte sich aber noch darauf verlassen, dass die Stammwähler von CDU und CSU am Wahltag standen. Diese Zeiten sind vorbei. In den Ländern sieht es ähnlich aus, an beliebten Amtsinhabern kommt die Opposition kaum vorbei. Auch in Hamburg war der beliebte Bürgermeister Olaf Scholz für die SPD das entscheidende Wahlkampfargument. Er konnte es sich sogar leisten, im Wahlkampfendspurt ein Plakat zu zeigen, auf dem nur sein Mund zusehen war und der Slogan „Hamburg weiter vorn“, aber weder sein Name und vor allem nicht das Logo seiner Partei. DVU und NPD, Schillpartei und Freie Wähler, WASG und Linke, Piraten und AfD. Die Liste der Protestparteien, die es in den letzten zwei Jahrzehnten in Deutschland zu schnellem und zum Teil flüchtigem Ruhm gebracht haben, ist mittlerweile lang. Längst ist die Protestwahl enttabuisiert. Es den etablierten Parteien zu zeigen, jene Partei zu wählen, über die sich etablierte Politiker am meisten ärgern, ist für einen mittlerweile relevanten Teil der Wähler ein wichtiges Wahlmotiv. Nach den Piraten, die in Umfragen kurzzeitig auf bis zu 10 Prozent kamen, macht jetzt die AfD Furore. Das Wahlprogramm und die Kandidaten sind für viele Protestwähler zweitrangig. Hauptsache, es knallt. Auch die Nichtwahl ist kein Ausdruck fehlender staatsbürgerlicher Verantwortung mehr, sondern gilt selbst unter Intellektuellen als chic. Und es sind nicht nur die sozial und gesellschaftlich Deklassierten, die sich am Wahltag verweigern, sondern auch viele, denen es gut geht, die sich aber für Politik nicht interessieren. Nicht nur die Große Koalition führt dazu, dass die grundlegenden programmatischen Unterschiede und ideologischen Gegensätze zwischen den Parteien angeschliffen werden. Die Zeiten, in denen Sozialdemokraten „Vaterlandsverräter“ waren und Christdemokraten „Revanchisten“, sind längst vorbei. Die Grünen sind schon in den Krieg gezogen, dafür legen die Christdemokraten jetzt die Atomkraftwerke still. Nicht einmal mehr vor dem rot-grünen Chaos traut sich die CDU zu warnen. Wobei die Wähler mitnichten glauben, alle Parteien seien gleich. Sie nehmen sehr wohl war, welche Partei für den Mindestlohn steht und welche für wirtschaftliche Kompetenz, für den Euro oder für Steuererhöhungen. Noch 1991 sagten 31 Prozent der Wähler in einer Umfrage des Instituts für Demoskopie Allensbach, alle Parteien seien im Grunde gleich, 2013 waren es nur noch 24 Prozent. Gleichzeitig betonten 65 Prozent der Befragten kurz vor der letzten Bundestagswahl: „Es gibt Unterschiede“. Am Ende kommt es für die Parteien auf den Wahlkampf an, auf die richtigen Parolen und richtigen Plakate. Und weil sich die Wähler immer später entscheiden, ist der Wahlkampfendspurt, sind die letzten Tage der Kampagne wahlentscheidend. Die Herausforderungen an die Politik haben sich dabei grundlegend verändert. Es reicht nicht mehr, die Stammwähler mit einem lauten Bekenntniswahlkampf an die Wahlurne zu locken. Stattdessen kommt es neben dem zugkräftigen Kandidaten auf die passgenauen politischen Botschaften an. Jeder Fehler kann sich brutal rächen: So erholte sich der SPD-Kanzlerkandidat Peer Steinbrück 2013 nicht mehr von der Diskussion um seine Nebeneinkünfte. Den Grünen hing der Veggieday wie ein Klotz am Bein. Die SPD hadert immer noch sehr mit der Niederlage 2013. Die Genossen klagen über das Umfragetief von 25 Prozent, in dem ihre Partei steckt, obwohl die SPD doch in der Großen Koalition so verlässlich regiert. Nur kann von einem Umfragetief überhaupt keine Rede sein. 25 Prozent der Wähler haben 2013 SPD gewählt und die 25 Prozent sind jetzt auch damit zufrieden, dass die SPD ihre Wahlversprechen umsetzt. Also wollen sie immer noch SPD wählen. Anderen Wählern hingegen hat die SPD in den letzten anderthalb Jahren keinen hinreichenden Grund gegeben, sie zu wählen. Zumal auch die Wähler von CDU und CSU offenbar wenig Grund haben, mit ihrer Kanzlerin zu hadern. Die neue Parteiendemokratie funktioniert hier ganz einfach. Will die SPD neue Wähler gewinnen, muss sie den Wählern neue politische Angebote machen, entweder personell oder programmatisch. Alte Forderungen aufzuwärmen, reicht hingegen nicht. Steuererhöhungen sind schon 2013 bei der Mehrheit der Wähler durchgefallen. So sehr die Politiker manchmal über die unberechenbaren und undankbaren Wähler schimpfen und über die grassierende Parteienverdrossenheit klagen, von Demokratieverdrossenheit kann in Deutschland keine Rede sein. Der Anteil derjenigen, die mit der Demokratie im Lande „einigermaßen“ oder sogar „sehr zufrieden“ sind, beträgt einer Allensbach-Umfrage zufolge 83 Prozent. Seit 2003 ist die Demokratiezufriedenheit dabei um 16 Prozentpunkte gestiegen. Den Wählern gefällt die neue Parteiendemokratie.
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Christoph Seils
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Achselzucken bei der CDU, verhaltene Freude bei der SPD. Völlig routiniert kommentieren die Parteien die Hamburgwahl. Dabei ist ihr Ausgang das Symptom einer grundlegenden Umwälzung im Parteiensystem. Die neue Parteiendemokratie funktioniert nach fünf Regeln
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innenpolitik
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2015-02-18T17:01:07+0100
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2015-02-18T17:01:07+0100
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https://www.cicero.de//innenpolitik/cdu-nach-hamburg-pech-gehabt-weitermachen/58889
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Innovationskonferenz TED - „Jeder kann ein komplexes Thema in 18 Minuten erklären“
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Der gebürtige Berliner Stephan Balzer ist Chef der Kommunikationsfirma Red Onion. Er hat das Konzept der amerikanischen Innovationskonferenz TED 2009 in Form von TEDx-Konferenzen nach Deutschland geholt. Fachleute aus unterschiedlichsten Bereichen stellen innovative Ideen vor und treten so in einen Dialog über zukünftige Entwicklungen. Das Thema der diesjährigen TEDxBerlin ist „exponential change“. Was verbirgt sich dahinter? Dahinter steckt die These, dass Fortschritte auf unserem Planeten in Zukunft nicht mehr linear verlaufen, sondern durch die zunehmende Technologisierung den Verlauf einer exponentiellen Kurve haben werden. Es wird in immer kürzerer Zeit schneller in der Entwicklung nach oben gehen. Die Innovationszyklen werden immer kürzer. Einige Redner hinterfragen diese These kritisch. [[{"fid":"66722","view_mode":"full","type":"media","attributes":{"height":983,"width":750,"style":"width: 200px; height: 262px; margin: 5px 3px; float: left;","class":"media-element file-full"}}]] Der Beitrag des Tech-Altstars Andrew Keen lautet zum Beispiel „Exponential Fuck up“ Andrew Keen warnt vor dieser rasanten exponentiellen Entwicklung. In seinem Buch „The internet is not the answer“ ( auf Deutsch erschien: „Das digitale Debakel: Warum das Internet gescheitert ist - und wie wir es retten können") warnt er vor den Tech-Firmen im Silicon Valley und den negativen Folgen des raschen digitalen Wandels auf unsere Psyche, die Wirtschaft und Kultur. Unter den zwölf Rednern ist nur ein Deutscher. Warum? Man findet nur sehr wenige Leute in Deutschland genau zu diesem Thema. Wir Deutschen stehen, was Digitalisierung und neue Technologien betrifft, nicht an erster Stelle. Wir hängen hinter anderen Ländern wie den USA, Israel oder England hinterher. Auch große Tech-Unternehmen in Deutschland sind global nicht Marketleader, wenn es um Digitalisierung geht. Es gibt wenige vom Format eines Oliver Samwer von Rocket Internet, der in zehn Jahren ein globales Unternehmen aufgebaut hat, weil er verstanden hat, wie man Technologie einsetzt. Wie finden Sie neue Redner, die an innovativen Ideen arbeiten? Mit unserem Redaktionsteam aus vier Leuten suchen wir permanent nach interessanten Leuten auf der ganzen Welt. Es ist vergleichbar mit Ihrer journalistischen Arbeit: wir recherchieren, spüren auf, reisen herum, hören uns um. Ich fahre oft ins Silicon Valley, nach London oder Tel Aviv, wo es eine große Innovationskultur gibt. Ich besuche andere TEDx-Veranstaltungen. Mittlerweile gibt es ja Ableger in 170 Ländern und 2500 Städten. Das heißt theoretisch könnte man jeden Tag auf 12 bis 15 verschiedene TEDx-Konferenzen gehen. Die TEDxBerlin ist keine reine Businesskonferenz, bei Ihnen treten auch Künstler und Designer auf. Das Spektrum ist breit, unsere Speaker wie auch unsere Teilnehmer kommen von überall her. Wir haben sowohl einen Aktivisten, einen Autor, eine Performancekünstlerin als auch sozial engagierte Unternehmer auf der Bühne. Wir behandeln Themen zu allen Bereichen der Gesellschaft. Die TED ist als multidisziplinäre Konferenz gegründet worden. Der Gründer Richard Saul Wurman hat gesagt: Innovation entsteht da, wo sich Leute aus unterschiedlichen Bereichen gegenseitig ihre Ideen vorstellen. Alle Redner müssen ihre Idee in nur 18 Minuten auf den Punkt bringen. Ist das zu schaffen? Die berühmtesten Wissenschaftler der Welt zeigen, dass es geht. Manchmal kommen zu uns gestandene deutsche Professoren, die dann zu mir sagen: Unter 100 Minuten kann man mein Thema doch gar nicht erklären. Dann schicke ich Ihnen den Link zur Rede eines Nobelpreisträgers, der seine Theorie auch in 18 Minuten rübergebracht hat. Das überzeugt sie meist. Wir coachen auch manche Redner und geben ihnen Tipps, wie sie ihre Rede aufbauen können. Welche Tipps geben Sie ihnen? Wir zeigen ihnen, wie man aus einem Thema eine Story macht. Oft sagen mir die gestanden Herren dann auch: Herr Balzer, ich halte 200 Vorträge im Jahr, Sie brauchen mir nicht zu sagen, wie man das macht. Dann sage ich: Unser Publikum ist anders als Ihr Wissenschaftskolleg. Wir wollen keinen Wissenschafts-Speak, den keiner versteht. Vielmehr sollen die Redner von ihrer Idee erzählen, als säßen sie mit Freunden am Lagerfeuer. Die Leute wollen wissen, was ihn fasziniert, woran er glaubt. Deutschen Wissenschaftlern und Unternehmern fällt es anders als ihren amerikanischen Kollegen oft schwer knackig unterhaltsame Reden zu halten. Warum? Das ist ein großer kultureller Unterschied. Bei den Amerikanern gibt es das Show & Tell schon in der Grundschule. Die Schüler treten vor die ganze Klasse und erzählen, was sie am Wochenende gemacht haben. So üben sie sich im Reden vor Publikum. Irgendwann haben sie gar keine Angst mehr, vor Leuten aufzutreten. Beim Redenhalten geht es ja vor allem darum, sich wohl zu fühlen. Die Grundvoraussetzung, um auch andere für ein Thema zu begeistern. Was ist das für ein Publikum, das zur TEDxBerlin kommt? Leute aus allen denkbaren Bereichen und Industrien. Das Alter der Teilnehmer liegt zwischen 20 und 40 Jahren. Es kommen Studenten, Young Professionals von Anfang 30, Unternehmer, aber auch Schüler. Schüler? Werden die dann von den Eltern dahin geschickt? Wir hatten bei der Hamburger TEDx schon mal drei 14-jährige Schüler, die uns nach der Veranstaltung gestanden haben, dass sie die Schule geschwänzt haben, um dorthin zu kommen. Als ich so alt war, hätte ich gar nicht gewusst, wo es solche Konferenzen gibt. Viele Studenten und Schüler gucken auch die TEDTalks, die kostenlosen Videos von den Veranstaltungen. Ist die Schule also langweiliger als eine TEDx-Veranstaltung? Die junge Zielgruppe ist unglaublich wissbegierig, wenn man ihnen Sachverhalte gut und spannend erzählt. Eine unserer beliebtesten Talks stammt von Sir Ken Robinson und wurde bisher weltweit 35 Millionen Mal heruntergeladen. Ken Robinson sagt, die Schule ersticke die Kreativität. Ihm zufolge setzen wir agile, vitale Kinder in die Welt, die gar nicht genug Wissen aufsaugen können, und in dem Moment, in dem sie in die Schule kommen, geht diese Lust aufs Lernen verloren. Er plädiert für die Schaffung eines Bildungssystems, das die Kreativität fördert und nährt (anstatt sie zu untergraben). Sollte die TED-Veranstaltung verpflichtend für Schüler werden? Der Erfolg der TEDx in der jungen Zielgruppe ist enorm. Ich würde mir wünschen, dass viele Lehrer ihre Schüler mal zu uns schicken. Wir hatten vor vier Jahren mal eine kostenlose TEDxYouth für Schüler in Berlin organisiert, aber der Widerstand von Seiten der Schulen war zu groß. Die Direktoren fragten uns, was das solle. Das sei ein amerikanisches Format, das sei ja gar nicht wissenschaftlich bewiesen, dass das einen pädagogisch nachhaltigen Wert habe. Es kamen nur Schüler von Privatschulen. Wir haben das dann nicht weitergeführt. Wie finanziert sich die TEDxBerlin? Wir nehmen keine 500 Euro Eintritt wie normale Businessveranstaltungen, sondern nur rund 99 Euro. Es geht bei uns immer nur um Kostendeckung, wir machen keinen Gewinn. Einer unserer großen Sponsoren ist u. a. die IFA Berlin, die uns die Bühne kostenlos zur Verfügung stellt. Wir fliegen die Redner aus der ganzen Welt ein und bezahlen die Unterkunft, sie treten ohne Honorar auf. Warum sind in den USA Leute bereit 8.500 Dollar für den Eintritt zur TED-Hauptveranstaltung zu bezahlen, manche sogar 17.000 Dollar für eine Bonuskarte? Die TED in Amerika sieht sich ja eher auf dem Niveau des Wirtschaftstreffens in Davos. Die TED-Bühne ist für Redner eine Art „Heiliger Gral“, alle Personen von Wichtigkeit wollen da sprechen. Bill Gates ist immer dabei. Da läuft Al Gore vorbei, George Lucas, Philippe Starck, der Jeff Bezos hört sich ausnahmslos alle Vorträge an. Solche Leute kann man da aber auch ansprechen. Welche Themen werden denn in Zukunft wichtig werden? Bildung ist ein Riesenthema und ein globales. Bildung wird im positiven Sinne viel verändern können. Je mehr Menschen auf der Erde eine gute Ausbildung erhalten, umso besser wird es uns allen gehen. Technologie und der Zugang zu Wissen werden immer wichtiger. Ich hoffe, dass das deutsche Bildungssystem bald noch stärker durch die internationale Konkurrenz unter Druck gerät, damit sich was ändert. Was die Digitalisierung angeht, sind wir nicht führend und das ist schade. Denn wir haben so kluge Leute hier. Das Interview führte Claudia Scholz
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Claudia Scholz
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Die deutsche Version der weltbekannten Innovationskonferenz TED bringt jedes Jahr kluge Köpfe aus allen Bereichen in Berlin zusammen. Im Interview erzählt Organisator Stephan Balzer, wo er die besten Redner und Ideen aufspürt, warum Schüler für seine Veranstaltung die Schule schwänzen und was amerikanische Wissenschaftler den deutschen voraus haben
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wirtschaft
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2015-09-05T18:26:26+0200
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2015-09-05T18:26:26+0200
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https://www.cicero.de//wirtschaft/ideenkonferenz-ted-jeder-kann-ein-komplexes-thema-18-minuten-erzaehlen/59794
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Rechtsextremismus - Ein NPD-Verbot löst das Problem nicht
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Fast genau zwei Jahre, nachdem der Bundesrat das neue NPD-Verbotsverfahren auf den Weg gebracht hatte, entschied das Bundesverfassungsgericht im Dezember des vergangenen Jahres, das Verfahren gegen die Partei zu eröffnen. Der neuerliche Antrag auf ein Verbot der NPD muss auch vor dem Hintergrund der Aufdeckung des „Nationalsozialistischen Untergrundes“ (NSU) und der zunehmenden Hetze gegen Flüchtlinge gesehen werden. Dennoch kommt es in einer Phase, in der die NPD zwischen den Konkurrenzparteien am rechten Rand zerrieben wird und derzeit keine großen Erfolge mehr zu verbuchen hat. Nach zahlreichen innerparteilichen Skandalen und Wahlniederlagen ist die NPD in einer Phase des Niedergangs oder bestenfalls eines Wiederaufbaus mit absteigender Tendenz. Von der Flüchtlingskrise kann die Partei derzeit nicht profitieren - in den Parlamenten noch weniger als auf der Straße. Ein wesentlicher Grund für die elektoralen Misserfolge der NPD ist auch die Alternative für Deutschland (AfD). Das Wählerpotential der rechtspopulistischen Partei ist zwar keineswegs deckungsgleich mit dem der NPD, sie zieht ihr aber dennoch tausende Wähler ab, die der NPD dann beim Sprung über die Fünf-Prozent-Hürde fehlen. Bei den letzten Landtagswahlen waren die Ergebnisse der Partei überall rückläufig. Und auch auf der Straße machen ihr neue, extrem rechte Parteien das Leben schwer. Mit den Neonazi-Parteien Die Rechte und der III. Weg hat die NPD beim „Kampf um die Straße“ neue Konkurrenz bekommen. Den radikalen Kern der rechten Szene zieht es eher zu den Demonstrationen der Partei-Neugründungen als zu den meist seriös-bürgerlich inszenierten Veranstaltungen der NPD. Genau dies macht das Dilemma der NPD deutlich: Für den Weg in die Mitte ist die Partei zu stark mit ihrem Neonazi-Image belastet und für den radikalen Kern der Szene biedert sie sich zu stark an. Sie hat damit ihren angestammten Platz verloren. Die ersten drei Tage im März sind als Verhandlungstage angesetzt. Für den Antragsteller, den Bundesrat, geht es um viel: So waren bereits vor der Einreichung des Verbotsantrages zahlreiche kritische Stimmen zu hören. Der damalige Innenminister Friedrich wurde vom Spiegel zur Frage einer Teilnahme der Bundesregierung am Verbotsverfahren folgendermaßen zitiert: „Das machen wir nicht, die Länder sollen mal allein verlieren.“ Sollte das Verbotsverfahren erneut scheitern, wird sich der Antragssteller dies vorwerfen lassen müssen. Für die NPD steckt im Verfahren sowohl die große Gefahr des Verbotes, als auch die Chance, den lang ersehnten Persilschein zu erhalten. Scheitert das Verfahren, so wird die Partei sich wohl auf Jahre keine Sorgen um ein Verbot machen müssen. Die Parteispitze versucht indes, ihr drohendes Verbot als heroischen Kampf für die Meinungsfreiheit umzudeuten. In seiner Neujahrsansprache sagte der Parteivorsitzende Frank Franz, es werde nicht nur über das Fortbestehen der NPD verhandelt, sondern es gehe darum, „ob die Meinungsfreiheit in Deutschland faktisch beseitigt wird oder nicht“. Das Verfahren wird die NPD belasten, neben finanziellen Mitteln werden personelle Ressourcen gebunden sein. Gerade 2016 dürfte der NPD dies nicht gelegen kommen. Nach zahlreichen Wahlschlappen hofft man wohl zumindest in Sachsen-Anhalt auf den wenig wahrscheinlichen Einzug in den Landtag. Im September sind dann auch Landtagswahlen in Mecklenburg-Vorpommern. Dort besitzt die NPD – nach dem Verlust in Sachsen – ihre letzte Landtagsfraktion und damit auch eine wichtige Einnahmequelle für die Bundespartei. Der Verlust der Fraktion würde die Partei hart treffen. Nach dem schon im Vorfeld gescheiterten Verbotsantrag von 2003 ist man jahrelang nur sehr zögerlich mit einem neuen Anlauf umgegangen. Erst die Enthüllungen rund um den NSU haben den öffentlichen und, in Folge, den politischen Fokus wieder auf die NPD gelenkt. Die Rolle des Verfassungsschutzes rund um den NSU-Skandal und das aufgrund der V-Leute gescheiterte erste NPD-Verbotsverfahren hinterlassen dabei am Rande einen bitteren Nachgeschmack. Mit dem radikalen Auftreten und der politischen Bedeutung der NPD kann das lange Zögern zumindest wenig zu tun haben. Besonders in den Jahren nach 2006 war die politische Bedeutung der Partei durch ihre Wahlerfolge so groß wie lange nicht. Hunderte Kommunalabgeordnete und zwei Landtagsfraktionen markierten den Höhepunkt des Wiederaufstiegs der Partei seit Ende der 1990er Jahre. Das Auftreten der Funktionäre war gleichzeitig nicht wenig radikal. In einem öffentlichen Grundsatz-Papier des Parteivorstandes wurde im Mai 2009 ganz deutlich formuliert, worin die Führungsriege ihre Erfolge sah. Das Rezept sei vor allem die „kompromisslose Ausrichtung auf die Überwindung des liberalkapitalistischen Systems und des bestehenden volksfeindlichen Parteienstaates“. In der Zwischenzeit ist mehr als ein halbes Jahrzehnt vergangen. Seit 2014 amtiert der Saarländer Frank Franz an der Spitze der Partei. Franz ist das neue bürgerliche Gesicht der NPD. Stets akkurat gekleidet wirkt er eher wie ein Katalog-Modell für gehobene bürgerliche Männer im besten Alter. Schon im innerparteilichen Wahlkampf sagte Franz, er wolle vor allem das Auftreten der Partei verbessern, an deren Inhalten aber nicht rütteln. Wenn Franz zum Umsturz aufruft, tut er dies mit Bezug auf das Grundgesetz. Mitte Februar verschickte er einen Brief an Polizei- und Bundeswehrdienststellen. Darin hält er „erstmals in der Geschichte dieser Republik überhaupt eine Situation“ für denkbar, in der sich „Bürger dieses Staates auf den Art. 20 Abs. 4 Grundgesetz beziehen könnten“. Im Kern will Franz damit Bundeswehr und Polizei zum Widerstand gegen die Regierung aufrufen. „Und auch ihre Kollegen der ehem. DDR standen 1989 den eigenen Landleuten gegenüber, die skandierten: Wir sind das Volk“, endet der Brief des NPD-Parteivorsitzenden. Die Logik ist nicht anders als bei Pegida: Antidemokratische Proteste sollen mit dem Label der DDR-Bürgerbewegung als legitim verkauft, gar zur demokratischen Pflicht umgedeutet werden. Und Frank Franz würde in dieser neuen Bewegung gern die Polizei und Bundeswehr auf seiner Seite wissen. Im Kern hat sich damit an den Zielen der NPD nicht viel geändert. Sie sind aber rhetorisch besser verpackt. Das anstehende Verbotsverfahren hätte deutlich früher kommen müssen: Die NPD hatte ausreichend Zeit, sich auf das Verfahren vorzubereiten, und selbst im Falle des Verbotes stehen zahlreiche Ausweichorganisationen bereit. Das Problem des Rechtsextremismus wird ein erfolgreiches Verbot nicht lösen. Und auch auf die aktuell weit verbreitete rassistische Stimmung mit all ihren politischen und gesellschaftlichen Folgen wird ein Verbot der NPD wohl kaum einen nennenswerten Einfluss haben.
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Felix M. Steiner
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In der kommenden Woche eröffnet das Bundesverfassungsgericht das neue NPD-Verbotsverfahren. Doch die Partei verliert politisch immer weiter an Bedeutung und Nachfolgeparteien stehen bereit. Das Verbot kommt zu spät
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innenpolitik
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2016-02-29T10:52:17+0100
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2016-02-29T10:52:17+0100
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https://www.cicero.de//innenpolitik/rechtsextremismus-npd-verbot-loest-das-problem-nicht/60567
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Waffenlieferungen - Wie Deutschland den Apartheid-Staat nuklear aufrüstete
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Mandelas Tod hat auch die deutsche Politik bewegt. In den vergangenen Wochen haben Vertreter aller großen Parteien diesen außergewöhnlichen Menschen in höchsten Tönen gelobt und dessen Arbeit und Leben geehrt. Wenn in drei Wochen der Film „Mandela: Der lange Weg zur Freiheit“ in die Kinos kommt, wird sicherlich auch der ein oder andere Politiker unter den Zuschauern sein. Angesichts all dieser Beteuerungen könnte man den Eindruck gewinnen, die Bundesrepublik habe seit jeher den Kampf gegen die Apartheid unterstützt. Dabei ist das Gegenteil wahr: Politik, Medien und Wirtschaft haben während der Rassentrennung alles Erdenkliche unternommen, das damalige Regime zu stabilisieren. Es diente als vermeintliches Bollwerk gegen den Weltkommunismus. Die größte Befreiungsbewegung Südafrikas, der Afrikanische Nationalkongress (ANC), wurde als Teil der sozialistischen Verschwörung betrachtet und politisch bekämpft. Folgerichtig erhielt die weiße Regierung Südafrikas jegliche politische, wirtschaftliche und auch militärische Unterstützung aus einigen NATO-Staaten. Besonders intensiv waren die Beziehungen Südafrikas mit Großbritannien, Israel und – der Bundesrepublik. [[nid:56196]] Deutschland pflegte sogar als einziges Land weltweit ein Kulturabkommen mit dem Apartheid-Staat. In dessen Rahmen fand nicht nur ein regelmäßiger Schüleraustausch statt. Deutsche Schulen am Kap und in dem damals von Südafrika besetzten „Südwest-Afrika“ erhielten zwar ihr Geld aus Bonn, hielten sich aber an die dortigen Rassegesetze. So schrieb ein Schüler der von der Bundesregierung finanzierten „Deutschen Höheren Privatschule“ in Windhuek bezüglich der Rassentrennung in einem Aufsatz: „Löwen paaren sich nicht mit Schweinen.“ Er dokumentierte damit seine ihm anerzogene Ablehnung „gemischter Ehen“. Solche Art Kultur wurde damals von Bonn gefördert. Besonders skandalös war jedoch die wissenschaftlich-technische Zusammenarbeit mit dem Regime. Südafrikanische Militärwissenschaftler durften etwa an Fachtagungen des Fraunhofer-Instituts für Treib- und Explosivstoffe teilnehmen. Doch nicht nur das jeweils aktuelle wissenschaftliche Know-how in der Sprengstofftechnik reichten bundesdeutsche Wissenschaftler an die Südafrikaner weiter. Das Land erhielt aus der Kernforschungsanlage Karlsruhe und über Verträge mit der damals weitgehend bundeseigenen Firma STEAG, einem Essener Stromerzeuger, auch das Wissen zum Bau einer Urananreicherungsanlage. Die Karlsruher hatten das so genannte Trenndüsenverfahren entwickelt und patentrechtlich schützen lassen. Die dafür notwendigen Trennelemente, das Kernstück der Anlage, lieferten Siemens und MBB. Verdichter kamen von der Firma GHH-Sterkrade, damals eine Tochter des MAN-Konzerns. In einer Cicero Online vorliegenden Notiz aus der STEAG vom 26. November 1975 heißt es dazu: „Betr. Ausfuhrgenehmigung für Nuclear-Komponenten. H. Prof. Fiedler teilte mir telefonisch mit, dass er am 24. November 75 an einer Besprechung im Wirtschaftsministerium in Bonn teilnahm mit dem Ziel, die Verdichter für Urananreicherungsanalgen von den Exportauflagen freizubekommen. H. Fiedler ist der Meinung, daß die Maschinen dieser Kontrolle in Zukunft nicht mehr unterliegen werden, da man seitens GHH so argumentiere, daß es sich hierbei im Grunde um völlig normale Verdichter handelt.“ Spezielle Absperrschieber lieferte Leybold-Heräus, Köln, Mess- und Überwachungssysteme für die Isotopenkonzentration wurden von Varian MAT, Bremen geliefert und Steigerwald, München exportierte eine Elektronenstrahlperforiermaschine für Präzisionsmetallbearbeitung nach Südafrika. Die südafrikanische Urananreicherungsanlage entstand in Pelindaba und wurde auch vom damaligen Staatssekretär im Bundeswirtschaftsministerium, Detlev Rohwedder, 1975 besucht. Rohwedder bedankte sich nach dem Besuch bei Dr. J.W.L. De Villers, dem damaligen Vizepräsidenten des Atomic Energy Board, Pretoria, für den „für uns hoch interessanten Nachmittag in Pelindaba“. Rohwedder wünschte den Südafrikanern „weitere große Erfolge in ihrer Arbeit“. Die militärische Zusammenarbeit der Bundesrepublik mit Südafrika stieß international auf Kritik: Sowohl die damalige Organisation für Afrikanische Einheit – der Vorgänger der heutigen Afrikanischen Union – als auch die UNO haben diese Aktivitäten mehrfach verurteilt. Deutschland hatte mit seiner Politik gegen das völkerrechtlich verbindliche UNO-Rüstungsembargo gegen Südafrika verstoßen. Deutsche Nachrichtensendungen erwähnten diese Verurteilungen nicht. Wenn überhaupt, gab es kurze Randnotizen in den Tageszeitungen. Lediglich eine kleine Gruppe engagierter Menschen, die sich zur Anti-Apartheid-Bewegung zusammen geschlossen hatten, sowie einigen Aktionsgruppen gegen Rüstungsexport blieb es überlassen, über den Skandal aufzuklären. Sie protestierten bei Ministerien und Politikern gegen die Apartheid-Unterstützung. Im Rahmen einer solchen Gegenüberstellung bestätigte der damalige Entwicklungshilfeminister Erhard Eppler, dass er von den Atomlieferungen Kenntnis hatte. Eppler schrieb am 4. Juli 1977: „...es stimmt: am 10.10.1973 habe ich im Kabinett, schließlich mit Erfolg, gegen eine Zusammenarbeit von STEAG mit der SAR [Südafrikanische Republik, die Redaktion] gekämpft. Am 17.10.73 wurde die Vorlage zurückgezogen. Ich meinte, damit sei die Sache erledigt. Sie wurde dann trotzdem von den Staatssekretären Rohwedder und Haunschild weiter betrieben, wie ich erst 1975 zufällig erfuhr. Mit freundlichem Gruß, Ihr Eppler.“ Zum Ende der Apartheid verfügte Südafrika über mehrere angeblich funktionsfähige Atombomben. Aber auch im Bereich der konventionellen Rüstung standen bundesdeutsche Firmen ganz oben auf der Lieferantenliste für das südafrikanische Militär und die Polizei. Deutsche Waffen waren auch dabei, als am 16. Juni 1976 der Schüleraufstand von Soweto niedergeschlagen wurde. Rund 15.000 junge Schwarze gingen damals in dem Vorort von Johannesburg auf die Straße, um gegen die Einführung von Afrikaans – der Sprache der Weißen – als verbindliche Unterrichtssprache zu demonstrieren. Die südafrikanischen Polizisten fuhren in Allradwagen, sogenannten Universal-Motor-Geräten, der Firma Daimler Benz in dieses Township. Sie schossen – auch aus deutschen – Gewehren und Pistolen auf die demonstrierenden Kinder und Jugendlichen. Hunderte Demonstranten starben. Aus der Bundesrepublik stammten auch Anlagen für die Überwachungselektronik, Radar und Sonaranlagen sowie Maschinen für die Munitionsherstellung. Die Firma Goldhofer lieferte Panzertransport-Anhänger. Von großer Bedeutung für das – ansonsten international weitgehend isolierte – Südafrika waren auch die dortigen Tochterfirmen deutscher Unternehmen. So beteiligte sich die Firma Salzgitter über ihre örtliche Niederlassung am Marineprojekt „Advokaat“. VW Südafrika baute Militär Jeeps. Sandock-Austral, ein südafrikanisches Unternehmen, an dem damals Thyssen beteiligt war, baute gepanzerte Fahrzeuge. Lediglich die Lieferung von Bauplänen von U-Booten durch die HDW Kiel und weitere Firmen veranlasste die Bundestagsabgeordneten von Grünen und SPD, einen parlamentarischen Untersuchungsausschuss einzusetzen. Im Zuge dieser Ausschussarbeit wurde erstmals in der breiten Öffentlichkeit über die enge Zusammenarbeit zwischen deutschen und südafrikanischen Militärs und Politikern diskutiert. Aber auch die politischen Stiftungen der Union – die christdemokratische Konrad-Adenauer-Stiftung und die Hanns-Seidel-Stiftung der CSU – taten alles, um die Herrschaft der Rassentrennung am Kap der Guten Hoffnung aufrecht zu erhalten. So wurden die damals von Südafrika eingerichteten „Homelands“ und deren Chiefs von beiden Stiftungen unterstützt. Man unternahm alles, um die Befreiungsbewegung ANC zu bekämpfen. Auch die deutschen Geheimdienste BND und das Bundesamt für Verfassungsschutz unterstützten Südafrika, indem sie inländische und ausländische Anti-Apartheid-Aktivisten überwachten und ihr Wissen den Südafrikanern mitteilten.
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Helmut Lorscheid
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Wenn in Deutschland heute der Freiheitskampf Nelson Mandelas gelobt wird, ist das nicht selten Heuchelei. Denn die Bundesrepublik unterstützte den Apartheid-Staat politisch und militärisch, umging dabei sogar ein Waffen-Embargo. Das umfasste auch Atomlieferungen
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außenpolitik
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2014-01-08T09:37:42+0100
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2014-01-08T09:37:42+0100
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https://www.cicero.de//aussenpolitik/verbotene-waffenlieferungen-wie-deutschland-den-apartheid-staat-suedafrika-aufruestete/56789
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Israel – Der Geist der Proteste ist aus der Flasche
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Eine Million war es zwar nicht, wie von den Veranstaltern
erhofft, aber immerhin 450.000 Menschen versammelten sich am
vergangenen Samstag in mehreren Städten Israels, um gegen steigende
Mieten, hohe Lebenshaltungskosten und für mehr soziale
Gerechtigkeit zu demonstrieren – allein 300.000 waren es in Tel
Aviv. Damit war eine enorme Anzahl von Menschen auf die Straße
gegangen, ungefähr sieben Prozent der israelischen Bevölkerung. Auf
die Einwohner Deutschlands umgerechnet, wären das fünfeinhalb
Millionen Demonstranten. Dabei hatten manche Beobachter schon
angenommen, mit den neuerlichen Terrorangriffen auf den Süden
Israels aus dem Gazastreifen und dem ägyptischen Sinai sei den
Sozialprotesten der Wind aus den Segeln genommen. Doch das war
nicht der Fall. Alte und Junge, Linke und Rechte, Schwarze und
Weiße, Juden und Araber marschierten in Tel Aviv vom
Habima-Nationaltheater zum von Luxusboutiquen gesäumten Kikar
HaMedina, wo die Abschlusskundgebung stattfand. Nachdem Redner auf
der Bühne erklärten: „Wir wollen den Staat Israel nicht nur lieben,
sondern auch in Würde in ihm leben“, sorgten der Popsänger Eyal
Golan und die HipHop-Band Hadag Nahash für Stimmung. Und anders als
bei den jüngsten Aufständen in London ging in Tel Aviv nicht eine
einzige Fensterscheibe zu Bruch, wurde kein Auto abgefackelt, kein
Laden ausgeplündert. Worum ging es? Mitte Juli – genau 51 Tage vor der
Großdemonstration am Wochenende – hatte die 25-jährige
Filmemacherin Daphni Leef auf dem schicken Rothschild-Boulevard in
Tel Aviv ein Zelt aufgeschlagen. Zuvor hatte sie eine Wohnung
gesucht, doch die Immobilienpreise in Israels angesagtester
Großstadt fand sie schlicht unbezahlbar. Via Facebook suchte Leef
nach Mitstreitern – und schon bald hatte sich auf dem
Rothschild-Boulevard eine wahre Zeltstadt breitgemacht. Vor allem
Studenten und Uni-Absolventen demonstrierten damit für bezahlbaren
Wohnraum und erhielten erstaunlich viel Zuspruch aus der gesamten
Bevölkerung. Eine enorme Frustration hatte sich über Jahre unter
den Israelis breitgemacht, die sich nun Bahn brach. Verbraucher
boykottierten teure Lebensmittel, die Ärzte streikten wegen
schlechter Bezahlung bei steigender Belastung durch
Bereitschaftsdienste, alleinerziehende Mütter forderten höhere
Löhne und bessere Unterstützung. Alles in allem war es ein Aufstand
des Mittelstandes, dessen Löhne stagnieren oder sinken, während er
von hohen Steuern und steigenden Lebenshaltungskosten drangsaliert
wird. „Das israelische Durchschnittseinkommen beträgt etwa 70
Prozent des deutschen, während die Preise in den Supermärkten bei
ungefähr 120 Prozent liegen“, sagt der deutsche Auswanderer Lutz
Riedrich, der aus Düsseldorf stammt und mit seiner israelischen
Frau Ofra seit ein paar Jahren bei Tel Aviv lebt. Eben dies – dass es sich um die Sorgen noch relativ gut
situierter Bevölkerungskreise handelt – brachte den
Zeltdemonstranten auch Kritik ein. Der deutschstämmige Unternehmer
Stef Wertheimer drückte im israelischen Fernsehen zwar
grundsätzliche Sympathie für die Anliegen der Zeltprotestierer aus,
betonte aber, man solle in erster Linie die israelische
Wirtschaftskraft stärken und mehr arbeiten, dann würden sich die
übrigen Probleme von allein lösen. Einige konservative
Kommentatoren warfen den jungen Leuten auf dem Rothschild-Boulevard
vor, preiswerte Wohnungen im schicken Zentrum von Tel Aviv zu
fordern, während es im weniger beliebten Süden der Stadt, in der
Gegend um den Zentralen Busbahnhof, durchaus bezahlbaren Wohnraum
gebe – dort zu wohnen, sei allerdings nicht „cool“, denn dort
lebten vor allem afrikanische Flüchtlinge oder philippinische
Gastarbeiter. Das sind nicht nur die Einwände miesepetriger älterer Semester –
auch von Altersgenossen kam Kritik. Die junge israelische Bloggerin
Ola Rozenfeld etwa, die kürzlich nach Kanada ausgewandert ist,
schrieb auf ihrer Website: „In Israel ist es normal, dass man
Wohnungen kauft und nicht mietet. Wohnen zur Miete ist relativ
selten. Und jetzt laufen Demonstranten mit Schildern herum, auf
denen steht: 'Skandal! Junge Paare können es sich nicht leisten,
eine Wohnung zu kaufen.' Liebe Landsleute, wie kommt ihr darauf,
dass ein junges Paar unbedingt eine Wohnung kaufen muss? Wer immer
euch das erzählt hat, hat euch angelogen. Man mietet – so einfach
ist das. Währenddessen spart man so lange, bis man sich ein Haus
leisten kann. Natürlich sind auch die Mieten in Tel Aviv absurd
hoch. Aber es ist eben ein Teufelskreis: Es gibt nur wenige
Mietwohnungen, weil die Leute einfach nicht mieten. Deswegen baut
niemand große Mietshäuser, wie es anderswo in der westlichen Welt
üblich ist.“ In der Zeltstadt auf dem Rothschild-Boulevard findet schon seit
Wochen ein fröhliches Happening, ein Woodstock bei sengender
Sommerhitze statt. Frauen in Batik-T-Shirts und Männer mit
Rastazöpfen machen es sich auf Flohmarktsofas gemütlich, Musiker
ziehen umher, es wird gemeinsam gekocht und diskutiert. Es gibt
Lesungen, eine provisorische Synagoge, es wird jongliert, geflirtet
und gesungen. Die Nationale Studentenunion, politische Parteien und
alle möglichen Splittergruppen haben ihre Gemeinschaftszelte
aufgeschlagen. Auf der Kleinanzeigen-Website Craigslist.org sucht
eine israelische Nudisten-Vereinigung nach Mitstreitern für ein
FKK-Zelt. „Natürlich sind die Proteste berechtigt“, sagt ein
israelischer Journalistenkollege. „Die Mieten sind extrem hoch,
meine Frau und ich zahlen nicht wenig für unsere Wohnung. Was die
Demonstranten jedoch übersehen: Tel Aviv ist so teuer, weil die
Stadt so erfolgreich ist. Jeder will hier hin, natürlich hat das
Auswirkungen auf die Preise. Schau dich um“, sagt er und zeigt auf
die Gäste in dem gut besuchten und nicht eben billigen Café, „arm
sind wir anscheinend nicht. Linke Studenten beklagen sich über den
Kapitalismus in Israel. Aber sie wollen nicht ernsthaft zurück zum
Sozialismus der Kibbuz-Ära. Sie wollen schließlich die Vorzüge
einer kapitalistischen Großstadt genießen.“ Auf dem Weg zum Zentralen Busbahnhof sah ich im Lewinsky-Park
eine weitere Zeltstadt – eine, über die in den Nachrichten nicht
berichtet wird. Dort wohnen die wirklich Armen: Flüchtlinge aus dem
Sudan, obdachlose Äthiopier und Jemeniten. Deren Klagen bleiben
ungehört, während die Studentenproteste Premierminister Benjamin
Netanjahu immerhin dazu brachten, einen Ausschuss unter Leitung des
Wirtschaftswissenschaftlers Manuel Trajtenberg einzuberufen – die
sogenannte Trajtenberg-Kommission –, der Lösungsvorschläge für die
soziale Krise in Israel erarbeiten soll. Und doch: Auch der
Mittelstand hat legitime Anliegen. Dass es anderen noch schlechter
geht, heißt nicht, dass man nicht für seine Interessen einstehen
darf. Und die Klagen waren keineswegs auf Tel Aviv beschränkt und
nicht nur Sache verwöhnter Großstadtkids. In ganz Israel gab es
Proteste gegen horrende Wohnkosten. Sogar in der Kleinstadt Sderot
am Rande des Gazastreifens, die wegen des jahrelangen
Raketenbeschusses durch die Hamas in die internationalen
Schlagzeilen geraten war, hatten Demonstranten etwa ein halbes
Dutzend Zelte aufgeschlagen. Diese dürften nach dem jüngsten
erneuten Raketenbeschuss aus Gaza inzwischen wieder verschwunden
sein – die Gründe, die zu ihrer Errichtung führten, jedoch
nicht. Der Tel Aviver Journalist Adi Schwartz schreibt in einem Beitrag
für die britische Zeitschrift Monocle: „Die Botschaften der
Protestierer sind oft widersprüchlich. Einige fordern einen Ausbau
des Sozialstaats, andere wollen Steuersenkungen. Aber der kleinste
gemeinsame Nenner ist der Eindruck, dass das Rückgrat der
israelischen Gesellschaft – die städtische säkulare Mittelschicht –
über Gebühr belastet wird.“ Die Trajtenberg-Kommission will der Regierung bis Ende September
ein Programm zur Lösung der sozialen Probleme vorlegen. Gidi
Grinstein, Direktor des Thinktanks Reut und Teilnehmer an den
Sitzungen der Trajtenberg-Kommission, erklärte mir am Telefon,
wohin die Reise voraussichtlich gehen wird: Der Wohnungsbau muss
gefördert und der öffentliche Nahverkehr verbessert werden,
gleichzeitig gilt es, die Preise für lebenswichtige Waren und
Dienstleistungen wie Nahrungsmittel, Wohnraum, Gesundheit, Wasser
und Strom zu verbilligen, indem man bestehende Monopole aufbricht
und wirklichen Wettbewerb zulässt. Ein Zurück zum Wohlfahrtsstaat
sozialistischer Prägung wird es also nicht geben. Wohl aber ein
Wirtschaftswachstum, das alle gesellschaftlichen Schichten und
Sektoren mit einbezieht, glaubt Grinstein. Und er zieht das Fazit:
„Die israelische Gesellschaft hat durch die Demonstrationen
insgesamt ein neues Niveau an politischer und sozialer Bewusstheit
erreicht, das auch durch Terroranschläge nicht mehr verschwinden
wird. Der Geist der Proteste lässt sich nicht zurück in die Flasche
zwingen.“
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Es begann mit einem Zelt. Mittlerweile gehen eine halbe Millionen Menschen in Israel auf die Straße. Und anders als bei den jüngsten Aufständen in London ging in Tel Aviv nicht eine einzige Fensterscheibe zu Bruch, wurde kein Auto abgefackelt, kein Laden ausgeplündert. Doch wer sind die Protestler eigentlich?
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außenpolitik
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2011-09-06T14:06:53+0200
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2011-09-06T14:06:53+0200
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https://www.cicero.de//aussenpolitik/der-geist-der-proteste-ist-aus-der-flasche/42897
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AfD-Aussteigerin Verena Hartmann - „Der Flügel will die AfD voll und ganz übernehmen“
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Es ist eine Frage, von der das Überleben der AfD abhängen könnte: Wird die Partei als ganze vom Verfassungsschutz beobachtet? Eine Entscheidung soll in diesem Frühjahr fallen. Der völkisch-nationale Flügel um Thüringens AfD-Chef Björn Höcke gilt schon jetzt als Verdachtsfall. Seine Mitglieder dominieren inzwischen auch den im Dezember neugewählten Bundesvorstand. Sie werfen immer wieder selbst die Frage auf, ob sie noch mit beiden Beinen auf dem Boden der Verfassung stehen. Vor diesem Hintergrund wirkt der Rücktritt der Berliner AfD-Bundestagsabgeordneten Verena Hartmann wie ein Signal in Richtung Verfassungsschutz. Denn Hartmann begründet ihren Schritt mit der „wachsenden Macht des rechtsnationalen Flügels.“ „Der Flügel will die AfD voll und ganz übernehmen, da es sich mit diesem „Etikett“ mehr erreichen lässt als mit dem adäquateren NPD-Label“, schreibt sie auf ihrer Facebookseite. Hartmann ist schon die fünfte Bundestagsabgeordnete, die die AfD seit der Bundestagswahl verlässt. Vor ihr hat zuletzt der sächsische Polizist Lars Herrmann sein Parteibuch abgegeben. Auch er galt als Gegner des Flügels. Seine Kritik an Höcke & Co. hätte dazu geführt, dass ihn die Landesgruppe Sachsen im Bundestag ausgeschlossen hat, hat er gesagt. Schon sein Austritt hatte die Partei in Alarmbereitschaft versetzt, ging von ihm doch die Botschaft an alle Beamten mit AfD-Parteibuch aus: „Rettet euch, bevor der Verfassungsschutz die ganze Partei beobachtet und euch die Mitgliedschaft noch euren Job kostet." Herrmann und Hartmann gehörten beide zu den Unterzeichnern eines Appells, mit dem 100 AfD-Mandats- und Funktionsträger der AfD im Juli 2019 gegen den Personenkult um Björn Höcke und seinen Flügel demonstriert haben. Dass sie ihre persönliche Abrechnung jetzt auf Facebook für alle öffentlich gemacht hat, statt die Angelegenheit hinter verschlossenen Türen mit dem Vorstand zu klären, ist symptomatisch für das Klima in der AfD. „Der rechte Flügel ist weder fair, noch kämpft er mit offenem Visier“, schreibt Hartmann. „Durch Intrigen und Diffamierungen lässt er nur zwei Optionen zu: Unterwerfung oder politische Demontage.“ Die Schlussfolgerung, die die ehemalige Polizistin daraus zieht, deckt sich mit der Einschätzung von Experten, die die schleichende Radikalisierung der Partei schon seit längerem beobachten: „So zersetzt er (der Flügel) Stück für Stück die Partei, und es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis nichts mehr von der AfD übrig ist, die sie noch vor zwei Jahren war.“
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Antje Hildebrandt
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Mit Verena Hartmann ist schon die fünfte AfD-Bundestagsabgeordnete seit 2017 aus der Partei ausgetreten. Begründet hat sie diesen Schritt nicht hinter verschlossenen Türen, sondern auf Facebook. Es ist ein Wink an den Verfassungsschutz, den Flügel und die Partei stärker ins Visier zu nehmen
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"AfD",
"Verena Hartmann",
"Lars Herrmann",
"Höcke",
"Verfassungsschutz"
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innenpolitik
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2020-01-28T16:04:15+0100
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2020-01-28T16:04:15+0100
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https://www.cicero.de//innenpolitik/afd-fluegel-verena-hartmann-verfassungsschutz-bjoern-hoecke
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Steuerschätzung - Was tun mit den 55 Milliarden?
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Der Staat macht Überschüsse und die Begehrlichkeiten sind groß: Steuern senken, mehr Sozialleistungen, eventuell sogar mehr Investitionen? Ideen gibt es viele. Dabei ist ein Blick auf die Fakten eher ernüchternd. Zehn Thesen zu den 55 Milliarden Mehreinnahmen: 1. Es ist ein Unding, dass der Staat trotz geringer Arbeitslosigkeit (Dank boomender Wirtschaft) und geringen Zinskosten (Dank Europäischer Zentralbank), den Bürgern so viel Geld abnimmt. 2. Dabei verwendet er das Geld nicht mal, um in die Zukunft zu investieren, sondern alimentiert eine immer größere Umverteilungsmaschinerie. 3. Offiziell geht es darum, mit der „schwarzen Null“, die eher eine „schwarze Eins“ ist, angesichts von rund einem Prozent Überschuss des Staates vom Bruttoinlandsprodukt (BIP), die Schulden abzubauen. 4. Die offiziellen Schulden Deutschlands sind nicht das Problem. Es sind die inoffiziellen Schulden in Form von Versprechungen für künftige Pensionen, Renten und Gesundheitsversorgung. Da steht Deutschland deutlich schlechter da, als beispielweise Italien. Zählt man offizielle und inoffizielle Schulden zusammen, liegt die Verschuldung des vermeintlichen Schuldensünders Italien unter jener Deutschlands. Hier hat die aktuelle Regierung alles getan, um die Schuldenlast nach oben zu treiben durch überflüssige und verfehlte Rentengeschenke. 5. Wir sparen also heute an Investitionen in Infrastruktur von Straßen bis Breitbandversorgung und lassen unsere Schulen verfallen, um damit die Grundlage dafür zu legen, uns in Zukunft für Rentenversprechen wieder richtig verschulden zu können. Nachhaltig ist das nicht. 6. Das Sparen des Staates in der laufenden Periode hat einen weiteren negativen Effekt: Gemeinsam mit der Ersparnis der privaten Haushalte (für das Alter wichtig) und der Unternehmen (mangelndes Vertrauen in die Zukunft des Standortes Deutschland) führt das zu einer gesamtwirtschaftlichen Ersparnis von rund zehn Prozent des BIP. In einer geschlossenen Volkswirtschaft würde dies zu einer schweren Krise führen. In einer offenen Volkswirtschaft führt es zu einem Handelsüberschuss in gleicher Höhe. Angesichts der immer lauteren und bedrohlichen Kritik an unseren Überschüssen ist dies keine gute Strategie. Die Gefahr protektionistischer Reaktionen nimmt damit weiter zu. Nicht nur aus den USA, auch aus der EU droht Ungemach. 7. Wir exportieren somit unsere Ersparnisse in die Welt, was bisher noch nie gut gegangen ist. Wo immer Geld zu verlieren war, von der amerikanischen Subprimekrise bis zur spanischen Immobilienblase, waren deutsche Banken und Versicherungen vorne mit dabei. In einer zunehmend überschuldeten Welt ist es keine gute Idee, Gläubiger zu sein. Symptomatisch sind die Target II Forderungen der Bundesbank, die nichts anderes als ein zinsloses Darlehen an Schuldner mit zweifelhafter Qualität sind. Besser wäre es allemal, dass Geld bei uns auszugeben. 8. Da die privaten Haushalte sparen sollten, müssen wir die Ersparnisse von Unternehmen und Staat senken. Unternehmen sollten, wenn sie nicht investieren, mehr Steuern zahlen und nicht die Privaten, wo über immer mehr Abgaben nachgedacht wird (Stichworte: Wegfall Ehegattensplitting, Abgeltungssteuer, höhere Erbschafts- und gegebenenfalls Vermögenssteuer, höhere Spitzensteuer). Eine höhere Belastung der Unternehmen wäre da vernünftiger. 9. Vor allem sollte der Staat dringend mehr ausgeben. Und zwar für alles: für Steuersenkungen für die privaten Haushalte, für bessere Schulen und Infrastruktur, im beschränkten Maße auch für mehr Sozialleistungen. Es ist allemal besser, wenn wir unsere Ersparnisse im eigenen Land ausgeben, als sie im Ausland zu verlieren. Wenn es darum geht, künftigen Wohlstand und vor allem auch künftige Rentenzahlungen abzusichern, gibt es keine bessere Strategie, als in die Zukunft zu investieren. Wie sollen immer weniger und immer schlechter ausgebildete Menschen mit verfallender Infrastruktur das BIP erwirtschaften, welches die alternde Gesellschaft trägt? 10. Die Regierung sollte zugleich die wahre Staatsverschuldung senken, in dem sie die erforderlichen Reformen der Alterssicherungssysteme nicht weiter aufschiebt. Höheres Rentenalter, geringere Zusagen, effizientere Gesundheitssysteme lauten die Stichworte. Heute mehr Geld für alle und alles und dafür solidere Finanzen in der Zukunft wäre das Motto. Doch dazu wird es nicht kommen. Statt einen grundlegenden Wandel in unserer Wirtschaftspolitik zu vollziehen, werden die Politiker – egal welcher Couleur – an der bisherigen Strategie festhalten. Zum Leidwesen der heutigen und künftiger Generationen.
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Daniel Stelter
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Bund, Länder und Kommunen können auf 55 Milliarden Euro mehr Steuereinnahmen hoffen, als bisher geplant. Warum das eigentlich kein Grund zum Jubeln ist, was nun geschehen sollte und warum es nicht geschehen wird. Zehn Thesen
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"Mehreinnahmen",
"Steuern",
"Schulden",
"Umverteilung",
"Staatsverschuldung"
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wirtschaft
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2017-05-11T18:20:32+0200
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2017-05-11T18:20:32+0200
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https://www.cicero.de//wirtschaft/steuerschaetzung-was-tun-mit-den-55-milliarden
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Haushaltszahlungen und Steuereinnahmen - Wie viel Geld braucht die EU von Deutschland?
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Der jährliche Haushalt der EU hat einen Umfang von rund 145 Milliarden Euro (2017). Deutschland ist traditionell der größte Nettozahler und zahlt jährlich rund 13 Milliarden Euro mehr in den Haushalt ein, als es daraus bezieht. Durch den Austritt des zweitgrößten Nettozahlers Großbritannien gerät das ganze komplizierte System der Finanzierung des EU-Haushalts aus dem Tritt. Mittelfristig fehlen jährlich zehn bis elf Milliarden Euro. Diese Lücke wäre allerdings durch Einsparungen im Haushalt ohne weiteres zu schließen. Es ist schließlich nicht einzusehen, dass aus dem EU-Haushalt allein rund 56 Milliarden Euro jährlich in die Landwirtschaft fließen, das meiste davon in pauschale Flächensubventionen an Großgrundbesitzer. Die Kommission möchte zwar bei Agrarausgaben sparen, bei anderen Ausgaben dagegen deutlich zulegen. Die zusätzlichen Lasten sollen nach dem Willen der EU-Kommission vor allem von Deutschland getragen werden. Der Haushaltskommissar Günther Oettinger erklärte vor einigen Tagen, dass Deutschland auf der Basis seines Vorschlags jährlich elf bis zwölf Milliarden Euro zusätzlich zahlen müssen. Die deutsche Nettobelastung soll sich also in etwa verdoppeln. Die Kommission greift damit einen Ball auf, den ihr Deutschland selber zugespielt hatte: SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz hat 2017 in seinem fehlgeschlagenen Wahlkampf behauptet, die Probleme Europas lägen an einem Mangel an Geld, und in Aussicht gestellt, dass Deutschland diesem Mangel durch mehr finanzielle Leistungen abhelfen werden. Dieser Irrtum fand indirekt auch Eingang in die Koalitionsvereinbarung. Er erleichtert jetzt Jean-Claude Juncker und Günther Oettinger das Geschäft bei der Begründung ihrer unverschämten Forderung. Sie setzen damit die Irrfahrt Europas fort. Denn die europäische Politik erzielte ihre selbsternannten Erfolge in den vergangenen Jahren an den falschen Stellen: • Das wirtschaftlich unbedeutende und notorisch bankrotte Griechenland wurde mit Entschuldungshilfen in dreistelliger Milliardenhöhe und ungewissen Zukunftslasten in der EU und im Euroraum gehalten. • Des europäische Kernland Großbritannien, wirtschaftlich gesund und der zweitgrößte Nettozahler in der EU, wurde dagegen mit Nickeligkeiten solange geärgert und kleinlich behandelt, bis sich die knappe Mehrheit seiner Bürger für den Brexit entschied. Was sagt man zur Forderung, dass künftig anstelle der ausgetretenen Briten vor allem Deutschland die Lücken füllen soll? Immer wieder hören wir, Deutschland sei doch so reich. Oft wird unterstellt auch von anderen EU-Ländern, dass unser angeblicher Reichtum auf Kosten anderer geht. Das ist natürlich Unfug: Deutsche Waren und Produkte sind im Ausland sehr beliebt. Umgekehrt ist das weniger der Fall: Soviel französischen Rotwein und amerikanische I-Phones können die Deutschen gar nicht kaufen, wie sie beim Export von Autos und Maschinen einnehmen. Darum steigen die deutschen Vermögensanlagen im Ausland und ebenso die gewaltigen Kredite, die die Deutsche Bundesbank über das Target-System indirekt andern Euroländern gewährt. In der Bilanz des Eurosystems sind mittlerweile in den sogenannten Target-Salden 750 Milliarden zugunsten der Deutschen Bundesbank aufgelaufen. In diesem Umfang haben andere Euroländer Warenbezüge aus Deutschland mit Notenbankkrediten finanziert. Es gibt also gewaltige Ungleichgewichte in Europa. Sie haben nichts, reineweg gar nichts, mit Lücken im EU-Haushalt, aber sehr viel mit der Zwangsjacke des Euro und den Wettbewerbsmängeln der Volkswirtschaften der Südländer zu tun. Jetzt argumentieren viele, auch in Deutschland, dass zwölf Milliarden Euro mehr aus Berlin für Brüssel, für die reichen Deutschen gar kein Problem sein. Wenn es der EU nicht hilft, so wird es auch nicht schaden. In jedem Fall verbessert es die Atmosphäre und zeigt unseren guten europäischen Willen. Immerhin hatten die Öffentlichen Haushalte in Deutschland 2017 einen Überschuss von 36,6 Milliarden Euro. Ist es nicht fair, davon ein Drittel in europäische Solidarität zu investieren? So kann man denken, aber ist das wirklich fair, und wem wird damit geholfen? • Seit Angela Merkel Kanzlerin wurde, stieg die Abgabenquote am Bruttoinlandsprodukt (BIP) von 38,2 auf 40,3 Prozent, das sind satte 68,5 Milliarden Mehreinnahmen jährlich rein auf Kosten der Bürger. • Gleichzeitig hat der deutsche Staat wegen der Niedrigzinspolitik der EZB jährliche Zinsersparnisse von rund 49 Milliarden Euro, so hat es die Deutsche Bundesbank ausgerechnet. Heimliche Steuererhöhungen und niedrige Zinsen haben zusammen den Staat um 117 Milliarden Euro entlastet. Da ist es keine Kunst, einen Haushaltsüberschuss von 36 Milliarden Euro zu erzielen. Finanzminister Wolfgang Schäuble und seine Kollegen in Ländern und Gemeinden kamen in den vergangenen Jahren quasi im Schlafwagen zu einer scheinbaren Haushaltssanierung. Scheinbar ist diese Sanierung, weil es bei der Qualität der staatlichen Aufgabenerfüllung an vielen Stellen lichterloh brennt: • Unsere Infrastruktur bröckelt, auf vielen Autobahnen herrscht Dauerstau. • Die deutsche Art der Klimawende macht Energie nicht nur immer teurer, sondern ihr Angebot auch immer instabiler. • Die Leistungen unserer Schüler sinken. Intelligenz und Wissen, die wichtigsten Rohstoffe Deutschlands und der eigentliche Garant unseres Wohlstands, werden künftig immer knapper. • Die direkten und indirekten Ausgaben für die Folgen der Masseneinwanderung steigen und liegen jetzt bei rund 30 Milliarden Euro im Jahr. Sie bilden heute schon eine Zukunftslast von vielen 100 Milliarden Euro. • Die Verwaltungsgerichte ächzen unter einer Überlast. Zu 80 Prozent befassen sie sich nur noch mit Asylverfahren. • Der Rentnerberg, der in wenigen Jahren droht, wenn die geburtenstarken Jahrgänge der sechziger Jahre in Pension gehen, ist immer noch unfinanziert, obwohl man seit 40 Jahren Zeit hatte, sich auf ihn vorzubereiten. • Die Bundeswehr ist ein Trümmerhaufen, mit ihren traurigen Resten ist konventionelle Verteidigung in Europa tatsächlich unmöglich geworden. Um die jährliche Annäherung unserer Militärausgaben an das Nato-Ziel von 2 Prozent des BIP wird ein kleinlicher Streit geführt. Kurzum: Auf vielen Gebieten öffentlicher Aufgabenerfüllung in Deutschland sind zwölf Milliarden Euro weitaus besser angelegt als in der Aufblähung europäischer Subventionen. Zunächst aber würde ich vorrangig dem Bürger die heimlichen Steuererhöhungen zumindest teilweise zurückgeben.
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Thilo Sarrazin
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Mit dem Brexit entsteht eine Lücke im EU-Haushalt. Ginge es nach Günther Oettinger, sollte Deutschland diese Lücke schließen. Allein bis 2022 hat allein der Bund laut aktueller Steuerschätzung zusätzliche Steuereinnahmen von 10,8 Milliarden Euro. Das Geld sollte in Deutschland bleiben, findet Thilo Sarrazin
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"EU",
"Haushalt",
"Brexit",
"Steuerrückzahlung"
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wirtschaft
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2018-05-09T16:59:32+0200
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2018-05-09T16:59:32+0200
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https://www.cicero.de//wirtschaft/haushaltszahlungen-eu-deutschland-brexit-scholz-schauble-steuereinnahmen
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Bernd Fabritius als Vertriebenen-Präsident - Der Versöhner
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Niemand beachtet den Mann mit der blausilbernen Krawatte, als die Wintersonne müde in den Bundestag scheint und Erika Steinbach aus der Haut fährt. Ihr Oberkörper schwingt vor und zurück, ihre Hände unterstreichen jedes Wort. Sprechen! Sie! Anderen! Nicht! Den! Anstand! Ab! Steinbachs Augen schießen Blitze in Richtung der Grünen-Fraktion. Ein Redner der Grünen hat der Union kurz zuvor vorgeworfen, das Thema Menschenrechte ihrem rechten Rand zu überlassen: Denn Steinbach ist in der CDU/CSU-Fraktion für Menschenrechte zuständig. „Kampfgruppe Steinbach“ hat der Grüne sie und ihre Kollegen genannt. Steinbach warf ihm Handküsse zu. Ein Sitz neben ihr legte der Mann mit der blausilbernen Krawatte, wie immer, wenn er angespannt ist, Zeige- und Mittelfinger seiner rechten Hand auf die hintere Wange, direkt unters Ohr. Als nähme er seinen Puls. Auch er sitzt im Menschenrechtsausschuss und gehört zur Unionsfraktion. Er ist sogar Steinbachs Nachfolger als Präsident des Bundes der Vertriebenen. Aber er ist kein Teil der Kampfgruppe Steinbach. In gewisser Weise ist Bernd Fabritius sogar das Gegenteil von ihr. Natürlich wird er ihr deswegen nicht im Bundestag in den Rücken fallen. Als Fabritius um 15.25 Uhr ans Rednerpult tritt, versucht er eine milde Variation der Steinbach-Rede, das ist eine bodenlose Frechheit, Herr Kollege. Seine Beine sind am Boden festgenagelt, die Hände ans Pult getackert. Keine Gesten. Sein Kopf bewegt sich, aber sein Körper schweigt. Er trägt eine Lesebrille. Steinbach, 71, zählt zu den letzten großen Reizfiguren im Parlament. 1991 stimmte sie gegen die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze, vor kurzem meinte sie, homosexuelle Paare mit Kindern hätten so viel Nutzen für die Gesellschaft wie Hobbygärtner. 16 Jahre lang führte sie den BdV mit eiserner Hand. Ihr Nachfolger Fabritius ist 49, CSU, Siebenbürger Sachse, konsensorientiert. Und schwul. Eine Woche nach der Rede im Bundestag sitzt er in seinem Berliner Büro, auf dem Tisch ein Blatt Papier. Er nimmt einen Kugelschreiber und malt einen Halbkreis: die Unionsfraktion. „Hier ist Erika Steinbach“, sagt er und macht ein Kreuz über das rechte Ende des Kreises. „Und da bin ich.“ Punkt. Und da. Punkt. Und da. Punkt, Punkt, Punkt. Das Blatt sieht aus wie ein Verbinde-die-Punkte-Spiel für Kinder. Was sagt das über Fabritius’ Haltung? Er verortet sich „im wertegebunden-liberal-modernen Flügel“. Er passe „schlecht in Schubladen“. Phrasen? Vielleicht hilft ein Blick auf sein Leben: Geboren in Agnetheln, Rumänien. 1984 vor Ceausescu geflohen. Seit er als Jugendlicher mit einem 20-Kilo-Koffer nach Deutschland kam, ging es bergauf. Jurastudium, Rechtsreferendar im Verband der Siebenbürger Sachsen, mit 38 in die CSU. 2013 wurde er Bundestagsabgeordneter, 2014 Präsident des BdV. Fabritius mag keine Schubladen, weil er zu oft in welche gesteckt wurde. Als Siebenbürger Sachse war er in Rumänien der Deutsche und in Deutschland der mit dem schweren Akzent. Im BdV war er der aus dem kleinen siebenbürgischen Verein, kein „echter“ Vertriebener, kein Sudetendeutscher oder Schlesier, einer ohne Hausmacht. In die CSU trat er erst mit 38 Jahren ein. Im Bundestag ist er der, der gerade noch über die Landesliste hereinrutschte. Und im BdV der homosexuelle Präsident. Einer, der von der Gesellschaft so oft etikettiert wurde, will zur Mitte gehören. Er sagt: „Dort ist Siebenbürgen. Hier ist Deutschland. Solche Denkmodelle beenden wir – Denkmodelle nach dem Hier und Dort.“ Die unterschiedlichen Welten will er miteinander versöhnen. Das ist nicht nur sein Programm für einen neuen Vertriebenenbund, es ist die Geschichte seines Lebens. Geht es nach ihm, soll sich der BdV proeuropäisch, offen, liberal aufstellen. Er hat den Bürgerrechtler Milan Horácek ins BdV-Präsidium geholt, der 1983 mit den Grünen in den Bundestag einzog. Und Fabritius sucht den Kontakt nach Tschechien und Polen – besonders dort war Steinbach zuletzt verhasst. Er sagt, er wolle das „Verbindende ausleben“. Trotz seines Reformkurses ist er für viele vor allem der erste schwule BdV-Präsident – der Kontrast zu Steinbach ist einfach zu groß. Fabritius will davon nichts wissen. Das betreffe den Privatmann, nicht den Politiker. Er kann seine Rollen erstaunlich schnell wechseln. Es braucht dazu nur zwei Fotos. Rumänische Botschaft in Berlin. Der rumänische Präsident ist auf Besuch. Er und Fabritius sind seit der Schulzeit Freunde. Fabritius hat an diesem Abend seinen Lebenspartner mitgebracht, einen Berchtesgadener Pensionswirt. Die beiden waren schon mit dem rumänischen Präsidenten und seiner Frau im Urlaub. Zwei Fotos entstehen: Eines für den Privatmann Fabritius und eines für den Politiker. Fürs Familienalbum steht er mit dem alten Freund und dem Lebensgefährten zusammen. Für die Homepage mit dem kleinen CSU-Logo unten rechts verschwindet der Mann an seiner Seite. Foto: Armin Akhtar
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Philipp Daum
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Bisher führte Erika Steinbach den Bund der Vertriebenen, eine Frau vom rechten Rand der CDU. Ihr Nachfolger Bernd Fabritius ist liberal, proeuropäisch – und schwul
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innenpolitik
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2015-08-05T13:29:32+0200
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2015-08-05T13:29:32+0200
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https://www.cicero.de//innenpolitik/bernd-fabritius-als-vetriebenen-praesident-der-versoehner/59665
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NSU-Terrorist Uwe Böhnhardt – Mein Sohn, der Mörder
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„Glauben Sie wirklich, ich hätte meinen Sohn umarmt, wenn ich
irgendwas geahnt hätte?“, fragt Brigitte Böhnhardt und verstummt.
Eine Weile noch ist die Kamera auf ihr Gesicht gerichtet, als warte
sie darauf, dass die Frau noch etwas sagt. Vergeblich. Was soll
eine Mutter schon sagen, wenn der eigene Sohn tot ist, noch dazu
wenn auf diesem der Verdacht lastet, ein Mörder gewesen zu sein.
Ein Serienmörder. Die Frau vor der Kamera ist Brigitte Böhnhardt, die Mutter von
Uwe Böhnhardt. Er war einer der drei Neonazis aus der sogenannten
Zwickauer Terrorzelle. Gestorben ist er am 4. November 2011, kurz
nach 12 Uhr mittags, in einem Wohnmobil in der Nähe von Eisenach.
Erschossen von seinem Freund, Uwe Mundlos, der ihm wenige Sekunden
später in den Tod folgt. „Ich spüre noch immer die Umarmung von Uwe
Mundlos“, erinnert sich Brigitte Böhnhardt an ein letztes
Zusammentreffen vor vielen Jahren. „Ich habe ihm zugeflüstert: ‚Du
bist der Älteste. Pass auf meinen Uwe auf.‘“ Wie gehen Eltern damit um, dass ihr Kind mutmaßlich gemordet
hat? Immer wieder stellt man sich diese Frage, wenn die Medien von
Amokläufen an Schulen, blutigen Terroranschlägen oder kaltblütigen
Morden berichten. Selten finden die Betroffenen die Kraft, sich
dieser Frage in der Öffentlichkeit zu stellen. Die meisten
verkriechen sich, ziehen weg, ändern ihre Namen. Nicht so Uwe Böhnhardts Eltern. Wenige Monate nach dem Tod ihres
Sohnes und den Enthüllungen über die Mordserie an Migranten, für
die er mitverantwortlich sein soll, wagen sie den Schritt vor die
Kamera. Sie sprechen über die Liebe zu ihrem Sohn, ihr Entsetzen
über dessen Taten, ihre Hilflosigkeit den Opfern gegenüber. Ihre
Verzweiflung brauchten sie nicht zu beschreiben, sie steht ihnen
ins Gesicht geschrieben. Ein Team des vom NDR produzierten Magazins Panorama
sprach mit ihnen eine halbe Stunde lang. In einem 30-minütigen Film
über die rechte Terrorgruppe NSU sind am Donnerstagabend im Ersten
Ausschnitte aus dem Gespräch zu sehen, um Mitternacht zeigt die ARD
das ganze Interview. Die Panorama-Dokumentation erzählt dabei kaum Neues
über das Werden und Sein der Zwickauer Terrorzelle. Der eigentlich
Fokus liegt ohnehin auf dem Auftritt von Uwe Böhnhardts Eltern. In
ihren Worten, ihrem Schweigen, ihren Blicken lässt sich die
Ohnmacht und Ratlosigkeit erkennen, die sie seit fünf Monaten
umtreiben, bei der vergeblichen Suche nach der Antwort auf die eine
Frage: Warum ist mein Sohn zum Mörder geworden? „Er war unser Jüngster, Kleinster, das Nesthäkchen. Er war unser
Liebling, wenn sie so wollen“, sagt die Mutter, während sie im
nächsten Moment einräumt, dass sie es als Eltern nicht geschafft
hätten, ihrem Sohn Lernbereitschaft, Arbeits- oder
Anstrengungsbereitschaft einzuimpfen. Sie, die ehemalige Lehrerin,
die selbst mit Problemkindern mit Lern- und
Disziplinschwierigkeiten arbeitete, soll ausgerechnet beim eigenen
Kind versagt haben. „Wir haben gedacht, bei dem Jungen nutzen
Ermahnungen nichts mehr, der muss mal einen Schuss vor den Bug
kriegen“, so Brigitte Böhnhardt. Sie bestreitet das Interview fast allein. Der Vater, ein alter
schmaler Mann, das karierte Hemd bis zum obersten Knopf
geschlossen, sitzt fast die gesamte Zeit hindurch schweigend und
regungslos am Tisch. Brigitte Böhnhardt trägt einen grauen
Pullover, er sieht aus wie neu gekauft. Die 63-Jährige wirkt stark
und resolut, aber eben auch mütterlich. Eine Frau, an deren
Schulter sich ein Sohn wahrscheinlich gerne anschmiegt, wenn es
schwierig wird da draußen in der Welt. Uwe Böhnhardt kommt in der Schule nicht mit, er schafft den
Abschluss nicht, macht eine Lehre auf dem Bau, bekommt anschließend
aber keinen Job. Früh driftet er in die rechte Szene Jenas ab,
fühlt sich unter den älteren Kameraden vermutlich wohl und
gestärkt, bestätigt. Von einem Sozialarbeiter wird er damals
bereits als Schläger beschrieben, als rabiat und unberechenbar. Die Eltern sollen von dieser brutalen Seite ihres Sohnes, wenn
überhaupt, nur am Rande etwas mitbekommen haben. Als er am
Abendbrottisch schließlich Naziparolen nachplappert, versuchen sie
einzulenken, mit ihm darüber zu diskutieren. Doch vergeblich, wie
sich Brigitte Böhnhardt erinnert: „‘Die Juden sind unser Unglück‘,
hat er gesagt“, erzählt sie. Auf die Frage, ob er denn überhaupt
einen Juden kenne, schweigt er. Bald brachte er Freunde mit: Uwe Mundlos, den Brigitte Böhnhardt
als freundlich, intelligent und charmant in Erinnerung hat, und
Beate Zschäpe, mit der ihr Sohn damals liiert ist. Ein Foto zeigt
die beiden am Familientisch sitzend, Zschäpes Hand auf seiner. Die
Eltern hoffen, dass ihr Sohn jetzt vielleicht die Kurve kriegt.
„Andere Eltern haben ja auch Probleme mit ihren Kindern, aber dann
ist doch was aus ihnen geworden“, sagt sie. „Bei uns nicht“, fügt
sie resigniert an. Die drei Freunde sind unzertrennlich, erst recht, als sie Ende
Januar 1998 in den Untergrund gehen. In den folgenden 14 Jahren
sollen die beiden Männer zehn Menschen ermordet und mehr als ein
Dutzend Banküberfalle begangen haben. Ob Beate Zschäpe davon
wusste, ist wahrscheinlich, aber kaum nachweisbar. „Ich kann diese
Taten meinem Sohn nicht zuordnen, tut mir leid“, sagt Brigitte
Böhnhardt. Und auch der Vater fängt plötzlich an zu sprechen: „So
was Kaltblütiges, nee, unmöglich“, wehrt er kopfschüttelnd ab. Die Eltern Uwe Böhnhardts haben nach dem Abtauchen ihres Sohnes
regelmäßig Kontakt zu dem Trio. Heimlich versteht sich, die Polizei
soll nichts mitbekommen. Schließlich ist er ihr Sohn, der Angst,
dass er im Gefängnis landet, ist groß. Man verabredet Anrufe in
Telefonzellen und Treffen in Parks. Im Jahr 2000, so erzählt es
Brigitte Böhnhardt, wollen Zschäpe und ihr Sohn sich stellen.
Mundlos ist dagegen und setzt sich durch. Brigitte Böhnhardt spricht in klaren Sätzen, kaum einmal stockt
oder bricht ihre Stimme. Grotesk klingt da die Anekdote, als Beate
Zschäpe sie bei einem ihrer heimlichen Treffen mit den
Untergetauchten um Rezepte für Kuchen und Plätzchen bittet, die ihr
Sohn angeblich gerne isst. Sie habe Zschäpe daraufhin bei einem
weiteren Treffen ein Backbuch und Abschriften der Lieblingsgerichte
ihres Sohnes aus alten Kochbüchern mitgebracht. Einige Stunden später an diesem Tag sieht Brigitte Böhnhardt
ihren Sohn zum letzten Mal. Das Trio soll entgegnet haben, dass es
keine weiteren Treffen mehr geben werde. „Es war ein furchtbarer
Abschied“, sagt sie. Unter Tränen habe sie ihren Sohn ein letztes
Mal umarmt, die beiden anderen auch. Dass die drei zu diesem
Zeitpunkt bereits vier Menschen getötet haben sollen, könne sie bis
heute nicht fassen. Das war im Jahr 2002. Und die Opfer? Jeden Tag würde sie an sie denken, „immer“, sagt
Brigitte Böhnhardt. Es tue ihr leid, welchen Schmerz die
Angehörigen ertragen mussten. „Aber wir können nicht um Verzeihung
bitten“, sagt sie. „So etwas kann man nicht verzeihen. Man kann
doch niemandem verzeihen, der den Vater oder den Ehemann umgebracht
hat.“ Als die Leichen von Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos am 4. November
in dem ausgebrannten Wohnmobil gefunden werden, klingelt am Morgen
des darauffolgenden Tages, früh um sieben Uhr, das Telefon der
Familie Böhnhardt. Beate Zschäpe ist am Apparat. Das erste Mal seit
mehr als neun Jahren meldet sie sich wieder. Brigitte Böhnhardt
erinnert sich noch genau an ihre Worte: „Der Uwe kommt nicht, der
Uwe ist tot. Der kommt nicht wieder zurück.“ Was bleibt sind ein Vater und eine Mutter. Wie die Angehörigen
der Opfer der Zwickauer Terrorzelle trauern auch sie um einen
verlorenen Sohn. Dass dieser ein Mörder gewesen sein soll, macht es
nicht leichter.
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Wenn der eigene Sohn zum Mörder wird, ist die Ohnmacht nicht nur bei den Angehörigen der Opfer groß. Auch die Eltern trauern um einen verlorenen Sohn. Zum ersten Mal geben nun die Eltern des NSU-Terroristen Uwe Böhnhardt ein TV-Interview und sprechen über das Unverzeihliche
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innenpolitik
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2012-04-19T17:24:28+0200
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2012-04-19T17:24:28+0200
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https://www.cicero.de//innenpolitik/mein-sohn-der-moerder/49021
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entdecken – Die Lichter der Stadt
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Amerika? Man kennt es, ohne je dort gewesen zu sein. Allein dem Kino ist es zu verdanken, dass seine Zeichen und Bilder längst in unserer Phantasie wohnen. Was soll dahinter schon noch sein? Es macht, so schrieb der Philosoph Jean Baudrillard, «die Anziehung Amerikas aus, dass das ganze Land außerhalb der Kinosäle kinematographisch ist. Man durchläuft die Wüste wie einen Western, die Metropolen wie einen Bildschirm voller Zeichen und Formeln. Man hat dasselbe Gefühl, als träte man aus einem italienischen oder holländischen Museum in eine Stadt, die das Ebenbild dieser Malerei ist und nicht umgekehrt. Die amerikanische Stadt scheint dem Kino lebend entsprungen zu sein.»
Die Bilder sind aber nicht nur in unseren Köpfen, es hat sich das Antlitz Amerikas auch über seine geografischen Grenzen hinaus verbreitet. Das demonstrieren die Bilder von Fred Herzog. Lassen sich amerikanischere Szenen vorstellen als diese? Und doch sind die meisten seiner Aufnahmen im kanadischen Vancouver entstanden, wohin der vor achtzig Jahren in Deutschland geborene Fotograf 1952 übersiedelt war. Früh, jedenfalls früher als andere Kollegen, arbeitete Herzog mit Farbfilm, dem noch lange der Ruch des Amateurhaften anhaftete. Im satten Farbspektrum des handelsüblichen Kodakchrome lässt der Fotograf die Lichter der Stadt erstrahlen: Reklametafeln und Hinweisschilder, Tankstellen, Clubs, Schaufenster oder am Kiosk aufgereihte Hochglanzmagazine – Herzogs Bilder zeigen die Oberflächen der alltäglichen Verheißung. Sie sind dem Moment entrissen und wirken dennoch komponiert; klassisch in einem amerikanischen Sinn.
Wer ist dieser Mann dort an der Wand, wer der Friseur im Barbershop, wer dreht auf regennasser Straße sein Gesicht zur Kamera? Die Geschichten dahinter könnten dem Film Noir entstammen, die Figuren von James Dean oder Humphrey Bogart gespielt werden. So ist es aber nicht. Herzogs Fotografie ist ein Grundkurs zur Verteidigung der Realität vor der Phantasie, seine Bilder sind keine Look-alikes unserer Klischees. Wer genauer hinsieht, entdeckt die Risse in der kinematografischen Oberfläche und bemerkt, wie sich die Szenerie aus der Umklammerung der Zeichen befreit: Plötzlich fällt der Dreck auf dem Pflaster ins Auge, die poröse Wand hinter einer Leuchtreklame oder die Gebirgssilhouette am Rand der Stadt. Und es erwachen die Gesichter der fotografierten Menschen. Sie sind vom Leben gezeichnet und nicht vom Kino. Die Berliner c/o-Galerie präsentiert bis zum 09.01.2011 Fred Herzogs Fotografien. Die kultiversum-Empfehlung
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In satten Farben lässt der Fotograf Fred Herzog Straßenszenen erstrahlen. Man meint, sie aus dem Kino zu kennen und täuscht sich doch. Nun huldigt der erste deutsche Bildband diesen Meisterwerken in Kodakchrome
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kultur
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2010-11-12T13:01:11+0100
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2010-11-12T13:01:11+0100
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https://www.cicero.de//kultur/die-lichter-der-stadt/47203
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Frauen in der Union - Überraschung, die CDU ist die Partei der Gleichberechtigung
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Nora Zabel ist 23 Jahre, CDU-Mitglied und Studentin der Philosophie und Politikwissenschaft an der Universität Rostock. Sie arbeitet zudem als Social-Media-Referentin in der CDU-Landtagsfraktion Mecklenburg-Vorpommern. Der 8. März 2020, internationaler Frauentag. Blumenhändler bereiten sich schon Wochen vorher auf diesen Tag vor, denn sie wissen: Am Frauentag müssen genug Rosen zur Verfügung stehen. Oder genug rote Tulpen. Denn wer sich in einer Partei engagiert weiß, dass rote Tulpen günstiger sind als Rosen. Und dann weiß man auch, dass es den Frauen egal ist, ob sie eine Rose bekommen oder eben eine billigere Tulpe. Ob Frauen eigentlich wissen, weshalb sie am Frauentag eine Blume geschenkt bekommen? Ich weiß es nicht. Ich verstehe ja nicht einmal, warum man Frauen überhaupt Blumen schenkt. Aber das Ergebnis zählt: Sie lächeln höflich und denken vielleicht bei der nächsten Wahl daran, dass die CDU ihre Existenz mit einer Blume gewürdigt hat. Und dann hoffe ich, dass sie genau diese Geste nicht hinterfragen. Ich möchte nicht falsch verstanden werden, jede Frau auf dieser Erde verdient eine Blume. An jedem Tag, außer an diesem. An diesem Tag sollte vielmehr daran erinnert werden, dass jede Frau auf dieser Erde vor allem eines verdient: Das Bewusstsein dafür, dass diese Geste Strukturen verfestigt, die ihre Potentialentfaltung verhindern. Jede Frau verdient es, ernst genommen zu werden. Sie verdient es, diejenige Person zu sein, die die Richtung angibt und nicht nur in die Richtung läuft, die meistens von Männern bestimmt wird. Und genau hier sehe ich die CDU in der Pflicht und lege gleichzeitig all meine Hoffnung in sie: Ist es doch die Aufgabe einer Volkspartei, Ungerechtigkeiten in der Gesellschaft zu erkennen und beseitigen zu wollen. Zugegeben, man könnte sich fragen, wie eine junge Frau auf die fast schon naive Idee kommen kann, bei der Durchsetzung von Gleichberechtigung auf eine konservative Partei zu hoffen, sich dort sogar zu engagieren, so wie ich es tue. Die CDU rühmt sich zwar für den Zusatz im Artikel 3 des Grundgesetzes: „Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern.“ Denn diese Verfassungsänderung stammt aus dem Jahr 1994 und wurde damals, als CDU und FDP regierten, von Bundestag und Bundesrat beschlossen. Wir, die Union, sind also mitverantwortlich dafür, dass dieser Passus dort so verankert ist, wie er dort verankert ist. Im wertvollsten Konstrukt, das sich eine Gesellschaft geben kann, der Verfassung. Weit vorne, an dritter Stelle. Doch seitdem, seit über 25 Jahren, lässt sich meine Partei so viele Chancen entgehen, diesem Satz gerecht zu werden. Das erscheint mir widersprüchlich. Aber genau aus diesem Widerspruch entspringt mein Engagement im Sinne der Gleichberechtigung der Geschlechter für die CDU: Ich will aufzeigen, dass Frauen eben immer noch nicht gleichgestellt sind. Und dann will ich aufzeigen, dass sie alles schaffen können. Sie können Vorsitzende, Ministerinnen und Kanzlerinnen werden. Zur Wahrheit gehört heute aber auch, dass sie es nur können, wenn sie lange genug opportun sind. Angela Merkel und auch Annegret Kramp-Karrenbauer wissen, dass Frau innerparteilich abgestraft wird, wenn sie mehr politische Mitsprache für Frauen fordert. Bei einem Männeranteil von 75 Prozent in der Partei ist das auch nur die logische Konsequenz. Die gleiche Schlussfolgerung zieht man auch, wenn man sich den Altersdurchschnitt dieser 75 Prozent anschaut - er liegt bei 62 Jahren. Nun bin ich aber nicht nur weiblich, sondern auch jung. Und uns jungen Leuten hält man gerne Geschichtsvergessenheit vor. Wir sind uns aber sehr wohl dessen bewusst, dass die Zeit die Menschen prägt. Ich weiß also, dass ich anders sozialisiert bin, als meine männlichen, älteren Parteikollegen. Deshalb verstehe ich es, wenn sie sich manchmal insgeheim fragen, ob die 23-jährige, fast schon belehrend klingende Frau sich gerade wirklich anmaßt, an der Diskussion teilnehmen zu wollen. Ich merke dann im Minutentakt, wie man mich, weil ich Wörter wie „whatever“ oder „hip“ benutze, immer weniger ernstnimmt. Aber auch das beruht auf Gegenseitigkeit: Wenn mein Gegenüber mir „das ist nicht Satzungskonform“ entgegnet, ordne ich ihn postwendend in die Kategorie „notorischer Veränderungsvermeider“ ein. So überzeugt ich von diesem Fakt bin, so erschreckend ist die Erkenntnis, wenn ich dieses Verhalten reflektiere: Ich bin nicht besser. Deshalb auch der Appell an mich: Kategorisierungen und der Versuch der sofortigen Widerlegung bringen weder mich, meinen Gesprächspartner, noch unsere Partei weiter. Was uns weiter bringt, ist, uns wieder zuzuhören und die Meinung des Anderen wertzuschätzen. Auch, und gerade dann, wenn wir sie nicht teilen. Ich bin dazu bereit. Und ich wünsche mir diese Bereitschaft auch von meinem Gegenüber. Nein, ich fordere sie ein. Denn auch, wenn meine Eigenschaften „jung und weiblich“ meine Position als die vermeintlich schwächere aussehen lassen, so tut meine Partei gut daran, sie anzuhören. Ganz im stoischen Sinne, die schwächere Sache zur stärkeren zu machen, um das Ganze in Bewegung zu halten. Denn genau das ist unsere Gesellschaft: Sie ist in ständiger Bewegung. Wohingegen sich die CDU seit längerer Zeit in einer ständigen Schockstarre befindet, weil sie es nicht wagt, in den Fluss dieser Gesellschaft zu steigen. Ein Beispiel, das in die Geschichte der sozialen Medien eingehen wird: Ein Youtuber kritisiert die CDU in einem Video: Schockstarre. Wir antworten darauf mit einer zwölfseitigen PDF-Datei, die wiederum kritisiert wird: Schockstarre. Der Inhalt dieses Dokuments war plausibel, sinnvoll und vernünftig. Nachdem ich es gelesen habe, konnte ich nur zur folgenden Erkenntnis kommen: Danke, CDU, dass du so unaufgeregt und standhaft auf deinen Grundprinzipien beharrst. Egal, wie hart der Gegenwind ist. Das einzige Problem dabei: Es liest sich vermutlich niemand außer mir durch. Und so sehr ich es gerne tun würde, so wenig kann ich jemanden, schon gar niemanden in meinem Alter, dafür einen Vorwurf machen. Wir tun uns immer noch schwer damit, uns von tradierten Verhaltensweisen zu lösen. Das betrifft auch die Tradition, am Frauentag Blumen zu verteilen. Mag dies eine schöne Geste in den 50er Jahren gewesen sein, ist sie heute überflüssig geworden, zur Folklore verkommen. Denn sie löst das Problem nicht, sondern verfestigt die Strukturen, die wir eigentlich aufbrechen sollten. Und ich glaube inständig daran, dass die CDU genau darauf abzielt. Sie will Frauen stärken. Für ihre Rechte kämpfen. Und diese Kernbotschaft müssen wir klarer kommunizieren. Wenn sie das schafft, dann wirkt die CDU auch nicht mehr wie ein Wanderer, der, um das Ziel zu erreichen, eine Landkarte aus der vergangenen Zeit benutzt. Sie benutzt dann die Abbildung der heutigen Wirklichkeit, mit der sie neue Wege als solche anerkennt und sie beschreitet. Dazu braucht sie Männer wie Frauen, alte und junge Menschen um auch im 21. Jahrhundert als moderne und erfolgreiche Volkspartei bestehen zu können. Und das mag jetzt anmaßend klingen, aber vielleicht sollte meine Partei dann auch öfter 23-jährigen Frauen das Mitspracherecht gewähren.
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Nora Zabel
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Warum engagiert man sich ausgerechnet in einer konservativen Partei, wenn man für die Gleichberechtigung von Frauen kämpft? Nora Zabel schreibt in ihrem Gastbeitrag für „Cicero“, warum sie in der CDU ihr Mitspracherecht einfordert und zum Frauentag keine Blumen bekommen will.
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"CDU",
"Gleichberechtigung",
"Angela Merkel",
"Frauentag",
"Kramp-Karrenbauer"
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innenpolitik
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2020-03-21T19:01:36+0100
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2020-03-21T19:01:36+0100
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https://www.cicero.de//innenpolitik/frauen-union-cdu-gleichberechtigung-frauentag-rezo-modernisierung
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CSU – Das alte Machtsystem ist am Ende
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CSU-Parteitage sind Machtdemonstrationen. Auch der diesjährige
Parteitag am vergangenen Wochenende in Nürnberg war da keine
Ausnahme. Eine riesige Halle, 1.000 Delegierte und hinter der
überdimensionierten Bühne ein Slogan, der Programm und Anspruch
zugleich sein soll: „Auf Bayern kommt es an“. Die CSU demonstriert
selbstbewusst ihre Sonderstellung im bundesdeutschen
Parteiensystem. Dazu verkündete der CSU-Vorsitzende und
Ministerpräsident Horst Seehofer, sein Land stünde „so gut da wie
noch nie zuvor in seiner Geschichte“. In Deutschland sei Bayern
„die Nummer eins“ und in Europa „unter den Top Ten“ und das
natürlich dank ihm und dank der CSU. Die Delegierten feierten ihren
Frontmann mit stehenden Ovationen. Trotzdem war schon eine Menge
Autosuggestion nötig, um die Krisensymptome der CSU zu
verdrängen. Ein halbes Jahrhundert lang waren Bayern und die CSU eins. Ein
halbes Jahrhundert regierte die selbsternannte bayerische
Staatspartei das Land allein und selbstherrlich. Bayern war die
CSU, die CSU war Bayern. Dass sie bei der Landtagswahl vor drei
Jahren 17,3 Prozentpunkte und die absoluter Mehrheit verlor und
seitdem gemeinsam mit der FDP regieren muss, gilt unter
Christsozialen als Betriebsunfall. 2013, wenn in Bayern wieder
gewählt wird, soll dieser behoben werden. Verzweifelt und vergeblich versucht die CSU sich auf die alten
Erfolgsrezepte zu besinnen und läuft in Wirklichkeit einer Illusion
hinterher. Denn die alten Zeiten kommen nicht zurück; das überholte
Machtsystem der CSU lässt sich nicht restaurieren. Die Tage der regionalen Volkspartei CSU sind also gezählt,
der
stille Tod der Volksparteien macht um Bayern keinen Bogen. Es
ist nicht einmal ausgeschlossen, dass die CSU nach der Landtagswahl
in zwei Jahren erstmals seit den 1950er Jahren wieder in der
Opposition landet. Das liegt nicht in erster Linie an dem spröden, wankelmütigen
und politisch sprunghaften bayerischen Ministerpräsidenten Horst
Seehofer. Es liegt auch nicht daran, dass die SPD erstmals seit
vielen Jahren mit dem Münchner Oberbürgermeister Christian Ude
wieder einen aussichtsreichen Ministerpräsidentenkandidaten ins
Rennen schickt. Es ist vielmehr umgekehrt. Der Sozialdemokrat Ude
kann sich deshalb
Hoffnung auf einen Wahlsieg machen, weil das alte Machtsystem
der CSU am Ende ist. Es waren sowohl interne als auch externe Faktoren, die das
Erfolgsmodell CSU ausmachte und ihr in Bayern eine in ganz Europa
beispiellose Vormachtstellung ermöglicht haben. Die Partei setzte
zugleich auf Tradition und Moderne, auf Populismus und Reformen.
„Konservativ sein heißt, an der Spitze des Fortschritts
marschieren“, so lautete schon das Motto des langjährigen
CSU-Vorsitzenden und Ministerpräsidenten Franz-Josef Strauß, sein
Nach-Nachfolger Edmund Stoiber brachte es auf die einfache Formel
„Laptop und Lederhose“. Zum Erfolgsmodell der CSU gehörten die
regionale kulturelle Verankerung der Partei, die enge Bindung der
katholischen Wähler an die Union sowie eine selbstbewusste
Interessenvertretung im Gesamtstaat. Lesen Sie auch, warum sich Ostdeutsche und Katholiken mit
der CSU schwer tun. Hinzu gesellte sich die erfolgreiche ökonomische Entwicklung des
Landes vom zurückgebliebenen Agrarland zum modernen
Industriestandort. Dieser Wandel eröffnete dem Land und der CSU
eine Menge sozialpolitischen Verteilungsspielraum und ermöglichte
allen Bayern einen relativen gesellschaftlichen Aufstieg. Zu
Tradition und Moderne gesellte sich bei der CSU also immer auch ein
Höchstmaß an sozialdemokratischer Umverteilungspolitik. Mit dem
Dreiklang aus Heimat, Moderne und Sozialstaat wurde die CSU
stark. Doch an ihren Wohlstand haben sich die Bayern längst gewohnt.
Stattdessen fühlen auch sie, dass die Verteilungsspielräume enger
werden und die Reallöhne sinken. Abstiegsängste haben trotz
Aufschwung und Vollbeschäftigung auch die CSU-Wähler erreicht. Das
postmoderne städtische Bürgertum hat sich von der CSU abgewandt,
viele sind auch aus anderen Bundesländern und vor allem aus
Ostdeutschland zugezogen und tun sich schwer mit dem traditionellen
bayerischen „Mir san mir“. Die Katholiken wählen längst nicht mehr
automatisch die Partei mit dem C im Namen. Auch in Bayern lässt
sich nicht mehr übersehen, dass bestimmte Regionen von der
insgesamt positiven wirtschaftlichen Entwicklung abgekoppelt worden
sind. So ist der CSU mit den Freien Wählern im eigenen Lager
politische Konkurrenz erwachsen. Zudem sind die Grünen längst auch
für Konservative wählbar geworden. Der Einfluss der CSU in der Bundespolitik ist zugleich deutlich
zurückgegangen. Sie wird daheim nicht mehr als bayerische
Interessenvertretung wahrgenommen, sondern im Gegenteil für die
unpopuläre Politik der schwarz-gelben Bundesregierung in Mithaftung
genommen. Der programmatische Spagat etwa, den die CSU auf ihrem
Nürnberger Parteitag in der Europapolitik vollzog, wird dem
Wähler nicht verborgen bleiben. Immerhin hat es die CSU
unterlassen, sich europapolitisch ganz ins fundamentalistische
Abseits zu stellen. Aber der Widerspruch zwischen dem
demonstrativen Bekenntnis zu Europa, der Sehnsucht nach dem
Nationalstaat und der Verweigerung der Solidarität gegenüber
Griechenland ist eklatant. Der nächste Eurorettungsplan kommt
bestimmt und wird den tiefen Riss, der in Sachen Europa quer durch
die CSU verläuft, noch für den Wähler offenbarer machen. Politisch bläst der CSU der Wind derzeit also kräftig ins
Gesicht. Trotzdem reichen alle diese externen Faktoren nicht, um
die Nachhaltigkeit der christsozialen Vormachtstellung und dessen
absehbares Ende zu erklären. Zum Machtsystem CSU gehörten viele Jahrzehnte unverzichtbar
einige interne Faktoren, die wichtigsten waren die reibungslose
Zusammenarbeit der unterschiedlichen Machtzentren der Partei sowie
die absolute Geschlossenheit. Es galt viele Jahre als ehernes
Prinzip der CSU, dass interne Konflikte nicht an die Öffentlichkeit
dringen. Nach außen stand die Partei wie ein monolithischer Block.
Wer sich daran nicht hielt, wurde abgestraft und ausgegrenzt. Dabei
ging es in der CSU nie zimperlich zu. Doch längst werden auch in der CSU politische und personelle
Auseinandersetzungen auf offener Bühne ausgetragen und politische
Debatten über die Medien geführt. Dem Sturz von Edmund Stoiber etwa
gingen 2007 heftige innerparteiliche Auseinandersetzungen voraus.
Im vergangenen Jahr hatten dann Ministerpräsident Horst Seehofer
und der damalige Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg
ihren Machtkampf auf offener Medienbühne ausgetragen. Noch vor ein
paar Jahren wäre es auch noch undenkbar gewesen, dass ein einfacher
Bundestagsabgeordneter wie
Peter Gauweiler bei der Vorstandswahl einen Bundesminister in
eine Kampfabstimmung zwingt. Die Partei hätte Mittel und Wege
gefunden, die Personalfrage im Vorfeld des Parteitages intern zu
regeln. Auch die Zusammenarbeit mit der FDP in der
bayerischen Landesregierung funktionierte in den ersten drei Jahren
alles andere als reibungslos, sie offenbarte dieselben
Abstimmungsprobleme wie Schwarz-Gelb im Bund. Aus der CSU ist in den letzten Jahren also eine ganz normale
Partei geworden. Und als solche wird sie sich auch mit ganz
irdischen Dingen beschäftigen müssen, zum Beispiel mit den
Oppositionsbänken. Noch hat die CSU die Wahl 2013 nicht verloren. Viel wird davon
abhängen, ob es den drei Oppositionsparteien SPD, Grüne und Freien
Wählern gelingt, bei den unzufriedenen Wählern genügen Vertrauen
und Kompetenz zu gewinnen. Aber allein die Tatsache, dass ein
Machtverlust der CSU in den Bereich des Möglichen gerückt
ist, zeigt, in Bayern hat sich in den letzten Jahren schleichend
eine Revolution vollzogen.
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Fünf Jahrzehnte lang regierte die CSU in Bayern unangefochten. Sie war faktisch eine Staatpartei. Doch die CSU ist eine völlig normale Partei geworden – und das bedeutet, sie wird nicht mehr ewig regieren.
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innenpolitik
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2011-10-10T11:04:30+0200
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2011-10-10T11:04:30+0200
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https://www.cicero.de//innenpolitik/das-alte-machtsystem-ist-am-ende/46103
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Ein Blick ins Archiv – Nannen gegen Lübke – Präsidentendebatte einmal anders
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Die Debatte um den Bundespräsidenten und seine Kredit-Affäre
hat auch eine Medien-Debatte nach sich gezogen. „Politik am Pranger
– Wie Medienmacht und Elitenverachtung die Demokratie gefährden“
heißt es in der aktuellen Ausgabe des Magazins Cicero, die seit
Donnerstag am Kiosk liegt und auch im Cicero-Shop erhältlich ist. Doch auch frühere Präsidenten waren nicht sakrosant gegen
Kritik der Medien und auch schon vor 44 Jahren haben Politiker auf
Journalisten Einfluss zu nehmen versucht, um eine öffentliche
Bloßstellung des damaligen Bundespräsidenten Heinrich Lübke durch
den Stern-Chefredakteur Henri Nannen zu verhindern. Vergeblich.
Trotzdem wurden solche Konflikte damals mit dem Florett
ausgefochten, hysterischen Schlagzeilen, ohne Facebook und ohne
Mailboxen. Aus gegebenem Anlass also dokumentiert CICERO ONLINE
einen sehr erhellenden Spiegel-Artikel, der am 11. März 1968 unter
dem Titel „Frühshoppen – Öfter so“ erschienen ist. Unmittelbar
vor Sendebeginn pflegt Werner Höfer, 54, Gastgeber des
sonntäglichen TV-Stammtisches "Internationaler Frühschoppen", mit
den versammelten Gesprächspartnern "übers Wetter zu reden, damit
das Pulver trocken bleibt". Am vorletzten Sonntag aber machte ihn
der Zunder zittern. "Alles wackelt", beschwor er händeringend die Runde im Studio K
des Kölner WDR-Funkhauses, "es geht um den Fortbestand des
Frühschoppens und um den Intendanten. Auf das Schlimmste gefaßt, instruierte er den Regisseur der
Live-Sendung, daß der Frühschoppen möglicherweise vorzeitig
abgebrochen werden müsse: Es sollte abgeschaltet werden, sobald
Höfer das vereinbarte Stichwort sprach: "Jetzt langt's mir. Auf
Wiedersehen." Es war zwölf Uhr mittags und unheilschwanger wie in "High noon".
Denn am Stammtisch saß Henri Nannen vom "Stern", das Magazin
gefüllt mit scharfen Sachen. Alle bangten: die Bundesregierung und
die CDU um Heinrich Lübke, der WDR-Intendant Klaus von Bismarck und
Werner Höfer um ihre Positionen. Mit Desaster drohte zu enden, was Höfer ein paar Tage zuvor noch
als gute Idee empfunden hatte: eine Plauderei über den
"publizistischen Umgang mit Staatsoberhäuptern". Das Thema war
leicht auszumachen gewesen. Höfer hatte Anfang vorletzter Woche
"einfach den Finger in die Luft" gehalten -- und bald wußte der
Frühschöppner, woher der Wind diesmal wehte. Windmacher war "Stern"-Chef Henri Nannen, der Heinrich Lübke
gerade im "Stern" "kleinkariert" und eine "bedauernswerte Figur"
genannt hatte. Er schien Höfer in diesem Moment der rechte Mann für
seine Mittagsplauderei zu sein. Als Windfang lud der
Sonntagsconférencier den gesinnungstüchtigen Chefredakteur der
"Rheinischen Post", Dr. Herbert Kremp, ein, der Nannen öffentlich
einen "alternden Playboy" genannt hatte. Beide sagten zu, zusammen mit drei ausländischen Journalisten.
Am Freitagmorgen gab der WDR die Teilnehmerliste der Höfer-Runde,
wie üblich, an die Nachrichtenagenturen. Kurze Zeit später kam das
Echo. Intendant von Bismarck rief Höfer an: "Ist da was? Macht da
der Nannen mit? Der Diehl hat mich g'rad angerufen." Was der Sprecher der Bundesregierung, Günther Diehl, dem
WDR-Intendanten vorgetragen hatte (Bismarck: "Im Ton hatte das
nicht den Charakter einer Pression"), war nur der Auftakt einer
Serie staatserhaltender Interventionen. Bismarck war "spontan" mit Diehl einig geworden, daß einer für
Freitag abend angesetzten TV-Erklärung Heinrich Lübkes nicht gut am
Sonntagmittag eine "galoppierende Gegenerklärung" Nannens folgen
könne. Aber sonst blieb Bismarck noch standhaft und das Thema --
ohne Einschränkungen -- auf dem Stammtisch. Bismarck: "Die Kirche
muß ja schließlich beim Dorf bleiben." Die nächste Intervention aus Bonn kam vom Diehl-Stellvertreter
Conrad Ahlers. Er rief Höfer gegen elf Uhr dieses Freitags an und
teilte mit, daß die Bundesregierung die Nannen-Einladung für
verfehlt halte. Er wisse aber, daß der Schritt nicht rückgängig zu
machen sei. Darum werde das Bundespresseamt nun seinerseits eine
Stellungnahme zur Affäre veröffentlichen. Sie war als Schlagzeile
in der "Welt am Sonntag" zu lesen: "Ahlers: Nannen-Einladung
unerträglich". Höfer heute über das Ahlers-Telephonat: "Sehr lange, sehr
deutlich und in immer neuen Wendungen versuchte er klarzustellen,
daß die Teilnahme Nannens der Bundesregierung unerwünscht sei."
Druck habe Ahlers nicht ausgeübt. "Dazu ist er zu klug." Das Ferngespräch stimmte Höfer dennoch so "ungeheuer
nachdenklich", daß er eine Notiz zu seinen Handakten nahm, über
deren Inhalt er absolutes Schweigen stülpte. Und von nun an wuchs bei Höfer die Neigung, das Thema Lübke in
der bevorstehenden Diskussion über Staatsoberhäupter überhaupt
auszuklammern. Er suchte das, was er einen "abstrahierenden,
barockisierenden Umweg" nannte. Die dritte Intervention besorgte schließlich der
westfälisch-lippische CDU-Chef Josef Hermann Dufhues,
Verwaltungsratsvorsitzender des WDR. Bei einer
Haushaltsausschußsitzung der Anstalt in Duisburg sprach er am
Freitagnachmittag den Intendanten Bismarck an: Es sei "unmöglich,
Nannen einzuladen". Bismarck, der bis dahin Nannens "Stern"-Attacke gegen Lübke noch
nicht einmal gelesen hatte, quittierte einsilbig: "Hm." Das
Gespräch veranlaßte ihn immerhin, die "Stern"-Lektüre nachzuholen.
Dann ließ er Hörfunkdirektor Dr. Fritz Brühl und Frühschöppner
Höfer zu einer Konferenz am Samstagvormittag zu sich bitten. Nach diesem Gespräch fühlte sich Höfer -- trotz seiner Stellung
als Direktor des III. Fernsehens des WDR in Sachen Frühschoppen
Untergebener der Hörfunkabteilung -- "berechtigt und verpflichtet,
die Sendung abzudrehen, falls Anwürfe von seiten Nannens kamen Noch unmittelbar vor der Sendung beschwor Höfer den
"Stern"-Chef: "Die Pressionen haben sich so verstärkt. Wir können
nicht über Lübke reden." Ihm schwebte statt dessen eine
"historische Schulstunde" über den publizistischen Umgang mit
Staatsoberhäuptern vor. Nannen: "Auf Karl den Großen bin ich nicht
vorbereitet." So brach denn Punkt zwölf Uhr die "Stern"-Stunde an. Gast Nannen
besorgte, was Gastgeber Höfer hätte besorgen sollen. Er teilte dem
deutschen Fernsehpublikum die von Höf er verhängten
Diskussionsbeschränkungen mit: "Wir wissen, daß Sie und Ihr
Intendant unter ganz massivem Druck der Bundesregierung stehen ...
Sie haben mir heute früh gesagt, über unser gegenwärtiges
Staatsoberhaupt solle in dieser Sendung nicht gesprochen werden ...
sonst würden Sie die Sendung abbrechen." Der "Stern"-Chef sprach allerdings dennoch über Lübke. Nannen:
"Er ist kein glänzender Redner; er verwechselt manchmal Personen
mit Ortsnamen ..." Kremp: "Aber Sie haben von seinen trottelhaften Reden
gesprochen." Nannen: "Eine Sekunde. Es geschieht, daß er im Überseeclub in
Hamburg von einer Reise berichtet und sagt: Die Leute waschen sich
jetzt wenigstens ..." Höfer: "Herr Nannen, ich muß Sie bitten, bekannte Zitate, die
bei Ihnen und anderenorts nachzulesen waren, wegen des Duktus des
Gesprächs zu unterlassen." Nannen: "Ist das Zensur, Herr Höfer?" Höfer: "Nein, das ist ein kollegiales Ersuchen." Nannen: "Ich möchte wissen, ob Sie abschalten, wenn ich
weiterfahre." Höfer: "Nein, nein, ich schalte überhaupt nicht ab, wenn Sie auf
den Vorwurf von Herrn Kremp antworten." Zweimal im Verlaufe des so ungeselligen Frühschoppens schien
Höfer dennoch in Versuchung, die Sendung abzubrechen: > Das erstemal, als von Lübke die Rede war. Nannen: "Der
Bundespräsident als der höchste Urkundsbeamte dieses Landes hat es
dann zugelassen, daß mit falschen Zeugen, mit falschen
eidesstattlichen Erklärungen ..." Höfer unterbrach: "Herr Nannen,
ich kann Ihnen nicht erlauben ..." > Das zweitemal, als von Lübke nicht die Rede war. Nannen:
"Man hat da aus Hunderten von Artikeln, die ich als 23jähriger
geschrieben habe, drei ausgegraben, in denen der Führer gelobt
wird. Nun, der Parteigenosse Kiesinger und ich, der ich kein
Parteigenosse war, wir haben unsere politische Vergangenheit ja nie
abgestritten." Noch zwei Sätze durfte Nannen weitersprechen, dann
unterbrach Höfer, der ebenfalls im Dritten Reich journalistisch
tätig gewesen ist: "Herr Nannen, ich muß Sie auf das dringlichste
ersuchen, diese Bemerkung zu unterlassen." Nachdem der Nannen-Auftritt vorüber war, suchte Intendant
Bismarck Vorwürfen vorzubeugen, daß er den Wünschen der
Bundesregierung unnötig einen halben schritt entgegengekommen sei.
Bismarck zum SPIEGEL: "Daß mich ein Bundessprecher anruft, würde
ich nicht von vornherein als Vorzensur empfinden." Denn: "Bei Herrn
von Hase (dem Vorgänger Diehls) war das öfter so." Der Frühschöppner Höfer selber, dessen Stammtisch-Thema "über
den publizistischen Umgang mit Staatsoberhäuptern" sich unversehens
zu einem Exempel für den Umgang der Staatsoberen mit der
Publizistik entwickelt hatte, sieht sich gegen den Vorwurf, er
hätte Nannen nicht einladen dürfen, gefeit. Höfer: "Ich setze mich
ja sogar mit Kommunisten an einen Tisch." (Diesen Text veröffentlicht CICEO ONLINE mit freundlicher
Genehmigung des Spiegel-Verlages)
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High Noon im März 1968. Auch der damalige Bundespräsident Heinrich Lübke musste sich von Journalisten deutliche Worte gefallen lassen. Schon damals diskutierten die Medien über den publizistische Umgang mit Staatsoberhäuptern und schon damals versuchte die Politik, die öffentliche Kritik zu unterbinden. Doch der Ton in der Auseinandersetzung war ein anderer. Ein Fundstück
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innenpolitik
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2012-01-26T15:52:31+0100
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2012-01-26T15:52:31+0100
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https://www.cicero.de//innenpolitik/nannen-gegen-luebke-praesidentendebatte-einmal-anders/48110
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EM der Langeweile – Mauern brauchen kein Talent!
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Sehen wir einmal ab von den Heiterkeits-Treffen der Fan-Meilen,
vergessen wir die unfreiwillig komisch-bizarren
Begleiterscheinungen der deutschen TV-Berichterstattung, die
inzwischen Menschenrechtsverletzungen streift, da sie den
durchschnittlichen Intelligenzquotienten eines Gesamtpublikums beim
Einschalten der Geräte sofort um gefühlte 30 Prozent senkt, und
hoffen wir, dass das Verfassungsgericht die Zeit findet, hier noch
schnell einzugreifen – so bleibt doch eines klar: Das Einzige, was
fehlt ist ein Günter-Grass-Gedicht, das ein massenhaft wirksames
Tabu bricht . Diese EM-Spiele in Polen und in der Ukraine sind
bisher unerträglich langweilig. Tore fallen spät oder gar nicht,
die ewigen Querpässe legen nahe, dass man vielleicht in Zukunft mit
vier Toren spielen sollte, zwei an den Seiten, zwei hinten und
vorne. Woran liegt das? [gallery:Die Tierorakel der EM 2012] Fußballhistoriker ahnen es. Es liegt an Rudi Gutendorf. Der
ehemalige Oberligaspieler von TuS Neuendorf hat im Laufe seines
Trainerlebens – er wird demnächst 86 Jahre alt – nicht weniger als
54 Mannschaften trainiert, unter anderem Australien, Bolivien,
Trinidad und Tobago, China, die Fidschi-Inseln, Tonga, Tansania,
Nepal und Ruanda, aber auch Chile und vor allem,
schrecklicherweise, den MSV Duisburg. Damals, vor einem halben
Jahrhundert, begann die Misere, die sich heute in der Ukraine und
Polen wiederholt. Gutendorf, genannt „Oma“, wusste, dass seine
Duisburger überhaupt keine Ahnung von ihrem edlen Sport hatten,
aber ehrgeizig waren. Also stellte er die Gurkentruppe einfach
„hinten rein.“ Zehn Mann standen wie gusseiserne Öfen vor dem
Strafraum herum und weigerten sich, zu spielen. Mit dieser Variante
der Maginot-Linie wurde der MSV Duisburg 1963/64 Vizemeister der
jungen Bundesliga. Gewiss, die Italiener hatte Ähnliches
vorzuweisen, den Catenaccio, den sie aber aufgegeben haben, und die
Schweizer spielten noch in den 1960er Jahren den „Schweizer
Riegel“, der aber regelmäßig in der Sonne schmolz wie eine
Toblerone-Schokostange. Darüber hinaus wussten die Italiener zu
kontern und zu foulen, dass es eine wahre Pracht war. Sie hatten,
anders gesagt, neben der defensiven Taktik eine offensive
Strategie. Natürlich gibt es auch andere Ursachen dieser Querpass-Idiotie.
Eine heißt FC Barcelona. Diese begnadete Mannschaft spielt Fußball
wie Billard. Jeder einzelne Spieler wirkt als Außenbande des
nächsten Mitspielers. Und so wandert der Ball flach und hübsch
durch die Gegend, als wären die Gegner nicht da. So spielt auch
Spaniens Nationalmannschaft. Aber inzwischen weiß der Gegner
das genau – er wartet einfach ab, Gutendorf im Kopf, bis der Raum
zu eng wird, also an der 16-Meter-Grenze. Und dann hört der
Ballzauber auf. Die Mauer steht. Mauern brauchen kein Talent, es
reicht ihr an und für sich steinernes Sein. Seite 2: Fußballspieler mit
Wehrdienstverweigerungs-Haltung „Ich möchte endlich einmal in einer Mannschaft spielen,“ hat
Franz Beckenbauer (Entschuldigung, ein Beckenbauer-Zitat ist so
unvermeidlich wie ein Willy-Brandt-Zitat bei jedem SPD-Parteitag!)
gesagt, „in der jeder Spieler den Ball stoppen kann.“ Das ist heute
ganz unnötig. Abgeben, freistellen, annehmen, abgeben, freistellen
– bis wir auf die Mauer stoßen. Da ist er, der weltweit verbreitete
Gutendorf-Riegel. Eine Art Wehrdienstverweigerungs-Haltung, deren
einziges Ziel es ist, nicht zu verlieren. Im Boxsport gibt es
derlei auch, volle Deckung bei anhaltender Hoffnung auf den „lucky
punch.“ Er kommt meistens nicht, eigentlich nie. Nehmen wir das Spiel Portugal gegen Tschechien: Der
portugiesische Torwart blieb komplett arbeitslos. 90 Minuten lang.
Gelangweilt muss er gewesen sein. Wie das ganze Spiel. Ohne den
Exzentriker Ronaldo könnten beide Mannschaften noch heute so
weiterspielen, wie gehabt. In den Viertel- und Halbfinal-Spielen der EM wird es anders
zugehen? Es schlägt die Rolle der Flügelstürmer? Arjen Robben, der
Mann mit zwei Tricks und fünf Egos ist nicht mehr dabei. Und die
Deutschen? Die Abwehr steht, Rudi Gutendorf, keine Sorge. Die
griechische allerdings auch. Querpass-Zeit, vergebliche Doppel- und
Triple-Pass-Spiele, bis der Zufall weiterhilft. So wird es kommen?
Nun hofft die ganze Nation auf Mesut Özils Geniestreiche. Aber sie
benötigen genau jenen freien Raum, den es inzwischen genau dort
nicht mehr gibt, wo die Mauer steht. Und mittendrin, im Abseits wie
gewöhnlich, Mario Gomez, auf dem die Unzufriedenheit all jener
abgeladen wird, die von Gutendorf noch nie gehört haben. Die einzigen, die das moderne System nicht wirklich beherrschen
wollen, sind die Engländer. Ihr Kick-and-Rush-Gen wird sich
durchsetzen, weite Abschläge, gewaltige Flanken aus dem Mittelfeld
und vorne steht Wayne Rooney, diese Einmann-Panzerbrigade, der von
Strategie und Taktik nichts wissen will. Wahrscheinlich rettet er
das Ansehen dieses Sports; denn ansonsten geht er unter in der
Ödnis der Taktik-Anweisungen all jener Trainer, die inzwischen auf
Computern nachrechnen, wie man das Spiel um das Unberechenbare
bringt, als hätten sie alle eine Berufsausbildung bei McKinsey
gemacht.
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Die EM-Spiele in Polen und in der Ukraine sind bisher unerträglich langweilig. Michael Naumann über viele Mauern, wenig Ballzauber und Fußballspieler mit Wehrdienstverweigerungs-Haltung
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kultur
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2012-06-22T14:03:54+0200
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2012-06-22T14:03:54+0200
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https://www.cicero.de//kultur/mauern-brauchen-kein-talent/49803
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EZB & Eurokrise – Geburtsfehler einer kranken Bank
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Wer kennt Athanasios Orphanides? Schon mal etwas von Marko
Kranjec gehört? Oder klingt der Name Josef Bonnici vertraut?
Außerhalb ihrer Heimatländer sind die drei Herren wohl
weitestgehend unbekannt. Dabei sind sie für die Zukunft des Euro
wichtiger als manch einer der Berliner Politiker, die allabendlich
in den Nachrichtensendungen oder Talkshows auftreten. Orphanides, Kranjec und Bonnici sind die Notenbankpräsidenten
von Zypern, Slowenien und Malta und kraft ihrer Ämter zugleich
stimmberechtigte Mitglieder im „governing council“, dem obersten
Beschlussgremium der
Europäischen Zentralbank (EZB). Hier fallen alle wichtigen
Entscheidungen für die Eurozone – die Höhe des Leitzinses, der
Ankauf von Staatsanleihen oder die Gewährung von Notenbankkrediten
an die Geschäftsbanken. [gallery:Prominenter Protest: Köpfe gegen den ESM] 23 Männer gehören dem erlauchten Zirkel an: die sechs obersten
Geldmanager des Direktoriums, die in der Frankfurter Zentrale die
Geschäfte der Notenbank führen, und die 17 Chefs der nationalen
Notenbanken – von der „Banque Nationale de Belgique“ bis zur
„Suomen Pankii Finlands Bank“. „Der EZB‑Rat“, sagt der
Münchner Wirtschaftsprofessor Hans-Werner Sinn, „ist die wahre
Wirtschaftsregierung der Eurozone, und er hat die Parlamente in der
Hand.“ Regelmäßig donnerstags, alle 14 Tage, versammeln sich die Herren
im 35. Stock des Eurotowers, um über die Geldpolitik zu diskutieren
und Entscheidungen zu treffen. Das Bemerkenswerte: In diesem
Gremium gilt das „One man, one vote“-Prinzip. Und das bedeutet:
Josef Bonnici aus Malta, dem kleinsten Euroland, mit einem
jährlichen Bruttosozialprodukt von 6,4 Milliarden Euro, hat genauso
viel Macht wie
Jens Weidmann aus Deutschland, dem größten Eurostaat mit 2600
Milliarden Euro jährlicher Wirtschaftsleistung. Diese Stimmgewichtung, im Vertrag von Maastricht 1992
festgeklopft, hat in den ersten Jahren der Gemeinschaftswährung nie
zu Streitereien geführt. Erst seit die Schuldenkrise über Euroland
gekommen ist, seit die Zentralbank ihre Geldpolitik an der
Finanznot einzelner Eurostaaten ausrichtet, wird hierzulande
diskutiert, ob Deutschland dadurch nicht krass benachteiligt
wird. Das Notenbank-Statut verpflichtet den Rat, nur ein einziges Ziel
zu verfolgen – den Wert des Geldes stabil zu halten. Auf dem Papier
ist es der EZB strengstens untersagt, Kredite an die
Mitgliedstaaten zu vergeben. Doch diese Regel missachten Europas
Geldpolitiker seit nunmehr zwei Jahren. Sie haben inzwischen für
weit über 200 Milliarden Euro notleidende Staatsanleihen
aufgekauft; sie senkten den Leitzins auf mittlerweile nur noch 1
Prozent; sie akzeptieren für Kredite an die Geschäftsbanken
Sicherheiten, die alles andere als sicher sind; sie pumpten
obendrein zuletzt eine Billion Euro fast zum Nulltarif ins
Bankensystem. All diese stabilitätswidrigen Beschlüsse – gefasst, um einen
erneuten Kollaps des Bankensystems abzuwenden – wurden vom EZB‑Rat
mit deutlicher Mehrheit verabschiedet. Wer dafür oder dagegen
votierte, ist nicht bekannt. Anders als die Federal Reserve, die
Notenbank der USA, veröffentlicht die EZB ihre
Abstimmungsergebnisse nicht. Aber es ist bekannt, dass die
jeweiligen Repräsentanten der Bundesbank schon länger gegen die
Politik des allzu leichten Geldes opponieren. Sie haben keine Chance gegen die Übermacht jener, die das
Stabilitätsdogma Stück für Stück demontieren. Tatkräftig
unterstützt erst von dem aus Frankreich stammenden
EZB‑Präsidenten Jean-Claude Trichet und seit vorigem Herbst von
dessen Nachfolger Mario Draghi. Der Italiener, ein ehemaliger Investmentbanker, gibt sich gern
als Fan der deutschen Stabilitätskultur aus; bisher aber hat er
alle enttäuscht, die in ihm einen Wahrer des Geldwerts gesehen
haben. Er ist kommunikativer als der etwas spröde Vorgänger
Trichet. Aber er neigt dazu, seinem jeweiligen Publikum das zu
sagen, was es hören möchte. Die Deutschen Axel Weber und Jürgen Stark – der eine
Bundesbankpräsident, der andere EZB‑Chefvolkswirt –
schieden angesichts der klaren Mehrheitsverhältnisse frustriert aus
ihren Ämtern aus. Stark vermerkt, dass die EZB seit 2007 ihre
Bilanzsumme mehr als verdreifacht hat. „Historisch wissen wir“,
sagt er, „dass jede besonders starke Expansion der
Zentralbankbilanz mittelfristig zu Inflation führt.“ Sein
deprimierendes Fazit: „Wir befinden uns in einem Teufelskreis.“ Aber nicht nur wegen der schiefen Stimmverteilung im EZB‑Rat
verlieren die Deutschen derzeit im Frankfurter Eurotower immer mehr
an Einfluss. Nach Starks Rücktritt haben sie auch den
einflussreichen Posten des EZB‑Chefvolkswirts verloren. Draghi gab
dem Belgier Peter Praet den Vorzug vor Jörg Asmussen, vorher
Staatssekretär im Bundesfinanzministerium. Asmussen, stattdessen von Draghi zu einer Art EZB‑Außenminister
ernannt, spielt die Bedeutung dieser Personalentscheidung herunter:
„Jeder soll das machen, was er am besten kann.“ Für viele
Beobachter der EZB hierzulande ist es dagegen ein weiteres Indiz
dafür, dass Deutschland in der Bank an den Rand gedrängt werde. Verzweifelt müht sich derzeit allein der Weber-Nachfolger Jens
Weidmann, den Kurs der EZB zu korrigieren. Der mit 44 Jahren
jüngste Bundesbankpräsident aller Zeiten weiß spätestens seit
seiner Zeit als wirtschaftspolitischer Berater Angela Merkels, wie
Machtzirkel funktionieren. Anders als sein sperriger Vorgänger Axel
Weber, der politisch gänzlich unerfahrene Universitätsprofessor,
versteht sich der stets verbindliche Weidmann im Netzwerken – auch
mit Ratsmitgliedern, die nicht seine Position vertreten. Er sieht
sich in der Tradition einer unabhängigen, primär dem Geldwert
verpflichteten Bundesbank und kämpft unverdrossen für seine
Sache. Nicht nur hinter den Kulissen. Ungewöhnlich für ein Mitglied des
auf Verschwiegenheit verpflichteten Gremiums sucht der
Bundesbank-Chef die Öffentlichkeit, um Beschlüsse der EZB zu
kritisieren. In Interviews, Zeitungsartikeln und Vorträgen warnt er
davor, weiter „mit Geld um uns zu werfen“. In einem Brief an Draghi
beschwor er die „wachsenden Risiken im Eurosystem“; der Brief
gelangte an die FAZ, sicherlich nicht durch den Empfänger. Aber
Jens Weidmanns Kampf ist mühsam. So finden sich die Deutschen im Jahr 14 der Währungsunion in
einer höchst unglücklichen Lage wieder. Sie haben ihr
Nationalheiligtum, die D-Mark, aufgegeben; haben alles getan, um
mit den Verträgen die Stabilitätskultur der Bundesbank auf die EZB
zu übertragen; sind bei der Rettung hoch verschuldeter Euroländer
die mit Abstand größten Geldgeber – und müssen nun ohnmächtig
erdulden, wie sie im Zentralbankrat regelmäßig überstimmt
werden. Irgendwas muss bei der Konstruktion der EZB schiefgelaufen sein.
Wie konnten die Deutschen, die Anfang der neunziger Jahre die
Regeln für den Zentralbankrat mit entwarfen, übersehen, dass sie
eines Tages als stärkste europäische Wirtschaftsmacht in eine
aussichtslose Minderheitenposition gedrängt werden? Spurensuche. Horst Köhler, der spätere Bundespräsident, war von
1990 bis 1993 Staatssekretär im Bonner Finanzministerium – mithin
jener Mann, der seinerzeit den Vertrag von Maastricht aushandelte.
Er lässt von seinem Büro mitteilen, dass er für ein Gespräch nicht
zur Verfügung steht. Auch eine Antwort. Hans Tietmeyer hingegen gibt Auskunft. Der damalige
Vizepräsident der Bundesbank war von der Regierung in die
Verhandlungen über die Details der geplanten Währungsunion
eingeschaltet worden. Tietmeyer sagt heute, er habe das Prinzip
„one man, one vote“ von Anfang an für falsch gehalten; das sei von
Karl Otto Pöhl durchgesetzt worden, dem damaligen Präsidenten der
Bundesbank. Pöhl, inzwischen in der Schweiz und in Portugal ansässig,
bestätigt unumwunden Tietmeyers Bericht: „Das war wirklich mein
Fehler.“ Als Vorsitzender eines Zirkels europäischer Notenbankchefs
handelte er damals das Statut der neuen gemeinsamen Europäischen
Zentralbank aus. Als Blaupause dient die Bundesbank. Nicht nur, was
die Unabhängigkeit und das Stabilitätsgebot anbelangte, sondern,
für Pöhl, auch bei der Zusammensetzung des obersten
Beschlussorgans. Im Zentralbankrat der Bundesbank saßen die Mitglieder des
Direktoriums sowie die Chefs der Landeszentralbanken, und alle
waren – es lebe der deutsche Föderalismus – gleichberechtigt. So
sollte es auch in Europa gemacht werden. Dabei übersahen Pöhl und
seine Mitstreiter einen entscheidenden Unterschied: Das Vorbild
Deutschland war, anders als Europa, ein Bundesstaat mit einer
Verfassung und einer einheitlichen Wirtschaftspolitik. „Wir haben nicht daran gedacht“, sagt Pöhl heute, „dass einmal
Länder wie Malta oder Zypern Mitglieder der Währungsunion werden
könnten.“ Diese Staaten waren damals noch nicht einmal Mitglieder
der Europäischen Union. Den Statusentwurf der Notenbankpräsidenten übernahmen die Bonner
Verantwortlichen, vorneweg Finanzminister Theo Waigel und
Bundeskanzler Helmut Kohl, fast unverändert in den Vertrag von
Maastricht, mit dem die Währungsunion begründet wurde. Wenn die Akteure damals überhaupt über die möglichen Folgen des
„one man, one vote“ nachdachten, dann setzten sie auf das, was die
Bundesbanker seinerzeit gern den „Becket-Effekt“ nannten. Thomas
Becket (1118 bis 1170) war Lord-Kanzler des englischen Königs
Heinrich II. Der beförderte ihn auf das Amt des Erzbischofs von
Canterbury, in der Erwartung, dann einen loyalen Verbündeten an der
Spitze der Kirche zu haben. Doch Becket stellte sich fortan gegen
den weltlichen Herrscher. Das Amt prägte den Mann. Dasselbe Phänomen kannte man bei der
Bundesbank. Die Präsidenten der Landeszentralbanken waren meist
loyale Gefolgsleute des Direktoriums, das sich vornehmlich der
Erhaltung des Geldwerts verpflichtet sah. Und so sollten auch im
EZB‑Rat die nationalen Notenbankpräsidenten als geldpolitische
Experten agieren und nicht als Interessenvertreter ihrer
Länder. Diesem Ideal der völligen Unabhängigkeit entsprechen auch die
Äußerlichkeiten des Eurorats. An dem runden Tagungstisch des
Gremiums am Frankfurter Willy-Brandt-Platz gibt es keine besser
oder schlechter Platzierten. Die Herren sitzen in alphabetischer
Reihenfolge, mit Ausnahme des Präsidenten Draghi und seines
Stellvertreters, dem Portugiesen Vitor Constâncio. Nicht mal die
Mitglieder des Direktoriums werden bevorzugt, jeder besitzt
Rederecht. Anders als bei der EU üblich, stehen auf den Namensschildern
keine Herkunftsländer. So wird unterstrichen, dass die Geldräte
keine nationalen Interessen vertreten, sondern, wie es im Statut
heißt, „Mitglieder in persönlicher Eigenschaft“ sind. Doch dieses Konstrukt ist, wie sich inzwischen herausgestellt
hat, schöne Theorie. Von Ökonomen entwickelt, die schon immer
Schwierigkeiten hatten, in ihrer Modellwelt den Homo sapiens in all
seiner Vielfalt unterzubringen. Die Mitglieder des EZB‑Rats nehmen, bewusst oder unbewusst, auch
die Interessen ihrer Länder wahr, weil sie von den Erfahrungen
geprägt sind, die sie zu Hause gemacht haben. Jörg Asmussen räumt
ein: „Es macht natürlich einen Unterschied, ob man aus einem Land
mit 50 Prozent Jugendarbeitslosigkeit stammt oder aus einem Land
mit guter Beschäftigung.“ Es kommt hinzu, dass die Stabilitätskultur, die die Deutschen
und ihre Geldpolitiker über alle Nachkriegsjahrzehnte gepflegt
haben, nun mal nicht zu den Grundüberzeugungen der anderen Europäer
gehört. Schon gar nicht in einer Schuldenkrise wie der
gegenwärtigen, die in vielen Euroländern zu extrem hohen
Arbeitslosenzahlen, Kürzungen in den Sozialetats und heftigen
politischen Verwerfungen geführt hat. Schließlich gibt es noch einen unübersehbaren Interessenkonflikt
bei den Notenbankpräsidenten. Anders als die sechs Mitglieder des
Direktoriums, die nur einmal für acht Jahre berufen werden können,
sind die nationalen Notenbankchefs nach Ablauf ihrer fünfjährigen
Amtszeit erneut wählbar – von den Regenten in der Heimat.
Entsprechend groß ist die Versuchung, es auch der Politik recht zu
machen. Aber gibt es eine realistische Chance auf Veränderung der
Machtverhältnisse im deutschen Sinne? Michael Meister, finanzpolitischer Sprecher der Unionsfraktion,
ist skeptisch: „Selbstverständlich wäre eine stärkere
Stimmgewichtung Deutschlands im EZBRat wünschenswert.“ Eine dafür
notwendige Regierungskonferenz sei derzeit nicht in Sichtweite und
der Ausgang solcher Verhandlungen ungewiss. Wie schwer jedwede Reform durchzusetzen sein wird, davon war
schon vor vier Jahren einiges zu ahnen. Im Jahr 2003 hatte die EZB,
im Einvernehmen mit dem Ministerrat, ihr Statut ein wenig
korrigiert: Wenn die Eurozone einmal aus mehr als 15 Ländern
bestehe, sollten dennoch nicht mehr als 15 Notenbankpräsidenten
stimmberechtigt sein. Fünf Vertreter der größeren Länder hätten
dann wie bisher jeweils eine Stimme im Rat, die übrigen müssten
sich die zehn Stimmen in einem Rotationsverfahren teilen. Am 1. Januar 2009 wäre es so weit gewesen, mit dem Beitritt der
Slowakei. Doch da nutzte der Rat eine Klausel, nach der die
Systemumstellung vertagt werden kann, bis es 19 Euroländer gibt.
Keines der kleineren Länder wollte ausgeschlossen werden, wenn auch
nur zeitweise. Eine wirkliche Reform bringt dies sowieso nicht. Die Südstaaten
und die kleineren Länder behalten ihr Übergewicht. Nicht einmal das
eigentliche Ziel des Reförmchens würde erreicht – eine effizientere
Willensbildung. Auch ein Gremium von 21 Stimmberechtigten (sechs
Direktoren plus 15 Notenbankchefs) ist für diesen Zweck ungeeignet,
zumal die Nicht- Stimmberechtigten weiter mitdiskutieren
dürfen. In der Berliner Regierung ist eine Statutenänderung derzeit
tabu. Angela Merkel und Wolfgang Schäuble möchten im Eurofight
nicht noch weitere Kampfzonen aufreißen. Deutschlands Ruf in Europa
hat bislang schon genug gelitten, meinen sie. Wie konsequent die
beiden das brisante Thema umschiffen, erwies sich auf dem
CDU-Parteitag im vergangenen November. Da hatten Delegierte aus dem
Kreisverband Wuppertal einen Antrag eingereicht, mit dem gefordert
wurde, „dass die Präsidenten der nationalen Zentralbanken zukünftig
bei allen Entscheidungen des EZB‑Rats mit gewichteten Stimmen
entsprechend der Wirtschaftskraft der nationalen Volkswirtschaften
abstimmen“. Das, in der Tat, wäre eine sinnvolle Regelung. Es würde
anerkannt, was Realität ist: dass die nationalen Notenbanker eben
nicht losgelöst von den Interessen ihrer Länder abstimmen; dass
große Länder ungleich mehr Kapital eingezahlt haben als kleine und
entsprechend viel stärker haften. Doch der Antrag wurde von der Antragskommission abgeschmettert,
er kam nicht mal zur Verhandlung ins Plenum des Parteitags.
Wolfgang Schäuble hatte im Hintergrund ganze Arbeit geleistet. Allerdings – die Deutschen sollten von einer Reform, bei der die
Stimmen nach Kapitaleinlage oder Sozialprodukt gewichtet sind,
nicht zu viel erwarten. Auch in diesem Fall blieben die
stabilitätsorientierten Nordländer Deutschland, Niederlande,
Österreich und Finnland in der Minderheit. Frankreich, Spanien und
Italien hielten mit ihrer Wirtschaftskraft allein schon 49
Prozent. Andererseits: Es wäre schon viel erreicht, wenn nach
Wirtschaftskraft abgestimmt würde. Doch erscheint es derzeit so gut
wie aussichtslos, dass der Club Med oder auch nur Frankreich
freiwillig einer solchen Machtverschiebung zustimmen werden. Keines
dieser Länder kann interessiert daran sein, dass die
stabilitätsfixierten Deutschen noch mächtiger werden. Es geht um
gewichtige Besitzrechte. Berlin müsste schon die Muskeln spielen lassen. Und das hieße,
eines der in der EU ja nicht ganz ungewöhnlichen Handelsgeschäfte
zu betreiben: Weitere Milliarden- Bürgschaften für notleidende
Euroländer über die beiden Hilfsfonds, EFSF und ESM, gibt es nur,
wenn Deutschland ein angemessenes Stimmgewicht im Zentralbankrat
erhält. Das würde neuen Ärger geben, keine Frage, aber der Anspruch
Deutschlands ist wohlbegründet. Es wäre kein nationalistisch
gefärbtes Auftrumpfen. Im Zentralbankrat wird über den Wert der
Währung entschieden, über unser aller Geld, nicht zuletzt auch über
die Zukunftsfähigkeit dieses Landes. Da soll und muss Deutschland
auch so mitentscheiden dürfen, wie es seinem ökonomischen Gewicht
im gemeinsamen Währungsraum entspricht. Athanasios Orphanides, Marko Kranjec und Josef Bonnici sollen
auch zukünftig mitstimmen. Aber bitte: entsprechend der
Wirtschaftskraft ihrer Länder.
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Der EZB-Rat folgt dem Prinzip „One man, one vote“: Daher zählt Maltas Stimme in der Europäischen Zentralbank genauso viel wie Deutschlands, weil die Gründerväter übersahen, dass die EU kein föderalistischer Bundesstaat ist
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wirtschaft
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2012-06-20T09:47:46+0200
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2012-06-20T09:47:46+0200
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https://www.cicero.de//wirtschaft/geburtsfehler-einer-kranken-bank/49748
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Erdogan gegen Böhmermann - Merkel in der Satirefalle
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Ach, wenn sie doch geschwiegen hätte. Aber Angela Merkel hat nicht geschwiegen und jetzt hat sie ein ziemlich handfestes Problem. In einem Telefonat mit dem türkischen Ministerpräsidenten Ahmet Davutoglu hat sich die Kanzlerin in der vergangenen Woche für ein Schmähgedicht des Fernsehmoderators Jan Böhmermann über den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan entschuldigt. Sie hat die satirisch gemeinten Verse scharf verurteilt, diese „bewusst verletzend“ genannt und darauf hingewiesen, dass die Meinungsfreiheit in Deutschland nicht schrankenlos sei. Schon der Anruf in Ankara war ein Fehler, schließlich gehört es nicht zu den Aufgaben einer Bundeskanzlerin, offiziell die Qualität satirisch gemeinter Fernsehbeiträge zu beurteilen oder ex Cathedra die Grenzen der Meinungsfreiheit zu markieren. Zudem bot Merkel der Türkei eine Steilvorlage, um die massive Verfolgung von Journalisten in der Türkei und die eher abstrakten Grenzen der Pressefreiheit in Deutschland gleichzusetzen. Doch Erdogan tat Merkel nicht den Gefallen, sich mit der Entschuldigung zufrieden zu geben. Er hat schnell erkannt, welche propagandistischen Möglichkeiten ihm der Anruf aus dem Kanzleramt eröffnet hat. Der türkische Präsident verlangt ein Strafverfahren gegen Böhmermann wegen Beleidigung eines ausländischen Staatsgastes und fordert von der Bundesregierung, die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens zu genehmigen. Der Paragraf 103 des Strafgesetzbuches, der dies ermöglicht, ist an sich ein Anachronismus. Er erinnert an eine Zeit, als auch in Deutschland noch Menschen wegen Majestätsbeleidigung vor Gericht standen. Aber umso misslicher ist jetzt Merkels Lage. Entweder sie gibt dem Ersuchen des türkischen Präsidenten nach, genehmigt ein Ermittlungsverfahren und macht so deutlich, dass sie nicht nur vor der türkischen Regierung kuscht, sondern auch bereit ist, deutsche und europäische Werte für einen Deal mit der Türkei preiszugeben. Oder sie stoppt das Ersuchen aus Ankara und brüskiert damit jenen autokratischen Partner, den sie bei der Eindämmung der Flüchtlingskrise so dringend braucht. Dass Erdogan unberechenbar und bereit ist, die Flüchtlingskrise strategisch einzusetzen, um Europa zu erpressen, hat er mehrfach unter Beweis gestellt. Natürlich ist offiziell das Auswärtige Amt für die Beantwortung der Erdogan-Note zuständig. Aber Außenminister Steinmeier hat sofort deutlich gemacht, dass er diese in enger Abstimmung mit dem Justizministerium und dem Kanzleramt formulieren wird. Was letztendlich heißt: Das ist dein Problem, Angela Merkel, und nicht meins. So hat sich Merkel selbst in die Satirefalle manövriert. Die Kanzlerin hat entweder ein außenpolitisches Problem oder ein innenpolitisches. Und eigentlich hat sie keine andere Wahl, als Erdogans Ansinnen zurückzuweisen. Aber zugleich würde dann umso mehr auffallen, dass ihr Anruf in Ankara und ihre Entschuldigung für das Schmähgedicht ein schwerer außenpolitischer Fauxpas war.
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Christoph Seils
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Der türkische Präsident Erdogan fordert ein Strafverfahren gegen den Fernsehmoderator Jan Böhmermann. Angela Merkel muss jetzt entscheiden, ob sie diesem Anliegen stattgibt. So oder so kann die Bundeskanzlerin dabei nur verlieren
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innenpolitik
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2016-04-11T13:01:11+0200
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2016-04-11T13:01:11+0200
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https://www.cicero.de//innenpolitik/erdogan-gegen-boehmermann-merkel-der-satirefalle/60756
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Trotz drohender Hitzewellen - Wie Saudi-Arabien den Klimaschutz torpediert
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Auf dem Klimagipfel in Paris arbeitet kein anderes Land so hart daran, ein Klima-Abkommen zu verhindern wie Saudi-Arabien. Der Handel mit Öl hat die Golfstaaten zu einer der reichsten Regionen der Welt gemacht: Katar hat sein Pro-Kopf-Einkommen in den letzten zehn Jahren verdoppelt. Saudi-Arabien produziert die Hälfte seines Bruttoinlandproduktes mit Öl und Gas. Gleichzeitig könnte der Klimawandel die Region auch wieder arm machen und die Zahl von Klimaflüchtlingen steigern. „Der gesamte mittlere Osten leidet bereits heute an Wasserknappheit. Das war schon vor dem Klimawandel so, aber die globale Erwärmung hat das Problem vergrößert“, sagte Kumi Naidoo, Geschäftsführer von Greenpeace International, dem Cicero in Paris. Bereits heute können 16 Prozent des Wasserbedarfs der Region nicht gedeckt werden. Nach Einschätzung der Weltbank wird sich der Wassermangel bis Mitte des nächsten Jahrzehnts verdoppeln. Seit 1980 hat Saudi-Arabien zwei Drittel seines Grundwassers verloren, weite Teil der Region könnten zur Wüste werden. Die Forscher Pal und Eltahir vom renommierten Massachusetts Institute of Technology prognostizieren tödliche Hitzewellen auf der arabischen Halbinsel, wenn der Klimawandel ungebremst voranschreitet. Bei einer durchschnittlichen globalen Erderwärmung von vier Grad Celsius könnten im Persischen Golf Temperaturen von über 60 Grad entstehen. Menschen können eine solche Hitze nur wenige Stunden überleben. Die Diplomaten der OPEC-Staaten zeigen sich in Paris von der Bedrohung durch den Klimawandel weitgehend unbeeindruckt. Als Deutschland und Frankreich als erste Industriestaaten sich dafür aussprachen, die globale Erwärmung auf 1,5 statt 2 Grad zu beschränken, opponierte Saudi-Arabien sofort. Der Golf-Staat berief sich darauf, dass der letzte technisch-wissenschaftliche Bericht der Klimaverhandlungen das 1,5-Grad-Ziel nicht erwähnt. Saudi-Arabien drohte in den Hauptverhandlungen, die Evaluationsarbeit der UN-Klimaverhandlungen zu blockieren, falls man ein 1,5-Grad-Ziel vertraglich festschreiben wolle. Im Vorfeld der Klimakonferenz haben etwa 170 Staaten nationale Klimaschutz-Pläne eingereicht, sogenannte INDCs (Intended National Determined Contributions). Saudi-Arabien bezeichnet in seinem INDC Klimaschutz als „unangemessene Bürde“. Katar, das Land mit dem höchsten Pro-Kopf-Einkommen weltweit, hat ein INDC ohne Ziele eingereicht. Jordanien will seine Emissionen bis 2030 nur um 1,5 Prozent senken, wenn sie keine finanzielle Unterstützung erhalten. Das sei zu wenig, kritisiert Safa‘Al Jayoussi von IndyACt, einer der bedeutendsten arabischen Umweltschutzorganisation. Die nationalen Klimaschutzpläne (INDCs) werden die Grundlage eines Pariser Klimaschutzabkommens bilden. Nach den meisten Prognosen werden sie die globale Erwärmung von 4 auf 2,7 Grad abmildern, 2 oder 1,5 Grad werden damit jedoch nicht erreicht. Am Donnerstag rief der Sprecher Saudi-Arabien die Industrieländer dazu auf, die Lücke zu schließen zwischen dem, was die Staaten in ihren INDCs angekündigt haben und dem, was nötig ist, um die globale Erwärmung auf 2 Grad zu beschränken. Länder wie Saudi-Arabien, die Vereinigten Emirate oder Katar sind offiziell keine Industrieländer innerhalb der Klimaverhandlungen. Die Einteilung in Entwicklungs- und Industrieländer ist immer noch dieselbe wie zu Beginn der Klimaverhandlungen vor über 20 Jahren. Mit dieser Kategorisierung gehen auch unterschiedliche Verantwortungen einher. Traditionell sollen die Industrieländer einen größeren Beitrag leisten. Einige Beobachter wähnten dieses Problem als bereits beiseite gelegt nach der letzten Klimakonferenz in Lima: Dort einigte man sich auf die Formulierung „Industrieländer und jene, die in der Lage sind“. Es sind solche Konfliktlinien, die Saudi-Arabien gezielt aufbricht, um den Verhandlungsprozess zu verlangsamen. Eine weltweite Klimapolitik à la Katar und Saudi-Arabien würde eine Erwärmung von 4 Grad bis Ende des Jahrhunderts bedeuten. Für diesen Fall rechnet das Umweltbundesamt mit bis zu 200 Millionen Klimaflüchtlingen. Das Konzept hinter dem Begriff Klimaflüchtling oder Klimamigrant ist, dass die Folgen des Klimawandels Menschen zwingen, ihre Heimat zu verlassen – beispielsweise aufgrund steigender Meeresspiegel. Oft gibt es mehrere Ursachen für Flucht: Armut macht die Menschen besonders verwundbar gegenüber dem Klimawandel. Climate Central hat berechnet, dass im Fall einer Drei-Grad-Erwärmung etwa 430 Millionen Menschen in Zukunft unterhalb des Meeresspiegels leben würden. Bei Zwei-Grad-Erwärmung könnte sich diese Zahl auf 130 Millionen reduzieren. Das bedeutet nicht, dass diese Menschen automatisch zu Flüchtlingen würden. Länder wie die Niederlande haben beispielsweise Geld und Know-How sich anzupassen. An Desertifikation kann man sich jedoch kaum anpassen. Viele Menschen im arabischen Raum könnten deshalb ihre Lebensgrundlage verlieren. Hinzu kommen indirekte Effekte: Dürren haben bereits die Konfliktlage in Syrien verschärft und den Bürgerkrieg mit ausgelöst, lautet das Ergebnis einer Forschergruppe von der University of California und der Columbia University. „Ich denke, es gibt eine Abkoppelung zwischen den normalen Bürgern und ihren politischen Verantwortlichen in der arabischen Welt“, erklärte Kumi Naidoo. „Es gibt heute viele Stimmen in der arabischen Welt, die Teil der Klimabewegung sind. Die Situation dort mag paradox erscheinen. Ich würde aber sagen, wir sehen das auch andernorts, dass Politiker unter dem unproportional großen Einfluss einer Hand voll Konzerne stehen“, kritisierte der Greenpeace-Chef. Manche arabische Staaten haben für den Klimagipfel auch ehrgeizige Reduktionsziele vorgelegt – Marokko zum Beispiel. Dort wird der nächste große Klimagipfel stattfinden.
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Andreas Sieber
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Zusammen mit seinen Nachbarn auf der Halbinsel ist Saudi-Arabien mit Öl und Gas reich geworden. Nun blockiert das Land die internationale Klimapolitik, trotz bereits bedrohlicher Dürre. Tödliche Hitzewellen könnten folgen und die Bedingungen verschärfen, sodass mehr und mehr Menschen zur Flucht gezwungen werden
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außenpolitik
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2015-12-04T10:17:35+0100
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2015-12-04T10:17:35+0100
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https://www.cicero.de//aussenpolitik/klimafluechtlinge-und-die-arabische-klimapolitik-klimaschutz-als-unangemessene-buerde
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Nachruf auf Odo Marquard - Kämpfer gegen die Wahrheit
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Seine Essays trugen Titel wie „Apologie des Zufälligen“, „Philosophie des Stattdessen“ oder „Abschied vom Prinzipiellen“. Er war ein großer Stilist, ein wunderbarer Humorist und ein Virtuose des Bonmots. Von ihm stammen Sätze wie: „Philosophie ist, wenn man trotzdem denkt“, „Mündigkeit ist vor allem Einsamkeitsfähigkeit“ oder „Theorie ist das, was man macht, wenn nichts mehr zu machen ist“. Er selbst nannte sich „Transzendentalbelletrist“. Genau vor einer Woche, am 9. Mai, ist er gestorben: der Philosoph Odo Marquard. In seinem Essay „Frage nach der Frage, auf die die Hermeneutik die Antwort ist“ – auch so ein schöner Marquard-Titel – hielt er trocken fest: „Weil wir sterben und dies wissen, darum werden wir auf unsere Vergangenheit verwiesen. Jedermanns Zukunft ist ‚eigentlich‘ sein Tod.“ Diese auf den ersten Blick banale Einsicht – Menschen sind sterblich – ist im gewissen Sinne das Zentrum des Marquardschen Denkens. Oder zumindest eines seiner Zentren. Denn für den skeptischen Denker des Zufälligen kann es das eine Zentrum oder das feste Fundament des Denkens nicht geben. Die Endlichkeit des Menschen, davon war Marquard überzeugt, verweist ihn auf die Vergangenheit, auf seine Herkunft. Damit sind zwei Zumutungen verbunden. Erstens: Meine Herkunft ist unendlich größer und mächtiger als mein kleines, kurzes Leben. Und zweitens: Ich kann ihr nicht entkommen. Ich bin meine Herkunft. Genau gegen diese Zumutungen wehrt sich das emanzipierte Individuum unserer Moderne aber mit Nachdruck. Es will nicht Herkunft sein, sondern vollkommen autonom. Also will es sich verändern. So wird die Veränderung zur Leitideologie unserer Zeit: Weil der moderne Mensch mehr sein will, als er ist, verfällt er dem Veränderungswahn. Dummerweise aber gibt es das ganz Neue nicht. Jede Veränderung muss an Gegebenes anknüpfen. Ergebnis: Der Mensch versucht vergeblich, seine Herkunft loszuwerden. Er verleugnet das, was nicht zu verleugnen ist: die eigene Tradition, die eigene Kultur, das Gegebene. Der moderne Mensch, so könnte man sagen, will durch Selbstverleugnung er selbst werden. Das muss natürlich scheitern und endet zwangsläufig in der Castingshow oder beim Therapeuten. Dem hysterischen Veränderungswahn der Moderne setzt Marquard eine Beweislastumkehr entgegen: Nicht die Nichtveränderung ist begründungsbedürftig, sondern die Veränderung. „Die Beweislast hat der Veränderer“, schreibt er. Das ist natürlich ein – im wahrsten Sinne des Wortes – konservatives Prinzip. Und in diesem Sinne war Marquard sicher ein Konservativer. Doch sein Konservativismus gründete in keiner weltanschaulichen Überzeugung, sondern – und das unterscheidet ihn vom Traditionskonservativen – in einer tiefen Skepsis gegenüber allen Ansprüchen auf absolute oder auch nur relative Wahrheit. Denn Wahrheiten – normative Wahrheiten zumal – gibt es nur in der Ewigkeit. Jedoch: „Das Prinzipielle ist lang, das Leben kurz.“ Also müssen wir aus dem Zufall heraus leben, pathetisch ausgedrückt: aus dem Schicksal. Mit bissiger Ironie schaute der gut gelaunte Stoiker daher auf die Gesellschaftsmodernisierer, die Ideologen von Reform und Veränderung, die Propagandisten befohlener Emanzipation. Damit geriet Marquard zwangsläufig in Frontstellung gegen die Großintellektuellen der alten Bundesrepublik, gegen die Vertreter der Frankfurter Schule, gegen Jürgen Habermas, den er zur „Wacht am Main“ verkalauerte. Dessen Gedanken, es gäbe eine Art diskursiver Vernunft, war für Marquard eine unfreiwillige Satire auf die linke Ausdiskutierungskultur. Im Revolutionsgeist der späten 60er Jahre erkannte der große Skeptiker den „nachträglichen Ungehorsam“, der mangels eines realen Gegners und befeuert durch moralische Hybris anfing, „in jeder Wirklichkeit Entfremdung, in jeder Institution Repression und in jedem Verhältnis Gewalt und Faschismus zu entdecken“. Den 68ern und ihren modernen Adepten warf Marquard hellsichtig vor, die Wirklichkeit tribunalisiert zu haben. Im Entlarvungsgestus linker Ideologiekritik erkannte er spöttisch die „Fortsetzung der Dummheit unter Verwendung der Intelligenz als Mittel“. Für den gebürtigen Hinterpommer war Geschichte kontingent, ohne Endziel, ohne Sinn und Zweck. Und das ist unser Glück. Denn der Zufall ist der Garant der menschlichen Freiheit. „Wir Menschen“, schrieb er, „sind stets mehr unsere Zufälle als unsere Wahl“. Jeder Versuch, menschliche Existenz in das Korsett einer Erlösungsideologie zu zwängen, also den Zufall auszuschalten, ende zwangsläufig im Totalitarismus. In schelmischer Abwandlung der elften Feuerbachthese von Karl Marx zog er die Lehre aus dieser Einsicht: „Die Geschichtsphilosophen haben die Welt nur verschieden verändert, es kömmt darauf an, sie zu verschonen.“ Unter den deutschen Intellektuellen war Odo Marquard ein Solitär, nämlich ein Liberalkonservativer, ein gelassener Ironiker, ein stilsicherer Humorist – also etwas, das eher nach England passt als in die vernagelte Diskurslandschaft der Dichter und Denker. „Niemand lebt lange genug, um denen, die ihn überleben, alles, was er selbst versteht, zu überliefern“, schrieb Marquard einmal. Zumindest in einem Fall, seinem eigenen, ist das ein trauriger Verlust.
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Alexander Grau
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Kolumne „Grauzone“ – Er war konservativ und ideologiekritisch: Der Gießener Philosoph Odo Marquard konnte mit absoluten Wahrheiten nie etwas anfangen. Und auch nicht mit Jürgen Habermas. Zum Tode eines großen Skeptikers
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kultur
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2015-05-16T11:18:31+0200
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2015-05-16T11:18:31+0200
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https://www.cicero.de//kultur/nachruf-auf-odo-marquard-anti-habermas-kaempfer-gegen-die-wahrheit/59263
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Zum Tod von US-Senator John McCain - Ein letztes Mal gegen Trump
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Die Nachricht vom Tod John McCains hat in den USA viele erschüttert. Mehr als ein Jahr lang stemmte er sich gegen einen aggressiven Hirntumor, dem er schließlich im Alter von 81 Jahren erlag. Er hinterließ eine Abschiedsbotschaft, in der er sich an alle Amerikaner wendet und das tief gespaltene Land zur Einheit aufruft. „Wir sind dreihundertfünfundzwanzig Millionen eigensinnige, lautstarke Individuen. Wir streiten und konkurrieren und manchmal verunglimpfen wir uns sogar in unseren rauen öffentlichen Debatten. Aber wir hatten schon immer viel mehr gemeinsam als Uneinigkeit.“ Gemeinsam seien allen Amerikanern ihre Ideale: Freiheit, Gerechtigkeit und Respekt für die Würde aller Menschen. Diese brächten ein „erhabeneres Glück als die flüchtigen Freuden des Lebens. Unsere Identität und unser Wertgefühl werden nicht begrenzt, sondern vergrößert, wenn wir guten Dingen dienen, die größer sind als wir selbst.“ Damit wendet sich McCain auch ein letztes Mal gegen Donald Trump. Mauern zu bauen schwäche die USA und ihre Ideale: „Wir schwächen unsere Größe, wenn wir unseren Patriotismus mit Stammesrivalitäten verwechseln, das in allen Ecken der Welt Groll, Hass und Gewalt verbreitet.“ Am Ende der Botschaft spricht McCain seinem geliebten Amerika aber Hoffnung zu. Seine Landsleute sollen nicht an den gegenwärtigen Schwierigkeiten verzweifeln. Denn für die USA gelte: „Wir verstecken uns nie vor der Geschichte. Wir machen Geschichte.“
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Cicero-Redaktion
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Der Republikaner John McCain kämpfte mehr als drei Jahrzehnte im US-Senat für seine Überzeugungen. Oft auch gegen das eigene Lager. In einer Abschiedsbotschaft beschwört er die amerikanischen Ideale und teilt gegen Trump aus
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"John McCain",
"Donald Trump",
"USA",
"Republikaner",
"Protektionismus"
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außenpolitik
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2018-08-28T15:08:10+0200
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2018-08-28T15:08:10+0200
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https://www.cicero.de//aussenpolitik/john-mccain-tod-usa-donald-trump-republikaner-protektionismus
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Dissidente Künstler - Scheinhelden für deutsche Medien
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Kennen Sie das? Man fährt in Urlaub, in die Alpen oder an die Küste, und findet dort im Gebirgsbach oder im Meerwasser einen Stein. Er glänzt so rätselhaft, seine Farben erscheinen unwirklich. Man fischt ihn raus, nimmt ihn mit nach Hause. Und dort, auf dem Fensterbrett, in Berlin oder in Stuttgart, da sieht er plötzlich ganz anders aus. Er glänzt nicht mehr, er ist grau. Er ist… ein ganz normaler, langweiliger Stein. In meinen Jahren als Russland-Korrespondent habe ich mehrmals beobachtet, wie deutsche Medien Künstler aus Osteuropa zu Helden aufgeblasen haben. Das war so im Fall der Frauen von Pussy Riot, deren Hübscheste es immerhin auf’s Cover des Spiegel geschafft hat. Es war so im Falle der ukrainischen „Femen“-Aktivistinnen, die es mit ihrem barbusigen Protest gegen alles und jeden (aber immer für das Gute) zumindest auf die Titelseiten deutscher Regionalzeitungen schafften. Und zuletzt war es der Petersburger Aktionskünstler Pjotr Pawlenskij, dem das deutsche Feuilleton seitenlange Lobeshymnen widmete, als ihm in Russland der Prozess gemacht wurde, weil er die Eingangstüren des russischen Geheimdienstes FSB in Brand gesteckt hatte. Das Schema, nach dem unsere Medien diese Figuren aufbauen, ist immer dasselbe: David gegen Goliath. Hier die mutigen Künstler, vom Freiheitswillen zum Protest getrieben, dort der repressive Staat, der sie dafür in den Knast steckt. Unsere Lobeshymnen sind unser Beitrag für ihren Kampf. Ohne Zweifel: Die Repressionen, denen Künstler in autoritären Staaten wie Russland oder China ausgesetzt sind, sind erheblich und nicht gerechtfertigt. Worüber die meisten Menschen in deren Herkunftsländern jedoch regelmäßig den Kopf schütteln, ist ihre Stilisierung zu Helden. Und den Kopf schütteln nicht nur die Fans autoritärer Herrschaft. Warum? Weil die Heroisierung in keinem Verhältnis zur Bedeutung der Objekte steht. Und weil Heroisierung nur funktioniert, wenn man alles ausblendet, was dieses Bild stören könnte.
Es sollte uns zu denken geben, dass Femen, Pussy Riot und jetzt Pawlenskij ganz anders wirken, wenn sie nicht mehr im fernen Moskau, St. Petersburg oder Kiew handeln, sondern wir sie vor Augen haben. Ähnliches geschieht übrigens auch mit „Helden“ aus anderen (autoritären) Kulturkreisen, mit denen ich mich allerdings weniger auskenne: Des Westens Lieblingschinese Ai Weiwei sorgt mit seinen Äußerungen für deutlich mehr Kopfschütteln, seit er in Deutschland lebt. Beginnen wir mit Femen. Sehr gut erinnere ich mich an die erste Aktion der Feminismus-Aktivistinnen auf deutschem Boden: Da kreuzigten sie bei der Eröffnung der „Barbie-World“ unweit des Berliner Alexanderplatzes eine Barbie-Puppe und verbrannten sie demonstrativ. Es war eine typische, primitive Femen-Aktion. Doch was beklatscht wurde, solange es im barbarischen Osten stattfand, wurde nun bestenfalls ignoriert oder (wie auf Spiegel Online) mit einigem Befremden beschrieben. Weiter mit Pussy Riot. Wie wurden diese Frauen, die angeblich Putin das Fürchten gelehrt hatten, bei uns gefeiert! Man wollte ihnen den Sacharow-Preis verleihen, den Luther-Preis und was weiß ich noch alles. Und dann kommt Nadjeschda Tolokonnikowa nach Berlin und lässt viele ratlos zurück. Gut erinnere ich mich an eine Radioreportage auf RadioEins vom Auftritt der Aktivistin auf der Berlinale. Da waren die Journalisten und Kunstschaffenden zu ihrer Heldin gepilgert, um endlich persönlich die Erleuchtung in Empfang zu nehmen. Und was bekamen sie? Plattitüden über Freiheit und Feminismus. Und nun Pawlenskij. Der Petersburger Künstler war im Fahrwasser von Pussy Riot zu Ruhm gelangt: Er hatte sich aus Protest gegen die Repressionen des Kremls den Hodensack auf den Roten Platz genagelt, den Mund zugenäht, sich nackt in Stacheldraht gewickelt und war dafür mit freundlichen Porträts bedacht worden. Er sagte darin schöne Dinge, die sich mit dem Lied „Die Gedanken sind frei“ zusammenfassen lassen. Der Durchbruch schließlich gelang ihm, als er die Eingangstüren des Geheimdienstes in Moskau in Brand steckte und der Staat ihn dafür festnahm (das Verfahren endete mit einer Geldstrafe). Gut erinnere ich mich an den verzweifelten russischen Mitarbeiter eines deutschen Magazins, der Tage damit verbrachte, für eine Feuilleton-Redakteurin die Prozessstenogramme zu übersetzen: Er konnte nicht verstehen, wozu das gut sein sollte. Ich musste es ihm erklären: Die Freiheit der Kunst gegen den autoritären Staat. Diese Subversivität! Dieser Mut! Wir lieben das! Aber haben Sie eigentlich schon einmal versucht, die Eingangstür des BND oder der CIA in Brand zu stecken? Lassen Sie es lieber. Pawlenskijs Karriere in Russland jedenfalls endete unrühmlich: Die Schauspielerin eines unabhängigen Theaters bezichtigte ihn der versuchten Vergewaltigung. Pawlenskij bestritt alles, bezeichnete das als Trick der Behörden, um ihn mundtot zu machen. Vorsichtshalber floh er trotzdem mit seiner Frau nach Frankreich. Was hatte unser Feuilleton dazu zu sagen? Wenig bis gar nichts. Wichtiger als er selbst ist das Idol, das gegen den autoritären Staat kämpft. Im September dann gab Pawlenskij der Deutschen Welle auf Russisch ein Interview, in dem er seinen Lifestyle beschrieb: Er fahre schwarz Metro, wohne in einem besetzten Haus und klaue sich sein Essen in Supermärkten. Kurzum, er lebe „wie die meisten Pariser“. Und nun? Nun hat er die Türen der französischen Nationalbank in Brand gesetzt. Am Ende wird er dafür wohl verurteilt werden, weil so etwas auch im Rechtsstaat Frankreich in erster Linie eine Straftat und erst ganz am Ende ein Kunstwerk ist. Vielleicht wird der Künstler dann nach Russland zurückgeschickt und dort womöglich verurteilt wegen der versuchten Vergewaltigung. Der Glanz ist weg. Aber keine Sorge: Wir finden sicher bald neue Helden.
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Moritz Gathmann
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In Paris wurde der russische Künstler Pjotr Pawlenskij festgenommen, weil er die Eingangstür der französischen Nationalbank in Brand gesetzt hat. Sein Fall offenbart die Tendenz deutscher Feuilletons, Künstler aus autoritären Staaten gerne als edle Helden darzustellen
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"Russland",
"Medienhype",
"Feminismus",
"Kunst",
"Repression"
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kultur
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2017-10-19T12:18:29+0200
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2017-10-19T12:18:29+0200
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https://www.cicero.de//kultur/dissidente-kuenstler-scheinhelden-fuer-deutsche-medien
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Chinas Patentamtschef Tian Lipu - Pekinger Original
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Was für eine Begrüßung. Ein trister Pekinger Behördenbau, lange
Korridore, eine Tür geht auf – und plötzlich schallt „Im
Frühtau zu Berge“ aus den Lautsprechern, und ein strahlender
Chinese in Trachtenjacke schmettert dem Gast ein herzliches „Grüß
Gott“ entgegen. Chinas Patentamtschef Tian Lipu, der Bayerns
Ministerpräsident Horst Seehofer im April 2010 so empfing,
wird gewusst haben, welchen Eindruck sein Auftritt auf den
CSU-Politiker machen würde. Wie sollte ihm Seehofer nach einem
solchen Willkommen noch böse sein? Dabei repräsentiert Tian einen Pekinger Machtapparat, auf den
viele deutsche Unternehmen schlecht zu sprechen sind. Der
59-jährige Ingenieur ist Chinas höchster Wächter über geistige
Eigentumsrechte, und damit auch verantwortlich, wenn Patente
ausländischer Firmen in der Volksrepublik verletzt werden. Das
kommt häufig vor, so häufig, dass China sich vorwerfen lassen muss,
systematischen und staatlich sanktionierten Technologieklau zu
betreiben. Tians Job ist es, diesen Vorwurf zu entkräften. Seine Aufgabe erfüllt er mit einer Mischung aus Charme und
Unerbittlichkeit, wie er zuletzt Mitte November beim Parteitag der
Kommunistischen Partei demonstrierte. Zwar räumte Tian ein, dass es
in China beim Schutz geistigen Eigentums Probleme gebe, doch das
Eingeständnis war nur der Auftakt für einen Gegenangriff.
„Westliche Medien verzerren Chinas Image“, klagte er. Inzwischen
sei der Patentschutz viel besser als sein Ruf: 2011 seien in China
526 000 Erfindungen angemeldet worden, ein Fünftel mehr als im
Vorjahr und 13 Mal so viel wie noch vor einem Jahrzehnt. Damit
liege die Volksrepublik in der Rangliste innovativer Länder auf
Platz vier. Außerdem bezahle kein Land der Welt mehr Geld für
Lizenzen, etwa für Technologie, Software oder Fernsehprogramme.
„Aber darüber spricht fast nie jemand“, beschwerte sich Tian. Statt
China Vorhaltungen zu machen, solle man ihm lieber dankbar sein und
ansonsten Zeit geben, sein System zu verbessern, schließlich
befinde es sich auf dem richtigen Weg. Aber tut es das? So einleuchtend Tians Argumentation zunächst
klingen mag, so geschickt umschifft sie die aus westlicher Sicht
entscheidenden Fragen: Warum kann ein Land, das stolz auf sein
hohes Entwicklungstempo ist und das Internet nahezu lückenlos
überwacht, nicht mit der gleichen Geschwindigkeit und Effektivität
den Schutz geistigen Eigentums verbessern? Seite
2: Patentrechtsverletzungen sind nach wie vor ein grassierendes
Problem Denn allen Pekinger Rechtfertigungsreden zum Trotz sind
Patentrechtsverletzungen nach wie vor ein grassierendes Problem.
Das Spektrum reicht von imitierten Markenhandtaschen und kopierten
DVDs bis zu gefälschten Arzneimitteln und nachgebauter Technologie.
In einer Umfrage der Deutschen Handelskammer in China aus dem
Jahr 2011 gaben 57 Prozent der Mitgliedsunternehmen an,
Opfer von Copyrightverstößen geworden zu sein, 17 Prozent
sogar wiederholt. Studien anderer Verbände kommen zu ähnlichen
Ergebnissen. Der finanzielle Schaden lässt sich nur grob
abschätzen. Die International Intellectual Property Alliance, ein
Zusammenschluss amerikanischer Unterhaltungs- und IT-Konzerne, gibt
an, dass ihren Unternehmen 2009 allein durch illegale Software
Einnahmen von 3,5 Milliarden Dollar entgangen seien. Noch
schwerer wiegt für viele Firmen allerdings, dass Chinas
Zulassungsbehörden ihnen den Zugang zum chinesischen Markt häufig
nur gewähren, wenn sie vorab Entwicklungsdetails offenlegen. Die
Informationen, etwa über die Programmierung von Chips oder die
Rezeptur von Medikamenten, würden dann an chinesische Konkurrenten
weitergegeben und von diesen immer öfter sogar als Patente
registriert, klagen ausländische Unternehmensvertreter. Man darf davon ausgehen, dass Tian all diese Probleme bestens
kennt. Schließlich hat er sein gesamtes Berufsleben im chinesischen
Patentrechtsapparat verbracht. Nach zwei Studienabschlüssen in
Tianjin und Peking trat er 1981 in den Dienst der staatlichen
Copyrightschützer und wurde in den folgenden Jahren mehrfach für
längere Studienaufenthalte nach Deutschland geschickt. Unter
anderem forschte er beim Patentamt in München, am europäischen
Patentgerichtshof und am Max-Planck-Institut für ausländisches und
internationales Patent-, Urheber- und Wettbewerbsrecht. Zu Hause
machte er schrittweise Karriere im Patentamt, bis er 2005 Direktor
des State Intellectual Property Office und seiner rund
10 000 Mitarbeiter wurde. Ausländischen Besuchern erklärt Tian
gerne, dass es in seiner Behörde ausgesprochen deutsch zugehe. Doch
welche Agenda sie in Wirklichkeit verfolgt, bleibt unklar,
Trachtenjacke hin oder her.
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Bernhard Bartsch
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Tian Lipu ist Chinas höchster Schützer von Patentrechten. Welche Agenda er verfolgt, ist allerdings unklar
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außenpolitik
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2013-02-13T07:44:50+0100
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2013-02-13T07:44:50+0100
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https://www.cicero.de//aussenpolitik/pekinger-original/53408
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Spaniens Jugend – Keine Lust mehr auf Dauer-Siesta
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„Wenn der Nachbar mit einem Mercedes vorfährt, flucht der
Spanier und zerkratzt ihm den Lack. Wenn ein Deutscher bei seinem
Nachbarn das Auto sieht, arbeitet er dreimal so hart und fährt in
drei Monaten mit einem noch teureren Wagen vor.“ Dieses Klischee
vom müßigen Südländer, dem die nordeuropäische Arbeitsmentalität
fremd ist, wird nicht nur an deutschen Stammtischen verbreitet.
Denn das Zitat stammt von Guillermo Teschendorff. Er ist 24 Jahre
alt und ist einer der vielen jungen Spanier, die gerade versuchen
auf dem deutschen Arbeitsmarkt Fuß zu fassen. Unter dem Eindruck der Krise und seinen Erfahrungen in
Deutschland hadert er mit der spanischen Arbeitsdisziplin: „Wir
sind einfach zu faul!“ meint Guillermo selbstkritisch. Seit knapp
zwei Jahren ist er in Deutschland und absolviert derzeit ein
Praktikum bei Coca Cola in Berlin. Dafür wird er von seinen
Freunden in Spanien beneidet. Seitdem in den spanischen Medien die
Nachricht die Runde macht, dass Deutschland verstärkt Fachkräfte
anwerben will, sind die Freunde neugierig geworden. Sie löchern
Guillermo mit Fragen: Wie hast du das geschafft? Wo kann ich
Deutsch lernen? Wo bewerbe ich mich am besten? Das starke Interesse an Deutschland ist nicht verwunderlich. Die
Jugendarbeitslosigkeit in Spanien sucht europaweit ihresgleichen
und ist in den letzten vier Jahren um über 20 Prozent angestiegen.
Sie liegt bei den unter 25-jährigen mittlerweile bei 44 Prozent.
Die Finanz- und Immobilienkrise hat in Spanien verheerende Folgen
für die Wirtschaft gehabt. Das Haushaltsbudget schrumpft wegen der
Sanierung der Banken und sinkender wirtschaftlicher Produktivität
dahin. Den bis dato führenden Branchen wie Automobil, Bau und
Tourismus geht es nach wie vor schlecht und die Regierung fand kein
Mittel gegen die steigende Arbeitslosigkeit. Das Resultat:
Qualifizierte Arbeitsstellen für Architekten, Ingenieure,
IT-Spezialisten und andere Fachkräfte fehlen zu
Hunderttausenden. Aber hätte es irgendeinen Sinn, eine vermeintlich mangelhafte
Arbeitskultur für diese Entwicklung mitverantwortlich zu machen?
Die große Sorgenlos-Fiesta während des Baubooms wurde schließlich
nicht nur in Spanien gefeiert. Dass sich ein ganzes Land allein
durch den Kauf von Immobilien bereichern könne, ist ein Illusion,
der nicht nur die Spanier aus ihrer gemütlichen Gesinnung heraus
erlegen sind. Auch den USA hat dieses Luftschloss des Kapitalismus
das Genick gebrochen. Doch waren die Folgen der Immobilienkrise einmal durchgekaut,
suchte man nach neuen Erklärungen für die Misere. An der wieder
auflebenden Mentalitätskritik hatten die spanischen Medien und
Politiker einen gehörigen Anteil. Denn die fanden ihren neuen
Buhmann in ihrer eigenen Jugend. „Generación ni-ni“ (Generation
Weder-Noch) war der Stempel, der der Jugend aufgedrückt wurde. Und
der war keineswegs so neutral wie er im Ausland verstanden wurde:
etwa als Bezeichnung einer statistisch relevanten Gruppe von jungen
Menschen, die weder Arbeit finden noch augenblicklich in der
Ausbildung stecken. Der neue Nickname der Jugend wurde in der Öffentlichkeit durch
eine gleichnamige Fernsehserie bekannt, die im
Big-brother-ähnlichen Format das Leben von 15- bis 18-jährigen
Spaniern dokumentierte. Jugendliche aus sozial schwachen Familien,
die nach dem spanischen Realschulabschluss – wenn überhaupt
vorhanden – weder eine Ausbildung
noch das Abitur machen – geschweige denn
arbeiten wollen. Stattdessen lassen sie sich von ihren Eltern
durchfüttern und leben weder mit Perspektiven noch großen
Illusionen, was ihre Zukunft betrifft, in den Tag hinein. Dieses Bild der Null-Bock-Jugend wurde in den letzten Jahren zu
einer noch größeren gesellschaftlichen Katastrophe aufgebauscht:
Eine Umfrage kam zu dem Ergebnis, dass „54 Prozent der spanischen
Jugend kein Projekt“ haben, für dass sie sich besonders
interessieren oder begeistern. Spaniens größte Zeitung El Pais orakelte dann unter der Überschrift
„Generación ni-ni – ni estudia ni trabaja“ („die weder studiert,
noch arbeitet“), ob in Spanien gerade eine apathische, kraftlose
und träge Generation heranwüchse, die sich lediglich im Komfort der
Familie wiegen wolle. (Dieses glattgebügelte Bild der faulen Jugend
wurde im Anschluss auch von ausländischen Medien verbreitet.) Nun ist es die spanische Jugend selbst, die sich gegen dieses
diffamierende Zerrbild zur Wehr setzt. Bei Massenprotesten der
Empörten, „los indignados“ im Mai dieses Jahres hat die Jugend
aufbegehrt und ihrem Ärger über die Politiker und der Meinungsmache
der Medien Luft gemacht. Was die Jugend aufbringt, lässt sich an der Lebenslage von
Xavier Bel Escribano ablesen. Er ist ausgebildeter Architekt aus
Barcelona und musste nach sieben Jahren Studium und mehreren
Fachpraktika einsehen, dass seine Chancen auf einen Job mit
angemessener Bezahlung gleich Null sind. Die meisten kleineren
Architektenbüros mussten wegen Auftragsmangel dicht machen. Viele
Architekten finden keine Anstellung mehr und stehen vor der Wahl,
entweder ohne Bezahlung arbeiten zu müssen oder ihren
Lebensunterhalt an der Supermarktkasse zu verdienen. Die Probleme, die viele junge Arbeitssuchende haben, haben
nichts mehr mit der Generación ni-ni zu tun, meint Xavi. „Spanien
hat einen Haufen ausgebildeter Studenten, die qualifiziert und
motiviert sind, mehrere Sprachen sprechen und arbeiten wollen. Was
uns sauer macht, sind die hohlen Versprechungen der korrupten
Politiker, Arbeitsplätze zu schaffen. Sie haben fehlkalkuliert und
sich auf die Einnahmen aus der Tourismus- und Baubranche verlassen.
An Spaniens Zukunft hat dabei keiner gedacht.“ Von Freunden weiß Xavi, dass ihn in Spanien ein Stundenlohn
erwartet, von dem ihm am Ende des Monats nach Steuer- und
Sozialabgaben nicht mehr bleibt als bei einem Studentenjob. Und ob
er diese unterbezahlte Stelle überhaupt findet, ist fraglich.
Deswegen will Xavi wie zehntausende Spanier in Deutschland sein
Glück versuchen. In Berlin kennt er bereits befreundete Architekten. Die hätten
innerhalb eines Monats einen Job gefunden. Xavi ist daher
zuversichtlich. Er glaubt, dass die deutschen Arbeitgeber seine
breite Qualifikation und den anderen Blickwinkel, den er als
Ausländer mitbringt, zu schätzen wissen. Ein größeres Problem sieht Xavi darin, das anvisierte Projekt
seinen Eltern beizubringen. Xavi ist 27 und wohnt nach wie vor bei
ihnen. Die Eltern sähen es ungerne, wenn das einzige Kind so weit
fortgehen würde. „Es ist nun mal Teil der mediterranen Kultur, dass
die Familie eine sehr wichtige Rolle spielt und dass es einen
festen Ort geben muss, der Schutz bietet und den man nicht so
schnell verlässt.“ Er glaubt, dass viele Spanier wegen den Freunden
und der Familie in Spanien bleiben werden, auch wenn sie nicht den
Beruf ausüben können, für den sie ausgebildet wurden. Damit ist wohl ein Grund ausgemacht, warum es so lange gedauert
hat bis die Jugend in Spanien mobil machte, um gegen
Rekordarbeitslosigkeit und wirtschaftspolitisches Versagen der
Regierung auf die Straße zu gehen. Die Familie hat sich in Zeiten
der Krise als verlässliche soziale Stütze bewährt. Sie diente als
intakter Puffer gegen Armut und fehlende Chancen für ein
eigenständiges Leben. Aber die Belastbarkeit der Familienbande hat seine Grenzen. Sie
als Nährboden für eine durch Faulheit und Gleichgültigkeit gelähmte
Jugend zu diskreditieren und damit den eigenen Nachwuchs gleich mit
zu verteufeln, wagt heute kaum noch jemand. Denn die Massenkundgebungen vom Mai wie die über 17.000
Bewerbungen von spanischen Fachkräften, die in diesem Jahr bei der
deutschen Arbeitsagentur eingingen, haben eine neue Erkenntnis zu
Tage befördert: Nur auf der Straße herumlungern und abends Botellón
machen, ein Saufgelage auf öffentlichen Plätzen –das macht auf
Dauer keinen glücklich –ob er nun Spanier oder Deutscher ist.
Ehrgeiz und Begeisterung für „Projekte“ findet man dort, wo solche
angeboten werden. In Spanien fehlen aber diese Angebote für die
gesamte Jugend. Für den Arbeiter auf der Baustelle genauso wie für
den gelernten Architekten im Büro.
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In Europa ging der Mythos der faulen spanischen Jugend um. Von Badewetter und Hotel Mama verwöhnt, ergebe sie sich freiwillig dem sozialen Abstieg. Der Versuch den schwarzen Peter der Jugend zuzuschieben, ist spätestens mit den Massenprotesten im Mai gescheitert. Die Jugend will arbeiten und kämpft für ihre Zukunft.
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außenpolitik
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2011-07-28T17:44:32+0200
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2011-07-28T17:44:32+0200
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https://www.cicero.de//aussenpolitik/keine-lust-mehr-auf-dauer-siesta/42485
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Politsendungen – Ist die Talkshow zu flach, ist der Zuschauer zu doof
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Politische Talkshows? Der oberste Herr unseres Parlaments wendet sich mit Grausen ab. Als Norbert Lammert einmal gefragt wurde, ob diese ein Stück politischer Kultur widerspiegelten, sagte er: „Die wichtigste Aufgabe des Moderators scheint darin zu bestehen, spätestens dann einzugreifen, wenn sich zu einem ernsthaften Thema eine ernsthafte Debatte entwickelt“. Niemals werde man den Bundestagspräsidenten deshalb in solchen Sendungen finden. Wo es „vor allem um Unterhaltung und weniger um Information“ gehe, da glänzt der zweite Mann im Staate mit Abwesenheit. Wenn es nach Lammert ginge, würde nicht nur die ARD live aus dem Bundestag senden. Nein, das TV-Publikum würde wieder beglückt werden mit Debatten – langen, sachlichen, relevanten. Etwa solchen wie zu Zeiten von Abraham Lincoln und Stephen Douglas. Das waren Sternstunden der Rhetorik: Der Republikaner und der Demokrat lieferten sich 1858 sieben öffentliche, meist frei gehaltene Rededuelle – zu Außenpolitik, Sklaverei, Diskriminierung –, die sich über Stunden hinzogen und in allen großen US-Zeitungen abgedruckt wurden. Und wie hat sich seitdem die Debattenkultur fort-, man müsste fast sagen rück-entwickelt. Fünf Tage, 60 Minuten, in der Regel vier bis sechs zurechtgepuderte Gäste, und dann hopp, ein Statement, höchstens zehn Sätze. Dazwischen Applaus-Häppchen und Zuckerl-Videos. Die Botschaft: Allzu schwere politische Kost verträgt das Publikum nicht. Politik wird so zum Mittel der Unterhaltung, moniert Bundestagsvize Wolfgang Thierse, als er am Donnerstag bei dem Streitgespräch „Politische Talkshows – Information oder Inszenierung?“ des Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestags referiert. Sein Gegenüber, ARD-Chefredakteur Thomas Baumann, spricht lieber von „sogenannten Talksendungen“ und bevorzugt den Begriff der „politischen Gesprächssendungen“. Dass die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten nur auf Quote fixiert seien, glaubt er nicht. Zum Beispiel die Sendung von Anne Will am Dienstagabend: „Die Redaktion hätte sonst wohl nicht kurzfristig von Rommel auf Jonny K. gewechselt.“ Was an einer Gewalt-Prügel-Blut-Sendung über das Berliner Mordopfer so viel weniger quotenorientierter sein sollte als an der Geschichte über Hitlers Afrika-Generalfeldmarschall, ließ der Fernsehmann indes offen. Blöd auch: Der Talk wurde wegen des DFB-Pokalspiels – so wie schon Maischberger am Vortag – weit in die Nacht hinein verschoben. Auf 00:15 Uhr. Die fünf politischen Talkshows im Ersten („Günther Jauch“, „Beckmann“, „Anne Will“, „Menschen bei Maischberger“ und „Hart aber fair“) stehen sogar bei der ARD zur Disposition. Höchstens vier, vielleicht also auch nur drei, wünscht sich Programmdirektor Volker Herres, wie der Spiegel in dieser Woche berichtete. Auch wenn Thierse tapfer dagegenhält, kommen die Diskutanten zum Konsens: Der Zuschauer ist irgendwie selber schuld. Und das aus mehreren Gründen: 1. Das immer knappere Zeitbudget für politische Bildung (Baumanns Lieblingsargument!). Die Menschen müssen immer länger arbeiten und in der Freizeit gibt es immer mehr Ablenkung, etwa im Netz. Information über Politik fällt da hinten runter. 2. Daraus folgt: die immer knappere Aufmerksamkeitsökonomie. Langatmige Formate haben in Zeiten schneller Schnitte, rasanter Onlinemedien und noch kürzerer Tweets keinen Platz mehr. Thierse widersprach: „Ich mache seit langem eine Veranstaltung im Prenzlauer Berg mit einem Diskutanten. 90 Minuten – das funktioniert!“ (Nota bene: Die paar Dutzend Zuhörer dort repräsentieren sicher nicht das Publikum der Öffentlich-Rechtlichen.) Seite 2: Wulff-Talks führten zu Rekord-Quoten 3. Noch drastischer sei das Desinteresse der Jüngeren. Top-Quoten erreichen dort Serien wie „Gute Zeiten, schlechte Zeiten“ oder Reality-Soaps wie „Bauer sucht Frau“. Nicht einmal sieben von 100 schauten in der werberelevanten Gruppe 14 bis 49 noch Günter Jauch, sagt Baumann. 4. Bestehende Angebote werden nicht genutzt. Phoenix überträgt alle Bundestagsdebatten, zusätzlich weisen die Morgenmagazine von ARD und ZDF auf diese Sendeplätze hin. Das Publikum ignoriert diese Angebote jedoch komplett (sofern man nicht das Publikum im Berliner Regierungsviertel meint). 5. Je menschlicher eine Geschichte, je stärker die Personalisierung, desto höher die Zuschauerzahlen. Im Januar und Februar beschäftigten sich die Jauchillnerplasbergmaischbergers fast nur mit Christian Wulff. Die Hauskredit-Anruf-Gefälligkeits-Affären des Ex-Bundespräsidenten führten zu Rekord-Einschaltquoten. 6. Ohne Zuspitzung ist der Zuschauer weg (oder döst ein). Deswegen müssten Laber-Gäste unterbrochen, die Diskussion mit brisanten Filmchen wieder „angeschoben“ (Baumann) werden. 7. Der Zuschauer glaube, dass derjenige Politiker, der „nicht in den Medien stattfindet“, untätig sei, sagt Thierse. Deswegen machen die Politiker immer wieder mit. Eine Endlos-Schleife, angefeuert vom Publikumsinteresse. Also: Selbst schuld, blöder Zuschauer? Thierse versucht es noch einmal mit einem klugen Ausweg – indem er die Quote als Indikator für politische Meinungsbildung selbst hinterfragt. „Was sind überhaupt Maßstäbe für die Qualität einer Sendung?“ Eine gute Frage, die leider auch nach dieser Diskussion unbeantwortet bleibt. Immerhin hat ARD-Chef Baumann es nach den zwei Stunden geschafft, seinen Talksshows ein neues Etikett anzukleben: Sowohl der Moderator als auch der Bundestagsvizepräsident sprechen am Ende nur noch von „politischen Gesprächssendungen“. Ob Stefan Raab den Begriff wohl auch übernehmen wird? In eineinhalb Wochen startet sein Polittalk „Absolute Mehrheit – Meinung muss sich wieder lohnen“ auf Pro Sieben. Hier muss sich dann der Zuschauer entscheiden: Er kürt den besten Polit-Talker unter den Gästen. Wer am Ende die meisten Stimmen auf sich vereinigt, heimst den Geldgewinn ein. Thomas Baumann hatte das Konzept im Vorfeld heftig kritisiert. Raab sagte dazu nur: „Findet die ARD etwas scheiße, wird’s ein Kracher.“
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Es ist die Gretchenfrage des öffentlich-rechtlichen Fernsehens: Warum kommt die politische Information in den Talkshows von ARD und ZDF immer zu kurz? Bundestagsvizepräsident Wolfgang Thierse und ARD-Chefredakteur Thomas Baumann wussten warum: wegen des Publikums
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kultur
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2012-11-01T17:10:30+0100
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2012-11-01T17:10:30+0100
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https://www.cicero.de//kultur/politische-talkshows-dann-ist-das-publikum-halt-einfach-zu-doof/52428
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Deutschlandbild der Chinesen – Beckenbauer, Benz und Becks
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„Woher Kommen sie?“, fragt mich ein meist müde aussehender, aber
neugieriger Taxifahrer am Terminal 3 des Pekinger Flughafens kurz
nach dem Einstieg. Mit meiner Antwort wird der Mann für gewöhnlich
hellwach. „Ah, Beikebao’er! Benchi! Beike pijiu!“ – mit lauten
Ausrufen chauffiert er mich in die Stadt. Beckenbauer, Benz und
Beck’s – lässt sich so tatsächlich das Deutschlandbild im Reich der
Mitte zusammenfassen? Mein Taxifahrer kennt natürlich den
chinesischen Baedeker des 17. Jahrhunderts nicht. Das Zhifang
waiji, das 200 Jahre lang die maßgebliche Informationsquelle für
alles Außerchinesische war, hat zu Deutschland ein paar merkwürdig
vertraut klingende Zeilen parat: „Das Klima dort ist in den Wintermonaten sehr kalt. Man versteht
es gut, die Zimmer warm zu machen … Die Bewohner … sind sehr treu,
zuverlässig und tüchtig, kämpfen bis zum Tode und dienen nicht zwei
Herren … Im Handwerk sind sie sehr geschickt und fertigen
Maschinerien an, an die kein gewöhnlicher Mensch denken würde
…“ Schon ziemlich nah dran, oder? Die ursprüngliche chinesische
Übersetzung für „Deutsch“ – Deyizhi mit „Tugend“ (De) und „Yizhi“
(Wille) – spiegelt die Wertschätzung des chinesischen Kaiserhofes
wider. Der zeigte sich Ende des 19. Jahrhunderts von der
militärischen Stärke des deutschen Reiches so beeindruckt, dass er
sich preußische Berater und deutsche Maschinen ins Land holte.
Diese Wertschätzung macht sich heutzutage noch bemerkbar: im
Straßenverkehr, im Einzelhandel, aber auch auf dem Heiratsmarkt.
Deutsche Männer, die in Europa neben Spaniern und Franzosen blass
wirken mögen, punkten im Reich der Mitte – ebenso wie die Fahrzeuge
aus Wolfsburg oder die Messer aus Solingen – vor allem durch ihre
Beständigkeit. Ob Emaille oder Ehemänner – Deutschland wird wegen
Qualität, Verlässlichkeit und Treue geschätzt. Das sagt auch eine
Menge über das Vertrauen in die heimischen Pendants aus. Lesen Sie auf der nächsten Seite in welchen Bereichen
Deutschland als Vorreiter gilt Deutschland genießt außerdem einen glänzenden Ruf als Vorreiter
in Sachen Recht, duales System und Umweltschutz. Für die
chinesische Mittelschicht sind Goethe und Schiller wie auch Bach
und Beethoven alte Bekannte – besonders Letztere, da Millionen
kleiner Lang Langs täglich dem großen Vorbild nacheifern müssen.
Und deutsche Universitäten und Musikhochschulen sind sehr beliebt,
erstere vor allem wegen der niedrigen Studiengebühren. Zugleich
aber gelten Deutsche oft als humorlose, arrogante und
besserwisserische Technikbolzen, die immer gleich zum Geschäft
kommen, anstatt sich zunächst beim Abendessen kennenlernen zu
wollen. A propos: „Das Essen der Deutschen entspricht ihrem Charakter –
langweilig und ohne Anziehungskraft“, lautet das Urteil des
chinesischen Autors Liang Fengniao. Und wird von seinen eigenen
Landsleuten gleich widerlegt, die des deutschen Biers und der
Schweinshaxe wegen zu Hunderttausenden zum Oktoberfest pilgern,
allerdings dem in Qingdao, das jedes Jahr zwei Monate vor dem
Original stattfindet und gerne auch einmal australische Bands als
Münchner Traditionstruppe bewirbt. Trotz aller Katastrophen made in Germany kommen Deutsche – im
Gegensatz zu den Japanern etwa – erstaunlich gut weg. Beständig,
kaopu – verlässlich und präzise. Deutsche forschen nun mal
gründlich. Das ist nicht langweilig, sondern wie die jüngsten
schweren Zugunglücke zeigen, überlebensnotwendig. Und in China, wo
vieles nach der Devise chabuduo – „passt scho’“ – abläuft, ein
großer Pluspunkt. Zu tun gibt es für Deutschland dennoch immer noch
genug, vor allem, wenn es darum geht, im juristischen, medialen und
politischen Dialog mit China nicht in der Bedeutungslosigkeit zu
versinken. Meine Empfehlung für Ihre nächste Chinareise lautet daher:
Schenken Sie einen Gedichtband und zwei Flaschen Flüssiggold aus
Ihrer lokalen Brauerei. So lässt sich am besten verdeutlichen, dass
wir Deutschen im Grunde verkappte Romantiker sind, die
berufsbedingt das Träumen vergessen haben. Einen Benz wird mein
Pekinger Taxifahrer wohl nie fahren können, ein Treffen mit Kaiser
Franz ist ebenso unwahrscheinlich, und das Beck’s ist in Peking
auch ordentlich teuer. Aber Träumen, Neugierde und den Willen, sich
für seine Ziele gewaltig ins Zeug zu legen, hat er nicht verlernt.
Wir sollten uns die chinesische Übersetzung von „Deutschland“ ruhig
mal wieder öfter vor Augen halten.
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Unser Bild von China ist von zahlreichen negativen Klischees geprägt. Doch wie wird Deutschland von den Chinesen wahrgenommen?
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außenpolitik
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2011-12-04T18:06:11+0100
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2011-12-04T18:06:11+0100
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https://www.cicero.de//aussenpolitik/beckenbauer-benz-und-becks/47479
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Mediengesetze in Polen und Ungarn - Hinsehen, aber bitte ohne Arroganz
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Die Geschwindigkeit war atemberaubend. Kaum hatte die Partei „Recht und Gerechtigkeit“ (PiS) im Oktober die Parlamentswahlen in Polen mit absoluter Mehrheit gewonnen, da begann die neue Regierung auch schon damit, den Justiz- und Medienapparat umzubauen. Das umstrittene Mediengesetz, das im Januar in Kraft getreten ist, hat das Aufsichtsgremium der öffentlich-rechtlichen Medien schlicht entmachtet: Ab sofort sollen die Führungspositionen von der Regierung bestimmt werden. Das Beispiel der beliebten Sendung von Tomasz Lis zeigt, welches Ausmaß diese Veränderung mit sich bringt. Lis moderierte bis zuletzt eine politische Talkshow des öffentlich-rechtlichen Fernsehkanals TVP. In einer seiner letzten Sendungen wollte er mit dem Präsidenten des polnischen Verfassungsgerichtes, Andrzej Rzepliński, sprechen. Doch der neue Fernsehdirektor durchkreuzte die Pläne: Er forderte Lis auf, den Gast auszuladen. Der Sender wollte verhindern, dass Rzepliński erzählt, wie die neue Regierung den Obersten Gerichtshof entmachtet. Mehr noch: Wie die polnische Regierung – die im Gegensatz zur ungarischen Fidesz-Partei nicht einmal eine Zweidrittel-Mehrheit erreichen konnte – das Grundgesetz auszuhebeln versucht. Moderator Lis aber widersetzte sich dem Befehl. Deshalb musste er sich Ende Januar vom Sender TVP verabschieden. Es wird erwartet, dass in einigen Monaten ein neues Mediengesetz folgen wird. Mit diesem sollen alle Arbeitsverträge der öffentlich-rechtlichen Medien auslaufen. Nur diejenigen Mitarbeiter werden weiter beschäftigt, die sich gegenüber Kaczyński und seiner Partei zu Treue verpflichten. Diese Eingriffe in das Mediensystem ähneln dem, was seit 2010 in Ungarn passiert ist. Hier sind die öffentlich-rechtlichen Medien, wie es der ungarische Investigativjournalist Attila Mong gerne nennt, seit der Machtübernahme des Rechtspopulisten Viktor Orbán in ein „von der Regierung kontrolliertes Sprachrohr” verwandelt worden. Kritische Journalisten wurden entlassen, öffentliche Medienmitarbeiter führen nur noch Befehle aus, eigene kreative Arbeit wird nur noch in den seltensten Fällen akzeptiert. Wie auch im Fall von Ungarn wurde der Kurs der neuen polnischen Regierung aus Brüssel und Berlin heftig kritisiert. Es hieß, Polen verwandle sich in eine „gelenkte Demokratie“. Von der „Orbanisierung” und sogar „Putinisierung” des Landes war die Rede. Gut möglich, dass es in näherer Zukunft mehr als nur besorgte Kommentare geben wird. Der stellvertretende EU-Kommissionspräsident Frans Timmermans leitete Mitte Januar das Verfahren zum Schutz der Rechtsstaatlichkeit in der Europäischen Union ein. Diese Maßnahme, die 2014 geschaffen wurde, ist bislang noch nie gegen einen EU-Mitgliedsstaat ergriffen worden. Im Extremfall könnte Polen sogar das Stimmrecht in der EU entzogen werden. Es ist richtig: Wenn ein EU-Mitgliedsland gegen demokratische Normen verstößt, sollte das Konsequenzen haben. Diese hätte eigentlich auch Ungarn spüren müssen – nur leider waren da alle von der EU initiierten Änderungen nur kosmetischer Natur. Hätte die EU damals entschlossen gehandelt, hätte es sich Orbán vielleicht zweimal überlegt, ob er mit seinem Unheil weitermacht. Die Kritik an Polen und Ungarn, die auch Oppositionelle einfordern, ist grundsätzlich berechtigt. Vor einigen Wochen schrieb EU-Kommissarin Viviane Reding: „Wem es nicht passt, der kann ja die EU verlassen!” Sie ergänzte, dass seit dem Lissabon-Vertrag jeder Mitgliedsstaat die Union in geregelten Bahnen verlassen könne. Diese Aussage ist nicht nur unheimlich arrogant, sie spielt auch den Unruhestiftern der EU in die Hände. Die Anhänger von Orbán und Kaczyński interpretieren die Kritik an ihren Regierungen meist so, als ziele sie auf das ganze ungarische oder polnische Volk. Im Falle von Reding muss man ihre Wörter gar nicht mehr uminterpretieren: Sie ist tatsächlich so zu verstehen, als ob Reding für die undemokratischen Schritte der PiS-Regierung das ganze Land bestrafen wolle. An diesem Punkt wird es für die Wähler Polens, Ungarns und anderer zentral-europäischer Länder persönlich. Sie könnten entgegnen: „Wenn die EU uns nicht haben will, dann wollen wir die EU auch nicht haben.” Dann hätten die Populisten gewonnen, die die Bundesregierung gerne mit Nazi-Deutschland und die EU mit der Sowjetunion vergleichen. Da hat Sachsens Ministerpräsident Stanislaw Tillich Recht, wenn er einige dieser Bemerkungen gerade von deutscher Seite als „oberlehrerhaft” rügt. Wir können und sollten nicht alle Polen dafür verantwortlich machen, dass gerade einmal 5,7 Millionen der 38 Millionen Einwohner (also 15 Prozent) für eine Partei gestimmt haben, die nun die Demokratie systematisch abzubauen beginnt: Die PiS erhielt 37,6 Prozent der Stimmen. Aufgrund der Hürde gingen fast zwanzig Prozent der Wählerstimmen verloren – und so kam die PiS auf 51 Prozent der Parlamentssitze. Letztendlich verhalten sich westliche Kommentatoren und Politiker, die fordern, Polen oder Ungarn sollten die EU verlassen, nicht anders als Orbán oder Kaczyński, die behaupten, syrische und afghanische Flüchtlinge hätten in der EU nichts zu suchen, da sie kulturell nicht zu Europa passten. Wenn man Kritik übt, sollte man daher auch versuchen zu verstehen, warum und wie irgendeine Situation sich ereignet hat. Doppelmoral ist fehl am Platz. Es hat Gründe, warum Polen und Ungarn derart desillusioniert und apathisch sind, warum sie in so großer Zahl für Populisten gestimmt haben. Die Korruption in diesen Ländern ist immer noch relativ groß. Die Verlierer des Umbruchs der neunziger Jahre – wie die ungarischen Roma, die bis heute von Sozialhilfe abhängig sind – fühlen sich von der Politik vernachlässigt. Obwohl Polen und Ungarn EU-Mitglieder sind, sind die Löhne dort nur ein Bruchteil dessen, was man in Deutschland oder Frankreich verdienen kann. Die Wähler sind enttäuscht von ihren Regierungen: Darüber sollte man auch in Berlin und Brüssel sprechen. Zudem standen die öffentlich-rechtlichen Medien in Mittel- und Osteuropa schon immer unter einem gewissen staatlichen Einfluss. Oft wurden nach Wahlen ganze Belegschaften ausgetauscht. Nur: Jarosław Kaczyński und Viktor Orbán sind dabei viel weiter gegangen als all ihre Vorgänger. Schon weit vor Orbáns Zeit versuchten sich die ungarischen Staatsmedien ein Stück weit abzusetzen, Unabhängigkeit zu demonstrieren. So erschien 2006 im öffentlich-rechtlichen Radio eine kompromittierende Tonbandaufnahme des damaligen sozialistischen Ministerpräsidenten Ferenc Gyurcsány. Darauf gestand er, dass seine Partei Tag und Nacht gelogen habe, um die Wahl zu gewinnen. Es folgten massive Proteste. Der Skandal schwächte die Regierung so sehr, dass die Sozialisten bei der nächsten Wahl keine Chance mehr hatten. Über die Art und Weise, wie diese Aufnahmen veröffentlicht wurden, kann man sich streiten. Aber Servilismus kann man den Redakteuren des Radiosenders ganz sicher nicht vorwerfen. Ähnliche Enthüllungen wird man im öffentlich-rechtlichen Radio heute nicht mehr hören. Stattdessen verbreiten die Medien in Ungarn Staatspropaganda, sehr oft sogar gefälschte Reportagen. So zeigten die Nachrichten das Video einer Vergewaltigung auf dem Tahrir-Platz in Kairo – und behaupteten, dies seien Bilder der Silvesternacht in Köln. Bei einer Demonstration meldete sich ein Korrespondent von der anderen Straßenseite, wodurch der Eindruck entstand, es sei kaum jemand auf der Veranstaltung. In einer anderen Reportage wurde der Ex-Präsident des Obersten Gerichtshofes gepixelt, damit die Zuschauer nicht sahen, dass er auch vor Ort war. Die Website des Staatsfernsehens, Hirado.hu, sorgt stattdessen mit Boulevard-Nachrichten und (halb-)nackten Celebrity-Bildern dafür, dass sich die Leser nicht mehr mit Politik beschäftigen, geschweige denn daran denken, dass jährlich ungefähr 250 Million Euro für die Staatspropaganda ausgegeben werden. Die Zukunft sieht für die öffentlich-rechtlichen Medien in Ungarn nicht gut aus. Das wissen wahrscheinlich auch die Zehntausenden Polen, die gegen das Mediengesetz demonstrieren.
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Krisztian Simon
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Sachsens Ministerpräsident Stanislaw Tillich beklagt, dass die Deutschen zu kritisch mit Polen seien. Dort werden, ähnlich wie in Ungarn, gerade die öffentlich-rechtlichen Medien umgebaut. Sollten sich die EU und Deutschland einmischen, um Schlimmeres zu verhindern? Ein Gastbeitrag des ungarischen Journalisten Krisztian Simon
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außenpolitik
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2016-02-09T11:14:47+0100
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2016-02-09T11:14:47+0100
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https://www.cicero.de//aussenpolitik/mediengesetze-polen-und-ungarn-entschlossenes-hanlden-ist-gefragt-keine-arroganz/60419
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Umstrittener Drohnen-Einsatz - Waffe ohne Gesicht
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Viele halten Drohnen für die ethisch vertretbarsten Waffen der
Zukunft, andere sehen in ihnen Teufelszeug, mit dem die
Hemmschwelle zur Kriegsführung sinkt. Im Bundestag wurde am
Donnerstag heftig darüber gestritten, ob die Bundeswehr, die
bereits Aufklärungsdrohnen einsetzt, auch bewaffnete Drohnen
beschaffen soll – um damit die eigenen Soldaten zu schonen. Was spricht für den Einsatz bewaffneter
Drohnen? Verteidigungsminister Thomas de Maizière (CDU) sprach sich in
der Aktuellen Stunde des Bundestags für deren Anschaffung
aus. Er hielt ethischen Einwänden, mit Drohnen werde „gezielt“
getötet, entgegen, jeder Polizist oder Soldat habe gelernt,
„gezielt“ zu treffen. Wer Kollateralschäden und das Töten von
Unschuldigen vermeiden wolle, müsse zielgenaue Waffen einsetzen. Er
erinnerte daran, dass gerade die Deutschen aus ihrer Geschichte die
Auswirkungen von Flächenbombardements kennen würden. Rechtlich sei
der Einsatz von Drohnen nicht anders zu bewerten als der Gebrauch
anderer Waffensysteme wie Torpedos oder Raketen. Wenn argumentiert
werde, mit Drohnen entstehe ein Computerkrieg, müsse man auch
bedenken, dass jede Distanzwaffe, jede indirekte Waffe schon heute
computergesteuert bedient werde. Was führen die Gegner von Drohnen an? „Sorgfalt geht vor Eile“, sagte der verteidigungspolitische
Sprecher der SPD-Fraktion, Rainer Arnold. Es sei nicht
nachvollziehbar, warum sich die Bundesregierung „überstürzt“ auf
die Beschaffung von Drohnen noch vor der Bundestagswahl
festlege. Die von den Drohnen gelieferte Informationsfülle könne
ein Mensch nicht mehr aufnehmen. Deshalb dürfe man die
Funktion von Drohnen auch nicht „verniedlichen“. Fakt sei,
dass bewaffnete Drohnen zum Töten eingesetzt würden. Arnold
forderte eine völkerrechtliche Ächtung von automatisierten
Waffensystemen. Linkspolitikerin Inge Höger sagte, der Einsatz
von Drohnen würde „asymmetrische Reaktionen“, also mögliche
Angriffe auf westliche Staaten, provozieren. „Die Hemmschwelle für
militärische Gewalt sinkt.“ Darauf wies auch Grünen-Politikerin
Agnes Brugger hin. Drohnenflüge würden die Bevölkerung
radikalisieren. Das sei für den Schutz von Soldaten im Ausland
kontraproduktiv. Wo sind bewaffnete Drohnen weltweit schon im
Einsatz? Unbemannte Flugkörper kommen bei den Streitkräften schon seit
vielen Jahren zum Einsatz. In erster Linie dienen sie zur
Aufklärung und Überwachung. Drohnen sind mit Kameras ausgestattet
und übermitteln Lagebilder in die Operationszentralen der Truppen –
manche von ihnen in Echtzeit oder nur mit kurzer Zeitverzögerung.
Erklärter Befürworter und Nutzer von bewaffneten Drohnen sind die
USA. Ihre Streitkräfte und der Geheimdienst CIA setzen die
bewaffneten Flugkörper in verschiedenen Teilen der Erde im Kampf
gegen Terroristen ein, unter anderem in Pakistan, Afghanistan,
Jemen und Somalia. Zeitungsberichten zufolge haben die Amerikaner
rund um den Globus, beispielsweise am Horn von Afrika und auf den
Seychellen, geheime Drohnen-Stützpunkte errichtet, um von dort aus
gegen Terroristen und Piraten vorzugehen. Seite 2: Wo setzt die Bundeswehr Drohnen ein? Wo setzt die Bundeswehr Drohnen ein? Die Bundeswehr verfügt nach Informationen des Tagesspiegels
derzeit über rund 350 Drohnen – bislang nur über unbewaffnete. Sie
wiegen je nach Typ zwischen 3,5 Kilogramm und 14,5 Tonnen. Laut
Bundesregierung werden derzeit 60 unbemannte Flugkörper bei den
Auslandseinsätzen der Bundeswehr in Afghanistan und im Kosovo
verwendet. In Afghanistan nutzen die deutschen Streitkräfte drei
große Drohnen vom Typ Heron 1, die die Bundeswehr in Israel geleast
hat. Stationiert sind sie in Masar-i-Scharif, von wo aus sie den
gesamten Norden des Landes, das Einsatzgebiet der Deutschen,
überwachen. Kleinere Drohnen vom Typ „Luna“ und „Aladin“ sind
ebenfalls vor Ort. Ihr „Auge“ überblickt kürzere Distanzen und
dient den Truppen quasi als unbemannte Vorhut. Die Bundeswehr in
Afghanistan überwacht ihre Liegenschaften außerdem zum Teil mit
fest installierten, unbewaffneten Aufklärungsballons. Das
Verteidigungsministerium erwägt von 2015 an den Kauf amerikanischer
Drohnen vom Typ „Predator B“, die sowohl Waffen tragen als auch
Aufklärung leisten können. Muss der Bundestag über den Einsatz von Drohnen
befinden? Das ist in politischen Kreisen umstritten. Während der Einsatz
von unbemannten Drohnen im Rahmen der Aufklärung durch
entsprechende Bundestagsmandate etwa für Afghanistan und Kosovo
gedeckt ist, gibt es für einen bewaffneten Einsatz bislang keinen
Präzedenzfall. Im Grundgesetz steht, dass der Bundestag dem
bewaffneten Einsatz deutscher Streitkräfte zustimmen muss. Das
dürfte auch für Drohnen gelten: Schließlich muss auch bei deren
Einsatz irgendwo ein Soldat auf den Auslöser drücken. Wie weit sind die Europäer bei der Entwicklung eigener
Drohnen? Die USA und Israel haben die technologische Führungsrolle beim
Drohnenbau. Bei den Drohnen, über die die Streitkräfte von
EU-Staaten verfügen, handelt es sich häufig lediglich um technische
Überarbeitungen unbemannter Flugzeuge, die in den USA und Israel
entwickelt wurden. So geht etwa die französische Drohne „Harfang“,
die in Mali eingesetzt wird, auf eine israelische Entwicklung aus
den 90er Jahren zurück. Marcel Dickow von der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP)
hält es jedoch für riskant, wenn die Europäer den USA und Israel
auf Dauer die Führungsrolle beim Drohnenbau überlassen. „Die
technologische Abhängigkeit ist zu groß“, warnt er. Schließlich
dürfte angesichts des riesigen Marktpotenzials auch im zivilen
Bereich viel Geld zu verdienen sein – und da wollen europäische
Unternehmen dabei sein. In 20 bis 30 Jahren, prognostiziert Dickow,
könnten Unternehmen wie DHL oder FedEx ihre Fracht in Deutschland
mit Drohnen transportieren. Gegenwärtig hat allerdings das Militär die Vorreiterrolle bei
der Entwicklung einer europäischen Drohne. Die Crux liegt aber
darin, dass dafür infrage kommende Unternehmen wie Europas größter
Luft- und Raumfahrtkonzern EADS, der französische Flugzeugbauer
Dassault oder der britische Rüstungskonzern BAE Systems miteinander
konkurrieren. Andererseits dürften Entwicklung und Serienfertigung
einer Drohne kaum im Alleingang zu stemmen sein. Die Versuche der EU-Partner für eine gemeinsame Entwicklung
waren bisher erfolglos. 2012 versandete ein
deutsch-französisch-spanisches Drohnenprojekt „Talarion“, das der
Luftfahrtkonzern EADS initiiert hatte. Derzeit gibt es eine
Vielzahl mittelfristiger multinationaler Entwicklungsprojekte in
der EU – darunter das Projekt „Telemos“ von Dassault und BAE
Systems zur Entwicklung einer Drohne bis 2020. Vor einem Jahr
bekräftigten der britische Premier Cameron und der damalige
französische Staatschef Sarkozy ihren Wunsch zur
Rüstungs-Zusammenarbeit. „Das hat Deutschland in eine schwierige
Lage gebracht, weil damit die Kooperationspartner verloren gehen“,
sagt Cornelius Vogt von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige
Politik (DGAP). Zumindest auf dem Papier gibt es den Willen zur
Zusammenarbeit Deutschlands, Frankreichs und Großbritanniens – eine
gemeinsame Absichtserklärung des deutschen und französischen
Verteidigungsministeriums vom Juni 2012 sieht die Möglichkeit einer
langfristigen Kooperation bei der Drohnen-Entwicklung vor.
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Sabine Beikler
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Ihr Einsatz ist in Deutschland umstritten. Von Befürwortern wie Gegnern werden ethische Argumente ins Spiel gebracht. Braucht die Bundeswehr bewaffnete Drohnen?
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innenpolitik
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2013-02-01T09:03:49+0100
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2013-02-01T09:03:49+0100
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https://www.cicero.de//innenpolitik/waffe-ohne-gesicht/53349
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Pflegesystem - Ein Einfallstor für Korruption
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Das Thema Pflege ist wegen der demographischen Entwicklung eine der größten Herausforderungen unserer Zeit – und erst recht der Zukunft. Seit Jahren wird über Fachkräftemangel diskutiert, doch passiert ist bisher wenig. Dazu sind die Bedingungen im Pflegebereich wenig transparent – ein offenes Tor für Korruption. Wer fehlt in den Altenheimen? Dem Arbeitgeberverband Pflege zufolge fehlen 30.000 Fachkräfte, also drei Jahre lang ausgebildete Altenpfleger. Und das seit Jahren. Gesetzlich vorgeschrieben ist, dass Altenpfleger (oder die höher qualifizierten Krankenpfleger) mehr als 50 Prozent der Belegschaft eines Heimes ausmachen. Die anderen Mitarbeiter sind oft Pflegehelfer mit einer Kurzausbildung. Sie dürften zum Beispiel keine Medikamente verabreichen. Helfer verdienen bei einer Vollzeitstelle rund 1500 Euro brutto, bis zu 900 Euro weniger als eine examinierte Fachkraft. Dennoch mangelt es an Helfern nicht.Bisher wurde gegen den Fachkräftemangel zu wenig getan – sagen zumindest Heimbetreiber, Berufsverbände und Pflegeexperten. 2012 hatte die Bundesregierung angekündigt, jedes Jahr zehn Prozent mehr Altenpfleger auszubilden. Dazu wollte man vor allem Pflegehelfer aus den bundesweit 12.500 Altenheimen weiterbilden. Nach maximal zwei Jahren Umschulung könnten sie als Fachkräfte beschäftigt werden. Passiert sei aber „null“, sagte Thomas Greiner, Präsident des Arbeitgeberverbandes, am Dienstag . Wo bleiben Pfleger aus Asien und Osteuropa? Bislang konnte die Zentrale Auslands- und Fachvermittlung der Bundesagentur für Arbeit viel weniger Pflegekräfte aus dem Ausland in deutsche Heime vermitteln als gedacht. Durch ein Pilotprojekt in China sollen in diesem Dezember 150 Pflegerinnen nach Deutschland kommen. Im Vergleich zu Ländern wie Kanada und Großbritannien ist das wenig. Die Arbeitgeber fordern einfachere Verfahren bei der Anerkennung ausländischer Abschlüsse. Die Hürden seien zu hoch, die Zulassungsregeln von Bundesland zu Bundesland verschieden, monatelanges Warten nach einem Antrag auf Arbeitserlaubnis üblich. Viele Schwestern und Pfleger würden quasi auf dem Weg nach Deutschland von Großbritannien abgeworben. Altenpfleger aus dem Ausland sind fast immer besser qualifizierte Krankenschwestern, in der Regel haben sie gar studiert. Manche ausländische Bewerber würden zurückgehen, weil sie unterfordert seien, sagte Helmut Braun vom Arbeitgeberverband. Man müsse auch hierzulande über eine Akademisierung des Berufs nachdenken. Was sagen die Heimbetreiber? Die Arbeitgeber fordern 50.000 zusätzliche Stellen in der Pflege. Bis Ende 2014 sollen – wie einst schon von der Politik geplant – 25.000 Helfer zu Fachkräften qualifiziert werden. Die Hilfskräfte hätten oft jahrelange Berufserfahrung, würden Abläufe kennen und seien motiviert, sagte Arbeitgeberpräsident Greiner. Er verlangt außerdem 25.000 zusätzliche Betreuer für Demenzkranke – also Helfer, die sich etwa durch Spaziergänge oder Vorlesen mit Altersverwirrten beschäftigen. Die Betreuer sollten den Mindestlohn beziehen, den auch die Helfer bekommen (derzeit acht Euro Bruttostundenlohn im Osten, neun im Westen). Das wären rund 500 Millionen Euro im Jahr, die wohl aus dem Bundeshaushalt kommen müssten. Wie anfällig für Korruption ist die Pflege? Der nahezu unkontrollierte Wachstumsmarkt Altenpflege bietet jede Menge Gelegenheit zur Selbstbedienung. Zu diesem Ergebnis kommt eine aktuelle Analyse der Antikorruptions-Organisation Transparency International (TI), die am Dienstag in Berlin präsentiert wurde. Das weitgehend privatisierte und kaum noch an ethischen Maßstäben orientierten System lade die Betreiber von Heimen und Pflegediensten zur Ausplünderung geradezu ein, sagte TI-Vorstandsmitglied Anke Martiny. Co-Autorin Barbara Stolterfoht sagte, Ärzte ließen sich von Pflegediensten für die Überweisung ihrer Patienten bezahlen, Sanitätshäuser spendeten an Heimleiter, um Großabnehmer für Rollatoren oder andere Hilfsmittel zu bekommen, Pflegebedürftige, bei denen auf längere Sicht mit Profit zu rechnen sei, würden unter Anbietern „weiterverkauft“. Dienste sparten sich Pflegekraftleiter, obwohl sie für diese bei den Kassen kassierten. Ambulante Pflegekräfte würden gehalten, bei ihren Verrichtungen Zeit zu sparen oder Leistungen anzukreuzen, die sie gar nicht erbracht hätten. Auf eine Schätzung der Schadenshöhe durch Betrügereien verzichtet die Studie. Die Hauptprobleme seien mangelnde Transparenz, fehlende Kontrolle, Renditedruck, die „Übermacht der Anbieterseite“ sowie unklare Verantwortlichkeiten. Sorge bereitet den Experten aber auch die Zunahme der Fälle, in denen Gerichte Betreuer für Pflegebedürftige einsetzen. Ihre Zahl stieg laut Transparency zwischen 1993 und 2008 von 420.000 auf 1,3 Millionen. Die Korruptionswächter fordern mehr Mitbestimmungsrechte für Heimbewohner und Angehörige, die Einsehbarkeit von Gutachten des Medizinischen Dienstes über Pflegebedürftigkeit, die Veröffentlichung aller Transparenzberichte auf einer bundesweit einheitlichen Internetseite sowie ein bundesweites Register für Verstöße von Heimbetreibern. Wie steht es um die Qualitätskontrolle? Trotz heftigster Kritik von allen Seiten hat es drei Jahre gedauert, bis sich Pflegekassen und Heimbetreiber dieser Tage auf eine bescheidene Nachbesserung des so genannten Pflege-TÜVs einigen konnten. Seit 2009 werden alle Heime und ambulanten Pflegedienste im Land benotet. Durch unangemeldete Kontrollen und die Veröffentlichung der Ergebnisse sollen mehr Transparenz und bessere Pflegequalität erreicht werden. Allerdings war mit den bisherigen Bewertungen wenig gewonnen. Fast alle Anbieter schnitten „sehr gut“ oder „gut“ ab. Mängel in zentralen Bereichen konnten durch gute Noten bei Nebensächlichkeiten ausgeglichen werden. Nun sollen die Ergebnisse in den wichtigsten der insgesamt 82 Prüfbereiche „besonders hervorgehoben“ werden – also etwa, ob gegen Druckgeschwüre vorgebeugt wird, ob die Bedürftigen genug zu trinken erhalten oder ob sie ohne regelmäßige Prüfung in Gitterbetten verwahrt werden. Die Benotung soll verschärft und der Zustand von deutlich mehr Pflegebedürftigen als bisher überprüft werden. Mit der Forderung, besonders zentrale Bereiche stärker zu gewichten, konnten sich die Kassen jedoch nicht durchsetzen.
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Hannes Heine
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Arbeitskräfte aus China bleiben aus, Mauscheleien sind allgegenwärtig. Woran krankt die Pflege?
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innenpolitik
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2013-08-14T09:00:40+0200
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2013-08-14T09:00:40+0200
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https://www.cicero.de//innenpolitik/pflegesystem-ein-einfallstor-fuer-korruption/55384
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Luxusmanufakturen - (Hand)-Made in Germany
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Hendrike Farenholtz – Smarte Modelltischlerei „Die Tischlerlehre sollte eigentlich nur eine Etappe sein“, sagt die Trägerin des Brinckmann-Preises für Design und Handwerk in ihrer Hamburger Werkstatt. „Irgendwie bin ich dabei hängengeblieben.“ Unser Glück, denn bei den Entwürfen ist nichts „irgendwie“, sondern aufs Schönste und Klügste durchdacht. Am Anfang steht immer die Frage: Was muss das Möbel können? Der „Schrank für eine Porzellansammlung“ ist das Ergebnis von intensiven Kundengesprächen. „Vor dem dunklen Hintergrund fängt das Porzellan an zu strahlen. Das Herzstück erhält einen geradezu heiligen Platz in der Mitte, die übrigen Objekte warten hinter den Türen auf ihren Moment.“ Ebolicht / Bolichwerke – Eine Baden-Württembergische Familiengeschichte Überall strahlen „Ebolichter“ – ob im Olympiastützpunkt Bayern oder in den Hackeschen Höfen in Berlin. Die seit 1911 von den Bolichwerken produzierte Leuchtenserie erfreut sich bis heute großer Beliebtheit und hat es sogar bis in Quentin Tarantinos Film „Inglourious Basterds“ geschafft, in dem die Wandleuchte „Hamburg“ eine Gastrolle spielt. Tatsächlich hält Günther Bolich, Geschäftsführer und Großneffe des Firmengründers, bis heute an den traditionellen Fertigungsformen fest. Mit einigem Materialaufwand und einer diffizilen Mischung aus Kraft und Geschick werden „Berlin“, „Kiel“ und andere Modelle aus Metallblechen gewalzt, gestanzt, gedreht und gelötet. Einzige Neuerung: Heute sind die Schirme pulverbeschichtet und nicht mehr emailliert, was uns Leuchten in allen Farben der RAL-Tabelle beschert. eternit – Unverwüstliches Design für Haus und Garten Heute wundert sich kaum noch jemand, wenn man ihn bittet, auf einem Möbelstück aus Zement Platz zu nehmen; in den Fünfzigern waren die Sitzgewohnheiten noch deutlich gepolsterter. Allem Komfort zum Trotz nutzte der Schweizer Industriedesigner Willy Guhl 1954 den Werkstoff Faserzement der Firma Eternit für seinen mittlerweile ikonischen Strandstuhl. Die Sitzschleife sieht organisch und komfortabel aus, ein kleines Kissen empfiehlt sich dennoch. Neben seinen Produkten für Dach und Fassade fertigt das Unternehmen auch Möbel und Accessoires. Die Objekte wirken wuchtig, aber jeder Stuhl, Tisch oder Pflanzkübel ist von Hand gefertigt. Die Platten werden zugeschnitten und noch feucht in Form geklopft. Dann trocknet diese vier Wochen aus. Bis heute setzt Eternit seine Zusammenarbeit mit zeitgenössischen Gestaltern erfolgreich fort. Martin Z. Schröder – Feinste Drucksachen aus Meisterhand Schwarzes Blut. Akzidenzen. Schweizerdegen. So faszinierend klingt die Welt von Martin Z. Schröder und hält beim Besuch in der Berliner Druckerei, was sie verspricht. Hier stapeln sich Druckproben, Farbdosen und Bücher, die Holzschränke bergen in Schubladen die Bleilettern. Über allem liegt der Duft von Öl und Farbe, in der Mitte des Raumes thronen die alten Maschinen, der 100-jährige Pedaltiegel (auch Nussknacker genannt) und der etwas jüngere Heidelberger Tiegel, an denen Schröder in bester Gutenberg-Manier Kleindrucksachen wie Visitenkarten, Exlibris und Briefpapier fertigt, die er nicht nur setzt, sondern auch entwirft. Golem – Kunst- und Baukeramik aus Brandenburg Die dunkelblauen Fliesen aus Sieversdorf in Brandenburg haben es sogar bis in das Restaurant des angesagtesten New Yorker Hotels „The Standard“ geschafft.Seit den 90er Jahren sind 40 Mitarbeiter darauf spezialisiert, Repliken von Wand- und Bodenfliesen für die Restaurierung von historischen Bautenzu zu fertigen. Die 15 x 15 Zentimeter großen Kunststücke weckten schon bald die Begehrlichkeiten privater Kunden, weshalb 2003 die Serienproduktion begann. Highlight des Sortiments sind die Craquelé-Fliesen. Die hauchfeinen Haarrisse entstehen aufgrund der unterschiedlichen Wärmeausdehnung von Keramik und Glas. Nächste Seite: „Porzellan erzählt Geschichte“ Westfalenstoffe – Traditionsmuster aus Münster Wer kennt sie nicht, Poesiealben oder Kinderkleidung mit „Hähnchenmuster“? Der charmant-naive Entwurf aus den Dreißigern stammt von Hanne-Nüte Kämmerer, der Begründerin der Manufaktur, und ist seit fast 80 Jahren ein Bestseller. Jährlich gibt es zwei Kollektionen. Unser aktueller Favorit: Uppsala. Ludwig Schröder – Lederspezialist in sechster Generation Es ist eines der dreckigsten Gewerbe der Welt, führt aber zu Resultaten von großer Schönheit: die Lederverarbeitung. Dieser widmet sich seit 1825 die Familie Schröder im norddeutschen Uetersen. Das Gerben wurde in den 60er Jahren aufgegeben, das macht nun ein benachbartes Unternehmen nach genauen Vorgaben – meist pflanzlich und traditionell in einer Grube. Sein Know-How nutzt Schröder seit zwei Jahren für eine Serie von eleganten Wohnaccessoires, natürlich aus Leder. Die eigens erdachten Nähte sind nicht nur Zier, sondern erfüllen immer auch ihren eigentlichen Zweck. Atelier Haußmann – Mit Säge, Schweißgerät und Winkelschleifer „Stuhl - Tisch - Bett - Eat - Drink - Man - Woman“: So lautet der Untertitel des Blogs von Rainer und Andreas Haußmann. Und genauso gerade heraus und essentiell sind die Entwürfe der Designbrüder aus Berlin. „Wir versuchen möglichst nichts zu tun, wenn wir an den Produkten arbeiten. Das Produkt muss es wollen, Bett zu sein.“ Und „Sevenfeetup“ wollte offensichtlich genau das. Die Eingebung kam – wie sollte es anders sein – im Schlaf. Die hingeworfene Skizze bestand auch bei Tageslicht, und der Prtotyp wurde umgehend in der Werkstatt auf dem ehemaligen Gelände des Rundfunks der DDR umgesetzt. Inzwischen wird die Kollektion durch Entwürfe von Designern wie Zascho Petkow, Julia Thesenfitz und Christian Wedekind ergänzt. Tapetenmanufactur Hembus – Über 700 historische Muster in Frankfurt „Manchmal sind die historischen Tapetenfragmente, die wir von Schlössern oder dem Denkmalamt bekommen, gerade einmal so groß wie ein Oktavheft“, sagt Sigrun Moosbrugger, Marketingleiterin des 1894 gegründeten Unternehmens Julius Hembus. „Dann beginnt die Detektivarbeit unserer Stilexperten.“An „Julius“, der nach dem Firmengründer benannten Siebdruckmaschine aus den 50er Jahren, werden die von Hand grundierten Papierbahnen Meter für Meter, Farbe für Farbe bedruckt. Je nach Motiv wird dieser Vorgang 20 Mal wiederholt. Viele Muster entfalten übrigens auch auf kleiner Fläche ihre Wirkung. Das Gäste-WC eines Kunden ist in eine Steppdecke aus dem Palais Darmstadt gehüllt. Höchster Porzellan-Manufaktur – Weißes Gold aus Hessen „Ob der Philipp heute still, wohl bei Tische sitzen will?“ Gute Frage – und immer wieder eine Herausforderung für Eltern von aktiven Kindern. Vielleicht bringt das Struwwelpeter-Service der zweitältesten deutschen Porzellanmanufaktur einen Moment Ruhe an den familiären Abendbrottisch. Die Teller und Tassen mit den unartigen Kinderbuchhelden sind Teil der Reihe „Porzellan erzählt Geschichte“, zu der auch die „Goethe Edition“ gehört.Einen Namen machte sich die Manufaktur seit Ihrer Gründung 1746 mit den Figuren des Porzellankünstlers Johann Peter Melchior. Seine um 1770 entstandene Türkische Kapelle wird bis heute von Hand geformt und ist in mattweissem Bisquitporzellan besonders elegant. Posamenten Müller – Vom Schlüsselanhänger bis zum Treppenseil Häufig geht uns bei Einrichtungsprojekten auf den letzten Metern die Puste aus. Monatelang suchen wir den optimalen Vorhangstoff, lassen dann aber das Ergebnis unserer Mühen etwas traurig an der Gardinenstange hängen. Dabei könnte er, gehalten von einer Quaste, erst zu richtiger Größe gelangen. Der Teufel steckt mal wieder im Detail, und auf diese Details in Form von Borten, Kordeln, Raffhaltern und Quasten hat sich seit 1865 der Münchner Betrieb Posamenten Müller spezialisiert. An über hundert Jahre alten Webstühlen sitzen fünf Mitarbeiter und Weben, Knüpfen und Knoten die kostbare Ware für Kunden wie das Münchner Opernhaus oder Schloss Hof bei Wien. Aufträge kommen auch von unerwarteter Seite: Die Autoindustrie schätzt Müllers Türfangbänder, und ein Stammkunde lässt sich schwer entflammbare Zündschnüre zur Herstellung seiner Dynamitstangen fertigen. Denn den gewünschten Durchmesser bekommt die Industrie einfach nicht hin.
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Melissa Antonius
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Deutschland steht für Autos, Maschinen und Chemie. Aber es gibt auch Manufakturen, die exquisite Produkte in Kleinstserien herstellen. Eine Auswahl
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außenpolitik
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2013-04-02T10:32:34+0200
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2013-04-02T10:32:34+0200
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https://www.cicero.de//stil/luxusmanufakturen-hand-made-germany/54000
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Aussichtslosigkeit und Aufstieg - Der Junge aus Kaiserslautern
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Barons Buch ist ein schonungsloser Bericht sozialer Prekarität und vom Willen eines Jungen, all dem zu entfliehen. Was Baron tut, auch für uns, den Leser und die Gesellschaft, ist, gedanklich zurückzukehren, alles nochmal zu durchleben, sich alles nochmal anzutun, um in uns die Empathie zu wecken: So etwas darf in einem reichen Land nicht sein. Kaiserslautern, die West-Pfalz, ist von vielen Geschichten dieser Prekarität geprägt. Leider. Im Ruhrgebiet ist es noch schlimmer. 41 Prozent aller Kinder wohnen in Gelsenkirchen in Haushalten, die Hartz IV beziehen. Und in Dortmund, Duisburg, und Essen erhält jedes dritte Kind staatliche Stütze. Christian Barons Blick ist von einer großen Unschuld geprägt, an der er in fast masochistischer Weise den Leser teilhaben lässt. Er hält uns ein Leiden und ein Leben, denen er entflohen ist, so sehr vor das Gesicht, dass wir darüber gesellschaftlich nicht mehr hinwegsehen sollen. Barons Buch ist keine geiernde Sozialpornografie à la „Hartz und herzlich“ auf RTL2. Kein voyeuristisches „zur Schaustellen“ der existenziellen Verwüstung sozialer Prekarität. Nein, es ist der erschütternde blanke Bericht sozialer Prekarität. Zwei Beispiele aus seinem literarischen Bericht erzählen davon. Erstes Beispiel: Eines Tages hatte der Junge aus Kaiserslautern so einen Hunger, dass er auf einen Einfall kam, der beim Lesen fast zum Speien zwingt. Der Junge hatte im Fernsehen gehört, dass Schimmel ja auch ein Pilz sei und man Pilze, so weiß der Junge, ja grundsätzlich auch essen könne. So kratzte er mit seinen Fingernägeln den Schimmel von der Wand und schob ihn in seinen Mund. Ja, der Junge aus Kaiserslautern stopfte voller Hunger Schimmel in sich hinein. Der Leser mag würgen und mit sich ringen, aber was fühlt er? Baron will unsere Empathie. Meine hat er. Zweites Beispiel: Sein alkohol-kaputter Vater, der seine Mutter und ihn schlug, und ansonsten ein ziemlich mieser Arsch gewesen sein muss, wie Baron uns ihn schildert, tat eines Tages folgendes: Er trat einer Freundin der Familie in ihren Babybauch. Wer tut sowas? Einer Frau in ihren Babybauch treten? Widerlich. Abstoßend. Was ein Monster. Das letzte Mal, als ich von so etwas hörte und sah, war das Fiktion. Nämlich in der ZDF-Filmreihe „Unsere Mütter, unsere Väter“. Da schlug ein Nazi seiner Geliebten in den Babybauch, damit sie ihr Kind verliere. Da war es Fiktion. Bei Baron hofft man nur, es sei Fiktion. Baron erzählt uns im Buch auch von der Erniedrigung, die man so erfahren muss, wenn man von unten kommt. Er bastelte sich einst ein Trikot des 1. FC Kaiserslautern, weil er sich keines leisten konnte und wurde von anderen sogleich dafür fertig gemacht, dass er so herumlaufe. Baron erzählt uns aber auch, wie man dem ganzen Teufelskreis der Prekarität entfliehen könne. Die Antwort ist einfach: Du brauchst immer einen, der an dich glaubt. In seinem Fall Tante Juli und Tante Ella. Ohne deren Ermunterung und Hilfe wäre aus dem Jungen aus Kaiserslautern nie der Mann geworden, der er heute ist. Aber was ist mit denen, die Tante Juli und Tante Ella nicht haben? Die rheinland-pfälzische Regierung probiert etwa seit Längerem unter dem Dach der „Westpfalz-Initiative“ einen neuen Ansatz zur Bekämpfung von Langzeitarbeitslosigkeit. Dabei wird die ganze Familie analysiert, und Arbeitsberater, Sozialarbeiter und Familiencoaches versuchen gemeinsam nicht nur den Erwachsenen, sondern der ganzen Familie zu helfen. Die „Westpfalz-Initiative“ ist bislang mehr ein Modell als ein wirklich neuer Ansatz, denn die Initiative ist unterfinanziert und müsste von einem Landesprogramm zu einem bundespolitischen Programm und Ansatz werden – mit Geld vom Bund. Was diese „Westpfalz-Initiative“ allerdings auch klar macht, und dies muss gesagt werden, damit Barons Buch nicht einfach zu Forderungen für mehr Hartz-IV-Geld führt, ist: Die Antwort auf soziale Prekarität lautet nicht: Gebt Hartz-IV-Empfängern mehr Geld. Die Antwort ist: Steckt mehr Geld ins Bildungssystem und eine moderne Sozialpolitik, damit ein Junge wie Baron niemals, aber auch niemals in Aussichtslosigkeit aufwachsen muss. Baron ist etwas entflohen. Mit Glück, mit Talent, mit dem kleinen bisschen schicksalshaften Effet, den wir uns alle manchmal wünschen, weil wir glauben, dass wir es verdient haben. Andere bleiben aber zurück. Barons Buch könnte eine Diskussion über eine moderne Sozialstaatlichkeit auslösen anstatt nur wieder die soziale Lage zu beschreiben und dann der SPD vor das Schienbein zu treten, dass sie und Gerhard Schröder, den Baron in einem Interview zum Buch mit Deutschlandfunk Kultur gerade einen „Klassenverräter“ nannte, an dem ganzen Elend schuld seien. Die SPD hat Fehler gemacht. Schuld ist sie nicht. Es liegt auch am fehlenden Willen, eine sinnvolle Diskussion über Sozialstaatlichkeit zu führen. Das bekommt das Land und die politische Linke hierzulande seit dem Jahr 2005 nicht hin. Aber Barons Buch liefert noch mehr als Munition, um mal wieder über den Sozialstaat zu reden. Er erzählt uns auch schonungslos, wie schwer es ist, als Junge von Nicht-Akademikern etwas in diesem Land zu werden. So oft wie man in diesem Land sozialen Aufstieg, soziale Marktwirtschaft und Aufstieg durch Bildung preist, und so wenig das wirklich stattfindet (nur ein Nicht-Akademikerkind von 100 promoviert), sollte dies eigentlich endlich auch eine Diskussion darüber zur Folge haben, ob das nicht alles eine Lebenschancenlüge ist, die man Menschen von unten als schönen Traum auftischt, der aber in der Realität kaum greifbar ist. Wer das verändern will, der muss über materielle Fragen reden, aber auch über kulturelle Fragen. Ein Beispiel für die kulturellen Fragen: Ich fühlte mich an einer Stelle seines Buches seltsam verbunden mit Baron (auch ich bin Nicht-Akademikerkind), und dabei ging es darum, wie wir eigentlich aufwachsen. Was Kinder aus Nicht-Akademiker-Haushalten öfter gemeinsam haben, ist, dass sie nicht mit Bücherregalen aufwachsen. Ich erinnere mich, dass ich bereits alle „alten“ Star Wars Filme mehrfach gesehen hatte, bevor ich zum ersten Mal in meinem Leben selber und alleine ein Buch las. Ich kannte als Kind fast alle Sendungen bei Super-RTL, wer Immanuel Kant war, wusste ich nicht. In der Oper war ich als Erwachsener zum ersten Mal. Eine Zeitung, die „Financial Times Deutschland“ (heute gibt es sie nicht mehr), habe ich zum ersten Mal im zweiten Semester regelmäßig gelesen. Und worüber ich nie nachdachte und was Baron mir vor Augen führte: Dass es unter Akademikern ungewöhnlich sein kann, einen größeren Fernseher zu haben, ja das sind diese kleinen Dinge, die den Unterschied machen. Baron führt uns das alles gnadenlos vor Augen – ohne auch nur anklagend gegenüber versnobten Rich-Kids zu sein. Er lässt sein Leben selbst sprechen. Das können nur wenige. Baron hat ein sehr lesenswertes Buch geschrieben – zwischen Roman und Sozialstudie. Christian Baron, jetzt der Journalist, sollte allerdings aufpassen, nicht einen Stempel zu bekommen, im Sinne von „der Junge mit der harten Kindheit, der darüber immer schreibt“. Das kann nervig werden, weil man nicht mit Privatleben und Einzelschicksalen von Menschen ständig überfrachtet werden will. Anders gesagt: Wenn jetzt noch „Ein Mann seiner Klasse“ Teil 2, nämlich „Meine Mutter und die Unterschicht“ und Teil 3 „Mein Bruder und ich“ folgen, macht Baron alles falsch, was er falsch machen kann. Baron ist klug genug, nicht in diese Falle zu tappen. Eines bleibt Christian, dem Jungen aus Kaiserslautern, noch zu sagen. Du hast es geschafft. Jetzt kommt die Frage: Wer noch? Und was kann man da tun?
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Nils Heisterhagen
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Christian Baron, ein Junge aus Kaiserslautern, heute Journalist beim linken „Freitag“, hat ein Buch über seine Jugend in Armut, Hunger, Gewalt, Alkohol und nahezu aussichtsloser Herkunft geschrieben. Doch er hat es geschafft. Wie? Auch das verrät sein Buch „Ein Mann seiner Klasse“
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"soziale Herkunft",
"Narrativ",
"Sozialstaat"
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kultur
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2020-02-05T13:08:25+0100
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2020-02-05T13:08:25+0100
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https://www.cicero.de//kultur/aussichtslosigkeit-aufstieg-kaiserslautern-rezension-ein-mann-seiner-klasse
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Doppelpass - Das Aufbäumen der alten CDU
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Was für ein Wirbel: Der CDU-Bundesparteitag hat einen Beschluss gefasst, der der Parteiführung nicht gefiel. Die große Vorsitzende wiederum erklärte öffentlich, dass sie diesen Beschluss für falsch halte. Dass Angela Merkel dies nicht vor den Delegierten tat, sondern vor Fernsehkameras, zeugt von einem seltsamen Parteitagsverständnis der Kanzlerin. Aber das ist, wenn man das Verhältnis Merkels zur Partei kennt, nicht überraschend. Sie will „Deutschland dienen“, nicht der CDU. Die ist nur Mittel zum Zweck. Dennoch ist die Entscheidung der CDU, mit der recht freizügigen Verteilung von deutschen Pässen Schluss machen zu wollen, unter drei Aspekten interessant: dem Verhältnis der CDU zur Flüchtlingspolitik ihrer Vorsitzenden, der Überhöhung des Beschlusses durch die parteiinternen Merkel-Kritiker und der Kritik des Koalitionspartners SPD. In Essen hat sich gezeigt, dass große Teile der Partei mit Merkels Kurs im Jahr 2015 höchst unzufrieden sind. Sie führen den Aufschwung der rechtspopulistischen AfD auch auf Merkels angegrünte „Wir schaffen das“-Politik und ihre Meinung von angeblich unkontrollierbaren Grenzen zurück. Das „Nein” zu der automatischen Doppelpass-Lösung für die Kinder von Migranten, die von der SPD in den Koalitionsverhandlungen durchgesetzt worden war, war sozusagen die Retourkutsche der Parteibasis zu Merkels „Das ist nicht mein Land“-Drohung. Merkel hat es nicht fertiggebracht, wenigstens einmal öffentlich einzugestehen, sie habe im Herbst 2015 im allgemeinen Willkommensrausch schwerwiegende Fehler gemacht – in guter Absicht zwar, aber mit negativen Folgen. Jetzt zeigten die Delegierten den Mut, den sie vor einem Jahr auf der Jubel-Veranstaltung in Karlsruhe nicht gehabt hatten – und Merkel die gelbe Karte. Man kann auch sagen: Die „alte CDU“ hat sich – endlich – einmal aufgebäumt. Merkels Kritiker haben mit ihrer harten Haltung ein Zeichen gesetzt. Sie haben vor aller Öffentlichkeit demonstriert, was ohnehin kein Geheimnis ist: Merkel und ihre Regierungsmannschaft haben sich in der Flüchtlingspolitik um das Parteivolk nicht geschert. Und was macht Generalsekretär Peter Tauber? „His Mistress' Voice“ fühlt sich ohnehin nicht als Speerspitze der Partei gegenüber der eigenen, durch Koalitionskompromisse eingeengten Regierungsmannschaft, sondern eher als vierter Regierungssprecher: Merkel und Gabriel beschließen, die CDU folgt. Folglich ist Taubers Einsatz für den Doppelpass in Essen verpufft. Sein Glück: Seine Wiederwahl stand nicht an. Sonst hätte er den geballten Zorn der Partei noch deutlicher zu spüren bekommen. Ironie der Geschichte: Tauber macht keinen Hehl aus seiner Einstellung, dass er auf die „alten, weißen Männer“ in der Partei gerne verzichten könnte. Den Doppelpass-Beschluss setzten indes drei jüngere Politiker durch: Finanzstaatssekretär Jens Spahn, Mittelstandschef Carsten Linnemann und der Vorsitzende der Jungen Union, Paul Ziemiak. Die drei denken und handeln so konservativ wie einst Tauber, als er noch nicht Merkels Sekretär war. So ändern sich die Zeiten. Die CDU hat ein Zeichen gesetzt, mehr nicht. Denn natürlich gilt weiterhin der Koalitionsvertrag. Den abzuändern, ist wiederum mit der SPD nicht möglich. Deshalb wirkt es lächerlich bis grotesk, wenn konservative CDU-Politiker von der Kanzlerin ultimativ verlangen, sie müsse das „Nein” zum Doppelpass nunmehr innerhalb der Koalition zum Thema machen. Als Parteivorsitzende hat Merkel das Votum zu respektieren, als Kanzlerin muss sie hingegen gar nichts. Die CDU hat das „imperative Mandat“, wonach Regierende zu machen haben, was Parteitage ihnen aufgeben, stets abgelehnt – aus guten Gründen. Jetzt plötzlich verlangen ausgerechnet Vertreter des konservativen „Berliner Kreises“, dass Angela Merkel als Regierungschefin Parteibeschlüsse eins zu eins umsetzt. Das „imperative Mandat“ als Ausdruck innerparteilicher Demokratie? Irgendwie scheinen sie bei der CDU den Kompass verloren zu haben – nicht nur in der Flüchtlingspolitik. Es entbehrt nicht einer gewissen Komik, wenn die SPD sich nun darüber erregt, dass die CDU-Delegierten in Essen nicht brav dem Parteiestablishment gefolgt sind. Ausgerechnet die Genossen, bei denen die „Beschlusslage“ von Parteitagen das Heiligste ist, was die Partei zu bieten hat. Selbst wenn Beschlusslage und Wirklichkeit meilenweit voneinander entfernt sind, gilt bei der SPD insgeheim der Grundsatz: Die Basis hat immer recht. Natürlich hat das Entsetzen der Genossen über den Koalitionspartner etwas Künstliches an sich. Denn die SPD weiß, dass die Union es nicht auf einen Bruch der großen Koalition anlegen wird. Deshalb hat die Union auch keinen Hebel, um der SPD wieder wegzunehmen, was sie den Genossen vor drei Jahren ohne nennenswerte Gegenleistung geschenkt hatte: Den Doppelpass für alle, die beides wollen – die Vorzüge, die die Heimat ihrer Eltern bietet, und obendrein die Segnungen eines deutschen Passes. Die Pseudo-Empörung der SPD darüber, dass sich ihr großer Koalitionspartner eine eigene Meinung leistet, ist gespielt – und das nicht einmal gut. Einerseits tun die Sozialdemokraten so, als müsse sich selbst der CDU-Parteitag mit seinen Beschlüssen am Koalitionsvertrag orientieren. Was für ein Unsinn! Zugleich aber praktizieren die Genossen selbst seit Wochen ein beispielloses Verhalten gegenüber dem Koalitionspartner CDU. Während man noch ein Jahr zusammen regieren muss, sind führende und weniger führende SPD-Politiker seit Wochen dabei, auf allen Ebenen mit Grünen und Linkspartei an dem Zukunftsmodell Rot-Rot-Grün zu basteln. Das Verhalten Sigmar Gabriels ähnelt einem Mann, der permanent fremdgeht, von seiner Frau aber die penible Einhaltung des Ehevertrags fordert. Glaubwürdigkeit sieht anders aus. Das mediale Entsetzen über den Anti-Doppelpass-Beschluss von Essen und die wohl kalkulierte Empörung der SPD hat einen simplen Hintergrund. Die Vorstellung, wer Deutscher werden wolle, solle sich auch zu Deutschland bekennen, ist beim Wahlvolk verbreiteter, als es den meisten Meinungsmachern lieb ist. Man muss eigentlich nicht Politik studiert haben, um zu erkennen, dass ein Zuwanderer nicht gleichzeitig Recep Tayyip Erdogan als seinen Präsidenten und Merkel als seine Kanzlerin sehen kann. Zudem steckt all den Vorkämpfern für den Doppelpass noch die Landtagswahl von 1999 in den Knochen. Damals stürzte die hessische CDU mit ihrer Kampagne gegen den Doppelpass die rot-grüne Landesregierung in Wiesbaden – gegen das Empörungsgeheul von Medien, Kirchenvertretern, Gewerkschaftern und Anwälten der Political Correctness. Was viele vergessen haben dürften: Damals stützte der CDU-Bundesvorsitzende Wolfgang Schäuble den Kurs Roland Kochs. Seine Generalsekretärin Angela Merkel konnte der Sache damals schon wenig abgewinnen. Dass der CDU ein Thema zugutekommt, das Angela Merkel nicht so recht behagt – neu wäre das nicht.
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Hugo Müller-Vogg
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Die Delegierten des Parteitages haben sich gegen den Doppelpass ausgesprochen und damit ihrer Parteivorsitzenden Angela Merkel die gelbe Karte gezeigt. Bemerkenswert: Der konservative Ruck ging von der jungen CDU-Generation aus
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"Doppelpass",
"Doppelte Staatsbürgerschaft",
"Merkel",
"Staatsangehörigkeit",
"Wahlkampf",
"Wahl 2017",
"CDU"
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innenpolitik
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2016-12-12T13:05:18+0100
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2016-12-12T13:05:18+0100
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https://www.cicero.de//innenpolitik/doppelpass-das-aufbaeumen-der-alten-cdu
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Berlinale – Wurstfabrik der Star-Interviews
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Natürlich, Journalisten brauchen sich nicht zu beschweren. Fans
und Autogrammjäger müssen sich stundenlang in der Schweinekälte vor
den Polizeiabsperrungen der Garagenausfahrt des Hyatt Hotels oder
am Roten Teppich die Beine in den Bauch stehen, nur um einen
flüchtigen Blick auf Menschen wie Meryl Streep, Antonio Banderas
oder Robert Pattinson zu erhaschen. Pressevertreter haben es da
eigentlich besser: Vorausgesetzt die jeweils zuständige PR-Agentur
befindet sie für würdig, die so genannten Stars zu interviewen -
Recht bequem, im Warmen, bei einem Tässchen Kaffee, meist in der
eigens dafür angemieteten Suite im Ritz oder dem Adlon. Nur muss man eben wissen, dass die Herstellung solcher
Star-Interviews auf Festivals wie der Berlinale weniger mit
Traumfabrik, sondern eher mit Wurstfabrik zu tun hat. Es finden
sich dafür in besagten Hotels im Zeitraum von zwei Stunden gefühlte
60 Journalisten ein, die dann in Gruppen von 4 bis 8 Mann im 15
Minuten Takt an dem in einem Zimmer harrenden Star vorbeigeschleust
werden. Auf dem Weg dorthin wird geflüstert, als wäre man in einer
Ausstellung, oder im Tierpark, als würde sich - pssst! - der
Künstler bei plötzlichem Lärm erschrecken und wegfliegen. Was
herauskommt, nachdem 8 Menschen 15 Minuten lang verzweifelt
versucht haben die Kontrolle über das Gespräch mit dem einen Star
zu gewinnen, verdient den Namen Interview eigentlich eher
nicht. Eine neue Unart ist es, dass nicht nur die Journalisten, sondern
auch die Schauspieler der jeweiligen Filme für Interviews zu
Paketen verschnürt werden. Das haben die Agenten der
Nebendarsteller so eingefädelt. Um also beispielsweise den
bekannten Schauspieler und Regisseur Billy Bob Thornton zu
interviewen, muss man anschließend noch einmal 20 Minuten mit
seinen Kollegen Katherine LaNasa (?) und Ray Stevenson (?)
durchsitzen. Keiner der Journalisten möchte ernsthaft etwas von den
Schauspielern wissen, die ihrerseits würden viel lieber fernsehen
oder in der Nase bohren. Stattdessen sitzt man aber peinlich
berührt – zu insgesamt zehnt – um einen Tisch herum, mit
höflicherweise eingeschaltetem Tonband, und führt beklommenen
Smalltalk bis die Pressefrau hereinkommt und zur Erleichterung
aller „Last Question please“ ruft... Kein so genanntes Interview werden Journalisten auf der
diesjährigen Berlinale allerdings emotional so erschöpft verlassen
haben, wie die Pressevorführung von „The Flowers of
War“, dem außer Konkurrenz laufenden Wettbewerbsstreifen
des Filmemachers Zhang Yimou. Was genau das chinesische
Propagandaministerium ihm in seinen Grüntee getan hat, ist unklar,
jedenfalls hat der ehemalige Großmeister des asiatischen Kinos es
offenbar aufgegeben, ernstzunehmende Kunst produzieren zu wollen.
Die Geschichte spielt inmitten der Invasion von Nanking, während
der die Japaner 1937 ein Massaker unter der Zivilbevölkerung
angerichtet haben. Christian Bale spielt einen Totengräber, der
sich auf dem Grundstück einer Kathedrale unversehens als Beschützer
nicht nur einer Schulmädchenklasse, sondern auch einer Truppe
Prostituierter wiederfindet. Dass ein Weißer in diesem chinesischen
Kriegsepos die Hauptrolle bekommt, und sich im Zentrum eines
Völkermordes mit lustigen Weibern lustige Kissenschlachten liefert,
ist schon kurios genug. Wirklich schwer zu ertragen ist allerdings,
was für eine pseudohistorische, bluttriefende, pathosgeladene
Schmonzette Yimou daraus gemacht hat. Da werden die edlen, patriotischen Soldaten Chinas in Zeitlupe
von der Kriegsmaschinerie des bestialischen Japaners zermalmt. Da
zieht der verschlagene Japaner Kinder an den Haaren durch die
Kirche, um sie erst johlend zu vergewaltigen, und dann grinsend zu
ermorden, während im Hintergrund traurig die Geigen klagen. Und
wenn Japaner Frauen mit dem Bajonett erstechen, dann grundsätzlich
mit weit aufgerissenen, irren Augen, gefletschten Zähnen und in
Slow-Motion. Und dann gibt es noch den Kommandanten, der japanische
Heimatlieder auf der Orgel spielt und von sich behauptet, Kinder so
gerne singen zu hören. Musikalität ist ja, wie wir aus diversen
Nazi-Filmen wissen, immer ein Zeichen für ein gutes Herz. Gegen
dieses propagandistische Schlachtengemälde ist der „Pearl Harbor“
noch subtil. Aber in China wird der Film ganz sicher ein
riesengroßer Hit. Lesen Sie im zweiten Teil über deutsche Familienpsychologie
und spanischen Badewannengrusel Ganz
andere Spuren hinterlässt hingegen der deutsche Beitrag
„Was bleibt“. Ein unfassbar dicht und
präzise erzählt und geschauspielertes Mitbringsel des
Berlinale-Veteranen Hans-Christian Schmid. Sein Film beginnt mit
einer Familie, die für ein Wochenende im Haus der Eltern
zusammenfindet: Marko (Lars Eidinger), der älteste Sohn, der samt
Kind aus Berlin anreist, sein Bruder Jakob (Sebastian Zimmler) und
dessen Freundin Ella (Picco von Groote) die sich auf ein Leben im
Ort einrichten. Mutter Gitte (Corinna Harfouch), die seit
Jahrzehnten manisch depressiv ist, erklärt überraschend, von nun an
auf ihre Medikamente verzichten zu wollen. Weil sich der
eigentliche, heimliche Familienmittelpunkt - Gittes Krankheit -
verändert, gerät auch das stabile Familiengerüst aus Selbstbetrug
und Täuschung aus dem Gleichgewicht. Es gibt eine bestimmte Art von Familienfilm, der ein Genre an
sich ist: Thomas Vinterbergs „Das Fest“ gehört dazu, aber auch der
aktuelle Wettbewerbsfilm „Jayne Mansfields Car“.
Diese Filme drehen sich im Kern um das Zerschlagen festgefahrener,
verlogener Familienstrukturen. Und zur Logik des Genres gehört der
befreiende Ausbruch aus der kranken Kruste, eine Katharsis die
immer Sieg und Neuanfang bedeutet. Bei „Was bleibt“ ist das anders.
Er ist schwieriger, beängstigender und wohl auch näher an der
Wirklichkeit, weil er auch über die Gefahren der Ehrlichkeit
spricht, über die im schlechten Sinne destruktive Sprengkraft der
Dinge hinter der Fassade. Und es ist ein Film über eine
Elterngeneration, die sich auf Augenhöhe mit ihren Kindern zu
begeben versucht und eine Kindergeneration, die deshalb die
Konflikte mit den Eltern nicht mehr in großen, explosiven
Konfrontationen austrägt, sondern eher verdruckst, über Bande. Dass
verdruckste Konflikte meist kein gutes Ende nehmen, das lernen wir
auch in „Dictado“, dem Wettbewerbs-Psychothriller
des Spaniers Antonio Chavarrías. Er beginnt mit der perfekt
verstörenden Szene eines kleinen Mädchens in der Badewanne. Vor dem
Spiegel steht ein halbnackter Mann. Er greift zum Rasierapparat,
montiert die Klinge ab, steigt samt Hose zum Mädchen in die Wanne,
das Wasser schwappt über den Rand, sie lacht überrascht. Bis das
überlaufende Badewasser sich rot färbt. Mit dem Mädchen, erfahren
wir bald, stimmt etwas nicht, und nicht nur, weil es den Selbstmord
seines Vaters miterlebt hat. Dessen Freund Daniel, mit dem er ein
grässliches Kindheitserlebnis teilt, nimmt das Mädchen bei sich
Zuhause auf. Aus Mitleid, aber auch weil seine Freundin Laura
(Barbara Lennie) sich unbedingt ein Kind wünscht. Daniel dagegen
bekommt bald große Angst vor dem Mädchen. Und schon beginnt das Spiel aus nächtlich tropfenden
Wasserhähnen, raschelnden Duschvorhängen, verdrängter Vergangenheit
und uralten, gesungenen Kinderreimen. Ein Spiel, das so viele
gute - und schlechte - Psychothriller einleitet, und mit dem sich
„Dictado“ in die Serie famoser, reduzierter Spanischer Gruselfilme
aus der Schule von Juan Antonio Bayona (Das Waisenhaus), Guilermo
del Torro (Cronos, Pans Labyrinth) oder Alejandro Amenabar (The
Others) einreiht . Der Film lässt sich übrigens auch einordnen, in
die Serie besonders unangenehmer Badewannenszenen: Psycho, The
Shining, The Grudge oder Schatten der Wahrheit – im Grunde ist das
Bad der schaurigste Ort der Gruselfilmgeschichte. Wohl, weil wir
nirgendwo so häufig nackt und verletzlich sind. Und dann, als die
Merkwürdigkeiten sich häufen, schlägt Laura vor, sich zu erholen,
in diesem alten Haus, was sehr abgelegen irgendwo in den Bergen
liegt. „Nur wir?“ fragt Daniel noch naiv. „Ja, nur wir drei“,
erwidert Laura, und wir lassen unsere Hoffnung auf Entspannung mit
ihm zusammen sinken. Dass der Plot am Ende arg konstruiert ist und
nur bedingt – sind wir ehrlich: gar keinen – Sinn macht, ist nicht
so schlimm. Denn früh lässt der Film visuell sehr nach: durch die
Finger vor den Augen erkennt man praktisch nichts mehr. Foto aus „Was bleibt“: Gerald von Foris
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Wie bei Schauspieler-Interviews getrickst wird, warum Christian Bale in der schlimmsten Schmonzette der Woche spielt und das Bad der schaurigste Ort der Gruselfilmgeschichte ist: Die Berlinale-Kolumne von Constantin Magnis
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kultur
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2012-02-17T10:55:45+0100
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2012-02-17T10:55:45+0100
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https://www.cicero.de//kultur/wurstfabrik-der-star-interviews/48341
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Ökonom: - Der Mindestlohn schadet den Ärmsten
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Ich bin klar gegen den Mindestlohn. Denn die ökonomische Theorie sagt eindeutig, dass er weder der Wohlfahrt noch der Gerechtigkeit hilft. Er hat aber eine Reihe von Nebenwirkungen, die der Beschäftigung und ganz besonders den eh schon Benachteiligten schaden. Für Arbeitslose ist der Mindestlohn eine Bedrohung. Er verringert die Chancen von Arbeitssuchenden, wieder in ein reguläres Beschäftigungsverhältnis zurückzufinden. Das gilt ganz besonders für die Langzeitarbeitslosen und die Geringqualifizierten. Der Mindestlohn kann in einigen Fällen tatsächlich zu einer besseren Entlohnung der gering qualifizierten Beschäftigten führen, aber nur, wenn diese einen Job haben und nicht, wenn sie einen suchen. Deshalb lösen Mindestlöhne auch keine Armutsprobleme. Weder verringern Mindestlöhne das Armutsrisiko, noch sind sie für eine Grundsicherung erforderlich. Der Mindestlohn ist kein geeignetes Instrument zur Armutsbekämpfung. Er kann nicht sicherstellen, dass Arme davon profitieren. Alleinverdiener können auch dann noch „arm“ bleiben, wenn sie mit ihrem Mindestlohneinkommen eine mehrköpfige Familie zu finanzieren haben. Das gilt ganz besonders für alleinerziehende Frauen. [[nid:53825]] Hingegen profitieren von Mindestlöhnen auch Zweitverdiener oder jene Jugendliche, die bei ihren Eltern wohnen und die alles andere als arm sein müssen. In diesen Fällen begünstigen Mindestlöhne nicht wirklich Bedürftige, sondern auch finanziell Bessergestellte. Um Armut oder einen Fall ins Bodenlose wirklich zu verhindern, bedarf es einer Mindestsicherung, nicht eines Mindestlohns. Richtig ist, dass Mindestlöhne nicht zum Untergang von Volkswirtschaften führen. Es gibt sie in den meisten Industrieländern, auch in den USA. Aber meistens liegen sie auf so geringer Höhe, dass sie in der Tat kaum schädlich sein können. So wie es ja in Deutschland auch der Fall ist. Das ALG II erhalten alle Bedürftigen, unabhängig von der Ursache ihrer Notlage und unabhängig von Versicherungszeiten. Damit wird zugleich ein der familiären Situation angepasster Mindestlohn definiert. Richtig ist auch, dass die bisherigen Erfahrungen mit den branchenspezifischen Mindestlöhnen undramatisch sind. In vielen Branchen ist die Arbeitslosigkeit nicht wegen, sondern trotz der Mindestlöhne gesunken, weil sich die allgemeine Beschäftigungslage in den letzten Jahren so positiv entwickelt hat. Ich bin der Überzeugung, dass alte Positionen zu räumen sind, wenn die Realität neue empirische Einsichten liefert. Es wäre töricht, an konservativen oder liberalen Konzepten nur der Ideologie wegen festzuhalten. Das gilt auch für die Diskussion um den Mindestlohn. Alles in allem bietet die Empirie keinen stichhaltigen Grund für einen Richtungswechsel. Der Schaden von Mindestlöhnen übersteigt unverändert deren Nutzen. Somit wäre es klug, die Finger davon zu lassen.
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Thomas Straubhaar
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Der Mindestlohn führt weder zu mehr Gerechtigkeit noch zu mehr Beschäftigung. Zur Armutsbekämpfung ist er deswegen denkbar ungeeignet, warnt Ökonom Thomas Straubhaar in einem Gastbeitrag
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wirtschaft
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2013-10-24T08:28:07+0200
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2013-10-24T08:28:07+0200
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https://www.cicero.de//wirtschaft/oekonom-thomas-straubhaar-mindestlohn-schadet-spd/56191
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Nobelpreisträger Stiglitz über die Krise – Sparen schadet
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Der wirtschaftliche Abschwung, der 2007 begann, hält weiter an,
und die Frage, die sich alle stellen, lautet: Warum? Ohne ein
besseres Verständnis der Ursachen der Krise können wir keine
effektive Erholungsstrategie umsetzen. Man hat uns erzählt, dass dies eine Finanzkrise sei, also haben
sich die Regierungen auf die Banken konzentriert. Man hat uns
Konjunkturprogramme als vorübergehendes Schmerzmittel verkauft, das
erforderlich sei, damit sich der Privatsektor erholt und die
private Kreditvergabe wieder einsetzt. Doch während die Banken
inzwischen wieder rentabel sind und erneute fette Boni zahlen, hat
sich die Kreditlage nicht erholt, trotz der auf Tiefstständen
verharrenden Zinsen. Die Banken behaupten, dass die Kreditvergabe aufgrund des
Mangels an kreditfähigen Darlehensnehmern beschränkt bleibe, was an
der kranken Wirtschaft läge. Und wichtige Daten deuten darauf hin,
dass dies zumindest teilweise stimmt. Schließlich sitzen die
Großunternehmen auf Billionen an Bargeld; also ist es nicht der
Geldmangel, der sie von Investitionen und Einstellungen abhält. Die
Kleinunternehmen freilich sind in einer ganz anderen Lage: Ohne
Finanzmittel können sie nicht wachsen. Trotzdem sind die Unternehmensinvestitionen insgesamt – lässt
man den Bausektor einmal beiseite – inzwischen wieder auf 10
Prozent vom Bruttoinlandsprodukt gestiegen (gegenüber 10,6 Prozent
vor der Krise). Angesichts der Überkapazitäten bei den Immobilien
wird das Vorkrisenniveau nicht so bald wieder erreicht, egal, was
man auf dem Bankensektor tut. Die unverzeihliche Verantwortungslosigkeit des Finanzsektors war
offensichtlich der Auslöser der Krise, und die überschuldeten
Staatshaushalte machen die Erholung umso schwieriger. Aber die
Wirtschaft war bereits vor der Krise schwer krank; die Blase auf
dem Häusermarkt hat ihre Schwächen nur übertüncht. Ohne den durch
die Blase gestützten Konsum hätte es einen massiven Ausfall bei der
Gesamtnachfrage gegeben. Stattdessen fiel die persönliche Sparquote
in den USA auf 1 Prozent, und die unteren 80 Prozent der
Bevölkerung gaben jedes Jahr rund 110 Prozent ihres Einkommens aus.
Inzwischen haben die Amerikaner ihre Lektion gelernt. Wer also
davon spricht, dass der Konsum „wiederkommt“, lebt in einer
Traumwelt. Lesen sie auf der nächsten Seite, warum die Rettung der
Finanzwelt nicht ausreicht Den Finanzsektor wieder auf die Beine zu bringen, war für eine
wirtschaftliche Erholung notwendig, aber alles andere als
hinreichend. Um zu verstehen, was zu tun ist, müssen wir uns die
wirtschaftlichen Probleme bewusst machen, die vor dem Ausbruch der
Krise bestanden. Zunächst einmal waren wir Opfer unseres eigenen Erfolgs. Die
Produktivität wuchs schneller als die Nachfrage, wodurch die
Beschäftigung in der Industrie zurückging. Die Arbeitskräfte
mussten auf den Dienstleistungssektor ausweichen. Das Problem kennen wir vom Beginn des 20. Jahrhunderts, als das
schnelle Produktionswachstum in der Landwirtschaft die Arbeiter aus
den ländlichen Gebieten in die städtischen Fertigungszentren zwang.
Angesichts des Rückgangs der landwirtschaftlichen Einkommen um über
50 Prozent zwischen 1929 und 1932 hätte man massive
Bevölkerungsbewegungen erwarten können. Doch die Arbeiter waren im
ländlichen Sektor „gefangen“: Es fehlten ihnen die Ressourcen, um
wegzugehen, und ihre schrumpfenden Einkommen schwächten die
Gesamtnachfrage, sodass die Arbeitslosigkeit in den Städten steil
anstieg. Für Amerika und Europa wird die Notwendigkeit, dass die Arbeit
sich von der produzierenden Industrie wegbewegt, durch sich
verlagernde Wettbewerbsvorteile verschlimmert: Nicht nur ist die
Gesamtzahl der Arbeitsplätze in der produzierenden Industrie
weltweit beschränkt, sondern der lokale Anteil dieser Arbeitsplätze
verkleinert sich. Lesen Sie auf der nächsten Seite welche Folgen
die zunehmende Ungleichheit hat Die Globalisierung ist einer der Faktoren, die zum zweiten
Schlüsselproblem beitragen – wachsender Ungleichheit. Die
Verschiebung der Einkommen weg von denen, die sie ausgeben, hin zu
denen, die dies nicht tun, verringert die Gesamtnachfrage. Genauso
verlagern steigende Energiepreise die Kaufkraft Europas und der USA
auf die Ölstaaten, die aufgrund der Schwankungsanfälligkeit der
Energiepreise einen Großteil der Einnahmen sparen. Darüber hinaus haben die Schwellenländer enorme Devisenreserven
angehäuft – teilweise motiviert durch das Missmanagement der
Ostasienkrise in den neunziger Jahren durch den Internationalen
Währungsfonds. Diese Länder erkannten, dass sie ohne Reserven
Gefahr laufen, ihre wirtschaftliche Souveränität zu verlieren, und
sagten sich: „Nie wieder!“ Die 7,6 Billionen Dollar, die die
Schwellenländer davor schützen, schwächen aber ebenfalls die
Gesamtnachfrage. Zudem sind die Industrieländer, vor allem die USA, weiterhin vom
Öl abhängig. So wird weiterhin viel Geld in die ölexportierenden
Länder transferiert, das für den notwendigen Strukturwandel in den
hoch entwickelten Volkswirtschaften fehlt. Der Staat spielt eine zentrale Rolle bei der Finanzierung der
Dienstleistungen, die die Menschen wollen, wie Bildung oder
Gesundheitsversorgung. Und insbesondere staatlich finanzierte Aus-
und Weiterbildung sind entscheidend dafür, die Wettbewerbsfähigkeit
in Europa und den USA aufrechtzuerhalten. Die fatale Sparpolitik
auf beiden Seiten des Atlantiks stellt dagegen sicher, dass der
Strukturwandel nur sehr langsam ablaufen wird. Dabei folgt das Rezept für die Genesung der Weltwirtschaft
direkt aus der Diagnose: Höhere Staatsausgaben müssen darauf
abzielen, die Umstrukturierung zu erleichtern, Energiesparen zu
fördern und die Ungleichheit zu verringern sowie das Finanzsystem
zu reformieren, um eine Alternative zur Anhäufung von Reserven zu
schaffen. Die Frage ist nur: Wie viel Leid werden wir noch ertragen
müssen, bis die Politik das verstanden hat? Joseph E. Stiglitz lehrt an der Columbia University. Von dem
Nobelpreisträger erschien zuletzt das Buch „Im freien Fall“ im
Siedler-Verlag
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Statt ihre Haushalte zu konsolidieren, sollten Europa und die USA in Bildung, Gesundheit und Energieeffizienz investieren und die wachsende Ungleichheit bekämpfen
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wirtschaft
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2011-11-20T09:30:40+0100
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2011-11-20T09:30:40+0100
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https://www.cicero.de//wirtschaft/sparen-schadet/46550
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Politikverdrossenheit - Wie die Medien Nichtwähler heranziehen
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Zunächst einmal: Presse darf Parteien kritisieren, sie muss sogar. Sie soll Wahlkampfparolen hinterfragen, Parteisprech brandmarken, sich in Programme festbeißen. Sie soll Politiker in ihre eigenen Widersprüche verwickeln, sie vielleicht sogar der Lüge überführen. Im besten Fall hilft sie dem Bürger so, seine Wahlentscheidung zu treffen. Was sie nicht tun soll: den Politikbetrieb pauschal als arrogant, dumm oder herzlos abqualifizieren und so zur Politikverdrossenheit vieler Bürger – drohender Nichtwähler – beitragen. Letzteres aber ist offenbar zum lustigsten Sport des zurückliegenden Bundestagswahlkampfes geworden. Da wurden politischen Lagern, Institutionen oder gleich dem ganzen System Taktiererei und Bereicherung in eigener Sache unterstellt. Da wurde behauptet, es ginge gar nicht mehr um die Wähler, sondern nur noch um den eigenen Vorteil. Immer wieder hieß es – je nachdem, wie es die mediale Kommentarlage gerade erforderte – dieses oder jenes Thema sei im Wahlkampf plump „instrumentalisiert“ worden. [[nid:54912]] Fast für jedes gewichtige Problem, bei dem Volksvertreter um Lösungen rangen, fand sich ein Medium, das diesen Vorwurf erhob. Der Euro Hawk: Das Ende des Drohnen-Untersuchungsausschusses sei von Opposition und Regierung instrumentalisiert worden, beklagte die Welt. Da wurden Abgeordnete jahrelang hinters Licht geführt, auf den Steuerzahler hätte eine weitere halbe Milliarde Euro zukommen können – und trotzdem sollen sich die Vertreter beider Lager am liebsten freundschaftlich die Hände reichen? Das Thema Mieten: „Milieuschutzsatzungen“, schrieb Focus Online, ließen sich „politisch hervorragend instrumentalisieren, um den Kampf der ‚kleinen Mieter‘ gegen ‚gierige Immobilieninvestoren‘ zu unterstützen“. Ja, besser ist es, dass dieser Kampf ausgetragen wird, schließlich können sich immer weniger Menschen die rasant steigenden Wohnkosten in deutschen Großstädten noch leisten. Und die schockierende Studie über Doping in Westdeutschland, so die Schweizer NZZ, sei für die Sportpolitiker aller Parteien zum „Trittbrett“ geworden; der Betrug von Leistungssportlern lasse sich „trefflich instrumentalisieren“. Aber bitteschön: Sollte man nicht froh sein, dass das Thema überhaupt im Bundestag angekommen ist? Was die Blätter hier hervorholen, ist kein leichter Vorwurf. Vollständige Instrumentalisierung, also, jemanden als Mittel zum Zweck zu benutzen, war für Immanuel Kant eine Verletzung der Menschenwürde. Wer also jemanden der Instrumentalisierung bezichtigt, wirft ihm nach Auslegung des Philosophen nichts anderes vor, als das Leitmotiv unserer Gesellschaft – Artikel eins des Grundgesetzes – aufzukündigen. Besonders schlimm ist diese Unterstellung, wenn es nicht nur um abstrakte Themen, sondern um Menschenleben geht. Etwa bei der Frage, wie viele syrische Flüchtlinge Deutschland aufnehmen soll. Bislang sind gerade mal 5000 Betroffene aus der Bürgerkriegsregion angekommen. Dass das nicht reicht, ist klar. Zurecht haben zahlreiche Zeitungen diese Mini-Zahl angeprangert – aber leider nicht, ohne auf den Instrumentalisierungsvorwurf zu verzichten: Die Stuttgarter Zeitung etwa geißelte den „Überbietungswettbewerb“ in der Flüchtlingsfrage – als wenn es schlecht wäre, dass der nicht nach unten, sondern nach oben zeigt – und polterte weiter: „Die demonstrative Gutmenschlichkeit, die dabei zum Ausdruck kommt, folgt dem taktischen Kalkül, vor dem Wähler als ganz besonders hilfsbereit zu erscheinen“, schrieb die Zeitung weiter. „Solche Spielchen verbieten sich angesichts der Schicksale, um die es geht.“ Ach ja? Sollte lieber gar nicht über den Umfang deutscher Hilfeleistung diskutiert werden? Sollte die Politik lieber schweigen, nur weil der Syrienkrieg unverschämterweise in den Wahlkampf fällt? Alles, um sich bloß nicht dem Instrumentalisierungsvorwurf aussetzen zu müssen? Genau so lautete übrigens die Empfehlung der führenden Meinungsforscher: Die SPD solle gar nicht erst versuchen, sich bei diesem Thema abzugrenzen, sie könne dabei nur verlieren, warnte Emnid-Chef Klaus-Peter Schöppner. Zum Glück für die Wähler und die Demokratie haben sich die Parteien nicht daran gehalten. Es ist ein Thema, das wie alle anderen am Sonntag zur Abstimmung steht: Wollen die Menschen, dass Deutschland den vielen teils schwer verletzten, traumatisierten Kindern und Familien Schutz bietet oder nicht? Soll die Bundesregierung auf eine Willkommens- oder eine Abschottungspolitik setzen? Die Wähler, nicht der Parteienstaat, sind der Souverän, und genau deshalb müssen diese wichtigen, grundsätzlichen Fragen im Wahlkampf diskutiert, ja erstritten werden. Kontroversen dürfen aus dem Wahlkampf nicht herausgehalten, sondern müssen dort ausgefochten werden, egal, was die Presse dazu schreibt. Schließlich sind Wahlen das „Hochamt der Demokratie“, wie eine gleichnamige Konferenz in Berlin jüngst betitelt wurde. Hinter dieser Art, der Politik Pauschalvorwürfe zu machen, steckt ein bislang kaum gekanntes Harmoniebedürfnis. Da soll jede Spitze abgetragen, jede Kante geschliffen werden. Streit als Wesensmerkmal der Demokratie wird per se als Machenschaft, als Feldzug in eigener Sache gebrandmarkt. Wenige Tageszeitungen schaffen das mit ähnlicher Aufmerksamkeit wie die Bild. Die gewerkschaftsnahe Otto-Brenner-Stiftung hat in der vergangenen Woche eine Zwischenbilanz einer Studie veröffentlicht, die sich der Wahlkampfberichterstattung des Springer-Blattes widmete. Eine Erkenntnis darin: Der Streit, den Bild und Bild am Sonntag mit Blick auf die Politik und Parteien abbilden, sei eher ein negativ konnotierter, ein auf persönliche Querelen und individuelles Versagen fokussierter. Positiver, weil demokratischer Streit um Themen wie Altersarmut oder Arbeitslosigkeit werde stattdessen überwiegend „politik- und politikerlos“ behandelt. „So wird auf Dauer der Eindruck vermittelt, die demokratisch gewählte Politik kümmert sich um ‚Nebensächliches‘, Bild und BamS hingegen sind die Antreiber, welche die drängenden Themen ansprechen und erklären.“ [[nid:55612]] Die Autoren Hans-Jürgen Arlt und Wolfgang Storz wollen nicht nur herausgefunden haben, dass Bild Angela Merkel „die Aufwartung“ mache und „systematisch negativ“ über die Grünen berichte. Sie werfen dem Blatt sogar vor, sich gegen und über die Politik gleichermaßen zu stellen. Bild nehme „selbst die Rolle des Mahners, Klägers und Volkstribuns ein, der dann ‚der Politik‘ ohne jegliche Differenzierung zwischen Land und Bund, Regierung und Opposition vorhält: ‚Die Politik‘ hat versagt und muss endlich etwas tun.“ Nun könnte man entgegnen: Von einem Boulevardblatt, das Politik allenfalls als spöttisch-unterhaltende Beilage serviert, hat man kaum mehr erwartet. Doch die Bild gilt vielen Redaktionen als Leitmedium; sie gibt nicht nur die Zeile, sondern auch den Ton vor. Sei es bei der Wulff-Berichterstattung oder bei dem Pseudo-Skandal um den Veggie-Day (welcher streng genommen auf einer Falschmeldung beruht, denn die Grünen wollten den Deutschen nie das Fleisch verbieten): Die Medienrepublik ist hinterhergerannt. Indem die Presse die Politik einerseits als unfähig bis dämlich karikiert, ihr andererseits in wirklich ernsthaften Debatten, um die es im Wahlkampf ja eigentlich gehen sollte, Instrumentalisierung vorwirft, trägt sie selbst dazu bei, dass immer mehr Menschen sich vom politischen Prozess verabschieden. Und Nichtwähler fühlen sich in ihrem Weltbild bestätigt. Wenn dieselben Medien dann die Zunahme der Wahlabstinenz beklagen, ist das schlichtweg heuchlerisch. Auf diese Weise beschädigt die Presse die Demokratie, statt sie als vierte Gewalt auf Händen zu tragen.
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Petra Sorge
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Fast ein Drittel der Wahlberechtigten werden am Sonntag wohl zur Grupper der Nichtwähler gehören – das beklagen Presse und Rundfunk dieser Tage lautstark. Dass die Medien für diesen Zustand teilweise selbst verantwortlich sind, wird dabei vergessen
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innenpolitik
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2013-09-19T10:39:52+0200
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2013-09-19T10:39:52+0200
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https://www.cicero.de//innenpolitik/politikverdrossenheit-wie-die-medien-nichtwaehler-heranziehen/55837
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Gauck, Merkel und der Euro – Kreml-Astrologie in Berlin
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Natürlich fehlt es in der Europa-Debatte an triftigen
„Erklärungen“ von Seiten der Kanzlerin. Bundespräsident Joachim
Gauck hat es wahrlich nicht verdient, dass ihm aus einer solchen
Bemerkung ein Strick gedreht und unterstellt wird, er habe die
Kanzlerin kritisiert. Er hat es hilfreich gemeint, dass sie und er
unterschiedliche Rollen haben, die Kanzlerin die ungleich
schwierigere, und er sein Amt so verstehe, wo er könne zur
„Erklärung“ mit beizutragen. Wer Gauck nicht vollends mundtot oder
zu einem Heinrich-Lübke-ähnlichen Präsidenten degradieren will,
sollte ihn eher ermutigen, sich weiter klug dosiert
einzumischen. Aber hier geht es mir in erster Linie gar nicht um Gauck,
sondern um die Kanzlerin und die Frage, was es mit den mangelnden
„Erklärungen“ auf sich hat. Natürlich erläutert sie unermüdlich,
was sie macht. Und trotzdem wird nicht klar, wohin die Reise gehen
soll in Europa – und es soll auch nicht klar werden. Mal deutet
sie kurz an, dass sie nicht einmal ein solches Instrument wie
Eurobonds ausschließt, dann verkündet sie wieder, zu ihren
Lebzeiten werde es die nicht geben. So geht das permanent. Uns
Journalisten und die interessierte Öffentlichkeit zwingt das zu
einer Art Kanzleramtsastrologie, so wie man früher Kremlastrologe
sein musste, um zu erforschen, was hinter den hohen Mauern der
sowjetischen Machtzentrale gedacht und geplant werde. Heute könnte
man in Berlin getrost ähnlich von Kanzleramtsastrologie
sprechen. [gallery:Eine kleine Geschichte des Euro] Da man nicht annähernd offen und ehrlich Auskunft über den Kurs
in Sachen Europa erhält, ja sogar mit der Formel von der „Politik
der kleinen Schritte“ suggeriert wird, es gebe nicht einmal eine
eindeutige und kontinuierlich verfolgte Richtung, bleibt man auf
das Deuten der Sternzeichen am Firmament angewiesen. In der alten,
schönen, langweiligen Demokratie war das irgendwie besser: Da
wusste man in der Regel, dass einer A meint, wenn er A sagt, Helmut
Schmidt beispielsweise, auch Helmut Kohl, oder es war „basta!“
gemeint, wenn einer „basta!“ donnerte wie Gerhard Schröder. Selbst
wenn der Kölner Kanzlerpatriarch Konrad Adenauer als guter Katholik
wissen ließ, als Politiker müsse man mit der Wahrheit „net
pingelig“ sein, konnte man sich irgendwie zuverlässig auf das
Unwahrhaftige einstellen. Vergangene Zeiten! Gäbe es dieses Rätselraten über Berlin und
Angela Merkel nicht, wäre auch der Aufsatz nicht nötig gewesen, den
Ulrich Wilhelm für das Feuilleton der FAZ geschrieben hat. Ein
fulminanter Text, der mit der Losung betitelt war: „Gebt
Souveränität ab!“ Erschienen ist er gerade noch vor der heutigen
öffentlichen Verhandlung des Verfassungsgerichts über die
Eilverfahren, die gegen den Fiskalpakt und den dauerhaften
Rettungsmechanismus unter dem Kürzel ESM angestrengt worden sind.
Man muss dazu wissen, dass Ulrich Wilhelm – inzwischen Intendant
des Bayrischen Rundfunks - von 2005 bis 2010 Sprecher der
Bundesregierung und als einer der wenigen, sehr engen Vertrauten
von Bundeskanzlerin Angela Merkel galt. In Berlin ist es ein
offenes Geheimnis, dass die beiden weiter miteinander in Kontakt
stehen – obwohl Wilhelm viel zu klug ist, um sich je damit zu
illuminieren. Das Frankfurter Blatt hat den Text zudem mit einem
symbolkräftigen Foto versehen, auf dem die beiden, Merkel und
Wilhelm, dem Betrachter den Rücken zukehren und Kopf an Kopf
alleine sinnierend durch das Kanzleramt schlendern. Durch den
Berliner Kreml, sagen wir mal. Lesen Sie weiter, was Ulrich Wilhelm für die Kanzlerin
ausspricht... Was Gauck nicht moniert hat, muss man an dieser Stelle sagen:
Der Kanzlerin mit Vorliebe für das SMS-Format wird mit Recht
vorgehalten, sie spreche in Brüssel anders als vor heimischem
Publikum, wo sie die unnachgiebige Maggie Thatcher abgibt, die all
den südeuropäischen Schulden-Sündern strengste Vorgaben macht und
ganz Europa unter deutsche Haushaltskontrolle stellt. Mit diesem
Doppel-Sprech ist sie aber spätestens an eine Grenze gestoßen, seit
der Italiener Mario Monti, ein ausgebuffter Politikprofi mit
Brüssel-Erfahrung im eleganten „Technokraten“-Anzug, nach dem
jüngsten Euro-Gipfel resümierte, der verehrten deutschen Kollegin
große Kompromisse abgerungen zu haben auf dem Weg zu einer
Haftungsgemeinschaft, von der sie nichts wissen will. Er sah sich
als „Sieger“ – und das war ja nicht falsch. In diese Phase platzt nun der Text von Ulrich Wilhelm, mit dem
offenkundig schon einmal deponiert werden soll, was die Kanzlerin
selber nicht – oder noch nicht – aussprechen möchte. Europa als
Integrationsmodell stehe am Scheideweg, urteilt Wilhelm. In
Regierungen und Unternehmen auf allen Erdteilen werde das offen
ausgesprochen, schreibt er (ohne hinzuzufügen: nur bei uns nicht).
Drei Handlungsoptionen blieben: „Schwerer Missbrauch der
Europäischen Zentralbank (EZB), Scheitern der Währungsunion in
ihrer heutigen Konstellation oder der Weg in die Politische
Union.“ [gallery:Merkel, ihre Männer und die Macht] Seine Präferenz gehört Nummer drei. Europa, fährt er daher fort,
müsse eine „klare Antwort“ finden auf die Frage, die hinter den
Zweifeln an der Überlebensfähigkeit des Euro steht – „ist Europa
eine wirkliche Gemeinschaft?“ „Erst wenn diese Frage beantwortet
ist, werden die Wetten auf den Zerfall der Währungsunion
scheitern.“ Und natürlich plädiert er exakt für diese positive
Antwort. „Viele Regierungen“ wollten das aber nicht einmal
diskutieren, da sie eine solche „wirkliche Gemeinschaft“ bei ihren
Bürgern für nicht durchsetzbar halten. Sie führten nicht einmal die
Diskussion darüber. Dagegen befürwortet er explizit eine politische
Union, die Souveränität auf ein gemeinsames Europa überträgt und
nur so die notwendige gewaltige Solidaritätsleistung stemmen kann.
„Der Versuch, sich durchzulavieren mit punktuellen
Rettungsmaßnahmen“, heißt es dann sogar noch zugespitzt, „ist keine
befriedigende Antwort“. Das meint Merkel, ohne sie beim Namen zu
nennen. In eine ähnliche Richtung hatte jüngst bereits Wolfgang Schäuble
gedacht und davon gesprochen, möglicherweise müsse bald schon in einem Plebiszit
entschieden werden, ob wir bereit seien, bislang nationale
Kernbereiche der Politik an die EU zu übertragen. Im Sinne des
Finanzministers argumentierte zudem auch die Arbeitsministerin und
stellvertretende CDU-Vorsitzende Ursula von der Leyen im Spiegel:
Die Krise lege den Finger in die Wunde, so ihre etwas schräge
Metapher, und diese Wunde sage „bewegt euch!“. Konkret wird sie
dann allerdings nur mit dem Vorschlag, man müsse zugunsten einer
gemeinsamen Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik Kompetenzen an die
Brüsseler Kommission abgeben; das Budget hingegen bleibe eine
nationale Aufgabe, und ein gemeinsamer Finanzminister habe vor
allem darauf zu achten, dass kein Land über seine Verhältnisse
Schulden macht. Lesen Sie weiter, worüber auch in der Sommerpause im
Kanzleramt geschwiegen wird... Das geht über die Kanzlerin zwar andeutend hinaus, aber
orientiert sich an der Grundmelodie, die man auch von Angela Merkel
so oft zu hören bekommt. Man spürt: Viele innerhalb der Regierung
drängen auf eine Art Neustart. Weiter, unmissverständlicher,
konsequenter als Frau von der Leyen und Wolfgang Schäuble hingegen
treibt Ulrich Wilhelm seine Analyse der Gründe, weshalb die Politik
– von Berlin dominiert, was er nicht sagt, aber weiß – letztlich
stecken geblieben ist und die kleinen Schritte nicht reichen. Als
Intendant und Ex-Sprecher ist er natürlich auch freier. Aber selbst
er hütet sich, mit Siebenmeilenstiefeln davonzueilen, er will ja
politisch helfen. Mir scheint sogar, er spielt über Bande: Der
Autor möchte – vermutlich mit Wissen der Zarin (Merkel) hinter den
hohen Mauern – das Unaussprechliche stellvertretend für sie
aussprechen, auch wenn er es noch mit vielen Versatzstücken
garniert, die zur bisherigen Berliner Rhetorik gehörten. Die
Einführung einer Schuldenunion ohne Politische Union dürfe es nicht
geben, eine Gemeinschaftshaftung ohne Kontrolle sei kein
tragfähiges Modell, darauf besteht auch er. Oder er schreibt, man
müsse in „Geber“- und „Nehmerländer“ unterteilen, was den üblichen
Eindruck erweckt, als seien die Deutschen ewig nur Zahlmeister und
nicht in Wahrheit die großen Europa-, Euro- und
schließlich sogar Krisen-Profiteure gewesen. Und dennoch: Mit diesem Plädoyer wird eindeutig eine andere
Europäische Union vorbereitet. Unmissverständlich spricht er aus,
dass die „Idee der Integration“ verteidigenswert sei, auch wenn die
Lasten für einige „Geberländer“ exorbitante Höhen erreichen und die
„Nehmerländer“ schwer durchsetzbare Einsparungen erbringen müssen.
Ein Europa also wird da skizziert, in dem es eine klare
Solidaritätsverpflichtung gibt - in unserem wohlverstandenen
Interesse. Ja, unwidersprochen bleibt nicht einmal die schlichte,
allzu schlichte These aus dem Kanzleramt, die sich
kartoffelkäferartig durch das gesamte öffentliche Meinungsfeld
gefressen hat, allein die mutwillige mediterrane
Verschuldungsmentalität habe in die Krise geführt. Ulrich Wilhelm
dazu lakonisch: „In der Folge der Lehman-Krise Ende 2008
veränderten die Finanzmärkte die bisherige Bewertung der Eurozone
und stellten in ihren Analysen die Ungleichgewichte und die
auseinanderklaffende Wettbewerbsfähigkeit immer mehr in den
Vordergrund.“ Stimmt! Und bis dahin war ihnen die Höhe der
Verschuldung egal, kann man nur hinzufügen. Nur hat es die
vormalige Chefin Wilhelms, die Kanzlerin, nie so artikuliert. [video:Europas Krise - Asiens Hoffnung?] Schon wahr, eine Schwalbe macht noch keinen Sommer: Ein Ulrich
Wilhelm wird nicht erreichen, dass die Kanzlerin – von der
deutschen Mehrheit wegen ihrer Führungsstrenge geschätzt, sogar von
US-Kandidat Mitt Romney bewundert, denn „Solidarität“ schreibt sie
klein und „hilf dir selbst, dann hilft dir Gott!“ groß – sich zu
einer drastischen Kurskorrektur bekennt oder auch nur Ziele und
Wege eindeutig definiert. Sie wird auch nicht einräumen, mit ihrer
Politik in einer Sackgasse gestrandet zu sein. Tatsächlich hat der Autor ihr in der FAZ auf intelligente Weise
zumindest ein Hintertürchen geöffnet und klar gemacht, worum es
hinter den Kanzleramtsmauern auch in der „Sommerpause“ geht, auch
wenn das öffentlich beschwiegen wird. Er kann leichter eingestehen
als sie, dass das Durchlavieren nicht weiterhilft. Mehr noch: Ganz
nebenbei, hat er – auch das über Bande – Horst Seehofer und seine
eigene Partei, die CSU, vor der Versuchung gewarnt, mit
Ressentiments gegen das Fass-ohne-Boden-Europa oder die laxen
Südeuropäer einen populistischen Sarrazin-Wahlkampf zu führen. Ob
mit Erfolg, wird man sehen. Einen Beitrag zur Klärung also hat er
allemal geliefert. Ob hinter den Kremlmauern an der
Willy-Brandt-Straße Nr. 1 in Wilhelms Richtung gedacht wird? Wer
weiß das schon. Noch bleiben wir angewiesen auf Astrologie.
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Mehr Erklärungen hat Joachim Gauck der Kanzlerin empfohlen. Prompt erscheint ein Text von Ulrich Wilhelm, Merkels ehemaligem Regierungssprecher, in der FAZ und skizziert Europa am Scheideweg. Wie es früher beim Moskauer Kreml üblich war, betreibt Ulrich Wilhelm heute Kanzleramtsastrologie
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innenpolitik
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2012-07-10T10:06:00+0200
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2012-07-10T10:06:00+0200
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https://www.cicero.de//innenpolitik/kreml-astrologie-berlin/51181
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SPD - Ein Koalitionsbruch ist auch keine Lösung
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Woche für Woche blicken die Sozialdemokraten derzeit kopfschüttelnd und frustriert auf die Meinungsumfragen. Obwohl sie davon überzeugt sind, dass sie in der Bundesregierung bisher alles richtig gemacht haben, legt die SPD in der Wählergunst nicht zu. Kanzlerin Merkel ist beliebter denn je, die Union mit großem Abstand stärkste Partei. Ein Wahlsieg 2017 und ein sozialdemokratischer Kanzler scheinen unerreichbar. Einmal Juniorpartner, immer Juniorpartner. Je länger die Partei im Stimmungstief verharrt, desto nervöser werden die Genossen. Der Ton in der Großen Koalition wird rauer, weil die SPD glaubt, sich schärfer von der Union abgrenzen zu müssen. In der Partei wird bereits die K-Frage diskutiert. Weil die Kanzlerin als unbesiegbar gilt, glauben manche Genossen gar, das sozialdemokratische Heil in der Flucht nach vorne suchen zu müssen, im Koalitionsbruch und einem rot-rot-grünen Bündnis noch vor der Bundestagswahl 2017. Als Vorbild für eine solche strategische Offensive verwies Cicero-Chefredakteur Christoph Schwennicke auf die FDP und deren Koalitionsbruch im Jahr 1982. Eine „Kannbruchstelle“ nannte Christoph Schwennicke den NSA-Skandal. Koalitionsbruch? Wende? Rot-Rot-Grün? All dies käme einem politischen Selbstmord aus Angst vor einer absehbaren Wahlniederlage gleich. Zudem ist die Gefahr groß, dass die Sozialdemokraten die Grünen mit einem solchen Harakiri-Kurs endgültig in die Arme der Union treiben. Selbst eine absolute Mehrheit für CDU und CSU wäre nicht ausgeschlossen, käme es zu vorgezogenen Neuwahlen. Es bleibt den Sozialdemokraten nicht viel anderes übrig, als zunächst ihre Hausaufgaben zu machen. Die SPD hat derzeit keine alternative Machtoption, sie ist gefangen in der Rolle des Juniorpartners der Großen Koalition. Die Liebe der Wähler lässt sich genauso wenig erzwingen, wie eine sozialdemokratische Kanzlerschaft. Rot-Rot-Grün ist eine Kopfgeburt von Parteifunktionären mit Linksdrall, rechnerisch im Bundestag möglich, aber ohne politisches Fundament und vor allem ohne gesellschaftliche Akzeptanz. Es mag sein, dass sich der NSA-Skandal zu einer Staatsaffäre ausweitet, es mag sein, dass der Innenminister seinen Hut wird nehmen müssen, aber ein sozialdemokratischer Scheidungsgrund lässt sich darin dennoch nicht erkennen. Weder gehört das Thema Bürgerrechte zum sozialdemokratischen Markenkern, noch lässt sich mit der Skandalisierung einer undurchsichtigen Geheimnisaffäre eine sozialdemokratische Identitätskampagne aufbauen. Zudem ist es gar nicht ausgeschlossen, dass auch sozialdemokratische Regierungsmitglieder schon lange von der unheiligen Allianz von NSA und BND gewusst haben, allen voran der Außenminister und ehemalige Kanzleramtschef Frank-Walter Steinmeier. Abwarten, Nerven bewahren, Hausaufgaben machen, mehr wird der SPD bis auf Weiteres nicht übrig bleiben. Ihr Kernproblem ist schließlich, dass die Mehrzahl der Wähler es der Partei weder personell noch programmatisch zutraut, in diesem Land eine politische Führungsrolle ausfüllen zu können. Die Wähler akzeptieren die SPD als Merkels Juniorpartner und als sozialpolitisches Korrektiv der Union. Aber die politische Führung dieses Landes wissen sie bei der Kanzlerin gut aufgehoben, ebenso die Eurorettung, die Lösung der Ukraine-Krise und die Zurückdrängung des islamistischen Terrors im Nahen Osten. Innenpolitisch setzen sie auf Sparen, nicht auf Steuererhöhungen, auf die schwäbische Hausfrau und nicht auf Sigi-Pop. Selbst die Mehrheit der SPD-Wähler würde deshalb bei einer Direktwahl nicht den SPD-Vorsitzenden und Vizekanzler Sigmar Gabriel wählen, sondern Angela Merkel. Schon in der Snowden-Affäre im Sommer 2013 zeigte sich, dass jede Kritik an ihrem unkritischen Umgang mit der NSA und deren flächendeckender Überwachung an ihr abperlt. NSA und BND eignen sich nicht zur Kanzlerinnen-Demontage. Will die SPD wieder einen Kanzler oder eine Kanzlerin stellen, bleibt ihr also nichts anderes übrig, als sich zunächst politisch und personell neu aufzustellen. Sie braucht ein Programm, das in die Mitte ausstrahlt und dass nicht in erster Linie auf Umverteilen und Steuererhöhung setzt. Zudem muss die SPD einen Kanzlerkandidaten mit Machtgen präsentieren und darf anders als 2009 und 2013 keinen aufbieten, der sich vor allem in die Pflicht nehmen lässt. Erst wenn sich die SPD politisch und personell neu formiert hat, ist auch Rot-Rot-Grün kein Schreckgespenst mehr. Erst wenn die SPD wieder selbstbewusst politische Führung zeigt und nicht aus Frust über die Großen Koalition ständig nach links schielt, wird eine SPD-Kanzlerschaft wieder eine realistische Option. 1998 übrigens hat die SPD mitnichten auf Rot-Grün gesetzt. Gerhard Schröder war eine Koalition mit den Grünen suspekt, er strebte stattdessen im Wahlkampf eine Große Koalition unter sozialdemokratischer Führung an. Erst der überwältigende Wahlsieg machte Rot-Grün möglich und erst anschließend wurde die Schröder-Fischer-Regierung zum rot-grünen Projekt erklärt. Der Rest ist Warten auf den richtigen Moment, politisch in die Offensive zu gehen, die Union herauszufordern und die Kanzlerin anzugreifen. Warten darauf, dass CDU und CSU schwächeln und die Wähler beginnen, an Angela Merkel zu zweifeln. Warten auf ein Thema, das einerseits die sozialdemokratischen Stammwähler mobilisiert, aber auch viele Wechselwähler zur SPD zurückkehren lässt. Nur mit viel Geduld und viel Aufbauarbeit wird die SPD irgendwann ins Kanzleramt zurückkehren können. Trotzdem ist es erfolgsversprechender, diesen mühsamen Weg zu gehen, als zur Unzeit die Nerven zu verlieren.
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Christoph Seils
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Die Genossen werden nervös, weil die SPD in der Wählergunst nicht zulegt. Zur Unzeit beginnen sie eine Debatte über den Kanzlerkandidaten und suchen Streit in der Großen Koalition. Dabei sollten sie vor allem die Nerven bewahren
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innenpolitik
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2015-05-04T13:25:41+0200
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2015-05-04T13:25:41+0200
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https://www.cicero.de//innenpolitik/spd-einmal-juniorpartner-immer-juniorpartner/59208
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Frau Fried fragt sich - ... wann der Gute-Mutter-Mythos endlich ausstirbt
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Ich bin eine Egoistische, kaltherzige Rabenmutter, denn ich bin nicht rund um die Uhr für meine Kinder da, sondern übe einen Beruf aus. Ich besitze außerdem die Unverfrorenheit, dies angesichts einer Scheidungsrate von 40 Prozent und des neuen Unterhaltsrechts für vernünftig zu halten und diese Meinung auch noch öffentlich kundzutun. Damit diffamiere ich all die selbstlosen, warmherzigen Mütter, die ihren Kindern zuliebe auf einen Beruf verzichten – in Deutschland immerhin fast 30 Prozent. Dieses Vergehens bezichtigte mich eine Frau während einer Lesung meines neuen Buches, in dem das Thema gestreift wird. Sie stand auf, holte Luft und richtete mich. Der heftigste Kulturkampf in unserem Land tobt zwischen Vollzeit- und berufstätigen Müttern. Alle Waffen sind erlaubt, keine Gefangenen. Es treten an: trutschige Hausfrauen mit sandkastengroßem Horizont, die Fortpflanzung für die einzig wahre Bestimmung halten und parasitär vom Gehalt ihres Mannes leben, gegen ehrgeizige Karriereweiber, die ihre Kinder drei Stunden nach der Geburt in eine Krippe stecken und dort bis zur Volljährigkeit fremdbetreuen lassen, während sie sich rücksichtslos selbst verwirklichen. Die Blauhelme in diesem Krieg sagen: Jede Frau sollte das für sich selbst entscheiden. Ich sage: Rennt doch in euer Unglück, ihr tollen Supermütter. Aber beklagt euch später nicht, wenn die Kinder aus dem Haus sind, euer Mann mit einer Jüngeren durchgegangen ist und die nette Dame in der Arbeitsagentur vor Lachen Schluckauf bekommt, wenn ihr nach einem Job fragt. Wenn euer Rentenbescheid bei ungefähr 70 Euro liegt – so viel könnt ihr nach der Scheidung mit Minijobs nämlich noch erwirtschaften. Ach stimmt, ihr habt ja den Versorgungsausgleich. Vorausgesetzt, ihr wart verheiratet, hattet keinen Ehevertrag und keinen Mann, der vor der Trennung schnell seine Altersversorgung auflöst und eine Immobilie davon erwirbt. Alles schon da gewesen. Vielleicht schießen eure Kinder ja ein bisschen Geld zu, schließlich habt ihr euch jahrelang für sie aufgeopfert. Vielleicht fragen die euch aber auch, warum ihr ihnen ständig gute Schulnoten abverlangt habt, damit sie Chancen im Beruf haben, während ihr als Hausmütterchen all eure beruflichen Chancen verspielt habt. Stirbt dieser verdammte Gute-Mutter-Mythos in diesem Lande denn nie aus? Warum wollen so viele junge Frauen in der gleichen Abhängigkeit leben wie ihre Mütter und Großmütter? Und warum wird als egoistisch und kaltherzig beschimpft, wer sie vor dieser Idiotie bewahren will? ____________________________________________________________
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Amelie Fried
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Sind Frauen, die trotz Kind Karriere machen wollen, Rabenmütter? Und dürfen sich Hausmütterchen, die ihren Kindern gute Schulnoten abverlangen, beschweren, wenn der Nachwuchs sie nicht ernst nimmt? Amelie Fried über den deutschen Gute-Mutter-Mythos
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kultur
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2013-01-18T12:50:37+0100
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2013-01-18T12:50:37+0100
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https://www.cicero.de//kultur/frau-fried-fragt-sich-wann-der-gute-mutter-mythos-endlich-ausstirbt/53172
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Europa – Merkels Fiskalpakt ist am Ende
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Es hört sich immer so einfach an, was die schwarz-gelbe
Koalition zur Überwindung der Eurokrise zu sagen hat. Mit aller
Macht, aber wohlmöglich gegen jede ökonomische Vernunft, hat
Bundeskanzlerin Angela Merkel in den vergangenen zwei Jahren ihren
Fiskalpakt in Europa durchgedrückt und allen anderen Eurostaaten
ein striktes Spardiktat verordnet. Das Prinzip meint auf den ersten Blick auch jeder zu verstehen:
Wer sich in der Vergangenheit zu hoch verschuldet hat, muss jetzt
halt kürzertreten. Stichwort: Schwäbische Hausfrau. Vor allem
innenpolitisch ist dieses Vorgehen für Merkel sehr praktisch: Dem
eigenen Volk erklärt sie, wir hätten unsere Hausaufgaben schon
gemacht, jetzt seien eben die anderen dran. So wird den Deutschen
in der Krise wenig abverlangt. Die Anpassungen müssen die anderen
vornehmen. Wozu das führt, lässt sich gerade in ganz Europa beobachten:
Griechenland spart sich kaputt, Spaniens Wirtschaft hat auch kaum
Chancen sich zu erholen und die Arbeitslosigkeit steigt in
besorgniserregende Höhen. Wahrscheinlich wird sich die von Deutschland propagierte
Sparpolitik ohnehin in Kürze erledigt haben. Mehrere europäische
Regierungen sind schon wegen der Sparexzesse aus dem Amt gewählt
worden, zuletzt scheiterte die niederländische
Minderheitsregierung. Und am Sonntag stehen die Parlamentswahlen in
Griechenland an sowie die Entscheidung, wer die kommenden fünf
Jahre als französischer Staatspräsident im Pariser Elyseepalast
residieren wird. In Athen treten 32 Parteien zur Wahl an. Immerhin 10 davon
werden realistische Chancen eingeräumt, die Dreiprozenthürde zu
überspringen. Sieben davon haben sich im Wahlkampf gegen die von
der EU und dem Internationalen Währungsfonds erzwungenen
Strukturreformen ausgesprochen, zwei streben sogar den Austritt aus
dem Euro an. Bei unklaren Mehrheitsverhältnissen nach der Wahl sind
Diskussionen über einen endgültigen Staatsbankrott daher
vorprogrammiert. In Frankreich verkündet Präsidentschaftskandidat François
Hollande, der bei den letzten Umfragen weiter vor Amtsinhaber
Sarkozy lag, schon seit Wochen, dass man den Fiskalpakt neu
verhandeln oder zumindest um ein Wachstumsprogramm ergänzen
müsse. Lesen Sie auf der nächsten Seite, warum Merkels
Wirtschaftspolitik absurd ist Das Problem des Fiskalpaktes, und das seines Vorgängers dem
Stabilitäts- und Wachstumspaktes, liegt vor allem darin, dass sich
diese Regelungen immer prozyklisch auswirken, also im Moment die
Krise weiter verschärfen. Die sogenannten Maastrichtkriterien, nach denen die jährliche
Neuverschuldung unter 3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts liegen
muss und die Gesamtverschuldung 60 Prozent des BIP nicht
übersteigen darf, hat der ehemalige EU-Kommissionspräsident Romano
Prodi schon vor 10 Jahren als "dumm" bezeichnet, weil sie die
Regierungen in Krisen zwingen, ihre Ausgaben weiter zu kürzen und
ihnen in Boomzeiten erlauben, mehr auszugeben. Das führt in einer
Rezessionsphase fast zwangsläufig zu einer Abwärtsspirale, weil die
nachlassende staatliche Nachfrage dem Wachstum schadet. So werden
dem jeweiligen Staat weitere Kürzungen abverlangt, die wiederum dem
Wachstum schaden. Aus diesem Teufelskreis kommen Griechenland und
Spanien derzeit nicht heraus. Man muss vielleicht nicht so weit gehen wie das Wall Street
Journal, das am Freitag empfahl, Europa möge sich ein Beispiel
nehmen an der Reagan- und Thatcher-Ära, als Steuersenkungen und
Arbeitsmarktreformen den Grundstein für einen jahrzehntelangen Boom
legten. Aber der im Moment eingeschlagene Weg in Euro führt fast
zwangsläufig gegen die Wand. In Berlin haben sie das entweder noch nicht verstanden oder sie
fürchten sich vor den eigenen Wählern. Stattdessen führt ein
liberaler Wirtschaftsminister eine Meldestelle für
Benzinpreiserhöhungen ein, nachdem eine mehrere Jahre dauernde
Untersuchung des Kartellamtes gezeigt hat, das es auf diesem Markt
keine illegalen Preisabsprachen gegeben hat. Gleichzeitig
kritisiert die Bundesregierung ihre britischen Kollegen für deren
Absicht, den britischen Banken höhere Eigenkapitalanforderungen
aufzuerlegen als es Basel III verlangt - absurdere
Wirtschaftspolitik geht nicht.
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In zwei europäischen Ländern wird am Sonntag gewählt. In Griechenland gibt es Parlamentswahlen und in Frankreich wird ein neuer Präsident gesucht. Die schwäbische Hausfrau Angela Merkel könnte in Europa anschließend ziemlich alleine dastehen.
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wirtschaft
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2012-05-05T16:57:29+0200
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2012-05-05T16:57:29+0200
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https://www.cicero.de//wirtschaft/merkels-fiskalpakt-ist-am-ende/49199
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Schuldenkrise – „China wird sich vom US-Dollar lösen“
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Die staatliche chinesische Nachrichtenagentur Xinhua hat die Vereinigten Staaten aufgefordert, endlich den Gürtel enger zu schnallen und die eigenen Strukturprobleme zu lösen. Muss China jetzt vor einem möglichen Zusammenbruch der US-Wirtschaft Angst haben?
Nein, verängstigt sein muss es nicht. Die USA gilt immer noch – und das zu Recht – als sehr solventer Schuldner. Es ist absolut ausgeschlossen, dass die USA pleitegehen. Denn sie haben auch die Möglichkeit, die Schulden über Inflation zu tilgen, im Gegensatz zu Griechenland etwa. China hat ausländische Staatsanleihen in Höhe von 3.200 Milliarden Dollar, rund 70 Prozent davon in der US-Währung. Damit hält die Volksrepublik rund acht Prozent der amerikanischen Schulden.
Ja, China ist größter Einzelhalter von US-Staatsanleihen und leidet somit unter dem massiven Absturz ihres Marktpreises. Das ist zunächst verbunden mit virtuellen Vermögensverlusten. Doch solange diese Vermögensverluste nicht realisiert werden – weil die chinesische Zentralbank auf den Papieren sitzen bleibt – spielt das keine Rolle. Problematisch wird es dann, wenn China versuchen würde, diese Staatsanleihen am Markt zu verkaufen. Das ist aber bisher nicht absehbar. Warum nicht?
Die chinesische Zentralbank hat die Staatsanleihen ja gekauft, um die Wechselkurse zwischen der eigenen und der amerikanischen Währung zu stabilisieren. Sie interveniert in den Devisenmarkt und schafft damit eine künstliche Nachfrage nach dem Dollar. Das hält die US-Währung so relativ hoch. Wenn sie nicht eine schnelle Aufwertung des Yuan riskieren möchte, müsste sich die chinesische Zentralbank beim Verkauf amerikanischer Staatsanleihen ohnehin etwas zurückhalten. Nun hat die Ratingagentur Standard&Poor‘s aber in Bezug auf die Kreditwürdigkeit der USA den Daumen gesenkt. Was bedeutet das für China?
Durch die Herabstufung fließt weniger Kapital in die USA. Das dürfte den US-Dollar weiter belasten. Für die chinesische Zentralbank ergibt sich dadurch der Zwang, noch mehr Dollar-notierte Staatsanleihen aufzukaufen, um die Währung stabil zu halten.
Um das zu finanzieren, müsste China die Geldmenge erhöhen – sozusagen neues Geld schaffen, mit dem es dann weitere US-Papiere kauft. Das würde aber Inflation im Inland bedeuten. Da die Inflationsraten in den letzten Monaten schon relativ deutlich gestiegen sind, sind die Spielräume gering. Deshalb ist das wahrscheinlich auch keine Option. Ist auch in den USA zu erwarten, dass die Gelddruckmaschine angeworfen wird – diesmal, um die eigenen Schulden zu drücken?
Es ist sehr realistisch, dass die US-Zentralbank Federal Reserve über die nächsten Jahre eine etwas erhöhte Inflationsrate zulässt. Damit entwertet sie die hohen staatlichen und privaten Schulden und erleichtert deren Rückzahlung. Durch die hohen Inflationsraten würde allerdings auf den internationalen Märkten der Leitstatus der amerikanischen Währung infrage gestellt. Damit wäre es auch für China weniger interessant, in Dollar zu investieren.
Ich glaube, dass China sich von der engen Bindung an den US-Dollar verabschiedet und stärker auf ein multipolares Währungssystem einstellt. Das hieße, dass China sein Portfolio etwas verschieben würde, von Dollar-notierten Wertpapieren hin zum Euro, zu Schweizer Franken oder zu Rohstoffen. Die Herabstufung der US-Bonität dürfte diesen Prozess etwas beschleunigen. Hinzu kommt die negative Handelsbilanz der USA gegenüber China. Im vergangenen Jahr betrug das Defizit 273 Milliarden US-Dollar.
Der schwächere Dollar – den man wohl erwarten kann nach den jüngsten Entwicklungen – wird wohl das Außenhandelsdefizit der USA eher verkleinern. Das wird auch zu Lasten Chinas gehen, weil die USA nicht mehr so stark aus China importieren werden. Das setzt allerdings voraus, dass der Yuan zum US-Dollar ein bisschen aufwerten kann. Da sind erste Schritte ja bereits getan, die chinesische Zentralbank hat schon leichte Aufwertungen zugelassen. Dadurch dürfte das Ungleichgewicht etwas zurückgehen, das Außenhandelsdefizit der USA also sinken. Das ist allerdings ein sehr, sehr langsamer Prozess. Bislang haben die USA China ja immer vorgeworfen, die Währung künstlich niedrig zu halten. Wird sich das denn nun umdrehen?
Im Prinzip ist es noch der gleiche Streit. Jetzt ist die USA in der günstigeren Situation, da der Dollar von alleine schwach notiert. In der Vergangenheit war es so, dass der Yuan künstlich niedrig gehalten wurde. Aber je höher die US-Schulden, desto schwieriger wird es für die chinesische Notenbank, den Wechselkurs einigermaßen stabil zu halten. Insofern hat die chinesische Regierung schon ein Interesse an einer soliden Finanzpolitik in den USA. Was würde all das für uns in Deutschland bedeuten?
Wenn China sich weniger am US-Dollar orientiert und mehr an stabileren Währungen, etwa am Euro, dann dürfte das zu verstärkten Kapitalflüssen nach Europa und damit einer Aufwertung des Euro führen. Diese könnte in Deutschland zu einer leichten Dämpfung der Exporte führen. Das ist aber für die deutschen Konsumenten nicht unbedingt ein Problem, weil wir gleichzeitig billiger von den Weltmärkten importieren können. Im Rahmen der Turbulenzen an den Finanzmärkten mussten auch Chinas Börsen in den vergangenen Tagen herbe Verluste einstecken. Reagieren die Märkte damit nur auf die Entwicklungen in den USA und in Europa?
Im Moment beobachten wir an den Börsen eine sehr, sehr große Verunsicherung, ja teilweise panisches Herdenverhalten. In der Finanzkrise – also in den vergangenen drei Jahren – haben die Kapitalmärkte gelernt, Risiken neu einzuschätzen und bewerten Unsicherheiten nun kritischer als in der Zeit vor der Krise. Und die Märkte sehen auch in China Risiken. Die Immobilienmärkte sind stark überhitzt, da gibt es eine blasenähnliche Entwicklung. In einem Umfeld destabilisierter Finanzmärkte kann es leichter dazu kommen, dass solche Blasen platzen. Die Markteinbrüche in China haben also durchaus auch inländische Ursachen. Herr Fichtner, vielen Dank für das Gespräch. Das Interview führte Petra Sorge.
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Unter der massiven Schuldenkrise in den USA leidet auch der größte Gläubiger des Landes, China. Die Volksrepublik werde sich langfristig von der engen Bindung an den US-Dollar verabschieden, sagt der Makroökonom Ferdinand Fichtner vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung Berlin im Interview mit CICERO ONLINE.
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wirtschaft
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2011-08-10T12:14:51+0200
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2011-08-10T12:14:51+0200
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https://www.cicero.de//wirtschaft/finanzmaerkte-china-leidet-usa-schuldenkrise-42581
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Harald Martenstein im Gespräch mit Michael Sommer und Axel Meyer - „Heilige sind selten“
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Seit seiner vor zwanzig Jahren gestarteten Kolumne für die Wochenzeitung Die Zeit gehört Harald Martenstein zu den wichtigsten Kolumnisten Deutschlands. 1953 in Mainz geboren, arbeitete er nach dem Abitur zunächst für einige Monate in einem Kibbuz, bevor er Romanistik und Germanistik in Freiburg studierte. Obwohl er in den siebziger Jahren sogar für kurze Zeit Mitglied der DKP gewesen ist, rettet ihn diese linke Vergangenheit nicht davor, von heutigen Linken als „weißer alter Mann" abgestempelt zu werden. Zu spüren bekam Harald Martenstein das spätestens im Februar 2022, als sich die Chefredaktion des Berliner Tagesspiegels dazu entschloss, eine seiner wöchentlich erscheinenden politischen Kolumnen zu löschen. Martenstein zog Konsequenzen: „Ich bin nicht gecancelt worden", sagt der Schriftsteller und Journalist heute. „Ich bin beim Tagesspiegel von mir aus ausgestiegen.“ Die Folge: Schon einen Monat später erschien seine wöchentliche Kolumne in der Welt am Sonntag unter dem Titel „Neben der Spur“. Im Cicero Podcast Wissenschaft blickt Harald Martenstein nun noch einmal auf die Ereignisse des zurückliegeden Jahres zurück. Zudem spricht er mit den beiden Gastgebern Axel Meyer und Michael Sommer über Wokeness, auslaufende Aquarien und die Frage, ob Mann und Frau zwei überkommene Kategorien in einem Multiversum der Geschlechter sind. Martenstein hat auf dieses Problem eine bestechende Antwort: „Spezi ist ein Mischgetränk aus Fanta und Cola. Das heißt aber nicht, dass es Fanta und Cola nicht gibt.“ Ein typischer Martenstein eben, wie er in diesem am 18.12.2022 aufgezeichneten Gespräch noch häufiger vorkommt. Sie können den Podcast jetzt hier – klicken Sie dazu „Inhalte aktivieren“ – hören, oder auch auf allen Podcast-Portalen. Sie sind interessiert an weiteren Themen und noch kein Abonnent von Cicero Plus? Testen Sie uns, gratis für 30 Tage. Mehr Podcast-Episoden:
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Cicero-Redaktion
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Im Cicero Wissenschaft Podcast sprechen Axel Meyer und Michael Sommer mit dem Kolumnisten Harald Martenstein. Ein pointierter Austausch über kulturelle Aneignung, auslaufende Aquarien und die Unterschiede zwischen Männern und Frauen.
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[
"Wissenschaft",
"Journalismus",
"Harald Martenstein",
"Podcast",
"Interview"
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2022-12-22T10:56:58+0100
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2022-12-22T10:56:58+0100
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https://www.cicero.de//kultur/harald-martenstein-interview-wissenschaft-podcast-medien
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SPD-Rentenkonzept – Sind die Sozis wieder auf Linie?
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Nur zwei Gegenstimmen und eine Enthaltung im SPD-Vorstand – das klingt nach dicker Rückendeckung für Sigmar Gabriel und sein Rentenkonzept. Allerdings hatte der Parteivorsitzende seine Pläne zur Bekämpfung von Altersarmut mit Blick auf die internen Kritiker vorsorglich nochmals nachgebessert. Und um den eigentlichen Knackpunkt haben sich die Genossen bei ihrer fast vierstündigen Sitzung am Montag herumgedrückt: Über die Höhe des künftigen Rentenniveaus soll nun erst bei einem kleinen Parteitag am 24. November entschieden werden. An dieser Kernfrage jedoch scheiden sich in der SPD nach wie vor die Geister. Gabriel hat klargestellt, dass er den unter Rot-Grün gefassten Beschluss, das Rentenniveau bis zum Jahr 2030 schrittweise von derzeit knapp 51 Prozent auf 43 Prozent des vormaligen Durchschnittseinkommens herunterzufahren, nicht wieder rückgängig machen will. Er bleibt damit auf der Linie der anderen beiden Troikaner, Frank-Walter Steinmeier und Peer Steinbrück – die eine solche Kehrtwende ohne herben Gesichtsverlust nicht hinbekämen. Die SPD-Linke, die Jusos und auch viele SPD-Bezirke dagegen pochen auf eine Revision. Wenn man bei den 43 Prozent bleibe, gerieten auch die Bezieher mittlerer Einkommen im Alter an die Armutsgrenze, argumentieren sie. Man brauche „keinen Rentenbeschluss, der den zukünftigen Kanzlerkandidaten zufriedenstellt, sondern einen, der die Zustimmung für die Sozialdemokraten erhöht“, sagt die Parteilinke Hilde Mattheis. An dieser Haltung änderten auch die Nachbesserungen des Parteichefs nichts – obwohl sie von den Kritikern durchaus goutiert wurden. So sollen Beschäftigte nun auch vor dem 65. Lebensjahr abschlagsfrei in Rente gehen können, wenn sie auf 45 Versicherungsjahre kommen. Dazu zählen auch Zeiten von Ausbildung, Krankheit oder Schwangerschaft. Mit diesem Vorstoß bekommt Gabriel womöglich endlich und ganz elegant den Ärger mit den Gewerkschaften über die Rente mit 67 vom Tisch. Denn wer nicht so lange durchhält, weil er schon früh mit Arbeiten begonnen hat, muss dann trotz vorgezogener Rente keine Abzüge mehr fürchten. „Damit verliert der Alptraum Rente mit 67 für viele ihren Schrecken“, freut sich der Chef der IG Bauen-Agrar- Umwelt, Klaus Wiesehügel. Arbeitgeberpräsident Dieter Hundt dagegen nennt die „Teilabkehr von der Rente mit 67“ einen kapitalen Fehler. Die SPD-Pläne liefen darauf hinaus, „dass jeder zweite Mann von der Rente mit 67 ausgenommen würde“, warnt er. Von der Neuregelung könnten 200 000 Beschäftigte profitieren, heißt es bei der SPD. Die dafür nötigen 5,4 Milliarden Euro sollen aus der Rentenkasse kommen – und zwar durch den Verzicht auf kurzzeitige Beitragssenkungen. Nach DGB-Rechnungen, auf die sich der SPD-Vorstand ausdrücklich bezog, wäre so die festgelegte Beitragsobergrenze von 22 Prozent bis 2030 immer noch zu halten. Neu ist auch die Absicht, Arbeitgeber stärker für Erwerbsminderungsrenten heranzuziehen. Geprüft werden soll ein „Bonus-Malus-System“, wonach Firmen, die wenig Ältere beschäftigen, höhere Beiträge zahlen müssten, Unternehmen mit vielen altengerechten Jobs dagegen entlastet würden. Und an den Kosten für den Ausbau betrieblicher Altersversorgung seien die Arbeitgeber ebenfalls „angemessen“ zu beteiligen, heißt es nun im Konzept. So wurde denn auch der Rest gebilligt. Arbeitnehmer mit 30 Beitrags- und 40 Versicherungsjahren sollen eine „Solidarrente“ von 850 Euro aus Steuern erhalten. Zudem ist eine Teilrente ab 60, leichterer Zugang zu Erwerbsminderungsrenten und die massive Förderung betrieblicher Altersversorgung vorgesehen. Offen dagegen ist, ob und wie die SPD in vier Wochen den versprochenen „Kompromiss“ zum Rentenniveau hinbekommt. Die Frage, wie sich eine Angleichung der Ostrenten auf Westniveau bewerkstelligen lässt, hat sie gleich auf die nächste Wahlperiode vertagt.
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In ihrer Haltung zur Rente war die SPD bisher zerstritten. Jetzt hat der Vorstand einen Entwurf von Parteichef Sigmar Gabriel beschlossen. Stehen die Sozialdemokraten wieder hinter ihm?
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innenpolitik
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2012-09-25T09:01:17+0200
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2012-09-25T09:01:17+0200
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https://www.cicero.de//innenpolitik/spd-gabriel-rentenkonzept-sind-die-sozis-wieder-auf-linie/51976
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lesen,hören,sehen: journal – Heimat ist auch nur ein Gefühl
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Gloria Bohème – was
für eine Frau! Stark ist sie wie ein Baum, die einzige Tochter des
alten Vassili, der die schönste Obstplantage im ganzen Kaukasus
besessen hat. Von ihren Hustenanfällen soll man sich nur nicht
täuschen lassen: Sie ist einfach nicht kleinzukriegen, und sie
weiß, dass man sich manchmal eben Geschichten ausdenken muss, damit
das Leben erträglich bleibt. Sie weiß überhaupt immer einen Weg,
und wird ihr junger Begleiter Koumaïl einmal von Verzweiflung
befallen, kitzelt sie die einfach weg.
Dabei gibt es gute Gründe zu verzweifeln in Anne-Laure Bondoux’
Jugendroman «Die Zeit der Wunder», schließlich hat der Krieg im
Kaukasus Anfang der neunziger Jahre die beiden zu Flüchtlingen
gemacht, schließlich müssen sie wieder und wieder ihre wenigen
Habseligkeiten zusammenraffen und weiterziehen, von der Ruine in
die Wellblechsiedlung, von dort mit einigem Glück nach Suchumi am
Schwarzen Meer, dann weiter westwärts; schließlich wollen die
beiden nach Frankreich. Koumaïl, das weiß er von Gloria, ist
nämlich eigentlich Franzose, er heißt mit richtigem Namen Blaise
Fortune, und Gloria hat ihn als Baby nach einem Eisenbahnunglück
unweit der väterlichen Plantage aus dem brennenden Waggon gerettet.
Als Koumaïl es schließlich bis nach Frankreich geschafft hat, ist
er zwölf Jahre alt. Er wird bei einer Kontrolle hinten in einem
Schweinetransporter gefunden. Und von seiner Beschützerin, die er
vorne beim Fahrer gewähnt hatte, fehlt jede Spur. Gloria Bohème, was für ein Name! Das klingt doch völlig aus der
Luft gegriffen, wie erfunden, ndet der Übersetzer Modeste
Koulevitch, den Koumaïl in einem Erstaufnahme-Zentrum kennenlernt.
Und die Lebensgeschichte des jungen Blaise Fortune gleich dazu.
Aber Koumaïl hat nur einen schlecht gefälschten Reisepass und diese
eine Wahrheit, also bleibt er dabei, und dank der
Kinderrechts-Konvention wird sie schließlich mangels einer
glaubwürdigeren anerkannt. Koumaïl bleibt bei seiner Wahrheit, bis
er Gloria schließlich als junger Mann wiederndet, in einem
Krankenhaus in Tiflis, und sie ihm kurz vor dem Tod gesteht, dass
sie für ihn diese Lebensgeschichte erfunden hat, damit das Leben
erträglich bleibt. Damit Koumaïl an ihren Weg glauben konnte. Und
vielleicht auch, damit er, auf sich allein gestellt, in Frankreich
mit seinem unerschütterlichen Glauben an seine seltsame Geschichte
eine Chance hat. Es ist wirklich eine seltsame Geschichte, die
Anne-Laure Bondoux ihren Lesern ab zwölf Jahren erzählt: Bei aller
Härte regelrecht folkloristisch, vor allem in den Erzählungen
Glorias, aber auch sonst zuweilen so malerisch, dass nur ihre
Doppelbödigkeit, ihr Vertrauen in die Kraft des
Geschichten-Erzählens das Buch vom Kitsch frei hält. Ganz anders Janne Teller: Nach «Nichts», ihrer in deutscher
Übersetzung erst im vergangenen Jahr veröffentlichten
bemerkenswerten Parallelführung von kindlichem Nihilismus und
kindlicher Entschlossenheit, ist jetzt «Krieg» bei uns erschienen,
ein schmales Bändchen von der Größe und in der Aufmachung eines
Reisepasses – ein Bändchen, das es in sich hat. Wieder zeigt sich
Janne Teller in diesem Buch als Meisterin der suggestiven
Reduktion. Sie beschreibt die Lebensoptionen eines vom Krieg
überzogenen Landes nach dem Zusammenbruch der Europäischen Union,
kühl, distanziert, unsinnlich und skizzenhaft. Doch äußerst
eindrucksvoll: Ihren vor zehn Jahren entstandenen Text hat die
dänische Autorin eigens in ein für Deutschland plausibles Szenario
umgeschrieben. Und: Sie duzt den Leser, nimmt ihn ein, macht ihn
zur Hauptgur in ihrem Gedankenspiel. In dem eine Familie von Glück
sagen kann, aus dem verheerten Land nach Ägypten fliehen und dort
bleiben zu dürfen. Auch wenn sie beargwöhnt wird, auch wenn den
Lebenswegen der drei Kinder hier enge Grenzen gesetzt sind. Auch
wenn das Heimweh an ihr zehrt, nach einem Land, das es so nicht
mehr gibt. All dies hält die
dänische Autorin in der Schwebe, in einer kunstvoll durchgehaltenen
Distanz, die dem Leser ab zwölf Jahren einerseits Einfühlung
ermöglicht. Andererseits wird er in der Ablehnung und den
Vorurteilen, die der deutschen Familie in Nordafrika
entgegengebracht werden, leicht die Kehrseite des hierzulande
verbreiteten Umgangs mit Migranten erkennen können. Die
Illustrationen von Helle Vibeke Jensen mit ihren seriellen
Elementen verdeutlichen zudem, dass ein solches Schicksal alles
Mögliche ist – brutal, erbärmlich, unvorstellbar. Nur kein
Einzelfall. Ein Mädchen, etwa sieben Jahre alt, steht in dickem Mantel vor
den Trümmern eines Hauses. Sie balanciert ein paar Bretter in ihren
Armen, Brennholz wohl, das sie aus der Ruine geborgen hat. Der
Leipziger Karl Heinz Mai hat sie in den Nachkriegsjahren
fotografiert, und der Autor Herbert Günther hat sie «Sammel-Sophie»
genannt. Nach der Idee von Franziska Neubert hat Günther, 1947
geboren, zu über hundert Kinderaufnahmen aus dem Nachlass des 1964
verstorbenen Fotografen kleine Geschichten geschrieben und sie lose
miteinander verknüpft. Sie sind leicht im Ton, anekdotisch, in
ihnen schwingt die Selbstverständlichkeit kindlicher Wahrnehmung
mit, auch wenn es um Kriegsversehrte oder -waisen geht, um den
Schwarzmarkt, Mundraub oder Kohlenklau, das Spiel in den Trümmern
oder die Arbeit der Trümmerfrauen. Und ebenso um das Staunen über
die eigene Erinnerung. Dabei sind die Texte erfunden. Das ländliche Idyll bei den
Großeltern in Bockeloh ist ebenso ktiv wie die Henriettenstraße,
die den Rahmen für die meisten Stadtgeschichten abgibt. Und es sind
wundervolle Erndungen, mit genauem Blick den Fotos aufs Detail
nachgedichtet – mit einem Blick, dem auch die beiden Mädchenröcke
nicht entgehen, die hinter den Jungen beim Ringelreihen
hervorlugen, oder die Doppeldeutigkeit einer kleinkindlichen Geste
neben der Großmutter auf der Parkbank: Es könnte ein Augenreiben
oder sogar Weinen sein. Oder sieht die Kleine der Alten doch nur
kess in die Manteltasche? Es sind rührende Bilder aus einer rauen Zeit, die dieses Buch
versammelt. Ein Schatten liegt über ihnen, dem die fotografierten
Kinder allerdings oft ihr unverstelltes Strahlen entgegensetzen.
Und es sind kleine Anstiftungen in Bild und Wort für alle, die mit
eigenen Kindheitserinnerungen aus den Nachkriegsjahren die
Geschichten aus dem Buch aufgreifen, ergänzen, weitererzählen
könnten. Sie sollten es tun. Anne-Laure Bondoux
Die Zeit der Wunder
Aus dem Französischen von Maja von Vogel.
Carlsen, Hamburg 2011. 192 S., 12,90 €
Janne Teller
Krieg. Stell dir vor, er wäre hier
Aus dem Dänischen von Sigrid Engeler.
Illustrationen von Helle Vibeke Jensen.
Hanser, München 2011. 64 S., 6,90 €
Herbert Günther
und Karl Heinz Mai
Wir Kinder von früher.
Bilder und Geschichten aus
einer anderen Zeit
Klett Kinderbuch, Leipzig 2011. 128 S., 19,90 €
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In weiter Ferne, so nah: Anne-Laure Bondoux, Janne Teller und Herbert Günther erzählen vom Krieg und seinen Folgen
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kultur
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2011-06-16T15:14:08+0200
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2011-06-16T15:14:08+0200
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https://www.cicero.de//kultur/heimat-ist-auch-nur-ein-gefuehl/47435
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SWR-Entscheidung - AfD ins Fernsehen, wohin denn sonst?
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Zur Demokratie gehören unabhängige Medien und der Meinungsstreit als öffentlicher Diskurs. Und zur Demokratie gehört der Parteienwettbewerb. Alle vier oder fünf Jahre legitimiert der Souverän, das Volk, das politische Handeln der Parteien in Parlamenten und Regierungen. Der Gang zur Wahlurne ist, wenn man so will, das Hochamt der Demokratie. Schlimm genug, dass sich schon bald jeder zweite wahlberechtigte Deutsche diesem Hochamt verweigert. Man muss die AfD nicht mögen. In einer Demokratie darf man ihr Reden und Handeln sogar für verwerflich halten und man darf es öffentlich sagen. Ein paar Argumente wären nicht schlecht, denn die Empörungsgeste als solche verschafft zwar dem Empörten ein gutes Gefühl sowie den Beifall der eigenen Anhänger. Aber die Empörung als solche hält den Schwankenden und den Suchenden nicht davon ab, sein Kreuz bei der von den etablierten Parteien verfemten Konkurrenz zu machen. Die Weigerung des baden-württembergischen Ministerpräsidenten und der rheinland-pfälzischen Ministerpräsidentin, im Fernsehen vor den Landtagswahlen am 13. März im Fernsehen mit den Spitzenkandidaten der AfD zu diskutieren, ist an sich schon töricht. Verheerend ist es, dass sich der SWR dieser Erpressung beugt. Man kann über die Motive von Winfried Kretschmann und Malu Dreyer trefflich spekulieren. Trauen sie ihren Argumenten nicht? Fürchten sie die Verunsicherung der eigenen Anhänger? Oder haben sie Angst, dass ihnen die Protestpolitiker vom rechten Rand im Fernsehstudio die Show stehlen? In jedem Fall müssen die Wahlkampfzentralen von Grünen und SPD zu der Einschätzung gekommen sein, dass es ihnen mehr schadet als nützt, wenn sie sich mit der AfD an einen Tisch setzen. Ob dieses Kalkül aufgeht, daran darf man seine Zweifel haben. Zumal die AfD sich jetzt mal wieder als Märtyrer feiern kann. Dass sich ein öffentlich-rechtlicher Fernsehsender dem Verdacht aussetzt, diesem Kalkül gefolgt zu sein und alle Vorurteile bestätigt, er sei letztendlich doch ein Staatsfunk, dieser Eindruck ist verheerend. Der SWR hat sich, dem öffentlichen Diskurs und der Parteiendemokratie mit seiner Entscheidung, die Vertreter der AfD aus den Diskussionsrunden vor der Wahl auszuladen, einen Bärendienst erwiesen. Nicht den Parteien ist der öffentlich-rechtliche Sender schließlich verpflichtet, sondern letztendlich dem Souverän. Verlogen ist die Entscheidung außerdem, denn wenn es nicht um die gepflegte Vorstellung der Wahlkampfprogramme geht, sondern in den krawalligen Talkshows um die Quote, dann sind AfD-Vertreter immer willkommen. Allzu viel Aufmerksamkeit sollte man dem SWR-Beschluss allerdings nicht zuteilwerden lassen. Nur eine kleine Zahl von Wählern macht davon seine Wahlentscheidung abhängig. Und die Umfrageerfolge der AfD zeigen schließlich, dass das Parteiensystem in Deutschland funktioniert. Die Unzufriedenen wenden sich einer neuen Partei zu: Das ist ein völlig normaler Vorgang. Umso mehr, als dieses Land in der Flüchtlingskrise verunsichert und tief gespalten ist. So tief, wie vielleicht seit 1968 nicht mehr. Flüchtlinge und Einwanderer verändern dieses Land, das eröffnet Chancen und schürt Konflikte. Auch deshalb gehört die Auseinandersetzung mit den Parolen der AfD und den Ängsten ihrer Anhänger ins Fernsehen, wohin denn sonst? Selbst in der CDU zeigt sich dieser tiefe Riss. Angela Merkel steht in den eigenen Reihen unter Beschuss. Die Schwesterpartei CSU hat sich bereits entschlossen, bei ihren Querschüssen in der Großen Koalition auf ihre Bundeskanzlerin keine Rücksicht mehr zu nehmen. Es ist kein Gerücht, dass es die Christsozialen auch deshalb tun, weil sie befürchten, dass sich rechts von ihnen und der CDU politische Konkurrenz breitmacht. Dass neue Parteien in politisch und gesellschaftlich zugespitzten Zeiten Zulauf bekommen, erlebt dieses Land nicht zum ersten Mal. Auch nicht, dass Protest dabei ein zentrales Motiv der Wähler ist und sich die Kompetenz des neuen politischen Personals in Grenzen hält. Die sinkende Zustimmung erhöht zugleich den Druck auf die etablierten Parteien, sie müssen reagieren. Und natürlich ist dies manchmal gar nicht so einfach. Es ist immer eine Abwägungsfrage. Denn was zum Beispiel die CDU am rechten Rand gewinnen könnte, wenn sie mit konservativen und nationalistischen Parolen auf die AfD zugeht, könnte sie zugleich in der Mitte wieder verlieren, sogar ein Vielfaches. Denn dort wird noch immer Problemlösungskompetenz gewählt. Auch die SPD-Wählerbasis ist gespalten. Die CSU hat zuletzt im Europawahlkampf die Erfahrung machen müssen, dass es ihr nicht nützt, sondern schadet, wenn sie die rechtspopulistischen Parolen der AfD nachbetet. Wählermobilisierung wird da zum Spagat. Und manchmal misslingt der Spagat. Dann wird aus Protestparteien etablierte Konkurrenz im eigenen Lager. Die SPD hat diese Erfahrung zweimal machen müssen, beim Aufstieg der Grünen und beim Überleben der SED, erst als PDS und jetzt als Linkspartei. Es ist nicht ausgeschlossen, dass CDU und CSU in den kommenden Jahren mit der AfD Ähnliches erleben werden. Den Politikern von CDU, CSU, SPD und Linken mag es nicht gefallen, wenn ihre Wähler zur AfD abwandern (die Grünen verlieren kaum Wähler an die AfD), aber zur Demokratie gehören Protestparteien wie die AfD dazu. Das Parteiensystem atmet und wenn in Berlin eine Große Koalition regiert, atmet es besonders intensiv. Dann werden die Parteien an den Rändern noch einmal zusätzlich gestärkt. Es ist besser, die Unzufriedenen wählen AfD, als dass sie am Wahltag zuhause bleiben und sich ganz von der Demokratie abwenden. Natürlich nerven die AfD-Leute, das tun im Fernsehen viele, auch viele Politiker, ohne dass ihnen der Saft abgedreht würde. Natürlich machen sie Stimmung und haben keine Antworten. Außer: Früher war alles besser. Natürlich provozieren und hetzen AfD-Politiker, das gehört zum Geschäftsmodell einer Protestpartei auf dem Wählermarkt. Wenn Frauke Petry, Alexander Gauland oder Björn Höcke genauso salbungsvoll daherreden würden wie Winfried Kretschmann und Malu Dreyer, dann würde sie ja keiner wahrnehmen. Aber solche Stimmungsmache, solche Provokationen und solche Hetze muss eine Demokratie aushalten und das tut sie auch. Der SWR hätte sie auch ausgehalten.
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Christoph Seils
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Mit seiner Entscheidung, die Vertreter der Alternative für Deutschland auszuladen, hat der SWR dem öffentlichen Diskurs einen Bärendienst erwiesen. Eine Demokratie muss Hetze aushalten
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innenpolitik
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2016-01-20T14:45:03+0100
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2016-01-20T14:45:03+0100
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https://www.cicero.de//innenpolitik/demokratie-afd-ins-fernsehen-wohin-denn-sonst/60391
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Republikaner Boehner - Der Gegner ist nicht Obama, sondern die eigene Partei
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Amerikas Konservative ähneln Tantalos. Jenem König aus der
griechischen Mythologie, den die Götter für seine Freveltaten damit
bestraften, dass er bis in alle Ewigkeit in einem Teich unter einem
Obstbaum stehen musste, ohne je das Wasser trinken zu können oder
an die Früchte zu gelangen. Beinahe so ergeht es den Republikanern
im Jahr 2013. Obwohl sie Barack Obama als Sozialisten und
Bolschewiken verunglimpften, der mit seinen Steuer- und
Krankenversicherungsplänen Amerika zerstöre, und obwohl sie die
Mehrheit im Repräsentantenhaus stellen, haben es die Tantalos
unserer Zeit nicht vermocht, den Mann aus dem Weißen Haus zu
vertreiben. Im Gegenteil. Obama, der mächtigste und gerissenste
Präsident seit Ronald Reagan, treibt die Republikaner vor sich her.
Die USA erleben eine Haushaltskrise, und die Republikaner erwartet
dabei ein Debakel. Einer aber könnte vielleicht doch noch die Partei vor den
extremen Rechten in den eigenen Reihen retten und zu einer gewissen
Normalität zurückführen: John Boehner. Seit das Repräsentantenhaus
die einzige Staatsgewalt ist, die noch von den Republikanern
kontrolliert wird, ist dessen Sprecher zu Obamas großem
Gegenspieler geworden. Und die Republikaner können heilfroh sein,
ihn zu haben. Blickt man in Boehners Vergangenheit, würde man ihn als
stockkonservativ bezeichnen. Im Vorfeld der
Kongresswahlen 1994 war er am Entwurf für den „Contract with
America“ beteiligt, der dem Hitzkopf Newt Gingrich die Kontrolle
über das Repräsentantenhaus verschaffte. 1995 verteilte Boehner in
den Parlamentsfluren Wahlkampfspenden der Tabaklobby an die
Abgeordneten – was er heute, wie er versichert, zutiefst
bereut. Es ist wie mit allen Revolutionären, die lange genug an der
Macht sind, auch Boehner ist inzwischen Teil des Establishments
geworden. Im Vergleich mit den jungen Konservativen heute, die ihn
beständig attackieren, weil er bereit ist, Kompromisse mit dem
Präsidenten einzugehen, wirkt Boehner geradezu gemäßigt. Boehner ist in Ohio als eines von zwölf Geschwistern
aufgewachsen, eine katholische Familie mit deutschen Vorfahren.
Bereits als Achtjähriger half John, die Kneipe zu putzen, die seine
Eltern in Cincinnati betrieben. Er ist kein asketischer Fanatiker, sondern genießt das Leben,
raucht, liebt Rotwein – Obama schenkte ihm jüngst zum
Geburtstag einen guten Brunello –, und er ist stets braun
gebrannt. Während der Wahlkampf um die Präsidentschaft lief, hat er
darauf verzichtet, in der Öffentlichkeit seinen Lastern zu frönen,
denn der Mormone Mitt Romney, der keinen Alkohol trinkt, sollte der
Held der Konservativen sein. Die Republikaner im Repräsentantenhaus
hofften, dass Romney ihre Pläne Wirklichkeit werden lässt:
Steuerkürzungen für die Wohlhabenden, das Ende der
Sozialversicherung und der Gesundheitsfürsorge. Doch dann siegte
Obama – die Republikaner haben immer noch Mühe, das zu
begreifen. nächste Seite: Der wahre Gegner sind die
Tea-Party-Republikaner Nun kommt es zum Duell zwischen Boehner und Obama. Der Präsident
hält an seinen Steuerplänen fest, und die Republikaner tun so, als
seien Steuererhöhungen für die Reichsten unamerikanisch und
gleichbedeutend mit der Versteigerung der Freiheitsstatue. So
erklärte Boehner auf Fox News, dem Haussender der amerikanischen
Rechten, dass er Obamas Steuerpläne für „Unsinn“ halte. Allerdings ist Boehners Empörung pures Theater. Er weiß genau,
dass sein größter Feind nicht Barack Obama ist, sondern die
Tea-Party-Republikaner, die die reine ideologische Lehre vertreten.
Fast 100 Kongressabgeordnete kommen aus der
Tea-Party-Bewegung. Es sind diese Fanatiker, die Boehner zur Geisel
ihrer Unbeugsamkeit machen können, wenn es um Kürzungen im
Bundeshaushalt geht. Käme es auf ihn allein an, würde er sich schnell mit Obama
einigen. Trotzdem täusche man sich nicht: Auch Boehner glaubt an
das konservative Mantra, dass es in Amerika jeder schaffen kann.
Schließlich hat es bei ihm funktioniert – er war der Erste
seiner Familie, der studieren konnte. „Ich habe mein ganzes Leben
dem amerikanischen Traum nachgejagt“, sagte er unter Tränen nach
dem Sieg der Republikaner bei den Zwischenwahlen 2010. Nach
seiner Lesart ist der amerikanische Traum gleichbedeutend mit
Freiheit – der Freiheit, Reichtum und Einfluss zu erringen
ohne Rücksicht auf den Preis, den andere dafür zahlen müssen. Mit
dieser Philosophie hat es der Sprecher des Repräsentantenhauses
weit gebracht: vom kleinen Jungen, der den Kneipenboden seiner
Eltern wischt, zum Chef eines Verpackungsunternehmens und
schließlich zu einem der einflussreichsten Politiker in
Washington. Als solcher hat Boehner registriert, dass die jüngste
Präsidentenwahl auch ein Volksentscheid über das Wahlprogramm
seiner Partei war, das die Mehrheit im Land ganz entschieden
ablehnte. Sollten die Republikaner nun tatsächlich Obamas
Wirtschaftspolitik torpedieren, dann wird dies nicht mit der
Demontage des Präsidenten, sondern der Republikaner selbst enden.
Meinungsumfragen belegen, dass eine überwältigende Mehrheit der
Amerikaner den Republikanern die Schuld am Scheitern der
Verhandlungen um den Haushalt geben würde. Ungeachtet dessen
könnten die Konservativen dennoch versucht sein, ihren niedersten
Beweggründen zu erliegen. John Boehner wird verzweifelt versuchen, dieses Schicksal
abzuwenden. Aber seine Partei wird ihn wohl nicht lassen. So könnte
er sich als Führer ohne echte Gefolgschaft erweisen. Sollte es so
kommen, verdiente er Mitleid und keine Häme. ____________________________________________________________
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Jacob Heilbrunn
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Mitten in der US-Haushaltskrise versuchen die Republikaner den Sanierungskurs von Präsident Barack Obama zu blockieren. Außer einer: John Boehner, Sprecher des Repräsentantenhauses. Er zeigt sich kompromissbereit – doch seine eigene Partei lässt ihn nicht
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außenpolitik
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2013-02-04T10:36:44+0100
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2013-02-04T10:36:44+0100
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https://www.cicero.de//aussenpolitik/der-gegner-ist-nicht-obama-sondern-die-eigene-partei/53317
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Anti-Homo-Gesetze in Uganda - Erbe des christlichen Abendlandes
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In Uganda sind neue Strafgesetze gegen Homosexuelle in Kraft getreten. Und das geht alle etwas an, denn dieses Gesetz zeigt erneut: Das zerstörerische Erbe unserer Geschichte ist noch lange nicht überwunden. Europa hat dabei eine schwere Verantwortung in vielen Fragen der Politik und Kultur zu tragen. Und wer hier heute als Christ bewusst leben will, muss sich dieser Tatsache stellen – sogar wenn die Verletzungen der Rechte von Menschen, bei denen es ja meist viel eher um einen Knochenbruch an Körper, Zukunft und Seele geht, auf dem Umweg über evangelikale Missionare aus den USA erfolgen. Denn auch sie sind ein Teil des Erbes des „christlichen Abendlandes“. Wir selber haben keine Angst. Wir sind heterosexuell und teilen kein religiöses Bekenntnis – und besitzen somit Eigenschaften, die in nicht allzu ferner Zeit die Mehrheit der Menschen in Deutschland und anderen europäischen Staaten kennzeichnen wird. Wir müssen uns nicht fürchten, weder vor den Lehren der traditionellen Religionen, noch vor ihren Auswirkungen auf unser Leben. Doch darin sind wir leider eine Minderheit. Besonders betroffen fühlen sollten sich andere. Denn gleich welcher Hautfarbe und gleich welchen Geschlechts: Diejenigen, die sich christlichen Konfessionen verbunden fühlen, werden in unserem Land immer weniger. Bereits in den vergangenen Jahren haben die veränderten Mehrheitsverhältnisse in unserer Gesellschaft für die Kirchen in der Bundesrepublik Deutschland einen neuen Rechtfertigungsdruck bei politischen Fragen erzeugt. Die Stellung des Christentums in unserer Gesellschaft und seine Bedeutung für die Kultur sind zum Teil größer und grenzübergreifender und zu einer gesellschaftlichen Kontroverse geworden, wie sie ein grundlegender Wandel mit sich bringt. Und warum das gut so ist, wurde in der vergangenen Woche wieder klar. Mit der Unterzeichnung des neuen Anti-Homosexuellen-Gesetzes durch den evangelikalen Christen Yoweri Museveni, Präsident der Republik Uganda, sind für viele Menschen in diesem afrikanischen Land Furcht und Angst in extremer Form zum festen Bestandteil ihres Alltags geworden. Einfach nur deshalb, weil sie keine Orientierung in sexuellen und emotionellen Belangen entwickelt haben wie die Mehrheit, müssen Menschen um ihre Freiheit und körperliche Unversehrtheit fürchten. Oder weil sie an Homosexuelle eine Wohnung vermieten. Oder weil sie Personen nicht anzeigen, bei denen sie homosexuelle Handlungen beobachtet haben. Einfach nur deshalb – so scheint es. Strafgesetze gegen homosexuelle Menschen kommen, anders als etwa Regeln gegen Diebstahl, keineswegs in allen menschlichen Kulturen vor. Das beweist der Blick in die vielen Länder, die Homosexualität nicht auf diese Weise bestrafen. Doch es ist noch nicht sehr lange her, dass sie in Europa und den USA abgeschafft worden sind. Wie die fehlende Gleichberechtigung von Frauen in vielen Gesellschaften sind sie ein Ausdruck tiefsitzender Traditionen der Diskriminierung. Aber dass diese in Uganda die Gestalt neuer Strafgesetze gegen Homosexuelle angenommen haben, ist ein konkret nachvollziehbares Resultat des Wirkens von christlichen Organisationen, die in einem der wohlhabendsten Staaten der Welt ihren Ursprung haben. Gut belegt und unbestreitbar ist, dass sich die Verschärfung der Strafbarkeit von Homosexualität in Uganda unmittelbar auf das Treiben US-amerikanischer Christen in afrikanischen Gesellschaften zurückführen lässt. Unter ihnen der Jurist Scott Lively, Nachkomme von Auswanderern britischer Herkunft und Publizist zahlreicher Schriften, in denen er die Homosexualität unter anderem als Grund der Brutalität zahlreicher führender Nazi-Schergen (Redeeming the Rainbow – A Christian Response to the „Gay“ Agenda, 2009 Veritas Aeterna Press, freier Download auf www.defendthefamily.com) darstellt. Homosexualität ist laut Lively die größte Bedrohung für die traditionelle Familie, weltweit und noch zerstörerischer als Schwangerschaftsabbruch. Scott Lively ist kein Einzelfall. Und widerspricht ihm die Bibel? Kaum. Widersprechen ihm die Glaubensgeschwister? Wir hören sie nicht. Und auch das bisherige Schweigen der großen Kirchen in Deutschland oder Europa zu diesem barbarischen Gesetz aus der Feder einfältiger afrikanischer Politiker unter dem Einfluss ihrer Glaubensgeschwister spricht Bände. Doch das Christentum, die Weltreligion aus Europa, macht sich schuldig, mit jedem einzelnen Fall der Anwendung dieses Gesetzes. Gewiss, die mörderische Moral gegenüber homosexuellen Menschen ist keine Erfindung der christlichen Religion. Von den insgesamt 70 Staaten, in denen Gesetze gegen homosexuelle Handlungen existieren und wo die Strafen bis zum Todesurteil reichen, sind nicht wenige auch islamisch geprägt. Sogar in Indien wird Homosexualität seit letztem Jahr wieder sanktioniert. Homosexualität ist also zwar kein Problem allein des Christentums, sondern ein Problem diverser sogenannter Hochreligionen. Aus der Pflicht zur Beschäftigung mit den ugandischen Strafgesetzen entlässt das die Gläubigen in Deutschland nicht, weder Christen noch Muslime. Denn es ist eben auch ihr Glaube, der den Nährboden für dieses sinnlose Leiden von Menschen in dem afrikanischen Land und anderswo bildet. Und was ist das denn für ein Gott, wie ihn auch die deutschen Bischöfe lobpreisen, wenn er sie nicht dazu bringt, die Gläubigen von derartigen Pogromen erschreckt und aufgerüttelt werden zu lassen? Was soll das für ein Gott sein, von dem die Christen in Deutschland freudig reden, wenn nur einige Tausend Kilometer entfernt ihresgleichen ein Leben mit Lügen, Freiheitsentzug und Gewalt erdulden müssen – bloß weil sie homosexuelle Christen sind? Gewiss, solche ugandischen Gesetze sind nicht der einzige Maßstab, an dem sich Religionen messen lassen. Dass es möglich ist, religiösen Glauben und einen humanen Umgang mit der Existenz von Menschen, die keine heterosexuelle Orientierung der Mehrheit besitzen, beweisen täglich Millionen weltweit. Doch das reicht noch längst nicht aus, wenn die eigenen Traditionen – und deren schreckliche Fortsätze – nicht kritisch aufgearbeitet werden. Und das macht gerade diese Strafgesetze nicht nur zu einem Prüfstein für den effektiven Einfluss von Menschenrechtsorganisationen und ihren Pressemitteilungen, für die politische Schlagkraft von Entwicklungshilfekürzungen oder Medienberichten. Sondern vor allem für die Religionsgemeinschaften in Deutschland, zu deren Traditionen die Gewalt gegen Homosexuelle zählt. Wir haben keine Angst und wir müssen uns nicht fürchten. Aber wir empfinden Mitleid, mit den vielen Millionen Menschen auf der Welt, die wegen repressiver religiöser Vorstellungen kein gutes Leben führen können. Und die, die einen christlichen Glauben vertreten, werden sich auch für diese Gesetze Ugandas rechtfertigen müssen. Warum sie nicht gehandelt haben, während andere Menschen wegen eines christlichen Glaubens litten? Warum ihre Religion einen Platz an unseren Schulen haben soll, wenn sie nicht zum konsequenten Einsatz für Menschenrechte erzieht? Wofür ihre Bischöfe und Pfarrer bezahlt werden sollen, wenn sie nicht auch das Augenmerk auf das bizarre Wirken ihrer Kollegen in anderen Ländern richten? Noch sind wir damit in der Minderheit, aber mehr Menschen wie wir werden in Zukunft fragen, was Gläubige dagegen getan haben, dass Menschen wegen ihres Glaubens verfolgt wurden. Vereinzelt hat sich zwar unter Christen das Gewissen zu regen begonnen. Es braucht aber mehr: dass sie die historische Verantwortung des christlichen Europa, die nicht länger zu verdrängen ist, endlich richtig aufarbeiten. Es ist Zeit, Verantwortung zu übernehmen.
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Frieder Otto Wolf
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In Uganda wird im Namen des Christentums Jagd auf Homosexuelle gemacht. Die hiesigen Religionsgemeinschaften schweigen und machen sich mitschuldig
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außenpolitik
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2014-03-05T14:13:44+0100
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2014-03-05T14:13:44+0100
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https://www.cicero.de//aussenpolitik/homosexuellenjagd-uganda-erbes-des-christlichen-abendlandes/57165
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Wüstenphantasien – Die Geschichten der singenden Dünen
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Von Ingeborg Harms
Das Elementare zieht die Literatur an. Erde, Wasser und Luft sind dort, wo sie herrschen, faszinierende Labore für das Studium des Menschen. Während die Luftfahrergeschichten aus der Mode kommen, hat die Wüstenreise ihre Reize noch nicht an den Fortschritt der Technik verloren. In der sandigen Unendlichkeit lässt sich auch weiterhin die condition humaine erfahren, die paradoxe Landschaft steigert die Individualität und vernichtet sie zugleich, sie ist das Dogma des Immergleichen und die Bühne für die Ausnahme, die Spur, die sich durch den Sand zieht.
Zwei Neuerscheinungen markieren die extremen Möglichkeiten der Wüsteninszenierung: In Raoul Schrotts Novelle «Die Wüste Lop Nor» ist sie ein Terrain der Sehnsucht, das der Protagonist Raoul Louper vom einen Ende der Welt zum anderen erkundet. Christoph Ransmayrs «Strahlender Untergang» betrachtet die Wüste als Gegenstand einer ins Absurde gesteigerten Wissenschaft, als öde Stätte einer kaltblütig-systematischen Vernichtung. Schrotts Held sucht in ihr das Nichtfassliche und Umschlingende. Das von Ransmayr geschilderte Projekt widersetzt sich gerade diesen Qualitäten und verwandelt die Wüste in einen berechenbaren Ort.
Schrotts Erzähler kennt Raoul Louper von gelegentlichen Abendessen in Kairo, die den Einsamen redselig machen. Er erzählt Loupers Geschichte nicht aus der Distanz, sondern so, als wäre es seine eigene – mit Abschweifungen, plötzlichen Szenenwechseln, eingestreuten Märchen und Legenden, ja, er erzählt, als würde nicht er, sondern der Sand selbst berichten, die singenden Dünen, deren rieselnde Sandkörner Louper belauscht: «Es ist der Wind, der sie stumpf werden lässt. Er verweht sie, und dabei beginnen sie zu springen, prallen wieder und wieder vom Grund ab, wirbeln andere Körper auf und verlieren so ihre Kanten.» Schrotts Novelle gehorcht einer Poetik der Wüste: «Es gibt einen Augenblick beim Erzählen, wo sich die Dinge so nahe kommen, dass die Konturen sich aufzulösen beginnen; dann schweigt man besser.»
Nicht nur die Konturen der verschiedenen Sandlandschaften, die Louper zwischen China und Oregon, Salt Lake City und Halifax besucht, lösen sich auf, auch das Wüstenhafte verliert seine Identität und beginnt mit den Phantasien des Protagonisten zu verschmelzen. Louper sucht die Frau seiner Träume: «Die Frau, die er einmal lieben
wird, hat grüne Augen und rotes Haar. Zwischen den Beinen ist es heller, doch dicht bis zum Bauch herauf, wie der Nacken eines Fuchses.»
Wo die Liebe eintrocknet
Es ist eine ungezähmte Sinnlichkeit, die er vermisst und in den wirklichen Frauen, die zu seinen Geliebten werden, nur flüchtig und verhalten findet. Sie kommen spät abends von der Arbeit zurück, sind ihm untreu oder haben ein gestörtes Verhältnis zum eigenen Körper. Es gelingt ihm nicht, sie zu entzaubern und das Ideal in ihnen freizusetzen. Besonders Elif, eine Touristenführerin, beweist ihm die Unmöglichkeit absoluter Nähe, als sie gemeinsam in die Wüste Gobi fahren. Dort trocknet die Liebe ein und endet in Trennung.
«Er täuschte sich immer in den Frauen», heißt es von Louper. Der Leser ahnt, dass er sie überfordert. Sie werden an der schmiegsamen Üppigkeit der Dünen gemessen: «Manche stauen sich auf und werden so rund wie Walrücken. Einige kollidieren miteinander, rollen dann weiter und lassen hinter sich
eine kleine, noch junge Düne zurück; solch groteske Implikationen des Lebens wirken auf jemanden, der zuviel Phantasie hat, sehr leicht verstörend.» Auch die Brüste seiner Freundin Arlette, die schwer und riesig sind, hören nicht auf, «ihn zu verwirren». Vom Beischlaf mit ihr wird ihm schlecht.
Bei Arlette sind es die Brüste, Francesca hat «den stämmigen Körper einer Bäuerin» und Elif «einen großen Hintern», einen «Fettsteiß, sagte sie verächtlich, ohne wirklich von ihm Widerspruch zu erwarten. Ein Uhrglas, sagte er trotzdem.» Die Novelle beginnt und endet mit der Erzählung von der «größten Sanduhr der Welt» in den Weizenfeldern von
Nima, die einmal jährlich in der Neujahrsnacht gedreht wird. Die kurvenreiche Elif verschmilzt mit dem enormen Stundenglas, in den weiblichen Rundungen rieselt der Sand, die verwirrenden Formen der Frau und die verstörenden Gebilde der Dünen werden zu einem Memento mori, das den Protagonisten anzieht und abstößt.
Die Freundinnen wollen von ihm Geschichten hören, und er erzählt immer wieder dasselbe orientalische Märchen von
einer Prinzessin und ihrem Geliebten, die sich über den Tod hinaus die Treue halten. Die kleine Erzählung ist kindlich-naiv. Sie stellt sich dem tückischen Treibsand des
Sexuellen beschwörend entgegen, ohne ihn jedoch bannen zu können. Vielleicht muss man auch das systematische Interesse, mit dem Louper die Geräusche der Dünen erkundet, in diesem Zusammenhang sehen. Akribisch untersucht und beschreibt er die Klangteppiche, die jeder bestimmte Sand aufgrund seiner Granulatzusammensetzung an seinem jeweiligen klimatischen Ort erzeugt. Es ist, als wolle er den unheimlichen Leib der Erde zum Sprechen bringen, ihm sein Märchen entlocken, den Urton finden, der frei von Falsch und Täuschung ist. «Ohne Musik», heißt es in der orientalischen Erzählung, «wäre der Himmel leer und totenstill; sie aber lässt uns das Drehen der Erde hören, wie ein Kreisel, den man auf eine Tischplatte setzt.»
Im Singen des Sands sucht Raoul nach der Musik der Sphären, nach einer Harmonie, die sich erst offenbart, wenn man vor den Dingen weit genug zurücktritt. Doch der Dünengesang verdinglicht sich unversehens, er gleicht nicht nur «einem Summen, Heulen und Stöhnen», sondern auch «Trommeln und Tamburinen», dem Prasseln einer «Feuersbrunst», dem Geräusch, den das Fahrzeug einer sich nähernden «Militärpatrouille» macht, ja, sogar einer «anhaltenden Kanonade». Tatsächlich befindet sich im Norden der Wüste Lop Nor «ein militärisches Sperrgebiet, dort werden Atomsprengköpfe gezündet. Verstreut in der Umgebung der
Stadt Lew Sha liegen Teile einer explodierten Rakete aus Titan; sie glimmen noch im Dunkeln.»
Weder für die psychischen noch für die sehr realen Dämonen ist die Wüste tabu. Deshalb ist sie als Fluchtort vor Ängsten so wenig geeignet wie eine Frau. Der Fliehende projiziert sein Unbehagen, es ist ihm immer schon voraus: «Doch auch tagsüber hört
man die Dämonen, das Klirren der Waffen, oft auch verschiedene Musikinstrumente,
die sie spielen, meist jedoch Trommellärm. Man kann sie auch sehen, die wehenden
Banner und das Gleißen ihrer Schwerter, während man hinter sich die geflüsterten Worte vernimmt: Fürchte dich nicht! Fürchte dich nicht!»
Willig in den Hitzetod
Raoul Schrotts Prosa mischt das Nüchterne mit dem Visionären, das Lyrische mit dem Paranoiden zu einem Schallraum, der von Hölderlins Hymnen bis zur biblischen Apokalypse vieles anstößt und zum Klingen bringt, Assoziationslawinen auslöst und eben noch klare Gegenstände wieder verschüttet. Wovor Louper zurückschreckt, das leistet
die gleitende, sich unmerklich verschiebende Erzählung. Ihre von Tönen, Gesichten und Gerüchen reiche Textur fixiert ihren Gegenstand nicht, macht ihn nicht zum Popanz
eines Klischees oder einer Psychose. In ihr sind sich das Leben der Menschen und die Öde der Urlandschaft ganz nah, auch wenn sie hier und da die Rollen tauschen. Die
poetische Rede selbst wird erotisch, lässt sich spielerisch auf den schwankenden Umriss
der Erscheinungen ein und erlaubt dem Fluchtpunkt der Träume, am Wegesrand vorbei zu streichen: «Raoul sah sie im Vorbeifahren. Sie stand am Straßenrand, einen Stock in der Hand, ein Hund unruhig neben ihr. Stand reglos, ausdruckslos das Gesicht. Die Augen grün, wie Gras, wenn der Wind in es fährt und die Halme ins Weiße kehrt. Die Ärmel ihres Kleides wie in roten Ocker getaucht.»
Christoph Ransmayrs «Strahlender Untergang» wurde vor achtzehn Jahren erstmals veröffentlicht. Jetzt erscheint er in leichter Überarbeitung noch einmal. Man merkt
diesem Text den experimentellen Geist der frühen Achtziger an. Die Figuren sind flach wie eine Tischfußball-Mannschaft, man hat es – zumindest auf den ersten Blick – mit Thesenträgern und frommen Opfern zu tun. Das Buch verkehrt den modernen Hang zu technisch-wissenschaftlichen Großprojekten und setzt die sie begleitende humanistische Rhetorik für ein gigantisches Mordunternehmen ein.
Eine vermögende Bewegung, die sich «Neue Wissenschaft» nennt, schafft in der Sahara ein siebzig Quadratkilometer großes «Terrarium», um dort willige Einzelne dem
Hitzetod auszusetzen. Das Gelände ist flach
gewalzt und von allen Objekten befreit, umgeben wird es von einer vier Meter hohen Aluminiumwand, die es vollkommen vom Außen isoliert. Ransmayrs sechzig Seiten
langes, versifiziertes Buch besteht aus vier Teilen. Es beginnt mit dem «Fragment eines Fernschreibens», das so fragmentarisch nicht wirkt, und in dem von den Beobachtungen eines Lasterfahrers die Rede ist, der über die Wüsten-Baukolonne, die Gestalt des Terrariums und den in ihm abgesetzten «vierzigjährigen Mann, / weiß, / Europäer vermutlich», berichtet.
Darauf folgt eine Rede, die ein namenloser Agitator der Neuen Wissenschaft vor einer akademischen Delegation hält, die sich zur Besichtigung des Terrariums in die Wüste begeben hat. Der Redner nimmt die laschen Einwände seiner Zuhörer vorweg und entkräftet sie salopp: «Aber im gleichmäßigen Lärm Ihrer Anwesenheit / höre ich Sie auch sagen: Was für ein Unfug! / Was für ein Unfug, / in der siedenden, flimmernden Leere / einer umzäunten Ebene / einen Probanden auszusetzen / und ihn / ohne Beistand und Überlebensmittel / seinem raschen Untergang zu überlassen; / und dies, / höre ich Sie mit erhobener Stimme sagen, / und dies ohne jede Beobachtungsstation!» Die anwesende Öffentlichkeit ist eine Farce, sie bleibt stumm und wird, sofern sie für eine unabhängige, für das Projekt zu gewinnende Forschung steht, in der Rede als selbstzentriert und korrupt karikiert.
Der Prediger in der Wüste umreißt die ideologische Ausrichtung der Neuen Wissenschaft als heilsame Reaktion auf das Scheinhafte der Zeitlichkeit. Wie alle sadistischen Weltanschauungen will sie reinen Tisch machen und sich einer Wahrheit verschreiben, die am Ende Recht behält. Diese Wahrheit ist das Nichts, der Tod und die Leere. Die gigantische Sandanlage will der «tragischen Allmählichkeit / des unausweichlichen Verfalls» zuvorkommen und die Menschheit von einem Denken befreien, das «von der Herrschaft / über die natürliche Welt» blind
fasziniert ist.
Zugleich ist das Projekt die ultimative Auflehnung und Selbstbehauptung dieses Denkens, seine Selbstzerstörung als letzter Kraftakt der Naturbeherrschung, eine ungeheure Aggression der Zweckrationalität gegen das Leben. Für Vernichtungsmaschinerien im Namen der Wahrheit hält das
20. Jahrhundert viele Beispiele bereit. Die «Dialektik der Aufklärung» von Horkheimer/ Adorno oder auch Kafkas «Strafkolonie» sind Texte, die ihre Mechanik exponieren. Ransmayr legt den Akzent auf das wahnhafte Kalkül, auf die Sehnsucht nach dem Verschwinden und den Selbsthass des Systems.
Das Leben ist eine Stubenfliege
Das Wissen selbst ist Subjekt des «Strahlenden Untergangs». Aus der Perspektive der «vier Milliarden und sechshundert Millionen Jahre» alten Erde schrumpft der Mensch automatisch zusammen, gleicht den «einzelligen Wesen, winzig, fossil, milliardenjährig», die man «in den präkambrischen Feuersteinen» der Südküste Afrikas entdeckt hat. Wenn die Gewalt des Wissens das Subjekt des Textes ist, so ist die Ohnmacht des Wunders ihr Objekt: «Gewiß, / die Liste der irdischen Bedingungen, / unter denen die Bildung einer / organischen Existenz vonstatten geht, / ist überaus lang, / ebenso vielfältig wie rätselhaft, / und ihre Aufzählung / würde den Rahmen dieser Oasenrede sprengen.»
Der Irrsinn des Vortrags liegt nicht zuletzt darin, dass er von poetischer Rede durchsprengt ist. Was sich hier am Verschwinden begeistert, ist nicht nur das blutlose spätzeitliche Räsonieren, sondern auch eine eigenwillig-präzise Euphorie der Dingbenennung, ein plastisches Evozieren.
Die «Neue Wissenschaft» erinnert an Giambattista Vicos «Scienza Nuova», dem für die deutsche Romantik und den Historismus so einflussreichen Werk des neapolitanischen Rhetorikprofessors, der die Weltgeschichte zyklisch sah und in drei linguistische Phasen einteilte. Auf die stumme Sprache der Natur folgt die heroische poetischer Bezeichnungen, die schließlich in ihrer höchsten Ausdifferenzierung zur Konvention verkommt. Die menschliche Entwicklung verläuft parallel zu der ihrer Sprache, mit der Dekadenz der Rede verfällt auch die Kultur und schlägt in Barbarei um.
In Ransmayrs Version dieser zyklischen Endzeit ist der Anfang sprachlich noch aufgehoben. Trockene Fakten werden von überraschenden Metaphern abgelöst, etwa wenn erdentstehungsgeschichtlich vom «seltenen Netz der Lebensbedingungen» die Rede ist, «an dessen dichtester Stelle sich dann auch / tatsächlich das Leben / wie eine Stubenfliege / im Spinngewebe / verfing».
Mehr und mehr löst sich der Oasenvortrag von der Komplizenschaft mit seinen Hörern und beginnt, sie aufs Korn zu nehmen. Von der Menschwerdung wird als von einem «Vieh», das sich plötzlich aufrichtete, gesprochen, und wenig später bemerkt der Redner: «Ich höre nun, geehrte Herren, / das unwillige Scharren / ihrer Stiefel im Sand.» Das Vieh, scheint es, sitzt im Auditorium.
Es ist für die konzertierte Auslöschung der Menschheit selbst verantwortlich.
Das «Töten und Fressen» der Artgenossen ist dem «Schwachpigmentierer» die «offensichtlich zwingende Form / der Behauptung von Existenz» gewesen: «Er räkelte sich, dehnte sich aus / auf dem Rücken ihm fremder Kulturen / und erklärte das Fremde zum Rohstoff / und Baumaterial der eigenen Zivilisation.» Das Menschenvieh hat mit seinen Hufen die Welt verwüstet, und der Moralist auf der Sahara-Kanzel rechnet in gesteigerter visionärer Rede mit ihm ab. Nichts, sagt er vom Herrn der Welt, «steckt in seiner Arbeit, / in seinen Gewändern, / seinen Automaten / und dem Torf seiner Vorgärten, / das über ihn hinausweist.»
Der dritte Teil von «Strahlender Untergang» enthält «Hinweise für die Bauleitung». In ihm wird der jeweilige Mensch, den ein Helikopter im Terrarium absetzt, als «Protagonist des Verschwindens» angesprochen, als wäre von tragischem Heldentum die
Rede. Das Buch schließt mit einem Monolog des Sterbenden. Unappetitliche Details seines blasenwerfenden Körpers verweben sich mit Erinnerungen und Halluzinationen, eine Frau namens Anna taucht auf und müßige Sommertage: «Wir haben Sonnenschirme aufgespannt / und sind in Batistkleidern / und ineinandergehakt / die Promenaden entlang, anstatt uns zu häuten.»
Wir erfahren von einem «Fest» vor einem Forschungsgebäude, bei dem es Reden gab und Listen unter der Menge zirkulierten, in denen man die eigene Adresse und das «gewünschte Abreisedatum» eintragen konnte. «Alles Idioten!», konstatiert der Mann in der Wüste. Ein Rätsel bleibt, warum er ihrem Aufruf folgte: «Nicht weil man sie versteht / oder ihnen glaubt, / sondern weil man / folgen will.» Eine Dynamik scheint sich hier zu entfalten, die über das Individuum hinweggeht, ein Gattungsmechanismus, der den Einzelnen für sich reklamiert: «Jetzt weiß ich wieder, / daß ich der Sommergast war. / Ich war auch der Häftling, / das Schwein / und der Schlachter.» Das Hitzeopfer wird zum Messias, es stirbt stellvertretend den Tod aller Kreaturen und nimmt ihre Sünden auf sich.
Schrott und Ransmayr greifen auf die Wüste zurück, um in der vorsintflutlichen Weite das Theater des menschlichen Bewusstseins aufzuführen. Während «Die Wüste Lop Nor» mit ihren erotischen Luftspiegelungen, labyrinthischen Wegen und zwischenmenschlichen Entfremdungen in der Tradition von Paul Bowles’ Roman «The Sheltering Sky» steht, erinnert «Strahlender Untergang» eher an Adalbert Stifters «Abdias», eine Novelle, in der die Wüste Folie für die Grausamkeit des neuzeitlichen Kalküls ist. Auch Camus’ «L’Etranger» ist hier zu nennen, die Erzählung von einem, der an der Gleichgültigkeit der Sonne scheitert.
Ransmayr und Schrott entwerfen die condition humaine auf diametral entgegengesetzte Weise. Dem einen ist sie die Wüste in ihrer gähnenden Leere, dem anderen die sandige Unendlichkeit als Echoraum und Sphäre sinnlicher Fülle. Die Vorzeichen sind verschieden, doch in einem Punkt gehören beide Texte zusammen: Sie simulieren eine Urszene, den Moment, in dem das Nichts auf die Sprache trifft, so dass sie Erhabenheit
gewinnt und sich über die kleinen Dinge aufschwingt. Alles erscheint nun wie unter der Lupe gesehen: vergrößert, dramatisiert, in Nachbarschaft zu letzten Fragen.
Das Interesse für Wüsten in der Literatur verrät das Bedürfnis, einer durch alle Arten der Entzauberung gegangenen Sprache aufs Neue Bedeutsamkeit abzugewinnen. Hierzu passt auch die Anordnung der Schrift, die den Raum exponierende Versifizierung bei Ransmayr und die in kleinen Kapiteln mit großzügigen weißen Zwischenräumen angelegte Novelle Schrotts. Die Buchstaben beginnen zu atmen, und – das ist das zentrale Paradox beider Bücher – ihre statuierende Macht nimmt in dem Maße zu, in dem die Wüste um sie wächst.
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Über zwei neue Bücher von Raoul Schrott und Christoph Ransmayr
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kultur
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2010-10-04T14:18:44+0200
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2010-10-04T14:18:44+0200
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https://www.cicero.de//kultur/die-geschichten-der-singenden-duenen/47170
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Lemmy Kilmister - Hommage an eine Rock-Legende
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Letzte Worte zu Lemmy Kilmister ohne Motörhead und seine Röhre am Ohr? Geht nicht. Geht überhaupt nicht. Also Kopfhörerklinke in die Buchse des Laptops. Aber welches der 23 dort gespeicherten Alben auswählen? Das eine. Natürlich das eine, mit dem alles begann. Diese Platte änderte unsere Nachmittage nach der Schule. Das „Bronze“-Label in der Mitte drehte sich mit 33 ⅓ Umdrehungen pro Minute auf dem Dual-Plattenspieler, wir hielten die leere Bierflasche von oben gestürzt an den gereckten Hals, in dieser seltsamen Lemmy-Pose. Oder wir ahmten trampelnd den mörderischen Double-Bass-Takt von Philthy Animal Taylor bei „Overkill“ nach. Bis 5 Minuten 13 kam keiner. Lange vor dem Ende krampften die Schenkel. Motörhead und Lemmy Kilmister ziehen sich durch mein Leben. Mein erster Zweispalter in der Süddeutschen Zeitung handelte von einem Konzert in München. Ich fuhr alleine von Bonn zu Konzerten nach Köln. Ich ertrug über Jahre die milde-verächtlichen Blicke der anderen, die sich längst vermeintlich intelligenteren Musikrichtungen zugewandt hatten. Diesen peinlichen Verirrungen der achtziger und neunziger Jahre. [[{"fid":"67888","view_mode":"full","type":"media","attributes":{"height":1124,"width":750,"style":"width: 200px; height: 300px; margin: 4px 7px; float: left;","title":"Motörhead-Sänger Lemmy Kilmister. Foto: EPA/Peter Klaunzer/dpa","class":"media-element file-full"}}]]Motörhead und Lemmy Kilmister hätten keinen Punk gebraucht, keinen Grunge, um wieder auf den ursprünglichen Weg des Rock ’n’ Roll zurückgeführt zu werden. Sie sind ihn einfach immer weiter gegangen. Und über die Jahre sind die Hallen dann immer voller geworden. Der Schwulst und das Artifizielle hatten sich überlebt. Nix mehr The Cure. Nix mehr U2. Stattdessen: Zurück zum Reinen. Zurück zu Motörhead. Zurück zum Rock ’n’ Roll. Und plötzlich wollten alle mal mit zum Konzert. Und diesen Orkan miterleben. Auf dem 77er Album „Hard Again“ von Muddy Waters gibt es einen Song mit dem wunderbaren Titel: „The Blues Had A Baby And They Named It Rock ’n’ Roll“. Man kann auch sagen: Der Blues hatte ein Baby, und er nannte es Lemmy Kilmister. Motörhead sind kein Heavy Metal. Motörhead, das ist Blues, Rhythm and Blues, Boogie, Rock ’n’ Roll. Und nichts sonst. Nur etwas lauter. Es ist berechtigt, dass ihm Musiker wie Dave Grohl (Ex-Nirvana, Foo Fighters) und Lars Ulrich (Metallica) regelrecht huldigten. In der Geschichte des Rock ’n’ Roll gehört Lemmy Kilmister in eine Reihe mit Elvis Presley, Chuck Berry und den Sonics. Was haben die vermeintlichen Experten lange die Nase gerümpft! Das Verrückte an Lemmy Kilmister war: Der (späte) Ruhm ist ihm nie erkennbar zu Kopf gestiegen. Er hat mal sinngemäß gesagt, dass neun von zehn Leuten Arschlöcher seien und dass die Kunst des Lebens darin bestehe, den einen von den anderen neun zu unterscheiden. Eine jener trockenen Lebensweisheiten eines im Kern sensiblen Mannes mit diesem trockenen Humor, wie er nur auf der britischen Insel entstehen kann. Immer hat er bei aller Leidenschaft eine Restdistanz bewahrt zu dem, was er machte. It‘s Only Rock ’n’ Roll, but.... Auf der Live-Einspielung „Live At Brixton Academy“ moderiert er einen Song an, der angeblich „Dead Men Smell Toe Nails“ heiße. Das Stück heißt in Wahrheit „Dead Men Tell No Tales“. Ist das schlimm, wenn ich zugebe, dass ich das sehr witzig finde? Ein andermal, es ist wohl die Einspielung aus Hamburg, sagt er an, dass dieses Konzert für ein Album mitgeschnitten werde. „Isn‘t that exciting?“ röhrt er ins Mikro. Pause. Wieder Lemmy: „No, it isn‘t.“ Und dann drischt er schon wieder in Akkorden auf seinen Rickenbacker-Bass – als sei der eine Rhythmusgitarre. Man könnte noch viele Worte verlieren. Zu dieser wunderbaren Szene in einer Filmbiografie über ihn, wie er in einem Plattenladen die raren gesammelten Mono-Aufnahmen der Beatles sucht. Die Kompilation ist jedoch ausverkauft, und die Frau hinter dem Tresen erkennt ihn und gibt ihm ihr persönliches Exemplar. Er bedankt sich wie ein englischer Gentleman. Rührend ist das. Wie er immer fuchsteufelswild werden konnte, wenn ihm zu Beginn des Konzerts die Bierbecher um die Ohren flogen. Das mochte er gar nicht. Er wollte keine Ehrerbietung. Aber Respekt. Und Becher mit schalem Bier waren kein Ausdruck von Respekt. Aber jetzt muss ich aufhören. Jetzt kommt mein persönliches Lieblingsstück von der einen Platte, mit der alles begann: „Iron Horse“, das schleppende Schlachtross, in der Version von „No Sleep Til Hammersmith“ aus dem Jahr 1981. All die Jahrzehnte habe ich bei jedem Konzertbesuch gehofft, dass Lemmy das alte Pferd noch mal aus dem Stall holt. Bei dieser unerfüllten Hoffnung wird es bleiben. In der Nacht vom 28. auf den 29. Dezember ist Lemmy Kilmister gestorben, kurz nach seinem 70. Geburtstag an Heiligabend und nur wenige Tage nach dem nunmehr letzten Motörhead-Konzert am 11. Dezember in Berlin. „Dancing On Your Grave“, Lemmy. Fotos: picture alliance (Aufmacher), EPA/Peter Klaunzer/dpa (Hochformat)
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Christoph Schwennicke
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Lemmy Kilmister, der Sänger der Heavy-Metal-Band „Motörhead“, ist im Alter von 70 Jahren an einem Krebsleiden gestorben. Er liebte Musik, Alkohol und Drogen. Für Cicero-Chefredakteur Christoph Schwennicke war Kilmister ein Jugendidol. Und ein Rocker, kein Metal-Musiker. Ein persönlicher Nachruf
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kultur
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2015-12-29T11:58:53+0100
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2015-12-29T11:58:53+0100
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https://www.cicero.de//kultur/lemmy-kilmister-motorhead-nachruf-hommage-an-eine-rock-legende/60303
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Moderatoren-Karussell - Immer den Geldscheinen nach
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Es ist noch gar nicht so lange her, da konnte man mit geschlossenen Augen eine beliebige Taste auf der Fernbedienung drücken – und man wusste sofort, wo man gelandet war. Ein Sender, das war die Summe seiner Gesichter. Wo ZDF draufstand, waren Thomas Gottschalk, Hansi Hinterseer oder Johannes B. Kerner drin. Mainzelmänner, allein zu Haus. Für RTL gingen Markus Lanz oder Inka Bause dahin, wo es wehtut. Und Sat.1, das waren Dirty Harry und eine Pflaume, die sich Kai nannte. Inzwischen trifft man sie vor anderer Tapete. Markus Lanz ist der neue Gottschalk. Sat.1-Kai hat Jörg Pilawa im Ersten beerbt. Dirty Harry laboriert jetzt da, wo der Pfeffer wächst, im Bezahlfernsehen (Sky). Und falls Sie sich jetzt fragen, wer da noch den Überblick behalten soll, seien Sie versichert: Das war erst der Anfang. 2013 dreht sich das Moderatoren-Karussell so schnell, dass es Zuschauer mit lückenhaftem Gedächtnis schwer haben werden, sich im Programm-Dschungel zurechtzufinden. Die Moderatoren denken gar nicht daran, das Trikot ihres Senders so lange durchzuschwitzen, bis es eines Tages vielleicht auf einen Bügel ins Haus der Geschichte wandert, neben die berühmte Kanzler-Strickjacke. Es ist wie mit den Fußballspielern: Die wechseln auch, sobald ein anderer Verein mit einem dickeren Geldscheinbündel winkt. Die Fans sehen es ihnen nach. Fußball ist ein Mannschaftssport. Auf das Team kommt es an. Das ist im Fernsehen anders. Hier hängt die Einschaltquote weniger vom Sender als vom Format und von der Person des Moderators ab. Und ob der ohne Kratzer den Sender wechseln kann, hängt von vielen Faktoren ab. Welche das sind, verrät unsere Typologie der Moderatoren. Der Mann ohne Eigenschaften: Wenn er durch irgendetwas auffällt, dann durch seine Unauffälligkeit. Seine Blässe ist sein Kapital. Wer kein Gesicht hat, kann es auch nicht verlieren, wie der Fall Marc Bator zeigt. Die Öffentlichkeit hat ihn erst so richtig wahrgenommen, als er nach dreizehn Jahren die „Tagesschau“ verließ. Bator musste sich nicht grämen. Einer wie er konnte sich in dem Glauben wiegen, er könne überall unterkriechen. Okay, bei Sonnenschein-TV hätten sie ihn wohl nicht genommen. Aus einem Redaktionsbeamten wird kein Reise-Restposten-Verramscher. Doch die Breaking News bei Sat.1 wird man ihm schon abkaufen. Neues von der Fußpilzfront in Freibädern. Oder eine Studie zum Sommerloch. Damit er nicht selber in eben jenem Loch verschwindet, hat er mit sonorer Nachrichtensprecher-Stimme angedroht, er wolle sein Image künftig auch in die Unterhaltung „transferieren“. Man sieht das Format schon vor sich. Frag doch mal den Marc. Genial daneben. Der Smartie Man wird nicht dümmer, wenn man täglich Quiz-Shows guckt. Man wird aber auch nicht klüger, wenn man sie jahrelang moderiert. Man erscheint nur so. Oder warum hat das ZDF den Einkauf des Quizonkels Jörg Pilawa 2010 so euphorisch gefeiert, als sei in der Ablösesumme auch schon die Option auf den Nobelpreis enthalten gewesen? Dabei lieferte der Smartie im Zweiten nichts anderes als das, was er davor jahrelang im Ersten gemacht hatte: Quiz, Quiz und noch mal Quiz. Nur saßen jetzt in der Prime Time mehr Zuschauer vor dem Schirm. Das nennt man Erfolg durch Redundanz. a), b), c) oder d). Die Wiederkehr des Immergleichen. Dumm nur, dass das irgendwann sogar ihn langweilte. Ausgerechnet zur 50-Jahrfeier des Senders verkündete Pilawa im März, er hätte Lust, etwas Neues auszuprobieren. Für die Mainzelmänner war das eine schallende Ohrfeige. Hatte man ihm nicht zuvor angeboten, „Wetten, dass ...?“ zu übernehmen? Und hatte er dieses Angebot nicht abgelehnt? Vielleicht war das ein Fehler. Man kann ein Image nicht zementieren. Es kann dann zum Bumerang werden. Zum Jahresende kehrt Pilawa zur ARD zurück. Er wird auch dort auch wieder das machen, was er am besten kann. Dreimal dürfen Sie raten. Es fängt mit Q an und hört mit z auf. [gallery:Die 30 besten Tatort-Folgen] Super-Woman Okay, sie singt Lieder, von denen einige Menschen Hautausschlag bekommen. Und ja, sie bräuchte eine Trittleiter, um den Alpha-Gorillas in ihrer Branche auf Augenhöhe zu begegnen, bei 1,58 Meter. Doch wahre Größe hat sich noch nie in Zentimetern bemessen. Helene Fischer gilt als Glücksfall für die Fernsehunterhaltung. 28 Jahre jung, eine Stimme wie eine Nachtigall, eine Power wie eine Iron-Frau. Die perfekte Projektionsfläche für Planspiele. Sie hat den Schlager reanimiert. Ihr traut das ZDF noch andere Wunder zu. Eine wie sie, so das Kalkül, könnte die Fans von Rosamunde Pilcher mit den Freunden der Volksmusik vereinen. Der Sender strickt schon an einem Konzept für eine Show. Es soll der ganz große Wurf werden. Wenn die schöne Helene Pech hat, muss sie Gehörlose integrieren und zugleich den Fernsehgarten rocken. Die Blufferin Super-Nannys und Schuldenberater kamen und gingen, doch sie blieb: Inka Bause. Die ambulante Krankenschwester. Die Konfliktmanagerin. Seelsorge to go. Seit 2005 verarztet sie für RTL alleinstehende Männer, die aus Mangel an Alternativen mit sich selber reden oder mit den Kühen im Stall. Die Single-Quote in der Landwirtschaft hat sie damit zwar nicht gesenkt, doch hat das außer den Kandidaten der RTL-Show „Bauer sucht Frau“ ernsthaft jemand erwartet? Jetzt hat das ZDF noch größere Pläne mit ihr vor. Alleinstehende Bauern sind nicht die einzigen, die jemanden zum Reden brauchen. Wer kümmert sich um die Jeremy-Pacals und die Cheyennes, die seit Ende des Nachmittagstalks bei Sat.1 heimatlos geworden sind? Wer spendiert ihnen den so dringend benötigten Vaterschaftstest? Das ZDF gibt sich optimistisch: Inka wird das Kind schon schaukeln. Nach ihrem Aushilfsjob als Animateurin auf dem „Traumschiff“ (ZDF) ist dieser Job zwar ein Abstieg. Lovely Inka kann das Vertrauen der Zuschauer nur verspielen. Doch wie man sie kennt, wird sie eine angemessene Entschädigung herausgehandelt haben. Wer würde den Gaul sonst reiten, bis er tot zusammenbricht? Der Tausendsassa Der Weggang von Jörg Pilawa hat das ZDF in arge Bedrängnis gebracht. Wer soll jetzt die Millionen retten? Und was wird aus der Samstagabendunterhaltung? Wie ausweglos die Situation ist, zeigen die Spekulationen über eine Rückkehr von Johannes B. Kerner. Für alle die, die jetzt fragen, Johannes B., wer? Das war der Typ mit dem Nackenspoiler, der seine Energie so weit herunterfuhr, dass er ohne zu schwitzen an drei Fronten kämpfen konnte. Kerner kochte. Kerner talkte. Kerner kommentierte Fußballspiele. Den älteren Zuschauern fiel vielleicht vielleicht gar nicht auf, dass er 2009 plötzlich zu Sat.1 verschwand. Erstens hätten viele gar nicht gewusst, wo sie den Sender auf ihrer Fernbedienung suchten sollten. Zweitens nickten sie auch ein, ohne dass sie JBK mit seinen Bandwurmsätzen einlullte. Vielleicht erklärt das, warum das ZDF jetzt laut darüber nachgedacht hat, ausgerechnet ihn zurückzuholen. Mit Kerner ist es wie mit Persil: Man bekommt die Pflege, die man erwartet. Nicht mehr und nicht weniger. Kerner ist kein Kreuzworträtsel, aber wenigstens weiß man, was man hat. Guten Abend!
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Antje Hildebrandt
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Gestern noch „Tagesschau“-Sprecher, heute schon das neue Gesicht des Bällchensenders. Der Wechsel von Marc Bator zu Sat.1 zeigt, dass der Bekanntheitsgrad eines Moderators inzwischen fast jeden Fehlgriff legitimiert. Eine kleine Typologie der Auf- und Absteiger.
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2013-05-13T17:55:17+0200
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2013-05-13T17:55:17+0200
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https://www.cicero.de//kultur/wechsel-von-tv-moderatoren-marc-bator-immer-dem-geldscheinbuendel-nach/54422
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Proteste gegen Orbán in Budapest - „Die Medienlandschaft ist hier offen und frei“
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In Ungarn gehen die Menschen seit Tagen gegen die Politik der Regierung von Viktor Orbán auf die Straße. Auslöser ist eine Modifizierung des Arbeitszeitgesetzes. Darin wird unter anderem die erlaubte Überstundenzahl pro Jahr von 250 auf 400 angehoben. Jan Mainka lebt in Budapest und arbietet dort als Chefredakteur der deutschsprachigen Budapester Zeitung. Herr Mainka, von außen erinnern die Proteste in Ungarn stark an die der Gelben Westen in Frankreich Stimmt der Eindruck?
Qualitativ ist das kaum miteinander zu vergleichen. In Frankreich sind die Proteste viel tiefer verwurzelt. Man kann nicht sagen, dass das neue Gesetz die Leute massenhaft auf die Straße treibt, obwohl eigentlich die Arbeiter am meisten von dem Überstunden-Gesetz betroffen sind. Es protestieren aber eher Studenten und Anhänger der Oppositionsparteien. Die Opposition gegen Ministerpräsident Viktor Orbán bezeichnet die von dessen Fidesz-Partei eingebrachte Regelung als „Sklavengesetz“. Realistisch oder übertrieben?
Das ist sicherlich übertrieben. Es gehört natürlich zum politischen Tagesgeschäft, dass die Opposition stets kräftig an den Warnglocken zieht und zuspitzt. Zum jetzigen Zeitpunkt kann ich mir jedoch nicht vorstellen, dass die Unternehmen das Potenzial der neuen gesetzlichen Möglichkeiten massenhaft und voll ausschöpfen werden. In Ungarn herrscht fast Vollbeschäftigung, der Wettbewerb um Arbeitskräfte ist groß. Da werden es sich die Unternehmen schon sehr genau überlegen, ob sie ihre Arbeitsplätze wirklich unattraktiver machen wollen. Die große Frage bei uns ist übrigens, auf wessen Bestreben die Gesetzesänderung vorgenommen wurde. Waren das einige Multis? Kam die Initiative von den Automobilzulieferern? Ein kursierender Erklärungsansatz hält es für möglich, dass die Änderung vor allem die immer zahlreicheren Ukrainer im Fokus hat, die in Ungarn arbeiten. Diese sind eh an andere Sozialstandards gewöhnt und kommen nicht nach Ungarn, um hier möglichst viel Freizeit zu haben, sondern um möglichst viel zu arbeiten, damit sie ihren daheimgebliebenen Familien möglichst viel Geld schicken können. Die Opposition in Ungarn gilt als notorisch zerstritten. Gegen die Arbeitszeit-Änderung tritt sie aber sehr geschlossen auf, oder täuscht der Eindruck?
Das stimmt, und das ist sicherlich ein neues Moment in der ungarischen Politik. Die Proteste waren am Anfang heftig, lassen jetzt aber immer stärker nach. Aber die Einheit der Opposition könnte bestehen bleiben. Es war immer ein Unterpfand der Fidesz-Herrschaft, dass die Opposition extrem zersplittert ist. Es gibt viele kleine Oppositionsparteien, die teilweise von Egomanen geführt werden. Jetzt gehen jedoch sogar Angehörige von rechten und linken Oppositionsparteien gemeinsam auf die Straße. Das gab es unter Orbán noch nie und das könnte noch Auswirkungen haben auf die Zukunft. Inwiefern?
Das Wahlrecht in Ungarn begünstigt die stärkeren Parteien. Deswegen brauchte Orbán die anderen Parteien nicht zu fürchten. Zumindest solange sie einzeln gegen ihn antraten. Wenn sie sich jetzt jedoch unter einer Fahne – gegen Orbán – zusammenschließen, dann könnte es für ihn in deutlich mehr Wahlkreisen als bisher eng werden. Und es gibt im kommenden Jahr Kommunalwahlen und Europawahlen. Da könnte es schon unangenehm für den Fidesz werden. Die neue entdeckte Einheit der Opposition hat aber auch mit der unerbittlichen Art von Orbán zu tun, Konflikte zu lösen. Was meinen Sie?
Am vergangenen Sonntag sind Protestler zum Sitz des ungarischen Staatsfunks gezogen und wollten einfach nur ihre fünf Forderungen vor laufender Kamera vortragen, damit sie anschließend im staatlichen Nachrichtenkanal m1 gesendet werden. Doch die Sicherheitsleute haben das verhindert und trugen so dazu bei, dass sich die Situation in der Nacht von Sonntag auf Montag gewaltig zuspitzte. Über den Tumult in und um das Fernsehgebäude herum hat das Staatsfernsehen jedoch nur andeutungsweise berichtet. All das hat den Zorn der Regierungsgegner gewaltig angestachelt. Dieser Zorn gepaart mit der neuen Einheit gegen Orbán – das könnte interessant werden. Die extrem gedemütigte Opposition wird nun intensiv nach Möglichkeiten suchen, es der Regierung „heimzuzahlen“. Schon jetzt ist die Rede von landesweiten Streiks gleich im neuen Jahr. Die Sache mit dem Staatsfernsehen passt ins Bild, das man von Ungarn unter Orbán hat. Oft wird aus dem Ausland darüber berichtet, dass die Pressefreiheit immer stärker von der Regierung eingeschränkt wird. Haben Sie bei der Budapester Zeitung schon einmal einmischende Maßnahmen erlebt?
Nein, bisher noch nie, beziehungsweise nur von deutscher Seite. Wie bitte?
2015 haben wir auch über den Umgang mit der Flüchtlingskrise der deutschen Politik berichtet, diese hatte ja auch Ungarn unmittelbar betroffen. Da gab es bei uns auch kritische Kommentare. Wir bemühen uns immer, die Dinge von allen Seiten zu sehen, das ist unser Prinzip, wir sind schließlich die einzige deutschsprachige Zeitung in Ungarn. Da gab es dann plötzlich Reaktionen von deutscher Seite, verbunden mit der deutlichen Drohung mit materiellen Konsequenzen, wenn wir einige Aspekte der deutschen Außen- und Flüchtlingspolitik weiterhin in der bisherigen Weise kritisieren würden. So etwas ist mir sonst noch nie passiert, von Seiten des ungarischen Staates noch nicht einmal andeutungsweise. Haben Sie etwas in der Richtung von ungarischen Kollegen gehört?
Nein. Die Medienlandschaft ist hier offen und frei. Einige linke Zeitungen haben vielleicht Finanzierungsprobleme. Die größte von ihnen Népszava, lebt inzwischen zu etwa 50 Prozent von staatlichen Anzeigen. Das zeigt mir aber auch: Dem Staat ist es offenbar daran gelegen, eine gewisse Meinungsvielfalt sicherzustellen. Auf der anderen Seite verhindert die starke Abhängigkeit der Népszava vom Staat jedoch nicht, dass diese Zeitung die Orbán-Regierung massiv angreift. Man könnte es auch anders interpretieren. Népszava-Chefredakteur Gábor Horváth etwa hat der Süddeutschen Zeitung gesagt, er wäre nicht überrascht, wenn auf einmal die Türen verschlossen werden. So wie 2016 bei der bis dahin größten oppositionellen Tageszeitung Népszabadság.
Zur vollen Wahrheit im Fall Népszabadság gehört, dass die ungarischen Sozialisten mehrfach die Chance verstreichen ließen, diese traditionsreiche Zeitung zu kaufen und deren nachhaltiges Überleben sicherzustellen. So kam die Zeitung dann über mehrere Stationen in die Hände eines Orbán-nahen Oligarchen, der sie bald darauf schloss. Aber nicht primär, um sie mundtot zu machen, sondern vor allem deswegen, weil sie nicht in sein Portfolio passte und sich mit ihr mittelfristig auch kein Geld verdienen ließ. Trotzdem ist Ungarn unter Orbán im Index der Pressefreiheit der Nichtregierungsorganisation Reporter ohne Grenzen um 50 Plätze zurückgefallen und liegt jetzt hinter Mauritius.
Aber so erlebe ich das hier nicht. Für mich zählt: Wie viele regierungskritische Stimmen gibt es? Und gehen diese wirklich hart mit der Regierung um? Es gibt bei uns zwei regierungskritische Fernsehkanäle, vier bis fünf große Printmedien und mit index.hu das größte Online-Portal. Diese Medien erreichen ein riesiges Publikum und nehmen die Arbeit der Regierung sehr kritisch unter die Lupe. Es gibt aber auch das öffentlich-rechtliche Kossuth-Radio, in dem Orbán dem Volk regelmäßig freitags die Welt erklären darf.
Naja, in Deutschland lässt sich Angela Merkel doch auch in Talkshows einladen, um ihre Politik zu erklären. Orbán macht das eben etwas regelmäßiger. Also übertreiben unabhängige Organisationen wie Reporter ohne Grenzen? Warum sollten die das tun?
Natürlich ist in Ungarn nicht alles perfekt. Die staatlichen Medien sind sehr regierungsnah. Aber ist das in Deutschland wirklich anders? In Deutschland gilt für öffentlich-rechtliche Anstalten der verfassungsrechtliche Grundsatz der Staatsferne: „Eine Zensur findet nicht statt”.
Nein, offiziell nicht. Aber ich habe vor allem die öffentlich-rechtlichen Medien in Deutschland doch sehr staatsnah erlebt, gerade in den Berichten über die Situation in Ungarn 2015. Natürlich gibt es auch in Ungarn Verbesserungsbedarf. Und ja, einige Zeitungen gibt es nicht mehr. Auf der anderen Seite, und das kann ich im Vergleich zu anderen Ländern nicht hoch genug schätzen, gibt es in Ungarn so gut wie keine politische Gewalt. Wenn Sie gegen Orbán protestieren wollen, dann können Sie sich mit ihrem Transparent in die Straßenbahn setzen, zur Demo und anschließend wieder nach Hause fahren, ohne Angst vor physischer Gewalt zu haben. Kein Oppositionspolitiker muss in Ungarn Angst haben, dass ihm sein Auto demoliert oder die Hauswand seiner Wohnung beschmiert wird. Kein Gastwirt wird bei uns bedroht, weil in seinen Räumlichkeiten Vertreter einer Oppositionspartei zusammenkommen. In Deutschland sieht das inzwischen nach meinen Beobachtungen leider etwas anders aus.
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Constantin Wißmann
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In Ungarn protestieren zahlreiche Menschen gegen die Politik der Regierung von Viktor Orbán. Dessen Umgang mit der Pressefreiheit wird gerade aus dem Ausland immer wieder kritisiert. Zu Recht? Einblicke gibt Jan Mainka, Chefredakteur der „Budapester Zeitung“
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außenpolitik
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2018-12-21T13:44:37+0100
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2018-12-21T13:44:37+0100
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https://www.cicero.de//aussenpolitik/viktor-orban-ungarn-proteste-pressefreiheit-budapest
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Judith Kuckart: „Wünsche” - Aufbruch in ein neues Leben
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Die Sinnkrise der Mittvierziger ist nicht das allerneueste Thema – in Judith Kuckarts neuem Roman trifft sie die 46-jährige Vera. Einst hat sie von einem Leben als Schauspielerin geträumt, ist dann aber als Berufsschullehrerin in der Provinz hängen geblieben. Nun verschwindet sie an einem Silvestertag: Sie stiehlt im Schwimmbad Kleidung und Personalausweis und fliegt an ihren Sehnsuchtsort London. Während ihr Mann mit seinen Silvestergästen einen dreißig Jahre alten Film anschaut (den einzigen, in dem Vera je aufgetreten ist), läuft sie durch die Metropole und plant ein anderes Leben: „Ab heute gilt: Es werden keine alten Filme mehr angeschaut, sondern ein neuer wird gedreht. Regie, Kamera, Hauptdarstellerin: ICH.“ Trotz dieses Pathos erzählt Kuckart fesselnd von Veras Aufbruch, auch die Menschen in deren Umfeld werden gezeigt: Veras zwanzig Jahre älterer Mann, die Jugendfreundin Meret und deren Bruder Friedrich, die ein Kaufhaus in ihrer Heimatstadt geerbt haben. Der Name der beiden lautet wie der Buchtitel: „Wünsche“. Die ausgebildete Tänzerin Judith Kuckart schreibt tänzerisch leicht, wie hingetupft. Und obwohl der Roman voller Klischees steckt, sind die Sehnsucht und Entschlossenheit, mit denen Vera ihren Weg sucht, deutlich zu spüren: ein Fall von ernsthafter Leichtigkeit. Judith Kuckart: Wünsche. Roman. DuMont, Köln 2013. 268 S., 19,99 €
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Sabine Schmidt
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Judith Kuckart nimmt Lebenswünsche ernst
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kultur
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https://www.cicero.de//kultur/judith-kuckla-wunsche-aufbruch-ein-neues-leben/53939
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Verwilderung der Sitten – Fußball als Kampfsport
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Egal, ob Otto Rehhagels Berliner Fußballverein Hertha BSC nun aus der Bundesliga absteigt oder Protest gegen den zweifellos chaotischen Spielverlauf gegen Fortuna Düsseldorf einlegt: Die fast stoische Behauptung des Düsseldorfer Sportdirektors Werner im ZDF-Morgenmagazin, die „Todesangst“ der Berliner Kicker angesichts der Düsseldorfer Fans, die zu Tausenden das Feld vor Abbruch des Spieles stürmten, sei „maßlos übertrieben“, zeugt von einer Realitätsverweigerung, die typisch ist für die Verbandseliten der Bundesliga. Tatsache ist, dass die aus Italien importierte Sitte gewisser Fans, so genannte „Bengalos“ während des Spiels abzubrennen, zu Feuerkatastrophen und Panik führen kann. Die angereisten Berliner Zuschauer haben damit angefangen. Bereits zu diesem Zeitpunkt hätte der viel gerühmte Schiedsrichter Stark das Spiel abbrechen können. Er hat es nicht getan, um genau das zu verhindern: Massenaufruhr, Massenschlägereien unter gewaltbereiten Club-Fanatikern. Dass er die letzten 1,5 Minuten des Relegationsspiels nach 20minütiger Unterbrechung hat nachspielen lassen, folgte derselben Überlegung. Dafür ist er zu rühmen. Nicht zu rühmen ist der Verein Fortuna Düsseldorf. Sein renoviertes Stadion entsprach offensichtlich nicht den Verwilderungen der Fußballsitten, die sich seit Jahren schon vom Spielfeld auf die Ränge verbreitet hat. Die Zuschauer konnten ohne Schwierigkeiten die Banden überwinden und auf den Platz laufen. Ihre Zügellosigkeit spiegelte die Härte der Fouls wider, die inzwischen den Fußball zu einem Kampfsport gemacht haben. Der Hinweis darauf, dass dies an der enormen Geschwindigkeit liege, mit der heutzutage die Spieler aufeinanderprallen, ist eine lahme Entschuldigung. Spitzenmannschaften wie der FC Barcelona oder der FC Bayern oder Borussia Dortmund haben ihre Ballkünste verfeinert und können ohne die so genannten Nickeligkeiten gewinnen (und verlieren.) Elegante Spieler wie der Gladbacher Reus haben verstanden, dass ihr Beruf zwar ein Kontaktsport ist – aber besser noch funktioniert, wenn man den unbeholfenen Gegnern ebenso witzig wie schnell entkommt. Verhaltensforscher mögen Fußball als „ritualisierte Aggression“ bezeichnen. In den unteren Ligen der Republik fällt die Ritualisierung bisweilen weg, Boxkämpfe und Ohrfeigen unter Spielern kommen vor, und bisweilen trifft die Wut der Amateure auch Schiedsrichter. Das Fernsehen ist nicht dabei, wenn derlei Begegnungen in Kirmesschlägereien ausarten. Wohl aber notiert die Öffentlichkeit an den Bahnhöfen der Bundesliga-Standorte die Ankunft grölender und angetrunkener Fans, denen der brave Bürger am besten aus dem Weg geht. Als Fan-Block formieren sie sich in den Stadien zu Kohorten, die in jeder Hollywood-Verfilmung der Schlacht am Teutoburger Wald als wehrhafte Germanen auftreten könnten. Wenn sie nicht in ihrer Beweglichkeit als stolz und nackt präsentierte, ganzkörper-tätowierte Bierbauch-Träger behindert wären. Kein Zweifel, die Bundesliga-Vereine haben es in der Mehrheit verstanden, durch so genannte „Fan-Arbeit“ das gossenhafte Verhalten mancher (weiß Gott nicht aller!) ihrer Anhänger zu zähmen. Aber wie ist mit jenen umzugehen, die weiterhin Magnum-Böller und Feuerwerkskörper in die Stadien schmuggeln? Und wie lange ist es noch hinzunehmen, dass Hunderte, ja Tausende Polizisten auf Steuerkosten die Spiele der Millionen-Kicker bewachen? Anders gesagt: Was tun? Zehntausende Zuschauer vor Betreten der Stadien abzutasten, um einige Hundert gewaltbereite Fans fern zu halten, ist praktisch unmöglich. Stichproben und „Stadionverbote“ helfen nicht weiter. Wohl aber sollten sich die Vereine bereitfinden, mit Zivilklagen gegen solche Narren vorzugehen, die ihrem Geschäft Schaden zufügen. Empfindliche Geldstrafen würden sich schnell herumsprechen. Video-Kameras, die inzwischen zur Ausrüstung jeder Großstadt-Polizei gehören, könnten helfen, die Täter zu fassen. Berüchtigte Fan-Gruppen der unteren Ligen, die mit Nazi-Parolen auftreten, sollten zu Spielverboten durch den DFB führen. Die Bundesliga-Vereine sollten sich außerdem überlegen, ob ihre lautstarken Stadion-Einpeitscher nicht ihren Ton mäßigen könnten. Der circensischen Atmosphäre, die inzwischen zur Grundausstattung der Großstadien gehört, haftet ein latentes Gewaltgefühl an, das jungen Spielern, wenn sie denn aus den Katakomben auf das Feld traben, nach eigenen Aussagen „eine Gänsehaut“ verursacht. Vielleicht ist sie ein Signal von Angst – jener Angst also, die beim Relegationsspiel zwischen Berlin und Düsseldorf die Hertha-Spieler nach vorrübergehenden Abbruch des Matches in ihren Kabinen hielt. Dass sie trotzdem weiterspielten, dürften sie dem Ratschlag der Polizei verdankt haben, die vor einer Katastrophe warnten. Was für eine Mutprobe! Das Spiel muss wiederholt werden – vor leeren Rängen.
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Das Relegationsspiel Fortuna Düsseldorf gegen Hertha BSC hat es mal wieder gezeigt: Nicht alle Fans des Fußballsports können sich benehmen. Über die circensische Atmosphäre in den Großstadien
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kultur
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2012-05-16T15:25:10+0200
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2012-05-16T15:25:10+0200
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https://www.cicero.de//kultur/relegationsspiel-fortuna-duesseldorf-hertha-bsc-fussball-als-kampfsport/49354
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Video - Das boomende Geschäft mit den Bitcoins
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Wo kann man mit Bitcoins bezahlen? Wie kommt man an ein Konto? Wie funktioniert das Geschäft und was sind die Schattenseiten der Digitalwährung? Ein Reporter auf Spurensuche in Berlin.
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Deutsche Welle
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Die virtuelle Währung Bitcoin wird immer beliebter. Zwei Jungunternehmer haben nun die erste digitale Bank Europas gegründet. Vor allem bei Auslandsüberweisungen bietet die weltweit boomende Digitalwährung Vorteile
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"Bitcoin",
"Währung",
"Internet",
"Digitalisierung"
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wirtschaft
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2017-03-14T16:33:02+0100
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2017-03-14T16:33:02+0100
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https://www.cicero.de//wirtschaft/video-das-boomende-geschaeft-mit-den-bitcoins
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Modetrend Occupy – Bankenproteste sind anmaßend
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Der Anspruch der Anti-Banken-Demonstranten, sie repräsentierten
99 Prozent der Bevölkerung, war eine unglaubliche Anmaßung. Jedes
Bundesligaspiel zwischen zwei grauen Mäusen aus dem Mittelfeld
zieht mehr Zuschauer an, als sich am Samstag in Frankfurt (5000)
und Berlin (10000) versammelten. Das kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Bevölkerung
die Banken kritischer sieht denn je. Bankenschelte ist „in“ – an
der Currywurst-Bude wie an der Champagner-Theke. Das ist ja das
Neue an der derzeitigen Protestbewegung: dass eben nicht nur die
üblichen Verdächtigen wie Linkspartei, K-Gruppen oder Verdi gegen
„das Kapital“ zu Felde ziehen. Nein, auch immer mehr überzeugte
Verteidiger der Marktwirtschaft sehen in den Finanzinstituten üble
Ausbeuter – Unternehmen, die auf Kosten der Allgemeinheit Geschäfte
und Gewinne machen. Für den Volkszorn gibt es viele gute Gründe. Da sind zum einen
die unanständig hohen Bezüge der Bankmanager, die in keinem
Verhältnis zu ihren Leistungen stehen. Da sind die schlechten
Erfahrungen, die viele Anleger mit ihren „Bankberatern“ gemacht
haben. Denn diese Berater sind in Wirklichkeit Verkäufer, die ihren
Kunden allzu oft Papiere empfehlen, an denen die Bank mehr verdient
als der Anleger. Vor allem aber haben die Menschen das Gefühl, die Bankmanager
agierten in einem Parallel-Universum – völlig losgelöst von der
realen Wirtschaft. Ihre Geschäfte, dem Glücksspiel oft ähnlicher
als der althergebrachten Verwaltung von Einlagen und Kreditvergabe,
versteht niemand mehr. Was aber das Schlimmste ist: Die meist als
„Masters of the Universe“ auftretenden Banker mussten 2008 vom
Staat, das heißt von den Steuerzahlern, gerettet werden. Und jetzt,
drei Jahre später, benötigen sie wegen ziemlich wertlos gewordener
Staatsanleihen schon wieder einen Rettungsschirm. So weit, so schlecht. Doch bei aller Bankenschelte darf eines
nicht übersehen werden: An der Krise von 2008 wie an der aktuell
drohenden Schieflage ist die Politik in hohem Maße
mitverantwortlich. Es war die Regierung Clinton, die die US-Banken
zwang, auch solchen Amerikanern eine Hypothek zu gewähren, die
gemeinhin als schlechte Risiken galten; eine Politik, die von
George W. Bush fortgesetzt wurde. Lesen Sie auf der nächsten Seite, wie die Verantwortung für
die Krise sich tatsächlich verteilt und warum die Politik anders
auftreten muss. Die Banken haben aus diesem gigantischen Eigenheimprogramm das
für sich beste gemacht: Sie haben diese Hypothekenkredite verbrieft
und weltweit gehandelt. Als die Immobilienblase platzte, stellte
sich heraus, dass die deutschen Landesbanken besonders viele dieser
Schrottpapiere im Depot hatten. Was zeigt, dass die Gier in von
Politikern kontrollierten, staatlichen Banken offenbar nicht
geringer ist als bei der „kapitalistischen“ Konkurrenz. Auch kann man nicht die Banken dafür verantwortlich machen, dass
bei der Einführung des Euro Italien mitmachen durfte, obwohl es
wirtschaftlich nicht fit für die Währungsunion war. Die Banken
waren ebenfalls nicht beteiligt, als die rot-grüne Bundesregierung
zusammen mit Frankreich die Sanktionen gegen Defizitsünder aufhob.
Die Banken waren nur Zuschauer, als die Griechen in „Euroland“
aufgenommen worden, obwohl das Land die Kriterien nicht erfüllte.
Und man kann den Banken nicht ankreiden, dass ausnahmslos alle
Euro-Länder heute deutlicher höher verschuldet sind als bei
Einführung der Gemeinschaftswährung. Unser drängendstes Problem ist die Staatsverschuldung – nicht
die Profitgier der Banker. Würden wir den Parolen der „Occupy
Frankfurt“-Demonstranten folgen – also keine Hilfe für Griechenland
und keine Rekapitalisierung der Banken – stünden wir freilich noch
schlechter da. Dann würden viele Banken zusammenbrechen – und die
Bürger kämen nicht mehr an ihr Geld. Dann zählten wirklich 99
Prozent der Menschen zu den Verlierern. Dennoch: Es bleibt der Politik nichts anderes übrig, als den
Banken zu helfen, ihre Eigenkapitalbasis zu stärken. Der Staat muss
aber – anders als 2008 – als Gegenleistung für seine Stützaktion an
den Banken beteiligt werden. Hilfe ohne Gegenleistung hat mit
Marktwirtschaft nämlich nichts zu tun. Das müssten die Herren in
den Türmen als erste verstehen. Die können ja, wenn es ihnen wieder
besser geht, dem Staat seine Beteiligungen wieder abkaufen – zum
Marktpreis, versteht sich. Was aber das Wichtigste ist: Die Politik muss es schaffen, Herr
des Verfahrens zu werden. Solange Regierungen als Marionetten der
Banker erscheinen, nehmen die Regierten sie nicht mehr Ernst. Das
Motto muss deshalb heißen: Rettung gegen Regulierung. Alles andere
wäre eine Kapitulation der Politik vor dem Kapital. Hugo Müller-Vogg ist ein deutscher Journalist, Buchautor und
Publizist. Er schreibt regelmäßig für den
Axel-Springer-Verlag.
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Der Unmut der "Occupy-Bewegung" richtet sich einseitig gegen die Banken, aber auch die Politik trägt Mitschuld an der Krise. Dennoch: das Geben ohne Gegenleistung muss aufhören, sagt Gastautor Hugo Müller-Vogg in seinem Kommentar.
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wirtschaft
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2011-10-19T10:30:55+0200
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2011-10-19T10:30:55+0200
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https://www.cicero.de//wirtschaft/bankenproteste-sind-anmassend/46207
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Gauck und die Linke - Die Trunkenheit des Präsidenten
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Zum Einstieg ein Geständnis: Wir Medienmenschen sind bigott. Wir führen individuell Interviewpartner mit manchen Fragen in Versuchung und ereifern uns hinterher als Kollektiv, wenn sich jemand in Versuchung führen ließ. Aber: Was niederträchtig wirkt, muss genau so sein. Die Medien müssen das Stöckchen hinhalten. Keiner muss darüber springen. In Versuchung führen, der Versuchung erliegen oder ihr widerstehen – das sind die Regeln eines Rollenspiels, das zu unserer Demokratie gehört. Das war bei Gerhard Schröder so, als er einmal gefragt wurde, ob es sich bei Wladimir Putin um einen lupenreinen Demokraten handle. Fortan war er der Kanzler, der Wladimir Putin als lupenreinen Demokraten bezeichnete. Und das ist jetzt so, als Bundespräsident Joachim Gauck gefragt wurde, ob die Linke schon so weit weg von den Vorstellungen der SED sei, „dass wir ihr voll vertrauen können“. Gauck ließ sich auf die Grundaussage ein, im Unterschied zu Schröder machte er sich sogar die Begrifflichkeit zu eigen und ging über den Zungenschlag der Frage noch hinaus. Er stellte aufgrund der Historie der Linkspartei das geplante Bündnis von Rot-Rot-Grün in Thüringen und die Koalitionsreife der Linken grundsätzlich infrage. Völlig losgelöst von der Partei, die diese Aussage des Präsidenten betrifft: Das geht über jede Grenze seiner Rolle hinaus. Ein Präsident kann, soll und muss sich in gesellschaftliche Fragen einmischen. Parteipolitisch aber ist er zur Neutralität verpflichtet. Es ist nicht einfach eine Geste, dass er der Bundespräsident seine Mitgliedschaft in einer Partei ruhen lassen muss für die Dauer seiner Amtszeit. Damit verbunden ist die Erwartung, dass er seine Rolle als oberster politischer Notar des Staates ohne parteipolitische Einfärbung wahrnimmt. Gauck schrammte schon scharf an dieser Grenze entlang, als er seinerzeit die NPD als Hort von „Spinnern“ bezeichnete. Dafür hat er vom Bundesverfassungsgericht noch einen Persilschein bekommen. Nun ja. Koalitionen sind Parteipolitik. Wenn sich Gauck hier zu einer öffentlichen Meinungsäußerung hinreißen lässt, dann kann er das nächste Mal auch eine Meinung äußern über ein neues Grundsatzprogramm, das sich die CDU oder die SPD zulegt. Was erlauben Gauck? ist also die Frage. Und sie hat wieder etwas Bigottes. Weil sich viele zu Recht einen Präsidenten wünschen, der sich mehr als mancher seiner Vorgänger einmischt. Aber auch dieses Mehr hat Grenzen. Und die sind in diesem Fall überschritten. Die nächste Frage ist: Warum tut Gauck das? Warum passiert ihm das? In diesem Fall spielt die eigene Biographie eine Rolle, ganz klar. Aber vor allem ist es Gaucks Eitelkeit. Dieser Präsident ist ein Mann, der sich selbst die Tränen der Rührung in die Augen reden kann. Ein Mann, oft trunken an sich selbst. Ein Mann, der alles schon deshalb für bedeutend hält, weil er es denkt und sagt. In diesem Rausch seiner selbst merkt er manchmal nicht mehr, wie unklug das ist, was er gerade tut. Gelegentlich verheddert er sich dabei auch fürchterlich in Widersprüche. So etwa bei seinen Gehversuchen in der Außenpolitik. Einmal relativiert er die von der Kanzlerin ausgerufene Staatsräson eines unbedingten Eintretens für das Existenzrechts Israel - weil er darin (zu Recht) die Möglichkeit wittert, dass eine solche Zusage auch militärische Konsequenzen haben kann. Und das nächste Mal mahnt er mehr internationale Verantwortung Deutschlands auch in militärischer Hinsicht an. Das passt hinten und vorne nicht zusammen. Es passt aber zum Naturell dieses Präsidenten und damit zu seiner problematischen Seite. Eine mit dem gleichen Hintergrund (Osten, protestantisch) und einem völlig anderen Naturell (kontrolliert zu jedem Moment) hat das immer geahnt. Gaucks Unbeherrschtheit aus Eitelkeit ist die entscheidende Ursache für Angela Merkels Vorbehalte gegen diesen Präsidenten gewesen. Nicht der Umstand, dass ihr die Opposition unter Beihilfe ihres damaligen Koalitionspartners FDP Gauck aufgedrückt hat. Und die Lösung? Joachim Gauck sollte sich weniger an sich selbst begeistern. Und wir alle könnten ihm dabei helfen: Indem wir ihn in seiner zweiten Hälfte der Amtszeit nicht weiter so bedingungslos toll finden wie in der ersten. Lesen Sie hier, warum Joachim Gauck doch Recht hat.
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Christoph Schwennicke
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Darf sich ein Bundespräsident in die Regierungsbildung einmischen? Nein, darf er nicht. Joachim Gauck hat mit seinen Äußerungen zu Rot-Rot-Grün in Thüringen eine Grenze überschritten und wird Opfer der eigenen Eitelkeit
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innenpolitik
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2014-11-04T11:47:21+0100
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2014-11-04T11:47:21+0100
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https://www.cicero.de//innenpolitik/gauck-und-die-linke-die-trunkenheit-des-praesidenten/58428
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Donald Trump - Und wenn er doch alles richtig macht?
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Im linksliberalen Tagesspiegel erschien heute auf Seite eins ein bemerkenswerter Beitrag von einem der angesehensten außenpolitischen Kommentatoren, Christoph von Marschall. Er betrachtet ein Phänomen, über das viele Deutsche ungläubig staunen. Die Zustimmung zu Donald Trump in den USA ist mit über 45 Prozent so hoch wie seit zwei Jahren nicht mehr – trotz des Handelsstreits mit China, trotz des Konflikt mit dem Iran, trotz seiner Nordkorea- und Nahost-Politik. Oder gerade deswegen? Von Marschall, der jahrelang als US-Korrespondent tätig war, bemerkt, dass es eine typisch deutsche Attitüde ist, immer erst auf die Gefahren zu blicken. Zumindest die eine Hälfte der Amerikaner aber sieht auch die Chancen, die in Trumps Politik liegen. Mit den späteren Ergebnissen seiner risikofreudigen Politik werde der US-Präsident die Pessimisten schon widerlegen, denken seine Unterstützer – wie er es in der Wirtschaftspolitik durchaus geschafft hat. Die boomt, allen Warnungen vor Trumps Steuersenkungen zum Hohn. Sollten wir uns also mehr auf seine Politik einlassen? Anders als in Deutschland, geben manche Regierende aus anderen EU-Ländern wie Polen und Frankreich Trump in manchen seiner Aktionen Recht, schreibt von Marschall. Aber auch bei uns gibt es Unmut über das Iranabkommen von 2015. Bei den Zielen ist man sich mit den USA in vielen Konflikten nahezu einig, nur wenn es um die Wahl der Methoden geht, gibt es Schwierigkeiten bei der Annäherung. Da Trump sich aber kaum überzeugen lassen wird, sich wieder dem europäischen Kurs anzupassen, bemerkt von Marschall, sollten sich die Europäer für einen neuen Atomdeal mit dem Iran einsetzen und den Druck auf Peking erhöhen. Nur so können sie die Erfolgschancen dieser Politik erhöhen. Es stellt sich die Frage: „Sind die Deutschen offen für die Idee, dass ein härterer Umgang mit den Gefährdern der internationalen Ordnung Erfolg haben könnte?“ Man könnte auch fragen: Sind die Deutschen bereit, sich einzugestehen, dass Trumps Politik möglicherweise Erfolg haben könnte?
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Cicero-Redaktion
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Die Deutschen kommen aus dem Kopfschütteln über Donald Trump nicht mehr heraus. Bei den Amerikanern ist der US-Präsident dagegen so beliebt wie seit zwei Jahren nicht mehr. „Tagesspiegel“-Redakteur Christoph von Marschall plädiert für einen Blick ohne Scheuklappen auf den US-Präsidenten
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"Trump",
"USA",
"Außenpolitik",
"EU",
"Iran",
"China"
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außenpolitik
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2019-05-14T11:40:37+0200
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2019-05-14T11:40:37+0200
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https://www.cicero.de//aussenpolitik/donald-trump-eu-iran-atomabkommen
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Achim Kaufmann – Piano Paradox
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Das Klavier ist im modernen Jazz in den Hintergrund getreten. Klar, da sind die Helden von einst, Chick Corea oder Herbie Hancock oder der unerschöpfliche Keith Jarrett; es gibt die Riege der smarten, jungen Hipster, die mit ihrer nicht immer sehr originellen, eklektischen Musik regelmäßig Kammermusiksäle füllen; Brad Mehldau mit Namen, Jason Moran oder Vijay Iyer. Geht man dagegen an jene Orte, an denen neue Wege beschritten werden, wo kompromisslos nach neuen Ausdrucksmöglichkeiten gesucht wird, ob in Berlin oder Brooklyn, dann fällt doch auf, dass – wie schon zu Zeiten Louis Armstrongs oder Charlie Parkers – die wichtigen Impulse von Bläsern ausgehen, von Klarinettisten wie Rudi Mahall oder von Trompetern wie Thomas Heberer. Einer aber fällt da aus dem Rahmen, ein Pianist, der sich dem Mainstream strikt verweigert und stetig an einer eigenständigen musikalischen Handschrift arbeitet: Achim Kaufmann. So ist es auch nicht verwunderlich, dass er, wenn man ihn in seiner Wohnung im Berliner Wedding zwischen riesigen Zimmerpflanzen nach seinen Helden, nach pianistischen Vorbildern fragt, fast abwehrend reagiert: „Natürlich Bud Powell, Monk oder Herbie Nichols, aber eigentlich alle. Alle, die gut sind.“ Was aber ist gut? „Das kann auch afrikanische Musik sein oder Bob Dylan. Wenn es vielschichtig ist, wenn man immer wieder Neues in ihr entdecken kann. Klang, Rhythmus. Das kann man natürlich auch durch Komposition erreichen. Aber mein Mittel ist eben die Improvisation.“ Wobei, wenn man die Ohren aufspannt, auch der Einfluss klassischer Musik in Kaufmanns Spiel erkennbar ist: Haydn, Schönberg, Messiaen. Mit Anfang zwanzig habe ihn, als er in Dortmund Zivildienst leistete, sein dortiger Lehrer Frank Wunsch auch an vorbarocke Klavierliteratur herangeführt. Von Haus aus hätte er ohnehin die besten Voraussetzungen gehabt, Vater wie Mutter seien klassische Pianisten, aber als Kind habe es mit dem Unterricht nie so recht geklappt. Erst als er mit 15 Jahren den Jazz für sich entdeckte, begann er ernsthaft, sich mit dem Klavier auseinanderzusetzen. Jetzt steht ein Flügel der Firma Ibach in seiner Wohnung, ein schönes Stück aus den zwanziger Jahren, mit warmem Klang, „ziemlich heruntergespielt allerdings, ich müsste ihn mal aufarbeiten lassen. Oder eben doch ein modernes Instrument kaufen.“ Kaufmann spricht ruhig und zurückhaltend. Er gehört zu jenen, die erst einmal hören, was die anderen so machen, anstatt sofort selbst in die Tasten zu hauen. Ein Beobachter, der den Dingen geduldig beim Wachsen zusieht. So ist, obwohl er in diesem Jahr 50 wurde, sein Oeuvre doch recht überschaubar. Einige hochgelobte Trio- und Quartetteinspielungen, eine Soloplatte, und gerade ist eine neue CD erschienen, „Geäder“ (gligg records), die vierte Einspielung mit zwei langjährigen Weggefährten, dem Saxofonisten Frank Gratkowski und dem Bassisten Wilbert de Joode. Vollständig frei improvisiert, wie diese Aufnahme ist, hat man über weite Strecken doch den Eindruck, dass das alles geplant und durchdacht sein muss, so organisch wirkt die Musik, so selbstverständlich entwickelt sich das eine aus dem anderen, so eng verzahnt ist das Zusammenspiel. Achim Kaufmann lebt ein Paradox: Er ist Perfektionist und setzt sich doch mit jedem Konzert wieder dem Neuen aus, der stetigen Überraschung. Man brauche viel Erfahrung, um frei spielen zu können, sagt er. So habe es zum Beispiel lange gedauert, bis er begriffen habe, dass man zuweilen auch offensiv gegen das Spiel der Mitmusiker anspielen müsse, damit insgesamt etwas Gutes entstehe. Diese Erfahrungen hat Kaufmann vor allem in Amsterdam gesammelt, wo er 13 Jahre lang lebte, bevor er 2009 nach Berlin ging. Weil es größer ist, wie er sagt, weil es hier größere Wohnungen gebe, die man sich auch als Jazzpianist leisten könne, und natürlich, weil die Szene hier so lebendig sei, weil so viele Freunde in Berlin lebten. Dabei stützt er sein Kinn auf die Pianistenhand, den langen weißen Daumen fast bis zum Ohr gespreizt. Im Hintergrund steht die riesige Schallplattensammlung im Regal, bemalte Holztafeln hängen an den Wänden, und von draußen scheint die Weddinger Sonne hinein. Ein Fotograf kommt und bittet den Pianisten, seine Nase doch bitte etwas weiter nach rechts zu wenden. „Nur die Nase“, sagt Kaufmann, „das dürfte schwer werden.“ Später setzt er sich an den Ibach und spielt für die Besucher ein paar Takte. Erst klingt es nach Fingerübungen, die chromatische Tonleiter rauf und runter. Dann aber nehmen Kaufmanns Finger eine seltsame Abzweigung, ein paar Töne prallen zusammen, und es klingt so, als seien sie selbst erstaunt, einander hier zu treffen. Da aber sind die Hände schon weitergewandert. Für lange Abschiede bleibt keine Zeit. Und auch wir müssen wieder gehen.
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Achim Kaufmann ist einer der aufregendsten Jazzpianisten - trotzdem gibt es kaum Aufnahmen von ihm.
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kultur
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2012-12-26T09:15:45+0100
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2012-12-26T09:15:45+0100
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https://www.cicero.de//kultur/Kaufmann-Achim-jazz-piano-paradox/52938
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Ukraine – Was ist aus den Protesten gegen die EM geworden?
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Nicht jeder Protestvorschlag hatte Erfolg. FDP-Generalsekretär
Patrick Döring konnte sich mit seiner Forderung, die Spiele der Fußball-Europameisterschaft lieber
nach Deutschland zu verlegen, nicht durchsetzen. Und die
Vorsitzende der Grünen-Bundestagsfraktion, Renate Künast, hatte mit
ihrer Idee, Schals in den Farben der Revolution zu tragen, bei
Lukas Podolski und Co auch noch keinen Erfolg. Gerade vor dem
Spiel gegen die Niederlande in Charkiw ziert
man sich vor dem orangefarbenen Textil wohl ein wenig. Aber das Spiel ist nicht nur sportlich brisant, sondern auch
politisch – findet es doch dort statt, wo die ehemalige ukrainische
Regierungschefin Julia Timoschenko in einem Gefängniskrankenhaus
unter unwürdigen Bedingungen inhaftiert ist. Der Parlamentarische Geschäftsführer der Grünen im Deutschen
Bundestag, Volker Beck, fordert deshalb ein Zeichen der Spieler.
"Da erwarte ich mir nochmal ein starkes Signal der deutschen
Delegation - gegen die Haftbedingungen und gegen den Umgang mit
Oppositionellen insgesamt", sagte Beck dem Tagesspiegel. Wochen vor
der Europameisterschaft rollte wegen der
Haftbedingungen Timoschenkos und wegen dem Umgang des ukrainischen
Präsidenten, Viktor Janukowitsch, mit Oppositionellen eine
Empörungswelle durch Deutschland. Seitdem ist es stiller geworden.
Und doch hinterlässt der Protest Spuren. Wie verhält sich die Politik? Zurückhaltend. Und genau das ist auch das Ergebnis der
Protestwelle. Denn während es bei anderen Fußball-Großereignissen
längst zum Standard gehörte, dass es sich politische Repräsentanten
auf den Tribünen bequem machten, bleiben die meisten Staats- und
Regierungschefs den ukrainischen Spielstätten zurzeit fern.
Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) wird kein deutsches
Vorrunden-Spiel besuchen und wie es bei einem möglichen
Weiterkommen der deutschen Mannschaft dann aussieht, ist offen.
Auch sonst macht sich kaum ein deutscher Politiker auf den Weg in
die Ukraine. Aus den Bundestagsfraktionen haben sich keine Delegationen oder
einzelne Abgeordnete auf den Weg gemacht. Bundespräsident Joachim
Gauck wird die Vorrunde ebenfalls verstreichen lassen. Für die Zeit
danach gibt es laut Bundespräsidialamt noch keine genauen
Überlegungen. Einzig Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich (CSU)
hat angekündigt, im Falle eines Finaleinzugs nach Kiew zu
reisen. Einen Plan für ein mögliches Rahmenprogramm gibt es aber
laut Innenministerium noch nicht. Für Beck ist das ein "falsches
Signal, jetzt schon anzukündigen, dass er ein deutsches Final-Spiel
in Kiew besuchen werde". Der Druck auf Janukowitsch müsse hoch
gehalten werden, fordert er. International sieht es nicht viel anders aus. Auch andere
Staats- und Regierungschefs verzichten auf einen Stadionbesuch in
der Ukraine. Insbesondere für die Niederländer könnte das ein
kleines Handicap sein, denn sie müssen auf königlichen Beistand im
Spiel gegen Deutschland verzichten, weil Königin Beatrix den
ursprünglich geplanten Besuch wieder gestrichen hat. Der dänische
Kultusminister Uffe Elbaek löste die Problematik auf andere Weise.
Er verzichtete beim Spiel der Dänen gegen die Niederlande auf
seinen Ehrentribünen-Platz und feierte den 1:0-Erfolg lieber
im Fanblock. Seite 2: Ist Abwesenheit schon
Protest? Ist Abwesenheit schon Protest? Offiziell begründen die meisten ihre Abwesenheit mit
„Terminproblemen“. Was an einigen Stellen auch stimmt. So beginnt
am Wochenende der G-20-Gipfel in Mexiko und anschließend gibt es
einen EU-Gipfel. Trotzdem hätte es Zeitfenster gegeben, so beim
Spiel in Charkiw, weshalb das Fehlen dort als Protest verstanden
werden darf. Wie reagiert das System Janukowitsch? Der umstrittene Präsident gibt sich optimistisch, doch noch ein
Foto mit einem Polit-Promi zu bekommen. „Es werden viele bedeutende
Regierungschefs kommen, unter anderem Polens Präsident Bronislaw
Komorowski und aus Russland entweder Ministerpräsident Dmitri
Medwedew oder Präsident Wladimir Putin“, sagte er. Bisher aber muss
er auf PR-Bilder verzichten. Auch beim Auftaktspiel der Ukrainer am
Montagabend wurde der schwedische Ministerpräsidenten Fredrik
Reinfeldt nicht erwartet. Genauso handhaben es Frankreichs
Präsident Francois Hollande und der britische Premierminister David
Cameron, deren Mannschaften in derselben Vorrunden-Gruppe wie die
Ukraine spielen – auch sie verzichten vorerst auf Reisen zur EM in die Ukraine. Was passiert aktuell in der Ukraine? Walerij Dutko ist Vize-Chef der Timoschenko-Partei
„Batkiwtchina“ („Vaterland“) in Charkiw und als solcher auch
verantwortlich für die Pro-Timoschenko Demonstrationen vor der
Strafkolonie, in der Timoschenko vor ihrer Verlegung ins
Haftkrankenhaus eingesessen hat. Diese Demonstrationen seien
kürzlich verboten worden, klagt der Oppositionelle, weil die
Proteste den Verkehr behindern würden. Ein technischer Grund für
ein politisch motiviertes Verbot finde sich immer. Ostap Senerak,
ein enger Mitarbeiter von Timoschenkos Anwalt Serhij Wlasenko,
schildert die verzweifelte Situation: „Es war ein persönlicher
Entscheid von Staatspräsident Janukowitsch, Timoschenko einsperren
zu lassen.“ Niemand könne ihn zum Umdenken bewegen – weder die
orthodoxe Kirche, noch Putin, Brüssel oder Berlin. Laut westlichen
Diplomaten sollen selbst Mitglieder der Regierungspartei
durchblicken lassen, dass das Land in eine Sackgasse stecke. Am
Montagnachmittag wurden in Kiew „Freiheit für Julia!“-T-Shirts
verteilt. Ist die EM politisch besonders aufgeladen? Der Fall Timoschenko hat sicher dazu beigetragen. Doch ist
dieses Thema bisher eher latent im Hintergrund. Mehr Aufladung
verleiht die Euro-Krise dem Turnier. Denn jeder Sieg oder auch jede
Niederlage Spaniens, Griechenlands oder auch Irlands wird als
Signal in diese Länder der Euro-Krise interpretiert – vor allem von den jeweiligen
Regierungen. Politisch brisant wird das Turnier derzeit durch
rassistische Zwischenfälle in den
Gastgeberländern – in der Ukraine ist das auch eng mit
Janukowitsch verbunden, weil viele Oppositionelle klagen, dass der
Präsident solche Zwischenfälle bewusst hinnehme.
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Im Vorfeld der Fußball-Europameisterschaft haben besonders die Deutschen das ukrainische Regime heftig kritisiert. Jetzt steht ein politisch heikles Spiel in Charkiw an. Was ist aus dem Protest geworden?
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außenpolitik
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2012-06-12T08:53:16+0200
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2012-06-12T08:53:16+0200
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https://www.cicero.de//aussenpolitik/was-ist-aus-den-protesten-gegen-die-em-geworden/49689
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Cicero-Buch „Der Selbstbetrug" - Gespräch über Migration: „Geistig von der AfD befreien“
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Die Auseinandersetzung um Migration und Integration, um Flüchtlings- und Asylpolitik ist angesichts des neuen Zuwanderungshochs wieder in vollem Gange. Gleichzeitig aber gibt es keine europäische Asylpolitik, sind die Außengrenzen der EU löchrig, geht die Bundesregierung von überzogenen Zahlen für die qualifizierte Einwanderung aus, werden die Alarmrufe der Städte und Kommunen kleingeredet, wächst das Unbehagen von immer größeren Teilen der Bevölkerung. Die Autoren des jetzt im Verlag Herder erschienenen Cicero-Debattenbuches „Der Selbstbetrug - Wenn Migrationspolitik die Realität ignoriert“ zeichnen die aktuellen Entwicklungen im Asylsystem, beim Thema Fachkräftezuwanderung oder bei der Versorgung von Flüchtlingen nach. Sie plädieren für eine realistische Perspektive, damit die humanitären Notwendigkeiten und die positiven Effekte von Zuwanderung ebenso wie die Belastungen und Gefährdungen für die Gesellschaft benannt und diskutiert werden können. Das Buch wurde diese Woche gemeinsam mit CDU-Politiker Jens Spahn in Berlin vorgestellt. Spahn betonte in dem Zusammenhang die Wichtigkeit des Themas und sprach darüber mit Cicero-Chefredakteur Alexander Marguier und SPD-Mitglied Mathias Brodkorb, Cicero-Kolumnist und ehemaliger Finanzminister des Landes Mecklenburg-Vorpommern. Mit dabei war auch Volker Resing, Leiter Berliner Republik bei Cicero, der Mit-Herausgeber des Sammelbandes ist. Um das dazugehörige Video zu sehen, klicken Sie untenstehend auf Inhalte aktivieren. Alternativ finden Sie es auf YouTube. Die Diskussion wurde am 6. September 2023 in den Räumen der Stiftung Familienunternehmen und Politik in Berlin aufgezeichnet. Wir bedanken uns bei Welt TV, dass uns das Videomaterial zur Verfügung gestellt wurde.
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Cicero-Redaktion
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Diese Woche haben wir das Cicero-Buch „Der Selbstbetrug - Wenn Migrationspolitik die Realität ignoriert“ vorgestellt. Dafür diskutierten CDU-Politiker Jens Spahn, Chefredakteur Alexander Marguier und Kolumnist Mathias Brodkorb über Migration und Integration. Das Gespräch als Video.
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2023-09-08T11:09:07+0200
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2023-09-08T11:09:07+0200
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https://www.cicero.de//innenpolitik/buchvorstellung-selbstbetrug-buch-herder-spahn-marguier-
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Bertelsmann-Studie sieht Kita-Krise - Hunderttausende Plätze zur Kinder-Betreuung fehlen
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In Deutschland fehlen einer Studie zufolge rund 430 000 Kita-Plätze – trotz Rechtsanspruchs auf einen Betreuungsplatz. Zwar habe es Fortschritte beim Ausbau von Kita-Angeboten gegeben, der Bedarf sei aber zugleich kontinuierlich gestiegen, die Lage inzwischen „untragbar“, hieß es bei Veröffentlichung des „Ländermonitoring Frühkindliche Bildungssysteme“ der Bertelsmann Stiftung am Dienstag. Die Analyse sieht eine Kita-Krise und mahnt kurz- und langfristige Maßnahmen an. In den westdeutschen Bundesländern fehlen demnach 385 900 Plätze, um den Betreuungsbedarf zu erfüllen. In Ostdeutschland bestehe eine Lücke von etwa 44 700 Kita-Plätzen. Seit 2013 besteht für Kinder nach ihrem ersten Geburtstag ein Rechtsanspruch auf einen Betreuungsplatz. Für Jungen und Mädchen ab drei Jahren gibt es den Anspruch schon seit 1996. Immer mehr Eltern wünschen sich den Angaben zufolge auch besonders für ihren jüngeren Nachwuchs eine Betreuung. Entsprechend groß ist der Mangel vor allem bei U3-Plätzen, also für unter Dreijährige. Der Personalmangel sei nach wie vor ein gravierendes Problem. In Ostdeutschland ist der Anteil der Kinder, die eine Kita besuchen, wesentlich höher als im Westen. Beim Qualitätsmerkmal Personalschlüssel sieht es im Osten ungünstiger aus: Eine vollzeitbeschäftigte Fachkraft betreut dort rechnerisch 5,4 Kinder im Alter von unter drei Jahren. Bei den älteren Jungen und Mädchen ab drei Jahren kümmert sich eine Erzieherin im Schnitt um 10,5 Jungen und Mädchen. Im Westen komme eine Fachkraft auf 3,4 unter Dreijährige und auf 7,7 ältere Kinder ab drei Jahren. Kindgerecht sei nach wissenschaftlichen Empfehlungen ein Personalschlüssel von 1 zu 3 für die Kleinsten und 1 zu 7,5 für die Betreuung der über Dreijährigen, hieß es in Gütersloh. Der Fachkräftemangel erschwere es zunehmend, den Bildungsauftrag der Kitas umzusetzen. „Die Situation ist für Kinder und Eltern wie auch für das vorhandene Personal untragbar geworden“, betonte Bildungsexpertin Anette Stein. Die Autorinnen und Autoren sehen Chancen auf «spürbare» Verbesserungen bis 2030. Allerdings müsse dafür umgehend gehandelt werden. In den ostdeutschen Ländern hält die Analyse wegen sinkender Kinderzahlen beim Personalschlüssel eine Angleichung ans Westniveau für möglich, ebenso eine Deckung des Platzbedarfs. Voraussetzung aber: „Für alle Ost-Bundesländer gilt, dass das aktuell beschäftigte Kita-Personal nicht entlassen werden darf und sogar zusätzlich neue Fachkräfte gewonnen werden müssen.“ Für die meisten westdeutschen Länder könnte es schwieriger werden, bis 2030 bei Deckung des Platzbedarfs und Personalschlüssel die Ziele zu erreichen. Es gelte, beim Platzausbau mehr Tempo zu machen. Tendenziell positiver sehe es in Hamburg, Niedersachsen und Schleswig-Holstein aus. So mahnt das Autorenteam langfristige Strategien für die Gewinnung und Qualifizierung von neuen Fachkräften an. Es brauche attraktive Arbeitsbedingungen auch, damit das Personal im Berufsfeld bleibe. Als Sofortmaßnahme solle das pädagogische Personal von Hauswirtschafts- und Verwaltungsaufgaben entlastet werden. Auch Quereinsteiger könnten die Lage entspannen. Abstriche bei der pädagogischen Qualifizierung dürfe es allerdings nicht geben. In einigen Bundesländern könne eine vorübergehende Reduzierung der Kita-Öffnungszeiten bis 2025 hilfreich sein. Eine solche einschneidende Maßnahme müsse mit allen Partnern gut abgestimmt sein. Die Kita-Krise sei so weit fortgeschritten, dass «neue Antworten» gefragt seien, unterstrich die Stiftung. dpa Das könnte Sie auch interessieren:
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Cicero-Redaktion
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Zwar gibt es Fortschritte beim Kita-Platz-Ausbau. Trotzdem ist der Rechtsanspruch auf eine Betreuung für Hunderttausende Kinder laut Studie unerfüllt. Vor allem die Kleinsten gehen leer aus.
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innenpolitik
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2023-11-28T10:28:51+0100
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2023-11-28T10:28:51+0100
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https://www.cicero.de//innenpolitik/kita-krise-studie
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Internationale Presseschau - Rückschlag für Schulz, Rückenwind für Merkel
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The Times (Großbritannien):
„Deutschlands Sozialdemokraten haben bei den wichtigen Regionalwahlen in Nordrhein-Westfalen, einst das ausgedehnte industrielle Kernland, eine wohlverdiente Niederlage eingefahren. Nach diesem Ergebnis lässt sich mit Sicherheit darauf wetten, dass Angela Merkel nach den Wahlen im Herbst wieder Bundeskanzlerin wird. Als Deutschland vor 18 Monaten mit der Zuwanderung von Hunderttausenden von Flüchtlingen konfrontiert war, hatte man sie bereits abgeschrieben. Jetzt scheint sie auf einer Welle zu reiten, und Mitte-Links wird es sehr schwer haben, sie zu verdrängen.“ La Repubblica (Italien):
„Das Ergebnis in Nordrhein-Westfalen gibt Angela Merkel auf dem Weg zur vierten Amtszeit als Kanzlerin Rückenwind. Es stimmt, dass die Wahl im Bundesland von Kanzlerkandidat Martin Schulz zeigt, dass die Wähler wohl die lokale Regierung der SPD, die seit 25 Jahren an der Macht ist, abstrafen wollten. Die Wechselstimmung, die in Deutschland genauso stark ist wie in ganz Europa, könnte paradoxerweise auf Bundesebene jedoch gerade dem SPD-Kandidaten schaden.“ New York Times:
„Der CDU-Sieg in Nordrhein-Westfalen, der Heimat von 18 Millionen Menschen und einem von fünf deutschen Wählern, hat Martin Schulz einen schweren Schlag versetzt. Merkels sozialdemokratischer Herausforderer musste eine bittere Niederlage in seinem Heimatland einräumen.“ Der Standard (Österreich):
„Die SPD regiert in ihrer Herzkammer an Rhein und Ruhr seit 1966. Nur von 2005 bis 2010 war die Düsseldorfer Staatskanzlei in schwarzer Hand. Es ist also nachvollziehbar, dass viele Menschen mit der SPD eine Rechnung offen hatten. Die vielen Staus, die maroden Brücken, die hohe Verschuldung – da konnte Ministerpräsidentin Hannelore Kraft (SPD), die Landesmutter mit Kümmer-Image, noch so oft versichern, dass vieles schon besser geworden sei. Vielen war es nicht gut genug.“ NRC Handelsblad (Niederlande):
„Vier Monate vor der Bundestagswahl im September befindet sich die SPD in einer tiefen Krise. Die Ernennung von Martin Schulz zum neuen Vorsitzenden im Januar konnte nicht verhindern, dass die Partei nacheinander in drei Bundesländern Wahlen gegen die CDU von Bundeskanzlerin Angela Merkel verlor. Merkels Chancen auf eine vierte Amtszeit sind nun stark gestiegen. Nicht allein. weil ihre Partei mit ihrer Unterstützung in drei Landtagswahlen hintereinander Siege verbuchen konnte, sondern auch, weil dadurch innerhalb der CDU und ihrer Schwesterpartei CSU die Kritik an Merkel nahezu verstummt ist.“ Neue Zürcher Zeitung:
„Im Januar waren die Umfragewerte der SPD allein deshalb um die Hälfte in die Höhe geschnellt, weil die Partei den Vorsitzenden ausgewechselt hatte. Programmatisch hatte sich nichts geändert. Der neue Parteichef und Kanzlerkandidat Martin Schulz bot außer dem stereotypen Versprechen sozialer Gerechtigkeit keine signifikanten Neuerungen. Nun haben die Wähler in Nordrhein-Westfalen, dem größten und für die SPD so wichtigen Bundesland, klargemacht: Nicht die Romantisierung einer Politiker-Biografie, nicht das populistische Beschwören vager Gerechtigkeits-Visionen entscheiden Wahlen, sondern Kompetenz und konkrete politische Arbeit.“ Le Parisien, Frankreich
„Martin Schulz räumte zwar die Niederlage seines Lagers ein, sagte aber, dass sie dennoch nicht das Handtuch werfen würden. ‚Wir sind eine kampferprobte Partei und bis zur Bundestagswahl ist es noch ein langer Weg.‘ Dabei stellte er fest, dass vor fünf Monaten sein Freund Emmanuel Macron am Tiefpunkt war und nun ist er Präsident‘ Frankreichs. In der Zwischenzeit jedoch hatte die SPD Benoît Hamon unterstützt, den Präsidentschaftskandidaten der Sozialisten.“
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Cicero-Redaktion
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Nach der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen sieht die internationale Presse schwere Zeiten auf SPD-Spitzenkandidat Martin Schulz zukommen. Die Chancen für eine vierte Amtszeit von Kanzlerin Angela Merkel seien hingegen stark gestiegen. Die Wähler hätten die SPD aber auch für Fehler auf lokaler Ebene abgestraft
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innenpolitik
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2017-05-15T10:53:00+0200
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2017-05-15T10:53:00+0200
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https://www.cicero.de//innenpolitik/internationale-presseschau-rueckschlag-fuer-schulz-rueckenwind-fuer-merkel
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Philip Roth - „Was hast du vor, du Schuft?“
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Herr Roth, Sie haben die wichtigsten Auszeichnungen der USA erhalten, die Liste ist lang: unter anderem den Pulitzer-Preis, die National Medal of the Arts, zweimal den National Book Award, zweimal den National Book Critics Circle Award. Was fehlt, ist der Literaturnobelpreis. Schmerzt das?
Ach, wissen Sie, das Kind in mir ist natürlich begeistert, wenn ich einen Preis bekomme. Doch als Erwachsener schätzt man das anders ein. Preise sind eine feine Sache, es ist besser, sie zu bekommen als leer auszugehen – schon deshalb, weil man dann umso snobistischer die Nase über sie rümpfen kann. Aber sie können letztlich nichts daran ändern, dass man sich jeden Tag wieder mit seinen Texten abplagen muss. Und das tun Sie wirklich. Mittlerweile publizieren Sie fast jährlich einen Roman, in diesem Jahr „The Humbling“, die Geschichte eines gefeierten Schauspielers, der über Nacht sein Talent verliert. Wie kamen Sie auf das Thema?
Ich hatte vor Jahren solch eine Geschichte gehört – ein legendärer Schauspieler vergisst, wie man eine Rolle spielt. Wie aus dem Nichts entstand der Satz: „Er hatte seine Magie verloren.“ Das waren die ersten Worte des Buches, mein
Sprungbrett. Hat Ihre immense Produktivität möglicherweise damit zu tun, dass auch Sie Angst vor dem Verlust Ihrer Schaffenskraft haben? Die Tatsache, dass ich im Grunde ohne Pause schreibe, entspringt keiner bestimmten Ambition – ich habe einfach keine andere Art einer menschenwürdigen Existenz gefunden, als mich täglich hinzusetzen und zu schreiben. Der Held Ihres neuen Romans „The Humbling“ ist ein gealterter Künstler, und nachdem er nicht mehr auftreten kann, beginnt er eine Liaison mit der erwachsenen Tochter eines befreundeten Paars. Eine typische Roth-Erfindung?
Ich plane meine Geschichten nicht, sondern lasse mich beim Schreiben Zeile für Zeile von der Story überraschen. Sagen wir es so: Ich „entdecke“ schreibend die Geschichte. Was die Affäre meines Helden mit der jungen Frau betrifft, erging es mir wie bei der Lektüre von Updikes „Rabbit in Ruhe“. In diesem Roman erholt sich der
Protagonist im Haus seines Sohnes von einer Herzoperation. Die Schwiegertochter pflegt den Bettlägerigen – und auf einmal entspinnt sich ein sehr flirtiger, sehr erotischer Dialog. Als ich das las, dachte ich: Was hast du vor, du Schuft? Du wirst doch nicht etwa mit deiner eigenen Schwiegertochter ins Bett gehen! Er tat es. Es war
dreist, es war wunderbar, und es war völlig unausweichlich! Haben Sie versucht, Ihren Helden an ähnlichen Eskapaden zu hindern?
Nein, denn ich empfand beim Schreiben das Gleiche wie bei „Rabbit in Ruhe“: Was hast du vor, du Schuft? Das kann doch wohl nicht wahr sein! Willst du das wirklich tun? Und es war dann genauso dreist, genauso wunderbar und genauso unausweichlich. Also holte ich die Werkzeuge aus meinem Pornobaukasten und schrieb die Szene. Das ist ja praktisch, dass Sie immer einen Pornobaukasten dabeihaben!
Na ja, im übertragenen Sinne natürlich. Manche Leute meinen, dass er eine Menge wert ist. Vielleicht verkaufe ich ihn eines Tages! (lacht) Wobei wir beim Thema der autobiografischen Spuren in Ihrem Werk wären. Natürlich kann ein Schriftsteller das reale Leben als Steinbruch benutzen, und den kann man wirklich unendlich ausbeuten. Aber wenn man dann eine Geschichte erzählt, ist sie nicht die Kopie der Realität. Im Gegenteil: Das Autobiografische bleibt weitgehend unangetastet. Ihre Leser sind da ganz anderer Meinung.
Dann täuschen sie sich. Letztlich ist das nur ein Ausdruck ihrer Unfähigkeit, sich mit einer fiktiven Geschichte auseinanderzusetzen. Alles, was ihnen dazu einfällt, ist, sie auf den Autor zu projizieren, sie also letztlich wie Klatsch zu behandeln. Wenn man das als Autor ablehnt, sind sie mit einem Mal wie taub und wissen nichts mehr mit einem Buch anzufangen.
Das klingt jetzt ziemlich ärgerlich.
Seit Hemingway ist das Leben des Schriftstellers ein Teil seines Mythos. Hemingway lud förmlich dazu ein, Parallelen zwischen sich und seinen Figuren herzustellen.
bei Faulkner wäre niemand auf die Idee gekommen. Er ging den Leuten aus dem Weg, und dieser ganze Kult um Interviews existierte noch nicht. Er hat seinen Wohnort Oxford, Mississippi, nie wirklich verlassen. Als Kennedy ihn ins Weiße Haus einlud, sagte er, das sei ein zu langer Weg, nur um essen zu gehen. So blieb er zu Hause. Dieser Artikel erschien im Dezember 209 im Cicero-Magazin. Alle Ausgaben können Sie unserem Onlineshop bestellen
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Erica Wagner
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Philip Roth ist gestorben. Er galt als einer der bedeutendsten Autoren der Gegenwart und als Seismograph der modernen US-amerikanischen Gesellschaft. Schon 2009 haben wir ihn gefragt, wie sehr es ihn schmerzt, dass er nie den Literaturnobelpreis gewonnen hat
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kultur
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2018-05-23T14:16:49+0200
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2018-05-23T14:16:49+0200
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Glosse - „Politik ist der Spielraum zwischen Blutvergießen und Wirtschaft“
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Am kommenden Sonntag, den 26.06. gibt es auf Schalke mal wieder eine dieser legendären Jahreshauptvollversammlungen. Doch während diese Treffen in früheren Jahren gerne auch mal mit Betonung auf „Haupt voll“ stattfanden, steht die Versammlung dieses Jahr vor einer ganz nüchternen Frage, nämlich: Was haben Uli Hoeneß und Wladimir Putin eigentlich gemeinsam? Antwort: Den Freund Clemens Tönnies. Von Mao Tse Tung stammt der Satz: „Krieg ist Politik mit Blutvergießen, und Politik ist Krieg ohne Blutvergießen.“ Und Dieter Hildebrandt sagte mal: „Politik ist der Spielraum, den die Wirtschaft ihr lässt.“ Wendet man aus der Mathematik den klassischen Dreisatz an, was kommt dabei raus? Die Wahrheit: „Politik ist der Spielraum zwischen Wirtschaft und Blutvergießen.“ Und wer kennt sich allein schon von Berufs wegen sowohl mit Wirtschaft als auch mit Blutvergießen bestens aus? Richtig, der Metzger. Wer jemals live dabei war, wenn ein Tier getötet wird, weiß, da darf man nicht zimperlich sein. Skrupel sind da wenig förderlich, Empathie sogar eher hinderlich. In eine Wurst beißen, und eine Wurst machen, sind die zwei Enden einer Wurst, die bekanntlich nur die Wurst hat. Und wenn man in Deutschland in eine Wurst beißt, ist die Chance groß, dass es sich dabei um eine Wurst handelt, die im Hause Clemens Tönnies erzeugt wurde. Was das über Skrupel und Empathie des Erzeugers aussagt, möge er am besten mal mit Veganern diskutieren. Ich besorg mir dazu gerne schon mal eine Tüte Popcorn. Am besten mit Bacon. Clemens Tönnies, ein Fleischfabrikant, der also massenhaft eine Schweinekohle damit verdient, massenweise Schweine zu verwursten, muss sich seit einiger Zeit mit angucken, wie gegen ihn aufgrund diverser Schweinereien die Messer gewetzt werden, um ihn in der Öffentlichkeit genüsslich zu grillen. Sei es wegen der branchenüblichen Dinge, wie mangelnde Reinheit und Qualität, sowohl bei den Waren als auch bei der branchenüblichen Behandlung der Arbeitskräfte, oder sei es, weil er sich mit einem Familienmitglied vor Gericht darüber streitet, ob die Schweinehälftenkohle auch gerecht geteilt wird. Ursprünglich hatte nämlich der ältere Bruder Bernd Tönnies den väterlichen Kleinbetrieb in einen „Global Slayer“ verwandelt, aber als er im Juli 1994 auf dem Sterbebett lag, nahm er von Clemens das Versprechen ab, sich nicht nur um den Fleischereibetrieb zu kümmern, sondern auch um Schalke 04. Dort war Bernd nämlich erst wenige Wochen zuvor zum Präsidenten gewählt worden, und jetzt sollte also Clemens all diese Geschäfte führen. Wobei das Problem in der Firma seitdem darin besteht, dass da noch ein Neffe ein paar Prozente Anteile einklagt. Das Problem auf Schalke hingegen ist ... Schalke. Dieses Problem erklärt man am besten mit einem Rätsel. Bilden Sie mal einen Satz mit den Wörtern: „Schalke“ „spielt“ und „konstant“. Zugegeben, die Lösung fällt schwer, denn neulich erst fragte mich jemand: „Bist du eigentlich Schalke-Fan, oder interessierst du dich auch für Fußball?“ Und da fiel meine Antwort doch sehr dialektisch-komplex aus, nämlich mit einem konstanten: „Hmgrblpft“. Was aber nicht verwundern muss, spiegelt es doch exakt die Konstanz wider, die man zuletzt bei den Spielen von Schalke zu sehen bekam. Und mit „zuletzt“ ist auf Schalke eine Maßeinheit von ca. 15 Jahren gemeint. Es könnte zum Haareraufen sein, wäre es nicht bereits zum Mäusemelken. Da kommen und gehen seit der 4-Minuten-Meisterschaft im Mai 2001 eine Handvoll Manager, Dutzende Trainer und Hunderte von Spielern, und das Ergebnis auf dem Rasen hat seitdem immer wieder so viel mit Fußball zu tun wie Prinz Charles mit dem englischen Königsthron: Manchmal nah dran, aber nie wirklich ergriffen. Wobei die Orientierungslosigkeit der Schalker Mannschaft vielleicht aber auch nur ein Spiegelbild der Schalker Vereinsstrukturen darstellt. Denn auch hier weiß man nicht so wirklich, wer wann wo was wem zu sagen hat. Eigentlich entscheidet nämlich der Vorstand, der von einem Aufsichtsrat kontrolliert wird, dessen Kandidaten ein Wahlausschuss vorab aussiebt, bevor er sie der Mitgliederversammlung zur Wahl stellt. Was aber alles komplett egal ist, und zwar in dem Moment, wenn der Aufsichtsratsvorsitzende nämlich den Eilausschuss aufruft. Dann entscheidet letztlich nur besagter Aufsichtsratsvorsitzender. Und sollten andere Aufsichtsratsmitglieder deswegen Bedenken überprüfen, werden sie von einem Ehrenrat suspendiert und müssen 500.000 Euro Strafe zahlen. Und jetzt raten Sie doch mal, wie dieser Aufsichtsratsvorsitzende heißt? Kleiner Tipp: Der Vorname fängt mit „Clemens“ an, und der Nachname mit „Tönnies“. Mit anderen Worten: Sollte irgendwann mal der große Vorsitzende von Nordkorea, dieser irre Diktator Kim Jong-Un sein Land verlassen müssen und ein Exil suchen, auf Schalke würde er sich sehr wohl fühlen. Und zwar ohne Eingewöhnungszeit. Einziger Unterschied: Will der große Vorsitzende in Nordkorea an der Macht bleiben, muss er sich mit Politik auskennen. Dass der große Vorsitzende von Schalke Ahnung von Fußball haben muss, ist seit 15 Jahren nur ein Gerücht. Was aber im Grunde auch kein Problem wäre, wenn besagter Aufsichtsratsvorsitzender sich auf seine Kernaufgabe beschränken würde, nämlich dem Aufsichtsrat vorzusitzen. Was aber automatisch die Frage hervorruft: Wozu braucht er dann einen Eilausschuss? Was eine letzte Frage hervorruft, nämlich: Wenn Schalke also seit 15 Jahren vor allem eine muntere Mixtur aus Remmidemmi und Tohuwabohu ist, gibt es denn da eigentlich auch eine Konstante? Und die Antwort gibt man am besten wieder mit einem Rätsel: Bilden Sie mal einen Satz mit den Wörtern: „Fisch“ „stinkt“ und „Kopf“. Wobei Fisch so ziemlich das einzige ist, das in den Schlachthöfen von Tönnies bislang noch nicht verwurstet wurde. Aber je nachdem, wie nüchtern am kommenden Sonntag das Schalker Vereinstreffen abläuft, könnte der Clemens anschließend vermehrt Zeit haben, über diese Geschäftserweiterung nachzudenken. HG. Butzko live: 08. + 09.07. Würzburg / 23.07. Bielefeld
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HG. Butzko
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Der Fußballverein „FC Schalke 04“ lädt zur Jahreshauptvollversammlung. Anlass für HG. Butzko, die Politik des Vereins zu hinterfragen. Eine Glosse
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innenpolitik
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2016-06-17T15:48:10+0200
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2016-06-17T15:48:10+0200
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https://www.cicero.de//innenpolitik/glosse-politik-ist-der-spielraum-zwischen-blutvergiessen-und-wirtschaft
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USA - Das kommt 2020 aus Amerika
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Impeachment: Zum Ende des Jahres 2019 lag die größte innenpolitische Aufmerksamkeit in den USA klar auf dem eingeleiteten Amtsenthebungsverfahren gegen Präsident Trump. Die Demokraten haben es dabei geschafft, ihre Fraktion im Repräsentantenhaus hinter dem Amtsenthebungsverfahren zu vereinen, von sehr wenigen Abweichlern abgesehen. Allerdings ist es den Demokraten nicht gelungen, die Front der Republikaner aufzubrechen: Sowohl für die Abstimmungen im Justizausschuss über die beiden Anklagepunkte als auch für die Abstimmung im Repräsentantenhaus über das Amtsenthebungsverfahren konnten die Demokraten nicht eine einzige republikanische Ja-Stimme gewinnen. Dieses geschlossene Abstimmungsverhalten der Republikaner unterscheidet sich vom Amtsenthebungsverfahren gegen Nixon, wo sich bereits im Justizausschuss zahlreiche republikanische Abweichler fanden. Die recht eindeutige Erwartung für 2020 lautet daher, dass sich diese scharfe Trennung entlang der Parteilinien im Senat fortsetzen wird, wo das Verfahren gegen den Präsidenten stattfinden und dank republikanischer Mehrheit wahrscheinlich zum Freispruch führen wird. Unter Führung von Mitch McConnell ziehen die Republikaner sogar in Betracht, in der Senatsverhandlung keine weiteren Zeugen vorzuladen, sondern schnellstmöglich zur Abstimmung überzugehen, um ihre Geringschätzung des gesamten Verfahrens auszudrücken. Dieses Vorhaben wird momentan noch von Nancy Pelosi blockiert, die die Resolution des Repräsentantenhauses zur Amtsenthebung bisher nicht offiziell an den Senat weitergeleitet und damit das Verfahren noch nicht aus der Hand gegeben hat. Bis zum finalen Akt der Inszenierung ist daher noch mit einigen dramaturgischen Einlagen der Hauptdarsteller zu rechnen. Dass das Impeachment überhaupt zu Stande gekommen ist, ist ein Erfolg für die Demokraten – denn obwohl das Verfahren letztendlich wohl scheitern wird, trägt Trumps Präsidentschaft nun unumkehrbar den „stain“ (zu deutsch: „Makel“) der Amtsenthebung. Die unverhohlene Freude der demokratischen Abgeordneten über die erfolgreiche Abstimmung im Repräsentantenhaus drückte somit vorwiegend die Freunde über das Verfahren denn dessen finale Erfolgsaussichten aus. Allerdings stellt sich im selben Zug die für die Demokraten unvorteilhafte Frage: Wenn ein zum Scheitern verurteiltes Impeachment-Verfahren alles ist, was Trumps Gegner gegen ihn ausrichten können – deutet dies nicht an, wie wenig sie auf dem Feld konkreter Politik und vielversprechender Kandidaten gegen den Präsidenten aufbieten können? Auch wenn das Impeachment die Basis der Demokraten anspornen mag, sollte die Partei nicht darauf vertrauen, dass jeder unabhängige Wähler von diesem Aufwand der Zeit und der Mittel der Legislative ebenso begeistert reagieren wird. Präsidentschaftswahlen 2020: Am 3. Februar 2020 wird der US-Bundesstaat Iowa die tatsächlichen Vorwahlen der Demokratischen Partei einläuten, welche exakt einen Monat später im so genannten „Super Tuesday“, den gleichzeitigen Abstimmungen in 14 Bundesstaaten, kulminieren werden. Diese heiße Phase des Vorwahlkampfs wird gewissermaßen schon sehnlichst erwartet, da die letzten Fernsehduelle einerseits vom Impeachment überlagert worden sind und andererseits zu keinen echten Verschiebungen im Kandidatenfeld geführt haben. Dies spiegelt sich auch in den Meinungsumfragen wider – denn der von der Website „Real Clear Politics“ berechnete Durchschnitt aller nationalen Wahlumfragen ist gegenwärtig praktisch identisch mit dem Stand von vor einem Jahr. In diesem Durchschnitt führt der ehemalige Vize-Präsident Joe Biden neuerlich mit bequemem Abstand das Feld der Kandidaten an. Auf dem zweiten Platz liegt getragen von seiner loyalen Anhängerschaft der Senator Bernie Sanders, der trotz seines Herzinfarkts im Oktober noch keine Anstalten macht, sich den Rest des Rennens entgehen zu lassen. Elizabeth Warren erlebte zwischen September und Oktober ihren Goldenen Herbst, ist mittlerweile aber wieder hinter Sanders zurückgefallen und setzt aktuell keine neuen Akzente. Die kalifornische Senatorin Kamala Harris hat nach einer desaströs geführten Kampagne bereits ihr Ausscheiden aus dem Rennen erklärt. Ihr Name wird allerdings noch als mögliche Kandidatin für den Posten der Vize-Präsidentin neben einem möglichen Präsidentschaftskandidaten Biden genannt. Der „Mayor Pete“ genannte Bürgermeister Pete Buttigieg erreichte im Dezember erstmals zweistellige Umfragewerte und wäre unter mehreren Gesichtspunkten ein vielversprechender Kandidat, er sieht sich allerdings dem unverhohlenen Hass der „progressiven“ Demokraten ausgesetzt. Die bisherigen Fernsehduelle und das sie umgebene Geplänkel haben also ihren Zweck erfüllt, die politischen Programme einiger Kandidaten zu testen und andere bereits wegen fehlender Fernsehtauglichkeit aus dem Rennen zu nehmen. Allerdings haben sie der demokratischen Parteiführung auch signalisiert, dass die beiden beliebtesten Bewerber um die Kandidatur gleichsam weiß, männlich und noch älter als der zur Wiederwahl stehende Präsident sind. Das ist ein Problem für eine Partei, die sich durch ihre ethnische und geschlechtliche Diversität explizit als moderner Gegenentwurf zu Trumps Agenda und Personal versteht. Zwar erzielen alle beliebten Kandidaten in den umkämpften Bundesstaaten zumindest Hoffnung machende Umfrageergebnisse gegen Trump. Jedoch ist Sanders körperliche Gesundheit angeschlagen, während immer wieder Zweifel aufkommen, ob Biden den Strapazen eines Präsidentschaftswahlkampfs geistig noch vollkommen gewachsen wäre. In jedem Fall werden sowohl die Kandidatenkür als auch die eigentliche Wahl 2020 große Herausforderungen an die Geschlossenheit der Demokraten stellen. Es kann vorkommen, dass eine Partei aus ideologischen oder demographischen Gründen schlicht keinen herausragenden Kandidaten für eine anstehende Wahl zur Verfügung hat. Sollte sich ex post zeigen, dass dieser Fall für die Demokraten 2020 eingetreten ist, so wäre es eine kluge Entscheidung, einen Kandidaten aufzustellen, der wie Biden oder Sanders dem Ende seiner politischen Laufbahn entgegenblickt, anstatt ein junges, aber noch nicht reifes Nachwuchstalent zu vergeuden. Einwanderung: Die illegale Einwanderung in die USA über die amerikanisch-mexikanische Grenze war ein entscheidendes Thema im Präsidentschaftswahlkampf 2016. Ihre Bekämpfung gilt deshalb unter republikanischen Wählern als wichtiger Maßstab für den Erfolg von Trumps erster Amtszeit. Die Versinnbildlichung dieser Bekämpfung ist die von Trump angekündigte Grenzmauer zu Mexiko. Für den Bau dieser Mauer und die Finanzierung dieses kostspieligen Vorhabens hat die Trump-Regierung eine Reihe von wichtigen Erfolgen vor dem Obersten Gerichtshof errungen, welche die Zuweisung von Bundesmitteln an das Grenzmauerprojekt gestatten. Der Vorgang, mit dem die Regierung in ihrem Vorhaben ausgebremst werden soll, verläuft meist gleich: Ein eher liberales Gericht auf einer untergeordneten judikativen Ebene blockiert den Mauerbau, der Fall wandert hoch bis zum nun mehrheitlich konservativen Obersten Gerichtshof und dort bekommt die Regierung Recht. Als Erfolg dieser Verzögerungstaktik kann gewertet werden, dass die Arbeiten an der Grenzmauer bisher kaum über Erneuerungen und Aufrüstungen an bereits existierenden Grenzzäunen hinausgekommen sind. Nichtsdestotrotz zeigen die Daten der US-Grenzschutzbehörde eine interessante Entwicklung: So ist die Zahl der an der Südgrenze aufgegriffenen illegalen Einwanderer im Vergleich zu ihrem Höchststand im Mai 2019 bis jetzt um 70 Prozent gefallen. Ein möglicher Grund dafür könnten die Abkommen sein, die die Trump-Regierung unter Zuhilfenahme wirtschaftlichen Drucks mit Mexiko und anderen mittelamerikanischen Staaten ausgehandelt hat, um die Durchreise von Migranten zur US-Grenze zu verhindern. 2020 wird Aufschluss über die Nachhaltigkeit dieser Abkommen liefern – und darüber, wie eine faktisch geringere illegale Einwanderung ohne Grenzmauer im Wahlkampf jeweils als Niederlage und als Erfolg Trumps vermarktet werden wird. Außenpolitik: Unter Trump wird die US-Außenpolitik 2020 ihren Gleichklang mit der Wirtschafts- und Handelspolitik der Nation beibehalten. Dies liegt zum einen daran, dass Trump die Auffassung vertritt, die Außenpolitik der USA solle im Dienst der wirtschaftlichen Interessen des Landes stehen. Zum anderen sucht Trump militärisches Engagement der USA zu vermeiden, wobei ihm entgegenkommt, dass ein Handelskrieg günstiger, weniger blutig und fast so effektiv wie ein echter Krieg ist, um einem gegnerischen Land zu schaden. Mit Blick auf den Iran und China ist der Schaden jedenfalls angerichtet worden, da Währung und Wirtschaft des Iran nah am Kollaps stehen und das chinesische Wirtschaftswachstum auf die geringste Rate der letzten 27 Jahre gefallen ist. Tonfall und Aggressivität der US-Außenpolitik in 2020 werden deshalb davon abhängen, ob die US-Wirtschaft auf einem Wachstumspfad verweilen kann, während Iran und China weiter unter Druck stehen werden. Das massenhafte Erscheinen der US-amerikanischen Flagge inmitten der Hongkong-Proteste zeigt zumindest, dass die USA aller europäischer Unkenrufe zum Trotz immer noch als Hoffnungsträger für demokratische Bewegungen wahrgenommen werden. Gleichzeitig müssen sich die stets um hohe moralische Standards bemühten Europäer die Frage gefallen lassen, ob der US-Präsident angesichts von Berichten über 1500 Tote im Iran in Folge der Proteste gegen das Regime und Hunderttausender Gefangener in chinesischen Lagern mit seiner harten Linie gegenüber den Regierungen dieser Länder wirklich so irrlichtet wie sie es gern glauben. Außerdem müssen sich die Europäer endlich darauf einstellen, dass das Engagement der USA im Nahen Osten auch 2020 nicht an europäischen Interessen ausgerichtet sein wird. Damit ist gemeint, dass die USA nicht gewillt sein werden, durch ihre Präsenz Problemen vorzubeugen, deren Folgen vorwiegend oder ausschließlich die Europäer zu tragen hätten. Zu diesen Problemen zählt der Migrationsdruck über die Türkei, der gerade durch Militäraktionen Russlands und des Assad-Regimes neuen Zulauf aus Syrien erfährt, sowie die über Libyen verlaufenden Migrationsströme, die durch das angekündigte Engagement der Türkei in 2020 unter völlig neuen Vorzeichen stehen könnten. Man mag die Annahme, dass aus europäischen Problemen mittelfristig nicht auch amerikanische Probleme erwachsen werden, durchaus zurecht für kurzsichtig halten, aber davon werden die Europäer Trump im neuen Jahr erst noch überzeugen müssen. Politische Kultur: Unstrittig ist, dass 2019 in neue Dimensionen der Empörungskultur auf allen Seiten des politischen Spektrums vorgestoßen ist. Es entsteht sogar oft der Eindruck, dass übertrieben absurde oder radikale Meinungen und Forderungen nur deshalb medial mit großer Reichweite verbreitet werden, um auf der angegriffenen Gegenseite einen Schwall aus Empörung, Entsetzen und anderen negativen Emotionen zu provozieren. Die US-basierten Medien und „Influencer“ sind Vorreiter dieser Entwicklung gewesen und werden es zumindest bis zur Präsidentschaftswahl im November 2020 auch bleiben. Da werden alte Fotos genutzt, um zur Weihnachtszeit die Empörung über Trumps Einwanderungspolitik neu anzufachen, während der Präsident nicht davor zurückschreckt, seine gegenwärtige Hauptwidersacherin in jeder Twitter-Botschaft als „verrückt“ zu bezeichnen. Die Vorstellung, es ginge in der politischen Öffentlichkeit um die sachliche Präsentation und rationale Abwägung unterschiedlicher Ideen und Konzepte, hat daher ausgedient. Stattdessen wäre es eine wünschenswerte und hilfreiche Entwicklung für 2020, wenn mehr politisch interessierte Mitmenschen realisieren würden, dass es nun darum geht, zu beeinflussen, wie sie sich mit Bezug auf Politik fühlen. Die Tricks und Kniffe, die eingesetzt werden, um die Emotionen der Massen zu manipulieren, sind immer noch relativ simpel. Neu sind allerdings die Penetranz und Intensität dieser Botschaften, welche die Adressaten an jedem Ort zu jeder Zeit durch ihr Smartphone erreichen. Nicht ohne Grund berichten internetaffine Mitmenschen von Ermüdungserscheinungen dieser emotionalen Achterbahnfahrten und müssen „Social-Media-Pausen“ einlegen. Zur Behandlung der Symptome ist dies ein guter Schritt. Einen neuen Reiz für die Beobachtung des politischen Geschehens schafft jedoch erst die Kultivierung eines Bewusstseins dafür, wie wir durch die Rezeption und Interaktion mit Nachrichten, Tweets und dergleichen auf emotionaler Ebene beeinflusst werden – ein gesunder politischer Vorsatz für 2020 sowohl in den USA als auch in unserem Land.
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Andreas Backhaus
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Impeachment, Präsidentschaftswahlen, Migration, Iran, Russland und China – vieles haben wir von den USA im kommenden Jahr 2020 zu erwarten. Zu Beginn des neuen Jahrzehnts wird sich auch entscheiden, als was für ein Präsident Donald Trump in die Geschichte eingehen wird
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"USA",
"Donald Trump"
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außenpolitik
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2019-12-30T07:07:12+0100
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2019-12-30T07:07:12+0100
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https://www.cicero.de//aussenpolitik/usa-2020-donald-trump-impeachment-praesidentschaftswahlen
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Asylangebot - Heißt Edward Snowdens Hoffnung Venezuela?
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Für den Ex-US-Geheimdienstmitarbeiter Edward Snowden könnte es die letzte Chance sein: Er hat einen Asylantrag in Venezuela gestellt, der dort auf großes Entgegenkommen stieß. Venezuelas Präsident scheint begeistert zu sein. Die USA aber setzen alles daran, Snowden zu ergreifen. Wie ernst ist dieser neuerliche Asyl-Vorstoß Snowdens zu nehmen?Der venezolanische Präsident Nicolás Maduro verband die Worte, Snowden sei in seinem Land jederzeit willkommen, mit einem leisen Zweifel: „Er muss entscheiden, wann er hierherfliegen möchte – wenn er denn definitiv hierherfliegen will“, fügte Maduro an. Aus Maduros Äußerung ist zu schließen, dass die Venezolaner keine Ahnung haben, ob es nicht eine weitere Nebelkerze im Katz-und-Maus-Spiel mit den USA ist, die den Geheimnisverräter um jeden Preis vor Gericht stellen wollen. Maduro sagte, er habe bisher nicht mit Snowden telefoniert. Warum bietet Venezuela Asyl an?Neben Venezuela haben auch Ecuador, Kuba, Nicaragua und Bolivien Snowden Asyl angeboten. Alle fünf Länder Lateinamerikas gehören der Bolivarianischen Allianz für Amerika (Alba) an, einem 2004 gegründeten Bündnis verschiedener linksgerichteter Regierungen. Die Allianz, die von Venezuelas verstorbenem Expräsidenten Hugo Chávez begründet wurde, begreift sich explizit als Gegengewicht zum Machteinfluss der USA in Lateinamerika – sowohl auf wirtschaftlichem wie auch politischem Feld. Insbesondere die Aktivitäten der CIA in Lateinamerika wurden von Chávez immer wieder verdammt, die USA nannte er das „böse Imperium“. Die Ölverkäufe Venezuelas an die USA waren vom angespannten Verhältnis beider Länder jedoch nicht betroffen. Wie ist das Verhältnis Venezuelas zu den USA heute?Nicolás Maduro, der im April nur mit äußerst knapper Mehrheit zu Chávez’ Nachfolger gewählt wurde, suchte nach seinem Amtsantritt zunächst ein entspannteres Verhältnis zu den USA. Beispielsweise sollen neue Botschafter die Beziehung zwischen beiden Ländern entgiften. Nun geht Maduro, der bisher eher als Verwalter von Chávez’ Erbe aufgetreten ist und sich weder als Gestalter noch Rhetoriker hervorgetan hat, auf Konfrontation zu Washington. Der Fall Snowden ist sein erster großer internationaler Auftritt – in Chávez' Manier sagte er: „Wir haben diesem jungen Mann gesagt: ,Sie werden vom Imperialismus verfolgt, kommen Sie her’.“ Auf die Frage ob er sich nicht vor möglichen Sanktionen der US-Regierung fürchte, erwiderte Maduro, dass die USA nicht die Welt regierten: „Und am wenigsten uns, die wir ein freies und souveränes Land sind.“ War Venezuela auch von Ausspähungen durch den US-Geheimdienst NSA betroffen?Überraschenderweise stand Venezuela in Lateinamerika nicht ganz oben auf der Liste der ausspionierten Länder. Snowdens Enthüllungen über das Spähprogramm „Prism“ des US-Nachrichtendienstes NSA besagen, dass vor allem E-Mails und Telefonate aus Brasilien, Kolumbien und Mexiko überwacht wurden – allesamt mit den USA befreundete Länder. Insbesondere in Brasilien ist die Empörung über die als Wirtschaftsspionage betrachtete Kontrolle groß. Man fühlt sich auf eine Stufe mit Iran und Pakistan gestellt. Präsidentin Dilma Rousseff kündigte an, das Thema vor die UN zu bringen. Wie sicher wäre Snowden in Venezuela?Tatsächlich wäre Venezuela unter den lateinamerikanischen Ländern, die Snowden Asyl angetragen haben, die plausibelste Wahl für den Flüchtigen. Weder in Nicaragua noch in Bolivien existiert eine ausreichende Sicherheitsinfrastruktur, um ihn vor einem Zugriff der USA zu schützen. Das Angebot Nicaraguas, das von der korrupten Ortega-Familie regiert wird, dürfte zudem nur symbolischer Art gewesen sein. Auch Boliviens Angebot kam erst, nachdem das Flugzeug von Präsident Evo Morales in Wien zur Landung gezwungen worden war, weil die USA Snowden an Bord vermuteten. Die Aktion wurde in Bolivien als Demütigung und Ausdruck neokolonialer Arroganz empfunden. Auch in Caracas war man erbost über das Vorgehen gegen einen seiner engsten Freunde. Maduro sagte nun, dass es das erste Mal in der Geschichte sei, dass ein Mensch von einem Staatenkollektiv Asyl angeboten bekomme: „Lateinamerika ist ein Territorium der Humanität.“ Wird es Snowden gelingen, aus Russland herauszukommen?Mehr als zwei Wochen sitzt Snowden bereits im Transitbereich des Moskauer Flughafens Scheremetjewo fest. Die USA haben dem Geheimnisverräter die Staatsbürgerschaft aberkannt, sein Reisepass ist daher ungültig. Ohne gültiges Personaldokument aber kann niemand ein Flugticket kaufen. Venezuela müsste daher nicht nur dessen Antrag stattgeben, sondern ihm auch die Staatsbürgerschaft verleihen, einen neuen Pass ausstellen und diesen per diplomatischem Kurier ihrer Botschaft in Moskau zukommen lassen. Mit dem Pass kann der Generalkonsul den Transitbereich von Scheremetjewo betreten. Mit dem Pass seines Gastlandes kann Snowden am Ticketschalter des Transitbereichs dann eine Flugkarte kaufen. Da russische Airlines keines der möglichen Asylländer direkt anfliegen, bleibt Snowden nur der Umweg über Kuba. Auch in Havanna kann Snowden den dortigen Transitbereich nicht verlassen, da er kein Einreisevisum für Kuba hat. In russischen Medien tauchten indes Spekulationen auf, wonach Snowden ins fernöstliche Wladiwostok geflogen sei und sich im Transitbereich des dortigen Airports aufhalte. Ein Flughafensprecher dementierte. Ein Flug nach Wladiwostok würde auch keinen Sinn machen: Auch von dort gibt es keine Direktflüge nach Lateinamerika, und die potenziellen Asylländer unterhalten dort keine Konsulate.
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Elke Windisch
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Der Ex-US-Geheimdienstler Edward Snowden könnte seinen Verfolgern nach Venezuela entwischen. Mit dem Angebot ärgert Präsident Maduro die USA. Doch wie stehen Snowdens Chancen in Venezuela in Sicherheit zu sein?
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außenpolitik
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2013-07-10T07:37:56+0200
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2013-07-10T07:37:56+0200
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https://www.cicero.de//aussenpolitik/asylangebot-heisst-edward-snowdens-hoffnung-venezuela/55010
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Grüne in Baden-Württemberg - Die Meister des Machiavellismus
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Winfried Kretschmann könnte den meisten Wählern in Baden-Württemberg einen großen Gefallen tun. Dafür müsste er ganz einfach seiner eigenen Partei, den Grünen, den Rücken kehren und bei der CDU eintreten. Denn der Ministerpräsident ist auch für viele, wenn nicht sogar für die allermeisten Unionsanhänger in Deutschlands Südwesten, die Idealbesetzung in der Villa Reitzenstein: ein verbindlicher, geerdeter, durch und durch pragmatischer Landesvater. Ein bekennender Katholik noch dazu, der bereits als Fraktionsvorsitzender für alle unübersehbar ein großes Kreuz hinter seinem Schreibtisch platziert hatte. Schwabe, Familienvater – was will man mehr? Nur ist er eben in der vermeintlich falschen Partei. Dass die Kretschmann-Grünen in Baden-Württemberg inzwischen mit der Landes-CDU in den Umfragen auf gleicher Höhe sind, ist wahrlich kein Zufall. Sondern das Ergebnis einer sehr durchdachten Strategie. Vor fünf Jahren war es die Reaktorkatastrophe von Fukushima, der Kretschmann seinen Wahlsieg zu verdanken hatte. Dass dem damaligen Amtsinhaber Stefan Mappus das Image eines politischen Fieslings anhing, kam erleichternd hinzu. Diesmal aber müssen es die Grünen aus eigener Kraft schaffen – und die baden-württembergische CDU war abermals so freundlich, der Konkurrenz mit einem schwachen eigenen Kandidaten entgegenzukommen. Aber der eigentliche Scoop der Südwest-Grünen besteht in etwas ganz anderem: Sie haben einfach die altbewährte Wahl-Taktik der Merkel-CDU übernommen. Und die lautet: Angleichung an den Gegner bis zur Ununterscheidbarkeit. Man könnte sogar sagen: Die Grünen versuchen sich als bessere Christenunion. Winfried Kretschmann wird am Ende die Partei gar nicht wechseln müssen, um auch die CDU-Anhänger glücklich zu machen. Der Mann hat nämlich das politische Merkel-Gen. Es ist schon lustig, wenn die baden-württembergische CDU dem grünen Ministerpräsidenten jetzt vorwirft, er würde die Bundeskanzlerin „stalken“. Denn natürlich folgen Kretschmanns ständige Merkel-Belobigungen einschließlich seiner Behauptung, er bete täglich für die Gesundheit der Kanzlerin, einem sehr kühlen Plan, der aus dem bisher bewährten Arsenal der CDU-Wahlkämpfer stammt. Es ist nichts anderes als eine Variante der asymmetrischen Demobilisierung. Das Kalkül: Durch Merkel-Mimikry und Kanzlerinnen-Lob werden jene Unionsanhänger zum Nichtwählen verleitet, die sich mit der postmodernen Ausprägung ihrer eigenen Partei noch halbwegs anfreunden können – und Kretschmann gleichzeitig für den besseren Ministerpräsidenten halten als den blassen und ungelenken CDU-Kandidaten Guido Wolf. Die baden-württembergischen Grünen haben ganz einfach den Spieß umgedreht und demobilisieren jetzt gnadenlos zurück. Die Südwest-Grünen gehen sogar so weit, der CDU den konservativen Markenkern streitig zu machen. Dieses Geschäft übernimmt natürlich nicht der gleichsam über dem hässlichen Tagesgeschäft schwebende Winfried Kretschmann. Sondern grüne Oberbürgermeister wie Dieter Salomon in Freiburg oder Boris Palmer in Tübingen – wobei letzterer unverhohlen den Alfred-Dregger-Flügel in seiner Partei abbildet. Als vehementer Kritiker der Merkelschen Flüchtlingspolitik dürfte Palmer inzwischen sogar für den einen oder anderen AfD-Sympathisanten wählbar sein. Und so decken die Grünen im Ländle mittlerweile die ganze Bandbreite des politischen Meinungsspektrums ab – noch dazu auf dem Fundament kommunalpolitischer street credibility. Ein Meisterstück des Machiavellismus. Während Baden-Württembergs Spitzen-CDUler jetzt weinerlich von ihrer Bundesparteivorsitzenden einfordern, sie möge sich endlich von ihrem Hardcore-Fan Winfried Kretschmann distanzieren, hegt die vielleicht schon ganz andere Pläne. Wäre der erste grüne Ministerpräsident nicht sogar eine Traumbesetzung für das Amt des Bundespräsidenten? Und welches Signal ginge wohl von einer solch kühnen Personalentscheidung aus? Falls Guido Wolf, dieser Ritter von der traurigen Gestalt, tatsächlich glauben sollte, Angela Merkel sei ihm etwas schuldig, dann kann man ihm nur gute Besserung wünschen. Als er ihr beim Karlsruher Parteitag im Dezember einen Plüsch-Wolf in die Hand drückte und dazu bemerkte, Baden-Württemberg sei „Wolfserwartungsland“, konterte die Kanzlerin jedenfalls schlagfertig: Bei ihr in Brandenburg sei der Wolf schon längst angekommen. Gut zu wissen.
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Alexander Marguier
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Die Grünen in Baden-Württemberg beherrschen vor den Landtagswahlen das Machtspiel perfekt. Sie decken die ganze Bandbreite des Meinungsspektrums ab – und sollte es nicht klappen, gäbe es für Winfried Kretschmann auch schon eine Anschlussverwendung
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innenpolitik
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2016-02-23T18:19:14+0100
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2016-02-23T18:19:14+0100
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https://www.cicero.de//innenpolitik/gruene-baden-wuerttemberg-die-meister-des-machiavellismus/60536
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Migration - Gespräche über EU-Krisenverordnung vorerst gescheitert
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Die Ständigen Vertreter der EU-Länder konnten sich am Mittwoch in Brüssel nicht auf eine gemeinsame Position für Verhandlungen mit dem Europaparlament einigen. Die spanische Ratspräsidentschaft wollte dazu eigentlich bis Ende dieses Monats eine Einigung herbeiführen. Nun wird sich das Vorhaben noch einige Monate hinziehen. Diplomaten zufolge enthielten sich neben Deutschland auch die Niederlande und die Slowakei. Polen, Ungarn, Tschechien und Österreich stimmten gegen den Vorschlag. Die Bundesregierung fürchtet, dass die Standards für Schutzsuchende zu sehr herabgesetzt würden. Der Vorschlag für die neue Krisenverordnung sieht etwa längere Fristen für die Registrierung von Asylgesuchen an den Außengrenzen vor, außerdem die Möglichkeit der Absenkung von Standards bei der Unterbringung und Versorgung. Zudem sollen Schutzsuchende in Krisensituationen nach den Vorstellungen des Rates verpflichtet werden können, sich länger als zwölf Wochen in den Aufnahmeeinrichtungen in Grenznähe aufzuhalten. Polen und Ungarn gehen die vorgeschlagenen Ausnahmevorschriften nicht weit genug. Die EU-Innenminister hatten Anfang Juni mit einer ausreichend großen Mehrheit für umfassende Reformpläne gestimmt. Asylanträge von Migranten aus Herkunftsländern mit einer Anerkennungsquote von weniger als 20 Prozent sollen danach bereits an den EU-Außengrenzen innerhalb von zwölf Wochen geprüft werden. In dieser Zeit will man die Schutzsuchenden verpflichten, in streng kontrollierten Aufnahmeeinrichtungen zu bleiben. Wer keine Chance auf Asyl hat, soll umgehend zurückgeschickt werden. Nun verhandeln das Europaparlament und die EU-Staaten über die Pläne. Quelle: dpa Passend zum Thema:
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Cicero-Redaktion
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Die Gespräche über eine Krisenverordnung innerhalb der geplanten EU-Asylreform sind vorerst gescheitert - unter anderem wegen Bedenken der Bundesregierung.
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[
"Migration",
"Europäische Union"
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außenpolitik
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2023-07-26T16:07:30+0200
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2023-07-26T16:07:30+0200
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https://www.cicero.de//aussenpolitik/migration-gesprache-uber-eu-krisenverordnung-vorerst-gescheitert
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Gesundheit - Vom gefährlichen Egotrip der Impfgegner
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Das ist heute eine heikle Angelegenheit. Ich möchte etwas über das Impfen schreiben. Besser: Über die gefährliche Impfparanoia vermeintlich aufgeklärter Eltern. Im Normalfall würde ich jetzt vom Leder ziehen, kolumnenartig wolkenhaft, ein Tritt da, ein kleiner Seitenhieb hier. Bei der Impfgeschichte aber muss ich vorsichtig sein, denn der Freund liest mit. Mehrere Impfskeptiker habe ich da in den eigenen Reihen, vom Waldörfler bis zur Homöopathentochter. Das Thema umschiffen wir vorsichtig, es ist pikant, geht’s um die Kinder, kommt man mit Blödelei und dummen Witzen nicht weiter. In der Impfsache geht es um so vieles: Da kumulieren Politik, Ethik und Glaube, Unsicherheit, Verschwörungstheorien, Halbwahrheiten bis hin zu nachvollziehbaren Ängsten in einer ungesunden Mischung. Manchmal einer tödlichen. Was die Skeptiker fürchten: dem Körper durch das Impfen seine eigene Heilfunktion abzusprechen. Das „Unterdrücken“ der Krankheit führe erst recht zu chronischen Erkrankungen wie Allergien, glauben sie. Diese Allergien werden zusehends zum Messfaktor für die Gesundheit von Kindern. Ob langes Stillen, spielen im Dreck oder, der Beginn der Fütterung mit Kuhmilch – immer wird auf die Risikominimierung von Allergien hingewiesen. Wenn Karl dann trotzdem Neurodermitis bekommt, Klara Asthmatikerin ist und Claude Heuschnupfen hat, gucken die Eltern hilflos auf das defizitäre Kind. [[nid:54980]] Der Allergologenverband Brandenburg verbreitet auf seiner Webseite die Ergebnisse einer Studie, die die Verbreitung von Allergien bei Kindern in Waldorfschulen untersucht hat. Dass diese bei den Anthroposophen-Kindern weniger vorkämen, konnte nicht bestätigt werden. Außerdem: „Eine anthroposophisch ausgerichtete, ‚biodynamische’ Ernährung beeinflusste das Allergierisiko nicht“. Wir dachten es uns schon. Trotzdem: Professionelle Impfgegner hantieren furchtlos mit Behauptungen, es gäbe keine unabhängigen Studien, keine Vergleiche der Pharmastoffe mit Placebos – sowieso würden alle Studien von Impfstoffherstellern betrieben. Dass Kinderkrankheiten „zwar unangenehm, aber bei gesunden Kindern nicht gefährlich“ seien, wie es die Naturheiler propagieren, ist dabei ebenso wenig harmlos wie falsch. Mit diesen Lügen im Gepäck aber veranstalten grenzdebile Eltern sogenannte Masernparties, auf denen sich ihre Kinder gegenseitig anstecken sollen, um den kontrollierten Piekser des Arztes zu umgehen. Dabei gibt es in Deutschland eine unabhängige Ständige Impfkommission, die ihre Empfehlungen regelmäßig überprüft. Der Impfstoff selbst enthält abgetötete oder abgeschwächte Erreger, gegen die der Körper Antikörper entwickeln kann, ohne durch den Ausbruch der Krankheit geschwächt zu werden. Es entstehen Gedächtniszellen, die im Falle einer Infektion reagieren können und die Angreifer zunichte machen. In Deutschland gibt es schätzungsweise vier bis fünf Prozent radikale Impfgegner, die ihre Kinder gegen gar nichts impfen. Aber diese fünf Prozent sind nicht das Problem. Das sind vielmehr jene 20 bis 30 Prozent, die eine individuelle Entscheidung daraus machen – die Impfskeptiker. Denn entgegen der landläufigen Meinung geht es hier nicht um Individualität. Es geht um Gemeinschaftsdenken. Um die Verbreitung von Infektionskrankheiten zu verhindern, muss der allergrößte Teil der Bevölkerung geimpft sein. Da reichen 70 Prozent Impfwilliger nicht aus, wir brauchen mehr, plädiert die Ärztin Marion Hulverscheidt von der Charité in einem Interview mit dem Bayrischen Rundfunk . Die Kinderlähmung etwa ist längst ausgerottet, könnte sich aber schnell wieder ausbreiten, wenn die Impfbereitschaft der Menschen nachlässt. Herdenschutz nennt sich der solidarische Gedanke, der dahinter steht: selbst bei einer so wahnsinnig ansteckenden Krankheit wie den Masern, könnten Säuglinge, Kranke mit schwachem Immunsystem oder auch ganz alte Menschen geschützt werden. Aber eben nur, wenn der Herdenschutz funktioniert. Wenn alle anderen, die können, mitziehen. München leidet seit Wochen an einer Masern-Epidemie. Von dort weitergetragen hat diese nun vermutlich eine Familie aus dem Kölner Umland. An einer dortigen Waldorfschule fällt der Unterricht aus. Es hatte sich herausgestellt, dass 100 der insgesamt 400 Schüler keinen Impfschutz vorweisen konnten. Masern können lange Jahre in den Gehirnzellen ihres Opfers überdauern, dann plötzlich zuschlagen und schwere Hirnhautentzündungen auslösen. Vor einigen Tagen machte der Tod eines Teenagers Schlagzeilen, der sich vor einem Jahrzehnt im Wartezimmer seines Kinderarztes angesteckt hatte und nun Jahre später an den Folgen gestorben war. Mumps und Röteln, die im Babyalter in einer Kombi gespritzt werden, sind nicht minder unangenehm. Mumps löst bei jedem dritten Jungen eine Hodenentzündung aus, die unfruchtbar machen kann, Röteln in der Schwangerschaft verursachen Fehlbildungen oder Fehlgeburten des Embryos.[[nid:54980]] Wir haben ein Wohlstandsproblem. Schon lange kämpfen wir kaum noch um Leben und Tod. Vater und Mutter müssen sich für ihre Nachkommen längst nicht mehr in Gefahr begeben, für sie die Krallen wetzen, Zähne zeigen, in den Kampf ziehen. Heute läuft das Leben safer ab – und wir drehen in Sachen Kindesbehütung hohl. Vielleicht ist es dieser Leerlauf, der zu irrationalen Reaktionen führt. Anstatt froh zu sein, dass wir unsere Kinder – relativ einfach – mit einem kleinen Pieks nämlich, vor einigen Todesgefahren schützen können, misstrauen wir dem. Natürlich ist es nicht leicht, das einem anvertraute Geschöpf in einem zufrieden wohligen Zustand dem Arzt zu übergeben, der die kleinen Oberschenkel mit Nadelstichen traktiert. Aber es macht so viel Sinn.
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Marie Amrhein
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20 bis 30 Prozent der Deutschen sind Impfskeptiker. Dass sie damit nicht nur die eigene Gesundheit und die ihrer Kinder aufs Spiel setzen, ist vielen nicht bewusst
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innenpolitik
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2013-07-07T10:00:39+0200
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2013-07-07T10:00:39+0200
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https://www.cicero.de//innenpolitik/gesundheit-vom-gefaehrlichen-egotrip-der-impfgegner/54988
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Carolin Emcke – „Ich verehre Péter Nádas“
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Wie sich geschichtliche Erfahrungen in Körper einschreiben, und
wie Sexualität und Begehren durch Gewalt und gesellschaftliche
Konventionen geformt oder deformiert werden – davon handeln unter
anderem Péter Nádas’ «Parallelgeschichten». Für uns ist dies der
Anlass, mit der Publizistin und Reporterin Carolin Emcke zu
sprechen, die für «Die Zeit» in Kenia, Gaza, Irak oder Pakistan
unterwegs ist und 2010 zur «Journalistin des Jahres» gewählt wurde.
In ihrem Buch «Wie wir begehren» fragt sie, was es heißt, lesbisch,
schwul oder heterosexuell zu werden. Gleichzeitig ist ihre Analyse
des Begehrens auch eine persönliche Coming-of-Age-Geschichte. Woher
das Wollen kommt, wie man ein Ich wird, warum man manchmal, aber
nicht immer zu Gruppen gehört – danach fragt Emcke in ihrem Buch.
Und erzählt uns, warum sie das Werk von Péter Nádas so
fasziniert. Frau
Emcke, in Ihrem Buch denken Sie darüber nach, dass man Identitäten
meistens als etwas Abgeschlossenes und Statisches begreift und
nicht als wandelbare Größen. Das scheint mit einer Art
Authentizitäts-Wahn einherzugehen, über den Sie auch schreiben. In
Talkshows etwa sind Subjekte gefragt, die als echter Muslim oder
als echter Homosexueller sprechen – und dann auch immer gleich auf
diese eine Identität festgelegt werden. Ist das Authentische wieder
auf dem Vormarsch?
Der Begriff des Authentischen hat schon eine ganze Weile
Renaissance, ich würde sagen, etwa seit Anfang der neunziger Jahre.
In der US-amerikanischen Multikulturalismus-Debatte wurde «das
Authentische» auf Kulturen bezogen: Man hat die religiösen,
kulturellen, politischen Rechte von Minderheiten oftmals mit einem
authentischen kulturellen Kern begründet, der vorgeblich auch über
Generationen unverändert bliebe, auch wenn Familien migrieren. Das
war mir immer schon unheimlich, dass Gruppen einen ahistorischen,
statischen Kern haben sollen, alles Dynamische, Bunte, Lebendige
innerhalb von Kulturen wird dadurch gleichsam monochrom. Über das
«Was» der Authentizität wird selten reflektiert. Was sollte das
denn auch heißen: ein «authentischer Jude» zu sein, eine «echte
Muslima» oder eben ein «authentischer Homosexueller»? In Ihrem Buch gibt es ein Ich und gelegentlich auch ein
Wir. Um Rechte durchzusetzen, muss man temporär Gruppen
bilden – einerseits. Anderseits sagen Sie aber auch, dass Sie
immer gezögert haben, «Mitglied einer Partei» zu
werden.
Nun, erstmal ist es eine subjektive Erzählung. Ich erzähle die
Geschichte einer Jugend, in der sich ein Ich erst entdecken lernt,
die eigenen Wünsche, das eigene Begehren – und das mit der
Frage ringt, wie sich Wünsche von Konventionen unterscheiden
lassen. Gleichzeitig befragt das Buch die Bedingungen des «Wir».
Wann ist meine Zugehörigkeit selbst gewählt, wann bedeutet sie
Schutz, wann ist sie zugeschrieben und bedeutet Ausgrenzung? Sich
als Angehörige einer Gruppe zu fühlen und gleichzeitig die eigene
Individualität zu artikulieren, das ist ein Konflikt, den nicht nur
Homosexuelle empfinden. Mir ist meine Individualität wichtig, aber
selbstverständlich ist auch: Solange in vielen Ländern Menschen,
die so lieben und begehren wie ich, angeklagt, ausgepeitscht oder
aufgehängt werden können, so lange verteidige ich dieses «Wir». Die Geschichte Ihrer Kindheit und Jugend
vergegenwärtigt, wie diese manchmal subtilen, oft auch brutalen
Gruppenbildungen mit ihren Ausschlussmechanismen funktioniert
haben. Sie erinnern sich an die Feten in den Partykellern Ihrer
Mitschüler und daran, wie Sie sich in Jungen verliebt haben. Sie
rekonstruieren Ihr Unbehagen beim «Bravo»-Lesen oder auch Ihre
Begeisterung für Ihren Handballverein. Wenn Sie vom ebenso
abenteuerlichen wie qualvollen Zauber des Erwachsenwerdens
erzählen, löst das Erinnerungen an die bundesrepublikanischen
achtziger Jahre aus. Die Art und Weise, wie damals über Sexualität
gesprochen wurde, wirkt heute so hilflos technisch. Sex kommt vor
allem als Reproduktionskrücke vor, in Schaubildern von
Geschlechtsorganen.
Gewiss spielt diese Geschichte in einer bestimmten historischen
Zeit: nach den politischen Aufbrüchen von 68 und vor Aids. Das
Reden über Sexualität war immerhin schon von Fragen der
Sittlichkeit und der Religion entkoppelt, es war biologistisch,
aber war es deswegen schon frei? Anderes an dieser Erzählung ist,
hoffentlich, allgemeingültig. Das Suchen nach der eigenen Form zu
lieben und zu begehren, das Unsichere, noch Unbestimmte der
Pubertät, das Leiden an dem Sprachlosen dieser Zeit, die Angst vor
der Ausgrenzung – das teilen alle, homosexuell oder nicht. Die
Frage, wie anders man sein möchte, sein darf, ohne noch genau zu
wissen, woraus diese Abweichung besteht – das hat nichts mit
den siebziger oder achtziger Jahren zu tun. Insofern ist dies eine
Coming-of-Age-Geschichte und keine Coming-out-Geschichte. Ich muss
mich nicht outen, und ich muss nichts «bekennen». Die Frage des
Buches ist eine existentielle: Wie finde ich heraus, wer ich sein
will, in welchen Phantasien erfinde ich mich, wenn in der Literatur
oder im Film nur begrenzt Vorlagen oder Vorbilder zur Verfügung
stehen? Lesen Sie mehr zu Carolin Emckes Faszination für Péter
Nádas Das ist eine Frage, die Sie immer wieder variieren.
«Gibt es einen inneren Kern der Lust, der (…) nach einer Form
sucht?» – «Wird das Begehren erst geformt»? oder «Braucht die
Phantasie das Wissen von dem, was möglich wäre, oder speist sie
sich aus sich selbst?» Der innere Kern und die äußeren Formen: Kann
man sagen, was davon zuerst da war?
Ich gebe in dem Buch darauf keine endgültige Antwort. Es kann sein,
dass es eine innere Anlage gibt, die nach und nach zum Ausdruck
kommt, es kann sein, dass es ein eindeutiges Begehren gibt, das
erst entdeckt werden will. Und es kann sein, dass das Begehren bei
manchen offener ist, dass es ambivalenter ist, sich wandelt,
wächst, sich vertieft. Wie leicht sich die eigene Lust verstehen
oder leben lässt, hängt aber auch davon ab, ob ich weiß, dass es
diese Lust und dieses Leben überhaupt gibt und geben darf.
Soziologen würden sagen, dass wir Scripts brauchen. Was ist denn unter einem Script zu
verstehen?
Wir brauchen Drehbücher, um Vorstellungen zu entwickeln, wer wir
überhaupt sein wollen. Ich kann nur in der Rekonstruktion meiner
Geschichte und der Zeit, in der ich aufgewachsen bin, mich selbst
befragen. Ich habe ziemlich lange gebraucht, um meine eigene
Phantasie als meine eigene Phantasie zu deuten. In der
entscheidenden Szene, in der ich zum ersten Mal eine Frau aufregend
fand – das war mit fünfundzwanzig Jahren – habe ich im
ersten Moment gedacht: Die müssten Männer aufregend finden. Ich
habe meinen Blick auf eine Frau gar nicht als meinen Blick erkannt.
Dass ich homosexuell begehren könnte, kam mir zunächst nicht in den
Sinn. Die Pubertät, das Leid für alle, die etwas anders begehren,
etwas anders sein wollen, besteht doch darin: Ihre Empfindungen
gehen nicht mit den Vorstellungen zusammen, wie sie lieben oder
sein sollten. Das ist es, was mich interessiert. Nicht nur ein
Begehren zu haben, das unterdrückt und verboten ist, sondern das
Begehren überhaupt nicht so leicht identifizieren zu können als
eigenes Begehren, weil die Phantasie dazu fehlt. Ich bin
Habermas-Schülerin und mit der Lektüre von Hannah Arendt
sozialisiert: Ich glaube an narrative Identität, daran, dass wir
als sprachliche Wesen uns nur selbst verstehen und verständigen,
indem wir uns Geschichten erzählen. Deswegen habe ich auch dieses
Buch geschrieben: damit es eine Erzählung mehr gibt, die vielleicht
Menschen hilft, ihr Begehren zu begreifen, die in so einem Text
ihre Phantasien entdecken können. Sie fragen sich, ob Ihnen das homosexuelle Begehren mehr
Freiräume lässt – auch, weil es historisch noch nicht so
gelabelt ist und weil es uneindeutiger bleiben kann, ohne die
jahrhundertealten Bilder davon, wie sich Männer und Frauen am
besten zueinander verhalten. Das erinnert sehr an Péter Nádas’
«Parallelgeschichten», die literarisch untersuchen, wie sich
Geschichte in Körper eingeschrieben hat; in entscheidenden Szenen
des Romans hat man den Eindruck, dass das heterosexuelle Begehren
ungleich stärker von historischen Rastern geprägt ist.
Ich verehre Péter Nádas. Mich fasziniert, sei es in seiner
«Spurensicherung» oder auch im «Buch der Erinnerung», wie er
Geschichten am Nichtwissen entlang erzählt – das Bewusstsein,
etwas nicht vollständig rekonstruieren zu können. Ich würde auch
sagen, dass sich geschichtliche Erfahrungen in Körper einschreiben.
Es sind historisch vorgegebene Bilder, in denen wir uns spiegeln.
Und die Geschichte der Bilder, der Rollen, der Muster, in denen
Menschen sich selbst und ihre Körper begreifen, ist für
Heterosexuelle länger und beladener. Gibt es nicht auch Vorbilder für schwule und lesbische
Beziehungen, und riskiert man nicht, das homosexuelle Begehren zu
einer Art Utopie zu erklären, eben zum offeneren, weniger
machtgeprägten Modell?
Nein. Ich will nicht behaupten, dass homosexuelles Begehren
normativ höherwertig sei, und auch nicht, dass homosexuelle
Beziehungen per se macht- oder konfliktfrei seien. Ich halte
sexuelle Orientierung für überhaupt keine moralische Kategorie. Die
eine Form der Lust ist nicht besser oder schlechter als die andere.
Sie ist eben nur eine Form der Lust. Was die Beziehungen angeht:
Wir lieben und trennen uns ja wie andere auch. Wenn ich aber über
heterosexuelle Erotik nachdenke, kommt eine ganze Ideengeschichte
des Begehrens damit einher, und so verstehe ich auch Peter Nadas;
traditionelle Vorstellungen von der bürgerlichen Familie, von
historisch kodifizierten Praktiken, Vorstellungen von Männlichkeit
und Weiblichkeit. Ich denke, es ist für Homosexuelle –
noch – etwas leichter, diese tradierten Bilder und Normen zu
unterwandern. Wer ohnehin abweicht von der Norm, wer ohnehin
ausgeschlossen ist, der kann etwas freier die eigenen Phantasien
ausleben. Das ändert sich vermutlich in ein oder zwei Generationen,
wenn es ähnlich viele ästhetische und soziale Codes für schwule und
lesbische Paare gibt, wenn es genauso einengende Traditionen gibt,
aus denen man sich dann wieder befreien muss. Es gibt noch eine zweite Verbindung zu Nádas’
«Parallelgeschichten»: Dass sich Gewalt über Generationen hinweg in
die Körper einschreibt, hat auch mit der nationalsozialistischen
Rassenhygiene zu tun, die im Roman eine wichtige Rolle spielt. In
Ihrem Buch verfolgen Sie den biopolitischen Wahn vom gesunden
Volkskörper am Beispiel des Paragrafen 175 – der bis weit in
die Geschichte der BRD hinein gewirkt hat, zum Teil sogar bis in
die Gegenwart.
Es gibt Motive aus dem Nationalsozialismus, die lange fortwirkten,
und zwar die Vorstellungen von «Krankheit» und von «Ansteckung».
Das Motiv, dass «das Andere» nicht nur «entartet», «pervers» oder
krank, sondern eben auch ansteckend sei, findet sich in der
Geschichte des Paragrafen 175. Diese Angst vor Ansteckung setzt
sich fort. Die Diskussion um die Adoption von Kindern zum Beispiel,
die Homosexuellen in Deutschland nicht gestattet ist, operiert
unterschwellig mit solchen biopolitischen Motiven, als könnten
homosexuelle Eltern ihre Kinder «infizieren». Um noch eimal auf das Thema Ihres Buches zurückzukommen:
Es war die Musik, die Ihnen eine ganze Welt eröffnet hat. Die
Phantasie braucht Bilder vom geglückten Leben, um zu eigenen
Wünschen zu kommen, schreiben Sie. Ist «Wie wir begehren» auch
deshalb ein Buch, das eine glückliche Geschichte
erzählt?
Ja, für mich handelt dieses Buch nicht nur vom Begehren, sondern
auch von Musik. Klassische Musik war für mich die Sprache, über die
ich mich artikulieren konnte. Und: Ja, ich wollte unbedingt eine
glückliche Geschichte erzählen, eine, die aus den Diskursen von
Identität und Differenz herausführt. Und eine, die denen, die noch
heute leiden am Schweigen über das Begehren, eine Erzählung
anbietet, eine glückliche. Carolin Emcke: Wie wir begehren. S. Fischer, Frankfurt 2012.
254 Seiten, 17.99 €.
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Sexualität ist ein Leitmotiv im Werk von Péter Nádas. Wir sprechen mit Carolin Emcke, die gerade ein Buch über das Begehren geschrieben hat
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kultur
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2012-04-02T12:43:49+0200
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2012-04-02T12:43:49+0200
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https://www.cicero.de//kultur/ich-verehre-peter-nadas/48830
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Subsets and Splits
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