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Wulffs Rücktritt – Kein Triumph der Pressefreiheit
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Lesen Sie auch einen zweiten Standpunkt von
Petra Sorge Es ist in der Geschichte der Bundesrepublik, in der noch kein
Politiker von Rang wegen des immer noch unbewiesenen Vorwurfs einer
so genannten „Vorteilsannahme“ freiwillig zurückgetreten ist, ein
ungeheurer Vorgang. Bundespräsident Christian Wulff, bislang
keineswegs der Bestechlichkeit überführt, tritt zurück, weil die
Staatsanwaltschaft in Hannover ein Ermittlungsverfahren gegen ihn
eröffnet und die Aufhebung seiner Immunität durch den Bundestag
beantragt hat. Mit seinem Rücktritt werden die Bemühungen der
Staatsanwälte nicht eingestellt – im Gegenteil. Angefangen hatte die Affäre, die erst durch Wulffs Ausflüchte
und Halbwahrheiten zu einer wurde, mit der Enthüllung eines
merkwürdigen Hauskauf-Kredits des damaligen Ministerpräsidenten von
Niedersachsen, den ein in der Schweiz wohnhaftes Ehepaar aus
Osnabrück, dem Heimatort Wulffs, gewährt hatte – in Form eines
anonymen Notenbank-Schecks in Höhe von einer halben Million Euro.
Der Zinssatz lag unter dem Marktüblichen. Der Spiegel hatte die Recherche nach der
Herkunft des Geldes begonnen, die BILD-Zeitung hatte sie mit Erfolg
abgeschlossen. Reporter der Bildzeitung waren die ersten,
die sich für die Herkunft des Geldes interessierten (*). Erst als
der Bundespräsident in einem offenbar rüden Telefonat mit dem
BILD-Chefredakteur Kai Diekmann verlangte, die Veröffentlichung zu
verschieben, entfaltete sich die Provinzposse zur Staatskrise. [gallery:Die Bilder der Wulff-Skandale] Natürlich war die Pressefreiheit durch einen erbosten Anruf von
höchster Stelle nicht gefährdet. Und natürlich war BILD durch ihren
Recherche-Erfolg nicht über Nacht zum eisenharten Hüter des
Grundgesetzes geworden. Doch dann entschloss sich der nervöse Präsident in völliger
Selbstüberschätzung seiner rhetorischen und forensischen
Fähigkeiten zu einer medialen Vorwärtsverteidigung in einem
TV-Gespräch mit den Fernsehjournalisten Deppendorf und Schausten.
Niemand wird behaupten können, die beiden hätten
versucht, mit bohrenden Fragen in das offenkundig
unbefestigte Schanzwerk von Wulffs Abwehrstrategie
vorzudringen. Lesen Sie weiter, wie Christian Wulff schließlich selbst
deutlich machte, was ihm fehlt... Doch die Einlassungen des Präsidenten zu seinen angeblichen
Vorteilsannahmen waren so vage, ausweichend und geradezu Mitleid
erheischend, dass Millionen Zuschauer plötzlich erkannten, dass dem
sympathisch scheinenden Politiker etwas fehlte, was schwer zu
beschreiben ist: Ausstrahlung, Substanz, eine gewisse Männlichkeit
im politischen Sturm. Er wirkte genau so wie sein Handschlag:
Weich, unverbindlich, alles andere als zupackend. Im Vergleich zu
seinen großen Vorgängern Heuss, von Weizsäcker oder Herzog war er
die Verkörperung einer anständigen Provinzialität – doch dann
stellte sich heraus, dass diese so anständig womöglich gar nicht
ist. Die Medien – übrigens nicht die öffentlich-rechtlichen
TV-Anstalten – recherchierten weiter, BILD vorneweg. Und so stellte
sich heraus, dass Christian Wulff nicht nur beim Häuserkauf,
sondern auch bei seinen Urlaubsreisen am Rande der Gesetzlichkeit
agiert hatte. [gallery:Wer ist im Rennen um die Wulff-Nachfolge? Eine
Kandidatenschau] Sein Rücktritt als Präsident ist kein Triumph der
Pressefreiheit. Vielmehr ist er in letzter Instanz das Ergebnis
einer verfehlten Macht- und Personalpolitik Angela Merkels. Schon
Wulffs Vorgänger Horst Köhler war der Kandidat der Kanzlerin; sein
Rücktritt aus weiterhin völlig unklaren Gründen bewies nur
eins: Die Menschenkenntnis der Kanzlerin lässt zu wünschen
übrig. Ihre zweite Wahl, der zweite Rücktritt erschüttern nicht das
Fundament der Republik – aber der Respekt der politischen Elite
ihrer eigenen Partei vor Angela Merkels Führungsstärke, die immer
auch mit Personalpolitik zu tun hat, dürfte gesunken sein. Sie
allein und ihr Koalitionspartner Rösler werden Wulffs Nachfolge
nicht mit derselben Selbstverständlichkeit nominieren können, wie
den Gescheiterten selbst. In dreißig Tagen muss sein Nachfolger, seine Nachfolgerin
gewählt werden. In der Zwischenzeit haben Deutschland und Europa
ganz andere Probleme zu lösen – wer immer in Schloss Bellevue
einziehen wird, kann seine Antrittsrede jetzt schon vorbereiten.
Zum Beispiel: Nicht nur der Islam gehört zu Deutschland, sondern
auch Griechenland gehört zu Europa. Die Griechen wiederum werden sich die Augen reiben angesichts
des präsidialen Rücktritts in Berlin – so eine Kleinigkeit wie ein
seltsamer Kredit oder eine womöglich geschenkte Hotelübernachtung,
das hat in Athen noch keinen einzigen Politiker in Verlegenheit
gebracht. (*) In einer früheren Version dieses Textes hieß es, der
Spiegel habe mit der Recherche begonnen. Dies ist falsch. Reporter
der BILD-Zeitung recherchierte erstmals im Februar 2009 im
Grundbuchamt von Großburgwedel. Zwei Jahre bevor der Spiegel am 17.
August 2011 vor dem BGH das Recht zur Einsichtnahme in das
Grundbuch erstritt.
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Christian Wulff musste zurücktreten. Das ist jedoch nicht das Verdienst der Medien. Wulff selbst hat sich als für das Amt ungeeignet enttarnt
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innenpolitik
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2012-02-17T12:32:42+0100
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2012-02-17T12:32:42+0100
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https://www.cicero.de//innenpolitik/kein-triumph-der-pressefreiheit/48343
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Verfassungsschutz - Das NSU-Versagen wurzelt in Bad Kleinen
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Am 4. Juli 1993 steht Bundesinnenminister Rudolf Seiters (CDU) auf den Stufen seines Bonner Ministeriums. Er trete von seinem Ministeramt zurück, sagt er in die Mikrofone der Journalisten. „Im Zusammenhang mit dem polizeilichen Einsatz vom 27. Juni in Bad Kleinen und seiner Aufarbeitung sind offensichtlich Fehler, Unzulänglichkeiten und Koordinationsmängel innerhalb von Bundesbehörden deutlich geworden“, sagt Seiters. Dafür übernehme er die politische Verantwortung. Im November 2011 wird Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) in einem Zeitungsinterview die Frage gestellt, warum die deutschen Sicherheitsbehörden vor dem Auffliegen der Mörderbande „Nationalsozialistischer Untergrund“ (NSU) die Existenz von rechtem Terror in der Bundesrepublik jahrelang verneint hätten. „Die Sicherheitsbehörden hatten keine entsprechenden Erkenntnisse“, räumt der Minister ein. Wenige Tage später, vor dem Innenausschuss des Bundestages, wird Friedrich noch deutlicher: „Ich glaube, dass wir es mit einer Mischung aus subjektiven Fehleinschätzungen, aber auch strukturellen Mängeln in den Sicherheitssystemen zu tun haben“, sagte er am 21. November 2011. Innenminister Friedrich ist noch immer im Amt. [gallery:Rechte Gewalt- und Mordserie erschüttert Deutschland] Zwei Vorgänge aus zwanzig Jahren. Zwei historische Debakel deutscher Sicherheitsbehörden. Zweimal Versagen, Vertuschen, zweimal das Versprechen, dass man Konsequenzen ziehen werde und nun alles anders, besser wird. Lassen sich der missglückte Polizeieinsatz von Bad Kleinen, bei dem 1993 ein GSG-9-Beamter und ein mutmaßlicher RAF-Terrorist ums Leben kamen, und das Auffliegen einer rechten Terrorzelle, die jahrelang unerkannt mordend und raubend durch Deutschland zog, miteinander vergleichen? Tatsächlich gibt es eine Reihe von Parallelen zwischen diesen Skandalen: das erschreckend unzulängliche Wissen der Sicherheitsbehörden über ein extremistisches Milieu; ein mangelnder Informationsaustausch zwischen Polizei und Verfassungsschutz; selbstherrlich agierende Behörden; aus dem Ruder laufende V-Leute; die stillschweigende Billigung von Straftaten durch den Verfassungsschutz; Vertuschung von Verantwortlichkeiten; oberflächliche Umorganisation in den Behörden nach dem Skandal statt tiefgreifender Strukturreformen. Dass sich all dies in der Aufarbeitung der Affären um Bad Kleinen und den NSU findet, zeigt auch, dass aus den Fehlern von vor zwanzig Jahren nie wirkliche Konsequenzen gezogen wurden. Andernfalls hätte man das Morden des NSU vielleicht verhindern können. Am deutlichsten werden die Parallelen zwischen Bad Kleinen und der NSU-Affäre, wenn man sich das Agieren des Verfassungsschutzes und dessen Umgang mit V-Leuten betrachtet. Denn auch schon bei den Ereignissen vor zwanzig Jahren spielte ein Spitzel des Geheimdienstes eine zentrale Rolle. Die Rede ist von Klaus Steinmetz alias VM 704. 1984 gelingt es dem rheinland-pfälzischen Verfassungsschutz, den damals 24-Jährigen als V-Mann anzuwerben. Steinmetz ist ein typisches linkes Szenegewächs. Er ist bei der Friedensbewegung dabei, engagiert sich bei den Grünen. In Wiesbaden, wo er sich damals am häufigsten aufhält, gerät er in die Unterstützerszene der RAF. Regelmäßig berichtet er fortan dem Verfassungsschutz über Personen und Aktionen der autonomen Szene im Rhein/Main-Gebiet. Im Juli 1993 wird ihn der damalige Innenminister Walter Zuber (SPD) im Innenausschuss des Mainzer Landtages als „Spitzenquelle mit guten Arbeitsergebnissen“ loben. Tatsächlich wurde VM 704 in „diffiziler Kleinarbeit“, wie sich das Landesamt für Verfassungsschutz später selbst lobt, über diverse linksextremistische Organisationen und RAF-Ebenen schließlich an die Kommandoebene der „Rote Armee Fraktion“ herangespielt. Ganz glatt geht das nicht – 1989 wird Steinmetz festgenommen, weil er an zwei Einbruchsdiebstählen beteiligt war. Das Verfahren geht durch mehrere Instanzen, am Ende kommt er mit einer Bewährungsstrafe davon. Ob der Verfassungsschutz daran gedreht hat, wird nie geklärt. Im Februar 1992 trifft sich Steinmetz in Paris mit Birgit Hogefeld, die damals der Kommandoebene der sogenannten dritten RAF-Generation angehörte. Erstmals erreicht damit ein V-Mann des Verfassungsschutzes dieses Level. Der Mainzer Innenminister Zuber und seine Verfassungsschützer sind begeistert von ihrem Erfolg, weihen aber lediglich den damaligen BfV-Chef Eckart Werthebach ein. Die Fachabteilungen des Kölner Bundesamtes bleiben hingegen ahnungslos, und auch auf Bundesebene wird angeblich nur Innenstaatssekretär Hans Neusel in allgemeiner Form informiert. Was das die Agenten nicht wissen – VM 704 offenbart längst nicht jede seiner RAF-Aktivitäten dem Dienst. So verschweigt er weitere Treffen mit RAF-Mitgliedern und Aufträge, die er für die Terroristen zu erledigen hat. In Notizbüchern, die man nach dem Einsatz von Bad Kleinen bei Hogefeld und Wolfgang Grams sicherstellte, fanden sich Vermerke, wonach Steinmetz fest in die Struktur der Terrorgruppe eingebunden war. In einem späteren Verfahren werfen ihm Ermittler daher vor, „tragendes Mitglied der RAF“ gewesen zu sein. Unter dem Decknamen „Bruno“ habe er „möglichst saubere Dokumente und eine Wohnung in Mainz beschaffen sollen“, heißt es in den Unterlagen. In seinem Auto finden sich später auch Spuren des Sprengstoffs, mit dem die RAF am 27. März 1993 den Neubau der Justizvollzugsanstalt Weiterstadt in die Luft jagte. Ob die Mainzer Verfassungsschützer von den Anschlagsplänen auf Weiterstadt wussten und die Füße still hielten, um ihre Quelle nicht auffliegen zu lassen, ist bis heute ungeklärt. Fakt ist, dass einen Monat nach dem Bombenattentat Steinmetz der Behörde von einem geplanten Treffen mit RAF-Führungskräften im Juni 1993 in Bad Kleinen berichtet. Nun endlich schalten die Verfassungsschützer die Exekutive ein: Anfang Mai 1993 werden Bundesanwaltschaft und Bundeskriminalamt über die Verbindungen von VM 704 zur RAF-Kommandoebene in Kenntnis gesetzt. Die damaligen Chefs der beiden Behörden, Generalbundesanwalt Alexander von Stahl und BKA-Präsident Hans-Ludwig Zachert, sind völlig verblüfft. Seit Jahren ist die aktuelle RAF-Generation von ihrem Radar verschwunden, außer den Anschlägen hat man so gut wie keine Erkenntnisse über die Aktivisten und ihre Aufenthaltsorte gewinnen können. Und jetzt stellt sich heraus, dass der Verfassungsschutz offenbar seit Jahren dicht dran ist an der Terrortruppe. Die Behörden verständigen sich auf den Zugriff. Bundesanwalt von Stahl gibt das Ziel vor: So viele RAF-Mitglieder wie möglich sollen bei dem Treffen in Bad Kleinen festgenommen werden. Doch die schlecht vorbereitete Polizeiaktion in dem unübersichtlichen Bahnhof von Bad Kleinen endet im Desaster. Der GSG-9-Beamte Michael Newrzella und der mutmaßliche RAF-Terrorist Wolfgang Grams sterben bei einem Schusswechsel. Hogefeld wird festgenommen und später zu lebenslanger Haft verurteilt. Klaus Steinmetz kann vorerst abtauchen. Die Mainzer Landesregierung und die Bundesregierung unternehmen in den ersten Tagen nach Bad Kleinen alles, um die Verwicklung des V-Manns in das Geschehen von Bad Kleinen zu vertuschen. Der Generalbundesanwalt und das BKA, die die Anwesenheit von VM 704 schon einen Tag nach der Schießerei öffentlich machen wollen, werden zum Schweigen verdonnert. Erst am 16. Juli 1993 räumt Mainz die Existenz von VM 704 ein. Gegen Steinmetz wird, nicht zuletzt wegen der Eintragungen in den Notizbüchern von Hogefeld und Grams, ein Ermittlungsverfahren wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung und der möglichen Beteiligung am Sprengstoffanschlag von Weiterstadt eingeleitet, auch ein Haftbefehl wird erlassen. Aber die Ermittlungen gestalten sich schwierig. Ex-BKA-Chef Zachert ist noch heute überzeugt davon, dass der Verfassungsschutz viel mehr gewusst habe, aber nur das Notwendigste davon übermittelte. „Wir haben viel nachgehakt, aber die Erwiderungen waren immer sehr knapp“, sagte er jüngst in einem Fernsehinterview. „Ich gehe davon aus, dass wir nur 60 Prozent des Gesamtwissens überstellt bekommen haben.“ Das Verfahren gegen Steinmetz wird schließlich eingestellt. Der V-Mann lebt heute mit neuer Identität im Ausland. Die Kosten für sein Schutzprogramm trägt der Steuerzahler. Wer die Geschichten um den VM 704 von 1993 kannte, wird nach dem Auffliegen des NSU im November 2011 ein Déjà-vu erlebt haben. Denn auch bei den Ermittlungen im Umfeld des NSU sind die Fahnder in den vergangenen anderthalb Jahren immer wieder auf V-Leute des Verfassungsschutzes gestoßen. [[nid:54377]] Bundes- und Landesämter hatten insgesamt mehr als zwei Dutzend Spitzel im nahen und weiteren Umfeld des Terrortrios platziert. Die drei, vier Spitzenquellen darunter waren wie V-Mann Steinmetz vom Verfassungsschutz über Jahre hinweg aufgebaut und mit viel Geld bei ihrem Aufstieg in der extremistischen Szene unterstützt worden. Das alles geschah, obwohl man am Beispiel von Steinmetz schon 1993 erlebt hatte, wie ein V-Mann aus dem Ruder laufen kann, wie er seine Auftraggeber täuschte, wie er faktisch unter den Augen des Staates die RAF-Terroristen in der Illegalität und bei ihren Verbrechen unterstützte. Zu einem Umdenken bei der Führung von V-Leuten im extremistischen Bereich haben die Ereignisse um Bad Kleinen aber offenbar nicht geführt. Neonazi-Spitzel aus dem NSU-Umfeld wie der Thüringer Tino Brandt, wie Thomas R. alias „Corelli“, Kai D. oder Carsten Sczepanski („Piatto“) in Brandenburg ließ man an der langen Leine laufen, nahm Straftaten von ihnen stillschweigend in Kauf, warnte sie vor Durchsuchungen und nahm dämpfenden Einfluss auf Ermittlungsverfahren gegen sie. Über Tino Brandt, der anfangs am dichtesten dran war an dem im Januar 1998 abgetauchten Trio, ließ der Verfassungsschutz sogar Geld an die flüchtigen Neonazis Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe fließen – warum auch immer. Erkenntnisse über Helfer und mögliche Verstecke der Drei hielt der Dienst so lange zurück, bis es zu spät war und das Trio vom Radar verschwand. Und als die rechte Terrorgruppe im November 2011 aufflog, wurde wie zwei Jahrzehnte zuvor Verantwortung vertuscht, wurden Akten geschreddert und Informationen über V-Leute so lange wie möglich zurückgehalten. Wenigstens eines aber haben die Verantwortlichen aus Bad Kleinen gelernt: Ein schneller Ministerrücktritt macht es nur schwieriger, die Aufklärung von Behördenversagen kontrolliert zu steuern. Ex-Bundesanwalt von Stahl brachte es jetzt in einem Fernsehinterview auf den Punkt: „Wenn Seiters 1993 nicht gegangen wäre, dann hätten wir das alles innerhalb eines Vierteljahres gut durchgestanden.“
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Andreas Förster
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Nicht erst beim NSU versagten die Behörden massiv. Schon vor 20 Jahren endete eine Mission gegen die letzten RAF-Kommandanten in Bad Kleinen in einem Fiasko. Die Parallelen sind immens: Bis heute hat der Verfassungsschutz nichts gelernt
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innenpolitik
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2013-06-26T12:12:46+0200
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2013-06-26T12:12:46+0200
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https://www.cicero.de//innenpolitik/verfassungsschutz-das-nsu-versagen-wurzelt-bad-kleinen/54882
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20 Gründe... - warum Grün keine Zukunft hat
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Hat Grün eine Zukunft? Natürlich nicht! Darauf geben wir Ihnen nicht nur Brief und Siegel – wir liefern auch 20 gute Gründe
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Cicero-Redaktion
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Hat Grün eine Zukunft? Natürlich nicht!
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kultur
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2013-02-21T17:07:38+0100
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2013-02-21T17:07:38+0100
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https://www.cicero.de//kultur/warum-gruen-keine-zukunft-hat/53616
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Katholische Kirche - Kollaps des religiösen Wissens
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Es ist der Ruin der Akademien, die Kapitulation vor der Bildungskrise, der Rückzug aus der Verkündigung: Was die Deutsche Bischofskonferenz nun auf 20 Seiten nach Rom geschickt hat, ist ein Dokument mannigfachen Scheiterns. Die „Zusammenfassung der Antworten aus den deutschen Diözesen auf die Fragen im Vorbereitungsdokument für die III. Außerordentliche Vollversammlung der Bischofssynode 2014“ hält fest, womit zu rechnen war. Und findet weitere Antworten, die ein einziges großes Schweigen sind. Das Resümee dieser vatikanischen Aktion war so vorhersehbar wie ein Kälteeinbruch im Januar: Jene Katholiken aus deutschen Landen, die sich die Mühe machten, den langen Fragebogen zu Ehe und Familie zu beantworten, gaben den Bischöfen ordentlich Bescheid: „Die kirchliche Ehetheologie und Sexualmoral findet nahezu keine Akzeptanz.“ Umständlich wird dieser Befund durchdekliniert an den heiklen Punkten vorehelicher Geschlechtsverkehr, Homosexualität, wiederverheirateten Geschiedenen, Geburtenregelung. Wohin die Bischöfe auch schauen lassen, überall ist es dasselbe Lied. Die Kirche dringe nicht durch. Mit nichts anderem war zu rechnen. Ebenso war damit zu rechnen, dass vor allem die „fundamentale Veränderung und Pluralisierung des Familienbegriffs, ebenso auch die Privatisierung der Sexualmoral und menschlicher Beziehungen überhaupt“ hierfür verantwortlich gemacht werden. Die Welt habe sich gewandelt – wer wollte der Binse widersprechen –, da habe es die Kirche nun einmal schwer mit ihrer eigentlich wunderbaren Botschaft. So einfach ist es aber nicht. Das wahre Problem besteht darin, dass viele Menschen in Deutschland gar nicht wissen, wie denn die authentische Lehre der Kirche momentan gerade aussieht – abseits wohlfeiler Bekenntnisse zu Toleranz, Völkerfreundschaft, Umweltschutz. Um wirklich ermessen zu können, inwieweit die „zentrale Botschaft der Kirche von Ehe und Familie“ auf Interesse oder Ablehnung stößt, hilft oder schadet, müsste ebendiese erst einmal an Mann und Frau und Kind gebracht werden. Daran hapert es gewaltig. An wenigen Stellen kann die „Zusammenfassung“ ihr Erschrecken über diese selbstgemachte Wirkungslosigkeit des eigenen Tuns nicht verschleiern. Da heißt es unvermittelt, die kirchliche Lehre über Ehe und Familie spiele „in der Jugendarbeit eine nur geringe Rolle“ und werde auch in der Sonntagspredigt „nur vereinzelt“ aufgegriffen. Wie aber soll geglaubt werden, was nicht verkündigt wird? Wie soll ein Schweigen durchdringen, wie ein Pudding haften? Das Ehevorbereitungsgespräch wiederum, meist der für lange Zeit letzte Gesprächskontakt mit einem Pfarrer, verbleibe oft „im eher formalen Rahmen“. Warum soll man einer Institution trauen, die den Menschen Masken zumutet, Schablonen vorsetzt und das Eigene im Tabernakel lässt? Wenn nun also eine „Neuorientierung“ der Pastoral gefordert wird – von jenen, die den Kollaps des religiösen Wissens zu verantworten haben –, ist diese Pointe zwischen Fatalismus und Büttenwitz angesiedelt. Dieser „Neuansatz“ wird, sofern er nicht nur die jeweils letzten Meinungsfragen absegnet, dort versanden, wo die meisten „Impulse“ und „Initiativen“ enden, im Treibsand der Gremien, Kommissionen und Dialogpapiere. Papst Franziskus wird all dies nicht ohne Amüsement zur Kenntnis nehmen und sich denken: Ist denn alles nur Windhauch in deutscher Provinz? Will sich denn niemand außer mir entweltlichen?
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Alexander Kissler
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Kisslers Konter: Das Resümee der Deutschen Bischofskonferenz zum Thema Ehe und Familie war so vorhersehbar wie ein Kälteeinbruch im Januar. Doch das liegt nicht nur am veränderten Familienbegriff, sondern auch an der mangelhaften Kommunikation der katholischen Kirche.
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kultur
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2014-02-04T14:20:05+0100
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2014-02-04T14:20:05+0100
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https://www.cicero.de//kultur/umfrage-der-bischofskonferenz-zu-ehe-und-familie-kollaps-des-religiosen-wissens/56975
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Steuermilliarden - Warren Buffett würde in Bildung investieren
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Es sei schmerzlich, auf so viel Geld zu sitzen, sagte einst Warren Buffett, Anlagelegende und einer der reichsten Männer der Welt. „Aber noch schmerzlicher ist es, etwas Dummes damit anzustellen.“ Auch wenn man Börsentipps nicht eins zu eins auf die Politik übertragen sollte: Angesichts der Rekord-Steuereinnahmen darf man doch einmal an diesen Satz erinnern. 55,36 Milliarden Euro haben Bund und Länder im vergangenen Monat eingenommen – so viel wie noch nie in einem März. Was erst einmal wie eine gute Nachricht klingt, bekommt angesichts des Gezänks, das sich die Parteien bereits um das Geld liefern, einen sauren Nachgeschmack. Plötzlich scheint jeder zu wissen, was das Beste für das Land ist. Die Union möchte am liebsten den Mittelstand entlasten und die sogenannte kalte Progression abbauen. Die FDP, wenig überraschend, schließt sich dieser Forderung prompt an. Die Linken wollen das Geld lieber in den Sozialstaat, die Grünen in den Schuldenabbau stecken. Und den Sozialdemokraten reichen selbst diese Milliarden nicht; sie setzen weiterhin auf Steuererhöhungen. Gemeinsam ist allen Parteien, dass sie die Ideen der jeweils anderen für etwas Dummes halten. Manchmal sogar die der eigenen Leute – so hatte sich Schleswig-Holsteins SPD-Ministerpräsident Torsten Albig mit seiner Idee einer Schlagloch-Abgabe für alle Autofahrer sogar in der eigenen Partei unbeliebt gemacht. Vielleicht gäbe es aber doch ein Ziel, auf das sich alle Parteien einigen könnten: dass Deutschland noch reicher werde, dass die Steuern noch zahlreicher sprudeln. Dann könnte man den Mittelstand, den Sozialstaat und den Gläubigern zugleich dienen. Für Warren Buffet war die Frage, wie man reich wird, ganz leicht zu beantworten: „Kaufe einen Dollar, aber bezahle nicht mehr als 50 Cent dafür.“ Anders gesagt, sichere dir einen großen Profit für einen kleinen Preis. Wie das in der Volkswirtschaft funktioniert, haben Wissenschaftler schon vor fünf Jahren errechnet: durch Investitionen in die Bildung. Die Renditekurven, die eine Grafik der Bertelsmann Stiftung da verspricht, würden jedem Fondsberater wässrige Augen machen. Je schneller in Bildung investiert wird, desto höher das Bruttoinlandsprodukt - so lässt sich die Formel zusammenfassen. Würde man die Zahl der Jugendlichen halbieren, die kaum richtig lesen und schreiben können, hätte die Volkswirtschaft 2090 drei Billionen Euro mehr gewonnen – das ist mehr als das gesamte heutige Bruttoinlandsprodukt. Besser ausgebildete Jugendliche rutschen seltener in die Kriminalität ab, haben häufiger einen Job, zahlen Sozialabgaben und Lohnsteuern und fallen somit der Solidargemeinschaft nicht mehr zur Last. Ein so „geretteter“ junger Erwachsener bringt dem Staat als Single am Anfang seiner beruflichen Laufbahn 179 Euro mehr Geld ein, als 80-jähriges Rentnerpaar 10.346 Euro. Ein Riesengewinn für alle. Die Rechnung hat damals das Münchner ifo-Institut für Wirtschaftsforschung mit aufgestellt, das nicht gerade im Verdacht steht, linken Sozialutopien anzuhängen. Die Voraussetzung: Man hätte 2009 mit einer Bildungsreform beginnen und sie binnen fünf Jahren abschließen müssen. Ob Frühförderung, Nachhilfe oder Programme zur Inklusion: Die Forscher machten der Politik damals keine Vorgaben, wie genau die Reformen auszusehen haben. Doch 2014 ist von all dem „nur ziemlich wenig umgesetzt worden“, sagt die damalige Programmleiterin Anette Stein heute. Die Zahl derer, die im Schulsystem scheitern, sei nur minimal reduziert worden. Selbst am Kita-Ausbau lässt sie kein gutes Haar: Es mangele an Qualität und Personal. Dabei sind die volkswirtschaftlichen Renditen hier die allerhöchsten. Jeder Euro, der in frühkindliche Bildung gesteckt wird, bringt der Gesellschaft am Ende das Siebenfache zurück. Langzeitstudien in den USA schätzen die Relation sogar auf 1 zu 40. „Man kann in jedem Fall sagen: Bildungsinvestitionen refinanzieren sich“, fasst Stein die Erkenntnisse zusammen. Warren Buffetts Anlagetipp erscheint dagegen fast wie ein Verlustgeschäft. Freilich dürfen sich die Bemühungen nicht auf das Kindergartenalter beschränken. Auch ungelernte Jugendliche sind teuer, wie die Bertelsmann Stiftung in einer anderen Studie errechnete. Wenn es nicht gelingt, die Zahl der 150.000 jungen Menschen ohne Ausbildungsabschluss zu halbieren, entstehen für die öffentlichen Haushalte Belastungen in Höhe von 1,5 Milliarden Euro pro Altersjahrgang. Tatsächlich ist die deutsche Wirtschaft händeringend auf qualifizierten Nachwuchs angewiesen. Verschläft Deutschland es hier, seine Hausaufgaben zu erledigen, riskiert es auch seinen weltweiten Spitzenplatz. Doch die Konsequenzen lassen auf sich warten. Stattdessen streiten sich die Bundesländer über die Dauer der Gymnasialzeit, weisen sich gegenseitig die Schuld am schleppenden Kita-Ausbau zu, und jeder wurstelt mit seiner eigenen Schulform vor sich hin. Und die Große Koalition? Die pämpert ihre Wähler lieber mit Rentenmilliarden, anstatt es mit dem sperrigen Bildungsföderalismus aufzunehmen. Warren Buffett sagte mit Blick auf den Aktienmarkt einmal, für Investitionen sei genau dann die beste Zeit, „wenn sich niemand für Aktien interessiert“. Wäre Buffett deutscher Politiker, müsste er jetzt in Goldgräberstimmung verfallen: Angesichts der jüngsten Steuermilliarden kam jedenfalls noch keine Partei auf die Idee, mehr in Kitas, Schulen und Ausbildung zu stecken.
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Petra Sorge
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Die Steuermilliarden sollten jetzt nicht verplempert, sondern klug investiert werden: in die Bildung. Ein kleines volkswirtschaftliches Einmaleins
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wirtschaft
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2014-04-23T15:29:27+0200
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2014-04-23T15:29:27+0200
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https://www.cicero.de//wirtschaft/mehreinnahmen-die-steuermilliarden-die-bildung/57454
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Messias und Prolet – Axel Springer – ein Mann der Widersprüche
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Dieser
Artikel ist eine Leseprobe aus der Mai-Ausgabe des Cicero zum Thema
"Republik der Rechthaber - Moral-Standort Deutschland". Ab jetzt am Kiosk erhältlich oder direkt hier bei
uns im Online Shop! Axel Springer war ein menschenscheuer Menschenfänger. Mit
sicherem Gespür hat er im richtigen Moment nach dem Krieg und im
aufstrebenden Wirtschaftswunderland das Richtige getan – Motto, von
Wilhelm Raabe geklaut: „Blick auf zu den Sternen, hab acht auf die
Gassen“ – und Zeitungen für den seichten Massengeschmack gegründet.
Für Massen, mit denen er unmittelbar nichts zu tun haben wollte, da
war er zu sehr Ästhet. Das Volk, dessen Sprache er verstand und
dessen Träume er benutzte, sollte dem Genie nur Beifall klatschen
und seine Produkte kaufen. Der Teil Springers, der eigentlich lieber eine Frau war (wie
sein langjähriges Schlachtross an der Spitze des Konzerns, Peter
Tamm, über ihn sagte), hat mit seinem untrüglichen Gefühl für die
wahren Bedürfnisse der Menschen den Aufstieg seines Verlags zum
größten Zeitungshaus Europas überhaupt erst möglich gemacht. Für
die harten Auseinandersetzungen im Konkurrenzkampf wiederum
brauchte der Verleger, der sogar Wutausbrüche vor dem Spiegel übte,
seine Männer. Die sollten sich – hoch bezahlt oder gut abgefunden,
falls er sie nicht mehr ertrug – mit dem beschäftigen, wozu
Springer keine Lust hatte, weil es sein nicht sehr ausgeprägtes
Durchhaltevermögen überforderte: Bilanzen, Strategien,
Vertrieb. Im Gegensatz zu den meisten anderen seiner Generation hat Axel
Springer das Terrorregime der Nazis nicht als einen bedauerlichen
Fehler der Geschichte verdrängt. Er sprach stets deutlich von den
Verbrechen der Deutschen, vergaß in keiner Rede, auf die braune
Vergangenheit hinzuweisen, und empfand diese Schuld der Nation
immer auch als persönliches Versagen. Er leistete wie kein anderer
Deutscher Wiedergutmachung an den Juden, soweit dies überhaupt
möglich ist. Diese moralische Haltung passte zwar nicht ins
Weltbild seiner Feinde. Aber zur widersprüchlichen Persönlichkeit
Axel Springers. In Israel, dem Land seiner Sehnsucht, erlebte er alles
unmittelbar, worüber er gelesen hatte. Er blätterte in seiner Bibel
wie in einem Reiseführer. Lukas sei ein glänzender Reporter
gewesen, erzählte der Verleger seinen Leuten in Berlin, alles
stimme bei ihm, jedes Detail. Bei allem Engagement jedoch war
Springer unfähig – oder einfach zu faul? –, die Ursachen des
Nationalsozialismus zu analysieren, die letztlich
Konzentrationslager, Genozid, Kriege bewirkt haben. Unfähig zu
erkennen oder gar zu verhindern, wenn manche seiner Starschreiber
im Idiom der Nazi-Stürmer auf alles einschlugen, was nicht ihrer
Meinung war. Auch nicht zu verhindern, dass ehemalige aktive Nazis
wieder hohe Posten in seinen Blättern erhielten. Sein treuer
langjähriger Vertrauter Ernst Cramer hatte als jüdischer Emigrant
selbst erlebt, was Faschismus im Alltag bedeutet, und keinen Hehl
daraus gemacht, was er von manchen Mitgliedern der
Springer-Kamarilla hielt. Die waren ihm zu ähnlich den Häschern,
denen er einst gerade noch entkommen war. Warum Springer in Wahrheit ein unpolitischer Mensch
war... Ein amtierender Chefredakteur von Bild hatte mal einen Kommentar
geschrieben, in dem er sich beklagte, dass die armen Deutschen im
Ausland nie anständig behandelt würden, obwohl der Krieg doch schon
über zehn Jahre her sei. Was sollen wir denn noch tun?
Fernschreiben des Verlegers aus Kampen: „Ich will Ihnen sagen, was
die Deutschen im Laufe der nächsten zehn Jahre tun sollten. Sie
sollten die Schnauze halten und still vor sich hinarbeiten. Sie
haben so viel Elend in der Welt verursacht, dass sie überhaupt
keinen Grund haben, das Maul aufzureißen.“ Springer
war in Wahrheit ein eher unpolitischer Mensch, der nur in
Kategorien von Böse und Gut dachte, also alles für Teufelswerk
hielt, was seiner Ordnung nicht entsprach. Die Linken waren des
Teufels, also schlecht, die Rechten glaubten an Gott, waren also
gut. Er war überzeugt, stets im Namen von Gott und Vaterland zu
handeln, also im Geiste höherer Werte. Für seine wichtigsten
Blätter fehlte ihm jedoch jene Heerschar jüdischer Intellektueller,
Journalisten aus Berlin, die von den Nazis vergast oder in die
Emigration getrieben wurden. Die man nur noch bei der New York
Times treffen konnte. Der norddeutsche Protestant, der sich als Preuße fühlte und
nicht als Hanseat, holte sich für seine Gebete und Erleuchtungen
das für ihn am besten Passende aus verschiedenen Kirchen. Die
weihrauchselige Tradition und die Bilderkraft der Visionen aus der
Ostkirche, den Engelsglauben und die Verehrung des Heiligen Geistes
aus der katholischen Kirche, die unbedingte Treue gegenüber Gottes
Wort von den Altlutheranern, die geheimnisvollen Verkündigungen der
bevorstehenden Endzeit von den Meistern der christlichen Mystik.
Und die Überzeugung, dass der Messias, für den er sich 1957 ein
paar Monate lang hielt, wiederkehren werde, vom jüdischen Glauben,
der in Verbindung mit der deutschen Schuld aus dem anderen
Tausendjährigen Reich sein Leben entscheidend prägte. Im Gegensatz zu vielen seiner Gegner, die eine moralischere Welt
forderten, aber meistens von den anderen, erfüllte Springer
zumindest seine Vorstellung von einem guten Menschen einigermaßen
mit Leben. Er hat nie einen vergessen, der ihm mal geholfen hat,
selbst wenn der inzwischen zum Kommunisten geworden war. Auch dies
zeugte von seinem widersprüchlichen Charakter: Er war ein Patriot,
aber kein finsterer Nationalist. Er war ein Frauenheld, aber
unfähig zur Bindung. Er war bescheiden, aber auf die Wirkung dieser
Bescheidenheit bedacht. Er war ein König, aber nicht souverän. Warum Springer sich über die Spiegel-Affäre
freute... Springers Blattmacher setzten die Ideen ihres Verlegers um in
tägliche Erfolge. In den Jahren, als er in seinen Zeitungen noch
nicht zum Kreuzzug gegen das Reich des Bösen in Moskau rüstete,
sondern nur zur Attacke auf die Portemonnaies der deutschen Leser,
konnte ihm keiner was vormachen. Einen solchen Instinkt kann man
nicht erlernen oder erklären. Gute Reporter riechen eine Geschichte
und machen sie, egal was es kostet. Gute Verlagsleiter sorgen
dafür, dass immer genügend Geld dafür da ist. Axel Springer konnte
beides, riechen und rechnen. Die Nähe zu Seinesgleichen, also damals noch Journalisten,
verschaffte Springer Lustgewinn und Lebensfreude: Die sind kreativ
und spontan wie er, auch ein bisschen halbseiden, mehrheitlich
nicht gerade gebildet, aber neugierig auf alles, was sie nicht
wissen. In seinen guten Phasen war er besser als die besten unter
ihnen. Auf dem glitzernden Boulevard der Sensationen wohlgemerkt,
oft nicht mal in den Gassen, sondern in den Gossen, selten in der
Arena des politischen Diskurses. Hellmuth Karasek, heute einer der wesentlichen Autoren des
Hauses Springer, veräppelte einst den Verleger in einer frei
nachempfundenen „Rede, fast von Axel Springer“ in der Zeit: „Wir
alle, meine Damen und Herren, wollen den Frieden. Aber ein Frieden,
bei dem unsere Töchter Sklavinnen sowjetischer Spitzenfunktionäre
sein müssten und bei dem – wie ich aus den Geheimdokumenten eines
übergelaufenen jugoslawischen Gefreiten weiß – das Verlagshaus der
Welt in eine landwirtschaftliche Kolchose verwandelt werden soll,
ein solcher Frieden ist kein Frieden. Man hat mir vorgeworfen, ich
sei gegen die Ostpolitik, weil Chruschtschow mich unhöflich
empfangen hätte. In Wahrheit war es umgekehrt. Chruschtschow ließ
ganze Straßenzüge mit Kerzen illuminieren und mit Blumengirlanden
schmücken – ein Prunk, den man für gewichtige internationale
Persönlichkeiten in diesem Ausmaße vorher nicht gekannt hatte. Aber
gerade dadurch, dass er mir bei meinem Gespräch unter vier Augen
dauernd besorgt Kaviar auf den Teller legte und seine Frau
anherrschte, als sie mir einmal nicht prompt nachschenken wollte,
wurde ich misstrauisch.“ Während der Spiegel-Affäre 1962, als Franz Josef Strauß am
Parlament und am Grundgesetz vorbei Rudolf Augstein und einige
seiner Redakteure – Conrad Ahlers, Claus Jacobi – wegen
Geheimnisverrat verhaften ließ, kam bei Springer große Freude auf.
Endlich habe man diesen „Vaterlandsverräter gepackt“, jubelte er.
In Zeiten der Wut, bei Ausbrüchen von Jähzorn, war die Sprache der
Proleten auch seine Sprache. Dann will er Egon Bahr „aufs Maul
hauen“, dann befiehlt er – nachdem ein lukrativer Druckvertrag mit
dem Feind Spiegel geschlossen wurde –, die Herren dieses Verlags
„aufs Scheißhaus zu führen“, aber nicht ins Casino zum Essen. Was Axel Springer dem Vaterland versprach... Die aufkeimende deutsche Nachdenklichkeit am Ende der
Straßenschlachten, am Beginn des mittlerweile tot zitierten langen
Marsches der sogenannten 68er- Generation durch die Institutionen
erfasste auch Axel Springer, der im kleinen Kreis bekannte, wie
tief ihn schon der Tod von Benno Ohnesorg getroffen habe. Einem
Journalisten des Daily Mail in London sagte er: „In diesen jungen
Köpfen herrscht eine tiefe Animosität gegen das Establishment,
gegen dieses gut geregelte, ordentliche, konservative und – lassen
Sie uns ehrlich sein – ziemlich graue Leben, das wir alle in einer
solchen Gesellschaft führen müssen. Sie sehen um sich herum das
Streben nach materieller Verbesserung und fast nichts, das auf dem
Weg künstlerischen Ausdrucks dabei herauskommt. Ich sage, der
Fehler liegt bei uns allen, nicht beim Staat.“ Der preußische Schwärmer hat das Vaterland nie wie eine ferne
Größe betrachtet und auch nie wie einen abstrakten Begriff
aufgefasst, den Staatsrechtler in Seminaren erklären. Er hat es
nicht politisch definiert, also mit dem Verstand hinterfragt. Er
hat das Vaterland geliebt wie ein Ritter die hohe Frau, der man
sich ohne Lust, aber mit glühender Leidenschaft näherte. Er hat das
Vaterland besungen, und er hat es beschworen, es war ein
Lebenstraum, von dem er nie ließ. Den ihm zugeschriebenen Satz „Ich
werde Deutschland wiedervereinigen, ob Sie es glauben oder nicht“
hat er zwar dementiert, aber inhaltlich entsprach es seiner
Überzeugung. Wenn er vom Vaterland sprach, dann klang es stets wie
ein Gebet, und wenn er die dritte Strophe des Deutschlandlieds
sang, wie ein Choral. Die Eröffnungsansprache für sein neues
Verlagshaus direkt an der Berliner Mauer beschloss er mit dem
patriotischen Bekenntnis, das er aus seiner Schulzeit kannte: „Ich
hab mich ergeben / Mit Herz und mit Hand / Dir Land voll Lieb und
Leben / Mein deutsches Vaterland.“ Tragisch, aber passend zum niemals in normalen Bahnen
verlaufenden Leben des Romantikers Axel Springer, dass er das Ende
der DDR und die deutsche Einheit nicht mehr erlebte, ausgerechnet
er. Doch letztlich waren es nicht Axel Springer und seine
Zeitungen, sondern ein Kommunist namens Michail Gorbatschow, der
den Mantel der Geschichte öffnete. Und ein deutscher Bundeskanzler,
der sich einen Zipfel griff. Auch Moses, ein Mann der Bibel, die
der Verleger oft zitierte, hat das Gelobte Land zwar aus der Ferne
erblicken dürfen, aber es war ihm nicht mehr vergönnt, um in
Springers Sprache zu bleiben, sein Volk selbst dorthin zu
führen.
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Er war ein Patriot, aber kein Nationalist. Er liebte Israel, ließ aber Altnazis für sich schreiben. Axel Springer war ein Mann der Widersprüche – eine Würdigung zum 100. Geburtstag
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innenpolitik
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2012-05-02T09:02:07+0200
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2012-05-02T09:02:07+0200
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https://www.cicero.de//innenpolitik/axel-springer-ein-mann-der-widersprueche/49137
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Muslimischer Aufruf gegen den Terror - „Der Islam ist eine geladene Waffe“
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Dieser Text ist eine kostenfreie Leseprobe aus der November-Ausgabe des Cicero. Wenn Sie das Monatsmagazin für politische Kultur kennerlernen wollen, empfehlen wir Ihnen unser Testabo. Liebe Mitbürgerinnen, liebe Mitbürger, liebe Geschwister im, mit und ohne Glauben, im Namen Allahs des Barmherzigen rufe ich alle zur Vernunft – zum kritischen Denken auf! Seit es unsere Religion gibt, werden im Namen des Islam Menschen getötet. Ja, es stimmt, auch im Namen anderer Religionen wurde viel Blut vergossen. Ich rede heute aber für meine Religion. [[{"fid":"64813","view_mode":"copyright","type":"media","attributes":{"height":230,"width":345,"style":"height: 160px; width: 240px; margin: 3px 5px; float: left;","class":"media-element file-copyright"}}]]Viele Muslime, ich hoffe die meisten, distanzieren sich nicht nur von diesen Taten, sondern verurteilen und verachten die Menschen, die sie begehen. Muslime stehen heute mehr denn je in der Pflicht, nicht nur den Islamisten, sondern auch allen Traditionalisten den Kampf anzusagen. Hier und überall. Es reicht nicht aus, sich zu distanzieren. Es müssen Taten folgen. Die Ursachen des Übels, des Kampfes gegen alle Nichtmuslime, liegen in unserem Umgang mit dem Islam. Wenn ich „unserem“ sage, meine ich alle Menschen, aber in erster Linie uns Muslime. Zu leise sind die Stimmen, die ihn reformieren wollen, verstummt sind die Muslime, die es einst wagten, einen aufgeklärten Blick auf unser heiliges Buch zu werfen. Muslime wie Nichtmuslime haben Angst vor dem Islam, weil es noch immer zu viele Islam-Vertreter gibt, die diesen kritischen Blick verbieten. Ich kann mit Bestimmtheit sagen, dass ein Großteil meiner Geschwister im Glauben, besonders jene, die ihn predigen, schon immer die Abgrenzung zu all den anderen, den sogenannten „Ungläubigen“, gesucht und propagiert und bei jeder Kritik am Islam sofort die Rolle des Opfers eingenommen haben. Wo sind die Imame, die auf der Kanzel stehen und sagen: Dieser und jener Vers sind in einer bestimmten Zeit entstanden, und die müsst ihr nach heutiger Sicht der Dinge so und so verstehen, und deshalb dürft ihr euch nicht so verhalten, wie ihr es gerade tut? Wo sind die Geistlichen, die es wagen, sich gegen die Verschleierung der Frau auszusprechen und für das Recht auf ein selbstbestimmtes Leben für jeden Menschen? Die Realität der islamischen Welt, egal wo man sie antrifft, ist anders: Gerade die Gewalt hervorhebenden Verse werden genutzt, um auch Muslimen und Andersgläubigen Gewalt anzutun. Es bringt uns nichts, die Diskussion über die Reformierbarkeit des Islam in die gepflegte Atmosphäre wissenschaftlichen Gedankenaustauschs zu verlegen. Die Angst vieler Muslime, die es wagen, einen analytischen Blick auf den Koran und die Hadithen zu werfen, ist verständlich, denn sie werden von den meisten Vertretern des Islam in Deutschland und auf der ganzen Welt diffamiert – gar mit dem Tode bedroht. Unser Glaube ist nicht für alle Menschen die einzig wahre Religion und darf sich nicht mit Verachtung über alles andere stellen. Wenn das die Botschaft ist, die heute bei einem jugendlichen Moscheebesucher in Bonn, Dresden, Frankfurt oder Berlin als erste im Kopf hängen bleibt, wozu sprechen wir dann noch von einem barmherzigen Allah? Viele Muslime sagen: „Ich bin kein Islamist, warum sollte ich mich von den Taten der Islamisten distanzieren? Als die NSU-Mörder zehn Menschen hinrichteten, haben sich auch nicht alle Deutschen öffentlich von diesen Nazis distanziert.“ Dieses Denken ist falsch. Dass es vor allem Deutschland ist, das sich mit seiner Nazivergangenheit und -gegenwart ohne Hemmungen auseinandersetzt, will ich hier nicht länger ausführen. Wir liefern allen Rassisten dieser Welt, egal ob Muslime oder nicht, das nötige Futter, wenn wir unsere Religion zu einem unberührbaren Regelwerk erklären. Die NSU-Zelle kann ihre Morde nicht mit dem Grundgesetz legitimieren, Islamisten aber legitimieren die Verfolgung und Ermordung von Menschen mit der heiligen Schrift. Religion kann eine Waffe sein – der Islam, so wie er heute von vielen interpretiert wird, ist aufgrund des Mangels an kritischer Auseinandersetzung eine geladene Waffe. Er lebt immer noch in dem Verteidigungsglauben einer vormodernen Zeit, und viele seiner Anhänger vergessen nur zu gern, dass sie besonders in jenen Ländern sorgenfrei leben, in denen er nicht die Staatsform bildet. Mohammed war der letzte Prophet, wir können nicht auf den nächsten warten, um unsere Probleme von heute zu lösen. Nach ihm ist viel auf Gottes Erde passiert, es gab viele Kriege, viel Leid und Tod – und dann wieder Licht. In einer Hadith heißt es: „Das Wissen ist der Gläubigen verlorenes Gut, wo auch immer sie auf Wissen treffen, sollen sie es aufgreifen.“ Der Islam ist zeitgemäß, wenn wir bereit dafür sind. Die aktuelle Ausgabe des Magazins Cicero (Februar) widmet sich Huntingtons These eines Kampfes der Kulturen und dem Dschihad in Europa. Wenn Sie neugierig geworden sind, können Sie hier unser Testabo bestellen.
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Güner Yasemin Balci
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In Libyen köpfen IS-Terroristen zahlreiche Christen vor laufender Kamera, in Kopenhagen schießt ein Attentäter auf Cafébesucher und Juden: Die türkischstämmige Muslimin Güner Yasemin Balci grenzt sich klar gegen den tödlichen Irrsinn im Namen Allahs ab. Ein Plädoyer für eine zeitgemäße Lesart des Korans
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innenpolitik
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2015-02-16T16:42:34+0100
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2015-02-16T16:42:34+0100
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https://www.cicero.de//innenpolitik/muslimischer-aufruf-gegen-terror-guener-balci-islam-ist-geladene-waffe/58879
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Landtagswahlen - Absturz der letzten Volkspartei
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Was für dramatische Ergebnisse an diesem Wahlsonntag. Der Wähler hat gesprochen und hinterlässt ratlose Parteien. Die Regierungsbildung wird in allen drei Ländern kompliziert werden. Nur noch in Rheinland-Pfalz hat eine Große Koalition als Notnagel der Parteiendemokratie eine Mehrheit. In Baden-Württemberg braucht es drei Parteien für die Regierungsbildung, wenn Grüne und CDU nicht zusammenkommen. In Sachsen-Anhalt muss die CDU möglicherweise mit SPD und Grünen koalieren. Nur die AfD jubelt, sie schnitt bei allen drei Landtagswahlen zweistellig ab und ist in Sachsen-Anhalt mit mehr als 20 Prozent sogar zweitstärkste Partei geworden. Für die CDU ist das Ergebnis in Baden-Württemberg ein Desaster; es ist das schlechteste in ihrem Stammland seit der Gründung des Landes im Jahr 1952. Die Niederlage von Julia Klöckner in Rheinland-Pfalz ist für die CDU eine Katastrophe, weil die Spitzenkandidatin als christdemokratische Hoffnungsträgerin und sogar als mögliche Merkel-Nachfolgerin galt. Die SPD kann sich bei der rheinland-pfälzischen Ministerpräsidentin Malu Dreyer dafür bedanken, dass sie nicht gänzlich auf das Niveau von Kleinparteien abgestürzt ist. Für die FDP sind die Wahlergebnisse ein Achtungserfolg, nachdem sie bei der Bundestagswahl 2013 an der Fünf-Prozent-Hürde gescheitert war. Aber sie sind kein Durchbruch. Die Linken sind nicht mehr die erste Adresse für Protestwähler, nicht mal mehr im Osten. Und bei den Grünen hat Winfried Kretschmann zwar Historisches erreicht: Erstmals ist seine Partei bei einer Landtagswahl stärkste Partei geworden. Aber nicht einmal der baden-württembergische Ministerpräsident weiß, wie er jetzt eine Regierungsmehrheit schmieden soll. Man könnte auch sagen, das Parteiensystem der Nachwendezeit in Deutschland ist erodiert. Gewonnen haben populäre Persönlichkeiten. Die Ausschläge in der Wählergunst sind gewaltig. Stammwähler haben die Parteien kaum noch. Die Denkzettelwahl ist enttabuisiert. Die Deutschen werden sich in den Ländern auf schwierige Koalitionsverhandlungen einstellen müssen und auf instabile Regierungen, vermutlich auch auf Minderheitsregierungen. In Berlin stehen Kanzlerin Merkel und die Große Koalition unter gewaltigem Druck. Denn die Trends dieser bundespolitischen Testwahl werden 2017 auch bei der Bundestagswahl durchschlagen. Ohne Zweifel waren die drei Landtagswahlen am Sonntag vor allem eine Abstimmung über die umstrittene Flüchtlingspolitik der Großen Koalition und über den politischen Kurs von Bundeskanzlerin Angela Merkel. Die Wahl fand zu einem Zeitpunkt statt, der angesichts der Masseneinwanderung und der Krise der Europäischen Union eine historische Zäsur markieren könnte. Das Ergebnis ist paradox. Einerseits ließe sich analysieren, eine große Mehrheit der Wähler steht hinter den Bundesparteien, die Merkel in der Flüchtlingspolitik stützen – trotz des Erfolges der AFD. Andererseits haben die Wähler zweifelsohne vor allem die CDU für Merkels Flüchtlingspolitik abgestraft. Das Desaster der CDU ist hausgemacht. Und zwar doppelt. Erst hat Merkel die Protestwähler am konservativen Rand des Parteiensystems in die Arme der rechtspopulistischen AFD getrieben. Dann sind die drei CDU-Spitzenkandidaten nervös geworden, haben sich von Merkel distanziert. Schließlich fragten sich vor allem in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz viele Wähler, ob sie nicht besser Grüne oder SPD wählen sollten, wenn sie Merkels Flüchtlingspolitik unterstützen wollen. So wurde die Wählerbasis der CDU sowohl in der Mitte als auch am rechten Rand aufgerieben. Es wäre eine Überraschung, wenn in der Merkel-Partei jetzt nicht ein paar unbequeme Fragen an die Kanzlerin gestellt werden. Die SPD wiederum musste einmal mehr die Erfahrung machen, dass ihr die Rolle des Juniorpartners in einer Regierung nicht bekommt. Auch da wird die Basis unruhig werden. Es mag sein, dass die Parteien der Großen Koalition in Berlin jetzt erst einmal zusammenrücken. Es mag sein, dass sich die angeschlagenen Spitzen von CDU und SPD gegenseitig stützen werden. Aber lange wird es nicht dauern, bis die strategischen Konflikte in der Großen Koalition aufbrechen. Die Christdemokraten werden sich fragen, ob Angela Merkel noch ihr bundespolitischer Machtgarant ist. Unter Sozialdemokraten wird sich wieder Oppositionssehnsucht breitmachen. Die SPD wurde nicht dafür belohnt, dass sie – vom Mindestlohn bis zur Mietpreisbremse – das Profil der Bundesregierung bestimmt hat. Auch sie hat angesichts der Flüchtlingskrise Protestwähler an die AfD verloren, und zwar vor allem in ihrer traditionellen Stammwählerschaft. 18 Monate sind es noch bis zur Bundestagswahl im September 2017. Es werden politisch spannende Zeiten. Ob die Große Koalition in Berlin so lange durchhält, diese Frage ist nach diesem Wahlsonntag wieder offen. Wer jetzt allerdings Weimarer Verhältnisse beschwört, hat die Wählerbotschaft nicht verstanden – trotz der starken AfD und trotz des Absturzes der letzten noch verbliebenen Volkspartei, der CDU. Die SPD ist dies schon lange nicht mehr. Gleichzeitig zeigt sich jedoch, wie lebendig die parlamentarische Demokratie ist, wie das Vielparteiensystem atmet. Auch die Tatsache, dass die Wahlbeteiligung in allen drei Ländern deutlich gestiegen ist, ist für die Demokratie ein gutes Zeichen. Die AfD war ein Ventil für Protestwähler. Dass sich dieser Protest nach rechts entlädt, wenn sich die Parteien von den Grünen bis zur Union kaum noch voneinander unterscheiden und sich die politischen Lager angesichts der Großen Koalition aufgelöst haben, ist keine Überraschung. Wer die AfD-Wähler jetzt als politische Hasardeure oder gar Nazis beschimpft, macht es sich zu einfach.
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Christoph Seils
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Der Wahlsonntag kennt wenige Gewinner und viele Verlierer, vor allem Angela Merkel und ihre CDU. Das wird Folgen für die Große Koalition in Berlin haben. Doch wer angesichts des Erfolges der AfD jetzt Weimarer Verhältnisse beschwört, hat die Wählerbotschaft nicht verstanden
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innenpolitik
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2016-03-13T20:15:13+0100
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2016-03-13T20:15:13+0100
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https://www.cicero.de//innenpolitik/landtagswahlen-absturz-der-letzten-volkspartei/60626
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Besuch der Queen - Europa-Politik royal
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Es sagt sich leicht, Queen-Besuche seien bloß teurer Schmuck. Etwas für Eskapisten, die aus dem Grau republikanischer Politik mitgenommen werden wollen in eine andere, goldglänzende Welt. Hinein in ein verkitschtes Staatsschauspiel mit Königin und Prinzgemahl, in der die sonst so nüchterne Bundeskanzlerin eine Hofknicks-Rolle spielt. Doch der Glamour und die Schau sind Realpolitik, mehr noch: Der Staatsbesuch von Elisabeth II dient der Krisenbewältigung; dieser fünfte ebenso, wie schon die vier vorangegangenen in Deutschland. Jeder einzelne Besuch in einem halben Jahrhundert hatte vor allem ein Ziel: Europa zu einen. Das mag überhöht klingen für den Besuch einer betagten Monarchin, die sich in über 63 Jahren auf dem Thron nie politisch geäußert hat. Von der niemand weiß, wie sie wählt; welche Politik sie für ihr Land will. Die nicht einmal dann eine Brandrede hielt, als vor einigen Monaten mit der möglichen Abspaltung Schottlands ihr „Vereinigtes“ (!) Königreich auf dem Spiel stand. Dennoch handelt sie hochpolitisch mit dem Zeitpunkt ihrer Reisen. Das Besuchsziel Deutschland hat sie immer dann genutzt, wenn ein Bekenntnis zu Europa innerhalb Großbritanniens notwendig erschien. Das war bereits bei ihrem allerersten Staatsbesuch in Deutschland so, vor genau 50 Jahren. Sie war spät dran damals, Eile schien London geboten. Denn längst war die junge Bundesrepublik erwachsen geworden. Nicht nur sprichwörtlich, sondern tatsächlich galt: Die Deutschen sind wieder wer in Europa. Sie hatten sich versöhnt mit Frankreich und den USA, waren Wirtschafts- und Nato-Macht. Zur vollen Westbindung hatte Kanzler Adenauer seit Jahren um einen Queen-Besuch gebuhlt. Nun erlebte er ihn immerhin noch als Altkanzler. Die Deutschen jubelten der damals 39 Jahre jungen Königin zu, wie sie an der Lorelei vorbeischipperte und huldvoll im Rheinland und später in Hamburg die Winkenden grüßte. Die Deutschen fühlten sich endlich angenommen, war doch ihre Bundesregierung zur pompösen Krönungsfeier Elisabeths 1952 ausdrücklich nicht eingeladen gewesen. Der Queen-Besuch in Deutschland 20 Jahre nach dem Krieg war ein Statement: Die Bundesrepublik ist wichtig für Europa! Es war aber vor allem ein Zeichen nach Hause, an die Europa-Skeptiker in Großbritannien. Und so war es bei jedem ihrer Deutschlandbesuche: Politik für daheim. Stets diente die Queen damit den Plänen der jeweiligen Premiers. Denn nicht bei ihr im Buckingham-Palast, sondern in der Downing-Street sind jedes Mal die Zeitpunkte der Staatsbesuche Ihrer Majestät nach Deutschland festgelegt worden. 1978, als die Queen ihr zweite Reise zum deutschen Nachbarn auf den Kontinent machte, war ihr Land gerade der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft beigetreten. Die Insel kochte darüber vor Wut. Denn Britanniens Wirtschaft lag am Boden, die Arbeitslosigkeit wuchs und die mächtigen Gewerkschaften hetzten gegen „Made in Germany“, weil die „Krauts“ damit der heimischen Kohle- und Stahlindustrie angeblich schadeten. Der Queen-Besuch sollte zeigen: Da wohnen keine Konkurrenten, sondern Partner eines enger verwobenen Europas. Der dritte Staatsbesuch 1992 fand nach dem folgenreichen EG-Gipfel von Maastricht statt, auf dem der Weg hin zu einer „Europäischen Union“ gezeichnet worden war. Dieser Plan führte die EG in die bis dahin schlimmste Krise ihrer Geschichte. Gegen die ehrgeizigen Ziele dieses Vertrages – europäische Währungsunion, politische Integration, Einstieg in eine Verteidigungsgemeinschaft – wurde vor allem in Großbritannien Stimmung gemacht. Die britische Regierung hatte allerlei Änderungen und Sonderstellungen verlangt. Aber nie wollte sie den völligen Bruch mit Europa. Deshalb schickte Premier John Major die Queen auf Staatsbesuch, die dann tatsächlich verkündete: Wir sind Europäer. 2004 kam die Königin wieder in offizieller Mission nach Deutschland als Europa über eine EU-Verfassung abstimmte. Die Staaten-Union hatte eben erst die größte Erweiterung seit Gründung gestemmt, halb Osteuropa gehörte nun dazu. Eine Verfassung sollte das Sammelsurium zusammenbinden. Volksentscheide in einzelnen Mitgliedsstaaten drohten alles auseinanderfliegen zu lassen – auch in Großbritannien war die Skepsis groß. Die Queen kam – eine von den Briten akzeptierte EU-Verfassung am Ende auch. Immer wenn Europa kriselte, setzte Elisabeth II verbindliche Zeichen dagegen – eben mit Staatsbesuchen in Deutschland. So auch jetzt. Von ihrem fünften Staatsbesuch in Deutschland erhofft sich die Bundesregierung wieder ein Statement: Europa ist wichtig für Großbritannien. So hat es Merkel klar gesagt zum Besuch der Königin: „Wir verstehen uns auch immer als Partner in der Europäischen Union und ich wünsche mir, dass Großbritannien Teil dieser Union bleibt.“ Wünscht sich das die Queen auch? Wie stimmt sie, wenn ihr Volk bald über den Brexit entscheidet, den möglichen Austritt aus der EU? Das wird sie nicht sagen, wie sie in sechs Jahrzehnten nichts verriet von dem, was sie hinter geschlossenen Türen mit Regierenden und Präsidenten Deutschlands besprach. Kenner deutscher und britischer Außenpolitik sind sich sicher, dass die alte Dame in diesen Tagen aber mit Merkel und auch mit Bundespräsident Gauck explizit über den drohenden Brexit sprechen wird. Und zwar ganz im Sinne des europäischen Zusammenhalts. Staatsminister Michael Roth im Auswärtigen Amt gibt offen zu, dass die Queen immer Europa geholfen habe und es diesmal wieder so sein möge. Denn das ist ihr Auftrag. Und ihr Auftraggeber, der jüngst mit absoluter Mehrheit wiedergewählte Premierminister David Cameron, wird diesmal selbst hinzukommen. „Cameron möchte den Besuch der Queen auch nutzen, um sich eigens mit Bundeskanzlerin Merkel zu treffen“, analysiert es der Großbritannien-Fachmann der Stiftung Wissenschaft und Politik, Nicolai von Ondarza im ZDF: Cameron wolle „dann eben auch die positive Stimmung rund den Queen-Besuch nutzen, um in Großbritannien und Deutschland für einen Verbleib in der EU zu werben.“ Von wegen also: Queen-Besuche in Deutschland sind nur Lächeln, Winken und Brillanten-Blinken. Sie sind viel mehr: Europa-Politik royal.
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Wulf Schmiese
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Kolumne: Leicht gesagt. Der fünfte Staatsbesuch der Queen in Deutschland ist ein hochpolitisches Statement. Geschickt wird die vermeintlich Unpolitische von der Regierung daheim. Um Europa-Politik für die Insel zu machen. Der Auftrag Ihrer Majestät lautet: den Brexit verhindern!
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innenpolitik
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2015-06-24T12:11:16+0200
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2015-06-24T12:11:16+0200
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https://www.cicero.de//innenpolitik/besuch-der-queen-europapolitik-royal/59455
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USA and Germany - A special relationship built on nostalgia
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Diese Kolumne erscheint regelmäßig auf Cicero Online in Kooperation mit der Publikation Geopolitical Futures. Germany may be Europe’s de facto leader, but its power is asymmetric. It is based on economic, not military, influence. And this is suitable to the Continent’s current dynamics. The European peninsula regained its autonomy only in 1991, when the Soviet Union collapsed, and in the intervening years it has prioritized economic activity rather than military competition. That’s not to say there wasn’t any military activity, of course. Conflicts in the Balkans, the Caucasus and Ukraine are bloody reminders of old geopolitical realities. But none of them fundamentally altered the European asymmetry on which German power is built. The United States, on the other hand, is the leading power in the world. Its economy and military dwarf all others. This makes it a symmetrical power, one that has the added weapon of cultural influence. Like Germany’s power, U.S. power is a product of its environment. During the 20th century, the United States was engaged in multidimensional conflicts with peer powers (or their client states), and it is in these conflicts that its power was forged. The U.S. economy was shaped by World War II. U.S. foreign policy institutions were shaped by the Cold War and the constant threat of nuclear war. Beneficial though it may be, power by itself cannot create a coherent national strategy for its use. During the Cold War, the interests of the United States and Germany aligned, considering they had a shared perspective of the world: They saw the Soviet Union as a threat that must be confronted. Since then, the United States and Germany have developed radically different perspectives. Germany sees Europe as the fulcrum of its existence. The United States sees Europe as just one of many places in which it has interests. The end of the Cold War gave Germany the opportunity to rebuild its (and Europe’s) economic institutions. It gave the United States a similar opportunity, but Washington has struggled to divorce its powerful institutions and political culture from the Cold War climate in which they were formed. From the German point of view, the U.S. imperative to change its institutions is a risk to Germany. From the American point of view, Germany’s focus on economic Europe is not relevant to the much broader problems faced by the United States. The United States’ problem, then, lies not so much in maintaining its role as a world leader but in avoiding a boundless definition of what a global power’s interests are. Indeed, there is a crisis in Washington about this very issue. There are those who argue that whatever American power might be, the United States’ role must be limited to matters of direct interest to the United States. Another faction, taking its plays from the 20th-century playbook, sees the United States actively engaged in all manner of global responsibilities. The former wants to curb the kind of engagement that typified the second half of the 1900s. The latter wants to continue it. Germany’s problem lies in maintaining the European Union, something it must do if it is to maintain unlimited German access to a market that can absorb so much of its exports – and if it is to assert its political influence in the region. This gives Berlin a complex view of the United States. On the one hand, the German government wants the United States to maintain its role in global affairs. On the other hand, it does not want to be drawn into anything peripheral to its economic interests. The United States therefore sees Germany as a historical ally that has become irrelevant to the broader interests of the United States. Germany sees the United States as an inevitable and necessary global force that nonetheless threatens its national interests. Germany wants the U.S. to reshape its global presence, but when the U.S. does this, Germany feels threatened. The United States and Germany’s bilateral relationship is incoherent because the Cold War is over. The Americans believe that NATO is a military alliance, that all members need a robust military, and that that military should be united in dealing with the world, rather than only with Russia. The Germans believe that possessing a large military is not necessary at this time, but that the military alliance of NATO should continue unmodified regardless. Neither view is sustainable. In struggling to define its post-Cold War identity, the United States has raised the question of whether it is interested in protecting Europe, whether Europe should protect itself, and what it should be protected against. The Germans, struggling to maintain a coherent European Union, have no interest in engaging in such a far-reaching and potentially destabilizing discussion. The current U.S.-German relationship is built on nostalgia for a conflict that led to victory. The world has changed, and so has their relationship. When Angela Merkel replied to Donald Trump in frustration over a discussion on NATO that Europe will have to take care of itself, she seemed to think this would upset the United States and Trump. In point of fact, she simply stated what America wanted. Ultimately, the U.S. fear is that Germany’s asymmetric power will draw symmetric American power into conflict, driven by what has become a century-long tradition of European failure to anticipate coming conflicts. Read more on Geopolitical Futures. Liebe Leserinnen und Leser, wir freuen uns, mit George Friedman einen der bekanntesten geopolitischen Analysten für uns gewonnen zu haben. Ab sofort wird der US-Politologe und Leiter der Publikation Geopolitical Futures regelmäßig seine gleichnamige Kolumne „Geopolitical Futures“ hier auf Cicero Online veröffentlichen. Seine englischsprachigen Texte sollen nicht nur Ihnen einen Blick über den hiesigen medialen Tellerrand hinaus ermöglichen, sondern auch Leser und Leserinnen aus dem Ausland erreichen. Wir wünschen Ihnen viel Spaß beim Lesen und kluge Erkenntnisse. Ihr Alexander Marguier, Chefredakteur des Cicero
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George Friedman
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During the Cold War the interests of the United States and Germany aligned. But after the fall of the iron curtain things changed. Now Germany’s problem lies in maintaining the European Union, while the U.S. is struggling to define its new identity. By George Friedman
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"USA",
"Relations",
"Cold War",
"Military",
"EU"
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außenpolitik
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2018-05-23T13:47:55+0200
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2018-05-23T13:47:55+0200
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https://www.cicero.de//aussenpolitik/us-germany-relation-cold-war-ally-military-iron-curtain
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Cicero im September - Wachkoma
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Deutschland steckt in der wohl tiefsten strukturellen Krise seiner jüngeren Geschichte. Es geht dabei aber nicht nur um die ökonomischen Rahmenbedingungen, dieses fatale Zusammenspiel aus hohen Energiepreisen, Fachkräftemangel, überbordender Bürokratie, maroder Infrastruktur und einer teilweisen Rückabwicklung der Globalisierung, die unsere einst selbstgewisse Exportnation ganz besonders empfindlich trifft. Wir erleben vielmehr auch eine innenpolitische Blockade, mit der deutlich spürbar eine mentale Lähmung einhergeht. Das einzig wirklich relevante Thema in den hiesigen Medien scheint – neben dem Dauerbrenner Klimaschutz – der in der Tat besorgniserregende Umfragen-Höhenflug der AfD zu sein. Dass ausgerechnet ein wachsender Zuspruch für die „Alternative für Deutschland“ zu einer alternativlos scheinenden Sklerose der Bundesrepublik führt, ist die bitter-ironische Pointe an der ganzen Sache. Denn je stärker das Lager rechts der Unionsparteien wird, desto verunsicherter und verzagter reagieren diese selbst – wohl wissend, dass ein Lagerwahlkampf aufgrund bestehender politischer Brandmauern völlig unrealistisch ist: Wer dem (durch liberale Bremseinlagen nur gelegentlich abgemilderten) Ökosozialismus der Ampelkoalition ein marktwirtschaftliches, ein auf Leistung, Eigeninitiative und Realitätssinn beruhendes Alternativmodell entgegenstellt, hat die Rechnung ohne die grünen Wirte gemacht. Ohne die geht bei Lichte besehen nämlich so gut wie gar nichts; je stärker die AfD, desto wahrscheinlicher eine Regierungsbeteiligung der Habeck-Baerbock-Partei. Daher rührt auch der bizarre Schlingerkurs des einstigen Klare-Kante-Vorsitzenden Friedrich Merz. Der CDU-Chef wirkt mittlerweile genauso verzagt, ratlos und handlungsunfähig wie ein Großteil der deutschen Wählerschaft. Keine Aufbruchsstimmung, nirgends. Und dazu noch ein Bundeskanzler, der die notorische Schweigsamkeit seiner Amtsvorgängerin zur Perfektion getrieben hat.
Wie finden wir aus diesem politischen Wachkoma je wieder heraus? Das ist die Frage, mit der sich die Titelgeschichte dieser Ausgabe befasst. Die gute Nachricht: Es gibt Auswege aus der Republik der Alternativlosigkeit. Und zwar sogar ohne die AfD. Die September-Ausgabe von Cicero können Sie jetzt am Kiosk oder direkt bei uns kaufen. Jetzt Ausgabe kaufen
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Alexander Marguier
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Das deutsche Parteiensystem wird immer dysfunktionaler. Die Ampel macht vermurkste Politik und die größte Oppositionspartei bleibt still. Lesen Sie in der September-Ausgabe des Cicero, wie wir aus dem Schlamassel wieder herauskommen.
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"Ampelkoalition",
"CDU",
"AfD",
"Parteiensystem",
"Friedrich Merz",
"Rezession"
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innenpolitik
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2023-08-18T09:56:03+0200
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2023-08-18T09:56:03+0200
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https://www.cicero.de//innenpolitik/cicero-im-september-wachkoma
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Leben in Kabul - „Tragen Sie nie eine Waffe hier?“
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Als ich das erste Mal einen deutschen Soldaten in Kabul treffe, lebe ich bereits sechs Wochen in der Stadt. Ich bin zum Interview mit einem deutschen General verabredet, im Hauptquartier der NATO. Ins Camp darf man nur mit einem besonderen Ausweis – den ich nicht habe. Also holt mich ein Soldat am Eingang ab. »Sind Sie gerade mit dem Taxi gekommen?«, fragt er mich, noch bevor wir uns die Hand gegeben haben. Ich nicke und sage, dass ich das eigentlich immer mache. Er schüttelt den Kopf. Dann führt er mich durch eine Handvoll Sicherheitsschleusen in das Büro des Generals. Nach dem Interview bringt er mich wieder zurück. »Tragen Sie nie eine Waffe hier?«, fragt er mich auf halbem Weg. Ich muss lachen. »Ich wüsste gar nicht, wie man damit umgeht.« »Können Sie ja lernen«, sagt er, »es ist nicht so schwer.« Ich erkläre ihm, dass es nicht ganz ins Konzept eines Journalisten passt, eine Waffe zu tragen. Wir gehen ein paar Schritte schweigend. »Wirklich nie?«, fragt er dann. »Sie müssten sie ja nicht benutzen, nur zur Sicherheit.« »Was hilft mir eine Waffe bei einem Anschlag«, frage ich, »oder bei einer Entführung?« Ich sage ihm auch, dass ich glaube, viel mehr Gefahren gebe es nicht für mich in Kabul. Anders als er sei ich kein militärisches Ziel. Der Soldat nickt. Beim Verabschieden zögert er einen Moment. Dann fragt er: »Haben Sie eigentlich keine Angst da draußen?« Ausländer und Afghanen leben in zwei getrennten Welten – vielleicht ist das die erste Sache, die ich über Kabul begriffen habe. Und an keinem Ort prallen sie so aufeinander wie hier, vor dem Hauptquartier der NATO. Hinter vier Meter hohen Betonmauern und Stacheldrahtzaun sind im Camp Eggers Soldaten aus knapp dreißig Nationen stationiert. Eine rot-weiß gestreifte Schranke und ein »Please show your ID«-Schild trennen sie vom Rest der Stadt. Das ist die sichtbare Grenze an diesem Ort. Aber es gibt auch eine unsichtbare Grenze. Manche Männer im Feldlager tragen kurze Hosen; Frauen laufen ohne Kopftuch auf der Straße; die Leute trinken Bier. Im Camp herrschen Vorschriften, Befehle und Vorsichtsmaßnahmen; draußen Witz, Verhandlungsgeschick, Draufgängertum. Drinnen reden die Leute davon, dass »ein Selbstmordattentäter umgesetzt« hat, draußen sagen sie: »Heute gab es schon wieder eine Explosion.« Drinnen lesen sie jeden Tag eine lange Liste von Terrorwarnungen und stimmen ihre Fahrtwege darauf ab. Draußen zucken sie mit den Schultern und sagen: »Wenn ich sterben soll, dann ist es eben so. Ich kann den Krieg nicht ändern – und was bringt’s, mir ständig Sorgen zu machen?« Drinnen zählt man die Tage herunter, die man noch in diesem Land, besser: in diesem Lager verbringen muss. Draußen sagt man: »Tja, so ist es, das Leben«, weil man weiß, dass man nicht wegkann. Drinnen spricht man von den Anfängen einer Demokratie und von der »afghanischen Art, Dinge zu lösen«. Draußen sagt man: Politiker? Alle korrupt! An der Schranke stehen drei afghanische Soldaten in Schutzwesten. Sie bewachen den Eingang zu einer Welt, die ihnen vollkommen fremd ist. Genauso wie die NATO-Soldaten geschickt wurden, um eine Welt zu bewachen, die ihnen fremd ist. Ich beschließe, eine Weile an diesem sonderbaren Ort zwischen den Welten zu bleiben. Rumsitzen. Gucken. Nachdenken. Vor allem rumsitzen. Vor der Schranke und den afghanischen Soldaten sitzen drei Mädchen auf dem Betonboden. Sie sprechen ziemlich gut Englisch, mit amerikanischem Akzent, und sie sprechen mich sofort an. Ihre ersten Fragen sind anders als die des Soldaten: Was ist deine Lieblingsfarbe? Wo hast du deine Schuhe gekauft? Wie viel hast du dafür bezahlt? Bist du verheiratet? Ich erzähle ihnen von meinem Freund. Er heißt Nik. »Ist er sehr klein?«, fragt eins der Mädchen und schaut dabei recht mitleidig drein. »Kein bisschen«, sage ich und lache, »wie kommst du darauf?« »Ach, ich kenne auch einen Nik. Und der ist klein. Sehr, sehr klein. Einer der Soldaten dort drüben«, sagt das Mädchen und schaut Richtung Camp. Dann schaut sie zurück zu mir und blickt mir in die Augen – prüfend, bilde ich mir ein. Als würde sie testen wollen, ob ich wirklich auch die Wahrheit sage. »Er ist größer als ich«, sage ich. Das überzeugt, ich bin ein Meter achtzig. Die Mädchen sind nicht zufällig vor dem Camp. Sie kommen jeden Tag hierher und verkaufen Schals an die Ausländer, die im Hauptquartier aus und ein gehen: Entwicklungshelfer, Geheimdienstler, Diplomaten, Soldaten. Sie alle kommen in Autos, die ich meide wie nichts anderes in Kabul: SUVs mit verdunkelten Scheiben und gepanzerten Türen. Man sitzt gefühlte zwei Meter über dem Boden, abgehoben vom restlichen Straßenverkehr. Viele dieser Autos haben einen GPS-Jammer auf dem Dach, einen Sender, der Funksignale stört, damit rund um das Auto keine Bombe ferngezündet werden kann. Das kann schützen, ist aber auffällig. Und bei einem Selbstmordattentat hilft es nichts. Leute, die in solchen Autos durch Kabul fahren, haben eines gemeinsam: Sie werden gut bezahlt. Und das ist auch der Grund, warum die drei Mädchen hier stehen. An guten Tagen verdient jede von ihnen fünfzehn Euro, an schlechten zwei. Es gibt mehr als sechzigtausend Kinder, die in Kabul auf der Straße arbeiten, aber wenige verdienen so viel. Die Mädchen vor dem Camp sind Cousinen und heißen Madina, Brischna und Fatima. Sie erzählen, dass sie nicht genau wissen, wie alt sie sind. Vielleicht acht, neun und zehn? Sicher ist nur, dass Brischna die Jüngste und Fatima die Älteste ist. Dann sagen sie noch, dass sie die Soldaten gut finden. Weil sie so viel kaufen. Ein schwarzes Auto ohne Nummernschild und mit getönten Scheiben hält zwei Meter vor den Mädchen. Ein Mann in Jeans und mit hochgekrempelten Hemdsärmeln steigt aus. »Hey, Kumpel«, ruft Madina auf Englisch, »willst du ein Tuch kaufen?« »Heute nicht«, sagt der Mann, »ich hab doch schon eins gekauft diese Woche. Aber wollt ihr Wasser?« Madina nickt, der Mann wirft ihr eine Plastikflasche zu. Er geht an den Mädchen vorbei und verschwindet hinter der Schranke. Madina trinkt ein paar Schlucke, dann gibt sie die Flasche an Fatima weiter; die gibt sie Brischna, und schon ist sie leer. »Er kauft jede Woche einen Schal«, erzählt Brischna nach ihrem letzten Schluck, »immer abwechselnd von Fatima, Madina, dann von mir.« Es kommen noch ein paar andere Männer ins Camp gefahren. Die Mädels kennen ziemlich viele von ihnen mit Namen. Als sie hören, woher ich stamme, erzählen sie von einem Deutschen, der angeblich »Bini« heißt. »Bini!«, ruft Fatima, »ich schwöre dir, er heißt Bini!« Auf Dari heißt das: Nase. »Hey«, ruft einer der afghanischen Soldaten dazwischen. »Frag sie mal, warum sie nicht zum Islam übertritt.« Er meint mich. Wahrscheinlich beauftragt er die Mädchen, zu vermitteln, weil ich eine fremde Frau bin und er es wohl unhöflich fände, mich in der Öffentlichkeit anzusprechen. »Ich glaube, dass wir den gleichen Gott haben«, antworte ich. »Klar«, sagt er, »aber sie wohnt hier, sie trägt die gleiche Kleidung wie wir, sie spricht unsere Sprache. Sie mag sogar unser Essen! Da kann sie doch auch zum Islam übertreten.« Ich muss lachen. Seine Verwirrung scheint mir jetzt einigermaßen logisch: Alles macht sie mit, nur das Wichtigste lässt sie links liegen. Trotzdem frage ich nach: »Warum ist das so wichtig?« »Na ja«, sagt er, »du kommst sonst nicht ins Paradies, wenn du stirbst.« Macht auch irgendwie Sinn. »Vielleicht irgendwann mal, okay?«, sage ich – nicht weil ich es ernst meine, sondern weil ich finde, dass meine Argumente nicht besser sind als seine –, »aber heute nicht.« »Okay, kein Problem«, sagt er und unterhält sich wieder mit seinen beiden Kameraden. Die Mädchen laufen auf die nächsten Ausländer zu, die an die Schranke kommen, und ich denke zurück an ein Treffen, bei dem mir die Frage nach dem Islam schon einmal gestellt wurde. Damals hatte ich einen Bekannten gefragt, ob er mir das Opferfest erklären könne. Er brachte mich in ein altes Haus in der Innenstadt, zu einem Geistlichen. Wir saßen auf dem Boden, tranken Tee und redeten über religiöse Bräuche. Zweieinhalb Stunden lang. Das Gespräch verlief in einer etwas absurden Dreieckskonstellation. Der Geistliche fragte, wie wir diese oder jene Geschichte in der Bibel erzählen. Da ich die Bibel nicht besonders gut kenne, mir das aber auf keinen Fall anmerken lassen wollte, versuchte ich, mit Rückfragen abzulenken. Wie seht ihr dies? Wie seht ihr das? Bei den Antworten gerieten mein Bekannter und der Gelehrte jedes Mal in Wortgefechte, so unterschiedlich waren ihre Ansichten zur Auslegung des Islams. Nur in einer Sache waren sie sich einig: Wir alle glauben an denselben Gott, und im Grunde gibt es kaum einen richtigen Unterschied zwischen den Religionen. »Außer …«, schob der Geistliche etwas verlegen ein, »dass wir eben die jüngste sind.« Ich verstand nicht ganz, worauf er hinauswollte, und offenbar sah man mir das an. Mein Bekannter sprang ein. »Wenn du ein iPhone 4 hast, dann kannst du alles machen: telefonieren, E-Mails schreiben, WhatsApp, fotografieren. Aber du hast halt kein iPhone 5. Dir fehlt ein Update.« Er machte eine kurze Pause, als wollte er sichergehen, dass ich auch wirklich zuhöre. Dann sagte er: »Die Juden sind das iPhone 3, ihr seid das 4er, und wir: das 5er.« Ich will den Mädchen davon erzählen, aber Madina fängt schon mit einer anderen Geschichte an. »Am ersten Tag konnte ich kein Wort Englisch«, erzählt sie. »Irgendwann hat mich ein amerikanischer Soldat gefragt, ob ich Süßigkeiten will – Candy.« Madina verstand ihn falsch und fragte von da an jeden Ausländer nach »Andy«. »Ich habe erst viel später gemerkt, dass das gar nicht stimmt. Mein zweites Wort war Dollar. Und so ging es weiter.« Es folgen ein paar Minuten, in denen die drei ihre Sprachkenntnisse vorführen. Weil auch deutsche Soldaten im Feldlager sind, kennen sie »Gute Nacht« und »Guten Abend«. Sie wissen, was »Hallo, wie geht’s?« auf Chinesisch heißt und »Tschüss« auf Italienisch. Dann versuchen die drei Cousinen, ein paar ihrer Schals zu verkaufen. »Beim nächsten Mal«, sagt ein Soldat. »Pinky Promise?«, schreit Fatima und hält ihren kleinen Finger in die Luft. Einen anderen begrüßt sie mit High Five. Ein dritter Soldat kommt nur kurz aus dem Camp heraus, vorbei an der Schranke und vorbei an den afghanischen Soldaten, um den Mädchen zwei Liter Milch zu geben, für ihre kleinen Geschwister. Ich frage mich, ob er spürt, wie er von einer Welt in die andere wechselt. Fühlt er dieselbe Anspannung wie ich, wenn er von der vertrauten in die fremde tritt, nur eben andersherum? Eigentlich hätte ich den Soldaten, der mich im Feldlager abgeholt hat, zurückfragen sollen: Und Sie? Haben Sie keine Angst da drinnen? Dann kommen drei Panzerwagen der Bundeswehr aus der Stadt angerollt, und Fatima ruft mir zu: »Deutschland! Schwarz-Rot-Gelb!« Alle drei rennen zu den Fahrzeugen, aber keiner der Soldaten steigt aus. Meistens ist Deutschland für mich in Kabul weit weg. Doch als ich vorm NATO-Hauptquartier sitze und den Fahrzeugen der Bundeswehr hinterherschaue, muss ich an einen Taxifahrer am Hamburger Flughafen denken und daran, was er mir über seine Zeit als Soldat vor sechzig Jahren erzählt hatte. Der Taxifahrer hatte weiße Haare und setzte seine Schritte so behutsam, dass ich meinen Koffer selbst in den Wagen heben wollte. Er protestierte: »Das mache hier immer noch ich!« Auf der Fahrt erzählte er dann, dass er fünfundachtzig Jahre alt sei und Hamburgs dienstältester Fahrer. Er sei Australier mit deutschen Wurzeln und ein paar Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg nach Hamburg geschickt worden, um britische Soldaten abzulösen, angeblich »weil die überhaupt kein Deutsch konnten«. Sie hätten in ihrer eigenen Welt gelebt und den Deutschen kaum helfen können – sie konnten ja nicht einmal mit ihnen reden. Mag sein, dass die Geschichte erfunden war, aber ich mag sie trotzdem. Und ich glaube, eine solche Maßnahme täte auch den Soldaten der NATO gut. Einmal hat mich eine Bundeswehrsoldatin gefragt – nachdem sie das dritte Mal für sechs Monate im Land war –, wie das jetzt noch mal sei: Taschakur heiße doch »Tschüss« und Khoda Hafez »Danke«, oder? Es ist genau andersrum. Ich stelle mir vor, wie es wäre, wenn mein Dari-Lehrer einmal pro Woche dorthin fahren würde, wo ich gerade sitze, zum Camp Eggers, um Soldaten zu unterrichten. Sayed ist dreißig, studierter Arzt, und arbeitet inzwischen für die UN als »Gender Adviser«. Als er den Job anfing, fragte ich ihn, was er dort machen müsse. Er antwortete: »Ich muss überprüfen, wer Mann und wer Frau ist.« »Und was machst du mit denen dazwischen?« »Das finde ich noch heraus«, sagte er und lachte. In Wahrheit hat er einen durchgetakteten Bürojob. Sayed geht zu Meetings, plant Konferenzen, liest Protokolle und schreibt Berichte. Während seiner Feierabende fährt er dann von einem Ausländer zum nächsten und bringt ihnen Dari bei. Er macht das ziemlich gut. Bei mir hat es keine drei Monate gedauert, bis wir über die wichtigsten Dinge reden konnten. Nicht flüssig, aber verständlich. Ich starre auf die Betonwände des Hauptquartiers und stelle mir vor, wie Sayed mit den afghanischen Soldaten hier am Eingang scherzen würde. Wie er ein paar Meter hinter der Mauer vor einer Gruppe NATO-Soldaten stehen und ihnen erklären würde, was das Sprichwort »Du kannst die Sonne nicht mit zwei Fingern verdecken« bedeutet. Dann würde er ihnen einen Witz über die angeblich schwulen Kandaharis erzählen. Ich stelle mir vor, wie er die deutsche Soldatin so lange triezen würde, bis sie wenigstens die Worte »Tschüss« und »Danke« auseinanderhalten könnte. Wie er sie testen und absichtlich Fehler machen würde, um zu sehen, ob sie ihn korrigiert. Ich stelle mir vor, wie er an einem Tag von der afghanischen Gastfreundschaft erzählen und dann beim nächsten Mal Kuchen und Kekse mitbringen würde. Wie er die Soldaten für ihre schlechte Aussprache aufziehen würde; wie er ihnen erklären würde, welche Schimpfwörter sie bei guten Freunden verwenden könnten und welche sie nur passiv wissen sollten, damit sie verstehen, was die Leute ihnen hinterherrufen. Ich stelle mir vor, wie er irgendwann versehentlich auf Dari auf sie einreden würde statt auf Englisch und wie die Soldaten auf einmal Angst bekommen und sich fragen würden, ob sie diesem Mann vielleicht doch zu Unrecht vertraut haben. Denn so geht eine Argumentation, die ich oft höre: Er ist zwar witzig und nett, aber er ist immer noch Afghane, und es kommt immer wieder vor, dass Afghanen auf Ausländer schießen. Ich stelle mir vor, wie Sayed nach dem Unterricht noch kurz in den Camp-eigenen Supermarkt gehen und an der Kasse die Glasvitrine mit den Uniformaufnähern sehen würde: »Infidel«, »Taliban Hillfighter« und: »We do bad things to people«. Dann denke ich an einen Satz, den ich ein paar Tage zuvor gelesen habe. Ich kann mir Zitate schlecht merken, aber sinngemäß ging er so: »Solange diejenigen, die den Frieden wollen, ihn nicht genauso vehement vertreten wie diejenigen, die den Krieg wollen, wird das nichts.« Alle, die ich in Kabul kenne, sind gegen den Krieg, schon seit fünfunddreißig Jahren, als er mit dem Einmarsch der Sowjets begann. Sie haben nur keine Macht. So wie die drei Cousinen vor dem Hauptquartier. Gegenüber ihrem Stammplatz, der rot-weiß gestreiften Schranke, steht auch eine Betonmauer. Eine Botschaft vielleicht, ein Ministerium. Es gibt viele solcher Gebäude in dem Viertel hier. Auf die Mauer haben die Mädchen ihre Namen gesprayt, ich habe es die ganze Zeit über nicht bemerkt: »Brischna, Fatima, Madina«. Und: »I love you«. »Warum habt ihr das gemacht?«, frage ich. »Damit sich die Leute auch noch an uns erinnern, wenn wir tot sind«, erklärt Madina. Dann erzählt sie von einem Tag, der zwei Jahre zurückliegt. An einem Samstag im September sprengte sich ganz in der Nähe der Schranke ein Mann mit seinem Motorrad in die Luft. Die Mädchen waren gerade auf einem Markt. Sie erfuhren erst später, dass bei dem Anschlag sechs ihrer Freunde getötet worden waren. In Kabul lernt man den Tod früh kennen. Aber man gewöhnt sich nie an ihn. Die Mädchen erzählen von Albträumen. Davon, dass sie manchmal weinen, wenn sie an den Tag vor zwei Jahren denken. Ich sage nichts. Dasitzen, schweigen. Keine Worte finden, die Hoffnung geben. Oder Mut. Nur dasitzen und zuhören und hoffen, dass das hilft. Ich hasse diese Momente. »Der Krieg ist scheiße, hm?«, sage ich irgendwann. Und komme mir blöd dabei vor. Dann fliegt eine leere Plastikflasche durch die Luft. Es ist die Flasche, die der Mann mit den hochgekrempelten Hemdsärmeln den Mädchen gebracht hatte. Ich schaue in die Richtung, aus der sie geflogen kam, zu den drei afghanischen Soldaten vor der Schranke. Dort steht jetzt ein vierter Soldat, mit Tropenhut. Er hat die Flasche geworfen und brüllt die Mädchen an: »Haut ab! Was habt ihr hier zu suchen?« Als ich mich zu ihnen umdrehe, sind sie weg. Sie haben sich hinter einem kleinen Betonpfeiler eine Ecke weiter versteckt und winken mir hektisch zu – komm her! Als ich bei ihnen bin, sagen sie: »Das macht der immer. Er ist ein bisschen verrückt. Aber die anderen sind ganz okay.« Die Grenzen in Kabul, sie verlaufen nicht nur zwischen Ausländern und Afghanen. Sie sind überall. Sie trennen alles und jeden. Reiche und Arme. Frauen und Männer. Paschtunen und Hazara. Hazara und Tadschiken. Tadschiken und Paschtunen. Gläubige und nicht so Gläubige. Gläubige und Strenggläubige. Strenggläubige und Taliban. Taliban und Soldaten. Soldaten und Friedensaktivisten. Arbeiter und Bettler. Arbeiter und Flüchtlinge. Arbeiter und Politiker. Politiker und Warlords. Warlords und Taliban. Taliban und die NATO. Die NATO und afghanische Soldaten… Die Grenzen haben sich tief eingegraben. Und jeden Tag nähren sie aufs Neue das Misstrauen, das der Krieg über die Jahre gesät hat. Die rot-weiß gestreifte Schranke, an der ich gerade sitze – sie ist nur eine Grenze von vielen. [[{"fid":"64937","view_mode":"full","type":"media","attributes":{"height":1199,"width":750,"style":"width: 140px; height: 224px; margin: 5px; float: left;","class":"media-element file-full"}}]]Dieser Text ist ein Auszug aus: "Ausgerechnet Kabul. 13 Geschichten vom Leben im Krieg" von Ronja von Wurmb-Seibel. Deutsche Verlags-Anstalt, 256 Seiten, 17,99 Euro.
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Ronja von Wurmb-Seibel
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Afghanistan nach dem Abzug der Truppen. Was passiert eigentlich in Kabul? Die junge Reporterin Ronja von Wurmb-Seibel ist in das Krisengebiet gezogen, um den etwas anderen Blick darauf zu werfen. Ein Buchauszug aus „Ausgerechnet Kabul. 13 Geschichten vom Leben im Krieg“
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außenpolitik
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2015-03-04T10:43:15+0100
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2015-03-04T10:43:15+0100
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https://www.cicero.de//aussenpolitik/buchauszug-ausgerechnet-kabul-tragen-sie-nie-eine-waffe-hier/58940
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Prozess gegen russische Punk-Band – Was erwartet Pussy Riot?
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Russische Bürgerrechtler und kritische Medien sind sich
weitgehend einig: Mit dem heute beginnenden Prozess gegen die
feministische Punk-Gruppe Pussy Riot werden die politische Macht
und die von ihr abhängige Justiz nicht Stärke, sondern Schwäche zeigen. Bis zu sieben Jahren Haft
drohen den Band-Mitgliedern, Maria Aljochina, Nadeschda
Tolokonnikowa und Jekaterina Samuzewitsch. Der Anwalt der Band,
Mark Feigin, sagt, er rechne nicht mit einem fairen Prozess. Seine
Befürchtungen sieht er schon dadurch bestätigt, dass die Causa vor
dem selben Moskauer Gericht verhandelt wird, wie die von
Ex-Jukos-Chef Michail Chodorkowski 2010. Weite Teile der
Öffentlichkeit vermuteten damals politische Hintergründe. Chodorkowski hatte die Opposition unterstützt. Was wird den Frauen vorgeworfen? Mit Häkelmasken vor dem Gesicht hatten sie in einem Punk-Gebet
die Gottesmutter bestürmt, Putin zu vertreiben und dabei die
orthodoxe Liturgie persifliert. Nicht irgendwo, sondern auf dem
Altar der Moskauer Christ-Erlöser-Kirche, die russisch-orthodoxen
Christen so heilig ist wie der Petersdom den Katholiken. Und das
zwei Wochen vor den Präsidentenwahlen Anfang März. Die staatlichen
Ankläger sprechen von „Anstiftung zu religiösem Hass“ und bemühen
dazu, obwohl auch in Russland die Trennung von Staat und Kirche
gilt, nicht nur russisches Straf-, sondern auch byzantinisches
Kirchenrecht. Ein Konzil, das in der Spätantike tagte, hatte Musik
und Tanz in Gotteshäusern sowie das Betreten selbiger in
„Narrenkleidung“ untersagt. Der Vorwurf der Gemeingefährlichkeit,
wegen dem die drei Punkerinnen seit Ende Februar in
Untersuchungshaft sitzen, basiert auf ähnlich wackeliger
Rechtsgrundlage. Was sagt der Prozess über die aktuelle politische Lage in
Russland? Wie bewerten die Russen die Aktion von Pussy
Riot? Gläubige sprachen von Gotteslästerung und selbst Wohlmeinende –
Künstler und demokratische Intellektuelle, die die „Performance“
durch das Verfassungsrecht auf Meinungsfreiheit gedeckt sehen und
für christliche Milde plädierten – von Geschmacklosigkeit.
Angeschlagen von Massenprotesten, so der Tenor kritischer
Beobachter, habe Wladimir Putin in der heißen Phase des Wahlkampfs
Kritik an seiner Person als Angriff auf das System gewertet – und
entsprechend verfolgen lassen. Damit habe er die Tatsache völlig
verkannt, dass Pussy Riot ihn vor allem als Vertreter der
Macho-Gesellschaft und nicht als Politiker vorführte. Aktuell eint
die Empörung über die Verfolgung der Punkerinnen Liberale, Linke
und Nationalisten bei der Vorbereitung neuer Aktionen im Herbst.
Die Frauen haben mit ihren Aktionen der Opposition allerdings nicht
unbedingt nur genutzt: Gleich mehrere Zeitungen fürchten, die
Feministinnen hätten, wenn auch unfreiwillig, dem System in die
Hände gespielt. Performances dieser Art würden die ohnehin von
Richtungsstreit und internen Rivalitäten gebeutelten Regimegegner
diskreditieren, die Massen abschrecken und dadurch verhindern, dass
die Protestbewegung den Sprung zur Opposition schafft. Die
Protestbewegung kann sich bisher nicht auf gemeinsame Ziele
einigen: Bei Linken und Nationalisten wächst die
Gewaltbereitschaft. Mit einer Sitzblockade lieferten sie den
Ordnungskräften bei den letzten großen Aufmärschen vor Putins
Vereidigung die Steilvorlage für hartes Durchgreifen und
Massen-Festnahmen. Die Liberalen gehen zu ihnen mehr und mehr auf
Distanz, ihre Wähler engagieren sich vor allem für Neuwahlen von
Präsident und Parlament und lehnen einen Systemwandel mit
nichtverfassungskonformen Methoden konsequent ab. Welches Urteil wird erwartet? Wenn die Justiz den Argumenten von Verteidigung und
Menschenrechtlern folgen würde, dann würde sie die Frauen statt
wegen Extremismus – dazu gehört auch religiöser Hass – wegen groben
Unfugs verurteilen. Darauf stehen Ordnungsstrafen und gemeinnützige
Arbeit. Staubwedeln, so ein kritischer Sender, würde die
Missetäterinnen eher bußfertig machen als russische
Vollzugsanstalten. In diesen sei noch niemand zu einem nützlichen
Mitglied der Gesellschaft geläutert worden. Doch Zurückrudern ist
schwer für den Kreml. Die Frauen müssen mit Strafen von bis zu
sieben Jahren rechnen. Längst hat sich die Sache zu einem
internationalen Skandal ausgewachsen. Und die Frauen von Pussy Riot
zu Weltstars gemacht. Amnesty International erklärte sie zu
politischen Häftlingen, westliche Politiker und Künstler, darunter
Sting, fordern ihren Freispruch. Was sagt der Prozess über die aktuelle politische Lage
in Russland aus? Das Verfahren ist nur die Spitze des Eisbergs. Menschenrechtler
hatten schon im vergangenen September vor einem neuen Rückbau der
ohnehin nur zarten Ansätze von Demokratie gewarnt. Damals
verzichtete Dmitri Medwedew zugunsten Wladimir Putins auf die
Kandidatur für eine weitere Amtszeit. Und die Kritiker scheinen
Recht zu behalten. Schon im Juni – einen Monat nach Putins Vereidigung – beschloss
die Duma, ein vom Präsidentenamt eingebrachtes Gesetz, das Verstöße
gegen die Ordnung bei Aufmärschen und Kundgebungen mit drakonischen
Strafen geahndet werden sollen. Für einen regelrechten Aufschrei
sorgte Anfang Juli auch das „Agenten-Gesetz“. Nichtstaatliche
Organisationen, die sich ganz oder teilweise aus dem Ausland
finanzieren, werden künftig als „ausländische Agenten“ –geführt und
streng kontrolliert. Damit nicht genug: Auch die Zugeständnisse, zu
denen Medwedew sich durch landesweite Massenproteste nach den
umstrittenen Parlamentswahlen im Dezember gezwungen sah, wurden so
hingebogen, dass reale politische Konkurrenz und Pluralismus wieder
auf der Strecke bleiben.
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In Moskau beginnt am Montag das Verfahren gegen die regierungskritische Frauenband. Mit Häkelmasken vor dem Gesicht hatten sie in einem Punk-Gebet die Gottesmutter bestürmt, Putin zu vertreiben. Was ist von dem Prozess zu erwarten?
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außenpolitik
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2012-07-30T09:13:36+0200
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2012-07-30T09:13:36+0200
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https://www.cicero.de//aussenpolitik/was-erwartet-pussy-riot/51388
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Irans Atomprogramm - „Wir alle wissen, dass der Iran die Hisbollah unterstützt”
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In den nächsten Wochen müssen die Atomverhandlungen mit dem Iran abgeschlossen sein. Sind Sie optimistisch?Ich denke, dass in der jetzigen Situation das angestrebte Abkommen das Beste ist, was die fünf UN-Vetomächte und Deutschland zusammen mit dem Iran erreichen können. Wenn sich nicht viel an den Beschlüssen vom April ändert, wird diese Vereinbarung wohl eingehalten werden. Barack Obama sagte mehrmals, dass er lieber keine Vereinbarung mit dem Iran hätte als eine schlechte Vereinbarung. Gibt es eine Garantie dafür, dass der Iran nach einem Vertrag mit dem Westen die beschlossenen Vereinbarungen auch einhält?Ich denke, dass es unvermeidlich ist, dass die IAEO, also die Internationale Atomenergie-Organisation, den vollen Zugriff auf die iranischen Anlagen hat und diese untersuchen kann, wann immer sie möchte. Nach dem Gesetz verstößt das Herstellen von Atomwaffen gegen den Islam. Diese Fatwa hatte Irans politischer Führer Ajatollah Ali Chamene’i vor mehr als einem Jahrzehnt verfasst. Chamene'i sagte in der Fatwa, dass der Iran keine Atomwaffen herstellen will, da das gegen den Islam verstoßen würde. Der Iran hatte aber auch die ganze Zeit kommuniziert, dass sein Atomprogramm friedliche Ziele verfolge. Es gibt einen deutlichen Unterschied zwischen nuklearer Aufrüstung und einem friedlichen Atomprogramm. Die meisten Iraner betrachten ihr Atomprogramm als friedlich, für sie widerspricht die Vereinbarung nicht der Fatwa. Friedlich hin oder her – wozu benötigt der Iran überhaupt ein Atomprogramm? Ist das Betreiben von Atomkraftwerken nicht auch sehr riskant in einem Land, in dem Erdbeben keine Seltenheit sind?Das iranische Atomprogramm ist noch unter einem früheren Regime entstanden - und zwar mit deutscher Hilfe. Nach der Revolution im Jahr 1979 übernahmen die Russen die Kontrolle. Die Idee hinter dem Atomprogramm war die von Öl- und Gasreserven unabhängige Energieversorgung des Landes. Ich bin mir sicher, dass sich das iranische Regime nach dem Unfall von Tschernobyl über die Gefahren im Klaren war. Dennoch entschieden sie sich dafür weiterzumachen: Mittlerweile gibt es Anlagen in Natans, Fordo und in Arak. In der Rahmenvereinbarung wurde nun festgelegt, was mit ihnen passieren soll, wie viele Zentrifugen da beispielsweise erlaubt sind, wie viel Uranium angereichert werden kann und so weiter. Alles ist schriftlich festgehalten. Wenn die Iraner damit und mit den regelmäßigen Untersuchungen der Kraftwerke einverstanden sind, dann müssten wir uns für die nächsten Jahre weniger Sorgen machen. Das Außenministerium der Vereinigten Staaten veröffentlichte letzte Woche einen Bericht, in dem stand, dass Iran weiterhin den Terrorismus im Nahen Osten unterstütze. Wie wird dagegen vorgegangen?So viel ich weiß, werden die Sanktionen des Westens, die der Terrorismusbekämpfung dienen, nicht aufgehoben. Es werden nur die wirtschaftlichen Sanktionen aufgehoben und die eingefrorenen Vermögenswerte werden wieder zugänglich gemacht. Wenn der Iran sich nicht an die Vorgaben hält, wird es sicher neue Sanktionen geben. Aber wie soll man kontrollieren, wie und durch wen Gelder zur Hisbollah gelangen? Wir alle wissen, dass der Iran die Hisbollah unterstützt. Wir wissen auch, dass der Iran den syrischen Machthaber Baschar el-Assad, die schiitischen Milizen im Irak und die Hutis in Jemen unterstützt. Der Iran wird seine Unterstützung nicht beenden, so lange die Lage der zwei Nachbarstaaten Irak und Afghanistan so instabil ist. Er wird alles Mögliche tun, damit die Probleme dieser Nachbarländer nicht die Grenzen zum Iran überschreiten. Welche Rolle könnte Iran im Nahen Osten spielen? Zurzeit ist es ja eines der wenigen Länder, denen der syrische Staatspräsident Baschar el-Assad noch Gehör schenkt.Es war ein Fehler, dass der Iran nicht zu den ersten Genfer Verhandlungen eingeladen wurde, weil die syrische Opposition nicht mit dem Iran an einem Tisch sitzen wollte. Ohne Russland und dem Iran, also den zwei Ländern, die Syrien bis jetzt systematisch unterstützt hatten, gibt es keine Lösung. Wie beurteilen Sie den Präsidenten Hassan Rohani? Hat sich unter ihm der Iran stärker gegenüber dem Westen geöffnet?Präsident Rohani versprach den Leuten unter anderem eine Lösung des Atomkonfliktes, ein Ende der internationalen Isolation des Landes und die Einschränkung der Macht von Polizisten und Armee. Er hat die Wirtschaft gestärkt und die Verhandlungen mit dem Westen haben durch ihn erst angefangen. Das wird auch eine größere Zahl von ausländischen Investitionen mit sich bringen. Sein größtes Problem ist aber die Revolutionäre Garde, die eine wichtige Rolle bei den Konflikten im Irak, in Syrien, im Libanon und im Jemen spielt. Das andere Problem ist die Staatssicherheit, die ihre Macht missbraucht. Wenn Rohani seine Macht konsolidieren will, muss er die Staatssicherheitsorganisationen unter Kontrolle bekommen. Der jetzige Zustand ist immer noch alles andere als perfekt. Es gibt Hinrichtungen, Leute werden eingesperrt, aber eine Veränderung ist zu bemerken. Die Repressionen im Iran haben Sie am eigenen Leib zu spüren bekommen. Als Sie im Dezember 2006 von Teheran zurück in die Vereinigten Staaten reisen wollten, wurde Ihr Taxi aufgehalten, bewaffnete Leute raubten Sie aus und stahlen Ihren Pass. Ohne Pass konnten Sie das Land nicht mehr verlassen. Danach wurden Sie festgenommen. Später war klar, dass die Regierung hinter dem Überfall steckte, um Sie an der Ausreise zu hindern. Wäre es nicht leichter gewesen, Sie einfach festzunehmen?Wahrscheinlich hatte die Regierung damals den Raub fingiert, um keine Aufmerksamkeit zu erwecken. Leute werden andauernd ausgeraubt, das ist nichts Ungewöhnliches. Ich habe erst ein paar Tage später herausgefunden, dass das ein Plan des Geheimdienstministeriums war, um mich nicht ausreisen zu lassen, weil sie mich für verdächtig hielten. Danach verhörte man mich fünf Monate lang und im Mai 2007 kam ich für 105 Tage in Isolationshaft. Sie dachten wohl, ich wollte mit meiner Arbeit einen Regimewechsel vorantreiben. Sie wussten nicht, dass Nichtregierungsorganisationen, Universitäten und Forschungseinrichtungen im Westen – anders als im Iran – vom Staat unabhängig funktionieren. War Ihr Besuch damals offiziell oder privat?Ich habe nie als Person das Wilson Center im Iran vertreten. Ich habe dort nur meine Familie besucht. Aber auch sonst bin ich sehr selten zu iranischen Veranstaltungen gegangen, um problematische Situationen zu vermeiden. Es stellte sich heraus, dass die iranischen Behörden meine Arbeit in den USA mit großem Interesse verfolgt hatten. Sie haben zum Beispiel meine Vorträge gelesen und dachten, ich könnte gefährlich für sie werden. Sie dachten, ich wüsste über Pläne der USA im Iran Bescheid. Letztendlich mussten sie aber einsehen, dass sie falsch lagen, und wegen der großen internationalen Empörung ließen sie mich gehen. Aber dafür verlangten sie die Wohnung meiner Mutter als Kaution. Könnten Sie sich eine ähnliche Situation auch unter dem jetzigen iranischen Präsidenten Rohani noch vorstellen?Ich möchte hier nicht spekulieren, denn jede Situation ist anders. Es gibt immer noch viele Leute, die 2009 verhaftet wurden und immer noch nicht freigelassen worden sind. Obwohl Rohani versucht hat, sie zu befreien, hat er es immer noch nicht geschafft. Ein Fall der jüngeren Zeit ist der des Washington-Post-Korrespondenten Jason Rezaian, der unter Rohani festgenommen wurde. Ich bin mir sicher, dass Rohani sich darüber nicht freut. Aber noch kann er nichts dagegen machen, denn er ist zu sehr in der Hand der Sicherheitsbehörden. Dr. Haleh Esfandiari ist Direktorin des Nahost-Programmes am Woodrow Wilson International Center in Washington, D.C., einem der renommiertesten politischen Forschungsinstitute der USA. Sie ist Autorin des Buches „My Prison, My Home“ (Mein Gefängnis, mein Zuhause), in der sie ihre Zeit in iranischer Gefangenschaft beschreibt. Das Interview führte Krisztian Simon
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Krisztian Simon
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Die fünf Vetomächte in der Uno sowie Iran und Deutschland verhandeln über Irans nukleare Strategie. Die US-Politikwissenschaftlerin Haleh Esfandiari spricht im Interview über das iranische Atomprogramm, die Haltung der persischen Gesellschaft gegenüber dem Westen und ihre Zeit in iranischer Gefangenschaft
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außenpolitik
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2015-07-10T10:41:57+0200
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2015-07-10T10:41:57+0200
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https://www.cicero.de//aussenpolitik/irans-atomprogramm-wir-alle-wissen-dass-der-iran-die-hisbollah-unterstuetzt/59535
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Große Koalition - Ludwig Erhards unrechtmäßige Erben
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Ludwig Erhard ist seit 36 Jahren tot. Seine kurze, nicht gerade ruhmreiche Zeit als Kanzler (1963-66) ist vergessen, seine Zeit als Bundeswirtschaftsminister und legendärer „Vater des Wirtschaftswunders“ (1949-63) hingegen nicht. Doch teilt er das Schicksal aller Toten: Er kann sich nicht wehren, wenn Nachgeborene sich auf ihn berufen, sich zu Gralshütern seiner Ordnungspolitik aufwerfen. 1998 hat das bereits Oskar Lafontaine versucht. Als damaliger SPD-Vorsitzender gab er vor, nur die Sozialdemokraten könnten Erhards Vorstellungen von der Sozialen Marktwirtschaft wiederbeleben. Als Bundeskanzler Gerhard Schröder dann 2000 mit bisher nie dagewesenen Steuersenkungen die Wirtschaft ankurbelte und 2003 mit der „Agenda 2010“ – ganz im Sinne Erhards – den wuchernden Sozialstaat etwas zurückstutzte, war Lafontaine schon nicht mehr dabei. Inzwischen versucht Lafontaines neue Partei, Die Linke, mit dem Pfund der Sozialen Marktwirtschaft zu wuchern. Seine Lebens- und Kampfgefährtin Sahra Wagenknecht vergießt in ihrem Buch „Freiheit statt Kapitalismus“ bittere Tränen wegen der „gebrochenen Versprechen Ludwig Erhards.“ Auch Sigmar Gabriel, einer von Lafontaines Nach-Nachfolgern, versuchte im Wahlkampf der CDU immer wieder vorzuwerfen, sie habe die Soziale Marktwirtschaft verraten – ohne großen Erfolg. Wenn alle von der Sozialen Marktwirtschaft reden, kann die CDU-Vorsitzende Angela Merkel nicht zurückstehen. In ihrer Regierungserklärung Ende Januar beschwor sie gleich zwöfmal die Verheißungen der Sozialen Marktwirtschaft, erhob dieses ordnungspolitische Konzept sogar dreimal zum „Kompass“ der Großen Koalition. Ludwig Erhard hingegen erwähnte sie kein einiges Mal. Es war auch besser so. Denn das Regierungsprogramm der Großen Koalition atmet viel vom Umverteilungsgeist der siebziger Jahre in der alten Bonner Republik. Gesetzlicher Mindestlohn, Rente mit 63 und Mütterrente stehen nämlich genau für eine Politik, vor der Erhard als Wirtschaftsminister warnte und über die er als Polit-Pensionär gern laut grummelte. In seiner wirtschaftspolitischen Bibel „Wohlstand für alle“ warnte Erhard schon 1957 vor einem wirtschafts- und sozialpolitisch zu aktiven Staat: „Die wachsende Sozialisierung der Einkommensverwendung, die um sich greifende Kollektivierung der Lebensplanung, die weitgehende Entmündigung des Einzelnen und die zunehmende Abhängigkeit vom Kollektiv oder vom Staat müssen die Folge dieses gefährlichen Weges hin zum Versorgungsstaat sein, an dessen Ende der soziale Untertan und die bevormundende Garantierung der materiellen Sicherheit durch einen allmächtigen Staat, aber in gleicher Weise auch die Lähmung des wirtschaftlichen Fortschritts in Freiheit stehen wird.“ Als Kommentar zur Regierungserklärung hätte Erhard, wenn er noch lebte, sich also selbst wörtlich zitieren können. Natürlich lassen sich die politischen Verhältnisse der sechziger Jahre nicht gleichsetzen mit denen von heute. Auch Ludwig Erhard würde unter den Bedingungen eines globalen Wettbewerbs heute manches anders beurteilen. Aber für die alles andere als solide Finanzierung von Sozialleistungen hatte er schon 1957 die passende Formulierung gefunden: „Verschleierungsversuche mittels kollektiver Umverteilungsverfahren“. Das passt bestens zu den Rentengeschenken der Großen Koalition. Ebenso diese Erhard‘sche Weisheit: „Kein Staat kann seinen Bürgern mehr geben, als er ihnen vorher abgenommen hat – und das auch noch abzüglich der Kosten einer immer mehr zum Selbstzweck ausartenden Sozialbürokratie. Es gibt keine Leistungen des Staates, die sich nicht auf Verzichte des Volkes gründen“. Angela Merkel hat die Philosophie der Koalitionspolitik so beschrieben: „Im Zweifel handeln wir für den Menschen. Bei jeder Abwägung von großen und kleinen Interessen, bei jedem Ermessen: Die Entscheidung fällt für den Menschen.“ Der Staat als Betreuer und Beschützer – das ist doch ziemlich weit entfernt von Erhards Vorstellung vom selbständigen, eigenverantwortlich handelnden Menschen: „Das mir vorschwebende Ideal beruht auf der Stärke, dass der einzelne sagen kann: Ich will mich aus eigener Kraft bewähren, ich will das Risiko des Lebens selbst tragen, will für mein Schicksal selbst verantwortlich sein“. Nun gut, wenn Angela Merkel das hätte zitieren wollen, hätte wohl die SPD nicht mitgemacht. Aber auch ohne diese unumgängliche koalitionspolitische Rücksichtnahme ist die Union heute meilenweit von Ludwig Erhard und seinen marktwirtschaftlichen Vorstellungen entfernt. So besehen war es ehrlich, dass die Kanzlerin eine nicht näher definierte, selbst von der Linken für sich reklamierte Soziale Marktwirtschaft zum Kompass der Koalition erklärt hat – aber nicht Ludwig Erhard.
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Hugo Müller-Vogg
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Ludwig Erhard gilt als Vater der Sozialen Marktwirtschaft. Ein Begriff, der in der Politik immer wieder als rhetorische Allzweckwaffe herhalten muss. Doch sowohl SPD, die Linke als auch die CDU sind heute weit von Erhard und seinen marktwirtschaftlichen Vorstellungen entfernt
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innenpolitik
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2014-02-11T11:06:32+0100
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2014-02-11T11:06:32+0100
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https://www.cicero.de//innenpolitik/merkels-regierungserklaerung-ludwig-erhard-kann-sich-nicht-mehr-wehren/57019
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Breivik-Prozess – Rechtsstaat und gefühlte Gerechtigkeit
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Unbeteiligt, fast reglos sitzt er da. Ohne jegliche Empathie
schlürft er einen Kaffee, als stehe er in einer unglaublich
langweiligen Verwaltungssache vor Gericht und brauche Koffein, um
sich wach zu halten. Tatsächlich jedoch geht es um 77-fachen
Massenmord. Es geht um die Frage, ob sich Anders Behring Breivik
für die blutigsten Anschläge in der Geschichte Norwegens
verantworten muss. Nach einer Umfrage haben drei Viertel der norwegischen
Bevölkerung ihr Urteil bereits gefällt: Breivik muss ins Gefängnis.
Die Staatsanwälte Inga Bejer Engh und Svein Holden sehen das
anders. Oder vielmehr: Sie müssen das anders sehen. Sie sind
unabhängige Organe der Rechtspflege und haben zu beantragen,
Breivik in die Psychiatrie einzuweisen, wenn Zweifel an der
Zurechnungsfähigkeit des Angeklagten bestehen. Eine Errungenschaft
in der Entwicklung des modernen Rechtsstaaats ist das Prinzip „Im
Zweifel für den Angeklagten“. Selbst für den kaltblütigsten Täter
muss dieses Prinzip angewendet werden. [gallery:Rechtsextreme Symbole im Wandel] Die Anklage hat sich ihre Arbeit nicht leicht gemacht. In mehr
als dreißig Prozesstagen hat sie versucht zu beweisen, dass sich
Breivik für seine Taten voll verantworten muss. Staatsanwältin Engh
sagte: „Das unbegreiflichste ist, wie der Angeklagte die Taten auf
Utøya beschreibt. Er ist völlig unbeteiligt, wenn er darüber
redet, was er dort gemacht hat.“ Am Ende des Prozesses sind die
Kläger mit ihrem Ziel gescheitert. Nun läuft alles darauf
hinaus, dass sich Breivik nicht für seine Taten verantworten kann
und in die geschlossene Psychiatrie eingewiesen wird. Im Mittelpunkt standen neben dem Täter auch die Angehörigen der
Todesopfer von Oslo und Utøya. Wie stehen die
Hinterbliebenen nun da? Hat der Prozess geholfen, den Schmerz über
den Verlust zu lindern? Trond Blattmann, der Vater eines Opfers auf
Utøya und mittlerweile Sprachrohr der Angehörigen, sagte: „Es war
ein guter Prozess, um alles zu klären. Er war würdevoll in guter
norwegischer Rechtstradition.“ Ihm sei es egal, ob Breivik in die
Psychiatrie oder in die Haftanstalt müsse. Hauptsache sei, dass die
Gesellschaft für immer vor ihm geschützt werde. Nun kann man sich auf diesen Standpunkt zurückziehen. Es mag
auch verständlich sein, dass es den Angehörigen der Opfer nun auch
darum geht, die Akte Breivik zu schließen. Und dennoch sollte man
sich der Frage zuwenden, wie eine freie Gesellschaft mit Menschen
umgeht, die grausam gemordet haben. Die aber wegen des Umstands,
nicht schuldfähig zu sein, nicht bestraft werden, keinen
Schuldspruch erfahren, keine Verantwortung übernehmen.
Bemerkenswert ist die Aussage des Staatsanwalts Holden, nach
„derzeitiger Gesetzeslage“ sei Breivik nicht straffähig. Aus diesem
Statement liest man einen Ruf nach Änderung. Es möchte dieses hohle
Bauchgefühl überwinden, das einen beschleicht, einen mutmaßlichen
Massenmörder, ohne dass er sich für seine Taten verantworten muss,
Psychiatern zu übergeben. Die Wortwahl „derzeitige Rechtslage“
drückt ein unbefriedigendes Ergebnis aus. Wenn der Rechtsstaat mit der gefühlten Gerechtigkeit
aneinander gerät Wohin führt uns aber die schnelle Antwort? Zum „inneren
Schweinehund“. Diesen Begriff nutzte bereits Kurt Schumacher (SPD)
in einer Rede vor dem Reichstag 1932 gegen die NSDAP-Fraktion, der
er vorwarf, genau an diesen inneren Schweinehund zu appellieren.
Die niedrigsten Motive des Menschen anzusprechen. Ohne damals
freilich ahnen zu können, welch verbrecherisches Regime sich schon
kurze Zeit darauf bahnbrechen würde. Während in westlichen
Rechtskreisen der Grundsatz „Keine Strafe ohne Schuld“ fest
etabliert ist, wurde dies im NS-Unrecht durch das Prinzip „Keine
Strafe ohne Verbrechen“ abgelöst. Auf die Schuldfähigkeit des
Täters kam es nicht an, vielmehr darauf, das Individuum im
Verfahren zu vernichten. Im NS-Staat stand am Ende immer ein
Schuldspruch, wenn es darum ging, echte oder vermeintliche
Verbrechen zu sühnen. Wer nun fordert, eine Person zu bestrafen,
deren Schuldfähigkeit nicht zweifelsfrei festgestellt werden kann,
begibt sich unweigerlich in die Nähe derer, die er eigentlich weit
von sich wissen will. Beim Blick zurück auf den Strafprozess gegen Breivik entlädt
sich einmal mehr eklatant das gesamte Spannungsfeld zwischen
rechtsstaatlicher Ordnung und dieser gefühlten Gerechtigkeit. Wenn
man nun dem inneren Verlangen folgt, Breivik müsse doch für diese
ungeheuerlichen Taten die Verantwortung übernehmen. Diese Taten
dürften doch nicht ungesühnt bleiben. Dann lässt man dem von
Schumacher angesprochenen inneren Schweinehund freien Lauf. Im
Rechtsstaat gelten jedoch andere Prinzipien, deshalb musste zu
Beginn des Breivik-Prozesses ein Schöffe ausgewechselt werden, weil
er sich im Sommer 2011 dahingehend äußerte, dass die Todesstrafe
die einzig in Betracht kommende Strafe für derartige Taten sei. Dieser quälende Widerspruch zwischen den beiden Polen wird am
Ende des Tages nicht aufzulösen sein. Jeder einzelne Bürger muss
stets wieder den inneren Schweinehund bekämpfen, die vermeintlich
schnelle Antwort hinterfragen. Mal fällt es leichter, mal kommt man
über diesen Widerspruch kaum hinweg. Breivik möchte notfalls die
Haftstrafe antreten, als nationalistischer „Freiheitskämpfer“ mit
gesunder Psyche. Auch dieses Verlangen spielt keine Rolle, wenn es
um die Frage der Zurechnungsfähigkeit geht. Im Zweifel ist er
unzurechnungsfähig.
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Im Breivik-Prozess entlädt sich das ganze Spannungsfeld zwischen Rechtsstaat und gefühlter Gerechtigkeit. Wie soll ein Gericht entscheiden, wenn Zweifel an der Schuldfähigkeit des Angeklagten bestehen?
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kultur
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2012-06-25T09:38:12+0200
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2012-06-25T09:38:12+0200
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https://www.cicero.de//kultur/rechtsstaat-und-gefuehlte-gerechtigkeit/49817
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Lehren aus Pegida - Unsere Demokratie steckt in den Kinderschuhen
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Es waren klare Verhältnisse gestern Abend. Fast überall, wo „Pegida“ demonstrierte, trafen die sich patriotisch nennenden Islam- und Medienkritiker auf eine Übermacht von Gegendemonstranten. In Duisburg lautete das Verhältnis 130:300, in Kassel 200:250, in Wien 250:4000, in Magdeburg 750:2000, in München dank breiter Beteiligung der Kirchen und Religionsgemeinschaften gar 350:15000 – sofern die Zahlen stimmen. Dass mehr Menschen für als gegen Weltoffenheit sich einsetzen, ist ein gutes Zeichen. Aus der Reihe schert das thüringische Suhl, wo mit 700:350 Teilnehmer der örtliche Pegida-Ableger die Oberhand behielt. Und was war los in Frankfurt am Main? Dort gab sich die Polizei erst rat-, dann hilflos. Lag es daran, dass die Relation sich mit 85:1200 besonders deutlich ins Lager der Anti-Pegidisten verschoben hatte? Um 20 Uhr 30 twitterte die Stadtpolizei souverän: „Polizei ist für alle da. Wir schützen das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit aller. Das ist unser Auftrag.“ Wenig später mussten die Ordnungshüter erfahren, dass Teile der riesigen Mehrheit dieses Recht der winzigen Minderheit nicht zugestanden. Das Demonstrationsrecht sollte im Namen eines bunten Frankfurts gebrochen werden. „Fragida“ schien vogelfrei. Erst flogen „Glasflaschen in Richtung Fragida. Wir fordern auf, damit aufzuhören!!“. Dann wurden „Teilnehmer der Fragida … angespuckt“ und daraufhin von der Polizei geschützt, wofür „unsere Kollegen vor Ort als ‚Nazipolizisten‘ beschimpft“ wurden. Dann flogen „Eier auf die Demonstranten“ von Fragida, „wir fordern nochmals auf, das Werfen von Gegenständen zu unterlassen!“ Die Lage eskalierte, als „Pyrotechnik auf Fragida-Teilnehmer“ geworfen wurde; das sei „brandgefährlich!!! AN ALLE, DIE SO ETWAS VERHINDERN KÖNNEN, SPRECHT EUREN NACHBARN AN!!!!“ Die Großschreibung wie auch die sieben Ausrufezeichen im Tweet von 21 Uhr 34 deuten auf eine Kapitulation. Die Polizei appelliert an Gesetzesbrecher, die im Schutz einer wogenden und gesinnungssicheren Mehrheit ihre Lust am Radau austoben. Linker Mob wollte sein Mütchen kühlen. Am Ende wurden mehrere Personen wegen Körperverletzung und Widerstands gegen die Staatsgewalt festgenommen. Es war noch einmal glimpflich abgegangen. Dennoch wird nach der Spaltung und dem vorhersehbaren Ende der Dresdner Ur-Pegida diese Frage uns weiter beschäftigen müssen: Ist unsere Gesellschaft, die sich gerne ihrer Toleranz rühmt, reif genug, minoritäre Meinungen, wie schrill auch immer sie vorgetragen sein mögen, zu akzeptieren? Ist es nicht ein Zeichen kolossaler Unreife, wenn Störer des Demonstrationsrechts bejubelt werden, weil sie den Boden der Öffentlichkeit von einer „falschen“ Weltanschauung gereinigt haben? Es bleibt eine Niederlage der Demokratie, wenn Demokraten, die von ihrem Recht auf Meinungs- und Versammlungsfreiheit Gebrauch machen, zurückgedrängt und drangsaliert werden. Es ist beschämend, wenn, wie unlängst in München oder Berlin geschehen, der Abbruch einer friedlichen Demonstration als demokratischer Erfolg beklatscht wird, wenn Kundgebungen angesichts einer mitunter gewaltbereiten „Übermacht“ abgebrochen und Teilnehmer „eingekesselt“ werden, wenn Routen verkürzt werden müssen. Radikal ungenehme wie unangenehme, selbst falsche Auffassungen haben exakt dasselbe Recht auf öffentliche Präsenz wie ihr Gegenteil. Jeder Hass trägt ein Gesicht, jeder Böller hat einen Absender, jeder Schlag einen Adressaten. Ob Rechte oder Linke die Freiheitsrechte der jeweiligen Gegenseite einschränken, ist einerlei und immer falsch. „National befreite Zonen“, Übergriffe auf Zuwanderer, Schmierereien an Moscheen darf es ebenso wenig geben wie Angriffe auf die Polizei. Die Mitte gewinnt nur dann an Kraft, wenn die Argumente der Ränder friedlich gehört werden dürfen. Pegida und die Linkspartei, AfD und Islam gehören inzwischen auch zu Deutschland. Unsere Demokratie aber steckt hie und da noch in den Kinderschuhen.
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Alexander Kissler
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Kisslers Konter: In Frankfurt lieferten sich einige Anti-Pegida-Demonstranten ein Scharmützel mit der Polizei. Nach der Spaltung und dem vorhersehbaren Ende der Dresdner Pegida bleibt eine Frage offen: Ist unsere Gesellschaft reif genug, Meinungen, wie schrill auch immer sie sein mögen, zu akzeptieren?
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kultur
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2015-02-03T13:50:43+0100
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2015-02-03T13:50:43+0100
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https://www.cicero.de//kultur/lehren-aus-pegida-unsere-demokratie-steckt-den-kinderschuhen/58821
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Klimaschutz - Europa muss wieder vorangehen
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Nicht nur der Juli 2016 war der heißeste seit Beginn der Wetteraufzeichnungen. Normalerweise sinkt die weltweite Durchschnittstemperatur im August deutlich, doch nicht so in diesem Jahr. Für Stefan Rahmstorf vom Potsdamer Institut für Klimafolgenforschung war diese Entwicklung ein „Schock“. Wegen des aktuellen Rückgangs der El-Niño-Strömungen hatten Experten einen deutlich kühleren August erwartet. Immerhin: Seit dem Pariser Klimaabkommen im vergangenen Dezember scheint die Weltgemeinschaft erstmals mit dem Tempo des Klimawandels Schritt zu halten. Die globale Erwärmung soll auf maximal 1,5 Grad begrenzt werden. Mit China und den USA haben jetzt die zwei größten CO2-Sünder den Vertrag ratifiziert. Doch die EU hinkt beiden hinterher, ebenso wie hinter der Geschwindigkeit des Klimawandels. Die Mitgliedsstaaten der EU haben sich im Abkommen von Paris gemeinsam verpflichtet, den Treibhausgas-Ausstoß um 40 Prozent bis 2030 gegenüber dem des Jahres 1990 zu senken. Die Aufteilung, welches Land wie viel einzusparen hat, sollte EU-intern erfolgen. Großbritannien war dabei nicht nur eine wichtige politische Triebfeder. Der Inselstaat übernahm auch überdurchschnittlich viel Verantwortung beim Reduzieren der Treibhausgase. Mit dem Brexit steht das nun auf dem Spiel. Die Emissions-Ziele der EU-Mitgliedsstaaten basieren im Wesentlichen auf deren Bruttoinlandsprodukt. Bulgarien hat außerhalb des CO2-Zertifikatehandels beispielsweise keinerlei Verpflichtungen, während Länder wie Luxemburg, Schweden und Deutschland die ambitioniertesten Ziele haben. Ein Ausstieg Großbritanniens – mit seinem überdurchschnittlichen Beitrag – würde eine Mehrbelastung der weiteren EU-Staaten bedeuten. Warschau lies bereits verlauten, dass es eine entsprechende Anhebung der eigenen Verpflichtungen ablehne. Den beim Klimaschutz weitgehend progressiven westeuropäischen Staaten stehen vor allem osteuropäische Regierungen gegenüber, die beim Klimaschutz lieber bremsen. Die Konfliktlinien verlaufen dabei ähnlich denen der Flüchtlingspolitik. Das macht die Situation zusätzlich sensibel. Die britische Regierung war beim Klimaschutz anders als bei der Flüchtlingspolitik eines der drei großen Zugpferde neben Deutschland und Frankreich. Inwieweit ein Rückzug Großbritanniens aus der europäischen Klimapolitik das Machtgefüge verschieben würde, ist schwer abschätzbar. Es dürfte für die frühere Klimakanzlerin Angela Merkel schwerer werden, ehrgeizige Klimaschutzziele durchzusetzen. Aber auch national scheint sie sich davon zu entfernen. So lange ist es noch nicht her, dass Deutschland visionär war in Sachen Klimaschutz. Davon ist im September 2016 wenig zu spüren. Liest man den aktuellen Klimaschutzplan, verwundert es geradezu, dass Deutschland bei der Pariser Klimakonferenz noch eine treibende Kraft sein konnte. Der Klimaschutzplan 2050 des Umweltministeriums hätte ein konkreter Fahrplan sein können. Doch Wirtschaftsministerium und Kanzleramt haben das Papier stark verwässert. Fast 40 Prozent der deutschen CO2-Emissionen stammen aus der Energiewirtschaft, besonders aus der Kohleverstromung. Laut einer von Greenpeace in Auftrag gegebenen Studie des Kölner New Climate Institut müssen die Kohlekraftwerke in Deutschland bis 2025 abgestellt werden, wenn man die Pariser Klimaschutzziele erreichen will. Ein konkretes Ausstiegsdatum ist im Klimaschutzplan aber nicht festgelegt. Ein Fahrplan ohne Ziel ergibt jedoch keinen Sinn. Die Energiewende ist nicht die einzige Baustelle der Bundesrepublik. Auch in der Landwirtschaft und im Verkehr tat sich in den vergangenen Jahrzehnten praktisch nichts. Im Verkehrssektor sind die CO2-Emissionen seit 1990 sogar anstiegen. Die Autos auf Deutschlands Straßen wurden zwar effizienter, aber vor allem auch schwerer und verbrauchten dadurch mehr – ein klassischer Rebound-Effekt. Anreize für die Nutzung von öffentlichen Verkehrsmitteln gab es zu wenig. Der Abgas-Skandal macht deutlich, wie zaghaft man in Berlin den Verkehrssektor zur Verantwortung zieht. Dabei ist Klimaschutz für Deutschland weit mehr als ein Gutmenschen-Projekt. Die Bundesrepublik hat sich im Ausland als Vorzeigeland in Sachen Klimaschutz vermarktet und dadurch viel Anerkennung gewonnen. Wenn aber über Deutschlands politische Rolle in der Welt debattiert wird und darüber, dass es seiner Relevanz politisch nicht ausreichend gerecht wird, ist die Diskussion meist verengt auf die Sicherheitspolitik. Die Bundesrepublik hat aber gerade mit „soft politics“ wie dem Klimaschutz ihren Gestaltungsraum vergrößert und international Verantwortung übernommen. Eine solche Politik aktiv zu betreiben, ist politisch wie wirtschaftlich sinnvoll. Es ist naiv, die Energiewende primär als nationalstaatliches Projekt zu begreifen. Um das 1,5 Grad-Ziel von Paris zu erreichen, bedarf es nicht weniger als einer globalen Energiewende. Ohne Kooperation auf dem europäischen Energiemarkt wäre die kaum möglich. Die Energiewende in eine aktive Klima-Außenpolitik einzubetten, kann nicht nur Grundlage für verbesserte Beziehungen sein. Es würde Kosten senken und Innovationen fördern. Deutsche Energie- und Klimapolitik benötigt aber einen europäischen Handlungsrahmen. Ein erster Schritt wäre, das Pariser Abkommen zeitnah zu ratifizieren. Das Pariser Abkommen tritt in Kraft, sobald es mindestens 55 Staaten ratifizieren, die 55 Prozent des weltweiten Treibhausgas-Ausstoßes verursachen. China und die USA verursachen gemeinsam fast 40 Prozent des weltweiten Ausstoßes. Würden die 28 Mitgliedsstaaten der EU zustimmen, die für etwa elf Prozent der globalen Emissionen stehen, könnte das Pariser Abkommen noch in diesem Jahr in Kraft treten. Aus internen EU-Kreisen ist zu vernehmen, dass man sich durchaus unter Druck gesetzt fühlt von der Ratifizierung durch die USA, China und Brasilien. EU-Ratspräsident Donald Tusk strebt deshalb angeblich eine Ratifizierung im Eilverfahren an. Schon kommendes Wochenende sollen die EU-Staatschefs bei einem informellen Treffen in Bratislava entsprechende Schritte diskutieren. Großbritannien wird wohl nicht an dem Treffen teilnehmen. Würden alle 28 Staaten zustimmen, wäre eine Ratifizierung durch die EU innerhalb eines Monats möglich. Es wäre gut für das Klima und Europa, wenn die Staatschefs das nutzen würden.
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Andreas Sieber, Nora Schlagenwerth
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Ausgerechnet die beiden größten CO2-Sünder, China und die USA, haben Europa beim Klimaschutz überholt. Die EU-Verhandlungen zum Pariser Klimaschutzabkommen sind ins Stocken geraten. Grund dafür sind der Brexit und das nachlassende Engagement Deutschlands
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[
"Klimawandel",
"EU",
"USA",
"China",
"Klima"
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innenpolitik
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2016-09-14T13:40:29+0200
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2016-09-14T13:40:29+0200
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https://www.cicero.de//innenpolitik/klimaschutz-europa-muss-wieder-vorangehen
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Literaturen – Depeschen aus der Herzkammer der Unvernunft
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Wenn Hauptmann William Henry Dawkins seine Befehle erteilt,
sitzt er in einem alten Sessel. In der Felsspalte befindet sich
kein weiteres Möbelstück, weder Feldbett noch Kartentisch. Der
Sessel ist an Land gespült worden, hier, an der Westküste von
Gallipoli, der Halbinsel an der Einfahrt ins Marmara-Meer. Auch den
22-jährigen Dawkins, der schon als Volksschullehrer sein Auskommen
hatte, als ihn die Sehnsucht nach dem Kadettendasein packte, hat es
zufällig an diese Küste verschlagen. Das Hin und Her des
Schlachtenglücks im ersten Kriegsjahr und der Ehrgeiz eines
englischen Politikers, des Marineministers Winston Churchill,
mussten zusammenwirken, damit die Pionierkompanie von der
Südhalbkugel an diesen Einsatzort im Mittelmeer kommandiert
wurde. Während der Fahrt um die halbe Welt kennt Dawkins sein Ziel noch
nicht. Der Leser von Peter Englunds Buch über den Ersten Weltkrieg
im Spiegel von neunzehn Schicksalen ahnt, wohin die Reise geht. Das
Buch des schwedischen Historikers ist ein aus datierten Episoden
montiertes Panorama, ein Kriegstagebuch von unten, aus der
Perspektive derer, die die Objekte der strategischen Entscheidungen
der Generalstäbe waren. Der Leser darf erwarten, dass ihn eine
solche Darstellung auch an die Schauplätze führt, die ins
Gedächtnis der Menschheit eingegangen sind, nach Verdun und an den
Isonzo. William Henry Dawkins ist Australier. Wenn sein Schicksal
repräsentativ sein soll, muss es sich in Gallipoli erfüllen. Der vergebliche Versuch der Alliierten, den Türken die Kontrolle
der Meerengen zu entreißen, ist der Inbegriff einer dilettantisch
geplanten, aber unter konsequentester Verschwendung von
Menschenleben durchgeführten Operation. Für die Australier wurde
das sinnlose Massenopfer zum Urereignis der nationalen
Selbstbesinnung. Die australische Brigade wähnt sich auf dem Weg
nach England, als sie in Ägypten abgesetzt wird. Dawkins und seine
Kameraden sind enttäuscht darüber, dass sie das Weihnachtsfest 1914
am Fuß der Pyramiden verbringen müssen und die Front noch nicht
erreicht haben. Der Lehrer außer Dienst nutzt den unwillkommenen
Aufschub für einen Bildungsausflug. In einem Brief an die Mutter
hält er fest, dass ihm die Riesenstatuen von Ramses II. besonders
imponieren. "Es muss Jahre gedauert haben, sie zu vollenden." Englund ist ein im guten Sinne altmodischer Historiker, der die
sorgfältig arrangierten Tatsachen für sich sprechen lässt. Durch
die Kunstmittel des ironischen Gegensatzes und der
unausgesprochenen Vorausdeutung erwächst aus welthistorischen
Betrachtungen ein melancholisches Bewusstsein. Auch die alliierten
Armeen werden Jahre brauchen, um ihre Arbeit abzuschließen. Und wie
die Pharaonen für ihre Monumentalbauten auf ein unerschöpfliches
Reservoir von Sklaven zurückgriffen, so fordert der Sieg im
Weltkrieg den uneingeschränkten Menschenverbrauch. Dawkins und seine Pioniere sollen die Wasserrohre für die
Eroberer von Gallipoli verlegen. Acht Monate lang werden die
Brückenköpfe gehalten. Dawkins, bildet sich der Leser ein, sitzt
gut in seinem Sessel, wenn davon im Krieg überhaupt die Rede sein
kann. Man wird ihm über die Schulter schauen und ist gespannt auf
seine nüchternen Depeschen aus der Herzkammer der grausamen
Unvernunft. Aber am 12. Mai 1915, zwei Wochen nach der Landung,
fällt William Henry Dawkins. Eine Granate ist über seinem Kopf
explodiert. Damit hat der Leser nicht gerechnet. Englund erzählt wie ein Romancier, ergänzt die Tatsachen der
Briefe, Tagebücher und Memoiren, indem er sich in seine Zeugen
hineinversetzt. Und so liest man das Buch zunächst wie einen Roman,
identifiziert sich mit den Figuren. Doch die Symmetriebedürfnisse
des Epikkonsumenten kann und will Englund nicht befriedigen. Zwei seiner Gewährsleute werden in den Kampf um die von den
Engländern besetzte Stadt Kut al-Amara an der Straße nach Bagdad
hineingezogen. Sie kommen sich immer näher, aber sie begegnen sich
nicht. Die Lebensbögen der neunzehn Chronisten sind vom Krieg
verformt und in zwei Fällen auch abgeschnitten worden. Englund muss die Einzelheiten der Hölle von Gallipoli nicht noch
einmal ausbreiten. Wäre Dawkins nicht gefallen, hätten die Türken
die Halbinsel auch nicht geräumt. Es kommt auf den Einzelnen
einfach nicht an. Keiner der kriegführenden Parteien mangelt es an
Personal für Heldenrollen. So bleiben vom letzten Tag des William
Henry Dawkins zwei Bilder: das Verschrauben der Wasserrohre in
einem Graben voller verendeter Maultiere mit "aufgequollenen
Bäuchen» und «steifen, abstehenden Beinen" – und der Tod des
Hauptmanns. Einer seiner Soldaten sieht gerade noch, wie er
umfällt, "auf die ganz besondere Art und Weise, die man bei
Schwerverletzten beobachten kann, wenn der Fall nicht von den
Reflexen des Körpers gesteuert wird, sondern lediglich von den
Gesetzen der Schwerkraft". Englund wurde seinen Landsleuten durch ein Buch über die
Schlacht von Poltawa bekannt, in der Karl XII. 1709 Peter dem
Großen unterlag. Seine Darstellung der schwedischen Politik im
Dreißigjährigen Krieg erschien 1993 unter dem Titel "Die Verwüstung
Deutschlands" in deutscher Übersetzung bei Klett-Cotta. Sein
jüngstes, im schwedischen Original 2008 zum neunzigsten Jahrestag
des Kriegsendes erschienenes Werk enthält wieder eine Fülle von
Informationen und Erklärungen aus der Alltagsgeschichte von
Kriegshandwerk und Überlebenskunst. Der Autor nimmt die von fast allen seinen
Schützengrabenbewohnern verachtete Generalität gegen den Vorwurf in
Schutz, durch Phantasielosigkeit den Stellungskrieg verschuldet zu
haben. Im Krieg der mechanisierten Massenverbände ist der Angreifer
im Nachteil: Er muss perfekt vorbereitet sein und dennoch auf die
Überrumpelung des Feindes setzen. Die Erinnerung an den Großen
Krieg bildet bis heute die Fronten nach, bleibt geprägt durch
nationale Denkmuster. Auffällig viele von Englunds Kombattanten
haben eine doppelte oder gespaltene Loyalität: der deutsche Soldat
aus der dänischen Minderheit, der Italo-Amerikaner, der sich zur
Fahne des Mutterlandes meldet, die englische Krankenschwester in
russischen Diensten, die australische Krankenwagenfahrerin in
serbischen Diensten, der venezolanische Abenteurer, der von
Belgiern und Franzosen abgewiesen wird und daher die osmanische
Uniform anzieht. Was Englund eigentlich fasziniert, ist die unpathetische
Schilderung des Verhaltens in der permanenten Grenzsituation, der
Anpassung von Leib und Seele an eine mörderische Routine, die jeden
Enthusiasmus aufgezehrt hat. Im Krieg behandeln die Menschen
einander wie im Frieden die Tiere: Sie wärmen sich an den Leichen
und nehmen sie aus. Dass ein Offizier einen streunenden Hund oder
ein lahmes Maultier adoptiert, ist als Kompensation zu
verstehen – ebenso wie der sentimentale Nachruf auf den
einzelnen Feind, in dessen Brieftasche man Fotos entdeckt oder eine
Dauerkarte für den Zirkus. Solche Szenen kehren bei Englund an
allen Fronten wieder. Um den Tod zu überlisten, verwandelt sich der Soldat selbst in
einen Gegenstand, der den Gesetzen der Schwerkraft keinen
Widerstand mehr entgegensetzt – so hat es Alfred Pollard
dargestellt, ein Träger des Viktoria-Kreuzes, der höchsten
britischen Tapferkeitsauszeichnung, der als
Versicherungsangestellter in den Krieg zog und als
Kriminalschriftsteller heimkehrte. Kühn liest Englund Pollards
Memoiren als pathologische Selbstanalyse. Merkwürdig nur, dass er
bei keinem seiner Berichterstatter den Anteil der nachträglichen
Stilisierung herauspräpariert – als wäre Quellenkritik ein
Dolchstoß in den Rücken des geistesgegenwärtig
Davongekommenen. Peter Englund wurde 1957 im nordschwedischen Boden geboren. Er studierte
Geschichte und Philosophie und arbeitete als Kriegsreporter auf dem
Balkan, in Afghanistan und im Irak. Seit 2009 ist er ständiger
Sekretär der Schwedischen Akademie, die alljährlich den
Literatur-Nobelpreis vergibt
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Aus Sicht der Generalstäbe ist der Erste Weltkrieg schon oft erzählt worden. Peter Englund interessiert sich aber für die Schicksale der Einzelnen. Ein Kriegstagebuch von unten
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kultur
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2011-11-13T07:42:56+0100
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2011-11-13T07:42:56+0100
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https://www.cicero.de//kultur/depeschen-aus-der-herzkammer-der-unvernunft/46460
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Reichskulturkammer - Die Gunst war wichtiger als die Kunst
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Dieser Beitrag ist eine Kostprobe aus der September-Ausgabe des Cicero. Wenn Sie keine Ausgabe des Magazins für politische Kultur mehr verpassen möchten, können Sie es am Kiosk kaufen oder direkt im Online-Shop abonnieren. Das zauberwort der nationalsozialistischen Politik war die Gleichschaltung aller Organe des Volkskörpers unter straffer staatlicher Leitung. Hierin hatten Hitler und Stalin viel gemein. Auch das kulturelle Leben blieb von dieser Welle nicht verschont. Auf energisches Betreiben von Joseph Goebbels wurde am 22. September 1933 die Reichskulturkammer geschaffen, der Berufsverband aller Kulturschaffenden, dessen Mitgliedschaft verpflichtend war. Der Propagandaminister und Präsident der Reichskulturkammer kontrollierte damit die Werke und Aufträge von all jenen, die im Kulturbetrieb aktiv waren, von Architekten, Autoren, Verlegern und Komponisten bis hin zu Orchestermusikern, Pressestenografen, Zeitschriftenhändlern und Film-Garderobiers. Formal bestand Goebbels’ persönliches Reich aus vielen Kammern: der Reichsschrifttumskammer, Reichsfilmkammer, Reichsmusikkammer, Reichstheaterkammer, Reichspressekammer, Reichsrundfunkkammer und Reichskammer der bildenden Künste. [gallery:Nürnberger Prozesse] Die Reichskulturkammer bestimmte, was geschrieben, gemalt, gedreht, gesendet, gespielt und gedruckt werden durfte – und wer es durfte. Jüdische Künstler wurden aus den Programmen gestrichen, jüdische Komponisten und Dramatiker nicht gespielt, Autoren nur verlegt, wenn ihre Werke als „artgemäß“ und „rassisch gesund“ angesehen wurden, Mitglied wurde nur, wer die „für die Ausübung seiner Tätigkeit erforderliche Zuverlässigkeit und Eignung“ zeigte. Eine verweigerte Aufnahme war praktisch ein Berufsverbot.Die Politik der Reichskulturkammer richtete sich auch auf „rassisch gesunde“ Inhalte. Deutsche Komponisten und Autoren sollten von arischen Künstlern interpretiert werden. „Niggerjazz“, Swing, atonale Musik, „entartete“ Kunst und „volkszersetzende“ Schriften wurden verbannt. Viele Künstler waren vom Verbot betroffen, von Heinrich Mann bis hin zu Emil Nolde. Andere machten Karriere. Unter ihnen waren überzeugte Nazis wie der Bildhauer Arno Breker, Winifred Wagner und der Komponist Hans Pfitzner – und etablierte Namen wie Gustaf Gründgens, Gerhart Hauptmann und Wilhelm Furtwängler, die hofften, unbehelligt von der Politik ihrer Kunst nachgehen zu können. Wie die Forschungsarbeit des jungen Historikers Ben Urwand belegt, ließen sich sogar Hollywood-Produzenten, die nicht auf die Einnahmen aus dem deutschen Markt verzichten wollten, über Jahre hinweg freiwillig von der nationalsozialistischen Regierung in Berlin zensurieren, indem sie alle Filme erst einem Beamten des deutschen Konsulats in Los Angeles zeigten und seinen Anweisungen für Schnitte oder andere Änderungen folgten. Tatsächlich verschwinden Juden und jüdische Themen oder jüdischer Sprachgebrauch in den dreißiger Jahren bis zum Kriegseintritt der USA aus den Produkten der Traumfabrik. Deutsche Intellektuelle und Künstler reagierten entlang der gesamten Bandbreite menschlicher Charaktere. Ein rückgratloser und naiver Exot unter den ideologisch durchtrainierten arischen Kunstbürokraten war Richard Strauss, der sich aktiv und erfolgreich um das Amt des Präsidenten der Reichsmusikkammer bemüht hatte. In der Annahme, er könne in dieser Situation die deutsche Kultur gegen den Geschmack der von ihm verachteten Nazis verteidigen, machte er sich zum willigen Werkzeug und Aushängeschild des Regimes, arbeitete aber weiterhin mit seinem jüdischen Librettisten Stefan Zweig zusammen. In einem Brief an den Schriftsteller sollte Strauss 1935 seine Einstellung zusammenfassen: „Für mich gibt es nur zwei Kategorien Menschen; solche, die Talent haben, und solche, die keins haben, und für mich existiert das Volk erst in dem Moment, wo es Publikum wird. Ob dasselbe aus Chinesen, Oberbayern, Neuseeländern oder Berlinern besteht, ist mir ganz gleichgültig, wenn die Leute nur den vollen Kassenpreis bezahlt haben!“ Präsident der Reichsmusikkammer sei er nur geworden, „um Gutes zu tun und größeres Unglück zu verhüten. Einfach aus künstlerischem Pflichtbewusstsein!“ Der Brief wurde abgefangen, Joseph Goebbels zwang den großen Musiker und moralischen Zwerg zum Rücktritt und strich die Reiseprivilegien. Strauss schrieb daraufhin einen atemberaubend unterwürfigen Brief an Hitler: „Im Vertrauen auf Ihren hohen Gerechtigkeitssinn bitte ich Sie, mein Führer, ergebenst, mich zu einer persönlichen Aussprache empfangen zu wollen.“ Hitler antwortete nicht, warf dem Komponisten aber einen Knochen hin: 1936 erhielt Strauss den lukrativen Auftrag, die Hymne der Olympiade zu schreiben. An den bereits im Exil befindlichen Zweig schrieb er: „Ich vertreibe mir in der Adventslangeweile die Zeit damit, eine Olympiahymne für die Proleten zu componieren, ich, der ausgesprochene Feind und Verächter des Sports.“ Er hatte nichts begriffen. Andere bekannte Künstler sahen, was der Nationalsozialismus für sie selbst und ihr Land bedeutete. Der Dirigent Fritz Busch weigerte sich, auf Anfrage von Goebbels in Dresden zu dirigieren, solange er „jüdischen Kollegen die Stellung wegnehme“, und blieb in Großbritannien. Auch Marlene Dietrich gab dem Reichspropagandaminister einen Korb. Thomas Mann hatte während einer Auslandsreise beschlossen, nicht in seine Heimat zurückzukehren. „Die Rückkehr ist ausgeschlossen, unmöglich, absurd, unsinnig und voll wüster Gefahren für Freiheit und Leben“, notierte er und hatte recht. Ein „Schutzhaftbefehl“ lag unterzeichnet in München. Die Reichskulturkammer förderte die leichten Künste. Das Neujahrskonzert der Wiener Philharmoniker war eine Erfindung von Nazi-Propagandisten, und auch sonst spielte das Orchester in diesen Jahren mehr „artgerechte“ Walzer als je zuvor. Schlagerstars wie Zarah Leander sorgten für gute Unterhaltung. An mehr Anspruch war den meisten Kulturgranden nicht gelegen. Hans Friedrich Blunck, der Präsident der Reichsschrifttumskammer, der sich für einen großen Autoren hielt und allein zwischen 1933 und 1944 97 Bücher veröffentlichte, formulierte diese Haltung in einem seiner Theaterstücke: „Wenn ich ‚Kultur‘ höre (...), entsichere ich meinen Browning.“ In der Serie „1933 – Unterwegs in die Diktatur“ sind bisher erschienen: Die Machtergreifung: Religion der Brutalität Der Reichstagsbrand: Republik unter Feuer Das Ermächtigungsgesetz: Als Deutschland die Demokratie verlor Die Bücherverbrennung: Das Ende des Landes der Dichter und Denker Die Volkszählung 1933: Die statistische Grundlage für den Holocaust Das Reichskonkordat: Fauler Handel mit der Kirche Der Volksempfänger: Das Propagandawerkzeug der Nazis DIe Reichskulturkammer: Die Gunst war wichtiger als die Kunst Der Völkerbund: Deutschlands Austritt ebnete den Weg in den Krieg
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Philipp Blom
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Durch die Reichskulturkammer wurden sämtliche Künste gleichgeschaltet. Als besonders rückgratlos erwies sich der Komponist Richard Strauss. Achte Folge einer Serie
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kultur
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2013-10-22T16:34:18+0200
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2013-10-22T16:34:18+0200
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https://www.cicero.de//kultur/nationalsozialismus-1933-reichskulturkammer-die-gunst-war-wichtiger-als-die-kunst/56188
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lesen,hören,sehen: journal – Die jüngsten und ältesten Gesichter Russlands
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Mit voller Kraft, schier unermesslichem Reichtum und modernsten Mitteln segelt das Neue Russland zurück ins Mittelalter. Oder kann man diese Bilder anders verstehen? «Little Adults», kleine Erwachsene, hat die Fotografin Anna Skladmann ihre frappierende Bilderserie betitelt. Und tatsächlich finden sich darauf Kinder, die keine Kinder sein sollen oder wollen. Kinder, die es so zuletzt in der Ikonograe des fünfzehnten Jahrhunderts gegeben hat. Erst danach wurde – dem Historiker Philippe Ariès zufolge – der moderne Begriff der Kindheit ja überhaupt erst erfunden. Die vor Skladmanns Kamera bereitwillig posierenden Selbstdarsteller entstammen den Familien superreicher russischer Oligarchen. Zwischen sechs und zwölf Jahre alt, scheinen sie bereits ein unumstößliches Bewusstsein von ihrem Platz in der Welt ausgeprägt zu haben. Es ist eine Welt, in der sie nie werden arbeiten müssen – aber auch nie werden spielen dürfen. Sie wissen, dass auch Geldadel verpflichtet, und repräsentieren mit nahezu heiligem Ernst. Auch die Fotografin selbst ist noch nicht sehr alt. Anna Skladmann wurde 1986 in Bremen geboren, ihre Mutter und Großmutter aber stammen aus Moskau, beide haben dort am Bolschoi-Theater gearbeitet. An der Weise, in der Skladmann den Habitus und die Interieurs der superreichen Kinder ins Bild setzt, merkt man, dass sich ein Sinn für Bühnen-Inszenierungen vererbt haben muss. Anna Skladmann
Little Adults
Kehrer, Heidelberg 2011.
112 S., 36 €
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Auf Anna Skladmanns Fotografien posieren die Kinder der russischen Oligarchen
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kultur
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2011-06-16T15:14:08+0200
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2011-06-16T15:14:08+0200
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https://www.cicero.de//kultur/die-juengsten-und-aeltesten-gesichter-russlands/47429
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Missionierungsaktion – Warum verteilen Salafisten Koran-Exemplare?
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Mit ihrem Versuch, bis zu 25 Millionen Ausgaben des Korans
unters Volk zu bringen, vor allem unter dessen ungläubigen Teil,
haben ultraorthodoxe Muslime in diesen Tagen einen Entrüstungssturm
ausgelöst. Aus der CDU/CSU-Fraktionsführung gibt es Forderungen,
diese „aggressive Aktion, wo immer möglich, zu stoppen“,
Fraktionschef Volker Kauder verurteilte sie, Grünen-Chef Cem
Özdemir sieht eine Werbestrategie von Radikalen, die man ihnen
„nicht durchgehen lassen“ dürfe, und auch Kerstin Griese,
kirchenpolitische Sprecherin der SPD-Fraktion, sieht die
Gratis-Aktion in Fußgängerzonen „mit großer Sorge“. Am kommenden
Samstag sollen nach Angaben der „Welt“ in 38 Städten Korane
verteilt werden, auch in Berlin. Die Ulmer Druckerei Ebner und Spiegel, die den Großauftrag vom
Verein „Die wahre Religion“ bekam und seit Oktober 300 000
Exemplare ausgeliefert hat, prüft nach Angaben eines Sprechers
inzwischen, ob sie den Anschlussauftrag über weitere 50 000 Stück
nicht loswerden kann. Dabei betonen die Kritiker fast unisono, dass im Grunde gegen
die Verteilung religiöser Schriften nichts einzuwenden sei.
Tatsächlich garantiert das Grundgesetz in Artikel 4 die Freiheit
des religiösen Bekenntnisses und „die ungestörte
Religionsausübung“. Dazu dürfte auch die Missionierung Anders- und
Nichtgläubiger gehören. Schließlich ist sie beiden großen
monotheistischen Religionen wichtig, Christentum wie Islam. Der
SPD-Innenexperte Michael Hartmann nannte die Aufregung um die
Koran-Aktion am Donnerstag denn auch „grotesk“: In einem freien
Land dürfe „selbstverständlich die Heilige Schrift einer
Weltreligion verbreitet werden“. Auch die FDP-Fraktionsvize Gisela
Piltz sieht für ein Verbot der Aktion „keinen Raum“. Was im Islam „da’wa“ heißt, Aufruf, Ruf oder Einladung – zum
muslimischen Glauben – leitet das Christentum direkt von Jesu Wort
im Matthäus-Evangelium ab, der dort seinen Jüngern den Auftrag
gibt: „Geht nun hin und macht alle Nationen zu Jüngern, und tauft
sie auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen
Geistes, und lehrt sie alles zu bewahren, was ich euch geboten
habe.“ Dabei interpretieren Christentum wie Islam diese Pflicht
inzwischen deutlich anders als seit der Zeit der Kreuzzüge und der
frühislamischen Eroberungszüge. Auf beiden Seiten – deren
fundamentalistische Strömungen und Sekten ausgenommen – wird sie
inzwischen als Pflicht gesehen, den eigenen Glauben zu bezeugen.
Selbst der im Westen beargwöhnte Schweizer Theologe und führende
Theoretiker eines europäischen Islam Tariq Ramadan predigt diese
Sicht. Deutschlands Verfassungsschützer zählen diese "Salafisten" zur
gefährlichsten Spielart militanten Islamismus Bleibt die Frage nach den Missionaren, auf deren Dunkelmännertum
die Kritiker ihre Verbotsforderungen stützten: Moderne Demokraten
sind sie offensichtlich nicht. Auf der Seite „www.diewahrereligon.tv“
bewerben die Videoansprachen des Kölner Geschäftsmanns Ibrahim
Abou-Nagie eher einen blinden Gehorsam als aufgeklärte
Religiosität: Glaube an Allah bedeute, „dass man seinen Befehlen
folgt, ohne Wenn und Aber, ohne Phantasieren und Diskutieren. Wir
hören und gehorchen.“ Deutschlands Verfassungsschützer halten jene „Salafisten“, zu
denen auch Abou-Nagie zählt, aber auch für die gefährlichste
Spielart militanten Islamismus. Die Mehrzahl von ihnen seien zwar
keine Terroristen: „Andererseits sind fast alle in Deutschland
bisher identifizierten terroristischen Netzwerkstrukturen und
Einzelpersonen salafistisch geprägt“, sie bereiteten mit hoher
Sicherheit „den Nährboden für eine islamistische Radikalisierung“.
Auch der 21-jährige Arid U., der im März letzten Jahres am
Frankfurter Flughafen zwei US-Soldaten ermordete, wurde nach
Erkenntnissen der Ermittler durch den Konsum salafistischer
Propaganda im Internet radikalisiert. Der Salafismus (salaf für „Vorfahren“) gehört zu jenen
Fundamentalismen im Islam – die es auch im Christentum gibt –, für
die die Glaubenswirklichkeit früherer Zeiten „die wahre“ ist. Gegen
die im Islam von Beginn an etablierte Tradition der
Neu-Interpretation (idshtihad) der heiligen Texte und der
Überlieferung beharren sie auf einem religiösen Urzustand als
einzig richtigem und Buchstabentreue zum Koran. Was der
Piusbruderschaft der imaginierte, angeblich authentische
Katholizismus des 19. Jahrhunderts ist, ist für die Salafisten die
islamische Frühzeit der Zeitgenossen und ersten Nachfolger des
Propheten Mohammed. Der Salafismus gilt als Kind des 19.
Jahrhunderts, Vorläuferströmungen sind auch aus dem 14. Jahrhundert
bekannt. Das Nein zu modernen Interpretationen von Koran und Tradition
schließt dabei auch das zu vielen sozialen Entwicklungen ein. In
Saudi-Arabien mit seiner radikalen Geschlechtertrennung, dem
Fahrverbot für Frauen und vormodernen Körperstrafen ist der
verwandte Wahhabismus gar Staatsreligion. In Ägypten hatte die
salafistische Partei bei der ersten Parlamentswahl nach Mubaraks
Sturz praktisch aus dem Nichts einen Riesenerfolg.
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Salafisten planen, 25 Millionen Exemplare des Koran kostenlos in Deutschland zu verteilen. Wie ist diese Aktion einzuschätzen?
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innenpolitik
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2012-04-13T08:55:20+0200
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2012-04-13T08:55:20+0200
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https://www.cicero.de//innenpolitik/warum-verteilen-salafisten-koran-exemplare/48944
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Franz Beckenbauer und Thomas Bach - Die Märchenonkel des guten deutschen Sports
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Franz Beckenbauer hat sich also endgültig gewandelt. Bis nach der Fußball-Weltmeisterschaft 2006 war er die Lichtgestalt, die uns mit tänzelnden Füßen in die Traumwelten des Fußballs führte, in denen auch wir so niederen Gestalten stolz daherstolzieren konnten, denn siehe, wir Deutschen können auch elegant und ausgelassen. Nun ist er zum Märchenonkel geworden, vom dem nur noch Schauergeschichten zu hören sind über Gier und Arroganz. Dabei waren wir doch auch im Sport angetreten, um es mal wieder der Welt zu zeigen. Doping? Gab’s früher in der DDR und jetzt noch bei den Russen. Aber bei uns doch nicht. Korruption? Ja, die hohen Herren von FIFA und IOC, Blatter, Havelange, Samaranch und wie sie alle heißen, die stecken da ganz tief drin. Aber wir Deutschen, nein wir machen das wie es sich gehört, anständig und sauber. Wenn wir eine Fußball-Weltmeisterschaft organisieren, dann funktioniert da alles, dann laufen keine krummen Dinger. Und wenn wir einen Mann an die Spitze des olympischen Sports schicken, ja, dann räumt da endlich mal jemand auf. Nun wissen wir schon lange, dass die Geschichte vom Ostblock, in dem die Athleten von Kindesbeinen an im Kollektiv zu Sportmaschinen herangezogen wurden, gegen den deutschen Westen mit seinen individuellen Leistungsträgern, deren Erfolge allein auf Talent, hartem Training und starkem Willen beruhten, reine Legende ist. Staatsdoping gab es auch in der BRD, nur ein bisschen vorsichtiger und anders verpackt. Und einen heftigen Korruptionsskandal musste die Bundesliga bereits in ihren vermeintlich unschuldigen Anfangsjahren verkraften. Trotzdem zeigt sich in diesem Spätsommer noch einmal besonders deutlich, dass die deutschen Spitzenfunktionäre ihren ausländischen Kollegen in Sachen schmutzige Geschäfte und moralisch fragwürdiges Agieren in nichts nachstehen. Thomas Bach, der ehemalige Fechter aus Würzburg, ist seit 2013 IOC-Präsident, er trägt also das höchste Amt, das der internationale Sport zu vergeben hat. Seine Hauptaufgabe ist es, vier Sportfeste zu organisieren, die Olympischen Spiele und die Paralympics im Winter und im Sommer. Dass er da bisher alles andere als eine gute Figur gemacht hat, ist stark untertrieben. Die nachweislich von Korruption und von Putin-Propaganda durchzogenen Winterspiele im russischen Sotschi würdigte er im Nachhinein als „großen Erfolg“ und „Spiele der Athleten“. Von den Sommerspielen in Rio de Janeiro verbannte er nicht, wie von vielen gefordert, das komplette russische Team, sondern die mutige Whistleblowerin Julia Stepanowa. Die muss seit ihren Enthüllungen über das dopingverseuchte russische Sportsystem um ihr Leben fürchten. Stepanowa würde nicht „die ethischen Anforderungen“ erfüllen, „um an den Olympischen Spielen teilzunehmen“, sagte Bach. Momentan finden in Rio die Paralympics statt. Denen blieb Bach ganz fern. Offiziell geschah das aus „Termingründen“. Wahrscheinlicher aber ist: aus Angst vor brasilianischen Ermittlern. Die hätten nämlich ein paar Fragen an den IOC-Präsidenten gehabt, weil sein Exekutivmitglied und Freund Patrick Hickey aus Irland Karten zu überteuerten Preisen weiterverkauft und sich so bereichert haben soll. Man muss sich das einmal vorstellen. Wenn Sportler Respekt verdienen, dann doch die Teilnehmer der Paralympics. Es ist ein bisschen so, als würde Bundespräsident Joachim Gauck das Bürgerfest für die ehrenamtlichen Helfer schwänzen. Bach und Beckenbauer stehen oder standen jeweils an der Spitze eines Systems, das in Deutschland offenbar nicht weniger zersetzt ist als im Rest der Welt. Die Erklärung dafür ist einfach. Vertuschung und Korruption sind das perfekte Verbrechen. Kriminologen schätzen, dass höchstens fünf Prozent aller Korruptionsfälle bekannt werden. Es fehlt an Geschädigten und beide Seiten profitieren. Eine Seite bekommt den Auftrag oder die Stimme, die andere das Geld oder den Posten. Im Sport kommt noch etwas anderes dazu. Der gesellschaftliche Auftrag. Wer den Sport fördert, tut etwas Gutes, für die Menschen, für den Verein, für die Stadt, für das Land. Daraus entsteht eine Art Überidentifikation. Und es fließt eine Menge Geld. Von Sponsoren, von Medien, von den Fans und nicht zuletzt vom Bürger. Jedes Stadion der Bundesliga wird vom Staat in irgendeiner Form subventioniert, selbst wenn viele Vereine mittlerweile höchst profitable Unternehmen sind. Kein Wunder also, dass den Bürgern der Appetit auf sportliche Großereignisse inzwischen zu vergehen scheint. Für Münchens zweite Bewerbung für die Winterspiele 2022 konnten sich nur wenige erwärmen. Und auch in Hamburg scheiterte die Bewerbung für das Sommerpendant zwei Jahre später an einem Referendum. In der Politik ist der Überdruss offenbar noch nicht angekommen. In Nordrhein-Westfalen gibt es Bewerbungspläne für 2028. „Ich würde mich über nichts mehr freuen als Olympische Spiele in NRW“, sagte Ministerpräsidentin Hannelore Kraft von der SPD. Sie wünsche sich „bescheidene“ und „bodenständige“ Spiele. Das passende Personal dafür dürfte in Deutschland schwer zu finden sein.
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Constantin Wißmann
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Deutsche Spitzenfunktionäre machen derzeit keine gute Figur. Dabei waren wir Deutschen auch im Sport angetreten, um der Welt zu zeigen, wie es anständig und sauber geht. Doch das System ist hierzulande ebenso von Vertuschung und Korruption zersetzt
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"Franz Beckenbauer",
"Thomas Bach",
"IOC",
"WM 2016",
"Olympia",
"Paralympics"
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kultur
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2016-09-14T15:53:34+0200
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2016-09-14T15:53:34+0200
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https://www.cicero.de//kultur/franz-beckenbauer-und-thomas-bach-die-maerchenonkel-des-guten-deutschen-sports-
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Die Stimme unserer Leser – Die Meinungsbilder des Jahres 2011
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Deutsche Panzer nach Saudi-Arabien? Hat Libyen eine Chance auf Demokratie? Brauchen wir die Vereinigten Staaten von Europa? CICERO ONLINE hat Sie zu diesen und anderen Fragen abstimmen lassen. Wir haben die Ergebnisse in Wort und Bild zusammengefasst und nutzen die Gelegenheit, um einen Blick zurück auf die spannendsten Ereignisse des Jahres zu werfen
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innenpolitik
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2011-12-28T11:52:52+0100
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2011-12-28T11:52:52+0100
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https://www.cicero.de//innenpolitik/die-meinungsbilder-des-jahres-2011/47814
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Neues Gutachten zum Vorgehen der FU - Geht die Rüge für Giffey doch in Ordnung?
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Franziska Giffey möchte nächstes Jahr Regierende Bürgermeisterin Berlins werden. Doch ihre Doktorarbeit könnte dabei zum Problem werden. Die Website VroniPlag Wiki hatte im Februar 2019 über 100 Textstellen in der Dissertation Giffeys hinsichtlich möglicher Plagiate bemängelt. In einem Gutachten, das vor ziemlich genau einem Jahr auf Druck des Allgemeinen Studierendenausschusses der Freien Universität Berlins (FU) freigegeben wurde, stellte das Gremium der FU fest, dass es durchaus Textstellen in der Arbeit gäbe, die den Tatbestand der „objektiven Täuschung“ erfüllen. Trotzdem entschied das Präsidium der FU, es bei einer Rüge gegenüber Franziska Giffey zu belassen. Sie dürfe weiter ihren Grad der „Doktorin der Politikwissenschaft“ führen. Die Berliner CDU ließ es allerdings nicht darauf beruhen und engagierte den Bonner Professor für öffentliches Recht, Klaus Gärditz, seinerseits ein Gutachten zur Causa Giffey anzufertigen. Neben inhaltlichen Kritikpunkten an einzelnen Entscheidungen des FU-Gremiums kritisierte Gärditz vor allem, dass das Berliner Hochschulgesetz das Mittel der „Rüge“ überhaupt nicht vorsehe. Entweder die FU entlastet Giffey komplett oder der Doktorgrad muss entzogen werden. Das Manöver der FU sei rechtlich nicht haltbar. Nun ist das Gegengutachten des bekannten Verwaltungsrechtlers Ullrich Battis fertig, das die FU in Auftrag gegeben hat. Obwohl das Präsidium der FU das Gutachten erst selbst ausgiebig prüfen will, bevor es an die Öffentlichkeit gegeben wird, hat er gegenüber Süddeutscher Zeitung und Berliner Zeitung bereits aus dem Nähkästchen geplaudert. So kommt Battis zu dem Schluss, dass das Vorgehen der FU, eine Rüge auszusprechen in Ordnung gehe. Das Prinzip „Ganz oder gar nicht“ sei für die Wissenschaft nicht förderlich. Es müsse einen Spielraum zwischen den Extremen geben. Die FU wäre damit vorerst in ihrem Vorgehen bestätigt, Giffey etwas milder zu behandeln. Ob für Giffey die schlaflosen Nächte vorbei sind, steht damit jedoch noch nicht fest. Battis betonte, dass er lediglich feststellte, dass eine Rüge grundsätzlich rechtens sein kann. Ob das im Fall von Frau (Dr.) Giffey so ist, will er nicht behauptet haben.
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Jakob Arnold
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Vor wenigen Woche hatte ein von der CDU Berlin in Auftrag gegebenes Gutachten festgestellt, dass die Freie Universität Berlin Franziska Giffey den Doktortitel hätte entziehen müssen. Ein neues Gutachten kommt jetzt zu einem anderen Ergebnis.
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"Franziska Giffey",
"Plagiat",
"Vroniplag",
"Doktortitel",
"Regierender Bürgermeister"
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innenpolitik
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2020-11-06T12:31:41+0100
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2020-11-06T12:31:41+0100
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https://www.cicero.de//innenpolitik/franziska-giffey-ruege-gutachten-fu-doktortitel-spd
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Griechenland-Krise - Die Politik wütet, das Volk bleibt cool
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Oje, es sagt sich wirklich nicht mehr leicht: Griechenland muss gerettet werden! Die Regierung in Athen scheint doch nicht das zu sein, was noch vor Wochen im Kanzleramt heimlich gehofft wurde: eine Art Schröder-Lafontaine-2.0. Der im Kern eigentlich pragmatisch machtinteressierte Regierungschef Tsipras, der alsbald seinen ideologisch hartleibigen Finanzminister aus dem Amt ekelt. Diese Hoffnung erklärte den Langmut nicht nur der Kanzlerin, sondern auch den des Europa-Parlamentspräsidenten Martin Schulz wie den des Kommissionschefs Jean-Claude Juncker. Doch derzeit ist kein Riss mehr erkennbar, der zu einer Abspaltung der Kommunisten aus der Syriza-Partei führen könnte. Dort herrscht, so heißt es in Berlin und Brüssel, tatsächlich ein Duo infernale. Wie das immer ist bei vertaner Liebesmüh, folgt nun auf Enttäuschung die Wut. Merkel-treuste CDU/CSU-Manager schließen den Grexit nicht mehr aus. Der Tsipras-Umarmer Juncker bricht Gespräche ab. Dem Tsipras-Schulterklopfer Schulz gehen inzwischen die Griechen „gewaltig auf die Nerven“. Zu Recht, wird da die Mehrheit in Deutschland sagen. Deshalb ist nun auch Vizekanzler Sigmar Gabriel verbal ins Lager der Griechen-Nicht-Versteher gewechselt. Wörtlich fackelt er in der Bild-Zeitung, deren Leser er wohl für besonders leicht entzündbar hält: „Wir werden nicht die überzogenen Wahlversprechen einer zum Teil kommunistischen Regierung durch die deutschen Arbeitnehmer und ihre Familien bezahlen lassen.“ Wumm! Doch eines erstaunt. War das Volk nicht schon lodernder in seiner Empörung als es jetzt auf dem Höhepunkt griechischer Dreistheit ist? Wollte es die Griechen nicht schon viel energischer aus dem Euro-Raum werfen als Tsipras noch ein krakeelendes Oppositionsfrüchtchen war und Varoufakis niemand kannte? Als in Deutschland Professoren eine Partei gründeten, die sie stolz „Euro-Gegner“ nennen ließen? Heute errechnen manche Ökonomen, dass es vielleicht besser, zumindest billiger gewesen wäre, wenn man Griechenland damals hätte Pleite gehen lassen. Andere sagen, gottlob habe die Politik da nicht auf ihr Volk gehört. Denn dann wären Zypern, Portugal, Spanien, Irland gleich mitgerissen worden und der Euro samt EU eingestürzt. Heute – das sagen alle – sei dieser Mitriss unwahrscheinlich. Wir könnten uns demnach, rein Euro-statisch sozusagen, den Grexit leisten. Und dennoch scheint die Stimmung milder zu sein, zumindest noch. Besser gesagt: weiser. Und das dem theatralischen Donnerwetter der bisherigen Griechenland-Verteidiger zum Trotz. Die Athener Regierung wird verachtet, ganz klar. Kaum ein Ernstzunehmender kann eine Koalition ernst nehmen, in der ausgewiesene Antikapitalisten und Linksaußen im Bunde mit ausgewiesenen Antisemiten und Rechtsaußen unablässig versuchen, ganz Europa zu erpressen. Denn genau das macht die Regierung Tsipras-Kammenos. Sie hat zwei fundamental gegensätzliche Forderungen: Griechenland bleibt im Euro. Und: Griechenland zahlt seine Schulden nicht zurück! Mehr noch: Griechenland akzeptiert auch keine Reformvorschläge, kürzt weder Sozialausgaben – was die Linksaußen nicht wollen – noch Rüstungsprojekte – was die Rechtsaußen nicht wollen. Und nun? Warum lässt Europa diese griechischen Gaukler nicht endlich von ihrem völlig überspannten Hochseil stürzen, indem sie es einfach kappt? Weil den Schaden dann das ganze EU-Zelt hätte. Das selbstzerstörte Griechenland würde ein weit krasserer Sozialfall der EU als bisher. Denn es bliebe ja Mitglied der Gemeinschaft, übrigens auch der Nato. Alle Hilfe würde dann für wertlose und gleichermaßen verweigerte Drachme fließen. Bessern würde sich nichts. Tragischerweise wissen eben genau das die Regierenden in Athen – und werden dafür von anderen Krisenstaaten des puren Zynismus bezichtigt. Spanien, das mit enormer Kraft den Rettungsschirm losgeworden ist, haftet mit 26 Milliarden Euro für die Reformverweigerer in Athen – so oder so. Am Ende wird die Weisheit der EU-Völker und ihrer Regierenden über allen berechtigten Zorn siegen. Griechenland wird bald sichtbar in seinem Seil hängen ohne Reformen. Doch um Europas Wirtschaft wirklich zu lähmen, ist es zu klein. Zu unbedeutend mit zwei Prozent Wirtschaftskraft der gesamten EU – Tendenz sinkend, solange diese Regierung bestimmt. Das werden irgendwann auch die Griechen kapieren. Ökonomische Stümper regieren in Demokratien nie allzu lang.
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Wulf Schmiese
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Kolumne: Leicht gesagt: Immer mehr Politiker in Brüssel und Berlin schimpfen offen über Griechenland. Sie glauben, das wolle das Volk hören. Doch dort ist die Stimmung weiser geworden. Europa wird die Griechen nicht fallenlassen, sondern kann Athen lässig verachten
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innenpolitik
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2015-06-17T11:49:20+0200
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2015-06-17T11:49:20+0200
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https://www.cicero.de//innenpolitik/griechenland-krise-die-politik-wuetet-das-volk-bleibt-cool/59414
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Nuklearabkommen zwischen USA und Russland - Jetzt ein Zeichen setzen
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Im Juni haben die USA und Russland Gespräche zur nuklearen Rüstungskontrolle aufgenommen. Die amerikanischen Unterhändler sind dabei mit weitreichenden, kurzfristig nicht erreichbaren Zielen in die Gespräche gegangen. Vor allem ging es ihnen erklärtermaßen um die Einbeziehung Chinas. Völlig offen blieb jedoch, was das Ergebnis dieser Verhandlungen unter Beteiligung Chinas sein sollte. Ein Gleichstand der Potenziale – der bisherige Maßstab für die strategischen Nuklearvereinbarungen zwischen den USA und Russland – musste von vornherein als unrealistisch ausscheiden. Es ist nicht vorstellbar, dass die USA oder Russland bereit wären, die Zahl ihrer nuklearen Sprengköpfe – nach jüngsten Zahlen 5800 bzw. 6375 – auf das vergleichsweise niedrige Niveau Chinas mit lediglich 320 Sprengköpfen zu reduzieren. Nicht überraschend war deshalb auch, dass China eine Einbeziehung in die Gespräche kategorisch abgelehnt hat. Die USA haben ihre Verhandlungsziele revidiert. Sie schlagen jetzt Russland ein Einfrieren (Freeze) aller nuklearen Sprengköpfe vor. Im Gegenzug sind sie bereit „für einen gewissen Zeitraum“ den Anfang Februar 2021 auslaufenden NewSTART Vertrag zu verlängern, der die strategischen Nuklearsprengköpfe und die Trägersysteme beider Seiten überprüfbar begrenzt. Die Details des US Vorschlags sind noch unklar. Dies gilt für technische Fragen wie die Verifizierbarkeit des Freeze aber auch die von den USA ebenfalls vorgesehene Verankerung einer künftigen Ausweitung der Vereinbarung auf China. Russlands Vizeaußenminister Sergei Rjabkow hat den amerikanischen Vorschlag bereits am 14. Oktober als inakzeptabel zurückgewiesen und eine Einigung noch vor den US-Wahlen am 3. November ausgeschlossen. Russland will sich einerseits – das ist in den Moskauer Reaktionen deutlich geworden – nicht als Wahlhelfer für Trump betätigen; andererseits würde aber auch die verbleibende Zeit bis zu den amerikanischen Wahlen für die Klärung und Abstimmung technischer Fragen eines Freeze nicht reichen. Nun hat Russlands Präsident Wladimir Putin vorgeschlagen, den NewSTART Vertrag bedingungslos um ein Jahr zu verlängern, um Zeit für Verhandlungen zu gewinnen. Tatsächlich böte dies einen Ausweg aus der gegenwärtigen diplomatischen Sackgasse. Und Donald Trump wäre gut beraten, Putins insgesamt problemlos und kurzfristig umsetzbaren Vorschlag zu anzunehmen. Denn dieser kann als Entgegenkommen gegenüber den USA gewertet werden: Putin hat nur eine Verlängerung um ein Jahr und nicht um fünf Jahre – wie im Vertrag ausdrücklich als Möglichkeit genannt – vorgeschlagen. Die USA müssten inzwischen erkannt haben, dass mit bloßem Druck und mit Setzen von Ultimaten allein gar nichts erreicht werden kann. Mit einer Verlängerung von NewSTART würde die letzte verbleibende Vereinbarung zur Abrüstung und Begrenzung nuklearer Potenziale gewahrt bleiben. Dies würde nicht nur der strategischen Stabilität zugutekommen, vertrauensbildend wirken und den drohenden nuklearen Rüstungswettlauf zunächst abwenden. Es hätte auch eine nicht zu unterschätzende Bedeutung für die Aufrechterhaltung des nuklearen Nichtverbreitungsregimes. Denn damit würden Russland und die USA, die unverändert über weit mehr als 90 Prozent der Nuklearwaffen weltweit verfügen, ihr Bekenntnis zu nuklearer Abrüstung erneuern. Und schließlich liegt der Vertrag auch im wohlverstandenen Interesse beider Staaten, sichert er doch die Transparenz und Überprüfbarkeit der strategischen Potenziale der jeweils anderen Seite. Nur bleibt bislang fraglich, ob die USA auf den Putin Vorschlag eingehen. Oder ist doch die irrationale Abneigung gegenüber dem NewSTART Vertrag, der 2010 von Präsident Obama abgeschlossen wurde, zu groß? Angesichts dessen ist nachdrückliches diplomatisches Engagement der EU gegenüber den USA auf höchster Ebene jetzt besonders wichtig. Zumindest liegt es ureigensten Interesse der Staatengemeinschaft als unmittelbarer Nachbar Russlands, hier endlich voranzukommen.
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Rüdiger Lüdeking
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Kurz vor der US-Wahl will Donald Trump eine rüstungskontrollpolitische Vereinbarung mit Russland. Allzu durchsichtig ist das damit verbundene Kalkül: Schnell noch soll so ein außenpolitischer Erfolg präsentiert werden. Die USA sollten dafür auf Wladimir Putins neuen Vorschlag eingehen.
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"START",
"NewSTART",
"Russland",
"USA",
"Nuklearwaffen"
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außenpolitik
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2020-10-18T11:53:07+0200
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2020-10-18T11:53:07+0200
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https://www.cicero.de//aussenpolitik/nuklear-abkommen-usa-russland-newstart-wladimir-putin-donald-trump
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Promis zur Krise – „Kompromisse mit Märkten gibt es nicht“
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„Sind Sie der Auffassung, dass die immer noch weitgehend
unregulierten Finanzmärkte den Wohlstand und die Demokratie
bedrohen? Falls ja, welche konkrete Forderung würden Sie an die
Politik stellen, um diese Entwicklung zu stoppen?“ Egon Bahr, Bundesminister a. D., SPD Gier global Die Gier, Geld zu gewinnen unabhängig von der Produktion, hat
von Washington bis Moskau, von Portugal bis Japan, bei Banken,
Regierungen und Kommunen zu einer Blase geführt. Als sie platzte,
mussten die Staaten mit Unsummen von Geld einspringen. Weil die
Gier nicht gestorben ist, entsteht bereits eine neue Blase. Die
Folgen eines Platzens könnten die Staaten nicht mehr bezahlen. Die
wirtschaftlichen Konsequenzen wären revolutionär. Nur die Politik
kann die Katastrophe verhindern, am besten durch globale Regeln,
jedenfalls für die USA und die EU, mindestens für Europa, notfalls
auch nur für den Euroraum. Selbst der Mindestraum würde
Attraktivität entwickeln. Falls das misslingt, wäre das die
Abdankung der Politik gegenüber der Herrschaft der Finanzmärkte und
ihren Interessen. Thomas Brussig, Schriftsteller Politik kann mehr Eine Finanztransaktionssteuer würde einem Laien wie mir sofort
einleuchten. Wenn es gerade die Aussicht auf Marginalgewinne sind,
die die Märkte nervös werden lassen und schließlich ins Rutschen
bringen, dann wird eine Finanztransaktionssteuer eben diese Art von
Marktaktivität dämpfen. Eine Transaktion würde erst getätigt
werden, wenn sie mehr Gewinn verspricht, als die Besteuerung
zunächst frisst. Die Politik hat die Mittel, um den entfesselten
Finanzmärkten einen ruhigeren Pulsschlag zu verordnen. Rudolf Dreßler, SPD-Politiker Primat der Politik Nur gesellschaftspolitische Ignoranten glauben, dass die
unregulierten Finanzmärkte Demokratie und Wohlstand nicht bedrohen.
Um die „Parallelgesellschaft Finanzmärkte“ zu entmachten, bedarf es
der Wiederherstellung des Primats der Politik in vielen Schritten.
Unter anderem: einer Finanzmarktregulierung, einer
Finanztransaktionssteuer, einer Beteiligung der Banken an bereits
entstandenen Kosten, einem Verbot von Leerverkäufen. Ein Verzicht
jedweder Art der politischen Entscheidungsträger auf
Wiederherstellung des Primats der Politik wird ihre
Abhängigkeit von den Finanzmärkten und dem Handling der
Ratingagenturen weiter erhöhen. Die Umfrage mit weiteren Antworten lesen Sie in der
Oktober-Ausgabe des Magazins CICERO. Dort finden Sie auch Texte von
Colin Crouch, Carl Christian von Weizsäcker oder Hamed Abdel-Samad.
Jetzt am Kiosk oder hier
bestellen. „Sind Sie der Auffassung, dass die immer noch weitgehend
unregulierten Finanzmärkte den Wohlstand und die Demokratie
bedrohen? Falls ja, welche konkrete Forderung würden Sie an die
Politik stellen, um diese Entwicklung zu stoppen?“ Peter Gauweiler, CSU-Politiker Wettverbot Der Verfassungsrechtler Paul Kirchhof hat nach der großen
Bankenkrise geschrieben: „Das selbstverantwortete Eigentum ist
heute mehr bedroht durch den Shareholder Value als durch den
Sozialismus.“
Ich habe eine Reihe von Punkten, deren Umsetzung aus meiner Sicht
zur Vermeidung der Fehlentwicklungen, die zur Krise geführt haben,
erforderlich sind, bereits bei der letzten Bankenkrise den
verantwortlichen Entscheidungsträgern von Union und SPD mitgeteilt.
Leider ist hier aufgrund des hartnäckigen Widerstandes aus dem
Kreise der Banken und deren vorzüglicher Kontakte in die
Ministerien, die für ihre Gesetzentwürfe immer öfter die
Anwaltskanzleien der Großbanken beschäftigen, kaum etwas getan
worden. Aus meiner Sicht müsste Folgendes getan werden:
1. Reine Wetten sind Banken zu verbieten. Prüfung der
Geschäftstätigkeit der Banken bezüglich der eingegangenen
Risiken.
2. Erhöhung der Sorgfaltspflichten der Bankiers/der
Versicherungsvorstände (Einlagen der Bankkunden/Prämienzahlungen
der Versicherten sind besonders schützenswert).
3. Erhöhung der Haftung der Verantwortlichen.
4. Vergütungssysteme müssen neben Prämien (Boni) für mittelfristig
(!) positive Ergebnisse auch Mali für negative Ergebnisse
enthalten.
5. Abfindungen sind im Falle schlechter Leistungen zu
verbieten.
6. Für jede Art von Verbriefung sind nachprüfbare Standards zu
schaffen.
Forderungen an die Rechnungslegungsexperten des International
Accounting Standards Board (IASB) bezüglich des International
Financial Reporting Standards (IFRS):
7. Vereinfachung der Internationalen Rechnungslegungsstandards
(Forderung des Präsidenten der Deutschen Prüfstelle für
Rechnungslegung).
8. Volle Information über alle Risiken aus off-balance
Zweckgesellschaften.
9. Abschaffung der Mark-to-Model Zeitwertbilanzierung.
10. Erfordernis der Objektivierung aller Jahresabschlusszahlen.
Falls diese Forderungen nicht binnen Jahresfrist vom IASB erfüllt
werden, sollte das Endorsement durch die European Financial
Reporting Advisory Group (EFRAG) verweigert werden. Sven Gigold, Grünen-Politiker Risikohaftung Unser Kernproblem ist ein exzessiver Anstieg von Kapitalvermögen
und privaten wie öffentlichen Schulden im Verhältnis zur
Realökonomie. Die Vermögen treffen auf ein schlecht reguliertes
Finanzsystem. International und besonders in Europa fehlen
entscheidungsfähige politische Institutionen. Das Verhältnis
zwischen Schulden und Realökonomie muss gesenkt werden durch eine
Kombination aus Schuldenstreichungen, Sparen, Vermögens- und
Kapitalertragsbesteuerung und Wachstumsförderung. Ein
Wachstumsprogramm muss gleichzeitig Klimagase und
Ressourcenabhängigkeit rasch reduzieren. Ein Green New Deal kann
durch politische Regulierungen und Anreize vor allem private
Investitionen in Energie- und Ressourceneffizienz, Erneuerbare
Energien und Bildung auslösen. Das Finanzsystem muss so umgebaut
werden, dass es stabiler wird, für seine Risiken selbst haftet und
die Realwirtschaft der Zukunft finanziert. Dominik Graf, Filmregisseur Vulkanausbruch Es ist faszinierend und unheimlich gleichzeitig, den
Zusammenbruch von Strukturen beobachten zu müssen, so als würde man
dem unweit stattfindenden Ausbruch eines Vulkans in Endlos-Zeitlupe
zusehen.
Die Finanzmärkte repräsentieren nichts weiter eine systemische
Logik. Das System dazu nannte man früher mal „Kapitalismus“. Wenn
man sich vor der innewohnenden Logik dieses mörderischen
Mechanismus fürchtet, dann muss man nicht herumoperieren und
verhandeln, sondern man muss diese Märkte abschalten wie ein Radio,
man muss sie schließen wie eine Fabrik, von heute auf morgen.
Kompromisse mit den Märkten gibt es nicht.
Allerdings muss man dann wohl auch noch einige andere Firmen
schließen: die Firma Europa, bzw. EU beispielsweise, die eine
ebenso lächerliche wie gefährliche Schimäre geworden ist,
weil sie mit größter und unverschämtester Selbstverständlichkeit
jeden Einzelnen von uns fürs ganz und gar ungewollte Ganze zur
Verantwortung ziehen will.
Und die Firma „westeuropäische Demokratie“, dieser angebliche
weltweite Exportschlager? Unsere Form der parlamentarischen
Demokratie erodiert inzwischen, per EU, per Wirtschaftssystem, weil
sie nur noch eine Art Polit-Konzern darstellt, einen inwendig
hohlen Verlautbarungs-Apparat, korrupt und egozentriert.
Vielleicht ist dieser Vulkanausbruch auch eine befreiende
Entwicklung. Aber zu welcher Freiheit? „Sind Sie der Auffassung, dass die immer noch weitgehend
unregulierten Finanzmärkte den Wohlstand und die Demokratie
bedrohen? Falls ja, welche konkrete Forderung würden Sie an die
Politik stellen, um diese Entwicklung zu stoppen?“ Dieter Graumann, Vorsitzender des Zentralrats der Juden in
Deutschland Lähmende Ängste Die Finanzkrise bedroht massiv unsere Gesellschaftsordnung. Geld
gründet immer auf Vertrauen. Wird das Vertrauen zerstört, wird auch
Geld wertlos. Ohne Geldsystem wird aber auch Wohlstand unmöglich.
Und wo der soziale Dschungel beginnt, endet die Demokratie. Die
schiere Angst, dass es eventuell so kommen könnte, lähmt uns heute
zu oft. Die Krise befeuert aber auch Einsichten: Die Banken müssen
uns dienen und nicht umgekehrt. Finanzmärkte sollen Risiken
effizient vermindern und nicht verursachen. Und die schier
unfassbare Gier von wenigen Finanzjongleuren ist zutiefst
unmoralisch. Daraus ergeben sich konkrete Schritte: harte Regeln,
die dem Chaos und der Gier Grenzen setzen.
Viel Vertrauen ist verspielt. Es zurückzugewinnen erfordert einen
beherzten Mix aus Kompetenz, Klugheit, Kraft und Courage. Und
Politiker, die uns Hoffnung geben und mit Leidenschaft für die
Einsicht begeistern: Der Euro ist uns keineswegs Last, sondern eine
elementare Friedensgarantie und ein ständiger Wachstumsmotor
obendrein. Dafür zu kämpfen, lohnt sich allemal. Bodo Hombach, Verleger Spielraum für Spekulanten Die globale Finanz- und folgende Wirtschaftskrise verspielt
nicht nur Geld, sondern vor allem Vertrauen in die Kompetenz und
Integrität der Eliten. Argumentationsarmut und
Legitimationsverluste der Politik erzeugen Instabilität,
Polarisierung und volatiles Wählerverhalten. Das erweitert den
Spielraum für Spekulanten, die die Krise ausgelöst haben und
Gemeinwohlorientierung für unprofessionell halten. Die haben die
Vorstädte mit angezündet. Das regt sie erneut auf und an. Ein
Teufelskreis. Politischer Konsens verflüchtigt sich, wo er jetzt
besonders nötig wäre. Gegen Abstiegsängste helfen keine
symbolischen Gesten. Die Wunschtüte ist zu voll: keine
Leerverkäufe, Zertifizierung von Finanzprodukten, staatliches
Rating, Eigengeschäfte rigide eindampfen, Hedgefonds-Regeln,
Eurobonds, kleinere EU-Zone, Tobin-Steuer, EU-Wirtschaftsregierung
etc. Maßgeschneiderte Wachstumsmodelle für die Regionalprobleme
fehlen.
Was wir brauchen? Ein kreatives Management von Unsicherheiten.
Statt spannender Hochseilakte demonstrative Bodenhaftung.
Europäische Ideals statt Deals. Intelligentes Zusammenspiel der
komplementären Kräfte: Politik, Wirtschaft, Bürgerschaft. Das
Zauberwort heißt: Dialog. Das Ergebnis heißt: soziale Kultur. In
einem schlechten Spiel helfen keine guten Spielzüge, sondern nur
bessere Spielregeln. Hier neun davon:
Der Handel mit Geld schafft keine Werte. - Es braucht hohe
Brandmauern zwischen Spiel- und Geschäftsbanken. - Man kann
nur ausgeben, was man vorher erwirtschaftet hat. - Private
Spielschulden werden nicht vom Staat ersetzt. - Subventionen sollen
Zukunft ermöglichen, nicht Vergangenheit über Wasser halten. - Auf
jedem Einkommen liegt eine soziale Hypothek. - Entbehrliche
Arbeitsplätze sind nicht entbehrliche Menschen. - Die Prinzipien
wirtschaftlichen Handelns sind: Subsidiarität, Personalität,
Solidarität. - Umsichtiges Planen braucht länger als eine
Legislaturperiode.
Das zehnte Gebot finde jeder selbst. Wie wäre es zum Beispiel
damit: Politikerdiäten orientieren sich anteilig an eingesparten
Schuldzinsen. Wladimir Kaminer, Schriftsteller Krise als Geldquelle Auch früher gab es Insiderhandel, auch früher waren
Bankgeschäfte teils undurchsichtig. Das Neue ist die Entdeckung der
„Krise“ als Geldbeschaffungsmaßnahme.
Das existierende ökonomische Modell hat es in den Genen: Jede
Spekulation ist viel gewinnbringender als Produktion, bewirkt aber
das Gegenteil von Arbeitsbeschaffung. In diesem System fällt jede
Innovation einer Spekulation zu Opfer, sie wird zu jung und zu
teuer verkauft und erdrosselt. Der Weg aus der Krise wird die
Erschaffung eines neuen ökonomischen Modells, in dem die
Innovationen sich von Finanzspekulationen abkoppeln. Auf der Basis
einer Innovation wird eben eine Produktion entstehen anstatt einer
Spekulation. Die Ökonomie wird wieder zur Politökonomie,
Kapitalismus wird sozialistischer werden müssen. Bis es so weit
ist, bleibt die Krise die effektivste Möglichkeit, Geld zu
verdienen, das aber den Menschen im Hals stecken bleibt. Navid Kermani, Schriftsteller Strafrecht anwenden Ja. Allerdings bin ich kein Finanzexperte und daher zum jetzigen
Zeitpunkt nicht sicher, welcher der verschiedenen Vorschläge,
die Märkte zu regulieren, der effektivste ist. Notwendig wäre es
wohl auch, die Möglichkeit des Strafrechts entschlossener als
bisher zu nutzen, um diejenigen zur Rechenschaft zu ziehen und auch
gesellschaftlich zu ächten, die die Verarmung ganzer Gesellschaften
billigend in Kauf nehmen oder diese sogar bewusst herbeiführen.
Gleichwohl scheint es mir zu bequem zu sein, diese oder jene
Akteure an den Börsen zu beschuldigen. Die Entwicklung an den
Finanzmärkten macht die Gier innerhalb unserer Gesellschaften,
möglichst schnell, möglichst viel Geld zu verdienen, ohne sich die
Frage nach der sozialen und moralischen Verantwortlichkeit des
eigenen Tuns zu stellen, lediglich in ihrer Abscheulichkeit und
Perversion anschaulich. Damit ist die gegenwärtige Situation Folge
und zugleich Ausdruck einer Weltsicht, die die Einbindung des
Einzelnen in ein Gemeinwesen verkennt, den Altruismus der
Lächerlichkeit preisgibt und Verzicht für die Höchststrafe
hält.
Europa lernt aus der jetzigen Krise womöglich, dass es nicht
genügt, Märkte zu vereinigen, ohne gemeinsame politische Strukturen
zu schaffen, die handlungsfähig und zugleich demokratisch
legitimiert sind. Andernfalls wird die Krise eine neue Phase des
Nationalismus einläuten, die für den Kontinent verheerend wäre. Fotos: picture alliance Die Umfrage mit weiteren Antworten lesen Sie in der
Oktober-Ausgabe des Magazins CICERO. Dort finden Sie auch Texte von
Colin Crouch, Carl Christian von Weizsäcker oder Hamed Abdel-Samad.
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Wie bedrohlich ist die Finanzkrise für unsere Demokratie? Für die Oktober-Ausgabe fragte das Magazin CICERO 50 Prominente aus Politik, Kultur und Wirtschaft. Lesen Sie im ersten Teil der Umfrage, wie Egon Bahr, Rudolf Dreßler, Peter Gauweiler und andere die Situation einschätzen.
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wirtschaft
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2011-09-30T15:54:09+0200
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2011-09-30T15:54:09+0200
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https://www.cicero.de//wirtschaft/kompromisse-mit-maerkten-gibt-es-nicht/43188
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Kristof Magnusson – Die Insel der Geschichtenerzähler
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Wer vor einigen
Jahren in den Filialen des isländischen Billigsupermarktes Bónus
einkaufte, konnte sich davon uberzeugen, dass die Isländer noch
immer ein besonderes Verhältnis zu ihrer Literatur haben. Neben den
ublichen Schokoriegeln und Kaugummis stand dort an den Kassen ein
Gedichtband im Regal, dessen Einband dasselbe rosa Sparschwein
zierte, das auch auf die Verpackung des gunstigen
Bónus-Orangensafts oder des Kuchenpapiers gedruckt war. Es handelte
sich um die «Bónus-Gedichte» von Andri Snær Magnason, eine von
Dantes «Göttlicher Komödie» inspirierte Reise durch eine
Supermarktfiliale, vom Paradies (Obstabteilung) uber das Inferno
(Fleischwaren) bis ins Fegefeuer (Haushaltsreiniger). Der Erfolg
dieser Gedichte war so uberwältigend, dass es wenig später eine
Neuauflage gab –mit 33% mehr Inhalt. Naturlich lieben
auch die Isländer ihre Fernsehserien, surfen im Internet und haben
wenig Zeit, dennoch ist das Land eine Literaturnation geblieben.
Jeder Isländer kauft im Durchschnitt acht Bucher pro Jahr, und wenn
im Dezember eine vorweihnachtliche «Bucherflut» uber das Land
rollt, sind sogar in Tankstellen die gebundenen Neuerscheinungen
ernstzunehmender literarischer Autoren zu finden. Die Wurzeln dieser
Literaturbegeisterung liegen tief in der Vergangenheit. In Island
gibt es keine romanischen Kirchen, keine Burgen, keiner der Urahnen
aus dem 15. Jahrhundert hatte das Geld, sich in Öl malen zu lassen.
Es sind einzig und allein die mittelalterlichen Handschriften, die
den Isländern etwas uber ihre Vergangenheit erzählen. Durch diese
Texte haben die Isländer auch uber Jahrhunderte dänischer
Kolonialherrschaft ihre kulturelle Identität bewahrt – ohne die
alten Sagas gäbe es das gegenwärtige Island nicht. Bis heute haben
sich die Isländer eine große Freude am Erzählen und Aufschreiben
von Geschichten bewahrt. Vom Sitznachbarn in der heißen Quelle uber
den Reiseleiter bis zum Schriftsteller erschaffen sie ein erzähltes
Island, ein Land der Geschichten, das wesentlich größer ist als die
eigentliche Fläche der Insel. Und vielleicht ist diese Erzählfreude
auch heute noch, zumindest unterbewusst, von der Sorge getrieben,
die Welt könnte diese 320.000 Leute am Rand des Polarkreises sonst
schlichtweg vergessen. Anlässlich des
Auftritts von Island als Gastland auf der Frankfurter Buchmesse
möchte ich Ihnen nun einige meiner isländischen Lieblingsbucher
vorstellen. Sie spielen in Hochhauswohnungen oder einsamen
Fischerhutten, haben liebende Dichter, besorgte Mutter oder
melancholische Haudegen zur Hauptperson, sind gerade erst
erschienen oder bereits im Mittelalter entstanden und zeugen auf
eindrucksvolle Weise von der Vielfalt der isländischen
Erzählkultur. Halldór Kiljan
Laxness, der 1955 den Literaturnobelpreis erhielt, ist der
isländische Nationaldichter. Als er 1902 geboren wurde, war Island
eine ruckständige Kolonie, in der die Wege so schlecht waren, dass
man nicht einmal Pferdekutschen nutzen konnte. Dann jedoch
katapultierte der industrialisierte Fischfang Island in die Moderne
– als Laxness 1998 starb, gab es in Reykjavik zwei Einkaufszentren
und einen Sexshop. In seinem Werk hat Laxness wie kein Zweiter
diese radikalen Veränderungen begleitet, und auch sein Leben ist
weiterhin fur viele Isländer ein Ideal. Es erfullt sie mit Stolz,
dass dieser Heimatdichter zu weltweitem Ruhm gelangte, aber nie
vergaß, wo er herkam, dass er in Kopenhagen und London wohnte,
Brecht in Ostberlin traf, in Hollywood Drehbucher schrieb, aber
fast alle seiner Romane in Island spielen ließ und seinen
Nobelpreis mit den Worten kommentierte: «Wenn ein isländischer
Dichter seine Herkunft verliert, ist der Ruhm so gut wie wertlos.»
Und obwohl Álfgrímur, die Hauptperson in Laxness’ Roman «Das
Fischkonzert», eigentlich noch ein Junge ist, muss auch er sich
bereits mit der Frage beschäftigen, wie viel Heimat er behalten und
wie viel große weite Welt er erobern will. Im Laufe des
wirtschaftlichen Aufschwungs im 20. Jahrhundert zog die isländische
Hauptstadt immer mehr Menschen an. Heute wohnen zwei Drittel der
Bevölkerung im Großraum Reykjavik, und auf jeder neuen Landkarte
finden sich immer mehr Namen von Dörfern, die eingeeingeklammert
sind, weil dort niemand mehr wohnt. So begann nach dem Zweiten
Weltkrieg auch die Literatur, sich mit einem fur die Isländer
völlig neuen Phänomen auseinanderzusetzen: der Stadt. Einar
Kárasons Romantrilogie «Die Teufelsinsel», «Die Goldinsel» und «Das
Gelobte Land» hat dem zur Großstadt werdenden Reykjavik ein
beeindruckendes Denkmal gesetzt. Kárason erzählt vom Leben einer
armen Familie im Camp Thule, einem Teil der Stadt, in dem hunderte
Menschen aufgrund der akuten Wohnungsnot in Baracken leben –eine
anarchische Wirtschaftswunderwelt voll Rock’n’-Roll-begeisterter
Kinder, verbissener Aufsteiger, angejahrter Säufer und
leichtlebiger Frauen, die sich scheinbar losgelöst von den
Traditionen des ländlichen Island durch
die urbane Moderne kämpfen. Dreißig Jahre
zuvor, 1955, sorgte Indridi G. Thorsteinsson noch fur einen
handfesten Skandal, als er in «Taxi 79 ab Station» vom einsamen
Reykjaviker Taxifahrer Ragnar erzählte, der eine Affäre mit der
eleganten, großburgerlichen – und leider auch verheirateten –Gógo
beginnt. Dann jedoch wurde der Roman, in dem das Reykjaviker
Stadtleben wie ein Film Noir vor dem inneren Auge des Lesers
vorbeizieht, zu dem Klassiker, der er bis heute ist. Ebenso modern wie
der Großstadtroman ist naturlich der leicht nostalgische Blick des
Städters auf das Landleben, den Jón Kalman Stefánsson vollzieht. In
«Sommerlicht, und dann kommt die Nacht» erzählt Stefánsson kurze
Geschichten aus einem kleinen isländischen Dorf: Der
Geschäftsfuhrer der Strickwarenfabrik will plötzlich nur noch in
die Sterne sehen; ein Junge muss miterleben, wie seine Eltern kurz
hintereinander sterben; der frisch geschiedene Rechtsanwalt
betrinkt sich im einzigen Restaurant des Ortes; eine einsame
Krankenschwester verliebt sich in einen noch einsameren Bauern. So
alltäglich diese Geschichten daherkommen, wachsen sie doch immer
uber sich hinaus – hinter der Beschreibung des Normalen lauert bei
Stefánsson stets die Frage nach dem Sinn des Lebens. Einen ganz anderen
Blick auf das ländliche Island wirft Steinunn Sigurdardóttir in
ihrem Roman «Herzort». Hier brettern Heide, ihre beste Freundin
Harpa und deren Tochter Edda in einem weißen Pick-up durch die
Bilderbuchlandschaft an Islands Sudkuste und werden von drei
Reykjaviker Problemjugendlichen verfolgt, die Edda in die
Drogenszene hineingezogen haben. Nun will Harpa ihrer Tochter
helfen, sich von der Sucht zu befreien, und kennt dafur keinen
besseren Ort als die einsamen ostisländischen Fjorde, ein
«Traumland, wo alles wächst, sogar die Seele». «Herzort» ist ein
Roman uber eine Mutter und eine Tochter, die sich bemuhen, eine
Beziehung zueinander aufzubauen, und doch letztendlich
Einzelgängerinnen bleiben. Schließlich beginnt Harpa, die diese
Reise doch eigentlich um ihrer Tochter willen unternahm, uber ihr
eigenes Leben nachzudenken: uber ihre eigene problematische Jugend,
den ersten Sex mit sechzehn, der sogleich zu der Schwangerschaft
mit Edda fuhrte. Aus der Gegend, in
der Harpa in «Herzort» ihr Heil sucht, konnte die junge Freyja in
Kristín Marja Baldursdóttirs «Möwengelächter» gar nicht schnell
genug wegziehen. Freyja ergriff als Jugendliche die erste
Gelegenheit, der provinziellen Enge dieser Fischerdörfer zu
entkommen, ging nach Amerika und heiratete. Doch einige Jahre
später kommt sie zuruck. Freyja scheint nicht mehr als den Inhalt
eines Koffers zu besitzen, doch das hält sie nicht davon ab, den
Männern mit mondänem Auftreten und nach Rita Hayworth duftendem
Parfum den Kopf zu verdrehen und ihr ganzes Heimatdorf in Aufruhr
zu versetzen. Wie in ihren erfolgreichen Romanen «Die Eismalerin»
und «Sterneneis» erzählt Baldursdóttir auch in «Möwengelächter» auf
engagierte, aber nie verbissene Weise vom Wunsch der isländischen
Frauen, ein selbstbestimmtes Leben zu fuhren. Viele isländische
Schriftsteller und Literaturliebhaber schätzen den 1888 geborenen
Thórbergur Thórdarson ebenso sehr wie Halldór Laxness. Sein
Klassiker «Islands Adel» erscheint nun endlich auch auf Deutsch.
Hier erzählt Thórdarson die Geschichte eines gleichermaßen
verplanten und verliebten Dichters, der einen ganzen Winter mit
seiner Angebeteten in Reykjavik unter einem Dach gewohnt hat, ohne
sich ihr jemals zu nähern. Sobald sie abreist, um den Sommer auf
ihrem Heimathof zu verbringen, bekommt er das Gefuhl, die Chance
seines Lebens verpasst zu haben, und reist ihr hinterher. Auf dem
Weg ist der Dichter fest entschlossen, ihr seine Liebe zu gestehen,
doch sobald er sie erblickt, ignoriert er sie, um sich nach jeder
vergebenen Chance vor tief empfundener lyrischer Sehnsucht zu
verzehren. Mit feiner Ironie und seinem unverwechselbar haspelnden,
metaphernreichen Stil transponiert Thórdarson die Motive
burgerlich-romantischer Empfindsamkeit nach Island und lässt sie an
der Realität der schlammigen, von Fischgeruch durchzogenen Dörfer
scheitern. Thórdarson hat «Islands Adel» zeit seines Lebens als
tatsachentreuen autobiografischen Text bezeichnet. Erst in den
letzten Jahren hat die Wissenschaft herausgefunden, dass er seine
Bucher durchaus etwas literarischer gestaltet hat, als es sein
Leben war. Unter den Autoren
der jungeren Generation gibt es in diesem Jahr ebenfalls viel zu
entdecken. Mit seinen «Bónus-Gedichten» hat der 1973 geborene Andri
Snær Magnason bereits bewiesen, dass er mit seiner Literatur gern
ungewöhnliche Wege geht. Wenige Jahre später wurde «Traumland: Was
bleibt, wenn alles verkauft ist?», eine Mischung aus
philosophischem Essay und Sachbuch uber die Zerstörung der
isländischen Natur durch Kraftwerksprojekte, zu einem
Sensationserfolg, der ihm traumhafte Verkaufszahlen und den
isländischen Literaturpreis einbrachte. Auch in seinem hier
vorgestellten Roman «LoveStar» stellt Andri Snær Magnason unter
Beweis, dass kaum ein anderer isländischer Autor uber ähnlich
originelle Ideen und kindliche Lust am Fabulieren verfugt wie er.
«LoveStar» ist eine skurrile Zukunftsvision: Ein verruckter
Ingenieur erfindet ein Gerät, mit dem «handfreie» Menschen Kraft
ihrer Gedanken elektronische Geräte steuern können, und betreibt
einen subpolaren Vergnugungspark, aus dem Verstorbene ins All
geschossen werden und als Sternschnuppen zur Erde
zuruckkehren. Gudrún Eva
Mínervudóttir erzählt in ihrem Roman «Der Schöpfer» von der
gestressten alleinerziehenden Mutter Lóa, die dem verkrachten
Kunstler Sveinn begegnet. Ein anderer Autor hätte daraus vielleicht
eine harmlose Liebesgeschichte gemacht, doch in Mínerudóttirs Roman
stellt sich schon bald heraus, dass Lóa Probleme hat, die weit uber
das Normalmaß hinausgehen: Ihre ältere Tochter ist magersuchtig und
hungert sich langsam zu Tode – Sveinn hingegen verdient seinen
Lebensunterhalt damit, dass er in Handarbeit eine Art
Premium-Edition von aufblasbaren Sexpuppen herstellt, die in puncto
Lebensechtheit höchsten Anspruchen genugen. In der Hoffnung, ihrer
Tochter zu einem besseren Verhältnis zu allem Körperlichen zu
verhelfen, stiehlt Lóa eine der Puppen und setzt damit ein
Verwirrspiel in Gang, an dessen Ende sich Lóa und Sveinn besser
kennengelernt haben, als es ihnen lieb ist. Dabei vermeidet
Mínervudóttir jede Schlupfrigkeit, die sich bei diesem Thema
durchaus anbieten wurde. Stattdessen stellt «Der Schöpfer»
philosophische Fragen: Wie beeinflusst das Verhältnis zum Körper
unser Denken? Was ist kunstlich und was ist Natur? Der Autor,
Performancekunstler und Musiker Sjón hat sich im isländischen
Kulturleben stets eine Sonderstellung bewahrt. Im Mainstream wie in
der Avantgarde zu Hause, liest er Lyrik in alternativen Kneipen,
hat mit «Lúftgítar» einen der größten isländischen Hits gesungen
und Björks Liedtexte fur Lars von Triers oscarnominierten «Dancer
in the Dark» verfasst. Seit er 2005 den Literaturpreis des
Nordischen Rats erhielt, ist Sjón auch im Ausland rapide bekannter
geworden, so dass sein neuer Roman «Das Gleißen der Nacht» nun
gleichzeitig in Deutschland, England, Dänemark, Schweden und
Spanien erscheint. Dieses ebenso schwer zu beschreibende wie
faszinierend zu lesende Werk spielt im 17. Jahrhundert. Die
dänischen Kolonialherren scheinen Island vergessen zu haben, bis
auf baskische Walfänger und Seeräuber lässt sich niemand blicken.
Die Einheimischen fluchten sich in Erlösungsfantasien, Hexenwahn
und furchten jede Art von Wissenschaft – sogar das Lesen wird als
Teufelswerk angesehen. Fur den nach Erkenntnis strebenden
Naturforscher Jónas Pálmason ist das keine gute Zeit. Sprachmächtig
kombiniert Sjón in «Das Gleißen der Nacht» verschiedenste
Textarten, fingierte Lexikoneinträge, Exkurse und
Bewusstseinsströme vermischen sich mit klassisch erzählten Passagen
zu dem facettenreichen Panorama einer dusteren Zeit. Einar Már
Gudmundsson hingegen hat sich in den letzten Jahren immer radikaler
der Gegenwart zugewandt. Nachdem im Herbst 2008 infolge der
Finanzkrise die drei größten isländischen Banken pleitegingen und
Woche fur Woche mehr Isländer vor dem Parlament mit Kochlöffeln auf
Töpfe schlugen und den Rucktritt der Regierung forderten, wurde
Gudmundsson eine zentrale Figur der Protestbewegung und ist derzeit
Islands prominentester politisch aktiver Autor – 2010 erschien in
Deutschland seine Polemik «Wie man ein Land in den Abgrund fuhrt».
Doch bei aller Aktualität sollte Gudmundssons 1993 erschienener,
wunderbarer Roman «Engel des Universums» nicht vergessen werden,
der in intensiver lyrischer Sprache Islands rasanten Aufstieg zur
Wohlstands-Nation aus der Perspektive eines Menschen beschreibt,
der dabei zuruckbleibt: Einar Már Gudmundssons an Schizophrenie
erkrankter Bruder Páll. Auch «Die Saga von
Grettir» aus dem 13. Jahrhundert erzählt von einem Außenseiter, der
aufgrund von psychischen Problemen aus der Gesellschaft
ausgeschlossen wird. Denn an Kraft mangelt es Grettir Ásmundarson
wahrlich nicht. Er bedient sich der rustikalen Kampftechnik, Gegner
mitsamt Waffen und Rustung bis uber seinen Kopf zu heben und dann
auf den Boden zu schmettern. Er rettet Bauersfrauen vor Berserkern.
Er ist intelligent, schlagfertig und selten darum verlegen, seine
Ruhmestaten mit Skalden-Strophen zu besingen. Doch obwohl er damit
fast alle Eigenschaften eines klassischen Helden besitzt, scheitert
Grettir immer wieder am Schicksal und an seinem aufbrausenden
Temperament. Die Leute bewundern Grettir zwar fur seine Stärke,
wollen aber im Alltag möglichst wenig mit ihm zu tun haben – die
wilde Zeit der Besiedlung ist vorbei, immer mehr Bauern etablieren
sich und freunden sich mit den Werten des Christentums an, ein
impulsiver, rachsuchtiger Mann wie Grettir passt nicht mehr in die
Zeit. Immer wieder
versucht Grettir, andere junge Isländer in Kämpfe zu verwickeln,
doch alle seine Versuche werden vereitelt. In der hier abgedruckten
Passage ist Grettirs Drang, seine Kraft zu erproben, derart stark
geworden, dass er es mit einem Untoten aufnimmt. Grettir gewinnt
zwar den Kampf, kann jedoch den wahnsinnigen Blick seines Gegners
nie mehr vergessen und ist nun erst recht unfähig, ein normales
Leben zu fuhren. So erzählt «Die Saga von Grettir» mit einer fur
mittelalterliche Literatur unglaublich modernen Figurenpsychologie
die Geschichte eines Menschen, der ein Held sein könnte und doch
zum Antihelden wird. Auch in Hallgrímur
Helgasons 2010 erschienenem Roman «Zehn Tipps, das Morden zu
beenden und mit dem Abwasch zu beginnen» geht es um einen
Gewalttäter, der eigentlich ein ganz netter Kerl ist. Es ist der
kroatische Mafiakiller Tomislav Boksic, der sich in New Yorker
Verbrecherkreisen den Spitznamen Toxic erworben hat. Nachdem er bei
Mord Nummer 66 versehentlich einen Polizisten erschießt, muss er
fliehen, doch schon am Flughafen ist ihm das FBI auf den Fersen.
Toxic versteckt sich auf der Herrentoilette, wo er einen Mann
erschlägt und dessen Pass und Flugticket stiehlt. Wenig später muss
er feststellen, dass er die Identität eines erzkonservativen
TV-Predigers angenommen hat, der auf dem Weg nach Island ist, um
dort zu predigen. So findet sich der Killer bald darauf im Studio
des isländischen Bibelsenders Amen-TV wieder. «Zehn Tipps, das
Morden zu beenden und mit dem Abwasch zu beginnen» war Helgasons
bisher größter Erfolg in Deutschland, was wahrscheinlich daran
liegt, dass hier ein Fremder einen wunderbar respektlosen Blick auf
Island wirft und ausländischen Lesern das Land dadurch auf
besonders unterhaltsame Art nahebringt. Auf ernsthaftere, aber
nicht weniger spannende Weise beschäftigt sich auch der Roman
«Frauen» des 1975 geborenen Steinar Bragi mit dem Thema Gewalt.
«Frauen» ist eine radikale Parabel auf die Hybris der Boomjahre vor
der Bankenkrise, die bemerkenswerterweise schon vor dem großen
Zusammenbruch geschrieben wurde: Die junge Performancekunstlerin
Eva kehrt nach Jahren im Ausland in ein Island zuruck, das nicht
mehr von Fischern, sondern von Investmentbankern dominiert wird.
Ein Banker stellt ihr seine mit allem Komfort ausgestattete,
bestens gegen Einbruche gesicherte Dachgeschosswohnung zur
Verfugung. Bald findet sie heraus, dass sie ihr Penthouse nicht
mehr verlassen kann. Ist die Wohnung vielleicht gar nicht
einbruchssicher, sondern ausbruchssicher? Eva wird Opfer von
sexuellen Übergriffen und begeht schließlich selbst einen Mord.
Wird sie von dem Banker verruckt gemacht oder ist sie Teil der
Gewalt-Performance eines weltberuhmten jugoslawisch-deutschen
Kunstlers? Was wie ein packender Thriller beginnt, wird zu einer
verstörenden Geschichte uber Sex, Kunst und Geld. Hat die Kunst
uber Evas Wirklichkeit gesiegt? Oder sind einzelne Leute inzwischen
so reich geworden, dass sie sich nicht nur Menschen und Kunst,
sondern gleich die ganze Wirklichkeit kaufen können? Nun wunsche ich
Ihnen viel Vergnugen mit meinen Lieblingsbuchern von dieser Insel
der Geschichtenerzähler. Beim Schreiben dieses Vorworts ist mir
klar geworden, dass diese Werke bei aller thematischen Vielfalt
doch eine Sache gemeinsam haben: Sie sind von Sonderlingen
bevölkert, von männlichen wie weiblichen Eigenbröt lern und
Unabhängigkeitsfanatikern, die oft einen ziemlichen Inselkoller
haben. Und doch werden die Helden dieser Romane nie zu
uberzeichneten Fratzen. Sie bleiben glaubwurdig, ihre skurrilen
Eigenheiten ergeben sich ganz organisch aus ihnen selbst und nicht
zuletzt aus dem Island, das sie bewohnen. P.S.:
In der isländischen Sprache gibt es einige Buchstaben, die
deutschen Leserinnen und Lesern fremd vorkommen: Es gibt ein
durchgestrichenes d, ein nach unten verlängertes b und ein a, das
einem e auf die Pelle ruckt. Daruber, wie mit diesen ð (=d), þ
(=th) und æ (ei) im Deutschen umzugehen ist, gibt es unter
Übersetzern und Islandkennern die verschiedensten Meinungen. Eine
bis ins Letzte konsequente Lösung ist hier – wie beim Übersetzen so
oft – kaum möglich. Wer alles durchgehend mit deutschen Buchstaben
schreibt, bekommt manchmal Texte, bei denen man kaum noch erkennt,
dass sie in Island spielen, und muss sich außerdem die Frage
stellen, ob er dann nicht streng genommen auch alle Ortsnamen
ubersetzen und aus Reykjavik die Rauchbuchtmachen musste. Wer
hingegen nur die isländischen Schreibweisen verwenden wollte,
musste in diesem Sommer sämtliche deutschsprachigen Buchhändler auf
eine Schulung schicken, damit sie in Zukunft einen Autor wie
Þórbergur Þórðarson in ihren Katalogen finden. Am sinnvollsten sind
also flexible Lösungen. So habe ich in diesem Vorwort, quasi zum
Einstieg, weitgehend auf isländische Schreibweisen verzichtet, in
einigen der von mir ubersetzten Texte kommen sie durchaus vor. Was
die von meinen Kolleginnen und Kollegen ubersetzten Romane
betrifft, haben wir uns bewusst gegen eine Vereinheitlichung
entschieden.
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Kristof Magnusson (geb. 1976), Sohn deutsch-isländischer Eltern, studierte am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig und lebt als Autor und Übersetzer in Berlin. 2005 erschien sein Debutroman «Zuhause», 2010 sein zweiter Roman «Das war ich nicht», beide bei Antje Kunstmann. Mehrere Jahre Aufenthalt in Island und zahlreiche Übersetzungen aus dem Isländischen, darunter Romane und Prosatexte von Autoren wie Einar Kárason und Steinar Bragi sowie isländische Theaterstucke und Lyrik, machen ihn zu einem der besten Vermittler und ausgewiesensten Kenner isländischer Literatur in Deutschland. Im März dieses Jahres erschien im Piper Verlag sein Buch «Gebrauchsanweisung fur Island». Magnussons Neuubersetzung der «Saga von Grettir» erscheint im Herbst in der funfbändigen Ausgabe der «Isländersagas» im S. Fischer Verlag.
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kultur
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2011-07-21T13:49:38+0200
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2011-07-21T13:49:38+0200
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https://www.cicero.de//kultur/die-insel-der-geschichtenerzaehler/47440
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Die Wahlbeobachter - Der Wolf und die roten Socken
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Der Wolf kommt entweder dann, wenn die Warnungen vor ihm keiner mehr ernst nimmt – oder wenn keiner mehr vor ihm warnt. Höchste Zeit also, an die Rote-Socken-Kampagne der CDU im Bundestagswahlkampf 1994 zu erinnern. Zu sehen war eine Wäscheleine, an der an einer grünen Klammer eine rote Socke baumelte. Die Botschaft: Rot-Grün wird mit der PDS koalieren oder lässt sich von den Postsozialisten tolerieren. Neu aufgelegt wurde die Kampagne vier Jahre später als Patschehändchen-Plakat: der Händedruck zwischen Wilhelm Pieck und Otto Grotewohl mit der Mahnung: „Aufpassen Deutschland!“ Interessant an den Kampagnen ist, dass sie nichts brachten. Zu platt, zu gestrig, zu unwahrscheinlich, zu anti-ostdeutsch. Inzwischen gilt als Konsens, dass jede Wiederholung der Warnung vor Rot-Rot-Grün eine Frischzellenkur für die Linke und ein Stimmabgabemotivator für lethargische Sozialdemokraten wäre. Also Finger davon! Und hat nicht die SPD-Führung ein solches Bündnis nach dem 22. September oft genug ausgeschlossen? An dieser Stelle fängt die Sache an, interessant zu werden. Denn in Wahrheit ist ein rot-rot-grünes Bündnis heute wahrscheinlicher, als es jemals zuvor war. Der Kopfschüttelreflex verstellt den Blick auf einige fundamentale Veränderungen. Da ist, erstens, der Abgang von Oskar Lafontaine. Nicht nur Günter Grass sah in ihm stets den schmierigen Verräter, der das größte Hemmnis auf dem Weg zu einer Annäherung von SPD und Linkspartei sei. Ohne Lafontaine fehlt der Abgrenzung das affektive Moment. Über unterschiedliche und gemeinsame Inhalte könnten sich Sigmar Gabriel und Katja Kipping problemlos verständigen. Da ist, zweitens, das Trauma der großen Koalition. Zusammengefaltet, eingetütet, bis zur Bedeutungslosigkeit von Angela Merkel eingemeindet. Der Schwanz sein, mit dem der Hund wedelt: Das wollen die Genossen nicht noch einmal erleben. Mit geballter Faust in der Hosentasche murmeln sie den Nie-Wieder-Schwur. Da sind, drittens, Andrea Ypsilanti und Hannelore Kraft. Ypsilanti fiel 2008 mit ihrem Wortbruch zwar krachend auf die Nase, aber der Sonderparteitag der hessischen SPD hatte ihren geplanten Kursschwenk mit knapp 96 Prozent der Stimmen abgesegnet. Ein stolzes Ergebnis. Zwei Jahre später zeigte dann Kraft in Nordrhein-Westfalen, wie’s richtig geht. Rot-Grün hatte die absolute Mehrheit verfehlt, konnte aber mit Hilfe der Linkspartei als Minderheitsregierung die amtierende Truppe von Jürgen Rüttgers in die Opposition zwingen. Zwei Jahre später fanden vorgezogene Neuwahlen statt, die Ministerpräsidentin legte durch den Amtsbonus zu und konnte fortan mit den Grünen ohne Linkspartei regieren. Das führt, viertens, zur SPD und Merkel. Gabriel weiß, dass die CDU ohne Merkel nur noch ein Torso ist. Wenn es der SPD gelingt, mit welchen Tricks auch immer, die Kanzlerin zu entmachten, fällt ihr die politische Zukunft – wie einst Hannelore Kraft – in den Schoß. Andernfalls wäre die Perspektivlosigkeit perpetuiert. Opposition aber ist Mist. Daher der Plan des SPD-Vorsitzenden, unmittelbar nach der Wahl einen Parteikonvent einzuberufen. An der Basis und in der mittleren Funktionärsebene ist Rot-Rot Grün kein Schreckgespenst. Zumal, fünftens, Rot-Rot-Grün bereits jetzt eine Mehrheit im Bundesrat hat, also im Gegensatz etwa zu Schwarz-Grün Politik gestalten und durchsetzen könnte. Das würde die mögliche Labilität einer solchen Koalition ausgleichen. Bleiben als Unsicherheitsfaktor allein die Grünen. Sie haben einst das Erbe der DDR-Bürgerrechtsbewegung „Bündnis 90“ angetreten, mussten sich aber noch nie entscheiden, ob sie mit der Nachnachnachfolgepartei der SED gemeinsame Sache machen wollen. Doch womöglich gilt für sie das, was Gregor Gysi kürzlich sagte: „Die Grünen sind so scharf aufs Regieren, die werden viele Kompromisse eingehen. Sie würden wohl auch Schwarz-Grün machen. Bei uns müssten sie einige Kröten schlucken.“ Die Geschichte vom Wolf und dem Hirtenjungen endet übrigens so: „Eines Herbstabends, als sich der Hirtenjunge mit den Schafen auf den Heimweg machen wollte, kam tatsächlich ein Wolf. Der Bursche schrie voller Angst: ,Der Wolf! Der Wolf will eines der Schafe holen!’ Doch diesmal kam nicht ein einziger Bauer. Und so trieb der Wolf die Schafe in die Berge und fraß sie alle auf.“
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Malte Lehming
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Früher warnten die anderen Parteien immer wieder vor den Linken. Das ging daneben - und brachte nichts. Heute steht fest: Ein rot-rot-grünes Bündnis ist wahrscheinlicher denn je
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innenpolitik
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2013-08-15T15:40:37+0200
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2013-08-15T15:40:37+0200
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https://www.cicero.de//innenpolitik/die-wahlbeobachter-der-wolf-und-die-roten-socken/55410
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Nein zur doppelten Staatsbürgerschaft - Ausverkauf der Demokratie
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In einer Diskussionsrunde bei Anne Will im April dieses Jahres wurde ein neuer Gast vorgestellt: Mustafa Yeneroğlu, der als Abgeordneter für Erdogans Partei AKP im türkischen Parlament sitzt. Vor seinem erfolgreichen Wechsel in die türkische Politik bekleidete er, wenn auch nicht allzu lange, das Amt des Generalsekretärs der „Islamischen Gemeinschaft Milli Görüs e. V.“. Das Bundesamt für Verfassungsschutz bescheinigt Millî Görüş ein antidemokratisches Staatsverständnis und Ablehnung der westlichen Demokratie. Vor diesem Hintergrund ist die Vermutung nicht abwegig, dass der AKP-Abgeordnete sich nach Kräften dafür engagiert, Deutschtürken für seine Partei zu mobilisieren und den Einfluss der Türkei auf die deutsche Politik zu stärken. Doch das Besondere an seiner grenzübergreifenden politischen Tätigkeit ist der Umstand, dass er die doppelte Staatsangehörigkeit besitzt. Herr Yeneroğlu, ein deutscher Staatsbürger, ist also für eine ausländische Partei tätig und trägt zur Verbreitung ihrer Werte in Deutschland bei. Bei Anne Will wurde dieser Widerspruch nicht thematisiert. So entstand der Eindruck, es sei völlig normal und legitim, als deutscher Staatsbürger im türkischen Parlament zu sitzen. Dabei führt der Fall Yeneroğlu ein politisches Konfliktpotenzial vor Augen, das die Mehrstaatlichkeit gerade dann in sich birgt, wenn ein Bürger Demokratie und Autoritarismus in einer Brust vereinen soll. Den potenziellen Konflikt erkennt auch der Gesetzgeber, der im Einbürgerungsgesetz nahelegt: „Grundsätzlich gilt im Rahmen der Einbürgerung das Prinzip der Vermeidung von Mehrstaatigkeit“. In der Tat erfährt der Ausländer, der den Antrag auf Einbürgerung stellt, dass er sich aus seiner ursprünglichen Staatsangehörigkeit auszubürgern und dieses Verfahren durch eine Konsulats-Bescheinigung zu belegen habe. Diese Klausel hin oder her: Jedem Ausländer sind zahlreiche Landsleute bekannt, die vom Vermeidungspassus nicht betroffen zu sein scheinen. Denn von den EU-Bürgern einmal abgesehen, gibt es in der Bundesrepublik nennenswerte Gruppen, die auch weiterhin ihre Pässe legal behalten dürfen. Dazu gehören zum Beispiel Kontingentflüchtlinge und Spätaussiedler. Man könnte meinen, Flüchtling ist jener, der in seinem Land verfolgt wurde und nicht zurückkehren darf. Wenn er jedoch nicht verfolgt wird, hat er kein Anrecht auf diesen Status. Wer als Flüchtling seine Ferien in seiner Heimat verbringt, führt diesen Status ad absurdum. Ein Russlanddeutscher, der in seinem Land zur diskriminierten Minderheit gehörte und das „Recht auf Heimat“ in Anspruch genommen hat, erhält die deutsche Staatsbürgerschaft automatisch. Im Vergleich zu anderen Anwärtern ist das ein großes Privileg, denn die meisten Ausländer müssen mehrere Jahre auf die Einbürgerung warten und ihre ursprüngliche Staatsangehörigkeit aufgeben. Tatsache ist also: „Ausländische Mitbürger“ sind vor dem Einbürgerungsgesetz nicht gleich. Die einen müssen Mehrstaatigkeit vermeiden, den anderen wird sie gestattet. Anstatt jeden Antragsteller nach gleichen Regeln einzubürgern, wird die Unterscheidung verschiedener Herkunftsgruppen zu quasi ethnischen Minderheiten festgeschrieben. Viele mögen in der Mehrstaatlichkeit einen Fortschritt und eine Entwicklung hin zum Weltstaat ohne Grenzen erkennen. Das ist eine Utopie. Praktisch bedeutet dies die Relativierung des Staates in seinen Grenzen – und damit seiner Souveränität – wie auch die Relativierung des Souveräns als Gemeinschaft der Staatsbürger. In Wirklichkeit wird die Staatsangehörigkeit, ähnlich wie die Volkszugehörigkeit in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts, immer häufiger als Instrument der Geopolitik benutzt. So sucht Russland, die „russische Welt“ jenseits seiner Grenzen für seine geostrategischen Interessen zu vereinnahmen. Es nimmt sich das Recht heraus, russischsprachige Minderheiten – mögen sie auch längst eine andere Staatsangehörigkeit angenommen haben – in den jeweiligen Gebieten zu „schützen“. Auch die Landnahme wie etwa in Abchasien, Süd-Ossetien, Transnistrien und auf der Krim wurde von der Einbürgerung der Bevölkerung durch die Ausgabe russischer Pässen begleitet, um deren Abspaltung festzuschreiben. Und auch die EU-Mitglieder Rumänien und Ungarn verliehen Moldawiern und Ungarn in der Westukraine die begehrten EU-Pässe. In den 1990er Jahren ließen türkische Konsulate ihre ausgebürgerten Landsleute, nachdem sie in den Besitz deutscher Pässe gekommen waren, gerne wieder eintürken. Es gehört inzwischen zum bewährten Arsenal revanchistischer Mächte, die Diaspora für innenpolitische Zwecke und für das Schüren von Konflikten in benachbarten Staaten zu instrumentalisieren. Es ist schon verrückt: Die deutsche Staatsangehörigkeit gehört nach der amerikanischen, britischen und schweizerischen zu den am meisten begehrten der Welt. Viele verkaufen ihre Seele, um deutscher Staatsbürger zu werden. Doch die Deutschen scheinen ihre Staatsbürgerschaft durch Ausnahmen und Kompromisse immer mehr zu entwerten. Der Gesetzgeber sollte den Bacchanalien der Mehrstaatlichkeit einen Riegel vorschieben. Wer deutscher Bürger werden will, soll seine frühere Staatsangehörigkeit aufgeben, und zwar ohne Ausnahmen und ohne Boni. Die Staatsbürgerschaft darf nicht zum Wechselgeld geopolitischer Rangeleien und Interessenkonflikte werden. Sonst kann die Zeit kommen, da alle im Land zwar Staatsangehörige sind, aber niemand mehr Bürger.
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Sonja Margolina
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Die doppelte Staatsangehörigkeit gilt vielen als Geschenk der Globalisierung. Doch dadurch wird die Staatsbürgerschaft entwertet und der Nationalstaat verliert an Bedeutung. Eigentlich dient die Mehrstaatlichkeit geostrategischen Interessen
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innenpolitik
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2016-05-27T13:52:49+0200
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2016-05-27T13:52:49+0200
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https://www.cicero.de//innenpolitik/nein-zur-doppelten-staatsbuergerschaft-ausverkauf-der-demokratie/60940
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Haushalt von Olaf Scholz - Für die Hiesigen nichts, für draußen mehr
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Feinsinn und Humor sind nicht zwingend ein Zwillingspärchen. „Die rote Null“ titelt die taz und färbt Finanzminister Olaf Scholz entsprechend ein. Das etwas platte Plakat auf der größten Schülerzeitung der Welt signalisiert dem Vizekanzler der dritten Merkel-Groko aber, worauf er sich gefasst machen kann über die kommenden Wochen. Scholz stellt seinen ersten Bundeshaushalt bis 2022 vor. Er will dabei nicht vom harten Sparkurs abrücken, muss der Verteidigungsministerin noch zusätzliche drei Milliarden für eine marode Bundeswehr überlassen und sieht sich mit einer Forderung des Entwicklungsministers konfrontiert, der bei einem Etat von etwa acht Milliarden Euro eine Milliarde obendrauf haben möchte. Zeitgleich plant EU-Haushaltskommissar Günther Oettinger den Etat der Europäischen Union für die kommenden Jahre und fordert von Deutschland etwa zwölf Milliarden Euro zusätzlich jedes Jahr. Da kommt ein Finanzminister, insbesondere von der Sozialdemokratie, gehörig in die Klemme. Denn einerseits muss er Milliardenforderungen erfüllen, die der ganzen Welt und den umliegenden europäischen Nachbarn zugute kommen sollen, auch wenn manches vom deutschen EU-Geld natürlich über die Strukturhilfen wieder zurückfließt. Andererseits tut er nichts dafür, ganz normal verdienende Arbeitnehmer zu entlasten. So nimmt er zwar die globale Verantwortung Deutschlands wahr, vergisst dabei aber seine treuhänderische Verantwortung gegenüber dem deutschen Steuerzahler. Die leiden als Kleinsparer unter der Niedrigzinspolitik des EZB-Präsidenten Mario Draghi, die das Wunder der schwarzen Null im Bundeshaushalt erst möglich macht. Und müssen obendrein für die mindestens 25 Milliarden Euro aufkommen, die im Jahr in Deutschland für die unmittelbaren Folgen der europaweit einzigartigen Flüchtlingspolitik ausgegeben werden. Für die Hiesigen nichts, für die draußen mehr. Das ist zwar eine polemische Zuspitzung, aber sie hat einen insoweit wahren Kern, dass damit politisch agitiert werden kann. Denn es sieht tatsächlich durch die Gleichzeitigkeit der Ereignisse schwer danach aus, dass eine Fernstenliebe in der deutschen Politik diejenigen außer Acht lässt, die mit ihren Steuern diese Fernstenliebe erst möglich machen. Die sogenannte kalte Progression frisst inzwischen schon einem erfolgreichen Facharbeiter die Gehaltserhöhungen komplett weg, die er in den Jahren davor erhalten hat. Er hat also persönlich nichts von dem Boom, der Deutschland erfreulicherweise seit Jahren brummen lässt, sondern muss seinen Anteil an dieser erfreulichen Entwicklung fast komplett in Scholz‘ Staatssäckel geben. Da stimmt was nicht. Wenn Olaf Scholz da keine Einsicht zeigt, dass der in ganz normalen Arbeitsverhältnissen stehende Teil der Bevölkerung, den man gemeinhin als Mittelschicht bezeichnet, nicht vernachlässigt werden sollte, wenn die Steuereinnahmen sprudeln, dann wird die SPD als natürliche Lobbyistin dieser Klientel das büßen müssen. Im Moment steht sie in den Umfragen bei 18 Prozent. Das muss noch nicht der Boden sein.
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Christoph Schwennicke
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Obwohl er der SPD angehört, will Finanzminister Olaf Scholz bei seinem ersten Bundeshaushalt nicht vom harten Sparkurs abrücken. Der Steuerzahler hat nichts vom Boom, muss aber weiterhin für teure Maßnahmen wie die Flüchtlingspolitik aufkommen. So verprellt Scholz die Klientel seiner Partei
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"Haushalt",
"Olaf Scholz",
"Günther Oettinger",
"Steuern",
"Flüchtlingspolitik"
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innenpolitik
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2018-05-03T17:33:06+0200
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2018-05-03T17:33:06+0200
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https://www.cicero.de//innenpolitik/haushalt-von-olaf-scholz-fuer-die-hiesigen-nichts-fuer-die-draussen-mehr
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Presserat versus Bild
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Der Deutsche Presserat ist eigentlich ein Gremium der medialen Selbstverwaltung, besetzt zu gleichen Teilen mit Journalisten und Verlegern. Ein Schiedsrichter, an den sich jeder wenden kann, wenn Zeitungen oder Zeitschriften gegen die journalistische Ethik – fixiert im Pressekodex – verstoßen. Der Presserat kann dann Sanktionen verhängen. Eigentlich eine seriöse, vertrauenswürdige Institution. Im jüngsten Fall zur Syrien-Berichterstattung von Bild Online aber gibt das Gremium kein gutes Bild ab. Da verharmlost der Presserat Bomben und Gräueltaten von Putin und Assad als „kritikwürdig“. Und Bild Online-Chef Julian Reichelt wirft dem Gremium vor, sich zum „Handlanger der Kreml-Propaganda“ zu machen. Für beide Seiten ist das, bei einem solch ernsten Thema, peinlich. Zur Klarstellung: Die Bild-Zeitung und ihr Webableger gehören zu den regelmäßig Gerügten des Presserates. Dort wird journalistische Ethik mitunter sehr originell ausgelegt, wenn sie denn überhaupt zur Kenntnis kommt. Im vorliegenden Fall berichtete Bild Online am 12. Februar über russische Luftangriffe in Syrien kurz nach einem Treffen der Kriegsbeteiligten in München. Der Titel der Geschichte: „Nach der Einigung in München – Putin und Assad bomben weiter!“. Bild Online dokumentiert die Gräueltaten gewissenhaft, zeigt Fotos der Vakuum-Bomben, zitiert örtliche Quellen. Der Vorwurf des Presserates: Bild Online habe suggeriert, dass die russischen und syrischen Truppen einen vereinbarten Waffenstillstand verletzt hätten, den es gar nicht gegeben habe. In der Begründung heißt es: „Dem Beschwerdeführer ist darin zuzustimmen, dass ein durchschnittlich verständiger Leser – auf einen solchen ist hier bei der Prüfung des Pressekodex abzustellen – den Artikel so auffasst, dass die Einigung auf eine Feuerpause von einer Partei gebrochen wurde.“ Das werde unterstrichen durch eine Formulierung im Artikel, wonach die Bombardements sich „nur wenige Stunden nach der nächtlichen Einigung auf eine Feuerpause“ ereignet hätten.“ Tatsächlich hätten sich die USA, Russland und andere Konfliktparteien aber in München auf eine Reduzierung der Gewalt und ein Ende der Kampfhandlungen binnen einer Woche geeinigt. Außenminister Frank-Walter Steinmeier sagte direkt nach dem Syrientreffen: „Seit heute Abend, hier in München, gibt es die klare Münchener Verpflichtung für alle Seiten, innerhalb von wenigen Tagen alles für eine landesweite Feuerpause zu tun [wohlgemerkt: nicht im Kampf gegen IS und al- Nusra]“. Der Presserat sieht den Verstoß gegen die publizistischen Grundsätze als „so schwerwiegend“ an, dass er eine Missbilligung aussprach. Das ist das zweitschärfste Mittel nach der Rüge. Bild Online-Chef Reichelt moniert, der Presserat habe sich „auf beschämende Art und Weise zum Schutzpatron zweier Regime gemacht, die ihre Schandtaten durch Scheindiplomatie, leere Versprechungen, gezielte Desinformation und Propaganda zu vertuschen versuchen“. Der Vorsitzende des Presserates, Lutz Tillmanns, entgegnete, Reichelt argumentiere hier „gesinnungspolitisch“, wenn er dem Presserat eine „Pro-Putin-Kampagne“ unterstelle. Das Gremium habe rein nach journalistischen Handwerkskriterien entschieden. Da hat er Recht. Nur: Dann hätte auch der Beschwerdeausschuss nicht politisch argumentieren dürfen. Denn in dem Schreiben des Presserates an Bild Online-Chef Reichelt heißt es weiter: „Ebenso erweckt der Artikel für den Durchschnittsleser den Eindruck, nur eine Konfliktpartei sei nach der Einigung weiterhin militärisch aktiv. Tatsächlich führte allerdings auch die USA im Rahmen ihres Kampfes gegen den IS weiterhin Bombardements durch.“ Hier stellt das Gremium die russischen Angriffe gegen unbescholtene Zivilisten auf die gleiche Stufe wie die amerikanischen Bomben gegen Terroristen. Schlimmer: Es will den Medien implizit vorgeben, gleichwertig über russische wie amerikanische Angriffe zu berichten. Wie brutal aber die Putin-Bomber vorgingen, berichtete Bild Online unter Berufung auf einen örtlichen Aktivisten: „Helfer des Zivilschutzes versuchten Verschüttete zu retten, als russische Flugzeuge einen weiteren Luftschlag auf die gleiche Stelle flogen“. Dabei sei ein Zivilschutz-Mitarbeiter getötet worden. Insgesamt starben bei Angriffen mit 20 Vakuum-Bomben 16 Menschen, Dutzende wurden verletzt. Die amerikanischen Militäraktionen gegen den „Islamischen Staat“ dagegen waren nach den Verhandlungen von München legitim. Alle Konfliktparteien hatten sich darauf geeinigt, dass Angriffe gegen Terrormilizen weiterhin geführt werden dürften. Der IS und die Al-Nusra-Front waren explizit aus der geplanten Feuerpause ausgenommen. Vielleicht hätte auch der Presserat hier einmal recherchieren sollen.
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Petra Sorge
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Der Presserat hat eine Missbilligung gegen die Syrien-Berichterstattung von Bild Online ausgesprochen. Bild-Online-Chef Julian Reichelt bezeichnete den Presserat daraufhin als „Handlanger des Kreml“
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"Deutscher Presserat",
"Bild",
"Missbilligung",
"Medien",
"Kolumne"
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innenpolitik
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2016-06-17T14:32:31+0200
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2016-06-17T14:32:31+0200
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https://www.cicero.de//innenpolitik/streit-presserat-und-reichelt-die-bildzeitung-als-hort-der-moral
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Die „taz“ in der Krise - In den Untiefen des Multikulturalismus
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Bundesinnenminister Horst Seehofer hat sich in den vergangen Tagen einmal mehr als ein Meister des siegreichen Rückzugs erwiesen. Nachdem er Anfang der Woche eine Anzeige gegen die Mitarbeiterin der Taz Hengameh Yaghoobifarah angekündigt hatte, hatte Seehofer damit maximale öffentliche Aufmerksamkeit auf ihre Kolumne „All Cops are berufsunfähig“ gelenkt. Zugleich nötigte Seehofer die Redaktion der Taz und ein weites publizistisches und politisches Umfeld zur Solidarisierung gegen diesen staatlichen Eingriff in die Pressefreiheit. Vier Tage später legte er – nach Rücksprachen mit seinem Haus und vor allem der Kanzlerin – den Schalter wieder um: Keine Anzeige; die Sache werde, obgleich weiterhin durchaus strafwürdig, dem Urteil des Deutschen Presserates als ethischem Selbstkontrollorgan der JournalistInnen anheimgestellt. Mag sein, dass sich Seehofer eine juristische Klatsche ersparen wollte, die angesichts der bisherigen Rechtssprechung in ähnlich gelagerten Fällen wohl eindeutig ausgefallen wäre. Der Rechtsanwalt von Yaghoobifarah, Johannes Eisenberg, hatte schonmal vorab einen möglichen Urteilstenor vorgezeichnet: „Seit der grundstürzenden Entscheidung ‚Soldaten sind Mörder‘ des Bundesverfassungsgerichts vom 10. Oktober 1995 wissen wir, dass sich bei herabsetzenden Äußerungen unter einer Sammelbezeichnung die Grenze zwischen einem Angriff auf die persönliche Ehre geschützt ist und die Beschränkungen der Meinungsfreiheit rechtfertigt, und einer Kritik an sozialen Phänomenen, staatlichen oder gesellschaftlichen Einrichtungen oder sozialen Rollen und Rollenerwartungen nicht scharf ziehen“ lässt und dass „einer Bestrafung wegen derartiger Äußerungen […] deswegen stets die Gefahr überschießender Beschränkungen der Meinungsfreiheit innewohnt.“ Dem Ruf, die Meinungsfreiheit zu beschränken, will sich kein Gericht gerne aussetzen, weshalb es wohl auch in der Causa Yaghoobifarah zu einem Freispruch gekommen wäre. Eingedenk dieser Möglichkeit und mit einer entsprechenden Ermahnung der Bundeskanzlerin im Ohr entschied nun Seehofer, die Chose dem Deutschen Presserat als dem zuständigen Selbstverwaltungs- und Kontrollorgan der Medienschaffenden zu überlassen. Der Pressekodex, an dem dieser sich orientiert, nennt „die Achtung vor der Wahrheit, die Wahrung der Menschenwürde und die wahrhaftige Unterrichtung der Öffentlichkeit“ ihre obersten Gebote. In seiner Ziffer 12 heißt es: „Niemand darf wegen seines Geschlechts, einer Behinderung oder seiner Zugehörigkeit zu einer ethnischen, religiösen, sozialen oder nationalen Gruppe diskriminiert werden.“ Die vom Presserat zu klärende Frage wäre also, ob Yaghoobifarah gegen diese Vorgabe verstoßen hat, als sie in ihrer Kolumne als einzige Option auf die Müllkippe kam – nachdem sie eine Reihe von Varianten eines alternativen Berufslebens für Polizisten verworfen hatte. Und zwar „nicht als Müllmenschen mit Schlüsseln zu den Häusern, sondern auf der Halde, wo sie wirklich nur von Abfall umgeben sind. Unter ihresgleichen fühlen sie sich bestimmt auch selbst am wohlsten.“ Der Presserat wird darüber entscheiden müssen, ob darin eine Schmähung der Polizisten zu erkennen ist. Rund 300 entsprechende Beschwerden, unter anderem von den Polizeiverbänden und -gewerkschaften, sind inzwischen bei ihm eingegangen. Die Wahrscheinlichkeit, dass der Presserat diesen stattgeben wird, dürfte größer sein als die Neigung eines Strafgerichtes gegen Yaghoobifarah – und damit gegen die Pressefreiheit – zu urteilen. Seehofer hätte in diesem Fall nicht nur in vorbildlicher Weise die Unabhängigkeit der Vierten Gewalt respektiert, sondern auch eine weitere Debatte über den Umgang mit Diskriminierung, nicht nur in der Polizei, sondern vor allem in den Medien befördert. Solchermaßen würde der Presserat die öffentliche und Taz-interne Auseinandersetzung begleiten, die an der Frage der Zulässigkeit der Kolumne ihren Ausgang nahm und die sich mittlerweile zu einer Debatte um journalistisches Selbstverständnis in einer multikulturellen Gesellschaft geweitet hat. „Das Ringen in der Redaktion über den Text und darüber, was gesagt werden soll, darf und muss,“ befindet die Chefredakteurin Barbara Junge. Zudem legt es „aber auch einen tieferen Konflikt in der Taz offen. Wir streiten darum, wie stark der subjektive Blick, wie stark Diskriminierungserfahrung den Journalismus prägen soll oder darf. Identität, Repräsentation und Antidiskriminierung haben in den gesellschaftlichen Debatten inzwischen einen ganz anderen Stellenwert. Die Frage, ob das einen anderen Journalismus definieren darf oder muss, hat zu einem lange schwelenden Konflikt in der Taz geführt.“ Dieser Identitätskonflikt der Taz, der durch „Black Lives Matter“ und vergleichbare soziale Bewegungen täglich neue Nahrung erhält, bringt die langjährige Redakteurin Barbara Dribbusch zu der weiter reichenden Existenzfrage, „ob die Taz in wenigen Jahren eine linke Aktivisten- und Bloggerplatform im Netz ist und damit überlebt, oder ob sie eine Zeitung im E-Paper-Format mit journalistischen Regeln bleibt, aber eben nicht wirklich konkurrenzfähig mehr ist wegen knapper Ressourcen.“ Wegen dieser knappen Ressourcen werden beide Varianten wohl noch einige Zeit unter dem gemeinsamen Dach mehr schlecht als recht koexistieren, und Texte wie der von Yaghoobifarah werden auch weiterhin dazugehören. Allerdings werden sie, als Ausfluss des aktuellen Konfliktes, sich in stärkerem Maße als bisher an den Maximen der Menschenwürde zu orientieren haben. Nicht allein, weil andernfalls wieder eine Anhörung vor dem Presserat droht, sondern weil durch diesen Konflikt wieder in das Bewusstsein gedrungen sein dürfte, dass die Menschenwürde der normative Ausgangspunkt aller auf Diversity abhebenden Verhaltensregeln und sprachlichen Vorgaben sein sollte. Ein Text, der sie missachtet, stellt damit die Glaubwürdigkeit des eigenen schreibenden Engagements infrage. Und einen solchen Widerspruch wird auch die Taz nicht lange aushalten können.
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Dieter Rulff
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Innenminister Horst Seehofer hat von einer Anzeige Abstand genommen. Nun entscheidet der Deutsche Presserat, ob die „Taz“-Kolumnistin Yaghoobifarah gegen den Pressekodex verstoßen hat. Der Fall hat die Frage aufgeworfen: Wie subjektiv darf Journalismus sein?
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[
"taz",
"Journalismus",
"Meinungsfreiheit",
"Deutscher Presserat",
"Horst Seehofer",
"Hengameh Yaghoobifarah",
"Zukunft",
"Pressefreiheit",
"Linke Gewalt",
"Pressekodex",
"Kanzlerin",
"Angela Merkel"
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innenpolitik
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2020-06-29T10:45:42+0200
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2020-06-29T10:45:42+0200
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https://www.cicero.de//innenpolitik/taz-kirse-hengameh-yaghoobifarah-kolumne-untiefen-multikulturalismus-horst-seehofer-anzeige-presserat-pressefreiheit
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SPD-Steuerpläne - Machtwille schlägt Gerechtigkeitsideal
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Was ist nur los in der SPD? Gerade haben wir gedacht, Peer Steinbrück nimmt nach den Kapriolen der Vergangenheit die letzten vier Wahlkampfwochen sportlich gelassen, erzählt überall von seiner populären „Fahrradkette...“ und wird so am Ende doch noch ein achtbares Wahlergebnis einfahren. [video:Hätte, hätte, Fahrradkette: Der Steinbrück-Song] Doch nun stellt er sich neben Sigmar Gabriel, den Parteichef, und beide verkünden in großer Eintracht mal ebenso und nebenbei, dass eines der zentralen Versprechen des Wahlprogramms nicht mehr gilt. Oder zumindest nur noch eingeschränkt. Teilweise. Auf jeden Fall aber nicht mehr so, wie man das noch bei den Parteitagen im letzten Winter und dann auch im Frühling nochmal unter dem tosenden Applaus der SPD-Mitglieder bekräftigt hatte. Und, was am wichtigsten ist: Wie es im Wahlprogramm der SPD verankert ist. Einem Dokument, das die Partei demokratisch legitimiert hat und mit dem sie sich bei den Wählern am 22. September um Stimmen bewirbt. Eines ist klar: Die SPD hat in diesem Programm eine höhere Belastung der Gutverdienenden, Reichen und Vermögenden mit Steuern angekündigt. Höherer Spitzensteuersatz, höhere Erbschaftssteuer und auf jeden Fall Besteuerung von Vermögen. Der Grund für die Steuererhöhungspläne der SPD war nicht oder allenfalls nur am Rande ein dickes Loch, das im Haushalt des Staates klafft und mit den Mehreinnahmen gestopft werden muss. Da war doch mal was mit Gerechtigkeit Die Begründung der Sozialdemokratie war schlicht und überzeugend: Es gibt ein Gerechtigkeitsproblem. Ein „neues soziales Gleichgewicht“ in Deutschland hatte Steinbrück angemahnt und „die Bändigung von Fliehkräften in unserer Gesellschaft“ in Aussicht gestellt. Beiträge dazu sollen die Bezieher hoher Einkommen leisten. Damit mehr in Bildung investiert werden kann und in den Schuldenabbau. Das war keine wohlschmeckende Botschaft, die die SPD den Wählern mit gutem Einkommen und den Mittelständlern überbracht hat. Und mancher war auch verwundert, wie vehement sich ausgerechnet Angela Merkels Ex-Finanzminister, eben Peer Steinbrück, für die Einführung einer Vermögenssteuer aussprach. Aber das Gerechtigkeitsargument hat letztlich viele überzeugt. Denn es liegt darin ja eine innere Wahrheit. Nun wissen wir, dass es die SPD mit der Gerechtigkeit wohl doch nicht ganz so ernst gemeint hat. Zwar sollen die Steuern erst mal angehoben werden, beteuern Steinbrück und Gabriel. Wenn man dann aber Steuerschlupflöcher geschlossen hat, versprechen beide, habe man genug Geld und könne wieder über die Senkung der Steuern für die Besserverdiener reden. Und die Erbschafts- und Vermögenssteuer? Auch die tritt nun in den Hintergrund. Man muss erst mal sehen, heißt es, wie das Verfassungsgericht dazu steht. Bekommt die SPD kalte Füße? Von Gerechtigkeit spricht keiner mehr. Die Botschaft ist jetzt auf einmal: Wenn genug Geld in der Kasse ist, brauchen die Gutverdiener nicht mehr zu bluten. Sigmar Gabriel ist sich noch nicht einmal zu schade, das Wort „Steuersenkungen“ in den Mund zu nehmen. Hatte er beim Augsburger Parteitag nicht geschworen, das „Zeitalter des egoistischen Neoliberalismus ist zu Ende“? [[nid:53825]] Es mag sein, das die SPD-Spitze fünf Wochen vor der Bundestagswahl kalte Füße bekommen hat. Schließlich brummt die Wirtschaft, und die Staatskasse kann gar nicht so schnell neue Säcke aufstellen, wie Steuergeld hineinfließt. Auch schwinden die Chancen dahin, stärkste Kraft im Bundestag zu werden. Nur so kann man sich erklären, warum jemand wie Gabriel einen solchen Anfängerfehler begeht und seine wichtigste Botschaft im Kampf gegen Merkel & Co. verwässert. Jürgen Trittin nennt das Herumgeeiere seines Lieblingskoalitionspartners nachsichtig tadelnd „hasenfüßig“, und in Merkels Wahlkampfzentrale knallen die Sektkorken. All die Wähler, die sich zunächst erschrocken gefragt hatten, ob sie sich ein Kreuzchen bei der SPD werden leisten können und sich schließlich doch dem Gerechtigkeitsargument geöffnet haben, sind nun aber vor den Kopf gestoßen. Von wegen Fliehkräfte: Wenn es um die Macht geht, dann scheren sich offenbar auch die Genossen nicht um die Gerechtigkeit. Dann wird eiskalt kalkuliert. Und wenn die Umfragebarometer nach unten zeigen, dann wird eben über Bord geworfen, was man an Überzeugungen eben noch mit Verve verteidigt hat.
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Antje Sirleschtov
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Sigmar Gabriel und Peer Steinbrück verkünden auf einmal, dass ein zentrales Versprechen des Wahlprogramms – Steuererhöhungen – nicht mehr gilt. Das zeigt: Wenn es um die Macht geht, dann wird auch bei den Genossen eiskalt kalkuliert
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innenpolitik
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2013-08-19T17:24:45+0200
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2013-08-19T17:24:45+0200
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https://www.cicero.de//innenpolitik/spd-steuerplaene-machtwille-schlaegt-gerechtigkeitsideal/55446
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Protestkultur - Wenn Heino auf Rammstein trifft
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Ihren Beitrag zur Energiewende haben die Dresdner Pegida-Leute und deren lokale Ableger von Köln bis Berlin bereits geleistet: Wenn demnächst bei jedem Abendspaziergang der sich patriotisch wähnenden Abendlandretter aus Protest die Lichter abgeschaltet werden, gehen sie womöglich als erste CO2-neutrale Massenbewegung in die Geschichte ein. Auch das wäre ein wertvoller Beitrag zur allenthalben als schützenswert ausgerufenen Kultur – in diesem Fall eben zur Protestkultur. „Kultur“ ist ja die zentrale Bezugsgröße in diesem seltsam amorphen Kulturkampf, der sich derzeit auf den Straßen und Plätzen einiger deutscher Städte abspielt. Der Islam dient da lediglich als Chiffre für das „Fremde“ an sich, als eine Art Synonym für die aggressive Herausforderung nicht näher spezifizierter westlicher Werte, Sitten und Gebräuche. Die instinktive Abwehr einer Vereinnahmung und Verformung der eigenen „Kultur“ ist freilich kein sonderlich neues Phänomen, sondern ungefähr so alt wie die ersten Höhlenmalereien. Stellt sich nur die Frage, was mit dem strapazierten Kulturbegriff eigentlich gemeint ist. Vor einiger Zeit hat sich zum Beispiel der in besser gebildeten Kreisen schlecht angesehene Sänger Heino erdreistet, Lieder der Band Rammstein zu interpretieren – worauf die Rammstein-Mitglieder einigermaßen empört reagierten. Was sogar verständlich ist: Hatte Heino doch die brachiale Rammstein-Kultur auf schunkeltaugliches Schlagerniveau verfremdet. Sein Album hat sich trotzdem oder gerade deshalb bestens verkauft. Derselbe Heino steht heute in der Bild-Zeitung als einer von 50 mehr oder minder Prominenten, die sich dem Aufruf gegen die Pegida-Bewegung anschließen – viele von ihnen aus dem Kulturbereich (Monika Grütters, Hella von Sinnen, Dieter Hallervorden etc.; Helene Fischer fehlt allerdings). Heino gibt dort zu Protokoll, eine Ablehnung von Pegida sei für ihn eine „Frage des Anstands“: Die Bundesrepublik sei ein freies und fortschrittliches Land, das „politisch Verfolgten aus anderen Ländern immer eine Heimat geben“ müsse. Diese Aussage ehrt ihn, wenngleich sie das Pegida-Phänomen auf die Flüchtlingsfrage reduziert. „Pegida ist für die Erhaltung und den Schutz unserer christlich-jüdisch geprägten Abendlandkultur!“ heißt es im entsprechenden Positionspapier. Da stellt sich natürlich die Frage, ob Heino, der in der Bild-Zeitung als „Volkssänger“ firmiert, nicht irgendwie gegen die eigenen Interessen handelt. Denn als Interpret zünftiger Volks-und Wanderlieder ist er ja gewissermaßen eine Ikone heimatlicher Kultur im engeren Sinne (auch wenn die jüdische Komponente in seinem Oevre etwas unterrepräsentiert erscheint). Aber die Rammstein-Episode zeigt eben, dass Heino offenbar einem deutlich weiter gefassten Kulturbegriff anhängt, als viele seiner Kritiker ihm zugetraut hätten; er hat sich durch die Verwurstung von Metal zu Mainstream sogar selbst als Meister der musikalischen Inkulturation erwiesen. Kurz gesagt: Die Forderung nach „Stärkung bzw. Wiedererlangung unserer nationalen Kultur“ (so heißt es im Manifest der Leipziger Pegida-Filiale) ist ein Rohrkrepierer. Denn was damit gemeint sein soll, wissen weder ihre Urheber noch die in diesen Dingen sicherlich besonders beschlagenen Herren Gauland und Adam von der AfD. Sie können es auch gar nicht, weil jeder seine eigene Vorstellung davon hat, was unter „nationale Kultur“ zu subsumieren ist. Da reicht die Palette bekanntlich vom Swingerclub bis zum sonntäglichen Gottesdienstbesuch. Der Autor und Merkur-Herausgeber Christian Demand hat den Eiertanz wegen der vermeintlichen Bedrohung „unserer Kultur“ in seinem unlängst erschienenen Band „Die Invasion der Barbaren“ sehr schön auf den Punkt gebracht: „Man kann sich über Kulturfundamentalismus lustig machen, aber er bleibt eine ernste Sache, denn im Namen der Kultur werden Unfehlbarkeitsatteste ausgestellt, und man tut so, als werde der einzelne von seiner Kultur wie von einem gütigen Paraorganismus umschlossen; als werde ihm per se großes Unrecht angetan, wenn seine ,typische Lebensart‘ nicht unter besonderen Schutz gestellt wird; als wäre die perfekte Welt ein globales Freilichtmuseum für bedrohte Kulturen, in dem die einzelnen Arten von jedem Legitimitäts- und Konkurrenzdruck befreit sind, weil, analog zum biologischen Artenschutz, ihre Existenz allein jede einzelne Art bereits hinreichend legitimiert.“ Und das kann sicherlich nicht im Interesse dieses Landes sein.
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Alexander Marguier
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Den Abendlandrettern geht es auch um den Schutz unserer nationalen Kultur. Aber was damit gemeint ist, bleibt rätselhaft
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kultur
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2015-01-06T16:35:08+0100
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2015-01-06T16:35:08+0100
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https://www.cicero.de//kultur/protestkultur-wenn-heino-auf-rammstein-trifft/58701
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Wahlnachlese – In NRW für Kraft, im Bund für Merkel
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Die SPD wurde bei der Landtagswahl am 13. Mai in
Nordrhein-Westfalen von etwas mehr als 3 Millionen Wählern gewählt.
Dieses Ergebnis wird als großer Sieg gefeiert,
obwohl es mit 23 Prozent (bezogen auf alle Wahlberechtigten) eines
der schwächsten Landtagswahlergebnisse der SPD in der
Wahlgeschichte des Landes seit 1949 war. Noch geringer war die
SPD-Wählermobilisierung nur bei den Landtagswahlen 2010 und 1950,
als die SPD von 20,2 bzw. 22,6 Prozent aller Wahlberechtigten
gewählt wurde. Deutlich mehr Stimmen als mit Hannelore Kraft 2012 erhielt die
SPD mit Johannes Rau 1985 und 1990 (damals wählten 4,9 bzw. 4,6
Millionen Wähler die NRW-SPD; das entsprach einem Anteil von 38,9
bzw. 35,6 Prozent der Wahlberechtigten). Und auch mit Gerhard
Schröder, der von vielen in seiner Partei ja für den Niedergang der
Sozialdemokraten verantwortlich gemacht wird, erhielt die SPD an
Rhein und Ruhr bei den Bundestagswahlen 1998, 2002 und 2005 mehr
Stimmen als im Mai 2012. 1998 wählten 5,1 Millionen (ein Anteil von
39,0 Prozent), 2002 4,5 Millionen (ein Anteil von 34,1 Prozent) und
selbst 2005 noch 4,1 Millionen (oder 30,9 Prozent aller
Wahlberechtigten) die SPD. Mit Wolfgang Clement und Peer Steinbrück erhielt die SPD bei den
Landtagswahlen 2000 bzw. 2005 etwas mehr Stimmen als 2012 (2000
gaben 3.143.000, 2005 3.056.000 Wähler – ein Anteil von 24,1 bzw.
23,1 Prozent aller Wahlberechtigten – der SPD ihre Stimme). Während
Wolfgang Clement und Hannelore Kraft das Amt des
Ministerpräsidenten behalten konnten und können, musste Peer
Steinbrück 2005 mit ähnlicher Stimmenzahl wie Clement bzw. Kraft
sein Amt an Jürgen Rüttgers abgeben. [gallery:Wahlen in NRW – Rheinländischer Übermut trifft
westfälische Vernunft] Aus eigener Kraft kann die SPD somit – anders als zu der Zeit
als Nordrhein-Westfalen noch eine wirkliche SPD-Hochburg war –
offenbar nicht mehr eine Regierungsmehrheit erringen. Ob die SPD
die Landesregierung (zusammen mit einem Partner) bilden kann oder
nicht, hängt davon ab, wie viele Wähler die CDU mobilisieren
kann. So konnte die CDU 2000 nur 2,7 Millionen ihres eigentlichen
Potentials von über dreieinhalb Millionen zum Gang zur Wahlurne
bewegen, so dass es nicht zu einem Machtwechsel an Rhein und Ruhr
kam. 2005 aber konnte Rüttgers – anders als 2000 – die gesamte
Wählersubstanz der CDU (3,7 Millionen) mobilisieren und somit Peer
Steinbrück ablösen und selbst Ministerpräsident werden. 2010 gab es
bei der CDU wieder erhebliche Mobilisierungsdefizite, so dass die
CDU nur noch knapp 6.000 Stimmen mehr erhielt als die SPD und
Hannelore Kraft mit den Grünen eine Minderheitsregierung in
Düsseldorf bilden konnte. 2012 wählten nur noch etwas mehr als 2 Millionen Wähler (oder
15,5 Prozent aller Wahlberechtigten) die CDU mit ihrem
Spitzenkandidaten Norbert Röttgen. Bei keiner Wahl – weder einer
Landtags-, noch einer Bundestags- oder einer Kommunal- und sogar
einer Europawahl in Nordrhein-Westfalen - erhielt die CDU so wenig
Stimmen wie mit Norbert Röttgen im Mai 2012. Die Grünen konnten wie die SPD nicht mehr an frühere Erfolge
anknüpfen. Mit 884.000 Stimmen lagen sie unter dem Ergebnis z.B.
der letzten Landtagswahl 2010, als sie 946.000 Stimmen erhielten,
oder dem der Bundestagswahl 2002 (931.000 Stimmen) oder dem der
Kommunalwahl 1994, als die Grünen von über 1 Million Wähler gewählt
wurden. Die Grünen scheinen ihren Zenit überschritten zu haben –
auch wegen der Piraten, die von 608.000 Wählern gewählt wurden. Die
Grünen gehören jetzt ebenfalls zu den eher altbacken wirkenden
etablierten Parteien, während die Piraten mit ihrem Politikstil
gerade auf die jüngere Wählerschicht erfrischend neu und
unverbraucht wirken. Lesen Sie weiter, warum Wähler sich 2012 für Kraft
entscheiden und 2013 für Merkel... Ihren Zenit überschritten hat offenbar auch die
Linkspartei, die nur noch von 194.000 Wählern gewählt wurde.
Bei der Bundestagswahl 2009 kam die Linke in Nordrhein-Westfalen
noch auf gut 790.000 Stimmen. Zwischen 2009 und 2012 hat die Linke
somit rund drei Viertel ihrer einstigen Wähler verloren. Ob die FDP wieder zu neuen Höhen fähig ist, bleibt abzuwarten.
Bei der Landtagswahl im Mai profitierte sie von der extremen
Schwäche der CDU an Rhein und Ruhr und davon, dass ihr Spitzenkandidat Christian Lindner
strategisch klug die Kern-Klientel der FDP, die mittelständische
Wählerschicht, mit den richtigen Themen (Schule und Bildung,
bezahlbare Energieversorgung, solide Finanzpolitik, etc.)
angesprochen hatte. [gallery:Die FDP im Krisenwahlkampf: Von Daumen, Fröschen und
Zerwürfnissen] Aufgrund der großen Schwäche der CDU an Rhein und Ruhr wird nun
generell über eine Renaissance eines rot-grünen Bündnisses auch auf
Bundesebene spekuliert. Doch ein nüchterner Blick auf die
Wahlgeschichte und die bundesweiten Rahmenbedingungen lässt da doch
Skepsis aufkommen, ob es 2013 wirklich für eine rot-grüne Mehrheit
im Bund reicht. So wurde Johannes Rau nach seinem großen Sieg von 1985 (damals
erhielt er 1,9 Millionen Stimmen mehr als Hannelore Kraft 2012) zum
Kanzlerkandidaten der SPD gekürt. Doch bei der Bundestagswahl im
Januar 1987 bekam die SPD in NRW weniger Stimmen als 1985 (4,7
Millionen), während die CDU ihren Stimmenanteil von 3,5 Millionen
1985 um rund 900.000 auf 4,4 Millionen 1987 steigern konnte. Kohl blieb 1987 Kanzler, obwohl seine ersten Regierungsjahre von
einer Reihe von Pannen und Peinlichkeiten geprägt waren. 2012 wird
Angela Merkel jedoch viel mehr Anerkennung entgegengebracht als
Kohl 1986/1987. Viele, die 2012 in NRW Hannelore Kraft
sympathischer fanden als Norbert Röttgen, wollen Angela Merkel 2013
als Kanzlerin behalten und keinen Politikwechsel in der
Republik. Selbst von den CDU-Wählern wollte ein Drittel lieber Kraft als
Röttgen. Um diesem Zwiespalt zu entrinnen, blieben deshalb viele
potentielle CDU-Anhänger der Wahl im Mai fern. 2013 werden aber die
meisten davon wieder zur Wahl gehen und der Union ihre Stimme
geben. NRW kann insofern nicht als kleine Bundestagswahl oder ein
Signal für den Ausgang der Wahl 2013 interpretiert werden. Es war
eine Landtagswahl, bei der die Wähler die Parteien an Rhein und
Ruhr und nicht die Parteien auf Bundesebene bewertet haben.
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Es gab schon SPD-Ministerpräsidenten, die in Nordrhein-Westfahlen ein besseres Wahlergebnis hatten als Hannelore Kraft. Die CDU hingegen hat bei keiner Kommunal-, Landtags-, Bundestags- oder Europawahl je schlechter abgeschnitten als unter Norbert Röttgen 2012. Das alles heißt aber nichts für die Bundestagswahl 2013. Eine Nachlese zur Wahl in NRW
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innenpolitik
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2012-05-17T11:23:01+0200
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2012-05-17T11:23:01+0200
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https://www.cicero.de//innenpolitik/nrw-fuer-kraft-im-bund-fuer-merkel/49340
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Polizist über Lützerath - Wir halten mal wieder den Kopf hin
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Es mag abgedroschen klingen, doch in diesen Tagen des Hasses gegen uns Polizisten ist die Feststellung wichtiger und aktueller denn je: In jeder Uniform steckt ein Mensch. Es sind Väter, Mütter, Töchter, Söhne, Schwestern, Brüder, Freunde, Mannschaftskameraden, Nachbarn und manchmal auch einfach ein hilfsbereiter Fremder, der zur passenden Zeit am richtigen Ort ist. Es sind die Garanten dafür, dass wir uns sicher fühlen und abends gut einschlafen können. Gerade mal eine Woche ist es her, dass Polizisten in der Silvesternacht zur Zielscheibe von hemmungslosen Orgien der Gewalt wurden und nackte Angst erlitten. Das anfängliche Orchester der Anteilnahme ist in den Medien jedoch bereits verpufft. Wieder einmal, möchte ich sagen, denn es ist ein sich ständig wiederholendes Muster des kurzweiligen Aufpralls mit der Realität, der schon bald in den Niederungen des kollektiven Verdrängens versinkt. Und auch das wiederholt sich: Leider braucht es immer gefährliche Grenzüberschreitungen, damit die alltäglichen Sorgen der Einsatzkräfte in der Öffentlichkeit gehört werden. Diese Woche begeben sich Polizisten im nordrhein-westfälischen Lützerath abermals in Gefahr. Ein anderer Schauplatz, ein ähnliches Risiko der Gewalt. Klimaaktivisten mobilisieren bereits seit Wochen in ganz Deutschland, um ihre Stellungen gegen die Räumung durch die Polizei zu verteidigen. Die Bilder der sich von Autobahnen abseilenden Straftäter haben wir noch alle vor unserem geistigen Auge. Die schrecklichen Unfälle wie auf der A3 oder vor wenigen Monaten in Berlin, die nachweislich im Kausalzusammenhang stehen und lebensbedrohlich oder sogar tödlich endeten, sicherlich auch noch. Die Radikalisierung der Klimabewegung setzt sich immer weiter fort. Dies bestätigen die zahlreichen gewohnt gewaltverherrlichenden und gegen den Staat und die Polizei agitierenden Videos, die in den sozialen Medien zuhauf gefunden werden können. Wenn sich Luisa Neubauer über eine vermeintliche Kriminalisierung der Klimabewegung empört, stelle ich mir die Frage, warum die Aktivisten Kletterausrüstungen und Feueranzünder zur Anreise nach Lützerath mitzuführen gedenken? Jede Menge Verständnis besteht dabei im links-bürgerlichen Lager. So gibt es aktive Unterstützung in Form von Verpflegung, Logistik und zahlreicher weiterer Hilfsmittel für die militante Besetzerszene. Dieses links-bürgerliche Lager ist in der Regel gänzlich friedlich und begeht keinerlei Straftaten. Doch wie bereits häufig in der Vergangenheit bestätigt, mischen sich gewaltbereite und in Trainingscamps ausgebildete Störer ganz bewusst unter die friedlichen Protestler und missbrauchen diese für ihre eigenen Aggressionen und Gewalttätigkeiten. Unter dem Schutz des großen und anonymen Kollektivs lassen sich Übergriffe gegen die verhasste Polizei nämlich hervorragend provozieren. Das könnte Sie auch interessieren: Die Gefahren, die von einem Tagebau ausgehen, werden hier häufig bewusst oder zumindest grob fahrlässig ignoriert. Jeder, der sich einmal in seinem Leben in die Nähe der Abbruchkante eines Tagebaus begab, weiß, dass eine Lebensgefahr für die Einsatzkräfte allgegenwärtig ist. Jenen Störern, die ihren heraufbeschworenen Kampf gegen den Staat in Lützerath ausleben werden, entstammen dem militant-linksextremistischen Milieu, die einem Systemumsturz bei weitem näherstehen als der freiheitlich-demokratischen Grundordnung. Den meisten geht es nicht etwa um das Klima oder die Zukunft des Planeten, sondern um die pure Lust an der Gewalt. Von geschmissenen Steinen, Molotowcocktails, Zwillen mit Stahlkugeln und dem Werfen von Exkrementen mussten wir Polizisten in unseren Einsätzen alles schon erleben. Die Gewaltfantasie geht den militanten Angreifern dabei niemals aus. Und spätestens ab diesem Punkt zeigt die militante Minderheit ihr alpha-aggressives Gesicht. Die Polizei wird und soll gezielt entmenschlicht werden. Solange, bis sich schließlich kein Mensch mehr in Uniform gegenüber befindet, sondern lediglich ein Lakai des Staates, der als ultimativer Feind angesehen und damit angegriffen werden darf. Ob der Vergleich so abwegig ist, möge bitte jeder für sich selbst beurteilen. Ich persönlich denke in diesem Zusammenhang häufig an das fürchterliche Zitat von Ulrike Meinhof: „Wir sagen natürlich, die Bullen sind Schweine. Wir sagen, der Typ in Uniform ist ein Schwein, kein Mensch. Und so haben wir uns mit ihnen auseinanderzusetzen. Das heißt, wir haben nicht mit ihm zu reden, und es ist falsch, überhaupt mit diesen Leuten zu reden. Und natürlich kann geschossen werden.“ Ein nicht unerhebliches Problem lässt sich auch im Journalismus finden. Zahlreiche Journalisten sind in den Berichterstattungen über Räumungen wie im Hambacher Forst längst zu Journaktivisten geworden, welche die Gewalt der Störer bewusst verharmlosen und ihre Leserschaft damit manipulieren. Dadurch gießt der Journalismus noch weiter Öl ins Feuer. An dieser Stelle sollte sich jeder seriöse Journalist kontinuierlich hinterfragen, ob das mit der eigenen Berufsethik vereinbar ist. Jeder sich im Einsatz befindende Polizist hätte das verdient. Dass ich während des Schreibens darüber informiert werde, dass das Unwort des Jahres 2022 „Klimaterroristen“ lautet, setzt dem ganzen noch das passende Krönchen auf. Zumindest hat man den Plural gewählt und den einzelnen Terroristen damit nicht allein im Wald stehen lassen. Medien und Presse sollten auch häufiger von Straftätern sprechen und Ross und Reiter beim Namen nennen. Wer Straftaten begeht, ist kein Aktivist und noch weniger ein „Aktivisti“. Wie häufig ich mir anhören musste, dass der mir gegenüberstehende, gewaltbereite Mob doch so friedlich sei. Wie jeder einzelne Polizist am besten mit der Gewalt der Störer umgeht, bleibt dem einzelnen überlassen. Aus langer Erfahrung kann ich jedoch sagen: Es sind nicht immer die Schläge, die Würfe, die tätlichen Angriffe, die Wunden hinterlassen können. Häufig sind es die Worte und der ungezügelte Hass, die einem entgegenschießen. Ich für meinen Teil handele gemäß den Grundsätzen der Rechtmäßigkeit. Dass wir nach einiger Zeit abstumpfen und Angriffe, insbesondere der verbalen Art, an uns abprallen lassen können, ist sicherlich von Vorteil – und lässt mich derartige Erlebnisse im Nachgang besser verarbeiten. Nichtsdestotrotz bleiben gewisse Bilder jahrelang in Erinnerung. So erinnere ich mich noch lebhaft an einen Massensturm, bei dem mehrere 100 Menschen der Gruppierung Ende Gelände in einen Tagebau eindrangen und einen Braunkohlebagger besetzen wollten. Dies sollte durch Einsatzkräfte verhindert werden, auch unter der angeordneten Anwendung des unmittelbaren Zwanges. Ewig bleibt mir das Bild in Erinnerung, wie ein älterer Herr und Landfriedensbrecher zu Boden stürzte und dabei ungewollt von einem Dienstpferd an den Oberkörper getreten wurde. Glücklicherweise entwickelte sich die Verletzung nicht so brutal, wie das schreckliche Bild zunächst vermuten ließ. Kein Polizist möchte solche Bilder zu seiner Familie an den Abendtisch tragen müssen. Es sind Bilder des Grauens. Wenn im Vorfeld der Räumung des Dorfes Lützerath von Sprengfallen und ähnlichen Vorrichtungen in den Medien zu lesen ist, bleibt nur die Hoffnung, dass der Einsatz keinen eskalativen Verlauf nimmt und alle Beteiligten besonnen handeln und reagieren werden. Meine persönlichen Gedanken sind bei allen Einsatzkräften, die diese Woche für unseren Rechtsstaat und die Politik im wahrsten Sinne des Wortes mal wieder den Kopf hinhalten.
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Cicero-Redaktion
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Das Dorf Lützerath steht kurz vor der Räumung. Einmal mehr heißt das für die Beamten vor Ort: Es wird auch zu Gewalt kommen. In einem Gastbeitrag kritisiert der Polizist und Gewerkschafter (DPolG) Kristian Beara die Verharmlosung der militanten Besetzerszene durch Politik, Medien und das links-bürgerliche Lager.
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[
"Polizei",
"Linksextremismus",
"Silvester"
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innenpolitik
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2023-01-10T16:03:18+0100
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2023-01-10T16:03:18+0100
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https://www.cicero.de//innenpolitik/polizist-uber-lutzerath-klimaaktivisten-linksextremismus-polizei
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Markus Söder zu den Turbulenzen bei den Grünen - „Komplette Unterwerfung“
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Ein „Bauernopfer“ sei der Rücktritt von Ricarda Lang und Omid Nouripour gewesen; der Schritt der beiden Grünen-Vorsitzenden mache deutlich, dass die Ampel-Koalition derzeit im Eiltempo zerfalle. Denn der eigentliche Grund für den Rückzug der beiden Parteichefs sei nicht deren eigene Performance, sondern jene der Bundesregierung. Das sagte Bayerns Ministerpräsident Markus Söder im Rahmen einer in Berlin abgehaltenen Runde mit mehreren Hauptstadt-Journalisten. Söder forderte bei dieser Gelegenheit Robert Habeck dazu auf, es seinen beiden Parteivorsitzenden gleich zu tun und ebenfalls den Hut zu nehmen – der Bundeswirtschaftsminister sei nämlich das „zentrale Gesicht“ der aktuellen deutschen Wirtschaftskrise und damit verantwortlich für den ökonomischen Niedergang. Seine Wirtschaftspolitik sei „gescheitert“, so der CSU-Chef während seiner Fragerunde in der bayerischen Landesvertretung. Mit dem nun vollzogenen Schritt an der Spitze von Bündnis90/Die Grünen würde sich die Partei ihrem künftigen Kanzlerkandidaten „komplett unterwerfen“, sagte Söder und erinnerte gleichzeitig an diverse, aus seiner Sicht Fehlentscheidungen des Bundeswirtschaftsministers – von der eingestellten Förderung für E-Autos bis zum Heizungsgesetz. Habeck betreibe vielmehr eine Art staatliche „Planwirtschaft“, indem er sein Hauptaugenmerk auf Subventionen und Firmenübernahmen etwa im Fall der in Schieflage geratenen Papenburger Meyer-Werft lege. Die grundsätzliche Erfolglosigkeit von solchen Interventionen zeige sich jetzt im Fall des Chipherstellers Intel, der soeben erst den Bau eines hochsubventionierten Werks in Magdeburg auf Eis gelegt hatte. Ähnliches drohe beim schwedischen Batteriehersteller Northvolt und dessen geplanter Fertigungsstätte in Schleswig-Holstein. Markus Söder forderte – nicht zum ersten Mal – zudem Neuwahlen und bekräftigte sein gutes und vertrauensvolles Verhältnis zum CDU-Chef und gemeinsamen Kanzlerkandidaten Friedrich Merz. Vor allem bekräftigte der bayerische Ministerpräsident seine Ansage, die Grünen kämen nach der nächsten Bundestagswahl für die CSU als Koalitionspartner nicht in Frage. Sie hätten in der Ampel-Regierung „den Praxistest nicht bestanden“ und würden aus guten Gründen in weiten Teilen der Bevölkerung auf einen ausgeprägten Widerwillen stoßen. Söder zeigte sich davon überzeugt, dass die Unionsparteien nur bei einer klaren Absage an die Grünen ein Wahlergebnis von um die 35 Prozent erzielen könnten. Er machte zudem darauf aufmerksam, dass in Berlin regierende Grünen-Politiker mit ihren Entscheidungen massiv und vorsätzlich bayerische Interessen verletzt hätten – etwa beim neuen Wahlrecht. Dies werde man im Süden der Republik nicht vergessen.
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Alexander Marguier
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Bayerns Ministerpräsident Söder sieht im Rücktritt der beiden Grünen-Vorsitzenden einen weiteren Schritt in Richtung Ampel-Ende. Der CSU-Chef forderte Wirtschaftsminister Habeck dazu auf, es Ricarda Lang und Omid Nouripour gleichzutun.
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[
"Grüne",
"Markus Söder"
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innenpolitik
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2024-09-25T16:52:09+0200
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2024-09-25T16:52:09+0200
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https://www.cicero.de//innenpolitik/markus-soder-zu-den-turbulenzen-bei-den-grunen-komplette-unterwerfung
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Titelthema: Alice Munro – Verblüffende Dinge Geschehen
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Alice Munro zählt
zu den wichtigsten Vertreterinnen der englischsprachigen Prosa der
Gegenwart. Sie ist von Kritikern sowohl in Nordamerika als auch in
Großbritannien mit Super-Superlativen überschüttet worden, sie hat
zahlreiche Preise gewonnen, und sie hat eine treue internationale
Leserschaft. Unter Schriftstellern wird ihr Name mit gedämpfter
Stimme genannt. Sie gehört zu jener Kategorie von Autoren, von
denen es immer wieder heißt, dass sie – egal, wie bekannt sie schon
sind – eigentlich bekannter sein müssten.
Nichts davon ist über Nacht gekommen. Munro schreibt seit den
fünfziger Jahren, und ihr erster Erzählungsband «Tanz
der Seligen Geister» erschien 1968. Vierzig Jahre später hatte
sie – einschließlich ihres mit Begeisterung aufgenommenen Bandes
«Ausreißer» (2004) – zehn Bände mit durchschnittlich je neun bis
zehn Erzählungen veröffentlicht. Obwohl ihre Prosa seit den
siebziger Jahren regelmäßig im «New Yorker» erscheint, hat ihre
unlängst vollzogene literarische Heiligsprechung teils auch wegen
der Form, in der sie schreibt, so lange gebraucht. Sie schreibt
«Kurzgeschichten», auch «Kurzprosa» genannt. Obwohl viele
erstrangige amerikanische, britische und kanadische Autoren sich in
dieser Form betätigt haben, herrscht noch immer die
weitverbreitete, dabei irrige Tendenz vor, Länge mit Wichtigkeit
gleichzusetzen.
Insofern gehört Munro zu jenen Autoren, die einer regelmäßigen
Wiederentdeckung ausgesetzt sind, zumindest außerhalb Kanadas. Es
ist, als würde sie aus einer Torte springen – Überraschung! –, und
müsste dann wieder aus der Torte springen, und dann wieder. Die
Leser sehen ihren Namen nicht in Leuchtschrift an jeder Plakatwand.
Sie stoßen wie aus Versehen oder durch schicksalhafte Fügung auf
sie, geraten in ihren Sog, und dann herrscht auf einmal große
Verwunderung und Aufregung und Ungläubigkeit: Woher kommt Alice
Munro auf einmal? Warum erfahre ich das erst jetzt? Wie kann solche
Meisterschaft aus dem Nichts entsprungen sein? Dabei ist Munro gar
nicht aus dem Nichts entsprungen. Sie entsprang – wobei das ein
Verb ist, das ihre Figuren viel zu kühn, ja, prätentiös fänden –,
aus Huron County im Südwesten Ontarios.
Ontario ist die große kanadische Provinz, die sich vom Ottawa River
bis zum westlichen Ende des Lake Superior erstreckt. Es ist eine
weite und vielgestaltige Landschaft, doch Southwest-Ontario bildet
darin eine eigenständige Region. Der Maler Greg Curnoe prägte den
Begriff Sowesto, und dieser Name ist hängen geblieben. Curnoe war
der Ansicht, dass Sowesto ein Gebiet von beträchtlichem Interesse,
aber von ebenso beträchtlicher psychischer Zwielichtigkeit und
Seltsamkeit sei, eine Sichtweise, die viele teilen. Der ebenfalls
aus Sowesto stammende Robertson Davies pflegte zu sagen: «Ich kenne
die dunklen Bräuche meiner Leute», und auch Munro kennt sie. In den
Getreidefeldern Sowestos trifft man nicht selten auf Schilder mit
der Aufforderung, vorbereitet zu sein auf den Jüngsten Tag oder
aber auf das eigene Verderben – was so ziemlich als ein und
dasselbe empfunden wird.
Lake Huron liegt am westlichen Rand von Sowesto, Lake Erie im
Süden. Es ist größtenteils flaches Ackerland, durchschnitten von
verschiedenen breiten, gewundenen, zu Überschwemmungen neigenden
Flüssen, und entlang der Flüsse entstand dank der Schifffahrt und
der Elektrizität durch wasserbetriebene Mühlen im 19. Jahrhundert
eine Anzahl kleinerer und größerer Ortschaften. Jeder Ort hat sein
rot geklinkertes Rathaus (zumeist mit einem Turm), sein Postgebäude
und eine Handvoll Kirchen verschiedener Konfessionen, seine Main
Street und die Wohngebiete mit den eleganten Häusern und dann sein
anderes Wohngebiet auf der falschen Seite der Bahngleise. Jeder Ort
hat seine Familien mit weit zurückreichenden Erinnerungen und einem
Vorrat an Leichen im Keller.
Sowesto bildete den Schauplatz des «Donnelly-Massakers», bei dem im
19. Jahrhundert aufgrund alter, noch aus Irland stammender
politischer Ressentiments eine große Familie abgeschlachtet und
deren Haus niedergebrannt wurde. Üppige Natur, verdrängte Gefühle,
respektable Fassaden, heimliche sexuelle Ausschweifungen,
Gewaltausbrüche, grausame Verbrechen, langgehegte Feindschaften,
seltsame Gerüchte – in Munros Sowesto ist alles nicht zuletzt
deshalb in greifbarer Nähe, weil es vom wahren Leben dieser Region
hervorgebracht wurde. Als Munro in den
dreißiger und vierziger Jahren aufwuchs, galt ein Mensch aus
Kanada, vor allem aber jemand aus dem provinziellen
Southwest-Ontario, der glaubte, eine weltweit anerkannte
Schriftstellerin werden zu können, als lachhaft. Noch in den
Fünfzigern und Sechzigern gab es in Kanada kaum Verlage, und wenn,
dann waren es meist Schulbuchverlage, die alles an sogenannter
Literatur importierten, was aus Großbritannien und den Vereinigten
Staaten zu haben war. Was es allerdings gab, waren Laientheater –
Schulaufführungen, Theatergruppen. Immerhin gab es das Radio, und
in den sechziger Jahren erhielt Munro dank einer von Robert Weaver
produzierten CBC-Sendung namens «Anthology» ihre Starthilfe.
Doch nur sehr wenige kanadische Schriftsteller, egal welcher
Couleur, waren einer internationalen Leserschaft bekannt, und es
galt als selbstverständlich, dass man im Falle eines solchen
Begehrs – aufgrund dessen man sich abwehrend verhalten und schämen
musste, denn Kunst war nichts, womit sich ein erwachsener,
moralisch gefestigter Mensch befasste – am besten das Land verließ.
Dass man nicht damit rechnen konnte, mit Schreiben jemals seinen
Lebensunterhalt zu bestreiten, war allen klar.
In Aquarellmalerei oder Poesie herumzudilettieren, mochte für einen
gewissen Typus Mann noch halbwegs angehen, wie Munro in ihrer
Erzählung «Putenzeit» zeigt: «Es gab Homosexuelle in der Stadt. Wir
kannten sie: ein eleganter Tapezierer mit welligen Haaren und
heller Stimme, der sich Innenarchitekt nannte; der verwöhnte
einzige Sohn der Pfarrerswitwe, der sogar so weit ging, an
Backwettbewerben teilzunehmen, und der eine Tischdecke gehäkelt
hatte; ein hypochondrischer Kirchenorganist und Musiklehrer, der
den Kirchenchor und seine Schüler durch hysterische Wutanfälle in
Zucht und Ordnung hielt.» Man konnte Kunst als Hobby betreiben
oder sich mit irgendeinem unterbezahlten, scheinbar
künstlerischen Beruf über Wasser halten, wenn man eine Frau war und
Zeit dafür hatte. In Munros Geschichten tummeln sich solche Frauen.
Sie spielen Klavier oder schreiben geschwätzige Zeitungskolumnen.
Oder sie haben – tragischer noch – ein echtes, wenn auch kleines
Talent wie Almeda Roth in «Meneseteung», die einen kleinen
Lyrikband namens «Opfergaben» veröffentlicht, nur gibt es für sie
keinen Kontext.
Zog man in eine größere kanadische Stadt, fand man vielleicht
wenigstens ein paar Gleichgesinnte, doch in den Kleinstädten von
Sowesto war man allein auf weiter Flur. Dennoch stammten John
Kenneth Galbraith, Robertson Davies, Marian Engel, Graeme Gibson
und James Reamy allesamt aus Sowesto; und nach kurzer Zeit an der
Westküste zog auch Munro dorthin zurück und lebt noch heute unweit
von Wingham, der prototypischen Heimat der diversen «Jubilees»,
«Walleys», «Dalgleishes» und «Hanrattys» aus ihren Erzählungen.
Durch Munros Prosa gesellt sich Sowestos Huron County zu Faulkners
Yoknapatawpha County als ein legendär gewordener, in hochkarätiger
Prosa gefeierter Landstrich, obgleich in beiden Fällen «feiern»
nicht ganz das richtige Wort ist. «Sezieren» kommt dem, was in
Munros Werk vor sich geht, vielleicht näher, wobei auch dieser
Ausdruck noch zu steril ist. Wie sollen wir sie nennen, diese
Kombination aus obsessiver Betrachtung, archäologischer Ausgrabung,
präziser und detailreicher Erinnerungsarbeit, dieses Schwelgen in
den eher düsteren, niederen und rachsüchtigen Seiten der
menschlichen Natur, das Aufdecken erotischer Geheimnissse, die
Nostalgie für vergangenes Leid, die Freude an der Fülle und
Vielfalt des Lebens?
Am Ende von Munros Band «Das Leben von Mädchen und Frauen» (1971),
ihrem einzigen (Bildungs-)Roman – einem Porträt der Künstlerin als
junge Frau – , gibt es eine aufschlussreiche Passage. Del Jordan
aus Jubilee, die ihrem Nachnamen getreu inzwischen ins gelobte Land
der Weiblichkeit übergewechselt ist, sagt über ihre Pubertät:
«Damals kam mir nicht der Gedanke, dass ich eines Tages begierig
auf Jubilee sein würde. Eigensinnig und besessen wie Onkel Craig,
der draußen in Kenkin’s Bend seine Geschichte schrieb, würde ich
mir wünschen, alles niederzuschreiben. Ich würde
versuchen, Listen anzulegen. Eine Liste aller Läden und Geschäfte
an der Hauptstraße und ihrer Besitzer, eine Liste von
Familiennamen, Namen auf den Grabsteinen auf dem Friedhof und auch
die Inschriften darunter (…) Der Wunsch nach Genauigkeit, den wir
in eine derartige Aufgabe hineinlegen, ist verrückt, verzweifelt.
Und keine Liste konnte enthalten, was ich eigentlich wollte, denn
was ich wollte, war alles, jede Schicht von Sprache und Gedanken,
jeder Lichtstreifen auf Rinde oder Wänden, jeder Geruch, jedes
Schlagloch, jeder Schmerz, Riss, jede Täuschung, die noch anhielten
und zusammenhielten – hell, unzerstörbar.» Ein beachtliches
Programm für ein Lebenswerk. Und zugleich eines, das Munro während
der nächsten Jahrzehnte mit bemerkenswerter Beständigkeit verfolgen
sollte.
Alice Munro wurde 1931 als Alice Laidlaw geboren, das heißt,
während der Wirtschaftskrise war sie ein kleines Mädchen. 1939, in
dem Jahr, als Kanada in den Zweiten Weltkrieg eintrat, war sie
acht, und in den Nachkriegsjahren studierte sie an der University
of
Western Ontario. Sie war fünfundzwanzig und eine junge Mutter, als
Elvis Presley berühmt wurde, und achtunddreißig zur Zeit der Flower
Power-Revolution und dem Beginn der Frauenbewegung im Jahr 1968.
1981 war sie fünfzig. Meist sind ihre Erzählungen in diesen Jahren
– den Dreißigern bis Achtzigern – angesiedelt, oder sogar noch
davor, in den Zeiten der Urahnen.
Ihre eigenen Vorfahren waren einerseits schottische
Presbyterianer: Ihre Wurzeln reichen zurück zu James Hogg, dem
Schäfer von Ettrick, einem Freund von Robert Burns und den
Edinburgher Literaten des späten 18. Jahrhunderts, wie dem
Verfasser der «Vertraulichen Aufzeichungen» und «Bekenntnisse eines
gerechtfertigten Sünders» – ein Titel, wie ihn sich Munro nicht
schöner hätte ausdenken können. Auf der anderen Seite der Familie
gab es Anglikaner, für die die schlimmste Sünde angeblich darin
besteht, beim Essen zur falschen Gabel zu greifen. Munros
ausgeprägtes Bewusstsein für soziale Klassen und die Feinheiten
und Spötteleien, die die Schichten voneinander trennen, ist auf
ehrliche Weise erworben, ähnlich wie die – presbyterianische –
Eigenart ihrer Figuren, ihre Taten, Gefühle, Beweggründe und das
eigene Gewissen rigoros unter die Lupe zu nehmen und als fehlerhaft
zu begreifen. In einer traditionellen protestantischen Kultur wie
derjenigen der Provinz Sowesto ist Vergebung Mangelware, Strafen
sind häufig und hart, potentielle Demütigung und Beschämung lauern
hinter jeder Ecke, und niemand kommt mit sonderlich vielem davon.
Doch diese Tradition umfasst auch die Doktrin von der Legitimation
allein kraft des Glaubens: Gnade kommt auf uns, ohne dass wir
irgendetwas da-für tun müssen. Munros Werk strotzt nur so vor
Gnade, aber sie ist oft schwer zu erkennen: Nichts lässt sich
vorhersagen. Gefühle entladen sich. Vorurteile stürzen in sich
zusammen. Es gibt ständig Überraschungen. Verblüffende Dinge
geschehen. Böswillige Taten können positive Auswirkungen haben. Die
Erlösung kommt, wenn man am wenigsten damit rechnet, und in
seltsamer Gestalt. Aber sobald man über Munros Arbeit eine solche
Behauptung aufstellt oder Analysen, Verallgemeinerungen, Schlüsse
daraus zieht, hat man schon wieder Munros spöttischen Erzähler im
Ohr, der im Grunde sagt: Was glaubst du eigentlich, wer du bist?
Was gibt dir das Recht zu glauben, du wüsstest irgendetwas über
mich oder sonst einen Menschen? Oder, um noch einmal aus «Das Leben
von Mädchen und Frauen» zu zitieren: «Das Leben der Menschen (…)
war dumpf, einfach, überraschend und unergründlich – tiefe Höhlen,
mit Küchenlinoleum gepflastert.» «Unergründlich» ist hier das
Schlüsselwort.
Munros fiktionale Welt ist mit Nebenfiguren bevölkert, die die
Kunst und alles Künstliche sowie jedwede Form von Prätention und
Prahlerei verachten. Gegen diese Haltung und das daraus entstehende
Misstrauen gegen sich selbst müssen ihre Hauptfiguren ankämpfen und
sich davon befreien, um überhaupt kreativ sein zu können.
Gleichzeitig teilen ihre Schriftsteller-Protagonisten die
Verachtung und das Misstrauen gegenüber der artifiziellen Seite des
Lebens. Worüber soll man schreiben? Wie soll man schreiben? Wie
viel von der Kunst ist genuin, wie viel nur eine billige Wundertüte
– eine Imitation von Menschen, Manipulation von Gefühlen,
Grimassenschneiden? Wie kann man auch nur irgendetwas über einen
anderen Menschen behaupten – selbst einen ausgedachten –, ohne
anmaßend zu sein? Und vor allem, wie soll eine Geschichte enden?
Oft gibt Munro ein Ende vor, um es dann wieder infrage zu stellen
oder zu revidieren. Oder aber sie traut ihm einfach nicht, wie im
letzten Absatz von «Meneseteung», wo der Erzähler sagt: «Ich kann
mich geirrt haben.»
Ist der Akt des Schreibens selbst nicht ein Akt der Arroganz, ist
die Feder nicht ein treuloser Geselle? In einer Vielzahl von
Erzählungen – «Die Jugendfreundin», «Fortgerissen», «Ein Vorposten
in der Wildnis», «Hasst er mich, mag er mich, liebt er mich,
Hochzeit» – kommen Briefe vor, die die Eitelkeit oder Falschheit,
ja, Gehässigkeit ihrer Verfasser aufdecken. Wenn das
Briefeschreiben schon so trügerisch sein kann, wie ist es dann erst
mit dem literarischen Schreiben? Diese Spannung ist
ihr stets geblieben; in «Die Jupitermonde» werden Munros
Künstlerfiguren für ihre Erfolglosigkeit bestraft, aber ebenso für
ihren Erfolg. Beim Gedanken an ihren Vater sagt die fiktive
Schriftstellerin: «Ich konnte hören, wie er sagte: ‹Also, über dich
habe ich in MacLean’s noch nichts gesehen›. Und wenn er etwas über
mich gelesen hatte, sagte er: ‹Also, ich fand diese Besprechung
nicht besonders gut›. Seine Stimme klang dann humorvoll und
nachsichtig, aber sie machte mich üblicherweise trübsinnig. Was er
mir vermitteln wollte, war ganz einfach: Um Ruhm muss man kämpfen
und sich dann dafür entschuldigen. Berühmt oder nicht, Vorwürfe
bleiben dir nicht erspart!»
«Trübseligkeit» gehört zu Munros großen Feindbildern. Ihre
Charaktere setzen sich auf jede erdenkliche Art dagegen zur Wehr.
Sie wehren sich gegen erdrückende Konventionen, die entmutigenden
Erwartungen anderer Leute und auferlegte Verhaltensregeln, gegen
jede Form von geistiger Erstickung. Hat sie die Wahl, entweder ein
Mensch zu sein, der Gutes tut, aber keine authentischen Gefühle und
ein abgestumpftes Herz hat, oder einer, der sich schlecht benimmt,
seinen Gefühlen aber treu ist und so vor sich selbst lebendig
bleibt, wird eine Munro-Frau sich wahrscheinlich für Letzteres
entscheiden; und sollte sie doch Ersteres wählen, wird sie ihre
eigene Glätte, Arglist, Gewieftheit, Schläue und Pervertiertheit
kommentieren. Ehrlichkeit ist in Munros Werk nicht die beste
Politik. Sie ist überhaupt keine Politik, sondern ein Grundelement
wie die Luft zum Atmen. Ob auf schönem oder wüstem Wege, die
Figuren müssen wenigstens etwas davon zu fassen bekommen, sonst
haben sie das Gefühl unterzugehen.
Der Kampf um Authentizität findet vor allem auf dem Feld der
Sexualität statt. Die gesellschaftliche Welt Munros – wie die
meisten Gesellschaften, in denen Schweigen und Heimlichkeit in
sexuellen Belangen die Norm darstellen – ist erotisch stark
aufgeladen, und diese Aufladung umgibt jede Figur wie eine
leuchtende Aura und illuminiert Landschaften, Räume und Objekte.
Zerwühltes Bettzeug sagt bei Munro mehr als jedes explizite
Ineinanderschieben von Geschlechtsteilen. Wie Hunde in einer
Parfümerie sind Munros Figuren sensibel für die sexuelle Chemie
innerhalb einer Gruppe – sowohl für die Chemie unter Fremden als
auch für die eigenen Instinkte. Verlieben, Verlangen, den
Ehepartner lustvoll betrügen, sexuelle Lügen erzählen, aus einem
unwiderstehlichen Drang
heraus beschämende Dinge tun, aus gesellschaftlicher Verzweiflung
sexuelle Ausbeutung betreiben – wenige Autoren haben solche
Vorgänge gründlicher und gnadenloser durchleuchtet. Sexuelle
Grenzverschiebungen sind für manch eine Munro-Frau überaus
spannend; um Grenzen überschreiten zu können, muss man aber genau
wissen, wo der Zaun steht, und Munros Universum ist kreuz und quer
von genau definierten Schranken durchzogen. Hände, Stühle, Blicke –
alles ist Teil einer komplexen inneren Landkarte voller
Stacheldraht, Fußfallen und Schleichwegen durchs Gebüsch. Für
Frauen aus Munros Generation stellte die sexuelle Selbstbestimmung
die Befreiung und einen Ausweg dar.
Einen Ausweg aber woraus? Aus der Verweigerungshaltung und einer
sich selbst beschneidenden Verachtung, die sie in «Putenzeit» so
eindrücklich beschreibt:
«Lily erklärte, sie lasse ihren Mann nie an sich heran, wenn er
getrunken habe. Marjorie erzählte, seit sie an einer Blutung
beinahe gestorben sei, lasse sie ihren Mann nie mehr an sich heran.
Punktum! Lily beeilte sich hinzuzufügen, ihr Alter würde es nur
versuchen, wenn er getrunken habe. Ich begriff, es war eine Frage
des Stolzes, den Ehemann nicht ‹an sich herankommen› zu lassen.
Aber ich konnte nicht recht glauben, dass ‹an sich herankommen
lassen› bedeutete, ‹Sex zu haben›.»
Für ältere Frauen wie Lily und Marjorie wäre Spaß am Sex einer
Demütigung und Niederlage gleichgekommen. Für Frauen wie Rose in
«Das Bettlermädchen» ist es eine Frage des Stolzes, ein Grund zum
Feiern, ein Sieg. Für spätere Generationen von Frauen – Frauen der
post-sexuellen Revolution – war Spaß am Sex dann einfach nur eine
Pflichtübung, der perfekte Orgasmus ein weiterer Punkt, der auf die
Liste der notwendigen Errungenschaften gesetzt werden musste; und
wenn Spaß zur Pflichtübung wird, sind wir prompt wieder im Reich
der «Trübseligkeit». Eine Munro-Figur in den Wirren der sexuellen
Entdeckung mag im Geiste mitunter konfus, beschämt, gequält, sogar
grausam und sadistisch sein – einige Paare in ihren Erzählungen
haben am Psychoterror ihre helle Freude, genau wie im wahren Leben
–, aber trübsinnig ist sie nie. In manchen der
späteren Erzählungen kann Sex weniger ungestüm als kalkuliert
daherkommen. In «Der Bär kletterte über den Berg» greift Grant zum
Zweck eines verblüffenden emotionalen Tauschhandels darauf als ein
entscheidendes Element zurück. Seine geliebte Frau Fiona ist
demenzkrank und einem gleichermaßen erkrankten Mann in ihrem
Pflegeheim zugetan. Als dieser Mann von dessen abgebrühter,
praktisch gesinnter Frau Marian nach Hause geholt wird, verzehrt
sich Fiona vor Sehnsucht und hört auf zu essen. Grant will Marian
überreden, ihren Mann ins Pflegeheim zurückzubringen, doch Marian
weigert sich: Es sei zu teuer. Grant kommt jedoch dahinter, dass
Marian einsam und sexuell verfügbar ist. Sie hat zwar Falten im
Gesicht, doch ihr Körper ist noch immer attraktiv. Wie ein cleverer
Vertreter geht Grant vor, um das Geschäft zum Abschluss zu bringen.
Munro weiß genau, dass Sex sowohl Wonne als auch Qual sein, aber
ebenso gut als Druckmittel bei Verhandlungen dienen kann.
Munros Gesellschaft ist eine christliche. Dieses Christentum ist
selten offensichtlich; es bildet nur den allgemeinen Hintergrund.
Im «Bettlermädchen» schmückt Flo die Wände «mit einer Anzahl von
Merksprüchen, mit frommen und fröhlichen und leicht
unanständigen.
‹DER HERR IST MEIN HIRTE
GLAUBE AN DEN HERRN JESUS, UND DU WIRST GERETTET WERDEN›
Weshalb hatte Flo so etwas, da sie doch nicht einmal fromm war? Das
hatte man eben, es war so gebräuchlich wie ein Kalender.»
Christentum ist das, was «man eben hatte» – und in Kanada waren
Kirche und Staat nie offiziell getrennt wie in den Vereinigten
Staaten. Gebete und Bibellesungen waren in öffentlichen Schulen an
der Tagesordnung. Dieses kulturelle Christentum hat Munro reichlich
Material geliefert, gleichzeitig ist es mit einem der prägnantesten
Muster ihrer Bilder- und Erzählwelt verknüpft.
Dem wichtigsten christlichen Grundsatz zufolge fügen sich zwei
disparate, einander ausschließende Elemente – das Göttliche und das
Menschliche – zur Gestalt Jesu Christi zusammen, ohne sich
gegenseitig auszuhebeln. Das Ergebnis war nicht etwa ein Halbgott
oder ein Gott in Menschengestalt, nein, Gott wurde komplett Mensch
und blieb dabei komplett göttlich. Die Annahme, dass Christus
entweder nur Mensch oder nur Gott war, galt der frühchristlichen
Kirche als Ketzerei. Insofern beruft sich das Christentum auf die
Negierung einer Logik des Entweder/Oder und die Akzeptanz eines
Gleichzeitigkeits-Mysteriums. Die Logik besagt, dass A nicht
gleichzeitig A und Nicht-A sein kann; das Christentum sagt, dass
dies sehr wohl möglich ist. Entsprechend gilt: «A, aber
gleichzeitig auch Nicht-A.» Viele Erzählungen Munros lösen sich
genau auf diese Weise auf – oder auch nicht. Das augenfälligste
Beispiel findet sich in «Das Leben von Mädchen und Frauen», wo sich
die Lehrerin, die die luftigen und fröhlichen Schuloperetten
inszeniert, im Fluss ertränkt.
«Miss Farris in ihrem samtenen Schlittschuhkostüm (…) Miss Farris
con brio (…), Miss Farris, die ohne Protest mit dem Gesicht nach
unten im Wawanash trieb, sechs Tage lang, bevor sie gefunden wurde.
Obwohl es keinen Weg gibt, diese Bilder nebeneinander zu hängen –
wenn das letzte richtig ist, muss es dann nicht alle anderen
verändern? –, werden sie jetzt zusammenbleiben müssen.»
Für Munro kann etwas wahr, nicht wahr und dennoch wahr sein. «Sie
ist echt und unehrlich», denkt Georgia über ihre Reue in «Anders».
«Wie schwer es mir fällt zu glauben, dass ich das erfunden habe»,
sagt die Erzählerin in «Die Entwicklung der Liebe». «Es scheint so
sehr Wahrheit zu sein, dass es die Wahrheit ist; das ist es, was
ich über sie glaube. Ich habe nicht aufgehört, es zu glauben.» Die
Welt ist profan und heilig. Sie muss in einem Stück
heruntergeschluckt werden. Nie wird man alles über sie wissen
können.
In der Erzählung «Was ich dir noch erzählen wollte» beschreibt die
eifersüchtige Et den Ex-Liebhaber ihrer Schwester – einen Aufreißer
und Frauentyp –, und den Blick, den er den Frauen zuwirft, einen
Blick, der «in ihm den Wunsch auszulösen schien, ein Tiefseetaucher
zu sein, der tief hinabtaucht, hinab durch die Leere und Kälte und
die Wrackteile, um den einen Gegenstand zu entdecken, an den er
sein Herz gehängt hatte, etwas Kleines und Kostbares, schwer zu
Lokalisierendes wie einen Rubin, vielleicht, am Meeresgrund.»
Munros Erzählungen wimmeln von solch zweifelhaften Suchenden und
fingerfertigen Tricks.
Aber genauso wimmeln sie von Erkenntnissen: In jeder Erzählung, in
jedem Menschen könnte ein gefährlicher Schatz schlummern, ein
unschätzbarer Rubin. Eine Sehnsucht.
Copyright©O. W. Toad, Ltd. 2008
Aus dem Englischen von Monika Schmalz
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Üppige Natur, verdrängte Gefühle, respektable Fassaden, heimliche sexuelle Ausschweifung: Wie hängt Alice Munros Heimatprovinz Southwest Ontario mit ihrem Erzählwerk zusammen? Von Margaret Atwood
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kultur
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2011-06-16T14:32:59+0200
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2011-06-16T14:32:59+0200
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https://www.cicero.de//kultur/verblueffende-dinge-geschehen/47399
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Butz Peters im Gespräch mit Alexander Marguier - Cicero Podcast Politik: „So viel Chuzpe ist unvorstellbar“
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Es war der größte Kunstraub in der deutschen Nachkriegsgeschichte: In den frühen Morgenstunden des 25. November 2019 drangen zwei Täter in Dresdens historisches Grüne Gewölbe ein, schlichen bis zum Juwelenzimmer vor – und hackten dort mit einer Axt jene Vitrine auf, in der die „Kronjuwelen Sachsens“ lagen. Die Beute: 21 Schmuckstücke, besetzt mit mehr als 4100 Diamanten und Brillanten im Wert von insgesamt 113 Millionen Euro. Aber die eigentliche Bedeutung lässt sich mit Zahlen nicht bemessen, denn viele Preziosen gehörten einst Sachsens Sonnenkönig August dem Starken und sind ohnehin Teil des kulturhistorischen Erbes des Freistaats. Zuerst herrschte in Dresden großes Rätselraten, denn das Grüne Gewölbe galt eigentlich als uneinnehmbar. Wer konnte also hinter diesem spektakulären Raub stecken? Ein knappes Jahr später wurden dann bei einer Razzia zahlreiche Wohnungen, Läden und Garagen in Berlin durchsucht; die Polizei nahm drei Tatverdächtige aus dem berüchtigten Remmo-Clan wegen des Vorwurfs schweren Bandendiebstahls und der Brandstiftung fest. Der anschließende Prozess vor dem Dresdener Landgericht wiederum war bisher mindestens ebenso spektakulär wie die Tat selbst – nicht zuletzt, weil kurz vor Weihnachten völlig überraschend ein Großteil der erbeuteten Schmuckstücke wieder auftauchte. Die Übergabe der Juwelen erfolgte in einer Berliner Anwaltskanzlei, die Einzelheiten des Deals zwischen dem Remmo-Clan und den Strafverfolgungsbehörden sind dubios. Cicero-Autor Butz Peters hat den Grüne-Gewölbe-Prozess von Beginn an verfolgt und kennt bisher unbekannte Details. Im Podcast spricht er mit Alexander Marguier über die Hintergründe der Tat: Warum nahm der Jahrhundert-Raub seinen Ausgang mit einer harmlos erscheinenden Klassenfahrt? Ging es den Tätern letztlich sogar um eine Art Mutprobe, mit der sie im kriminellen Milieu Berlins angeben wollten? Und wie ist es eigentlich um die Sicherheit kulturhistorischer Schätze in deutschen Museen ganz grundsätzlich bestellt? Wer Peters zuhört, dem wird schnell klar: Dieser Einbruch ist eine von vorn bis hinten haarsträubende Angelegenheit, die eigentlich niemals hätte passieren dürfen. Das Gespräch wurde am 19. Januar 2023 aufgezeichnet. Sie können den Podcast jetzt hier – klicken Sie dazu „Inhalte aktivieren“ – hören, oder auch auf allen Podcast-Portalen. Sie sind interessiert an weiteren Themen und noch kein Abonnent von Cicero Plus? Testen Sie uns, gratis für 30 Tage. Mehr Podcast-Episoden:
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Alexander Marguier
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Der Grünes-Gewölbe-Strafprozess geht in seine entscheidende Phase. Der Jurist und Autor Butz Peters war von Anfang an dabei. Im Gespräch mit Alexander Marguier berichtet er von den teilweise grotesken Hintergründen – und davon, wie unbedarft viele Museen in Sachen Sicherheit sind.
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"Podcast",
"Interview",
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"Dresden"
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2023-01-26T08:43:40+0100
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2023-01-26T08:43:40+0100
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https://www.cicero.de//innenpolitik/butz-peters-cicero-podcast-politik-kronjuwelen-sachsens-dresden-gruenes-gewoelbe
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Blixa Bargeld - „Zerstörung ist heiter“
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Herr Bargeld, auf Ihrer neuen Platte „Lament“ kommen Sie uns mit dem Ersten Weltkrieg, nachdem wir uns bereits das ganze Jahr schwindelig erinnert haben …Blixa Bargeld: Der Anstoß kam von außen. Das Album ist eine Auftragsarbeit und als Performance konzipiert. Wir wurden von der Region Flandern gebeten, das Thema zu bearbeiten – als Auftakt für deren Jubiläumsjahr. Ich habe versucht, die niedergetrampelten Pfade zu verlassen und mithilfe von zwei Wissenschaftlern, einer Linguistin und einem Historiker, ein paar Nischen zu finden, die noch nicht so ausgeleuchtet sind. Dabei interessierte mich vor allem der Aspekt der klanglichen, musikalischen Quellenlage. Und sind Sie fündig geworden?Es gibt im Prinzip keine Tonaufzeichnung aus dem Ersten Weltkrieg, weil es keine Tonaufzeichnungsverfahren gab. Einzige Ausnahme bilden die Walzenaufnahmen. Wir hatten das Glück, dass diese Aufnahmen, die Wissenschaftler von den Kriegsgefangenen gemacht haben, teilweise während Verhören, in Berliner Lautarchiven zu finden sind. Gibt es eine Akustik des Krieges?Es ging überhaupt nicht um den Klang. Das ist ein Aspekt, der mich gar nicht interessiert hat. Ich wollte von vornherein vermeiden, dass es zu der Gleichung kommt, Einstürzende Neubauten sei gleich Krach plus Erster Weltkrieg. Auf Ihrem Album gibt es eine spannende Akustikversion des Ersten Weltkriegs. Jedes Land wird von einer bestimmten Melodie repräsentiert, gespielt auf Plastik-Abwasserrohren.Das war eine statistische Komposition. Wenn man die Dauer des Ersten Weltkriegs in Viervierteltakte aufteilt und 120 Schläge pro Minute zugrunde legt, dann dauert das Ganze 13 Minuten. Jeder einzelne Taktschlag innerhalb eines Viervierteltakts ist ein Tag. Dann kommen die einzelnen Kriegsparteien an bestimmten Takten dazu und steigen nach und nach aus diesem Krieg aus. Eigentlich wollte ich das auf Styroporplatten spielen, aufgespießt auf Beckenständer, sodass während des Spieles die Nationen zerkrümeln und verschwinden. In einem Song singen Sie „Heil dir im Siegerkranz, Kartoffeln mit Heringsschwanz“. Ein anderes Stück handelt vom Beginn des Ersten Weltkriegs, dargestellt unter Zuhilfenahme eines Tierstimmenimitators. In solchen Momenten könnte man meinen, Sie hätten Humor. Ich habe Humor. „Heil dir im Siegerkranz“ ist eine Montage der größten Hit-Hymnen des Krieges überhaupt. Unter den Kriegsparteien gab es an die acht Nationen, die dieselbe Hymne verwendeten, mit verschiedenen Texten. Die Tierstimmenimitation fand ich im Rundfunkarchiv. Aus dem Jahre 1926. Das Stück schließt mit einem Pfau, der Ludendorff vorbeireiten sieht, ein Rad schlägt und „Hitler“ schreit. 1926 wohlgemerkt. Das hat mich umgehauen. Darf Krieg lustig sein?Darf man Witze über den Krieg machen? Ja, man darf. Man muss sogar. Hätten mehr Leute darüber gelacht, wäre es vielleicht anders gelaufen. Haben sie natürlich nicht. Der Tierstimmenautor musste seinerzeit emigrieren. Musikalisch haben Sie im Vergleich zu früher längst anderes Terrain betreten. Hat die Zerstörung als schöpferisches Prinzip Pause?Zerstörung war nie ein Neubauten-Motto. Mit Walter Benjamin gesprochen: Der zerstörerische Charakter ist heiter und freundlich, er kennt nur eine Devise: Platz schaffen. Wo aber ist die Radikalität der Neubauten heute? Wo haben Sie sie denn vorher verortet? In der Musik, im Visuellen. In den achtziger Jahren haben Sie in Autobahnbrücken musiziert. Heute interessieren Sie sich vermutlich mehr für Spielplätze.Das ist sicherlich richtig. Es gibt ja in Berlin-Mitte nicht so viele Autobahnbrücken. Von meinem Haus aus finden Sie aber 30 Meter in jede Richtung einen Spielplatz. Und das findet meine Tochter auch vollkommen richtig so. Das hat aber wenig mit dem Ersten Weltkrieg zu tun. In ihren Anfängen sind die Einstürzenden Neubauten akustisch Amok gelaufen. Heute scheint es, als hätten sie sich längst in der bürgerlichen Kunstszene etabliert.Schön wär’s. Die Einstürzenden Neubauten haben in ihrer 35-jährigen Karriere ganze zwei Theaterstücke beschallt. Trotzdem werde ich in jedem Interview gefragt, wie das jetzt so ist mit dem Theater. Die angebliche Umarmung des bürgerlichen Feuilletons, das Aufsteigen in die sogenannte Hochkultur, ist etwas, das sich Journalisten gegenseitig aus ihren eigenen Archiven abschreiben. Das spielt in meiner Lebensrealität überhaupt keine Rolle. Lassen Sie mich auch mal abschreiben: Sie sind heute Lieblinge des Feuilletons, haben den Bohrer gegen Streicher getauscht, lieben gutes Essen und sind Hausbesitzer. Fehlt nur noch ein Cicero-Abo, und die Bürgerlichkeit ist total.Ich habe gar nichts gegen Cicero. Im Ernst, ich habe nicht vor zu leugnen, dass meine Lebenssituation 2014 natürlich eine ganz andere ist als 1980. Das bedeutet aber auch, dass das, was ich jetzt mache, nicht mehr dasselbe ist wie 1980. Andererseits bin ich genetisch immer noch derselbe Mensch. Vielleicht gibt es in meinem Denken eine Evolution, es hat aber sicher nicht radikal die Richtung gewechselt. Insofern müsste es beides geben: Kontinuität und Weiterentwicklung. Für die meisten Journalisten spielt das keine Rolle. Sie gucken in den Computer, in ihre Archive und dann gibt es diese unendlichen Selbstläufer. Das selbstläuferischste Zitat, das mir immer wieder aufstößt, stammt ursprünglich von Diedrich Diederichsen. Diederichsen hat irgendwann einmal gesagt, der Tourplan liest sich wie eine Agenda der Goethe-Institute. Da kann ich auch nur sagen, schön wär’s. Das ist einfach nicht wahr. Berlin war immer Ihr Thema. Die Einstürzenden Neubauten haben diese Stadt hörbar gemacht. Ihr mit „Befindlichkeit des Landes“ im Jahre 2000 eine düstere Hymne geschrieben, in der es heißt „Melancholia schwebt über der neuen Stadt und über dem Land“. Ein Lied, das zu einem Berlin passte, das noch nicht wusste, wohin es gehörte. Das war die Wut über die Architektur des Potsdamer Platzes, über den Wahnsinn, die Geschichte unter immer neuen Schichten verschwinden zu lassen. Berlin ist erwachsen geworden. Die zarte Melancholie ist mittlerweile dem Glatten, Sauberen gewichen. Welches Lied müsste gespielt werden, um dieser Stadt heute gerecht zu werden?Das weiß ich nicht. Dazu habe ich mich in letzter Zeit einfach mit anderen Dingen beschäftigt. Kurz nach diesem Lied habe ich Berlin verlassen. Ich hab dann jahrelang in San Francisco, dann in Peking gelebt und bin letztendlich aus familiären Gründen zurück nach Berlin gekommen. Wohne aber in Ostberlin, das ist für einen Westberliner immer noch ein Unterschied. Inwiefern?Für mich ist das Terra incognita. In Ostberlin verbinde ich keinerlei Erinnerungen mit irgendwas. Insofern ist es für mich, wie in einer anderen Stadt zu sein. Das Interview führte Timo Stein
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Timo Stein
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In den Achtzigern spielten die Einstürzenden Neubauten auf Kreissägen in Autobahnbrücken. Sind sie heute Lieblinge des Feuilletons? Frontmann Blixa Bargeld wehrt sich
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kultur
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2015-02-02T16:51:32+0100
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2015-02-02T16:51:32+0100
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https://www.cicero.de//kultur/blixa-bargeld-zerstoerung-ist-heiter/58817
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Neue Studie zur Wirksamkeit von Masken - „Masken reduzieren das Infektionsrisiko um etwa 80 Prozent“
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Jetzt ist es amtlich: Masken senken das relative Risiko, sich mit Covid-19 zu infizieren, um etwa 80 Prozent. Das ist das Ergebnis einer Untersuchung der McMaster University im kanadischen Hamilton, die die Bundesregierung aufhorchen lassen sollte. Denn die 29 Studien, die die Wissenschaftler dafür ausgewertet haben, lagen schon zu Beginn der Corona-Krise vor. Und das wirft Fragen auf. Die Berliner Zeitung hat sie gestellt. Und Holger Schünemann hat sie beantwortet. Er ist Professor für klinische Epidemiologie und Innere Medizin an der McMaster University, und er hat die vorliegenden Studien zur Maskenpflicht im Auftrag der WHO ausgewertet. Viele stammen aus China, wo die Menschen das Tragen einer Maske schon während der Sars-1-Epidemie 2002/2003 gewohnt waren, andere Studien wurden während der Mers-Epidemie initiiert, die 2012 auf der arabischen Halbinsel ausgebrochen war. Aber warum hat die Wissenschaft diese Studien noch nicht längst ausgewertet? „In der westlichen Wissenschaftswelt hieß es, es gibt keine Daten – weil sich bis dato niemand die Mühe gemacht hatte, die nicht-randomisierten Studien systematisch auszuwerten." Es habe erhebliche Bedenken gegeben, nicht-randomisierte Studien zu benutzen – also Studien, deren Probanden nicht nach dem Zufallsprinzip ausgewählt worden waren. Dagegen gilt die randomisierte Studie als Goldstandard in der Forschung, als beste Grundlage zum empirischen Nachweis der Wirksamkeit medizinischer Maßnahmen. Auch das Robert-Koch-Institut hat seine anfängliche Ablehnung der Maskenpflicht damit begründet, die vorliegenden Studien seien nur bedingt zuverlässig. Ja, es hatte sogar argumentiert, die Masken erhöhten das Infektionsrisiko, weil sich ihre Träger so sicher fühlten, dass sie andere Verhaltensregeln wie Abstand halten oder Händewaschen nicht mehr befolgen würden. Schünemann forscht an einer Universität, die als Wiege der evidenzbasierten Medizin gilt. Er sagt, wenn es keine randomisierten Studie gebe, müsse man eben nicht-randomisierte nehmen – „und dann genau beschreiben, wie sehr wir diesen Arbeiten vertrauen." Mit seiner Studie hat er die Zweifel an der Wirksamkeit ausgeräumt. Hätten das RKI und die WHO viele Todesfälle verhindern können, wenn sie die Bürger von Anfang an aufgefordert hätten, eine Maske zu tragen? Schünemann bejaht diese Frage – mit einer Einschränkung: Die Ergebnisse der schon existierenden Studien müssten sich erst noch bestätigen. Er sagt, dem Westen habe wohl der Sars-Schock gefehlt, um früher auf dieses Instrument zu vertrauen. Seine Studie ist ein Appell an die zunehmende Zahl der Maskenverweigerer. „Es ist nicht besonders umständlich, eine Maske zu tragen und kostet kaum Geld für den Einzelnen im Vergleich zu teuren Therapien." Das vollständige Interview mit Holger Schünemann lesen Sie hier.
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Cicero-Redaktion
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Im Kampf gegen die Ausweitung der Corona-Pandemie ist die Maske ein unverzichtbares Instrument. Das hat die systematische Auswertung bereits vorhandener Studien ergeben. Mit dem Robert-Koch-Institut und der Weltgesundheitsbehörde WHO geht der Leiter der Studie hart ins Gericht.
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"Maskenpflicht",
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innenpolitik
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2020-08-12T14:32:55+0200
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2020-08-12T14:32:55+0200
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https://www.cicero.de//innenpolitik/maskenpflicht-studie-mcmaster-university-holger-schuenemann
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Flüchtlingsgipfel in Brüssel - Die Seele an die Türkei verkauft
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Für die Europäische Union wird 2015 als rabenschwarzes Jahr in die Geschichte eingehen. In der Schuldenkrise um Griechenland ist die EU haarscharf am Abgrund vorbeigeschrammt. In letzter Sekunde wurde im Juli das Auseinanderbrechen der Eurozone verhindert. Doch in der Flüchtlingskrise ist Europa krachend gescheitert. Die Europäer haben die größte humanitäre Krise seit dem Zweiten Weltkrieg nicht kommen sehen, sie haben viel zu spät darauf reagiert, und sie haben keine gemeinsame Antwort gefunden. Der deutsche Alleingang bei den syrischen Flüchtlingen hat die Dinge nicht besser, sondern wesentlich schwieriger gemacht – auch wenn Kanzlerin Angela Merkel wohl die besten Motive hatte. Beim letzten EU-Gipfel dieses Jahres in Brüssel sollte es darum gehen, die Scherben zusammenzukehren und das Scheitern produktiv zu verarbeiten. Kanzlerin Angela Merkel gab sich wie gewohnt optimistisch: Sie setze auf die Lernfähigkeit aller 28 EU-Länder und hoffe, dass die Lernkurve im neuen Jahr „exponentiell“ nach oben gehe. Das Problem ist, dass Merkel selbst eine Getriebene ist. Im Streit um Griechenland konnte sie sich noch ruhig zurücklehnen und die Bedingungen diktieren. Nun muss sie um Hilfe der anderen EU-Mitglieder betteln, um die vielen Flüchtlinge in Europa zu verteilen. Die Lage ist so ernst, dass Merkel sogar einen bisher verfemten Drittstaat – die Türkei – ins Boot holen musste. Ihr Wunsch: Die Türkei soll die Grenzen sichern, die Bedingungen in den Lagern verbessern und so Flüchtlinge von Europa abhalten. Damit hat sie sich erpressbar gemacht und die EU gespalten. Plötzlich gibt es nicht mehr einen, sondern gleich zwei EU-Gipfel: Auf Drängen Merkels versammelte sich eine „Koalition der Willigen“ in der österreichischen EU-Vertretung, die Kanzler Werner Faymann in aller Freundschaft zur Verfügung gestellt hatte. Stargast des Minigipfels war der türkische Ministerpräsident Ahmet Davutoglu, von dem Merkel eine Lösung erhofft. Doch die lässt auf sich warten. Zwar sicherte Davutoglu zu, die „illegale“ Zuwanderung aus Syrien zu stoppen; für Syrer aus Jordanien oder Ägypten soll ab Januar eine Visumpflicht gelten. Doch der Andrang von Bootsflüchtlingen aus der Türkei in der Ägäis hat bisher kaum nachgelassen; der leichte Rückgang ist wohl vor allem auf das schlechte Wetter zurückzuführen. Zudem besteht Davutoglu darauf, dass die „Willigen“ nun auch die Zusagen umsetzen, die die EU Ende November and die Türkei gegeben hatte: Mindestens drei Milliarden Euro Finanzhilfen sowie die Umsiedlung einiger Hunderttausender Kontingent-Flüchtlinge aus der Türkei nach Europa. In beiden Fragen kommen Merkel und ihre Freunde nicht voran. Es fehlen immer noch zwei Milliarden, und bei den EU-Kontingenten zeichnet sich keinerlei Fortschritt ab. Im Gegenteil: Der bisher wichtigste Verbündete Deutschlands in der Flüchtlingskrise, Schweden, hat kapituliert; das Land möchte nun selbst Asylbewerber an andere EU-Staaten abgeben. Auch Belgien und die Niederlande wollen keine weiteren Flüchtlinge aufnehmen. Frankreich dürfte nach den Terroranschlägen von Paris höchstens zu symbolischen Gesten bereit sein. Merkel hat sich und ganz Europa von der Türkei abhängig gemacht, kann bisher aber nicht liefern. Es wird daher zu einer weiteren, dritten Runde der „Willigen“ kommen – im Februar dürfte sich zeigen, ob die deutsche Strategie doch noch verfängt. Weitere vier Monate später – im Juni – sollen dann auch die EU-Beschlüsse umgesetzt sein, die der Gipfel in Brüssel lustlos bekräftigt hat. Europa hat wieder einmal Zeit gekauft – und seine Seele an die Türkei verkauft. Also an ein Land, das selbst in den Krieg in Syrien verwickelt ist, das Pressefreiheit und Menschenrecht mit Füßen tritt, und das den gesamten Westen in einen Krieg mit Russland ziehen könnte. Die EU dürfe die Lösung der Flüchtlingskrise nicht „outsourcen“, warnt der Chef der Liberalen im Europaparlament, Guy Verhofstadt. Doch genau das geschieht gerade. Und was passiert, wenn der Merkel-Plan nicht aufgeht? Dann dürfte sich die Spaltung der EU weiter vertiefen. Faymann drohte nach seinem Treffen mit Merkel schon, dass nun auch die „Unwilligen“ aus Osteuropa mitziehen müssten, sonst könnte Österreich seinen EU-Beitrag senken. Im nächsten Jahr wird das EU-Budget überarbeitet, die Drohung mit Geldentzug ist also durchaus real. Merkel und ihre Freunde haben noch einen zweiten Knüppel in der Hinterhand: Sie spielen mit dem Gedanken, unkooperative Länder aus dem Schengen-System der Reisefreiheit auszuschließen und ein „Mini-Schengen“ zu gründen. Es könnte ungefähr die Konturen haben, die die „Koalition der Willigen“ angenommen hat, also im Wesentlichen das alte, westeuropäische Europa der Zwölf. Die Kanzlerin vermeidet es zwar noch, diese Drohkulisse auszumalen. Man spreche lieber über Anreize als über Sanktionen, heißt es in Berlin. Doch am Ende dieses Jahres bereitet sich Brüssel gedanklich bereits auf den Ernstfall vor – schon wieder.
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Eric Bonse
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Auch das letzte Gipfeltreffen des Jahres hat in der Europäischen Union keine gemeinsame Antwort auf die Flüchtlingskrise ergeben. Statt einen Fortschritt bei den Kontingenten zu erzielen, macht sich die EU immer mehr abhängig von der Türkei. Dabei können die Europäer selbst nicht liefern – Merkels Strategie wirft immer neue Fragen auf
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außenpolitik
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2015-12-18T11:58:25+0100
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2015-12-18T11:58:25+0100
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https://www.cicero.de//aussenpolitik/eu-gipfel-bruessel-wieder-nur-zeit-gekauft/60268
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Prominente über den Papst - Franziskus? Find ich gut!
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Dieser Artikel ist eine Kostprobe aus der September-Ausgabe des Cicero. Wenn Sie keine Ausgabe des Magazins für politische Kultur mehr verpassen wollen, können Sie hier das Abonnement bestellen. Die Bewegungen dieses Papstes sind überraschend, sein Handeln scheint unvorhersehbar, er bricht mit Gewohntem. Dafür vor allem wird er geschätzt. Es entsteht der Eindruck eines aktiven Kirchenmannes, der sich nicht instrumentalisieren lässt, sondern eigene Entscheidungen trifft, die sich ganz unmittelbar an der Nachfolge Christi orientieren. Er tritt in einen sehr offenen Dialog mit den Gläubigen und spricht sie direkt an, herzlich und unverstellt. Sollte Franziskus eine Veränderung der autokratischen Strukturen innerhalb des Vatikans umsetzen wollen, braucht er die Liebe und das Vertrauen der Weltgemeinschaft der Gläubigen. Zunächst aber scheint er seinem Herzen und seinem Gewissen zu folgen und da anzufangen, wo es nottut: sich den Armen und Ausgeschlossenen zuzuwenden, dort hinzugehen, wo keiner hin will, mit denen zu sprechen, die keiner sehen will, und Mitmenschlichkeit und Verantwortung einzufordern. Abgesehen von den kleinen großen Zeichen (einfaches Habit, offenes Auto, bescheidenes Wohnen) gibt es erste strukturelle Reformen: Er unterzeichnet ein Dekret zur verschärften Verfolgung von Kindsmissbrauch und passt die teilweise veraltete Justiz im Kirchenstaat internationalen Standards an. Das lässt hoffen. Martina Gedeck zählt zu den profiliertesten Charakterdarstellerinnen im deutschen Film. „Die Gottesfrage hat mich immer begleitet“, sagt die Protestantin. Italien, wo wir den Sommer mit unseren Schreibseminaren verbringen, steht noch im Banne Silvio Berlusconis. Auf gespenstische Weise imponiert er vielen Italienern, trotz seiner Plastikhaare und dem Hang zum Operettenhaften, der Lügen, der Rechtsverdrehereien und im Grunde nicht besonders männlichen Affären. Vor diesem Hintergrund stellt Franziskus das vollkommene Gegenbild dar. Der neue Papst ist in jeder Hinsicht die menschliche Opposition zu Berlusconi, vor allem zu dessen lächerlichem Prunkbedürfnis. Franziskus’ bewusster Verzicht auf alles Pomphafte zeigt, dass es zumindest an der Spitze eines geistlichen Staates einen Menschen geben kann, der durch Einfachheit beeindruckt. Meine Hoffnung ist, dass er etwas dazu beiträgt, die Italiener mit ihrem Staat und den Amtsinhabern zu versöhnen, sie aus ihrer kindischen Rolle zu holen, den Staat um jeden Preis „bescheißen“ zu müssen. Dieser Papst wendet sich dem Übel, ja dem Unrat zu, statt ihn mit erhobenem Zeigefinger für moralische Appelle zu nutzen. Er macht sich notfalls diesen Zeigefinger schmutzig, und nur dann hat ein solcher Finger Gewicht. Franziskus ist wieder ein Mächtiger, dem man sich anschließen kann, weil seine Macht auch aus gezeigter Ohnmacht besteht. Die Frage ist, ob er mit den komplizierten Verhältnissen im Vatikan allein fertig wird, welche Berater er sich holt und ob er auch mit dieser Aufgabe ein Modell für Italien schafft. Bodo Kirchhoff ist Schriftsteller. Von ihm stammen unter anderem die Romane „Die Liebe in groben Zügen“, „Schundroman“ und „Infanta“. Der neue Papst erfreut alle Christenmenschen und nicht nur die. Einfache und einnehmende Botschaften und ein Verhalten, das sie zu belegen scheint, strahlen aus – weit über die katholische Kirche hinaus. Für das Verständnis der Weltreligionen untereinander ist es ein Segen, wenn das Christentum von einem Botschafter vertreten wird, der auch bei Muslimen, Juden, Hindus und Buddhisten ankommt. Es ist ihm gelungen, große Sympathien und Erwartungen zu wecken. Das ist nicht einfach. Wirklich schwer wird es, sie zu erfüllen, wenn eine der ältesten Organisationen der Erde dafür verändert werden muss. Sebastian Turner ist Werbefachmann. Als Parteiloser hat er 2012 für das Amt des Stuttgarter Oberbürgermeisters kandidiert. Päpste kommen und gehen, der Katholizismus bleibt. Die Religion an sich bleibt, gleichgültig in welcher Form. Wir erleben die Krise der Institution(en) der Religion(en), nicht die Krise der Religion an sich. Zeitlos sind ihre Grundfragen: Wer oder was ist der Mensch? Woher kommen, wohin gehen wir? Wie, für wen, wofür leben wir? Das sind die ewigen Fragen des Seins, der Religion. [[{"fid":"59025","view_mode":"full","type":"media","attributes":{"height":600,"width":399,"style":"width: 150px; height: 226px; float: left; margin: 5px 10px;","class":"media-element file-full"}}]]Ohne Institution keine Tradition, verstanden als Weitergabe und Beschäftigung mit diesen Fragen. Dafür bestehen die Institutionen der Religionen, die Kirche zum Beispiel. Auch die Institutionen der Religionen bestehen aus Personen, charismatischen und glaubwürdigen, belanglosen oder unglaubwürdigen. Das bedeutet: Die Krise der Institution katholische Kirche und anderer religiöser Institutionen ist eine Krise ihrer Personen.Nun hat der Katholizismus wieder mit Papst Franziskus eine charismatische Person, die – wie in der zunehmend personalisierten Politik – die Hoffnungen und Wünsche der Gläubigen glaubwürdig durch seine Person fokussiert. Das ist ein Glücksfall für den Katholizismus und „die“ Religion an sich. Die Gefahr: Charisma wird zur Gewohnheit und veralltäglicht sich meistens. Die Chance: Die Zeit des Charismas ist für die Substanz zu nutzen. Lang lebe Papst Franziskus – und sein Charisma. Michael Wolffsohn ist deutsch-jüdischer Historiker. Er schrieb unter anderem die Bücher „Wem gehört das Heilige Land?“ und „Juden und Christen“. Ich sehe in der Kirche eher ein politisches als ein spirituelles Unternehmen und ans Spitzenpersonal habe ich ähnliche Erwartungen wie an Staatschefs oder Konzernlenker – Vorbildfunktion, Führungsqualitäten, Kompetenz und Menschlichkeit. In den vergangenen Jahren hätte ich keinen Euro in eine katholische Konzernaktie investiert, zu rückständig und moralisch fragwürdig erschien mir die Führung. Der Gipfel waren die systematische Vertuschung von Missbrauchsfällen und die Umarmung der Holocaust-Leugner von den Piusbrüdern. Und nun Franziskus. Nach anfänglicher Skepsis wegen zu großer Nähe zur argentinischen Militärherrschaft (die ihm nicht nachgewiesen werden konnte) überrascht der neue Chef fast täglich seine Kunden und Mitarbeiter. Er trägt keinen Hermelin und keine Prada-Schuhe, wohnt im Gästehaus statt im Palast, umarmt die Ausgestoßenen der Gesellschaft und wirbt für eine „Kirche der Armen“. Er will die Kurie reformieren, bei der Vatikanbank aufräumen, und auf das Thema Schwulenlobby im Vatikan angesprochen, sagt er, wenn es eine solche geben sollte, sei das ein Problem, weil Lobbys ein Problem seien. Und weiter: „Wenn ein Priester homosexuell ist, Gott sucht und ein Mensch guten Willens ist, wer bin ich, über ihn zu richten?“ Es gibt Homosexuelle in der katholischen Kirche? Und die können gute Priester sein? Womöglich sogar gute Menschen? Das hat uns bisher keiner von denen da oben gesagt, schön, dass es jetzt mal einer getan hat. Leider bleibt für den Papst der homosexuelle Akt eine Sünde. Aber bei der katholischen Kirche ist man ja schon dankbar für kleine Signale in Richtung mehr Menschlichkeit, Empathie und Gleichberechtigung – was nur zeigt, wie groß der Mangel ist. Aber vielleicht geschehen ja noch Zeichen und Wunder. Für den Fall, dass Franziskus den Zölibat aufhebt und Frauen ins Priesteramt lässt, kündige ich hiermit meinen Eintritt in die katholische Kirche an. Zum Glück ist die Gefahr gering. Amelie Fried ist Schriftstellerin und Fernsehmoderatorin. Sie ist evangelisch getauft, aber mit Anfang zwanzig aus der Kirche ausgetreten.
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Cicero-Redaktion
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Pomp ist nicht seine Sache. Über Homosexuelle mag er nicht richten. Damit gewinnt der oberste Hirte der katholischen Kirche die Herzen der Menschen – über alle Glaubensgrenzen hinweg. Fünf Stimmen berühmter Deutscher zu Papst Franziskus
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außenpolitik
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2013-10-31T14:59:11+0100
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2013-10-31T14:59:11+0100
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https://www.cicero.de//aussenpolitik/meinungen-uber-papst-franziskus/56248
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Jakob Augstein – „Der Garten ist das Bekenntnis zum Eigentum“
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Zum Gärtnern kam der Verleger, Spiegel-Erbe und Sohn Martin Walsers durch Zufall: Kaum in die bürgerliche Berliner Vorstadt gezogen, setzte ihn der „verwahrloste Flecken“, den er hinter seinem neuen Haus erblickte, unter botanischen Zugzwang. Jahre später ist sein Garten nun fertig, es gibt darin kaum noch Arbeit, und wohl auch deshalb setzte ihm Augstein ein literarisches Denkmal: In „Die Tage des Gärtners“ vereint er philosophische Gartengedanken mit konkreten Anweisungen, etwa der folgenden: „Wenn Sie einen Sohn haben, sollten Sie darauf achten, ihn nicht in den Gartenteich zu werfen, solange er mit Lanze oder Schwert bewaffnet ist“ – wegen der Teichfolie. Das Schreiben über Gärten kann allerdings immer nur Ersatzdroge sein, und so ist Augstein nun auf der Suche nach einem Landgut, um auf einem größeren Grundstück von vorn anzufangen. Und um sich endlich Schafe anzuschaffen, „liebevolle, zärtliche Tiere von gleichmütiger Würde“, für die er schon immer ein Faible hatte. Wir trafen ihn in Berlin. [gallery:Die Lieblingshotels der Cicero-Redaktion] Herr Augstein, wie erklären Sie sich die Renaissance des Gartens, die seit ein paar Jahren zu beobachten ist?
Das Bedürfnis, die Stadt zu verlassen und aufs Land zu gehen, ist so alt wie die Existenz der Städte. Das Bedürfnis, einen Garten anzulegen, ist so alt wie die menschliche Überlieferung. Die Idee, dass wir es hier mit einer Renaissance zu tun haben, ist selbst nur Teil irgendwelcher Marketingmechanismen, ich halte das für Unsinn. Jede Generation, die ein bestimmtes Alter und eine gewisse soziale Stufe erreicht, entdeckt die Gärten für sich, das war in den 1950er oder den 1980er Jahren auch nicht anders als heute. Woher kommt bei Ihnen die Liebe zum Garten?
Wir sind in ein Haus gezogen, das einen Garten hatte, der in sehr schlechtem Zustand war, und mussten zu diesem irgendeine Position einnehmen. Es hätte sonst nur die Möglichkeit gegeben, den Garten zu lassen, wie er war, aber wenn mir Dinge nicht gefallen, lasse ich sie ungern, wie sie sind. Ich habe also hinausgeschaut und mir gesagt: Da muss was passieren. Wenn wir allerdings in ein Haus ohne Garten gezogen wären, dann wäre das vielleicht anders gekommen, es war biografischer Zufall im Spiel. Steht der Garten für den Rückzug vor den Zumutungen der Gegenwart? Ist er der Sandkasten des erwachsenen Mannes? Welche Funktion erfüllt der Garten für Sie?
Der Garten ist ein Projekt, das Zeit braucht und Geduld und Planung und Konzentration. Ich beschäftige mich gern mit Dingen, die nicht so schnell gehen, das ist schon eine Charakterfrage. Mit noch so viel Arbeit können Sie den Prozess im Garten nicht beschleunigen, es liegt nicht in Ihrer Hand. Die Pflanze braucht eben so lange, bis sie wächst. Ein Gleichgewicht herzustellen zwischen dem eigenen Kontrollwunsch und den äußeren Umständen, den klimatischen Bedingungen, dem Charakter der Pflanzen und des Bodens, das finde ich unterhaltsam. Glauben Sie, dass für Horst Seehofer seine Modelleisenbahn eine ähnliche Rolle spielt wie für Sie Ihr Garten?
So, wie ich mir diese Modelleisenbahn vorstelle, geht es da um Kontrolle, da geht es um Herrschaft; das ist noch extremer als im Garten, da Ihnen keine natürlichen Bedingungen Grenzen setzen. Der Gegenspieler fehlt, der Kommunikationspartner, das Gegenüber. Im Garten haben Sie viele Variablen in Ihrer Gleichung, die sich fortwährend ändern und die Ihnen teilweise sogar unbekannt sind. Das bietet der Modellbaukasten nicht, den haben Sie zu 100 Prozent unter Kontrolle, und das macht es als Spiel dann ein bisschen langweilig, finde ich. Sie empfehlen in Ihrem Buch eine Tulpe aus den kirgisischen Alatai-Bergen. Dem Trend zu lokalen Zutaten, wie er im Kulinarischen zu beobachten ist, scheinen Sie im Garten nicht zu folgen?
Naja, wenn Sie hier nur pflanzen, was natürlich vorkommt, dann wird das ein trauriger Garten. Man muss sich darüber im Klaren sein, dass wir in einer Region der extremen Temperaturschwankungen leben, mit einer Spanne von über 50 Grad im Jahr. Pflanzen können damit nur umgehen, wenn sie aus Gegenden kommen, wo das auch so hart ist, also aus irgendwelchen kirgisischen Bergen. Oder wenn sie über Jahrhunderte gezüchtet wurden, wie viele Rosenarten. Mit der Natur, die Sie finden, wenn Sie hier etwa nach Brandenburg hinausfahren, hat das allerdings nichts mehr zu tun. Was wächst denn bitte um Berlin herum? Kiefern und ein bisschen Steppengras, das war es dann auch im Wesentlichen. Seite 2: Von Gartenzwergen, Hortensien-Joints und Nymphen Sie zitieren in Ihrem Buch aus Oscar Wildes Märchen vom selbstsüchtigen Riesen, dem sein Garten genommen wurde, sein liebster Besitz, da er ihn nicht teilen wollte. Muss man seinen Garten teilen? Man zieht doch gerade eine Mauer …
… um die Menschen draußen zu halten, unbedingt. Ich bin tatsächlich der Meinung, dass man möglichst wenige Leute in seinen Garten lassen sollte, der Garten ist der Inbegriff des Eigentums, das ist sozusagen auch das Politische des Gartens. Die Grenze, die Sie da ziehen, ist nicht nur die Grenze zwischen Ordnung und Unordnung, zwischen Drinnen und Draußen, sondern auch zwischen Mein und Dein, und das halte ich für legitim. Das Bekenntnis zum Garten ist das Bekenntnis zum Eigentum. Ein richtiger Sozialist können Sie als Gärtner nur in einer öffentlichen Grünanlage sein. Warum eigentlich keine Gartenzwerge? Diese Arroganz des Bildungsbürgers dem Gartenzwerg gegenüber, ist die nicht fehl am Platze?
Ja, total deplatziert, Sie haben recht, andererseits ist es natürlich so, dass jede Art von Verschönerung und Zierde im Garten sich immer auf dem ganz schmalen Grat zwischen Spießertum und berechtigter ästhetischer Entfaltung bewegt. Viele Spießer mögen sich Zwerge aufgestellt haben, aber Zwerge per se sind doch überhaupt nicht spießig. Im Gegenteil.
Nein, ich bin vollkommen Ihrer Meinung. Ich persönlich stehe nicht so auf Zwerge, aber wenn sich die Menschen Zwerge hinstellen wollen, würde ich sagen: Nur zu! Allerdings kommt es schon sehr auf den spezifischen Zwerg an. Es gibt solche und solche Zwerge. Das Gärtnern, wie Sie es beschreiben, hört sich ungeheuer zeitaufwendig an.
Der Aufbau des Gartens kostet viel Zeit, aber das ist bei mir ja schon geschehen. Der Unterhalt hingegen macht wenig Arbeit, und das wird dann auch zum Problem, man kann ja nicht immer alles umgraben, die Beete immer wieder neu anlegen, Pflanzen herausreißen, denen es eigentlich gut geht, man kann da schon ein bisschen meschugge werden. Irgendwann ist der Garten fertig, das muss man dann akzeptieren. In Ihrem Buch erzählen Sie von Hortensien-Joints. Haben sie jemals darüber nachgedacht, Marihuana anzubauen? Aus rein hortikulturellem Interesse?
Nein, aber nicht, weil ich etwas gegen Drogen hätte, sondern da ich – wie ich es ja auch in Bezug auf die Hortensien schreibe, die man tatsächlich rauchen kann – vor zehn Jahren mit dem Rauchen aufgehört habe. Ich würde nie wieder irgendetwas rauchen, ganz egal was, da ich dann sofort wieder drauf wäre. Ich bin sozusagen ein trockener Raucher und froh, dass dieses Kapitel hinter mir liegt. Sie erzählen auch von den Nymphen, „jenen schönen und meist splitternackten Mädchen, die Grotten und Quellen bewachen.“ Gibt es diese Mädchen wirklich?
Ich fürchte nein. Das Interview führte Alexander Schimmelbusch
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Ein Gespräch mit dem gärtnernden Verleger Jakob Augstein über Nymphen, Hortensien-Joints- und Horst Seehofers Modelleisenbahn
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kultur
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2012-05-28T10:02:40+0200
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2012-05-28T10:02:40+0200
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https://www.cicero.de//kultur/der-garten-ist-das-bekenntnis-zum-eigentum/49427
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lesen,hören,sehen: journal – Versteh ich nicht, also bin ich!
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Wer hat Angst vor Rot-Grün-Blau? Als der dänisch-deutsche Künstler Olafur Eliasson vergangenes Jahr in Berlin eine Ausstellung eröffnete, überraschte er die Besucher mit einem Raum voller Nebel, der ständig seine Farbe wechselte. Wer darin umherspazierte, verlor langsam, aber sicher die Orientierung. Wie soll man so eine Arbeit nennen? Installation? Performance? Soziale Plastik?
Olafur Eliasson ist nicht der einzige Künstler, der so arbeitet. Schon der Comic-Held Batman kündigte ab 1942 mit dem an den Himmel gestrahlten Fledermaus-Symbol seine Rettungsaktionen an. Und 2008 verwandelte das Künstlerduo HeHe mit einem Laserstrahl die unsichtbaren Emissionen eines Wärmekraftwerks in Helsinki in eine grellgrün leuchtende Wolke. Der Trierer Kulturwissenschafter Gunnar Schmidt hätte seine Studie über «Projektionen auf Rauch, Wolken und Nebel» auch «Die Kunst des Flüchtigen» oder «Ästhetik des Wunderbaren» nennen können. Wenn er sie jedoch «Weiche Displays» betitelt, deutet das bereits darauf hin, dass es ihm auf den Anwendungsaspekt ankommt. Schmidt lehrt an der Fachhochschule für Technik und Wirtschaft am Fachbereich Gestaltung Intermediales Design.
Der Gebrauchswert des Buches erschöpft sich aber keineswegs in der Frage, wie man diese Medien am geschicktesten benutzt. Hier ist ein Kulturwissenschaftler am Werk, der von den Geheimnissen der mittelalterlichen Optik bis zu Julia Kristevas Theorie des semiotischen Raums das gesamte Deutungspotential dieses Ansatzes ausspielt. Leider verliert man in Schmidts akribisch entfalteter Phänomenologie mitunter den großen Zusammenhang aus den Augen. Zeitdiagnostische Wertungen wie die, dass sich an einer Lichtinstallation der australischen Gegenwartskünstlerin Deborah Kelly der Übergang vom Spiritualismus zum Physikalismus in der Medienkunst ablesen lässt, versteckt der Autor oft nur in Nebensätzen.
Für Schmidt sind diese «weichen» Medien keineswegs nur Attribute jener «Kultur des Spektakels», die der französische Theoretiker Guy Debord aufs Korn nahm. Er zieht die Linie von den Phantasmagorien des 18. Jahrhunderts, wo hösche Gesellschaften in einer Art Séance durch Hohlspiegel Projektionen auf Rauch betrachteten, über die Versuche der Firma Henkel in den dreißiger Jahren mittels Wolkenprojektionen für Persil zu werben, bis zur Lichtkunst heutiger Tage. Schmidt deutet sie als Vorläufer der modernen Unterhaltungskultur, wo auch diese auf Synästhesie, Animation und Effekt setze. Andererseits beginne mit ihnen auch die Profanierung der religiösen Imagination.
Wer sich durch das schmale, aber hochkomplexe, bisweilen hermetisch geschriebene Buch gearbeitet hat, muss sich den Bedeutungswandel der Kunst, der sich im Gebrauch von Rauch, Wolken und Nebel ausdrückt, am Ende etwas mühsam selbst zusammenbuchstabieren. Fungierten sie im 18. Jahrhundert noch als «Gegenmodell zu den traditionellen Künsten», wollen sie sie heute eher immaterialisieren. Eine Tendenz, in der man das Nachwirken des frühen Impulses spürt, klassische Repräsentationsmodelle wie das Tafelbild durch ein flüchtigeres Medium zu ersetzen. Wenn Schmidt am Schluss die «Anti-Aufklärung» Olafur Eliassons hervorhebt, redet er nicht irgendeinem Neo-Irrationalismus das Wort, sondern unterstreicht die Bedeutung der sinnlichen Erfahrung in der Kunst vor der symbolischen: Ich versteh’ die Welt nicht mehr, also bin ich! Gunnar Schmidt
Weiche Displays.
Projektionen auf Rauch, Wolken und Nebel
Wagenbach, Berlin 2011.
160 S., 22,90 €
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Projektionen und Rauchschwaden – Gunnar Schmidt untersucht die Rolle des Nebulösen in der Kunst
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kultur
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2011-06-16T15:03:18+0200
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2011-06-16T15:03:18+0200
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https://www.cicero.de//kultur/versteh-ich-nicht-also-bin-ich/47426
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Facetten der Kindererziehung - Wann ist ein Vater ein Vater?
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„Lasst Väter Vater sein“. Die Überschrift knallt schon mal. Sie befasse sich mit einer Debatte, die längst überfällig sei, schreibt die Autorin Barbara Streidl, Mitverfasserin des 2008 viel beachteten Werks „Wir Alphamädchen“, Mitbegründerin des feministischen Blogs Mädchenmannschaft und nun Urheberin dieser sogenannten Streitschrift. Die aber kommt zunächst brav daher als ein Sermon über das Glück, Kinder zu haben, über verständnislose Arbeitgeber, den Gender-Pay-Gap, die erkaltete Gesellschaft, welche die Wünsche der Väter nicht anerkenne. Nichts Neues. Dann kritisiert Streidl aber auch jene Frauen, die erwarten, dass er den Kinderjob auf die gleiche Weise ausführt, wie sie es von sich selbst gewohnt ist. Bereits vor einem knappen Jahrzehnt hat sich der Entwicklungspsychologe Wassilios E. Fthenakis in einer Studie den Facetten der Vaterschaft gewidmet und referierte über die Wandlungen der Vaterrolle in den vergangenen Jahrhunderten. Da muss es verwundern, dass die heutige Debatte um die neuen Väter noch immer im Gewand der 70er Jahre daher kommt. Während der Vater im 18. Jahrhundert noch in Haus und Hof mit patriarchalischen Strukturen herrschte, ward mit dem Ende bäuerlicher Lebenswelten seine ökonomische Position instabil, schreibt Fthenakis. Mit dem Auslagern seiner Arbeitsstätte löste sich auch sein Einfluss auf die Kindererziehung. Sichtbar wird der Wandel der Vaterrolle vor allem im Scheidungsrecht: Wurden bis ins 19. Jahrhundert die Kinder grundsätzlich ihm zugesprochen, bekam von nun an die Mutter den Zuschlag. In der Nachkriegszeit, so Fthenakis, etablierte sich dann die „Tender Years Doktrin“, nach der die Mutter in ihren elterlichen Kompetenzen dem Vater überlegen sei. Das heutige Vaterbild wiederum speist sich, so klingt es auch bei Streidl an, aus der Anfangszeit des Feminismus, wo auf der einen Seite der androgyne weibliche behütende Typus alles richtig – weil mütterlich – mache und auf der anderen Seite der verantwortungslose Vater seine Familie im Stich ließe oder Gewalt ausübe, konstatiert Fthenakis. So wachsen die Kinder heute im vermeintlich besten Fall in einer empathisch-weich-weiblichen Welt auf. Oder in einer verweichlichten? Das klassische Stadtkind lebt ohne große Pflichten, wenn es nicht gerade einen Meerschweinchenkäfig säubern muss. Es soll sich auf die Schule konzentrieren und Mama macht den Rest. So ähnlich monieren es zumindest gerade Arbeitgeber in Australien. Mitarbeitern, die auf einem Bauernhof groß geworden sind, so formulierte es der Bergbauunternehmer Jack Trenamen aus Queensland, könne man in Sachen Arbeitsethik nichts vormachen. Den Städtern dagegen fehle es an Motivation und der Bereitschaft, „sich die Hände schmutzig zu machen“. Die amerikanischen Psychologen Jean M. Twenge und Tim Kasser beschreiben die „Generation Me“ ähnlich in ihrem Wunsch, mit wenig Arbeit viel Geld zu verdienen. Auf dem Arbeitsmarkt fielen diese dann dadurch auf, dass ihr jegliche Fähigkeiten zum echten Anpacken fehlten. Der Grund, so die Wissenschaftler: Viele Jugendliche müssten während der Schulzeit nicht mehr arbeiten. Das mache sie dann im späteren Arbeitsleben faul. Wenn wir also heute über die neuen Väter debattieren, muss auch der Blick in längst vergessene Strukturen erlaubt sein. Nicht alles, was wir Mütter uns in den vergangenen Jahrzehnten angeeignet haben, muss auf Dauer gut sein für unsere Kinder und für ihr späteres Fortkommen. Auch Kinder, die nicht auf einem Bauernhof inmitten all der gelebten Verantwortung groß werden, sollten ein paar Pflichten mit auf den Weg bekommen. Möglicherweise sind die Väter darin besser als die Mütter. Und vielleicht ist dies ein Anreiz für Unternehmen, den Männern mehr Flexibilität und Zeit für ihre Familien zu ermöglichen.
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Marie Amrhein
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Kolumne: Stadt, Land, Flucht. Väter sollen sich um die Kinder kümmern, aber sie sollen es machen wie die Mütter. Dabei ist es Zeit für die Frage: Was kann ein Vater besser als die Mutter?
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kultur
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2015-08-23T10:44:30+0200
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2015-08-23T10:44:30+0200
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https://www.cicero.de//kultur/facetten-der-kindererziehung-wann-ist-ein-vater-ein-vater/59729
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Dobrindts „Infrastrukturabgabe“ - Die Mikro-Maut
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Der Endspurt um die Pkw-Maut hat begonnen. Bis Ostern will Verkehrsminister Alexander Dobrindt alles unter Dach und Fach haben. Doch auf den letzten Metern muss er durch heftige Zahlengewitter. Denn es sagt sich leicht, dass der Minister die Einnahmen für sein umstrittenstes Projekt maßlos hochgerechnet hat. Niemand – auch er nicht – kann schon jetzt das Gegenteil beweisen. Im Bundestag werden nun Fachleute angehört; erst im Verkehrsausschuss, dann im Haushaltsausschuss. Solche Anhörungen gleichen streckenweise Gerichtsprozessen: Jede Seite lädt ihre Zeugen oder beruft sich auf ihre jeweiligen Fachleute. In diesem Fall sind es beauftragte Gutachter. Für Schlagzeilen sorgen zwei gutachterliche Stellungnahmen: So bemerkt der Verkehrswissenschaftler Ralf Ratzenberger, der auch Studien für den mautkritischen ADAC erstellt hat: Die Einnahmeprognose für Fahrer aus dem Ausland müsse halbiert werden. Auch eine Studie im Auftrag der Grünen-Bundestagsfraktion behauptet, der Bund könne nicht einmal mit der Hälfte der prognostizierten jährlichen Einkünfte rechnen. Der Grund und zugleich Hauptvorwurf darin: Dobrindts Haus habe sich bei den ausländischen Pkw schlicht verzählt, nämlich Durchreisende doppelt gerechnet. Für das Autozählen ist die Bundesanstalt für Straßenwesen zuständig, eine nachgeordnete Behörde des Verkehrsministers. Nach ihren Daten prognostiziert das Verkehrsministerium etwa 130 Millionen Ein- und Durchfahrten ausländischer Pkw im Jahr. Als Einfahrer gelten Tagestouristen und Deutschlandurlauber, die an einer Stelle ein- und ausreisen. Durchfahrer hingegen sind zum Beispiel Dänen, die in Italien Urlaub machen. Die kommen auch wieder zurück und kaufen sich dann wahrscheinlich ja wieder eine Tagesvignette, sagen Dobrindts Rechner und folgern: also tatsächlich doppelt zählen, denn die zahlen auch doppelt. Doch der Minister will auf das Grünen-Gutachten nicht öffentlich reagieren, nach dem Motto: Nicht einmal ignorieren! Er will nicht einmal sagen, dass er es für unseriös hält oder eine Auftragsarbeit der Opposition. Seitens Dobrindt wird auf die eigenen Fachleute verwiesen, Professoren für Mobilität und Öffentliches Recht, die ohne Vorgaben arbeiteten. Der Grünen-Gutachter – Schmid Mobility Solutions heißt die GmbH – war im November schon einmal mit selber Ware auf dem Markt – und zwar beauftragt von der FDP. Vom Titelbild über das Vorwort und Fazit bis hin zur Länge gleichen beide „Kurzstudien“ einander – nur eben die Auftraggeber sind grundverschieden. Die Kernfrage jedoch ist: Was wird die Pkw-Maut tatsächlich einbringen? Wie hoch werden die Verwaltungskosten wirklich sein? Dobrindt prognostiziert Einnahmen von etwa 700 Millionen Euro im Jahr abzüglich der Bürokratiekosten von etwa 200 Millionen. Dann blieben 500 Millionen Euro pro Jahr an zusätzlichen zweckgebundenen Mitteln für sein Haus. Macht in einer Legislaturperiode zwei Milliarden Euro. Die Kritiker gehen von weniger als der Hälfte aus. Erstens weil eben die Brutto-Einnahmen viel spärlicher und zweitens, weil die Verwaltungskosten doch viel üppiger ausfallen würden. So heißt es in den Maut-kritischen Studien, Dobrindts Leute hätten nicht eingerechnet, dass es viel mehr Maut-Ausgabestellen geben müsse, die noch dazu rund um die Uhr zu besetzen seien. Im Verkehrsministerium hält man das für Schlechtrechnen. Denn tatsächlich fielen diese Kosten nicht an. Schließlich gebe es dann Apps und andere Zahlmöglichkeiten online, die Verkaufsbuden unnötig machten. Niemand behauptet, dass die Pkw-Maut ein Minus-Geschäft würde – immerhin. Es gehört seit jeher zum Geschäft der Regierenden, geplante Ausgaben klein zu rechnen und umgekehrt geplante Einnahmen möglichst hoch dazustellen. Die Opposition hat die demokratische Pflicht, das kritisch zu sehen – und stellt es folglich umgekehrt dar. Oft genug tut sie das zu Recht, gerade bei Verkehrsprojekten: siehe BER-Flughafen. Läge am Ende die Wahrheit in der Mitte, dann brächte die Pkw-Maut vielleicht 300 Millionen Euro pro Jahr, also 1,2 Milliarden Euro in einer Legislaturperiode. Ist das viel oder wenig? Ein Kilometer neuer Bundesstraße oder Autobahn kostet zwischen acht und zehn Millionen Euro. Die Pkw-Maut ermöglichte demnach 30 Kilometer neue Straßen pro Jahr – 120 Kilometer in einer Wahlperiode. Angesichts von 13.000 Autobahnkilometern in Deutschland kann man das für mickrig halten. Es ist – gemessen an notwendigen Investitionen in den Straßenbau von schätzungsweise sieben Milliarden Euro – zumindest eine wahrlich brauchbare Strecke und Summe. Dobrindts Rechnungen werden nun also noch kräftig durchgespült. Der Koalitionspartner SPD hat schon angekündigt, dass er hier und da Änderungen wünscht. Am Ende aber wird er vermutlich eher zustimmen als daran einen Regierungsriss zu provozieren. Finanzminister Schäuble jedenfalls hat sie in seinen Eckpunkten für den Etat 2016 schon fest eingeplant, Dobrindts Pkw-Maut. Die inzwischen übrigens offiziell Infrastrukturabgabe heißt. Da hat sich Dobrindt – auch bei den kritischen Gutachtern – bereits durchgesetzt.
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Wulf Schmiese
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Kann Dobrindt nicht zählen? Hat der Verkehrsminister sich wirklich schlicht verrechnet bei der Pkw-Maut? Kritiker werfen ihm Zahlentrickserei vor, im Bundestag tobt die Schlacht der Gutachter. Tatsächlich sieht es so aus, dass die Maut schon bald kommt. Doch die Einnahmen reichen nach Cicero-Schätzungen gerade einmal für 30 neue Straßenkilometer pro Jahr
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innenpolitik
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2015-03-18T15:39:01+0100
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2015-03-18T15:39:01+0100
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https://www.cicero.de/innenpolitik/dobrindts-infrastrukturabgabe-pkw-mikro-maut/59003
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Michael Naumann – Provinzpolitiker Kauder und die deutsche Sprache
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„In Europa wird wieder Deutsch gesprochen“, rief der
CDU-Fraktionschef Volker Kauder seinen Parteifreunden beim jüngsten
Wellness-Kongress der Union zu. „Oh, really?“ antwortete die
britische Presse mit der inseltypischen Empörung. Na klar, legt
„Bild“ nach, pünktlich zum Besuch des britischen Premiers: „Europa
spricht Deutsch, Herr Cameron!“ – und „Was wollen die Engländer
eigentlich in der EU?“ Für alle Bild-Leser: Das ist das Land der
Königin und ihrer Schwiegertöchter, tot und lebendig. Und die
brauchen wir deutschen Europäer doch wirklich immer wieder. Von den
meist englischen Nackedeis auf Seite eins ganz abgesehen. Lebte er noch, könnte sich Friedrich Schiller als literarischer
Testimonial-Spot von „Bild“ missbrauchen lassen: Deutsch, so meinte
er einmal, sei der Stamm der Sprachen Europas, die anderen „sind
die Blätter.“ Dabei konnte er natürlich nicht an das besondere
deutsche Blatt denken, das sich laut seinem stellvertretenden
Chefredakteur Nikolaus Blome als Teil der „europäischen
Öffentlichkeit“ versteht, die, wer will das bestreiten, in jedem
Bauwagen, an jedem Stammtisch beginnt – und bisweilen auch
endet. Sind wir also wieder im Nationalismus des frühen 19.
Jahrhunderts mitsamt seinem Sprachenstreit und Sprachenhochmut
gelandet? Unvergessen ist der Hochmut deutscher Historiker, als sie
entdeckten, dass peinlicherweise Deutsch die „Arbeitssprache“ im
ersten panslawistischen Kongress zu Moskau (1867) war. Wann also
wird Herr Kauder beim irgendwann fälligen Gespräch mit dem neuen
Vorstand der Deutschen Bank, dem indischen Briten Anshu Jain,
darauf beharren, dass der Vielfachmillionär doch bitte die
Landessprache benutzen möge? Lesen Sie auf der nächsten Seite, warum Helmut Kohl aus
Oggersheim im Vergleich zu Kauder ein strahlender Kosmopolit
war „Provinz“ beginnt im Kopf: Volker Kauder, der offensichtlich
stolz darauf ist, dass mit deutschen Steuergeldern und deutschen
Haushalts-Vorschriften europäische Rettungsmaßnahmen verknüpft
werden, ist ein Provinzpolitiker, gegen den – im Vergleich - der
Europäer Helmut Kohl aus Oggersheim ein strahlender Kosmopolit war.
Was hülfe es (Luther-Deutsch), ihm zu erklären, dass die
Demütigung, die mit den haushaltspolitischen Restriktionen für
Griechen, Portugiesen oder demnächst auch Italiener einhergeht,
tunlichst nicht unter dem deutschen Amtssiegel einherkommen
sollte. Europapolitik ist nicht identisch mit der Europäischen
Fußballmeisterschaft. Und jene kennt in diesen Tagen auch keinen
Gewinner. Wer sich, wie Kauder, vor Abschluss der politischen und
ökonomischen Schlussbilanz Europas als deutschsprachiger Sieger
ausruft, sollte sich von Guido Westerwelle beraten lassen – seine
selbstbewusste Aufforderung, ein britischer Korrespondent möge
seine Frage doch bitte auf Deutsch stellen, hat rein gar nichts zur
Förderung der Sprachkurse des Goethe-Instituts beigetragen (Erste
Lektion: „Lightbulb“ heißt „Glühbirne“). Nein, wir leben im 21. Jahrhundert, und die Arbeitssprache der
international und wissenschaftlich tätigen Europäer ist Englisch.
Europa spricht weder finnisch, noch deutsch. Das mag bedauern, wer
will. Tatsache ist, dass die deutsche physikalische Doktorarbeit
der Kanzlerin in der zeitgenössischen Wissenschaft dieselbe
internationale Rezeptionsgeschichte vorzuweisen hat wie der
epochenversetzte Ausbruch Kauders in überholten Nationalismus: Man
wundert sich und fragt sich, was das heißen könnte. In Kauders Fall
ist die Antwort einfach: Überhaupt nichts. Nothing at all.
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„In Europa wird wieder Deutsch gesprochen“, rief CDU-Fraktionschef Volker Kauder kürzlich aus. Wann wird dieser wohl im Gespräch mit dem neuen Vorstand der Deutschen Bank, dem indischen Briten Anshu Jain, darauf beharren, dass der Vielfachmillionär doch die Landessprache benutzen möge, fragt sich Cicero-Chefredakteur Michael Naumann
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außenpolitik
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2011-11-18T16:54:51+0100
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2011-11-18T16:54:51+0100
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https://www.cicero.de//aussenpolitik/provinzpolitiker-kauder-und-die-deutsche-sprache/46553
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Fox & Sheep - Mit Kinder-Apps zum Erfolg
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„Hey, ich bin Verena. Wartest du schon lange?“ Auch wenn die viel beschäftigte Verena Pausder manchmal unpünktlich ist, hält sie sich nicht lange mit Förmlichkeiten auf. Die schlanke Frau mit den strahlend blauen Augen, Gründerin des Start-ups Fox & Sheep in Berlin, lenkt das Gespräch direkt auf Kinder. Ihre eigenen und die, die ihre Kunden sind oder werden sollen. Denn Fox & Sheep ist in Deutschland Marktführer für Kinder-Apps und zählt weltweit zu den Top Ten. Die Spiele für Smartphones und Tablet-Computer wurden seit der Gründung 2012 schon zwölf Millionen Mal heruntergeladen. Es gibt sie in 16 Sprachen. Genaue Umsatzzahlen verschweigt Pausder zwar, aber Fox & Sheep verdient Geld und wächst aus eigener Kraft. „Das ist die erste Idee, die richtig gut klappt“, sagt Pausder, die das Unternehmen zusammen mit Moritz Hohl gründete. Beide hatten zuvor bereits Goodbeans gegründet, einen Hersteller von Internetspielen. Ende 2011 steckten sie in einer strategischen Krise. Der gesamte Markt drehte sich in Richtung Apps. Pausder musste das Unternehmen umbauen, viele Mitarbeiter entlassen. „Da habe ich gelernt: Es geht nicht immer nach oben“, resümiert die 35-Jährige. „Aber Erfolg braucht einen Trial-und-Error-Prozess. Stehenbleiben ist teurer als Fehler machen.“ Ohne das Scheitern und die Suche nach einer neuen Idee gäbe es Fox & Sheep nicht. Das neue Unternehmen hat über 20 Mitarbeiter in Berlin, Schanghai und Russland. Sie entwickeln Apps für Vorschulkinder. „Schlaf gut, Zirkus“, „Streichelzoo“ oder „Der kleine Bauarbeiter“ können schon Kleinkinder auf dem Smartphone der Eltern spielen. Pausder, selber Mutter, findet es besser, die Kinder schonend an die digitale Welt heranzuführen, als sie ihnen zu versperren. Ihre Söhne, vier und sieben Jahre alt, dürfen nur am Wochenende mit Smartphone und Tablet spielen. Oder als Produkttester: „Meine Jungs probieren alle unsere neuen Apps aus und sagen, was ihnen Spaß macht und was nicht!“ Pausder war 20, als sie mit ihrer jüngeren Schwester eine Sushi-Bar in ihrer Heimatstadt Bielefeld eröffnete. Sushi war damals in Deutschland noch nicht so bekannt; die Idee hatten die beiden bei einem Besuch in New York aufgeschnappt. „Unser Vater hat uns angespornt, ein Konzept für eine leer stehende Immobilie in der Innenstadt zu schreiben“, erzählt Pausder, die einer Unternehmerfamilie entstammt: Ihr Vater ist Textilunternehmer in neunter Generation, die Mutter Innen- und Raumausstatterin. Sie studierte Betriebswirtschaftslehre an der Universität St. Gallen und war danach Trainee der Münchener Rückversicherungsgesellschaft. Im Anschluss gründete sie ihr eigenes Unternehmen Delius Capital. Sie konzipierte Fonds und finanzierte damit Großprojekte. Das lief gut, doch mit 25 orientierte sich Pausder in Richtung Internet, baute für Bertelsmann ein Internet-Lernportal auf, bevor sie sich mit Goodbeans selbstständig machte. Aber auch bei der Überfliegerin lief nicht alles nach Plan: Nach der Geburt des zweiten Sohnes verließ sie ihr erster Ehemann. „Ich dachte immer, so was passiert nur anderen“, gibt sie zu. „Ich bin eigentlich ein Stehaufmännchen, aber da konnte ich nicht mehr.“ Familie und Freunde fingen sie auf. Aber spätestens seit dem vergangenen Jahr geht es beruflich und privat wieder bergauf: Pausder hat zum zweiten Mal geheiratet. Mit der Familie wohnt sie in der Nähe des Fox & Sheep-Büros. Zur Arbeit fährt sie meist mit dem Rad. Ihr Mann bringt die Kinder zur Schule und Kita, am Nachmittag werden sie von einer Kinderfrau betreut. „Ich liebe meine Kinder über alles, aber ich bin nicht der Typ Mutter, der den ganzen Tag mit ihnen zu Hause ist und bastelt“, sagt sie. Abends kocht sie für die Jungs, hört sich die Geschichten ihres Tages an und spielt mit ihnen. „Unser Modell ist anders, aber für unsere Familie das beste“, sagt sie. Hat sie noch Träume? Ja, klar! Sie würde gerne eine „Girls Academy“ gründen, um die IT-Branche für Mädchen attraktiver zu machen. Sie wünscht sich insgesamt mehr Frauen in der Branche. In Berlin hat Pausder daher die Veranstaltung „Ladies Dinner“ ins Leben gerufen, ein Netzwerktreffen für Frauen. Auch wenn es Tage gibt, an denen sie sich nach einem Nine-to-five-Job sehnt, fühlt sich Pausder wohl in der Berliner Gründerszene: „Das ist das digitale Labor der Republik, und ich habe genau den Job, den ich immer gewollt habe.“
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Daniela Singhal
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Erst durch Versuch und Irrtum kam Verena Pausder auf die richtige Idee. Jetzt entwickelt die Mitgründerin von Fox & Sheep weltweit Apps für Kinder, getestet von ihren Söhnen
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wirtschaft
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2015-05-11T11:28:50+0200
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2015-05-11T11:28:50+0200
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https://www.cicero.de//wirtschaft/mittelstand-fox-and-sheep-verena-pausder-mit-kinder-apps-zum-erfolg/59223
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Europaspiele in Aserbaidschan - Ein Fest für Funktionäre
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Am flottesten legte Michael Vesper, der Vorstandsvorsitzende des Deutschen Olympischen Sportbundes, den Rückwärtsgang ein: „Ich war lange selbst Politiker“, gab er in Baku zu Protokoll, „aus meiner Sicht sollte der Sport nicht für politische Zwecke benutzt werden.“ Da waren die ersten Europaspiele gerade einen Tag alt, und die regierungsnahe aserbaidschanische Nachrichtenagentur APA widmete dem Appell des Deutschen für politische Enthaltsamkeit im Nu eine Meldung. Denn der Grüne Vesper, ehemals Minister in NRW, zielte damit nicht auf den Gastgeber Ilham Alijew, der aus dem Sportfest eine möglichst ungestörte PR-Aktion für seine Petrokratie am Kaspischen Meer machen wollte. Er meinte Alijews Kritiker. Als solcher gab sich Vesper zunächst selbst aus – vor dem Event. „Besorgt“ sei er über die Lage von Menschen und Rechten in Baku, bekundete er. Deutete gar an, die Spiele könnten sich, wenn der Sport intern seinen Einfluss geltend mache, befreiend auswirken. Rund 100 Bürgerrechtler, Journalisten und deren Anwälte sitzen in Aserbaidschan hinter Gittern. Alijew sorgt fürs kritikfreie Binnenklima bei den Europaspielen. Das Mini-Olympia mit 6.000 Athleten ist das neueste Spektakel im Weltsportkalender, sein sportlicher Wert umstritten. Der DOSB hat eines der größten Teams in Baku. Auch deshalb war es unappetitlich, wie schnell Vesper seine Ankündigungen fallen ließ. Sie können als Ablenkungsmanöver abgehakt werden. Der Fokus soll nur ja nicht auf das fallen, was die Olympische Familie am meisten fürchtet: die eigene Verantwortung dafür, wer büßen muss, wenn sie ihre Spiele an Despoten gibt. Man kennt solche Zirkusnummern seit Peking 2008. Bei den Sportfreunden hat traditionell die Geldfraktion das Sagen. Der Ire Patrick Hickey, Erfinder der Europaspiele, betreibt auch als Präsident des Europäischen Olympischen Komitees ein nur mäßig transparentes Geschäft. Folgerichtig war es kein Problem, dass Alijew als einer der korruptesten Herrscher Europas gilt – er verteilt den Reichtum seines Landes gern auf die Offshore-Konten von Familienangehörigen. Auch für die Sport-Fiesta zapfte Alijew den Staatshaushalt an, machte nicht nur Milliarden für die Stadien locker, sondern spendierte auch allen Teams Reise und Unterkunft. Seine Kostgänger hielten still, als er Amnesty International von den Europaspielen ausschloss, kritischen Journalisten Zwangsheimflüge verordnete oder sie gar nicht erst akkreditierte – klare Verstöße gegen die Olympische Charta, die auch in Baku gilt. Ein neuer Tiefpunkt in den Annalen des Weltsports, schon vor der Eröffnungsfeier. Bei der pries Hickey den Alijew-Clan – First Lady Mehriban präsidierte dem Organisationskomitee; Gatte Ilham wirkt auch als Chef des Nationalen Olympia-Komitees – und rief Buzzwörter wie „globale Ethik“ und „Fairplay“ ins brandneue Stadionrund. Ähnlich bizarr geriet der Auftritt von Thomas Bach. Der Präsident des Internationalen Olympischen Komitees wirbt ja ansonsten mit einer „Reform-Agenda“ für bescheidene Spiele. Der opulenten Eröffnung – sie kostete mit 84 Millionen Euro doppelt so viel wie die bei Olympia in London – verlieh er das Gütesiegel „wahrhaft spektakulär“. Das Sportfest stehe für „Harmonie“, befand er überdies. „Schulter an Schulter mit Alijew“ habe Bach auf der Ehrentribüne gestanden, kommentierte Amnesty International, und „nicht ein Wort gehaucht“ zum Kontext dieser Spiele – „a sorry saga“. Das Bild vom runderneuerten IOC und seinem Oberreformer verflüchtigte sich wie ein Spuk. Deutliche Worte fielen anderswo, ausgerechnet in Straßburg, im Europarat. Auf den richtete Aserbaidschan seine berüchtigte „Kaviar-Diplomatie“, seit es 2001 Mitglied werden durfte in der Organisation, die dem Schutz von Freiheitsrechten verpflichtet ist. Das kostspielige Lobbying über Einladungen und Geschenke an Abgeordnete war lange effektiv. Noch 2013 ließ die Parlamentarische Versammlung (PACE) einen Bericht über die politischen Gefangenen durchfallen. „Bei uns“, konnte Alijew danach behaupten, „existieren keine politischen Häftlinge.“ Die Handschrift der Freunde Aserbaidschans trug auch ein eher nachsichtiger Report zum „Funktionieren der demokratischen Institutionen“ in Baku, der am Dienstag zur Abstimmung stand. „Eigentlich“, merkte eine Abgeordnete an, „müsste es ja ‚Nicht-Funktionieren’ heißen.“ Die Debatte verstand sich durchaus als Ferndisput mit dem Sportspektakel: „Ist die Situation in Baku kompatibel mit den Idealen der Olympischen Charta?“, fragte etwa Anne Brasseur, die PACE-Vorsitzende. Mit Änderungsanträgen brachte die Mehrheit der Parlamentarier Schärfe in die Resolution. „Politische Gefangene?“ Ja, die gibt es in Baku – verlangt wird ihre Freilassung. „Eine Provokation!“, zürnten Alijews Delegierte. „Gut gemacht!“, twitterte der SPD-Politiker Christoph Strässer. Er verfasste den 2013 gescheiterten Bericht; inzwischen ist er Menschenrechtsbeauftragter der Bundesregierung. Ob die Strässers Beifall teilt, ist fraglich. Baku steht auf Rang Sieben der Rohöllieferanten für Deutschland. Ab 2019 soll die Trans-Adria-Pipeline Gas nach Westeuropa leiten – eine Alternative zum russischen Gas. Gerade hat die Stiftung Wissenschaft und Politik ein diesbezüglich aufschlussreiches Papier vorgelegt. Der wichtigste Think Tank der Republik schlägt gewissermaßen vor, die olympische Kerntugend – stetes Unterlassen – als außenpolitischen Grundsatz zu verankern. Für „den Umgang mit den Folgestaaten der Sowjetunion“, heißt es, könne künftig auch „die Unangreifbarkeit der inneren politischen Ordnung“ gelten. Damit würden die westlichen Regierungen davon absehen, „demokratische Veränderungen zu fordern und zu fördern“ – zugunsten eines „nüchternen Pragmatismus in den Wirtschaftsbeziehungen“. Gerald Knaus vom NGO European Stability Initiative, ein profunder Kenner der Ränder Europas, interpretiert das präzise: „Die Idee, dass die Europäische Menschenrechtskonvention bindend für ihre Unterzeichner ist, wäre damit aufgegeben. Das ist ein Aufruf, dem Erbe von Havel und Sacharow den Rücken zuzukehren.“ Karin Strenz hätte damit wohl kein Problem. Die Bundestagsabgeordnete gehört wie Angela Merkel der CDU-Landesgruppe Mecklenburg an und legt auf ihrer Webseite erkennbar Wert darauf, Nähe zur Kanzlerin zu demonstrieren. Im Europarat stimmte sie gegen das Scharfstellen der Aserbaidschan-Resolution. Nicht überraschend, denn Strenz pflegt engen Umgang mit von Baku finanzierten Lobbyisten, die auch im Windschatten des Bundestags operieren. Eine GmbH „zur Förderung der deutsch-aserbaidschanischen Beziehungen“, geleitet wird sie vom früheren CSU-Staatssekretär Eduard Lintner, beschafft zum Beispiel „Wahlbeobachter“ für Alijew. Strenz war auch in dieser Mission schon öfter in Baku und lobte den Wahlablauf. Unabhängige Organisationen sahen das anders. Waren die Reisen von der Lintner-Truppe gesponsert? Bei solchen Fragen geht die MdB auf Tauchstation. „Karin Strenz steht für ein Interview nicht Verfügung“, teilt ihr Büro mit. Auch schriftliche Antworten kommen nicht. Umso mehr darf spekuliert werden, warum sie Ende Mai ein ausführliches Interview bei TV Berlin gab. Die Lokalstation verspottete der Blogger Stefan Niggemeier jüngst als „Bakus Regierungssender“ – sie malt mit kurioser Akribie am Hochglanzbild einer aserbaidschanischen Demokratie. „Wir haben nicht die Absicht, mit dem Finger auf irgendetwas zu zeigen“, versicherte auch Strenz in die Kamera. Ihre Äußerungen verbreiteten sich flugs in Baku. Dafür sorgte die „European Azerbaijani Society“ (TEAS), die zahlungskräftigste Lobbyagentur Alijews in Europa. Für TEAS eröffnete Strenz auch schon eine Veranstaltung in Berlin. Gegen Honorar? Keine Auskunft. Anders als Abgeordnete von SPD und Grünen tourte die CDU-Politikerin auch zur Spiele-Premiere nach Baku. Vorab hatte sie wissen lassen, es seien „Treffen mit NGOs geplant“. Strenz als Anwältin der Benachteiligten? Vielleicht. Sicherlich ganz nach dem Geschmack der Sportfamilie. Die bereitet sich auf die Schlussfeier vor; mit weiteren Belobigungen des Gastgebers ist zu rechnen. The best European Games ever? Das wäre, immerhin, mal keine Lüge.
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Grit Hartmann
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In Aserbaidschan geht eine Premiere zu Ende: die ersten Europaspiele. Es waren Image-Spiele ohne sportlichen Wert und ein Paradestück für den pfleglichen Umgang mit Despoten – durch die so genannte Sportfamilie, und auch durch Lobbyisten im politischen Berlin
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außenpolitik
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2015-06-26T11:32:15+0200
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2015-06-26T11:32:15+0200
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https://www.cicero.de//aussenpolitik/european-games-aserbaidschad-european-games-aserbaidschan/59452
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Bürgerdialog als TV-Debatte - Wie Merkel den politischen Talk revolutionierte
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Zugegeben, selbst nach Jahrzehnten konnte die Medienwirkungsforschung – ein sperriges Wort und eine wabbelige Wissenschaft obendrein – nicht nachweisen, dass Medien Effekte haben. Das wäre wohl noch lange so weitergegangen, hätte es nicht das Flüchtlingskind Reem gegeben. Die 14-Jährige brach in einer Rostocker Schule in Tränen aus, als sie Angela Merkel von ihrer drohenden Abschiebung berichtete. Die Bundeskanzlerin streichelte sie, sie habe das doch „prima“ gemacht – ohne zu begreifen, dass wohl nicht der TV-Auftritt des Mädchens, sondern der unsichere Ausgang des Asylverfahrens der Grund seiner Trauer war. Das Video wird zum Youtube-Hit, Zeitungen und Onlineseiten berichten, das Bundespresseamt manipuliert die eigene Meldung nachträglich. Der Rostocker Bürgermeister verspricht, die Abschiebung auszusetzen, die Flüchtlingsbeauftragte Aydan Özoguz schaltet sich ein, SPD-Fraktionschef Thomas Oppermann drängt auf ein Einwanderungsgesetz, das Kind und ihre Familie scheinen gerettet. Wann hat ein Fernsehbericht zuletzt schon einmal eine solch nachhaltige Wirkung gehabt? (Und nein, der #Varoufakefake-Finger war keine Sternstunde politischer Debatten.) Reem hat Merkel bis auf die Knochen blamiert – das gelingt nur wenigen Journalisten. Sie hat Politik wieder spannend gemacht, nahbar, emotional. Ihr Fall ist aber nicht nur geeignet, die deutsche Einwanderungspolitik in Frage zu stellen. Reem hat auch die deutsche Talkshowkultur vorgeführt – oder das, was davon noch übrig ist. Am Mittwochabend versuchte sich Anne Will an diesem Thema. „Merkel und das Flüchtlingsmädchen – ist Deutschland zu unbarmherzig?“ lautete der Titel dieser Sendung. Reem selbst war nicht eingeladen – und auch sonst kein Flüchtling. Kein Betroffener. Stattdessen saßen dort überwiegend Politiker. Dass das Land endlich einmal über die Nöte einer konkreten Flüchtlingsfamilie statt nur über Quoten und Abschiebeverfahren spricht, das also ist nicht den Talkshowmoderatoren, Intendanten und Großkopferten in den Sendeanstalten zu verdanken, sondern ausgerechnet Angela Merkel, oder besser: ihrem Sprecher, Steffen Seibert, der sich die Sache mit ausgedacht hat: den Bürgerdialog „Gut leben in Deutschland“. Das Format stammt aus den USA. Dort stellen sich Politiker in „Town Hall Meetings“ regelmäßig den Fragen des Publikums, das je nach Zielgruppe auch die Themen vorgibt. Ein Moderator unterstützt, hakt nach, so wie das idealtypisch auch bei Reem und Merkel funktioniert hat. Regelmäßig lässt sich so Barack Obama auf den Zahn fühlen, bei der Einwanderungspolitik etwa von Latinos – also von Leuten, die wirklich betroffen sind von der Politik, und nicht von Showbiz-Moderatoren, die mitunter Top-Gehälter einstreichen und weit weg sind von den konkreten Problemen der Menschen. Der, der Politik macht, wird mit jenem konfrontiert, den sie betrifft: Das „Town Hall Meeting“ hätte auch in Deutschland das Potenzial, politische Fernsehdebatten zu revolutionieren. Aber dieser „Bürgerdialog“ der Bundesregierung ist bislang, man muss es klar sagen, nichts als ein PR-Gag. Es geht darum, Merkel und ihr Kabinett noch besser zu vermarkten, sie beim Wähler noch beliebter zu machen. Umso peinlicher ist es, dass nicht die öffentlich-rechtlichen Fernsehanstalten diese Idee nun zum Erfolg führen, sondern die Bundesregierung. ARD und ZDF fassen das „Publikum“ immer noch viel zu oft mit spitzen Fingern an: der „Bürger“ darf per Facebook oder Twitter seine Meinung äußern, als Zaungast im Studio sitzen und für zwei, drei Minuten seinen Fall referieren, oder in einer Straßenumfrage sein Sätzchen ins Mikro sagen. Die viel beschworene Programmreform bei den ARD-Talkshows sieht so aus, dass man Günter Jauch absetzt – und sonst alles beim Alten lässt. Das heißt, wie bei Anne Will: Politiker und Verbandsvertreter geben weiterhin ihre Formeln ab. Während der Bürgerdialog Quote macht, lässt sich das öffentlich-rechtliche Fernsehen von der Politik vorführen. Dabei birgt das „Town Hall“- Format enorme Chancen. Man kann eine solche Sendung noch so durchinszenieren, es bleibt immer eine Ungewissheit: Man weiß nicht, wie die Bürger vor der Kamera ticken. Ob sie nörgeln, wüten oder in Tränen ausbrechen. Ihnen ist die Plastiksprache des politmedialen Betriebes fremd. Gerade das macht das Format so spannend und authentisch. Es ist umso bemerkenswerter, dass das Bundespresseamt die Kanzlerin diesem Risiko ein zweites Mal ausgesetzt hat. Denn es gab schon einmal eine Situation, in der ein Bürger Merkel ins Schlingern brachte. Das war 2013, in der ARD-Wahlarena, einer der seltenen Momente, in denen öffentlich-rechtliche Gremienvertreter Bürger ans Mikro ließen. Da fragte Patrick Pronk aus Worpswede, den das Magazin Cicero im Juli porträtiert, Merkel, warum er als Homosexueller keine Kinder adoptieren dürfe. Dreimal hakte er nach. Die Kanzlerin sagte, dass sie sich unsicher sei: „Ich sage Ihnen ganz ehrlich, dass ich mich schwertue mit der kompletten Gleichstellung.“ Es sollte eine der wenigen Sätze werden, die man Merkel bis heute vorhalten kann. Die Juli-Ausgabe des Magazins Cicero trägt den Titel „Das teure Versagen von ARD und ZDF“ und widmet sich ebenfalls den Problemen der öffentlich-rechtlichen Sender. Gleich hier bestellen.
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Petra Sorge
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Die Medienkolumne: Ein PR-Format der Bundesregierung erzielt mehr Medienwirkung als so mancher Polittalk – peinlich für ARD, ZDF und Anne Will. Mit dem „Bürgerdialog“ hat Angela Merkel die öffentlich-rechtlichen Sender vorgeführt
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innenpolitik
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2015-07-23T10:53:59+0200
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2015-07-23T10:53:59+0200
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https://www.cicero.de//innenpolitik/buergerdialog-als-tv-debatte-wie-merkel-den-politischen-talk-revolutionierte/59598
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Kinder- und Jugendliteratur – Guter Rat vom Date-Coach
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Im Kinderkrimi gehört es zum Stammpersonal: das kleine Computergenie, dem keine Firewall zu hoch, kein Passwort sicher genug und keine Information zu abgelegen ist und das über Nacht dem Internet alle nötigen Informationen entlockt, die den jungen Detektiven bei ihren Ermittlungen fehlen. Wie hat der Schlaumeier das nur wieder hingekriegt? Der Leser erfährt es nie, und man muss annehmen, dass auch die meisten Autoren keine Ahnung haben, wie all die geheimen Daten eigentlich zu ergattern sind. Im Jugendbuch wird das Internet dann vollends zum Problem: Als Medium ist es aus dem Alltag Heranwachsender nicht wegzudenken, und das hat Folgen, sowohl fürs Erzählte selbst als auch für dessen Leser. Nur selten treffen die Bücher den Ton entspannter Selbstverständlichkeit – und ebenso selten den Kenntnisstand der Jugendlichen. Dagegen stützen sie aber gern die Vorbehalte der Elterngeneration. [gallery:Literaturen: Die besten Romane für den Herbst] Unterstützt vom Schriftsteller Daniel Oliver Bachmann hat Julia Kristin das Buch «Online fühle ich mich frei» geschrieben (Arena, Würzburg 2012. 128 S., 7,99 €). Es ist auf das Thema Internetsucht getrimmt, bleibt aber gerade in der Schilderung der manchmal fatalen Anziehungskraft des Netzes pauschal. Dass die Protagonistin ihr wirkliches Leben vernachlässigt, kommt hier kaum vor. Und letztlich erfolgt sogar ihre Rettung durch das Netz – durch dessen Möglichkeiten, zu kommunizieren und Kontakte zu pflegen. Gegen ihren Adoptivvater hatte die junge Frau zunächst ihren Berufswunsch durchgesetzt: Personenschützerin. Ein Kreuzbandriss aber macht dieser Karriere ein jähes Ende, und wenig später erfährt sie, dass sie Krebs hat – es sind schreckliche Schicksalsschläge, von denen Julia Kristin erzählt. Doch hängt kein einziger von ihnen mit exzessivem Internetgebrauch zusammen: der Verlust von Job und Freunden nicht, ebenso wenig das Cybermobbing. Im Gegenteil: Ihre Kontakte im Netz fangen die junge Frau auf, von ihrem ersten Job nach der Verletzung erfährt sie in den sozialen Netzwerken, die Leute aus der Krebs-Reha bleiben über eine Facebook-Gruppe in Kontakt, und sogar ihren späteren Ehemann lernt Julia hier kennen. Die Gefahren übermäßiger Netznutzung bleiben daneben blass. «Ich werde von meinem Computer aufgefressen», heißt es gleich zu Beginn des Buchs. «Er ist wie eine Droge, manchmal aber auch wie eine Krankheit.» Behauptet ist dies schnell, beschrieben aber wird es hier gar nicht. In «Schlaf, Kindlein, schlaf» inszeniert Caroline Ørsum das Netz mit größerem Geschick (Kosmos, Stuttgart 2012. 160 S., 10,99 €). Auf Facebook wird eine neue Schulfreundin, die gern feiert und trinkt, auf einem Foto des Nutzers «Partyboy» markiert: auf einem Sofa, mit halbgeschlossenen Augen, in Unterwäsche. Noch bevor sie das Foto sperren lassen kann, hat es schon die Runde gemacht, Majse traut sich nicht mehr in die Schule, aber auch nicht zur Polizei: Wen sollte sie schon aus welchem Grund anzeigen? Hat sie sich das Ganze nicht eigentlich selbst zuzuschreiben? Es ist ihre neue Freundin Liv, die Majse hilft, ihre Scham zu überwinden. Sie findet heraus, dass Majses Absturz kein Einzelfall ist, und wird schließlich selbst beinahe zum Opfer, bevor sie mit ihren Freunden Mateus und Nick den Täter überwältigt. Daneben ist in diesem Buch auch noch Platz für altersgemäße Auseinandersetzungen mit den Eltern und für Stolperschritte im Graubereich zwischen Freundschaft und Liebe. Nur eines passt hier zum Glück nicht mehr hinein: der erhobene Zeigefinger. In «Date me if you can» erzählt Manfred Theisen von den emotionalen Wirrungen des jungen Julian in einer Geschichte, die auch als Flirt- Ratgeber funktioniert (Sauerländer, Mannheim 2012. 240 S., 12,99 €). Mit seinem besten Freund Benedikt wettet der 17-Jährige, dass er die Schulschönheit erobern kann. Benedikt war vor Jahren mit ihr zusammen und wäre es immer noch gern, Julian lässt sich sicherheitshalber von einem «Datedoc» coachen, der Psychologiestudentin Spliff. Die «lauert im World Wide Web, bei Facebook, Twitter, friend-scout24. de und Planet Liebe, um die Liebenden in freier Wildbahn zu erforschen». Sie erklärt die Geheimnisse der Liebe kühl als Zusammenhang von urmenschlichen Überbleibseln und Hormonausschüttungen, verliebt sich dann aber gegen ihren professionellen Vorsatz selbst in Julian. Vor dem Showdown sind einige Verwicklungen zu meistern, für Klamauk sorgt vor allem Spliffs Mutter, die als Therapeutin auf Marihuana schwört. Die Stärke des Buches liegt in der Genauigkeit, mit der das Nebeneinander von Großspurigkeit und Scheu, Verspieltheit und großem Gefühl ins Bild gesetzt wird, das die erste Liebe ausmacht. Websites erklären das Einmaleins des Datings, in Chats holen sich die Verliebten Trost und Rat, Smartphone-Apps nennen den richtigen Zeitpunkt zum Händchenhalten. Das wird hier nicht gewertet. Es ist einfach da, wie im richtigen Leben.
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Jugendlichen Geschichten übers Netz erzählen zu wollen, kann ziemlich schiefgehen – aber auch klappen
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kultur
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2012-11-02T14:51:17+0100
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2012-11-02T14:51:17+0100
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https://www.cicero.de//kultur/kinder-und-jugendliteratur-guter-rat-vom-date-coach/52411
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Elif Batuman – Ein Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen Leben und Literatur
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Elif Batuman ist eine leidenschaftliche Autorin und Ich-süchtige
Leserin. Sie wird von den Kritikern Amerikas und Deutschlands
umgarnt, als hätte sie den Generalschlüssel für die gesamte
Weltliteratur in ihrer ausgebeulten Jackentasche. Die 34-jährige
Amerikanerin mit türkischen Wurzeln zeigt sich in ihrem ersten im
„New Yorker" und in „Harper’s Bazar" teilweise vorabgedruckten Buch
„Die Besessenen. Abenteuer mit russischen Büchern und ihren Lesern"
als der ideale multikulturelle Scout. Das Buch ist eine
Querfeldein-Fahrt durch die Welt der Bücher. Von Cervantes hat Elif
Batuman gelernt, dass Lesen den größten Spaß macht, wenn man sich
mit den Romanfiguren identifiziert. Oder, beschließt sie, noch
besser ist es, wenn man das eigene Leben im Stil von Arthur Conan
Doyle den Rätseln ihrer Autoren widmet. Unterwegs zur Recherche
unternimmt sie abenteuerliche Reisen: Über Usbekistan zu Tolstois
russischem Gut und in den Petersburger Eispalast, der zur
Erinnerung an die ziemlich verrückte Zarin Anna erbaut wurde. Bereits in der Einleitung schiebt Elif Batuman das
wissenschaftliche Vokabular, über das Personen nach einem
ausgiebigen Studium der Vergleichenden Literaturwissenschaft
verfügen, zur Seite. Sie beginnt ihr „Leseabenteuer" mit der Frage,
weshalb es Hans Castorp im Thomas Mann’schen „Zauberberg" so lange
in einer Lungenheilanstalt aushält, ohne selbst krank zu sein. Ganz
einfach: Hans Castorp liebt! Denn, so zitiert sie Thomas Mann, jede
Krankheit ist „verwandelte Liebe". Diese Aussage nimmt sie zum
Ausgangspunkt und beginnt ein Hin und Her zwischen ihren eigenen
Lieblingen aus Fleisch und Blut, wie Eric, ihrem Lebensgefährten,
oder Maxim, ihrem russischen Geigenlehrer, und den großen
Liebhabern der Weltliteratur, vor allen anderen natürlich Graf
Wronski aus Tolstois „Anna Karenina". Eric ist ein Stoiker, der an
der Wucht seiner Freundin zerschellen muss, Maxim ist ein Russe,
der seine temperamentvolle Schülerin Elif mit gewitzten Coups
verblüfft und deshalb mir ihr auf gleicher Höhe ist. Und Wronski?
Das ist ein eigenes Kapitel. Lesen heißt wildern – und produktiv
konsumieren Elif Batuman gibt in alledem die intellektuelle
Anti-Intellektuelle. Sie verstreut in den „Besessenen"
Despektierliches über den Wissenschaftsbetrieb und seine Akteure,
weil sie die Literaturgeschichte «pedantisch» und «anspruchslos»
findet. Für sie hat nur Gültigkeit, was ihr eigener studierter
Geist beglaubigt. Man soll sich vor Menschen, die zu sehr lieben, in Acht nehmen.
Elif Batuman gehört zu den Ausnahmen. Ihr Buch ist nicht vor Liebe
blind, aber es ist aus Liebe entstanden. Und es bietet
aufschlussreichen und amüsanten Stoff. Dieser «Stoff» hat viele
Farben. Er bildet die Schattenrisse ihrer Biografie als Leserin ab
und zeigt, was die intensive Beschäftigung mit Literatur auslösen
kann. Der Geigenlehrer Maxim wird von Mozarts Violinkonzert weg in
Puschkins Traumdarstellung aus „Eugen Onegin" hineingezogen.
Nathalie Babel, Isaak Babels Tochter, Herausgeberin seiner Werke,
ergreift auf einem Kongress das Mikrofon. Die Leute, berichtet sie,
haben gesagt, Isaak Babel sei ein Schriftsteller, ein großer
Schriftsteller. „Für mich war er mein Puppy", sagt sie und fügt
nach einer langen Pause traurig hinzu: „Ich weiß nicht, woran ich
bin." Babel war von der Aufgabe des „Beschreibens" besessen, Elif
Batuman ist das auch. Michel de Certeau, der französische Jesuit und Philosoph, hat
gesagt: „Lesen heißt wildern" und dabei vom «aktiven Konsumieren»
gesprochen. Dieser Anleitung folgt Elif Batuman unumwunden. Sie
wildert und konsumiert so aktiv wie produktiv in den Büchern von
Puschkin, Tolstoi, Isaak Babel, Dostojewskij und in Gontscharows
„Oblomow". Sie arbeitet an dem Ziel, die Autoren zu „begreifen" und
schließt sich vehement Gontscharows Ruf im „Oblomow" an, Personen
zu beschreiben und sie nicht einfach „Diebe und Prostituierte" zu
nennen. Und wie hält Elif Batuman es mit Tschechow, ach, Tschechow,
den jeder renommierte amerikanische Schriftsteller zum Hausheiligen
erklärt? Er führt bei Elif Batuman ein kümmerliches Dasein:
Erzählungen liegen dieser rabiaten Romanleserin nicht. Seite 2: Nicht die Schönheit – die Menschen und die
Literatur stehen im Zentrum Das Buch ist ein Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen Elif Batumans
eigenem Leben, dem ihrer Romanhelden und deren Autoren. Weil sie
eine detektivisch inspirierte Person ist, möchte sie wissen, ob
Tolstoi wirklich in Astapow, dieser gottverlassenen Bahnstation,
eines „natürlichen" Todes gestorben ist, oder ob ein Giftpilz oder
ein Giftkraut seinem Leben ein Ende setzte. Die Sache mit dem
Giftstoff löst sie nicht, obwohl sie bei ihren Gängen durch die
Birkenallee Jasnaja Poljanas jeden Halm vor ihren Füßen argwöhnisch
betrachtet. Aber eins ist für sie eine ausgemachte Sache: Tolstoi
hat „Anna Karenina" wirklich „geliebt". „Besessen" ist kein Sachbuch und kein Roman. Halb Tagebuch
einer amerikanischen Literaturwissenschaftlerin, die von Kongress
zu Kongress eilt, dort Vorträge hält und diejenigen anderer anhört,
die versucht, Stipendien zu ergattern, um ihre Fragen an die
Literatur an Ort und Stelle zu überprüfen. Halb ist das Buch die
Erzählung einer engagierten und dünkelfreien Spurenleserin. Elif Batuman hat ihre Unikarriere abgebrochen und schlägt sich
als Autorin durch. Sie besitzt ein großes Talent, das Nützliche mit
dem Aufregenden zu verbinden, und weil für sie Literatur Teil des
Lebens ist, gelingt ihr das auch – sie selbst nennt dies Verhältnis
„Berufung". Alle Fach- und Streit-Gespräche, die sie mit ihren
Kollegen führt, sind von erfrischender Dringlichkeit und zugleich
ernüchternd alltäglich. Kurz nach der Unabhängigkeit Usbekistans
reist sie nach Samarkand, weil ihr hier ein Stipendium ermöglicht,
das fremde Land und seine Literatur zu erforschen und die Sprache
zu lernen. Sie ist dabei ebenso an den Menschen und ihrer
Fremdartigkeit interessiert wie an der Literatur. Und wie bei den
meisten Buch-Menschen ist das Sehen von Schönheit nicht ihre Sache.
Was sie sieht und erkennt, sind die Menschen und die Literatur.
Ihre usbekische Zimmervermieterin, deren Mann und Sohn, der
usbekische Sprachlehrer Muzaffar, sie werden zu Randfiguren einer
kleinen Erzählung. Wenn das Lesen die Ausschüttung von Glückshormonen
bedeutet Literatur ist für Elif Batuman keine Enklave zwischen zwei
Buchdeckeln, sondern ein Aktivposten: der Spiegel, der den Text
aufnimmt und mit dem Bild des Lesers verschmilzt. Sie selbst aber
ist ein temperamentvolles und mutiges Wesen. Sie verzieht sich mit
Stößen von Original- und Sekundärliteratur in irgendein
Studentenloft und produziert während des Lesens so viele
Glückshormone, dass die Texte unter ihren Augen zu leben beginnen.
Fiktion und Wirklichkeit gehören zusammen, oder mehr noch: Sie
bedingen ihr Leben und Schreiben. Deshalb redet sie ebenso gern
über Literatur wie über sich selbst und ist auch die Person, die
man in den „Besessenen" neben Isaak Babel und ihrer Samarkander
Zimmervermieterin am besten kennenlernt. Sie ist davon überzeugt,
dass die besten Romane ihre Inspiration einzig dem Leben „und nicht
anderen Romanen entnehmen". Das versucht auch sie und vermischt
Wissen, Recherche, Reisen, Privates und Gelesenes miteinander. Also
ab aufs Sofa und lesen! „Die Besessenen" sind ein idealer
Verführer.
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Absolut subjektiv: Die Amerikanerin Elif Batuman schreibt über Bücher – und über sich selbst. Ihr eigenes Lese-Glück überträgt sich mühelos auf die Leser ihres Romans. Nur Anton Tschechow muss leider draußen bleiben
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kultur
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2011-12-21T17:59:42+0100
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2011-12-21T17:59:42+0100
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https://www.cicero.de//kultur/ein-kopf-kopf-rennen-zwischen-leben-und-literatur/47736
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Überhitzte Debatten - Endstadium Nazikeule
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An alle Empörten in diesem Land, ich habe eine Idee! Wir alle, die wir uns so wahnsinnig gern über alles Mögliche empören, wissen natürlich auch um Gefahren, die daraus erwachsen. Da wäre zum einen das nicht zu unterschätzende Suchtrisiko: Wenn ich erst einmal damit anfange, setze ich meist einen Empörungsmechanismus in Gang, der dazu führt, dass sich andere über meine Empörung empören und ich mich selbst umso empörter zurückempören muss. Will sagen: Es braucht eine immer stärkere Dosis, und am Ende hilft nur noch eine dreimonatige Entziehungskur in der Empörungsheilanstalt. Da werden einem übrigens den ganzen Tag lang tibetanische Mönchsgesänge vorgespielt und es herrscht striktes Internet- und Nachrichtenverbot (was bei den ganz hoffnungslosen Patienten natürlich akute Empörungsrückfälle hervorruft). Ich schlage deshalb vor, Debatten künftig mit Warnhinweisen zu versehen: „Achtung, eine Teilnahme kann süchtig machen. Wer debattiert, riskiert Bluthochdruck und Herzrasen!“ Vielleicht sollte man auch Schockbilder einsetzen, beispielsweise Porträts von Debatten-Junkies wie Matthias Matussek, Henryk M. Broder oder Jakob Augstein. Ich selbst bin ja eher ein kleines Licht im Empörungszirkus, alle zwei Wochen gebe ich mir an dieser Stelle den schnellen Schuss und hoffe dabei insgeheim, dass die Meinungswirkung so lange wie möglich anhält. Aber selbst als harmloser Kiffer unter den vielen Produzenten harter Ansichten werde auch ich immer öfter zum Opfer des selbstreferentiellen Reiz-Reaktions-Schemas – die Versuchung, immer noch eins draufzusetzen, ist einfach zu groß. Im Endstadium dieser gefährlichen Kommentatorenkrankheit ist dem Vernehmen nach mit dem verstärkten Gebrauch von Nazi-Vergleichen zu rechnen, von einem Totalverlust jeglichen Empathievermögens ganz zu schweigen. Und wenn gar nichts anderes mehr wirkt, gibt es ja immer noch Twitter, eine Art Crystal Meth unter den Meinungsmacherdrogen. Tja, Freunde, so schnell kann es gehen: Da will man eine gepflegte Diskussion beginnen, und plötzlich schwingt man wutschnaubend die Faschismus-Keule. Der Erkenntnisgewinn korreliert in solchen Fällen übrigens negativ mit dem Grad der Empörungsbereitschaft. Und jetzt meine Idee: Heute ist ja Aschermittwoch. Das wäre doch ein hervorragender Anlass, um sich Asche aufs Haupt zu streuen, ein paar Wochen lang die eigenen Meinungen zu überdenken und zu versuchen, sich in den Kopf der Debattengegner hineinzuversetzen. Das Empörungsfasten soll ja nur bis Ostern währen, also keine Angst! Natürlich ist das am Anfang schwierig, weil dann ja doch gleich wieder jemand mit einer Meinung um die Ecke kommt und man mit zitternder Hand zum Patronengurt voller Gegenmeinungen greifen will. Einfach tief durchatmen und mal sämtliche Argumente stecken lassen, so plausibel sie auch sein mögen! Selbstverständlich will auch ich in keiner Welt leben, in der Thilo Sarrazin nur noch Haikus dichtet oder Jan Fleischhauer von Spiegel online ganz ohne Schaum vor dem Mund über die Vor- und Nachteile des Gender Mainstreamings räsoniert. Das wäre auf Dauer ja doch ziemlich langweilig. Aber sechs Wochen ohne Gezeter, Unterstellungen und Rechthaberei, das könnte vielleicht auch eine interessante Erfahrung sein. Ich habe mir jedenfalls fest vorgenommen, mich während der Fastenzeit auf Empörungsdiät zu setzen. Mal sehen, ob ich durchhalte.
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Alexander Marguier
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Kolumne: Empörung. Alexander Marguier möchte seine Diskussionssucht zügeln, um nicht an einer Überdosis Empörung zu verenden. Ein Plädoyer fürs Empörungsfasten
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kultur
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2014-03-05T12:08:12+0100
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2014-03-05T12:08:12+0100
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https://www.cicero.de//kultur/debattensucht-bis-ostern-auf-eis-legen/57163
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Kunstsammler Heiner Pietzsch – „Man muss auch Fehler kaufen!“
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Herr Pietzsch, wie kommt es, dass Sie sich in Ihrem Leben so viel mit Kunst beschäftigt haben?1946 war ich 16 Jahre alt, der Krieg war zu Ende. Mit der Schulklasse besuchten wir in Dresden die Allgemeine Deutsche Kunstausstellung, die bei uns den Untertitel „Ist das entartete Kunst?“ hatte, weil vor allem Bilder gezeigt wurden, die in der Nazizeit verboten waren.Irgendetwas gab es da, sodass ich angefangen habe, mich mit einzelnen Künstlern, mit Stilrichtungen und so weiter zu beschäftigen. Ich kann nicht erklären, warum ich das gemacht habe. Damals hat mich eigentlich Fußball interessiert und trotzdem bin ich danach noch ein halbes Dutzend mal alleine in die Ausstellung gegangen. Was hat Sie und Ihre Frau beim Kunstkauf angetrieben?Wir haben nicht fürs Museum gesammelt, sondern für uns, ganz egoistisch die Bilder, die wir gerne kaufen wollten. Ich wollte immer mal ein Buch schreiben über ein „Musee imaginaire“, wo all die Bilder drin sind, die ich in der Hand hatte und hätte kaufen können, wenn ich sie hätte kaufen können. Das sind sehr viele Bilder, weil wir keine reichen Erben sind, sondern eine kleine, aus 50 Jahren Selbstständigkeit entstandene Firma, die immer das Geld in der Firma lassen musste. Alles, was wir rausgenommen haben, haben wir in die Kunst gesteckt und in das Haus, das sie beherbergt. Eine Jacht oder die großen Autos – das haben wir alles weggelassen. [gallery:Streitfall Moderne - Heiner Pietzsch zeigt seine Sammlung] Haben Sie noch ein Kunstwerk besonders in Erinnerung, das Sie gerne gekauft hätten?Wie lange haben Sie Zeit? (lacht) Es gibt verschiedene Stücke. Unter den wenigen Skulpturen des Surrealismus gibt es von Giacometti das „objet invisible“, eine Frauenfigur, die ihre Hände zusammenhält, in denen aber nichts drin ist. Für mich die Figur des Surrealismus schlechthin. Aber sie ist nicht zu kriegen. Käme sie auf den Markt, würde ich sie mit Sicherheit nach den heutigen Preisen nicht mehr bezahlen können. Sie haben also zu einer günstigen Zeit Surrealisten gesammelt?Ja, damals war das Sammeln noch nicht in. Als meine Frau und ich vor knapp 50 Jahren anfingen, Kunst zu kaufen, taten wir das, um sie als Dekoration an die Wände unserer ersten größeren Wohnung zu hängen. Dann kamen Freunde zu Besuch und sagten: „Mein Gott, ist das eine schöne Wohnung, wenn da nicht die hässlichen Bilder an der Wand hängen würden!“ (lacht) Das „Spiegelei“ von Arp zum Beispiel verstand kein Mensch. Das hat sich total geändert. Sammeln ist heute in. Kunst ist in. Dafür waren damals die Preise unten. Lassen Sie sich von Heiner Pietzsch zwei seiner wichtigsten Werke vorstellen... Es kommen ungefähr 100 Ihrer Bilder nach Berlin, von insgesamt 200…So ist es. Es sollen vor allem die Museumsbilder rein. Wir haben zum Beispiel einen Max Ernst, das ist ein Stück Kunstgeschichte: 1942 hat Max Ernst eine Leinwand auf den Tisch gelegt und an die Decke eine mit schwarzer Farbe gefüllte Büchse gehängt, die ein Loch hatte. Er hat diese Büchse über dem Bild gedreht – so kamen Kleckse und Kreise zusammen. Und die Peggy (Anm. d. Red.: Peggy Guggenheim) hat dieses Bild genommen und ist damit zu Pollock gegangen… …diese Dripping-Methode kennt man ja eigentlich von Jackson Pollock… …ja, aber sie kommt eben von Max Ernst! Pollock hat dessen Bild gesehen und die Methode verändert, indem er die Farbe vom Pinsel hat tropfen lassen. So ist sein berühmtes All-Over-Dripping entstanden. Als fünf Jahre später Max Ernst zurückkam – mittlerweile von Peggy geschieden – zeigte sie ihm, was Pollock aus seiner Idee gemacht hatte. Max hat gesagt: „Das soll der Pollock weiter machen, das kann er besser als ich!“ In sein eigenes Bild hat er nachträglich eine Maske in die Klekse gemalt, von der er behauptet, es sei das Gesicht von Pollock. Dieses Bild hat Kunstgeschichte mitgestaltet. Das soll doch nicht irgendwo in die Welt verschwinden! Es gehört in die Nationalgalerie! Welche Bilder retten Sie noch fürs Museum?In der Sammlung gibt es zehn, zwölf Bilder, die auf dem Markt überhaupt nicht mehr zu haben sind. Zum Beispiel von diesem hellbraunen Miró von 1925 gibt es 15 Stück, die er auf Mallorca gemalt hat. 14 davon hängen in Museen, das 15. hängt bei uns. Vor ein paar Jahren haben wir es noch mit 3 Millionen versichert. Das Schwesterbild ist vor einigen Wochen in London für 13 Millionen verkauft worden. Wenn wir das verkaufen würden, wäre es also weg. Es ist allerdings ein Schlüsselbild von Miró. Denn bis zum Jahre 1925 hat er gegenständlich gemalt, wie „Die Farm“, das lange Zeit im Besitz von Hemingway war. Es zeigt ein Farmhaus mit Kühen und Menschen. 1925 ging er nach Paris, war dort zusammen mit den Surrealisten und änderte seinen Stil komplett. Er nannte es den „goldenen Funken“, der ihn durchbohrt hätte – von diesem Moment an gibt es den eigentlichen Miro. Deswegen gehört das Bild ins Museum. Ihre Sammlung soll zwischen 120 und 180 Millionen Euro Wert sein, doch Sie sprechen nicht gerne über diese Zahlen…In der Presse wird gerne über die hohe Menge Geld berichtet. Für uns hat dieses Geld ehrlich gesagt immer nur insofern eine Rolle gespielt, inwieweit es uns ermöglichte, die Bilder, die wir haben wollten, zu kaufen. Wir hätten nicht gerne 150 Millionen Euro geschenkt, sondern schenken Bilder, die heute nicht ohne weiteres käuflich sind. Lesen Sie weiter, warum es beim Kunstsammeln nicht um Geld, sondern um Kraft geht... Der finanzielle Aspekt hat also nur eine untergeordnete Rolle gespielt?Ja. Natürlich gibt es auch andere Sammler, die in eine wirtschaftliche Notlage geraten und beschließen, Kunst zu verkaufen. Jemand, der sich Aktien kauft und sie in einer Notlage wieder verkauft, um die Firma und damit Arbeitsplätze zu retten, tut ja auch nichts Schlechtes. Es ging Ihnen also nicht um die Investition…Nie. Dann hätten wir nicht so gekauft. Bei jedem Bild, das wir verkauft haben, war es als wenn ein Kind aus dem Haus geht. Wenn jemand kommt und mir 20 Millionen für ein Bild bietet, sage ich: Behalte dein Geld. Es ist nicht zu haben. In einer Notlage mag das vielleicht anders sein. Aber wir haben nie gekauft, um zu verkaufen. Als die deutsche Kunst Bedeutung kriegte, – mit Kiefer, Baselitz, Penck – kauften wir auch einen Baselitz – damals noch für 40.000 DM – und einen Richter für 60.000 DM. Weil wir sie aus Platzmangel nicht hängen konnten, standen sie viel bei Hasenkamp im Lager. Wir haben sie auch für Ausstellungen ausgeliehen und sind ihnen hinterhergereist. Bis wir merkten, dass das nicht unsere Art ist, Kunst zu sammeln. Ich will mit der Kunst leben! Wir wollten nicht, dass die Bilder im Lager herumstehen - also haben wir sie verkauft. Viel zu früh – heute würde man sehr viel mehr Geld dafür kriegen! [gallery:Streitfall Moderne - Heiner Pietzsch zeigt seine Sammlung] Was gibt Ihnen die Kunst, wenn Sie mir ihr leben?Kraft. Kraft. Ich bin jetzt ein alter Herr – und ich sitze mittags hier und gebe ein Interview. Das wäre vor 25 Jahren nicht möglich gewesen. Als der große Kampf um die 35-Stunden-Woche ging, habe ich darum gekämpft, nicht mehr als 70 Stunden in der Woche zu arbeiten. Wenn ich dann abends müde und kaputt nach Hause kam, habe ich mich in die Sammlung gesetzt, die Bilder angesehen und der Alltag fiel ab. Am nächsten Tag hatte ich wieder Lust und Kraft, weiterzuarbeiten. Es gibt aber auch bei der Kunst einen reziproken Wert: Wenn ich ein oder zwei Stunden durch ein Museum gehe, bin ich danach völlig geschafft, als hätte ich gearbeitet. Ein Freund von mir konnte das nicht verstehen, er wollte danach mit mir noch ein Bier trinken gehen. Doch ich musste erst mal zur Ruhe kommen. Beim nächsten Mal bin ich mit ihm durchs Museum gegangen und habe ihm die Bilder und ihre Entwicklung erklärt. Zum Schluss sagte er: Um Gottes Willen, das war ja ein Arbeitstag! Kunst gibt und nimmt Kraft. Lesen Sie weiter über die Zukunft des Kunstmarktes... Wer weiß heutzutage noch von dieser Qualität der Kunst?(seufzt) Wahrscheinlich sind es einige. Aber wie viele von denen sind vom Markt besessen und wie viele von der Kunst? Der Markt hat eine Kraft, die mir überhaupt nicht gefällt. Das Geschäft hat Spekulanten angelockt, die den Markt noch weiter nach oben treiben. (Pause) Ach, doch ich glaube, es sind mehr, die sich für die Kunst interessieren. Die Kunst lässt sich nicht vergewaltigen. Sie setzt sich durch. Die Spekulanten werden sich dann lieber wieder dem Pferderennen zuwenden. Der Kunstmarkt wird sich also wieder beruhigen?Für Werke zweiter Qualität auf jeden Fall, für die Spitzenwerke: nein. Denn von denen gibt es nicht mehr. Das ist wie mit einem Grundstück: Wenn Sie es besitzen, kann ein zweiter das Grundstück nicht haben. Weniger gute Grundstücke, davon gibt es auch mehr. Aber so richtig gute – davon gibt es nur wenige. Genauso ist das mit den Bildern. [gallery:Streitfall Moderne - Heiner Pietzsch zeigt seine Sammlung] Was wünschen Sie sich für Ihre Kunstwerke in 100 Jahren?Es gibt ein Spielchen zwischen meiner Frau und mir – das ist natürlich nur Quatsch, wie man manchmal so Quatsch macht. Wir haben überlegt, dass wir beide zusammen 100 Jahre nach unserem Tod noch mal für 14 Tage auf die Welt kommen, nur um zu gucken, was in den Museen geblieben ist und wovon niemand mehr spricht. Was wird bleiben? Setzt unsere Kunst sich durch oder ist sie weg, so wie andere Kunstrichtungen weg sind? Bisher gibt die Entwicklung Ihrem Kunstinstinkt Recht. Woran machen Sie Ihre Auswahl von Werken fest?Oh, gar nicht. Am Auge. Am Auge. Kann man das lernen?Das kommt sehr automatisch, ja. Sie lernen zwischen Qualität und Nicht-Qualität zu unterscheiden, durchs Schauen und durchs Lesen. Ich habe sehr viel gelesen über Entwicklungen und einzelne Künstler. Ich kann zu jedem Bild, das wir gekauft haben, eine Hintergrundgeschichte erzählen. Das ist eine gute Lehre. Lesen Sie Heiner Pietzschs Tipps für Kunstsammler... Haben Sie auch Sachen gekauft, von denen Sie heute sagen: „Was für ein Blödsinn!“?Ach Gott, wenn Sie die sehen wollen müssen wir raus zu Hasenkamp fahren! Wir haben sie nicht verkauft, denn auch die Fehler, die wir gemacht haben, sind ja Stationen der Sammlung. Also wurden sie schön aufbewahrt. Die kommen allerdings nicht ins Museum! Sie verstecken die Fehlkäufe also?Nö, verstecken nicht. Wir haben keinen Platz. Ich würde gerne mal nur diese Bilder hängen. Kämen die Leute dann und würden sagen: „Mein Gott, das ist ja wirklich Quatsch, was hier hängt!“ Oder sagen Sie trotzdem: „Was für tolle Kunst!“ und geben nicht zu, dass das Quatsch ist? So kann man auch viel Spaß mit der Kunst haben. Kunst ist nicht nur ernst. Was können Sie jungen Menschen empfehlen, die heute Kunst sammeln wollen?Gucken, gucken, gucken! Und auch Fehler kaufen. Bloß nicht unter dem Gesichtspunkt kaufen „Na, das wird bestimmt einmal wertvoll“ – das geht in die Hose. Nur nach der Kunst gehen. Mit der Kunst von heute habe ich allerdings erhebliche Schwierigkeiten. Es gibt wenig Künstler, die mir gut gefallen. Bei einigen habe ich schon gedacht, dass Handwerker mitten in der Ausstellung arbeiten. Aber da waren keine Handwerker, das war ein Eimer voller Kunst (lacht), eine Lampe voller Kunst und eine Leiter voller Kunst… Damit kann ich im Moment nichts anfangen. [gallery:Streitfall Moderne - Heiner Pietzsch zeigt seine Sammlung] Die Irritationen sind heute groß…Ja! Nehmen Sie beispielsweise mal den Hirst, der packt dann einen Staubsauger in einen Glaskasten. Was soll sowas? Das ist nicht meine Kunst. Hirst will etwas sagen, aber es kommt bei mir nicht mehr an. Ich diskutiere häufiger mit meinem Freund Udo (Anm.d.Red. Udo Kittelmann, Direktor der Nationalgalerie) über Damien Hirst. Udo ist ja ein Hirst-Anhänger, er kann es auch wunderbar erklären, nur ich höre das nicht. Bei ihm ist das voll verinnerlicht. Er ist eben 40 Jahre jünger, es ist schon eine Generationsfrage. Vielen Dank für das Gespräch! Das Interview führte Karoline Kuhla.Fotos der Kunstwerke aus der Sammlung Pietzsch: Jochen Littkemann; © VG Bild-Kunst, Bonn 2012 Am 4. Juni 1930 in Dresden geboren, ist Heiner Pietzsch zunächst zum Elektroinstallateur ausgebildet worden. In den 50er Jahren wechselt er aus Ost- nach Westberlin und etabliert dort ein Geschäft für internationalen Kunststoffhandel. Knapp zehn Jahre später beginnt er, zusammen mit seiner Frau Ulla, Kunst zu sammeln. Ihre Kollektion beinhaltet Arbeiten der wichtigsten Maler der Klassischen Moderne, wie René Magritte, Joan Miró, Balthus, Hans Bellmer, Salvador Dalí, Paul Delvaux, André Masson, Yves Tanguy, Hans Arp, Henry Moore und gehört damit zu den wichtigsten deutschen Privatsammlungen in diesem Bereich. Ihr Gesamtwert wird heute auf 120-180 Millionen Euro geschätzt. 1977 ist Heiner Pietzsch an der Neugründung des Vereins der Freunde der Nationalgalerie beteiligt und engagiert sich dort jahrelang als Schatzmeister und Kuratoriumsmitglied. Im Sommer 2009 war ein Großteil der Sammlung Pietzsch in der Ausstellung „Bilderträume“ in der Neuen Nationalgalerie in Berlin zu sehen. Geht die Schenkung Pietzsch für Berlin verloren? Lesen Sie weiter: Super-Gau in der Kunststadt Berlin? Ohne Mäzen kein Museum
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Die hauseigene, millionenschwere Kunstsammlung will das Ehepaar Pietzsch dem Land Berlin schenken. Für Cicero Online erzählt Heiner Pietzsch von seinen Sammlererfahrungen, den Gesetzen des Kunstmarkts und seinem tiefen Verhältnis zur Kunst. Kann man Kunstinstinkt lernen? Eine Antwort in Anekdoten aus 50 Jahren
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kultur
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2012-05-11T07:07:11+0200
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2012-05-11T07:07:11+0200
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https://www.cicero.de//kultur/man-muss-auch-fehler-kaufen/49175
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Protest gegen Freihandelsabkommen - „Das ist eine Frage der Demokratie“
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Maude Barlow ist Vorsitzende des Council of Canadians, Vorstandsmitglied im International Forum on Globalization und Ratsmitglied des World Future Council. Sie erhielt elf Ehrendoktortitel und viele Auszeichnungen, darunter den „Alternativen Nobelpreis“. 2008 führte sie die Kampagne zur Anerkennung von Wasser als Menschenrecht zum Erfolg. Zuletzt erschien ihr Buch „Blaue Zukunft. Das Recht auf Wasser und wie wir es schützen können“. Cicero: Frau Barlow, Sie lehnen das europäisch-kanadische Freihandelsabkommen CETA ab. Was befürchten Sie?Maude Barlow: Viele Nordamerikaner sind zunehmend besorgt. Dies sind die ersten Verträge weltweit, die auch regionale und lokale Belange betreffen. Krankenversorgung, Infrastruktur, Bildung, soziale Dienste – all das wird dem Wettbewerb zugänglich gemacht. Damit wird den lokalen Verwaltungen die Möglichkeit genommen, ihre Landwirtschaft oder andere Wirtschaftszweige zu unterstützen. Die zweite Sorge dreht sich um die zunehmende Privatisierung von Wasser, die nicht wieder rückgängig gemacht werden kann, wenn TTIP oder CETA gelten. Das dritte Problem sind die Investitionsschutzabkommen. Nordamerikanische Firmen werden so in die Lage versetzt, über Gesetze in Europa zu bestimmen und umgekehrt. Wo erleben Sie den Widerstand stärker: in Deutschland oder in Kanada?Wir haben eine starke Zivilgesellschaft in Kanada, aber der Widerstand aus der Regierung ist schwächer. Ich habe diese Woche Angela Merkel gesprochen und hatte den Eindruck, dass sie und ihre Regierung offener sind gegenüber Kritik. Sie wollen verstehen, worüber sich die Menschen aufregen. Sie haben hier die Sozialdemokraten und die Grünen. Es gibt also mehr Möglichkeiten, den Bedenken in der Opposition oder unter den Koalitionspartnern Gehör zu verschaffen. Der deutsche Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel möchte die Investitionsschutzklauseln aus dem Vertrag ausklammern. Reicht Ihnen das?Ich bin nicht gegen Handelsverträge. Aber der Investitionsschutz muss natürlich aus dem Text raus. Auch die Kontrolle über lokale Entscheidungen finde ich nicht gut. Genauso wie die Absenkung von Standards, die ganz im Sinne der Unternehmen ist. Da ist Vieles falsch in CETA und TTIP. Wenn ich den Vertragstext neu formulieren müsste, würde ich andere Prinzipien zu Grunde legen und die Menschen, nicht die Konzerne in den Mittelpunkt stellen. Wir brauchen in vielerlei Hinsicht auch gar keine Handelsverträge, weil wir schon weitestgehend freien Handel zwischen unseren Ländern haben. In Deutschland erhofft man sich von TTIP immerhin 160.000 neue Arbeitsplätze in den kommenden 15 Jahren und ein zusätzliches Wirtschaftswachstum von 0,3 Prozent. Das ist eine nette Gutenachtgeschichte, die die Ökonomen da erzählen. Die einzigen, die davon profitieren, sind Großkonzerne und einige Firmenchefs. Wir Kanadier können von 25 Jahren NAFTA (Anm. d. Red.: dem Freihandelsabkommen zwischen den USA, Kanada und Mexiko) berichten, da hat man uns nämlich dasselbe versprochen. Tatsächlich haben wir sogar viele Fabrikarbeiterstellen an Mexiko verloren, weil wir nicht mehr zu den Firmen sagen konnten: „Wenn ihr hier Autos verkaufen wollt, dann müsst ihr hier auch Jobs schaffen.“ Die meisten Nordamerikaner sind heute in Bezug auf ihr Einkommen ärmer als in den 1980er Jahren. NAFTA hat nicht die versprochenen gut bezahlten Jobs geschaffen, weil die Firmen in die Länder mit den billigeren Löhnen gehen konnten. Können Sie auch von Erfahrungen mit der Investitionsschutzklausel berichten?In Kanada wurde der Investitionsschutz unter NAFTA zum Beispiel dazu genutzt, gegen ein Moratorium zum Fracking zu klagen. Die Unternehmen klagen gegen jedes Gesetz, das sie nicht wollen. Und oft gewinnen sie. Im Moment gibt es Klagen mit einem Gesamtwert von 2,6 Milliarden Dollar gegen die kanadische Regierung. Ingesamt hat Kanada 35 Klagen unter den NAFTA-Investorenschutzklauseln erlebt. Das kostet alles eine Menge Geld und ermüdet die Regierungen. Die Schiedsgerichte machen damit einen Haufen Geld. Sie glauben also nicht, dass Konkurrenz die Wirtschaft belebt und Preise dadurch gesenkt werden können?Es besteht ja kein Zweifel daran, dass internationaler Handel die Preise senkt. Aber das geht zu Lasten der Menschen, wenn Unternehmen zum Beispiel Kinder für sich arbeiten lassen, die Arbeitsbedingungen schlecht sind oder Abwässer direkt in Flüsse geleitet werden. Sie lagern die Kosten des Geschäfts aus und produzieren dafür vielleicht ein günstigeres Spielzeug. Aber ist das der richtige Weg? Durch die ausgelagerte Produktion von Lebensmitteln werden zum Beispiel Unmengen von Wasser verschwendet, weil das nordamerikanische Landwirtschaftssystem einfach nach Afrika und andere Regionen exportiert wurde. Die Macht, die die Unternehmen durch Handelsverträge bekommen, macht es für uns noch schwerer, für Regulierungen in diesem Bereich zu kämpfen. In Deutschland kommt viel Gegenwind aus der Kulturbranche. Ist der Schutz der kulturellen Freiheit auch ein Anliegen der Kanadier?In den 1990er Jahren gab es ja schon einmal ein Abkommen, das den Investitionsschutz global verankern sollte. Wir haben hart dagegen gekämpft. Für uns zählten eher die Menschenrechte und die Umwelt, aber besonders in Frankreich und Deutschland schlug der kulturelle Aspekt hohe Wellen. Sie wollten nicht, dass die US-Kultur alles überrennt. Wir verstehen das. Wenn Sie in Kanada an einen Zeitschriftenstand gehen, dann liegen dort nur amerikanische Zeitschriften und Bücher. Deshalb hatten wir lange Zeit Gesetze, die die kanadische Kultur schützen sollten, damit nicht alles von der großen US-Stimme übertönt wird. Ein weiterer Kritikpunkt richtet sich auf die mangelnde Transparenz der TTIP-Verhandlungen. Solche völkerrechtlichen Verträge werden aber nie öffentlich verhandelt und am Ende ist immer noch die Zustimmung der einzelnen Regierungen notwendig.Frühere Abkommen wurden in der Öffentlichkeit verhandelt, das Abkommen zwischen Kanada und den USA von 1989 zum Beispiel. Aber weil die öffentliche Reaktion so stark war, haben sie entschieden, das nicht mehr zu tun. Damals gab es einen Dialog, auch beim multilateralen Abkommen zum Investitionsschutz. Die Verfasser wollten die Bevölkerung auf diese Weise überzeugen. Aber als die bürgerliche Gesellschaft mehr und mehr dieser Verträge ablehnte, begannen sie, die Verhandlungen im Geheimen zu führen. Das ist also eher ein neues Phänomen. CETA haben die Kanadier erst vor wenigen Monaten zum ersten Mal gesehen – und unsere Regierung hatte es schon zuvor unterzeichnet. Ich denke, das hat mit mangelndem Vertrauen in die eigene Bevölkerung zu tun, wenn man sagt: „Ihr seid zu dumm dafür“ oder „Das geht euch nichts an“. Wenn es aber jedermanns Leben beeinflusst, haben wir auch jedes Recht zu wissen, was in den Verträgen steht. Denken Sie, dass Ihr Widerstand gegen CETA und TTIP Erfolg haben wird?CETA, aber erst recht TTIP, sind noch längst nicht abgeschlossen. Das Abkommen mit Kanada muss erst noch von der Europäischen Union ratifiziert werden und dann von den Regierungen der einzelnen EU-Länder. Es gibt aber Bedenken in Deutschland, Österreich, Belgien, Frankreich, Großbritannien. Wir hoffen, dass sie das nicht unterzeichnen werden. Ich möchte meinen europäischen Freunden sagen: „Wir sind auf diesem falschen Weg gelaufen. Ihr solltet nicht denselben Fehler machen.“ Je mehr die Menschen über diese Dinge erfahren, desto mehr wissen sie, was sie da gerade absegnen sollen. Das ist übrigens keine Frage der politischen Einstellung, ob links oder rechts, das ist eine Frage der Demokratie. Frau Marlow, vielen Dank für das Gespräch.
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Lena Guntenhöner
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Nicht nur in Deutschland, auch jenseits des Atlantiks wächst der Widerstand gegen die Freihandelsabkommen TTIP und CETA. Maude Barlow vom „Council of Canadians“ warnt vor einer Übermacht der Konzerne
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außenpolitik
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2015-04-23T09:54:10+0200
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2015-04-23T09:54:10+0200
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https://www.cicero.de//aussenpolitik/freihandelsabkommen-die-gutenachtgeschichte-der-oekonomen/59158
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Philosophischer Roman – Hier leben die Löwen
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In Klagenfurt war es im Frühsommer 1998 heiß und schwül. Die
Jury, die Autoren und das Publikum der «Tage der deutschsprachigen
Literatur» wirkten erhitzt. Dies umso mehr, als die Autorengruppe
in diesem Jahr exzellent besetzt war. Schriftstellerinnen und
Schriftsteller wie Kathrin Schmidt, John von Düffel oder Michael
Lentz traten im Wettlesen um den Ingeborg-Bachmann-Preis gegen eine
Riege noch Unbekannter an – ein öffentlicher Schaukampf, der
es in sich hat: Wer diesen Preis gewinnt, kehrt nicht nur mit einer
Menge Geld zurück, er kann sich der gesteigerten Aufmerksamkeit der
literarischen Öffentlichkeit sicher sein. Am Nachmittag des zweiten Lesungs-Tages dann
waren sich plötzlich alle sicher, soeben die Preisträgerin gehört
zu haben. Kathrin Schmidt hatte eine phantastisch-sinnliche Episode
aus ihrem Jahrhundert-Roman «Die Gunnar-Lennefsen-Expedition»
gelesen, der Beifall war stürmisch und einhellig – ein
Auftritt, nach dem der Nächste es besonders schwer haben würde.
Doch schien die Autorin, die nun am Mikrofon Platz nahm, von
stoischem Temperament: Sibylle Lewitscharoff, 44 Jahre alt,
studierte Religionswissenschaftlerin, im Zivilberuf Buchhalterin in
der Werbeagentur ihres Bruders, daneben Verfasserin von
Hörfunk-Features sowie eines in einem winzigen Münsteraner Verlag
erschienenen Buches mit dem Titel «36 Gerechte». Sie begann mit dem
Satz: «Einem Verrückten gefällt die Welt, wie sie ist, weil er in
ihrer Mitte wohnt.» Die Rede war im Folgenden von einem Mann namens
Pong, der Kopfgeburt einer Schizophrenen; wie nicht anders zu
erwarten, führt Pong ein absonderliches Eigenleben. Zielbewusst,
dicht und schnell ging es in dessen Gedankengänge hinein: in Pongs
Sorgen («dass man durch seinen Nabel Frost einbläst»), seine
ebenfalls zahlreichen Freuden («dass die Welt in allen ihren
Einzelheiten eine Botschaft für ihn bereithält») sowie seine selbst
auferlegten Pflichten, etwa, «seine Börse verschlossen zu halten.
Die lässt er sich nicht nehmen und beantwortet sie mit der Pflicht,
sich zur Not eine Frau zu ersparen». Dies war der letzte Satz, und
danach war klar, dass die Entscheidung über den Bachmann-Preis 1998
zwischen Kathrin Schmidts schier überbordendem Erzählen und der
extrem genau austarierten, dabei nicht minder poetischen und
sinnlichen «Pong»-Geschichte ausgehen würde. Sibylle Lewitscharoff
gewann den Bachmann-Preis mit der knappest möglichen
Mehrheit – eine der furchtlosesten und zugleich
formbesessensten Autorinnen der kommenden Jahrzehnte hatte die
literarische Bühne betreten. Dreizehn Jahre später stehen mit dem 1998 erschienenen «Pong» sechs
Romane sowie zehn bedeutende Literaturpreise für Sibylle
Lewitscharoff zu Buche – in diesem Herbst könnten es derer elf
werden, denn ihr jüngster Roman «Blumenberg» befindet sich auf der
Shortlist des Deutschen Buchpreises. Zwischen «Pong» und
«Blumenberg» aber liegen literarisch bewegte Zeiten, in denen die
Autorin ihren Radius sowohl thematisch als auch formal immer mehr
ausgeweitet und mit dem jüngsten Buch nun so etwas wie ihr
Meisterstück abgeliefert hat. Ein Abenteuerroman mit
ausgeprägter Lust am Nonsens, versehen mit Illustrationen der
Autorin, war 1999 erschienen: «Der höfliche Harald» ließ schon im
Titel eher an den «Struwwelpeter» oder einen Cartoon der
Satirezeitschrift «Titanic» denken, die Namen der
Protagonisten – «Käpt’n Drago» mitsamt dem Mäuse-Trio
«Sidonie-Isabell», «Sidonie-Karamell» und
«Sidonie-Grisaldine» – forcierten diesen Eindruck. Und zeigten
damit schon früh an, dass hier eine Autorin zu Werke ging, die von
ihren Lesern in jedem Fall Sinn für Ironie, nicht selten aber auch
Lust an einem durchaus schlagkräftigen Humor erwartet. Nach ihrem
2009 mit dem Leipziger Buchpreis ausgezeichneten Roman «Apostoloff»
jedenfalls konnte daran endgültig kein Zweifel mehr bestehen. Diese
wüste Suada, mit der die bulgarischstämmige Erzählerin des Buches
über das Bulgarien der Vor- wie der Nach-Wende-Zeit mit all seinen
Eigenarten und Zurückgebliebenheiten hinwegfährt (und den
Selbstmörder-Vater, dessen Urne in Bulgarien bestattet werden soll,
gleich mit in Grund und Boden karikiert), konnte nur genießen, wer
auch an gröberen Humor-Taten Vergnügen hat. Lesen Sie auf der nächsten
Seite mehr über Sibylle Lewitscharoffs Werke Die 2003 und 2006 erschienenen
Romane «Montgomery» und «Consummatus» wiesen demgegenüber auf eine
andere, ernste Besonderheit dieses Erzählens: In seinem Zentrum
steht immer der Tod. So kehrt in «Consummatus» die Hauptfigur, ein
Stuttgarter Studienrat, aus dem Totenreich zurück und beschwört in
einer grandiosen Schnaps-Orgie große Tote wie Andy Warhol, die
«Velvet Underground»-Sängerin Nico oder Jim Morrison –
Popgeschichte wie griechische Mythologie werden beim Leser als
spezifische Interessensgebiete vorausgesetzt und genüsslich
bedient. In «Montgomery» wiederum nimmt diesen Platz die Film- und
die NS-Geschichte ein, wenn der Held Montgomery Cassini-Stahl, ein
in Rom lebender Filmproduzent, «Jud Süß» neu zu verfilmen versucht
und neben einem Brudermord allmählich die NS-Verstrickungen seiner
Familie aufgedeckt werden. Die Literaturkritik zeigte sich
beiden Romanen gegenüber gespalten. Wo die einen sich vor dem
Einfallsreichtum und der unerschrockenen Erzählkraft der Autorin
verneigten, bemängelten andere die Neigung zur stilistischen
Überdrehtheit sowie einen Drang zu überschießender
Wissensmitteilung. Denn dies muss als dritte Komponente in Sibylle
Lewitscharoffs Schaffen ebenfalls festgehalten werden: Die Autorin
ist bestürzend gebildet, und was sich an Wissen in ihrem Kopf
befindet, das mutet sie mit diebischem Vergnügen auch ihren Lesern
zu. Furcht allerdings vor allzu viel
Rage oder einem Übermaß an Bildungsgut ist hier dennoch nicht
angebracht. Von Buch zu Buch steckt Sibylle Lewitscharoff zwar ihre
Ziele höher und erhöht den literarischen Schwierigkeitsgrad –
doch scheint das Ergebnis darüber immer leichter, federnder,
beschwingter zu werden: Alles gerät hier ins Schweben –
biederer Realismus war Sibylle Lewitscharoffs Sache schon von
Anfang an nicht. Wer sich jedoch dem Gang der ungewöhnlichen
Ereignisse anvertraut, von denen hier erzählt wird, wird mit
Blicken auf scheinbar Bekanntes belohnt, die unweigerlich dann auch
die eigenen Alltags-Ansichten beeinflussen: Er schaut mit der
Autorin in den Hades ebenso wie auf Verhaltensweisen, Charaktere
und Gegebenheiten, denen eine gewisse Verrücktheit, zumindest aber
Verdrehtheit anhaftet. Deren Komik springt ins Auge – und doch
geht von dieser Prosa etwas eigentümlich Tröstliches aus. Der
Grund dafür mag im grundsätzlich ironisch-sympathisierenden Blick
liegen, in dem absonderliche Menschen und deren Verhältnisse
lebendig werden. Dass allerdings der Trost: das Trost-Bedürfnis wie
die verzweifelte Trost-Unfähigkeit des Menschen, selbst einmal das
Herz eines Lewitscharoff-Romans bilden würde, hätte man dennoch
nicht unbedingt vermutet – zwischen dem bärbeißig
auftrumpfenden «Apostoloff» und dem jüngsten Roman «Blumenberg»
liegt ein großer qualitativer Sprung. Lesen Sie weiter auf der
nächsten Seite, was Lewitscharoffs neuesten Roman "Blumenberg" so
besonders macht Dabei ist natürlich auch dies kein
realistischer Roman, keine Roman-Biografie etwa über den
Philosophen Hans Blumenberg, der das Denken der Nachkriegszeit
neben Heidegger und Wittgenstein, Habermas und Luhmann maßgeblich
prägte. Als Romanfigur erscheint der Philosoph, obwohl alle
biografischen Daten exakt sind, vielmehr von der ersten Szene an
bereits ins leicht Meta-Physische entrückt: Gerade spricht er noch
in einer Mainacht des Jahres 1982 wie gewohnt seine Überlegungen
ins Diktiergerät, da liegt plötzlich ein Löwe auf dem
Buchara-Teppich des Arbeitszimmers. Ein böser Streich? Oder ist die
Wahrnehmung morgens um drei möglicherweise nicht mehr ganz auf der
Höhe? Oder wird ihm mit dem Erscheinen des Königs der Tiere
womöglich eine Auszeichnung zuteil? Gefasst, wie sein Denken es
verlangt, macht sich Blumenberg an die Erkundung des
Löwen-Phänomens. Wo frühe Landkarten das noch nicht
erforschte, nicht zivilisierte Territorium mit der Aufschrift «Hic
sunt leones» – «Hier leben die Löwen» – kennzeichneten,
verhält es sich bei diesem Löwen gerade umgekehrt: Seine
kreatürliche Würde nebst all seiner kunstgeschichtlich verbürgten
Symbolkraft adelt den begrenzten physischen Raum des Gelehrten,
Natur und Kultur verbinden sich durch die Anwesenheit des
nicht-domestizierten Haustiers zu einem neuen, unvermischten
Ganzen. Am folgenden Tag im Hörsaal wird sich dann zeigen, dass der
Löwe nur von Blumenberg selbst gesehen werden kann. Nur in der
Begegnung mit einer rigorosen alten Nonne trifft er auf noch einen
Menschen, der den Löwen als seinen Begleiter erkennt. Im Zeichen des Löwen steht von der
Erscheinungs-Nacht an unversehens alles, was der Philosoph denkt.
Sibylle Lewitscharoff lässt Blumenberg die Kunst- und
Kulturgeschichte aufblättern, lässt ihn gedanklich zu seinen
Leidenserfahrungen als Sohn einer jüdischen Mutter im NS-Reich
zurückkehren; er unternimmt eine Studienreise nach Ägypten, dann
wieder räsoniert er über seine philosophischen Konkurrenten und
bringt neben Bibel-Studien auch seine eigenen Löwen-Ansichten zu
Papier (wie sie im Bändchen «Löwen» posthum tatsächlich erschienen
sind). Nachdem auch die früh tödlich endenden Lebensgeschichten
vierer Studenten Blumenbergs in leuchtenden Farben erzählt sind,
finden alle Protagonisten sich schließlich in einer Höhle wieder:
einem Zwischenreich, in dem die jüngst Verstorbenen ihren Übergang
in einen anderen Zustand bedenken – hier dient der Löwe seinem
Philosophen als bequeme Rücken- und Nackenstütze. Ein
«Zuversichtsgenerator» war ihm zu Lebzeiten das mächtige Tier: «Der
Löwe ist zu mir gekommen, weil ich der letzte Philosoph bin.» Doch
auch den Leser weht je länger, desto deutlicher ein ebenso
tröstlicher Gedanke an: Vielleicht ist er der letzte Leser, der
alle Erscheinungen in der Literatur für wahr nehmen darf, wenn sie
ihm nur so kunstsinnig real vor Augen gestellt werden? Der Roman
selbst also gewissermaßen als der Löwe des Lesers? Dass hier in der phantastischen
Lebensgeschichte eines Denkers eine ganze Welt zwischen Münster und
Manaus, Kairo und Berlin, zwischen Wittgenstein, der Bibel und
Goethe eröffnet wird, ist freilich keine Zauberei. Es ist vielmehr
die federleicht erscheinende Arbeit der Schriftstellerin Sibylle
Lewitscharoff. Wir sind gewiss, dass sie beim Schreiben einen Löwen
neben sich hatte. Sibylle Lewitscharoff:
"Blumenberg"; Suhrkamp, 2011; 220 Seiten, 21,90 Euro Dieser Artikel ist auch
erschienen in der Ausgabe Oktober/November 2011 des Magazins
"Literaturen"
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Von besonderen Menschen und wilden Tieren, vom Glauben, Denken und Erkennen: Sibylle Lewitscharoff erschließt ihren Lesern auch in ihrem jüngsten Werk "Blumenberg" neue Wirklichkeits-Dimensionen
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kultur
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2011-10-13T15:20:36+0200
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https://www.cicero.de//kultur/hier-leben-die-loewen/46153
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erfahren: Freiraum – «banane ist Hase, ich weiß von nutz»
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Lyriker, hat Gottfried Benn einmal behauptet, sind «Sonderlinge, Einzimmerbewohner, sie geben die Existenz auf, um zu existieren». Diese soziologische Bobachtung von 1951 hält einem aktuellen empirischen Crashtest nicht mehr stand. Der alte heroische Mythos vom vereinzelten, isolierten Dichtergenie hat sich im digitalen Zeitalter verflüchtigt. Die Lyriker unserer Tage sind keine rückzugsbedürftigen Einzelgänger mehr, sondern höchst gesellige Wesen und allseits informierte Netzwerker. In ihren communities und Online-Foren, die www.forum-der-13.de oder www.der-goldene-fisch.de heißen, sind sie ubiquitär erreichbar und jederzeit auf der Pirsch, um das nächste Stipendium einzuheimsen oder auf das immer schneller sich drehende Karussell der Poesiefestivals aufzuspringen. Zu den Evergreens jeder Lyrik-Debatte gehört zwar immer noch die Klage über die Marginalisierung der Gattung und die verschwindend geringen Auflagen der Gedichtbände, deren Verkaufszahlen in der Regel weit unterhalb der «Enzensbergerschen Konstante» von 1354 Lesern liegen. Aber in einem erstaunlichen Gegensatz zur mangelnden Kaufbereitschaft des Publikums steht der anhaltende Boom sich stetig vermehrender Poesiefestivals und Lyrik-Events, die mittlerweile auch in den abgelegensten deutschen Provinzen die Herzen der Kulturamtsleiter höher schlagen lassen. Das deutsche Gedicht des 21. Jahrhunderts, so scheint es, ist ein flexibler, sozialverträglicher Textkörper, der kulturell vielseitig einsetzbar ist. So ist der jüngste Versuch einer Wiederbelebung des politischen Gedichts, wie ihn die literarisch bislang reichlich verschnarchte Wochenzeitung «Die Zeit» für sich reklamierte, nur als eine harmlose Werbeveranstaltung zur Aufpolierung des eigenen publizistischen Images zu bewerten. Das Gedicht der Gegenwart sucht eben nicht mehr den direkten Weg «ins Handgemenge» (Jürgen Theobaldy), begreift sich nicht mehr als Verstärkung gesellschaftlicher Aufbruchssignale, wie das vor dreißig Jahren den politisch motivierten AlltagsLyrikern der «Neuen Subjektivität» vorschwebte, sondern es bewegt sich in einem separaten Raum des artistischen Experiments, der aber nur der kleinen exklusiven community zugänglich ist.
Es gibt innerhalb der kleinen Dichter-Zunft durchaus ein Unbehagen an dieser Selbstreferentialität der lyrischen Aktivitäten, ein Leiden an der Abgeschlossenheit der Dichterzirkel. In einer kleinen Notiz zu seiner «confessional poetry», nachzulesen im aktuellen «Jahrbuch der Lyrik 2011», dem stets verlässlichen Seismografen für lyrische Trends, stellt André Rudolph die entscheidende Frage an die Konzepte seiner Kollegen: «was mir immer wieder bauchschmerzen bereitet, ist der ästhetizistische konsens meiner generation. soll es das schon gewesen sein? was ist mit den drängenden notzuständen der seele, terrorisiert vom gedicht?» Ja, soll es das schon gewesen sein? Gibt es keine verstörenden Erschütterungen des Humanum mehr, keine drängenden Existenz-Fragen, an die sich ein zeitgenössisches Gedicht herantraut? Soll die moderne Poesie des 21. Jahrhunderts auslaufen in resignierenden Sentenzen, wie sie der 1979 geborene Alexander Gumz in kritischer Absicht in eins seiner Gedichte integriert hat? Da heißt es: «das ist unsere zukunft: ein remix aus versprechen, die keiner hält (…) / dankeschön, dass die archive schrumpfen, dass das wissen / über uns verschwindet.» Hier markiert der Autor die postmoderne Perspektive, die glaubt, in einer nach-geschichtlichen Situation gelandet zu sein, in der nur noch Zitate verwaltet werden. Gegen solche Anwandlungen setzt der 1970 geborene Tom Schulz, einer der wenigen zeitgenössischen Aktivisten des politischen Gedichts, seine pointierte Gegenrede. Die Kunstübungen seiner Kollegen, so erklärt er im «Poetenladen», dem lebendigsten und substantiellsten Literaturportal der Gegenwart, seien «ohne die Idee einer wahrhaft humanen Kondition». Und weiter: «Empfinden äußert sich vornehmlich in Ironie und Kühle; eine ethische, moralische oder politische Haltung gilt als verpönt. Anstelle einer rettenden Schönheit hat sich eine Form von coolem Ästhetizismus entwickelt wie ein Wurmfortsatz.» Auch Tom Schulz erhebt also – wie der preisgekrönte André Rudolph – den Vorwurf des Ästhetizismus gegen die Lyrikerkollegen, freilich ohne Namen zu nennen. Was ihre Attacken eigentümlich zahnlos wirken lässt. Es wäre wohl auch als ein Verstoß gegen die ungeschriebenen Gesetze der Lyrik-community gewertet worden, wenn sich die beiden Polemiker der Mühe einer namentlich adressierten Textkritik unterzogen hätten.
Das Verdikt gegen den Ästhetizismus liest sich fast wie ein Misstrauensvotum gegen den ambitioniertesten Lyrik-Verlag der vergangenen Jahre, den Berliner «Kookbooks»-Verlag, in dem die Gedichtbände der quecksilbrigen Monika Rinck («Helle Verwirrung») und Uljana Wolf («falsche freunde») erschienen sind. «Gedichte sind das Sagen, das ich nicht habe. / Gedichte sind die Habe, die ich nicht sage. / Gedichte sind Sagen, wenn ich es nicht habe, das Gedicht.» So formulierte einst Uljana Wolf in einem schönen Paradoxon die Bezüglichkeiten, in die sich ihre Art von Dichtung verstrickt: Es ist die Sprache selbst, ihr semantisches und lautliches Oszillieren zwischen den unterschiedlichsten Klang- und Bedeutungs-Räumen, die zur primären Passion der «Kookbooks»-Autoren geworden ist.
Um die Entdeckung und Entfaltung solcher Poetiken der Sprachartistik bemühen sich neben «Kookbooks» vor allem zwei konzeptionell arbeitende Lyrik-Verlage: die «Roughbooks»-Reihe des fast nur noch im Internet-Direktvertrieb tätigen Schweizers Urs Engeler und – am wirkungsmächtigsten – der Wiesbadener «Luxbooks»-Verlag, der zuletzt unter dem sprechenden Titel «Freie Radikale» eine Anthologie mit wilden experimentellen Poeten publiziert hat, in der sich dreizehn junge Autoren in heftigster Sprachzerlegungsakrobatik gegenseitig überbieten.
Unter den «Roughbooks» tummelt sich ein ebenso sprachverrückter junger Autor, der aus dem Saarland stammende Wahl-Berliner Konstantin Ames, der in der Nachfolge des 2005 verstorbenen Thomas Kling ungestüme Dekonstruktionsarbeiten an unserer grammatischen Ordnung verrichtet. Was Ames in einem Essay einmal als «Vershohnepipelung» und «forcierte Flapsigkeit» bezeichnet hat, wird in seinem Band «Alsohäute» mit Feuereifer zelebriert: eine zwischen Alltagswitz, Kalauer, hohem Ton und Sprachresteverwertung balancierende Wortakrobatik, die ihren Sprachstoff unablässig grammatischen Zerreißproben unterzieht. Es geht hier nicht mehr um die Evokation von Befindlichkeiten oder gar um Bekenntnisse eines lyrischen Ich, sondern um die Produktion sich permanent generierender Sprach-Turbulenz. Der Autor ist souverän genug, diese Sprachanstrengung nicht als avantgardistisches Dogma hinauszuposaunen, sondern das gelegentlich Hyperaktive seines Verfahrens selbstironisch zu kennzeichnen: nämlich als Methode eines Vortragskünstlers, «der mit seinen mitunter experimentell lautmalerischen Fersen nur rumstampfte wie ein weinroter Elefant auf der Trommel». Seine fröhliche Wissenschaft der Dichtkunst kommentiert Ames mit gewitzten Fußnoten und «tranchierten Poenten»: «banane ist hase, ich weiß von nutz.» Ist also der Verdacht gegen eine in der Gegenwartslyrik virulente Koketterie mit dem Ästhetizismus berechtigt? Er wäre es nur dann, wenn sich die jungen Helden der kompromisslosen Sprachartistik in experimentalistischem Hochmut von jeder Wirklichkeitssuche abkoppelten. Das indes kann man nur von wenigen Epigonen einer falsch verstandenen Avantgarde behaupten.
Es gibt neben den Autoren, die eine gewisse Leidenschaft für das Nomadisieren zwischen den Sprachen und Bedeutungen entwickelt haben, auch noch genügend Begabungen, die sich an Topoi und Topografien, Mythen und Metaphoriken althergebrachter Dichtkunst gebunden fühlen. Als im vergangenen Herbst der Berliner Jan Wagner seinen meisterhaften Band «Australien» vorlegte, reagierten viele Kritiker mit signifikantem Flachsinn. Wagners Band wurde als Kollektion touristisch inspirierter Reisegedichte missverstanden und die existentielle Ausdruckskraft seiner Gedichte schlicht übersehen. «Fortschritt ist das, was man aus dem Rückgriff macht», hat Wagner einmal im Blick auf die von ihm geliebten klassischen und romantischen Formen notiert. Die «Australien»-Gedichte erreichen nun eine sinnliche Direktheit und Plastizität, die frei ist von jeder kommentierenden Überformung. Es handelt sich um eine bildstarke und zugleich formsichere Poesie einer phantastischen Welteroberung und Landschaftsaneignung.
Im Bücherfrühling 2011 sind es nun drei junge Lyrikerinnen, die Marksteine für ein avanciertes poetisches Sprechen setzen – wobei gleich eine Gemeinsamkeit ins Auge fällt. Alle drei Autorinnen versuchen ihre Weltaneignungen in je eigener Weise zu topografieren, ein poetisches Koordinatensystem zu entwerfen, das an sehr konkrete Orte und Landschaften gebunden ist. Nora Bossong betritt das heilsgeschichtliche Gelände der römischen Christenheit, Judith Zander erkundet in sprach- und kulturarchäologischer Feldarbeit den deutschen Nordosten, Ulrike Almut Sandig bahnt sich in einer nomadisierenden Bewegung den Weg durchs «Dickicht» zur imaginären «Mitte der Welt».
In Judith Zanders Gedichtbuch ist die geografische Selbstverortung bereits im Titel deutlich markiert: In «oder tau» kann man das Wort «oder» als Konjunktion lesen, aber bei der Lektüre der Gedichte wird rasch klar, dass es hier nicht um die grammatische Funktion, sondern um die Evokation einer östlichen Flusslandschaft geht. In Zanders Gedichten sind Sprachbilder und Landschafts-Topoi kaleidoskopisch ineinander verfugt, eine intensive Spurensicherung in Traditionen und Lebensgeschichten: «vermessene / sind wir zu nennen und schwänzer / lichtkeimer an und für sich kultur / follower von spuren strukturen / in einem acte de volonté / verlaufene sind / wir auftrag und grund …»
Die Sehnsuchtsreisenden in Ulrike Almut Sandigs Gedichten muss man sich als glückliche Menschen vorstellen. Die «Mitte der Welt», zu der sie aufgebrochen sind, ist zwar unerreichbar. Was ihnen aber bleibt, ist das endlose Nomadisieren, das sie aus allen Bedrückungen herausführt ins Offene. Zur Antriebskraft dieser Reisenden wird das ständige Unterwegssein, das Eintreten in einen Transitraum, in dem sich die Identität des Ich auflösen kann. Die Kompassnadel dieser Gedichte zeigt nach Norden, auch wenn diese Himmelsrichtung verdunkelt scheint von Erfahrungen des Abschieds und der Trennung. Sandig hat für die Topografierung ihrer Reisen einen ganz eigenen Ton gefunden, der
zwischen Kinderlied, romantischer Märchenmelodie und zarter Phantastik changiert. Hier ist es wieder zu hören, das trancehafte Murmeln, somnambule Flüstern und traumversunkene Beiseite-Sprechen, das bereits ihren Band «Streumen» (2007) kennzeichnete. Eine große Suggestivität erreicht diese Art des lyrischen Sprechens immer dann, wenn im Naturschönen plötzlich ein Moment der Bedrohung aufblitzt: «täglich schiebt sich der Norden (Äquator) näher heran. / in der Luft liegen Falken und spähen im Halbschlaf / nach Schatten, nach Tauben, Leichtmetall, Glück. // unter den Böen knacken die ältesten Türme, jüngere / schwanken fast nicht berechenbar: grashaft. gezielt.» Erst wenn auf diese Weise die Idylle ins Wackeln gerät und der Leser den Boden unter den Füßen verliert, entsteht poetische Intensität.
Nora Bossong bewegt sich im stärksten Gedichtband dieses Bücherfrühlings durch mythisches Gelände: durch ein «Arkadien» und eine «Dantegegend», die religionsgeschichtlich aufgeladen sind, ohne dass in den Gedichten irgendein Pathos bemüht wird. Es sind Gedichte, die sorgsam das Terrain katholischer Heilsgeschichte
erkunden, wobei die Aura des Religiösen auf das hellwache säkulare Bewusstsein der Dichterin trifft. «Große Exerzitien» werden von ihr in kleine Alltagsszenen und Rätselbilder gefasst und nahezu mühelos in schwebende Konstellationen verwandelt. Die Geschichte des Papsttums wird nicht anhand von Legenden oder Wundergeschichten aufgerufen, sondern nur in beiläufig wirkenden Episoden, in denen der Mythos profaniert wird. Die 1982 geborene Autorin bevorzugt erzählende Gedichte, die den narrativen Gestus sparsam gebrauchen, im Modus der Andeutung bleiben und damit das Geheimnis der einzelnen Szenen bewahren. Es ist großartig, wie subtil und unaufdringlich Bossong religiöse Ikonografien in die Wahrnehmung eines Nachmittags oder eine unspektakuläre Alltagsszene einwebt. Diese Gedichte, die im Gestus der Verhaltenheit daherkommen, erreichen eine Luzidität, die man in der Gegenwartslyrik selten antrifft: poetische Illuminationen, die sich den Respekt vor den religiösen Mythen bewahren und uns zugleich einen freien Blick auf ein ideologisch vermintes Gelände ermöglichen: «Ich gehe durch den Garten / zu den Fröschen, ein Zirpen / zoologische Verwirrung, /am Hangweg zittert Bambus / wieder und da: wieder, mein Jesuit / der auf die achte Plage lauert. / Ich pack den Teich am Schilf / ein Wasserläufer leuchtet auf / verludert, das Jesuitenlachen / klingt durchs Unterholz und nichts / steht fest an diesem Tag, nichts liegt / flach und leblos in meiner Hand.» Solange solche Gedichte geschrieben werden, braucht man die Frage nach einem blutleeren Ästhetizismus in der Lyrik nicht mehr zu stellen.
Michael Braun ist Kritiker, Essayist und Herausgeber und lebt in Heidelberg Jahrbuch der Lyrik 2011
Hrsg. v. Christoph Buchwald und Kathrin Schmidt
DVA, München 2011. 272 S., 19,99 €
Jan Wagner
Australien
Berlin Verlag, Berlin 2010. 110 S., 18 € Judith Zander
oder tau
DTV, München 2011. 96 S., 11,90 € Ulrike Almut Sandig
Dickicht
Schöffling & Co, Frankfurt a.M. 2011. 80 Seiten, 16,95 € Nora Bossong
Sommer vor den Mauern
Hanser, München 2011. 96 S., 14,90 €
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Michael Braun
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Alles nur cooler Ästhetizismus? Eine Querfeldeinfahrt durchs vielgestaltige Gelände der Gegenwartslyrik: Von der «Vershohnepipelung» bis zu Orten einer Sehnsuchtsreise
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kultur
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2011-04-20T14:50:24+0200
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2011-04-20T14:50:24+0200
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https://www.cicero.de//kultur/banane-ist-hase-ich-weiss-von-nutz/47384
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Dortmund - Bayern - Kein Viertes Reich zwischen Strafraum und Eckfahne
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Europa und der Euro sind in höchster Gefahr. Trotz all Ihrer Rettungsbemühungen ist die Bundesrepublik Deutschland der einzige europäische Staat, der einen, wenn auch kleinen, Haushaltsüberschuss erwirtschaftet hat. Alle anderen Länder kämpfen mit hohen, oft katastrophalen Defiziten und Schuldenbergen. Fast überall herrscht Rezession. Schlimmer noch: Der Abstand zwischen Deutschland und den anderen EU- und Euro-Ländern, von Frankreich bis Griechenland, wird immer größer. Diese Tatsache untergräbt die europäische Solidarität, das Gerechtigkeitsempfinden und die Würde der Völker. Neid, Zwietracht, ja Hass greifen immer weiter um sich, Verzweiflung und Radikalisierung macht sich breit. Und nun auch noch das. Ein deutsch-deutsches Finale in der europäischen Fußball-Champions-League ist in greifbare Nähe gerückt: Bayern München gegen Borussia Dortmund. Ein Alptraum. Der reine Horror. Die deutsche Vorherrschaft über Europa, die gnadenlose Dominanz der Sturmführer Schweinsteiger, Reus, Götze & Co könnte nun auch noch den grünen Rasen erobern und die zarten Pflänzchen der solidarischen Transferunion zertreten. [[nid:54166]] Mit Verlaub, hier kündigt sich eine Art Viertes Reich zwischen Strafraum und Eckfahne an. Die Gespenster der Vergangenheit kehren zurück. Kein Zufall vielleicht, dass der semifiktive Roman „Er ist wieder da“ seit Monaten auf Platz 1 der Bestsellerlisten steht. Sie wissen, wer mit „Er“ gemeint ist. Herr Barroso, da braut sich was zusammen. Glauben Sie mir. Kein Wunder auch, dass Deutschland heute am Pranger des UN-Menschenrechtsausschusses steht und sich von Vertretern Weißrusslands, Nordkoreas und des Iran hochnotpeinliche Fragen stellen lassen muss. Die einst so stolzen Spanier, Portugiesen und Franzosen können derweil nur noch am Rande stehen und zuschauen, wie die deutschen Panzer abermals das Spielfeld Europas von hinten aufrollen. Dass bei diesem perfiden germanischen Machtspiel auch nicht-deutsche Kicker wie Franck Ribéry, Arjen Robben und Javier Martinez mitwirken, unterstreicht noch den zynischen Rasen-Rassismus der Nazi-Erben. Ja, es stimmt, was einst Bertolt Brecht sagte: Der Schoß ist fruchtbar noch! Wir aber sagen: Nie wieder Faschismus! Nie wieder Krieg! Wehret den Anfängen! Deshalb, lieber Herr Barroso, greifen Sie ein! Ihr Kollege, Währungskommissar Olli Rehn, hat jüngst schon die Richtung vorgegeben: Deutschland muss schwächer werden! Zum Beispiel durch ausgedehnte Streiks bei Bahn und Lufthansa, im Öffentlichen Dienst und in der Automobilindustrie. Im Blick auf französische und italienische Verhältnisse ist da noch viel Luft nach oben. Dazu natürlich massive Lohnerhöhungen in allen Branchen, höhere Steuern und mehr Bürokratie, genauer: Noch viel mehr Bürokratie! Vorbildlich geht hier schon der grün dominierte Berliner Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg vor, der sich weigert, einen Platz nach Moses Mendelssohn zu benennen, weil der Mann ein Mann war. Die Frauenquote von 50 Prozent gilt aber auch für Straßennamen. Pech gehabt. Doch so sorgt man für endlose Sitzungen von Parlamenten und Ausschüssen, kurz: für jede Menge herrlich sinnloser Zeitverschwendung. Auch das ist ein schöner Beitrag zur europäischen Angleichung. Nächste Seite: Mit Jürgen „Kloppo“(!) Klopp und Jupp „Glühbirne“ Heynckes ist nicht zu spaßen Alles gut und schön, lieber Herr Barroso. Aber die Zeit drängt. Schon nächste Woche finden die Rückspiele im Halbfinale der Champions-League statt, und so bleiben nur noch wenige Tage, um das deutsche Vormachtstreben zu brechen. Und Sie wissen ja, mit Jürgen „Kloppo“(!) Klopp und Jupp „Glühbirne“ Heynckes ist nicht zu spaßen. Darf ich mir erlauben, ein paar konkrete Vorschläge zu machen? So könnten Sie und Ihre werten KollegInnen der Europäischen Kommission per Europäischer Eilverfügungs-Faszilität (EEVF) anordnen, dass die beiden deutschen Mannschaften mit schusssicheren Bleiwesten auflaufen müssen. Natürlich nur zur Gefahrenabwehr. Sie kennen ja den Hexenkessel von Bernabeu. Fast von selbst versteht sich, dass für die beiden entscheidenden Halbfinal-Begegnungen in Barcelona und Madrid nur griechische Schiedsrichter in Frage kommen, selbstverständlich mit Zyprioten als Linienrichter plus „vierter Mann“. Besonders wichtig: Robert Lewandowski, der vierfache Torschütze von Dortmund, erhält eine elektronische Fußfessel, die im Strafraum einigermaßen schmerzhafte Stromstöße aussendet. Mario Götze muss sich dafür einer gendermäßigen Überprüfung unterziehen, weil der begründete Verdacht besteht, dass er weder Mann noch Frau ist. Fragen Sie mal den Kreuzberger Bezirksbürgermeister von den Grünen, Franz Schulz. Der kennt sich mit dem dritten Geschlecht aus. Als letzte Maßnahme wäre zu erwägen, das Tor der deutschen Mannschaften jeweils zu vergrößern. Die notwendigen Umbauarbeiten in der Halbzeitpause sollten zügig zu bewerkstelligen sein. Lieber Herr Barroso, das große europäische Friedensprojekt ist zu groß und zu wunderbar, um es von zwei außer Rand und Band geratenen deutschen Fußballmannschaften in Trümmer legen zu lassen. Bitte greifen Sie ein! Handeln Sie, bevor es zu spät ist!
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Reinhard Mohr
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Ein deutsch-deutsches Finale in der europäischen Fußball-Champions-League ist in greifbare Nähe gerückt: Bayern München gegen Borussia Dortmund. Ein Alptraum für den Europäischen Frieden
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kultur
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2013-04-25T13:05:37+0200
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2013-04-25T13:05:37+0200
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https://www.cicero.de//kultur/championsleague-fc-bayern-borussia-dortmund-kein-viertes-reich-zwischen-strafraum-und-eckfahne/54289
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Olympia - Sie wollten sich nicht verarschen lassen
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Das Ergebnis war eindeutig: keine Olympischen Winterspiele in München. In insgesamt vier Bürgerentscheiden haben sich am Sonntag die Einwohner der bayerischen Landeshauptstadt, Garmisch-Partenkirchens sowie der Landkreise Traunstein und Berchtesgadener Land gegen eine Austragung des sportlichen Großereignisses in ihren Heimatgemeinden entschieden. Und zwar mit einer Ablehnungsquote von bis zu 59,7 Prozent. Erstaunlich sind weniger die Skepsis und Ängste der Bürger vor diesem – von einer außerhalb der Rechtsordnung stehenden Organisation veranstalteten – Megaevent. Sondern vielmehr die Reaktionen diverser Sportfunktionäre auf eine demokratische Wahl. Gerd Heinze, Präsident der Deutschen Eisschnelllauf-Gemeinschaft, ließ im Eifer des verlorenen Gefechts gleich jede Contenance fahren und sich zu folgenden Satz hinreißen: „Auf Deutsch gesagt, die Bayern haben keinen Arsch in der Lederhose.“ Denkwürdig ist auch die wutschnaubende Empörung eines gewissen Franz Beckenbauer, seines Zeichens Fußball-Legende und bayerisches Nationalheiligtum: „Das wird ihnen noch einmal leidtun!“ Leidtun wird den gescholtenen Bürgern womöglich eher, dass sie es je zugelassen haben, einer solchen Person quasimonarchische Weihen zuzubilligen. Denn so sprechen allenfalls Leute, die sich durch einen Volksentscheid tatsächlich ihrer fußballkaiserlichen Allmacht beschnitten sehen. Obwohl die Diktion von wegen „noch einmal leidtun“ dann doch eher an den Jargon eines Mafiapaten erinnert, der sich hintergangen fühlt. Wie wird die Rache des Don Franzl also aussehen? Er wird ja kaum jeden einzelnen Landsmann, der gegen Olympia gestimmt hat, mit einer Betonplatte an den Füßen in der Isar versenken können. Ob er am Ende die heimatliche Scholle aus Trotz und Abscheu vor einer derartigen Respektlosigkeit sogar verlässt, etwa ins benachbarte Österreich? Ach nee, geht ja gar nicht, da wohnt er ja schon längst. Ist dort steuerlich ja auch um einiges günstiger. Aber für eine Beleidigung des zurückgebliebenen Pöbels (der am Ende auch noch die Zeche zahlen soll) reicht es allemal. Einmal Kaiser, immer Kaiser. Da stellt sich also tatsächlich die Frage, was den olympiaskeptischen Bayern demnächst so leidtun soll. Womöglich die Tatsache, dass sie einfach keine Lust darauf hatten, sich auf eine halbkriminelle Vereinigung einzulassen, die ihren Milliarden teuren Wanderzirkus neuerdings am liebsten in von diktatorischen Regimes beherrschten Ländern haltmachen lässt, weil dort jeglicher Widerstand der Bevölkerung gegen die kommerzielle Ausbeutung ihrer Region sich nicht in freien Wahlen manifestiert, sondern praktischerweise gleich im Keim erstickt wird? Oder werden die Bürger des Freistaats es bitter bereuen, dass sie den „Host-City-Vertrag“ mit dem Internationalen Olympischen Komitee (IOC) dann doch lieber nicht in ihrem Namen unterschreiben lassen wollten? Eigentlich kaum vorstellbar, denn so ein Host-City-Vertrag ist eine prima Sache. Wenngleich auch nur für eine Seite, nämlich für das IOC. In einem Rechtsgutachten des Regensburger Jura-Professors Gerrit Manssen werden diese Dokumente ziemlich unmissverständlich als „Knebelverträge“ bezeichnet, die das IOC mit seiner „unkontrollierten Monopolstellung“ für „teilweise rechtlich groteske, den Vertragspartner einseitig belastende Regelungen“ nutze, „die jedem Anstands- und Gerechtigkeitsgefühl widersprechen“. Unter anderem deshalb, weil das IOC sich einseitige Änderungen des Vertragsentwurfs bis zum Abschluss vorbehält. Angesichts derartiger Klauseln muss man sich weniger über das Abstimmungsverhalten der bayerischen Bürger wundern. Sondern vielmehr darüber, dass Münchens Oberbürgermeister Christian Ude bereit gewesen wäre, ein solches Regelwerk überhaupt zu paraphieren (in Kiel ist gerade seine Amtskollegin aus weit geringerem Grund zurückgetreten). Aber um solch läppisches Juristen-Kleinklein dürfte es dem Sportmonarchen Beckenbauer auch gar nicht gegangen sein. Er meint wahrscheinlich eher die wohltuenden Nebeneffekte zugunsten des Volks, für das vom großen Tisch der Olympioniken ja gewiss Krümel in Hülle und Fülle herunterfallen. Man kennt das ja von früheren Veranstaltungen. In Albertville zum Beispiel wurde für die Spiele von 1992 eine Arena mit 35.000 Plätzen gebaut und hinterher wieder abgebrochen; die Skisprungschanzen verursachen jährliche Instandhaltungskosten von bis zu 300.000 Euro, bei der Olympiahalle fällt für den Unterhalt das Doppelte an. In Lillehammer, Austragungsort des Jahres 1994, mussten hinterher zwei große Skianlagen an Investoren verschenkt werden, um einen Bankrott zu vermeiden. In Nagano, wo man sich vier Jahre später mit dem IOC auf Olympia einließ, werden die Bewohner noch mindestens ein Jahrzehnt lang unter dem Schuldenberg leiden, der wegen der Sportfestspiele angehäuft wurde. Und so weiter und so fort. Das Prinzip ist aus der Finanzindustrie sattsam bekannt: Gewinne privatisieren, Verluste auf die Allgemeinheit abwälzen. Wie sagte der Eisschnelllauf-Bonze Gerd Heinze noch gleich? Die Bayern hätten keinen Arsch in der Lederhose? Ich glaube, die Bayern haben vielmehr klar gemacht, dass sie nicht bereit sind, sich von in Allmachtsphantasien schwelgenden Sportfunktionären verarschen zu lassen. Mit entsprechender Nonchalance dürften sie auch die aberwitzigen Drohungen ihres Fußballkaisers an sich abperlen lassen. Dass das IOC irgendwelche Konsequenzen aus dem Wahldebakel der Olympiaunterstützer ziehen wird, ist nicht zu erwarten – schließlich gibt es auf der Welt genügend Regimes, die sich ein bisschen vermeintlichen Prestigegewinn nur allzu gern auf Kosten ihrer Bevölkerung erkaufen wollen. Aber zumindest Michael Vesper, der Generaldirektor des Deutschen Olympischen Sportbundes, sollte standhaft genug sein, um endlich aus seiner Partei auszutreten. Der Mann ist nämlich Gründungsmitglied der Grünen. Und niemand anderem als den bayerischen Grünen ist es maßgeblich zu verdanken, dass die Verschwendung von Steuergeldern in olympischem Ausmaß rechtzeitig verhindert wurde. Und zwar, wie es sich gehört: an der Wahlurne.
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Alexander Marguier
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Sportfunktionäre sind nach dem Olympia-Entscheid mächtig sauer auf den Pöbel – und haben diesen mit teils deftigen Schimpfworten bedacht. Dabei sollte man den Münchnern dankbar sein, dass sie uns diesen Mafia-Zirkus ersparen
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kultur
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2013-11-13T10:48:06+0100
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2013-11-13T10:48:06+0100
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https://www.cicero.de//kultur/olympia-volksentscheid-franz-beckenbauer-sie-wollten-sich-nicht-verarschen-lassen/56388
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Großprojekte – „Da stimmt etwas nicht in unserem System“
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Herr Professor Speer, Sie sind ein international
gefragter Städteplaner und kommen für Ihre Projekte viel in der
Welt herum. Einmal ganz allgemein gefragt: Sind sich die Deutschen
des Ausmaßes an Globalisierung überhaupt richtig
bewusst?
Ganz ehrlich: nein. Ich habe nicht den Eindruck, dass wir die Rolle
in der Welt, die wir mit unserem Know-how, mit unserem Wissen, mit
unserer Kompetenz spielen könnten, auch tatsächlich wahrnehmen. Woran liegt das?
Das liegt zum einen daran, dass wir es in der Vergangenheit
überhaupt nicht nötig hatten, im Ausland zu arbeiten, und darin
auch keine Tradition haben – anders als zum Beispiel die
Niederländer oder die Briten. Das hat auch damit zu tun, dass
Deutschland nie Kolonien besaß. Dann kommen noch die sprachlichen
Verständigungsschwierigkeiten dazu. Und zum Dritten hatten wir
immer genügend in Deutschland zu tun. Aus diesem Grund ist unsere
Rolle in der Welt immer noch unterentwickelt. Immerhin ist Deutschland
Exportweltmeister …
Das ist richtig, aber viele unserer Ideen, Entwicklungen und
Vorstellungen kommen eben immer noch in anderen Ländern zur
Serienreife. Wir sind da nicht gut genug aufgestellt. Wir sind zu
provinziell und zu langsam. Für Katar hat Ihr Büro die Planungen für die Fußball-WM
2022 gemacht und damit sogar den Zuschlag bekommen; in China
entstehen unter Ihrer Regie ganze neue Städte. In Deutschland
dagegen kommt es wegen des geplanten Umbaus des Stuttgarter
Hauptbahnhofs zu bürgerkriegsähnlichen Zuständen. Ist unsere
Gesellschaft vielleicht ein bisschen zu wohlstandsverwöhnt
geworden?
Die Frage kann man sich durchaus stellen. Stuttgart 21 ist für mich
allerdings ein Sonderfall, den man in die allgemeine Entwicklung
großer städtebaulicher Projekte eigentlich nicht einordnen kann,
weil der lange Planungszeitraum von mehr als 15 Jahren nicht in
Fehlplanungen begründet ist. Sondern darin, dass die Auftraggeber
und die Politik über Jahre hinweg das Projekt gar nicht mehr
wollten. In dieser Zeit ist dann überhaupt nichts passiert. Das ist
natürlich für die Umsetzung eine Katastrophe. Ich bin der
Überzeugung, dass große Infrastruktur- und Architekturvorhaben
einen fest umrissenen Zeitrahmen brauchen. Wenn es innerhalb von
sagen wir mal fünf Jahren nicht gelingen sollte, mit dem Bau
überhaupt zu beginnen, sollte man ein Großprojekt einstellen und
eine Generation warten. Das heißt, Stuttgart 21 wäre nicht wegen des Widerstands
der Bürger, sondern wegen des falschen politischen Managements
beinahe gescheitert?
Am Anfang der Planungen gab es für Stuttgart 21 überhaupt kein
Akzeptanzproblem. Was dann aber folgte, waren Managementprobleme
der Politik und der öffentlichen Verwaltung mit den
Genehmigungsverfahren und allem, was daran hängt. Ich bin der
Überzeugung, dass wir auch da unsere Kompetenzen nicht
ausspielen. [gallery:Der Streit um Stuttgart 21] Was müsste also verbessert werden?
Das ist von Projekt zu Projekt verschieden, weil jedes individuelle
Organisationsstrukturen erfordert. Unser Büro ist immer bemüht, für
eine ganz bestimmte Zeitspanne die Zuständigkeiten und die
Interessen zu bündeln und somit schnell und schlagkräftig agieren
zu können. Wir brauchen eine Organisationsstruktur auf Zeit. Der
Bau der Allianz-Arena in München ist ein Beispiel dafür. Aber es kommt doch vor allem auch darauf an, der
Bevölkerung das Erfordernis eines solchen Großprojekts zu
vermitteln …
Das ist selbstverständlich ein ganz großes Thema, das von vielen
Fachleuten immer noch weit unterschätzt wird. Im Fall der
Allianz-Arena haben wir der Stadt München dazu geraten, selbst
einen Bürgerentscheid zu organisieren und nicht zu warten, bis
Bürgerinitiativen auftreten. Bei diesem Entscheid haben dann sogar
mehr Bürger abgestimmt als vor kurzem, als es um die dritte
Landebahn des Münchener Flughafens ging – und über 60 Prozent waren
dafür. Das jüngste Debakel eines deutschen Großprojekts ist der
Flughafen Berlin-Brandenburg, dessen Eröffnung mindestens auf März
verschoben wurde. Jetzt schieben sich das Land Brandenburg, die
Stadt Berlin und der Bund als Anteilseigner gegenseitig den
Schwarzen Peter zu, von den beteiligten Architektur- und
Ingenieurbüros einmal ganz abgesehen. Sind in der föderalen
Bundesrepublik die Kompetenzen womöglich zu zersplittert, um ein
Planungsvorhaben dieser Dimension vernünftig zu
stemmen?
Einen großen Flughafen zu bauen, ist eine sehr komplexe und
anspruchsvolle Aufgabe. Wenn versucht wird, so etwas in den
gewöhnlichen Genehmigungs- und Verwaltungsmühlen durchzusetzen,
wundere ich mich überhaupt nicht, dass es da zu Kompetenzgerangel
kommt. Es kann doch nicht sein, dass ein Beamter des Landkreises
Dahme-Spreewald verantwortlich ist für das gesamte
Brandsicherungssystem. Genau in solchen Fällen braucht es eine
Kompetenzbündelung, mit der sich klare Entscheidungen treffen
lassen. Wir haben vor Jahren in Berlin die Wissenschaftsstadt
Adlershof mitgeplant, aus dieser Zeit kenne ich die Berliner
Besprechungsgewohnheiten ganz gut. Wenn in Frankfurt eine
Besprechung stattfindet, sind daran vielleicht zehn oder 15 Leute
beteiligt; in Berlin sind es ungefähr 40. Und ich glaube, daran hat
sich bis heute nicht viel geändert. Seite 2: Die Planung von Großprojekten sei auch
in anderen Ländern genauso schwierig, meint Speer Das heißt, die rechtlichen Grundlagen in Deutschland
sind kein Hindernis, sondern eher die Verwaltung?
Ich würde schon sagen, dass auch das Planungs- und Baurecht nicht
mehr den gesellschaftlichen Anforderungen von heute entspricht. Da
besteht ein enormer Handlungsbedarf. Inwiefern?
Das ist sehr komplex. Aber um nur ein Beispiel zu nennen: Wenn die
Bundesregierung jetzt stolz darauf ist, dass sie eine Novelle des
Baugesetzes organisiert hat, wonach in reinen Wohngebieten
Kindergärten „bis zu einer gewissen Größenordnung" gestattet
werden, dann stimmt doch das ganze System nicht. Heute wird ja viel darüber sinniert, ob westliche
Demokratien überhaupt noch in der Lage sind, mit den schnellen
Entscheidungswegen in Ländern wie China mitzuhalten. Haben Sie
manchmal den Eindruck, dass wir mit unserem politischen System
Gefahr laufen, wirtschaftlich ins Hintertreffen zu
geraten?
Nein. Wenn es darauf ankommt, sind wir ja in der Lage, auch große
Dinge zu vollbringen. Aber in der Demokratie sind Großprojekte eben
nur dann fristgerecht durchsetzbar, wenn ein konkreter Endtermin
feststeht. Wir haben fünf Jahre lang die Weltausstellung in
Hannover geplant; da war klar, dass an einem bestimmten Tag alles
fertig sein muss, weil die Ausstellung eben beginnt. Wir können es
also, aber wir leisten uns oft Verzögerungen. Dann kommt zum
Beispiel ein Genehmigungsverfahren vier Wochen lang zum Erliegen,
nur weil der zuständige Beamte in Urlaub ist. Das geht übrigens
fast immer auf Kosten der Steuerzahler. Die Elbphilharmonie in
Hamburg ist ein schönes Beispiel dafür. Es fehlt an der Disziplin.
Und oft auch am Willen, nach Alternativen zu suchen. Ist die Elbphilharmonie eine Fehlplanung?
Auf einen früheren Speicher eine Philharmonie draufzusetzen, ist
komplex genug. Aber darüber noch einmal ein großes Hotel zu bauen,
das halte ich für ausgemachten Schwachsinn. Die Philharmonie wäre
längst fertig, wenn man das Hotel nebendran gebaut hätte. Das
technisch Machbare verführt Politiker und Planer dazu, einfachere
Lösungen zu ignorieren. [gallery:Das Berliner Stadtschloss – ein modernes
Schauermärchen] Ist es für Sie einfacher, in China oder in Ländern des
Mittleren Ostens zu arbeiten als in Deutschland?
Überhaupt nicht. Es ist anders. Und auch in solchen Ländern geht es
nicht unbedingt einfacher als in Deutschland. In China haben wir
uns erst einmal sehr daran gewöhnen müssen, dass es dort 5000 Jahre
alte Traditionen gibt, die bis heute durchschlagen. Das Denken und
die Kultur des Miteinander-Redens sind völlig anders als bei
uns. Als gelegentlicher China-Besucher könnte man den
Eindruck gewinnen, dass zum Beispiel der Denkmalschutz dort keine
besonders große Rolle spielt.
Das tut er mittlerweile sogar sehr. Da hat längst ein großes
Umdenken stattgefunden. Trotzdem geht immer noch sehr viel kaputt.
Aber die Chinesen sind ja auch clevere Geschäftsleute, die wissen,
dass man mit Denkmalschutz und alter Bausubstanz viel Geld
verdienen kann. Es ist also nicht so, dass in China irgendwelche
Politiker etwas beschließen, und am nächsten Tag rollen die
Bagger?
Überhaupt nicht. Auch in China gibt es bei großen Bau- und
Infrastrukturprojekten einen erheblichen Diskussionsprozess, der
auch gegenläufig ist – von der Stadtebene zur Staatsebene und
umgekehrt. Aber daran sind wir als Planungsbüro nicht
beteiligt. Wie denken Ihre chinesischen Geschäftspartner heute über
Deutschland?
Mein Eindruck ist, dass nicht nur in China, sondern auch in vielen
anderen Staaten Deutschland immer noch mit das höchste Ansehen in
der Welt hat. Leider nutzen wir dieses Ansehen in Deutschland nicht
genug. Umgekehrt verbinden viele Deutsche mit China immer noch
billige Massenproduktion.
Was ein Fehler ist. Man muss sich doch nur einmal anschauen, welche
riesigen Anstrengungen die Chinesen etwa auf dem Gebiet der
Energieeffizienz geleistet haben. Auch bei den alternativen
Energien sind sie inzwischen dabei, uns zu überrunden. Das ist dort
ein sehr wichtiges Thema. Die Chinesen wollen sich auf diesem
Gebiet auch deshalb keinen internationalen Regeln unterwerfen, weil
sie der Überzeugung sind, es besser machen zu können. Solche Themen
werden in Deutschland kaum gewürdigt. Überhaupt wird China in den
deutschen Medien immer schlechter dargestellt, als es der Realität
entspricht. Sie arbeiten ja auch viel für Regierungen, die
demokratisch nicht legitimiert sind. Haben Sie da manchmal ein
ungutes Gefühl?
Die Frage stellt sich auf der Ebene nicht, auf der unser Büro in
solchen Ländern arbeitet. Denn wir haben mit der Politik wenig zu
tun. Aber grundsätzlich finde ich schon, dass die Frage berechtigt
ist. Wer wie ich seit 40 Jahren auch in Saudi-Arabien arbeitet,
muss sich einfach klarmachen, dass das eine andere Welt ist, die
aus dem Beduinentum entstammt. Dort kann übrigens jeder Bürger zu
einer Audienz beim König kommen und findet Gehör. Man kann nicht
alles an unserer doch sehr jungen Demokratie messen. Ich bin aber
überzeugt davon, dass wir in jedem Land arbeiten können sollten,
mit dem die Bundesrepublik diplomatische Beziehungen unterhält. Im Handelsblatt war unlängst zu lesen, dass die
ständigen Verweise aus Deutschland bezüglich Menschenrechten in den
betroffenen Ländern zu einer Benachteiligung deutscher Firmen
führten. Haben Sie diese Erfahrung auch gemacht?
Nein. Seite 3: „Katar ist in der Lage, die WM zu
stemmen" Die Entscheidung, eine Fußball-Weltmeisterschaft im
Wüstenstaat Katar abzuhalten, wurde hierzulande heftig kritisiert.
Sie selbst waren ja maßgeblich daran beteiligt, dass das Emirat den
Zuschlag dafür erhielt. Hat es Sie nicht selbst ein bisschen
erstaunt, dass es geklappt hat?
Ich war schon überrascht. Ich saß zu Hause vor dem Fernseher und
habe die Übertragung der Endausscheidung gesehen. Scheich Mohammed,
einer der Söhne des Emirs von Katar und Vorsitzender des
Bewerbungskomitees, rief hinterher bei mir an und sagte: „I love my
Germans!" Was erwidern Sie denn Kritikern wie Franz Beckenbauer,
der eine WM in Katar schon aufgrund der dortigen Klimaverhältnisse
ablehnt?
Wir haben nachgewiesen, dass es trotz der Hitze mit hohem
technischem Aufwand und unter Verwendung von Solarenergie möglich
ist, dort eine Fußball-WM zu veranstalten. Dass es ökologisch
sinnvoller wäre, den Termin in den Herbst oder Winter zu
verschieben, ist eindeutig. Aber es geht auch so. Ich bin zudem der
Überzeugung, dass diese Region ein Recht darauf hat, trotz der
klimatisch schwierigen Bedingungen ein solches Großereignis
durchzuführen. Franz Beckenbauer hat den Katarern mehr oder weniger
offen unterstellt, die WM gekauft zu haben …
Da liegt er völlig verkehrt. Wir haben nachgewiesen, dass Katar in
der Lage ist, die WM zu stemmen. Und natürlich gehört Lobbying
immer dazu, um den Zuschlag zu erhalten; das machen alle anderen
Bewerber genauso. Aber dass die Katarer die Fußball-WM „gekauft"
haben, halte ich für völlig ausgeschlossen. [gallery:Die Lieblingsmonumente der Deutschen] Werden Sie im Ausland eigentlich oft auf Ihren
berühmt-berüchtigten Vater angesprochen?
Überhaupt nicht. Das ist nur in Deutschland Thema. Ich gebe aber
offen zu, dass das Interesse an meiner Person mit meinem Vater
zusammenhängt. So ist es halt. Gibt es in anderen Ländern eine Faszination für
Großprojekte, die wir in Deutschland auch aufgrund der Erfahrungen
aus der Nazizeit verloren haben?
Den Eindruck habe ich nicht. Wir haben in Deutschland wegen der
schrumpfenden Bevölkerung schlicht keinen Bedarf mehr, zum Beispiel
ganze Stadtviertel neu zu planen. Das ist in einem Land wie Ägypten
ganz anders, wo wir für Alexandria einen Masterplan bis zum Jahr
2033 erstellen – die Stadt wird bis dahin von 3,5 Millionen auf 5,5
Millionen Einwohner gewachsen sein. Da braucht es einfach neue
Städte und eine neue Infrastruktur. Sie haben einmal gesagt, Ihr persönliches Motto laute:
„Das Leben ist Risiko." Ist uns Deutschen die Bereitschaft zum
Risiko abhandengekommen?
Generell kann man das nicht sagen. Aber um Risiken einzugehen,
braucht es ein erhebliches Maß an Eigeninitiative. Kommen Sie von Ihren vielen Reisen gern nach Deutschland
zurück?
Ja. Wir leben hier auf einer Wohlstandsinsel von ungeheuren
Ausmaßen – von der Infrastruktur bis hin zur Kultur. Um das alles
zu erhalten, müssen wir uns zukünftig mehr anstrengen. Das Gespräch führte Alexander Marguier
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Deutschland, deine Großprojekte: Erst scheiterte Stuttgart 21 fast an der Wut der Bürger, jetzt droht sich die Eröffnung des Flughafens Berlin-Brandenburg ein weiteres Mal zu verschieben. Der Städteplaner Albert Speer – Sohn des gleichnamigen NS-Generalbauinspektors – erklärt, wieso Politiker gerne die einfach Lösungen ignorieren
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wirtschaft
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2012-08-15T15:53:55+0200
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2012-08-15T15:53:55+0200
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https://www.cicero.de//wirtschaft/da-stimmt-etwas-nicht-unserem-system/51551
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Integration - Der aufgeklärte Islam steht erst am Anfang
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Mehr als sechs Prozent der europäischen Gesamtbevölkerung sind Muslime, laut Studien soll der Anteil bis 2050 auf fast zehn Prozent anwachsen. Insbesondere seit der großen Flüchtlingsmigration im Jahr 2015 stieg die Zahl der Muslime in Ländern wie Schweden, Deutschland und Österreich, die besonders viele Flüchtlinge aufgenommen haben, stark an. Laut aktuellen Schätzungen sind ungefähr 700.000 der 8,7 Millionen Menschen in Österreich Muslime, Tendenz nach wie vor steigend. Analysen gehen davon aus, dass ihr Anteil in den nächsten 30 Jahren auf bis zu einem Viertel der Gesamtbevölkerung steigen könnte. Vor dem Hintergrund der wachsenden Zahl an Muslimen – aktuell vor allem aus Krisengebieten wie Syrien oder Afghanistan – stellt sich die Frage, wie ihre Integration in einem säkularen, wenngleich auch religionsfreundlichen, demokratischen Staat besser gelingen kann. In Österreich wurde der Islam bereits im Jahr 1912 gesetzlich anerkannt. Das damalige Islamgesetz war eine Reaktion auf die Integration der stark muslimisch geprägten Bevölkerung Bosniens und Herzegowinas in die Donaumonarchie. Das Gesetz stärkte die rechtliche Gleichstellung von Muslimen und sicherte ihnen Rechte wie jenes auf eine eigene institutionelle Vertretung zu. Zugleich verdeutlichte es die Erwartungshaltung gegenüber den Muslimen, dass Gesetze der Monarchie respektiert und anerkannt werden müssen. Die jüngsten Entwicklungen in Österreich verdeutlichen nun ein Problem, das ganz Europa betrifft: Unter Muslimen, insbesondere auch jenen, die erst vor Kurzem nach Österreich gekommen sind, herrscht oft ein deutliches Missverhältnis zwischen der theoretischen Zustimmung zu einem europäischen, rechtsstaatlichen Wertekonzept und der praktischen Bedeutung für das eigene Leben. So ergab eine Anfang 2017 durchgeführte Erhebung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften unter syrischen, afghanischen und irakischen Flüchtlingen, dass sie die Demokratie weitgehend als beste Staatsform sehen. Gleichzeitig sind aber 35 Prozent der Befragten der Meinung, dass religiöse Gebote über staatlichen Gesetzen stehen. Auch die österreichische Lebensweise beurteilen vier von zehn als zu freizügig. Lediglich 60 Prozent aller Befragten plädieren für die völlige Gleichberechtigung von Mann und Frau. Angesichts dieser Ergebnisse gewinnt vor allem eine Frage zunehmend an Dringlichkeit: Wie viel Europa braucht der Islam? Derzeit gibt es kein klares Bild davon, was den Islam in Europa und Österreich ausmacht und wer für ihn sprechen kann. Häufig kommen die Meinungsführer der öffentlichen Debatte von den extremen Rändern islamischer Strömungen. Gelegentlich präsentieren sich diese sogar als vermeintlich unabhängige Experten. Ihr Ziel ist zu oft nicht das Ankommen der Muslime in Österreich, sondern die Durchsetzung eigener Interessen. Auch die politischen Einflüsse aus Herkunftsländern durch und auf islamische Verbände und Organisationen in Europa wirken fatal. Die problematische Vermischung von Islam und Politik ist zunehmend stärker sichtbar, beispielsweise bei Demonstrationen von AKP-Sympathisanten, die oft von „Allahu Akbar“-Rufen begleitet werden. Inhaltlich werden viele kritische Themen wie etwa Fragen zum Schwimmunterricht für muslimische Mädchen, die Diskussionen zur Verschleierung von Frauen oder Fragen zur Sexualität oft mit einem grundsätzlichen Verweis auf Glaubensregeln abgeblockt, mit allgemeinen Floskeln abgetan oder unter Verweis auf die Religionsfreiheit für unantastbar erklärt. Anstatt sich mit konkreten Fragestellungen zu beschäftigen, bleiben Diskussionen oft fortschrittslos in Grundsatzbotschaften stecken. Das gilt insbesondere für die Diskussion um das Thema Vollverschleierung. Von muslimischer Seite wird die öffentliche Debatte häufig als eine völlig unbedeutende Symboldebatte disqualifiziert. Die muslimische Frau kleide sich so, wie sie selbst es für richtig halte, wurde anlässlich einer Demonstration gegen das geplante Vollverschleierungsverbot in Österreich argumentiert. Wohlgemerkt betrifft dieses Verbot nur die vollständige Verhüllung im öffentlichen Raum. Das Tragen des Kopftuchs bleibt davon unberührt. Zugleich hat die gesetzliche Vertretung des Islam in Österreich, die Islamische Glaubensgemeinschaft, vor Kurzem eine Fatwa veröffentlicht, die sich mit der Verschleierung der Frau beschäftigt: „Für weibliche Muslime ab der Pubertät ist in der Öffentlichkeit die Bedeckung des Körpers, mit Ausnahme von Gesicht, Händen und nach manchen Rechtsgelehrten der Füße, ein religiöses Gebot und damit Teil der Glaubenspraxis“, heißt es darin. Ursprünglich wurde dieser Beschluss des Beratungsrates der Islamischen Glaubensgemeinschaft als „Kopftuch-Gebot“ bezeichnet. Nach der ersten Aufregung in der Öffentlichkeit wurde der Titel auf „Stellung der Verhüllung im Islam“ geändert, der Inhalt blieb aber unverändert. Besonders aktuell wird die Debatte rund um die Verschleierung nicht zuletzt aufgrund eines aktuellen Entscheids des Europäischen Gerichtshof (EuGH), der besagt, dass Arbeitgeber religiöse Symbole, worunter auch das islamische Kopftuch fällt, unter bestimmten Bedingungen verbieten dürfen. Im Urteil heißt es: „Im Ergebnis stellt daher das Verbot, ein islamisches Kopftuch zu tragen, das sich aus einer internen Regel eines privaten Unternehmens ergibt, die das sichtbare Tragen jedes politischen, philosophischen oder religiösen Zeichens am Arbeitsplatz verbietet, keine unmittelbare Diskriminierung wegen der Religion oder der Weltanschauung im Sinne der Richtlinie dar.“ Mit ihrem explizit formulierten Kopftuch-Gebot bringt die Islamische Glaubensgemeinschaft Musliminnen nun eindeutig in Konflikt mit einem derartigen Urteil, was vor allem ihrer Integration in den Arbeitsmarkt wenig förderlich ist. Derartige Debatten schaden dem Fortschritt des Islam in Europa und dessen Bild in der Öffentlichkeit enorm und führen bei der Bevölkerung zunehmend zu einem Gefühl der Verunsicherung. So beurteilen laut einer aktuellen Erhebung sechs von zehn befragten Österreichern das Zusammenleben zwischen Muslimen und Nichtmuslimen als negativ. Religionsfreiheit hat Grenzen, die klar zu definieren sind. Der Rechtsstaat ist der Maßstab für das Zusammenleben. Es braucht einen aufgeklärten Islam, der auf den Fundamenten von Demokratie, Rechtsstaat und Menschenrechten steht. Mit dem 2015 adaptierten Islamgesetz von 1912 wurden in Österreich dafür die Grundlagen geschaffen. Es verankert einen gesetzlichen Anspruch auf islamische Seelsorge beim Militär, in Gefängnissen, Krankenhäusern und Pflegeheimen. Islamische Friedhöfe werden darin dauerhaft abgesichert. Zudem verbietet es die laufende Finanzierung von Religionsgesellschaften aus dem Ausland, um ausländischer Einflussnahme vorzubeugen. Diese Schritte können allerdings nur Teil einer umfassenderen Lösung sein. Gerade die steigende Zahl der moderaten und aufgeklärten Stimmen im Islam findet in Österreich wie auch in Europa zu wenig Gehör. Gemäßigte Kräfte, die für einen europäisch geprägten, moderaten und toleranten Islam eintreten, müssen gestärkt werden. So bedarf es auch der Entwicklung einer europäischen islamischen Theologie als Fundament. In Österreich wurde mit der Einführung von Lehrstühlen für islamische Theologie an den Universitäten bereits der Grundstein dafür gelegt. Letztendlich kann das Zusammenleben in Österreich nur auf Basis eines aufgeklärten Islam gelingen. Dieser befindet sich allerdings erst am Anfang eines langen Weges.
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Franz Wolf
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Arbeitgeber dürfen laut einem EuGH-Urteil das Kopftuch am Arbeitsplatz verbieten. In Österreich aber ruft die Islamische Glaubensgemeinschaft, immerhin die gesetzliche Vertretung des Islam, Musliminnen zum Tragen des Schleiers auf. Das Beispiel zeigt, dass die Frage, wie ein europäisch geprägter Islam aussehen kann, längst nicht beantwortet ist
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"Islam",
"Österreich",
"Euro-Islam"
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außenpolitik
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2017-03-17T12:55:36+0100
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2017-03-17T12:55:36+0100
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https://www.cicero.de//aussenpolitik/integration-der-aufgeklaerte-islam-steht-erst-am-anfang
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JuLi-Chef Konstantin Kuhle - Der Mann und der Motor
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Erst das Jura-Studium an der privaten Elitehochschule Bucerius Law School in Hamburg – mit Prädikatsexamen abgeschlossen. Dann wissenschaftlicher Mitarbeiter in einer Wirtschaftsgroßkanzlei. Schließlich, mit nur 26 Jahren, Chef einer Partei-Jugendorganisation mit 10.000 Mitgliedern. Da sollte doch eigentlich mehr drin sein als ein Interview mit der Landeszeitung Lüneburger Heide. Viel mehr geht für Konstantin Kuhle momentan aber nicht. Er ist Vorsitzender der Jungen Liberalen (JuLis), des Jugendverbandes der FDP. Als die Freien Demokraten 2013 aus dem Bundestag gewählt wurden, rissen sie ihren Jugendverband gleich mit ins Loch der Bedeutungslosigkeit. Ganz unten am Boden, 2014 in Kassel, wurde Konstantin Kuhle zum JuLi-Chef gewählt. Seither müht der Niedersachse sich ab, die Jungliberalen ans Licht der Öffentlichkeit zu heben. Viele seiner Arbeitstage beginnen früh um 6 Uhr und enden kurz vor Mitternacht. Im vergangenen Jahr machte er die Ochsentour und versorgte Regionalblätter mit Interviews. Die Zeiten, als JuLi-Bundesvorsitzende noch zum Bericht aus Berlin mit Ulrich Deppendorf zur besten Sendezeit in die ARD geladen wurden, sind nun vorbei. Es ist, als müsste man nach einem verprassten Lottogewinn völlig neu beginnen. Kuhle sagt aber, er fühle sich ausgesprochen wohl in seiner Haut. Wer so etwas sagt, ist entweder Masochist oder leidenschaftlicher Liberaler. Kuhle ist Zweiteres. Sein halbes Leben – genau sein halbes – mischt er bei den JuLis mit. Mit 13 liest er deren Grundsatzprogramm und will beitreten – ein Jahr, bevor das rechtlich in Deutschland überhaupt möglich ist. Die JuLis in der niedersächsischen Kleinstadt Dassel nehmen ihn ernst, holen ihn gar von zu Hause ab, wenn Mitgliedertreffen anstehen. Hier fühlt er sich aufgehoben. Hier arbeitet er sich nach oben. Hier lernt er, wie man Menschen überzeugt. Hier wird er Politiker. Kuhle changiert in seinen Rollen, wie er seine bunten Hosen wechselt, die zu seinem Markenzeichen geworden sind. Im persönlichen Gespräch ist er eher der Kumpeltyp, mit dem man gern ein Bier trinkt, sich über Gott und die Welt unterhalten kann. Er ist nahbar und herzlich, trägt einen Drei-Tage-Bart und vermeidet all das, was ihn wie einen typischen FDP-Schnösel aussehen ließe. Am Rednerpult dagegen reißt er die Leute mit. Er spricht weitgehend frei, aus seiner Eloquenz am Rednerpult wird Euphorie im Publikum. Seine Sprache ist Kuhles wichtigstes Instrument, um die JuLis letztlich von seinen Argumenten zu überzeugen, sie zum Motor innerhalb der Freien Demokraten zu machen. Vergangenes Wochenende, da lief dieser Motor auf Hochtouren. Auf dem FDP-Bundesparteitag in Berlin haben die Jungliberalen die Legalisierung von Cannabis unter strengen Auflagen durchsetzen können. Kuhle hat Cannabis in jüngeren Jahren auch schon selbst einmal probiert, er könne dem Cannabiskonsum persönlich allerdings nicht viel abgewinnen. Dass Jugendorganisationen in ihrer Mutterpartei derart weitreichende Beschlüsse erringen, ist ein seltener Erfolg. Kuhle kokettiert mit Understatement: „Es gibt für die FDP bei weitem wichtigere Themen als die Legalisierung weicher Drogen, aber es gibt eben für die Polizei auch wichtigere Aufgaben, als Gelegenheitskonsumenten zu jagen.“ Solche Erfolge können die Jungliberalen nur erringen, wenn sie mit einer Stimme sprechen. Deshalb versucht Kuhle, den linksliberalen und den wirtschaftsliberalen Flügel zusammenzubringen. Das gelingt ihm. So positioniert sich Kuhle auch gern unkonventionell: „Wenn es in Zukunft weniger Kinder gibt, dann besteht jetzt die einzigartige Gelegenheit, den Betreuungsschlüssel im Kindergarten und in der Schule massiv zu senken. Wenn mehr Erzieher und Lehrer für weniger Kinder zuständig sind, steigt die Bildungsqualität. Das wäre eine echte Investition in die Zukunft.“ Letztlich warnt Kuhle also nicht etwa vor einem vermeintlich aufgeblähten Personalüberhang im öffentlichen Dienst, sondern spricht sich vielmehr dafür aus, dass eine gleichbleibende Zahl an Pädagogen sich dann eben um weniger Kinder kümmern könnten. Damit wird auch der linke Flügel der JuLis bedient. Das Spektrum ist wieder größer geworden. Allerdings bleibt der JuLi-Bundesvorsitzende pragmatisch. Wenn es passe, dann würde die FDP gern auch wieder mit der Union. In Hamburg befürwortete Kuhle Rot-Gelb. Die Grünen schließt er auch nicht mehr als Koalitionspartner aus. Da flattern beide Flügel. Und Kuhle steigt höher. Erst im April dieses Jahres haben ihn die Delegierten wiedergewählt – mit 95 Prozent.
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Daniel Martienssen
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Vor einem Jahr wählten die Jungen Liberalen Konstantin Kuhle zum Bundesvorsitzenden. Das Polit-Talent aus Niedersachsen fühlt sich wohl in seiner Haut als Chef einer Parteijugend am Boden. Wer so etwas sagt, ist Masochist oder leidenschaftlicher Politiker
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innenpolitik
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2015-05-22T09:06:03+0200
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2015-05-22T09:06:03+0200
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https://www.cicero.de//innenpolitik/juli-chef-konstantin-kuhle-der-mann-und-der-motor/59290
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Nahost-Konflikt - Irans Machtposition bröckelt
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Einen Tag, nachdem der Iran rund 200 ballistische Raketen auf Ziele im ganzen Land abgeschossen hatte, kündigten israelische Beamte am 2. Oktober Pläne für umfangreiche Vergeltungsmaßnahmen an, die sich möglicherweise gegen die iranische Ölproduktion und Atomanlagen richten könnten. Der nationale Sicherheitsberater der USA, Jake Sullivan, warnte Teheran in ähnlicher Weise vor „schwerwiegenden Konsequenzen“, während Washington erklärte, es werde Israels Reaktion unterstützen. Unabhängig davon begann Israel eine Bodenoffensive im Südlibanon, um Hisbollah-Kämpfer aus dem Gebiet südlich des Litani-Flusses zu vertreiben. Der iranische Raketenbeschuss – der zweite gegen Israel innerhalb von sechs Monaten – erfolgte nur wenige Tage nach einem israelischen Luftangriff in Beirut, bei dem Hisbollah-Chef Hassan Nasrallah getötet wurde. Mindestens ein halbes Dutzend weiterer hochrangiger Mitglieder der Gruppe sind in etwas mehr als einer Woche bei israelischen Luftangriffen ums Leben gekommen. Die Dezimierung der Hisbollah-Führung und ihrer kriegerischen Fähigkeiten durch Israel hat den Weg für eine massive Veränderung der geopolitischen Landschaft im Nahen Osten geebnet. Nach einer jahrzehntelangen Zementierung der eigenen Macht hat der Iran einen schweren Rückschlag erlitten. Teheran sieht sich nicht nur mit einer regionalen Umkehrung konfrontiert, auch seine Position im eigenen Land ist angesichts der direkten Konfrontation mit Israel verwundbar. Diese Entwicklungen bieten den Vereinigten Staaten, der Türkei und – in geringerem Maße – den arabischen Staaten eine historische Chance, den unverhältnismäßig großen regionalen Einfluss, den der Iran in den letzten vier Jahrzehnten aufgebaut hat, zurückzudrängen. Die Hisbollah war noch nie so geschwächt. Die Anfang der 1980er Jahre gegründete Gruppe entwickelte sich zur dominierenden Kraft im Libanon, stärker noch als die libanesischen Streitkräfte. Im Jahr 2000 zwang sie Israel nach 18-jähriger Besatzung zum Rückzug aus dem Südlibanon. Sechs Jahre später bestätigte sie ihre militärische Stärke, als sie gegen Israel eine Pattsituation erreichte. Die Erfolge der Gruppe waren so beeindruckend, dass der Iran sie zur Grundlage seiner regionalen Strategie machte. Teheran baute seine bewaffneten Stellvertreter im Irak, in Syrien und im Jemen nach dem Vorbild der Hisbollah auf, die gleichzeitig zum Juniorpartner Irans beim Aufbau seines Stellvertreternetzes wurde. Die Beschädigung der militärischen Fähigkeiten der Gruppe und die Zerstörung mehrerer Führungsebenen sind somit ein systemischer Schlag für den regionalen Einflussbereich und die nationale Sicherheit des Irans. Da die Hisbollah Israels Nordflanke bedrohte, konnte der Iran eine aggressive Außenpolitik in der arabischen Welt betreiben und sein Atomprogramm vorantreiben, ohne einen israelischen Angriff befürchten zu müssen. Aus demselben Grund kam Israel zu dem Schluss, dass der Schlüssel zur Bekämpfung seiner strategischen Einkreisung durch iranische Stellvertreter in der Lähmung der Hisbollah liegt. Die Gelegenheit, seine Pläne in die Tat umzusetzen, bot sich im vergangenen Jahr nach dem Angriff der Hamas am 7. Oktober. Als die israelischen Streitkräfte mit dem Ziel der Vernichtung der Hamas durch den Gazastreifen fegten, koordinierte der Iran seine Stellvertreter, um Israels Ressourcen zu erschöpfen und gleichzeitig Teherans eigene Position zu stärken. Während die im Jemen ansässigen Huthis die Handelsschifffahrt mit Drohnen und Raketen unterbrachen, beschoss die Hisbollah Israels nördliche Gemeinden mit Raketen und Artillerie. Während die Gaza-Operation andauerte, verlagerte die israelische Führung ihren Schwerpunkt auf die Nordfront und verstärkte ihre Angriffe gegen die Hisbollah. Seit Monaten hatte Israel zunehmend Hisbollah-Führer und iranische Militärbefehlshaber ausgeschaltet, doch der Wendepunkt kam letzten Monat, als es Tausende von Pagern und Funkgeräten der Gruppe zur Explosion brachte und einen Großteil ihrer hochrangigen Militärführung bei Luftangriffen ausschaltete. Die israelische Kampagne gipfelte vor einer Woche dann in einem Luftangriff auf den Kommandobunker der Hisbollah, bei dem der seit 32 Jahren amtierende Führer der Gruppe, Hassan Nasrallah, getötet wurde, unter dessen Führung die Hisbollah zu der gewaltigen Kraft wurde, als die sie heute bekannt ist. Am Dienstag startete Israel einen Bodenangriff auf den Südlibanon und erklärte zunächst seine Absicht, die Hisbollah von der Grenze zu vertreiben. Wahrscheinlich aufgrund des anfänglichen Erfolges hat Israel jedoch seine Ziele ausgeweitet. Es will nun die militärischen Verluste der Hisbollah in eine politische Schwächung ummünzen und so den Gegnern der Hisbollah die Möglichkeit geben, sich zu erheben und die Macht der Gruppe zu begrenzen. Ein Erfolg Israels könnte das Ende der iranischen Regionalstrategie bedeuten, birgt aber auch die Gefahr, einen Bürgerkrieg im Libanon auszulösen, dem interne Konflikte nicht fremd sind. Die Schwächung der Hisbollah hat erhebliche Auswirkungen auf Syrien. Seit 2011 haben die Hisbollah und der Iran entscheidend dazu beigetragen, das Regime von Bashar Assad zu stützen. Assad hat sich jedoch aus dem aktuellen Konflikt zwischen Israel und der Hisbollah herausgehalten und sich stattdessen darauf konzentriert, die Beziehungen zu den arabischen Staaten und der Türkei zu verbessern. Er ist sich bewusst, dass er sich vor allem nach dem syrischen Bürgerkrieg zu sehr auf den Iran und die Hisbollah verlassen hat, und sieht Russland, seinen anderen wichtigen Verbündeten, durch den Ukraine-Krieg geschwächt. Assad wird versuchen, die Situation im Libanon sorgfältig zu steuern, um eine Destabilisierung seines fragilen Regimes zu verhindern. Eine geschwächte Hisbollah und der Iran könnten syrische Rebellengruppen ermutigen – eine Bedrohung, die Assad vermeiden möchte. In der Zwischenzeit wird die Türkei, die seit jeher durch den iranischen Einfluss im Irak und in der Levante eingeschränkt wird, wahrscheinlich versuchen, ihren Einfluss auszuweiten. Die Situation stellt einen schweren Rückschlag für den Iran dar und gefährdet seine seit vier Jahrzehnten andauernden Bemühungen, eine Einflusssphäre von Teheran bis zum östlichen Mittelmeer aufzubauen. Nach den Ereignissen der letzten Tage ist dies jedoch die geringste Sorge Teherans. Der Iran sieht sich nun der Bedrohung durch unmittelbar bevorstehende und noch nie dagewesene israelische Angriffe auf sein Territorium und neuen Enthüllungen über die Schwäche des Regimes ausgesetzt. Mehrere Runden von Vergeltungsschlägen sind möglich, auch wenn die Entfernung zwischen Israel und dem Iran einen anhaltenden direkten Krieg unwahrscheinlich macht. Der Iran ist viel schwächer als Israel und hätte in einem solchen Konflikt mehr zu verlieren. Eine der Hauptsorgen Teherans ist, dass ein Konflikt das Land destabilisieren könnte, da das Regime vor einem historischen Führungswechsel steht. Sollte Israel jedoch umfangreiche Vergeltungsmaßnahmen ergreifen, könnte der Konflikt auf den Golf übergreifen und möglicherweise die Vereinigten Staaten einbeziehen. Auch wenn die Situation noch im Fluss ist, steht fest, dass sich der Iran nach vier Jahrzehnten als aufstrebende Regionalmacht nun in einem starken Niedergang befindet. In Kooperation mit
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Kamran Bokhari
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Seit vier Jahrzehnten ist Teheran bemüht, seine Einflusssphäre in Nahost auszuweiten. Die Dezimierung der Hisbollah-Führung durch Israel ist daher ein herber Rückschlag für den Iran. Aber bei weitem nicht sein einziges Problem.
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[
"Nahost-Konflikt",
"Iran",
"Israel",
"Libanon"
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außenpolitik
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2024-10-04T14:49:50+0200
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2024-10-04T14:49:50+0200
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https://www.cicero.de//aussenpolitik/nahost-konflikt-irans-machtposition-brockelt
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Blitzumfragen - Wie du liest, so wählst du
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Irgendwie sind sie nicht tot zu kriegen, diese Nonsense-Umfragen vor Wahlen. Sie sind in Zeitungen, auf Onlineseiten und im Fernsehen zu finden, nennen sich verheißungsvoll „Trend“, „Barometer“, „Wahlprognose“, „Ted-“, „Leser-“ oder „Blitzumfrage“. Sie dienen wahlweise der Belustigung des Publikums, der Leser-Blatt-Bindung oder der Steigerung der Klickzahlen. Toller Nebeneffekt: Sie erwecken den Anschein politischer Information und geben so auch Boulevardformaten einen aufklärerischen Anstrich. Und ihre Aussagekraft? Tendiert gegen null. Zumindest in Bezug auf den tatsächlichen Wahlausgang. Wenn man sich solche Umfragen aber nach der Wahl noch einmal ansieht, sagen sie erstaunlich viel aus. Und zwar über die jeweiligen Medien, in denen sie erscheinen: Die Umfrageergebnisse lassen vage Aussagen über die politischen Vorlieben ihrer Teilnehmer zu. Vom Publikum wiederum lässt sich mit sehr viel Vorsicht auf das Blatt oder das Programm selbst schließen. Natürlich ist das gleich mehrfach einzuschränken: Wo schon Umfragen renommierter Meinungsforschungsinstitute höchst unzuverlässig sind, müsste man solche Tipp-Tools ins Reich der Ufojäger verbannen. Weil dies eine Kolumne ist und kein Nachrichtenformat, erlauben wir uns trotzdem mal den Spaß. Fangen wir bei der Brigitte an, die ihre höhere politische Kompetenz ja schon durch qualifizierte NSU-Berichterstattung bewiesen hat. Die Leserinnen der Onlineseite bevorzugten klar Rot-Grün, wenn man sich die Ergebnisliste ansieht: Huch, wo war denn da der Kanzlerinnen-Bonus? Laut dem Meinungsforschungsinstitut dimap haben am Sonntag 44 Prozent aller Frauen die Union gewählt – und nur 39 Prozent der Männer. Wir schauen uns die zweite Frage an und staunen: 58 Prozent der Brigitte-Leserinnen fanden also, dass Angela Merkel nicht länger hätte Kanzlerin bleiben sollen. Und das, obwohl Mutti in einem Brigitte-Talk so schön übers Kochen philosophiert hat! Die Umfrage-Teilnehmerinnen kannten trotzdem keine Gnade. Wer sich dagegen die Meinungen beim Focus anschaut, muss einräumen, dass es durchaus publizistische Unterschiede bei den Magazinen gibt. Dort erlangte die Alternative für Deutschland (AfD) 61,1 Prozent. Wir erinnern uns: Deutschlandweit wählten nur 4,7 Prozent die Partei der Eurokritiker. Umso gruseliger wird das Ergebnis auf der Webseite des Focus, wenn man sich vor Augen hält, dass dort 34.328 Stimmen abgegeben wurden. Meinungsforschungsinstitute befragen in der Regel nur um die 1.000 Personen. Was schließt man daraus? Ist der Focus besonders eurokritisch? Oder zieht er nur viele Eurokritiker an? Das müssten jetzt eigentlich mal Medienforscher in einer Inhaltsanalyse ermitteln. Übrigens will auch das Handelsblatt vor der Wahl eine enorme Euphorie für die AfD gemessen haben: Auf 19,2 Prozent soll das „Online-Marktforschungsinstitut Mafo“ gekommen sein. Wie die Süddeutsche Zeitung herausfand, wurde bei der Befragung allerdings getrickst und geschoben, von einer „Stimmungsmache“ war sogar die Rede. Man sollte also auf solche Umfragen keinen Pfifferling geben. Wer Wahlumfragen – ganz im Medientrend – sub- und hyperlokal auswertet, entdeckt echte Protestnester: Die Leser der Thüringer Allgemeinen in Nordhausen wählten die SPD (27 Prozent) zur stärksten Kraft vor der CDU (25 Prozent). Danach folgten die AfD mit 21 Prozent und die Linke mit 15 Prozent. In Ostdeutschland ist die Linke traditionell sehr stark; auch die Alternative holte in den neuen Bundesländern bessere Werte. Am Abend vor der Wahl begab sich schließlich auch Stefan Raab unter die Umfragegurus. In der ProSieben-Spezialausgabe von „TV Total“ durfen die Zuschauer per Telefon abstimmen. Das Ergebnis der Bundestagswahl-Prognose: Die FDP scheiterte an der Fünf-Prozent-Hürde, die Union lag mit Rot-Grün gleichauf. Dafür erhielt die Linke stolze 15,6 Prozent – das waren ganze 7 Prozentpunkte mehr als die Partei am Sonntag tatsächlich erhielt. Stern-Herausgeber Andreas Petzold sorgte sich bei Twitter angesichts dieser Prognose um die Einnahmen des Senders: „Was wohl proSieben Werbekunden sagen, dass überwiegend Linke-Wähler Raab gucken?“ Man kann es aber auch so wie die Bild-Zeitung machen und sich das Wunschergebnis einfach selbst zurechtbasteln. Verärgert keinen Werbekunden – und macht den Chefredakteur glücklich. In der Wahl-Sonderausgabe, die am Samstag kostenlos an 41 Millionen Haushalte in ganz Deutschland verteilt wurde, kamen auf einer Doppelseite Erstwähler zu Wort. 33 junge Leute – naja, streng genommen waren es nur 25 – verrieten, wen sie wählen würden. Wenn man deren Zweitstimmen-Aussagen zusammenzählt (unter der Annahme, dass ein Befragter, der „in Richtung CDU, FDP“ tendierte, die Erststimme der Union und die Zweitstimme den Liberalen gab), kommt man auf folgende Übersicht: Bei Rot-Grün kam das dem tatsächlichen Wahlergebnis unter den Erstwählern sehr nahe: Elf Prozent von ihnen wählten am Sonntag grün, 24 Prozent die SPD. Anders sah es in Wirklichkeit im schwarz-gelben Lager aus. Nur 31 Prozent der 18-24-Jährigen gaben der Union, vier Prozent der FDP ihre Stimme. Dass Schwarz-Gelb bei der Bild-Erstwählerumfrage deutlich überrepräsentiert war, wäre ja noch kein Drama, wenn die Redaktion nicht mit der Auswahl der zu Wort kommenden Jugendlichen auch eine subtile politische Botschaft verbunden hätte. Die zwei einzigen gesellschaftlichen „Verlierer“ unter den befragten Jugendlichen waren nämlich Anhänger linker Parteien. Ein Häftling, der wegen Drogenbesitzes, Einbruchs und Körperverletzung sitzt, warb für die Grünen, „weil sie Cannabis erlauben wollen. Dann wird niemand mehr zu Beschaffungskriminalität gezwungen.“ Und der arbeitslose Hamburger Punk „Erbse“ sprach sich als Einziger für die Linke aus. Der Münchner Einser-Abiturient unterstützte natürlich die CSU, und die Berufe der drei FDP-Wähler: ein Unternehmer, ein Versicherungsvertreter und ein Software-Architekt. Bei seiner Auszählung der Gewinner und Verlierer in der Bild kam der Medienjournalist Stefan Niggemeier jüngst zu einem ähnlichen Ergebnis: FDP-Politiker waren dort am häufigsten die Gewinner, Vertreter von SPD und Grüne am häufigsten die Verlierer. Politiker der Linken waren immer nur Verlierer. Das alles ist natürlich nur Zufall, Hexerei und sagt auch gar nichts über die jeweiligen Medien aus... Und jetzt fragen Sie bitte nicht, wo die 57 Prozent herkommen, die sich bei Cicero Online eine rot-rot-grüne Koalition wünschen! 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Petra Sorge
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Brigitte-Leserinnen hätten Rot-Grün, Focus-Leser die Alternative für Deutschland gewählt: Wer sich nach der Bundestagswahl noch einmal die Umfragen einiger Medien anschaut, dürfte nicht schlecht staunen
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innenpolitik
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2013-09-25T20:31:54+0200
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2013-09-25T20:31:54+0200
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https://www.cicero.de//innenpolitik/ufo-jagd-was-wahlumfragen-ueber-medien-aussagen/55939
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Konflikt zwischen den USA und Iran - Trumps nächste Rocketman-Show
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Die eigentliche Überraschung des G7-Gipfels von Biarritz war der Besuch des iranischen Außenministers Mohammed Dschawad Sarif und die Ankündigung von Präsident Emmanuel Macron, dass sich der iranische Präsident Hassan Rohani in einigen Wochen mit dem US-amerikanischen Präsidenten Donald Trump treffen könnte. Der iranische Präsident kommentierte diese Entwicklung zuerst mit dem Hinweis, dass er jedes Gespräch führen werde, das dem Iran Vorteile bringt. Und Präsident Trump erläuterte, dass er zu einem Treffen bereit sei, wenn die Situation dies hergeben könnte. Inzwischen wurde vom iranischen Präsidenten schon darauf hingewiesen, dass die Aufhebung der US-Sanktionen eine Vorbedingung für ein Treffen sei. Weiterhin möchte der Iran in den Gesprächen erreichen, dass seine Ölexporte gesteigert werden, um die dringend benötigten Devisen einnehmen zu können. Die derzeitige Hoffnung auf rasche Erfolge im Konflikt mit dem Iran ruht darauf, dass die französische Diplomatie etwas hinbekommen haben soll, woran jahrelang alle beteiligten Regierungen scheiterten. Und was so ganz dem gegenwärtigen Ansatz der amerikanischen Iranpolitik entgegensteht. Das wurde in der gemeinsamen Pressekonferenz von Macron und Trump deutlich. Während der französische Präsident einen Prozess vor Augen hatte, in dem die überlappenden Interessen gesucht, in dem die vitalen Interessen beider Seiten berücksichtigt und letztlich gemeinsame Positionen gefunden werden, sprach der US-Präsident davon, dass die amerikanische Politik des maximalen Drucks wirke. Eben die Eskalation, die Frankreich vermeiden möchte, trägt nach amerikanischer Bewertung zum Einlenken des Iran bei. Auf zwei Grundsätze der Iranpolitik hat man sich in Biarritz geeinigt. Erstens, dass der Iran niemals Nuklearmacht werden soll. Zweitens, dass er auf politischem Weg davon abgehalten werden soll. Daran ist nicht viel neu und weiterführend. Denn für die Umsetzung des ersten Ziels ist der Iran ausschlaggebend. Und militärfreier – aber keineswegs gewaltfreier – Druck auf den Iran war von Beginn an das Ziel von Präsident Trump. Sein Problem ist, dass er mit dieser Haltung bei seinen außenpolitischen Beratern ziemlich alleine steht. Diese würden ein militärisches Vorgehen begrüßen, streben den Regimewechsel in Teheran an und halten den Iran für das wirklich harte Problem der amerikanischen Sicherheitspolitik. Deshalb hatten sie Trump schon einmal zu einem Militärschlag geraten, den er, nachdem seine Berater gegangen waren, rückgängig machte. Präsident Trump sieht eher die Aufträge für die amerikanische Wirtschaft im Iran als erstrebenswert an als eine demokratische Ordnung. Gleichwohl zielt die Politik des Präsidenten auf mehrere Ziele, die über den bisherigen Nuklearvertrag hinausgehen. Erstens soll er eine weit längere Laufzeit haben, eigentlich für immer verhindern, dass der Iran Nuklearmacht wird. Zweitens sollen die Kontrollen und vor allem die Kontrollorte erweitert werden. Drittens soll das iranische Raketenprogramm einbezogen werden. Viertens schließlich soll es Garantien gegen eine aggressive Regionalpolitik geben. Von diesen Forderungen kommt der amerikanische Präsident kaum mehr weg. Sie sind aber aus iranischer Sicht allzu einschränkend, so dass kaum zu erwarten ist, dass sich die iranische Führung darauf einlässt. Denn sie sieht sich in der Region anderen ambitionierten Mächten gegenüber – Saudi-Arabien, der Türkei und Israel – und möchte sich die politische Bewegungsfreiheit kaum einschränken lassen. Vor allem dürften die USA bei ihrer harten Haltung bleiben, weil inzwischen erwiesen ist, dass die amerikanischen Sanktionen nicht umgangen werden können. Das wesentlich auch von Deutschland aufgebaute Abrechnungssystem Instex ist wirkungs- und nutzlos. Die Sanktionen hingegen haben den Iran äußerst durchgreifend von Handelsbeziehungen abgeschnitten. Alle Maßnahmen, den Nuklearvertrag gegen die USA aufrechterhalten zu wollen, schlugen fehl. Insofern gibt es deswegen kaum Anreize für die amerikanische Diplomatie, auf diese Interessenlagen einzugehen. Präsident Trump sieht die Politik des maximalen Drucks wirken – und diese Wirkung kann in seiner Einschätzung nur täglich zunehmen, weil dem Iran die Alternativen fehlen. Es könnte allerdings ein persönliches Motiv beim Präsidenten vermutet werden. Sein medial verbreitetes Selbstbild lautet ja, dass er die harten Nüsse amerikanischer Politik knacken muss. Anders als seine Vorgänger sei er nicht bereit, die Probleme einfach nur zu verschieben. Er wolle sie direkt angehen. Gegenüber China, Russland, der EU – und eben auch gegenüber Nordkorea und dem Iran. Die beiden letzten Staaten behandelt er in seinen Ausführungen häufig parallel. Beide Staaten hätten enormes wirtschaftliches Potential, das sich unter den jetzigen Führungen entfalten könnte, sobald die wichtigsten amerikanischen Interessen berücksichtigt wären. Kim Jong-un ist darauf eingegangen und hat enorme Vorteile gezogen, ohne auch nur einer amerikanischen Forderung nachzukommen. Das könnte dem Iran als Vorbild dienen. Aber so ganz parallel wird das mit dem Iran nicht möglich sein. Denn Nordkorea ist in weniger regionale Konflikte verwickelt und hat ein weniger ausgeprägtes negatives Image in der amerikanischen Öffentlichkeit. Eine Hinwendung zum Iran müsste der amerikanische Präsident seiner Partei und seinen Wählern schon sehr gut erklären können. Zu Israel und Saudi-Arabien pflegt Präsident Trump beste Beziehungen und beide Staaten würden ihn in seiner harten Haltung bestätigen. Auch das spricht gegen einen abrupten Wandel der amerikanischen Iranpolitik. Nur darf man bei Präsident Trump nichts ausschließen. Gut möglich, dass er innen-, und vor allem wirtschaftspolitisch so unter Druck gerät, dass er kurz vor den Wahlen nach einem außenpolitischen Erfolg greifen muss. In Teheran wird man die amerikanische Innenpolitik unter diesem Blickwinkel sicher haargenau analysieren. So sehr die iranische Wirtschaft unter den Sanktionen leidet, auf einen Vertrag, der von den konservativen Kräften im Iran als Knebelvertrag angesehen würde, kann sich Präsident Rohani nicht einlassen. Er muss seinen politischen Handlungsspielraum vor allem gegen die Revolutionsgarden absichern. Und er muss die politische Führung für sich gewinnen, denn er ist zwar Präsident, aber nicht der bestimmende Mann im Staat. Das ist Ali Khamenei, der politische und religiöse Oberste Führer des Iran. So paradox es ist: Präsident Trump und Präsident Rohani haben in den amerikanisch-iranischen Beziehungen derzeit wohl die geringsten Berührungsängste. Beide haben schon mehrfach, lange vor dem G7-Gipfel von Biarritz, ihre Gesprächsbereitschaft signalisiert. Fraglich ist, ob sie zu gemeinsamen Grundsätzen für die Gestaltung ihrer Beziehungen kämen, ob sie eine Lösung finden könnten, die ihre sicherheits- und wirtschaftspolitischen Interessen verbindet. Noch fraglicher ist, ob sie dafür den innenpolitischen Rückhalt finden – im Iran und in den USA. So groß die Skepsis über den Erfolg der diplomatischen Bemühungen Frankreichs ist, diese Beziehungen zu bearbeiten, richtig ist an der Initiative sicher, diesen Weg bisher weitgehend außerhalb der öffentlichen Beobachtung gesucht zu haben. Warum die Präsidenten Macron und Trump gerade jetzt damit derart fordernd aufgetreten sind, wird sich zeigen, wenn die Wochen verstrichen sind, in denen das Treffen Trumps und Rohanis nach Macrons Einschätzung stattfinden sollte. Daran wird sich die diplomatische Bewegung in diesem Fall jetzt messen lassen müssen.
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Thomas Jäger
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Bald schon könnten sich US-Präsident Donald Trump und der iranische Präsident Hassan Rohani treffen. Viele hoffen auf ein Ende des schwelenden Konflikts zwischen den USA und Iran. Was bei Kim Jong-un funktionierte, wird im Nahen Osten jedoch kaum aufgehen
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[
"Iran",
"USA",
"Donald Trump",
"Hassan Rohani",
"Atomdeal",
"G7-Gipfel",
"G7",
"Biarritz",
"Diplomatie"
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außenpolitik
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2019-08-27T16:04:28+0200
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2019-08-27T16:04:28+0200
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https://www.cicero.de//aussenpolitik/iran-usa-donald-trump-hassan-rohani-biarritz
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Finanzprüfer rügen – Wozu brauchen wir Lebensmittel-Reserven?
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Die Idee stammt aus den 60er Jahren, ist ein Erbe des
Ost-West-Konflikts und wurde in den 80ern durch das Atomunglück in
Tschernobyl nochmals befeuert. In Kriegs- und Krisenfällen,
nach Naturkatastrophen, Seuchenausbrüchen oder Terroranschlägen
sollte die Bevölkerung wenigstens übergangsweise mit Lebensmitteln versorgt sein.
An geheimen Orten, verteilt über die ganze Republik, lagern deshalb
tonnenweise Getreide und Hülsenfrüchte, der Bund gibt für die
Vorratshaltung jährlich Millionen aus. Der Bundesrechnungshof hat
dieses Hamster-Prinzip nun in Frage gestellt. Was kritisiert der Bundesrechnungshof? Veraltete und teilweise schlicht ignorierte Vorgaben, fehlende
Krisenplanung und das Missverhältnis zwischen finanziellem Aufwand
und Gewinn für die Bevölkerung. Obwohl die Lebensmittelvorsorge
viel Geld koste, werde sie „nicht mit Nachdruck betrieben“, heißt
es in dem Prüfbericht. Die Notvorräte berücksichtigten weder
Bevölkerungsentwicklung noch aktuelles ernährungsphysiologisches
Wissen, die Rechtsvorschriften seien „uneinheitlich und
unvollständig“, zudem gebe es kein Gesamtkonzept zur
Krisenbewältigung, bei dem etwa auch Trinkwasser-, Energie- und
Verkehrssicherung berücksichtigt seien. All dies gebe „Anlass zur
Sorge, dass die Versorgung der Bevölkerung in einem großflächigen
Krisenfall nicht gesichert werden kann“. Das Verbraucherministerium weist die Kritik mit dem Hinweis
zurück, dass man mit den Ländern doch längst an Verbesserungen
arbeite – und dafür die Kritik des Bundesrechnungshofs gar nicht
benötigt hätte. „Bund und Länder erkennen den Reformbedarf an“,
sagt Sprecher Holger Eichele. Man habe bereits ein
Forschungsvorhaben initiiert und auch eine gemeinsame Projektgruppe
gebildet, welche „die Modernisierung vorantreiben soll“.
[gallery:Cicero Online präsentiert die besten
Verschwörungstheorien] Welche Lebensmittel werden in welchem Umfang
vorgehalten? Es handelt sich, wegen der besseren Lagerfähigkeit, fast
ausschließlich um Rohprodukte. Die so genannte „Bundesreserve
Getreide“ (BRG) besteht aus Weizen, Roggen und Hafer, aus denen
sich im Notfall Mehl herstellen und Brot backen lässt. Zudem gibt
es eine „Zivile Notfallreserve“ (ZNR), die den Bewohnern von
Ballungsregionen wenigstens eine warme Mahlzeit am Tag garantieren
soll: Reis, Erbsen, Linsen und Kondensmilch. Zehn Jahre, so die
Vorgabe, sollten die Lebensmittel haltbar sein. Die Produktpalette
und die vorgesehenen Mengen stammen allerdings zum größten Teil
bereits aus dem Jahr 1995, heißt es im Prüfbericht. Und die als
erforderlich angesehene Warenmenge sei „nie erreicht“ worden. Für eine ausgewogene Ernährung fehle es, nachdem keine
Fleischreserven mehr vorgehalten würden, an pflanzlichen Fetten und
Ölen, beanstandete die Bundesanstalt für Landwirtschaft und
Ernährung schon vor 17 Jahren. Und aus der Sicht des Ministeriums
könnten künftig auch Fertiggerichte oder zumindest
weiterverarbeitete Produkte wie Nudeln und Mehl einbezogen werden.
Geändert wurde bisher aber nichts – obwohl alle Beteiligten wissen,
dass die Beschränkung auf Riesenmengen von Rohprodukten zur
Überbrückung von Krisen wenig Sinn macht. Im Jahr 2010 lagerten in
den Geheimdepots etwa 440 000 Tonnen Weizen, 50 000 Tonnen Roggen
und 140 000 Tonnen Hafer. Gesellschafter eines Mühlenwerks haben
ausgerechnet, dass allein die Weiterverarbeitung des eingelagerten
Hafers ein halbes Jahr dauern würde. Was kostet die Lagerhaltung? Laut Prüfbericht betrugen die Kosten für den Kauf der
Lebensmittel, ihre Lagerung sowie die Verwaltung für die Jahre 2001
bis 2010 rund 150 Millionen Euro. Hinzu kommt die Bezahlung von
etwa 30 Vollzeitbeschäftigten. Die Hallen müssen angemietet und
hygienisch instand gehalten, der Zustand der Lebensmittel
regelmäßig überprüft werden. Pro Jahr kostet das im Schnitt rund
17,5 Millionen Euro. Allerdings seien diese Kosten für das
Parlament „kaum transparent“, bemängelt der Rechnungshof. Die
tatsächlich anfallenden Kosten seien weder aus den Haushaltstiteln
vollständig ableitbar noch verschaffe sich das
Verbraucherministerium darüber Kenntnis. Seite 2: Wo sind die Lebensmittel deponiert? Wo sind die Lebensmittel deponiert? An etwa 150 gemieteten Depots, die übers ganze Land
verteilt sind. Die Standorte sind geheim – um sie im Krisenfall
nicht zum Ziel von Plünderungen werden zu lassen. Allerdings gibt
es, nach einer Festlegung aus dem Jahr 1997, zahlreiche Vorgaben.
So sollten die Lager in der Nähe von Ballungsgebieten und Mühlen,
geografisch gut verteilt und nicht in Nachbarschaft von
Militäreinrichtungen oder großtechnischen Anlagen liegen. Beim
Versuch, all dies zu berücksichtigen, seien die Behörden jedoch auf
Grenzen gestoßen, heißt es im Prüfbericht. „Die Lagerräume
entsprachen (...) immer weniger den vorgegebenen Kriterien“ –
insbesondere, weil sich die Anmietung in wirtschaftlich
prosperierenden Gebieten als zu teuer herausgestellt habe.
Recherchen des Rechnungshofes ergaben, dass sich die Lager
teilweise „in unmittelbarer Nähe zu Kernkraftwerken oder
Erdölraffinerien“ und teilweise auch „über 100 Straßenkilometer von
Ballungsgebieten oder Verarbeitungsbetrieben entfernt befinden“. In
der Region Rhein/Neckar und Stuttgart etwa gebe es keine
ausreichenden Lagerflächen, beanstanden die Prüfer. Und die Vorräte
an Kondensmilch lagerten gerade einmal bei vier milchverarbeitenden
Betrieben in Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen. Was passiert mit den Nahrungsmitteln? Nach etwa zehn Jahren werden sie ausgetauscht oder „gewälzt“,
wie die Fachleute sagen. Dabei werden die Lebensmittel jedoch nicht
etwa weggeworfen, sondern per Ausschreibung an Händler
weiterverkauft und wieder in den Markt gebracht. Alles andere würde
ja auch den aktuellen Appellen der Verbraucherministerin
widersprechen, die Verschwendung von Lebensmitteln einzudämmen. Wie würde im Ernstfall mit diesen Vorräten
umgegangen? Die Länder müssten den Bund formell um Hilfe bitten und angeben,
wie viel Lebensmittel sie benötigen. Sie bekämen dann mitgeteilt,
wo sie die Vorräte abholen können. Transport und Weiterverarbeitung
wären Ländersache, Hilfsorganisationen und die Bundeswehr könnten
beteiligt, auch Speditionen verpflichtet werden. Je nach
eingelagertem Produkt und Umfang der Tagesration reichten die
Vorräte dann, so heißt es amtlich, „wenige Tage bis mehrere
Wochen“. Allerdings nützt das aus Sicht der Rechnungsprüfer alles
herzlich wenig ohne ein Gesamtkonzept für Krisenfälle. Die
Ernährungsnotfallvorsorge sei „nicht ausreichend in weitere
Überlegungen zur Krisenbewältigung einbezogen“, kritisieren sie.
Die Schnittstellen zu Trinkwasserversorgung, Verkehr, Energie und
Lebensmittelverteilung seien „nicht im erforderlichen Umfang
herausgearbeitet, beschrieben und durch festgelegte Abläufe
erfasst“. Und nicht einmal für die Lebensmittelversorgung sei
geklärt, „wer, wann und zu welchem Zeitpunkt Maßnahmen ergreifen
soll“. Außerdem sei es Bund und Ländern in mehr als 20 Jahren
„nicht gelungen, ein einheitliches Regelwerk für Versorgungskrisen
zu erlassen“. [gallery:Öl - Das schwarze Gold wird knapp] Sind die Vorräte bisher schon einmal in Anspruch
genommen worden? Ja, allerdings nicht für die deutsche Bevölkerung – obwohl es
auch hierzulande nach diversen Schnee- und Hochwasserkatastrophen
hie und da regionale Versorgungsengpässe gab. An Ostern 1999 jedoch
ging ein Teil der Notvorräte ins Ausland. Bundeswehr und
Hilfsorganisationen lieferten mehrere hundert Tonnen Hülsenfrüchte
in den Kosovo, wo Kriegsflüchtlinge dringend Grundnahrungsmittel
benötigten. Auch dort galt es aber nur, kurzfristige Not zu
überbrücken. Eine längerfristige Versorgung von 80 Millionen
Bundesbürgern sei auch durch eine modernisierte Vorratshaltung von
Lebensmitteln nicht möglich, argumentiert das
Verbraucherministerium.
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Große Mengen Nahrungsgüter werden hierzulande für Krisenzeiten gehortet. Wie sinnvoll ist das?
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wirtschaft
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2012-03-29T08:48:29+0200
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2012-03-29T08:48:29+0200
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https://www.cicero.de//wirtschaft/wozu-brauchen-wir-lebensmittel-reserven/48788
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Vermögensabgabe für Reiche gefordert - Links überholt
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Es besteht hierzulande kein Mangel an linksorientierten Parteien und Institutionen. Ganz links verortet ist die einstige SED, die heute als „Die Linke“ firmiert. Beim Thema Umverteilung hat sich jetzt das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW), eigentlich ein inoffizieller Think-Tank der SPD, noch links von der Linken positioniert. Im Auftrag der Partei haben die Wirtschaftsforscher ein Konzept für eine Vermögensabgabe erarbeitet, das die Reichen mit 10 bis 30 Prozent zur Kasse bitten soll. Demgegenüber war der bisherige Linken-Vorschlag, Vermögen von einer Million und mehr mit 5 Prozent zu besteuern, eher zurückhaltend. Mit der Vermögensabgabe will die Linke die Einnahmenlücken schließen, die als Folge der Corona-Pandemie in den öffentlichen Haushalten entstanden sind und die finanzpolitischen Spielräume auch in den nächsten Jahren einschränken werden. Das DIW rechnet in den nächsten 20 Jahren mit Mehreinnahmen von 310 Milliarden Euro, wenn eine einmalige Abgabe auf alle Vermögenswerte oberhalb von zwei Millionen Euro (persönlicher Freibetrag) und fünf Millionen Euro (Freibetrag für Betriebsvermögen und Beteiligungen an Kapitalgesellschaften) erhoben würde. Ab dem ersten Euro jenseits des Freibetrags wären 10 Prozent zu zahlen. Der Steuersatz soll dann progressiv ansteigen und bei mehr als 100 Millionen 30 Prozent erreichen. Diese Vermögensabgabe soll von 2020 an über einen Zeitraum von 20 Jahren abgezahlt werden. Den Wunsch, die wirtschaftlich Erfolgreichen und die Wohlhabenden noch stärker als bisher zur Kasse zu bitten, ist im linken Teil des politischen Spektrums sehr populär, auch bei SPD und den Grünen. Corona war deshalb für viele eine willkommene Gelegenheit, eine zusätzliche Belastung der Reichen und Superreichen zu fordern. Die SPD-Vorsitzende Saskia Esken zählte zu den ersten, die lauthals nach Umverteilung riefen. Der Ökonom Stefan Bach (DIW) hat den links-grünen Umverteilern jetzt seinen wissenschaftlichen Segen gegeben: „Die Coronakrise ist auch eine große Herausforderung für die öffentlichen Haushalte. Wir erleben einen starken Anstieg der Staatsverschuldung, und für solche Sondersituationen ist die Vermögensabgabe als außerordentliches Finanzierungsinstrument des Staates gedacht.“ Dass Linke-Politiker über die DIW-Studie höchst erfreut sind, versteht sich von selbst. Ihre Sehnsucht, den deutlich Bessergestellten Geld wegzunehmen, lässt sich als „Notopfer Corona“ besser verkaufen als sozialistische Umverteilung. Zudem gehört der Neid auf „die da oben“ zum deutschen Nationalcharakter. Schon im Dezember vergangenen Jahres hatten laut Politbarometer 72 Prozent der Deutschen eine Vermögensteuer ab zwei Millionen Euro befürwortet. Der DIW-Vorschlag passt dazu. Reiche zu schröpfen ist freilich gar nicht so einfach. Die Besitzer ganz großer Vermögen können leicht ins Ausland ausweichen. Das ist legal und ließe sich nur mit einem Verbot der Auswanderung verhindern. Treffen würde eine Vermögensabgabe deshalb vor allem erfolgreiche Mittelständler, die nicht so einfach ihren Wohnsitz in ein anderes Land verlagern können. Deren Vermögen steckt freilich nicht in erster Linie in protzigen Villen und sündhaft teuren Yachten. Es steckt vielmehr in den rund drei Millionen Familienunternehmen, die das Rückgrat unserer Wirtschaft bilden und die 60 Prozent aller Arbeitnehmer beschäftigen. Wer dieses Vermögens durch eine Abgabe reduzieren will, der besteuert letztlich diejenigen, die hierzulande Arbeitsplätze schaffen und erhalten. Das wäre – in Zeiten von Corona – genau das falsche Rezept für eine schnelle wirtschaftliche Erholung. Die Idee, Corona für die Einführung einer Vermögensabgabe zu nutzen, mag linke Herzen höher schlagen lassen. Eine solche Abgabe richtete sich jedoch genau gegen die, deren Kapital das Land „nach Corona“ für neue Investitionen und die Schaffung neuer Arbeitsplätze dringend braucht. Ganz abgesehen davon: Wäre diese Zusatzbelastung erst einmal eingeführt, wäre es für eine grün-rot-rote Regierung ein Leichtes, die Freibeträge zu senken oder die Steuersätze zu erhöhen – mit wissenschaftlichem Beistand vom DIW in Berlin. Linke-Vorstand Bernd Riexinger ist da ganz zuversichtlich, „dass die Erhebung einer Vermögensabgabe als Einstieg für die Wiederbelebung einer regulären Vermögenssteuer genutzt werden“ kann.
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Hugo Müller-Vogg
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Dass die Linkspartei eine Vermögensabgabe einführen will, ist nicht neu. Aber jetzt erhält sie auch noch Schützenhilfe vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW). Und siehe da: Die DIW-Ökonomen gehen über die Forderung der Linken sogar noch hinaus. Verkauft wird das alles als „Notopfer Corona“.
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wirtschaft
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2020-11-04T16:14:54+0100
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2020-11-04T16:14:54+0100
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https://www.cicero.de//wirtschaft/vermoegensabgabe-reiche-linkspartei-deutsches-institut-wirtschaftsforschung
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Libyen – Was brachte der Besuch von Sarkozy und Cameron?
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„Es ist aus, gib endlich auf, schick deine Söldner nach Hause“,
rief der britische Premier David Cameron. „Alle Diktatoren der Welt
müssen begreifen, im 21. Jahrhundert gibt es für sie kein Entkommen
und keinen Ort der Straflosigkeit mehr“, sekundierte ihm der
französische Präsident Nicolas Sarkozy an die Adresse des
untergetauchten libyschen Ex-Machthabers Muammar al Gaddafi. Wie sind Sarkozy und Cameron in Libyen empfangen
worden? Beider Besuch war quasi über Nacht aus dem Boden gestampft
worden, weil sich Paris und London nicht von dem ebenfalls in
Tripolis angesagten türkischen Premier Recep Tayyip Erdogan die
Schau stehlen lassen wollten. Der befindet sich diese Woche auf „arabischer Frühlingstour“
durch Ägypten, Tunesien und Libyen. Sein Eintreffen in
Tripolis wurde dann auch um einen Tag auf Freitag verschoben. Und so konnten sich Sarkozy und Cameron ungestört sonnen in
ihrer populären Rolle als politische Hauptarchitekten des
Nato-Einsatzes über dem ölreichen Mittelmeerland, während Erdogan
das internationale Eingreifen damals zunächst als „absurd“ und
„undenkbar“ abgetan hatte. Am späten Abend des 17. März hatte der
UN-Sicherheitsrat in seiner Resolution 1973 die Militäraktionen
autorisiert, am übernächsten Morgen bereits bombardierten
französische und britische Jets Gaddafis Panzer und Raketenwerfer,
die bis in die Außenbezirke von Bengasi vorgedrungen waren. „Merci
Sarkozy“ und „Thank You Britain“ zieren bis heute zahllose
Hauswände in der Rebellenhochburg im Osten, in die Sarkozy und
Cameron am Nachmittag weiterflogen. Auf dem Freiheitsplatz an der Corniche wollten sie dann in der
Abendsonne mit den Menschen feiern. Zuvor hatten sie in Tripolis
gemeinsam an das libysche Volk appelliert, die Einheit des Landes
zu bewahren, nicht auf Rache zu sinnen und innere Versöhnung
anzustreben. „Jeder Libyer soll wissen, wer Verbrechen begangen
hat, wird auch zur Verantwortung gezogen“, sagte Sarkozy.
Straffreiheit werde es nicht geben. Cameron versprach der neuen
Führung den Beistand Großbritanniens, damit Libyen „wieder auf die
Beine kommt und jeder eine Arbeit findet“. Kein Libyer solle mehr
sagen können, er habe in seiner Heimat keine Zukunft. Lesen Sie weiter auf der nächsten Seite, was Libyen vom
Westen erwartet. Was erhoffen sich die Libyer vom Westen? Ungeachtet aller Euphorie und schöner Worte – der Wettlauf um
die lukrativen Aufträge hat bereits begonnen. Der siebenmonatige
Bürgerkrieg hat enorme Schäden in der libyschen Volkswirtschaft
angerichtet. Wohnviertel und Städte liegen in Trümmern. Die
Ölproduktion soll zwar nächste Woche wieder anlaufen, ihr
Vorkriegsniveau aber wird sich nach Angaben von Ölminister Ali
Tarhouni frühestens in einem Jahr erreichen lassen. Drei
europäische Konzerne sind besonders am libyschen Öl interessiert:
das spanische Unternehmen Repsol, die italienische Eni und der
französische Ölkonzern Total. Übergangsratspräsident Mustafa Abdul Dschalil versicherte seinen
beiden Gästen bereitwillig, ihre Nationen würden beim Wiederaufbau
Libyens „sicher eine zentrale Rolle spielen“. Er forderte die Nato
auf, den Rebellen mit zusätzlichen Waffen zu helfen und mit den
Kampfeinsätzen so lange fortzufahren, bis der Rest des Landes
befreit sei. Was treibt Sarkozy an? Nicolas Sarkozy hat es, wie immer, eilig. Im März war er die
treibende Kraft, die zur Unterstützung der libyschen Rebellen durch
die internationale Gemeinschaft führte. Und jetzt wollte er mit dem
britischen Premier Cameron der erste westliche Staatsmann sein, der
sich nach dem Sturz des Diktators auf libyschem Boden feiern lässt.
Für den Blitzbesuch werden in Paris mehrere Gründe genannt. Zum
einen habe Sarkozy auf diplomatischem Feld dem Besuch des
türkischen Premiers Recep Erdogan zuvor kommen wollen. Auch ging es
Sarkozy darum, die Kräfte im Übergangsrat zu stützen, die für eine
demokratische Entwicklung eintreten. Daneben verfolgt er
Wirtschaftsinteressen. Dass es Abmachungen über künftige
Erdöllieferungen gibt, wie bei der „Gipfelkonferenz der Freunde
Libyens“ in Paris am 1.September berichtet wurde, wird zwar
bestritten. Doch dass Konzerne wie Total den Lohn für den Einsatz
Frankreichs ernten werden, kann man sich in Paris durchaus
vorstellen. Noch wichtiger ist für Sarkozy aber, die Last der Irrungen der
französischen Arabienpolitik – man denke nur an die jetzt enthüllte
Zusammenarbeit mit Gaddafis Geheimdienst – vergessen zu machen.
Während Cameron die entscheidende militärische Unterstützung der
USA für die Intervention würdigte, fand Sarkozy dafür bisher kein
Wort der Anerkennung. Er mag den Triumph in Libyen als Kompensation
für das geringe innenpolitische Ansehen zu Hause empfinden.
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In Tripolis wurden die Staatschefs aus Frankreich und Großbritannien als Verbündete gefeiert. Welche Ziele verfolgten sie mit dem Besuch?
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außenpolitik
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2011-09-16T08:53:43+0200
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2011-09-16T08:53:43+0200
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https://www.cicero.de//aussenpolitik/was-brachte-der-besuch-von-sarkozy-und-cameron/43041
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USA und Europa – Der Währungskrieg tobt nur in den Medien
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Ein Gespenst geht um in Europa: das Gespenst eines
Währungskriegs, den Washington angeblich anzettelt, um den Euro in
die Knie zu zwingen – und in dem die USA ihre Ratingagenturen einsetzen, um die
Kreditwürdigkeit europäischer Staaten herabzusetzen. Auch in Amerika sind bisweilen Gespenstertheorien zu hören. Zum
Beispiel diese: Die deutsche Kanzlerin Angela Merkel und der
französische Staatspräsident Sarkozy setzten ihre vereinten Kräfte
daran, die Wiederwahl Barack Obamas im November 2012 zu
verhindern. Klingt das glaubwürdig für europäische Ohren? Wohl kaum. Warum
sollten Merkel und Sarkozy das tun? In ihren Nationen ist Obama
weiter sehr beliebt. Sie würden sich selbst schaden, wenn der
Eindruck entstünde, sie sägten an seinem Thron. Zudem würde ihre
Arbeit international wohl kaum einfacher, wenn ein Republikaner ihn
aus dem Weißen Haus vertreibt. Auf Menschen, die in den USA leben, wirkt die Theorie eines
gezielten amerikanischen Angriffs auf den Euro ähnlich verschroben.
Ihr Land kann doch gar kein Interesse daran haben. Der Aufschwung
lässt auf sich warten. Jede neue Verunsicherung könnte Amerika
in eine Double-Dip-Rezession fallen lassen. Auch die Regierung
Obama möchte den Euro in den nächsten zwölf Monaten gewiss nicht
schwächeln sehen. Es gezielt darauf anzulegen, gliche einem
Selbstmordversuch. Ein schwacher Euro schadet der globalen
Konjunktur. Obama braucht jedoch eine anziehende Weltwirtschaft.
Sie ist seine einzige Hoffnung, um die Arbeitslosigkeit daheim vor
der Wahl zu reduzieren. Warum sind dann solche Verschwörungstheorien so beliebt – dass
Amerika gezielt gegen den Euro arbeitet oder „Merkozy“ Obamas
Abwahl vorbereiten? Weil sie eine Erklärung für die eigenen Nöte
anbieten, die von den hausgemachten Ursachen ablenkt. Wenn Amerika
und die US-Ratingagenturen Schuld sind an der Eurokrise, brauchen
die Europäer nicht mehr so viel über ihre eigenen Versäumnisse
nachzudenken. Und wenn Obamas Wiederwahl oder Sturz vor allem von Merkel und
Sarkozy abhängt, sind Demokraten und Republikaner gleichermaßen der
Pflicht enthoben, ihre Fehler zu analysieren. Außerdem gibt es die Wirkungsmechanismen in der Tat, die diesen
Theorien zu Grunde liegen. Es stimmt ja, dass Obamas Chancen
sinken, wenn Deutschland und Frankreich vollends in den Strudel des
Misstrauens gegen den Euro gezogen werden. Richtig ist ebenso, dass
die Art, wie die USA und ihre international einflussreichen
Finanzinstitutionen über den Euro reden und wie sie seine
Mitgliedstaaten bewerten, großen Einfluss auf die weitere
Entwicklung hat. Das heißt aber nicht, dass diese Wirkungen auch
beabsichtigt sind. Zudem überschätzen beide Theorien die Handlungsmöglichkeiten der
Regierungen auf der jeweils anderen Seite des Atlantiks. Wenn
Merkel nur wolle, könne sie den Euro im Alleingang retten, haben
US-Medien über Monate kommentiert. Sie müsse dafür nur die
deutschen Steuerkassen öffnen und Garantien für die überschuldeten
Euro-Partner abgeben. Tja, wenn es so einfach wäre! In Krisenzeiten greift die Suche nach Sündenböcken um sich.
Amerikaner meinen, es liege an Europa, wenn ihre Wirtschaft nicht
anspringt. Und die Europäer schimpfen, das ganze Leid habe in den
USA angefangen, mit der Finanzkrise 2008. In der Tat tragen die USA, ihre Regierung und ihre Medien auf
dreierlei Weise zur Dynamik der Eurokrise bei. Aber nicht, weil die
Beschädigung Europas ihr Ziel ist. Sie folgen vielmehr Neigungen
der menschlichen Natur. Erstens: Rechthaberei. Zweitens:
gedankliche Bequemlichkeit. Drittens: das Auskosten von Macht und
Einfluss. Lesen Sie auf der nächsten Seite, warum US-Medien die
Sparpolitik so scharf kritisieren. Der triumphierende Ausruf „I told you so!“ – „Ich hab’s euch ja
gleich gesagt“ ist keine amerikanische Eigenart. Von Geburt an
wurde der Euro von der Warnung aus den USA begleitet, ohne eine
verbindliche gemeinsame Finanzpolitik könne eine gemeinsame Währung
nicht funktionieren. Die Eurokrise wirkt wie der ultimative Beweis.
Man könnte zwar einwenden, der Euro sei keine Schönwetterwährung,
die beim ersten Unwetter in die Knie geht – und dabei ebenfalls auf
die Empirie verweisen. Die neue Währung war trotz schwerer globaler
Krisen lange erfolgreich. Gleich nach der Einführung gingen die
Märkte auf Talfahrt, weil die IT-Blase geplatzt war. Es folgten der
9/11-Schock mit einer kleinen Rezession und die globale Finanzkrise
2008 mit einer schweren Rezession. Dennoch gedieh der Euro und
legte gegenüber dem Dollar an Wert zu. Doch in den USA ist die Neigung gering, sich auf solche
Gedankengänge einzulassen, die nicht dem üblichen Erklärungsmodell
folgen. Die Suggestionskraft der These, der Euro habe so, wie er
eingeführt wurde, nie funktionieren können, ist angesichts der
Krise stärker als die Überzeugungskraft der Gegenthese, bis 2010
habe sich der Euro trotz widriger Weltwirtschaft gut behauptet. Hin und wieder gibt es dann doch etwas gedankliche Bewegung. In
den jüngsten zwei Wochen wird Merkels Kurs in den US-Medien nicht
mehr rundheraus verdammt. Manche Kolumnisten nehmen sie neuerdings
in Schutz. Es sei doch unterstützenswert, dass Deutschland
Budgetdisziplin einfordere. Die neuen Sündenböcke sind die
europäischen Institutionen. Sie seien nicht fähig zu klaren
Entscheidungen. In einem weiteren Punkt sind die US-Medien anhaltend
unbeweglich. Wachstum sei die einzige Rettung aus der jetzigen Lage. Und deshalb bleibe die
Austeritätspolitik ein Fehler. Die Regierungen müssten Geld in die
Hand nehmen und sich den Aufschwung mit staatlichen
Konjunkturprogrammen kaufen. Für das Sparen seit später Zeit.
Amerika und Deutschland haben unterschiedliche historische
Traumata. Für die USA ist es die Große Depression, die sich über
ein Jahrzehnt hinzog, weil der Staat nicht genug Geld in die Hand
nahm. Deutschlands große kollektive Furcht gilt dagegen der
Inflation, die alles Ersparte entwertet. Ein dritter wichtiger Faktor, der in Deutschland gerne übersehen
wird, sind die angloamerikanische Medienmacht und ihr globaler
Einfluss. Die Eurostaaten können sich mit ihrer Sicht der Dinge,
ihren Erklärungsmodellen und der Logik ihrer Rettungspläne
international kein Gehör verschaffen. Auch das hat nichts mit einem
Komplott gegen den Euro zu tun. Sondern es liegt an der Struktur
der globalen Märkte – sowie der Medien, die ihr Handeln erklären.
Die entscheidenden Finanzmedien, nach denen sich internationale
Investoren richten, erscheinen außerhalb der Eurozone: in London,
in New York und in Asien. Es gibt kein Medium von Rang, dass die
Lage aus der Perspektive der Eurozone schildert und die
komplizierten Mechanismen möglicher Rettungsstrategien mit Empathie
erklärt. In welcher Sprache sollte eine Wirtschaftszeitung, die den
Euroraum dominiert und zugleich außerhalb ernst genommen wird, denn
erscheinen: Deutsch? Französisch? Italienisch? Spanisch? Vielleicht muss man den Satz über die Mindestanforderungen für
eine Gemeinschaftswährung um ein Element ergänzen. Auf Dauer kann
sie nur funktionieren, wenn sie von einer verbindlichen gemeinsamen
Finanzpolitik und einer gemeinsamen Sprache begleitet wird.
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Seit den Drohungen amerikanischer Ratingagenturen gegen den Euroraum blicken die Europäer in fast jeder Talkshow misstrauisch nach Amerika. Von einem regelrechten „Währungskrieg“ ist da die Rede. Doch nicht die Währung ist außer Kontrolle, sondern das Bild, das internationale Medien von ihr zeichnen
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wirtschaft
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2011-12-13T10:00:09+0100
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2011-12-13T10:00:09+0100
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https://www.cicero.de//wirtschaft/der-waehrungskrieg-tobt-nur-den-medien/47601
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Wertedebatte – Konservative sind die wahren Gestalter
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Was ist konservativ? Die Antwort auf diese Frage ist so alt wie
der Konservatismus selbst. Und sie war stets voller Irrtümer. Das
beginnt mit den Inhalten. „Zu viele Geister haben aus zu vielen
Gründen versucht, zu viele Dinge zu bewahren“, als dass sich von
einem Kanon konservativer Inhalte sprechen ließe, so hat es der
britische Historiker John Pocock treffend formuliert. Überzeitliche
Inhalte von Konservatismus lassen sich historisch gesehen nicht
feststellen. Mehr noch: der Konservative steht vor dem Dilemma,
dass er heute verteidigt, was er gestern bekämpft hat – die
Demokratie zum Beispiel. Und mehr noch: Die Bewegung des Bewahrens ist historisch
entstanden durch den Wandel – und sie entscheidet sich an ihrem
Verhältnis zum Wandel. Hier liegt der zweite große Irrtum in der
Rede über Konservatismus. Schauen wir auf die öffentliche Debatte,
so haben die, die als „die Konservativen“ bezeichnet werden, keinen
guten Ruf: sie gelten als rückwärts gewandte Traditionalisten, die
sich dem Wandel der Zeiten verweigern und das Rad am liebsten in
eine vermeintlich bessere alte Zeit zurückdrehen wollen, von den
Familienformen bis zum Nationalstaat. Zwischen Traditionalismus und
Konservatismus aber liegt der entscheidende Unterschied. Denn
Konservative wissen, dass nichts zurückkommt. Einem politisch
handlungsfähigen Konservatismus – und das kann nur ein liberaler
Konservatismus sein – geht es vielmehr darum, den Wandel, an dem
kein Weg vorbeiführt, zu gestalten. [gallery:Von Leidenschaft zu Häme - Entgleisungen deutscher
Politiker] Es könne keinen größeren Irrtum geben, so sagte der 14. Earl
Derby vor dem britischen Parlament, als er 1858 ein konservatives
Kabinett bildete, als „anzunehmen, eine konservative Regierung sei
eine Regierung der Bewegungslosigkeit. [...] In der Politik muss
dieselbe Richtung verfolgt werden wie in allen anderen Dingen:
beständiger Fortschritt, Verbesserung des Bestehenden, Anpassung an
die gewandelten Umstände und die Bedürfnisse der Gesellschaft.“ Und
noch pointierter formulierte Lord Salisbury, konservativer
Premierminister am Ende des 19. Jahrhunderts, mit einer Weisheit,
die sich vielleicht erst auf den zweiten Blick erschließt: es gehe
darum, „Veränderungen zu verzögern, bis sie harmlos geworden
sind.“ Mit anderen Worten: den unumgänglichen Wandel für die Menschen
verträglich zu gestalten. Das freilich, und damit sind wir wieder
beim ersten Irrtum, ist kein fixes inhaltliches Programm, sondern
eine politische Haltung, die allerdings nicht voraussetzungslos
ist, sondern auf drei wesentlichen Grundlagen beruht: dem
Menschenbild, der Art zu Denkens und der subsidiarischen
Zivilgesellschaft. Menschenbild – unveräußerliche
Menschenwürde Die Rede vom Menschenbild klingt schnell wohlfeil, und die
überragende Bedeutung der Menschenwürde gehört ja gerade zum
Grundkonsens unserer gesamten politischen Kultur. Doch wenn es
konkret wird, zeigen sich die Unterschiede. Was bedeutet
Menschenwürde als Unverfügbarkeit über menschliches Leben im
Hinblick auf Abtreibung, auf embryonale Stammzellforschung oder auf
Sterbehilfe bei nicht mehr finanzierbaren Sozialsystemen?
Christlich-konservative Positionen konsequenten Lebensschutzes
stellen politisch jedenfalls eine Minderheit dar. Ein anderer Aspekt des Menschenbildes liegt in der
Unvollkommenheit des Menschen, der auch nur unvollkommen in der
Lage ist, die Welt zu erfassen und zu gestalten. Konkret: wir sehen
das Ende nicht ab und kennen die Zukunft nicht. Gerade Konservative
wissen, was wir ungern hören: was heute richtig erscheint, kann
sich morgen in das Gegenteil verkehrt haben. Das klingt abstrakt
und hat sehr konkrete Auswirkungen: Konservative wollen die Welt
nicht nach einem bestimmten Modell umgestalten – es könnte sich ja
morgen als falsch herausstellen. Das gilt für den Flächenabriss von
Altstädten zugunsten der sog. „autogerechten Stadt“ ebenso wie für
die Umstellung der Rente auf Kapitaldeckung. Hinterher war man froh
um die Altstädte, die noch standen, und wir sind heute froh, dass
die Renten nicht komplett dem Kapitalmarkt übergeben sind. Konservativ zu denken heißt, behutsam mit dem Bestehenden
umzugehen, es pragmatisch zu verbessern, wie Lord Derby sagte,
statt zu Radikallösungen und Kahlschlag zu greifen. Es heißt ganz
allgemein: eine Politik „auf Sicht“ zu betreiben und sich von einer
Kardinaltugend leiten zu lassen: der Besonnenheit. Das ist eine
Frage des Denkens, und dies ist die zweite Grundlage des
Konservativen. Konservatives politisches Denken ist pragmatisch, nicht
radikal Konservatives politisches Denken ist pragmatisch, nicht
radikal Konservatives Denken geht auf einen zentralen Unterschied der
abendländischen Geistesgeschichte zurück: auf den Unterschied
zwischen platonischer Ideenlehre und dem Realismus des Aristoteles
zurück. Konservatives Denken geht dabei, um eine lange Geschichte
ganz kurz zu machen, nicht von der Idee, von Theorien und Modellen
aus, sondern von der konkreten Realität, praktischer Erfahrung und
Alltagsvernunft. Das heißt konkret: Konservatives politisches Denken ist
pragmatisch, nicht radikal. Aufgabe der Politik ist es nach seinem
Verständnis nicht, eine neue Welt zu schaffen, sondern Bedingungen
für gelingendes Leben bereitzustellen. Die konkrete Ausgestaltung
ist dann die Sache der Einzelnen, und es ist nicht die Aufgabe des
Staates oder der Politik, den Menschen zu sagen, wie sie leben
sollen. Das heißt auch, die Gesellschaft nicht nach abstrakten Zahlen
und nach einem polit-ökonomischen Modell umgestalten zu wollen, wie
es sich in den vergangenen Jahren unter dem Eindruck von PISA und
OECD parteiübergreifend verbreitet hat: von der möglichst frühen
Krippenbetreuung über den Besuch der Kinder-Uni statt zweckfreien
Spielens und eine verkürzte Schulzeit zum eng regulierten
Bachelor-Studium, dessen ökonomisch passgenaue Absolventen
schließlich hochinnovativ den Standort Deutschland und seine
Demographie retten sollen. Denn die damit verbundene, zunehmende
staatliche Regulierung steht im Widerspruch zum dritten Aspekt
konservativen Denkens: Zivilgesellschaft und Subsidiarität Um eine weitere lange Geschichte, die des konservativen Denkens
über Staat und Gesellschaft, abermals sehr kurz zu machen: die
Gesellschaft der gemeinwohlverpflichteten Bürger rangiert seinem
Verständnis nach vor dem Staat – sowohl vor dem bürokratischen
Macht- oder Obrigkeitsstaat, als auch vor dem allzuständigen
Fürsorge- und Interventionsstaat. Darin liegt ein grundlegender
Unterschied zur Sozialdemokratie und zugleich eine Gemeinsamkeit
mit dem Liberalismus sowie Teilen der Grünen. Zugleich ist aus der christlichen Gesellschaftslehre eine Zutat
hinzugefügt worden, die das Etikett „Subsidiarität“ trägt und auf
die Mitte zwischen radikalliberaler Zurückdrängung des Staates auf
der einen und möglichst umfassender staatlicher Regulierung und
Umverteilung auf der anderen Seite zielt: Subsidiarität besagt,
dass die Individuen, Familien oder kleinen gesellschaftlichen
Gruppen sich grundsätzlich selbstverantwortlich organisieren und
nur dann, wenn sie die nicht mehr zu leisten vermögen, Anspruch auf
die solidarische Unterstützung durch die Gemeinschaft haben. Das grundlegende Vertrauen in die gesellschaftlichen Kräfte ist
freilich im Falle der Familie in letzter Zeit massiv geschwunden:
„die Familien können das nicht (mehr)“ ist zu einem weithin
unwidersprochenen Satz geworden. Stattdessen wird der Staat
gefordert, bis in die politische Sprache hinein: „frühkindliche
Bildung“ wird inzwischen umstandslos mit außerfamiliärer Betreuung
gleichgesetzt, als wäre Erziehung in der Familie keine Bildung. Eine subsidiarisch-konservative Familienpolitik wird den
Familien daher nicht vorschreiben wollen, wie sie zu leben haben,
weder indem sie darauf hinwirkte, dass Mütter zu Hause bei ihren
Kindern bleiben, noch indem sie einseitig ein flächendeckendes
Modell der außerfamiliären Kinderbetreuung bevorzugt. Sie würde
vielmehr darauf zielen, den Familien gleichberechtigte
Möglichkeiten zu eröffnen, selbstbestimmt zu entscheiden, wie sie
sich organisieren wollen. Sie sorgt daher für außerfamiliäre
Kinderbetreuungsmöglichkeiten, und zugleich unterstützt sie die
Familien, die ihre Kleinkinder selbst gut erziehen, was übrigens
kostenneutral bei der politischen Rhetorik anfängt. Dass dieses Maß und diese goldene Mitte in der
gesellschaftlich-politischen Diskussion kaum gefunden werden,
verweist nur auf das Potential wie auf die Bedeutung eines modernen
Konservatismus, der auf Pragmatismus und Alltagsvernunft baut, um
den Menschen Bedingungen gelingenden selbstbestimmten Lebens zu
eröffnen. Manchem erscheint dies als zu wenig konservativ
profiliert. Historisch gesehen ist allerdings, was die
konservativen Inhalte angeht, nicht viel mehr drin. Und nicht nur
historisch gesehen, ist mit einer solchen Grundhaltung, den Wandel
zu akzeptieren und ihn verträglich zu gestalten, nicht wenig
gewonnen. Denn erst kommt die Haltung, dann die Politik. Professor Dr. Andreas Rödder lehrt Neueste Geschichte an der
Johannes Gutenberg-Universität in Mainz und forscht intensiv zur
jüngsten Zeitgeschichte und zum Wertewandel. Er ist Herausgeber der
Werke „Alte Werte - Neue Werte“ sowie „Eine neue Tendenzwende? Zur
Gegenwartsdiagnose und Zeitkritik in Deutschland“
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Der Konservative steht vor dem Dilemma, dass er heute verteidigt, was er gestern bekämpft hat. Aber Konservative sind nicht ewig gestrig. Sie wissen, dass nichts zurückkommt. Konservatismus ist kein fixes inhaltliches Programm, sondern eine politische Haltung
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kultur
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2012-04-24T13:19:35+0200
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2012-04-24T13:19:35+0200
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https://www.cicero.de//kultur/konservative-sind-die-wahren-gestalter/49056
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Piratische Protestwähler – Totengräber der Demokratie
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Die Welt ist ungerecht und Wahlen sind es deswegen natürlich auch. Das ist es ja gerade, was die ganze Angelegenheit letztlich so spannend macht und ihr einen so großen Unterhaltungswert verleiht. Wenn nicht jeder politische Analphabet das grundgesetzlich verbriefte Recht hätte, sonntags seinen Ressentiments per Kreuzchen freien Lauf zu lassen, ginge es doch bloß um die schiere Kompetenz der Kandidaten – und Überraschungen blieben aus. Zum Beispiel das Auftrumpfen eines Partei gewordenen Sozialisierungsprojekts für Computer-Nerds wie jetzt gerade in Berlin. Ich weiß, man darf nicht abfällig über die Piraten sprechen, die Grünen haben ja auch mal so ähnlich angefangen (wie einem nun andauernd in falsche Erinnerung gerufen wird). Aber damals wurden sie von den Etablierten wenigstens noch ordentlich als ungewaschenes Lumpenpack beschimpft; es herrschte gewissermaßen eine ernsthafte Empörung darüber, dass ein Haufen dahergelaufener Lümmel von ihresgleichen in die hochheiligen Parlamente entsandt wurde. Inzwischen führt die heuchlerische Verständniskultur leider dahin, dass sogar der Vorsitzende der Jungen Union die politischen Seeräuber für satisfaktionsfähig erklärt, noch bevor sie es sich im Abgeordnetenhaus zum ersten Mal bequem machen dürfen. Das ist allerdings weniger ein respektvolles Signal an die parlamentarischen Newcomer als vielmehr ein hündisches Gekrieche vor den Wählern im Allgemeinen: Wir nehmen euer Votum ernst, wir haben euch verstanden, stets zu Diensten! Das stimmt zwar nicht, kommt aber mutmaßlich gut beim Volke an. Wählerwanderungsstatistiken zeigen, dass die Piratenpartei einen Großteil ihrer Stimmen im Lager der einstigen Nichtwähler geholt hat. Die Frage ist, ob man sich ernsthaft darüber freuen muss, dass eine Bewegung, deren Spitzenkandidat den Schuldenstand Berlins mit „ein paar Millionen werden es schon sein“ beziffert, und deren Ziele (im Gegensatz zu den Grünen der ersten Stunde) gelinde gesagt höchst diffus sind, mit Macht ausgestattet wurde. Und zwar nicht virtuell wie bei einem Computerspiel, sondern ganz real. Es ist genau diese spielerisch-infantile Einstellung gegenüber den Institutionen der Demokratie, die einen manchmal daran zweifeln lässt, dass das ewige Mantra „Geht unbedingt zur Wahl!“ wirklich stichhaltig ist. Wer sich dem Urnengang verweigert, ist nicht unbedingt ein schlechterer Demokrat als jeder Spaß- oder der Protestwähler. Bewusst nicht zur Wahl zu gehen kann ja auch bedeuten, dass man sich selbst nicht zutraut, halbwegs kompetent aus dem politischen Angebot zu selektieren. Das wäre zwar nicht erstrebenswert, aber immerhin ehrlich und konsequent. „Vertraue keinem Plakat – informiere dich“ war einer der Piraten-Slogans im Berliner Wahlkampf. Ob dessen Urheber wirklich neun Prozent aller abgegebenen Stimmen auf sich versammelt hätten, wenn ihre Wähler diesem Motto tatsächlich gefolgt wären, darf mit Verlaub bezweifelt werden. Wer aber eine Außenseiterpartei wählt, nur weil er glaubt, dem politischen Establishment damit einen Tort antun zu können, unterscheidet sich in der Haltung nur graduell von den Totengräbern der Demokratie während der Weimarer Republik. Wenn Christian Lindner, Generalsekretär der dann doch über Gebühr abgestraften FDP, seiner Partei empfiehlt, das desaströse Wahlergebnis „in Demut“ aufzunehmen, ist das genau die falsche Wortwahl. Denn der Demütige erkennt per Definition aus freien Stücken, dass es etwas für ihn Unerreichbares, Höheres gibt. Die Wähler sind aber keine höheren Wesen und unerreichbar sind sie schon gar nicht. Auch daran sollte gelegentlich erinnert werden.
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„Vertraue keinem Plakat – informiere dich“ war einer der Piraten-Slogans im Berliner Wahlkampf. Wer aber eine Außenseiterpartei wählt, nur weil er glaubt, dem politischen Establishment damit einen Tort antun zu können, schaufelt der Demokratie ihr eigenes Grab.
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innenpolitik
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2011-09-21T12:24:40+0200
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2011-09-21T12:24:40+0200
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https://www.cicero.de//innenpolitik/piraten-protestwahler-totengraeber-der-demokratie/43122
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Russlands Zurückhaltung im Gaza-Konflikt - Moskaus Angst vor Destabilisierung
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Israel und die palästinensischen Gebiete sind in die heftigsten Kämpfe seit Jahren verwickelt – und es gibt eine Großmacht, die nicht allzu weit entfernt liegt und die in letzter Zeit eine Reihe von Erfolgen bei der Friedensvermittlung vorweisen konnte: Russland. Der Kreml ist politisch und militärisch in Syrien und Libyen engagiert; er vermittelte Ende letzten Jahres Frieden im Berg-Karabach-Konflikt, ist an Gesprächen über die Zukunft Afghanistans beteiligt und unterhält freundschaftliche diplomatische Beziehungen zu Israel sowie einen Dialog mit der Hamas, die von Moskau (im Gegensatz zu den USA und der Europäischen Union) nicht als Terrororganisation eingestuft wird. Aber Russland hat sich ungewöhnlich zurückhaltend in den israelisch-palästinensischen Konflikt eingemischt, und die Gründe dafür verraten viel über Russlands innenpolitische Situation. Russland hat traditionell einen bedeutenden Einfluss auf den Nahostkonflikt ausgeübt. Die Sowjetunion war maßgeblich am Entwurf der Landkarte des Nahen Ostens nach dem Zweiten Weltkrieg beteiligt. Im Jahr 1947 unterstützte die UdSSR die U.N.-Resolution 181, mit der Palästina in einen arabischen und einen jüdischen Staat aufgeteilt wurde. Und im Mai 1948, nach der Ausrufung des Staates Israel, war die Sowjetunion das erste Land, das dessen Unabhängigkeit anerkannte und diplomatische Beziehungen zu ihm aufnahm. Jahre später lieferte Moskau mit Hilfe der Tschechoslowakei Waffen im ersten arabisch-israelischen Konflikt, aber die Unterstützung schwand bis zum endgültigen Abbruch der diplomatischen Beziehungen nach dem Sechs-Tage-Krieg. Heute vertritt Russland die Position, dass Ost-Jerusalem die Hauptstadt eines zukünftigen palästinensischen Staates sein sollte, während West-Jerusalem die Hauptstadt Israels ist. Anstatt jedoch zu versuchen, Israel und die Hamas an den Verhandlungstisch zu bringen, hat der Kreml zu einem Treffen der Außenminister des Nahost-Quartetts (Russland, die USA, die UN und die EU) aufgerufen. Hierfür gibt es mehrere Gründe. Zum einen hat Moskau nur begrenzte Ressourcen, um sich in einen so brisanten Konflikt wie den israelisch-palästinensischen einzumischen. Ein falscher Schritt könnte Russland Probleme mit dem Westen bereiten, wo die Unterstützung Israels hohe politische Bedeutung hat. Die russische Wirtschaft hängt stark von Exporten und Devisenzuflüssen ab, so dass der Kreml unbedingt vermeiden will, dem Westen einen weiteren Grund für Sanktionen zu geben. Moskau will auch keine Spannungen mit der Regionalmacht Türkei riskieren, die wegen ihrer aufkeimenden Beziehungen zu Russland in diesen Tagen zunehmend mit ihren Nato-Verbündeten in Streit gerät. Außerdem könnte die Instabilität im Nahen Osten die Ölpreise in die Höhe treiben; sie ist zudem ein Segen für Waffenexporteure – was beides der russischen Bilanz zugutekommt. Zweitens hat es etliche frühere Versuche gegeben, den israelisch-palästinensischen Konflikt zu lösen, und alle sind gescheitert. Russland ist ein ständiges Mitglied des UN-Sicherheitsrates und Mitglied des Nahost-Quartetts. Es will eine nachhaltige und umfassende Zweistaatenlösung, in der Israel und Palästina friedlich koexistieren können. Aber die russische Führung weiß auch, dass sie wahrscheinlich nicht der Vermittler sein wird, der dieses spezielle Problem löst. Anstatt sein Image weiter zu beschädigen und politisches Kapital für einen gescheiterten Vermittlungsversuch zu verschwenden, zieht Russland es also vor, die anderen betroffenen Hauptakteure über das Quartett und den Sicherheitsrat einzubeziehen. Zumindest trägt Moskau auf diese Weise die Last des Scheiterns nicht allein. Schließlich nannte der russische Präsident Wladimir Putin den wichtigsten Grund für Moskaus diplomatisches Zögern, indem er den Konflikt als in unmittelbarer Nähe zu Russlands Grenzen liegend bezeichnete und hinzufügte, er berühre direkt russische Sicherheitsinteressen. Um es klar zu sagen: Israel und die palästinensischen Gebiete liegen fast 1600 Kilometer von Russlands Grenzen entfernt. In Wahrheit sind es vielmehr die Gegebenheiten in den Gebieten an den südlichen Grenzen Russlands, die Putin beunruhigen. Die Grenzregionen des Kaukasus sind überwiegend muslimisch geprägt, so dass man dort Israels militärisches Einschreiten im Gazastreifen während des heiligen Monats Ramadan als einen provokativen Akt betrachtet. Ramsan Kadyrow, das Oberhaupt der Tschetschenischen Republik, forderte Israel auf, sich bei den Palästinensern für die Gewalt zu entschuldigen und sagte, Israels Aktionen seien eine Provokation, die darauf abziele, Muslime zum Gesetzesbruch zu zwingen. Die Zahl der Muslime in Russland, besonders im Nordkaukasus, wächst weiter, nämlich aufgrund höherer Geburtenraten und Einwanderung hauptsächlich aus Zentralasien. In sieben Entitäten der Russischen Föderation stellen ethnische Muslime die Mehrheit der Bevölkerung: Tschetschenien, Inguschetien, Dagestan, Kabardino-Balkarien, Karatschai-Tscherkessien, Baschkortostan und Tatarstan. Und die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass die Bewohner dieser Republiken zur Unterstützung der Palästinenser auf die Straße gehen werden; 2017 zogen Demonstrationen zur Unterstützung der Rohingya-Gemeinschaft in Myanmar durch Grosny, Machatschkala und andere Städte im Nordkaukasus. Jede positive Geste des Kremls gegenüber Israel könnte von den kaukasischen Republiken negativ aufgenommen werden und zu Protesten nicht nur gegen Israel, sondern auch gegen Moskau führen. Angesichts der starken ethnischen Zersplitterung der Kaukasus-Republiken will der Kreml jegliche Art von Unzufriedenheit und Aufruhr dort vermeiden. Daher auch Moskaus Versuche, im jüngsten Streit zwischen Aserbaidschan und Armenien zu vermitteln, bei dem es um die Behauptung Eriwans ging, aserbaidschanische Truppen hätten unlängst die armenische Grenze in der Nähe des Schwarzen Sees überschritten. Russland kann auch nicht die Destabilisierung einer strategisch derart wichtigen Region zulassen, die zwischen Europa und Asien liegt und ein Sprungbrett für Russland tief in den Mittleren und Nahen Osten sowie in die Becken des Kaspischen-, des Schwarzen- und des Mittelmeers darstellt. Daher muss der Kreml, bevor er seine Bemühungen auf die Lösung eines weit entfernten Konflikts richtet, sicherstellen, dass die Kaukasusregion nicht durch die Kämpfe destabilisiert wird. Normalerweise ein entscheidender Akteur im Nahen Osten, will Moskau ausdrücklich nicht in den israelisch-palästinensischen Konflikt eingreifen. Es will die guten Kontakte zu Israel und der arabischen Welt aufrechterhalten und vor allem die Beziehungen zu den eigenen, meist muslimischen Republiken nicht verderben. Ein Treffen des Nahost-Quartetts könnte eine Lösung vorantreiben, ohne dass Russland das ganze Risiko übernimmt. Und der Kreml hätte nichts dagegen, wenn am Rande eines solchen Treffens auch Gespräche über die Ukraine, das Schwarze Meer und über die Sanktionen gegen Russland geführt werden könnten. In Kooperation mit
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Ekaterina Zolotova
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Normalerweise ist Russland ein wichtiger Akteur im Nahost-Konflikt. Doch bei der aktuellen Eskalation zwischen Israel und den Palästinensern hält sich Moskau auffällig zurück. Denn der Kreml befürchtet einen Aufruhr der muslimischen Bevölkerung im eigenen Land und an dessen südlichen Grenzen.
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"Russland",
"Gaza",
"Nahost-Konflikt",
"Putin",
"Muslime",
"Kaukasus"
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außenpolitik
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2021-05-18T13:08:23+0200
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2021-05-18T13:08:23+0200
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https://www.cicero.de//aussenpolitik/russland-gaza-konflikt-angst-vor-destabilisierung-muslime
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Merkels Ministerwechsel - Ist Johanna Wanka gut gerüstet?
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Bundesbildungsministerin Annette Schavan hatte das Amt
sieben Jahre inne und hoffte auf eine weitere Legislaturperiode.
Daraus wurde nichts. Nun muss Johanna Wanka das Erbe antreten. Was hat Schavan als Ministerin geleistet?
Von vielen als wohltuend empfunden wurde Schavans ausgleichender
Politikstil. Er passte genau in die Zeit, zu der Schavan Ende 2005
ihr Amt antrat: In der Bildungs- und Wissenschaftspolitik hatte
Schavans Vorgängerin Edelgard Bulmahn (SPD) das Verhältnis von Bund
und Ländern mit ihren ehrgeizigen Reformen und ihrem
kompromisslosen Habitus stark belastet und wohl auch die
Hochschulen überanstrengt. Schavan gelang es, die vergrätzten Länder wieder an den Tisch zu
holen. 2007 einigten sich Bund und Länder auf einen Hochschulpakt,
der angesichts des zu erwartenden Studierendenandrangs jahrelang
massenhaft neue Studienplätze schaffen sollte. Dieser
Hochschulpakt, der Deutschland einen Rekord von Studienanfängern
bescherte, ist die bedeutendste Leistung Schavans. Zu einer goldenen Periode verhalf Schavan den außeruniversitären
Forschungseinrichtungen und der Deutschen Forschungsgemeinschaft.
Schavan stockte das von ihrer Vorgängerin initiierte Finanzprogramm
von Bund und Ländern, den „Pakt für Forschung und Innovation“,
zusätzlich auf. Das Ziel des Dresdner „Bildungsgipfels“ von 2008,
den Anteil der Ausgaben für Bildung und Forschung am
Bruttoinlandsprodukt bis 2015 auf zehn Prozent zu erhöhen, wird
wahrscheinlich erreicht werden. Berlins Charité und dem Max-Delbrück-Centrum der
Helmholtz-Gemeinschaft verhalf Schavan mit 300 Millionen Euro zum
„BIG“, zum „Berliner Institut für Gesundheitsforschung“, das sie
als „Pilotprojekt“ für ähnliche Bund-Länder-Fusionen in der
Wissenschaft sah. Zu den Initiativen Schavans, die bislang weniger
wirksam blieben, gehört die Gründung der Nationalen Akademie
Leopoldina oder das von der Wirtschaft kaum unterstützte
„Deutschlandstipendium“ für begabte Studierende. Nicht regeln
wollte Schavan das „Zulassungschaos“ an den Hochschulen. Eine
Vereinheitlichung der Bewerbungsverfahren hätte Schavan als
Übergriff auf Länder- und vor allem auf Hochschulangelegenheiten
begriffen. Was kommt in der Wissenschaftspolitik auf Wanka
zu?
Die drei großen Milliardenprogramme von Bund und Ländern laufen
aus: Der Pakt für Forschung und Innovation im Jahr 2015, die
Exzellenzinitiative 2017 und der Hochschulpakt 2020. Es muss
geklärt werden, was an ihre Stelle treten soll – und das angesichts
der Schuldenbremse, die die Länder zum Sparen zwingt. Vermutlich im
April wird der Wissenschaftsrat seine mit Spannung erwarteten
Empfehlungen für die Entwicklung der Wissenschaftslandschaft
vorlegen. Dabei muss die Schieflage in der deutschen Wissenschaft
korrigiert werden. Die außeruniversitären Einrichtungen bekommen
bis 2015 satte Aufwüchse über den „Pakt für Forschung und
Innovation“. Die Hochschulen hingegen müssen einen immer größeren
Teil ihrer Grundfinanzierung durch im Wettbewerb eingeworbene
Drittmittel stemmen. Immer mehr Personal ist prekär beschäftigt.
Dabei mussten die Hochschulen in kurzer Zeit eine Rekordzahl von
Studierenden aufnehmen. Der Hochschulpakt hilft, doch er ist
unterfinanziert und befristet. Vielleicht kommt es in der nächsten Legislaturperiode zu einer
Grundgesetzänderung, die dem Bund wieder mehr Möglichkeiten in der
Hochschulfinanzierung bieten würde. Die von Schavan gewollte kleine
Lösung – der Bund kann Spitzeninstitute an Unis fördern – ist
gescheitert. Nächste Seite: Welche Voraussetzungen bringt Wanka
mit? Welche Voraussetzungen bringt Wanka mit?
Gute, sagt ein Insider. Er lobt, dass Wanka nicht anders als
Schavan trotz der wachsenden finanziellen Schwierigkeiten eine
„Wachstumsperspektive“ für die Wissenschaft fordert. Zu viele
Länderminister hätten schon aufgegeben und hofften nur, den Status
Quo erhalten zu können. Dass Wanka einen bulmahnschen Aktivismus
entfaltet, glaubt er allerdings nicht. Sie gelte eher als „nicht so
entscheidungsfreudig“. Wanka ist – wie Schavan – leidenschaftliche
Verfechterin von Studiengebühren. Als gestrig muss sie deswegen
nicht gelten. Es ist nicht auszuschließen, dass der Zeitgeist sich
wieder dreht. Und als Bundesministerin ist Wanka für
Studiengebühren sowieso nicht zuständig. Was bedeutet der Wechsel für Merkel und die
schwarz-gelbe Koalition?
Ärgerlich bis traurig, wieder ein Ministersturz – schön ist Annette
Schavans erzwungener Abgang nicht. Das Wahljahr fängt für Merkel
sowieso trübe an. Dabei ist der Ministerwechsel zwar spektakulär,
aber in seinen Folgen nicht ganz so wichtig. Die Niederlage in
Niedersachsen wiegt ungleich schwerer, schon mit Blick auf den
Bundesrat; das anhaltende Gezerre im schwarz-gelben Bündnis und die
anhaltende Schwäche der FDP dürften der Kanzlerin und
CDU-Vorsitzenden politisch ebenfalls mehr Kopfzerbrechen bereiten
als der persönlich bewegende Verlust der Weggefährtin. Wenn frühere Rücktritte ein Indiz liefern, dann hält solcher
Schaden meist nicht lange an. Dass sie Norbert Röttgen gefeuert
hat, hat Merkels Beliebtheit keinen Abbruch getan. Selbst der Groll
über das Ende des Publikumslieblings Karl- Theodor zu Guttenberg
hat sich deutlich gelegt. Schavan und Merkel haben ihrerseits alles
getan, um aus dem Polit-Unfall noch das Beste zu machen: Die eine
durch ihren schnörkellosen Rückzug, die andere durch einen bewegten
Abschied. Bei den Bürgern, die Merkel ohnehin vertrauenswürdig
finden, dürfte das den positiven Eindruck bestätigen. Die anderen,
die Merkel nicht mögen, werden Gründe finden, das auch weiter nicht
zu tun. Jedenfalls haben es die beiden Freundinnen der politischen
Konkurrenz noch schwerer gemacht, den Fall auszuschlachten. Einfach
wäre das sowieso nicht gewesen, schließlich ist Schavan nicht an
politischen Fehlern gescheitert. Sozialdemokraten und Grüne
bekunden weit überwiegend Respekt, sogar Bedauern. Aus Katholiken-Kreisen wird unterdessen Kritik daran laut, dass
Merkel mit Wanka erneut einer Protestantin den Vorzug gegeben habe
und mit Umweltminister Altmaier nur noch ein einziger Katholik
unter den CDU-Ministern sei. Früher sei auf Ausgewogenheit geachtet
worden. Was sind Freundschaften in der Politik
wert?
Sehr viel. Wie im normalen Arbeitsleben auch, sind die meisten
Duz-Beziehungen in der Politik Zweckgemeinschaften, die verläppern
oder zerbrechen, wenn sie ihren Zweck nicht mehr erfüllen. Um so
wertvoller sind die wenigen echten Freundschaften. Dass das sogar
über Parteigrenzen hinweg funktioniert, haben Unionsfraktionschef
Volker Kauder und sein SPD-Kollege, der jüngst verstorbene Peter
Struck, in der großen Koalition gezeigt. Struck hat trotzdem Merkel
attackiert, und Kauder hat über die Sozis gelästert. Aber beide
wussten, dass auf den anderen selbst im Sturm Verlass ist. Nicht im
Sinne von Nibelungentreue, wohl aber im Sinne einer Verbundenheit,
die vom anderen nicht mehr erwartet, als er nach den manchmal
ziemlich harten Gesetzen des Politischen geben kann. Was muss die Wissenschaft aus dem Fall Schavan
lernen?
Schavans Fall hat zu schweren Verwerfungen geführt, auch in der
Wissenschaft. Umstritten ist, ob eine Dissertation nach 33 Jahren
überhaupt noch überprüft werden soll oder ob nicht eine
Verjährungsfrist von zehn Jahren zu schaffen wäre, wie etwa
Wolfgang Löwer, Professor für Öffentliches Recht in Bonn, sie
fordert. Die Gerichte haben allerdings bislang darauf hingewiesen,
dass die Universitäten auch noch nach vielen Jahren ein Interesse
an der Verfolgung von wissenschaftlichem Fehlverhalten haben
können. Die Wissenschaft wird auch diskutieren, ob sie ihre
Plagiatsverfahren vereinheitlichen sollte.
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Robert Birnbaum
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Die Mathematik-Professorin Wanka folgt der Erziehungswissenschaftlerin Schavan als Bundesbildungsministerin. Was bedeutet das für Angela Merkel und die Wissenschaft?
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innenpolitik
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2013-02-11T07:59:32+0100
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2013-02-11T07:59:32+0100
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https://www.cicero.de//innenpolitik/ist-johanna-wanka-gut-geruestet/53473
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Kristina Schröders liberale Agenda – Die Familie bleibt privat
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Die unter anderem für Frauen zuständige Bundesministerin legt dieser Tage ein Buch vor, in dem sie sich über verengte weibliche Rollenmuster echauffiert. Eine heftige und auch emotionale Diskurskritik, welche verhärtete Fronten angreifen will – als solche stellt Schröder ihr mit Caroline Waldeck geschriebenes Buch der Öffentlichkeit vor. Auf der einen Seite des Streits stünden demnach Strukturkonservative wie Eva Herman, auf der anderen Seite die Feminstinnen. Beide definierten ganz enge Verhaltensmuster für das „richtige Frauenleben“ in Deutschland, so argumentierte die Jungautorin während der Vorstellung von „Danke, emanzipiert sind wir selber“ im Berliner Bezirk Prenzlauer Berg. Deswegen sind für Schröder auch beide Denkrichtungen von gleichem Übel, denn während der Feminismus keine freie Entscheidung für ein Frauenleben im Heim, bei Herd und Kind ermögliche, sei nach dem strukturkonservativen Weltbild eine freie Entscheidung für Karriere und Berufsleben undenkbar. Beide mischen sich ein – in das nach Schröders Meinung rein Private. Dieses Einmischen in das individuelle Ausgestalten von Frau-Sein und Familie ist nicht nach Schröders politischem Gusto. Ihre im Grunde tief liberale Grundüberzeugung: Das Private ist privat. Schröders Meinung nach stehen die gesellschaftlichen Strukturen heute keiner Frau mehr im Wege – im Gegenteil: Es seien bereits nahezu alle notwendigen Hebel gedreht, um jeder Frau – so sie sich denn auch entsprechend anstrenge – ein Leben in Emanzipation zu ermöglichen. Der Titel ihres Buches bringt genau diese Grundhaltung auf den Punkt. Selber machen sollen es die Frauen. Mit dieser Sichtweise spricht sie vielen aus der Seele. Vielen Männern, die fürchten, der Feminismus hätte den Bogen bereits überspannt, vielen Frauen, die „keine Quotenfrauen“ sein wollen. Aber – so richtig „flutschen“ will es medial einfach nicht – um es mit Schröders eigenen Worten zu sagen. Denn mit Buch und Betreuungsgeld, mit Flexiquote und Postfeminismus bringt sie tausende Menschen auf die Palme. Und die Journaille fragt unisono: Was tut sie eigentlich für Familien, Senioren, Frauen und Jugendliche? Dabei hat Schröder schon sehr viel getan. Eines ihrer ersten Projekte war die Verrechnung des Elterngeldes mit Hartz IV. Konnten Arbeitslose vorher beide Leistungen gleichzeitig empfangen, so entfielen mit diesem Eingriff 300 Euro im Monat für eine breite Gesellschaftsgruppe einfach komplett. Auch das geplante Betreuungsgeld, so sickerte es vergangene Woche durch, wird wohl mit dem als Hartz IV bekannten Arbeitslosengeld II verrechnet werden. Diese Politik schiebt man Kristina Schröder in die Schuhe – ebenso wie sie als personifiziertes Betreuungsgeld auftritt, welches ein CSU-Projekt darstellt. Lesen Sie weiter, warum vielen CDU-Wählern Schröder lieber ist als von der Leyen... Dabei ist es eine Schröder-Logik aus rot-grünen Regierungszeiten, die hier ihre Fortsetzung findet. Hartz IV war niemals so ausgelegt, dass die Beziehenden darüber hinaus staatliche Transferleistungen erhalten sollten. Gerhard Schröder selbst – und mit ihm viele SPD-Parteikollegen – haben immer argumentiert, dass Hartz-IV-Beziehenden das Existenzminimum gesichert werden solle, auf keinen Fall mehr. Damals entwarf man das Feindbild des faulen Arbeitslosen, der in Florida Urlaub machte und keine Anreize hatte, sein Schärflein zur Gesellschaft beizutragen. Hartz IV sollte deswegen auch weh tun, das war und ist seine inhärente Logik. Deswegen wurde beispielsweise das Kindergeld von Anfang an damit verrechnet. Dass das von Ursula von der Leyen eingeführte Elterngeld dann anrechnungsfrei war, kann aus dieser Logik heraus nur als Anfängerinnenfehler interpretiert werden, der konsequenter Weise bereinigt werden musste. Vermutlich hat diese Bereinigung eine breite Wählerschaft tatsächlich auch beruhigt. Das Bild vom Hartz-IV-Beziehenden, der das Kindergeld versäuft (das er zwar nicht bekommt, aber so genau nimmt es Otto Normal-Wähler nicht), ist weit verbreitet. Es sind solche Dämonisierungen, mit denen nicht nur die CDU oder die CSU bis heute erfolgreich Klientelbindung betreibt. Und auch die Personalie Kristina Schröder ist dieser dringend notwendigen Klientelbindung zuzuschreiben. Nach dem Elterngeld und der radikalen Kehrtwende in der Kitapolitik unter der Schirmherrschaft Ursula von der Leyens, ist eine wie Kristina Schröder vermutlich Balsam auf die geschundene Seele vieler rechts-konservativer Wähler. Für die war die jetzige Arbeitsministerin nämlich eine komplette Zumutung. Sie entmystifizierte aktiv die Rolle der Mutter in der Kindererziehung, sie setzt sich bis heute für eine harte Frauenquote ein und hält offenbar auch das Private für politisch relevant. Schröder hingegen verfolgt eine ganz eigene Agenda. Im Bereich Jugendpolitik thematisierte sie die sogenannte „Deutschenfeindlichkeit“ junger Migranten. Im Bereich Senioren und Familie haben wir jetzt die Familienpflegezeit. Um das Geschlechterverhältnis auf dem Arbeitsmarkt zu entkrampfen, dessen Ungleichgewicht vor allem an die traditionelle Aufteilung der Familienarbeit geknüpft ist, hat sie das Modell der „Vollzeitnahen Teilzeit“ vorgeschlagen. Darin sieht sie eine zukunftsfähige Arbeitsform, in der beide Geschlechter 30 Stunden arbeiten und den Rest ihrer Zeit für Familie verwenden könnten. Ein Modell, das ihrer Meinung nach auch für Führungspositionen anwendbar ist. Sie selbst versucht als Ministerin vorzuleben, dass die althergebrachte Präsenzkultur ausgedient hat. Als erste Ministerin, die während der Amtszeit ein Kind bekam, versucht sie ein modernes Familienbild vorzuleben. Trotzdem will sie nach eigenen Angaben noch vor der Sommerpause einen Gesetzesentwurf für das Betreuungsgeld vorlegen. Denn zwei Ideale ihrer Partei verkörpert Kristina Schröder auf das Penibelste: Erstens die Parteiresponsivität – also ein Verpflichtungs- und Verantwortungsgefühl gegenüber der eigenen Basis und ihren Entscheidungen. Hinter diesen muss ein einzelner Abgeordneter oder Minister auch zurückstehen mit seiner Meinung. Das zweite Ideal ist das nonegalitaristische Grunddenken. Ein, wie Schröder in ihrer Doktorarbeit empirisch nachwies, zutiefst christdemokratisches Weltbild. Die Schere zwischen den Reichsten und den Ärmsten in der Gesellschaft ist dabei völlig in Ordnung – so lange es allen auf dem Existenzminimum gut gehe. Ungleichheit ist demnach auch kein Problem gesellschaftlicher Strukturen – es bedarf keines Eingriffes. Eine alte liberale Denkweise. Die Flexi-Quote steht dafür exemplarisch. Mit ihrer Empörung über sogenannte „Deutschenfeindlichkeit“ und der Fokussierung auf „Linksterrorismus“ bedient Schröder zudem eine CDU-Klientel, die nach dem Absturz von Roland Koch dringend einer neuen Repräsentationsfigur bedurfte. Schröder ist also rechts-liberal, nonegalitaristisch und sie setzt auf die Privatisierung der Verantwortung für gesellschaftlichen Auf- und Abstieg und für die weibliche Emanzipation. Dabei sollen wir alle unseres eigenen Glückes Schmied sein. Dass jene, die es nicht schaffen auch genauso selber Schuld sind, wie sie und ihre Freundinnen selber emanzipiert – sagt sie natürlich nicht dazu.
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In das private Ausgestalten von Frau-Sein und Familie will sich Politikerin und Mutter Kristina Schröder nicht einmischen. Sie liebäugelt lieber mit dem rechten Wählerrand ihrer Partei. Auch wenn diese Agenda im momentanen Medien-Hype viele auf die Palme bringt, ist sie für andere ein notwendiges Beruhigungs- und Nervenmittel
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innenpolitik
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2012-05-02T14:11:34+0200
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2012-05-02T14:11:34+0200
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https://www.cicero.de//innenpolitik/die-familie-bleibt-privat/49138
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Arbeitsmarkt – Der Bewerber ohne Gesicht
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Unzählige Bewerbungen hat Serpil Klukon verschickt. Nach ihrem Studium wollte die Betriebsökonomin ihr neues Leben anpacken. Doch trotz hervorragender Qualifikation wurde sie nur selten zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen. „Es lag wohl an meiner Herkunft“, sagt die 38-jährige Hamburgerin, Tochter türkischer Eltern. „Ich heiße nun mal nicht Antje, ich habe auch keine blonden Haare.“ Serpil Klukon ist nicht alleine. In Deutschland werden trotz Antidiskriminierungsgesetz Bewerber wegen ihrer Herkunft, ihres Geschlechts oder ihres Alters bei der Stellensuche benachteiligt. Unzählige Studien widmen sich dem Thema, zuletzt die Forscher der Universität Konstanz. In einem Feldversuch verschickten sie auf Praktikumsstellen für Wirtschaftsstudenten über 1.000 Bewerbungen, denen sie zufällig den Namen eines türkischen oder deutschen Studenten zuordneten. Die fiktiven Bewerber hatten vergleichbare Qualifikationen, waren deutsche Staatsbürger und Muttersprachler. Dennoch erhielten die Bewerbungen mit dem türkischen Namen 14 Prozent mehr negative Antworten. In kleineren Unternehmen stieg der Prozentsatz sogar auf 24. „In Deutschland geben Menschen bei der Bewerbung sehr viel Persönliches über sich preis“, sagt die Leiterin der Antidiskriminierungsstelle des Bundes (ADS), Christine Lüders. Personalverantwortliche ließen sich dadurch von – oft unbewussten – Vorurteilen und Klischees leiten und sortierten die Bewerbungen von Menschen mit Migrationshintergrund, Frauen mit Kindern oder älteren Arbeitnehmern sofort aus. „Wir können es uns aber nicht leisten, das Arbeitspotenzial ganzer Gruppen von Menschen nicht zu nutzen“, sagt Lüders. „Wir brauchen neue Strategien, um den Arbeitsmarkt zu öffnen.“ Chancengleichheit – ein Grundsatz des modernen Staates, und doch ein so großes Vorhaben. Die ADS hat den ersten Schritt gewagt. Am Pilotprojekt „Anonymisierte Bewerbungsverfahren“ beteiligten sich von November 2010 bis Dezember 2011 fünf Unternehmen und drei öffentliche Arbeitgeber. Darunter L’Oréal, die Deutsche Telekom, das Bundesfamilienministerium oder die Stadtverwaltung von Celle. 225 Arbeits-, Ausbildungs- und Studienplätze sollten in anonymen Verfahren belegt werden. Ziel war es herauszufinden, wie es um die Umsetzbarkeit der anonymisierten Bewerbung steht und ob sie diskriminierten Personengruppen mehr Chancen auf ein Vorstellungsgespräch ermöglicht. Obwohl keine repräsentative Ergebnisse gewonnen wurden, zogen die Verantwortlichen am Dienstag in Berlin ein positives Fazit. Aus 8.550 Bewerbungen wurden 246 Stellen besetzt. „Nach der Anonymisierung herrscht tatsächlich weitgehend Chancengleichheit“, sagte der Direktor des Instituts zur Zukunft der Arbeit (IZA), Klaus Zimmermann. Das IZA hatte das Projekt mit der Kooperationsstelle Wissenschaft und Arbeitswelt an der Europa-Universität Viadrina wissenschaftlich begleitet. Vor allem jüngere Frauen und Bewerber mit Migrationshintergrund hätten mit dem anonymisierten Verfahren tendenziell bessere Chancen, zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen zu werden. Trotz des Enthusiasmus der Verantwortlichen: Die Wirtschaft ist zäh, zur Chancengleichheit ist es noch ein weiter Weg. Von den acht beteiligten Arbeitgebern übernehmen nur vier das anonymisierte Bewerbungsverfahren. Drei davon sind die öffentlichen Arbeitgeber. Die schon vor Beginn des Projekts geübte Kritik nicht beteiligter Arbeitgeber konnten die Verantwortlichen nicht völlig entkräften. Die Einrichtung neuer, anonymisierter Online-Bewerbungsformulare oder das Schwärzen identifizierender Merkmale auf einer Bewerbung ist teuer und zeitaufwendig. „Die Anonymisierung geht gegen den Trend in der Gesellschaft, alles im Internet zu veröffentlichen“, sagt Dr. Zimmermann. Personalverantwortliche brauchen zwei Klicks auf Facebook, um das Privatleben eines Kandidaten zu kennen. „Sie ist kein Allheilmittel“, so Zimmermann. „Die Anonymisierung erhöht lediglich die Sensibilität der Personalverantwortlichen gegenüber diskriminierenden Auswahlverfahren.“ Immerhin: Der Anfang ist getan. Laut Christine Lüders ist schon die Diskussion über Bewerbungsverfahren ein Fortschritt im traditionell ausgerichteten deutschen Arbeitsmarkt. „Der Ball ist jetzt im Rollen. Viele Unternehmen verlieren ihre Skepsis gegenüber anonymisierten Bewerbungen, wenn sie mehr Informationen darüber erhalten.“ Serpil Klukon hat mit ihrer anonymen Bewerbung auf Anhieb eine Stelle bei der Stadtverwaltung Celle als Referatsleiterin Integration gefunden. „Der Aufwand lohnt sich auf jeden Fall“, sagt sie. „Jeder Arbeitgeber, der etwas von Chancengleichheit hält, sollte ein solches Verfahren einführen.“
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Der deutsche Arbeitsmarkt ist nicht gerecht. Wegen ihres Alters, ihrer Herkunft oder ihres Geschlechts werden viele Bewerber bei der Stellensuche benachteiligt. Die Antidiskriminierungsstelle des Bundes testete in einem Pilotprojekt während eines Jahres die anonymisierte Bewerbung. Die Ergebnisse stimmen verhalten optimistisch
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wirtschaft
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2012-04-17T18:07:45+0200
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2012-04-17T18:07:45+0200
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https://www.cicero.de//wirtschaft/anonymisierte-bewerbung-antidiskriminierung/48993
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Iran and the United States - What comes next
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Diese englischsprachige Kolumne erscheint regelmäßig auf Cicero Online in Kooperation mit der Denkfabrik Geopolitical Futures. In order to understand the current confrontation between Iran and the United States, we might begin with the Persian-Babylonian wars. Alternatively, we could begin with the decision of the United States to withdraw U.S. forces from Iraq after the election of Barack Obama. Efficiency demands the latter. The U.S. invasion of Iraq in 2003 was carried out without opposition from Iran and indeed with covert support. Iraq and Iran had fought a brutal war during the 1980s, resulting in about 1 million casualties and costing a combined $5 billion. Not long after, Iraq would overestimate its position by invading Kuwait, leading to the first Gulf War. To Iran, the control of Iraq by Sunnis – a minority population and a sectarian rival no less – was an existential threat. Tehran was therefore delighted to see Saddam Hussein fall, since his absence would create an opportunity for it to dominate whatever government came next. The war went differently. The U.S. blocked Shiite ambitions, fought the Sunnis and wound up in a crossfire between the two. Obama came into office committed to making it stop, planning to withdraw most but not all U.S. troops and to build an Iraqi army consisting of both Sunnis and Shiites that was friendly to the United States. (Iran, naturally, opposed the prospect.) But then came the Islamic State, which forced Washington to maintain troops in Iraq and caused Iran to intervene so as not to let a Sunni power take hold in Baghdad. The U.S. and Iran often cooperated with each other in the ensuing fight. Yet, they were always wary of each other, in no small part because of Iran’s aspirations for a nuclear weapons program. Tehran’s pursuit of nuclear weapons resulted in an imposition of massive sanctions and in a widely advertised, U.S.-Israeli cyberattack on Iranian nuclear enrichment that was supposed to have set back the program dramatically. This reopened the possibility of keeping troops in the country, just as Donald Trump was taking office. Trump said he wanted to reduce the U.S. military footprint in the Middle East but also favored regime change in Iran. This apparent contradiction had to do with the logic of a U.S. withdrawal. For Iran, directly controlling or at least neutralizing Iraq is a geopolitical imperative, but Tehran could not afford another war. After the fight against the Islamic State, the withdrawal of U.S. troops to a very small number left Iran in an extremely powerful position. At the same time, Iran maintained a number of pro-Iran groups in Lebanon, Syria, Yemen and Iraq, and was supporting the Assad regime even before the Russian intervention. In other words, Iran had used its operations in various countries, coupled with the drawdown of U.S. troops, to create a massive sphere of influence commonly known as the “Shiite Crescent,” stretching from Iran to the Mediterranean and all the way to the Arabian Sea. This strategy was forwarded by a series of elite Iranian generals, such as Qasem Soleimani. Iran had gone from solely defending itself from Iraq to emerging as the major force in the Middle East. The American perception of Iran was formed largely in the post-1979 era, with the occupation of the U.S. Embassy in Teheran and the bombing of the Marine barracks in Beirut. While it’s true that Iran is responsible for both acts, it’s also true that Iran is more pragmatic than it is sometimes portrayed. It cooperates with the U.S. when it needs to and acts hostilely when it doesn’t. This is pretty normal behavior, but it creates confusion through which Washington has to navigate. So when it was time to turn its attention to Tehran after the defeat of the Islamic State, Washington had two strategies. The first was to sponsor a coalition of states to undermine the growing Iranian sphere of influence. The key members of this odd coalition were Israel, Saudi Arabia and the United Arab Emirates. Israel was focused on attacking Iranian assets in Syria (and potentially in Lebanon). The Saudis and UAE were fighting Iranian proxies in Yemen, where a battle erupted between the country’s Sunnis, who had been largely out of power since the fall of Saddam, and the Shiites. Managing this battle fell to the U.S. soldiers and intelligence personnel still in the country. The second response was to increase economic sanctions on Iran, not really because of its nuclear or missile programs, but to remind Iran of the risks of building its sphere of influence. The sanctions severely damaged the Iranian economy, and the protests, arrests and amnesties commonly associated with economic duress broke out. The government in Tehran was not existentially threatened by sanctions, but they were bad enough to cripple the economy, spark internal unrest and thus warrant a response. There were riots in Lebanon and Iraq, both threatening Iranian socio-political influence. In other words, the gains that Iran had made were in danger of being reversed, while the Iranian economy itself was weakening. Iran needed a counter. The goal was to demonstrate the weakness of the United States as a guarantor of regional stability and the ability of the Iranians to impose counter-economic pressures and, in the worst of cases, cause a U.S. intervention. The latter would be an intervention with insufficient force and might solidify the government’s position, providing an otherwise unhappy populace and Iran-sponsored militias with a unifying cause. The first attempt at this came in the Persian Gulf, where Iranians captured several tankers. The hope was that soaring oil prices and pressure on the U.S. from oil consumers would halt hostile operations against Iran. It was a low risk, high reward tactic that ultimately failed to achieve its goals, especially after the U.S. declined to launch an air attack on Iran in response and indirectly supported the U.K.’s seizure of an Iranian tanker off the coast of Gibraltar. The second attempt was an escalation on the same theme: the attack on a Saudi oil facility through Yemeni Houthi militants. It was also designed to boost oil prices and encourage the Saudis to reconsider their relationship with the U.S.-backed coalition. Once more, the attack didn’t achieve Iran’s ultimate objective. Iran was in an increasingly precarious situation. Domestic unrest due to sanctions persisted. Its sphere of influence was under pressure on every front, particularly in Lebanon and Iraq where anti-Iran sentiment was growing. The deterioration of Iran’s position demanded that the government consider more assertive actions, particularly in Iraq. Its answer, as it had been so many times before, was the Quds Force, an elite branch of Iran’s Islamic Revolutionary Guard Corps, led by none other than Soleimani. Like U.S. special operations, they specialize in training and maintaining allied forces abroad – including, in Iran’s case, Hezbollah and the Popular Mobilization Forces in Iraq. When U.S. bases were attacked, the assumption was that the attacks were planned and perhaps carried out by Quds-backed militias, such as the PMF and Kataib Hezbollah. Whether the U.S. knew before or after the attacks that Soleimani was in Iraq after a trip to Syria, it was obvious that major operations were being planned against U.S. diplomatic and military personnel in Iraq, Lebanon and Syria. The capture of Soleimani would be catastrophic to Iran. Therefore, the American read that the Iranians were being pressed to the wall was confirmed by his presence. Iran was taking a major risk given his knowledge of its operational capabilities. That meant that the Iranians had decided on escalating beyond prior attacks. The Quds Force’s specialty was attacking specific facilities to undermine military or intelligence capability or to achieve psychological and political ends. In any case, seeing him near Baghdad Airport likely told U.S. intelligence not only that he was there because the situation was difficult, but that he was there to correct the imbalance of Iranian power in the Levant. In other words, he was working with his Iraqi counterpart to carry out significant operations. It followed that the U.S. didn’t want these operations, whatever they were, carried out, and that killing him was a military necessity. All of this has to be framed in the strategic context. The U.S. does not want to engage in extensive operations in the region. Washington is depending on sanctions and proxies. Iran still wants to maintain its sphere of influence into the Mediterranean, but above all, an even greater priority is the neutralization of Iraq and the stabilization of its own country. Iran can’t afford to allow Iraq to become a bastion of anti-Iran forces, nor can it wage a conventional war against the U.S., Israel, Saudi Arabia and the UAE. Iran must therefore use what it has used so effectively in the past: special and covert operations. It follows that Iran will take its time to respond. It also follows that the U.S. and its allies, having bought time by killing the head of the Quds Force, must use the time effectively.
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George Friedman
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Irans goal was to demonstrate the weakness of the United States as a guarantor of regional stability. Iran can’t afford to allow Iraq to become a bastion of anti-Iran forces. But killing Qasem Soleimani was a military necessity for the United States. And so they bought time to act
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"Iran",
"USA",
"Qasem Soleimani"
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außenpolitik
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2020-01-07T08:46:28+0100
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2020-01-07T08:46:28+0100
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https://www.cicero.de//aussenpolitik/iran-usa-iraq-conflict
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Oasen - So geht Steuerflucht
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Am Morgen nach der Schlacht konnte Wolfgang Schäuble seinen Triumph nicht verbergen. „Das Geschäftsmodell Zyperns war nicht erfolgreich“, verkündete der deutsche Finanzminister am vergangenen Montag, nachdem er und seine Euro-Kollegen die Radikalsanierung der zyprischen Banken zulasten von deren Großkunden beschlossen hatten. Zypern habe auf niedrige Steuern und geringe Kontrollen gesetzt, das sei nun eben „gescheitert“, lautete Schäubles Urteil. Das klingt plausibel – und ist dennoch irreführend. Denn Zyperns „Geschäftsmodell“, also das Verstecken des Geldes von vermögenden Ausländern vor deren Steuerbehörden, war keineswegs erfolglos. Schließlich prosperierte der Inselstaat gut zwei Jahrzehnte auf dieser Basis. Gescheitert sind lediglich die beiden Großbanken des Landes, weil sie das so angelockte Kapital vornehmlich in Griechenland investierten und dabei mehr als vier Milliarden Euro Verlust machten. Dem eigentlichen Geschäft von Zentren für die Steuerflucht, wie Zypern eines war, wird das jedoch keinen Abbruch tun. Im Gegenteil: Es floriert wie nie zuvor, auch und gerade in Europa. Wie groß ist die Steuerflucht? Über das Volumen des Kapitals, das mit Hilfe von Tarngesellschaften oder geheimen Vereinbarungen mit den Behörden der jeweiligen Fluchtstaaten der regulären Besteuerung entzogen wird, gab es lange Zeit nur vage Schätzungen. Im vergangenen Juli legte der amerikanische Wirtschaftswissenschaftler James Henry nun erstmals eine belastbare Berechnung dazu vor. Dabei stützte sich Henry, ehedem Chefökonom des Beraterkonzerns McKinsey, auf das Phänomen der „unberichteten Kapitalflüsse“. Der Begriff bezeichnet die großen Lücken in den statistisch erfassten Zu- und Abflüssen von Kapital zwischen den Staaten. Auf Basis dieser Bilanzfehler und Daten über den globalen Kapitalmarkt kalkulierte Henry das weltweite Steuerfluchtkapital auf eine Größenordnung von mindestens 21 Billionen Dollar – eine Summe so groß, wie die gesamte Wirtschaftsleistung Deutschlands der vergangenen sieben Jahre. Selbst unter der vorsichtigen Annahme, dass die Eigentümer damit nur drei Prozent Rendite jährlich erzielen, entziehen sie ihren Heimatstaaten so bei einem angenommenen Steuersatz von 30 Prozent an die 200 Milliarden Dollar Steuereinnahmen – und das jedes Jahr. Wegen dieses „schwarzen Lochs der Weltwirtschaft“ sei die Ungleichverteilung in der Welt weit höher, als gemeinhin angenommen, konstatierte Henry, der seine Studie für das „Tax Justice Network“ (TJN) erarbeitete, einen weltweiten Zusammenschluss von Ökonomen, Rechnungsprüfern und Aktivisten. Den Nutzen hat nach Angaben Henrys, der bei Bankern und Vermögensverwaltern in aller Welt recherchierte, nur die verschwindend geringe Minderheit von rund 10 Millionen Superreichen, sie entsprechen 0,14 Prozent der Weltbevölkerung. Davon wiederum halten an die 100 000 Personen fast die Hälfte des gesamten „offshore“ gebuchten Vermögens. Ermöglicht werde dies, so Henry, durch eine kleine Gruppe von nur 50 Banken, die das Offshore-Geschäft im Rahmen des „Private Banking“ für Vermögende anbiete. An deren Spitze steht unangefochten der Schweizer Geldriese UBS, gefolgt von der Credit Suisse, der britischen HSBC und der Deutschen Bank (siehe Grafik). Das Private Banking für die Superreichen sei „fast immer mit irgendeiner Form der Steuervermeidung verbunden“, erklärt der deutsche Offshore-Experte Markus Meinzer, der für das TJN über die organisierte Steuerflucht forscht. Den jüngsten Beleg dafür lieferte der britische Hacker Daniel O’Huiginn. Er kopierte das öffentlich zugängliche Unternehmensregister der Steueroase Panama auf einen anderen Server und konfigurierte die Datenbank neu. Sein Suchprogramm erlaubt es nun, in dem Register direkt nach den Namen der eingetragenen Inhaber oder Direktoren der dortigen Briefkastenfirmen zu suchen. Auf diesem Weg fand er, so berichtete die „Süddeutsche Zeitung“ vergangene Woche, auch die Namen deutscher Milliardärsfamilien. Demnach waren unter anderem Mitglieder der Bankiersfamilie Fink, der Familien Piëch und Porsche, der Kaffee-Dynastie Jacobs sowie die BMW-Erbin Silvia Quandt und der Verleger Hubert Burda dort eingetragen. Auf Nachfrage gaben alle Betroffenen an, entweder nichts davon zu wissen, die Unternehmen nicht für Steuervorteile zu unterhalten oder den Anlass für die Gründung der jeweiligen Tarnfirmen nicht mehr ermitteln zu können. Warum lassen die Staaten das zu? Grundlage für das Billionengeschäft mit der Steuerflucht sind aber keineswegs nur die klassischen Steueroasen in den karibischen Zwergstaaten Kaimaninseln, Bermudas oder Panama sowie die Kanalinseln Jersey und Guernsey, Malta oder die Schweiz. Zwar bieten alle diese Finanzplätze ausländischen Anlegern die Möglichkeit, ihr Geld dort formal über Treuhandgesellschaften und andere Methoden anonym steuerfrei und gegen geringe Gebühr buchen zu lassen. Aber auch viele Industriestaaten bieten ihrerseits ausländischen Kapitalanlegern Steuerfreiheit, anonyme Anlagen oder beides an, betreiben also selbst das Steuerfluchtgeschäft auf Kosten anderer Staaten. So garantieren etwa Luxemburg und Österreich nach wie vor ausländischen Bankkunden den Schutz vor Nachforschungen der Steuereintreiber ihrer Heimatstaaten und verschaffen damit ihrer Finanzbranche gute Geschäfte. Allein die luxemburgischen Banken verwalten ein Kapitalvolumen, das 25 Mal so groß ist wie das Bruttoinlandsprodukt des kleinen Landes. Zum Vergleich: In Zypern lag diese Quote bis zur Krise bei 7,5, in Deutschland beträgt sie 3,2. Ganz vorn mit dabei sind auch die USA. Die US-Steuerbehörde IRS (Internal Revenue Service) verfolgt rigoros amerikanische Steuerhinterzieher in der Schweiz und anderen Steuerfluchtländern. Doch gleichzeitig ermöglichen die Bundesstaaten Delaware und Florida Ausländern den Unterhalt von zigtausend Briefkastenfirmen, über deren Konten keine ausländische Steuerbehörde Auskunft erhält. Seite 2: Was tun die Regierungen? Einen besonderen Service bieten die Niederlande. Dort können transnationale Unternehmen pro forma Tochterfirmen unterhalten, denen sie Marken- und Patentrechte oder sonstiges „geistiges Eigentum“ übertragen. Für deren Nutzung lassen die Konzerne sodann ihre Tochterunternehmen in aller Welt so hohe Gebühren nach Holland überweisen, dass die Gewinne großteils dort landen. Die niederländischen Steuerbehörden erheben darauf jedoch einen meist nur einstelligen Steuersatz, der noch dazu individuell ausgehandelt wird. Auf diesem Weg, der aber auch über Irland und die Bermudas laufen kann, weisen zahllose Weltunternehmen wie Apple, Microsoft oder Ikea in den meisten Staaten trotz großer Umsätze kaum Gewinne aus. Sogar der Popstar Bono, der sich gerne als Kämpfer gegen die Armut inszeniert, ließ die Musikrechte seiner Band U2 bei einer holländischen Firma eintragen, um die Tantiemen fast steuerfrei kassieren zu können. Insgesamt sind bei Amsterdamer Treuhand-Verwaltern mehr als 20 000 solcher Steuervermeidungsvehikel registriert. Zuletzt geriet damit der Kaffeehaus-Konzern Starbucks in die Schlagzeilen, weil dessen Manager gegenüber den Aktionären von großen Gewinnen in Großbritannien schwärmten, dort aber fast keine Steuern zahlten. Bei einer Anhörung im britischen Parlament erklärte ein Starbucks-Manager , der Gewinn falle eben überwiegend in Holland an. Zum dortigen Steuersatz dürfe er nichts sagen, weil Geheimhaltung vereinbart sei. Selbst Deutschland, dessen Finanzminister offiziell einen harten Kurs gegen Steuerhinterzieher fahren, ist gegenüber Steuerflüchtigen aus anderen Ländern großzügig. Ausländer können auch hierzulande Tarnfirmen unterhalten und sind nicht verpflichtet, bei deren Eintrag im Handelsregister die tatsächlich Begünstigten offenzulegen. Und solange diese ihre Kapitalanlagen wiederum im Ausland halten, bleiben sie von der Steuer verschont. Daher klagen italienische Staatsanwälte, die Mafia wasche ihr schmutziges Geld vornehmlich über deutsche Firmen. So können sich die Organisatoren des Offshore-Geschäfts weltweit eines vielfach gestaffelten Systems bedienen, bei dem die Grenzen zwischen legaler und illegaler Steuervermeidung oft kaum noch auszumachen sind. In dem von TJN-Experten entwickelten „Financial Secrecy Index“, der die Staaten nach dem Grad der möglichen Geheimhaltung und ihrer Bedeutung für den globalen Kapitalmarkt bemisst, stehen daher neben den bekannten Offshore-Zentren Schweiz oder Kaimaninseln eben auch große Länder wie die USA, Deutschland und Japan weit oben (siehe Grafik). Was tun die Regierungen? Unter dem Eindruck des Beinahe-Kollaps’ im Finanzsystem versprachen sich die Regierungen der G-20-Gruppe noch 2009, hart gegen Steueroasen vorzugehen, nicht zuletzt weil dort auch die Finanzaufsicht umgangen wird. „Die Ära des Bankgeheimnisses ist vorbei“, erklärten sie gemeinsam. Aber kaum ein Staat hielt sich daran. Weil mit Malta, Österreich, Luxemburg und den Niederlanden gleich vier EU-Staaten selbst das Steuerfluchtgeschäft aktiv betreiben, blockiert sich die EU selbst. Auch die Regierungen der Schwellenstaaten China, Indien und Brasilien dulden die Steuerflucht ihrer Reichen. Die absurde Folge ist, dass die größten Auslandsinvestitionen in ihren Staaten jeweils aus den British Virgin Islands, Mauritius und den Niederlanden stammen, weil ihre Unternehmen dort die Gewinne steuerfrei einstreichen. Trotzdem droht dem globalen Geschäft mit der Steuerflucht bald ein tiefer Einbruch. Denn die Vereinigten Staaten machen ernst. Der von beiden Parteien im US-Kongress schon 2010 verabschiedete „Foreign Account Tax Compliance Act“ (FATCA) verpflichtet alle Finanzunternehmen mit Geschäften in den USA, gleich ob Bank, Hedgefonds oder Vermögensverwaltung, ab 2014 alle Kontodaten von US-Bürgern unaufgefordert an die Steuerbehörde IRS zu melden. Unternehmen, die sich nicht daran halten, droht eine Strafsteuer auf alle ihre Einnahmen in den USA von 30 Prozent. So umgeht die US-Regierung Verhandlungen mit unwilligen Regierungen und setzt direkt bei den Organisatoren der Steuerflucht an – und das mit Erfolg. Weil im Finanzgeschäft ohne den US-Markt wenig geht, haben sich viele Staaten bereit erklärt, Rahmenverträge abzuschließen, um ihren Banken die Verhandlungen mit den US-Behörden zu ersparen, darunter neben der Schweiz auch Luxemburg und Österreich und sogar die Kaimaninseln. „Die USA weisen den richtigen Weg, dem muss Europa jetzt folgen“, fordert daher der Grünen-Europaabgeordnete Sven Giegold. Davon wollen Minister Schäuble und die meisten seiner EU-Kollegen bisher nichts wissen. Aber womöglich bleibt ihnen nichts anderes übrig. Denn wenn die EU-Länder demnächst automatisch mit den USA Kontodaten austauschen, dann werden sie sich dies auch untereinander zugestehen müssen. Seit diesem Jahr schreibt das EU-Recht vor, dass ein Land die Amtshilfe, die es einem anderen Staat gewährt, automatisch auch gegenüber allen anderen EU-Ländern leisten muss. Dies, so kündigte EU-Steuerkommissar Algirdas Semeta an, werde die EU-Kommission rigoros durchsetzen, wenn nötig „auch mit einer Klage der Kommission“.
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Harald Schumann
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Geld zu verstecken, ist nicht nur für Zypern ein lukratives Geschäftsmodell. Die USA wollen jetzt hart dagegen vorgehen – dem wird sich auch die EU nicht verschließen können. Wie funktioniert die Steuerflucht?
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wirtschaft
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2013-03-30T08:36:15+0100
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2013-03-30T08:36:15+0100
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https://www.cicero.de//wirtschaft/steueroase-zypern-so-geht-steuerflucht/54042
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Wahlen in Israel - Eine Stimme für den Zionismus
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An Selbstironie mangelt es Jitzhak Herzog nicht. Weil ihm, dem israelischen Oppositionschef und Herausforderer von Premierminister Benjamin Netanjahu, vorgeworfen wird, er habe eine fade, ausdruckslose Stimme, hat er sich kurzerhand in einem Wahlwerbespot synchronisieren lassen. In dem Video, das im israelischen Fernsehen läuft, bewegt Herzog die Lippen und listet seine politischen Verdienste auf. Doch die Worte kommen aus dem Mund eines ausgebildeten Sprechers. Das Einzige, spricht Herzog tonlos in die Kamera, was ihm angeblich zu einer Führungsfigur fehle, sei ja eine Stimme. In der Tat: Herzog ist kein großer Redner, seine Stimme kein Vergleich zum gewaltigen Bassbariton eines Netanjahu, der notfalls auch ohne Mikrofon in der Knesset sprechen könnte. Wenn am 17. März in Israel gewählt wird, stehen sich zwei Männer gegenüber, die unterschiedlicher kaum sein könnten. Hier Netanjahu, der vor Charisma platzt, ein Mann, der einst als Soldat gekidnappte Flugzeuge stürmte und heute als Politiker den US-Kongress; dort Herzog, den seine Kritiker von der israelischen Rechten als einen groß gewordenen Jungen bespotten. [[{"fid":"65055","view_mode":"full","type":"media","attributes":{"height":974,"width":750,"style":"font-size: 13.0080003738403px; line-height: 1.538em; width: 150px; height: 195px; float: left;","class":"media-element file-full"}}]]Dabei kann man Jitzhak Herzog fehlenden Patriotismus nicht vorwerfen. Für Herzog, 1960 in Tel Aviv als Spross einer Polit-Dynastie geboren, wird die israelische Nationalhymne schon an der Wiege gesungen. Der Großvater war erster Chefrabbiner von Israel, der Vater Präsident, die Onkel Diplomaten. Herzog dient in einer Elite-Einheit namens 8200, einer Art IT-Geheimdienst der israelischen Armee. Er studiert Recht, besucht eine amerikanische Eliteuniversität und arbeitet in der Kanzlei seines Vaters, bis es ihn in die Politik zieht, zur Arbeitspartei. 2013 gewinnt er in einem erdrutschartigen Sieg die Wahl zum Parteivorsitzenden. Ein Jahr später gelingt ihm sein bisher größter Coup. Im Dezember 2014 vereinen sich seine Arbeiterpartei und andere Kräfte der linken Mitte zum „Zionistischen Lager“. Es ist der Versuch, einen Leitbegriff neu zu füllen, um Netanjahu zu stürzen. Denn was Netanjahu und Herzog trennt, ist ihre Vorstellung davon, was Zionismus bedeutet. Eine Heimstatt für Juden aus aller Welt zu errichten – das waren Ziel und Zweck des Zionismus, wie ihn der Wiener Jude Theodor Herzl mit erschuf. In den 120 Jahren seit Herzls Manifest „Der Judenstaat“ ist zwar tatsächlich ein solcher Staat entstanden. Doch der Begriff ist deshalb nicht obsolet geworden. Im Gegenteil: Heute verwenden Politiker jeder Couleur den Ausdruck „Zionismus“ für ihre Zwecke. Für manche ist es ein Lackmustest patriotischer Gesinnung. Gab es in der Frühzeit noch viele linke und rechte Zionisten, verschoben sich nach dem Sechstagekrieg 1967 die Fronten. Seit die ersten Siedler Quartier im besetzten Hebron nahmen, haben Politiker der Rechten einen religiösen Anspruch auf „Eretz Israel“ mit dem Begriff Zionismus verquickt. Wann immer ein Terroranschlag stattfand, forderten rechte Politiker eine „zionistische Antwort“ und meinten Siedlungsausbau. Lange Zeit hatten die religiösen Zionisten das Wort so vereinnahmt. Doch die linke Mitte um Jitzhak Herzog will sich den Begriff Zionismus, dieses dreisilbige Gründungsdokument des Staates Israel, nicht nehmen lassen. „Occupy Zionism“ hatte die junge Sozialaktivistin Stav Schaffir ihr politisches Programm im Jahr 2012 genannt. Zusammen mit Zehntausenden ihrer Generation protestierte sie damals auf dem zentralen Rothschild-Boulevard in Tel Aviv. Ihr Ziel: Nicht ein aufgerüsteteres und religiöseres Israel um jeden Preis, sondern ein lebenswerteres. Günstiger Hüttenkäse statt U-Boote, niedrige Mieten statt Verhätschelung der Ultra-Orthodoxen. Bei den Wahlen im März tritt auch Schaffir, mittlerweile Knesset-Abgeordnete, für die Liste „Zionistisches Lager“ an. Den Zionismus zurückerobern, auf der Straße oder eben auch im Parlament: Mit diesem Anspruch macht sich das Zionistische Lager daran, den alten Kampfbegriff – meist mehr Kampf als Begriff – mit neuer Bedeutung zu füllen. Mit Erfolg: Wären heute schon Wahlen, würde keine Partei mehr Stimmen erhalten als Herzogs altneue Zionisten. Aktuelle Umfragen sagen 26 Sitze für das Zionistische Lager voraus, nur 22 für Netanjahus regierenden Likud. Doch um zu gewinnen, benötigt das Zionistische Lager mehr als diese 26 Sitze – gerade mal ein Fünftel der Knesset. Wie in Israel üblich, werden am Ende ein halbes Dutzend Parteien koalieren müssen: säkulare und religiöse, mehrheitlich arabische und jüdische, eher linke und eher rechte. Entscheidend dürfte sein, wie sich die drittstärkste politische Kraft verhält: das Wahlbündnis der arabisch-israelischen Parteien und der kommunistischen Chadasch. Ein buntes Konglomerat aus Neo-Marxisten, Islamisten und Kräften der politischen Mitte. In der aktuellen Knesset sind sie noch auf vier Parteien verteilt. Dieses Mal treten sie gemeinsam an. Allein: In die Regierung wollen sie partout nicht. Ahmad Tibi, einer der prominentesten Mitglieder der Gemeinsamen Liste, erklärte erst vor wenigen Wochen, dass solange die Besatzung andauere, sich arabische Politiker nicht an der Regierung beteiligen würden – jedenfalls keine Politiker aus der Gemeinsamen Liste. Eine Minderheitenregierung unter Herzog ist da schon realistischer, geduldet von einigen Abgeordneten der arabischen Parteien. Doch selbst dann wird es nach aktuellem Stand sehr knapp. Womöglich ergibt sich sogar ein Patt von 60 zu 60 Sitzen. Am Ende könnte der studierte Architekt Netanjahu der gewieftere Baumeister einer Regierung sein. Er, der zum vierten Mal gewählt werden will, kann auch mit den ultrareligiösen Parteien koalieren, mit der radikalen Rechten ohnehin. Sollte es so kommen, wäre Jitzhak Herzogs Wahlwerbespot prophetischer, als ihm lieb sein konnte: Was ihm letztlich fehlt, wäre – eine Stimme.
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Jan Ludwig
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Netanjahu-Herausforderer Jitzhak Herzog kann mit einem alten Kampfbegriff die israelischen Wahlen gewinnen. Premierminister ist er damit lange noch nicht. Entscheidend wird die drittstärkste politische Kraft
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außenpolitik
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2015-03-13T15:25:51+0100
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2015-03-13T15:25:51+0100
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https://www.cicero.de//aussenpolitik/wahlen-israel-eine-stimme-fuer-den-zionismus/58986
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Arafat Abou-Chaker - Bushidos Ex-Manager von Hauptvorwürfen freigesprochen
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Das Landgericht Berlin hat den Ex-Manager von Rapper Bushido von den Hauptvorwürfen freigesprochen. Nach rund dreieinhalb Jahren Verhandlung sahen es die Richter am Montag nicht als erwiesen an, dass der 47-Jährige den Musiker zur Zahlung von Millionenbeträgen erpressen wollte. Sie verurteilten Arafat Abou-Chaker, der als Berliner Clan-Chef gilt, lediglich wegen 13 Fällen von unerlaubten Tonbandaufnahmen zu einer Geldstrafe von 81.000 Euro (90 Tagessätze à 900 Euro). Bushido (45), mit bürgerlichem Namen Anis Mohamed Ferchichi, war in dem Strafverfahren Zeuge und Nebenkläger. Ein Großteil der Vorwürfe basierte auf seinen Aussagen. Zur Urteilsverkündung kam der Rapper nicht. Er lebt inzwischen mit seiner Familie in Dubai. Die Anklage hatte Arafat Abou-Chaker unter anderem versuchte schwere räuberische Erpressung, Freiheitsberaubung, Nötigung sowie gefährliche Körperverletzung und schwere Untreue vorgeworfen. Mitangeklagt waren drei Brüder von Arafat Abou-Chaker im Alter von 42, 46 und 53 Jahren. Auch diese wurden von den Vorwürfen zulasten des Musikers freigesprochen. Der Hauptangeklagte und einer seiner Brüder erhalten nach dem Urteil Haftentschädigung für eine kurze Zeit, die sie in Untersuchungshaft saßen. Die Staatsanwaltschaft hatte für den Hauptangeklagten eine Gesamtstrafe von vier Jahren, drei Monaten und einer Woche Haft gefordert. Für dessen Brüder beantragte sie Gesamtstrafen von sieben Monaten auf Bewährung bis zwei Jahren und einem Monat Haft. Die Verteidigung hatte Freisprüche gefordert. Keine der angeblichen Straftaten seien erwiesen, die dem Rapper widerfahren sein sollten. Im Zentrum des Verfahrens stand ein Vorfall am 18. Januar 2018, bei dem Bushido gegen seinen Willen festgehalten worden sein sollte. Dabei sollte er beleidigt, bedroht und auch mit einer Plastikflasche und einem Stuhl attackiert worden sein. Zu den mutmaßlichen Taten sollte es gekommen sein, nachdem der Musiker die Beziehungen zu seinem Ex-Manager 2017 aufgelöst hatte. Dieser habe die Trennung nicht akzeptieren wollen und von dem Rapper eine Millionenzahlung sowie die Beteiligung an dessen Geschäften für 15 Jahre gefordert, so der Vorwurf. An 113 Verhandlungstagen hat das Gericht seit August 2020 versucht, den Fall aufzuklären. Der Prozess erfolgte unter strengen Sicherheitsvorkehrungen. Manch einer sah darin einen lang erhofften Schlag gegen Clankriminalität, weil Bushido keine Angst zeigte. Das ist bei vielen Prozessen gegen Mitglieder von Großfamilien, die mit organisierter Kriminalität in Verbindung gebracht werden, anders. Der Begriff Clankriminalität ist umstritten, weil er nach Ansicht von Kritikern Menschen mit Migrationshintergrund allein aufgrund ihrer Familienzugehörigkeit und Herkunft stigmatisiert und diskriminiert. dpa
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Cicero-Redaktion
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Die Trennung von Rapper Bushido und seinem Ex-Manager beschäftigt seit Jahren die Justiz. Im Zentrum steht ein Strafverfahren, das unter hohen Sicherheitsvorkehrungen seit rund dreieinhalb Jahren am Berliner Kriminalgericht lief. Nun gibt es ein Urteil.
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"Bushido",
"Abou-Chaker Arafat"
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kultur
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2024-02-06T11:52:33+0100
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2024-02-06T11:52:33+0100
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https://www.cicero.de//kultur/arafat-abou-chaker-bushidos-ex-manager-von-hauptvorwurfen-freigesprochen
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Wahlkampf 2017 - Die grüne Steuerfalle
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Die wenigsten Deutschen wissen, was eigentlich das Ehegattensplitting ist. Ein schnelles Scheidungsverfahren? Eine Spielart des Sadomaso? Etwa 40 Prozent haben den Begriff laut einer Allensbach-Umfrage noch nie oder nur dem Namen nach gehört. Andere wissen immerhin, dass sich mit diesem Splitting irgendwie Steuern sparen lassen. Nur jeder vierte Befragte weiß darüber angeblich gut Bescheid. Ob dies stimmt, das wäre eine andere ganz Frage. Überprüft hat es das Institut für Demoskopie nicht. Ein Wahlkampfschlager ist das Thema Ehegattensplitting in keinem Fall. Steht das komplizierte Sechs-Silben-Wort auf Plakaten oder in Programmen, wenden sich Menschen verstört ab. Auch die Grünen wissen das. Sie haben im Bundestagswahlkampf 2013 diesbezüglich schlechte Erfahrungen gemacht. Auch weil sie das Image einer Steuererhöhungspartei hatten, waren sie in der Wählergunst auf enttäuschende 8,4 Prozent abgestürzt. Die Ansprüche waren und sind andere. Derzeit streiten die Grünen erneut darum, ob sie mit Steuererhöhungen in den Bundestagswahlkampf 2017 ziehen sollen. In einem gemeinsamen Papier fordern fünfzehn führende Finanzpolitiker der Partei einen höheren Spitzensteuersatz, die Wiedereinführung der Vermögenssteuer und den grünen Klassiker: die schrittweise Abschaffung des Ehegattensplittings, was für viele faktisch zu einer zusätzlichen Steuermehrbelastung führt. Für die Wähler ist das ein bunter Steuererhöhungscocktail mit fünf Zutaten, bei dem sie nur verstehen: Die Öko-Partei will uns ans Portemonnaie. Zumal auch noch eine höhere Erbschaftssteuer in der Diskussion ist und die Abschaffung der Abgeltungssteuer auf Kapitalerträge. Auch das ist so eine Steuer, die kaum ein Wähler kennt. Aber die Parteibasis glaubt immerhin: Irgendwie trifft es die Reichen. In Wirklichkeit trifft es sie nicht, denn die wirklich Reichen würden von der Abschaffung der Abgeltungssteuer vermutlich sogar profitieren. Aber zu soviel Differenzierung sind Überzeugungstäter häufig nicht in der Lage. Der grüne Ministerpräsident von Baden-Württemberg, Winfried Kretschmann, warnt bislang vergeblich davor, die Wähler zu verschrecken. „In Zeiten sprudelnder Steuereinnahmen führt man keine Steuerwahlkämpfe“, sagt er. Aber mit dieser Überzeugung ist er in seiner Partei ziemlich allein. Dass er ohne die Forderung nach Steuererhöhungen eine Landtagswahl gewonnen hat, macht ihn für die prinzipienfeste Parteibasis außerhalb von Baden-Württemberg geradezu verdächtig. Doch um den Wähler und einen Wahlerfolg geht es bei den Grünen derzeit nicht. Vielmehr findet bei der Öko-Partei ein innerparteiliches Kräftemessen statt. Realos und Linke buhlen um die Gunst der Parteibasis. Denn die wird im Herbst in einer Urwahl über ihre beiden Spitzenkandidaten für die Bundestagswahl im September 2017 entscheiden. Der Vorwahlkampf richtet sich also an die eigenen Leute und da gelten andere Gesetze. Vor allem gelten dort Steuererhöhungen als innerparteiliches Identitätsthema. Die Konstellation bei der Urwahl ist übersichtlich. Bislang bewerben sich eine Frau und drei Männer um die beiden Plätze. Beim Frauenplatz hat Katrin Göring-Eckardt bislang keine Konkurrenz, sie scheint nach Lage der Dinge gesetzt zu sein. Allerdings endet die Bewerbungsfrist erst am 17. Oktober. Die Lage kann sich theoretisch also noch ändern. Es sieht jedoch nicht danach aus. Um den Männerplatz streiten sich drei Schwergewichte der Partei. Der Parteivorsitzende Cem Özdemir, der Fraktionschef Anton Hofreiter und der schleswig-holsteinische Umweltminister Robert Habeck. Özdemir gilt als Oberrealo und er steht in der Partei unter dem Generalverdacht der programmatischen Anpassung an die Union. Die linken Grünen werfen ihm vor, er wolle mit Blick auf Schwarz-Grün linke Inhalte der Partei preisgeben. Hofreiter zählt zum linken Flügel der Partei. Habeck ist eigentlich auch ein Realo, aber weil die Rolle schon vergeben ist, versucht er, die Lagerlogik innerhalb der Grünen zu überwinden und sich als grüner Patriot zu profilieren. So will er die Mitglieder ansprechen, denen die Unterscheidung zwischen Realos und Linken überholt erscheint. Mit dem Steuererpapier schufen die grünen Finanzexperten erst einmal Fakten, bevor der innergrüne Vorwahlkampf richtig begonnen hat. Die Urwahlkämpfer können sich solange nicht von diesem distanzieren, wie sie um die Gunst der Basis buhlen. Wer da ausschert, kann sich den Urwahlkampf gleich sparen. Nur Özdemir murrt zumindest bei der Vermögenssteuer ein wenig. Er weiß vermutlich, dass die Suche nach einem Modell, dass den engen Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts zur Vermögenssteuer gerecht wird, vergeblich sein wird. Aber mit Stimmen vom linken Parteiflügel kann er sowieso nicht rechnen. Auf der anderen Seite trommelt der Altgrüne Jürgen Trittin vehement für Steuererhöhungen. Nicht, weil er selbst noch einmal in den Ring steigen will, sondern weil er damit seinem Freund Hofreiter den Weg zur Spitzenkandidatur freikämpfen will. Der Fraktionschef selbst hat nicht die innerparteiliche Autorität und Beliebtheit, um als Favorit im Urwahlkampf gelten zu können. Spannend wird es erst nach der Urwahl, deren Ergebnis im Januar 2017 feststehen soll. Denn dann werden die Grünen zeigen müssen, ob sie aus dem Wahldebakel 2013 etwas gelernt haben. Siegen Trittin und Hofreiter beim innerparteilichen Kräftemessen, dann spricht viel dafür, dass die Partei noch einmal in die Steuerfalle tappen wird. Siegt einer der anderen beiden Kandidaten, werden sie die Partei wohl noch einmal an die mahnenden Worte des erfolgreichen grünen Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann erinnern.
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Christoph Seils
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Sehenden Auges machen die Grünen den gleichen Fehler wie 2013. Sie präsentieren einen Cocktail an Steuererhöhungen und denken dabei nicht an die Wähler, sondern nur an die eigene Parteibasis
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wirtschaft
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2016-07-25T17:42:37+0200
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2016-07-25T17:42:37+0200
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https://www.cicero.de//wirtschaft/wahlkampf-2017-die-gruene-steuerfalle
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Trotz Brexit-Referendum - Warum wir Volksabstimmungen brauchen
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Die Welt schaut am Morgen nach dem britischen Referendum auf die Abstimmungsergebnisse – und erschrickt: Brexit! Wie konnte das passieren? Großbritannien und die Europäische Union gehen getrennte Wege. Schon werden Anforderungen an die Gütertrennung gestellt und gefordert, die Briten für diesen Auszug teuer bezahlen zu lassen. Scheidungsrhetorik. Und wie immer, wenn sich Partner trennen, stellt sich sie Frage, wie das bloß passieren konnte. Wer trägt die Schuld? Jetzt die direkte Demokratie für den Brexit haftbar zu machen, ist so, als würden wir das Recht auf Scheidungen für die Scheidungen selbst verantwortlich machen. Die direkte Demokratie hilft zu offenbaren, wie es um eine Gesellschaft bestellt ist. Sie hilft, ihren Zustand zu erkennen. Sie ist für die Gesellschaft wie ein Spiegel. So wenig wie ein Spiegel verantwortlich ist für das, was er abbildet, so wenig ist die direkte Demokratie für den Zustand einer Gesellschaft verantwortlich. (Im Übrigen diskutieren wir nach einer Wahl, wenn uns das Wahlergebnis nicht zusagt, auch nicht die Änderung oder gar Abschaffung des Wahlrechts.) Tatsächlich wissen wir jetzt mehr darüber, wie die Briten über Europa denken und auch die Briten selbst heften sich nun Denkzettel an die Pinnwand der gesellschaftlichen Aufgaben. Knapp 75 Prozent der unter 25-Jährigen waren für den Verbleib in der EU, 60 Prozent der über 60-Jährigen dagegen. Ein Generationenkonflikt. Auch die Kluft zwischen Schotten und Engländern ist wieder aufgebrochen, ablesbar an den sehr unterschiedlichen Abstimmungsergebnissen. Zu reflektieren wird auch sein, welches machtpolitische Spiel die offizielle Politik mit dem Referendum getrieben hat. Und warum die mit der EU vereinbarten Reformansätze, die bei einem Verbleib Großbritanniens gegriffen hätten, kaum kommuniziert wurden. Sie wären auf eine stärkere Rolle Großbritanniens und der Nationalstaaten überhaupt hinausgelaufen. Der Brexit hat auch den Teppich gelüftet, unter den seit Jahren die Kritik an der EU gekehrt wird. Hier stellen sich ganze Aufgabenkataloge an die Europäische Union selbst wie auch an ihre Mitgliedsstaaten. Nicht nur viele Briten empfinden die EU als elitär und abgehoben. Das Gefälle zwischen den Ländern und die größer werdende Kluft zwischen Arm und Reich lassen die Idee Europas verblassen. Eine Union, die ihren Schwerpunkt darauf legt, ihre Wirtschaftsmacht zu vergrößern, aber die Ohnmacht der Menschen nicht mehr sieht, wird mit Vertrauensverlust bestraft. Die Freihandelsabkommen TTIP und CETA, die sich bis in jede Kommune hinein auswirken können, soziale Standards ebenso hintertreiben wie solche für den Umwelt- und Verbraucherschutz, haben eine europaweite Widerstandsbewegung auf den Plan gerufen, wie es sie seit Jahrzehnten nicht mehr gegeben hat. Die Menschen verlangen danach, von der EU überhaupt wahrgenommen zu werden und ziehen deshalb zu Hunderttausenden auf die Straße. Man mag bedauern, dass erst der Austritt eines Mitgliedsstaates die Diskussion darum befeuert, wo es schwelt in dieser EU. Aber daraufhin mehr noch als bisher auf eine EU der Eliten zu setzen, wäre das Gegenteil dessen, wonach die Menschen verlangen. Im Gegenteil: Europa muss demokratischer werden. Nur ein Instrument hält die EU bisher parat, um der Kommission von Bürgerseite zu signalisieren, worum sie sich bitte kümmern soll: die europäische Bürgerinitiative. Dieses Bonsai-Beteiligungsinstrument ist dringend reformbedürftig. Auch das Europäische Parlament sieht das so, die Kommission aber stellt sich blind und taub. Dabei sind Bürgerbeteiligung und direkte Demokratie nicht eine Gefahr, sondern der Ariadnefaden, an dem entlang sich Europa zurück zu seinen Ideen und Werten hangeln kann. Das Misstrauen, das die Menschen gegenüber der EU haben, könnte die Kehrseite des Misstrauens sein, das die EU gegenüber ihren rund 500 Millionen Bürgerinnen und Bürgern erkennen lässt. Mit anderen Worten: Bürgerbeteiligung und direkte Demokratie könnten Wege eröffnen, auf denen sich Vertrauen wiedergewinnen lässt. Die direkte Demokratie angesichts des Brexit zu diskreditieren, heißt auch, diese Wege zu verbarrikadieren. Zu einfach wäre allerdings die Formel, es müsste nicht weniger, sondern mehr Referenden geben. Auf europäischer Ebene (wie auch auf Bundesebene in Deutschland) fehlt die direkte Demokratie gänzlich. Notwendig wäre die Möglichkeit, Volksbegehren initiieren zu können, so dass die Bürgerinnen und Bürger von unten Themen auf die politische Tagesordnung setzen und notfalls auch bis zu einer Abstimmung durchtragen könnten. Die Politik könnte wie über einen Seismografen ablesen, was den Menschen auf den Nägeln brennt – und reagieren. Diese Form der direkten Demokratie, die „von unten“ ausgelöste Volksabstimmung, ist viel weniger zugänglich für Machtspiele als „von oben“ angesetzte Referenden. Natürlich verbindet sich mit dieser Forderung ein Menschenbild, das jede und jeden in der Gesellschaft als fähig ansieht, Bürgerin und Bürger zu sein, also für die Gesellschaft auch zu bürgen, sich verantwortlich zu zeigen. Ja, es gibt komplexe Themen. Der Austritt aus der EU ist bestimmt ein solches. Aber können wir, weil uns der Brexit missfällt, Tante Emma und Bob dem Baumeister absprechen, dass sie sich eine Meinung bilden und eine Position haben? Es gab 57 Volksentscheide auf nationaler Ebene zu europäischen Fragen. 70 Prozent davon sind für eine europäische Integration ausgegangen. Meint wirklich jemand, die Schotten und die Nordiren seien intelligenter als die Engländer, nur weil sie gegen den Brexit votiert haben? Wer hat das Recht, zu entscheiden, ob ein Thema zu komplex für das Volk ist? Nur das Volk selbst! Mit der direkten Demokratie von unten kommt es nur zu einer Abstimmung, wenn die Unterschriftenhürde bei einem Volksbegehren genommen wird. Hier zeigt sich und zeigt das Volk selbst, ob es ein Thema für zu schwierig oder zu schwerwiegend ansieht. Und generell gilt, was Olof Palme, der 1986 ermordete schwedische Ministerpräsident, formuliert hat: „Es ist eine Irrlehre, dass es Fragen gibt, die für normale Menschen zu groß oder zu kompliziert sind. Akzeptiert man einen solchen Gedanken, so hat man einen ersten Schritt in Richtung Technokratie, Expertenherrschaft, Oligarchie getan. Politik ist zugänglich, ist beeinflussbar für jeden. Das ist der zentrale Punkt der Demokratie.“ Damit sei zugleich der Finger in eine offene Wunde dieser EU gelegt: Mehr Demo-, weniger Bürokratie! Der Brexit sollte in einen Verfassungskonvent münden, wie ihn der Lissabon-Vertrag für grundlegende Veränderungen auch vorsieht. Das wäre der Zieleinlauf dafür, Europa neu zu denken. Dabei liegt es nahe, diese Zukunftswerkstatt nicht nur den Eliten zu überlassen, sondern für Bürgerinnen und Bürger offen zu halten und auch den Konvent selbst demokratisch zu legitimieren. So könnte auch die mit dem Brexit ausgelöste Krise zur Chance für Europa werden. Und die Rechten, was, wenn sie die direkte Demokratie nutzen? Beteiligungsinstrumente stehen allen in der Gesellschaft offen. Sie müssen so gestaltet sein, dass sie einen breiten Dialog anstoßen. „Wo Gefahr ist, wächst das Rettende auch“, sagt Hölderlin. Dafür aber muss ausreichend Zeit, müssen die Fristen lang sein. Selbstverständlich braucht es eine wache Zivilgesellschaft, die bereit ist, in Auseinandersetzungen zu gehen, mit den Menschen zu reden. Dafür muss sie die Menschen als würdig ansehen und sie nicht als „doofes Volk“ abtun, sondern sie ernst nehmen. Dann ist die direkte Demokratie weniger anfällig für Populismus als die parlamentarische.
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Ralf-Uwe Beck
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Der Schock sitzt tief nach dem Brexit-Referendum. Wusste das britische Volk, was es da tat? Doch angesichts des Ergebnisses die direkte Demokratie zu verteufeln, wird das Misstrauen der Bürger nur verstärken. Mehr Bürgerbeteiligung ist Europas einzige Chance
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"direkte Demokratie"
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außenpolitik
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2016-06-27T11:03:57+0200
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2016-06-27T11:03:57+0200
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https://www.cicero.de//aussenpolitik/nach-dem-brexit-warum-wir-volksabstimmungen-brauchen
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Kirche und Gewalt - Pazifismus hilft nicht gegen Terror
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Es war ein Ostern im Zeichen des islamistischen Terrors. In Brüssel rangen Männer und Frauen, Opfer der Anschläge vom 22. März, noch mit dem Tod, als die Gottesdienste zwischen Gründonnerstag und Ostermontag begannen. Im pakistanischen Lahore wurden über 70 Menschen, vornehmlich Christen, durch ein islamistisches Selbstmordattentat getötet, während der Ostersonntag seinem Ende entgegen ging. Womöglich wurde im Jemen an Karfreitag ein von Islamisten verschleppter katholischer Priester gekreuzigt, womöglich ist er noch am Leben und in der Hand seiner Entführer. Klingt da die Botschaft Jesu, man solle seine Feinde lieben, nicht schal, weltfremd, wohlfeil? In der aktuellen Fassung der Margot Käßmann tut sie es. Die ehemalige Hannoversche Landesbischöfin erklärte im Interview mit der „Bild am Sonntag“, „wir sollten versuchen, den Terroristen mit Beten und Liebe zu begegnen“. Christen sollten den „Kreislauf der Gewalt“ durchbrechen, sollten „auf den Hass nicht mit Hass antworten“ und stattdessen „Zeichen der Hoffnung setzen, etwa indem Christen und Muslime sich gegenseitig einladen“. Ihr Nachfolger im Amt des EKD-Ratsvorsitzenden, Heinrich Bedford-Strohm, erklärte in seiner Karfreitagspredigt, Christen sollten „die Angst überwinden und mit Kraft, Liebe und Besonnenheit reagieren“. Als „Botschafter der Versöhnung“ ließen sie „die Einteilung von Gut und Böse“ hinter sich, denn „keiner von uns“ sei „frei von Schuld“. Papst Franziskus predigte, Gott habe mit den „Waffen der Liebe“ den Tod besiegt, nur eine „unendliche Barmherzigkeit“ könne vor Tod und Hass erretten. Pazifismus aber hilft nicht gegen Terror. Das Christentum ist eine friedliebende, jedoch keine pazifistische Religion. Ihr Gründer war trotz des denkbar schmachvollen, maximal leidbereiten Endes am Kreuz kein Pazifist. Sein – in christlicher Perspektive: als Sühnopfer vorherbestimmtes – Sterben taugt nicht zur Blaupause für alle Getauften, nicht als Handlungsempfehlung im Angesicht des Terrorismus. Daran ist in diesen Tagen zu erinnern. Das Christentum der westlichen Hemisphäre läuft Gefahr, seine Balance zu verlieren, sein Meson. So nannte Aristoteles die Tugendlehre der Mitte. Nie bestand Christentum nur aus dem Theorem von der Wange, die es hinzuhalten gelte, aus der Warnung vor dem Schwert, durch das umkomme, wer zu ihm greife. Es gibt eben auch die Anweisung, den Übeltäter fortzuschaffen „aus eurer Mitte“. Es gibt eben auch die Aussage des Nazareners, er sei „nicht gekommen, Frieden zu senden, sondern das Schwert“. Es gab die Vertreibung der Händler aus dem Tempel. Gerade weil niemand „frei von Schuld“ ist, muss es Gut und Böse geben, gibt es sogar das unrettbar Böse. Jenseits von Gut und Böse können sich Philosophen und Künstler tummeln, Landesbischöfe nicht. Natürlich haben jene enthemmten Muslime, die sich selbst und anderen den Tod bereiten, deutlich, ja unendlich mehr Schuld auf sich geladen als der Durchschnittschrist, der es mit dem Dekalog nicht so genau nimmt. Natürlich ist „Beten und Lieben“ eine zentrale biblische Praxis, doch gegenüber den Bösen in Menschengestalt führt „Beten und Lieben“ zur Unterwerfung unter das Böse. Den „Kreislauf der Gewalt“ stoppt nicht der, der die Gewalttätigen gewähren lässt, sondern der, der ihnen die Gewaltmittel aus den Händen schlägt. Sonst mündet Pazifismus in ein Regiment der Gewalt. Es gibt und gab immer beides: die Sehnsucht nach Frieden und die Erfahrung des Unfriedens, das Gute, das der Christ unbedingt wollen muss, und das Böse, das er erfährt. So wie es Grenzen der Toleranz gibt, gibt es Grenzen der Passivität. Feindesliebe heißt nicht, dem Feind, der töten will, nur mit Liebe zu begegnen. Sie meint, bis zuletzt auf das im Feind verschüttete Gute zu hoffen und immer Mensch zu bleiben. Gilbert Keith Chesterton nennt die „Entdeckung der neuen Balance“ das „Hauptstück der christlichen Ethik“. Die Balance bestehe im geschichtlich vielfach bewiesenen, unvermischten Nebeneinander von „mönchischen Skrupeln“, von „scharfsichtigem Wehklagen über die Gräuel der Schlacht und die Nichtigkeit der Rache“, wie es ein Tolstoi vervollkommnet habe, und der Kampfbereitschaft im Angesicht des Feindes. Wenn der Löwe neben dem Lamm liege, müsse er dennoch seine königliche Wildheit bewahren. Sonst wäre es „Imperialismus von Seiten des Lammes“. Die Stimmen prominenter Kirchenleute zur Gewaltfrage erinnern an einen solchen lammfrommen Imperialismus. Dieser wird den Terror der Tötungsfanatiker nicht eindämmen. Und er halbiert das Christentum.
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Alexander Kissler
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Kisslers Konter: Prominente Christen plädieren für Liebe auch gegenüber Terroristen. So aber halbieren sie das Christentum und verhindern keine Gewalttaten
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innenpolitik
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2016-03-29T14:36:20+0200
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2016-03-29T14:36:20+0200
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https://www.cicero.de//innenpolitik/kirche-und-gewalt-pazifismus-hilft-nicht-gegen-terror/60698
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Razzia - Der Text, der die Cicero-Affäre auslöste
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In der April-Ausgabe 2005 berichtete Bruno Schirra erstmals über Verbindungen des Top-Terroristen al Zarqawi zum Iran und dessen Pläne für ein Chemie-Attentat. Er belegt durch vertrauliche Dokumente. Nach Erscheinen des Textes, im September 2005, wurden das Haus des Autors und die Redaktionsräume des Magazins Cicero durchsucht. Die sogenannte Cicero-Affäre erregte bundesweit Aufsehen. Später erklärte das Bundesverfassungsgericht die Cicero-Razzia in einem Grundsatzurteil für verfassungswidrig [[{"fid":"62037","view_mode":"full","type":"media","attributes":{"height":348,"width":256,"style":"width: 140px; height: 190px; margin: 4px; float: left;","class":"media-element file-full"}}]] Sie können die Jubiläumsausgabe des Cicero ganz bequem über unseren Online Shop bestellen. Wer ist Ahmad Fadil Nazal al Khalayleh? „Der gefährlichste Terrorist der Welt!“ Sagen die freundlichen Herren vom General Intelligence Department (GID) in Amman. Sie müssen das wissen. Hat Ahmad Fadil Nazal al Khalayleh doch immerhin vor geraumer Zeit versucht, ihre Amtsstuben in die Luft zu jagen. Als der jordanische Geheimdienst GID in der Nacht des 31. März vergangenen Jahres an der syrisch-jordanischen Grenze einen LKW stoppt, finden sie Sprengstoff in der Ladung. Fahrer und Beifahrer werden einer peinlichen Befragung – vulgo Folter – unterzogen. Was sie preisgeben, versetzt die Verhörer des GID in helle Aufregung. Die US-amerikanische Botschaft, das Büro des Premierministers, das Wohnhaus des Direktors des GID sowie das Hauptquartier des jordanischen Geheimdienstes sollen in einer konzertierten Aktion mittels 20 Tonnen Sprengstoff in die Luft gejagt werden. Was die Ermittler paralysiert, ist die Auskunft, die sie während der Verhöre erhalten: Eine zweite Explosionsserie soll hochgiftige chemische Kampfstoffe freisetzen. Ist das der von allen Sicherheitsdiensten so gefürchtete Chemiewaffenanschlag, den alle erwarten? Bei ihrer Fahndung stoßen die Jordanier dann auf Muwaffaq Ali Ahmed Odwan und Azmi Abdel Fatah Hajj Youssef Jaiousi. Nach Telefonüberwachung und Observation schlagen die Ermittler zu. Odwan wird getötet, Jaiousi festgenommen. Beide sind ausgewiesene Sprengstoffspezialisten. Beide wurden von Ahmad Fadil Nazal al Khalayleh beauftragt, einen chemischen Megaanschlag durchzuführen. Mindestens 80.000 Menschen, so die Erkenntnisse der jordanischen Behörden, hätten bei diesem Terroranschlag getötet werden können. Wäre der Anschlag geglückt, „hätte dies den gesamten Nahen und Mittleren Osten zur Explosion gebracht“, sagen heute jordanische GID-Beamte, „denn ohne staatliche Unterstützung aus Syrien und dem Iran wäre die Karriere von al Khalayleh niemals bis zu diesem Punkt gelangt.“ Wer ist Ahmad Fadil Nazal al Khalayleh? Zunächst nur ein Mann mit vielen Namen und noch mehr Pässen. Einer ist auf den Namen Jan Ellie Louise ausgestellt. Den britischen Pass nutzte al Khalayleh in der Vergangenheit ebenso wie echte iranische Pässe unter dem Namen Ibrahim Kassimi Ridah und Abdal Rahman Hassan al-Tahihi. Nur für einen weiteren Namen al Khalaylehs existiert kein gültiger Pass. Den Namen, unter dem er weltweit einzigartige Berühmtheit erlangt hat. Als fliegender Holländer des islamistischen Blutterrors ist al Khalayleh binnen kürzester Frist unter dem Namen Abu Mousab al Zarqawi aus dem Schatten Osama bin Ladens herausgetreten. Wie sehr Zarqawi aus dem Schatten bin Ladens getreten ist, belegen umfangreiche Akten und Dossiers westlicher wie nahöstlicher Geheimdienste ebenso wie Informationen und Dokumente deutscher Sicherheitsbehörden. Sie dokumentieren nicht nur den Werdegang des Kopfjägers Zarqawi, sie zeigen vielmehr, dass seine Karriere im Namen Allahs nur stattfinden konnte, weil Gottes Killer über Jahre hinweg logistische Unterstützung, Geld und Waffen von staatlichen Organisationen verschiedener nahöstlicher Staaten erhalten hat. Ganz oben auf der Liste der Förderer Zarqawis: die Islamische Republik Iran und die Hardliner aus dem Umfeld der Al-Quds-Brigaden der Revolutionären Garden – der Pasdaran. Ausgerechnet das Bundeskriminalamt (BKA) attestiert dem Iran, dass er Zarqawi „logistische Unterstützung von staatlicher Seite“ zukommen ließ. Der Iran, so die Akten des BKA, sei „eine wichtige logistische Basis“ gewesen. Die Akten des BKA listen neun weitere Pässe sowie Personalausweise aus dem Libanon, dem Iran, Palästina und dem Jemen auf, unter denen Zarqawi in den vergangenen drei Jahren sicher gereist ist. Sein Aktionsradius erstreckt sich über den Irak, den Iran, Syrien, Jordanien, die Türkei, das Pankissi-Tal in Georgien bis in den Nordkaukasus. In diesen Ländern stützt er sich nicht nur auf ein Heer von Sympathisanten des Heiligen Krieges – Mitglieder ganz unterschiedlicher islamistischer Netzwerke, die ihm bei Bedarf zur Verfügung stehen. Zarqawi hat in diesem Halbbogen über Ländergrenzen hinweg ebenso seine eigenen Zellen aktiver Heiliger Krieger: in Nordafrika, Spanien, Frankreich, Italien. Und Deutschland: Mindestens 150 seiner Anhänger vermuten deutsche Sicherheitsbehörden vor allem in Bayern, Baden-Württemberg und in Berlin. Im Umfeld radikaler Moscheen wie der Al-Nur-Moschee im Berliner Stadtteil Neukölln oder im Umkreis des Multikulturhauses in Neu-Ulm hat sich sein Netzwerk etabliert. Radikale Dschihadisten, für die Zarqawis Ideologie, der zufolge „der Dschihad nur mit Terror durchzuführen und erfolgreich ist“, unbedingte Richtschnur ihres Handelns ist. Auf 125 Seiten beschreibt und analysiert ein Auswertungsbericht des BKA vom 6. September 2004 die Karriere des Abu Mousab al Zarqawi und die Verästelungen seines globalen Beziehungsgeflechtes. „VS – nur für den Dienstgebrauch. Nicht gerichtsverwertbar – nur für die Handakte“ prangt auf jeder Seite. Kein Wunder: Nicht alle Erkenntnisse dürften in einem deutschen Ermittlungsverfahren verwendbar sein. Nicht jede der Quellen, auf die sich das Kompendium stützt, steht in dem Ruf, bei ihren Ermittlungen streng rechtsstaatlichen Gepflogenheiten zu folgen. In 392 Fußnoten werden dezidiert Daten, Quellen und Fakten präsentiert. Dienstreisen deutscher Ermittler nach Rabat in Marokko, nach Amman in Jordanien, Frankreich, Italien. Erkenntnisberichte des deutschen Bundesnachrichtendienstes, des amerikanischen FBI, der CIA sowie immer wiederkehrende Briefings französischer wie israelischer Stellen zeichnen den Werdegang von al Khalayleh al Zarqawi wie das Wachsen seines internationalen „Netzwerks arabischer Mudjahedin“ nach. „Nach hiesiger Einschätzung wird al Zarqawi als Führer eines eigenständigen, autonom arbeitenden terroristischen Netzwerkes gesehen“, so die deutsche Analyse. Zarqawi gilt der internationalen Geheimdienstgemeinde als der „zurzeit tatsächlich gefährlichste Mann der Welt. Osama bin Laden“, so jordanische wie deutsche Ermittler unisono, „steht heute für eine Idee, eine Ideologie. Der Mann taugt nur noch als Mythos und dafür, die USA bei ihren vergeblichen Fahndungsbemühungen nach ihm bloßzustellen. Zarqawi hingegen ist der Mann der Tat. Er hat sowohl sein eigenes funktionierendes Netzwerk als auch gleichzeitig Zugriff auf andere Netze. Zarqawi ist der neue Kronprinz von bin Laden.“ So ein jordanischer Ermittler. Die größte Sorge bereiten westlichen Diensten Zarqawis Bemühungen, künftig mit chemischen Kampfstoffen seine Terrorangriffe durchzuführen. Erfahrung hat er darin. Nachdem er 1989 in Afghanistan nur noch die Ausläufer des Heiligen Krieges gegen die Schuwari, die Russen, miterlebt hat, arbeitet er zunächst als Reporter für die islamistische Zeitung Al-Bunyan Al Marsous, dann für das Islamic Relief Committee, eine islamische NGO, über die nach Erkenntnissen westlicher wie nahöstlicher Dienste über mehr als eine Dekade Gelder für radikale Dschihadisten geflossen sind.
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Bruno Schirra
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Cicero Klassiker: Zum zehnjährigen Jubiläum präsentieren wir Ihnen zehn großartige und zeitlose Texte aus zehn Jahren Cicero.
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innenpolitik
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2014-04-30T15:41:17+0200
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2014-04-30T15:41:17+0200
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https://www.cicero.de//innenpolitik/der-gefahrlichste-mann-der-welt/37103
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Clemens Börsig – Der Anti-Ackermann
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Am 25. Juli macht Clemens Börsig normalerweise keine Termine.
Zur Eröffnung der Bayreuther Festspiele fehlt der
Aufsichtsratsvorsitzende der Deutschen Bank, der im Kuratorium des
Sponsorenvereins „Freunde von Bayreuth“ eine wichtige Rolle spielt,
nur ungern. In diesem Jahr aber musste Börsigs Gattin Gerhild ohne ihn über
den roten Teppich gehen. Während in Bayreuth Tannhäuser um die
Liebe, die Tugend und den ewigen Frieden rang, kämpfte Börsig in
Frankfurt den Kampf seines Lebens. Am Ende gewinnt er – und
verliert alles. Anshu Jain und Jürgen Fitschen, seine
Wunschkandidaten, werden zwar bald die Deutsche Bank führen. Doch
für Börsig selbst ist kein Platz mehr. Er muss seinen Posten dem
Erzrivalen Josef Ackermann überlassen. Es ist eine Geschichte von Selbstüberschätzung und vom
Unterschätztwerden, von alten Bankdirektoren und globalen
Bankmanagern. Clemens Börsig steht für die alte Garde. Die Auseinandersetzung zwischen ihm und Ackermann
war auch ein Stellvertreterkrieg. Mit Börsig verabschiedet sich die
Deutschland AG, das Netzwerk von Bank- und Industriemanagern
der alten Schule, nicht nur aus den Zwillingstürmen in
Frankfurt. In Börsigs Kreisen wird sein herablassender Sarkasmus als eine
Art von Humor unter Gleichen geschätzt. Arroganz gilt hier als
Tugend. Untergebene dagegen fürchten seinen Zorn, wenn das
Schälchen frischer Ananas (auf KPM-Geschirr zu servieren) zu
Terminbeginn fehlt, die Aufsichtsratsvorlage nicht akkurat auf dem
Tisch liegt, oder auch nur der Regenschirm bei den wenigen
Schritten zum Wagen ungeöffnet bleibt. Spröde bewegt sich der frühere Topmanager von RWE und Bosch nun
schon seit Jahren im Kosmos der Bank – und eckt an. So gab er
den weiblichen Führungskräften des Hauses den zweideutigen Rat,
sich bei der Karriereplanung nicht nur vertikal, sondern auch
horizontal zu orientieren. Die Heiterkeitsausbrüche im Publikum
quittierte er mit Unverständnis: Es sei doch richtig, dass Frauen
auch wechselnde Positionen im mittleren Management beziehen
könnten, anstatt immer auf Vorstandsposten zu schielen. Als ihm
einmal vor Gericht seine genaue Wohnadresse nicht über die Lippen
kommen will, ist das nicht seine Schuld. Wenn ein Richter ihn als
Zeugen nach solchen Details frage, dann sei die Frage überflüssig
und dumm, nicht die korrekturbedürftige Antwort. Lesen Sie auch, wie Börsig Ackermann austrickste. Josef Ackermann dagegen steht, obwohl gleichaltrig, für die neue
Bankerkaste. Mit den hergebrachten Verhaltensmustern der
Frankfurter Topmanager fremdelt er bis heute, am wohlsten fühlt er
sich in den Dependancen in London und New York, wo es hemdsärmlig
zugeht. Für Börsig ist das angelsächsische Ausland nicht nur aus
Gründen der mangelnden Etikette ein schwieriges Pflaster. Sein
Englisch sei aber besser geworden in den vergangenen Jahren,
lästern Deutschbanker gerne. Die beiden bleiben einander fremd. Ackermann kann mit dem
arbeitswütigen, wenig visionären Finanzvorstand nichts anfangen.
Kaum Vorstandssprecher, macht er sich daran, Börsig aus seinem
Gesichtsfeld zu entfernen. Im Jahr 2006 lobt er ihn schließlich zum
Aufsichtsratsvorsitzenden hoch – und hat ihn nun im Nacken.
„Herr Ackermann kommt heute meist zu mir ins Büro, während früher
ich ihn aufsuchte“, bemerkt Börsig kurze Zeit später in der Welt am
Sonntag. Er setzt seine 12-Stunden-Arbeitstage auch als Kontrolleur
fort, ist stets detailliert vorbereitet, kennt alle Risiken des
Hauses aus seiner vorherigen Tätigkeit. Ein solcher
Aufsichtsratschef macht einem wie Ackermann keinen Spaß. Wer ist größer, Ackermann oder Börsig? Josef Ackermann lädt im
Frühling 2008 zu seinem 60.Geburtstag in die Münchner Residenz. Die
Gästeliste ist lang, das Essen erlesen, alles in allem ein
gelungener Abend. Clemens Börsig wird im Juli desselben Jahres 60.
Sein Fest steigt im Festspielhaus zu Baden-Baden. Drei Tage lang
wird gefeiert. Doch zwischenzeitlich ist die Weltwirtschaft in die
Krise gestürzt. Börsigs Sause wird in der Bank als Großtuerei
belächelt. Endgültig hat Börsig Ackermanns Respekt verloren, als er sich
2009 selbst als dessen Nachfolger ins Spiel brachte. Prompt
verlängerte Ackermann noch einmal seinen Vertrag. Diejenigen, die
sich fortwährend über Börsig amüsieren, unterschätzen den
Kaufmannssohn aus Achern in Baden aber immer noch. Wie er es als
Finanzvorstand und Controller gelernt hat, sichert er auch als
Aufsichtsratsvorsitzender seine Positionen ab. Die Strukturen in
der Bank kennt er besser als Ackermann, und anders als der
respektiert er sie auch. Nach der völlig missglückten
Nachfolgersuche für Ackermann ist es Börsig, der seine Kandidaten
durchsetzt, nachdem er Ackermanns Favoriten, den
Ex-Bundesbankpräsidenten Axel Weber, am ausgestreckten Arm hat
verhungern lassen. Ihm gelingt es noch einmal, intern die Truppen
aufzustellen, er zieht den Investmentbanker Anshu
Jain und Mittelstandsvorstand Jürgen Fitschen auf seine Seite.
Ackermann aber, der Unverzichtbare, wird
Aufsichtsratsvorsitzender. „Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben“, hat Michail
Gorbatschow gesagt. „Wer zu früh kommt, den bestraft es auch“,
seufzt Börsig, der in den vergangenen Jahren nur selten zur rechten
Zeit am rechten Platz war.
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Wenn die Deutsche Bank im nächsten Jahr ihre Führungsriege wechselt, bleibt ein Mann auf der Strecke: Clemens Börsig. Der Aufsichtsratsvorsitzende wird im Mai 2012 von Bankenchef Josef Ackermann abgelöst. Börsig, der immer fehl am Platze war, ist Verlierer in einem langen Machtkampf.
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wirtschaft
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2011-09-08T15:52:46+0200
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2011-09-08T15:52:46+0200
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https://www.cicero.de//wirtschaft/der-anti-ackermann/42922
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SPD-Vorsitz - Warum die Doppelspitze nicht funktioniert
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Im Rennen um den SPD-Parteivorsitz haben sich größtenteils Doppelspitzenpärchen beworben. Eine Ausnahme ist jetzt Robert Maier. Er bewarb sich alleine für den Chefposten. Maier kommt aus der Start-Up-Szene. Er hat erfolgreich Unternehmen mitgegründet und wieder verkauft. Das gelingt nicht vielen. Was möchte der Sohne der früheren SPD-Finanzexpertin Ingrid Matthäus-Maier aber politisch erreichen? Dazu hat ihn die Gründerszene interviewt. Obwohl es in seiner Partei Positionen deutlich links der Mitte gibt – wenn es zum Beispiel um Enteignungen geht –, rechnet sich Maier gute Chancen aus. Er distanziert sich „sehr deutlich von diesen Kollektivierungs- und Enteignungsdebatten.“ Die Vergangenheit habe gezeigt, wohin das führen könnte. Für seine Kandidatur seien diese Debatten ausschlaggebend gewesen, denn er möchte diese Art der Politik vermeiden. Von der gängigen Praxis der Doppelspitze hält er ebenfalls wenig – und tritt deswegen alleine an. Außer bei dem jetzigen Grünen-Duo Robert Habeck und Annalena Baerbock funktionierten diese Teams eher selten, sagt er. Denn was passiere, wenn diese Teams jetzt gemeinsam antreten und dann nach einem halben Jahr merkten, dass sie nicht miteinander arbeiten könnten? Maier ist überzeugt, „dass auch eine Frau oder ein Mann allein, mit der entsprechenden Persönlichkeit und den entsprechenden Inhalten, die SPD erneuern und wieder zur Volkspartei machen kann.“
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Cicero-Redaktion
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Bislang bewarben sich nur Doppelspitzenpärchen für den SPD-Vorsitz. Der Berliner Unternehmer Robert Maier tritt jedoch alleine an. Er will die Sozialdemokraten wieder stärker in der Mitte verorten und stellt sich klar gegen Enteignungsdebatten
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"SPD",
"Robert Maier"
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innenpolitik
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2019-08-07T10:22:20+0200
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2019-08-07T10:22:20+0200
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https://www.cicero.de//innenpolitik/spd-vorsitz-robert-maier-gruenderszene
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Eine Verteidigung der Gesamtschule - Die linke Bildungsreform frisst ihre Kinder
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Unser Erbrecht kennt die Regelung, dass man ein Erbe auch ausschlagen kann. Dies ist vor allem dann ratsam, wenn man von dem Verstorbenen Schulden erbt, die man mit dem eigenen Vermögen nicht begleichen kann. In der Politik kommt es selten vor, dass man das politische oder moralische Erbe negiert, das von einem früheren Heros der Partei überkommen ist. So sonnt sich die CDU heute noch im Glanze des ersten Kanzlers der Bundesrepublik Konrad Adenauer. In der SPD ist Willy Brandt fast zur Heiligenfigur aufgestiegen. Mit der Sachpolitik früherer Parteiführer geht man schon etwas nachlässiger um. Manches Erbteil wird auch schlicht verweigert. So hadern große Teile der SPD bis heute mit der Agenda 2010 von Gerhard Schröder, obwohl diese Arbeitsmarktreform die Grundlage für unser heutiges Wirtschaftswachstum gelegt und den Sozialstaat vor dem Kollaps bewahrt hat. Das ab Januar 2023 geltende Bürgergeld soll die Scharte endgültig auswetzen. Wenig zimperlich geht die SPD mit einer Schulform um, die sie einst erfunden hat und die zu ihrem pädagogischen Markenzeichen wurde: der Gesamtschule. Die ältesten Gesamtschulen in Deutschland sind die inzwischen geschlossene Odenwaldschule im hessischen Heppenheim (1910) und die Waldorfschule in Stuttgart (1919). In der Weimarer Republik führte der Reformpädagoge Fritz Karsen in Berlin-Neukölln die Karl-Marx-Schule als Einheitsschule. 1948 wurde im Berliner Stadtteil Britz die Fritz-Karsen-Gesamtschule gegründet, die bewusst die pädagogische Tradition ihres berühmten Namenspatrons weitertrug. Während des Wirtschaftsbooms der 1960er-Jahre wurde der Ruf nach mehr Abiturienten lauter. Sie sollten den drohenden Fachkräftemangel beheben. Dazu müssten – so die Meinung von Bildungsexperten – die brachliegenden Bildungsreserven ausgeschöpft werden. Neue Zielgruppen waren Kinder aus der Arbeiterschicht und aus ländlich-bäuerlichen Regionen. Mitte der 60er-Jahre besuchten nämlich nur sieben Prozent der Arbeiterkinder ein Gymnasium, der Anteil studierender Arbeiterkinder war noch geringer. Die SPD brachte die Schulform ins Spiel, die sie für Kinder aus bildungsfernen Milieus für am besten geeignet hielt: die Gesamtschule. 1967 wurde in Kierspe (Sauerland) die erste Gesamtschule gegründet, ein Jahr später folgten mehrere Gründungen in West-Berlin. In den SPD-regierten Bundesländern wurde diese Schulform nach und nach flächendeckend eingeführt. Die SPD wollte hoch hinaus und das damals noch dreifach gegliederte Schulsystem überwinden und durch eine „Einheitsschule“, in der alle Kinder gemeinsam lernen, ersetzen. Der Widerstand von konservativer Seite und vor allem vonseiten der Eltern war groß. Mit dem Slogan „Das Gymnasium darf nicht sterben“ gewann die CDU-Landtagswahlen. Angesichts des massiven Widerstands begnügte sich die SPD schließlich damit, die Gesamtschule als ergänzende Schulform einzuführen. Die friedliche Koexistenz mehrerer Schulformen nebeneinander hatte ein Ende, als sich die SPD im Verein mit den Grünen anschickte, zwei Schulen des gegliederten Systems zusammenzulegen: Haupt- und Realschule. Auslöser für diesen Schritt war der schlechte Ruf der Hauptschule, die als „Resteschule“ galt, die nur Schulversager produziere. Die neu entstandene Sekundarschule, die in jedem Bundesland einen anderen Namen trägt, sollte neben dem Gymnasium die zweite Säule des Schulsystems bilden. In SPD-regierten Bundesländern mussten sich die bestehenden Gesamtschulen in Sekundarschulen umwandeln. Mehr von Rainer Werner: Als wäre der organisatorischen Verwirrung nicht genug, gründeten rot-grüne Landesregierungen noch eine weitere integrierte Schulform: die Gemeinschaftsschule. Die ersten Schulen dieser Art entstanden im Schuljahr 2008/2009 in Berlin. Diese Schulform ist umstritten, weil die Lernergebnisse der Schüler eher dürftig ausfallen. Schuld daran ist die dort vorherrschende Didaktik des selbstständigen, individualisierten Lernens, das für Kinder aus bildungsfernen Schichten und für Migrantenkinder wenig geeignet ist. Was ist der Grund für das nie erlahmende Gründungsfieber im rot-grünen Lager? Hintergrund ist der uns von der OECD ins Stammbuch geschriebene Befund, im deutschen Schulsystem hänge der Schulerfolg der Kinder noch zu sehr vom sozialen Status der Eltern ab. Anders ausgedrückt: Die Kinder von Akademikern landeten alle auf der Universität, während die Kinder von Busfahrern, Krankenschwestern und Müllwerkern eine Lehre als Automechaniker oder Verkäuferin machten oder im schlimmsten Fall gar keinen Schulabschluss erreichten. Seit Jahren werden wir von der OECD aufgefordert, unser Schulsystem so zu organisieren, dass es die Bildungschancen von Kindern aus bildungsfernen Milieus und aus dem Migrantenmilieu verbessert. Das Zaubermittel dafür seien – so die rot-grünen Bildungsplaner – integrative Schulformen, die sich dem gemeinsamen Lernen der Schüler verschrieben haben. Teile der SPD, Grüne und Linke zählen inzwischen selbst die klassische Gesamtschule nicht mehr zum Typus der integrativen Schule, weil sie sich den „Sündenfall“ leiste, einige Fächer leistungsdifferenziert zu unterrichten. Wie funktioniert eine Gesamtschule? In den Hauptfächern Deutsch, Mathematik und Englisch lernen die Schüler in Fachleistungskursen, denen sie nach ihrem Leistungsvermögen zugewiesen werden. Es gibt zwei Kursniveaus: G steht für Grundkurs, E für Erweiterungskurs. Die Zuweisung zu einem Fachleistungskurs gilt für ein halbes Jahr. Die vorgeschriebene Durchlässigkeit ermöglicht es den Schülern im G-Kurs, bei guten Leistungen in den anspruchsvolleren E-Kurs aufzusteigen. Zeigt sich ein Schüler im höheren Kurs als überfordert, kann er ohne Gesichtsverlust in den leichteren Kurs absteigen. Ich habe zwölf Jahre lang an der Thomas-Mann-Gesamtschule in Berlin-Reinickendorf Deutsch und Geschichte unterrichtet, die 1969 als dritte Gesamtschule West-Berlins gegründet wurde. Das Kurssystem erlebte ich als für die Schüler äußerst motivierend. Es gab immer Schüler, die sich mit dem leichten G-Kurs nicht zufriedengeben und möglichst schnell in den schwereren E-Kurs aufsteigen wollten, der ein höheres Prestige besaß. „Was muss ich tun, damit ich endlich aufsteigen kann?“ gehörte zu den häufigsten Schülerfragen. Da unsere Gesamtschule über eine gymnasiale Oberstufe verfügte, war es das Bestreben der Lehrer, die Schüler durch einen anspruchsvollen Unterricht im E-Kurs auf das gymnasiale Niveau der Oberstufe vorzubereiten. Die guten Leistungen unserer Schüler im Abitur bestätigten das Differenzierungsmodell. In den neun Nebenfächern wurden die Schüler im Klassenverband unterrichtet. Dem Anspruch des gemeinsamen Lernens wurde dadurch hinreichend Genüge getan. Für mich liegt das Erfolgsrezept der Gesamtschule darin, dass in ihr ein fruchtbares Nebeneinander aus Fachleistungsdifferenzierung (in drei Hauptfächern) und Binnendifferenzierung (in neun Nebenfächern) existiert. Wenn man 30 Schüler gemeinsam unterrichten muss, die sich hinsichtlich Intelligenz, Auffassungsgabe und Lernhaltung unterscheiden, geht das nur, wenn man den Unterricht differenziert. Die Didaktik sieht dafür ein vielfältiges Repertoire differenzierender Lernmethoden vor. Erfahrene Lehrkräfte halten diese Art von Differenzierung für die schwierigste Handwerkstechnik des Lehrberufs. Es ist nämlich anspruchsvoll, für alle Lerngegenstände das Unterrichtsmaterial für drei oder vier Anspruchsniveaus aufzubereiten. Auch die praktische Umsetzung im Unterricht gelingt nicht immer optimal. Vor allem die Methoden, die das Selbstlernen der Schüler stimulieren sollen, zeigen in der Praxis immer wieder ihre Schwächen. Der Germanist und Mathematiker Remigius Bunia hält die „Lernarrangements des offenen Unterrichts für die wichtigste Ursache für die Defizite, mit denen wir an deutschen Schulen kämpfen“. Er hat Mathe-Stunden gesehen, die ihn ratlos machten: „Die Kinder raten 40 Minuten, der Lehrer lüftet am Ende das Geheimnis.“ Der Lüneburger Bildungswissenschaftler Martin Wellenreuther testete die Wirksamkeit offenen Unterrichts in der Praxis. In vier Schulklassen praktizierten die Lehrkräfte im Biologieunterricht – Thema war die Spinne – die Methode „Stationenlernen“; drei Schulklassen lernten denselben Gegenstand im klassischen Unterrichtsgespräch. Das Ergebnis war eindeutig: Die Schüler, die eigenständig gelernt hatten, schnitten deutlich schlechter ab als die Schüler, die beim Lernen vom Lehrer angeleitet worden waren. Man kann sich vorstellen, wie sich die Lernergebnisse an der Gesamtschule verschlechtern würden, wenn sie gezwungen wäre, in den drei Hauptfächern das Fachleistungsprinzip zugunsten der Binnendifferenzierung aufzugeben. Ich habe an der Berliner Gesamtschule sehr gute Erfahrungen mit den Fachleistungskursen gemacht. Der Unterricht in den homogenen Gruppen verläuft entspannt und weitgehend störungsfrei. Dies gilt auch für die Kurse, in denen die lernschwachen Schüler sitzen. Sie konnten dort ohne Konkurrenzdruck lernen, weil sie nicht ständig die Überflieger vor der Nase hatten, deren Dominanz sie oft als demütigend empfanden. Zur Erfolgsgeschichte der Gesamtschule gehört, dass sie es schafft, relevante Anteile von Haupt- und Realschülern zu besseren Abschlüssen zu führen, als ihnen in der Grundschulprognose prophezeit worden war. An meiner Gesamtschule erreichten in einem Zeitraum von 20 Jahren bei den Hauptschülern bis zu 40 Prozent eines Jahrgangs einen Realschulabschluss, acht Prozent sogar den Übergang in die gymnasiale Oberstufe. Von den Realschülern erlangten zwischen bis zu 45 Prozent die Versetzung in die gymnasiale Oberstufe. Von den damaligen Abgängern mit der Mittleren Reife erhielten alle eine Lehrstelle. Diese Schulform erfüllt also durchaus die Anforderungen der OECD: Sie kann die Herkunft der Schüler aus sozial schwachen und bildungsfernen Elternhäusern ein Stück weit kompensieren. Linke Bildungsplaner werfen der Gesamtschule vor, sie bilde durch ihr Differenzierungsmodell das gegliederte Schulsystem, das man ja gerade überwinden wolle, im Inneren der Schule ab, verhindere also das gemeinsame Lernen, das nach dem Gebot der sozialen Gerechtigkeit unverzichtbar sei. Die Fixierung auf das integrative Lernen geht so weit, dass in der Hamburger Stadtteilschule die Fachleistungsdifferenzierung untersagt ist. Die Differenzierung muss per Ukas im diversen Klassenverband stattfinden. In Berlin stellt das Schulgesetz den Sekundarschulen anheim, welches der beiden Differenzierungskonzepte sie wählen. In Deutsch dürfen sie sich sogar bis zur 9. Klasse Zeit lassen, bis sie überhaupt differenzieren. Erfahrungen zeigen, dass die meisten Schulen die Binnendifferenzierung vorziehen. Das entlastet die Schulleitung bezüglich des planerischen Aufwandes, den die äußere Differenzierung erfordert. Außerdem schmeichelt diese didaktische Entscheidung dem sozialen Gewissen der Lehrkräfte. Sie können sich darin sonnen, Schüler unterschiedlicher Begabungen gemeinsam zu unterrichten. Gegen die Vergötterung der Diversität hat das Insistieren auf den Lernertrag des Unterrichts keine Chance. Die Vorstellung, das Heil des Bildungserfolgs liege im gemeinsamen Lernen unterschiedlich begabter Schüler, gilt in pädagogischen Kreisen inzwischen als didaktischer Katechismus. Das Ministerium für Schule und Bildung des Landes Nordrhein-Westfalen wirbt für das „längere gemeinsame Lernen der Schüler“ mit dem Versprechen, „benachteiligte Schülerinnen und Schüler (würden) signifikant vom gemeinsamen Unterricht mit bessergestellten Schülerinnen und Schülern profitieren“. Dass lernschwache Schüler von den geistigen Überfliegern „signifikant“ profitieren, ist eine reine Behauptung, die noch nie wissenschaftlich belegt wurde. Auch bei dem Hinweis, die flinken Lerner würden aus sozialen Gründen den schwächeren Schülern beim Lernen helfen, ist der Wunsch der Vater des Gedankens. Inzwölf Jahren Unterricht in heterogenen Klassen habe ich einen solchen Altruismus bei Schülern nie erlebt. Die intelligenten Kinder blieben, wenn der Lehrer nicht intervenierte, stets unter sich. Bei der Gruppenarbeit protestierten sie mitunter sogar, wenn der Lehrer „gemischte“ Gruppen vorschlug. Sie hätten lieber mit ihresgleichen gelernt, was sie als anregender empfanden, als sich auf das langsame Tempo der schwachen Schüler einzulassen. Lehrkräfte fühlen sich allein auf weiter Flur, wenn sie aufgrund ihres Erfahrungswissens eine Lanze für das Lernen in homogenen Lerngruppen brechen. Von der Wissenschaft fühlen sie sich allein gelassen, weil die Forscher keine Anstalten machen, die beiden Differenzierungsmodelle (heterogen oder homogen) einem vergleichenden Leistungstest zu unterziehen. Ein Wissenschaftler nahm sich der Sache allerdings an – mit überraschenden Ergebnissen. In einem Beitrag für die Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie kommt der Soziologe Hartmut Esser von der Universität Mannheim zu dem Schluss, dass eine Stärkung der Differenzierung nach kognitiven Fähigkeiten und Leistungen angeraten sei, wenn man die Effizienz des schulischen Kompetenzerwerbs verstärken wolle. Das gelte auch für leistungsschwache Kinder. Der Einfluss der sozialen Herkunft auf die Lernleistungen ließe sich so ein Stück weit reduzieren. Soziale Gerechtigkeit findet man mitunter dort, wo man sie gar nicht vermutet – bei der Pädagogik der „Selektion“. Erste politische Früchte hat Essers Aufsatz schon getragen. Schleswig-Holstein erlaubt in einer Neufassung des Schulgesetzes den Gemeinschaftsschulen, neben der üblichen Binnendifferenzierung auch die Einrichtung von Lerngruppen, die die Schüler nach ihrer Leistungsfähigkeit eingruppieren. Wann folgen die anderen Bundesländer? Jeder, der eigene Kinder hat, hat den Spruch aus dem Volksmund „Gleich und gleich gesellt sich gern“ schon einmal bestätigt gefunden. Schon Grundschulkinder bringen als Spielkameraden Freunde mit nach Hause, mit denen sie sich auch beim Spielen intellektuell von gleich zu gleich auseinandersetzen können. Was die didaktischen Fibeln über das „längere gemeinsame Lernen“ schreiben, ist eine utopische Wunschvorstellung, entbehrt aber weitgehend der Realität. Die Vorstellung vom konfliktfreien gemeinsamen Lernen ignoriert zudem wichtige Befunde der Jugendpsychologie. Schon kleine Kinder fühlen sich in einer Gruppe unwohl, in der sie sich durch andere Kinder dominiert fühlen, sei es durch deren Geschicklichkeit beim Spiel oder deren sprachliche Fertigkeiten in der Diskussion. Ich habe erlebt, dass viele Unterrichtsstörungen von Schülern ausgelöst wurden, die es nicht länger ertragen konnten, den leistungsstarken Schülern ständig unterlegen zu sein. Ihr Störverhalten war ein Hilferuf: Nehmt mich auch wahr! In den homogen zusammengesetzten Lerngruppen habe ich diese Suche nach Aufmerksamkeit durch negatives Verhalten nie erlebt. Das war auch kein Wunder, fehlten doch mit den intellektuellen Überfliegern die Auslöser des Fehlverhaltens. Wenn man weiß, dass seelische Ausgeglichenheit eine wichtige Produktivkraft beim Lernen ist, muss man homogenen Lerngruppen allemal den Vorzug geben, weil sie die emotionale Zufriedenheit der Schüler erhöhen. Nach der Berliner Schulreform von 2010 wartete die Öffentlichkeit gespannt auf den pädagogischen Ertrag der neu gegründeten Schulformen. Am Ende des Schuljahres 2012/2013 kam es dann beim Mittleren Schulabschluss (MSA) zum Leistungsvergleich. An der Gesamtschule erreichten ihn 88 Prozent der Schüler, an der Integrierten Sekundarschule 84 Prozent und an der Gemeinschaftsschule 78 Prozent. Die Gesamtschule war den anderen beiden Schulformen also deutlich überlegen. Man geht nicht fehl in der Annahme, die bewährte äußere Leistungsdifferenzierung habe zum Spitzenplatz dieser Schulform beigetragen. In den Folgejahren verzichtete die Schulverwaltung darauf, die Ergebnisse nach Schulformen getrennt auszuweisen, hatte doch die Schulform, die sie zum Auslaufmodell erklärt hatte, am besten abgeschnitten. Man kann es fast tragisch nennen, dass die SPD eine Schulform, die erfolgreich arbeitet – die Gesamtschule –, aus ideologischen Gründen durch Schulformen ersetzen will, die zwar das sozialpolitische Gerechtigkeitspostulat erfüllen, aber schlechtere Lernergebnisse erzielen. Man fühlt sich an ein Wort des DDR-Lyrikers Reiner Kunze erinnert, mit dem er sein Misstrauen gegenüber ideologischen Verheißungen ausdrückte: „Im Mittelpunkt steht der Mensch, nicht der Einzelne“.
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Rainer Werner
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Die Gesamtschule hat sich neben dem Gymnasium als erfolgreiche Schulform etabliert. Neuerdings gerät sie unter Druck, weil ihr linke Bildungspolitiker vorwerfen, dass sie die Schüler nach Leistung selektiere. Über die guten Schülerleistungen sehen die Kritiker hinweg.
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"Gymnasium",
"Bildung",
"Schule"
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kultur
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2023-02-17T13:23:35+0100
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2023-02-17T13:23:35+0100
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https://www.cicero.de//kultur/gymnasium-bildung-schule-gesamtschule-bildungsreform
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Textilbranche - Verheddert in Produktionsketten
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Als die Textilfabrik in Savar, Zentral-Bangladesch, in Flammen aufging, starben 111 Arbeiter. Über 1100 Tote zogen die Rettungskräfte aus den Trümmern der Textilfabrik in Bangladesch, die nur ein paar Monate später, im April 2013, eingestürzt war. Am Tag zuvor waren schon Risse in im Gebäude entdeckt worden. Die Arbeiter wurden trotzdem angehalten zu arbeiten. Sie sind Glieder in einer langen Kette, die bis zu 140 verschiedene Produktionsschritte umfasst und bis zu einem Hemd reicht, das am Bügel in einem deutschen Kleidungsgeschäft baumelt. 39,95 Euro steht da auf dem Preisschild – etwa ein Monatslohn der Näherin in Bangladesch. Es sind diese einstürzende Textilhallen in Asien, die Arbeitsbedingungen und umweltschädliche Produktionsabläufe, die Bundesentwicklungsminister Gerd Müller im April aktiv werden ließen. Er bat zivilgesellschaftliche Organisationen, Experten aus dem Staatsapparat, Produzenten, Händler und Gewerkschaften an einen runden Tisch. Fünf Monate lang diskutierten unter anderem Greenpeace, Adidas und Vertreter der Wirtschaftsuniversität St. Gallen, wie man nachhaltig Umwelt- und Sozialstandards in Lieferketten der Textilindustrie durchsetzen könnte. Am 16. Oktober präsentierte Müller dann das Ergebnis: den „Aktionsplan des Bündnisses für nachhaltige Textilien“. Glücklich war er dabei nicht – denn von den 60 Teilnehmern, die am runden Tisch gesessen hatten, haben bisher erst 32 ihre Beitrittserklärung zum „Textilbündnis“ unterschrieben. Und die auch nicht ohne Bauchschmerzen. Der Outdoor-Bekleidungsherstellers Vaude gehört zu den Unterzeichnern. Doch in dem mittelständischen Unternehmen weiß man: Nicht jeder Punkt in dem Aktionsplan ist einzuhalten. „Die Lieferketten sind lange, da kann man nicht jeden Player kontrollieren“, erklärt ein Unternehmenssprecher gegenüber Cicero Online. Von diesen „Playern“ gibt es nicht nur viele, sondern auch viele unbekannte. Das liegt am System des sogenannten Subcontracting – die Auslagerung von Wertschöpfungsaktivitäten auf andere Unternehmen. Bekommt ein Zulieferer beispielsweise den Auftrag, einen Hemdsärmel herzustellen, heißt es noch lange nicht, dass er ihn auch selbst vernäht hat und dass die Knöpfe aus der eigenen Produktion stammen. Meist liefern andere Firmen zu. So entstehen immer mehr vertragliche Verästelungen. „Viele Unternehmen haben gar keine direkten Beziehungen mehr zu Lieferanten, sondern nur zu Agenturen“, erklärt Kai Falk, Geschäftsführer beim Handelsverband Deutschland (HDE), zu dem unter anderem die Kleidungsgroßhändler C&A und KIK gehören. Sollte zum Beispiel ein Lieferant ausgetauscht werden, würde das häufig nicht zum Händler zurückgespielt. „Außerdem geben viele Unternehmen ihre nachgelagerten Zulieferer nicht preis“, sagt Frank. Dies macht nicht nur eine Übersicht über die gesamte Wertschöpfungskette unmöglich. Das Problem sei auch, dass zwar Aufträge, nicht jedoch die einzuhaltenden Standards weitergegeben würden, sagt Brigitte Zietlow, Spezialistin für Textil- und Lederindustrie beim Bundesumweltamt. Somit auch nicht die Standards und Ziele, die im Aktionsplan des Textilbündnisses festgelegt sind. Die Unterzeichner verpflichten sich unter anderem dazu, den Wasserverbrauch zu reduzieren und grundwasserschonend zu produzieren. Ab 2019 müssen die Unternehmen ihre Abwasserdaten veröffentlichen. Zudem müssen sie in der eigenen Wertschöpfungskette Kinderarbeit unterbinden und Löhne gewährleisten, die existenzsichernd sind. Die Standards zu „Korruption und Transparenz der Lieferkette“ müssen bis Dezember 2015 umgesetzt sein. „Es ist allen Unternehmen klar, dass sie die gesamte Lieferkette nicht immer vollständig kontrollieren können“, sagt Textilindustrie-Expertin Zietlow. Für Unternehmen mit kleiner Produktion und nur einem Zulieferer wäre das dagegen „ein Armutszeugnis“. Das will man sich natürlich ungerne ausstellen lassen. Trigema, das ausschließlich in Deutschland produziert, hat unterschrieben; auch die Pololo OHG, die in Spanien und Deutschland Kinderschuhe herstellt. Unternehmen mit Lieferketten also, die nur durch Westeuropa verlaufen. Auch Vaude hat noch einen vergleichsweise guten Überblick über die eigene Produktion, obwohl sie im fernen Asien beginnt. Denn Regenjacken, Zeltplanen oder Skitourenrucksäcke bestehen aus hochtechnischen Materialien, die nicht jeder Zulieferer im Sortiment hat. Ein Lieferantentausch, ohne dass es das Unternehmen im baden-württembergischen Tettnang merkt, ist schwieriger. Dennoch: Damit der Druck auch in Bangladesch spürbar ist, braucht man die großen Händler und Hersteller im Boot. Die sind aber nicht dabei. Adidas erklärt auf Anfrage, dass globale und nicht rein deutsche Ansätze sinnvoll seien. Der HDE hat den Aktionsplan auch nicht unterzeichnet – weil er in seiner „jetzigen Fassung noch nicht geeignet“ sei. „Der Minister hat die Vorstellung, man könne ein Produkt vom Baumwollfeld bis zum Bügel nachverfolgen“, sagt Falk. „Das ist aber nicht möglich.“ Hat sich das deutsche Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung etwas viel vorgenommen mit einer Industrie, deren Wertschöpfungsketten sich um den ganzen Globus legen, sich in Knäueln aus Zulieferer- und Subverträgen verlieren? Man wisse, dass das Textilbündnis ambitioniert sei, sagt ein Ministeriumssprecher. „Aus unserer Sicht haben wir uns aber nicht ‚verhoben‘.“ Wann und ob die Näherinnen etwas von Müllers Bündnis in Bangladesch spüren werden, bleibt offen.
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Vinzenz Greiner
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Die Textilbranche lobt das vom Entwicklungshilfeminister Gerd Müller (CSU) initiierte „Bündnis für nachhaltige Textilien“. Doch nur wenige Unternehmen unterschreiben den Aktionsplan, den sie selbst entwickelt haben. Denn in einer globalisierten Welt können sie ihre eigenen Anforderungen kaum erfüllen
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wirtschaft
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2014-10-20T17:18:41+0200
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2014-10-20T17:18:41+0200
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https://www.cicero.de//wirtschaft/textilbranche-verheddert-produktionsketten/58373
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Kampf um die Doppelspitze – Droht der Linken das Aus?
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Katja Kipping aus Sachsen, eine der Kandidatinnen für den Vorsitz, fühlt sich an „Verbotene Liebe“ erinnert. „Es gibt tausend Kombinationsmöglichkeiten“, sagt sie zur möglichen Zusammensetzung der neuen Führung, die an diesem Wochenende in Göttingen bestimmt werden soll. Alle Versuche, in Hinterzimmerrunden eine Verständigung zwischen den zerstrittenen Flügeln zu finden, sind gescheitert. Selten hatten die Delegierten eines Parteitages mehr Macht. Aber auch selten war eine Partei so in der Bredouille. Droht die Linke auf dem Parteitag zu zerbrechen? Vor fünf Jahren hat sich die westdeutsche WASG, von frustrierten Sozialdemokraten aus Protest gegen Gerhard Schröders Agenda 2010 gegründet, zusammengetan mit der SED-Nachfolgepartei PDS. Ein Antrag, dieses Bündnis aufzulösen, liegt in Göttingen nicht vor. Aber Fakten in diese Richtung schaffen können die Delegierten doch – wenn ein Flügel als klarer Sieger aus dem Wettstreit ums Personal hervorgeht. Dann wäre das Projekt einer gesamtdeutschen Linken praktisch gescheitert. „Verantwortlich für den Abwärtstrend der Linken ist das Einnisten der verschiedenen Parteiströmungen in Schützengräben“, analysiert Kipping. Klar sind die Mehrheitsverhältnisse in Göttingen nicht: Von 550 Delegierten kommen 228 aus dem Westen und 272 aus dem Osten, weitere 50 stellen die innerparteilichen Zusammenschlüsse wie der Jugendverband. Die meisten Delegierten werden einen Kompromiss wollen, aber kaum einer hat eine Ahnung, wie der aussehen soll. Der neu ins Rennen geschickte Verdi-Gewerkschafter Bernd Riexinger aus Stuttgart wünscht sich einen gemeinsamen Aufbruch mit Kipping, die wiederum will mit Katharina Schwabedissen aus NRW führen – Letzteres wiederum ein Bündnis, über das es bei den Reformern heißt: „Lieb gemeint, aber nicht gut gemacht“. Umgekehrt graut dem Lafontaine-Lager davor, Kipping und der Reformer Dietmar Bartsch könnten die neue Doppelspitze bilden. „Das wäre dann wieder die alte PDS“, sagt einer. Könnte die Linke als Ost-Regionalpartei überleben? In dieser Frage geht es den Ost-Verbänden kaum besser als denen aus dem Westen: Zwar haben sie ihren Platz in den Landesparlamenten absehbar sicher. Doch schon jetzt verweist die SPD sie dort fast überall, auch wenn rot-rote Mehrheiten rechnerisch möglich sind, auf die Oppositionsbänke – Brandenburg ist nur noch die letzte Ausnahme. Der Einfluss schwindet. Umgekehrt wären die West-Verbände ohne Verankerung im Osten gar nichts mehr, das Scheitern bei den Wahlen in Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen gab nur den Vorgeschmack. Die Genossen sind also aufeinander angewiesen, obwohl sie sich nicht leiden mögen. Welche Rolle spielen Sahra Wagenknecht und Dietmar Bartsch? Sahra Wagenknecht, eines der bekanntesten Gesichter der Linken mit Ausstrahlung über das Milieu hinaus, will, wie Vertraute sagen, „partout nicht“ Vorsitzende werden. Doch Genossen sind überzeugt, dass sie in Göttingen dann antreten wird, wenn sie damit einen Vorsitzenden Bartsch verhindern kann. Diese Variante gilt etwa dann als wahrscheinlich, wenn im ersten – nur Frauen vorbehaltenen – Wahlgang die von Gregor Gysi geförderte „Zentristin“ Dora Heyenn aus Hamburg gewinnt. Erst für den zweiten Platz in der Doppelspitze dürfen sich auch Männer bewerben. Nach Heyenn hätte dann der Ostdeutsche Bartsch gute Chancen. Bartsch, langjähriger Bundesgeschäftsführer von PDS und Linken, 2010 geschasst auf Druck von Oskar Lafontaine, strebt offensiv nach dem Amt. Aus Sicht von Wagenknecht will Bartsch aus der Partei eine „Linke light“ machen. Stellvertretend für das Lafontaine-Lager meint auch Wolfgang Neskovic, Justiziar der Bundestagsfraktion, Bartsch stehe für Macht ohne Charisma und ohne Inhalte. Mit einer Doppelspitze aus Wagenknecht und Kipping indes würde die Linke „zwei begabte Problemlöserinnen“ gewinnen, sagt Neskovic. Und der so angegiftete Bartsch keilt zurück, es sei „nur noch hochnotpeinlich, wenn ältere Herren mit professoralem Gehabe Frauen benoten“. Der Ton ist also keinesfalls freundlich vor der Wahlschlacht in Göttingen. Und das, obwohl Bartsch sich eine Doppelspitze mit Wagenknecht hätte vorstellen können. Die lehnt die Ex-Wortführerin der Kommunistischen Plattform aber strikt ab. Wenn Wagenknecht antritt, dann wohl in einer Kampfkandidatur gegen Bartsch. Denn die Forderung, er solle seine Kandidatur zurückziehen, nennt der „wirklich skurril“. Wie steht es um die Chancen der Linken bei der Bundestagswahl? Auf 11,9 Prozent kam die Linke bei der Wahl 2009, inzwischen wird sie von den Demoskopen auf fünf Prozent taxiert. SPD und Grüne haben die Partei bei Überlegungen über ein neues Regierungsbündnis im Bund nicht mehr auf dem Zettel. Sahra Wagenknecht hat vermutlich recht, wenn sie die Krise ihrer Partei als existenziell bewertet. Bartsch spricht von einer notwendigen „gemeinsamen Integrationsleistung“. Sie ist nicht vollbracht.
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Fast ein Dutzend Kandidaten aus den zerstrittenen Flügeln der Linken rangelt um die Führung – eine Zerreißprobe für die Linkspartei. Kann sie die Krise überwinden?
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innenpolitik
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2012-06-01T08:50:35+0200
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2012-06-01T08:50:35+0200
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https://www.cicero.de//innenpolitik/parteitag-der-linken-goettingen-der-kampf-um-die-doppelspitze/49531
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Asthma-Spray gegen Corona-Erkrankung - Der „Game-Changer“?
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Der SPD-Gesundheitsexperte und Mediziner Karl Lauterbach spricht schon von einem „Game Changer“ im Umgang mit dem Coronavirus: Das Asthma-Mittel „Budesonid“ könnte für Covid-19-Patienten eine neue Behandlungsmöglichkeit sein. „Die Ergebnisse machen klinisch Sinn, weil die antientzündliche Wirkung in der Lunge den Verfall der Lungenfunktion verhindern kann“, schreibt der Mediziner auf Twitter. Die Studie unter Leitung der Universität Oxford wurde im Fachmagazin The Lancet veröffentlicht. Experten beurteilen die Ergebnisse der Studie zur Einnahme des Asthma-Mittels bei einer Covid-19-Erkrankung als vielversprechend. „Der beschriebene Effekt ist beachtlich und bedeutsam“, so der Direktor der Klinik für Infektiologie und Pneumologie der Berliner Charité, Norbert Suttrop. Bewahrheiten sich die Annahmen der Studie, stünde der Welt bald ein neues Mittel im Umgang mit einer Covid-19-Erkrankung zur Verfügung. Budesonid ist ein Arzneistoff, der unter anderem bei Asthma verabreicht wird. Die Universität Oxford hat bei Covid-19-Patienten, die im Schnitt sieben Tage mit Budesonid behandelt worden sind, unterschiedliche Wirkungen beobachtet. Im Vergleich zu Covid-19-Patienten, die eine bis jetzt übliche Behandlung beim Coronavirus erhalten haben, verkürzte sich bei den Testpersonen die Behandlungsdauer. Gleichzeitig hatten die mit Budesonid behandelten Patienten nach zwei Wochen weniger anhaltende Symptome als die Vergleichsgruppe.
Das Fazit der Forscher: Durch den frühzeitigen Einsatz des Mittels könne ein schwerer Verlauf von Covid-19 ausbleiben und die Zeit bis zur Genesung gesenkt werden. Dabei sei die Verabreichung von Budesonid für die meisten Patienten unbedenklich. Die ganze Welt sucht seit über einem Jahr ein Mittel, um Covid-19 und die Pandemie zu bekämpfen – und nun soll ein bereits verfügbarer Wirkstoff der „Game-Changer“ schlechthin sein? Experten bleiben skeptisch und betonen, dass die Studie zu klein angelegt sei. Dennoch bietet die Studie der Oxford Universität eine gute Grundlage, um den Wirkstoff weiterzuerforschen. Die Ergebnisse der Studie seien vielversprechend. „Der beschriebene Effekt ist beachtlich und bedeutsam“, so der Direktor der Klinik für Infektiologie und Pneumologie der Berliner Charité, Norbert Suttrop. Die Experten sowie die Studienautoren selbst weisen aber darauf hin, dass die Ergebnisse der Untersuchung mit relativ wenigen Patienten in einer breiter angelegten Studie bestätigt werden müssen. Man brauche „dringend“ eine große Phase-III Studie mit etwa 1000 Patienten, so Brunkhorst. Wenn sich die Beobachtungen bewahrheiteten, habe das eine enorme Wirkung – und Budesonid sei überall auf der Welt verfügbar, fasst Suttorp zusammen.
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Cicero-Redaktion
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Ein Asthma-Spray könnte der Durchbruch für die Behandlung von Covid-19-Erkrankungen sein. Die Ergebnisse einer Studie der Oxford Universität weisen darauf hin. Karl Lauterbach bezeichnet den Wirkstoff sogar als „Game-Changer“.
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"Corona",
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"Covid-19"
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innenpolitik
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2021-04-13T15:29:52+0200
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2021-04-13T15:29:52+0200
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https://www.cicero.de//innenpolitik/asthma-spray-budesonid-game-changer-karl-lauterbach-corona-erkrankung
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Sondierung - „Es muss einen Politikwechsel geben“
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Je konkreter die Gespräche werden, desto schwieriger wird es. Jeder hat das Feld für sich abgesteckt. Union und SPD befinden sich in der finalen Phase und dass man acht Stunden zusammengesessen hat, zeigt ja die Ernsthaftigkeit, mit der gesprochen wird. Aber man muss auch festhalten: Das, was bei diesem zweiten Sondierungsgespräch herausgekommen ist, reicht noch lange nicht, um Koalitionsverhandlungen aufzunehmen. Ein wesentlicher Knackpunkt ist der gesetzliche Mindestlohn von 8,50 Euro. Hier gibt es mit der SPD wenig Verhandlungsspielraum. Die Menschen – übrigens weit über die eigene Wählerschaft hinaus – erwarten, dass die SPD hier für Fairness auf dem Arbeitsmarkt sorgt. Das ganze Thema Finanzierung gehört dazu. Die Union zeigt sich beim Thema Steuererhöhungen völlig unbeweglich, und bis jetzt ist unklar, wie sie die Investitionen in Bildung, in Infrastruktur aber auch im Rentensystem finanzieren will. Aus der mittelfristigen Finanzplanung geht das jedenfalls nicht. Insgesamt reicht das alles bis jetzt noch nicht aus, um dem SPD-Parteikonvent damit am Sonntag den Vorschlag zu unterbreiten, Koalitionsverhandlungen einzugehen. Das muss die Union wissen. Wenn der Eindruck entsteht, die SPD sei für die Union nur Mehrheitsbeschafferin, um Angela Merkel wieder zur Kanzlerin zu wählen, dann ist das definitiv zu wenig. Es muss klar sein, dass es auf für uns maßgeblichen Feldern wie dem Arbeitsmarkt einen Politikwechsel gibt. Auch in die Energiepolitik muss Bewegung rein, wir brauchen eine Kostendämpfung, um für die Verbraucher bezahlbare Energiepreise zu erreichen. Das Gespräch führte Christian Tretbar. Heiko Maas (47) ist SPD-Landeschef im Saarland und Mitglied des SPD-Bundesvorstands. Seit 2012 ist er saarländischer Wirtschaftsminister und stellvertretender Ministerpräsident.
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Christian Tretbar
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Die schwarz-roten Sondierungen kommen nur schleppend voran. Heiko Maas, saarländischer Wirtschaftsminister, wirft der Union Unbeweglichkeit vor
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innenpolitik
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2013-10-16T09:11:28+0200
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2013-10-16T09:11:28+0200
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https://www.cicero.de//innenpolitik/heiko-maas-schwarz-rot-sondierung/56130
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Thüringen-Wahl - Verantwortung hoch zwei
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Wenn ich das richtig sehe, existiert sogar bei der auf den ersten Blick recht absolut wirkenden „Verantwortung“ eine Steigerungsmöglichkeit. Und zwar beginnt es bei der einfachen, nicht näher bezeichneten „Verantwortung“, gefolgt von der „politischen Verantwortung“ und findet seinen Höhepunkt schließlich in der „staatspolitischen Verantwortung“. Letztere wird jetzt allenthalben wieder beschworen, um eine Koalition der glücklosen CDU mit der überaus erfolgreichen Linkspartei in Thüringen zu legitimieren. Denn für eine Alleinherrschaft in dem beschaulichen Bundesland hat es für den linken Landesvater bekanntlich (noch) nicht ganz gereicht, und auch mit den bisherigen Regierungspartnern von SPD und Grünen kommt er dort nicht auf eine absolute Mehrheit. Aber weil Bodo Ramelow bei seinen Landsleuten doch so erkennbar beliebt ist, möge jetzt bitteschön Mike Mohring mit seiner CDU in die Bresche springen. Und zwar aus „staatspolitischer Verantwortung“. Das klingt alles sehr hochtrabend, und womöglich liegt die Wortwahl ja auch daran, dass Thüringen sich selbst einen Freistaat nennt. Sonst hätte man es vielleicht bei „landespolitischer Verantwortung“ bewenden lassen können. Andererseits klingt „staatspolitisch“ halt einfach deutlich pathetischer, denn wer sich seiner „staatspolitischen Verantwortung“ entzieht, der hat eigentlich als Staatsbürger und erst recht als Staatspolitiker komplett versagt – zumindest in den Augen derjenigen, die dieses Wort im Munde führen. Wozu übrigens auch Mike Mohring selbst gehörte, der ja bekanntlich aus „staatspolitischer Verantwortung“ sein ursprüngliches Wahlversprechen mit staatsmännischer Attitüde unter den Teppich kehren wollte. Offenbar fällt seine einstige Aussage, es nicht mit den Linken machen zu wollen, nur unter die Rubrik „einfache“ beziehungsweise „politische“ Verantwortung. Wenn es hinterher erwartbar anders kommt, muss eben der allerletzte Trumpf ausgespielt werden: die „staatspolitische Verantwortung“. Erstaunlicherweise ist tatsächlich immer nur dann von „staatspolitischer Verantwortung“ die Rede, wenn es um Koalitionen geht. Das ist zwar durchaus nicht verboten, erweckt aber den unguten Eindruck, Staatspolitik beschränke sich auf das Zustandekommen von Regierungsmehrheiten. Hingegen fallen offenbar sämtliche politische Entscheidungen, die in der eigentlichen Regierungszeit getroffen wurden beziehungsweise noch werden, in den Bereich der verminderten Verantwortung. Oder hat man es bei der Abschaffung der Wehrpflicht oder bei der Energiewende, um nur zwei Beispiele zu nennen, jemals von „staatspolitischer Verantwortung“ dräuen hören? Übrigens kann sogar der Wunsch nach dem Nichtzustandekommen von Koalitionen mit einer wohlweislich nicht näher definierten „staatspolitischen Verantwortung“ begründet werden. Erinnert sei hier nur an den norddeutschen Sozialdemokraten Ralf Stegner, welcher nach der zurückliegenden Bundestagswahl an seine Genossen appellierte, der Neuauflage der Großen Koalition aus „staatspolitischer Verantwortung“ eine Absage zu erteilen. Weil sonst nämlich der AfD die Rolle der Oppositionsführerin überlassen werde. Insofern verstößt die SPD seit mehr als anderthalb Jahren offenbar gegen ihre „staatspolitische Verantwortung“. Zum Glück ermahnte der nordrhein-westfälische CDU-Ministerpräsident Armin Laschet die Sozis im vergangenen Juni eindringlich daran, die GroKo nicht zu verlassen – und zwar aus, man ahnt es: „staatspolitischer Verantwortung“. Und wenn jetzt eine Leserin oder ein Leser dieses Beitrags auf den Gedanken kommen sollte, dass der hier vielfach zitierte Begriff nur bei solchen Gelegenheiten aus dem Wortschatzkästlein hervorgeklaubt wird, die erkennbar machtpolitisch motiviert sind, dann möge sie oder er bitte schweigen. Und zwar aus „staatspolitischer Verantwortung“.
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Alexander Marguier
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Die CDU möge gefälligst mit der Linken koalieren, wird vielfach gefordert. Das Argument: „staatspolitische Verantwortung“. Seltsamerweise wird dieser Begriff immer nur dann verwendet, wenn es darum geht, politische Mehrheiten zu finden
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"Thüringen",
"CDU",
"Landtagswahl",
"Mike Mohring"
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innenpolitik
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2019-10-29T18:45:02+0100
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2019-10-29T18:45:02+0100
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https://www.cicero.de//innenpolitik/thueringen-wahl-ergebnis-staatspolitische-verantwortung-mike-mohring
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Ernst Jünger – In Stahlgewittern - Man kommt sich im Sterben abhanden
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Es ist ein Echtzeitexperiment. Von morgens acht bis abends acht, 12 Stunden 13 Miunten ohne Pause hörte Alexander Kissler die Lesung von Ernst Jüngers „In Stahlgewittern“ durch Tom Schilling. Direkt, spontan und ungefiltert schrieb er seine Eindrücke nieder. Eine Liverezension. 8h00: Porridge, Birne, Kräutertee. Die Westfront kann kommen. Strahlend blauer Himmel. Wie war das Wetter am 1. August 1914, als Ernst Jünger sich freiwillig zum Krieg meldete, 19-jährig? Knabenstreiche? Tom Schilling liest und ist mit seinen 32 Jahren eigentlich zu alt. Oh Boy [[{"fid":"62405","view_mode":"copyright","type":"media","attributes":{"height":350,"width":345,"style":"margin-left: 5px; margin-right: 5px; width: 200px; height: 203px; float: left;","class":"media-element file-copyright"}}]]8h10: Heraus also will der Knabe aus dem „Zeitalter der Sicherheit", das Große, Starke, Feierliche im „fröhlichen Schützengefecht" finden. Sehr bald aber wankt eine „blutüberströmte Gestalt" dem Kriegsnovizen entgegen. Tom Schilling deutet ein Röcheln an, „Zu Hilfe!". Stimmbandroutine oder Einfühlung? Dann ist es schon vorüber. 8h25: Meldungen des Tages: Boko Haram mordet sich durch Nigeria. Zu viele Fleischgerichte in deutschen Kitas. Ernst Jünger kennt die „Qualen der Sättigung“. Es riecht nach „Speck und anderen herrlichen Sachen“. Dörrgemüse ist seine Sache nicht. 8h55: Berlin gönnt sich ein John-Lennon-Gymnasium. Tom Schilling hat es besucht. Für mich bleibt er Nachwuchskonzertmanager Harry, der in „Verschwende deine Jugend“ für ein Konzert von DAF über Gesetze geht. Damals hatte er Ernst Jüngers Soldatenalter. „Es war der Mut der Unerfahrenheit.“ An der Front wird die „lange Brandung der Einschläge“ vom „unbekümmerten Jubilieren“ der Vögel kontrastiert. Dann brennt der Wald. 9h15: Intermezzo in der Geburtsstadt. Heidelberger, nicht Hannoveraner, erst recht nicht Schwabe war Ernst Jünger. Am Neckar sieht er: „Wie schön war doch das Land, wohl wert, dafür zu bluten und zu sterben.“ Sein Heidelberg-Erlebnis, sonnenbeschienen. Friedrich Gundolf sollte bald dort lehren und sterben. Sein Krieg: der Krebs. 9h22: Mit „traurigen Gedanken“ des „Kriegers“ endet die erste CD. Doch da waren auch „witzige Zwischenfälle“ und „beliebte Scherze“. Warum aber, Ernst Jünger, ist Kaltblütigkeit eine norddeutsche Spezialität? Und was wurde aus dem „gottlos versoffenen Gesellen“? 9h45: Alles ist lädiert im Krieg. Sogar der Kater hat anno 1915 eine „zerschossene Vorderpfote“. Andererseits: „Der Graben stellt täglich seine tausend Anforderungen an uns.“ Man werde zum Alleskönner. Jünger schreibt nun im Präsens. Rückt ihm die Erinnerung so nah? Und wo verläuft der Graben des 21. Jahrhunderts? 10h00: Endlich! Latrinenparolen! Könnte Kevin Großkreutz den Kauf des Hörbuchs als Betriebsausgabe absetzen? 10h15: Tom Schilling, glaube mir, wir sind hier nicht beim Vorsprechen. Du musst die Dialogpartien nicht gestalten, musst nicht in Rollen und Posen flüchten und noch in der letzten Reihe verstanden werden. „Der Franzmann ist am Laufen. - Du! - Nach links folgen! - Tut's sehr weh? - Armer Tommy, da bleibt kein Auge trocken.“ Klingt nach Puppenspiel und Bauchrednertum. Ist aber nur eine Phase, dem Tagebuch sei Dank. 10h30: An Kaffee mangelt es nicht. Auch im Stellungskrieg gibt es „Hering mit Pellkartoffeln und Schmalz. Ein köstliches Essen.“ Darüber aber ist mein Kräutertee kalt geworden. Auch „ameisenhafter Kaltblütigkeit“ kann ich mich nicht rühmen. Da, schon wieder stirbt einer. Kugeln sausen, „ohne uns jedoch beim Kaffeetrinken stören zu können.“ 10h41: Der spanische König dankt ab, Uli Hoeneß ist auf dem Weg nach Landsberg, und Ernst Jünger reitet über ein Kleefeld in den Sonnenuntergang. Das war die zweite CD. 11h05: Der sehr alte Jünger schrieb einmal, Unglück sei verflochten - „daher die Pechsträhnen. Gibt es zum Beispiel Ärger mit der Frau, so überträgt er sich auch auf die Gesundheit und die Finanzen. Diese drei Güter sind voneinander abhängig.“ Davon kann in der Materialschlacht an der Somme keine Rede sein. Hier splittern nur Männerschädel. 11h25: Ein neues Hauptwort schält sich heraus. Nach „Splitter“ und „Mine“ nun „Gas“, auch als „Blasangriff von reinem Chlor“. Verheerend sind die Wirkungen, doch Jünger entsagt dem Ästhetizismus nicht. Eine „schöne grüne Patina“ zaubert das Gas auf die Granatsplitter. Das Sterben und Töten hat seine eigene Struktur. Jünger, der künftige Monsieur le vivisecteur, behält sein „kleines Untergefühl der Zuversicht“. Es sei „ein Jammer, solche Kerle totschießen zu müssen.“ Prächtige Burschen auch auf der Gegenseite. Tom Schillings Stimme zittert nicht. 11h50: Für Jünger gilt: Auch ein Bild des Grauens ist ein Bild. 11h58: Albums! Ich bin entsetzt! Jünger schreibt, Schilling spricht hier tatsächlich von „Albums“! Und gleich hinterher eine Fast-Nacht des Todes – keine Fastnacht? Ansonsten erschöpfte Körper, starre Augen, Leichengruppen und dieser süßliche Geruch, business as usual. Die dritte CD ist vorüber. Mahlzeit. 12h15: Pruuuch - Pruuuch. Jetzt imitiert der Vorleser die Einschläge der Granaten. Nein, Tom Schilling, das geht gar nicht. Der Glücksdrache Fuchur und auch der Schmunzelhase kamen nicht bis Guillemont. 12h20: Der „uralte Kriegerruf“ lautet also „Ich habe einen weg“? Man lernt nie aus. Gerade als ehemaliger Zivi. 12h40: Unterstand, Hohlweg, Granattrichter, Schrapnell. Jeder Beruf hat seine Sprache. Als Kriegshandwerk erscheint hier alles, als „anstrengende Arbeit“, wobei gelte: „Die Gefahren des eigenen Berufes kommen einem sinnvoller und weniger schrecklich vor.“ Der Krieg entlarvt diese Maxime. Jünger hielt im Schrieben bis zuletzt daran fest: „Überwindung der Todesfurcht ist Aufgabe des Autors; das Werk muss sie ausstrahlen.“ Geboren übrigens wurde er in jenem Jahr, da die Röntgenstrahlen entdeckt wurden. Strahlungen von Anbeginn, Zufall und Bedeutung. 13h05: BREAKING NEWS! EISERNES KREUZ ERSTER KLASSE FÜR ERNST JÜNGER! Der Beobachtungsoffizier an der Westfront hatte laut eigener Aussage mit einem Anpfiff gerechnet, war dann umso gerührter von diesem Pflaster für seine Wunden. Der Wille, so Jünger Ende 1916, sei seinem Körper oft entgegengekommen. Gerade die höchste Nähe des Todes habe in ihm keine Furcht, sondern eine fast dämonische Leichtigkeit ausgelöst. Er wisse nun fest, dass der Sinn des Ganzen alle Eindrücke bestimme. So ließe sich auch eine Schlacht, wie sie die Welt noch nicht gesehen hatte, überstehen. Im Rahmen der Feierlichkeiten wurde Kaffee gereicht. 13h21: So lugt der Frontsoldat ins kommende Jahrhundert: „Wir verwandelten das Land, das den vordringenden Gegner erwartete, in eine Wüstenei.“ Derlei planmäßige Zerstörung sei mit dem „ökonomischen Denken“ der Epoche verknüpft und schade der „Manneszucht“. Dank im Boden verscharrter Zeitbomben, „Teufelseier“ explodiert dennoch ein Rathaus, darinnen die Gegner der Deutschen ihren Sieg feiern. Blut ohne Humor, Kampf ohne Heiterkeit. Das war die vierte CD. 13h50: Ein Armstumpf, herausquellende Eingeweide, die linke Hüfte weggerissen. Das Dorf Fresnoy wird beschossen, auch „ein spannender Anblick“. Ihn machte sausender Dreck einst munter, nun muss es Cherry Brandy sein für Truppführer Jünger. Er trinkt ihn rasch. Ich lerne: Kräutertee ist zu wenig für dieses Hörbuch und gänzlich unangebracht. Wechsle spontan zum Kaffee. Was trank Tom Schilling? Sachdienliche Hinweise erbeten. 14h44: Nun geht’s „nordwärts nach Flandern“, gen Langemarck. August 1917. Wie selbsttätig setzt sich die Truppe in Bewegung. Wer befiehlt? „Das Wirkliche ist ebenso zauberhaft, wie das Zauberhafte wirklich.“ (Jünger, 1930) Zuvor war mit einer Formulierung, die Peter Tauber (CDU) nicht gerne hören wird, „mit wütendem Hurra“ nämlich, ein Wäldchen eingenommen worden, in dem sich Inder verschanzten, Hilfstruppen der Engländer vom Subkontinent. Damit verabschiedet sich die fünfte CD. Ihr ist die bisher zentrale Formulierung zu entnehmen, Jüngers „sachliche Freude an der Gefahr“. Darauf werden wir unbedingt zurückkommen. 15h10: Tod bringt Tod hervor und lässt das Leben gedeihen. „Es war kaum erklärlich, dass ich nicht getroffen wurde.“ Im Sterben schwinden die Unterschiede, da ist immer nur Fleisch, das vergeht und entzwei birst und schreit und wimmert und verpufft. Die Monotonie des Untergehens macht das Tagebuch zur Litanei, deren „fast lustige Gleichgültigkeit“ fasziniert und abstößt, befremdet und immer weiter drängt. Die Form bezwingt – den Inhalt und den Hörer, gerade in der ostentativen Sachlichkeit. Aus Formlosigkeit wird Gedicht, eine Blume des Bösen. Algabal im Mündungsfeuer. 15h35: „Jeder hat eben seinen eigenen Spleen“. Derjenige Tom Schillings ist die Versuchung zum sprachlichen Grimassieren. Endlich hält er sich in Zaum. Auch darum ist das Langemarck-Kapitel, in dem sich die Poesiewerdung des Tagebuchs vollzieht, der bisherige Höhepunkt. Atemlos. Zugleich wird die Menschheitskatastrophe „im Trichter“ überhöht ins Naturwüchsige. Geschosse wühlen den Boden auf „wie große Tiere“, ein „Hagel von Splittern wie von Regenschauern“ geht nieder, Flugzeuge wie „niederstoßende Geier“, die Front als „bösartige Naturlandschaft“. So kehrt die Moral zurück, die aus der Menschenwelt ausgebürgert wurde. Welch kolossale Schubumkehr. 15h50: Nun geht’s steil bergab. Nur dünne Mittagssuppe nebst einem Drittel Laib Brot mit „halb verdorbener Marmelade“, um das es sich mit einer Ratte zu balgen heißt. Aber „Rotwein mit Eiercognac“ steht parat. Wer Sorgen hat, hat auch Likör, und die Sorgen wachsen in der zweiten Jahreshälfte 1917. Schlechte Karten für die „Metaphysik des Speisewagens“, wider die Jünger so gerne zu Felde zog. 16h04: Die sechste CD ist Geschichte. Sie brachte die Erkenntnis, worum es sich bei diesem Werk eigentlich handelt: um ein Kolumbarium. Es verwahrt und nennt die Toten bei Namen. Rittmeister Böckelmann, Oberleutnant Büdingen, Offizier Ehlert und viele, viele andere sind ins Tagebuch hinüber gerettet. Aus der Hexenschaukel ins Stahlgewitter und damit ins Gedächtnis. Die „wirbelnde Vernichtung“ steht still im Buch. Das gibt ihm den Medusenblick. 16h20: Spähoffizier ist er mittlerweile, der Kamerad Jünger. Hätte man ihm begegnen wollen? Margret Boveri beschrieb in den 1950er Jahren eindringlich die „konzentrierte Schärfe“ seiner Augen, denen jede „füllende, ausgleichende Substanz“ fehle. Sie seien „wie Salzheringe oder Sardellenpaste, man braucht viel Brot und Butter dazu, dann wird es ausgezeichnet, aber allein ist es nicht gut erträglich.“ Hier, an der Front, 40 Jahre eher, ist Butter Luxus. „Es war ein erbärmlicher Vormittag.“ Die Kriegszucht bröckelt. 16h35: Ausspruch eines Soldaten: „Lieber Gott, lass Abend werden, Morgen wird’s von selber.“ Heute, in europäischer Friedenszeit, lautete das Stoßgebet wohl umgekehrt. 16h50: Hätten die Deutschen ohne Richard Wagner den Ersten Weltkrieg überhaupt führen können? Sie suchten die „Siegfried-Linie“, fanden die „Wotan-Stellung“, und zum Festmahl reichte man „Hecht à la Lohengrin“. Kein Wunder, dass am Ende Walhall brannte und die Götter flohen. 17h23: Jünger gönnt sich eine Extraportion Stolz auf sich und seine Leute. Stoßtruppführer seien „Fürsten des Grabens“, „Männer, die ihrer Stunde gewachsen waren,“ und derer niemand gedenke. In einem Aufsatz las ich, die publizistische Verarbeitung der eigenen Kriegserlebnisse diente auch dem Zweck, „Geld zu verdienen. Die bestens organisierten Weltkriegs-Veteranen waren eine ertragreiche Zielgruppe.“ Jünger war jung, 25-jährig, als „In Stahlgewittern“ das erste Mal erschien. Das aber war die siebte CD. 1918 hat begonnen. 17h40: „Im Kriege lernt man gründlich, aber das Lehrgeld ist hoch.“ Der Blick ins Booklet gibt die ganze Wahrheit kund. Es wurde an der falschen Stelle gespart. Statt eines Regisseurs spendierten Bayerischer Rundfunk und Hörverlag einen Redakteur, den rührigen Antonio Pellegrino. Gar so viel, wie Jünger gesagt hätte, désinvolture, Nicht-Verwickeltheit hätte es dann doch nicht sein müssen. Tom hätte es gut getan. Vielleicht aber gilt auch hier Jüngers Einsicht aus dem „Gordischen Knoten“: „Niemand springt über seinen Schatten, über seinen eigenen horoskopischen Ort.“ 18h05: Zum (Sprach- und Hör-)Raum wird hier die Zeit. Auch dieses Erbe ist wagnerianisch. Wer wo auf wen schießt, wird stets benannt und verliert doch jede Ortung im Blutfest. „Man tötete sich, ohne sich zu sehen.“ Die Frühjahrsoffensive 1918 eskaliert. 18h20: In der „Schere“ wird Jünger schreiben: „Der Mensch ist ein Wesen, das bestattet – das ist sein Kennzeichen schlechthin. (…) Darauf beruht die Kultur.“ Genau deshalb fiel dieser Krieg aus den Bedingungen des Menschlichen heraus, die Jünger verdichtet sah zwischen Artilleriefeuer und Kolonnenmarsch. Hier wurde getötet und krepiert, doch selten nur begraben. Ohne Humus keine Humanitas. 18h36: „In solchen Lagen muss man Fatalist sein.“ Das sage ich mir auch, am Ende der achten CD, da ein Soldat mit Kindergesicht in den Tod hinüber schläft, sich windend wie ein Katze. Jüngers Fatalismus war die Lizenz zum Mundraub. Er genoss den „köstlichen Inhalt einer erbeuteten Stachelbeermarmelade“. Wer mag es ihm verdenken. 18h50: Stahlhelm statt Pickelhaube, Gasmaske statt Mundschutz, Maschinen- statt Zündnadelgewehr. Das alles waren militärische Fortschritte. Aber Fortschritt, beharrte Jünger, diese „große Volkskirche des 19. Jahrhunderts“, sei eine Illusion. Wirklichen Fortschritt macht im Krieg nur der Tod, und „der Tod hielt reiche Ernte.“ So war es, so ist es. 19h05: Die große Schlacht ist im Juni 1918, „strategisch gesehen, gescheitert.“ Jünger spürt die große Niederlage als Möglichkeit. Der ästhetische Blick aber triumphiert. Ein Geschwader erscheint am Himmel dank des Abendsonnenlichts „wie eine Kette von Flamingos, getaucht in zartes Rosenrot.“ Anders verhält es sich mit Köpfen, aus denen die Augen herausgetrieben waren. 19h25: „Es war eine seltsame Zeit“ – und Jünger ist nicht der, sie einzurenken. Er ist der Blick, der standhält, die Stimme, die sich selber singt. Seine „Stahlgewitter“ sind deutsche Kriegschronik, nicht Kriegspropaganda. Weltliteratur, da der Krieg um die Welt in selbiger war. Und ein Versuch, den Mensch als amoralisches (nicht unmoralisches) Wesen zu zeichnen, damit die Frage nach der Moral zur denkbar größten Leerstelle wird. Füllen muss sie jede/r selbst. 19h51: Endspurt in den Untergang. Das war die neunte und vorletzte CD. Ein neuseeländisches Kontingent hat den Muldengraben eingenommen. Erdstrahlen aus farbigen Dämpfen, Wolken von Splittern, Alptraum wird alles, der Mensch ein gesiebtes Tier. Der Feind ist übermächtig. „Wir hatten ihnen immer weniger Männer entgegenzustellen, oft fast Kinder. (…) Jeder wusste, dass wir nicht mehr siegen konnten. Aber wir konnten standhalten.“ Jünger überlebt. Und Tom Schilling bleibt der Verbalsperenzien entwöhnt. Im Gleichmaß kollern die Silben. 20h03: In einem berühmten späteren und noch später revidierten Wort aus den „Strahlungen“ will Jünger die Menschen more zoologico ansehen. Hier schon erscheint es ihm in Todesnähe, „als ob ich mich selbst mit einem Fernrohr beobachtete.“ Man kommt sich im Sterben abhanden, kann das heißen. Oder man wird entrückt zur Kenntlichkeit. 20h20: Das war Ernst Jünger „In Stahlgewittern“. Es folgt, im klassischen Altersdiskant, seine Dankesrede zur damals hoch umstrittenen Verleihung des Frankfurter Goethepreises 1982. Dazu gäbe es viel zu sagen, besonders zum leitenden Motto, die Hoffnung führe weiter als die Furcht. Doch nicht hier, nicht heute, nicht von mir. Die „sachliche Freude an der Gefahr“ hätte mit dem Leben bezahlt werden können, endete aber im glückhaften und ganz unwahrscheinlichen Überstehen. Darauf anzustoßen, habe ich keinen Burgunder zur Hand, in den ich Erdbeeren werfen könnte. Auch Eiercognac und Cherry Brandy sind außer Haus. So bleibt ein Monzinger Frühlingsplätzchen. Und Luft und Bäume und kein Krieg. Heute darf niemand mehr sterben. Das Buch „In Stahlgewittern“ gehört zu den berühmtesten und umstrittensten Werken der deutschen Literatur. Ernst Jünger wurde durch sein im Jahr 1920 erschienenes Kriegstagebuch zum Helden seiner Generation. Tabulos und unmittelbar beschreibt Jünger die Grausamkeit des Ersten Weltkrieges an der Westfront zwischen Januar 1915 und August 1918. Kritiker warfen ihm jedoch vor, den Krieg zu verherrlichen. Anfang Mai erschien das Meisterwerk komplett in voller Länge als Hörbuch: Ernst Jünger - In Stahlgewittern, O-Ton, ungekürzte Lesung, von Tom Schilling - 10 Audio-CDs, Laufzeit: 733 Minuten, Hörverlag
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Alexander Kissler
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Ernst Jünger experimentierte mit Drogen, CICERO experimentiert mit Ernst Jünger: CICERO-Salon-Chef Alexander Kissler kommentiert Jüngers monumentales Kriegstagebuch „In Stahlgewittern“, das gerade als Hörbuch erschienen ist, live und in Echtzeit
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kultur
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https://www.cicero.de//kultur/tom-schilling-liest-ernst-juenger-kissler-in-stahlgewittern-erster-weltkrieg/57678
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Präservativoffensive – Der Papst und die Kondome
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Enorm war das weltweite Echo, als die Medien Ende November die Botschaft verbreiteten, der Papst habe endlich den Gebrauch von Kondomen gebilligt. Und was angesichts der Erfahrungen der vergangenen Jahre noch viel erstaunlicher ist: Das Echo war fast durchgehend positiv, selbst bei jenen, die den Papst noch vor nicht allzu langer Zeit wegen seiner Aussage, Kondome verschlimmerten das Aids-Problem, hart kritisiert hatten. So sprach etwa der Direktor des UN-Programms gegen Aids, Michel Sidibé, von einem „bedeutenden positiven Schritt des Vatikan“. Und die Deutsche Aidshilfe sah im gegenwärtigen Papst gar einen wichtigen Kampfgenossen gegen die Krankheit. Nach den furchtbaren Missbrauchsskandalen des vergangenen Jahres schien alles darauf hinzudeuten, dass der Teufelskreis schlechter Presse für den Papst durchbrochen war. Fast schien es, als ob es über Nacht gelungen wäre, die vom Vatikan als „aggressiver Propagandakrieg“ verstandene Berichterstattung in den Medien gegen die katholische Kirche und ihr Oberhaupt in ihr Gegenteil zu verkehren. Flankiert wurde die offensichtlich gut geplante und groß angelegte Sympathiekampagne durch die kurz zuvor erfolgte Ankündigung des offiziellen Deutschlandbesuchs des Papstes im kommenden Jahr. Beiträge in der Bild-Zeitung und dem Focus, die uns einen menschlichen, sympathischen Papst nahebringen wollten, der abends „Don Camillo und Peppone“ schaut und mit seinem Privatsekretär in der idyllischen Landschaft der Gärten von Castel Gandolfo Rosenkranz betend lange Spaziergänge macht, taten ihr Übriges. Erst bei genauerem Hinsehen auf das, was der Papst denn nun genau gesagt hat, kamen erste Bedenken auf. Sehr bald musste man erkennen, dass es sich bei der päpstlichen Aussage keineswegs um eine generelle Freigabe des Kondomgebrauchs für Katholiken handelt. Vielmehr steht weiterhin die generelle Verteufelung des Kondoms im Vordergrund, dessen Gebrauch notwendigerweise eine „Banalisierung der Sexualität“ nach sich ziehe, ja sie gar zur „Droge“ mache. Sein Gebrauch bleibt eingeschränkt auf unvermeidliche, „begründete Einzelfälle“. Als Beispiel nennt der Papst den Kondomgebrauch durch einen männlichen Prostituierten. Die Aussage war noch keine Woche alt, als sich der Vatikan genötigt sah, erste Korrekturen an ihr vorzunehmen. Mehrmals war die peinliche Vermutung aufgekommen, der Papst sehe diesen Einzelfall als so exemplarisch an, weil man im katholischen Klerus mehr als anderswo auf männliche Prostituierte angewiesen sei. Kondome dürften im Falle einer HIV-Infektion auch von hetero- und transsexuellen Prostituierten benutzt werden, ließ der Vatikan im Namen des Papstes daraufhin die Öffentlichkeit wissen. Die Vorabveröffentlichung der päpstlichen Kondominitiative war ganz offensichtlich kein Betriebsunfall, erfolgte sie doch in der amtlichen Zeitung des Heiligen Stuhls, dem Osservatore Romano, kurz vor dem Erscheinen von Peter Seewalds Papst-Interviewbuch „Licht der Welt“. Den über Jahrhunderte erprobten Regeln vatikanischer Diplomatie folgend, sollte hier dem Publikum ein Tropfen Honig vermeintlicher Aufgeschlossenheit auf die Zunge geträufelt werden, sodass es den kurz darauf reichlich ausgeschenkten Essig eines krassen Antimodernismus nicht bemerkt. Die päpstliche Aversion gegen die angeblich von der „Diktatur des Relativismus“ und der „Kultur des Todes“ geprägte offene Gesellschaft zieht sich nämlich wie ein Leitmotiv durch das gesamte Buch. Auch die von vielen Medien gefeierte neue Form päpstlicher Meinungsäußerung in einem Interview sollte sich in der Kondomfrage als verhängnisvoll erweisen. Nach dem ersten Schock über die revolutionär scheinende Vorabmeldung beeilten sich konservative Katholiken den privaten und damit in keiner Weise gesamtkirchlich bindenden Charakter der Aussage des Papstes hervorzuheben. Und sie hatten recht. Der Papst hatte diese Hintertür selber schon in das Interviewbuch eingebaut. Gleich auf einer der ersten Seiten lässt er den Leser wissen: „Der Papst kann selbstverständlich verkehrte Privatmeinungen haben.“ Der Journalist Alan Posener brachte die sinistre Situation auf den Punkt. Angesichts der Wahl der Textsorte durch den Papst und in Anlehnung an einen Buchtitel des Romanciers Martin Mosebach sprach er von einer „Häresie der Formlosigkeit“. Geändert hat sich also an der offiziellen und alle Katholiken bindenden kirchlichen Lehre zu Sexualität und Verhütung schlicht gar nichts. Gewonnen ist dagegen die Gewissheit, dass der Papst bei kleinsten Änderungen der Doktrin mit dem heftigsten Widerstand der seit einiger Zeit von Rom devot hofierten Traditionalisten zu rechnen hat. Verändert haben sich dadurch die Auflage und mediale Rezeption des Buches. Doch um welchen Preis? Die Aussage des Papstes ist geradezu ein Musterfall dessen, was die Moraltheologie Kasuistik nennt. Durch diese wird eine allgemeine Aussage der Fundamentalmoral in ihrer Anwendung auf den Einzelfall eingeschränkt. Dabei scheint es sehr aufschlussreich, dass die Kasuistik ihre Hochkonjunktur in der Folge des Konzils von Trient im 17. Jahrhundert erlebte. Das Konzil hatte festgelegt, dass der Katholik dazu verpflichtet ist, seine Sünden nach Art, Zahl und genauen Umständen bis in alle Einzelheiten dem Priester in der Privatbeichte offenzulegen. Die Handbücher für Beichtväter aus jener Zeit beschrieben dann auch in wortreicher Anschaulichkeit und mit einer Mischung aus Schauder und geheimer Faszination noch die seltensten Formen menschlicher Sexualität. So widmete sich etwa der berühmteste Moraltheologe der katholischen Kirche, Alfons von Liguori, hingebungsvoll und in epischer Breite der Frage, ob und unter welchen Umständen passiver oder aktiver Analverkehr eine größere Sünde sei. Eine zölibatäre Priesterkirche begann sich vornehmlich mit dem zu beschäftigen, womit sie sich am allerwenigsten auskannte und eigentlich gar nicht auskennen durfte. Jene, denen von Amts wegen ein Sexualleben verwehrt war, begannen in die Intimsphäre ihrer Gläubigen vorzudringen. Freilich waren den einfachen Gläubigen diese auf Latein verfassten Überlegungen noch unzugänglich, und die Einlassung der Priester auf sexuelle Intimitäten war auf die geheime Beichte beschränkt. Diese letzte Barriere hat der Papst nun auch durchbrochen. Vor aller Welt exerziert er eine Kasuistik, die sich der Frage hingibt, ob ein Kondom, unter welchen Umständen und bei welcher sexuellen Veranlagung zulässig ist, ohne dass es dem Verwender zum „Fahrstuhl in das ewige Höllenfeuer“ wird. Aber was im 17. Jahrhundert von den Gläubigen im Halbdunkel der Beichtstühle noch weitgehend akzeptiert wurde, ruft heute sofort die Satiriker auf den Plan. So kursiert seit einigen Tagen im Internet ein Onlineformular für eine Eilgenehmigung, in der man unter genauer Angabe des Sonderfalls und der Größe und Marke des Präservativs das Placet Roms zu einem Geschlechtsakt mit Kondom einholen kann. Schon 1964, während des Zweiten Vatikanischen Konzils, erhob der belgische Kardinal Léon-Joseph Suenens in der Diskussion um die Zulassung künstlicher Verhütungsmittel warnend seine Stimme: „Vermeiden wir einen neuen Fall Galilei.“ Erfolglos. Immer häufiger begannen Theologen und Kirchenfürsten rein medizinische Fragen zu beantworten, für die weder die Bibel noch die Erfahrung zölibatärer Klerikaler irgendwelche sinnvollen Anhaltspunkte boten. Nach der Pillen-Enzyklika Pauls VI. aus dem Jahr 1968 hat diese Methode mit der Kondom-Äußerung des Papstes einen erneuten Höhepunkt erreicht. Auch wenn die Äußerung rein kirchenrechtlich einen nur privaten Charakter besitzt, muss die Frage erlaubt sein, ob der Papst durch solche fachfremden Einlassungen – gepaart mit der unbeholfenen Taktik des „So ernst hatte ich es jetzt doch nicht gemeint“ – seinen Anspruch, „unfehlbarer Stellvertreter Gottes“ zu sein, letztlich nicht desavouiert.
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Mit seinem Interviewband „Licht der Welt“ führt Papst Benedikt XVI. die Bestsellerlisten an. Die Präservativoffensive, die er darin gestartet hat, mutet jedoch nur auf den ersten Blick historisch an. Denn an der Doktrin der katholischen Kirche hat sich rein gar nichts geändert.
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kultur
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2010-12-21T00:00:00+0100
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2010-12-21T00:00:00+0100
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https://www.cicero.de//kultur/der-papst-und-die-kondome/41499
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Mein Schüler Peer Steinbrück - „Wir waren seine Rettung”
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„Steinbrück kam damals nach einer katastrophalen Unter- und Mittelstufe, für die er fünf oder sechs Jahre gebraucht hatte, zu uns auf das Wirtschaftsgymnasium. Wir waren angeblich die leichtere Schule, die Hälfte der Schüler waren vorher schlechte Gymnasiasten, die andere waren fleißige Realschüler. Bei uns wagten sie alle einen Neuanfang. Steinbrück hat sich das erst einmal angeguckt. In Englisch war er nicht so erfolgreich. Aber heute zeigt er ja in vielen finanzpolitischen Auseinandersetzungen, dass er das inzwischen kann. Reden konnte er damals tatsächlich schon gut. Das hat die Klasse teils beeindruckt, teils fanden sie ihn auch arrogant. Im Politikunterricht sollte sich jeder Schüler ein Printmedium heraussuchen und das besprechen. Steinbrück hat sich die Bild-Zeitung ausgesucht und sie ätzend kommentiert, wir haben also schon damals seine schrägen Bemerkungen erlebt. Ich habe im Unterricht damals auch Iring Fetschers Buch über Marx eingeführt. Steinbrück fand das im Gegensatz zu anderen Schülern gut, glaube ich. Natürlich ist Steinbrück auch aufbrausend. Aber in der Schule hat er keine Schwierigkeiten gemacht. Erst hinterher habe ich erfahren, dass unsere Schule für ihn die Rettung war. Wir sind in Kontakt. Er schickte mir einen Brief und sagte, seine Frau würde heute einen ganz ähnlichen Unterricht machen wie ich damals. Das finde ich witzig,
denn er kennt den Unterricht seiner Frau doch gar nicht. Sie setzt sich aber jedenfalls in der Ehe ordentlich durch, das erzählt er ja auch. Ich schicke ihm gerade ein Fontane-Gedicht. Was jetzt aus ihm geworden ist, ist mir eine große Befriedigung. Ich würde auch sagen, er ist ein guter Kanzlerkandidat. Wie gut er allerdings ein Kabinett leiten kann, ist die zweite Frage. Denn die Erfahrung in Nordrhein-Westfalen haben die Grünen noch nicht vergessen.” Aufgezeichnet von Constantin Magnis.
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Constantin Magnis
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Er kam an ihre Schule, nachdem er zweimal sitzen geblieben war. Christel Braun, 88, war Peer Steinbrücks Lehrerin in Politik und Englisch an der Handelsschule am Lämmermarkt in Hamburg. 1968 schaffte der SPD-Kandidat dort den Abschluss
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innenpolitik
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2013-02-09T10:22:10+0100
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2013-02-09T10:22:10+0100
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https://www.cicero.de//innenpolitik/mein-schueler-peer-steinbrueck-wir-waren-seine-rettung/53398
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Gender Studies - Hokuspokus, aber keine Wissenschaft
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Bald wird es ordentlich Zuwachs geben an Deutschlands Universitäten. Die bisher rund 250 Gender-Professuren sind erst der Anfang. Die nächste Stufe wird gezündet. Jetzt folgen Lehrstühle für Genderfundamentaltheologie, für vergleichende Genderreligionswissenschaft, für Genderdogmatik und auch für Exegese und Hermeneutik der Genderoffenbarung, der Genderwunder. Denn ein Glaubenssystem sind Gender Studies und Gender Mainstreaming. Ein Gender-Hokuspokus. Nun ist es heraus. Aber worum geht es eigentlich? Hören wir auf einen Berliner Eingeweihten: Der Gender-Glaube verkündet für teures Staats-, also Steuer-, also unser aller Geld, dass Mannsein und Frausein eine „gesellschaftliche Konstruktion“ seien. Auch die „starren Alternativen von Homo und Hetero“ sollen überwunden werden zugunsten von „fluideren, beweglichen Formen von Geschlechtlichkeit“. Die „Lebenswelt der Menschen“ habe sich bereits von den „traditionellen Geschlechterrollen“ verabschiedet. In der Erziehung stehe dieser Schritt noch aus, weshalb der „Queer History Month“ an Berliner Schulen eine wunderbare Sache sei. Ganz in diesem Sinn argumentieren auch das baden-württembergische Kultusministerium und manche Gewerkschaft und sehr viele Lobby-Gruppen. Der Gender-Forscher und also Gender-Eingeweihte Martin Lücke, ein junger Universitätsprofessor für die Didaktik der Geschichte, zog im selben Interview den einzig logischen Schluss aus diesen kuriosen Theorien: Gender sei „auch wirklich eine Glaubensfrage“. Und damit keine Zweifel an seiner Rechtgläubigkeit aufkommen, bekannte er offen: „Ja, ich glaube daran.“ Die Katze ist aus dem Sack. Während die christlichen Dogmen weitgehend ausgespielt haben und der Ketzer längst der neue Orthodoxe ist, sind die Machtverhältnisse in der Gender-Religion noch auf herkömmliche Weise geordnet. Man muss glauben, und wer glaubt, gehört dazu, und wer zweifelt, der steht draußen. Die Gender-Religion befindet sich im vorkritischen Zustand. Sie hat keinen Spinoza, keinen Kant, keinen Schleiermacher erlebt. Sie ist wieder das, was einmal der Fall war: ein hermetisches Lehrgebäude aus kanonisierten Dogmen. Wer aber, um im Gender-Jargon zu sprechen, ist „das Papst“ dieser Kirche? Martin Lücke zufolge übernimmt der Staat die Aufgabe des Vatikans. Er verwaltet die Dogmen und setzt diese in seinem Glaubensvolk durch: „der Staat muss die Minderheiten benennen und ihnen Rechte geben.“ Dass diese Definitionsmacht, die eine tendenziell endlose Skala beliebig zu bestimmender Gruppen ins Leben ruft, dieser stete Anhauch neuer Schöpfung, ein „diskriminierender Akt“ ist, ficht den Genderschriftgelehrten nicht an. Anders sei es nicht möglich. Sind die Gruppen erst einmal definiert, könne sich der Staat auf das Diskursmanagement zurückziehen, „der Staat moderiert dann diese Kommunikation“. Nicht überraschen kann die Flucht ins Religiöse den Beobachter des Gendertreibens. Trotz Steuergelder und Lehrstühle zuhauf konnten die Zweifel an der Wissenschaftlichkeit der Gender Studies bisher nicht vollends ausgeräumt werden. Unlängst nahm sich der emeritierte Universitätsprofessor für Betriebswirtschaft und Gender-Kritiker Günter Buchholz die erste niedersächsische Forschungsevalution von 2013 zu den Gender Studies vor und gelangte zum Ergebnis: „Anstatt (…) Forschungsresultate zu benennen, die positiv erwähnt zu werden verdienen, werden lediglich in allgemeinster Form Forschungsleistungen behauptet, und es wird versichert, dass sie wertvoll seien. Aber es fehlt im gesamten Bericht jeglicher Beleg. So etwas nennt man eine Luftbuchung.“ Die Religionswerdung der Gendertheorie markiert zweierlei: ihren Aufstieg zur Mehrheitsdoktrin mit Sanktionsmechanismen und den Beginn ihres Abstiegs. Jetzt, da die Dogmatik ausformuliert und die Machtinteressen auf dem Tisch liegen, schlägt die Stunde der Ketzer. Sie werden die ihnen zugewiesenen Katzentische nicht akzeptieren, werden die Marktplätze in den Blick nehmen und mit einer Mischung aus Trotz und Verzweiflung laut sagen: Nein, ich widersage. Nein, ihr lügt. So und nicht anders ist es Religionsschicksal.
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Alexander Kissler
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Kisslers Konter: Die sogenannten Gender Studies wollen sich dem Frausein wissenschaftlich nähern. Doch das Gender-Dings ist keine Forschung, sondern eine quasi-religiöse Dogmatik, die unnötig Steuergelder verschlingt
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kultur
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2014-03-18T11:30:06+0100
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2014-03-18T11:30:06+0100
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https://www.cicero.de//kultur/gender-studies-dogmatisches-hokuspokus-aber-keine-wissenschaft/57240
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Trump-Rede vor der Uno
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Es gibt Donald Trump zwei Mal: einen, der gerne per Twitter aus der Hüfte schießt, und dann den Teleprompter-Trump, also einen, der eine sorgfältig formulierte Rede abliest. Vor den Vereinten Nationen war es der Teleprompter-Trump. Deshalb ist diese Rede vor der gesamten Weltöffentlichkeit sicherlich die wichtigste, die er bisher zur Außenpolitik gehalten hat, eine Rede, die man ernst nehmen muss. Nimmt man sie ernst, muss einem Angst und Bange werden. Beispiel Nordkorea: Wie ist es zu verstehen, wenn er das Land bedroht, total zu zerstören? Der „Raketenmann“ Kim Jong-un befinde sich auf einer Selbstmörder-Mission, sagt Trump. Sicher, der Präsident hat hinzugefügt, er hoffe, dass das nicht nötig sein werde. Aber was heißt das, wenn der Machthaber in Pjöngjang nicht einlenkt? Unterstellen wir einmal zu Trumps Gunsten, dass er nur den Druck extrem erhöhen wollte – vor allem auch auf China und Russland – um so durch noch schärfere Wirtschaftssanktionen und andere Druckmittel Nordkorea zum Einlenken zu bringen. Aber was, wenn auch das nichts nutzt? Hat Trump dann die USA nicht so unter Zugzwang gesetzt, dass er am Ende handeln muss, wenn Amerika nicht als stark im Ankündigen, aber als schwach im Umsetzen dastehen will? Man fühlt sich an seinen Amtsvorgänger George Bush Junior erinnert. Der sprach einst von der „Achse des Bösen“, und er meinte vor allem Saddam Hussein. Bald darauf ließ er den kriegerischen Worten Taten folgen. Er begann den Irak-Krieg, unter dessen Folgen die Welt bis heute leidet. Dadurch wurden radikale Terrororganisationen wie der Islamische Staat erst groß gemacht, dessen Unterstützer ganz wesentlich von den unterlegenen sunnitischen Anhängern Husseins stammen. Die Gefahr jedenfalls besteht, dass auch Trump sich nun durch seine drastische New Yorker UN-Rede nicht mehr aus seiner selbst geschaffenen Dynamik befreien kann. Da tröstet es kaum, dass Heather Nauert, die Sprecherin des US-Außenministeriums, im Fernsehsender CNN noch kurz vor Trumps Auftritt bekräftigte, bei der Lösung des Nordkorea-Problems müsse die Diplomatie Vorrang haben. Trumps verbale Drohgebärde gegen Nordkorea ist gefährlich genug. Das Nuklearabkommen mit dem Iran neu bewerten zu wollen, ist aber noch gefährlicher. Nicht nur die USA, auch die übrigen Mitglieder des UN-Sicherheitsrates und auch Deutschland haben diesen Deal mit den Machthabern in Teheran nach vielen Jahren mühsamster Gespräche erfolgreich ausgehandelt. Es sei eines der schlimmsten und einseitigsten Abkommen, das die USA je unterzeichnet haben, so sieht es jetzt Donald Trump. Es sei eine Schande für Amerika gewesen. „Wir haben das Letzte noch nicht gesehen“, sagte er, und was der damit meinte, wird immer klarer: Er will offenbar aus diesem Abkommen aussteigen, das immerhin den Iran verpflichtet, für zehn Jahre sein Programm für die Entwicklung einer eigenen Atombombe stillzulegen. Bisher hat sich der Iran an alle eingegangenen Verpflichtungen gehalten. Das ist nicht nur eine Ohrfeige für die Mullahs in Teheran, die Trump für die Beförderer des Terrorismus schlechthin hält, sondern auch für alle, die diesen historischen Deal mit ausgehandelt haben. Der US-Präsident stellt sich hier gegen alle anderen wichtigen Atomstaaten, und auch gegen die Merkel-Regierung in Berlin, deren SPD-Außenminister Frank-Walter Steinmeier einer der treibenden Kräfte bei diesem diplomatischen Kraftakt war. Was würde das für Folgen haben? Wenn der Deal platzt, könnte Teheran frei sein, seine Zentrifugen wieder anzuwerfen und sein Atomprogramm wieder aufzunehmen. Wird Trump, wie jetzt mit Nordkorea, dann auch damit drohen, den Iran vollends zu zerstören? Wie weit will er gehen? Er steuert hier auf eine erneute diplomatische Konfrontation mit einem großen Teil der Welt zu. Russland und China, die bei dem Deal mitgemacht haben, werden sich das gewiss nicht bieten lassen und ihre eigenen Interessen mit dem Iran weiter verfolgen. Einerseits verlangt Trump, dass die Welt zusammenstehen solle, um Nordkorea in seine Schranken zu weisen, andererseits droht er mit einem Alleingang auch gegen seine wichtigsten Verbündeten, wenn es um den Iran geht. Es wird schwer werden, sich hierbei solidarisch zu verhalten. Auf den letzten Metern im Bundestagswahlkampf kann die Frage noch spannend werden: Wie werden die Politiker auf diese provozierende Rede reagieren?
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Werner Sonne
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Die Rede des US-Präsidenten vor den Vereinten Nationen war ein außenpolitischer Paukenschlag. Er drohte Nordkorea mit der „völligen Zerstörung“ und dem Iran mit der Aufkündigung des Atom-Deals. Das schafft eine Dynamik, aus der sich Trump und die Welt nicht mehr befreien könnten
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"Donald Trump",
"USA",
"Nordkorea",
"Uno",
"Trump Rede Uno"
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außenpolitik
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2017-09-19T17:30:58+0200
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2017-09-19T17:30:58+0200
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https://www.cicero.de//aussenpolitik/trump-uno-nordkorea-iran
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Staatsanwältin - Berlusconi schüchtert sie nicht ein
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Dieser Artikel ist eine Kostprobe aus der Juli-Ausgabe von Cicero. Sie können das Heft hier nachbestellen oder durch ein Abonnement keine Ausgabe mehr verpassen Sie hat feuerrote Haare, liebt Schmetterlingsbrillen, kräftige Farben und Ohrgehänge, groß wie Kaffeetassen. Sie gibt keine Interviews, nimmt an keiner Talksshow teil und schreibt keine Bücher. Ihre Feinde nennen sie „Nutte“, wünschen ihr, an Krebs zu sterben und bedachten sie am diesjährigen Todestag ihres Freundes und Kollegen Giovanni Falcone mit einem anonymen Brief, darin zwei Projektile. Ilda Boccassini steht ganz oben auf der Hass-Skala gegen italienische Staatsanwälte – vulgo auch als „rote Roben“, „Terroristen“ oder „Jakobiner“ verteufelt, wenn nicht gar als „anthropologisch anders“ (O- Ton Silvio Berlusconi). Seit mehr als 30 Jahren legt sich die Mailänder Staatsanwältin mit Mafiosi, korrupten Unternehmern, schmutzigen Politikern und käuflichen Richtern an. Zuletzt forderte sie im Mai dieses Jahres, Berlusconi sechs Jahre ins Gefängnis zu stecken und lebenslang von öffentlichen Ämtern auszuschließen. Seitdem regnet es wieder Hass auf „die rote Ilda“ – die den Lustgreis und Ex-Ministerpräsidenten im „Ruby-Prozess“ der Prostitution Minderjähriger und des Amtsmissbrauchs beschuldigt. Unter den Höflingen Berlusconis gehören Boccassini-Hasstiraden seit Jahrzehnten zum guten Ton: Kaum hatte die Staatsanwältin ihre Anklage verlesen, setzte sich Giuliano Ferrara, adipöser Chefredakteur der Berlusconi-Hauspostille Il Foglio, eine rote Perücke und eine Schmetterlingsbrille auf und sang zur Musik von Verdis Rigoletto von der „infamen Anklage der roten Ilda“ gegen seinen Herrn. Vittorio Sgarbi, Kunstkritiker, Berlusconi-Freund und Hysteriker von hohen Gnaden, wünschte gar, dass Ilda Boccassini mit „Arschtritten“ aus der Staatsanwaltschaft ausgeschlossen werde, weil sie einen „kriminellen und grundlosen Prozess“ führe, dessen alleiniges Ziel darin bestehe, Berlusconi zu vernichten. Weil sich die italienischen Linken in einer Harmonieregierung mit Berlusconis PDL befinden, wollten auch sie nicht zurückstehen. Furchtlos bezichtigten sie Boccassini des Rassismus, weil sie in ihrer Anklage das Wort „orientalische Hinterlist“ benutzt hatte, als es um die Lügen der marokkanischen Karima El Marough ging, die unter dem Namen „Ruby“ in Berlusconis Harem einen hoch dotierten Rang einnahm: Laut Abhörprotokoll soll dem Ex-Ministerpräsidenten das Schweigen der Marokkanerin mehr als vier Millionen Euro wert gewesen sein. Silvio Berlusconi, im Mai bereits in zweiter Instanz wegen Steuerbetrugs zu vier Jahren Haft und fünf Jahren Ausschluss von öffentlichen Ämtern verurteilt – in der Urteilsbegründung wird er als „Gewohnheitsverbrecher“ bezeichnet –, gehört seit Jahrzehnten zu Ilda Boccassinis Stammkunden. Schon in den neunziger Jahren beschäftigte sich die Staatsanwältin mit ihm. Damals gehörte sie zum berühmten Mailänder Ermittlerpool, der den Korruptionsskandal „Mani pulite“ aufklärte, dessen Auswirkungen sämtliche etablierten Parteien Italiens in den Abgrund zog. Weil in Italien das Gattopardo-Prinzip („Alles muss sich ändern, damit alles gleich bleibt“) herrscht – weshalb sich zwar die Namen der Parteien, nicht aber die Protagonisten der italienischen Politik ändern –, blieb der begabte Verbrecher Berlusconi der furchtlosen Ilda bis heute erhalten: Sie war es, die im Jahr 2003 Berlusconis Richterbestechung aufklärte. Sie war es auch, die ihn rettete, als sie vier Jahre später 15 Linksterroristen festnehmen ließ, die planten, Berlusconi umzubringen und sein publizistisches Hauptquartier in Mailand, die Redaktion seiner Tageszeitung Libero, in die Luft zu sprengen. Im Laufe ihrer Karriere hat die gebürtige Neapolitanerin, die sich selbst als Soldatin bezeichnet, keine Gelegenheit ausgelassen, sich Feinde zu schaffen, und das nicht nur unter Mafiosi und Mächtigen, sondern auch unter ihren Kollegen: Der Mailänder Generalstaatsanwalt warf ihr exzessiven Individualismus vor, der sie unfähig zur Teamarbeit mache, und schloss sie 1991 aus dem Ermittlerpool aus, der sich mit organisierter Kriminalität in Mailand beschäftigte. Da hatte Ilda Boccassini bereits das mafiose Beziehungsgeflecht in Norditalien aufgedeckt, die „Duomo Connection“, die über Freimaurer bis zur Familie des Sozialistenchefs Bettino Craxi reichte – im Alleingang, weil Ilda Boccassini einigen Kollegen nicht traute. Und daran auch keinen Zweifel ließ. Einer der wenigen, den die 63-Jährige schätzt, war der Antimafia-Staatsanwalt Giovanni Falcone aus Palermo, mit dem sie die „Duomo Connection“ aufklärte. Als er 1992 von der Mafia ermordet wurde, wachte sie an seinem Sarg. Und erinnerte bei seiner Gedenkfeier die ostentativ trauernden Kollegen daran, Falcone zu Lebzeiten im Stich gelassen zu haben. Kurz darauf ließ sie sich nach Sizilien versetzen, um die Ermittler in Caltanissetta bei der Aufklärung der Morde an Giovanni Falcone und seinem Kollegen Paolo Borsellino zu unterstützen. Auch hier wurde sie ihrem Ruf gerecht. Kurz bevor sie sich wieder nach Mailand zurückversetzen ließ, äußerte sie in einem Brief Zweifel an der korrekten Handhabe der pentiti, der mafiosen Kronzeugen: Die Verhöre müssten ausschließlich nach den „Normen des Strafgesetzbuchs“ geführt werden. Jahrzehnte später wurden ihre Zweifel bestätigt: Der Borsellino-Prozess musste neu aufgerollt werden, weil sich herausgestellt hatte, dass ein Kronzeuge von der Polizei unter Folter dazu gebracht wurde, eine Tat zu gestehen, die er nicht begangen hatte.
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Petra Reski
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Die Staatsanwältin Ilda Boccassini ist bei Kriminellen und Politikern so gehasst wie gefürchtet. Trotz vielfacher Drohungen lässt sie sich von niemandem einschüchtern. Sie scheut auch nicht davor zurück, gegen Silvio Berlusconi vorzugehen.
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außenpolitik
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2013-08-24T09:18:18+0200
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2013-08-24T09:18:18+0200
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https://www.cicero.de//aussenpolitik/staatsanwaeltin-berlusconi-schuechtert-sie-nicht-ein/55509
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